Identität und Unterschied: Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz [1. Aufl.] 9783839411827

Das Buch widmet sich dem Wechselspiel von Identität und Unterschied - zwei Phänomene, die sich ausschließen und doch una

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German Pages 332 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Dank
Zwischen Identität und Unterschied: das Leben des Wissens
I. DIFFERENZEN
Forschungsfelder der Transdifferenz: Identität, Leiblichkeit und Repräsentation
Differenzen ohne Ende? Möglichkeiten und Grenzen der Differenzkategorie aus kultur- und literaturwissenschaftlicher Sicht
II. PRÄSENZ
Posthermeneutik. Einige Überlegungen zu einem vorläufigen Programm
Auf der Suche nach einem nicht kruden Realismus: ein Kommentar zu Dieter Merschs posthermeneutischem Theorieprogramm
Bild und Präsenz in Gus Van Sants Film Elephant
III. ÜBERSETZEN
Diskontinuierliche Prozesse: die transformative Kraft der Übersetzung
»Who's speaking?« Kritische Überlegungen zum Verhältnis von Übersetzung und Selbstnarration
Der Philosoph Kangde: Kants chinesischer Doppelgänger. Zum Problem der Hybridität moderner Philosophie in China
Übersetzung. Annäherungen an einen spezifischen Verstehensprozess
IV. GRENZEN
Zur Epistemologie der Natur/Kultur-Grenze und zu ihren disziplinären Folgen
Differenz und Referenz – Theoretische Probleme der postmetaphysischen Methodologie bei Albrecht Koschorke
Diasporische Doppelgänger: Philip Roths Operation Shylock
Zehn und nicht elf: von der öffentlichen Gefahr ein Moishe Pipik zu sein (mich eingeschlossen)
Kracauers Geschichte – Vor den letzten Dingen und die Frage nach dem Ort des Sprechens: eine Relektüre im Anschluss an Ulla Haselstein und Albrecht Koschorke
»Writing Culture« – in einem Aufsatzwettbewerb deutsch-argentinischer Schulen
V. TRANSFORMATIONEN
Die Funktion der kritischen Theorie im politischen Transformationsprozess Osteuropas
Mittendrin statt nur dabei? Zu Andrei Margas Beschreibung der Transformation in Mittelosteuropa
Kulturelle Transformationen und die Revision des Diskontinuitätsmodells: ein Beitrag zur Soziologie kulturellen Wandels
Blinde Flecken hegemonialer Analyse? Ein Kommentar zu Andreas Reckwitz
Innovation als Norm
VI. AUSBLICK
Das Eigene und das Andere der Transdifferenz: Rückblick und Ausblick
Autorinnen und Autoren
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Identität und Unterschied: Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz [1. Aufl.]
 9783839411827

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Cristian Alvarado Leyton, Philipp Erchinger (Hg.) Identität und Unterschied

2009-12-10 13-50-11 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0332228284729298|(S.

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) T00_01 schmutztitel - 1182.p 228284729306

2009-12-10 13-50-11 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0332228284729298|(S.

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) T00_02 seite 2 - 1182.p 228284729322

Cristian Alvarado Leyton, Philipp Erchinger (Hg.) Identität und Unterschied. Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz

2009-12-10 13-50-12 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0332228284729298|(S.

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) T00_03 titel - 1182.p 228284729378

Diese Publikation wurde von der DFG gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Hanno Willkomm, Hamburg (www.hannowill.com) Lektorat: Cristian Alvarado Leyton, Philipp Erchinger, Sebastian Honert Satz: Sebastian Honert Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1182-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2009-12-10 13-50-12 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0332228284729298|(S.

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) T00_04 impressum - 1182.p 228284729410

Inhalt Dank

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Zwischen Identität und Unterschied: das Leben des Wissens

11

Philipp Erchinger

I. DIFFERENZEN

Forschungsfelder der Transdifferenz: Identität, Leiblichkeit und Repräsentation

37

Helmbrecht Breinig / Klaus Lösch Differenzen ohne Ende? Möglichkeiten und Grenzen der Differenzkategorie aus kultur- und literaturwissenschaftlicher Sicht

59

Doris Feldmann

II. PRÄSENZ

Posthermeneutik. Einige Überlegungen zu einem vorläufigen Programm

73

Dieter Mersch Auf der Suche nach einem nicht kruden Realismus: ein Kommentar zu Dieter Merschs posthermeneutischem Theorieprogramm

85

Peter Isenböck Bild und Präsenz in Gus Van Sants Film Elephant

97

André Grzeszyk

III. ÜBERSETZEN

Diskontinuierliche Prozesse: die transformative Kraft der Übersetzung

Martin Fuchs

113

»Who's speaking?« Kritische Überlegungen zum Verhältnis von Übersetzung und Selbstnarration

133

Janna Lau Der Philosoph Kangde: Kants chinesischer Doppelgänger. Zum Problem der Hybridität moderner Philosophie in China

141

Stephan Schmidt Übersetzung. Annäherungen an einen spezifischen 161

Verstehensprozess

Martin Dösch

IV. GRENZEN

Zur Epistemologie der Natur/Kultur-Grenze und zu ihren disziplinären Folgen

169

Albrecht Koschorke Differenz und Referenz – Theoretische Probleme der postmetaphysischen Methodologie bei Albrecht Koschorke

185

Michael Gubo Diasporische Doppelgänger: Philip Roths Operation Shylock

201

Ulla Haselstein Zehn und nicht elf: von der öffentlichen Gefahr ein Moishe Pipik zu sein (mich eingeschlossen)

223

Urs Espeel Kracauers Geschichte – Vor den letzten Dingen und die Frage nach dem Ort des Sprechens: eine Relektüre im Anschluss an Ulla Haselstein und Albrecht Koschorke

235

Kay Kirchmann »Writing Culture« – in einem Aufsatzwettbewerb deutsch-argentinischer Schulen

243

Cristian Alvarado Leyton

V. TRANSFORMATIONEN

Die Funktion der kritischen Theorie im politischen Transformationsprozess Osteuropas

Andrei Marga

263

Mittendrin statt nur dabei? Zu Andrei Margas Beschreibung der Transformation in Mittelosteuropa

277

Martin Kypta / Ulla Reiß Kulturelle Transformationen und die Revision des Diskontinuitätsmodells: ein Beitrag zur Soziologie 289

kulturellen Wandels

Andreas Reckwitz Blinde Flecken hegemonialer Analyse? Ein Kommentar zu Andreas Reckwitz

303

Anja Rozwandowicz Innovation als Norm

309

Stephanie Garling

VI. AUSBLICK

Das Eigene und das Andere der Transdifferenz: Rückblick und Ausblick

317

Walter Sparn

Autorinnen und Autoren

327

Dank Der vorliegende Sammelband ist aus der interdisziplinären Abschlusskonferenz »Das Andere der Trans/Differenz« des DFG-Graduiertenkollegs Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz an der Universität Erlangen-Nürnberg entstanden. Wir danken allen hier versammelten Autorinnen und Autoren, den Mitgliedern und insbesondere den Sprecherinnen und Sprechern des Kollegs – Antje Kley, Michael Lackner, Clemens Kauffmann und Heike Paul – für ihre Unterstützung und Diskussionsbereitschaft vor und während des Editionsprozesses. Auch Annette Thüngen, Koordinatorin des Kollegs, und Gero Wierichs vom transcript-Verlag danken wir herzlich für ihre tatkräftige Unterstützung bei der Herausgabe dieses Bandes. Der meiste Dank gebührt jedoch Sebastian Honert für seine hilfreiche und kompetente Mitarbeit bei den Lektoratsarbeiten und bei der Erstellung der Druckvorlage. Schließlich geht unser Dank an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, deren finanzielle Förderung diesen Band möglich gemacht hat, namentlich an Jürgen Breitkopf, der das Kolleg immer wohlwollend unterstützte. Die Herausgeber

Zwischen Identität und Unterschied: das Leben des Wissens PHILIPP ERCHINGER

I. Leben als Prozess und Differenzierungsgeschehen Man kann und ich möchte zur Einführung in diesen Band von der Behauptung ausgehen, dass alle darin enthaltenen Beiträge von Menschen geschrieben wurden. Denn mit dieser Behauptung lässt sich sowohl die große Verschiedenheit der hier versammelten Themen, Theorien und Forschungsperspektiven erklären als auch die Frage aufwerfen, was diese Themen, Theorien und Forschungsperspektiven trotz ihrer Unterschiede gemeinsam haben könnten. Die Behauptung, dass alle Aufsätze in diesem Buch von Menschen geschrieben wurden, verweist also sowohl auf die nicht reduzierbare Fülle von Positionen, Perspektiven und Fachinteressen, von denen die Aufsätze jeweils im Einzelnen motiviert sind, als auch auf eine mögliche Einheit interdisziplinärer Forschungstätigkeit, wie sie der Band im Ganzen suggeriert. Sie steht zwischen der Vermutung einer möglichen Identitätsstruktur wissenschaftlicher Arbeit und der tatsächlichen Erfahrung, dass die Ziele, Methoden und Ergebnisse dieser Arbeit höchst unterschiedlich ausfallen können. Die Aussage, dass alle der folgenden Beiträge von Menschen geschrieben wurden, kann deshalb auf mindestens zwei Weisen gelesen werden, je nachdem, ob man die gemeinten AutorInnen in erster Linie als Lebewesen ein- und derselben Naturform betrachtet oder als WissenschaftlerInnen ganz vielfältiger Fachkulturen. Denn als Menschen verkörpern sie beides (und potentiell noch mehr). D. h., einerseits können Menschen äußerst verschieden sein, je nachdem in welchen ethnischen, historischen, gesellschaftlichen, ideologischen, politischen, ökonomischen, juristischen und medialen Kontexten sie fühlen, denken, sprechen, schreiben, in welchen sozialen Milieus sie sich bewegen und durch welche Macht- und Wissenskonstellationen ihr Denken und Handeln ermöglicht und beeinflusst ist. Andererseits können sie sich, insofern sie sich als Menschen betrachten, aber zugleich schon sehr lange und offenbar durch nahezu alle kulturellen und sprachlichen Barrieren hindurch gegenseitig als viele Körper einer gemeinsamen Lebensform von ihresgleichen identifizieren und anerkennen, auch wenn sie das – mit zum Teil fürchterlichen Folgen – keineswegs immer auf dieselbe menschliche Weise getan haben und tun, weil auch der Begriff »Mensch« von Kultur aus – man möchte hinzufügen: »natürlich« – viele divergierende Definitionen, Interpretationen und Aneignungen zulässt und deshalb immer wieder neu verhandelt und bestimmt werden muss. Der Begriff »Mensch«, so scheint es, kann also gleichermaßen sowohl die mögliche Einheit der gesamten Gattung bezeichnen, 11

Philipp Erchinger

auf die er bezogen wird, als auch die tatsächliche Verschiedenheit der zahlreichen Lebensarten, in denen sich diese Gattung zeigt. Als Begriff bleibt »Mensch« uneindeutig. Diese fundamentale Ambivalenz legt es nahe, im Folgenden einmal bewusst nicht so sehr nach dem Begriff »Mensch« zu fragen als nach dem Leben, durch das alle seine Lesarten überhaupt erst ermöglicht werden und auf das er, in seiner ganzen Uneindeutigkeit, deshalb zugleich auch verweist. Denn »Leben« oder »Lebendigkeit«, so könnte man die Hypothese der folgenden Überlegungen zusammenfassen, ist das, was sowohl die Identifikation vieler verschiedener Menschen ermöglicht als auch das, was ihre Unterschiede markiert. Es ist – noch allgemeiner gesagt – sowohl das, was die Differenz zwischen mehreren einzelnen Formen des Daseins hervorbringt als auch das, was die Möglichkeit ihrer Vereinheitlichung gewährt. Der Begriff des Lebens bietet sich deshalb geradezu an, um die Übergänge, Transitstadien und Momente des Zauderns zwischen Identität und Unterschied in den Blick zu nehmen, die dieser Band von verschiedenen Seiten, Positionen und Fachperspektiven aus beleuchten und diskutieren möchte. Ich werde mich dabei anhand einiger historischer Beispiele auf das theoretisch vertrackte Verhältnis zwischen einer möglichen Einheit allen Lebens und den verschiedenen kulturellen Formen konzentrieren, in denen wir als Menschen offenbar nur davon wissen können (I. und II.). Denn dazu werden, wie sich zeigen wird, insbesondere im 19. Jahrhundert, das durchgehend einen Schwerpunkt dieses Einführungsbeitrags bildet, eine Reihe von Fragen aufgeworfen (III.), deren Resonanz bis in aktuelle Theoriediskussionen hineinreicht (IV.), an die sich zum Großteil auch die Beiträge dieses Buches direkt anschließen (V.). Doch nicht erst seit dem 19. Jahrhundert, sondern schon in frühen Enzyklopädien ist die Beziehung zwischen dem Leben und unserem Wissen davon als zutiefst fragwürdig gekennzeichnet. »LIFE, Vita, is a very ambiguous term. – For both God, and man, and a soul, and an animal, and a plant, are said to live«, so heißt es etwa in Ephraim Chambers populärer Cyclopaedia von 17521, »yet there is not any thing common to all these, beside a kind of active existence, which, however, is of very different kinds« (Chambers 1752: 33). Das Leben, das all diese vielen Formen gemeinsam haben, «a kind of active existence«, ist paradoxerweise gerade und zugleich das, was sie voneinander unterscheidet, weil es in ihnen und durch sie nur in einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Variationen, in »very different kinds«, jeweils zur Erscheinung gelangt. Leben existiert zwar in einer immensen Bandbreite von Artformen, aber es zeigt sich nur in deren Unterschieden, weil alles Mögliche – und nicht einmal nur Organisches – so genannt werden kann, »was eine Würckung und Bewegung spühren lässet«, wie es auch in Zedlers Universallexikon formuliert ist, »obgleich dasselbe nach dem Unterscheide der Dinge, an denen es sich befindet, mercklich unterschieden ist« (Zedler 1732-1754: 1261). Leben als solches, als eine Einheit, gibt es nur in dem »Unterscheide«, den es an und in den Dingen macht. Es identifiziert die »Dinge«, indem es sie alle gleichermaßen pluralisiert und damit »mercklich« unterscheidet, aber selber ist es nur als fortwährendes Geschehen überhaupt zu denken, und das gilt übrigens bis heute so (vgl. Encylopaedia Britannica Online 2009). Leben, seiner Definition gemäß, ist etwas, das sich eigentlich 1

Die erste Auflage dieses zweibändigen Nachschlagewerks erschien 1728.

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Zwischen Identität und Unterschied

nicht de-finieren, nicht begrenzen oder einrahmen lässt. Es ist ein Prozess. Es kann als Leben nur an und als etwas identifiziert werden, das vorübergeht, das nicht so sein und bleiben muss, wie es ist. Leben ist vergänglich, denn Leben ist es nur, wenn und weil es anders sein und anders werden kann. Es ist, was lebend ist. Seine Einheit ist im Wandel. Es besteht im Übergang, also immer im Unterschied zu dem, was es jeweils nicht mehr und noch nicht ist. Leben in seiner Identität, als eine erstarrte, gleichartige Form, lässt sich deshalb auch nur dort studieren, wo es gerade nicht mehr Leben ist, »in seiner Antithese«: am toten Objekt (Chargaff 1993: 40). Es ist wichtig, sich diese verwirrende Identität oder Nicht-Identität dessen, was Leben tatsächlich ist, solange es am Leben ist, einmal ganz ausdrücklich in seiner Lebendigkeit als Verlauf und Differenzierungsgeschehen vor Augen zu führen. Denn nur so lässt sich deutlich machen, in welchem Verhältnis dieses Leben zum Konzept des Wissens und zu den Wissenschaften steht und stehen könnte, von denen es seit der Frühen Moderne zunehmend professionell und in ganz verschiedenen Gestalten erforscht wird, ob als organisches Leben – und damit im streng biologischen Sinn – oder als gesellschaftliches, kulturelles oder geistiges Leben – und damit im frei übertragenen Sinn. Nur wenn man sich das Phänomen Leben einmal ganz ausdrücklich in seiner lebendigen Eigenschaft als Verlauf vor Augen führt, kann deutlich werden, wie schwierig es ist, dieses Leben anhand der Mittel und Maßstäbe moderner Wissenschaft überhaupt zu begreifen. D. h., nur wenn man sich vor Augen führt, dass Leben ein anhaltender, nicht festzustellender Prozess ist, kann deutlich werden, was für eine Herausforderung es ist, dieses Leben in einem Konzept zu fassen, das den Mitteln und Maßstäben einer Wissenschaft gerecht werden kann, die sich als Wissenschaft ganz wesentlich über die Feststellungskraft ihrer Begriffe und die Objektivierbarkeit ihrer Erkenntnisse beschreibt. Diese Herausforderung besteht darin, dass der Prozess des Lebens in (s)einer Form genau genommen gar nicht definiert und identifiziert werden kann, was bezeichnenderweise zur Folge hat, dass die modernen Wissenschaften das Leben gerade dann ganz bewusst und methodisch kontrolliert aus dem Erkenntnisvorgang heraushalten oder durch diesen Vorgang zumindest radikal eingrenzen müssen, wenn sie es, wie die so genannten Lebenswissenschaften, gleichsam ins Reagenzglas zu zwingen, vor sich zu bringen und damit gezielt zum Definitions- und Darstellungsgegenstand zu machen versuchen: zum exakt und mikroskopisch genau beschreibbaren Versuchsobjekt.2 Deshalb hat schon Charles Darwin, einer der ersten, der die Gattungen und Arten der Natur programmatisch in ihrer Evolution und damit in ihrem lebendigen Werden erforscht und beschrieben hat, explizit davon abgesehen, das Leben als Grund dieser Lebendigkeit selbst noch einmal eigens zum Thema zu machen oder zu definieren (vgl. Darwin 1887: 3, 18); und auch in der Biologie des 20. Jahrhunderts ist es wohl weitgehend ausgemacht, dass eine Erforschung des Lebens in der Komplexitätsfülle seiner Formen und Figuren es geradezu unmöglich macht, diese Fülle noch 2

Vgl. dazu auch die umfassende Studie von Steven Shapin (2008), der – mit einem Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert – gezeigt hat, welche immens wichtige Rolle speziell das persönliche Leben von WissenschaftlerInnen für den Erkenntnisprozess und die Wissenskultur tatsächlich spielt, obwohl es mit dem Wissen selber eigentlich gerade nichts zu tun haben soll.

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Philipp Erchinger

einmal in einer übergeordneten Begriffseinheit zusammenzufassen (Toellner 1980: 97; vgl. Arber 2005: 42). Zum identifizierbaren Gegenstand von Wissenschaft, so scheint es, kann Leben nur in einzelnen Aspekten und Momentaufnahmen werden: in Petrischalen, Schmetterlingsnetzen, Konservierungsgläsern, Bildern und anderen kleinen Ausschnitten, in denen sich der endlose Zeitlauf des lebendigen Ganzen vorübergehend zur Betrachtung und Vermessung einfangen und »an den Dingen« inspizieren lässt. Die Einheit des Lebens in seiner Präsenz, anders gesagt, lässt sich nur anhand der Vielheit der Gattungen und Arten studieren, in denen sie zwar jeweils partikular repräsentiert, aber doch nie ganz und dauerhaft enthalten sein kann. Denn Leben – das ist eine der wesentlichen Einsichten der Evolutionstheorie – zeigt sich in diesen Einzelformen nur deshalb, weil sie gerade keinen Bestand haben, sondern stetigen, ständigen, zum größten Teil nicht sichtbaren Mutationen und Transformationen unterworfen sind, aus denen auf lange Sicht wieder neue Arten und Gattungen hervorgehen können, die sich sukzessive weiterverwandeln und so fort ad infinitum. Die Identität von etwas, das sich als Mitglied einer Art oder Gattung identifizieren lässt, bleibt deshalb notwendigerweise instabil, haltlos und flüchtig, weil sie potentiell zu jedem Zeitpunkt relativiert, modifiziert und längerfristig sogar ganz aus dem Lebensgeschehen »aussortiert« werden kann. Die Gattungen und Arten, die am Leben sind, haben im Leben keinen Sitz. Es sind keine natürlichen Einheiten, wie Darwin schon 1859 unmissverständlich hervorhebt, sondern künstliche Bezeichnungen, »arbitrarily given for the sake of convenience to a set of individuals closely resembling each other« (Darwin 1964: 52). Die Unterschiede, die sie markieren, liegen nicht im Leben begründet, sondern in seiner wissenschaftlichen Beobachtung. Die Begriffe »species« und »variety« sind vorläufige Einrichtungen auf schwankender, weil vitaler Basis, kontingente Sortierhilfen, anhand derer sich die Seinsweisen des Lebens nach Arten (»incipient species«) diskriminieren, zu Gattungen (»strongly marked and well-defined varieties«) zusammenfassen, in Handbüchern identifizieren und so lange in Klassifikations- und Ordnungssystemen des Lebendigen verorten lassen, bis sie ausgestorben und durch andere ersetzt sind (ebd.: 55). The Origin of Species, von dem Darwin (nicht) schreibt und damit der Ursprung des biologischen Lebens,3 wie es seine Wissenschaft feststellt und kennt, ist eine konstruktive Leistung, mit der die Unterschiede gemacht werden, anhand derer das Leben zu bestimmen ist (vgl. Grosz 2004: 23). Die Arten und Gattungen entstehen demnach, wenn und weil jemand sie so benennt. Das Leben der Wissenschaft ist ein Beobachtungsprodukt, ein Resultat von Unterscheidungen. Sein »Ursprung« ist das »Gesellschaftssystem Wissenschaft«, der »wissenschaftliche Diskurs« oder, wie ich im Folgenden noch grundsätzlicher sagen möchte: der Mensch, das menschliche Leben, jedenfalls die menschliche Existenz in der Zeit.

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Die anti-religiöse Provokation, die in Darwins Problematisierung des »Ursprungs« steckt, wird besonders offensichtlich, wenn man sich verdeutlicht, dass genau die Begründung des Lebens, zu der die Evolutionstheorie schweigt, aus christlicher Sicht nichts anderes ist als »die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, der ›das Leben‹ ist (Joh. 14,6)«, wie Walter Sparn bemerkt, der die Bedeutung des Lebensbegriffs für die Theologie umfassend dargestellt hat (Sparn 1997: 19).

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Zwischen Identität und Unterschied

II. Menschliches Leben und Endlichkeit des Wissens Es ist zwar im Zeichen von Diskursanalyse und Systemtheorie sicher nicht gerade selbstverständlich, das Leben des Wissens und der Wissenschaft – d. h. das Leben, von dem die Wissenschaft weiß – einmal so ausdrücklich auf den Menschen oder ein spezifisch menschliches Beobachten zu beziehen, anstatt nur auf einen dezidiert nicht näher charakterisierten »Beobachter«, wie es die Systemtheorie Luhmanns tun würde oder auf verschiedene »Diskurse« oder »Narrative« des wissenschaftlichen Beobachtens, wie man es von der Diskursanalyse kennt. Ein direkter Bezug auf den Menschen lässt sich unter Berücksichtigung beider Ansätze aber schon dadurch rechtfertigen, dass unser westliches Verständnis von Wissen und Wissenschaft, wie es sich im 17. Jahrhundert langsam herausgebildet, um 1800 konsolidiert und in seinen Grundprämissen bis heute erhalten hat, sehr zentral an den Menschen und die ihm eigenen Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen samt ihren möglichen technischen Erweiterungen gekoppelt und ohne diese elementare Verortung in der kulturellen Sphäre des Menschlichen wohl kaum ernsthaft zu denken ist.4 »God hath framed the mind of man as a mirror or glass capable of the image of the universal world, and joyful to receive the impression thereof, as the eye joyeth to receive light«, so schreibt z. B. Francis Bacon in einem der Gründungstexte der modernen Wissenschaft, dem 1605 erschienenen Advancement of Learning, und daraus folgt zweierlei. Denn diese Grundfähigkeit des menschlichen Geistes (»the mind of man«) zur Imagination und Repräsentation der Welt als Bildobjekt (»capable of the image of the universal world«) ermöglicht es ihm nicht nur, sich in lässig schwelgender Empfangshaltung am lebendigen Wechsel der vorbeiziehenden Dinge und Zeiten zu erfreuen, »beholding the variety of things and vicissitude of times«. Sie fordert ihn vielmehr auch dazu heraus, in streng konzentrierter Suchhaltung nach den unwandelbaren Gesetzmäßigkeiten zu forschen, die diesen Wandel überdauern, »to find out the ordinances and decrees which throughout all those changes are infallibly observed« (Bacon 2002: 123). Die wissenschaftliche Arbeitsweise, wie sie von Bacon proklamiert wird, setzt ein gleichermaßen standfestes wie flexibles Beobachtungszentrum voraus, das den Ansprüchen und Einwirkungen seiner Umgebung nicht einfach passiv ausgesetzt ist, sondern sich aktiv und vorausschauend zu ihnen zu verhalten vermag. Wissenschaft überlässt sich nicht den Turbulenzen des Lebens, sondern sie macht sich methodisch ein Bild davon. Sie liefert sich dem Taumel der Wahrnehmungseindrücke und Empfindungen nicht ziellos aus, sondern sie hält ihn gezielt auf Distanz. Sie registriert, dokumentiert und perpetuiert nicht einfach, was die Umwelt ihr vorgibt, sondern sie markiert, systematisiert und kontrolliert es nach spezifischen Vorgaben. Ihre Darstellung gilt nicht dem indifferenten, unkoordinierten, »wilden« Selbstlauf von Welt und Natur, »when she is left to her own course and does her work her own way« (Bacon 1860: 29), sondern dem differenzierten, geordneten, regulären

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Deshalb führen Kultur-, Wissens- und Sozialtheorien implizit »fast immer ein Bild vom Menschen mit. Auch Autorinnen, die gegen jede wesensmäßige Festlegung des Menschen Stellung beziehen, legen die anthropologische Problematik nur vordergründig ad acta« (Lindemann 2004: 23).

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Philipp Erchinger

Geschehen, das sie selber, mit Hilfe ihrer eigenen Verfahren, darin erkennt. Wissenschaft repräsentiert die Natur nicht im Zustand freier Ungebundenheit, sondern »under constraint and vexed«, wie es Bacon in fast schon schmerzlicher Klarheit formuliert, »that is to say, when by art and the hand of man she is forced out of her natural state, and squeezed and moulded« (ebd.).5 Die Natur der Wissenschaft entspricht demnach immer schon der Kultur der Menschen, nach deren Vorstellungen und Verfahren sie erst zum Forschungsgegenstand modelliert wird. Erfahrung ist kein zufälliges, indifferentes Aufsammeln herumliegender Datensplitter, sondern ein systematisch differenzierendes Instrument planender Vernunft (Kambartel 1968: 88). Empirie ist das, was Theorie dazu macht. Angesichts dieser schon deutlich »konstruktivistisch« akzentuierten Disposition der frühneuzeitlichen Wissenschaftstheorie ist es nicht weiter erstaunlich, dass kein geringerer als Kant in der Vorrede zu seiner Kritik der reinen Vernunft (1787) ausdrücklich an die von Bacon vorangetriebene »Revolution der Denkart« anknüpft (B XII), um sein eigenes, dezidiert »nach dem Beispiele der Geometer und Naturforscher« (1998: B XXII) entwickeltes Programm einer transzendentalphilosophischen Grundlegung menschlicher Vernunfterkenntnis zu rechtfertigen, das nach der Logik und den empirischen Wissenschaften nun endlich auch die »Metaphysik« – bislang ein »bloßes Herumtappen« zwischen »bloßen Begriffen« – aus ihrer kläglichen Lage methodischer Orientierungslosigkeit befreien und in den Stand einer ernstzunehmenden Erkenntnistätigkeit befördern soll (1998: B XIV-XV). Genauso wie die Naturforscher von Bacon bis Galilei nämlich eingesehen haben – das ist Kants Argumentation –, dass »die Vernunft die Natur nötigen müsse auf ihre Fragen zu antworten«, anstatt »sich von ihr gleichsam am Leitbande gängeln« zu lassen (1998: B XIII), so muss sich im Prinzip jede Erfahrung von Gegenständen mittels exakter Analyse als »eine Erkenntnisart« ausbuchstabieren lassen, »die Verstand erfordert, dessen Regel ich in mir, noch ehe mir Gegenstände gegeben werden, mithin a priori voraussetzen muß« (1998: B XVII). Als Gegenstand kann ich etwas demnach nur erfahren, wenn und weil ich mir einen verständlichen Begriff, einen Verstandesbegriff, davon zu machen und ihn nach einer allgemeinen Vernunftregel mit dem entsprechenden Gegenstand zu identifizieren, also in eins mit diesem zu setzen vermag. Jede Art von Wissenschaft beruht folglich auf der Möglichkeit oder dem Vermögen, Gegenstände und Begriffe, Zeichen und Dinge, konkrete Phänomene und abstrakte Konzepte miteinander zu vermitteln, in eins zu setzen, um das eine überhaupt erst als das andere wahrnehmen, lesen und bestimmen zu können. Wissenschaft beruht grundsätzlich auf dem Vermögen zur Ein(s)bildung. Sie bedarf der Einbildungskraft oder Imagination.6 5

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Das Bild des traditionell männlichen Wissenschaftlers, der in die traditionell weibliche Natur eindringt, sie »quetscht« und formt (»squeezed and moulded«), um sie gewaltsam aus ihrem jungfräulichen Zustand herauszubewegen (»forced out of her natural state«), trägt offenkundig sehr deutliche gender-Markierungen. Die »Einbildungskraft« ist nach Kant »ein Vermögen, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen«. D. h., sie stiftet eine »transzendentale Synthesis [...], welches eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste Anwendung desselben (zugleich der Grund aller übrigen) auf Gegenstände der uns möglichen Anschauung ist« (1998: B 152). Vgl. zur komplexen Geschichte und Phänomenologie der Imagination von der

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Zwischen Identität und Unterschied

Damit sind die anthropologischen Voraussetzungen von Wissen und Erkenntnis am Ende des 18. Jahrhunderts nicht nur ausdrücklich benannt, sondern auch selber zum Gegenstand wissenschaftlicher Beobachtung geworden. Das hat zur Folge, dass auch die Frage nach dem menschlichen Leben einen ganz neuen, eigenen Stellenwert für Wissenschaft und Philosophie bekommt, wobei »Leben« gleichermaßen als wichtigste Grundbedingung von Wissen und als sein zentrales Thema figuriert. Denn wenn das Erkennen sich, wie in Aufklärung und Romantik, programmatisch selber als Konstrukt seiner eigenen Vermögen zu erkennen versucht, anstatt seine eigenen Vermögen, wie bei Bacon, unprogrammatisch als Gabe einer göttlichen Vernunft im Grunde vorauszusetzen, dann entblößt es sich zwangsläufig in seiner unausweichlichen Endlichkeit und Limitiertheit – in seiner Abhängigkeit vom Leben des Menschen und mithin von seiner körperlichen Existenz. Während die menschliche Befähigung zu wissen bei Bacon noch ausdrücklich in einer elementaren Kontinuität mit einem göttlichen Schöpfungsplan gedacht war, von dem sie begründet und vorgesehen ist,7 wird sie bei Kant also allein als Korrelat menschlicher Einbildungskraft und damit ausdrücklich in einer elementaren Diskontinuität mit allem Nicht-Menschlichen gedacht, das die Kapazitäten dieser Einbildungskraft übersteigt. Während die Begrenztheit menschlicher Erkenntnismöglichkeiten in der Frühen Neuzeit durch die Aussicht auf ein Leben in göttlicher Unendlichkeit noch deutlich abgemildert war, muss sie ab dem Ende des 18. Jahrhunderts immer deutlicher als Effekt eines Lebens in menschlicher Endlichkeit diagnostiziert werden, was zwangsläufig die Frage nach den Grenzen und Bedingungen dieses Lebens auf den Plan ruft (vgl. Foucault 1971: 372ff.). Gerade die »aufklärende«, säkularisierende Rückführung aller Wissensmöglichkeiten auf den eingeschränkten Horizont des menschlichen Geistes bewirkt folglich, wie Michel Foucault argumentiert hat, dass die Erkundung der materialen, physischen Umwelt- und Entstehungsbedingungen dieses Geistes – und damit des elementaren Lebensvorgangs, in dem sich seine »aufklärende«, säkularisierende Selbstbegrenzung überhaupt erst vollziehen kann – im 19. Jahrhundert zu einem der wichtigsten Forschungsfelder wird, wobei sich im Paradigma des Lebens eine Reihe ganz unterschiedlicher Wissensstränge und Diskurstraditionen (von biologischen bis soziologischen) treffen und in einen produktiven Austausch miteinander eintreten. Erst im 19. Jahrhundert, so lassen sich Foucaults Hinweise zusammenfassen, beginnt sich der Mensch als Bestandteil und Entstehungsprodukt einer ebenso abgründigen wie unvorhersehbaren Evolutionsgeschichte des Lebens zu erforschen, die Jahrtausende vor ihm begonnen und am Schlusspunkt seiner Existenz noch lange nicht ihr Ende gefunden hat (ebd.: 398). Denn erst seit dem 19. Jahrhundert beschreibt sich der Mensch nicht mehr in erster Linie als pri-

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Frühen Neuzeit bis zur Romantik insbesondere Lobsien/Lobsien (2003) und Lobsien (2003; 2008). Wissenschaftliche Erkenntnis dient nach Bacon letztlich immer der Legitimation göttlicher Ratio und Schöpferkraft. Weniges und oberflächliches Wissen, so schreibt er, könne zwar atheistische Gedanken hervorrufen, »but when a man passeth on farther, and seeth the dependence of causes and the works of Providence, then, according to the allegory of the poets, he will easily believe that the highest link of nature’s chain must needs be tied to the foot of Jupiter’s chair« (Bacon 2002: 126).

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vilegierte Kreatur einer stabilen, hierarchisch gegliederten und wohlüberlegt eingerichteten Topographie der Natur, in der das göttliche Fiat außer und unabhängig von ihm noch eine Vielzahl anderer, separat geschaffener Kreaturen wie auf einem Ordnungstableau ihren je individuellen Lebens- und Bewegungsraum zugewiesen hat. Der Mensch beschreibt sich vielmehr als eines unter vielen zufällig besonders anpassungs- und deshalb überlebensfähig geratenen Ausleseprodukten einer dynamischen, ungeplanten, endlos, kopflos, blind und unkontrollierbar vorwärts rollenden Variations- und Selektionsbewegung, die unvermeidlicherweise immer wieder verschwenderische Auswüchse, Abweichungen, Überschüsse, Unzulänglichkeiten, Fehlkonstruktionen und dem Aussterben überlassene Formen fabrizieren muss, um sich als Evolutionsbewegung überhaupt reproduzieren und damit am Leben erhalten zu können. Die Theorie einer graduellen Evolution von Schöpfung, Kreativität und Leben, wie sie sich im 19. Jahrhundert zunehmend etabliert, schließt Vergänglichkeit, Verfall und Zerstörung – und folglich die Endlichkeit allen Daseins – mithin unvermeidlicherweise mit ein, wie Darwin, ihr wichtigster Exponent, immer wieder hervorhebt: »The extinction of old forms is the almost inevitable consequence of the production of new forms« (Darwin 1964: 343). Wichtig daran ist hier insbesondere die zutiefst ambivalente Rolle, die der Mensch in diesem unaufhörlichen Lebensaustausch und Lebenswandel einnimmt, sobald er ihn zu verstehen versucht. Einerseits weiß er sich als Wesen eines Lebens, das er durch seine schiere Existenz, durch jeden Atemzug und jede Handlung unmittelbar verkörpert und vollzieht; doch andererseits kann er sich von den Beweggründen und Vor-Gängen, den »complex contingencies« und »unperceived agencies« (ebd.: 343, 319), die dieses Leben hervorbringen und antreiben, allenfalls eine dürftige und unvollständige wissenschaftliche Vorstellung machen. Denn kein Mensch hat den langwierigen Prozess, in dem sich einzellige zu mehrzelligen Organismen, Meeresbewohner zu Landbewohnern und Säugetiere schließlich zu Menschen entwickelt haben, jemals beobachtet,8 und auch die geologischen Überreste und Versteinerungen, anhand derer er sich vielleicht rekonstruieren ließe, können die Evolution des Lebens nur äußerst lückenhaft und fragmentarisch bezeugen, wie Darwin selbst in seinen Überlegungen »On the Imperfection of the Geological Record« ausführlich erläutert (ebd.: 279ff.), um seine Theorie vor dem Vorwurf mangelnder Beweisfähigkeit zu schützen. Alle Geschichten von der Entstehung und Entwicklung des Lebens, so heißt es dort, die wir mit Hilfe von Fossilien und Ausgrabungen zu erzählen, auf Ahnentafeln festzuhalten und in naturkundlichen Museen zu dokumentieren versuchen, bleiben letztlich zusammengeschustertes Flickwerk, das die tatsächlichen, zutiefst verschlungenen, mit Sackgassen, Umwegen und Korrekturen durchsetzten Gänge von einfachen Natur- zu hochkomplexen Kulturwesen nur unzureichend und in Bruchstücken historisch nachzuzeichnen vermag. Aber aus der Tatsache, dass wir die gesamte Evolution allen Lebens nicht umfassend und lückenlos repräsentieren können, folgt trotzdem nicht, 8

Deshalb sei es besonders erstaunlich, bemerkt Wittgenstein, dass es so vielen Menschen sofort eingeleuchtet hat, dass es »natürlich« so gewesen sein muss. »Warum zum Teufel sollte jemand ›natürlich‹ sagen? [...] Hat irgend jemand diesen Prozeß beobachtet? Nein. Beobachtet ihn jetzt jemand? Nein. Die Beobachtungen an Züchtungen sind ja nur ein Tropfen auf den heißen Stein« (1968: 53).

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dass es sie so nicht gegeben hat, sondern nur, dass unsere Lebens- und Erkenntnisfähigkeiten eben zu begrenzt sind, um sie umfassend und lückenlos nachzuvollziehen. »What an infinite number of generations, which the mind cannot grasp, must have succeeded each other in the long roll of years!«, ruft Darwin an einer Stelle aus, um diese immensen Ausmaße sogleich mit dem armseligen Bild zu kontrastieren, das wir uns davon nur machen können: »Now turn to our richest geological museums and what a paltry display we behold!« (ebd.: 287)

III. Lebendiges Bewusstsein Man kann an dieser Stelle Folgendes festhalten: Je genauer die Wissenschaften im 19. Jahrhundert versuchen, ihre Zeitgenossen mit dem elementaren Prozess vertraut zu machen, der sie existieren lässt, desto radikaler drohen sie die Menschen damit zugleich von ihrer eigenen Existenz samt deren traditioneller religiöser oder metaphysischer Begründung zu entfremden. Denn wenn das Leben des Menschen nicht mehr als Werk eines umsichtigen Schöpfungsaktes, sondern als Zufallsgeburt eines grundlosen Evolutionsmechanismus gesehen wird, dann zeigt es sich zwangsläufig in einer unauflösbar zweideutigen Gestalt. Auf der einen Seite kann jeder Mensch sein Leben am eigenen Leib als etwas erfahren, das ihm unweigerlich innewohnt, weil er notwendig lebendig, also am Leben sein muss, um vom Leben etwas spüren und wissen zu können. Auf der anderen Seite kann er die subjektive, körperliche Evidenz seines Lebens objektiv, wissenschaftlich aber nur in Form »einer Art geronnenen Bewegung« einsehen, um es mit Foucault zu sagen (Foucault 1971: 390), in der stummen Spur eines erstarrten Gewesenen, die sein lebendiges Wesen höchstens äußerlich und oberflächlich zu beglaubigen oder erklären vermag. Im Aspekt der gemeinsamen Evolution allen Lebens präsentiert sich dem Menschen seine persönliche Existenz als unbegründbarer Effekt einer anonymen Kraft, »die ihn verstreut, ihn fern von seinem eigenen Ursprung hält [...] Diese Kraft ist die seines Seins selbst« (ebd.: 403). Der Mensch sieht sich ins Verhältnis zu einer Umwelt gesetzt, die ihm zutiefst eigen ist und ihm doch zugleich unüberwindbar fremd bleibt. Sie ist ihm zutiefst eigen, weil er ihr ursprünglich zugehört und entstammt, aber sie bleibt ihm auch unüberwindbar fremd, weil sie ihm den Grund seines Lebens verweigert, ja geradezu entzieht.9 Im Aspekt der gemeinsamen Evolution allen Lebens erkennt der Mensch sich ganz selbst, aber nur als Variable eines Anderen, einer schweigenden Materie, die er nicht ganz erkennt, obwohl oder gerade weil er unauflöslich damit verstrickt ist (vgl. Foucault 1971: 390ff.).10 Im Aspekt seiner Evolution offenbart sich das Leben des Menschen folglich

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Die Diskussion um das Verhältnis von menschlichem Leben und menschlichem Wissen, wie sie im 19. Jahrhundert geführt wurde, schließt damit thematisch direkt an die aktuelle Diskussion um die Hirnforschung an (vgl. Singer 2007: 41). 10 »Eine der Grundbestimmungen in der Bedeutung des philosophischen Lebensbegriffs besteht somit in der in ihm liegenden Identifikation des Denkens mit anderem, Nichtdenkendem« (Simon 1973: 844). Foucault hat das ganz ähnlich formuliert (vgl. 1971: 394).

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als etwas, das mit seinem Wissen davon nicht identisch ist. Es offenbart sich als etwas, das seine Existenz nicht identifiziert, sondern differenziert, weil er es zwar als Wandel erleben, aber nicht als Einheit erkennen kann. Was der Mensch aktuell ist, weiß er zugleich als etwas, das potentiell jederzeit auch anders werden kann. Im Aspekt seiner Evolution entdeckt sich der Mensch als historisches Lebewesen, das nicht hätte werden müssen, was es ist, und es voraussichtlich auch nicht immer bleiben wird. Dadurch erlebt er sich unweigerlich in einem ortlosen Schwebe- und Latenzzustand zwischen einer unergründlichen Vergangenheit, die im diffusen Nebel ferner Urzeit versinkt, und einer unkalkulierbaren Zukunft, in der die Ankunftszeit offen und unvorhersehbar bleibt. Er erlebt sich als »wanderer between two worlds«, wie es in einer viel zitierten Formulierung von Matthew Arnold heißt, »one dead, / The other powerless to be born« (1855: 438). In der Mitte des 19. Jahrhunderts steht damit nicht nur das Leben des Menschen, sondern auch sein Wissen davon ausdrücklich im Zeichen von Kontingenz, Vorläufigkeit, Pluralisierung und Veränderlichkeit. D. h., alles Wissen vom Leben muss im Medium eines unverbindlichen, weil dynamischen Zeitlaufs gewonnen werden, einer vorübergehenden Existenz, die jede Form des Wissens fundamental ermöglicht und zugleich radikal destabilisiert. Alles, was der Mensch weiß, gilt unter diesen Bedingungen nur als Zwischenergebnis im Prozess einer unabgeschlossenen Evolutionsgeschichte, die das Wissen jederzeit der Möglichkeit aussetzt, modifiziert und desavouiert und damit früher oder später für ungültig erklärt zu werden. »Alike in the external and the internal worlds, the man of science sees himself in the midst of perpetual changes of which he can discover neither the beginning nor the end«, bemerkt der hierzulande wenig beachtete englische Universalgelehrte Herbert Spencer dementsprechend in seinem erkenntnistheoretischen Grundlagenwerk First Principles (1862). Denn ein objektives Dasein des Lebens kann nur identifiziert werden, wenn es von und in einem subjektiven Bewusstsein unterschieden wird, das selbst an ihm partizipiert. Anders gesagt: Wenn das Bewusstsein am Leben ist, dann ist Leben im Erkenntnisakt einerseits immer schon vorausgesetzt, während es andererseits durch diesen Akt überhaupt erst als Leben konstituiert werden kann (Spencer 1946: 53). Das Leben, in dem das menschliche Bewusstsein selber lebt, kann von ihm zwar erkannt und bestimmt, aber nicht begrenzt und definiert werden, denn sobald wir uns eine Grenze des Lebens, einen absoluten Anfangs- oder Endpunkt temporaler Existenz vorzustellen versuchen, müssen wir uns zeitgleich damit auch noch etwas vorstellen, das davor oder danach kommt: »when we imagine a limit, there simultaneously arises the consciousness of a space or time beyond the limit« (ebd.: 76). Ein Bewusstsein vom Leben können wir nur im Leben haben. Jenseits unseres Lebens können wir auch nichts davon wissen, denn so wie der Adler der Luft nicht entfliehen kann, die er zum Fliegen braucht, um einen von Spencer zitierten Vergleich anzuführen, so kann auch der menschliche Geist der begrenzten Sphäre seines körperlichen Lebens nicht entkommen, in und mit der allein er die Möglichkeiten seines Denkens zu realisieren vermag (ebd.: 60). Die Grenzen unseres Lebens sind auch die Grenzen unseres Bewusstseins, weil wir das Sein des Lebens immer nur relativ zum Leben unseres bewussten Seins überhaupt als Etwas (und nicht als Nichts) begreifen können. Jenseits unserer bewusst lebenden Existenz können wir die Existenz des Lebens also nicht denken (ebd.: 63), was 20

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einige idealistische Philosophen des 19. Jahrhunderts wie u.a. William Hamilton sogar zu dem radikal erkenntnisskeptischen Schluss geführt hat, dass wir die Realität des Lebens überhaupt nicht als solche realisieren können, sondern immer nur als etwas anderes, Irreales, als ein Konstrukt des Bewusstseins, das diese Realität nicht selber ist. Das Wissen, das wir vom wirklichen Leben haben, wäre demnach immer schon eine Negation seiner Wirklichkeit. Es wäre, wie Spencer klar gesehen hat, ein negatives Wissen: ein Nichtwissen (ebd.: 71).11 Aber diese radikale Version einer relativistischen, anti-realistischen Position, die im 19. Jahrhundert weiter verbreitet war als oft angenommen (vgl. Herbert 2001), wird in ihrer Radikalität von Spencer keineswegs vollständig mitgetragen. Denn es mag zwar richtig sein, so schreibt er, dass wir die Lebenswirklichkeit außerhalb unseres Bewusstseins nur innerhalb unseres Bewusstseins – also im Verhältnis zu dessen Bedingungen – als Lebenswirklichkeit bestimmen können. Doch schon der Beweis, dass ein bestimmtes Wissen von der Welt, in der wir leben, nur als bewusstes Wissen möglich ist, muss, um durchgeführt werden zu können, unweigerlich ein unbestimmtes Wissen von ihr freisetzen, das in anderer, subsidiärer Form – als »nascent consciousness« – dann offenbar ebenfalls Teil des Bewusstseins sein kann (Spencer 1946: 77; vgl. Erchinger 2009). Selbst dann noch, wenn wir z. B. behaupten, dass wir nicht wissen können, was die Welt an sich, in absoluter, ewiger, ununterschiedener, mit sich selbst identischer Form tatsächlich ist, setzen wir nolens volens voraus, dass sie tatsächlich irgendwie ist, »and the making of this assumption proves that the Absolute has been present to the mind, not as a nothing but as a something« (Spencer 1946: 72). Selbst dann noch, wenn wir uns der Tatsache bewusst werden, dass wir nicht fähig sind, eine absolute, bewusstlose Welt an und für sich bewusst zu denken, anders gesagt, denken wir uns diese Tatsache eben als Tatsache und damit als ein Etwas und nicht als ein Nichts. Wenn wir aber überhaupt nur denken können, indem wir Etwas als Etwas denken, indem wir es also in ein Verhältnis zu etwas anderem setzen (d. h.: indem wir es von etwas anderem unterscheiden), dann können wir auch die Bedingtheit unseres Bewusstseins nur in Relation zur Unbedingtheit eines Seins denken, das nicht bewusstes Sein ist. Von diesem unbedingten Sein, so lautet Spencers zentraler Gedanke, können wir zwar, wenn wir denken, nicht in definiter, expliziter, wohl aber in indefiniter, impliziter Weise durchaus ein unbestimmtes oder intuitives Wissen haben (vgl. ebd.: 70-80). Dieses intuitive Wissen davon, dass wir selbst dann im Leben denken, wenn wir nichts Bestimmtes über das Leben denken, ist damit freilich weniger ein bewusstes als ein unterbewusstes Wissen. Es existiert, wie man im lockeren Anschluss an eine moderne Terminologie auch sagen könnte, in Form eines »tacit knowing« (Polanyi 1975: 38), eines »Lebenswissens« (Ette 2004: 12), einer »Intelligenz des Unbewussten« (Gigerenzer 2007) oder, in Spencers eigenen Worten, »as the body of a thought«: »The momentum of thought carries us beyond conditioned existence to unconditi11 »Are we to rest wholly in the consciousness of phenomena? Is the result of inquiry to exclude from our minds everything but the relative? […] The answer of pure logic is held to be that by the limits of our intelligence we are rigorously confined within the relative, and that anything transcending the relative can be thought of only as a pure negation or as a non-existence« (Spencer 1946: 71).

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oned existence; and this ever persists in us as the body of a thought to which we can give no shape« (1946: 77). Jeder bewusste und bedingte Gedanke unserer geistigen Existenz ist also nur im Unterschied und folglich im Verhältnis zu einem unbewussten und unbedingten Leben unserer körperlichen Existenz überhaupt denkbar, das darin in unbestimmter Form, eben »as the body of a thought«, immer mit enthalten ist (»ever persists in us«), auch wenn wir es nicht formal bestimmen können (»to which we can give no shape«).

IV. Erleben, Erkennen, Transdifferenz Mit diesem Thema sind, wie man schon hier sieht, eine ganze Reihe interdisziplinärer Probleme verbunden, die bis heute in verschiedenen Forschungsbereichen, von der Ästhetik und Kulturphilosophie über die Erkenntnistheorie bis hin zur Neurophysiologie, intensiv und mitunter sehr kontrovers unter bewusst plakativen Fragestellungen wie etwa »Hirn als Subjekt?« verhandelt werden (Krüger 2007). Denn auch bei Spencer und vielen seiner Zeitgenossen geht es bei allem historischen Abstand zu aktuellen Diskussionen in gewisser Weise um die wirksame Evidenz einer Materialität des Seins, die den Abstraktionen des Bewusstseins immer schon »zuvorkommt«, wie man es vielleicht mit Dieter Mersch sagen könnte (Mersch 2007: 56). Es geht um die Präsenz eines körperlich erfahrenen Lebens diesseits der »ausschließlich sinnbestimmten Dimension« seiner intellektuellen Repräsentation (Gumbrecht 2004: 109), wobei die Diskussion um diese schattenhafte Präsenz im historischen Kontext der frühen Evolutionspsychologie speziell um die Frage kreist, inwiefern die physische Aktivität unseres motorischen und organischen Lebens – insbesondere die des Gehirns – die psychische Aktivität unseres geistigen und kulturellen Lebens modifiziert, irritiert oder womöglich sogar heimlich kontrolliert. Es geht in diesem Kontext also vor allem um die Frage, wie weit das unbewusste Leben unserer Organe und Sinnesorgane in das bewusste Leben unserer Gedanken hineinreicht oder, umgekehrt formuliert, wie stark das bewusste, willentlich geführte Leben des Menschen unter dem Einfluss von etwas anderem steht, dessen Machenschaften ihm nicht oder nicht voll bewusst sind.12 Mit dem enormen Interesse an diesem Anderen des Bewusstseins ließe sich zum Beispiel erklären, warum gerade die Literatur und Kultur des oft stereotyp als Zeitalter des Rationalismus, des Fortschritts, der Prüderie, Prosperität und Stabilität charakterisierten späteren 19. Jahrhunderts eine dermaßen auffällige Faszination für das Irrationale, Unheimliche, Sensationelle, Perverse, Krankhafte und Geheime entwickelt hat, genauso wie für Geisteszustände des Wahnsinns, des Traums oder der Hypnose, in denen das Denken und Handeln sich gewissermaßen verselbständigt, weil das bewusste Leben suspendiert wird und in den Bann eines unbewussten Anderen gerät, das latent seine Steuerung übernimmt. Mit dem enormen Interesse an der Existenz einer solchen »hidden soul« (Dallas 1866: 209ff.), die sich gleichsam unter der Oberfläche des bewusst geführten Lebens versteckt und in R.L. Stevensons Erzählung von Jekyll und

12 Vgl. zu dieser ganzen Problematik etwa die umfassende Studie von Rylance (2000).

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Hyde seine womöglich bekannteste Inszenierung gefunden hat, ließe sich aber auch die zeitgenössische Neigung zu Experimenten mit Tierkörpern und aufgeschnittenen Organen aller Art begründen, in denen in immer neuen Anläufen versucht wurde, zu den verborgenen physischen Antriebskräften jenes Lebens vorzudringen, das wir durch unsere psychischen Repräsentationen möglicherweise gar nicht vollständig erkennen können. Wenn Herbert Spencer an anderer Stelle z. B. Experimente mit »decapitated frogs« anführt, die beweisen sollen, »that actions of considerable complexity may be efficiently executed without the aid of the brain«, oder von neugeborenen Kindern berichtet, die angeblich tagelang geatmet, geschrien, gesaugt und sich bewegt haben sollen, obwohl sie gänzlich ohne Gehirn auf die Welt gekommen sind (»born without either cerebrum or cerebellum«) (Spencer 1910: 397-98), dann zeugt das nicht zuletzt von einer tiefen Begeisterung für ein wortwörtlich rein leibhaftes, durch keinerlei bewusste gedankliche Reflexion beeinträchtigtes Leben. Es zeugt von der Begeisterung für ein naives Erleben, das ganz in sich selber aufgeht, aber von sich selber nichts weiß (vgl. Lask 1923: 191).13 Umgekehrt liefert die wiederholte Durchführung solcher künstlich arrangierter Experimente mit Tieren jedoch nur einen weiteren Beleg dafür, dass der Mensch dieses naive Erleben ganz offensichtlich trotz aller Anstrengungen gerade nicht wissenschaftlich erkennen kann, weil jeder Akt des Erkennens zwangsläufig mit einer vermittelnden Differenzierung, einer Repräsentation des unmittelbar Erlebten einhergeht, die mit ihm nicht mehr identisch ist. »Das philosophische Erkennen lebt nicht in dem, was es zu seinem bloßen Erkenntnismaterial macht«, wie Emil Lask es formuliert, der dem Verhältnis von Leben und Erkennen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein eigenes Buchkapitel gewidmet hat (1923: 192). Es steht vielmehr, so scheint es, in unüberwindbarer Distanz dazu. Wichtig ist dabei, dass dieser fundamentale Konflikt zwischen Erleben und Erkennen, zwischen dem Leben des Seins und dem Leben des Bewusstseins gerade deshalb unüberwindbar erscheint, weil er selbst ein Effekt des zeitlichen Lebens ist. Denn wenn Leben immer ein belebtes Sein meint, also eine Seinsform, die sich in und mit der Zeit verändert, dann folgt daraus, dass alles Leben zwangsläufig im Unterschied zu dem existiert, was nicht oder anders am Leben ist. Leben markiert, indem es auf eine spezifische Weise belebt ist, eine Differenz zu allem, was nicht oder auf andere Weise belebt ist. Es realisiert eine Grenze zwischen Lebendigem und nicht Lebendigem, genauso wie zwischen verschiedenen Formen des Lebendigen (vgl. Fischer 2004: 61ff.). In jedem Fall verleiht es dem Körper, den es belebt, eine eigenständige Position im Verhältnis zu seiner Umwelt, die es ihm ermöglicht, Einwirkungen von außen nicht nur passiv zu erleiden, sondern aktiv und von innen auf sie zu reagieren, so dass sich der zeitliche Prozess des Lebens auch als »continuous adjustment of external relations to internal relations« bestimmen ließe (Spencer 1946: 68). Man kann deshalb behaupten, dass sämtliche Lebewesen, Pflanzen und Tiere genauso wie Menschen, durch eine Form der »Positionalität« gekennzeichnet sind, wie Helmuth Plessner es nennt: Sie sind in einem bestimmten Verhältnis zu ihrer Umwelt positioniert, wobei die 13 Aus dieser Faszination ist die mit Namen wie Nietzsche, Bergson, Simmel und Dilthey verbundene Denkströmung hervorgegangen, die häufig mit dem Sammelbegriff »Lebensphilosophie« bezeichnet wird. Vgl. dazu Pflug (1980); Sparn (1997: 22ff.).

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spezifische Besonderheit des menschlichen Lebens im Vergleich zum Leben anderer Organismen darin besteht, so Plessner, dass seine Position exzentrisch ist (Plessner 1982a: 135, et passim). D. h., der Mensch steht nicht nur in einer bestimmten Beziehung zu seinem Milieu, sondern er weiß auch darum. Er lebt sowohl mit seinem Körper in Beziehung zur Umwelt als auch im Bewusstsein um die Beziehung seines Körpers zur Umwelt. Er hat nicht nur eine körperliche Position im Verhältnis zu seiner Umgebung, sondern auch und zugleich ein bewusstes Verhältnis zu dieser Position. Anders als Pflanzen und Tiere muss er seine Position deshalb selbst bestimmen und verstehen. Sein Verhältnis zur Umwelt versteht sich nicht von selbst; es ist nicht allein durch die unmittelbaren Bedürfnisse und Neigungen seiner körperlichen Existenz bestimmt, weil der Mensch weiß, dass er sich auf viele verschiedene Arten zu ihnen verhalten kann (vgl. Plessner 1982b: 9ff.). Einerseits fehlt ihm folglich die »Instinktsicherheit« (ebd.: 17), die ihm eine spezifische Position in der Welt vorgeben könnte. Andererseits verleiht ihm eben dieser Mangel zugleich die Freiheit, sich zu keinem Zeitpunkt auf eine bestimmte Weise positionieren zu müssen, sondern andere Möglichkeiten in Betracht ziehen, zwischen Optionen abwägen und sich mögliche Zukunftsabläufe vorstellen zu können, wenn auch ohne dabei von seiner körperlichen Bedingungslage unabhängig zu werden. Dieser Doppelaspekt bringt es mit sich, dass der Mensch das, was er ist, nur bewusst sein kann. D. h., »er muß sich zu dem, was er schon ist, erst machen« (ebd.: 16). Er kann nur leben, »indem er ein Leben führt«, indem er das, was er tatsächlich verkörpert, auf eine mögliche Weise realisiert, die nicht die einzig mögliche ist (ebd.: 16). Man könnte auch sagen: Was er natürlich schon sein mag, kann er nur mit künstlichen Mitteln in lebender Form werden. Da der Mensch um seine Existenz weiß, erkennt er sich als existentiell bedürftig, »konstitutiv heimatlos«, nichtig und nackt, und diesen unvollendeten Zustand kann er nur kompensieren, indem er sich eine zweite, kulturelle Existenz aus Normen, Institutionen und künstlichen Orientierungssystemen schafft, die der ersten »die Waage zu halten« vermag (ebd.: 17, 18). Aber nicht nur die Entstehung von Kultur hat ihren Grund somit in einem menschlichen Kompensationsbedürfnis, sondern auch ihr ständiger Wandel. Denn das künstlich konstruierte Gleichgewicht lässt sich in der Zeit und im Leben nur halten, wenn es mit der Zeit ständig neu hergestellt und damit am Leben erhalten wird. Dies, so Plessner sinngemäß, geschieht dadurch, dass das, was bereits in kulturell (symbolisch, institutionell, rituell etc.) bestimmter oder bezeichneter Form vorliegt nun seinerseits immer wieder als etwas anderes realisiert und inszeniert und dadurch im Dialog mit sich verändernden Umweltbedingungen fortlaufend renoviert, adaptiert und transformiert wird (vgl. ebd.: 15ff.). Personale menschliche Identität lässt sich demnach zwar nur in der Vermittlung durch Kultur verwirklichen, aber sie ist, solange sie am Leben ist, trotzdem nicht in einer einzigen Kultur zu verorten.14 Sie kann zwar nur kulturell gewusst, aber nicht auf nur ein bestimmtes kulturelles Wissen festge14 Das Thema »kollektive Identität« ist nach Plessner untrennbar mit dem Thema »personale Identität« verwoben, weil der Mensch seine Personalität nur über Strukturen von Kollektivität ausdrücken, also mitteilen kann (vgl. Plessner 1982b: 34). Vgl. zu kollektiver Identität allgemein Straub (2004: 290-315).

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legt werden. Sie lebt im Übergang zwischen dem, was sie aktuell ist und dem, was sie potentiell sein kann. Das Subjekt bildet sich in der Vermittlung zwischen diesen beiden Seiten. Sein Wissen von sich und der Welt schlägt eine Brücke zwischen ihm und der Welt; es vermittelt sein tatsächliches Sein mit einem kulturell möglichen Bewusstsein. Aber da dieses Wissen als menschliches zwangsläufig auch lebendiges, veränderliches, sich wandelndes Wissen ist, kann es potentiell jederzeit in Frage gestellt, modifiziert und durch ein anderes mögliches Wissen ersetzt werden, so dass die kulturell konstruierte Einheit zwischen Bewusstsein und Sein, Möglichkeit und Wirklichkeit, individueller Erfahrung und kollektiver Zugehörigkeit ständig Gefahr läuft, in eine Zone des Widerstreits auseinander zu brechen, in der verschiedene mögliche, aber möglicherweise dissonante Identifikationsangebote, Diskurse und Systeme aufeinander prallen, die miteinander um die Deutungshoheit im Prozess der Identitätskonstitution ringen (vgl. Lyotard 1989). In solchen Fällen hängt das Bewusstsein gleichsam unentschieden, zauderhaft im Niemandsland zwischen mehreren, einzeln differenzierten, aber gemeinsam verfügbaren Wissensformationen, Diskursen und Selbstbeschreibungsmöglichkeiten fest. Der gleichmäßige Fluss der Lebenszeit staut sich vorübergehend zu einer wilden Gemengelage möglicher kultureller Allianzen auf, die sich gegenseitig überlagern und relativieren, so dass ihre zukünftige Entwirrung ungewiss erscheint. Das Wissen um die eigene Identität, also um das Verhältnis zwischen faktischem Sein und kulturell definiertem Bewusstsein, präsentiert sich zeitweise als wackelig, windig und austauschbar, aber nicht als indifferent oder sinnlos. In Bezug auf den Titel des vorliegenden Bandes kann man deshalb auch sagen: Es wird transdifferent. Solche Momente der Transdifferenz lassen sich mit Plessner als eigentlich unvermeidliche Auswirkungen des Verhältnisses zwischen menschlichem Leben und kulturellem Wissen auffassen, wie er es mit den Begriffen »indirekte Direktheit oder vermittelte Unmittelbarkeit« zu charakterisieren versucht (Plessner 1982b: 34). Damit ist gemeint, dass der Mensch sein Leben nur in kulturell vermittelter Form überhaupt bewusst als unmittelbare Tragfläche seiner leiblichen Existenz in der Zeit erkennen kann. In alltagspraktischen Situationen kann er mit diesem paradoxen Zustand meist auch sehr gut leben, weil die Differenz zwischen dinglicher Unmittelbarkeit und symbolischer Vermittlung, Präsenz und Repräsentation, tatsächlichem Sein und kulturellem Bewusstsein hier in der Regel pragmatisch ausgeklammert bleibt. Aber da die Einheit dieser Differenz in dem und durch das bewusste Leben ständig neu hergestellt werden muss, bleibt sie zwangsläufig instabil und kann deshalb potentiell jederzeit als Widerspruch erfahren werden. Diese These von der prinzipiellen Instabilität und Mobilität menschlichen Lebens lässt sich deshalb auch an zeitgenössische Identitätskonzeptionen anschließen, wie sie etwa aus den Cultural Studies bekannt sind. »Each of us live with a variety of potentially contradictory identities, which battle within us for allegiance«, schreibt etwa Jeffrey Weeks, »as men or women, black or white, straight or gay, able-bodied or disabled, ›British‹ or ›European‹…The list is potentially infinite and so therefore are our possible belongings« (1990: 88). Weil Menschen im Gegensatz zu Tieren und Pflanzen um ihre Position in der Welt wissen, können sie die kulturell definierte Identität des Verhältnisses zwischen sich und der Welt immer auch noch anders erfahren oder bestimmen, je nachdem, was kulturell möglich ist, und möglich ist unendlich viel, wenn 25

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man die Möglichkeiten der Fiktion mit einschließt. Menschliche Identität ließe sich demnach als potentiell transdifferent beschreiben, wobei sie keineswegs immer aktuell so erfahren, geäußert oder in Texten dargestellt werden muss. Denn der Begriff »Transdifferenz« bezieht sich nicht einfach auf alle Phänomene oder Momente, in denen mehrere mögliche, aber verschiedene oder sogar gegensätzliche »properties, affiliations or elements of semantic and epistemological meaning construction« gleichzeitig zur Selbstbeschreibung von Personen, Kulturen oder Systemen zur Verfügung stehen, denn das ist ohnehin immer der Fall. Er versucht vielmehr speziell solche Phänomene oder Momente zu erfassen, in denen diese gleichzeitige Verfügbarkeit »as cognitively or affectively dissonant, full of tension, and undissolvable« erfahren oder betrachtet wird (Breinig/Lösch 2006: 105).

V. Zu den Themen und Beiträgen des Bandes In der Frage nach dem Verhältnis von menschlichem Leben und kulturellem Wissen konvergieren, wie inzwischen deutlich geworden ist, eine ganze Reihe von theoretischen Problemen, zu deren Lösung dieser Band einen Beitrag leisten möchte. Denn der Prozess des menschlichen Lebens als ein Prozess des bewussten, von sich wissenden Lebens, enthält und repräsentiert notwendigerweise sowohl Aspekte der Identität als auch der Differenz. Er repräsentiert – in einem Satz – sowohl das notwendige Medium aller menschlichen Kulturtätigkeit, einschließlich der wissenschaftlichen Forschung, als auch den unumkehrbaren zeitlichen Prozess, in dessen Verlauf sich diese Tätigkeit in eine unendliche Vielzahl möglicher Formen, Systeme, Gestalten und Diskurse ausdifferenzieren kann, die sich nicht mehr ohne Weiteres auf einen gemeinsamen Grund oder Ursprung zurückführen lassen. Der Genitiv »das Leben des Wissens« verweist folglich sowohl auf ein lebendiges Sein, das allem Wissen vorausgeht, als auch auf ein wissendes Bewusstsein, das sich davon unterscheidet. Es verweist sowohl auf das erlebbare Faktum kulturellen Wandels als auch auf die erkennbaren Strukturen, in denen er sich zeigt. Es verweist sowohl auf die Prozesse »kultureller Differenzierung« sowie »kulturellen Übersetzens und Übertragens« als auch auf das Andere, das sich einer »Kulturhermeneutik« – die dem Verstehen dieser Prozesse gewidmet ist – möglicherweise entzieht (Sparn 2008: 13). Das Leben des Wissens konstituiert sich im Übergang zwischen Präsenz und Repräsentation, Erleben und Erkennen, Identität und Unterschied. Man kann auch sagen: Es konstituiert selbst diesen Übergang. Der Problemtitel »Das Leben des Wissens« ist deshalb meiner Ansicht nach bestens geeignet, um die zentralen interdisziplinären Probleme zu markieren, auf die sich dieser Band konzentriert. Denn die hier versammelten Aufsätze sind zum größten Teil aus der Abschlusskonferenz des Erlanger Graduiertenkollegs »Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz« hervorgegangen, die seinerzeit eine zweifache Absicht verfolgt hat. Einerseits wollte sie die Erforschung kultureller Veränderungsprozesse »im Zeichen von Differenz und Transdifferenz« bewusst fortsetzen; andererseits wollte sie aber zugleich ausdrücklich nach dem Anderen und Fremden fragen, das sich im Zeichen oder unter den Prämissen differenz- und differenzierungslogischer Ansätze nicht schlüssig beschreiben lässt, unab26

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hängig davon, ob man dieses Andere in Begriffen wie »Materialität« und »Präsenz« oder eher in Konzepten wie »Evidenz« und »Ereignis« zu fassen versucht. Der Band möchte mithelfen, einen konstruktiven, fächerübergreifenden Dialog zwischen diesen beiden Seiten zu initiieren. Er möchte das interdisziplinäre Leben des Wissens repräsentieren, das sich zwischen eher unterscheidungsorientierten Ansätzen einerseits und eher identitätsorientierten Ansätzen andererseits abspielt. Dieses »Leben« im Sinne einer veränderlichen, dialogischen Erkenntnisbewegung zwischen Identität und Unterschied bildet dabei nicht nur den gemeinsamen thematischen Schwerpunkt der Beiträge, sondern findet sich zudem in seiner strukturellen Anlage reproduziert. Neben eigenständigen Abhandlungen enthält der vorliegende Band deshalb auch mehrere kürzere Antwortbeiträge darauf, die man gewissermaßen als kritische Impulse aus der Umwelt des wissenschaftlichen Hauptsystems betrachten könnte, die einige von dessen Ergebnissen modifizieren, hinterfragen und gelegentlich irritieren wollen, um den Erkenntnisaustausch zwischen Zentrum und Peripherie, etablierten WissenschaftlerInnen und aufstrebendem Nachwuchs am Leben zu erhalten. Das Buch ist in fünf Abschnitte gegliedert. Der erste Teil, »Differenzen«, greift Grundfragen differenzierungstheoretischen Denkens auf, wobei der Beitrag von HELMBRECHT BREINIG und KLAUS LÖSCH sich in erster Linie mit der von ihnen konzipierten und am Erlanger Kolleg ausgebauten Kategorie »Transdifferenz« beschäftigt, während der Aufsatz von DORIS FELDMANN die anhaltende Konjunktur des Denkens in, durch und mit Hilfe von »Differenz« in den Blick nimmt, deren erkenntniskonstitutive Funktion im Verhältnis zu anderen Theoriebausteinen nach wie vor relativ ungebrochen erscheint und auch von »Transdifferenz« als möglichem »Komplement von Differenz« (Lösch 2005: 252) dezidiert nicht in Frage gestellt wird. Beide Aufsätze sind dabei nicht nur darauf gerichtet, die Tragfähigkeit kultur- und literaturwissenschaftlicher Analyse »im Zeichen von Differenz und Transdifferenz« anhand konkreter Beispiele aus Literatur und Gesellschaft zu explizieren und zu konsolidieren. Sie versuchen darüber hinaus auch Perspektiven für zukünftige Projekte zu eröffnen. Während beide Kapitel des ersten Abschnitts jedoch trotz aller Offenheit gegenüber anderen Zugängen nach wie vor weitgehend innerhalb des erkenntnistheoretischen Paradigmas der Unterscheidung argumentieren, die alle Unterschiede erst machen muss, bevor sie – etwa durch Erfahrungen von Transdifferenz – überhaupt in Frage gestellt werden können, setzt der zweite Abschnitt unter der Überschrift »Präsenz« bei einer grundsätzlichen Kritik dieses erkenntnistheoretischen Paradigmas an. So plädiert DIETER MERSCH in seinem Beitrag für ein posthermeneutisches Programm, das in die Arbeit am Sinn auch die existentiellen Vorgänge und unverstandenen Residuen miteinschließt, die den Prozess des Verstehens sowohl anleiten als auch zu unterlaufen drohen, weil sie all das verkörpern, was jeder konstruktive Akt der Beobachtung zu negieren, jedenfalls auf Distanz zu halten versucht, obwohl es notwendigerweise in ihm enthalten sein muss. Wenn man dabei freilich an der konstruktivistischen These festhält, dass Sinn prinzipiell nur in vermittelter Form, also durch Unterscheidungen zustande kommen kann, dann lässt sich das, was der Unterscheidung vorausgeht, innerhalb des durch sie erzeugten Sinns eigentlich nur in Form von Paradoxien, Selbstdementis und rhetorischen Figuren zur Geltung bringen, wie PETER ISENBÖCK in seiner Antwort 27

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auf Merschs Programm zu bedenken gibt. Im Gegensatz dazu versucht Isenböck eine am Pragmatismus und der analytischen Philosophie geschulte Denkrichtung zu entwickeln, die sich sämtlichen Zugeständnissen an konstruktivistische Grundüberzeugungen gezielt zu enthalten versucht, ohne dadurch in einen naiven Realismus zurück zu fallen. Mit der allgemeinen Frage, ob und wie wir uns ein »Bild« von der Realität machen und machen können, beschäftigt sich auch der dritte Aufsatz des Präsenzteils. ANDRÉ GRZESZYK nähert sich dieser Frage darin allerdings anhand des spezifischen Phänomens »Amok« und seiner Darstellung in Gus van Sants dokumentarischem Film Elephant. Er nähert sich dem Verhältnis von aktueller Erfahrung und potentieller Konstruktion also anhand eines Phänomens, das die vertrauten Deutungsweisen und kulturellen Vermittlungsinstitutionen der gesellschaftlichen Wirklichkeit schon wiederholt mit einer dermaßen unvermittelten Wucht und Gewalt verstört und verunsichert hat, dass jeder Versuch der Sinnstiftung vor seiner demonstrativ sinnlosen Brutalität zur Kapitulation gezwungen zu sein scheint. Im dritten Teil des Bandes steht dagegen nicht so sehr die Differenz zwischen Vorgängigem und Nachträglichem, sinnlicher Realität und sinnvoller Realisierung im Vordergrund. Es geht hier vielmehr um den Übersetzungsvorgang zwischen verschiedenen Orientierungssystemen, Diskursen, Sprachspielen, »Welten«, die zur Konstruktion und Kommunikation dessen zur Verfügung stehen, was jeweils als real erfahren wird. Zunächst erläutert der Aufsatz von MARTIN FUCHS einige der Grundfunktionen, die solche Übersetzungsprozesse bei der Konstitution und Transformation kollektiver und personaler Identität erfüllen können. Dabei führt er am Beispiel der indischen Gesellschaftsgruppe der Dalit, der ehemals »Unberührbaren«, eingehend vor, wie ein in sich stark diversifizierter, uneinheitlicher Ausgangskontext sich im variablen Dialog mit einer ihm gegenüber fremdartigen, mitunter sogar feindseligen Umwelt anderer Handlungs- und Diskursfelder neu zu positionieren, zu homogenisieren und dadurch überhaupt erst als eine eigene soziale Einheit zu konstituieren vermag. Der Begriff der »Übersetzung« scheint es dabei allerdings mit sich zu bringen, dass die Ausgangs- und Zielkontexte, zwischen denen übersetzt wird, vom wissenschaftlichen Beobachter schon von vornherein als relativ eigenständig und homogen vorausgesetzt werden müssen, was zu einer gewissen Reduktion kultureller Komplexität und Pluralität führen kann. Dies macht JANNA LAU in ihrer kritischen Antwort auf den Beitrag von Fuchs geltend, in der sie vorschlägt, die sozialkonstitutiven Diskursaktivitäten der Dalit nicht als eine Form der Selbstübersetzung, sondern besser als eine Form der Selbstbegründung oder Selbsterzählung aufzufassen. Um eine Form der Identitätsbegründung durch Übersetzung geht es auch in dem Aufsatz von STEPHAN SCHMIDT, der am Beispiel der Kant-Rezeption des chinesischen Philosophen Mou Zongsan detailliert zeigen kann, wie die kreative Aneignung westlicher Begriffe und Wissensbausteine durch neukonfuzianische Philosophen zu einer Modernisierung und Rekonfiguration der eigenen chinesischen Denktraditionen geführt hat, aus der sukzessive eine hybride »dritte« Terminologie hervorgegangen ist, die sich weder auf kantische noch auf konfuzianische Kontexte zurückführen lässt, obwohl sie erkennbare Anteile aus beiden mit sich führt. Die Überlegungen von MARTIN DÖSCH – im Anschluss an Schmidt formuliert – umkreisen das Thema Übersetzen schließlich 28

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noch einmal in etwas anderer Weise, indem sie die wissenschaftliche Ordnungs- und Definitionssprache ihrerseits in eine eher essayistische (und damit vielleicht lebendigere) Form übertragen oder zumindest damit kontrastieren. Während im dritten Teil also die Übertragungsvorgänge zwischen verschiedenen kulturellen Kontexten im Vordergrund stehen, ist der vierte Teil, »Grenzen«, unter anderem den epistemologischen Bedingungen und ermöglichenden Strukturen, einschließlich Fiktionen, gewidmet, aufgrund derer die Unterscheidung zwischen solchen Kontexten erst zustande kommen kann. So geht ALBRECHT KOSCHORKE in seinem Beitrag davon aus, dass die Einheit der Unterscheidung von Natur und Kultur unter den modernen Bedingungen, deregulierter, dezentralisierter Ordnungen nicht mehr von einer normativ vorgegebenen Asymmetrie gewährleistet sein kann, mit deren Hilfe sich die eine Seite in die andere einschließen lässt. Es sei hier vielmehr mit variablen Grenzverläufen zu rechnen, die bestenfalls durch vorläufige Regeln und Normen von lokal begrenzter Gültigkeit stabilisiert werden können; dies mache die Unterscheidungsrichtlinien wandelbar und potentiell austauschbar, so dass die Unterschiede ständig neu verhandelt werden müssen. Wenn man aber akzeptiert, dass die Natur/Kultur-Unterscheidung selbst eine kulturelle Errungenschaft ist, dann eröffnet sich, wie Koschorke exemplarisch zeigt, zugleich die Möglichkeit, in kultursemiotischer Perspektive zu beobachten, wie die Grenze zwischen den beiden Termen in verschiedenen historischen und diskursiven Kontexten jeweils anders markiert und legitimiert wird. Dieses methodische Verfahren aber, so wendet MICHAEL GUBO in seinem Beitrag ein, hält trotz oder gerade wegen seines dezidierten Relativismus an der grundsätzlichen Gültigkeit unterscheidungslogischen Denkens fest und unterlässt es damit bewusst, die pragmatische Konstitution der beobachteten Diskurssemantik genauso wie die der wissenschaftlichen Beobachtungsposition selbst zum Teil einer umfassenden Begriffsbildung zu machen. Die gezielte theoretische Reflexion des zirkulären Verhältnisses zwischen analysierender und analysierter Sinnkonstitution ist deshalb das Thema von Gubos Text. Um die zirkuläre Wechselbeziehung einer erzeugenden zu einer von ihr selber erzeugten Identität geht es danach auch in ULLA HASELSTEINS theoretisch interessierter Lektüre von Philip Roths scheinbar autobiographischem Roman Operation Shylock. Wie Haselstein zeigt, wird die reale Existenz in der jüdisch-US-amerikanischen Diaspora in Roths Text zum fiktionalen Korrelat einer Subjektivität, die sich selbst beschreibt, indem sie sich zugleich als etwas anderes, Fiktives imaginiert, das sie nicht ist, wohl aber sein könnte. Das Leben in der Diaspora stellt sich auf diese Weise als Inbegriff einer gleichsam nomadischen Subjektivität dar, die sich gerade dadurch positioniert, dass sie sich imaginär zerstreut. Ausgehend vom Untertitel des Romans, A Confession, erweitert URS ESPEEL Haselsteins Lesart um den Aspekt eines ironischen Bekenntnisses, das sich nicht zu sich selbst bekennt, indem es aus einem bestimmten Grund oder von einer bestimmten Position aus spricht, sondern indem es mögliche Gründe zur Artikulation einer unbestimmten Position erkundet. Dieses Verfahren lässt sich, wie Espeels theologisch ausgerichtete Lektüre zeigt, zudem an einzelne Elemente einer spezifisch jüdischen Tradition anschließen, wie sie von Roths Text mehrfach aufgerufen wird. KAY KIRCHMANNS Beitrag ergänzt diese Diskussion über eine bodenund heimatlose Form des Schreibens und Denkens noch um eine weitere Di29

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mension, die er aus seiner Lektüre der Schriften Siegfried Kracauers gewinnt. Kracauers Arbeiten lassen sich nach Kirchmann als Beiträge zu einer »ausgebürgerten« oder exzentrischen Form der Geschichtsschreibung lesen, die von der Idee eines utopischen Nicht-Ortes vor oder jenseits aller Grenzen und Differenzen inspiriert ist, der sich jeder Identifikation beharrlich entzieht und deshalb nur in einer ständigen Wanderungsbewegung zwischen den Dingen und Orten angedeutet werden kann. Dass die dahinterstehende Vorstellung eines gemeinsamen menschlichen Ortes diesseits aller intra- und interkulturellen Differenzen nicht nur in theoretischen und philosophischen Texten, sondern auch in den Selbstbeschreibungsversuchen von Schulkindern mit so genanntem »Migrationshintergrund« klar vorherrscht, zeigt abschließend der Beitrag von CRISTIAN ALVARADO. Der vielfach unter dem Stichwort Writing Culture diskutierten Frage nach der Art und Weise, wie fremde und eigene Kulturen angemessen beschrieben werden können, wird hier anhand einer detaillierten Analyse von Schüleraufsätzen nachgegangen, die in einem Schreibwettbewerb zum Thema »Argentinier sehen Deutsche – Deutsche sehen Argentinier« entstanden sind. Das in diesem Band aufgegriffene Problem eines lebendigen Zwischenspiels, einer transdifferenten Semi-Situation, die sich im Übergang von einer Identität, Position, Zugehörigkeit oder Wissensform zu einer möglichen anderen befindet, wird schließlich im fünften und letzten Teil dieses Bandes unter dem Stichwort »Transformationen« vor allem unter sozial- und politikwissenschaftlichen Gesichtspunkten beleuchtet. ANDREI MARGAS Beitrag beschäftigt sich dabei zunächst mit der Frage, welche Rolle die Rezeption der kritischen Theorie im Prozess der politischen Transformation Mittelosteuropas seit den 1980er Jahren gespielt hat, um aus den dabei gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnissen über politische Vorgänge anschließend einige politische Forderungen für die wissenschaftliche Arbeit abzuleiten. Margas Perspektive auf die gesellschaftlichen Transformationsprozesse scheint dabei, wie MARTIN KYPTA und ULLA REISS in ihrer Antwort auf Margas Überlegungen anmerken, stark durch seine eigenen Erfahrungen als Bildungsminister im postsozialistischen Rumänien geprägt zu sein. Kypta/Reiß nehmen seinen Beitrag deshalb zum Anlass für eine hegemonietheoretische Diskursanalyse des Transformationsprozesses, wie er in und durch Margas Text selbst zur Darstellung gebracht wird. Im Unterschied zu diesem Ansatz geht es ANDREAS RECKWITZ in seinem Beitrag weniger darum, zu analysieren, wie sozialer Wandel in Texten beschrieben und dargestellt wird, sondern eher darum, zu erklären, wie er überhaupt zustande kommt. Reckwitz geht dieser Frage anhand der Transformationen der kulturellen Sinnmuster, Diskurse und Konventionen nach, die das westliche Verständnis von Persönlichkeit und Individualität bestimmen. Den Wandel solcher »Subjektordnungen« versucht Reckwitz zu erklären, indem er die kulturellen Experimentalsysteme und sozialen Laborsituationen, also die Zwischenstadien in den Blick nimmt, in denen Bekanntes und Verfügbares unter veränderten Bedingungen regeneriert, mit verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten konfrontiert und dadurch schrittweise in etwas genuin Neues transformiert wird. Diesen Prozess versucht Reckwitz mit den v. a. aus der Literatur- und Kulturwissenschaft entlehnten Begriffen »Hybridität« und »Intertextualität« zu beschreiben. Das fordert STEPHANIE GARLING und ANJA ROZWANDOWICZ in ihren kritischen Kurzantworten darauf zu dem zentralen Einwand heraus, diese Konzepte – 30

Zwischen Identität und Unterschied

insbesondere das der »Hybridität« – würden hier um der theoretischen Innovation willen aus ihren stark politisch motivierten Gebrauchskontexten in den Cultural Studies entführt und in gleichsam zweckentfremdeter Form neu zur Geltung gebracht, was die sozialen Wirklichkeiten und politischen Auseinandersetzungen – insbesondere in postkolonialen Gesellschaften – unterschlage, die den Sinn solcher Konzepte einmal maßgeblich mitgeprägt hätten. Der Beitrag von WALTER SPARN, als Resümee der Abschlusskonferenz des Graduiertenkollegs entstanden, greift schließlich einige offene Fragen auf, die mit dem Konzept der »Transdifferenz« verbunden sind. Er möchte damit Anregungen zum weiteren Nachdenken über die so beschriebenen Phänomene geben, insbesondere über ihre Zeitlichkeit und Historizität und damit über zwei Aspekte, die mit der Frage nach dem Leben des Wissens, wie sie hier einleitend aufgegriffen wurde, untrennbar zusammenhängen.

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I. DIFFERENZEN

Forschungsfelder der Transdifferenz: Identität, Leiblichkeit und Repräsentation1 HELMBRECHT BREINIG / KLAUS LÖSCH

I. Das Einhorn ist ein Säugetier. Der Inhalt dieser Aussage ist uns allen geläufig; die Abbildungen des Tieres lassen keinen Zweifel zu. Für den Rückgriff auf die Klassifikationen chinesischer Enzyklopädien bei Borges oder Foucault besteht daher kein Anlass. Und doch mag dieser Satz Unbehagen auslösen, denn wir wissen einerseits, dass es Einhörner nicht in der sogenannten realen Welt gibt, sondern nur in Mythos, Kunst und Literatur, dass aber andererseits die Aussage, dass Einhörner Säugetiere sind, sich auf eine Kategorie zur Klassifikation realer Säugetiere bezieht. Die widersprüchliche Implikation – es gibt Einhörner und es gibt sie nicht – , ist mit den Mitteln der zweiwertigen Logik zwar formal auflösbar, aber das verhindert nicht unser Unbehagen, wenn wir mit der gleichzeitigen Existenz und Nichtexistenz einer Sache, und sei es auf unterschiedlichen Realitätsebenen, konfrontiert sind. Ein Fall von Transdifferenz? Nicht unbedingt, wenn wir die Logik im Auge behalten, die auf die Beseitigung von Widersprüchen zielt, aber durchaus, wenn wir die gleichzeitige Zugehörigkeit zu zwei oder mehreren verschiedenen oder gar gegensätzlichen Referenzbereichen in den Mittelpunkt rücken. Man kann das als Hinweis darauf sehen, dass es einfacher sein mag, sich im Mythos einzurichten, wo es solche Widersprüche nicht gibt. Um Begriff und Theorie der Transdifferenz ranken sich mittlerweile freilich ebenfalls Mythen, die man gerne entbehren möchte, wenn man um Anwendbarkeit bemüht ist. Im Folgenden wird es daher um die Verdeutlichungen einiger Aspekte dessen gehen, was wir mit der Einführung des Terminus intendierten bzw. wohin wir ihn weiterentwickelt haben.2 Zu Beginn sei daher noch einmal die Definition zitiert, die unsere grundlegende Darstellung von 2006 einleitet und von deren Gültigkeit wir weiterhin ausgehen:

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Teil I: Helmbrecht Breinig; Teil II: Klaus Lösch. Es ist mir ein Anliegen, darauf hinzuweisen, dass die kulturtheoretische Füllung des Begriffs Transdifferenz, den ich zusammen mit seinem Ausgangskonzept für den Antragstext des Erlanger Graduiertenkollegs eingeführt habe, von Klaus Lösch stammt – und damit der Großteil der konzeptionellen Aspekte, wie sie seither diskutiert werden (H.B.). Unsere – überarbeiteten – Vorstellungen von Transdifferenz als allgemeintheoretischem und kulturtheoretischem Begriff haben wir formuliert in Breinig/Lösch (2006).

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Helmbrecht Breinig / Klaus Lösch »The term transdifference refers to phenomena of a co-presence of different or even oppositional properties, affiliations or elements of semantic and epistemological meaning construction, where this co-presence is regarded or experienced as cognitively or affectively dissonant, full of tension, and undissolvable. Phenomena of transdifference, for instance socio-cultural affiliations, personality components or linguistic and other symbolic predications, are encountered by individuals and groups and negotiated in their respective symbolic order. As a descriptive term transdifference allows the presentation and analysis of such phenomena in the context of the production of meaning that transcend the range of models of binary difference. It is not to be confused with de-differentiation (as in concepts of synthesis, syncretism, transculturation) or with différance as spatialising-temporalising deferral« (Breinig/Lösch 2006: 105).

Im ersten Teil des folgenden Artikels wird versucht, die in der bisherigen Rezeption besonders häufig behandelten Bereiche der sozialen und psychischen Transdifferenz anhand einiger Beispiele anzusprechen und auf den auch im Kolleg gelegentlich erhobenen Einwand zu antworten, der Begriff sei am ehesten auf ästhetische Phänomene und Produktionen anwendbar. Der zweite Teil des Artikels geht auf einige der zahlreichen mehr oder weniger konstruktiven Arbeiten ein, die in den vergangenen Jahren zur Transdifferenz erschienen sind. Sie belegen die Dynamik des Konzepts, dessen Anwendung längst jenseits unseres Einflusses liegt. Sie widerlegen die Kritik an seiner mangelnden Operationalisierbarkeit aufgrund allzu großer Offenheit. Wie sich gezeigt hat, ist der Begriff der Transdifferenz vielfältig anschlussfähig, obwohl er Nichtanschlussfähiges behandelt. Die in diesen Arbeiten angesprochenen Referenzbereiche bieten signifikantes Material, um daran einige weiterführende Reflexionen zu grundsätzlichen Aspekten des Konzepts anzuknüpfen. Der Arbeit des Graduiertenkollegs, dessen Abschlusskonferenz in diesem Band dokumentiert wird, ging ein langjähriger, um den Religionssoziologen Joachim Matthes gescharter Gesprächskreis voraus, der dem Thema Fremdheitserfahrung gewidmet war, woraus dann die Idee eines Kollegs zur Kulturhermeneutik entstand. Anders gesagt: Am Anfang standen Probleme von Differenz auf der einen sowie differenztranszendierende, interkulturelles Verstehen und hermeneutische Horizontverschmelzungen darstellende Modelle auf der anderen Seite. Transdifferenz gehört nicht zu den Letzteren, und damit sei auf ein erstes Missverständnis hingewiesen. Man mag bedauern, dass das Präfix »trans« auch andere als die von uns benutzten Konnotationen hat; man sollte das aber nicht als Begründung für utopistische Erwartungen benutzen, die gelegentlich an das Konzept geknüpft werden.3 Sehr wohl gehört der Begriff aber in den Kontext von Differenztheorien. Zwar ist auch Transdifferenz ein Konzept, das von der Unzulänglichkeit binärer Differenzierung bei der Welterfassung ausgeht, aber, als eine Figur der Ambivalenz oder gar des Paradoxons, erklärt sie Identität nicht einfach aus dem Gegensatz zum Anderen, sondern aus der Kopräsenz des Anderen im Eigenen. Das Konzept der Transdifferenz wurde eingeführt, weil und nach3

Dass die Begriffsbildung von »Transdifferenz« semantische und logische Misslichkeiten produziert, war den Teilnehmern des Graduiertenkollegs von Anfang an klar. Zu dieser Problematik vgl. auch Antweiler (2008: 296-97).

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Forschungsfelder der Transdifferenz

dem sich sowohl Differenz als auch Verschmelzungsidentität als unzulänglich erwiesen hatten, um den in den Projekten der Einzeldisziplinen zu erforschenden synchronen und diachronen, interkulturellen und intrakulturellen, intraidentitären und interidentitären Verhältnissen gerecht zu werden. Das macht es unbequem wie das Einhorn in seiner ambivalenten kategorialen Zugehörigkeit. Wie in der Lebenswelt die Erfahrung der Transdifferenz aus Mehrfachzugehörigkeiten und Attributsüberlagerungen erst nach der Gewahrwerdung von Differenz erfolgen kann – eine Aussage, an der wir gegenüber anderen Meinungen festhalten möchten –, folgt also auch die Theorie der Transdifferenz jener der Differenz. In ihrer Studie Etablierte und Außenseiter beschreiben Norbert Elias und John L. Scotson die Formation der Identität von sozialen Gruppen aus der gegenseitigen Abgrenzung sowie die Bildung der sich in Bezug auf die Gruppe definierenden Individualidentität, also das Wirken von Differenz.4 Im Fall der von Elias und Scotson »Winston Parva« genannten englischen Kleinstadt untersuchen die Autoren, wie die Gruppe der dort schon länger Ansässigen sich gegenüber derjenigen der Zugezogenen abschottete, ihr die Teilhabe an Machtressourcen verwehrte, sie »als Menschen von geringerem Wert« (Elias/Scotson 1993: 7) stigmatisierte und ihre Mitglieder dazu brachte, ihre eigene Minderwertigkeit auch noch zu verinnerlichen, und all dies, obwohl es sich bei beiden Gruppen um Angehörige der Arbeiterklasse handelte: »Es gab zwischen ihnen keine Differenzen der Nationalität, der ethnischen Herkunft, der ›Hautfarbe‹ oder ›Rasse‹; ebenso wenig unterschieden sie sich in Beruf, Einkommenshöhe oder Bildung« (10). Mit anderen Worten: Hier wird der Hang zur Differenzentwicklung als allgemeinmenschliches, gemeinschaftsformatives Phänomen analysiert. In einem der hier zitierten zweiten, in dieser Form bislang nur auf Deutsch vorliegenden Ausgabe hinzugefügten Aufsatz, »Weitere Facetten der Etablierten-Außenseiter-Beziehung: Das MaycombModell«, bezieht der Soziologe Elias die Inklusions-/Exklusionsmechanismen einer Kleinstadt der amerikanischen Südstaaten in den 1930er Jahren, also in einer Epoche des krassen Rassismus, mit ein, und zwar interessanterweise anhand der Stadt Maycomb in Harper Lees Roman To Kill a Mockingbird (1960).5 In diesem fiktionalen Werk findet er die von ihm und Scotson herausgearbeiteten sozialen Strukturbildungsfaktoren besonders klar repräsentiert. Die Anwendung einer sozialen Differenztheorie auf eine fiktionale Gesellschaft heißt also nicht, dass diese Theorie somit automatisch oder primär eine ästhetische würde, denn fiktional ist nun einmal nicht dasselbe wie fiktiv.6 Ebenso wenig gilt für das Konzept der Transdifferenz, dass es ein 4 5 6

Den Hinweis auf Elias’ und Scotsons Studie verdanke ich Christa Buschendorf. Auf deutsch 1978 erschienen unter dem Titel: Wer die Nachtigall stört. Mit Fiktionalität ist nach Gabriel (1975) die Aufhebung der Gültigkeit bestimmter Bedingungen für Aussagesätze gemeint. Fiktionale Rede ist demnach »diejenige nicht-behauptende Rede, die keinen Anspruch auf Referenzialisierbarkeit oder auf Erfülltheit erhebt« (28). »Nicht-behauptend« bedeutet u.a., dass die Wahrheitsbedingung für einen Behauptungssatz suspendiert ist, obwohl dies nicht ausschließt, dass ein fiktionaler Text auch auf der Primärebene wahre Aussagesätze enthält und sich auf reale Gegenstände beziehen kann – denken wir an historische Romane. Lees Roman als fiktionaler Text bezieht sich auf real existierende Verhältnisse und sogar auf einen konkreten historischen Fall, ist also in dieser Hinsicht nicht fiktiv im Sinne von

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Helmbrecht Breinig / Klaus Lösch

vorwiegend ästhetiktheoretisches ist. Es nimmt vielmehr für sich in Anspruch, in verschiedenen Kontexten anwendbar zu sein, u. a. in dem der sozialen Gruppenbildung, aber auch in dem der ästhetischen Vermittlung, obwohl es verschiedentlich als besonders für den ästhetischen Bereich geeignet gesehen worden ist.7 Diese multiple Anwendbarkeit von Transdifferenz soll an einem Beispiel belegt werden; wir bleiben zu diesem Zweck bei den amerikanischen »Rassenbeziehungen«. Für Elias ist der Gegensatz von Etablierten und Außenseitern in Maycomb im Vergleich zu Winston Parva deutlicher markiert: »In Maycomb, Alabama, bilden die Weißen das Establishment, selbst wenn sie schreibunkundig und arm sind, und vielleicht gerade weil sie arm sind. Ihre Privilegien als Mitglieder des Establishments stehen fest und unerschütterlich da. Ebenso klar sind die Symbole der Außenseiterposition bei den Schwarzen, als Individuen oder Familiengruppen« (Elias/Scotson 1993: 296). Der zentrale Unterschied zwischen der englischen Kleinstadt, die das Ausgangsmaterial geliefert hatte, und derjenigen in Alabama besteht für Elias in der Verfügbarkeit des Mittels der physischen Gewalt in den USA, wo das Gewaltmonopol des Staates weniger umfassend ist als in Europa. Beide Gemeinden repräsentieren »zwei verschiedene Stufen in der Entwicklung des Nationalstaats und besonders der Organisation physischer Gewalt« (ebd.: 302). Durch die Gewalt wächst der Druck, sich den Gruppenformationen zu entziehen, wenn man darin stets zur Gruppe der Unterlegenen gehört und Möglichkeiten der Gruppensolidarisierung zum Zwecke des Widerstands aus subjektiven oder objektiven Gründen nicht verfügbar sind. Damit sind wir bei Fällen, die aus dem Elias/Scotson-Modell einer aus der Gruppenberührung und -abgrenzung resultierenden internen Gruppenhomogenisierung herausfallen. Eine in diesem Kontext von uns schon mehrfach thematisierte Variante von Tranzdifferenzerleben ist die Folge der gemischten Herkunft von Individuen, etwa im Fall der sogenannten »Gemischtrassigkeit« in den USA und soziologisch ähnlich strukturierten Nationen. Hier soll jedoch eine andere Variante von psychosozialer Transdifferenz erörtert werden, die sich aus den erwähnten rassistischen Verhältnissen ergibt. Dabei bleibt ausgeklammert, dass für das Konstrukt »Rasse« auch die im zweiten Teil thematisierte Leib-Körper-Problematik von zentraler Relevanz ist, dass die angesprochenen Transdifferenzphänomene also noch eine mindestens ebenso beklemmende Dimension der vorprädikativen Leiblichkeitserfahrung besitzen.

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»erfunden« oder »erdacht«, wenngleich er fiktive Figuren und sonstige Details enthält. Frank Schulze-Engler hat in seiner Kritik am Konzept Transdifferenz z. B. moniert, dass der Begriff gleich in dreifacher Hinsicht verwendet wird: als neuer theoretischer Ansatz »for the analysis of culture«, als Begriff für eine schon von jeher bestehende Grundstruktur, »a universal feature of culture«, und als »primarily an aesthetic concept focussing on the creative use of language« (2006: 124f.). Abgesehen davon, dass damit das Referenzspektrum von Transdifferenz noch nicht abgedeckt ist, scheint es uns eher unauffällig, dass derselbe Begriff für ein lebensweltliches Phänomen, für dessen Theorie oder Analyse und für die symbolische Repräsentanz des Phänomens in ästhetischen Produktionen verwendet wird. Für Begriffe wie »Schönheit« gilt dies seit der Antike.

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Forschungsfelder der Transdifferenz

Im Jahre 1990 starb Anatole Broyard, einer der einflussreichsten Literaturkritiker und Kulturessayisten der USA, langjähriger Rezensent bei der New York Times und Herausgeber und Kolumnist der New York Times Book Review. Er war über einige Jahrzehnte hinweg ein wichtiges Mitglied des weißen kulturellen Establishments, und wie um dies zu unterstreichen zog er in seinen späteren Jahren aus New York nach Connecticut, in ein Kernland des angelsächsischen, protestantischen Amerika, und ein Jahr vor seinem Tod nach Cambridge, Massachusetts, in die unmittelbare Nachbarschaft der Harvard University. Bemerkenswert sind diese biographischen, Zugehörigkeit markierenden Schritte wegen eines Umstands, der seinen Kindern zehn Tage vor seinem Tod von ihrer Mutter, nicht von ihm selbst, eröffnet wurde, von dem die breite amerikanische Öffentlichkeit aber erst Jahre später durch einen Artikel von Henry Louis Gates (1996) erfuhr: Nach emischen Kategorien der US-amerikanischen Gesellschaft war Broyard Afroamerikaner, obwohl er von vielen nicht als solcher wahrgenommen wurde. Seit seinem Militärdienst im zweiten Weltkrieg hatte er sich freilich überwiegend als Weißer ausgegeben beziehungsweise akzeptiert, wenn andere von dieser Rassenzugehörigkeit ausgingen. Erst dadurch hatte er sich seine journalistische und literarische Karriere ermöglicht. Er war Schwarzer auf der Basis der in den USA schon lange vertretenen und seit dem frühen 20. Jahrhundert in den meisten Bundesstaaten in der einen oder anderen Form gesetzlich kodifizierten und bis 1967 gültigen »one-drop rule«, nach der eine Person, die auch nur den kleinsten »Tropfen« afrikanischen Blutes aufweist, als Schwarzer zu gelten hat – erlassen im Kontext der damaligen Vorstellungen von Rassenreinheit und von der Überlegenheit der weißen Rasse, die durchaus Parallelen zu jenen in Europa aufwiesen.8 Obwohl er wie ein Weißer aussah, hätte Broyard in der damaligen Zeit ohne sein passing, seinen »Übertritt« von einer Rasse zur anderen, zwar vielleicht ein afroamerikanischer Autor werden können, schwerlich aber ein amerikanischer. Dies mag uns heute, angesichts der Wahl eines Afroamerikaners zum Präsidenten und angesichts der inzwischen bekannten biologischen Erkenntnisse zur Fiktivität von »Rasse« exotisch vorkommen. Wir sollten uns aber vor Augen halten, dass zwischen 1880 und 1920, dem Geburtsjahr Broyards, wöchentlich im Durchschnitt zwei Afroamerikaner aus rassistischen Gründen Opfer von Lynchmorden wurden (vgl. Dray 2002) – das Thema von Harper Lees Roman –, und auch danach riss die Serie solcher Gewalttaten keineswegs ab. Die physische Gewalt, die Elias als Schlüssel bei der Formation der ethnischen Gruppen im US-amerikanischen Süden ansah, war eine extreme Form der Identitätsstabilisierung durch Differenzpostulat. Von der Radikalität dieser Differenzierung her ist es verständlich, dass neben Broyard geschätzte 150 000 »Schwarze« die Chance, die ihnen die Umstände der Teilnahme am Zweiten Weltkrieg boten, ausnutzten, um nach dem Krieg anderswo als »Weiße« aufzutauchen. Was im Falle Broyard als Sensation, gar als Skandal erschien, war für viele Alltag, und der bedeutete auch ein kollektives Verschweigen des Vorgangs im persönlichen Umfeld der Betroffenen, den Verzicht auf Kontakte zu und von Eltern, Geschwistern und Freunden, die Angst vor eigenen Kindern, denen man das schwarze Erbe vielleicht deutlicher ansehen könnte. Es ist nicht vorstellbar, dass es Broyard – oder den vie8

Zur »one-drop rule« vgl. Sweet (2005).

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len tausend anderen allein in den 1940er Jahren – gelungen wäre, diese inneren und äußeren Konflikte zu lösen oder völlig zu verdrängen, trotz der blonden, norwegischstämmigen zweiten Frau, die er nach der ersten Ehe mit einer Afrokaribin heiratete, und trotz des New Yorker und neuenglischen Ambientes, in das er integriert war. Keine Hybridität, keine mestizaje, kein bloßes patchwork reicht zur Benennung dieser Situation aus. Welche Art von personaler Identität müssen wir hier als erlebte und gestaltete annehmen? Zum Identitätsbegriff schreiben Joachim Renn und Jürgen Straub in diesem Kontext: »Der Identitätsbegriff schließt begriffslogisch weder Ambivalenz noch Bewegung und Wandel aus, wenn er nicht den Zustand der Person, sondern die Aspiration, die der Bewegung durchaus widersprüchliche Richtungen gibt, bezeichnet. Das bedeutet dann eben nicht, dass synchrone und diachrone Differenzen zwangsläufig eine Vervielfachung des Ich und der Person evozieren. Identität ist das Motiv für die an praktische, symbolische, kognitive und emotionale Aktivitäten gebundene Synthese oder Integration nicht nur von Differentem, sondern, wie Ricœur zu sagen pflegt, von Heterogenem.« (Renn/Straub 2002: 19) »Mit Bezug auf die Person und von dieser selbst aus gesehen werden bewegte und bewegliche intentionale Selbstverhältnisse, Differenzerfahrungen und Heterogenitäten, stroboskopischer Kontextwechsel etc. überhaupt erst dann als solche erfahrbar und artikulierbar, wenn sie auf das Projekt der Einheit der Person bezogen bleiben und von der entwicklungslogischen Teleologie der Perfektion auf die Transitivität des pragmatischen Selbsthorizontes umgestellt werden.« (Ebd.: 23)

Dabei ist allerdings zu beachten, dass solche Heterogenität keineswegs nur als erfreulich und bereichernd erfahren wird: »Ansätze, die Ethnizität für ›wählbar‹ halten (und das feiern à la Choose Your Identity!), verwechseln Identifikation mit Identität. Sie übersehen deshalb, dass Individuen sich zwar mit wechselnden sozialen Kategorien, politischen Institutionen, Netzwerken, Vereinen etc. identifizieren können, dass sie ihre Identitäten aber nicht wie Hemden wechseln können. Es fällt zum Beispiel auf, dass in Theorien zur Hybridität oder Migrancy oft gar nicht danach gefragt wird, welche psychischen Kosten Fremdheitserfahrungen und Ortsverlagerungen für die beteiligten Personen nach sich ziehen.« (Antweiler 2008: 296)

In der Fassung seines Essays über Broyard, der in Thirteen Ways of Looking at a Black Man erschienen ist, schreibt Gates über den Kritiker: «Starting in 1946, and continuing at intervals for the rest of his life, he underwent analysis. Yet the word ›analysis‹ is misleading: what he wanted was to be refashioned – or, as he told his first analyst, to be transfigured«(Gates 1997: 192). Aber wenn Identität nicht lediglich eine individuelle narrative Konstruktion aus gegebenen Wahlmöglichkeiten ist, sondern in der Zugehörigkeit zu Familie, Kleingruppe, Ethnie usw. und in der Abgrenzung von entsprechenden anderen Gruppierungen formative Elemente aufweist, wie Elias und andere es dargestellt haben, dann ist das, was Elias auslässt, nämlich das Geschehen an den Rändern solcher Identitätsformationen, mit kognitiver und affektiver 42

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Dissonanz verbunden, wie sie sich in Broyards Psychoanalyseversuchen andeutet. In solchen Fällen befinden sich die Betreffenden in einer Situation der Transdifferenz, die ihr Leben lang anhält, auch wenn sie phasenweise unterschiedlich spannungsreich erfahren werden mag und auch wenn ihre Inhalte und Gewichtungen sich im diachronen Verlauf verschieben mögen. Hier ist Transdifferenz präsent und evident. Mit dem Übertritt in die andere ethnische Gruppe wird eine Schwelle überschritten, ohne dass das, was diesseits liegt, mehr als nur äußerlich zurückgelassen werden könnte.9 Vielen ist ein Vorgang wie die auf passing basierende Karriere Broyards vertrauter aus der Lektüre von Philip Roths Roman The Human Stain oder aus dessen Verfilmung. Es gibt in diesem Werk so viele Parallelen zu dem Fall Broyard, dass es schwer fällt, an einen Zufall zu glauben, obwohl Roth eine Beeinflussung abstreitet. Der Fall des vorgeblich jüdischen Professors für Klassische Philologie an einem kleinen und feinen neuenglischen College, Coleman Silk, verläuft noch etwas dramatischer und tragisch-ironischer, weil Silks Karriereende durch eine angeblich rassistische, gegen schwarze Studierende gerichtete Bemerkung ausgelöst wird, weil weitere zwischenmenschliche Komplikationen hinzukommen und weil als ein den Rassismus noch übergreifendes Thema die gesellschaftliche Scheinheiligkeit erscheint, der Selbstbetrug US-Amerikas in der Clinton-Ära. Identitäts- und transdifferenztheoretisch liegt jedoch dieselbe Struktur vor wie im Fall Broyard. Allerdings macht der Roman Transdifferenz eindringlicher imaginierbar als die Lektüre der meisten Texte, die über Broyard erschienen sind: Was wir über Coleman Silk wissen, erfahren wir zum erheblichen Teil aus den empathetischen Imaginationen des jüdischen Erzählers und Freundes Silks in dessen letzter Lebensphase, Nathan Zuckerman. Silk wird so dargestellt, wie er in Zuckermans Imagination erscheint, die wiederum eine Imagination des Autors ist. Diese Erzählstruktur bietet Möglichkeiten der Ambivalenz, der Suggestion von Gedanken und Gefühlen, aber auch der Repräsentation der gesellschaftlichen Diskurse und des kulturellen Imaginären, die in einem Sachtext nicht erreicht werden können. Anders als zahlreiche mit inter-ethnischen Situationen befasste Texte von anderen Autoren, speziell solchen aus ethnischen Minoritäten, lässt uns Roth jedoch weder direkt ins Herz seines Protagonisten blicken, noch versucht er, der Spannweite von Transdifferenzerfahrungen etwa durch kühne Metaphern ein sprachliches Analogon zu schaffen. Vielmehr macht er deutlich, dass eine Gestalt wie Coleman Silk in ihren identitären Facetten allenfalls erahnt, nicht 9

Bemerkenswerterweise gibt es auch Fälle von passing in der umgekehrten Richtung: Wie durch das kürzlich publizierte Buch von Martha A. Sandweiss (2009) einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, führte der berühmte amerikanische Geologe und Forschungsreisende des 19. Jahrhunderts, Clarence King, ein Doppelleben: als wissenschaftliche Autorität in New York und Washington sowie als Ehemann einer Schwarzen, mit der er fünf Kinder zeugte, die ihrerseits später teils als Weiße, teils als Schwarze lebten. King nannte sich in diesem Teil seines Lebens Clarence Todd, gab sich (auch seiner Familie gegenüber) als Afroamerikaner aus und behauptete, Schlafwagenschaffner zu sein, ein typisch »schwarzer« Beruf, der zugleich seine häufige Abwesenheit erklärte. Auch hier kann man sich die psychischen Kosten dieses durch die rassistischen Verhältnisse des Landes erzwungenen Fluktuierens zwischen zwei »Identitäten« vorstellen.

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gekannt und durchschaut werden kann. Durch seine Wahl der Außenperspektive anstelle einer subjektbezogenen Fokussierung begibt er sich der Möglichkeit, Colemans psychische Befindlichkeit direkt – und sei es noch so bildlich – zur Darstellung zu bringen. Gegen Ende des Romans, nach dem Tod Silks und seiner Geliebten (von Zuckerman als Mord interpretiert) und nachdem Zuckerman durch Colemans Schwester Ernestine über dessen Geheimnis aufgeklärt worden ist, gibt der Erzähler Silks Transdifferenz als Problem, als imaginierungsbedürftige Offenheit und Zerissenheit an die Leser weiter: »I couldn’t imagine anything that could have made Coleman more of a mystery to me than this unmasking. Now that I knew everything, it was as though I knew nothing, and instead of what I’d learned from Ernestine unifying my idea of him, he became not just an unknown but an uncohesive person. In what proportion, to what degree, had his secret determined his daily life and permeated his everyday thinking? Did it alter over the years from being a hot secret to being a cool secret to being a forgotten secret of no importance, something having to do with a dare he’d taken, a wager made to himself way back when? […] Was he merely being another American and, in the great frontier tradition, accepting the democratic invitation to throw your origins overboard if to do so contributes to the pursuit of happiness? Or was it more than that? Or was it less?« (Roth 2001: 333f.)

Zuckerman hypostasiert bei Silk einen Willen zur Entscheidungsmacht, wenn er sich sogar von seiner eigenen Mutter lossagt, und weist auf die besondere Ironie hin, dass er dann über seinen angeblichen Rassismus zu Fall kommt: »The man who decides to forge a distinct historical destiny, who sets out to spring the historical lock, and who does so, brilliantly succeeds at altering his personal lot, only to be ensnared by the history he hadn’t quite counted on: the history that isn’t yet history, the history that the clock is now ticking off, the history proliferating as I write […]. The we that is inescapable: the present moment, the common lot, the current mood, the mind of one’s country, the stranglehold of history that is one’s own time.« (ebd.: 335f.)

Persönliche Identitätsbildung, und sei sie noch so sehr selbst konstruiert, und kollektiver Diskurs in seiner je historischen Formation sind untrennbar miteinander verbunden. Die scheinbar gelungene Schwellenüberschreitung wird durch die gesellschaftliche Wiedereinschreibung von Differenz als transdifferent entlarvt. Aber der Roman macht dies nur anschaulich, er lässt sich nicht als Ort der Transdifferenz essentialisieren. Transdifferenz ist ein Phänomen in vielen Bereichen menschlicher Welterfahrung und Welterfassung, keineswegs nur ein rein oder auch nur überwiegend ästhetisches. Broyards Tochter Bliss hat in einem eigenen Buch, One Drop: My Father’s Hidden Life and Family Secrets, dessen eigene, auf signifikante Weise unvollständige autobiographische Werke ergänzt, aus der Perspektive einer Frau, die als Angehörige des weißen Ostküsten-Establishment aufgewachsen war und sich von einem Augenblick auf den anderen als Schwarze wiederfand. Das Buch erschien 2007, siebzehn Jahre nach Anatole Broyards Tod, und spiegelt auch in seiner langen Entstehungsgeschichte die inneren Schwierigkeiten wider, die die Autorin zu überwinden hatte, um sich Person und Motivation ihres Vaters und der Verschiebung ihrer eigenen, jugendli44

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chen Identitätsfrage zu stellen: »Overnight my father’s secret turned my normal young adult existential musing of Who am I? into a concrete question, What am I?« (Bliss Broyard 2007: 67). Bliss Broyard, die in der liberalen intellektuellen Welt nach den Erfolgen der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung aufgewachsen ist, steht vor einem anderen Differenzproblem als ihr Vater, doch ihres ist einerseits dessen historische Weiterentwicklung, andererseits aber auch dessen ironische Umkehrung. Als sie sich um die Aufnahme in eine Universität bewirbt, bringt sie die Frage nach ihrer »race« auf dem Antragsformular in Nöte: »Here was the problem: I could check off ›black‹ on that graduate school application, but I would be an impostor. How could that same young woman who imagined the foreignness of a black man’s kiss now be a member of the tribe herself?« (ebd.: 71). Ihre Recherchen bringen sie mit ihrer schwarzen und ihrer ebenfalls zur weißen Seite »übergetretenen« Verwandtschaft zusammen und konfrontieren sie mit deren je persönlichen Entscheidungen. Sie deckt die Familiengeschichte bis ins späte 18. Jahrhundert zurück auf und enthüllt somit die individuellen wie die kollektiven Anlässe und Formen der rassenbezogenen Identitäts- und Alteritätskonstruktion sowie deren diskursive Grundlagen. Auch wenn sie schließlich zu einer Identitätsaffirmation findet, die alle ihre Erblinien (zu ihnen gehört auch eine indianische) anerkennt, zeigt ihr fesselndes und anrührendes Buch doch auch die Grenzen der Möglichkeiten, sich in einer »postethnischen« Position einzurichten. Diese Möglichkeit hatte Anatole Broyard bereits vorzuleben versucht, indem er sich nicht einer Rasse, sondern einer peer group von Literaten zugehörig fühlte: »Books became the place where my father could belong: his sole allegiance, his primary ethnic, political, and religious affiliation. They provided a refuge from all the boxes in his life, an opportunity to escape into himself, literally« (Bliss Broyard 2007: 144). Doch die Trennung einer abstammungsdeterminierten, öffentlich-politischen, durch gesellschaftliche Diskurse und Machtkonkurrenz vorgegebenen, differenzorientierten Identität von einer privaten, auf persönlichen kulturellen Vorlieben und Identifikationen beruhenden Identität – wie sie in David Hollingers vieldiskutierter Studie Postethnic America: Beyond Multiculturalism vorgeschlagen wird –, erweist sich hier als nicht tragfähig genug. Anatole Broyard kann durch das Verschleiern seiner öffentlichen Zugehörigkeit seine private zur Welt der Bücher nur mit hohen psychischen Kosten erkaufen. Seine Tochter muss erkennen, dass die private Wahlfreiheit stets vor dem Hintergrund der öffentlichen Differenzierungen geschieht, die vielen Bürgern der Vereinigten Staaten, darunter vielen ihrer nahen Verwandten, nur begrenzte Wahlmöglichkeiten lassen, so stark sich die Gewichtungen des Rassendiskurses auch verschoben haben mögen. Damit ist – im soziopsychologischen Bereich – auch etwas über die zeitliche Dimension von Transdifferenzphänomenen gesagt: Sie können sich sogar über Generationen erstrecken, verändern dabei aber ihre inhaltliche Füllung. Das leidvoll erfahrene Fluktuieren zwischen schwarzer Privatsphäre und weißer Arbeitswelt, zu der man nur durch passing Zutritt hat, markiert die Situation von Bliss Broyards Vorfahren. Ihr eigenes abschließendes Akzeptieren aller Herkunftsfacetten in einer positiven Variante transdifferenter Befindlichkeit kann nicht als repräsentativ für eine emanzipatorische Funktion von Transdifferenz auf gesamtgesellschaftlicher

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Basis gelten, sondern verdankt sich einer individuellen Sondersituation, deren sich die Autorin nur zu gut bewusst ist.10

II. Die Anfänge der Transdifferenzdiskussion waren im Paradigma des Konstruktivismus situiert, und die Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von Eigenem und Fremdem sowie nach den Grenzen des Verstehens bezog sich auf menschliche (Selbst-)Objektivationen,11 insbesondere auf Texte im weiteren Sinne, wobei die Vorstellung von Kultur als Text leitend war. Im Zuge der Arbeit im Kolleg, vor allem aber auch der externen Diskussion des Transdifferenzbegriffs, ist der Fragehorizont um Aspekte diesseits der Konstruktion, d. h. um die Dimension einer vorprädikativen Erfahrung erweitert worden. Unter Beteiligung von (ehemaligen) Mitgliedern des Kollegs sind bisher zwei Sonderhefte und zwei Sammelbände zum Thema Transdifferenz erschienen, in denen eine ganze Reihe externer Beiträge entweder zur theoretischen Diskussion des Begriffs aus einer Vielzahl disziplinärer Perspektiven oder zur Anwendung des Begriffs auf einen spezifischen Forschungsgegenstand versammelt sind (Allolio-Näcke/Kalscheuer/Manzeschke 2005; Feldmann/Habermann 2006; Kalscheuer/Allolio-Näcke 2007; Kalscheuer/AllolioNäcke 2008). Die Beschäftigung mit und die Diskussion von Transdifferenz hat sich damit vom Odium des Lokalen befreit und der Begriff befindet sich längst im Stadium der Dissemination. Wir wollen hier nicht auf die teils profunde, teils auch polemische Kritik am Begriff der Transdifferenz und an seiner Explikation eingehen, sondern den Blick auf thematische Diversifikationsmöglichkeiten und potentielle Erweiterungen des Transdifferenzansatzes lenken. Im folgenden Teil werden einige Arbeiten zur Transdifferenz angesprochen, die mit der Thematisierung von Leiblichkeit aus phänomenologischer Perspektive – einem Bereich der gleichsam vor der Ebene der Objektivationen liegt – in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den oben genannten konstruktivistischen Prämissen stehen und tentativ in Richtung eines postkonstruktivistischen Forschungshorizonts weisen.12

10 Lars Allolio-Näcke und Britta Kalscheuer haben das positive, emanzipatorische Potential von Transdifferenz in den Mittelpunkt einer Reihe von Publikationen gerückt. Unsere skeptischere Sicht haben wir in Breinig/Lösch (2005) artikuliert. 11 Mit Objektivation ist im losen Anschluss an Berger/Luckmann (1982: 93ff.) die Verdinglichung von subjektivem Sinn gemeint, hier insbesondere diejenige mittels sprachlicher Explikation. 12 Die Erweiterung der Forschungsperspektive bezieht sich mit der Thematisierung von leiblicher Erfahrung auch auf den Bereich der sozialen/kulturellen Praxis und des impliziten handlungsleitenden Wissens (vgl. Renn 2005). Mitglieder des Kollegs bereiten zurzeit ein (Folge-)Projekt vor, das die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten sowie den kulturspezifischen Formen von Diskursivierungen von Präsenz auf der Grundlage der Unterscheidung von implizitem und explizitem Wissen bearbeiten soll. Im Rahmen des Graduiertenkollegs sind bereits einige Arbeiten entstanden, die auf Leiblichkeit rekurrieren, so etwa Grünwedel (2008) und Ernst (2008).

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Die Gegenstände der drei im Folgenden präsentierten Arbeiten aus den Bereichen Soziologie, Theologie und Klinische Psychologie liegen (partiell) diesseits der Repräsentation: Sie beschäftigen sich mit Fragen nach dem Leib und dem Körper sowie ihrem Verhältnis zueinander13 – und der Entstehung von Transdifferenzphänomenen – erstens im Weltbezug des Menschen und der sozialen Interaktion im Allgemeinen, zweitens im besonderen Fall der Transplantationschirurgie und drittens in der Erfahrung von Transsexuellen. In ihrem Zusammenhang wird auch die Problematik der Repräsentation von Präsenzerfahrungen anzuschneiden sein, die in einem abschließenden Abschnitt auf das Generalthema Fremdverstehen bezogen und im Hinblick auf die Explikation vorprädikativer Erfahrung sowie auf die intrakulturelle und die interkulturelle Kommunikation erörtert wird. In seinem Artikel »Transdifferente Leiblichkeit: Leibphänomenologische Überlegungen zu einer Soziologie der Transsubjektivität« wendet Robert Gugutzer, Soziologe an der Fakultät für Sportwissenschaften an der TU München, den Transdifferenzbegriff auf die leibliche Existenz des Menschen an und reklamiert vor dem Hintergrund der leibphänomenologischen These einer »grundsätzlichen Zweiheit von Leib und Körper« (2008: 332) den Begriff »transdifferente Leiblichkeit« für die »praktisch zu leistende Integration oder Verschränkung von Leib und Körper« (ebd.: 319). Gemeint ist damit, »dass der Mensch sowohl in der Differenz von Leib und Körper als auch in der Überschreitung dieser Differenz lebt« und dass »[d]ie phänomenale Differenz zwischen Leib und Körper immer erhalten [bleibt], zugleich im praktischen Lebensvollzug jedoch auch laufend überschritten [wird]« (ebd.: 320). Es geht somit – phänomenologisch gesprochen – um die im menschlichen Selbstverhältnis immer wieder zu bewältigende Aufgabe der Vermittlung zwischen den Perspektiven, einerseits einen Körper zu haben und andererseits ein Leib zu sein. Mit dem Ausdruck »Transsubjektivität«, der den gängigen Begriff der Intersubjektivität ersetzen soll, wird der die individuelle Ebene übersteigende soziale Aspekt angesprochen, die leibliche Relation zwischen menschlichen Subjekten, d. h. »die Differenz von zwei und mehr leiblichen Subjekten und ihre Überschreitung« (ebd.: 322), wobei Leiblichkeit als das »vermittelnde oder verbindende Medium zwischen Ego und Alter« verstanden wird (ebd.: 322). Der Leib ist bekanntlich das primäre Medium des Weltbezugs. Gugutzer bezeichnet im Rückbezug auf Merleau-Ponty das »leibliche Zwischen«, den »zweite[n] Aspekt transdifferenter Leiblichkeit« (ebd.: 322; 323), als Entstehungsbedingung von Sozialität und als Konstitutionsbedingung von Ego und Alter, ohne allerdings den Begriff intercorporeité und den korrespondierenden der intermonde zu verwenden (vgl. Waldenfels 2000: 286f.). Ein gewisser Widerspruch zu dieser Darstellung der Konstitution von Ego 13 In der phänomenologischen Tradition wird zwischen Leib und Körper unterschieden; Waldenfels (2000: 251ff.) spricht von einer Selbstdifferenzierung des Leibes in Leib und Körper, womit keine zwei Substanzen gemeint sind, sondern zwei Perspektiven: Ich bin ein Leib und ich habe einen Körper. Es handelt sich um eine Selbstdifferenzierung, da es keinen externen Standpunkt gegenüber dem Leib geben kann, der das unhintergehbare Medium des Weltzugangs ist. In der zweiten Perspektive bezieht sich das Selbst auf den Körper als Objekt, als Körperding, das es hat, um es zu gebrauchen.

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und Alter im gemeinsamen Weltbezug ergibt sich allerdings aus den anschließenden Ausführungen zu sozialen Situationen als Atmosphären. Während die Körpergrenze (durch die Hautoberfläche) klar bestimmt ist, ist die Leibgrenze als eine fluktuierende entlang des Kontinuums von Enge und Weite zu verstehen. Die Leibgrenze kann damit weit über die Körpergrenze hinausreichen und andere Personen oder Dinge mit einbeziehen. Anhand des leiblich-affektiven Betroffenseins etwa von Atmosphären sozialer Situationen, deren Stimmung die in die Situation eintretende Person affiziert und eine Weitung ihrer Leibgrenze (eine einseitige Einleibung) evoziert, erläutert Gugutzer die These, dass in diesen Fällen zwischen Subjekt und Objekt noch keine Differenz bestehe, sondern die Differenz »erst nachträglich, zum Beispiel durch eine willentliche, reflexive Distanznahme zur gegebenen Stimmung, hergestellt« werde: »Solange das jedoch nicht geschieht, ist die Situation ein transdifferent (oder hier auch: prädifferent) leibliches Phänomen« (ebd.: 325). Zum einen ist hier problematisch, dass der Transdifferenzbegriff im Widerspruch zu unserer These, dass Transdifferenz an Differenz gebunden ist, gebraucht wird. Denn Prädifferentes ist indifferent und nicht transdifferent. Zum anderen kann die angesprochene Unterlaufung der Subjekt/ObjektDifferenz im Sinne von Transdifferenz (und damit auch des cartesianischen Dualismus) nicht der Situation zugeschrieben werden, sondern lässt sich lediglich aus einer Distanznahme zur Situation feststellen, die ihre Vergegenständlichung impliziert. Dies mag freilich auch auf die Schwierigkeiten verweisen, die der Versuch einer Versprachlichung vorprädikativer Erfahrung generell mit sich bringt.14 Zum anderen impliziert die Verwendung des Schmitz'schen Begriffs der »Einleibung« (vgl. Schmitz 1996: 131ff.), dass es eine reine Selbstreferenz gebe, was im Widerspruch zur gemeinsamen Konstitution von Ego und Alter im Weltbezug steht. Waldenfels hat an Schmitzs Theorie insbesondere die Annahme einer »Selbsterfahrung als unmittelbare[s] Innesein« (Waldenfels 2000: 277) kritisiert, weil sie »eine Eigenheit voraus[setzt], die nicht selbst als Differenzbestimmung gefaßt wird« (ebd.: 283) und damit die Differenz von Eigenem und Fremdem und die konstitutive Rolle des Fremden für das Eigene bzw. des Anderen für das Selbst nicht ausreichend berücksichtigt. Der Begriff der Einleibung läuft zumindest in der Variante der einseitigen Einleibung darauf hinaus, den Eigenleib als reines Zentrum des Weltbezugs im Verhältnis zum Anderen, gleichsam als Ort eines ursprünglichen »Ich spüre« zu konzeptualisieren, was das Andere seines Andersseins im Vollzug der einseitigen Einleibung beraubt. Insofern erscheint es angemessen, den Begriff der Einleibung durch »leibliche Interaktion« zu ersetzen, wie dies Gugutzer zum Teil auch tut, wenn er z.B. die wechselseitige Einleibung unter der Überschrift »Transdifferent-leibliche Interaktion« fasst (Gugutzer 2008: 326). Das Transdifferente entsteht dabei aus dem Spannungsverhältnis zwischen Leib- und Körpergrenze, der Wahrung der Körpergrenzen einerseits und einer Erweiterung der Leibgrenzen zu einem »gemeinsamen Leib« andererseits. In kritischer Wendung gegen den supponierten rationalen Bias soziologischer Handlungs- und Praxistheorien plädiert Gugutzer dafür, die Konstruktion von Sozialität bzw. 14 Auch diese Versprachlichung ist als Übersetzung zu konzipieren, die jedoch spezifische Schwierigkeiten mit sich bringt; vgl. dazu die Ausführungen weiter unten.

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Intersubjektivität »ausgehend von der leibkörperlichen Verfasstheit von Menschen« zu denken (ebd: 318). Die Überlegungen zum Verhältnis von Leib und Körper zeigen, dass die Anwendung des Transdifferenzbegriffs nicht ausschließlich auf semiotische Prozesse beschränkt ist, sondern einen Erkenntnisgewinn gerade auch für die Untersuchung nicht-semiotischer Phänomene oder, wenn man so will, für die Analyse von Phänomenen der Präsenz verspricht. Wendet man Gugutzers Thesen auf die Frage nach der Differenz zwischen »lebendig« und »tot« und den damit verknüpften ethischen Problemen im Umgang mit dem Körper/Leib von hirntoten OrganspenderInnen an, die der Theologe und Pfarrer Arne Manzeschke in seinem Artikel »Das Fremde im Eigenen: Identität und Leben mit fremden Organen« thematisiert, dann stürzt einen die Vorstellung einer leiblichen Kommunikation zwischen Ko-Präsentem bei der Explantation im Operationssaal mitten in das Unheimliche, wenn nicht das Schreckliche. Manzeschke behandelt in seiner kulturhermeneutischen Untersuchung die Frage nach den lebenspraktischen und ethischen Konsequenzen des medizinisch-technischen Fortschritts durch die Transplantationschirurgie, insbesondere durch die Bestimmung der Differenz Leben/Tod durch das sogenannte Hirntodkriterium, und untersucht drei verschiedene Formen bzw. Ebenen von Transdifferenz. Erstens wird jene Transdifferenz in den Blick genommen, die aus der Unvereinbarkeit dieser medizinischen Unterscheidung mit anderen resultiert: »Die Transplantationsmedizin basiert auf einem biomedizinisch-naturwissenschaftlichen Diskurs über den menschlichen Körper, der ein diametral anderes Verständnis und andere Praktiken erfordert, als es der alltagsweltliche, an den Intuitionen und traditioneller symbolischer Kommunikation orientierte Diskurs tut« (2007: 144).

Der angesetzte »alltagsweltliche Diskurs« bedürfte hier einer Spezifizierung bzw. einer weiteren Differenzierung. Denn die Problemlage verweist darauf, dass es sich um eine Überlagerung systemspezifischer Semantiken (medizinische, juristische, religiöse) in der funktional differenzierten Gesellschaft handelt, deren Kopräsenz und gleichzeitige Relevanz Transdifferenz im Sinne der zitierten Definition hervorbringt. Zweitens wird der transdifferente Status der/des Hirntoten thematisiert, die/der sich als »lebende/r Tote/r«« oder »tote/r Lebende/r« den gängigen Zuordnungsmustern entzieht und quer zur Grenzziehung zwischen Leben und Tod liegt bzw. diese gleichsam unterläuft. Wenden wir die Unterscheidung von Leib und Körper auf Hirntote an, so stellt sich uns die heikle Frage, ob die von Manzeschke beschriebenen »körperlichen Reaktionen« der/des Hirntoten bei der Explantation (2007: 135) nicht als leibliche Aktionen zu verstehen sind. Die im medizinischen Diskurs vorgenommene Reduzierung der/des Hirntoten zum Dingkörper oder bloßen Körperding vermag es nicht, verstörende Erfahrungen des Explantationsteams hinsichtlich der Personalität des Hirntoten auf der Grundlage der leiblichen Wahrnehmung bzw. Kommunikation zu unterbinden – Erfahrungen, die im Diskurs zur Organspende allerdings nicht thematisiert werden. Aus der Praxis der Explantation ergeben sich zudem Konflikte für traditionelle kulturelle Praktiken der Sterbebegleitung und des Abschieds von den Toten durch die Angehörigen, weil die Diagnose 49

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Hirntod nicht mit körperlichen Zeichen des Todes verknüpft ist und die leibliche Wahrnehmung der Diagnose Tod widerspricht. Drittens schließlich werden von Manzeschke die Transdifferenzerfahrungen der Organempfänger angesprochen, die in ihrer Körperlichkeit Entgrenzungen ausgesetzt sind, indem sie buchstäblich »das Fremde im Eigenen« tragen, was zu erheblichen Dissonanzen zwischen leiblichem Empfinden und Körperschema führen kann. Die körperliche Präsenz des Fremden im Eigenen resultiert häufig in einer Verunsicherung der eigenen leiblichen Ganzheit, so etwa, wenn dem implantierten Organ ein Eigenleben zugeschrieben wird. Sie kann auch zu einer Verunsicherung der Geschlechtsidentität bei der Implantation des Organs einer/s andersgeschlechtlichen Spenderin/s führen oder zu einer Entfremdung vom eigenen Leibkörper (im Sinne einer Verschränkung von Leib und Körper), der als eine Art Wiedergänger empfunden wird (ebd.: 137f.). Manzeschkes Artikel weist die Nützlichkeit des Transdifferenzbegriffs für die Beschreibung und Untersuchung der Effekte einer medizinischtechnischen Praxis auf, und zwar in dreierlei Hinsicht: auf der Subjektebene der an dieser Praxis aktiv und passiv Beteiligten, auf der Ebene der Aushandlung von Differenzen, die für diese Praxis relevant sind, und schließlich auf der Ebene der kulturspezifischen Bearbeitung und Bewältigung von Konfliktlagen durch normativ-praktisch relevante Sinnkonstruktionen, die sich mit der Frage auseinandersetzen, was der Mensch sei und wie seine Humanität befördert werden könne. Manzeschke nimmt damit Transdifferenz gleichermaßen als heuristisches Konzept und als Phänomen in den Blick, macht dabei jedoch deutlich, dass die theoretische Rahmung des Transdifferenzbegriffs im Hinblick auf die Materialität von Fremdheit und Fremdheitserfahrungen bislang eine Lücke aufwies. Auch die Erfahrung der Materialität des Fremden stellt einen Fall der Erfahrung von Präsenz dar. Der Körper steht auch im Zentrum derjenigen Differenz, in der die binäre Logik vermutlich am wirkmächtigsten ist: der Geschlechterdifferenz. Neben der bereits angesprochenen Differenzkonstruktion »Rasse« stellt die Geschlechterdifferenz wohl denjenigen Fall von Differenzsetzung dar, an dem die Machteffekte diskursiver Differenzkonstruktionen auf die Subjekte am ehesten paradigmatisch studiert werden können, genauso wie die »Exorzierung« von Transdifferenz im Dienste einer Stabilisierung der Herrschaftsordnung. Dies trifft in besonderem Maße auf diejenigen Menschen zu, die üblicherweise als Transsexuelle bezeichnet werden. Wie Udo Rauchfleisch, klinischer Psychologe und Psychotherapeut, in seinem Artikel »Transsexualität – Transidentität – Transdifferenz« feststellt, entspricht »[d]ie innerseelische und soziale Situation von transsexuellen Menschen wohl genauer als die vieler anderer« (2007: 109) dem, was wir mit Transdifferenzerfahrung bezeichnet haben. Wenn »eine biologische Frau sagt, sie sei ein Mann (und nicht lediglich, sie fühle sich wie ein Mann) und ein biologischer Mann, er sei eine Frau (und nicht nur, er fühle sich wie eine Frau)« (ebd.: 109f.), dann ist der Widerspruch in einer solchen existenziellen Selbstprädikation, der sich als Differenz in der Differenz beschreiben lässt, offensichtlich nicht durch den Verweis auf unterschiedliche Realitätsebenen aufzulösen. Auch das Verständnis von Geschlecht als performative Kategorie im Sinne von Judith Butler (1993; 1999) vermag diese Überkreuzkonstellation von sex und gender nicht aufzuheben, da nach Butler die Kohärenz von biologischem und sozia50

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lem Geschlecht zwar performativ produziert wird, jedoch Effekt von Machtdiskursen und damit nicht Sache der individuellen Wahl ist. Butlers Konzeptualisierung ist nicht unumstritten, und an der Frage, wie umfassend die diskursive Prägung sein kann, hat sich bekanntlich eine lang anhaltende Kontroverse in den Gender Studies entzündet, in der wiederum die phänomenologische Unterscheidung zwischen Leib und Körper eine wichtige Rolle spielt. Gesa Lindemann hat in ihrer Studie Das paradoxe Geschlecht: Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl eindringlich die psychische Belastung beschrieben, die sich für Transsexuelle aus der Unvereinbarkeit von leiblichem Empfinden und Wahrnehmung des Körpers ergibt und die Problematik unter Rückgriff auf Plessners These der exzentrischen Positionalität als einen Konflikt (im weiteren Sinne) zwischen Leib sein und Körper haben analysiert. Der Leib und das leibliche Empfinden werden zwar von der symbolischen Ordnung affiziert, gleichwohl aber nicht restlos durchgeformt (vgl. Lindemann 1996: 173f.). Der Leib kann damit zumindest teilweise als Residuum von Ich-Momenten gesehen werden, während der Körper als ausgezeichnetes Objekt diskursiver Einschreibungen, gleichsam als Ort einer Materialisierung diskursiver Effekte zu betrachten ist. Aus der Unvereinbarkeit von leiblichem Selbsterleben und dem sozialen Geschlecht, das dem Körper anhand des biologischen Geschlechts eingeschrieben wird, resultiert eine Transdifferenzerfahrung, die gerade deshalb für die Betroffenen eine Leidensgeschichte bedingt, weil in vielen sozialen Kontexten eine eindeutige, mit dem biologischen Geschlecht kongruente Zuordnung zu einem Pol der binären kontradistinktorischen Geschlechterdifferenz gefordert wird. Die von Gugutzer beschriebene Aufgabe einer praktischen Integration von Leib und Körper erscheint angesichts dieser Forderung unlösbar. Aufgrund der rigiden Binarität des Geschlechtermodells und der strikten Koppelung von gender an sex wird Transsexualität (bzw. Transidentität) im traditionellen medizinisch-psychiatrischen Diskurs üblicherweise als Anomalie bezeichnet und als Geschlechtsidentitätsstörung pathologisiert. Diese Pathologisierung ist freilich nichts anderes als eine Immunisierung der diskursiv naturalisierten Differenzkonstruktion »Zweigeschlechtlichkeit« gegen den Aufweis von Transdifferenz. Der gesellschaftliche Normierungs- und Disziplinierungsdruck macht jedoch nicht beim diskursiven Bereich halt, sondern materialisiert sich ggf. auch in der operativen Umgestaltung des Körpers der Betroffenen, welche man nach Rauchfleisch als »Maßnahme zur Rettung der Vorstellung von der Zweigeschlechtlichkeit, d.h. von der Dominanz der binären Differenz, verstehen« kann (2007: 118). Hier muss jedoch offen bleiben, ob mit der operativen Entfernung des Fremden (im Sinne des biologischen Geschlechts) am bzw. im eigenen Körper die Transdifferenzerfahrung beseitigt werden kann. Transdifferenz und die sich daraus ergebende transdifferente Positionalität wird in diesem Fall wohl nicht – man ist geneigt zu sagen: beileibe nicht – emanzipatorisch erfahren, sondern wird im Gegenteil zumeist erlitten und muss erduldet werden. Die von Rauchfleisch am Ende seines Beitrags formulierte Ansicht, das Transdifferenzkonzept könne beim Prozess einer Umstellung vom durch starke Machtasymmetrien gekennzeichneten »Zwei-Geschlechter-Modell« auf ein »Ein-Geschlecht-Modell« »hilfreich« sein, weil es »Menschen, Transidenten wie Nicht-Transidenten, Wege zum Doing Iden51

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tity [öffnet]« (2007: 122), d. h. weil es ihnen ein aktives Selbstpositionieren im Widerstand gegen soziale Zuschreibungen von Identität ermögliche, scheint angesichts der geschilderten Problemlage in dieser Allgemeinheit utopisch zu sein. Hier erweist sich, dass die Zuschreibung eines generalisierten emanzipatorischen Potentials an den Transdifferenzbegriff (vgl. AllolioNäcke/Kalscheuer 2005: 450), an die Rauchfleischs Aussage explizit anschließt, leider wenig plausibel ist. Unbenommen kann die Erfahrung von Transdifferenz als Transsexuelle/r emanzipatorisch wirken, weil sie ein Bewusstsein für die weitgehend zum impliziten Wissen zu rechnenden diskursiven Geschlechterkonstruktionen und ihre Machteffekte schaffen sowie Versuche der Modifikation von Geschlechtermodellen in der individuellen Praxis anstoßen kann. Doch sind die diesbezüglichen Freiräume im Großen und Ganzen wohl auf spezifische soziale Milieus begrenzt, und das Reklamieren einer transdifferenten Positionalität wird in anderen sozialen Milieus vermutlich als eine Unterbrechung der Anschlussfähigkeit an die Kommunikation und damit als Barriere oder Schranke wirken, die von sozialer Anerkennung ausschließt. Psychologisch gesehen erfordert die Behauptung einer transdifferenten Positionalität zudem ein erhebliches Maß an Ich-Stärke. Es wäre somit in jedem spezifischen Fall zu fragen, woran und zu welchen Zeitpunkten es sich entscheidet, ob die Transdifferenzerfahrung als be- oder entlastend, als Möglichkeitsbegrenzung oder -erweiterung erfahren wird, und ob die transdifferente Positionalität als partielle Freisetzung aus Identitätszumutungen oder als Hindernis angestrebter sozialer Integration erlebt wird. Es sei hier nur angemerkt, dass auch die Unterstellung einer generellen Subversivität des Konzeptes problematisch ist, weil nicht alle Referenzbereiche des Konzeptes in gleichem Maße wie die soziokulturellen von Machtasymmetrien gekennzeichnet sind. Aussagen zum subversiven wie auch zum emanzipatorischen Potential von Transdifferenz bedürfen somit einer deutlichen und genauen sozialen und kulturellen Kontextualisierung. Insofern liegt es auch nahe zu fragen, ob die Binarität der Ordnungslogik sowie die Immunisierungsstrategien gegen den Aufweis von Transdifferenz in allen Kulturen vergleichbar rigide sind, oder ob ein gleichsam entspannterer Umgang mit Transdifferenz nicht bloß denkbar ist, sondern auch praktiziert wurde und wird. Bezüglich der Geschlechterdifferenz ließe sich beispielsweise auf die Geschlechtskategorie der Two Spirit people in einigen tribalen nordamerikanischen Kulturen verweisen (vgl. Roscoe 1998; Jacobs/Thomas/Lang 1997). Dabei handelt es sich um eine Kategorie zur Bezeichnung von Menschen, die ein mit dem jeweiligen biologischen Geschlecht nicht gekoppeltes soziales Geschlecht lebten (und von den Kolonisatoren mit dem derogativen Namen Berdache belegt wurden, der etymologisch die Bedeutungen Prostituierter und Sklave umfasst). Die verschiedenen tribalen Klassifikationssysteme verweisen darauf, dass Geschlechterdifferenz in diesen tribalen Lebenswelten anders strukturiert war als in unserer Kultur, dass zum einen gender nicht binär codiert war und zum anderen mehrere Korrelationen von sex und gender etabliert waren.15 Die transdifferente Positionalität transsexueller bzw. transidentitärer Menschen, wie sie für unsere Gesellschaft von Rauchfleisch 15 Hier kann weder die dringend erforderliche Spezifizierung der jeweiligen tribalen Kultur vorgenommen noch die Frage diskutiert werden, inwieweit solche Strukturierungen in der zeitgenössischen sozialen Praxis Relevanz besitzen.

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beschrieben wurde, scheint in diesen Kulturen gleichsam normalisiert und institutionalisiert gewesen zu sein – wobei selbstverständlich im Detail zu untersuchen wäre, ob Transsexualität aus der kulturellen Binnenperspektive, d. h. im Rahmen des jeweiligen Klassifikationssystems, überhaupt als Transdifferenzphänomen wahrzunehmen wäre. Über mögliche kognitive und affektive Dissonanzen, die für die Subjekte aus der kulturellen Praxis resultierten, ist allerdings nach meinem Kenntnisstand nichts Näheres überliefert. Angesichts der Häufigkeit, in der die Two spirit people in der Diskussion von Transsexualität jedoch in Arbeiten der Gender Studies genannt werden, stellt sich die Frage, die Jacobs in ihrem Artikel »Is the ›North American Berdache‹ Merely a Phantom in the Imagination of Western Social Scientists?« aufwirft, ob es sich bei diesen vermeintlich alternativen Modellen der Geschlechterkonstruktion nicht um ein Produkt des projektiven (wissenschaftlichen) Umgangs mit dem Fremden im Sinne von othering handelt, wobei das Fremde kontradistinktorisch zum Eigenen konstruiert bzw. imaginiert und »verstanden« wird. So sehr man auf den ersten Blick – insbesondere aus einer kritischen Haltung gegenüber den deformierenden Effekten der eigenen Kultur und somit in der Tradition der Kulturkritik qua Verweis auf fremde Alternativen heraus – geneigt sein mag, Jacobs’ Frage zu verneinen und das Beispiel als exemplarischen Fall eines kulturspezifisch anderen, toleranteren Umgangs mit Transdifferenz zu betrachten, so problembehaftet erscheint dies auf einen zweiten, kulturhermeneutisch geschulten Blick. Damit ist erneut die Ebene der Intergruppenbeziehungen angesprochen, und zwar speziell im Hinblick auf die Verstehensproblematik. Das genannte Beispiel soll hier zum Anlass genommen werden, einige grundlegende Fragen des (interkulturellen) Verstehens anzuschneiden. Die Problematik einer kulturvergleichenden Perspektive liegt bekanntlich entweder in der Unterstellung der Gleichartigkeit des zu Vergleichenden im Sinne eines identitätslogischen Universalismus, mithin in der Gefahr, das Andere dem Eigenen bereits kategorial anzugleichen, bevor der Vergleich gezogen wird (vgl. Matthes 1992), oder in der Annahme einer radikalen Fremdheit und damit einer Inkommensurabilität der fremden Kultur im Sinne eines differenzlogischen Relativismus. Die Problematik des Verstehens fremder kultureller Praktiken liegt jedoch, wie Joachim Renn (2005) gezeigt hat, nicht nur in der vielbeschworenen Gefahr einer Nostrifizierung des Fremden (Stagl 1981; Matthes 1992) qua Kategorienübertragung, also einer Ausübung epistemischer Gewalt gegenüber dem Fremden begründet. Sie ist vielmehr auch in dem Übersetzungsprozess verortet, der jeder Vergleichsoperation vorausgeht, sofern das Vergleichen sich nicht (nur) mit der expliziten, in (Selbst-)Objektivationen konsolidierten Kultur, sondern (auch) mit der kulturellen Praxis, verstanden als performative Kultur bzw. kulturelle Lebensform, beschäftigt. Die Übersetzungs- und die damit verknüpfte Verstehensproblematik wird bereits auf der intrakulturellen Ebene virulent, denn allen empirisch erhobenen Daten zur kulturellen Praxis liegt, im Sinne einer »Selbstexplikation« der Erfahrungen durch die sozialen Akteure (Renn 2005: 202), bereits eine Übersetzungsleistung voraus, und dies gilt banalerweise für jede Feldforschung, also auch die ethnologische, und unabhängig davon, ob die so gewonnenen Daten im Weiteren dann intra- oder interkulturell interpretiert werden. Unterscheidet man die Ebene des impliziten Wissens, das für die Praxis (die per53

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formative Kultur) konstitutiv ist und, »um seine Aufgabe zu erfüllen, unformulierbar sein muß« (ebd.: 212), und die Ebene des expliziten Wissens im Sinne der »reflexiven und abstrakten Kenntnis kultureller Normen und Bedeutungen« (ebd.: 212), so wird klar, dass bereits die reflexive Artikulation des impliziten Wissens durch die sozialen Akteure als (alltägliches) Übersetzen (vgl. Srubar 2007) zu betrachten ist und – gerade wegen der Grenzen der Explizierbarkeit der leiblichen Erfahrung und des impliziten Wissens– nicht als eine gegenstandsadäquate Repräsentation der performativen Kultur durch die Angehörigen dieser kulturellen Lebensform. Die wissenschaftliche Thematisierung dieser Explikation wiederum erfordert eine Übersetzung aus der (fremden) Alltagssprache in die Begriffssprache der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin, so dass der wissenschaftliche Kulturvergleich, der auf den Vergleich kultureller Praktiken zielt, sich nicht bloß mit dem Übersetzungsproblem zwischen zwei kulturellen Semantiken, der eigenkulturellen und der fremdkulturellen, konfrontiert sieht, sondern mit einem mehrfach gestaffelten Übersetzungsproblem.16 Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass die kulturhermeneutische Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des Fremdverstehens auf intrakultureller und interkultureller Ebene nicht prinzipiell, sondern nur graduell unterschiedlich gelagert ist. Die Unterscheidung zwischen intra- und interkultureller Kommunikation kann keine kategoriale sein, da die Übersetzungsproblematik im Hinblick auf implizites Wissen alle kulturellen Lebensformen gleichermaßen betrifft. Das soll freilich nicht heißen, dass die zusätzliche Dimension der Übersetzung zwischen Kulturen je nach Grad der wechselseitigen Fremdheit nicht eine erhebliche Steigerung des Missverstehenspotentials und entsprechend spezifisch gelagerte Transdifferenzphänomene bedingen würde. Aber wenn Kultur nicht als stabile, kohärente und konsistente Gesamtheit von Sinn konzeptualisiert wird, sondern als dynamischer Prozess der Produktion verschiedener Sinnkonstrukte in heterogenen Sinnbildungspraktiken unterschiedlicher Reichweite, bedürfen Sinnkonstrukte allgemein der wechselseitigen Vermittlung qua Übersetzung, um in der sozialen Interaktion der »Kulturmitglieder« anschlussfähig zu werden.17 Dass bei diesen komplexen Übersetzungsprozessen generell Transdifferenzenphänomene auftreten und bearbeitet werden müssen, ohne dass sie jedoch einfach aufgehoben werden können, insofern die Differenzschemata der Ausgangs- und der Zielsemantik, zwischen denen die Sinnelemente übertragen werden, nicht kongruent sind, liegt ebenso auf der Hand wie die Tatsache, dass Übersetzen stets nur approximative und damit suboptimale Resultate im Hinblick auf das Verstehen hervorbringen kann. Entsprechend setzt Ilja Srubar Übersetzen bereits fundamental auf der Ebene der alltäglichen Wirklichkeitskonstitution in Bezugnahme auf verschiedene heterogene Sinngebiete an. Er begreift Transdifferenz als »basale Eigenschaft der Kommunikation« und bestimmt 16 Welche Möglichkeiten es gibt, diese Problematik methodisch zu kontrollieren, kann hier nicht besprochen werden. 17 Für die kulturhermeneutische Forschung ergibt sich daraus generell das Problem, dass bereits die Rede von einem »eigenen« Horizont insofern irreführend ist, als dieser bereits als ein vielfach gebrochener und sich aus der Überlagerung verschiedener Horizonte zusammengesetzter angenommen werden muss. Vgl. dazu Lösch (2005: 268).

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»die soziale Praxis des Umgangs mit den Transdifferenzphänomenen als die des Übersetzens in seinen vielfältigen alltäglichen und institutionalisierten Formen« (Srubar 2007: 55). Transdifferenzphänomene können in diesem Zusammenhang – wie bereits angesprochen – als temporäre Unterbrechungen der Anschlussfähigkeit in Kommunikationsroutinen angesehen werden. Srubar schreibt Transdifferenz aus (wissens-)soziologischer Perspektive eine zentrale Position in allen Sinnbildungsprozessen zu, verwendet den Transdifferenzbegriff jedoch an einigen Stellen in einer Weise, die als der ursprünglichen Definition partiell zuwiderlaufend aufgefasst werden kann. Eine Formulierung wie »›transdifferente Momente‹ der Ungewissheit der Deutung« (ebd.: 49) könnte auch so (miss-?)verstanden werden, als sei die Transdifferenz gleichsam etwas, das durch die (mit Unterscheidungen operierende) Deutung erst bearbeitet würde und sich der Deutung ggf. auch ganz entziehen könnte – ein solches Verständnis wiese in Richtung einer Ontologisierung der Transdifferenz. Nach unserem Begriffsverständnis wäre dieses Etwas jedoch – wie bereits erwähnt – als indifferent und nicht als transdifferent zu bezeichnen, da Transdifferenz erst mit der Differenzierung hervorgebracht wird und nicht schon vorgängig gegeben sein kann. Umgekehrt, das sei hier abschließend angemerkt, impliziert die Kopplung der Transdifferenz an die Differenz keinesfalls eine Ontologisierung der Differenz und damit auch keine Vergegenständlichung der Grenze, wie dies beispielsweise Werner Kogge (2008: 220f.) im Hinblick auf meine (KL) Ausführungen zu interkulturellen Aushandlungsprozessen von Identitäten und Grenzen unter dem Gesichtspunkt von Transdifferenz kritisch angemerkt hat.18 Wenn man im phänomenologischen Sinne davon ausgeht, dass jeder, der hermeneutisch tätig wird, sich zugleich in mehreren, sich verändernden und in zeitlich sich mitbewegenden Horizonten befindet, dann ist die Differenz (hier: zwischen den »Kulturen« und allgemein: zwischen Sinnbereichen) als Produkt der Überlagerung von Horizonten und nicht als etwas Gegenständliches zu verstehen.

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18 Ich habe im betreffenden Artikel (Lösch 2005) versucht, die Grenze zwischen Kulturen mit der Metapher »chiastisch quaternäre Konstellation« als Schnittpunkt der wechselseitigen Bezugnahmen auf Eigenes und Fremdes zu beschreiben und damit der Annahme einer Gegenständlichkeit von Grenzen entgegenzutreten (ebd.: 260). Kogge ist allerdings in der Hinsicht zweifellos recht zu geben, dass der Differenzbegriff, auf den der Transdifferenzbegriff unhintergehbar bezogen ist, noch einer theoretischen Schärfung bedarf.

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Differenzen ohne Ende? Möglichkeiten und Grenzen der Differenzkategorie aus kultur- und literaturwissenschaftlicher Sicht DORIS FELDMANN

Das Graduiertenkolleg »Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz« hat das Konzept »Differenz« gleich zweimal in seinem Titel verankert: Nicht nur flankiert es den Neologismus »Transdifferenz«, es erfährt auch über den Umweg der Transdifferenz innerbegrifflich noch einmal eine Bestätigung. Der Begriff der Transdifferenz strebt nämlich gerade keine Synthese oder Überwindung von Differenzen an, sondern betont die Grenzen eines Denkens in binären Oppositionen ebenso wie die Unvermeidbarkeit des Denkens von Differenz bei gleichzeitigem Bewusstsein für die vielfältigen Überlagerungen, Mehrfachzugehörigkeiten und Zwischenbefindlichkeiten, welche die Komplexität der Lebenswelt ausmachen (vgl. Feldmann/Habermann 2003: 105f.). Während andere Begriffe kommen und gehen, hat die Differenz als kritisches Konzept immer noch Bestand (vgl. Currie 2004: 1-2). Differenzen sind fast überall in und als Machtverhältnisse einschreibbar, und zwar auch, wie noch zu zeigen sein wird, in interdisziplinäre Forschungskontexte. Dabei werden Differenzen zu einem bestimmten »Ende« im Sinne eines Endeffekts konstruiert, und auf solche Funktionen, Zwecke und Interessen möchte ich zunächst eingehen. Zweifellos ist die Frage nach den Funktionen von Differenz bzw. dem Umgang mit Differenzen die wichtigste erkenntnisleitende Fragestellung des Graduiertenkollegs. Aus philologischer Sicht ist dies auch nicht weiter verwunderlich, denn schließlich fungiert Differenz seit dem Strukturalismus als unverzichtbares Prinzip zur Erklärung von Bedeutungszuschreibung innerhalb des Zeichensystems »Sprache«. Differenz ist dabei nicht so sehr ein Gegenstand als vielmehr eine Methode, und zwar eine durchaus zirkuläre. Dies zeigt sich etwa dann, wenn man das Wort »Differenz« über Differenz definiert. Die Bedeutung von Differenz ergibt sich dabei durch die Negation des Gegensatzes: Nicht-Gleichheit, Nicht-Identität. Mit dem Problem der Beziehung zwischen Identität und Differenz eröffnet sich jener breitere kulturelle Kontext, in dem die interdisziplinären Erkenntnisinteressen des Graduiertenkollegs angesiedelt sind. Die Möglichkeiten einer Beschreibung von konfliktreichen Prozessen der Identifikation und Differenzierung bestimmen insofern die Kulturbegriffe des Kollegs. Kultur wird hier als ein semiotisch und kollektiv verfügbares sowie medial re-präsentiertes Wissen verstanden, das in Interaktion und Kommunikation mit Objekten und mit Anderen entsteht und stets in soziale Beziehun59

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gen und Praktiken eingebettet ist. Dabei wird zwar Kultur im Sinne von Gruppenkultur definiert, aber nicht als homogene und mono-stabile gemeinsame, von allen geteilte Kultur, sondern als stets eingebunden in einen heterogenen und machtförmigen Referenzrahmen für kollektive und individuelle (Selbst-)Verständigungsprozesse begriffen.1 Differenzsetzung ist in diesem Zusammenhang eine fundamentale Operation von Ordnungskonstruktionen, die der sprachlich-kulturellen Zuschreibung von Bedeutung sowie der Identifikation von Zugehörigkeit und damit der gesellschaftlichen Grenzziehung zwischen Gruppen zur Durchsetzung bzw. Anerkennung spezifischer Interessen dient. D. h., dass gesellschaftlichkulturelle Ordnungsmuster – einschließlich Identitäts- und Hierarchisierungsbildungen – notwendig über Differenzen verlaufen. In diesem Sinne macht sich Differenz machtdynamisch auch bei der diskriminierenden Konstruktion von Alterität bemerkbar. In seiner ersten Phase rekurrierte das Kolleg zunächst auf Theoriebildungen der Interkulturalitätsforschung und damit auf Probleme des Fremdverstehens. Insbesondere in der europäischen Moderne wurde über die Konstruktion der Figur des »äußeren Fremden« (vgl. Shimada 2007: 117f.) eine Differenzkategorie geschaffen, die auch geopolitische Machtgefälle und neokoloniale Ungleichheiten bedient. Das Aufzeigen von blinden Flecken, Ausgrenzungen und Verwerfungen, die mit Abgrenzungen zwischen dem »Westen« und dem »Rest« bzw. dem Norden und dem Süden2 verbunden sind, ist ein notwendiges Korrektiv kultureller Stereotypisierungen und euroamerikanischer Universalisierungsansprüche. Die Figur des Fremden ist kulturhermeneutisch insofern interessant, als das für das Eigene zunächst nicht anschlussfähig scheinende Fremde Fragen nach den Grenzen des Verstehens und nach der Zulässigkeit von Aneignungsbemühungen provoziert. Unter den Leitlinien der Transdifferenz gilt es zudem, die kommunikative Verarbeitung intrakultureller Sinnelemente immer auch auf implizite Prozesse des Fremdverstehens hin zu untersuchen (vgl. Srubar 2007: 44ff.). Entsprechend ist kulturelle Differenz aus der Perspektive des Graduiertenkollegs zunächst »als ein relationales Konstrukt zu verstehen, das gewissermaßen am Schnittpunkt der Diskurse der jeweiligen ›Einzelkulturen‹ entsteht, das heißt, in einem unhintergehbar mit Macht imprägnierten Wechselspiel von Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung. Differenz zum Kulturäußeren ist insofern für die Entstehung notwendig, doch ist solche Differenz selbst relational zu verstehen. Differenz wird auch auf kultureller Ebene immer wieder zur Transdifferenz.«

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Diese heuristische Definition von »Kultur« sowie die beiden im Folgenden zitierten Konzeptualisierungen von kultureller Differenz entstammen den Antragstexten des Graduiertenkollegs. Für Spivak (vgl. 1996: 6) ist es in der Globalisierung die ärmste Frau des Südens, deren Spuren im hegemonialen Diskurs nicht verzeichnet sind. Die Subalterne wird doppelt ausgelöscht, nämlich sowohl im imperialen als auch im (patriarchalen) subalternen Diskurs; sie bleibt jenseits von Differenzen, denn sie ist in diskursiven Regimes strukturell unhörbar (vgl. 1996: 272ff.).

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Wenn man zudem berücksichtigt, dass Medien, insbesondere moderne Medientechnologien, potentiell kultur(raum)überschreitend wirksam sind, erscheint es selbstverständlich, von einer inter- wie intrakulturellen Kommunikation als einem interdependenten Gefüge auszugehen. Wie sieht es jedoch darüber hinaus mit historischer oder besser: diachroner Differenz aus? Aus der Perspektive des Graduiertenkollegs »ist der Unterschied zwischen synchroner, gruppenbezogener kultureller Differenz einerseits und diachroner Differenz von Entwicklungsstufen einer bestimmten Kultur weniger grundlegend als oft angenommen. Wenn nämlich Kulturen einem beständigen Transformationsprozess unterworfen sind und zugleich als komplexe Mischungen des Eigenen, des Anderen, des angeeigneten Anderen, des veränderten Eigenen usw. verstanden werden müssen, verlieren die Unterscheidungen von historischer Alterität und kulturräumlicher Alterität wie auch von Interkulturalität und Intrakulturalität an theoretischer Schärfe. Dies ermöglicht die Vergleichbarkeit der Ergebnisse von Untersuchungsprojekten höchst unterschiedlicher historischer Tiefe.«

Obwohl eine zeitliche Differenz gerade aus hermeneutischer Sicht als produktive Möglichkeit des Verstehens gilt, da sie die Einsicht in die historische Gebundenheit des jeweiligen Verstehens ermöglicht, sind die im Graduiertenkolleg entstandenen Arbeiten zu älteren, insbesondere zu vormodernen Kulturstufen eher rar. Wie im Bereich der britischen Kulturwissenschaft fällt die eher gegenwartsbezogene Ausrichtung der Untersuchungen auf, so dass sich nach wie vor die Frage stellt, inwieweit bzw. wie weit der Differenzdiskurs historisch trägt. Festzuhalten bleibt, dass mit der Perspektivenverschiebung von Fremdheit als interpretatives Konstrukt des je beliebig Differenten hin zu Alterität als zweite von zwei einander jeweils zugeordneten Identitäten die relationale Definition des Selben stärker in den Blick rückt, insbesondere in Verbindung mit inter- und intrakulturellen Differenzen. Angesichts der funktionalen Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften sowie der Heterogenität intrakultureller Sinnbereiche – auch in alltäglichen Kommunikationssituationen – ist es allerdings erstaunlich, dass offenbar nur wenige grobe Kategorisierungen von Differenzen zur Verfügung stehen. Rasse/Ethnie, Klasse und Geschlecht plus sexueller Orientierung sowie – in den letzten Jahren – Generations- und Religionszugehörigkeit sind die geläufigen Differenzmarkierungen, die verhandelt werden. Allein die »bloße« Untersuchung des als holy trinity bezeichneten Konglomerats von race, class und gender impliziert offenbar schon einen hohen Arbeitsaufwand, und – zumindest in jüngeren deutschen – literaturund kulturwissenschaftlichen Arbeiten wird eine Differenzvariante häufig außer Acht gelassen: signifikanterweise ist dies das sozioökonomische Konzept der »Klasse«.3 Die durch Differenzen begründeten asymmetrischen Machtverhältnisse werden vor allem in zwei prominenten Forschungsfeldern analysiert: den Postcolonial Studies und den Gender Studies. Die hierarchisierenden Funktionen differenzieller Prinzipien werden hier am Beispiel von Logiken bzw. Ideologien offen gelegt, die, indem sie durch binäre Oppositionen strukturie3

Politisch motivierte Auseinandersetzungen mit dieser Differenzkategorie finden sich nach wie vor im Kontext der British Studies (vgl. Rosenberg 2004).

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ren, Ursprünge oder Zentren einerseits sowie Abgeleitetes oder Marginales andererseits markieren und so zu Stereotypisierung sowie Diskriminierung bzw. zu Xenophobie und Misogynie beitragen. Gleichzeitig weisen die wissenschaftlichen Diskurse im Bereich des Postkolonialismus und der Geschlechterforschung selbst deutliche Differenzen auf, die sich idealtypisch in zwei Positionen manifestieren. Einige ForscherInnen halten an Differenz als Moment der Identitätsbildung und der Zugehörigkeit fest und verwenden sie strategisch zur (Wieder-)Aneignung von Handlungsmacht, um politischsoziale Forderungen oder die politisch-rechtliche Anerkennung von (marginalisierten) Gruppen durchsetzen zu können. Die Identitätspolitik dieser »kritischen« Aneignung von Differenz basiert auf strategischen Essentialismen. Poststrukturalistische Ansätze betonen demgegenüber eher die dezentrierenden, ver- und aufschiebenden Prozesse von Identitäts- und Differenzzuschreibungen im Sinne von différance. Der zeitlich-räumliche Prozess der differenziellen Bedeutungszuschreibung eröffnet Spielräume, in denen Alterität als ambivalente oder widersprüchliche Repräsentation des Eigenen und die Konstruktion des Anderen somit als unbewusster Prozess der Identifikation mit ihm lesbar wird: als ständiger, unerfüllbarer Vorgang der Überschreitung und Verschiebung, in dem das Begehren (des Anderen) über ein metonymisches Gleiten entlang einer Signifikantenkette verläuft. In diesem Zusammenhang beschäftigen sich WissenschaftlerInnen mit Themen wie Grenzüberschreitungen, inbetweenness, Fluidität und Mobilität. Dabei sind Begriffe wie Hybridität, Dritter Raum, Nomadismus, Performativität, Transvestismus oder auch Cyborg enorm populär geworden und haben so manchen Forscher und manche Forscherin zu akademischen Superstars gemacht. Den VertreterInnen einer »kritischen« Differenz- und Identitätspolitik erscheinen dekonstruktivistische Verfahrensweisen als ideologische Strategien, die alles andere als politisch subversiv sind; sie bezeichnen sie polemisch als typisch akademische »unpindownability« (Currie 2004: 45). Aber ist denn die Politik der Differenz tatsächlich als politische Ermächtigungsstrategie für marginalisierte Gruppen wirksam? Einige radikale KritikerInnen in der Debatte um eine Politik der Repräsentation behaupten, dass das Insistieren auf Differenzen in eine Sackgasse geraten sei und zu einer Vielzahl unübersehbarer politischer Forderungen geführt habe, deren VertreterInnen als »autistische Monaden« fungierten, während die dringend notwendige Solidarität ebenso wie das Problem der (mangelnden) Gleichheit vernachlässigt werde: In einer Hegemonie verhalle eine kritische Differenzpolitik, da (neo)imperiale Machttechniken letztere zu einer Diversifizierung konsumierbarer Differenzen verfeinerten (vgl. Steyerl 2008: 12ff.). In diesem Zusammenhang lohnt sich ein kurzer Blick auf die mit Differenzdiskursen einhergehenden Verwertungsinteressen im sogenannten spätkapitalistischen Globalismus. Aus wirtschaftskritischer Perspektive impliziert Differenz innerhalb der neoliberalen Ideologie des Weltmarktsystems nicht so sehr Marginalität und Ausschließung; sie fungiert vielmehr als Konsummodell. Die Ökonomie des Begehrens, die auf der Aneignung von Differenz(-Simulationen) beruht, zeigt sich demnach etwa in »difference sells«Slogans (Jain 2003: 265) wie: Designed to Make a Difference (Braun), The Beauty of Difference (Betty Barclay), Think Different (Apple 1997 oder auch – mit der angemessenen Verspätung einer Slogan-Aneignung – die DGBJugend 2004) und möglicherweise auch Differenzen anders denken, ein 62

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Sammelband zur Transdifferenz (Allolio-Näcke et al. 2005). Als noch fortgeschritteneres Instrument der Warenwerdung kultureller Differenzen gilt der »Hype um Hybridität«: Die Faszination des Hybridisierungsimages bzw. Hybridlogos beruhe darauf, dass es Diversität bzw. Multifunktionalität, Dynamik und die Überwindung struktureller Grenzen für sich reklamiere (vgl. Ha 2005: 58f.). An dieser Stelle darf nicht verschwiegen werden, dass Differenzdiskurse ebenfalls als Instrumente der Warenwerdung von Disziplinen fungieren. Fächer und ihre Theoriebildung stellen nämlich selbst einen Teil der kulturellen Praxis dar und nehmen Warencharakter an, insofern sie auf einem akademischen Markt, der inzwischen einer Branding-Börse gleicht, miteinander um die besten Ideen und dabei immer mehr auch um Ressourcen konkurrieren. Um sich in der In- und Out-Logik der akademischen Kulturindustrie zu profilieren, ist es für einige Wissenschaftsbereiche – und dies ist ein selbstkritischer Kommentar – auch wichtig, Kulturkonzepte gleichsam zu patentieren und als disziplinäres Eigentum zu reklamieren. So werden die disziplinäre Eigenständigkeit und die kulturellen Kompetenzbereiche, welche sich die Literaturwissenschaft im Laufe des 20. Jahrhunderts mühsam angeeignet hat, durch die »disziplinlose« Kulturwissenschaft seit dem Ende des 20. Jahrhunderts erneut in Frage gestellt. Letztere wird von Teilen der Literaturwissenschaft nach wie vor als ein konspiratives Unternehmen angesehen, das darauf abzielt, ihr die »Kultur« und die angestammte Position im akademischen Betrieb streitig zu machen (vgl. Lindner 2000: 74f.). Dass die mit westlichen Differenzdiskursen einhergehende wirtschaftliche Verwertungs- und Konkurrenzlogik auch die Hochschul- und Wissenschaftslandschaft erreicht hat, zeigt sich etwa an der Reinstallierung des Elitebegriffs. In der Rhetorik der Exzellenzinitiative geht es um eine Ausdifferenzierung des gesamten Wissenschaftsbereichs, die vorgeblich »Leistungsunterschiede« sichtbar macht, wobei ganz offensichtlich bestehende strukturelle Ungleichheiten nicht nur fortgeschrieben, sondern sogar noch weiter vergrößert werden.4 An diesem prekären Punkt, der die kulturpolitische Re-Präsentation von Differenzen betrifft, möchte ich mich der literarischen Repräsentation von Differenzen zuwenden. Damit verlasse ich, zumindest teilweise und vorübergehend, den Bereich der theoretischen Diskurse mit ihren wissenschaftlichen Abstraktionen kultureller Differenzen – Theorien, in denen Differenzen eher Lust als Qual bereiten. Ein solchermaßen inszenierter Bruch dient in der Regel dazu, die spezifische Differenzqualität von Literatur im Sinne eines privilegierten Raumes, eines Kräftefeldes, das sich vermeintlich stabilen und akzeptierten Sinnstiftungspraktiken zum Teil zu entziehen vermag, hervorzuheben.5 Ich werde stattdessen an zwei konkreten Beispielen aus dem Bereich des zeitgenössischen englischsprachigen Romans den Differenzdiskurs auf 4

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Vgl. etwa die Gegenüberstellung von so genannten Lebenswissenschaften und Geisteswissenschaften, das Ost-West- bzw. Nord-Süd-Gefälle und die zunehmenden Diskrepanzen zwischen großen und kleinen Universitäten. In diesem Zusammenhang warnt Schabert (vgl. 1999: 336) aus wissenschaftspolitisch-pragmatischer Sicht vor einer Einebnung der Differenzqualität von Literatur bei der Ausweitung des Gegenstandsbereiches hin zu Kultur (im Sinne eines textlichsymbolisch vermittelten Verständigungsrahmens für Prozesse kollektiver Bedeutungskonstruktion).

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ein anderes als das bislang erörterte »Ende« hin beleuchten. Dieses »andere Ende« manifestiert sich insbesondere im Alteritätsdiskurs. Das Alteritätskonzept erlaubt eine Berücksichtigung des (in den Cultural Studies bisweilen vernachlässigten) Aspekts der Subjektposition und des Imaginären. Es eröffnet zudem einen ethischen Bereich, in dem Forderungen nach Anerkennung von Differenzen, nach Respekt gegenüber dem Anderen artikuliert und verhandelt werden.6 Anschließend werde ich die Ethik der Differenz bzw. der Alterität auf ihre Probleme hin befragen und damit verbundene Grenzen von Differenzen anvisieren sowie über ein mögliches Ende des Differenzdiskurses bzw. über dessen »Anderes« spekulieren. Ich beginne mit J. M. Coetzee, einem weißen, inzwischen mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichneten Südafrikaner, dessen »postkoloniale« Texte in den Metropolen Europas und Nordamerikas konsumiert werden und von einigen Kritikern für politisch höchst problematisch gehalten werden. Coetzee weigert sich nämlich offenbar, »Widerstandsliteratur« zu produzieren, also für den oder die gesellschaftlich marginalisierte Andere zu sprechen. Gleichzeitig beschäftigt er sich mit zum Teil sehr gewaltsamen Differenzmarkierungen, mit den häufig schmerzhaften Beziehungen des Eigenen zu verschiedenen Anderen, u. a. auch mit dem Eigenen als Anderem, also mit Selbstdifferenz. So kommentiert Coetzee die Auswirkungen der kolonialen Machtstrukturen in Südafrika: »The deformed and mutilated relations between human beings, which have been created under the colonial regime and which have been exacerbated under what one summarily calls apartheid, find their psychic reflection in an internal life that is deformed and mutilated. All the expressions of this internal life, regardless of the intensity, regardless of what flashes of cheerfulness or despair run through them, suffer from the same deformity, the same mutilation.« (Gallagher 1991: 15)7

Der Roman Boyhood, 1997 erschienen, also drei Jahre nach den ersten demokratischen Wahlen in Südafrika, blickt zurück auf die erste Phase der Apartheid. Der Text präsentiert mehrere scheinbar autobiographische Episoden der späten 1940er und frühen 1950er Jahre. Im Mittelpunkt steht ein etwa acht- bis dreizehnjähriger Junge namens John Coetzee, der einige Zeit in Worcester, Südafrika, lebt, ein Kind aus einer Afrikaander-Familie. Eines der Hauptthemen der Geschichte sind die rigiden Grenzziehungen, denen sich der junge Protagonist unterwirft. Er glaubt, dass sein Leben auf verwerflichen Geheimnissen beruhe, und seine zwanghafte Verschwiegenheit treibt ihn dazu, jede Facette seines Lebens zu isolieren. Indem er seine Existenz segmentiert, hofft er, sein wehrloses inneres Selbst davor bewahren zu können, aus ihm herausgerissen und entblößt zu werden, »like a crab pulled out of its shell, pink and wounded and obscene« (Coetzee 1998: 151). Er führt eine Art Doppelleben, und von hier aus begibt er sich auf ein Minenfeld von Differenzen, die zwar arbiträr erscheinen, aber schwerwiegende psychische und phy6

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Die Interpretationen folgen dabei teilweise der Argumentation in meinem Aufsatz zur »ethischen Wende« im Bereich der Postcolonial Studies und der Gender Studies (vgl. Feldmann 2007: 124-131). Die Äußerung entstammt einer Rede Coetzees anlässlich der Verleihung des Jerusalem-Preises für Literatur im Jahr 1987.

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sische Verletzungen zur Folge haben können. John Coetzee mag z. B. Russen heimlich mehr als Amerikaner, weil ihm der Buchstabe R gefällt, während alle anderen Russen als verabscheuungswürdige Kommunisten sehen. Er gibt vor, englischer Herkunft zu sein, denn er hat Angst davor, mit den Afrikaander-Jungen, die er fürchtet, gleichgesetzt zu werden. Er sieht sich auch als Betrüger in religiöser Hinsicht, da seine Bewunderung für den römischen Helden Horaz ihn dazu verleitet, sich als römisch-katholisch auszugeben. Ein weiteres mit Differenzen einhergehendes Problem stellt der Roman über die Beziehung des Protagonisten zu seiner Mutter dar: »She says so many different things at different times that he does not know what she really thinks. […] He wishes she would believe in something. Her sweeping judgements […] exasperate him« (Coetzee 1998: 33).

Seine Familie verstärkt das Gefühl, anders zu sein, nicht normal zu sein, und er erlebt deshalb unentwegt Gefühle der Schuld, Scham, Angst und Panik. »He comes from an unnatural and shameful family in which not only are children not beaten […] but no one goes to church and shoes are worn every day (ebd. 6). At the same time […] he is glad he wears shoes and takes out books from the public library […] – all the things that set him apart – he is angry with his mother for not having normal children […] [,] for turning him into something unnatural, something that needs to be protected if it is to continue to live« (ebd. 7f.).

Dieses Zitat zeigt beispielhaft die beunruhigende Qualität der Erzählerstimme in Coetzees Text. Die dritte Person Singular markiert die Differenz zwischen dem Erzähler und dem Erzählten, so dass die Stimme des jungen Coetzee gleichsam überlagert wird: Ein unmittelbarer Zugang zu seinen Gedanken und Emotionen bleibt uns verwehrt. Die Stimme dieses anderen Coetzee ist dabei weder gänzlich stumm noch eine bloße Projektion, sondern eine Art »fehlgeschlagenes« Bauchrednertum und damit vergleichbar der Rolle des Übersetzens8 (und auch des Lesens), das kein »reiner« Austausch sein kann, da das verstehende Be- und Ergreifen des Anderen auch eine Art Verfügungsgewalt impliziert. Die Wahrnehmung von Selbstdifferenz kann in einer relationalen Hermeneutik als Bedingung für eine mögliche Beschränkung der Identifikationsmacht über andere gelten. Übersetzen bedeutet in diesem Sinn eine Art Nachahmen der Verantwortung gegenüber der Spur des Anderen im Selbst. Dies lässt sich an Coetzees Sprachstil nachvollziehen, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Der persönliche, in hohem Maße kontrollierte Ton des Erzählers neutralisiert die bekennerhafte Selbstenthüllung (und die ichbezogene Regression), die autobiographisches Schreiben mit sich bringen kann. Die Differenz zwischen einem (vergangenen) vorpubertären Selbst (als Anderem) und dem Selbst als einer erwachsenen Person wird nicht überbrückt und im Sinne eines Reifeprozesses dargestellt oder mit Hilfe auktorialer Kommentierungen kausal bzw. final gelenkt. Diese Form der Darstellung bekundet auch eine Weigerung, das Andere auf die Stufe des Eigenen zu 8

Zu einer ausführlichen Diskussion dieser Problematik am Beispiel einer konkreten Übersetzung vgl. Feldmann et al. (2008).

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bringen, wobei in diesem Fall das Andere ein früheres, ein jüngeres Selbst bzw. ein Bild des Selbst als Anderem ist. Entsprechend nennt Coetzee die fiktionale Darstellung einer frühen Phase seines Lebens nicht Autobiographie sondern Autrebiographie (vgl. Collingwood-Whitick 2001: 21). Hier entsteht freilich auch ein Ansatzpunkt für eine Kritik an einer Ethik der Differenz bzw. der Alterität. Der Respekt für Differenz mag heuchlerisch erscheinen, wenn es um Differenzen geht, die mit einer dominanten oder hegemonialen Identität vereinbar sind (vgl. Badiou 2003: 32-40). Coetzees Roman geht aber möglicherweise noch einen Schritt weiter: Er weist auch auf nicht verarbeitete, nicht versprachlichte (Differenz-)Erfahrungen im Leben des jugendlichen Protagonisten hin. Viele Probleme bleiben nämlich unerklärt, Zusammenhänge werden verschwiegen, und dort, wo der Text nichts sagt bzw. nichts sagt, mag sich eine Spur von etwas andeuten, das undifferenziert bleibt, das sich – in der Terminologie der poststrukturalen Psychoanalyse – wie das »Reale« der (allumfassenden) Strukturierung durch die sprachlich-kulturelle »Symbolische Ordnung« entzieht und somit auf eine »unmögliche Erfahrung« verweist. Objekte des »Realen« sind Objekte der Angst, denn ihnen fehlt die Möglichkeit einer Vermittlung, einer Übersetzung. Aus diesem Grund werden sie auch mit traumatischen Erfahrungen assoziiert und implizieren eine problematische Leerstelle in Bereichen wie Erinnerung/Gedächtnis und Zeugenschaft/Geschichte. Mein nächstes Beispiel ist Jackie Kays Trumpet, ein Roman, der 1998 erschienen ist und sich mit der Textsorte Biographie, speziell mit einer Transgender-Biographie beschäftigt. Die Geschichte basiert auf dem »Fall« Billie Tipton, einem verheirateten amerikanischen Jazzmusiker mit drei adoptierten Kindern, von dem nach seinem Tod bekannt wurde, dass er eine Frau war. Kay verlegt die Geschichte nach Schottland, gibt der Musikerin, Joss Moody, eine Trompete und macht ihn [sic] schwarz. Billie Tiptons Leben wurde in den Massenmedien als Geschichte eines lebenslangen Transvestiten präsentiert, dessen »Maskerade« durch sozioökonomische Faktoren »erklärt« werden konnte. Anstatt die »wahre« Geschlechtsidentität einer passing person sensationell zu enthüllen, macht Kay sich daran, das Leben dieser Person zu würdigen. Dies geschieht insbesondere durch die Erinnerungen von Millie Moody, Joss’ Witwe, die an ihrer Liebe und Treue zu Joss festhält, wozu auch gehört, die Fiktion seiner Identität aufrecht zu erhalten. »I am the only one«, behauptet Millie, »who can remember him the way he wanted to be remembered« (Kay 1998: 40). Auch in diesem Roman geht es nicht so sehr um ein postmodernes Spiel mit Differenzen. Gleichwohl wird die Performativität der sex/genderOrdnung ebenso deutlich wie die Überlagerung von Geschlechterdiskursen mit anderen Differenzmarkierungen; zudem lassen sich die verschiedenen Erzählstimmen des Textes, die wie eine Jazzkomposition angelegt sind, als transdifferentes Gefüge interpretieren.9 Gleichzeitig beschäftigt sich der Text mit der Kluft, dem Schmerz und der rhetorischen Gewalt, die mit Differenzen verbunden sind. So reagiert etwa Colman, der adoptierte Sohn von Joss und Millie Moody, der sich selbst eher als Engländer denn als Schotte begreift und als »Farbiger« zudem unter Rassismus zu leiden hat, auf die Entdeckung, 9

Zu Arbeiten aus dem Graduiertenkolleg hierzu vgl. Walz (2005: 132-169) und – aus der Perspektive einer ethischen Hermeneutik – Böhm (2008).

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dass sein Vater eine Frau war: »No man wants a fucking lesbian for his father« (Kay 1998: 66). Demgegenüber bemüht sich Millie, Differenzen durch von Respekt und Liebe getragene Imagination zu überbrücken. Joss’ lebenslanges Bemühen, eine Fiktion von Normalität zu leben, wird von Millie weiter aufrechterhalten. Sie weist Versuche der Presse, ihre Ehe umzuschreiben, zurück. »I didn’t feel I was living a lie. I felt like I was living a life. Hindsight is a lie« (Kay 1998: 95). Millies Ehe war nicht genau so wie andere Ehen, aber auch nicht gänzlich anders. Sie fühlt sich als Joss Moodys Witwe und weist eine lesbische Identität zurück, denn sie will nicht als »anders« verortet werden. Auf diese Weise zeigt Trumpet, dass die Überlagerung unterschiedlicher Differenzkategorien, hier geschlechtlich-sexueller sowie nationaler und ethnischer Art, nicht notwendig mit einer politisch aktivierenden Durchdringung von Zentrum und Peripherie einhergeht.10 So wie über Colman, der schließlich eine »Familienähnlichkeit« zwischen sich und seinem Adoptivvater erkennt, verhandelt der Roman auch über die Figur Millie nicht so sehr den respektvollen Umgang mit Differenzen als vielmehr die Notwendigkeit einer Anerkennung von Äquivalenzen. Darüber hinaus eröffnet der Roman einen Raum jenseits von Identität und Differenz. So wird in einem zentralen Kapitel der verstorbene Joss mit seiner Musik vorgestellt: »The music is his blood. His cells. But the odd bit is that down at the bottom the blood doesn’t matter after all. […] All his self collapses – his idiosyncrasies, his personality, his ego, his sexuality, even, finally, his memory. […] Down at the bottom, face to face with the fact that he is nobody. […] It is about being nobody coming from nothing. The horn ruthlessly strips him bare till he ends up with no body, no past, nothing.« (Kay 1998: 135) »So when he takes off he is the whole century galloping to its close. […] Scotland. Africa. Slavery. Freedom. He is a girl. A man. Everything, nothing. […] Black, white. Nothing weighs him down. Not the past or the future. He hangs on to the high C and then he lets go. Screams. Lets it go. […] He tears himself apart. He explodes. Then he brings himself back. Slowly, slowly, piecing himself together.« (ebd. 136)

Die performative Intensität und unmittelbare Wirkung der Musik transzendiert für den (geisterhaften) Protagonisten vorübergehend jedwede Differenz: Der Text erschafft einen magischen Moment, in dem Joss Identität und Alterität zurücklässt und eine nahezu mystische Erfahrung macht. Hier findet sich keine Selektion oder Bündelung von Zugehörigkeiten; die hier angedeutete Erfahrung gehorcht einer Ökonomie der Verausgabung, die auch als typisch für den Diskurs der Liebe gilt (vgl. Barthes 1988: 140, 144).11 Musik dient hier einmal öfter als Medium, mit dem das Unaussprechliche eines subjektiven Erlebens zu einer intersubjektiv nachvollziehbaren Erfahrung gestaltet 10 Ganz ähnlich erklärt sich die Kritik an der (semiotisch-psychoanalytischen) Vorstellung von Hybridität als Ermächtigung: Für einige Kritiker handelt es sich dabei um eine unzulässige Verallgemeinerung der Erfahrungen einer privilegierten Schicht kosmopolitischer Intellektueller. 11 Bei Barthes ist der Diskurs der Liebe allerdings flach, horizontal; er kennt keine Tiefen und keine Transzendenz.

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werden kann. Im literarischen Text ist Musik freilich nicht selbst präsent, sondern wird sprachlich-symbolisch re-präsentiert, wodurch Zäsuren, Differenzen – hier an den klar, wenn auch ex negativo, artikulierten Binarismen ablesbar – wieder hineingetragen bzw. als unhintergehbare Momente von Textualität sichtbar werden. Als Fazit bleibt festzuhalten: Was den Diskurs der Differenz wenn auch nicht zu ersetzen, so aber doch fortzusetzen oder zu überlagern scheint, ist offenbar zunächst kein Diskurs der Indifferenz. Eine erste Antwort auf die Frage nach möglichen post-differenten Diskursen wird mit der aktuellen Forderung von SchriftstellerInnen und WissenschaftlerInnen gegeben, Begriffe wie Empathie, Affekt, Unmittelbarkeit und Präsenz (wieder) aufzunehmen – Begriffe, die im Poststrukturalismus in Misskredit gebracht oder gar pathologisiert wurden. Werden literarische und akademische Diskurse dadurch erneut verzaubert und bedürfen sie nun einer noch stärkeren Entmythologisierung? Eine weitaus radikalere Antwort verkündigt das Ende der Ära der Differenzen durch reaktivierte Vorstellungen von universalen Wahrheiten, die indifferent in Bezug auf Differenz seien: Differenzen sind demnach das, was von (künftigen) Wahrheiten überwunden oder als unbedeutend gesetzt (werden) wird (vgl. Badiou 2003: 42f.). Badiou ist einer der bekanntesten Vertreter dieser Richtung und einer der vehementesten Kritiker einer Ethik der Differenz. Baudrillard (2001) schließlich behauptet aus einer anderen Perspektive provokativ, dass es nach 9/11 nur noch eine absolute, totalisierende Hegemonie ohne ideologische Differenzen gebe. Wie kann eine Kulturhermeneutik mit solchen Herausforderungen umgehen? Es ist offenbar vor allem der Hintergrund der Globalisierung, vor dem sich – angesichts der Verschiebungen in den bislang als räumlich begrenzt verstandenen Gesellschafts- und Kulturkonzepten – tiefgreifende Umbrüche im Umgang mit Differenz bemerkbar machen (vgl. Schulze-Engler 2006: 127, 130). Die Beschwörung des Endes der Differenzlogik, mag sie nun eine Wunsch- oder eine Horrorvision sein, bedeutet – um mit Butler (vgl. 2001: 416f.) zu sprechen – jedenfalls keineswegs das Ende der Differenz; sie kann vielmehr als ein weiteres Indiz für die anhaltende Wirkmächtigkeit von Differenzen als Orientierungsmuster betrachtet werden.

Literatur Allolio-Näcke, Lars/Kalscheuer, Britta/Manzeschke, Arne (Hg.) (2005): Differenzen anders denken: Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz, Frankfurt/M.: Campus. Badiou, Alain (2003): Ethik: Versuch über das Bewusstsein des Bösen, Wien: Turia u. Kant (Frz. Original Paris: Hatier, 1993). Barthes, Roland (1988): Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Baudrillard, Jean (2001): »The Spirit of Terrorism«. Le Monde, 2 November 2001. http://www.egs.edu/faculty/baudrillard/baudrillard-the-spirit-ofterrorism.html (15. Mai 2009). Böhm, Nadine (2008): »»I am leaving myself to you [...] You will understand or you won’t.« Jackie Kays Trumpet (1998) als Inszenierung hermeneutischer Ethik«. In: Christoph Ernst/Walter Sparn/Hedwig Wagner 68

Differenzen ohne Ende?

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II. PRÄSENZ

Posthermeneutik. Einige Überlegungen zu einem vorläufigen Programm DIETER MERSCH

I. Diesseits und jenseits des Sinns Der Ausdruck »Posthermeneutik« gemahnt sowohl an ein »Diesseits« als auch ein »Jenseits« des Hermeneutischen, jedenfalls an einen Sprung hinaus oder eine Überschreitung jenes »Aprioris der Interpretation«, wie es mit Friedrich Nietzsche in der Philosophie aufgetaucht ist und sich spätestens seit Martin Heideggers »Hermeneutik der Faktizität« und der Universalisierung philosophischer Hermeneutik in der Folge von Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode durchgesetzt hat – ein Sprung oder eine Transzendenz, welche gleichzeitig nicht umhin können, innerhalb des Schemas der Interpretation und des Mediums der Diskursivität zu verbleiben. Was kann dies bedeuten? Fragt man, indem man so fragt, nicht schon über den anvisierten Sprung, die Transzendenz oder die Bezeugung eines »Jenseits« hinaus und damit auch über das, was sich dem Begrifflichen, der Differenz oder dem, was sich überhaupt noch kommunizieren lässt, von Anbeginn an verschrieben hat? Offenbar ist damit eine Paradoxie angesprochen, denn jede Ausmessung der »Grenzen des Sinns«, jede »Entschränkung« des Verstehens in Richtung eines Nichtverstehens wie auch eines »Anderen« semiotischer oder hermeneutischer Differenz geschieht stets noch im Rahmen ihrer diskursiven Einholung, der Rede und seiner Aussage, um sich verständlich zu machen. Die Überschreitung des Hermeneutischen setzt mithin einen Text voraus, der notwendig auf seine Lektüre und also auch auf Verständlichkeit und Verständlichmachung gerichtet bleibt, um auf etwas zu verweisen, was diese ebenso ent-setzt wie sprengt: ein Nichttextuelles oder Unverständliches, eine »Amedialität« oder Alterität, die – bezogen auf die im Text immer schon vorentschiedene Figuration – keine angemessene Sprache oder Darstellung findet. Die folgenden Überlegungen verdanken sich der Einsicht, dass das Paradox im gleichen Maße unvermeidlich ist, wie es selbst auf einer unmöglichen Figuration fußt, die auf indirekte Weise Verweisungen eröffnet und sagbar, oder genauer: berührbar und andeutbar macht, was sich – im strikten Sinne – nicht sagen lässt. Sie sind insofern im genauen Zwischenraum zwischen Ludwig Wittgensteins berühmtem Schlusssatz des Tractatus und Theodor W. Adornos Replik darauf angesiedelt: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen« (Wittgenstein 1971: 115), sowie: Philosophie, die nicht in einer trivialen Wiederholung des stets schon Gesagten münden will, müsse, wie es in der Philosophischen Terminologie heißt, das »Paradox des Unterfangens« aushalten und »das Unsagbare eigent73

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lich doch [...] sagen« (Adorno 1973b: 56).1 »[A]lle philosophische Sprache [ist] eine gegen die Sprache«, führen Adornos Studien zu Hegel fort, »gezeichnet vom Mal ihrer eigenen Unmöglichkeit« (1970: 335).2 Darum werde Philosophie, »die nicht abstürzen kann in den Abgrund [...], analytisch, potentiell zur Tautologie« (Adorno 1973a: 45). Der entscheidende Punkt beider Sätze ist dabei die Adäquation; die Wittgenstein’sche Sentenz privilegiert als Kriterium der Sagbarkeit den sinnvollen Satz, dessen Vorbild die Proposition und dessen Form die Referenz ist, wohingegen Adorno sich der Notwendigkeit des Rhetorischen bewusst bleibt, das nicht nur der Persuasion dient, sondern, wie bereits Nietzsche wusste, im Innern der Sprache selber wurzelt, sofern jede Rede die Fähigkeit besitzt, ihr Sagbares im Sinne ihrer genuinen Metaphorizität »hinüberzutragen« in einen anderen Bereich, um sich in eine Allusion zu verwandeln. Stets habe er zeitlebens den einzig richtigen Ausdruck gesucht, bekannte deshalb Jorge Luis Borges in seinen Harvard Vorlesungen über das Handwerk des Dichters, bis er erkannt habe, dass die »Anspielung« genüge (2008: 87). Sie erlaube zugleich das Umspielen, die Andeutung, den Wechsel des Themas, das Überleiten in ein anderes Gebiet – jenen »Sprung« wiederum, den Heidegger mit dem Satz überhaupt assoziierte, der einen »Satz« mache, um »das Denken« zu verwandeln (Heidegger 1978: 28). Wenn daher von der Indirektheit der Rede gesprochen wird, vom Sagen des Unsagbaren und der Unüberwindlichkeit der Paradoxie, im Medium des Textes ein textuell nicht Ausdrückbares zu berühren, dann ist eine solche Verwandlung des Denkens gemeint, für die kein Zeichen und keine Darstellung trägt und die sich der Sprache verweigert, die im Diskurs mit dem Diskurs zugleich gegen ihn vollzogen werden muss und deshalb lediglich des Appells fähig ist bzw. seiner bedarf.3

II. Begriff des Hermeneutischen Wenn nun mit Hilfe eines solchen Appells, einer Rede im Unsagbaren oder Bodenlosen, zu einer Überwindung des Hermeneutischen angesetzt wird, dann muss zunächst hinzugesetzt werden, dass wir dabei den Ausdruck »Hermeneutik« sehr weit fassen. Er umfasst nicht nur im engeren Sinne das Schema der Interpretation, sondern alle Register der Erzeugung von Sinn durch Differenzsetzung, sei es durch Zeichen oder Systeme der Unterscheidung, wie auch sämtliche Methoden und Modelle ihrer Reflexion. »Das Hermeneutische« fungiert folglich als Platzhalter; sein Begriff zielt allgemein ins Zentrum solcher Kulturanalysen, worin überhaupt die Prozesse der Signifikation bzw. Mediation dominieren und die die Besonderheiten menschlicher Praxis sowie das Spezifikum ihres Humanums in ihrer Differenzproduktion 1 2 3

In ähnlichem Sinne drückt es Emmanuel Lévinas aus: Die »eigentliche Aufgabe der Philosophie« sei »Indiskretion gegen das Unsagbare« (1998: 33). Zu einer gewiss prätentiösen Auseinandersetzung mit Wittgensteins Tractatus vgl. auch Adorno (1970: 336f.). Dass ein solcher Appell im Übrigen auch für die Grundlegung der Philosophie als Diskurs – oder Prädikation – notwendig ist, bezeugt bereits Wittgenstein, wenn es im Vorwort seines Tractatus heißt: »Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht hat« (Wittgenstein 1971: 7).

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Posthermeneutik

erblicken. Die verschiedenen Kulturphilosophien seit Beginn des 20. Jahrhunderts haben dem auf unterschiedliche Weise Rechnung getragen, etwa in Form von Semiotik, Symboltheorie, Strukturalismus und Poststrukturalismus oder als Pragmatismus, Konstruktivismus und Systemtheorie sowie deren dekonstruktiven Kritiken, um nur einige zu nennen. Ihnen allen gemeinsam ist die elementare Geste des Unterscheidens oder der Differenzierung als Grundlage der Produktion und Reproduktion von Sinn und seiner Lektüren – sei es in Gestalt des Zeichens oder der Symbolisierung, sei es durch das Spiel differenzieller Ketten, durch die Einzeichnung einer Distinktion oder der Handlung der Unterscheidung, »die Unterschiede macht«4, und ähnliches mehr. Ohne ihre jeweilige spezifische Differenz leugnen oder einebnen zu wollen, seien sie aus heuristischen Gründen im Rahmen der vorliegenden Überlegungen auf die beiden Grundoperationen der Signifikation und Mediation zurückgeführt, beide verstanden als Zeichensetzung und Zeichenvermittlung bzw. als Übersetzung und Transgression mit allen Attributen der Verkörperung und Darstellung, der Expression und Kommunikation sowie den Praktiken der Aufzeichnung und des Gedächtnisses, der Wiederholung und Einschreibung oder auch der Medien der Übertragung und Techniken der Einteilung und Anordnung, der Reproduktion und Aufzeichnung sowie der Gestaltung und Performanz und vieles mehr. Die verschiedenen Begriffe zielen insgesamt auf die Beschreibung dessen, was Kultur ausmacht – und doch sucht der Terminus der »Posthermeneutik« ein darin Ausgeschlossenes, ein Fehlen oder eine Grenze zu markieren, deren Bestimmung immer wieder zu entgleiten droht und sich verwischt. Gemeint ist kein Anderes der Kultur, kein Außerhalb etwa im Sinne von Natur, sondern eine Andersheit oder Exteriorität in sich, etwas, was sich anzeigt, aber durch die genannten Operationen nicht selbst wieder einholen lässt, etwas, das im gleichen Maße ausgeschlossen oder ›anders‹ ist, wie es sich als konstitutiv erweist, aber nur negativ explizieren lässt, weil es den Prozessen der Differenzsetzung oder des Verstehens und der Mediation, in der literalen Bedeutung von sub-iectus, »zugrunde liegt«. Diese Kritik des »Sinnaprioris« in seiner weiten Bedeutung, diese Reklamierung eines Sinn-Anderen im Sinn meint also weder, alle diese verschiedenen Ansätze, Methoden oder Modelle zu verwerfen noch ihnen ein anderes Paradigma entgegenstellen zu wollen, das ohne den Bezug auf einen Sinn, eine symbolische Ordnung oder auf Differenzstrukturen und deren Gebrauch auskommt; vielmehr hebt sie auf ein darin Unabgegoltenes ab. »Posthermeneutik« ist der Name für die Explikation dieses Unabgegoltenen oder auch Ungedachten. Sie sucht die Augenblicke oder Manifestationen jener Negativität festzuhalten, die die Begriffe des Unabgegoltenen bzw. Ungedachten markieren, sei es in Form eines »Nichtsinns« im Sinn, eines »Nichtzeichenhaften« am Zeichen, eines vom Symbolischen und seinen Ordnungen Ungedeckten oder als das Abgelegte, die Reste und Rückständigkeiten unserer Konstruktionen und Modelle, die deren Funktionen unterlaufen und sich gegen die Ansprüche auf Instrumentalisierung und Kontrolle wehren. Die bevorzugten Residuen solcher Augenblicke oder Manifestationen bilden 4

Diese Formulierung, die Gregory Bateson immer wieder benutzt hat, ist auf unterschiedliche Weise aufgenommen und weitergeschrieben worden, vor allem von Niklas Luhmann (1998: 36ff., 190f.), ferner Martin Seel (2003: 10ff.).

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die Materialität der Dinge, die Leiblichkeit des Körpers, aber auch Phänomene wie das Übriggelassene, der stets untilgbare Rest oder Verfall sowie zeitliche Erosionen und dergleichen. Sie sind zwar wahrnehmbar und bezeichenbar, aber in ihrer Wirkung zur Gänze kaum erschließbar oder beherrschbar. Man kann entsprechend von einem sich chronisch »Entziehenden« sprechen, einem »Unfüglichen« oder Unverfügbaren, das dennoch beständig mitspricht und sich einmischt, das darum ebenso hartnäckig wie unbotmäßig an den Texturen des Sinns mitarbeitet und ihre Strukturen verwirrt. Es geht also um eine »Zäsur« oder »Intervention«, die sich nicht von vornherein dem Medialen fügt oder sich als signifikatives Ereignis verstehen lässt, die folglich die Strategien oder Schriftzüge kultureller Praxis durchquert und in den »Unterscheidungen, die Unterschiede machen«, Risse schlägt und Bruchstellen oder Narben hinterlässt. Wenn daher von einer Exteriorität oder Alterität die Rede ist, dann im Sinne solcher Wunden, Risse oder Lücken, die Spuren legen, ohne dass diese zu »Etwas« hinleiteten oder etwas Bestimmtes »sagten« oder »als solches« dechiffrierbar wären, die wohl aber den Blick auf eine prinzipielle Negativität lenken, die im Kulturellen selbst waltet.

III. Spuren des Nichthermeneutischen Der Blick auf die Grenzen des Hermeneutischen, auf das Undarstellbare, das beständig sich im Sinn Entziehende, ist gewiss nicht neu. Angefügt seien deshalb einige Bemerkungen, die die Herkunft der Gedanken, ihre Einordnung sowie Motivation erhellen sollen. So zeichnen sich beispielsweise, trotz seiner durch eine »Hermeneutik der Faktizität« begründeten Ausweitung des hermeneutischen Anspruchs, die phänomenologischen Untersuchungen Heideggers gerade dadurch aus, dass sie sich buchstäblich am Rande des Verstehens bewegen und sich bevorzugt dort aufhalten, wo Sinn brüchig wird. Dies legt schon die Frage nach dem »Sinn von Sein« nahe, die das Zentrum von Sein und Zeit bildet (vgl. Heidegger 1972b: 5ff.). Der Ausdruck verweist auf eine Differenz, die Sein vor den Sinn stellt und als dessen Anderes ausweist, das stets als solches problematisch bleibt. Heidegger hat sie insonderheit als »ontologische Differenz« ausbuchstabiert, doch hat er mit deren Klärung zeitlebens gerungen – sei es im Verweis auf das »Da«, das nicht ersetzbar ist und gegenüber dem Sinn irreduzibel vorgängig bleibt, sei es später durch den Verweis auf die Hartnäckigkeit und Unbotmäßigkeit des Dass als eigentliches Mysterium der Philosophie, als jene Unheimlichkeit, der sich die gesamte Wende zur Spätphilosophie verdankt. Nicht das Sein selbst, sondern das »Es gibt« oder die »Ungeheuerlichkeiten« der Existenz bilden das eigentliche Skandalon des Denkens, soweit die Aussagen, Modelle oder Interpretationen, die wir uns von dieser Existenz machen, ihr gegenüber seltsam opak oder rückständig bleiben. Das lässt sich auch so ausdrücken: Das Sein ist älter als der Sinn, weshalb die Frage nach dem »Sinn von Sein« bereits eine Stockung, eine Unterbrechung erfordert, die eine Nicht-Einfachheit bzw. ein Entgehen andeutet, das in jedem Versuch, ihm habhaft zu werden, beständig wieder zurückweicht. Vor allem aber lässt sich die Heideggersche Spätphilosophie nur unzureichend als »seinhermeneutisch« charakterisieren. Schon die Bemühungen um den Ursprung des Kunstwerks – die die künstlerische Arbeit aus der Konfrontation mit dem »Ungewöhnlichen« herleiten, das sich im 76

Posthermeneutik

Wortsinne als nicht geheuer, mithin auch als »unvertraut« oder »nicht zugehörig« erweist und mit dem Bereich des Gewöhnlichen oder Vertrauten bricht – verweisen auf Grenzphänomene, die sich der Ausdrückbarkeit verweigern und allein dort aufscheinen, wo der Diskurs einen »Riss« aufweist (Heidegger 1972a: 53ff.). Gleiches gilt für die Erfahrung des »Nichts« in der Angst – jener Taumel zwischen Faszination und Schrecken, die das eigentliche metaphysische Grundgefühl des Daseins ausmacht (Heidegger 1965: 27ff.). Immer wieder ist Heidegger solchen Erfahrungsrissen nachgegangen, etwa in der Langeweile, die uns sowohl vor die Leere der Zeit stellt und damit die Zeitigung der Zeit überhaupt thematisch macht, als auch »die Ausgeliefertheit des Daseins an das im Ganzen versagende Seiende« spüren lässt (Heidegger 1992: 117). Solche Momente lassen sich als Paradigmen eines Philosophierens verstehen, das sich der Phänomenalität des Phänomens durch sein Gegenteil, das Verschwinden, Versagen oder das Nichtige zu versichern trachtet, das darum im Scheitern gleichsam erst »erfahrend« wird. Von dort her beginnt ein immer eindringlicher werdendes Pochen, das den Akt des Verstehens auf ein zunächst Unverständliches hinweist, das das Un-, die Aussetzung oder Negativität an den Anfang stellt, um es vor allem in den Beiträgen zur Philosophie vom »Ereignis«, von dem »Gegenschwung« von »Zuspiel« und »Entwurf« her zu denken, das den hermeneutischen Prozess allererst auslöst und anleitet (Heidegger 1989: 107ff., 169ff., 254ff.). Der entscheidende Punkt ist dabei, dass das Auslösende nicht selbst Teil dieser Bewegung sein kann, weil es ihr vorausgeht und sie konstituiert. Es verlässt daher den Raum des Hermeneutischen: So denkt Heidegger auf etwas zu, was sich dem Begrifflichen und seiner Bestimmung verschließt und gleichwohl eine Dimension eröffnet, die vor dem Verstehen kommt und die Akte der Signifikation und Mediation allererst hervorbringt. Anders ausgedrückt: Ein Zerwürfnis, eine kaum entdeckbare Spur, eine »Unverborgenheit«, deren Grund chronisch zurückweicht, öffnet den Horizont der »Welt« und ermöglicht damit ein Verstehen, das auf diese Weise sein Anderes, seine Heterogenität oder Ausnahme in sich trägt und aufbewahrt.

IV. Präsenz als Gegenprogramm Als ein Grundmotiv oder Anlass für das, was vorläufig »Posthermeneutik« genannt wurde, kann mithin die Spätphilosophie Heideggers geltend gemacht werden – oder vielmehr: nicht diese selber, sondern was in ihr offen, unabgegolten oder fraglich bleibt: eine Unruhe, die sich im Werk bemerkbar macht, ohne von ihm gelöst zu werden. Sie verweist darauf, dass ganz offensichtlich Hermeneutik und Nicht-Hermeneutik zusammengehören. Letzteres ist allerdings nicht allein in einer Negation zu belassen, vielmehr deutet das Nicht auf Phänomene, die, wenn auch nur latent, in den Rissen oder Brüchen des Denkens und seiner Erfahrungen bemerkbar werden, ohne sie als mystische Erlebnisse abtun zu können. Als Namen bieten sich dafür Ausdrücke wie »Ereignis«, »Präsenz« oder auch »das Reale« an, von dem Jacques Lacan bekanntlich gesagt hat, dass wir »stets (zu ihm) gerufen sind, das sich jedoch entzieht« (Lacan 1996: 59). Sie erschließen sich, das ist die hier vertretene These, vorzugsweise durch ästhetische Erfahrung. Ästhetische Erfahrungen sind Differenzerfahrungen; aber nicht die Differenz als das Unterscheidende, 77

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als Prinzip einer Bezeichnung oder Einzeichnung, als Nachträglichkeit ist entscheidend, sondern jenes Moment einer Unterbrechung, das ein Anderes, eine Lücke oder ein Nichtaufgehendes aufscheinen lässt. Das Beispiel einer solchen Lücke ist die Stockung in der Rede Heideggers selber, die Notwendigkeit der Verdopplung, die Sein als Sinn im Sinne einer Hermeneutik der Faktizität aufzuweisen sucht und dabei nicht umhin kann, noch einen Unterschied, eine Trennung dadurch zu machen, dass vom »Sinn von Sein« die Rede ist, der beide Ausdrücke in einer Spannung, einer Nicht-Identität zueinander hält. Wenn daher vom Nicht-Hermeneutischen im Sinne des »Ereignisses« der »Präsenz« oder des »Realen« die Rede ist, dann gewiss nicht in der Bedeutung einer »reinen« und »unschuldigen« Gegenwart, eines vermeintlich Authentischen oder »Unmittelbaren«. Zu Recht sind in den vergangenen Jahrzehnten alle diese Begriffe im Namen einer Autarkie des Symbolischen, des Primats des Gedächtnisses oder der Dekonstruktion des Subjekts attackiert und demontiert worden. Denn es ist naiv zu glauben, es gäbe etwa einen Durchgriff durch das Band von Kategorien und Konzepten, mit denen wir die Wirklichkeit bewohnen – als ob wir die Dinge selbst vor Augen stellen und direkter Wahrnehmung zugänglich machen könnten, ohne sie bereits mannigfachen medialen Zurichtungen unterworfen zu haben. Die Erfahrung des Gegenwärtigen bedarf vielmehr stets der Verzögerung, des Schnitts oder der Distanz, um Aufmerksamkeiten zu stiften, wie zugleich eine Spaltung und Verdopplung notwendig ist, um etwas als etwas auszuweisen und die Gegenwart als Gegenwart festzuhalten oder das Unvermittelte als ein Unmittelbares hervorzubringen. Schon die sprachliche Formulierung verweist dabei in ihrer Angewiesenheit auf die Verdopplung, das »Zweimalsagen«, auf eine ursprüngliche Teilung, die das Als als Mitte, Vermittelndes oder Medium etabliert und damit Medialität an den Anfang stellt. Es war vor allem Jacques Derrida, der von dort her den Vorrang der Präsenz als Grundzug abendländischer Metaphysik dekonstruierte, weil das Gegenwärtige sich durch seine »Vergegenwärtigung« immer schon von sich unterscheiden und, gleichsam, von Beginn an modifiziert haben muss. Es ist eine Differenz, wie es in Die Stimme und das Phänomen heißt, »die die Selbstgegenwart der lebendigen Gegenwart konstituiert«, so dass wir es mit einer »Verspätung« oder »originären Nicht-Gegenwärtigkeit« zu tun haben, die diese von ihrem ersten Augenblick an erlitten hat (Derrida 2003: 68, 111, 118).5 Aufschub, Differenz, Schnitt, aber auch Wiederholung und Duplizität erweisen sich somit als Modi einer Repräsentation und Reflexivität, die überhaupt die Grundlage dafür bilden, Erfahrungen machen zu können oder Bezüge zu setzen. Denn der Begriff der »Schrift«, der in der Grammatologie den Platz der symbolischen Ordnung oder der Struktur und folglich auch der Medialität des Als, d. h. der Mediation und Signifikation besetzt, gilt, wie Derrida in Signatur Ereignis Kontext ausführt, »nicht nur für alle Ordnungen des ›Zeichens‹ und für alle Sprachen im allgemeinen […], sondern sogar […] für das ganze Feld dessen, was die Philosophie Erfahrung nennen würde, ja sogar Erfahrung des Seins: 5

Es ist aufschlussreich, dass auch Derrida zur Exposition seines Gedankens sich auf das Paradox als Metapher oder Form eines »indirekten Weisens« berufen muss, denn was bezeichnen die »originäre Nicht-Gegenwärtigkeit« oder das »UrsprungsSupplement« anderes als eine begriffliche Aporie.

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die sogenannte ›Präsenz‹« (Derrida 1999a: 335). Und doch gehört es zum zentralen Anliegen posthermeneutischer Überlegungen, auch das Gegenteil dieser zweifellos richtigen Annahme zu behaupten und auf der Unverzichtbarkeit des Präsenzbegriffs zu bestehen, gleichsam als ob es eine »Intervention ohne Urheber« gäbe, eine Weise des Einbruchs, die noch den Schnitt schneidet und die Differenz unterbricht und wie eine Konfusion, eine Verwirrung im Gewebe eintritt. Die These ist dann, dass die Erfahrung von Präsenz so wenig durch Begriffe zu bannen oder zu überformen ist wie sie durchgestrichen oder bestritten werden kann. Hatte Derrida, wie man sagen könnte, die Husserlsche Phänomenologie in Richtung einer differenzlogischen »Postphänomenologie« zu überschreiten versucht, um ein für allemal die Transzendentalität der Grammata zu behaupten (Derrida 1999b), hintergeht der »posthermeneutische« Zugriff diese noch einmal, um erneut die Ansprüche der Präsenz, diesmal als negative und durch Bedeutung, Zeichen und Skripturalität hindurchgegangene Gegenwart zu retten. Sie setzt dabei auf eine Unerfülltheit oder ein Nichtaufgehen, das sich als paradoxe Stelle innerhalb der Mediation oder ihren signifikativen Ketten und damit des Verstehens, der Struktur und der Schrift zu erkennen gibt, die deren »Fesseln« sprengt und Reste und Überschüsse enthüllt, deren Spuren es gleich Wegweisern nachzugehen gilt. Der Grundgedanke ist also, um es anders zu wenden, dass das, was vorläufig und noch unspezifisch mit Bezug auf den Sinn als ein zugleich »Anderes« und »Entzogenes« apostrophiert wurde, nicht allein im Negativen zu belassen ist, sondern als ein Widerständiges, d. h. auch Aktives gedacht werden muss, das gerade deshalb nicht geleugnet werden kann. Es ist diese doppelte Bewegung von Unbestimmbarkeit und Unvereinbarkeit, die im Zentrum posthermeneutischer Überlegungen steht. Dann bezeichnet Negativität nicht Nichts, vielmehr ein komplexes Spiel von An- und Abwesenheit, von Verborgenheit und Präsenz, worin sich »Entzug« und »Zug« miteinander verbinden. Wir bekommen es also mit etwas zu tun, das zwar undarstellbar und damit auch sprachlich indifferent bleibt, das aber gleichzeitig sich zeigt und, in seiner ganzen Reserve und Zurückhaltung, immer schon »zuvorkommt«. Sichzeigen und Zuvorkommen sind Attribute eines Erscheinens sowie dessen, was mit der Hervorhebung des Ex- als Ex-sistenz zu fassen ist und dem von sich her ein Eigensinniges, ein Herausstehendes oder Ekstasisches eignet.6 Trotz allem in der Sache beruhenden Scheiterns gilt es daher, solche Anhalte zu finden und im Zwischenraum von Transparenz und Opazität bzw. von einer gleichermaßen zurückweichenden wie nicht zu verneinenden Gegenwart zu markieren – und die »Wette«, die das posthermeneutische Programm abzuschließen versucht, besteht in der Behauptung, dass sich diese Anhalte gerade nicht in den dürftigen Schemen einer »unmittelbaren« Erfahrung abzeichnen, sondern dass sie als nicht zu überspringende Mitgängigkeiten den Praktiken der Signifikation oder Mediation selber inhärent sind.

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Wir schreiben Ex-sistenz statt der Heideggerschen »Ek-sistenz«, um zur existentia zurückzukehren, in ihr aber gleichzeitig eine eigenständige, aus sich herausstehende Kraft zu erblicken. Dagegen meint »Ek-sistenz« bei Heidegger mit bewusstem griechisch-lateinischen Kompositum das menschliche »Heraussstehen in die Wahrheit des Seins« (Heidegger 1954: 70).

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V. Negativität und Positivität der Präsenz Was derart unter den vorläufigen Titel einer »Posthermeneutik« gestellt wurde, bildet somit zunächst und in erster Linie ein kritisches Unterfangen. Dass sich daran ebenfalls kulturtheoretische Überlegungen anschließen lassen, liegt auf der Hand – hier soll indessen lediglich der Hinweis auf eine Intervention, einen Gegenentwurf zu den verschiedenen Programmen des Hermeneutischen genügen, um ihre Konsequenzen lediglich in einer Hinsicht anzudeuten. Versucht wird dabei in selbstreflexiver Absicht eine Einhegung sowohl im engeren Sinne hermeneutischer als auch strukturaler, dekonstruktiver und konstruktivistischer »Universalitätsansprüche« – freilich nicht im Gewand von Ideologiekritik (vgl. Habermas 1968: 234ff.; Habermas 1971), sondern als Gewahrung eines Verlustes, einer genuinen Vergessenheit. Sie deutet vor allem auf ein selbst noch Phantasmatisches. Gemeint ist, dass, indem die Universalität kein Anderes des Sinns, oder auch – im Gewand von Semiotik, Strukturalismus oder Poststrukturalismus – kein Anderes der Differenz oder der Ökonomien des Symbolischen duldet, das Reale selbst noch einer Souveränität kultureller Produktion zufällt, die das Nichtaufgehende, das Widerständige, das Zuvorkommende oder auch das Ereignis und seine Existenz bruchlos unter ihre Regime zwingt. Was geschieht oder was außerhalb ihrer Macht oder Verfügung liegt, wird ignoriert oder zum Ort einer Kathexis, einer »Besetzung« erklärt. Wir scheinen dann selber die Urheber dessen zu sein, was wir gewahren oder tun, ohne im Geringsten einem Anderen oder einer Widerfahrung ausgesetzt zu sein, deren »Herr« wir nicht sein können. Entsprechend phantasmatisch ist der Glaube, dass noch die offensichtlichsten Grenzen, die Zeit und der Tod, aber auch die Materialität der Dinge, die Hinfälligkeit der eigenen Körperlichkeit oder das wörtlich »Ge-Gebene« im Sinne einer »Gabe des Seins« der Zuschreibung, Verfügung oder Inszenierung des Signifikativen und seiner Medien unterliege, und nicht vielmehr deren ananké oder »Be-dingung« darstelle. Unerheblich ist dabei, ob dieses Souveränitätsphantasma als Proposition, Zeichen, Bedeutung, Textur oder Differenz und »Beobachtung« in der Bedeutung des Bezeichnens und Unterscheidens auftritt; entscheidend ist allein die Auffassung, dass sich die Wirklichkeit des Wirklichen ausschließlich durch diese manifestiere und nicht von sich her als eine Alterität »entgegen-steht«. Diese latente Phantasmatik des – im weitesten Sinne – »hermeneutischen Aktes«, das hat auch Hans-Ulrich Gumbrecht in Diesseits der Hermeneutik deutlich gemacht, bildet gegenwärtig immer noch die maßgebliche kulturphilosophische Operation (2004: 12), auch wenn sich gegen sie hier und da Widerstand zu regen beginnt. Diese Operation geriert sich – und darin behauptet sie weiterhin ihre Legitimität, ihr einzigartiges Pathos – als Geste einer Kritik oder Aufklärung, soweit sie eine Volte gegen jede Form von Essentialismus oder Substantialismus zu vollziehen scheint, um deren grundlegende Relativierung zu besorgen. Denn stets haben wir es mit Paradigmen und Figuren, mit Differenzen, Diskursen, Modellen und Visualisierungen zu tun, die für das, was ist, konstitutiv erscheinen – ohne dass jedoch daraus folgen würde, dass sie es tatsächlich zur Gänze konstituieren. Doch bleiben in diesen Konstitutionsweisen nicht nur uneinholbare Kontingenzen (vgl. Mersch 2008), Restbestände oder Unvereinbarkeiten, vielmehr haftet ihnen selbst ein Unverständliches oder Undarstellbares an, das ihnen wie ein Parasit innewohnt 80

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und sie aushöhlt. Daraus lassen sich, wie auch Gumbrecht schreibt, »Umrisse des Feldes von nicht-hermeneutischen Theorien und Forschungspraktiken« ableiten (1994: 106).7 Ihre Konturen ergeben sich insonderheit durch eine Perspektivenverschiebung vom Was bzw. Wie zum Dass. War dem Strukturalismus, der Systemtheorie und der Medientheorie der Wechsel vom Was zum Wie immanent, handelt es sich jetzt darum, ihnen selbst noch das Moment einer Existenzvergessenheit entgegenzuhalten, wie sie der Heideggerschen Seinsvergessenheit, der Derridaschen Differenzvergessenheit und der Lévinasschen Alteritätsvergessenheit an die Seite zu stellen wäre, soweit sie gleichermaßen, wie diese, der Gesamtheit des europäischen Diskurses selbst innewohnt. Was etwas ist und als was wir es betrachten, hängt gewiss von unseren Begriffen, Rahmungen, Inszenierungen oder Medien ab, die es als solches bestimmen oder ausstellen; doch schreibt sich hinter ihnen etwas ein, das widerständig bleibt und sich ihren Konstruktionen nicht fügt. Denn wie weit die Souveränität des Symbolischen und Medialen auch getrieben werden mag, oder wie sehr wir uns auf die Herrschaft der Zeichen und ihrer Strukturen verlassen, stets bleibt wenigstens eines ausgeschlossen, nämlich die Materialität ihrer Bedingungen selbst, die Tatsache ihrer Existenz. Weder die technischen Konditionen noch die Schriftzüge der Signifikation, die Strukturen ihrer Mediation, wie es abermals von Derrida her nahe gelegt werden kann, vermögen sie abzubilden, vielmehr genügen sie sich in ihrer »GeGebenheit« selber. »Ge-Gebenheit« meint ein hier Vorauszusetzendes. Voraus geht ein ebenso Nichtgemachtes wie Unbeherrschbares. Es schließt Exsistenz im Sinne der Betonung des Aus-sich-Herausstehenden, Hervortretenden ein – jene im europäischen Denken annihilierte Dimension, die stets als nichtig, bedeutungslos und für die Bestimmung des Wirklichen oder seiner Darstellung als irrelevant ausgeschlossen wurde. Existenz beschreibt jedoch keine Eigenschaft, sondern die Grundbedingung jeder Eigenschaft. Sie kommt darum den Begriffen und ihren Determinanten genauso zuvor wie den Zeichen und Medien. Das bedeutet nicht nur, dass sich diese – als relationale Schemata – auf ein Vorgängiges beziehen müssen: Das wäre eine Frage der Referenz; vielmehr erweist sich ein Zuvorkommen als ihrer eigenen Sache insoweit inhärent, als sie selbst sein müssen, d. h. in etwas gründen und aus etwas herausstehen. Es gibt kein Zeichen und keine Struktur, keine Signifikation oder Mediation, so wenig wie die Instantiierung einer Differenz oder einer Spur ohne das »Es gibt« als »Grund«, mithin auch nicht ohne die Basis irgendeiner Form von Ex-sistenz, wie rückständig auch immer. Selbst die logische Geste George Spencer-Browns, das »Draw a distinction«, das den Aufbau des Differenz-Kalküls einleitet (2004: 1; vgl. Baecker 1993), fußt noch auf der Vorgabe und Vergabe eines Raumes, worin sie geschieht, ebenso wie das virtuelle Band der Turingmaschine als »Leere« gegeben sein muss, um auf ihm eine Einteilung oder Einschreibung vornehmen und eine Marke setzen zu können sowie die Bewegungen nach rechts oder links zu vollziehen (vgl. Turing 1987; Weizenbaum 1977: 65ff., 107ff.). Zwar bedarf die Mathematik – die hier das Ideal für die gesamte Geschichte europäischer Metaphysik vorgibt – nicht des Blicks auf jenes Dispositiv, das sie erzeugt, weil sie allein schon ist und ihre Existenz behauptet, wo sie im Konsistenten 7

Weiter heißt es: »Heute zeichnet sich eine Konvergenz von Reflexionen im Nicht-Hermeneutischen ab« (Gumbrecht 1994: 106).

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operiert, doch bedeutet dann »Existenz« nichts anders als die Widerspruchsfreiheit eines potentiellen Kalküls. Wirklichkeit wird damit ebenso sehr gegen Möglichkeit eingetauscht, wie Semantik gegen Syntax; doch so wenig beide ihr jeweils anderes zu inkludieren vermögen, so wenig gelingt es der Signifikation oder Mediation, soweit sie allein in Relationen fundiert sind, ihr eigenes »Sein«, ihre Materialität miteinzuschließen.

VI. Posthermeneutische Metaphysikkritik Anders ausgedrückt: Das »Nicht« im Thema des »Nicht-Hermeneutischen« steht nicht für das Augenscheinliche oder für einen kruden Realismus, sondern für die Zurückweisung jedes hermeneutischen bzw. strukturalistischen oder konstruktivistischen Souveränitätsanspruchs, der, trotz aller Opposition gegen den metaphysischen Essentialismus – oder gerade wegen ihm –, die Regime der Metaphysik noch nicht zur Gänze abgebaut hat. Das Programm von Posthermeneutik setzt dem das Eingedenken einer ursprünglichen Passivität entgegen. Sie bleibt notwendig unbestimmt, weil ihr andernfalls eine weitere Bestimmung vorherginge, die sie bräche. So wenig wie als Objekt einer Anzeige oder Zuschreibung, so wenig erweist sie sich als Produkt einer Konstruktion oder als Effekt einer Inszenierung. Vielmehr lässt ihre Unbestimmbarkeit unterschiedliche Signaturen zu, wie sie in den in Anschlag gebrachten Ausdrücken wie »Materialität«, »Präsenz« und »Ereignis«, aber auch das »Nichts«, die »Ex-sistenz« oder der »Überschuss« zum Ausdruck kommen.8 Zusammen bilden sie ein Ensemble von Perspektiven, die innerhalb dessen, was das »Hermeneutische« genannt worden ist, ebenso sehr das Unabgegoltene, Nichtaufgehende oder Unerfüllte konturieren wie dasjenige, was nur angenommen und – im Sinne von Aisthesis – »aufgenommen« oder akzeptiert werden kann. Der »Präsenzbegriff« gehört mithin in ein unscharfes Gebiet von Konnotationen, die immer wieder auf denselben Gedanken zurückkommen und ihn variieren, die deshalb lediglich als Platzhalter für etwas fungieren können, das weder einen Namen besitzt noch einen erlaubt. Als Einspruchsstellen gegen die hegemonialen Ansprüche des »Hermeneutischen« und anderer »Interpretationalismen« bedeutet deshalb ihre Einholung eine besondere methodische Herausforderung, weil sich ihre Positionen nicht diskursiv bestimmen lassen und sich ihre Auffindung zu einer Rede gezwungen sieht, die beständig »am Rande der Sprache« spricht. Am Rande der Sprache, jenseits des Sprechens oder »anders als Sprechen geschieht« befindet sich und ist das, was im buchstäblichen Sinne para doxa, jenseits des Aussagens oder neben dem Meinbaren verbleibt. Es vollzieht jenen »Satz« im Heideggerschen Sinne eines Sprungs, von dem unsere Überlegungen ihren Ausgang nahmen. Die posthermeneutischen Etüden sind notwendig auf diese Anstrengungen des Paradoxen zurückgeworfen, die jedoch in dem Maße präzise bleiben, wie sie sich umgekehrt anhand der immanenten Paradoxien des Symbolischen und der Mediation abarbeiten, die mittels negativ zu fassender Verweise – oder Differenzen jenseits der Differenzen – deren Anderes freilegen. Tatsächlich lässt sich – im Sinne posthermeneutischer Unternehmungen 8

Bei Gumbrecht kommen Begriffe wie »Präsentifikation«, »Epiphanie« sowie »Deixis« hinzu (2004: 30ff., 111ff.).

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Posthermeneutik

– nur auf dieser Schwelle argumentieren: Dem schmalen Grad zwischen der Negativität des »Hermeneutischen« – im Sinne seiner Angewiesenheit auf die Differenz, den Schnitt und die Negation – und dessen eigener Negation in der Bedeutung einer Negation der Negation. Die Negativität des »Hermeneutischen« meint dabei die Ausräumung jeglicher Präsenz im Sinne des Vorrangs von Nicht-Präsenz oder auch des nicht schon vermittelten Ereignisses im Namen des Sinns, des Mediums oder der Differenzialität der Spur, während die Negation der Negation des Posthermeneutischen die Unabdingbarkeit des Gegenwärtigen als ein Nichtnegierbares restituiert, dem eine eigene, affirmative Kraft zukommt. Das »Nicht« des »Nicht-Hermeneutischen« gerät folglich zur Position. Es handelt sich somit um eine »chiastische Konstellation«, die zwischen Negation und Affirmation eine Überkreuzung herstellt und sich einzig indirekt markieren lässt – nicht zuletzt kann dafür die Schelling’sche Spätphilosophie, die er selbst im Gegensatz zur negativen Philosophie des Hegel’schen Idealismus als eine positive apostrophierte und die auf mannigfache Weise gleichermaßen auf Karl Marx wie auf Adorno und Heidegger einwirkte, als Modell stehen.

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Dieter Mersch

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Auf der Suche nach einem nicht kruden Realismus: ein Kommentar zu Dieter Merschs posthermeneutischem Theorieprogramm PETER ISENBÖCK

Den vorläufigen Entwurf eines posthermeneutischen Theorieprogramms, das der Philosoph Dieter Mersch in diesem Sammelband sehr pointiert präsentiert, möchte ich aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive kommentieren und mit einer alternativen philosophischen Theoriesprache kontrastieren. Mein Ziel ist es, die Bedeutsamkeit von Dieter Merschs Versuch hervorzuheben, eine »Grundlage« für kulturwissenschaftliche Forschung zu finden, die sich nicht im Dickicht konstruktivistischer und dekonstruktivistischer Spielarten verliert. Beginnen möchte ich meine Ausführungen mit einer kurzen Betrachtung des Begriffs »Posthermeneutik«. Die Spannweite dieses Begriffs, die sowohl die philosophische Hermeneutik und ihren direkten Gegenspieler, den Dekonstruktivismus, als auch den systemtheoretischen Konstruktivismus umfasst, zeigt die Radikalität der Fragestellung an. Es geht um das große Ganze, das nicht ohne einen gewissen Verlust an Tiefenschärfe bei der Auseinandersetzung mit einzelnen Theorieprogrammen zu haben ist. Ein erstes Unbehagen liefert schon die Gleichstellung von hermeneutischen und konstruktivistischen Ansätzen allein aufgrund ihrer Operationsweise im Medium Sinn. Kann man wirklich von einem herrschenden Sinnbegriff ausgehen, der alle speziellen Sinnkonzepte, etwa das der philosophischen Hermeneutik Gadamers und das der Systemtheorie Luhmanns, gleichermaßen umfasst? Die Antwort, die der Text von Mersch gibt, lautet: ja, insofern man die Grundoperationen der Signifikation und Mediation als etwas betrachtet, das für die Widerständigkeit der Welt keine Empfänglichkeit zeigt. Der Generalverdacht heißt dabei: Wer nur auf Zeichenvermittlung und Zeichensetzung reflektiert, hat die Grundlage des eigenen Reflektierens vergessen – nämlich die bloße Tatsache, dass jeglicher Zeichengebrauch von materialen Bedingungen abhängig ist. Der Vorwurf zielt demnach auf die mit einem »Souveränitätsphantasma« (vgl. Mersch i. d. B.: 80) einhergehende Existenzvergessenheit der »herrschenden«, d. h. der maßgebenden Theorien. Dieser Vorwurf muss sich im Einzelnen bestätigen lassen und natürlich ist die Frage zu stellen, welche alternativen Konzepte Mersch zu bieten hat. Die Theorien, die für Mersch dabei von besonderem Interesse sind, zeichnen sich allesamt durch eine differenzlogisch fundierte Argumentationsstrategie (v.a. Saussure, Derrida und Luhmann) aus, deren gemeinsames Problem darin liegt, ein konstitutives Moment außer Acht lassen zu müssen – nämlich 85

Peter Isenböck

die Materialität der Welt. So zeigt Mersch an anderer Stelle (2006), dass Derrida die Konzepte der Materialität und Strukturalität zusammenfallen lässt, weswegen die Materialität ihre Präsenz – verstanden als wahrnehmbare Gegenwärtigkeit – verliert. Die Präsenz ist es also, was der Hermeneutik und dem Konstruktivismus entgegen gehalten wird. Sie kann allerdings auf unbestimmte Zeit nur »als Platzhalter« (Mersch i. d. B.: 82) fungieren, da sie für das Nichthermeneutische am Sinn steht, das sich nur paradox ausdrücken lässt. Es geht Mersch nicht darum, hinter das differenzlogische Denken in einen kruden Realismus zurückzukehren; sein Ziel besteht vielmehr darin, auf etwas aufmerksam zu machen, was alle Prozesse der Semiosis immer schon begleitet, und zwar nicht nur passiv, sondern auch aktiv – im Sinne einer Widerständigkeit. Dieses »Etwas« soll nicht die Natur sein, d. h. nicht etwas, das außerhalb der Kultur stünde. Vielmehr ist hier eine Paradoxie ausgesprochen, deren Entfaltung nicht wieder hineinführen soll in ein Denken, welches die Wirklichkeit »nicht von sich her« begreifen kann, ohne dabei auf naturalistische Konzepte zurückgreifen zu müssen. Warum man die Existenzvergessenheit der differenzlogisch arbeitenden Theorien bemängeln muss, macht Mersch sehr eindrücklich deutlich. Wie die angesprochene Paradoxieentfaltung den Fallstricken des Konstruktivismus entgehen möchte, bleibt jedoch unklar. Statt dessen drängt sich der Eindruck auf, dass etwas wortgewaltig beschworen wird, gerade weil es mit etwas anderem als Beschwörungsformeln nicht gefasst werden kann. Um diesen Eindruck zu unterstreichen, möchte ich im Folgenden zuerst darstellen, dass die Systemtheorie Luhmanns, die eine von Merschs Referenztheorien ist, seine Kritik unterläuft (1.). Zweitens möchte ich darauf aufmerksam machen, dass das Problem des Verhältnisses von zeichenhaften und nicht-zeichenhaften Konstitutionsvorgängen das kulturwissenschaftliche Denken von Anfang an begleitet hat und zur Zeit wieder eine besondere Aufmerksamkeit auf sich zieht (2.). Drittens zeige ich in skizzenhafter Form eine Möglichkeit auf, die Widerständigkeit der Welt mit Hilfe eines direkten Realismus zu beschreiben, der bei weitem kein kruder Realismus ist. Dies scheint mir nicht zuletzt deswegen notwendig, um den Verdacht zu begründen, dass selbst Mersch dem Konstruktivismus eigentlich noch zuviel zugesteht und sein Gegenmodell deshalb unklar bleibt (3.).

I. Paradoxiemanagement Jeder Versuch, mit den Mitteln der Sprache der Sprache zu entkommen und deren »Anderes« in den Blick zu bekommen (vgl. Mersch i. d. B.: 82), stellt ein paradoxes Unterfangen dar. Es stellt ein Unterfangen dar, das es nötig macht – wie Mersch unterstreicht (vgl. ebd.: 81f.) –, sinnvolle Sätze nicht nur im engen Rahmen wahrheitstheoretischer Bedeutungstheorien (Wittgenstein, Frege) zuzulassen, sondern das Potential der Sprache gerade auch im Gebrauch der ihr innewohnenden Metaphorizität zu nutzen. Verwiesen wird also auf den Bereich des Rhetorischen. Der rhetorische Umgang mit der Paradoxie, der zeigen soll, dass auf hermeneutischem Wege sich das Nichthermeneutische wiedergewinnen lässt, verweist auf die Möglichkeit der Negation. Die (gesprochene) Sprache, die die Möglichkeit der Negation erst in die Welt gebracht hat, muss sich selbst 86

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negieren können, um der Nichtnegierbarkeit des Gegenwärtigen (vgl. ebd.: 83) auf die Spur kommen zu können. An dieser Stelle setzt nun mein vorsichtiger Einwand ein, der zunächst nur darauf hinweisen möchte, dass der Konstruktivismus der Systemtheorie Luhmanns eigentlich nichts anderes sagt als das eben Geschilderte – allerdings andere Konsequenzen zieht. Das Nichthermeneutische (in Opposition zum Hermeneutischen im weiten Sinne) als das in der Semiosis eingeschlossene Ausgeschlossene taucht in der Systemtheorie in folgender Weise auf: Das Nichthermeneutische ist das, was sich im Differenzdenken (System/Umwelt) dem Differenzdenken entzieht. Zwar basiert die Systemtheorie auf dem Gedanken, dass Sinn das Universalmedium schlechthin ist, weswegen die Konstitution des Sozialen unabdingbar von Medialität geprägt ist. Aber sobald die Systemtheorie auf ihre eigenen Bedingungsmöglichkeiten reflektiert, kommt sie nicht umhin festzustellen, dass die Suche nach der Bedingung der Möglichkeit von Differenzsetzungen (und damit von Sinnsetzungen) zu differenzlosen Begriffen führt: zur Welt als paradoxer Begriff. »Es ist möglich, diese Differenz selbst in der Kommunikation zu thematisieren, und das geschieht, wenn wir über die Welt reden. Aber dann muß die Differenz als Einheit des Differenten, als Kommunikation und Nichtkommunikation thematisiert werden, das heißt: als Paradox. Die Welt ist in der Kommunikation für die Kommunikation immer nur als Paradox gegeben. Der Vollzug der Kommunikation verletzt ihre Einheit. Er bejaht diese Einheit implizit dadurch, daß er sie verletzt« (Luhmann/Fuchs 1989: 7).

Beobachtungen können nur in der Welt stattfinden, weswegen die Welt als Ganzes nicht mitteilbar ist. Die Welt als Ganzes ist nicht kommunizierbar, was aber nicht bedeutet, dass man nicht darüber kommunizieren könnte, dass es Nicht-Kommunizierbares gibt. Hier zeigt sich, dass Luhmann – so wie Mersch – einen Umgang mit Paradoxien pflegt, der ebenfalls explizit an die abendländische Rhetorik-Tradition (Aristoteles) anschließt (vgl. Luhmann/Fuchs 1989: 8).1 Es geht um die Entfaltung der Paradoxie oder, wie Luhmann (1999: 173) es auch ausdrückt: um »Paradoxiemanagement«. Paradoxien können nicht aufgelöst werden, aber jedes funktionierende Kommunikationssystem muss verhindern, dass es durch die eigenen Paradoxien in der Kommunikation blockiert wird. Die Paradoxien müssen also die Kommunikation ins Oszillieren bringen, um Anschlusskommunikationen zu ermöglichen. Genau diese Bewegung vollzieht auch Mersch, indem er darauf abhebt, dass jede Differenzsetzung auf ein »Jenseits« der Differenz verweist, das nur als »Unausgesprochenes« kommuniziert werden kann. Die Frage, wie man nach dem Sein des Seienden fragen kann, beantworten Luhmann und Mersch also auf die gleiche Weise: Sie arbeiten mit der paradoxen Figur der affirmativen Negation. 1

Luhmann sieht in der Entfaltung der Paradoxie keine logische Operation am Werk, was er durch den Hinweis auf die Aristotelische Kritik an den Sophisten untermauert. Der sophistische Erfolg von Paradoxien besteht in der kommunikativen Nichtanschlussfähigkeit. Dagegen setzt Aristoteles den Versuch, die Paradoxien der Sophisten zu entfalten, d. h. kommunikativ anschlussfähig zu machen (vgl. Schröer 1989: 83, der die Aristotelische Strategie des Paradoxieumgangs sogar mit Hilfe eines Luhmann-Zitates erläutert).

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Peter Isenböck »Oder um es mit Heidegger zu formulieren: Nach dem Sein des Seienden kann nicht geforscht und nur in einer Weise gefragt werden, die zugleich negiert, daß es auf diese Frage eine Antwort geben kann« (Luhmann 1992: 152).

Damit ist aber nur ein Moment der Kritik von Mersch an der Systemtheorie relativiert worden: nämlich sein Vorwurf der Seinsvergessenheit. Dabei will Mersch aber nicht stehen bleiben, vielmehr möchte er diesen Vorwurf durch den Verdacht der Existenzvergessenheit erweitern (Mersch i. d. B.: 81). Der Hinweis auf die Existenzvergessenheit basiert auf dem Gedanken, dass es der Signifikation und Mediation nicht gelingt »ihr eigenes ›Sein‹, ihre Materialität miteinzuschließen« (ebd.: 82). Wer dies ausblende, verkenne die Materialität der eigenen Möglichkeitsbedingungen, die jeden Prozess der Semiosis begleitet, was sich dadurch rächt, dass die Widerständigkeit der Welt (qua Materialität) nicht begrifflich adäquat berücksichtigt werden kann. Diese Kritik scheint tatsächlich einen wunden Punkt des systemtheoretischkonstruktivistischen Denkens zu treffen. Allerdings trifft die Kritik nicht genau den Punkt, auf den Mersch abzielt. Vielmehr zeigt der Hinweis auf die Materialität die Schwierigkeit auf, selbstbezügliche oder autogenetische (vgl. Srubar 1994) Sinnsetzungsprozesse in Kontakt zu bringen mit der Materialität der Welt, die zugleich das materiale Apriori aller Sinnsetzungen sein soll. So taucht, wie Ilja Srubar (vgl. 2006: 7f.) betont, auch bei Luhmann der Gedanke auf, dass Sinnprozesse – im Fall der Systemtheorie: Kommunikationen – auf zusätzliche Konditionierungen (Symbiosis) angewiesen sind, die sich in dem Bezug der Kommunikation auf Körperlichkeit auswirken (vgl. Luhmann 1998: 378). Dieser Gedanke bleibt allerdings für die Systemtheorie weitestgehend unfruchtbar, da es ihr nicht gelingt, die Einsicht in die Notwendigkeit des materialen Apriori in Einklang zu bringen mit dem Gedanken der Autopoiesis von sinnhaft operierenden Systemen. Zu strikt trennt Luhmann zwischen dem materiellen Substrat einer Sinnoperation und der kommunikativ erzeugten Bedeutung (vgl. Renn 2006: 148). Vielmehr verliert sich Luhmann in den rhetorischen Versuchen, die Paradoxie zu handhaben, die daraus entsteht, dass auch die Kommunikation über die Notwendigkeit von materialen Bedingungen der Kommunikation nur Kommunikation sein kann, die selbst entscheidet, wie sie das »Rauschen« oder die »Irritation« ebendieser Bedingungen von Kommunikationsmedien verarbeitet, d. h. in systemrelevante Information übersetzt. Ich teile nun Merschs Vorbehalte gegen das sich darin ausdrückende Souveränitätsphantasma. Allerdings bleibt festzuhalten, dass die Denkfigur, die Luhmann dazu führt, zwischen materiellen und sinnhaften Prozessen strikt zu trennen, auch von Mersch verwendet wird. Dies ist, wie oben schon angedeutet, die Denkfigur, dass nur paradox über die Mitgegenwärtigkeit nicht zeichenhafter Prozesse gesprochen werden kann. Aus meiner Sicht erscheint vor diesem Hintergrund der Entwurf eines posthermeneutischen Theorieprogramms noch keine echte Alternative zu einer wohl verstandenen und begrifflich raffinierten konstruktivistischen Perspektive zu bieten, wie sie die Systemtheorie Luhmanns darstellt. Da Mersch weder für einen kruden Realismus plädieren kann noch die Möglichkeit einer unmittelbaren Wirksamkeit der Welt auf Sinnzusammenhänge jenseits paradoxer Figuren in Betracht zieht, bleibt das Ergebnis der Bemühungen für 88

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sozial- und kulturwissenschaftliche Theorien wenig anschlussfähig. Die programmatische Abwendung von konstruktivistischen Theorien, die Mersch betreibt, sollte nicht zu sehr aufgehen in der Beschwörung der Paradoxie des eingeschlossenen Ausgeschlossenen, da man so nur eine andere Form des Umgangs mit Paradoxien diskursiv erzeugt. Eine echte Alternative dazu wäre der Versuch, dem was sich in der Materialität der Welt zeigt, eine Wirkung zuzusprechen, die sich auch in einer Sprache ausdrücken lässt, die, bedeutungstheoretisch gesprochen, nicht ganz auf direkte Referenz verzichtet. Konstruktivistisch gesprochen ergäbe sich dann vielleicht die Möglichkeit, den Übergang vom Rauschen, von der Irritation, zu einer differenzlogisch erzeugten Information auf eine Weise zu bewerkstelligen, die einen Zwischenraum oder einen Rest zwischen Irritation und Information markiert, ohne selbst wiederum dabei nur beobachterabhängige Differenzsetzungen zu etablieren. Diesem Problem einfach nur das Eingedenken in eine ursprüngliche Passivität entgegenzusetzen, erscheint dann selbst eher Ausdruck eines Souveränitätsanspruchs zu sein, der sich im Rahmen gewisser diskursiver Formationen zwar gut bewähren kann, der aber nicht in einem emphatischen Sinne eine angemessene Sprache und Darstellung für das Nichthermeneutische liefert.

II. Theoriegeschichtliche Wurzeln Ich möchte mit dem folgenden kurzen theoriegeschichtlichen Abriss die Relevanz des posthermeneutischen Theorieprogramms von Mersch betonen und zugleich ein wenig entdramatisieren. Es kann nämlich gezeigt werden, dass das Problem, wie das Verhältnis von zeichenhaften und nichtzeichenhaften Prozessen zu fassen ist, schon in der Fundierungsphase des kulturwissenschaftlichen Denkens verhandelt wird. Dies bietet zugleich die Möglichkeit, den Punkt zu markieren, an dem der Konstruktivismus bzw. die existenzvergessene Hermeneutik ihren Siegeszug antritt. Das Problem, wie das Verhältnis von Begriff und Wirklichkeit zu denken ist, begleitet die Kulturwissenschaft seit den ersten Versuchen ihrer theoretischen Grundlegung bei Wilhelm Dilthey und vor allem bei Heinrich Rickert. Insbesondere Rickert ist als einer der vergessenen Gründungsväter des kulturwissenschaftlichen Denkens zu bezeichnen – schließlich war er es, der den Begriff Kulturwissenschaft in Abgrenzung zum Begriff der Geisteswissenschaft (Dilthey) etablierte (vgl. Rickert 1913). Die begrifflichen Weichenstellungen, die Rickert entwickelte, wirken vermittelt durch Max Weber, aber auch durch Heidegger weiter, der ein Schüler von Rickert war und dessen Denken sich im Kontext des Neukantianismus entfaltete (vgl. Heidegger/Rickert 2002). Die Herausforderung, die Rickert dem kulturwissenschaftlichen Denken hinterlassen hat, liegt in dem Versuch, das Verhältnis von subjektivwillkürlicher Sinnsetzung qua begrifflicher Umformung der Wirklichkeit und einer objektiven Sinnsphäre, die der menschlichen Willkür entzogen ist, so zu bestimmen, dass eine objektive Rekonstruktion der kulturkonstituierenden Handlungsakte möglich ist. Noch konkreter gesagt, möchte er dem Paradox begegnen, dass auch der wissenschaftliche Zugriff auf die Wirklichkeit willkürlich ist, aber die Wirklichkeit dennoch kein willkürliches Konstrukt. Dies 89

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geschieht bei Rickert in der Sprache einer Wertlehre, die von objektiven Werten ausgeht, welche durch unser willkürliches Handeln hindurchwirken (vgl. Rickert 1921: 256). Interessant ist dabei, dass Rickert sehr genau ein Problem sieht, das zunächst unabhängig von seiner axiologisch ausgerichteten Denkweise betrachtet werden kann. Das Problem, um das es geht, ist, dass Sinnsetzung nicht ohne Material bzw. sinnlich wahrnehmbare Gegenstände auskommt. Diese stoffliche bzw. sinnliche Seite der Sinngebung muss vor aller begrifflichen Umformung erfahren werden, d. h. für Rickert: unmittelbar erlebt werden. Unmittelbarkeit bedeutet für Rickert, dass etwas dem bewussten, willkürlichen Zugriff entzogen ist. Das, was unmittelbar erfahren wird, ist keine bloße Projektion des menschlichen Geistes. Lehrreich ist nun, dass Rickert nicht nur das Materielle der Erfahrung, welches sich über Wahrnehmung erschließt, für unmittelbar erfahrbar hält, sondern auch Intelligibles (vgl. Rickert 1923/24). Für Rickert ist also nicht nur – in der Terminologie von Mersch – das Materielle der Welt existent, sondern auch das Intelligible, welches sich nur über das Verstehen zeigen kann, den menschlichen Allmachtsphantasien also entzogen ist. Diesen Gedanken halte ich für sehr fruchtbar, da er auf die Gefahr aufmerksam macht, die Widerständigkeit der Welt allein durch ihre Materialität zu begründen. Die skandalöse »Ungeheuerlichkeit« der Existenz, von der Mersch (vgl. i. d. B.: 76) spricht, wirkt noch viel gewaltiger, meint sie auch die Existenz sozialer Tatsachen. Ich komme damit zurück zu der Frage, wie Rickert das Verhältnis bestimmt zwischen begrifflichem bzw. zeichenhaftem Zugriff auf die Wirklichkeit und der Unmittelbarkeit, mit der diese erlebt wird. Dem Begriff des Erlebens selbst traut Rickert nicht zu, das Problem der wissenschaftlichen Objektivität zu lösen. Zwar betont Rickert, wahrscheinlich beeinflusst durch Heidegger, die Notwendigkeit, das Erlebnis der Existenz von »Etwas« als Grundlage für die begriffliche Verarbeitung anzusehen, aber er sieht keinen Weg, begrifflich auf das Unmittelbare zugreifen zu können. Mit den Mitteln der Sprache findet man niemals zum Unmittelbaren, man könnte auch sagen: zur Präsenz der Welt. »Der ›reine Inhalt‹ ist das Namenlose« (Rickert 1921: 53). Ohne zu sehr in die Details des doch zum Teil verschrobenen Rickert’schen Denkens einzudringen, kann man festhalten, dass hier durchaus ein Problembewusstsein dafür besteht, das Nichthermeneutische und das Nichtkonstruierbare an der Welt ernst zu nehmen. Allerdings sieht man schon hier, dass allein die Feststellung eines Paradoxons – auch Rickert gibt seiner Denkfigur bezüglich dieses Problems diesen Namen (vgl. Rickert 1921: 53) – nicht ausreicht, um den Fallstricken des Konstruktivismus zu entgehen. Der Konstruktivismus bei Rickert drückt sich darin aus, wie Heidegger formuliert, dass die Axiologie, in die der Wert wertet, sich entfernt von der Seinsweise der Welt: »[…] es ist alles welthaft, ›es weltet‹, was nicht zusammenfällt mit dem ›es wertet‹« (Heidegger 1987: 73). Die Intuition Heideggers – in seiner Auseinandersetzung mit Rickert gewonnen –, dass es möglich ist, eine phänomenologische Fundierung für das wissenschaftliche Arbeiten zu finden, die an dem unmittelbaren Erleben der Umwelt ansetzt, kann womöglich noch fruchtbarer gemacht werden, als es das ebenfalls daran anschließende Theorieprogramm von Mersch zulässt.

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Auf der Suche nach einem nicht kruden Realismus

Mit dem Versuch, Kulturwissenschaft phänomenologisch zu begründen, was etwas anderes ist als Kulturwissenschaft oder Soziologie phänomenologisch zu betreiben, rückt die Verhältnisbestimmung von Bewusstsein bzw. Intention und Welt in den Blickpunkt. In der Geschichte der soziologischen Theoriebildung hat sich, nachdem Rickert vergessen wurde, nicht die Intention Heideggers durchsetzen können, sondern in erster Linie die egologisch arbeitende Phänomenologie Husserls.2 Dass dies ein weiterer wichtiger Schritt für den Siegeszug des Konstruktivismus gewesen ist, betrachte ich nun etwas näher, und zwar mit dem Ziel, einen Weg aufzuzeigen für eine Phänomenologie, die nicht im Konstruktivismus endet.

III. Direkter Realismus Die Unmöglichkeit, auf eine reine, unschuldige Unmittelbarkeit zurückzugreifen, scheint festzustehen. Dies gilt schon, wie gezeigt, für Rickert und heute scheinbar umso mehr: »Zu Recht sind in den vergangenen Jahrzehnten alle diese Begriffe [Authentizität, Unmittelbarkeit, reine Gegenwart, Präsenz; P.I.] im Namen der Autarkie des Symbolischen, des Primats des Gedächtnisses oder der Dekonstruktion des Subjekts attackiert und demontiert worden. Denn es ist naiv, zu glauben, es gäbe etwa einen Durchgriff durch das Band von Kategorien und Konzepten, mit denen wir die Wirklichkeit bewohnen – als ob wir die Dinge selbst vor Augen stellen und direkter Wahrnehmung zugänglich machen könnten, ohne sie bereits mannigfachen medialen Zurichtungen unterworfen zu haben« (Mersch i. d. B.: 78).

An dieser Stelle macht Mersch deutlich, was für ihn ein »kruder« Realismus ist: Ein Realismus, der meint, dass uns Menschen Dinge und Vorgänge in der Welt in direkter Wahrnehmung zugänglich sein könnten. Womöglich ist die Ablehnung eines solchen Realismus richtig, aber dann bleibt eben die schon angesprochene Paradoxieentfaltung das einzige worüber man noch diskutieren könnte. Die Konsequenz wäre, dass die Kritik sowohl an Luhmann als auch an der Phänomenologie Husserls – die Mersch mit Derrida teilt – ins Leere laufen könnte. So wird man Husserl mit Derrida differenztheoretisch kritisieren können, aber schließlich landet man doch bei einer selbsterzeugten Differenz, wie sie die Noesis/Noema-Unterscheidung darstellt, die sich der systemtheoretische Konstruktivismus zum Vorbild genommen hat (vgl. Luhmann 1996). Der Versuch, den postphänomenologischen Zugriff Derridas durch einen posthermeneutischen zu überbieten, der die »Ansprüche der Präsenz« (Mersch i. d. B.: 79) mit einer paradoxalen Denkfigur rettet, gesteht dem Konstruktivismus noch zu viel zu. Man kann dem Konstruktivismus auch auf radikalere Art und Weise begegnen, wenn man nicht vorschnell die Möglichkeit eines direkten und nicht medial vermittelten Zugangs zur Welt als absurd 2

Womöglich auch deswegen, weil der methodologische Individualismus und die Ausrichtung auf den subjektiv gemeinten Sinn – trotz asubjektivistischer Tendenzen im Neukantianismus – bei Max Weber dazu verführte, den Weg der bewusstseinsphilosophischen Fundierung der soziologischen Theorie zu suchen.

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darstellt. Vielmehr können die Überlegungen, die Philosophen wie John McDowell (2001) anstellen, dazu beitragen, zu erkennen, welche verdeckten und nur vermeintlich überwundenen dualistischen Denkfiguren immer noch mit im Spiel sind. So basiert nicht nur der Konstruktivismus, sondern auch noch der Versuch seiner posthermeneutischen Überwindung auf der cartesianischen Trennung von Geist und Welt, zumindest in dem Moment, wo eine direkte Einwirkung der Welt auf das Bewusstsein verneint wird. Wie könnte nun eine echte Alternative dazu aussehen? Dazu können hier nur einige Anmerkungen gemacht werden – mit dem Ziel, zu zeigen, welche Alternativen möglich sind. Die Alternative, die ich mit dem Programm eines direkten Realismus vor Augen habe, setzt an der Husserl’schen Noesis/Noema-Konzeption an. Diese Konzeption erlaubt es Husserl nicht, mentale Wahrnehmungszustände von externen Faktoren abhängig zu machen. Husserl ist nicht in der Lage, innerhalb des Bewusstseins zwischen einer veridischen und einer nicht veridischen Wahrnehmung zu unterscheiden. Der intentionale Gehalt ist vielmehr wahrheitsneutral: »Für das Bewußtsein ist das Gegebene ein wesentlich Gleiches, ob der vorgestellte Gegenstand existiert oder ob er fingiert und vielleicht gar widersinnig ist« (Husserl 1992: 387). Eine solche Konzeption kann man als repräsentationalistische Auffassung von mentalen Zuständen bezeichnen (vgl. Willaschek 2003: 229f.). Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie wahre und falsche Überzeugungen auf die gleiche Weise auf die Wirklichkeit beziehen. Wer einen direkten Einfluss der Welt auf mentale Zustände negiert, muss wohl eine solche Position teilen und spielt damit direkt dem Konstruktivismus in die Hände. Eine alternative Konzeption von Intentionalität ist also zu suchen.3 Gegen eine repräsentationalistische Position können disjunktive Konzeptionen gestellt werden, die davon ausgehen, dass schon im Moment des intentionalen Weltbezugs zwischen richtigen und falschen Überzeugungen unterschieden werden muss. So ist dann z. B. der mentale Zustand, dass ein Baum vor mir steht, davon abhängig, ob da wirklich ein Baum steht. Ein bloß eingebildeter Baum mit den gleichen Eigenschaften führt zu einem anderen mentalen Zustand als der reale Baum. Nur mit Hilfe einer solchen Konzeption ließe sich plausibel machen, dass sich unsere Überzeugungen auf etwas in der Welt beziehen, denn in unserer Intentionalität ist schon Welt enthalten. Dies verlangt die Anerkennung der Vorstellung, dass unser Bewusstsein nicht allein in unserem Kopf verortet ist, sondern direkten Kontakt mit der Welt hat (vgl. McCulloch 2002: 132). Viel mehr als dieses »was wäre, wenn«-Argument (also: was wäre, wenn ich den Konstruktivismus vermeiden möchte), kann an dieser Stelle nicht durchgeführt werden. Es kann nur noch angedeutet werden, wohin ein direkter Realismus führen könnte. Er könnte und sollte dazu führen, dass die Widerständigkeit der Welt nicht nur paradox umschrieben, sondern die Weise 3

Eine Alternative in der soziologischen Theorie stellt derzeit vor allen Dingen der Versuch von Joachim Renn (2006) dar, einen referenzoptimistischen Pragmatismus (Putnam), der im Gegensatz zu einer Kohärenztheorie (Davidson) nicht den Bezug zur Welt aufgeben möchte, über den Übersetzungsbegriff in die Gesellschaftstheorie einzuführen. In der Philosophie sind auch die Arbeiten von Michel Henry zu einer nicht intentionalen Phänomenologie zu nennen, auf die sich im deutschsprachigen Raum Rolf Kühn und aktuell Sebastian Knöpker (2009) beziehen.

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aufgezeigt wird, in der die ontologische Unabhängigkeit der Welt sich auswirkt auf die epistemische Vorrangigkeit des sprachlich-diskursiv vermittelten Zugangs zur Welt. Wenn sich begründen ließe, dass die kulturellen Lebensformen, in denen Menschen sich bewegen, ontologisch unabhängig von den einzelnen Handlungsvollzügen sind, dann bestünde die Möglichkeit, dass man Erfahrung im Umgang mit einer Welt machen kann, die mehr ist als eine konstruktivistische Projektion. Die Gewohnheiten des Denkens und Handelns, aber auch der Wahrnehmung, sind zwar auch Ausdruck ihrer kulturellen Überformung qua Sozialisation (vgl. McDowell 2001: 109), was zunächst gegen den direkten Realismus zu sprechen scheint. Dies gilt allerdings nur so lange, wie man kulturelle Lernprozesse nicht als Teil der menschlichen Natur begreift, obwohl man das mit guten Gründen tun kann. McDowell etwa spricht – im Anschluss an Hegel – von der »zweiten Natur« (vgl. ebd.: 109) des Menschen, die keine Konstruktion ist, die der menschlichen Willkür unterliegt. Damit verringert McDowell die ontologische Kluft zwischen dem, was sich begrifflich artikulieren lässt, und dem, was existiert. Die Erfahrung, die Menschen von der Welt machen können, ist per se begrifflich strukturiert. Aber dieser Aspekt des Weltzugangs wird nicht, wie in konstruktivistischen Ansätzen, hypostasiert, sondern vielmehr zeigt sich, dass im Raum der Gründe (bzw. der Begriffe) schon Natur mitwirkt. Deswegen geht McDowell davon aus, dass wir Menschen empfänglich und offen sind, Erfahrungen mit der Welt zu machen: »Wenn wir uns erst einmal der zweiten Natur erinnert haben, dann werden wir verstehen, daß auch solche Sachverhalte zu den Aktivitäten der Natur gehören, die durch ihre Beschreibungen in den logischen Raum der Gründe gehören, sei er auch sui generis« (McDowell 2001: 20).

Das Ziel, die ontologische Unabhängigkeit von Welt inklusive kultureller Lebensformen zu begründen, steht noch nicht im Widerspruch zu dem posthermeneutischen Theorieprogramm, und die hier angedeutete Alternative wirft bestimmt mehr Fragen auf als sie Antworten gibt, wenngleich sie immerhin – was kein Makel ist – unserem Alltagsverständnis von Realität sehr nahe kommt. Es sollte aber immerhin deutlich geworden sein, dass die Betonung der Unleugbarkeit der Kategorien und Konzepte, mit denen wir die Welt durchdringen, nicht die Möglichkeit eines direkten kausalen Einflusses der Welt auf unsere mentalen Zustände ausschließt – wenn man die »Realität« der Welt nur weit genug fasst und keine zu weite Kluft zwischen der Sozialität und Naturalität des Menschen entstehen lässt. Ich komme damit zum Schluss, indem ich die Frage stelle, was meine Einwände für die kulturkritische Perspektive bedeuten, die Mersch verficht. Die kritische Perspektive entspringt nicht einer ideologiekritischen Haltung, sondern es geht Mersch um die Gewahrung eines Verlustes, der mit Leiden und Schmerz verbunden zu sein scheint und dem nicht mit Ironie begegnet wird, wie man das etwa aus den Schriften von Niklas Luhmann kennt. Es geht um Wunden, um Risse und Narben und um das, was innerhalb unserer Kultur unabgegolten bleibt. Der Existenzvergessenheit wird deshalb eine affirmative Kraft entgegengesetzt, die Rettung verheißt: Rettung der Präsenz und das Aufsprengen der »Fesseln des Hermeneutischen«.

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Man fühlt sich dabei erinnert an das Platonische Höhlengleichnis, da die Gefesselten vielleicht gar nicht befreit werden wollen. Dementsprechend ist die Sprache oft eine drastische und pathetische, die sich in der Weise des Appells an die Zuhörer wendet, in der Hoffnung, dass diese – wenn vielleicht auch nur auf dunkle Art und Weise – ähnliche Verlusterfahrungen in sich spüren. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Existenzvergessenheit, gegen die Mersch ankämpft, mit den Mitteln der Wissenschaft – die Theologie einmal davon ausgeschlossen – nicht eingeholt werden kann. Ein Bewusstsein für die Widerständigkeit der Welt, das durch Wissenschaft begründet werden kann, macht noch keine bessere Welt.

Literatur Heidegger, Martin (1987): Zur Bestimmung der Philosophie. Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen, Bd. 56/57, Frankfurt/M.: Klostermann. Heidegger, Martin/Rickert, Heinrich (2002): Briefe 1912 bis 1933, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Husserl, Edmund (1992): Logische Untersuchungen, 2. Band, Teil 1, Hamburg: Meiner Knöpker, Sebastian (2009): Existenzieller Hedonismus. Von der Suche nach Lust zum Streben nach Sein, Freiburg: Alber. Luhmann, Niklas (1992): Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1996): »Die Lebenswelt – nach Rücksprache mit Phänomenologen«. In: Gerhard Preyer et al. (Hg.), Protosoziologie im Kontext. »Lebenswelt« und »System« in Philosophie und Soziologie, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 268-289. Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1999): Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 4: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas/Fuchs, Peter (1989): Reden und Schweigen, Frankfurt/M.: Suhrkamp. McCulloch, Gregory (2002): »Phenomenological Externalism«. In: Nicholas H. Smith (Hg.), Reading McDowell. On Mind and World, London: Routledge, S. 123-139. McDowell, John (2001): Geist und Welt, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Mersch, Dieter (2006): »Spur und Präsenz. Zur ›Dekonstruktion‹ der Dekonstruktion«. In: Susanne Strätling/Georg Witte (Hg.), Die Sichtbarkeit der Schrift. München: Fink , S. 21-39. Rickert, Heinrich (1913): Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, 2. Auflage, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck). Rickert, Heinrich (1921): System der Philosophie, 1. Teil: Allgemeine Grundlegung der Philosophie, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck). Rickert, Heinrich (1923/24): »Die Methode der Philosophie und das Unmittelbare. Eine Problemstellung«. Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur 12, S. 235-280. 94

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Renn, Joachim (2006): Übersetzungsverhältnisse. Perspektiven einer pragmatistischen Gesellschaftstheorie, Weilerswist: Velbrück. Schröer, Henning (1989): »Paradox II«. In: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel: Schwabe, S. 90-96. Srubar, Ilja (1994): »Lob der Angst vorm Fliegen. Zur Autogenese sozialer Ordnung«. In: Walter M. Sprondel (Hg.), Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 95120. Srubar, Ilja (2006): Wo liegt Macht? Zur Semantik- und Sinnbildung in der Politik, http://www.zwiebler.de/pkr/Tagung%20Wien/srubar_wo-liegtmacht.pdf (16.10.2008). Willaschek, Markus (2003): Der mentale Zugang zur Welt, Frankfurt/M.: Klostermann.

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Bild und Präsenz in Gus Van Sants Film Elephant ANDRÉ GRZESZYK

Die Columbine Highschool in Littleton, Colorado, USA am 20. April 1999: Gegen elf Uhr am Morgen erreichen die beiden Schüler Eric Harris und Dylan Klebold ihre Schule, gehen kurz in die Cafeteria, um ihre selbstgebauten Bomben zu platzieren und kehren dann zurück zum Auto, um auf die Explosionen zu warten. Als die Bomben nicht zünden, beschließen sie, in die Schule zu marschieren und jeden zu erschießen, den sie auf ihrem Weg durch das Gebäude treffen. Etwa eine Stunde dauert ihr mörderischer Lauf. 15 Menschen sterben, 24 weitere werden verletzt, ehe sich die beiden Schützen in der Bibliothek selbst töten und dem Ereignis, das das Bild des Amoklaufs in Schulen prägen wird wie kein anderes, ein Ende setzen. Am und nach dem 20. April 1999 wurde die Littleton Highschool in allen Details medial vermessen und gerann so zu einem der übercodiertesten Orte der Welt. Wände und Fenster wurden Einschussloch für Einschussloch – stray bullet um stray bullet – kartographiert. Aus dem realen, sozialen Raum wurde so schnell ein Bildraum zwischen Fakt und Fiktion, Materialität und begrifflicher Bestimmung, aufgeladen mit den Berichten, die hundertfach kursierten. Die stammelnden Worte der Augenzeugen, die Kommentare der Zeitungen und Fernsehsender, die Blogs im Internet, die Videos und Schriften der Täter, die Polizeiberichte: All dies zeichnete ein spezifisches, emblematisches Bild, in dem ein bestimmtes Katastrophenszenario moderner Gesellschaften zwar nicht erklärbar, aber doch sagbar, greifbar und später mit jedem neuen Fall zitierbar und damit benennbar wurde.1 Nach Littleton hat sich innerhalb der medialen Tagesberichterstattung – von Blacksburg bis Winnenden – eine beschränkte und klare Bildsemantik ausdifferenziert. Die Ordnung der Zeichenhaftigkeit bietet die immergleichen, fast schon ideellen Aufnahmen, die die visuellen Eckpfeiler des medialen Bildes von school shootings markieren: Krankenwagen in den Straßen, bewaffnete Polizisten in Kampfmontur, Porträts der Opfer aus den Jahrbüchern ihrer Schulen. Jene Bilder sprechen in weiten Teilen von der Hilflosigkeit der Photographen an den Tatorten, die die Schlagzeilen-Botschaft »Krieg in befriedeten Gebieten« zu dokumentieren oder besser zu illustrieren haben und dies jeweils nur mit einem Blick von außen, der in die Schule selbst, d. h. zum eigentlichen Geschehen, nicht vordringen kann und darf. Aufgrund die1

Als am 11. März 2009 ein Schüler in der Albertville-Realschule in Winnenden Amok läuft, lässt der Direktor über Lautsprecher die Warnung »Frau Koma kommt!« verbreiten. Dies »verweist […] darauf, dass man bereits ein Passwort für den schlimmstmöglichen Fall hatte. Und man war vorbereitet durch einen Leitfaden für Krisenprävention« (Assheuer: 2009).

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ser Beschränkung hat die mediale Ereignishaftigkeit von school shootings seit Ende der 1990er Jahre eine charakteristische und sehr begrenzte Bildökonomie hervorgebracht, die mit jedem neuen Fall erfüllt und ergänzt wird. Die Dominanz der Worte, die diese wenigen Bilder in einen Erklärungshorizont rücken und kommentieren sollen, steht oft in keinerlei Verhältnis zur schlichten Visualität der Bilder, die nichts Wesentliches zu sehen geben, das spektakulär Schreckliche der Taten weder zeigen noch ausdrücken können und durch die standardisierten Bildausschnitte künstlich arrangiert und dramatisiert wirken.2 Jenseits dieser standardisierten Visualität gibt es im Bildrepertoire »Littleton« einige Aufnahmen, die der normierten medialen Bildproduktion entgegenstehen und einzigartig sind in ihrer Öffentlichkeit und Zugänglichkeit. Gemeint sind die Bilder aus dem Inneren des school shootings, die unscharfverschwommenen Bilder der Überwachungskameras aus der Cafeteria der Columbine High School vom 20. April 1999, die das Morden von Harris und Klebold live aufgenommen haben, später vor allem über das Internet Verbreitung fanden und auch heute noch jederzeit abrufbar sind. Aus bild- oder medientheoretischer Perspektive sind diese Bilder mit bestimmten Hoffnungen und Erwartungen an die Ontologie des Bildes verbunden, die mit der Erfindung der Photographie entstanden sind: mit dem Traum von einem mechanischen Sehen, von einem registrierenden Blick jenseits menschlicher Subjektivität und Begrenzung, der das Sein der Dinge in ihrer unmittelbaren Präsenz zeigt, statt es zu interpretieren und zu inszenieren. Vor allem seit der digitalen Revolution stehen Bilder immer wieder unter dem Verdacht der Manipulation. Aus einem Realismus des Bildes wurde ein bildgerechter Realismus, der sich durch spezifische Verfahren der Inszenierung auszeichnet, die allenfalls einen Effekt des Authentischen bewirken können. Realität wird jeweils erzeugt und findet sich mit Sicherheit nicht im Objektiv der Kamera. So haben auch die Bilder aus den Überwachungskameras der LittletonHigh jenseits ihrer möglichen und fragwürdigen ontologischen Zuschreibungen nun schon zehn Jahre der fortwährenden Diskursivierung hinter sich. Sie wurden in die unterschiedlichsten medialen Kontexte eingebettet. Sie wurden zum Gedenken an die Opfer oder – im konträren Sinne – im Gedenken an die Täter verwendet, die es im Internet dank ihrer Bildpräsenz längst zu subversiven Ikonen mit einer stattlichen Anzahl von Nacheiferern gebracht haben (vgl. Robertz 2004: 82ff.). Abseits dieser Instrumentalisierungen sind die Überwachungsbilder heute immer schon verknüpft mit dem, was der Betrachter weiß, mit den Opfern, mit den Bomben und mit den Biografien der Täter Eric Harris und Dylan Klebold, die von vermeintlichen Ursachen und tödlichen Wirkungen sprechen. Diese Erzählungen kombinieren die Bausteine Trenchcoat-Mafia, Marilyn Manson, soziale Isolation und Ausgrenzung, mentale Defekte, globales Versagen von Eltern und Familien, Gewaltfilme 2

Beispielhaft führte CNN die Standards des eigenen Unvermögens angesichts des Amoklaufs von Blacksburg am 16. April 2007 vor. In einer Endlosschleife spielte der Sender das zufällig aufgenommene Handyvideo eines Passanten, auf dem es von Anfang an nichts zu sehen gab, immer wieder ab, während die Kommentatoren immer kreativer werden mussten im Aufspüren vermeintlich neuer Fakten, die die Bilder angeblich zeigten.

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Bild und Präsenz

und Killerspiele in unüberschaubaren Variationen zu immer neuen Geschichten von der vermeintlichen Wirklichkeit des Ereignisses. Aber solche endlosen Diskursivierungen der Gewalt als auslösendes Moment können eines nur stets überdecken: das schwarze Loch in der Mitte jedes school shootings – eine nicht zu bändigende Kontingenz und Beliebigkeit, die »beliebige Feindschaft« (Vogl 2003) zumeist junger weißer Männer, die der ganzen Welt den Krieg erklären, aber im Vorfeld der Tat nicht auszumachen sind, weil es kein sicheres Profil von ihnen und keine anerkannte oder berechenbare Verknüpfung gibt, die Reiz und Reaktion in ein akzeptables Verhältnis zueinander bringen würde. Die Meinungen und Erklärungsansätze stellen die hilflosen Versuche dar, die Ereignisse in eine Geschichte von Ursache und Wirkung zu betten, einen festen Boden über dem chaotischen und dunklen Abgrund zu planieren, der in der Sprache nicht aufgeht und jede endgültige Antwort auf die monoton wiederholte Frage nach dem »Warum?« als einfache Ausrede erscheinen lässt. Mein Interesse zielt auf diesen letzten, unentschlüsselbaren Grund und die Möglichkeit der Bilder, innerhalb einer Ökonomie kollektiven Erinnerns als Formen der Darstellung eine prominente Rolle zu spielen. Es gibt bestimmte Beziehungen zwischen dem Ereignis »Littleton« und seiner medial erzeugten Sinnhaftigkeit, und diese Ökonomie wird über die Bilder – als Operationen der Verknüpfung des Sicht- und des Sagbaren – und deren Diskursivierung reguliert. Meine These ist aber, dass dieser Zusammenhang nicht durch eine ontologische Projektion auf die Bilder erfolgen kann, sondern durch immer neue Inszenierungen und Interpretationen von Bildern hergestellt werden muss. Ich möchte das Problem deshalb anhand eines bestimmten Beispiels entfalten, und zwar anhand des Spielfilms ELEPHANT (USA 2003) von Gus Van Sant, der vier Jahre nach den Littleton-Morden in die Kinos kam und die Geschehnisse auf ganz besondere Weise aufarbeitet. Im Gegensatz zur Zeichenhaftigkeit der Tagesberichterstattung, deren Bilder strikt dem Regime der Worte, der Texte unterliegen – die gleichsam als Anleitung dienen für das, was zu sehen sein muss –, entfaltet ELEPHANT durch seine besondere Form der Inszenierung eine Ordnung des Sehens und Denkens, der Verbundenheit zwischen Begriff und Präsenz, in der sich die medial konventionalisierten Bezüge zwischen Referenz und Bild, dem Sicht- und dem Sagbaren zunächst verflüssigen und schließlich auflösen, um ein neues Sehen und Denken jenseits der medial fixierten Bezüge aufscheinen zu lassen. Die angesprochenen Beispiele aus dem Bildrepertoire »Littleton« – die normierten journalistischen Bilder im Gegensatz zu den DokumentationsBildern der Überwachungskameras – deuten auf zwei Potentiale des Bildes hin: Auf der einen Seite steht das Vermögen, als Zeichen, als formelhafte Illustration zu fungieren, und auf der anderen Seite die Möglichkeit, Präsenz und genuin visuelle Kraft zu entfalten. Diese Differenz eröffnet das Spannungsfeld, in dem Bilder aus theoretischer Perspektive hauptsächlich verhandelt werden. Lambert Wiesing etwa arbeitet in seinen bildphilosophischen Texten die reine Sichtbarkeit als besonderes und charakteristisches Vermögen des Bildes heraus und definiert so als Bildwissenschaftler auch immer den elementaren Gegenstandsbereich der eigenen Disziplin jenseits der Sprach- und Litera-

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turwissenschaften.3 Dieser theoretische Ansatz geht davon aus, dass ein Bild als Bild kein Zeichen ist – auch wenn es gleichwohl in bestimmten funktionalen Zusammenhängen als Zeichen dienen kann (Wiesing 2005: 36). Das Bildsujet ist, so ließe sich diese Position zusammenfassen, immer als ein »Bildobjekt«, als »artifizielle Präsenz« zu verstehen (Wiesing 2005: 36), ein Gegenstand jenseits physikalischer Gesetze, dessen einziges und ausschließliches Charakteristikum darin besteht, dass er sichtbar und nur sichtbar ist. Wiesing zitiert einen Satz Jean-Paul Sartres, um seinen Standpunkt deutlich zu machen: »Der Maler will keine Zeichen auf seine Leinwand malen, er will ein Ding schaffen« (Wiesing 2005: 30). Gleiches gilt bei Sartre für die Sprache, die vom Dichter nicht als pragmatisches Instrument der Kommunikation benutzt wird, sondern stattdessen die Worte in Dinge verwandelt. Die Referenz wird hier also aufgegeben, weil sie nicht wesensnotwendig für die Bestimmung des Bildes ist. Statt von der Abwesenheit des Referenten ist von der Präsenz des Bildobjektes zu sprechen. Analog zu diesen Überlegungen können sehr frühe theoretische Reflektionen zum Film gelesen werden, die dafür argumentieren, den Inhalt, die aristotelische Intrige zugunsten der reinen Bewegung, Sichtbarkeit und Präsenz des Filmbildes aufzugeben. Die Arbeiten von Jean Epstein oder Béla Bálazs sind in diesem Kontext zu lesen (vgl. Wiesing 2008: 171ff.; Rancière 2006a: 1ff.). Auch hier ist das Ziel, das junge Medium Film von den anderen Künsten – der Literatur und vor allem dem Theater – abzugrenzen und das herauszuarbeiten, was als die ureigenste kinematographische Möglichkeit zu definieren ist. Meine These ist, dass der Status der Bilder in ELEPHANT unter diesen Bedingungen ebenso wenig zu bestimmen ist wie unter rein bildwissenschaftlichen Vorraussetzungen. Denn ohne den Rückbezug auf das historisch-mediale Ereignis nimmt man den Bildern in ELEPHANT ihre wesentliche Dimension. Die komplexe, medial übercodierte Ausgangssituation verhindert ein reines Sehen und pure Bildobjekte. Der Raum der Schule, den die Kamera in Van Sants Film durchschreitet, ist als Bildraum immer schon medial präfiguriert, bis ins kleinste Detail visuell vermessen und mit Bedeutung aufgeladen. Das school shooting vom 20. April 1999 fließt als vergangenes und medial aufbereitetes historisches Ereignis notwendigerweise in die Rezeption des Filmes mit ein; der referentielle Bezug ist nicht zu kappen. Van Sant inszeniert, so meine Behauptung, die prekäre Grenze zwischen den Bildern und ihrem Anderen, der Referenz. Die Bilder in ELEPHANT haben einen ambivalenten Status im Sinne des paradoxen Wesens der Kunst nach Jacques Rancière (2006b: 44ff.). Rancières Zugang zu den Bildern als »Operationen, die das Sichtbare mit seiner Bedeutung und das Wort mit seiner Wirkung verbinden oder voneinander trennen, die Erwartungen hervorrufen oder enttäuschen« (2005: 11) soll dabei helfen, den Ausgangspunkt der Bildwissenschaft zu erweitern und so die Bilder in ELEPHANT in den angemessenen Horizont des Verstehens zu rücken.

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Er spricht von einem wahrnehmungstheoretischen Paradigma im Gegensatz zu einem zeichentheoretischen Ansatz: »Bilder besitzen […] sichtbare Eigenschaften, welche nicht in Sinn, Bedeutung oder Text transformiert werden können und welche sich daher einer Wissenschaft, die sich ausschließlich um die Erforschung von symbolisiertem Sinn bemüht, entziehen« (Wiesing 2005: 35).

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Rancière kennt keine strikte Trennung zwischen Bild und Zeichen,4 er spricht von verschiedenen Regimes der Identifikation von Kunst. ELEPHANT ließe sich im »ästhetischen Regime der Künste« verorten (2006b: 39ff.). Dieses löst – so Rancière – die Ära der Repräsentation mit der Romantik ab, gerade weil sich an dieser Stelle ein historischer Bruch ereignet, der das Verhältnis von Wort und Bild neu definiert. War das Wort seit Aristoteles das eigentliche Medium, dem sich die Bilder unterzuordnen hatten, so entsteht mit der Romantik eine neue Art des Sehens und das Sichtbare steht gleichwertig neben dem Wort. »In dem neuen Regime, dem ästhetischen Regime der Kunst, das im 19. Jahrhundert entsteht, ist das Bild nicht mehr der kodifizierte Ausdruck eines Gedankens oder eines Gefühls. Es ist keine Verdopplung und keine Übersetzung mehr, sondern das Bild ist selber die Art, gemäß welcher die Dinge sprechen oder stumm sind« (Rancière 2005: 21).

Der Künstler wird zum Archäologen, der die soziale Welt durchreist, erforscht, die stummen Zeichen historischer Materialität zum Sprechen bringt und so die Trennung zwischen Sensiblem und Intelligiblem aufhebt. In den Werken lösen die Passagen der Beschreibung die aristotelische Intrige mit ihrer Verknüpfungen nach Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit ab. ELEPHANT rekonstruiert »Littleton« tendenziell als reine Beschreibung, obgleich das reine Sehen im Sinne eines Bildobjektes gleichsam Utopie bleibt. Im ästhetischen Regime der Künste muss sich jeder künstlerische Ausdruck zwischen den Koordinaten repräsentativer Zeichenhaftigkeit, ästhetischer Logik und dem individuellen (Kunst-)Willen des Autors ansiedeln (Rancière 2003: 244). Rancière spricht diesbezüglich von einer »zweifache[n] Poetik des Bildes: [Sie sind] ablesbare Zeugnisse einer Geschichte […] und reine Blöcke der Sichtbarkeit«. »Das Bild an sich hat sich verändert, und die Kunst ist zur Verschiebung zwischen diesen beiden Bilder-Funktionen geworden: zwischen den Inschriften, die sich wie eine Zeichenrolle auf den verschiedenen Körpern ausrollen und der unterbrechenden Funktion ihrer nackten bedeutungslosen Präsenz« (2005: 19, 22).

»Präsenz« bedeutet hier zuallererst eine Unterbrechung zwischen dem Sichtund dem Sagbaren, meint also eine Form der visuellen Präsenz, die keiner unmittelbaren sprachlichen Aussage zuzuordnen ist und ein »an sich« oder »für sich«, eine eigene Logik des Sprechens/Schweigens bezeichnet. Das Bild ist folglich simultan – in der Umkehrung – die spezifische Form eines sinnlich-realisierten Denkens.5 Diese Techniken definieren sich nicht über 4 5

So »ist das Bild nicht ausschließlich ein Element des Sichtbaren. Es gibt Sichtbares, das kein Bild ist und es gibt Bilder, die nur aus Worten bestehen« (Rancière 2005: 14). Rancière nennt dies die »ästhetische Macht« des Films: »Die Formen der Licht/Schrift des Films sind in eine allgemeine Ästhetik eingelassen, d.h. in eine allgemeine Theorie von der Einheit von Denken und Fühlen, in das Denken einer Gefühlswelt, die identisch ist mit der Welt der Gedanken, einer Welt des Gedankens, die selbst identisch ist mit einer Welt des Nichtgedachten« (Rancière 2005: 237; vgl. Kappelhoff 2008: 12f.).

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eine reine Kinematographie in Differenz zu den anderen Künsten, im Gegenteil, diese Operationen leiten sich aus den Verschiebungen in der Literatur her (Rancière 2006a: 8ff.). In ELEPHANT werden die Bilder zunächst aus ihrer rein kommunikativen, wortgerechten Funktion befreit, um als Sichtbarkeiten, nicht als Lesbarkeiten auftauchen zu können. Dies geschieht im strikten Gegensatz zu den journalistischen Bildern, die durch ihre kommunikative Funktion bestimmt sind und Informationen übermitteln sollen. Die ELEPHANT-Bilder werden als »reine Zeichen« verwandt, oder – um einen von Sartre entlehnten Begriff Lambert Wiesings zu verwenden – sie sind »Fenster« auf ein Dahinter, einen Referenten, der allerdings nicht der aus der Medienberichterstattung schon bekannte ist (Wiesing 2007: 108). Van Sant entgeht den konventionalisierten Bedeutungszuschreibungen zunächst dadurch, dass der Raum der Schule als ein alltäglicher Raum präsentiert wird und somit sämtliche Erwartungen an einen Film über das »Columbine-Massaker« enttäuscht werden. Unter dem Schutt medialer Bedeutungszuweisungen findet ELEPHANT in der Sichtbarkeit der Bilder einen sinnlich-anschaulichen Raum abseits der standardisierten Muster des Verstehens. Der Film zwingt seinen Zuschauer gleichsam den übercodierten Tatort als neutralen Schauplatz wahrzunehmen. In ELEPHANT sind Zeit-Bilder zu beobachten, reale Dauern, Zeitblöcke, in denen die Spanne, die es dauert, einen Gang zu durchschreiten, zum eigentlichen Inhalt des Bildes wird. Die Montage und die Plansequenzen verbinden die Stationen der schweifenden Kamera lose, brüchig, die Reiz-Reaktions-Schemata lösen sich in der Dauer der Einstellungen auf. ELEPHANT zeigt, führt den Blick des Zuschauers immer wieder auf die Oberfläche des Bildes, zwingt ihn zu sehen, statt zu urteilen und lockert so die Beziehungen zwischen dem Sichtbaren und jeglicher Bedeutung, löst die medial vorbestimmten Muster des Verstehens auf, entleert den diskursiven Raum, entleert die Bilder vom Denken, von dem, was der Zuschauer schon über den Raum und das Ereignis medial konsumiert hat. ELEPHANT zeigt den schulischen Raum als einen Raum gewöhnlicher Verrichtungen, der schlichten und banalen sozialen Interaktionen, der seriell und monoton wiederholten Gesten, Gänge und Begegnungen. Der Film modelliert die Wahrnehmung des schulischen Raums, die aufgrund der besseren Lesbarkeit und Verständlichkeit aus jedem journalistischen Bericht gestrichen wird, jene Wahrnehmung des Raums, die unter den Worten und dem Wissen über das mediale Ereignis »Columbine« verschüttet gegangen ist. Die Kamera schweift gelassen durch den Raum der Schule, unentschieden zwischen totaler Gleichgültigkeit und unverhohlenem Interesse, zeigt eine Archäologie der sozialen Materialität.6 Statt einer strikten Handlungslogik präsentiert ELEPHANT die Zeitlichkeit, Modalität und Materialität eines alltäglichen sozialen Raums und bricht die Muster des Verstehens und Erkennens an der Sichtbarkeit des innerfilmischen Bildraums. Die Kamera in ELEPHANT teilt dem Zuschauer in diesem Sinne nichts über ein vergangenes Ereignis mit, nicht in der Form einer »Berichterstattung«, sondern übernimmt die Funktion eines stummen Zeugen, der nur beobachten kann, ohne zu verste6

»Es ist die Fähigkeit, geschriebene Zeichen auf einem Körper aufzuzeigen, jene Spuren, die von ihrer eigenen Geschichte eingeschrieben werden und somit wahrheitsgetreuer als jeder gesprochene Diskurs sind« (Rancière 2005: 21).

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hen. Er lässt die stummen Dinge sprechen, statt selbst das Wort zu ergreifen. Die toten Leiber der Opfer werden präsent in den gleitenden Körpern der Darsteller, die den Raum und die Zeit mit ihren Bewegungen vermessen. ELEPHANT entfaltet eine apersonale Wahrnehmung, die sich in den Überlagerungen der Zeitebenen und dem Spiel der Blickachsen äußert.7 Diese erinnernde Wahrnehmung folgt einer strengen, artifiziellen, mitunter tänzerischen Choreographie, ausgedrückt in den Bewegungen einer autonomen Kamera. In den Einstellungen, in denen sie sich frei durch das Gebäude bewegt, wird deutlich, dass die langen, schweifenden Gänge im Rücken der Figuren keine eindeutige Kopplung von Figur und Kamerablick bedeuten. Die synchronen Einheiten von Figuren- und Kamerabewegung sind Koinzidenzen, kein normatives Merkmal der Gestaltung. Die Kamera wechselt die Register zwischen aktiver und passiver Form, folgt den Opfern, den Tätern, nur um im nächsten Augenblick durch die Räume zu schweifen. In der Cafeteria, als die drei Bulimie-Mädchen Brittany, Jordan und Nicole ihr Essen holen, beobachtet die Kamera sie zunächst an der Essensausgabe, um sich dann suchend, erforschend durch die Küche zu bewegen und schließlich den alltäglichen Gang und Rhythmus der Mädchen wieder aufzunehmen. Durch die eigenwillige zeitliche, rhythmische Entfaltung des audiovisuellen Bildraums abstrahiert Van Sant vom referentiellen, alltäglichen Raum – ohne ihn einer Handlungslogik unterzuordnen.8 Die Bilder sind in der Dichotomie zwischen Bildobjekt und Zeichen, einem einfachen Entweder/Oder nicht zu verstehen. Im Gegenteil, ELEPHANT schafft eine paradoxe Wertigkeit der Bilder: Sie sind Zeichen und reine Sichtbarkeit zugleich, gehören auf der einen Seite zum referentiellen Rahmen des historisch-medialen Ereignisses »Littleton« und schaffen zugleich ihren ureigensten Bildraum, der das Ereignis hermetisch abriegelt von jeglicher Sinndimension außerhalb des Bildraums, der sich als reine sichtbare Präsenz manifestiert. Das Bild ist, wie die Sprache, also immer ein Zweifaches, wie Jacques Rancière im Hinblick auf die Literaturtheorie Jean Paul Sartres schreibt: »Die kommunikationelle Funktion und die dichterische Funktion der Sprache werden sich […] beständig ineinander verschlingen« (Rancière 2008: 16). Wir haben es mit zwei Seiten des Bildes zu tun, einer lesbaren, zeichenhaft verstehbaren und einer Dimension reiner visueller Präsenz. Die Starrheit des Kamerakonzeptes, die strikte Choreographie, schottet den alltäglichen Raum von jeder Alltäglichkeit ab, zieht ihn ins Regime eines durchästhetisierten, artifiziellen Bildraums. Das herstellende, ästhetisierende Moment in der Bildgestaltung wird unterstützt durch die Klänge des scores und des soundtracks, die sich an der spartanischen, unaufgeregten Visualität brechen und dem Bildraum eine unwirkliche, fremde und ferne Atmosphäre geben.

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8

Hermann Kappelhoff spricht in diesem Zusammenhang von einem »lyrischen Ich«: »Man wird dieses ›lyrische Ich‹ […] vergeblich in der Figur zu fassen suchen; es ist vielmehr eingewirkt in das Ausdrucksgewebe des Bildraums, ist die ›Figur‹ dieses Webens« (1998: 105). In produktionsästhetischer Hinsicht lässt sich diese Beobachtung dadurch ergänzen, dass der Film ohne Drehbuch entstand und viele der Szenen und Abläufe, die im Film zu beobachten sind, direkt aus den Gesprächen mit den Darstellern und deren Interessen entwickelt wurden.

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Die ontologischen Merkmale des Filmbildes wirken unterstützend, denn das Bewegungsbild tendiert ohne Frage zum Gewöhnlichen, löst den herausgehobenen Moment und die feste Form zugunsten einer Serie von Bildern ab, die keine herausgehobenen Momente mehr kennen (vgl. Deleuze 1997: 16ff.). ELEPHANT thematisiert diese Qualität, diese Charakteristik des Filmbildes explizit in der Szene mit Elias, dem Photographen, und John, der sich für eine Aufnahme in Pose wirft. In den Variationen dieser Szene bündeln sich die Techniken der filmischen Inszenierung wie in einer Brennlinse. Dreimal wiederholt Van Sant diesen Moment und jedes Mal entgeht dem Zuschauer der Akt des Photographierens, das Stillstellen der Bilder, der herausgehobene Moment. Als die Szenerie zum ersten Mal erscheint, ist der Betrachter abgelenkt durch das Mädchen Michelle, das, mit einem roten Oberteil bekleidet, an der linken Seite des Kaders an der Wand entlang – direkt auf Elias zu – in den Vordergrund rennt. In der zweiten Variante, die von der anderen Seite aufgenommen ist, taucht Michelle plötzlich am linken Rand der Einstellung auf, kurz bevor Elias den Auslöser drückt und zieht die Aufmerksamkeit auf sich. In der dritten Variation folgt die Steady-Cam dem Rennen Michelles nahe an ihrem Hinterkopf, so dass Elias und John nur als verwischte Figuren in der Peripherie der Einstellung erscheinen. Farbe und Bewegung markieren so die eher »unwichtige« Hast Michelles als das eigentlich Bemerkenswerte im Bild. Wie die zweifache Stellung des Raumes, als alltäglicher sozialer Raum und artifizieller Bildraum, ist auch der Blick der Kamera in ELEPHANT gekennzeichnet durch ein Zweifaches, ein mechanisches und ein künstlerisches Auge (Rancière 2003: 235). Der Blick der Kamera oszilliert gleichsam zwischen den Wahrnehmungsachsen. Auf diese Weise bleiben die Bilder immer gleich nah und gleich fern, der Zuschauer verliert sich in den gleichmütigen, schweifenden Blicken der Kamera, während diese immer wieder auf ihrer Stellung als autonome Betrachterperspektive besteht. ELEPHANT steht damit in einer Tradition künstlerischer Praxis, in der das Schreiben von Geschichten und Geschichtsschreibung demselben Sinnstiftungsregime unterstehen und die Trennung der Geschichten von Dichtern und Historikern aufgehoben ist, weil sich die Fiktionen nicht mehr in einem abgekoppelten Bereich abspielen, sondern ihre Erkenntnisse direkt aus der Materialität der sozialen Umwelt gewinnen. »Einerseits trägt ›das Empirische‹ die Merkmale des Wahren, das in Gestalt von Spuren und Abdrücken erscheint, und damit untersteht das, ›was geschehen ist‹, direkt einem Wahrheitsregime, einem Regime, das seine eigene Notwendigkeit sehen lässt; andererseits besitzt das, ›was geschehen könnte‹, nicht länger die autonome und lineare Form der Handlungsanordnung« (Rancière 2006b: 60).

ELEPHANT verwirklicht so das Potential oder Ziel einer bestimmten Auffassung von Kunst, das mit der Romantik in der Kunstgeschichte auftaucht, seinen Weg über den realistischen Roman findet und mit dem Kino seine mediale Perfektion erreichen sollte. Denn »das Kino führt jene beiden Mittel, die stumme und vielsagende Spur und die Konstruktion, die die Bedeutungsmacht und den Wahrheitswert berechnet, auf die Höhe ihrer Möglichkeiten« (Rancière 2006b: 60). Doch diese Vervollkommnung liegt nicht in der Onto-

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logie des Mediums begründet,9 sie ist das Ergebnis spezifischer inszenatorischer Entscheidungen. Deshalb muss Van Sant seine Verfahren der Gestaltung in Stellung bringen zu anderen Bearbeitungen des Ereignisses wie etwa in Michael Moores BOWLING FOR COLUMBINE (USA 2002), in dem sich die Voice-Over-Texte des Regisseurs immer wieder nur allzu gefällig mit den Bildern, die gleichsam zu lesbaren Illustrationen der Textualität werden, verbinden. Die Hierarchie ist hier klar gegliedert: Wort über Bild, Moores Monologe geben den Bildern ihre Bedeutung. Aber auch auf visueller Ebene, in der Wahl des Kaders, der Montage, wird das audiovisuelle Bild immer wieder auf eine eindeutige Botschaft festgelegt. Wort und Bild können dabei übereinstimmen oder in ironischem Gegensatz stehen, bleiben aber immer auf eine Ebene der Botschaft bezogen, deren Ursprung der Film nur zu gerne in der Autorenfigur Moore verortet. Symptomatisch für diese Verfahren ist die Funktionalisierung der bereits angesprochenen Bilder der Überwachungskameras aus der Cafeteria, die Moore als Material für seinen Film verwendet. Nach einer Schwarzblende folgen Bilder vom Originalschauplatz der Schule. Was zunächst wie eine Analogie zu ELEPHANT anmutet – der Blick auf den stummen Raum –, entpuppt sich schnell als Dramatisierung des Ortes, der in seine schlichte Funktionalität als Tatort zurückversetzt wird. Bereits in der Schwarzblende sind auf der Tonspur die Notrufe vom 20. April 1999 zu hören, unterlegt mit den melancholischen Tönen einer Gitarre. Die Kamera findet auf ihrem Weg durch die Columbine Highschool schnell die Cafeteria und von dort blendet das Bild über in die Bilder der Überwachungskameras, die das Massaker zeigen. Es sind Schüler zu sehen, die sich unter den Tischen verstecken, und schließlich ihre panische Flucht aus der Cafeteria, während die Stimmen der Augenzeugen im Off immer hysterischer und lauter werden. Die Bilder werden also explizit dramatisiert, d. h. sie unterliegen stark emotionalisierenden, sekundären Bearbeitungen. Die Aufnahmen wechseln zwischen einer Perspektive und multiplen Perspektiven in Splitscreen-Bildern, die in vier Sektoren unterteilt sind. Zusätzlich werden die Partien des Bildes, auf denen die Schützen zu sehen sind, aufgehellt. Das Sagbare bleibt in der Flut der visuellen und akustischen Reize zunächst aus, es ist die filmische Konstruktion einer traumatischen Erfahrung. Die Bilder sind jedoch nichts anderes als momentane Platzhalter für die folgende talking cure-Message, die die narrative Schließung des Films bereithält. Moore identifiziert die Schuldigen – die National Rifle Association, der ihr Präsident Charlton Heston ein Gesicht gibt, und die beliebige Verfügbarkeit von Waffen in Amerika, deren Sinn und Zweck – die Verteidigung des eigenen Lebens und Besitzes – von der medialen Tagesberichterstattung, die immer neue Gefahren inszeniert, Tag für Tag gerechtfertigt wird. BOWLING FOR COLUMBINE orientiert sich damit an der klassischen fiktionalen Form der Intrige, trennt zwischen Gut und Böse, Problem und Lösung.

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Wie Rancière im Hinblick auf die Überlegungen Walter Benjamins zu den technisch reproduzierbaren Künsten anmerkt: »Die These Benjamins nimmt etwas […] an, das mir zweifelhaft erscheint, nämlich dass sich die ästhetischen und politischen Eigenschaften einer Kunst aus ihren technischen Eigenschaften ableiten lassen« (2006b: 51).

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Die visuelle Inszenierung der Cafeteria-Bilder in BOWLING FOR COLUMzielt vor allem auf eines: die affektive, sinnliche Überwältigung des Zuschauers, d. h. dem Visuellen ist eine klare Erwartungshaltung an die emotionale Reaktion, die Rezeptionshaltung des Publikums zugeordnet. Der Film nutzt die Möglichkeiten des Kinos, um durch die äußere Bewegung des audiovisuellen Bildes die innere Empfindungsbewegung des Zuschauers zu modellieren (vgl. Kappelhoff 2004: 21). Im Vergleich dazu wird in ELEPHANT die Cafeteria zunächst über eine Plansequenz mit einem der Gänge verbunden. Einer der Schützen tritt ein, schaut sich um, setzt sich ruhig und besonnen auf einen der leeren Stühle, trinkt aus einem der herumstehenden Becher. Van Sant markiert nicht, wo der Zuschauer hinsehen soll, die Leiche eines Küchenangestellten liegt genau wie ein weggeworfener Rucksack auf dem Boden. Der Blick der Kamera kennt keinen Unterschied zwischen toten Körpern und starren Gegenständen, der Leichnam schwingt in den Inszenierungsverfahren mit, ohne dass ihm besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden würde. Er ist sinnlich-anschauliche Materie wie die Dauer der Gänge, er prägt das Denken eines Nichtdenkbaren, eines Ereignisses, das keinen rechten Einklang findet von Sicht- und Sagbarem. Und dies ist einer der entscheidenden Punkte, an denen ELEPHANT die repräsentative Logik verlässt, um sich ganz an den Regeln des ästhetischen Regimes der Künste zu orientieren.10 Die poesis ist keiner klaren und eindeutigen aisthesis zugeordnet, im Gegensatz zu den Bildern aus BOWLING FOR COLUMBINE, die den Strategien der Kopplung von Text und Bild in der medialen Tagesberichterstattung durchaus vergleichbar sind. In ELEPHANT gibt es keine Hierarchien zwischen den Bildern oder innerhalb der Aufteilungen in den Ebenen einzelner Einstellungen. Als die beiden school shooter Eric und Alex das Gebäude betreten, ist dieser Moment in der Inszenierung ein Augenblick wie jeder andere auch. Die Schützen laufen in der hinteren Bildebene in den Kader, aber als das eigentlich Sensationelle wird der Sprung eines Hundes im Bildvordergrund durch eine Slow-Motion markiert, während die Attentäter Alex und Eric durch den Hinterkopf Johns verdeckt werden, in dessen Rücken sich die Kamera auf einer ihrer endlosen Fahrten bewegt. Als das school shooting in der Bibliothek beginnt, bleibt die Kamera starr in Großaufnahme auf dem Gesicht eines der Schützen. Die Einstellung ist so nah, dass der Betrachter die Reaktionen auf die Schüsse allenfalls erahnen kann. Dem beginnenden Morden wird so keine adäquate affektive Dimension an die Seite gestellt, stattdessen schneidet der Film auf die leeren, allenfalls leicht verwunderten Gesichter zweier Schüler, die jenseits des Geschehens nichts von den Schüssen wissen. Die Gewalt erscheint uncodiert, tritt auf, beiläufig, Schüler und Lehrer werden erschossen, aber das Töten ist kein besonderer Moment, fügt sich nur ein in den scheinbar gleichmütigen Blick der Kamera, der später wieder der eigenen Bewegungsdramaturgie folgen wird und die Leichen gelassen BINE

10 Das repräsentative Regime trat das Erbe aristotelischer Regulierung an: »[Aristoteles’] Versuch stellt in sich die Entstehung der repräsentativen Ordnung dar: der Versuch, das ethische Pathos des Wissens in eine regulierte Beziehung zwischen einer poesis und einer aisthesis einzuführen, in eine Beziehung zwischen einer Anordnung autonomer Handlungen und dem Aufgebot jener Affekte, die für die repräsentative Situation […] spezifisch sind« (Rancière 2005: 133).

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aufnimmt, zwischen Leben und Tod, Menschlichem und Unmenschlichem nicht unterscheidet. Die Musik ist das Echo dieser Gleichgültigkeit, die den Zuschauer mitnimmt und die griffigen Geschichten vom Krieg in befriedeten Gebieten vergessen macht in der Dauer der Einstellungen. ELEPHANT folgt einer postaristotelischen Dramaturgie, jenseits der Notwendigkeit und der Verknüpfung nach Ursache und Wirkung. Van Sant inszeniert ein Kino des Sehenden, in dem Reiz und Reaktion nur noch schwache bis keine Verbindungen mehr eingehen und die Figuren sich verhalten, als ob das, was ihnen zustößt, »sie nicht wirklich betrifft und sie nur zur Hälfte angeht« (Deleuze 1999: 34). Verdichtet zeigt sich das in Johns hilflosen Rettungsversuchen, nachdem ihm Alex und Eric auf ihrem Weg ins Gebäude gesagt haben, er solle verschwinden. John spricht die Mitschüler vor der Schule an, warnt sie, nicht ins Innere zu gehen, doch er kann letztlich nur hilflos und handlungsunfähig mit seinem Vater das Ausmaß des Spektakels, dass die eigenen, körperlichen und mentalen Kräfte übersteigt, von Außen betrachten. In den von jeder Reaktion entleerten Gesichtern trennen sich poeisis und aisthesis, keine Betroffenheit könnte dem Zuschauer sagen, wie er auf das Geschehen zu reagieren hat. Reaction-shots werden schon durch das dominante Verfahren der Bildgestaltung, durch die endlosen Gänge im Rücken der Figuren, konsequent verweigert. Die Auflösung gängiger Handlungsmuster zeigt sich dann noch einmal an der Figur Benny, die relativ spät im Film auftaucht und als einzige Rettung verspricht. ELEPHANT erregt an dieser Stelle den Verdacht, die Konfrontation Bennys mit den beiden Schützen möge für Gerechtigkeit sorgen, in einem Duell enden, einem Showdown zwischen Gut und Böse. Die Kamera folgt Benny auf seinem Weg zu einem der Schützen, wieder wird die Zeit spürbar, sichtbar und schon hier vermeidet ELEPHANT den Topos der Parallelmontage, bleibt bei einer Figur. Benny trifft auf einen der Amokläufer, der sich sadistisch über einen Lehrer beugt, die Ahnung eines bevorstehenden Kampfes flammt auf, nur um im nächsten Moment enttäuscht zu werden. Benny wird erschossen. Die besondere Qualität von Van Sants Film liegt also darin, dass er die Beziehung zwischen Bild und Bedeutung nicht aufgibt, sie jedoch in ihre Negation verkehrt. Statt mit den Bildern dem Ereignis einen bestimmten Sinn zu geben und es in eine begriffliche Perspektive zu rücken – den Film anschlussfähig zu machen an die Bedeutungsüberproduktion, die sich mit Littleton verbindet –, nivelliert ELEPHANT die möglichen Entsprechungen.11 Deutlich wird dies auch am Umgang des Films mit den medialen Bildern und Narrativen, die innerhalb des Diskurses um die vermeintlichen Ursachen für den Amoklauf der beiden Schüler teilverantwortlich gemacht wurden. So finden z. B. die Ego-Shooter-Bilder, die bis heute in jeder Diskussion über Gewalt an Schulen immer wieder angeführt werden, ebenfalls Eingang. Einer der Schützen spielt auf dem Laptop ein Ego-Shooter-Spiel, aber das Spiel wird dem Klavierspiel seines Mittäters, den Klängen von Beethovens Mondscheinsonate, gegenübergestellt und mit ihm gleichgesetzt. Ein Hobby ist wie jedes andere und aggressiv wird derjenige von den beiden, der am Klavier 11 Denn »die ästhetische Logik will das Spiel der repräsentativen Äquivalenzen zwischen der Sprache und den Formen des Sichtbaren in eine reine Sprache von Eindrücken verwandeln« (Rancière 2003: 243).

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sitzt. Das Spiel kann in Korrespondenz oder in Dissonanz zu den realen Schüssen verstanden werden, der Film selbst trifft keine Entscheidung. Auf diese Weise verschränken sich die Ebenen des artifiziellen Bildraums und des alltäglichen Raums, mediales und soziales Bild, und drohen immer wieder ihre Differenz zu negieren, ohne jedoch ineinander aufzugehen. Die Bilder in ELEPHANT sind also beides, der Film »spiel[t] mit derselben Konvertierbarkeit zweier Vermögen des Bildes: das Bild als rohe sinnliche Präsenz und das Bild als Diskurs, der eine Geschichte verschlüsselt« (Rancière 2005: 23). Aus diesem paradoxen Status der Bilder gewinnt Van Sant die Relevanz des Films und die Relevanz des Kinos als Medium gesellschaftlichen Erzählens. Der Status der Bilder verharrt in der Dichotomie zwischen Zeichen und visueller Präsenz, der Ab- und Anwesenheit der Referenz. Mit ELEPHANT tritt der Zuschauer ein ins Reich des Sichtbaren, der Lektüre sozialer Materialität, bleibt in Relation zu einem Sagbaren in der Form der reinen Negation dessen, was schon gesagt wurde, der Nivellierung der Diskurse, die das Ereignis medial überfrachtet haben. Und dennoch bleibt das Andere der Bilder, die Referenz bestehen, denn »den Genuß der Bilder dem semiologischen Unternehmen entreißen zu wollen, fordert einen hohen Preis: nämlich jene Genealogie auszulöschen, die unsere ›Bilder‹ fühlbar und denkbar macht« (Rancière 2005: 23). Deshalb gilt es, die Bilder in ELEPHANT nicht in einfachen Entweder/Oder-Klassifikationen zu verstehen, sondern vor einen Horizont des Erkennens zu rücken, der die Verbindungen anhand der Relationen zwischen dem Sicht- und dem Sagbaren am individuellen, singulären Ausdruck untersucht. Die Sujets des Films im Sinne eines autonomen Bildobjektes zu verstehen, als artifizielle Präsenz, ist aus theoretischer Perspektive sicherlich möglich, beraubt ELEPHANT jedoch seiner eigentlichen Dimension.

Literatur Assheuer, Thomas (2009): Krieg im Frieden – Interview mit Joseph Vogl [http://www.zeit.de/2009/13/Interview-Amok] (08.06.2009). Deleuze, Gilles (1997): Das Bewegungs-Bild – Kino 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Deleuze, Gilles (1999): Das Zeit-Bild – Kino 2, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Kappelhoff, Hermann (1998): »Empfindungsbilder – Subjektivierte Zeit im melodramatischen Film«. In: Teresia Birkenhauer/Annette Storr (Hg.), Zeitlichkeiten – Zur Realität der Künste. Theater, Film, Photographie, Malerei, Literatur, Berlin: Vorwerk 8, S. 93-119. Kappelhoff, Hermann (2004): Matrix der Gefühle – Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin: Vorwerk 8. Kappelhoff, Hermann (2008): Realismus – Das Kino und die Politik des Ästhetischen, Berlin: Vorwerk 8. Rancière, Jacques (2003): »Die Geschichtlichkeit des Films«. In: Eva Hohenberger/Judith Keilbach (Hg.), Die Gegenwart der Vergangenheit – Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, Berlin: Vorwerk 8, S. 230246. Rancière, Jacques (2005): Politik der Bilder, Berlin: Diaphanes. Rancière, Jacques (2006a): Film Fables, Oxford: Berg. 108

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Rancière, Jacques (2006b): Die Aufteilung des Sinnlichen – Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: b-books. Rancière, Jacques (2008): Politik der Literatur, Wien: Passagen-Verlag. Robertz, Frank (2004): School Shootings – Über die Relevanz der Phantasie für die Begehung von Mehrfachtötungen durch Jugendliche, Frankfurt/M.: Verlag für Polizeiwissenschaft. Vogl, Joseph (2003): »Beliebige Feindschaft – Zur Epoche des Amok«. In: Medardus Brehl/ Kristin Platt (Hg.), Feindschaft, München: Fink, S. 211225. Wiesing, Lambert (2005): »Die Hauptströmungen der gegenwärtigen Philosophie des Bildes«. In: ders.: Artifizielle Präsenz – Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 17-36. Wiesing, Lambert (2007): »Phänomenologie und die Frage ›Wann ist Kunst?‹«. In: ders.: Phänomene im Bild, München: Fink, S. 99-126. Wiesing, Lambert(2008): Die Sichtbarkeit des Bildes: Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Frankfurt/M.: Campus.

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III. ÜBERSETZEN

Diskontinuierliche Prozesse: die transformative Kraft der Übersetzung MARTIN FUCHS

Bei Gayatri Spivak findet sich ein irritierender und dementsprechend viel und heftig diskutierter Gedankengang. Spivak konzediert sozialen Akteuren und speziell Angehörigen sozialer Gruppen, die sich der Dominanz anderer erwehren müssen, die Nutzung essentialistischer Argumente und Ideologien zur Verfolgung kollektiver Ziele. Der Dekonstruktivismus, Hauptkritiker jeglichen Essentialismus und Identitätsdenkens, akzeptiert, jedenfalls in der Person Spivaks, »strategischen Essentialismus« (Spivak 1990).1 Spivak akzeptiert die Notwendigkeit, in Situationen von Widerstand Ideologien zu mobilisieren, die Gemeinsamkeiten herausstreichen und die Einheit aller Betroffenen zu sichern suchen. Sie konstatiert die Inkongruenz gegenüber der dekonstruktivistischen Grundhaltung, unternimmt aber nichts, diese Inkongruenz aufzuheben, sondern bekräftigt sie eher: »the moment of essentialising [...] is irreducible« (Spivak 1990: 11). Ist die Konsequenz hieraus die Bekräftigung des Dualismus von sozialem Handeln (d. h. sowohl von politischem als auch von Alltagshandeln) und reflexivem Diskurs? Müssen wir also wieder kategorial zwischen sozialen und (kritischen) wissenschaftlichen Diskursen unterscheiden?2 Zielt die wissenschaftliche Kritik an Essentialisierung und Identitätsdenken daneben, zumindest mit Blick auf soziale Diskurse? Ist sie auf das Feld epistemischer Diskussion zu begrenzen? Auch Wissenschaftler sind soziale Akteure, wie Spivak selbst betont, nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Wissenschaft, und viele Menschen sind in 1

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»I think we have to choose again strategically, not universal discourse but essentialist discourse. I think that since as a deconstructivist – see, I just took a label upon myself – I cannot in fact clean my hands and say, ›I’m specific‹. In fact I must say I am an essentialist from time to time« (Spivak 1990: 11). Soziales Handeln in diesem Zusammenhang umfasst politisches und Alltagshandeln. Essentialismus, wenn auch nur für bestimmte Situationen als opportun erscheinen zu lassen, muss unterstellen, dass diese Einstellung für den Alltagsdiskurs oder für politische Diskurse angemessen oder sogar charakteristisch ist. Der Essentialismus politischer Diskurse gründet dann u. a. in der Annahme, dass Essentialisierungen in politischen Diskursen auf Essentialisierungen in Alltagsdiskursen verstärkend oder korrigierend Bezug nehmen. Hier besteht die Gefahr, die Hybris vorhermeneutischer Sozialwissenschaft wieder aufleben zu lassen, die für sich in Anspruch nahm, soziale Phänomene besser zu verstehen als die sozialen Akteure selbst, die größere Schwierigkeiten haben, essentialistischen Denkformen zu entkommen.

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bestimmten Momenten in die eine oder andere Form von »Widerstand« oder Opposition verstrickt – und damit unvermeidlich in Essentialisierungen. Auf der einen Seite steht ein Zelebrieren von Nicht-Identität, auf der anderen stehen Identitätssuche und Identitätsprojekte. Ich möchte über diese Entgegensetzung im Folgenden hinausgehen, auf dem Wege einer Soziologisierung, d. h. einer dynamischen Verzeitlichung, und nicht Spivak folgen, die auf den Akt und Gestus politischer Konfrontation fixiert bleibt. Es könnte sein, dass Identität (und damit Essentialisierung) und Nicht-Identität (Dekonstruktion) nicht wirklich voneinander zu trennen sind. Identität ist nicht etwas, das je definitiv realisiert ist, aber umgekehrt setzt Nicht-Identität immer (notwendig?) ein Moment der Identität, eine Verbindung zwischen zwei Konstellationen voraus, noch im Augenblick der Differenz. Ich werde deshalb »Identität« und »Differenz« über weite Strecken meines Arguments durch »Kontinuität« und »Diskontinuität« ersetzen – man könnte auch sagen, in diesem Sinne spezifizieren – und anhand eines Beispiels diskutieren, wie beide Dimensionen miteinander verschränkt sind. Ihr Verhältnis, so werde ich zu zeigen versuchen, ist letztlich nur in paradoxen Formulierungen zu fassen. Die Opposition, die sich in Spivaks Text zeigt, scheint die beiden einander gegenüberstehenden Positionen, die nur alternierend eingenommen werden können, zu verabsolutieren und zu verhärten. Was bei der Entgegensetzung von Nicht-Identität und Identitätssuche leicht übersehen wird, ist die gleichermaßen soziale wie kognitive Dynamik gesellschaftlicher Prozesse, die sich nicht abstellen lässt: Reproduktion von Identität bedeutet Wandel. Zugleich gilt umgekehrt: Wandel wie Wechsel von Diskursen setzt Kontinuität voraus. Nicht Essentialisierung als das scheinbar Andere von Differenz (Nicht-Identität) oder sogar Transdifferenz wäre dann der wirkliche Fokus der Analyse, sondern etwas Drittes, das beide Momente, Identifizierung und Differenzierung/Dekonstruktion, in Bewegung hält. Ich halte es für zentral zu erkennen, wie in sozialen Interaktionsprozessen mit Bedeutungs-Differenz und -Identität umgegangen wird – oder, wie ich es hier zu sagen vorziehen würde: wie Diskontinuität und Kontinuität vermittelt sind. Ich stelle meine Überlegungen unter das Leitwort »Übersetzung« als einer zentralen Dimension von Kommunikation. Ich verfolge die Hypothese, dass eine neuerliche Erörterung von »Übersetzung« uns in mancher Hinsicht weiterbringt als andere Theoreme.3 In meinen Augen erlaubt ein erweitertes Konzept von »Übersetzung« einen wichtigen Aspekt des Theorems der Transdifferenz aufzunehmen. Vor dem Hintergrund der Akzentuierung der »Gleichzeitigkeit« von Differenzen betont Übersetzung die zeitlichen Dynamiken, die ihre Beziehungen kennzeichnen. Ich sehe sowohl die Artikulation als auch die Vermittlung von Differenzen als sozialen Interaktionsprozess. Es handelt sich um Kommunikationsakte, die sich nicht nur auf Inhalte und Identitäten beziehen, sondern die die Bedingungen von Kommunikation selbst einbeziehen, ansprechen und diese dabei verändern. Zugleich verschiebt diejenige Form der Übersetzung, die hier v. a. zur Debatte steht, die Koordinaten von »Situation« und »Kontext«.

3

Die »Mehrdeutigkeit« dieses Begriffs liegt auf der Hand und wird im Folgenden mit zur Geltung kommen.

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Im Reich des Nicht-Identischen erscheint Übersetzung als die gewichtigste Dimension von Kommunikation. Anders als in der Welt fester Identitäten, in der Übersetzung nur am Rande, beim Wechsel von einer Sprache oder »Kultur« zu einer anderen, aufscheint, erlangt Übersetzung immer dann zentrale Bedeutung, wenn mehrfache Bedeutungen und unterschiedliche Sprachspiele gleichzeitig involviert sind. Übersetzung ist unentbehrlich, um NichtIdentisches zu erfassen. Mir geht es im Folgenden um die Übersetzungsleistungen derjenigen, die in und mit Differenz leben – der sozialen Akteure, die wir alle sind. Mir geht es nicht um die Übersetzungsleistungen der professionellen Übersetzungsspezialisten. Ich beabsichtige aber keine abstrakte Abhandlung im Stile theoretischer oder metatheoretischer Soziologie, sondern lege meine Gedanken anhand eines spezifischen Beispiels dar. Ich sehe die folgenden Überlegungen als einen Einstieg in ein Feld, als Öffnung für eine neue Problemdimension. Der Fall, den ich erörtere, ist nicht exemplarisch, außer für die Aspekte, die ich daraus abzulesen suche. Wenn ich manchmal allgemein formuliere, heißt das nicht, dass dies die Bedeutung des Phänomens erschöpfte. Mir ist v. a. daran gelegen, Dimensionen herauszuarbeiten und zu reflektieren, die vielen Interpretationshandlungen inhärent sind.4 Wenn ich pointiert formuliere, markiert das den Punkt, bis zu dem ich vorgestoßen bin. Diese Formulierungen enthalten weitere, noch ungelöste Fragen.

I. Übersetzung ist nicht etwas, das nur außerhalb des Alltags geschieht und das man in Ergänzung zum Alltagsdiskurs unternimmt – und also auch lassen könnte. Übersetzen ist in meinen Augen vielmehr zuallererst Ausdruck eines Zwangs oder einer Notwendigkeit. Die Notwendigkeit ergibt sich daraus, dass Akteure an verschiedenen Diskursen, Lebensformen und Sozialsystemen (in Wittgensteins Terminologie: Sprachspiele oder Lebensformen) zugleich teilhaben und Wege finden müssen, sich zwischen diesen zu bewegen. In eine knappe These gefasst: »Niemand lebt in nur einem Kontext« (Fuchs 2009). Die Erörterung kann nicht, wie es lange Zeit für linguistische Überlegungen leitend war, bei der Einzelsprache oder Einzelkultur ansetzen und die Beziehung zu anderen Sprachen oder Kulturen als etwas Sekundäres begreifen. Jede Einzelsprache oder Einzelkultur erscheint als »einzelne« nur im Kontext und vor dem Hintergrund anderer Sprachen und Kulturen. Der Begriff der Sprache oder Kultur setzt deren Pluralität und damit deren Interrelation als konstitutiv voraus. Lebens- und Diskurswelten wie soziale Systeme sind wiederum in sich selbst komplex. Damit gilt auch, dass die Abgrenzung zwischen Diskurs-, Sprach- oder Lebenswelten nicht immer eindeutig oder absolut ist: sie hängt weitgehend von der eingenommenen Perspektive ab. Jeder Mensch bewegt sich alltäglich in mehreren Bezugssystemen, während umgekehrt in jedem aktuellen Kontext, in jeder Situation, Momente verschiedener Sprachkontexte und Bezugssysteme gegenwärtig sind. Soziale Akteure übersetzen, verhandeln Bedeutungen, adaptieren ihr Verständnis von

4

Etwa die, was »Kontinuität« im Unterschied und im Verhältnis zu Identität eigentlich heißen kann.

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Sinnzusammenhängen, und das ohne Benutzung eines großen theoretischen Apparates. Dies systematisch herausgearbeitet zu haben, ist v. a. das Verdienst von Joachim Renn (2006). Soziale Akteure übersetzen gelegentlich aber auch in systematischer Absicht, und dies nicht nur zur Explikation der zuvor auf der Ebene des praktischen Bewusstseins (ob im Sinne von Anthony Giddens oder von Pierre Bourdieu) vollzogenen Übersetzungen (s. Giddens 1988: Kap. 1; Bourdieu 1987: 147-179). Auch dies geschieht letztlich in Reaktion auf Differenzen, denen sie ausgesetzt sind und nicht ausweichen können. Solche »absichtsvollen« Übersetzungen erfolgen aus verschiedenen Gründen, etwa um sich selbst in ein anderes Licht zu rücken oder um bestimmte Gedanken und Projekte besser verstehbar zu machen – d. h. letztendlich, um etwas zu bewirken oder etwas zu verändern. Was ich im Auge habe, sind Situationen, in denen Akteure eine Botschaft vermitteln wollen. Soziale Akteure artikulieren und nutzen die Differenz der Sprachspiele (oder der Diskurse, Lebensformen, sozialen Subsysteme) wie sie auch immer wieder nach neuen Mediations- und Artikulationsformen suchen. Ich unterstelle die Möglichkeit einer sozialwissenschaftlichen »Wende« der Übersetzungsdiskussion, die sich zumindest in Ansätzen abzuzeichnen scheint.5 Ich schließe an die Überlegungen von Joachim Renn an, der implizite Übersetzungsvorgänge innerhalb und zwischen Lebensformen, Funktionssystemen, Organisationen und Personen auf entscheidende Weise erhellt hat, setze diese Überlegungen aber, wie angedeutet, in eine andere Richtung fort. Ausgangspunkt einer Theorie impliziter Übersetzungsprozesse ist die Unmöglichkeit der Eins-zu-eins-Übersetzung. Das Leitbild, das Renn benutzt, ist das des Anschlusses, oder besser: des Anschließens an etwas anderes, an Bedeutungen und Bedeutungspraktiken, über Grenzen zwischen Diskursen, Lebensformen, Funktionssystemen, Organisationen oder intrapersonalen Registern hinweg. Es ist das Bild von Handlungen und Bedeutungen, die zunächst in einem Kontext auftauchen, dann aber in einem anderen Kontext und in einer anderen Sprache fortgesetzt werden. Dies schließt sektorale Sprachen wie die juristische oder ökonomische ein. Der Diskurs des einen Kontexts wird in dem neuen Kontext auf andere Weise fortgeführt. Es müssen weder dieselben Worte zum Tragen kommen noch sind Handlungen, die durch zwei Kontexte hindurchreichen, »dieselben«. Wenn dieselben Worte benutzt werden, dann stehen sie in einem jeweils anderen Bedeutungszusammenhang und erhalten dadurch unterschiedliche Konnotationen (Renn 2006: 133). Das Bild des Anschließens unterstellt Verstehen ohne volles Verständnis und ohne vollständige Übereinstimmung. Es erkennt an, dass Menschen in und mit Differenz leben. Renn untersucht sowohl Prozesse der Übersetzung zwischen als auch innerhalb von Lebensformen. Auch mir ist es wichtig, Übersetzung aus der einseitigen Konzentration auf »interkulturellen« Austausch herauszulösen. Übersetzung innerhalb einer Lebensform oder innerhalb dessen, was Renn als »Integrationseinheit« bezeichnet – ein Funktionssystem, eine Organisation, ein Milieu, eine Person –, geschieht entlang und zwischen verschiedenen Registern: dem semantischen, dem intentionalen und einem, das er mal als kontextuell, mal als materiell bezeichnet (Renn 2006: 203, 288-298). Auf dieser ersten Ebene »impliziten« Übersetzens setzt eine zweite Ebene auf – 5

Vgl. hierzu neben Renn (2006) auch Renn, Straub und Shimada (2002), Fuchs (2009).

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die der Übersetzung zwischen verschiedenen Lebensformen oder Integrationseinheiten –, welche ebenfalls noch weitgehend implizit bleibt. Im Zuge des Versuches, ein Verständnis einer Interaktionssituation zu gewinnen, eingeschlossen darin die verschiedenen beteiligten Seiten, zu denen man in Beziehung steht, nimmt jede Seite implizit Bezug auf ein tertium comparationis. Als ein solches kann der Handlungsprozess gelten, in dem man zusammen engagiert ist, oder die Situation, an der man zusammen teilhat, ohne diese dabei jeweils unbedingt auf die exakt gleiche Weise zu verstehen (ebd.: 154f.). Damit ist zugleich festgestellt, dass diese Konstellation der Koreferenzialität, eines gemeinsamen tertium comparationis, nicht unabhängig von der jeweiligen Sicht einer Seite formuliert werden kann – es gibt keine Metasprache der Übersetzung.6 Jede Seite konzipiert das (explizite oder implizite) tertium comparationis anders. Der gemeinsame Bezugs- und Handlungszusammenhang erscheint so zugleich als eine Handlung und als unterschiedliche Handlungen (in Gestalt unterschiedlicher Interpretationen). Für Renn ist dies eine Konstellation »zwischen« Identität und Differenz – Identität und Differenz sind gleichzeitig gegenwärtig (ebd.: 179). Übersetzung hebt die Differenzen und Brüche nicht auf, sondern bringt sie zur Geltung. Übersetzung erfordert von allen Beteiligten eine Revision des Horizontes von Verstehen und Handlung.7 Damit ist auch ein gewisses Maß an Selbsttransformation impliziert: die Einführung von Differenzen in den jeweiligen Zielkontext. Dieses Modell geht von mehr oder weniger gelingenden Übersetzungen aus. Es wäre allerdings zusätzlich wichtig zu erörtern, was geschieht, wenn eine Seite nicht oder nur begrenzt am Verstehen der anderen interessiert ist. Renn selbst unterscheidet noch eine dritte Ebene der Übersetzung, auf der implizite Übersetzungen in explizite übersetzt werden. Sein Bild ist hier das der Explikation, d. h. der Abstrahierung und Thematisierung dessen, was auf impliziter Ebene bereits passiert, in deskriptiver oder theoretischer, jedenfalls nicht-performativer Form und Sprache. Auch dies verändert Bedeutungen, wie es unmittelbar oder längerfristig Rückwirkungen hat auf die performative soziale Praxis. Explikation bleibt aber, wie der Terminus besagt, auf das Geschehen auf den beiden ersten Ebenen bezogen. Mein Fokus hier unterscheidet sich in diesem Punkt von dem Renns. Mich interessieren unmittelbarer »politische« und in diesem spezifischen Sinne explizite Projekte der Übersetzung. Diese gehen über Renns dritte Übersetzungsstufe, die der Explikation des zuvor Impliziten, hinaus. Mich interessieren die Dynamiken in der Zivilgesellschaft, in einem weiten Sinne verstanden, d. h. die öffentliche Artikulation interaktiver Prozesse. Insofern geht es nicht nur um Übersetzung als Teilmoment aller sozialen Praxis, sondern um einen bestimmten Typ sozialer Praxis, um intentionale Übersetzung, um Übersetzung als soziales oder politisches Projekt.8 Eine solche intentionale Übersetzung setzt die von Renn thematisierten impliziten Übersetzungs6 7

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Vorstellbar ist bestenfalls eine Komparation der Komparationen, die aber auch keine unabhängige Metaebene herstellt. In Ansätzen bekanntlich bereits zu finden bei Rudolf Pannwitz: Der Übersetzer »muss seine sprache [sic] durch die fremde erweitern und vertiefen« (Pannwitz, zit. nach Benjamin 1977: 61). Zu unterscheiden von Renns intentionalem Register.

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prozesse voraus. Unter einer intentionalen Übersetzung verstehe ich eine symbolisch artikulierte Handlung, die eine Botschaft vermitteln will und ein Ziel verfolgt, das durch diese Handlung erreicht werden soll. In einem solchen Fall kommen dann auch jene Konditionen klarer zur Geltung, in denen die Seite, die durch die Übersetzung angesprochen werden soll, nicht die Bereitschaft zeigt, die Botschaft anzunehmen oder überhaupt verstehen zu wollen. Übersetzung in diesem Sinne ist für mich eine der größeren und schwierigeren Unternehmungen im öffentlichen Leben – umso wichtiger, je komplexer, widersprüchlicher oder spannungsgeladener eine Gesellschaft ist. Übersetzung artikuliert Differenz explizit und schafft Neues.

II. Der öffentliche Raum ist Austragungsort von Kontroversen und zugleich Treffpunkt der verschiedenartigsten Diskurse. Diskurse kanalisieren Auseinandersetzungen nicht nur, sie können auch selbst Gegenstand von Auseinandersetzungen sein. Hierzu gehören Fälle, in denen Akteure die Sprache des dominanten Diskurses oder die Vorherrschaft eines Diskurses ändern wollen. Es ließen sich viele Beispiele denken, etwa die Durchsetzung des Kulturbegriffs zunächst in wissenschaftlichen, in der Folge dann auch in nicht-wissenschaftlichen Kontexten seit den 1970er Jahren gegen anfängliche Widerstände, gespeist aus älteren sozialtheoretischen Diskurstraditionen, später gefolgt von der Durchsetzung des Konzepts der Multikulturalität, d. h. einer ersten Art sozialer und politischer Anerkennung der Differenz und Koexistenz von Lebensformen in einem gemeinsamen gesellschaftlichen Raum (in einer allerdings meist sehr essentialistischen Form). Oder man denke an den Menschenrechtsdiskurs, für dessen Verankerung auf der Ebene internationaler und globaler Beziehungen über das 20. Jahrhundert hinweg und bis in das 21. hinein gekämpft werden musste und muss. Bezeichnend sind besonders die Bemühungen um die Weiterentwicklung der Menschenrechte in Richtung allgemein anerkannter sozialer, ökonomischer und kultureller Rechte und die hiermit verbundenen Probleme ihrer effektiven Sicherung. In diesem Fall sind die Revision der Diskurse und insbesondere ihre politische Umsetzung noch nicht endgültig vollzogen. Das Beispiel, das ich im Folgenden genauer diskutieren möchte, ist konkreter und weniger bekannt: Es bezieht sich auf Diskurspraktiken extrem marginalisierter Gruppen in Indien, die eine neue religiös-sozialethische Sprache durchzusetzen versuchen, um ihre eigene Situation wie auch die Gesellschaft insgesamt zu transformieren. Ein nicht unwichtiger Nebenaspekt der Verfolgung eines solchen Beispiels ist, dass wir in dem, was uns weniger vertraut ist, Aspekte entdecken können, die unsere eigenen Reflexionen erhellen und neues Licht auf die aktuell diskutierten Phänomene bei uns werfen. D. h., ich möchte »die Anderen« nicht mehr nur als Forschungsobjekt betrachten, ich möchte auch über die Begrenzung der Übersetzungsdiskussion auf Übersetzung zwischen Kulturen – die Übersetzung »des« Anderen in »unseren« Kontext – hinauskommen. Und ich möchte das Konzept der Übersetzung aus der Fixierung auf die Frage der Repräsentation lösen. Mein Beispiel bezieht sich auf den Kampf um soziale Anerkennung durch Etablierung neuer sozialer – genauer: sozialethischer – Idiome. Ich 118

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entwickle hier einen Fall weiter, auf den ich in anderen Zusammenhängen und unter anderen Gesichtspunkten bereits eingegangen bin. Betroffene suchen nach einer Sprache, um ihr Anliegen, ihre Kritik an den bestehenden sozialen Verhältnissen und ihre Forderungen nach Wandel zu artikulieren. Ich begreife diese Sprache als ein drittes Idiom, d. h. ein Idiom, das bisher weder das der eigenen Gruppe noch das der Gegenseite war, von der man sich dominiert und unterdrückt fühlt. Als neues Idiom, das für diese Zwecke mobilisiert wird, ist es im Prinzip eines, das (zunächst) keiner Seite »gehört« und allen zugänglich ist.9 Das Idiom richtet sich nicht gegen die andere Seite als vielmehr an sie und an weitere Gruppen, wie es auch erlaubt, das eigene Selbst, kollektiv wie individuell, neu zu artikulieren. Der Fall, auf den ich mich beziehe, ist der der Dalit oder »Ex-Unberührbaren« in Indien. Ihre sozialen und politischen Bewegungen werden gemeinhin umstandslos als Widerstands- und Identitätsartikulationen gelesen. Dieses Interpretationsmuster wird auch den religiösen Bewegungen übergestülpt, die so charakteristisch für den Anerkennungskampf der Dalit sind. Eine solche Kategorisierung greift aber zu kurz. Übersehen wird der universalistische und damit inkludierende Charakter der bevorzugt gewählten Religionen und religiösen Idiome. Die Werte und Ziele, die verfolgt werden, beziehen die Anderen, die dominanten Gruppen, mit ein. Der Bezug auf transzendente Bedingungen der Existenz bietet eine Brücke für alle, wie er zugleich die wesentlich formalen Gleichheitsprinzipien im politischen Raum übersteigt. Dalits sind kulturell und sozial stark diversifiziert. Sie besaßen ihre spezifischen Traditionen, sprechen unterschiedliche Sprachen und kommen aus sehr unterschiedlichen regionalen Kontexten. Dalits haben aber in ihrer Geschichte, in verstärktem Maße seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, eine Vielzahl an Diskursen mobilisiert, um ihre Segregation und Zersplitterung zu überwinden und Anliegen, Forderungen und Kritiken – Kritiken von Ungleichheit und Hierarchie – zu artikulieren. Auf diese Weise versuchen sie seither, Andere innerhalb wie außerhalb ihrer Gesellschaft zu erreichen und anzusprechen, wie auch untereinander, über Gemeinschafts- und Kastengrenzen hinweg, eine gemeinsame Ebene der Verständigung zu finden.10 Die Tatsache, dass Dalit im städtischen Kontext oft eine Mehrheit der SlumBewohner ausmachen, erweitert die sozialen Dimensionen, über die verhandelt wird: ökonomische und politische Gleichbehandlung, Sicherung der Grundbedürfnisse, ja das simple Recht auf einen Platz, an dem man leben 9

Den Begriff »Drittes Idiom« habe ich zuerst in Fuchs (2001) vorgeschlagen und in Richtung eines intentionalen Übersetzungsmediums weiter entwickelt in Fuchs (2009); zu sozialen Bewegungen von Dalit s. Fuchs (1999). 10 Dass solche Diskurse, insbesondere solche religiöser Provenienz, oft wieder zu neuen Distinktionen und Zersplitterungen unter den Dalit geführt haben, ist teilweise als Fortsetzung früherer sozialer Mechanismen zu sehen. Zum anderen Teil ist dies dem Umstand geschuldet, dass solche »an sich« universalistischen Diskurse sehr schnell in die Falle der Identitätspolitik geraten. Um es ganz klar zu machen: Die Feststellungen zu differenztranszendierenden Tendenzen in den von Dalit verfolgten Diskursen fassen nur ein Moment ihrer Lebensformen und Lebensprojekte – disjunktive Momente sind, allein schon aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Hintergründe, gleichzeitig wirksam. Ich teile aber nicht die Neigung vieler Analysten, letztere alleine in den Vordergrund zu rücken.

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kann, in Ergänzung zu und als Spezifikation des grundsätzlichen Kampfes um interpersonale Anerkennung (Fuchs 2005). Im Kampf gegen Marginalisierung und Stigmatisierung11 beziehen sich Dalit bevorzugt auf universalistische Ideen und Idiome, religiöse wie säkulare. Zu den säkularen gehören Zivil- und Menschenrechtsdiskurse, die Reklamation von (szientistischer) Rationalität, die Berufung auf Fortschritt, Modernisierung und sogar Industrialisierung. Zu den religiösen gehören Islam, Christentum, die anti-hierarchischen Strömungen im Hinduismus (sant oder nirguna bhakti) und, hier im Vordergrund, Buddhismus. All diese Universalismen wurden in den verschiedenen sozialen Bewegungen der Dalit seit der Mitte des 19. Jahrhunderts herangezogen, einige auch schon in vorkolonialer Zeit. Sie sind im doppelten Sinne universalistisch: Sie betonen zum einen auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher Gewichtung Werte wie Menschlichkeit, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Gerechtigkeit, Mitgefühl, Vernunft, Fortschritt etc. Zum anderen, und dies ist hier wichtig, transzendieren sie die gegebenen partikularistischen – eigene wie fremde, subalterne wie hegemoniale –Diskurse. Auch diese würde ich als eine universalistische Tendenz bezeichnen, wenn auch in einem anderen Sinne als im Fall der Wertideale. Es war aus diesem Grund, dass ich vorgeschlagen habe, von einem »dritten Idiom« zu sprechen. Handelt es sich hier doch um den Versuch, das eigene Anliegen in eine Sprache zu übersetzen, die sich an jeden wendet, allgemein zugänglich ist und ohne guten Grund von niemandem abgewiesen werden kann. Transzendiert werden nicht nur die partikularistischen Idiome der eigenen Kultur/Gemeinschaft/Kaste, sondern auch die ausgrenzenden Diskurse der dominanten »Anderen«, somit die Diskurse beider Seiten, die sich in dieser Situation gegenüberstehen. Die Aufforderung an die dominanten Anderen – die höheren Kasten und die Mittelklasse – besteht darin, auf die Botschaft der Dalit zu hören, ihre allgemeinen Geltungsansprüche anzuerkennen und Schritte zur Beendigung sozialer, ökonomischer und politischer Diskriminierung zu unternehmen. Die Aufforderung an die dominanten Gruppen ist, sich gegenüber denen, die ausgegrenzt und verachtet werden, zu öffnen und eine neue Gemeinsamkeit – eine gemeinsame Lebensform – zu finden. Das »dritte Idiom« will die sozialen Existenzbedingungen selbst verändern. In letzter Instanz richtet es sich nicht nur an die anderen Mitglieder der eigenen Gesellschaft, sondern an die Menschheit im Ganzen, formal heute v. a. repräsentiert durch die UN und deren Menschenrechtsforen wie auch die buddhistischen Weltverbände. Das beste Beispiel für ein solches Idiom ist der Buddhismus in der Form, in der er von Babasaheb Dr. Bhimrao Ambedkar neu ausgelegt wurde (Ambedkar 1992 [1957]).12 Seit dem ersten Massenübertritt zum Buddhismus am 14. Oktober 1956, noch von Ambedkar selbst organisiert, der dann wenige Monate später starb, hat der Buddhismus in Indien speziell unter Dalit eine 11 Es bleibt zu berücksichtigen, dass es sich bei den Diskursen, die im Folgenden erörtert werden, zwar um Versuche handelt, grundlegende diskursive Praktiken zu verändern, sie aber bisher nicht die institutionelle Tiefe und Festigkeit der kritisierten Diskurspraktiken erlangt haben. 12 Eine detaillierte Analyse des Ambedkarschen Buddhismus-Verständnisses findet sich in Fuchs (2001).

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wachsende Resonanz gefunden, beschleunigt seit den 1990er Jahren.13 Kennzeichnend sind die Betonung der Notwendigkeit einer sozial-ethischen Grundlage für die Gesellschaft sowie der Modernismus des Buddhismus, etwas, das in den Äußerungen vieler Anhänger dieser Richtung des Buddhismus reflektiert zu finden ist.14 Ambedkar sieht den Buddhismus als Ausdruck des eigentlichen Kerns aller Religion, als »elementare« Religion: zentrale Botschaften sind der soziale Respekt der Gesellschaftsmitglieder füreinander, die Vermeidung von allem, was anderen Leid zufügt, Gerechtigkeit und Mitgefühl. Buddha sei der erste gewesen, der die Ideen, die wir als Kern moderner Sozialideen sehen – Freiheit, Gleichheit, Solidarität, auch Gerechtigkeit und Mitleid –, formuliert habe. Ambedkar bestreitet in seiner Buddhismus-Auslegung sowohl die Existenz eines Gottes als auch die Existenz einer »Seele« und damit auch die Vorstellungen von Wiedertod und Wiedergeburt. Für ihn sind karma-Regeln Ausdruck einerseits naturwissenschaftlicher, andererseits moralischer Kausalitäten. Sie sind also nicht auf ein Jenseits gerichtet. Buddhismus beruhe auf Einsicht (er sei also keine »Erfindung«), auf der Entdeckung der Grundlagen menschlicher Existenz, und Buddha habe seinen Anhängern anheim gestellt, die Aussagen oder Dogmen seiner Lehre zu revidieren, wenn die Zeiten sich ändern und die Umstände dies erforderlich machen sollten. Ambedkar, dessen Ideen in bestimmten Punkten wohl nicht zufällig den Gedanken John Deweys ähneln, der in New York einer seiner Lehrer war, betont die neuen Möglichkeiten, die sich aus dem Gegebenen entwickeln lassen: »being is becoming« (Ambedkar 1992: 240). Diese possibilistische Position wird von Ambedkar aus dem buddhistischen Konzept von sunnata/sunyata abgeleitet, das für ihn auf die Emergenz aller Existenz hinweist: »It is on the impermanence of the nature of all things that the possibility of all other things depends« (ebd.: 241). Ambedkar beschwört nicht einfach das Faktum permanenter Veränderung oder gar ein Konzept von Entwicklung mit einem vorgegebenen Ziel. Der Optimismus möglicher neuer Entwicklungen lässt die Entwicklung vielmehr offen: Die Möglichkeiten, die sich zeigen, die latent existieren, müssen von Menschen aufgegriffen, formuliert und entfaltet werden. Gleichzeitig spart diese selbstbezügliche Reflexivität sich selbst, die instituierte Religion, nicht aus, sondern bezieht sie in den Veränderungsprozess mit ein. Es kommt in dieser Buddhismus-Auslegung eine ausgesprochen selbstreflexive Konzeption von Religion zum Tragen. Die Zulassung von Zweifel und die Bereitschaft zur Revision von Dogmen bezeugen extreme Modernität: Vertrauen in die Selbstkonstitutionsfähigkeiten der Menschen auch im Angesicht der Transzendenz. Man kann Ambedkars Buddhismus-Konzept als Entwurf einer Zivilreligion verstehen, die Werte nicht einfach vorgibt oder oktroyiert, sondern sie reflexiv, d. h. durch Einsicht zu etablieren sucht und um Werte ar13 Der Prozess stagnierte in den 1970er und 1980er Jahren. 14 Für mich zeigte sich die Verbreitung dieser Ideen in vielen Gesprächen mit buddhistischen Dalit in Dharavi, dem prominentesten »Slum« Bombays, über die letzten zehn Jahre. Zuletzt hat dies M. T. Joseph (2009) in einer Studie über Buddhisten in Aurangabad hervorgehoben. Seine Befunde zeigen auch die Zunahme spirituell-meditativer Tendenzen unter den Anhängern des neuen buddhistischen Weges sowie Reste hinduistischen Glaubens bei einigen anderen.

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gumentativ streitet – Ausdruck der Einsicht in die Spannung zwischen transzendenter Gegebenheit von elementaren Bedingungen humaner Existenz und situationaler Fortentwicklung dieser Voraus-Setzungen (Fuchs 2001).

III. Ambedkar und die ihm folgende Bewegung bedienen sich mit dem Buddhismus einer »Ressource«, die allgemein verfügbar ist und Differenzen zwischen Menschen transzendiert, ohne eine strenge Ontologie, ein Gottesbild oder eine rigorose rituelle Praxis vorzugeben. Ein interessanter Aspekt ist die Frage, warum das neue Idiom ein religiöses sein soll und ein säkulares – säkular im westlichen Sinne – nicht ausreicht.15 Es scheint, dass die moralischen Grundlagen sozialer Koexistenz für Ambedkar transzendentale Gegebenheiten oder Bedingungen darstellen, die nur eine Religion – allerdings eine ganz und gar »rationale« wie der Buddhismus – erkennen und berufen kann.16 Es scheint, dass eine rein säkulare Formulierung dieser Ideen diese ganz ins Belieben der Menschen stellen und damit auch die Option eröffnen würde, diese Ideen zu ignorieren. Es scheint zugleich so, als ob eine rein formale Fassung der grundlegenden universellen Werte Ambedkar nicht ausreichte. Eine Konzeption wie die buddhistische bietet einen exemplarischen Lebenspfad und ist gekleidet in eine spezifische Metaphorik, die die abstrakten Ideale füllt und überhaupt erst verstehbar macht.17 Allerdings begleitete auch Ambedkar sein religiös-ethisches Projekt durch ein politisches und juristisches, in Gestalt einer sozialen Bewegung und von Interventionen in den indischen Unabhängigkeitsprozess sowie der Aufnahme von Menschenrechten, der »Abschaffung« von Unberührbarkeit und der Verankerung von affirmative action in der indischen Verfassung.18 Rechte aber stellen Minimal15 Im indischen Kontext selbst wird »säkular« als Äquidistanz speziell des Staates gegenüber allen Religionen verstanden. Religion wird in diesen indischen Diskursen also nicht negiert. 16 An mehreren Stellen konzipiert Ambedkar Buddhismus nicht als Religion, sondern in Opposition zu Religion(en) im gängigen Sinne. Der Buddhismus sei sozial und Moral sei der Kern des buddhistischen dhamma (der vorgegebenen ethischen Ordnung, die die Grundvoraussetzung menschlicher Sozialität bildet), während Religionen etwas Persönliches seien und im Glauben an Gott gründeten (Ambedkar 1992: 316, 322): »The purpose of Religion is to explain the origin of the world. The purpose of Dhamma is to reconstruct the world« (ebd.: 322). 17 Dies unterscheidet das Ambedkarsche Projekt grundlegend von demjenigen John Deweys (Dewey 1962). Dewey propagiert die Idee einer »säkularen Religion«, die sich in intersubjektiver Kommunikation äußert, wie sie in vollendeter Form in der modernen Demokratie institutionalisiert ist. Dies sei zugleich der implizite rationale Kern aller Religion (»the common faith of mankind«). Religion nach Deweys Verständnis meint einen kontinuierlichen kreativen Prozess der Idealisierung kontingenter Möglichkeiten. Eine solche Religion jenseits jeglicher Dogmen und damit ohne eigene religiöse Sprache erscheint jedoch abstrakt und leer und sozial nicht vermittelbar (siehe hierzu Joas 1997; Fuchs 2001: 261f.). 18 Insbesondere die Reservierung von 15 % der Parlamentssitze und 15 % der Stellen im öffentlichen Dienst für »scheduled castes«, d. h. »Ex-Unberührbare«. Ambedkar stand

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bedingungen dar und lassen sich bestenfalls einklagen, sie geben von sich aus keine Orientierung und Motivation. Die Übersetzung der Erfahrungen und Perspektiven von Dalit in die Sprache des Buddhismus hatte eine enorme Wirkung auf diejenigen Dalit gehabt, die sich der buddhistischen Bewegung anschlossen: ein »empowerment«, das die Wirkung des Übertritts zum Islam oder Christentum oder der Mitgliedschaft in einer der anti-hierarchischen Sekten des Hinduismus im modernen Kontext weit übersteigt. Die Übersetzung in die religiöse Sprache des Buddhismus veränderte das öffentliche Auftreten und das Selbstbewusstsein vieler Anhänger. Nur wenige Jahre nach der ersten Konversionswelle und nach dem Erscheinen von The Buddha and His Dhamma (1957) fühlten sich Dalit, die nie zuvor publiziert hatten und vielfach zur ersten DalitGeneration gehörten, die überhaupt schreiben und lesen konnte, in der Lage, ihre Erfahrungen tiefster Erniedrigung, die sie als »unrein« stigmatisierte, öffentlich zu artikulieren. Es erschien in schneller Reihenfolge eine große Zahl von Dalit-Autobiographien, von Gedichten mit oft drastischer, anklagender und manchmal aggressiver Sprache, sowie von Kurzgeschichten.19 Viele Dalit, insbesondere Angehörige der Mahar-Kaste, der auch Ambedkar angehörte, begannen auf moderne Bildung zu setzen und strebten gegen viele Widerstände Karrieren im modernen Sektor an. Verstärkt wurden auch öffentliche Aktionen organisiert. Der öffentliche Diskurs war spätestens seit den 1990er Jahren gezwungen, den Dalit-Anliegen zumindest pro forma einen größeren Platz einzuräumen und eine gewisse Zahl von Dalit in politischen Ämtern zu akzeptieren. Eine Dalit-Partei, die Bahujan Samaj Party, wurde in den letzten Jahren auch in Wahlen, insbesondere in Uttar Pradesh, zunehmend erfolgreicher. Sie schaffte es bei einigen Wahlen, Wählerunterstützung auch von anderen sozialen Gruppen, inklusive Brahmanen und Muslime, zu gewinnen.20 Die größere Akzeptanz von Dalit und die damit einhergehende Vergrößerung ihres Spielraums ist allerdings immer noch ein vorwiegend städtisches Phänomen, während in vielen ländlichen Kontexten das Geltendmachen von Rechten und Ansprüchen auf Anerkennung mit zunehmender und oft brutaler Gewalt beantwortet wird. Sehr wenige Nicht-Dalit haben sich der neuen Form des Buddhismus angeschlossen. Zum einen hängt dies mit der Organisationsform dieser Richtung des Buddhismus zusammen, die von Laien getragen wird. Die wichtigsten Institutionen sind Nachbarschafts-»Tempel« oder -Versammlungsräume. Zum anderen ist Buddhismus zu einem Identitätslabel geworden, das für »Dalit« steht und mit dem sich andere nicht idender Kommission vor, die den Text der indischen Verfassung entwarf, die am 26. Januar 1950 in Kraft trat. 19 Dalit Sahitya – Dalit-Literatur. Verleger zu finden war für Dalit besonders am Anfang schwierig. Das Verfassen von Autobiographien ist an sich schon ein beachtenswertes Phänomen, sind Autobiographien doch kein klassisches indisches Genre. Eine der prominentesten Autobiographien, Daya Pawars Balute, erschien 1988 in deutscher (allerdings nicht immer zufriedenstellender) Übersetzung (s. Fuchs 1997). 20 Gandhis Einsatz für die »Unberührbaren« in den 1930er Jahren fand zwar Resonanz unter überzeugten Anhängern, wurde und wird aber von vielen Dalit als Bevormundung empfunden, kamen Dalit bei Gandhi doch nur als Objekte und nicht als Subjekte der Emanzipation vor (s. u. a. Parekh 1999: 268).

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tifizieren mögen. Außerdem sind die meisten der Nicht-Dalit-Intellektuellen, die Respekt für den neuen Buddhismus äußern, selbst eher areligiös. Wenn man von dem vergleichsweise kleinen Teil der Nicht-Dalit absieht, die das Anliegen der Dalit teilen, so fehlt bei vielen anderen weiterhin ein tatsächliches Engagement für ihr Anliegen, würde dies doch einen Verzicht auf Diskriminierung und stattdessen gelebte Anerkennung implizieren. In den veröffentlichten Diskursen ist es kaum mehr möglich, die Stigmatisierung von Teilen der Bevölkerung explizit zu vertreten. Im Alltag aber bestehen Stigmatisierungen und Diskriminierungen fort, in zum Teil veränderter Form, und es ist auf der Ebene sozialer Interaktion noch immer eine Haltung sehr verbreitet, die Dalit den vollen Respekt als Mitmenschen verweigert.

IV. An dieser Stelle sollen nicht die Einzelheiten des buddhistischen Projekts diskutiert werden. Stattdessen ist von Interesse, was eine intentionale Übersetzung in ein drittes Idiom, wie im vorliegenden Beispiel, über die Frage von Kontinuität und Diskontinuität von Bedeutungen und Kontexten aussagt. Die Fragen, die sich für mich ergeben, möchte ich in vier Punkten zusammenfassen. (1) Übersetzung in ein anderes Idiom ändert Menschen wie Kontext, wenn sie weite Ausstrahlung und Überzeugungskraft hat. Das eigene Selbst und das eigene Anliegen wie auch die Haltung gegenüber Anderen, d. h. die Vorstellungen von Sozialität, in eine (andere) sozialethische Sprache zu kleiden heißt, Selbst wie Weltverhältnis neu zu artikulieren. Annahmen über Gleichheit, Respekt und menschliche Würde, die zuvor in eher verhaltener, defensiver Weise existierten oder von anderen Diskursen überlagert waren, erhalten durch eine effektivere Sprache neue soziale Macht. Es sind weder der »Wandel der Verhältnisse« noch die Erfahrungen des Kampfes in Form einer sozialen Bewegung allein, die Menschen ändern. Umgekehrt kann auch die Art des Selbstausdrucks, die Artikulation der eigenen Vorstellungen in einem neuen Idiom, Veränderungen der Situation – Selbstwandel und gesellschaftlichen Wandel – auslösen. Das neue Idiom rückt die Verhältnisse und das Selbst in ein neues Licht. Hieraus folgt für die Forschung, dass sie sowohl die Umstände der Etablierung einer neuen Sprache wie auch die Arena, in der sie zum Tragen kommt, also ihre Wirkungsbreite und -tiefe als auch die expressive hermeneutische Kraft einer Sprache neu bedenken muss. Für den hiesigen Zusammenhang sind dabei nicht nur der betonte Universalismus der gewählten Sprache und die Ansprache eines gegenüber dem ursprünglichen Lebenskontext der Protagonisten stark erweiterten Publikums wichtig. Von grundsätzlicher Bedeutung ist auch der projektive Charakter dieser Art von Übersetzung, und zwar projektiv im Sinne von Entwurf, Vorhaben, Ziel: das Aussenden einer »Botschaft«. Es handelt sich um das Projekt, mit den Mitteln der Übersetzung sich selbst und die Gesellschaft zu transformieren und transzendieren: sich selbst und die Beziehungen zu Anderen neu zu übersetzen. Attackiert werden tiefsitzende Überzeugungen (eingeschrieben in Diskurse) der personalen Entwertung auf der eigenen Seite, die die gleichzeitig vorhandenen universalistischen Überzeugungen überdeckten, 124

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wie auch die Praktiken und Diskurse der Diskriminierung auf der anderen Seite. Herausgestrichen werden die inhärenten Momente von Menschlichkeit, die allen immer schon eignen, bisher allerdings hinter den kulturellen Praktiken verborgen geblieben sind. (2) »Übersetzung« heißt dann hier, paradox formuliert, sich und seine Welt »neu« machen. Doch diese dezidierte Diskontinuität setzt Kontinuität voraus, in zumindest impliziter Form, unterhalb der Schwelle offizieller Diskurse. Kontinuität liegt nicht nur in der Humanität, die auch Dalit immer schon für sich selbst beansprucht haben. Kontinuität liegt vielmehr auch darin, dass noch im Versuch der Überwindung die diskriminierende Differenz, das Stigma, das überwunden werden soll, weiter mitklingt und in den Augen von Leuten, die den Dalit keine Sympathien entgegenbringen, weitere Bestätigung findet. Ist die gewandelte, neu inszenierte Identität dann »die eigentliche« Identität, die schon vorher, wenn auch vor Anderen teilweise verborgen, vorhanden war? Oder ist die eigentliche Identität die ursprünglich für alle sichtbare? Wirkt die dominante alte Identität in der neuen als »anstößiger« Hintergrund weiter? Soziale wie personale Identität artikuliert sich nicht nur in Andersheit gegenüber Anderen, sondern auch in Andersheit sich selbst gegenüber: Sie ist mit identitätslogischen Mitteln nicht mehr zu fassen. (3) Übersetzungstechnisch (wenn man im Fall sozialer Diskurse überhaupt von einer Technik des Übersetzens sprechen kann) ist der Status der verwendeten Diskurse zu bedenken. Damit ist auch die Frage ihrer Kontinuität verbunden: Sind Diskurse wie der des Buddhismus oder der Menschenrechte oder sind Momente dieser Diskurse auf einer bestimmten Ebene als »(frei) flottierend« und damit für jeden abrufbar zu begreifen? Sind bestimmte Diskurse oder bestimmte diskursive Momente also nicht in demselben Sinne kontextgebunden wie andere, gesellschafts- oder epochenspezifische Diskurse und insofern breiter zugänglich? Anders gefragt: Repräsentieren sie mögliche menschliche Ausdrucksformen, die ein oft vernachlässigtes kontexttranszendierendes Potential besitzen, das unter bestimmten Umständen von neuen Akteuren auf neue Art aufgeschlossen werden kann? Diskurse bieten ein bestimmtes Interpretationspotential und können Denken und Handeln orientieren (eventuell sogar kanalisieren), aber sie müssen zuerst aufgesucht und erschlossen, und damit auch in bestimmter Weise instituiert werden. Wie es scheint, gibt es Kulturelemente, die nicht auf Lokalität und ethnische Identität und damit auf eine bestimmte »Kultur« beschränkt sind, sondern von unterschiedlichen Menschen abgerufen und angeeignet werden können – und die in diesem Akt der Neuartikulation wiederum verändert, d. h. neu interpretiert werden. Die Schwierigkeit, diese Möglichkeit zuzulassen oder auch nur zu denken, liegt darin, Kontexttranszendenz nur kontextimmanent formulieren zu können. Jede Artikulation von Allgemeinem und Universalem ist selbst partikularistisch und kontextbezogen. Soziale Akteure interagieren durch und mit Sprache und Diskursen. Einerseits gilt, dass Diskurse Welten – Denk- und Sagbares – begrenzen. Andererseits erweitern Akteure (im hiesigen Beispiel Ambedkar und die Buddhisten, die seiner Interpretation folgen) die Grenzen von Diskursen. Dies geschieht aber nicht völlig beliebig. Es gibt diskursive Zwänge, den Eigensinn und die Metaphorik eines Diskurses, welche begrenzen, was mit einem Dis125

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kurs angestellt werden kann. Wie die Positionen von solchen Buddhisten zeigen, die der Ambedkarschen Version den buddhistischen Charakter absprechen (keine allgemein verbreitete Position), sind Form und Ausmaß der Kontingenz zugleich sozial strittig. Zur Diskussion steht also die Frage von Kontinuität oder Diskontinuität von Diskursen. In welchem Verhältnis zueinander stehen beide Aspekte? Lässt sich das Moment der Kontinuität eines Diskurses wie des buddhistischen als Teil der »Wirkungsgeschichte« einer Tradition interpretieren? Es kann sich in diesem Fall nicht um das Einrücken in einen Traditionszusammenhang der indischen Zivilisation handeln. Die buddhistische Tradition, wiewohl indischer Herkunft, war im größten Teil Indiens viele Jahrhunderte vorher abgebrochen.21 Die Wirkungsgeschichte des Buddhismus in diesem Beispiel ergibt sich aus seiner Neuentdeckung und Umformulierung. Ambedkar erlaubte sich Eingriffe in zentrale Dogmen des buddhistischen Diskurses, die selbstverständlich auf den Widerstand anderer Buddhisten stießen.22 Sein Erfahrungshintergrund drängte ihn dazu, das zu verändern, was in dem aufgenommenen Diskurs nicht plausibel schien. Andererseits ist gerade dies Ausdruck davon, wie grundsätzlich Ambedkar sich auf den Buddhismus einließ und wie intensiv er sich mit ihm auseinandersetzte, um der eigenen Lebenssituation aus diesem Bedeutungssystem heraus neuen Sinn zu verleihen. Ambedkar schrieb die Lage der Dalit in den Buddhismus ein. Eine ältere Tradition (Diskurs) mag den transzendenten Rahmen bilden, in den man einrückt, sie ist zugleich aber etwas, das nur durch eine solche Artikulation existiert und eventuell neu belebt wird. (4) Deutlich wird an diesem Beispiel auch, dass wir es mit einer mehrschichtigen kulturellen Realität zu tun haben. Sichtbar werden nicht nur die Vielfalt an sozialen Diskursen und Idiomen, die einander direkt beeinflussen, und die facettenreiche agency der Interpreten, sondern auch eine Vervielfältigung und Ausweitung der Kontextebenen. Kontexte sind Horizonte, deren genaue Bestimmung von den Selektionskriterien der Akteure und Interpreten abhängt (Dilley 1999). Dennoch oder gerade deswegen macht es Sinn, mehrere gleichzeitig vorhandene Kontexte und Horizonte zu unterscheiden – in unserem Beispiel etwa den gruppenspezifischen, den gesellschaftspolitischen sowie den globalen des internationalen Buddhismus. Zugleich konstituieren Diskurse selbst wiederum Kontexte. Die als drittes Idiom gewählten Diskurse schaffen Brücken zwischen kulturellen und sozialen Kontexten, genauso wie sie selbst erweiterte Kontexte für Akteure konstituieren, welche unterschied21 Es ist allerdings möglich, dass buddhistische Ideen in dieser Zeit, auch gerade unter Angehörigen niedriger sozialer Statusgruppen, teilweise transformiert und verknüpft mit anderen Ideen weitergewirkt haben (vgl. z. B. Vaudeville 1974: 81-89). 22 Ambedkar bestritt die Gültigkeit von Aspekten des Buddhismus, die gemeinhin als kanonisch gelten. So hält er die Erklärung für Buddhas Wahl des Asketenlebens – dass er diesen Schritt vollzog, als er einen Toten, einen Kranken und eine alte Person gesehen hatte – für unglaubwürdig, da er wie jeder andere längst vorher in seinem Leben solches erfahren haben musste. Ambedkar entwickelt eine andere Erklärung. Ebenso bestreitet er, dass die Vier Edlen Wahrheiten die Existenz, den Ursprung, die Überwindung von Leiden und den Weg zur Überwindung betreffend Teil der ursprünglichen Lehre Buddhas waren, da diese Wahrheiten Menschen die Hoffnung nehmen würden (Ambedkar 1992: Introduction).

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liche (lokale) Aneignung erlauben. Man könnte dies kontexttranszendierende Kontexte nennen (Fuchs 2009: 35). Es handelt sich um eine Ausweitung des Handlungs- und Lebenskontextes, der Situation, über das »Unmittelbare« hinaus, und dies durch die Akteure selbst: Die »ostentativen« Bezüge des Gesagten oder des noema (Ricoeur 1978) transzendieren das unmittelbar Gegebene.23 Fasst man diese Überlegungen zusammen, so zeigen sich innerhalb der Diskontinuität des Übersetzten in mindestens zweierlei Richtung Kontinuitäten: (a) Kontinuitäten der Ausgangsproblemlage, die neu übersetzt wird, in der transformierenden Übersetzung und durch diese hindurch; (b) Kontinuitäten der Übersetzungssprache, des dritten Idioms, das sich, aus Altem schöpfend, radikal neu konstituiert, aber alte Bedeutungskonzepte mitbringt und fortschreibt. Zugleich verlieren Situation und Kontext ihre Eindeutigkeit, denn auch sie sind mehrschichtig und mehrdimensional.

V. Übersetzung ist gekennzeichnet durch eine inhärente Spannung, wenn nicht einen inhärenten Widerspruch: Übersetzung artikuliert Differenz, führt abweichende Ideen und Fakten in den Zielkontext ein und stellt zugleich einen Versuch dar, Differenz zu überwinden (der Versuch, was anders ist, in einem neuen Kontext verständlich zu machen und in diesen einzubeziehen): »The challenge for translation is that it must convey simultaneously both difference and similarity of meaning« (Yengoyan 2003: 41). Ist dies allein schon schwierig im wissenschaftlichen Diskurs zu vermitteln, so ist es noch schwieriger, ein Verständnis hierfür unter gesellschaftlichen Akteuren zu finden. Übersetzung erreicht nicht immer ihr Ziel. Übersetzungen und ihre Sprache (hier das buddhistische Idiom) werden nicht überall angenommen. Der größere Teil der breiteren Öffentlichkeit, auf die der buddhistische Diskurs ebenso zielt wie auf die von Diskriminierung unmittelbar Betroffenen (und damit gleicht er dem sozialethischen Diskurs Gandhis), vermeidet ein Engagement. Manche lehnen die soziale Anerkennung der Dalit weiterhin ab. Viele akzeptieren diese als im Grundsatz notwendig, weichen aber den praktischen Konsequenzen, insbesondere der sozialethischen Diskussion, aus.24 Die traditionelle Übersetzungsdiskussion thematisiert zu wenig, dass auf der empfangenden Seite, der Seite des Zielkontexts, Bereitschaft zum Empfang der Botschaft bestehen muss. Vermittlung, Übersetzung und Transdiffe-

23 Es handelt sich hierbei ausdrücklich nicht um Ricoeurs allgemeine, Kontexten enthobene Bedeutungen, sondern um erweiterte Bedeutungen und Weltbezüge, die von den Handelnden selbst hergestellt werden. Die weiteren Weltbezüge sind Teil der Situation der Akteure und insofern ebenfalls »ostentativ«. 24 Gandhis Versuch einer Überwindung der Diskriminierung der Dalit, von ihm Harijan genannt, erfuhr ein vergleichbares Schicksal (Parekh 1999: 258, 266), wenn auch der Ansatz ein völlig anderer war. Für Gandhi blieben Harijan noch im Versuch, sie sozial anzuerkennen, abhängig von der Bereitschaft zu ethischer Großzügigkeit seitens der Mitglieder höherer Kasten.

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renz sind nicht nur durch die schlichte Existenz von Differenz(en) und den Versuch ihrer Anerkennung und/oder Überwindung konditioniert. Es kann auch nicht einfach darum gehen, Grenzen zwischen Differentem (z. B. differenten Kulturen) erkennbar zu machen, zu respektieren und nebeneinander bestehen oder sich überschneiden zu lassen. Es zeigen sich in vielen Konstellationen nicht bloß Schwierigkeiten angemessener Vermittlung oder Übersetzung, sondern auch der mangelnde Wille, auf Andere und Anderes zu hören – auf das Neue, Differente, Relativierende, Kritische, das sich hier zeigt, aber auch auf das Gemeinsame, auf das sich Andere berufen, das Moment der Identität mit dem Eigenen. Diese Weigerung, sich auf Andere und Anderes einzulassen, ist natürlich von Interessens- und Machtkonstellationen bedingt. Aber es zeigt sich hier auch die Schwierigkeit, eine tief verwurzelte Diskurspraxis von außen aufzubrechen. Breschen sind geschlagen, die offene Rechtfertigung und Legitimation von Diskriminierung im Sinne des alten Diskurses ist unter dem Ansturm universalistischer Kritiken nicht mehr möglich oder opportun, aber dieser Diskurs zeigt dennoch große Resistenz. Überzeugungen natürlicher Ungleichheit lassen sich nur langsam beseitigen. Es können vier Möglichkeiten ausgemacht werden, Differenz übersetzungstechnisch »einzubeziehen«: (1) Subsumption unter vertraute, eigene Kategorien; (2) Anderes als Spiegelbild des Eigenen zu behandeln, meist in Form von Instrumentalisierung des Anderen (damit ebenfalls Reduktion des Anderen auf die eigenen Koordinaten); (3) Kontext- und Horizonterweiterung, verstanden als Erweiterung des Bekannten oder Eigenen (wodurch Differenz ebenfalls zum Verschwinden gebracht wird); (4) den Zielkontext, wie auch den Ausgangskontext zu »verfremden«, zu dezentrieren, zu »brechen« – den Akzent also auf den nicht-identischen Charakter des Neuen zu legen. Gesellschaftlich betrachtet treten alle vier Möglichkeiten in Kombination oder Mischung auf. Soziologisch gesehen ist die vierte Möglichkeit aber lange Zeit übersehen worden. In vielen Fällen von Übersetzung ist ein tertium comparationis nicht immer sofort gegeben, sondern muss erst gesucht werden. Nicht immer auch ist eine solche Suche erfolgreich, oder es wird dieses verbindende Dritte nicht von allen Beteiligten gleich verstanden. Wir haben es mit kontextuell komplexen, vielschichtigen Prozessen der Artikulation, Aufnahme, Vereinnahmung, Erweiterung und Veränderung der Anfangsbzw. Ausgangssituation und der Zielkonstellation zu tun. Große Übersetzungsprojekte, wie das der Einführung eines dritten Idioms, sind vor diesem Hintergrund zu sehen: Sie entwickeln Neues als zugrunde liegendes Gemeinsames und gleichzeitig Anderes.

VI. Was auch bei diesem Beispiel deutlich wird ist die Relativität von Differenz. D. h., Differenz (wie auch différance) sollten wir nicht »verabsolutieren«. Differenz macht Sinn, und Differenz hat einen sozialen Effekt nur vor dem Hintergrund von Kontinuität. In der Sprache moderner Paradoxien ausgedrückt: auf dem Hintergrund der Kontinuität des Diskontinuierlichen. Hier kommt die Unterscheidung, die am Anfang gemacht wurde, zwischen analytischer und Akteursperspektive wieder zum Tragen: Während postmoderne und postkoloniale Denker wie auch ein Teil der Kulturanthropologen aus 128

Diskontinuierliche Prozesse

gutem Grund den Blick auf Bruchstellen und Dissonanzen im Bereich des Kulturellen, auf Diskontinuitäten und Differenzen richten, suchen soziale Akteure (Sozial- und Kulturwissenschaftler sowie Philosophen eingeschlossen) nach sozialen Diskursen und Referenzrahmen für Verstehen und Verständigung, die ihnen (uns) entsprechen, die ihrer (unserer) Interpretation einen Anker geben und die Verständigung mit anderen kanalisieren. Dies unterstellt ein bestimmtes Maß an Kontinuität, d. h. an »Identität« der Bedeutungssysteme und der Personen – mehr noch, in sozialen Kontexten werden solche Kontinuitäten und Identitäten geradezu betont. Dies wäre denn auch analytisch anzuerkennen, im Sinne etwa des Handlungsanschlusses zwischen Bereichen oder Sphären, ähnlich wie es in Joachim Renns Konzeption (alltäglicher) sozialer Praxis impliziert ist (Renn 2006: 178f. et passim). Es mag vielleicht sogar möglich sein, in diesem Zusammenhang Anregungen aus der buddhistischen philosophischen Tradition aufzugreifen, etwa Überlegungen zur Gleichzeitigkeit von Nicht-Identität und Identität, von Ursache und Wirkung wie zu Kontinuität als Kette von Impulsen. Ein Grund, warum wir womöglich Schwierigkeiten haben, die Idee der Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität, Identität und Differenz kognitiv zu akzeptieren, ist, dass wir dazu tendieren, verschiedene Haltungen zu unserem Gegenstand zu vermengen bzw. zwischen verschiedenen Haltungen zu wechseln und letztlich die Unterschiede zu verwischen. Diese Haltungen verweisen aber auf unterschiedliche Handlungskontexte: Im unmittelbaren Handlungskontext zählt der unmittelbare Handlungsanschluss. Dies gilt auch für die explizite Übersetzung, geschieht sie doch mit spezifischer Absicht. Dies erlaubt Akteuren, von einer gewissen Beständigkeit von Bedeutungen auszugehen und Differenzen identitätslogisch zu vereinnahmen. Aus der Vogelperspektive gesehen, auf Handeln schauend und über Handeln reflektierend, erkennen wir dagegen die Multidimensionalität einer Situation und gelangen zu epistemologischen und ontologischen Fragen nach Brüchen in der Identität und Kontinuität des Objekts. Eine Theorie der Übersetzung oder eine Theorie der Transdifferenz können ihr Objekt aber nicht auf der Metaebene verorten. Die Metaebene, auf der sowohl die Koexistenz als auch die Spannungen und Paradoxien der Differenzen sichtbar werden, ist nur vorstellbar als eine reflexive Ebene, die im Prinzip jeder soziale Akteur einnehmen kann.25 Sie kann uns eine ethische Haltung lehren – Gelassenheit, Hinhören, Verhandeln –, die auch im Alltagshandeln das Leben und Lebenlassen, das Aushalten von Widersprüchen, indirekt begünstigen kann.26 Sie kann aber Handeln nicht ersetzen, das unmittelbar entscheidungsorientiert ist und damit situations- und kontextbezogen bleiben muss. Damit werden Differenzen zunächst immer nur als Widerständigkeiten sichtbar und nur auf dem 25 Man kann dies als eine Kombination von Gedanken Bourdieus und Giddens’ lesen: Während ich den Gedanken des »scholastischen« oder theoretischen Bruchs mit der sozialen Praxis akzeptiere, wie ihn Bourdieu immer wieder vorgetragen hat, bestehe ich gleichzeitig darauf, dass Reflexivität und Theoretisierung allen Menschen möglich und Teilmoment aller sozialen Praxis sind, im Sinne von Giddens’ »diskursivem Bewusstsein« wie auch im Sinne seiner Konzeption reflexiver Selbststeuerung und Selbstbeobachtung (monitoring) von Handlungen (Giddens 1988). 26 Was nicht dasselbe ist wie Relativismus oder Akzeptanz unethischer Handlungsweisen: Es verlangt eine erweiterte, differenziertere und selbstkritische Form von Ethik.

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Wege des Konflikts – eines interpretativen und/oder sozialen Konflikts – »integrierbar«.

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»Who’s speaking?« Kritische Überlegungen zum Verhältnis von Übersetzung und Selbstnarration JANNA LAU

Dieser kurze Beitrag will Martin Fuchs’ Überlegungen zur Übersetzung und Kommunikation in asymmetrischen Machtfeldern kritisch kommentieren und dadurch zum Weiterdenken dieser wichtigen gesellschaftlichen Problematik anregen.1 Bei der Frage nach dem Glücken oder Scheitern interkultureller Kommunikation geht es immer auch um den Übersetzungsbegriff sowie um seine wissenschaftliche Konzeption. Der Begriff der »interkulturellen Kommunikation«« wie auch der »Übersetzung« beinhalten die Konzeption einer Schwelle zwichen dem »Eigenen« und dem »Fremden« oder »Anderen«, die es über kommunikative Handlungen oder den Übersetzungsvorgang zu überwinden gilt. Dabei geht es um Fragen nach »Identität« und »Differenz«, die als Begriffe oft oppositional zueinander an die Kulturen oder sozialen Gruppen gebunden werden, die sich im Übersetzungsprozess gegenüberstehen. Durch diese konzeptionelle Operation werden diese Gruppen intern homogenisiert, die Differenz zwischen »Ausgangs-« und »Zielkontext« der »Übersetzung«, und dies scheint ganz zentral für die Konzeptionalisierung von Übersetzung, wird betont – eben als die Schwelle, die es durch Übersetzung als kommunikative Handlung zu überbrücken gilt. Würde man (intersystemische) Differenz nicht hervorheben, indem man interne Differenzen, Multidiskursivitäten und Pluralitäten zu stark betont, würde diese Schwelle der Differenz – die für den Übersetzungsbegriff notwendig zu sein scheint – in den multiplen, eben nicht binär oppositionell verstehbaren Differenzen verschwimmen. »Übersetzung« wäre infolgedessen weder als pragmatische Operation durchführbar noch als theoretischer Begriff von allgemeinen kommunikativen Handlungen abgrenzbar. Um von »Übersetzung« oder »interkultureller Kommunikation« aus einer epistemologischen Perspektive sprechen zu können, scheint also die – wie auch immer geartete – Homogenisierung von »Ausgangs-« und »Zielkontext« sowie (zunächst) zutreffende Annahmen von bipolarer (kultureller) Differenz notwendig. Auch wenn Fuchs diese Homogenisierung kontinuierlich 1

Die folgenden Überlegungen basieren auf meiner Respondenz, die am 7. November 2008 auf den Vortrag von Martin Fuchs mit dem Titel »Soziale Botschaften: Diskurs als Ansprache und das Verfehlen des Anderen« auf der Abschlusskonferenz des Graduiertenkollegs gehalten wurde.

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relativiert, bleibt er diesem Modell bipolarer kultureller Differenz weiterhin verhaftet – was möglicherweise der gewählten und eingesetzten Figur der »Übersetzung« geschuldet ist. Ob dieser Simplifizierungen, die nicht an sozialen Realitäten orientiert, sondern an die epistemologischen Begriffsbedingungen gekoppelt sind, scheint der Begriff der Übersetzung m. E. nicht unbedingt geeignet, um detailliert die sozialen Prozesse der aktiven Konstruktion von Identitäten durch soziale Akteure zu beleuchten, wie in dem von Fuchs gewählten Fallbeispiel. Um diese These auszuführen, möchte ich den Begriff der »Übersetzung« sowie dessen Verwendung durch Fuchs etwas genauer betrachten.

I. »Übersetzung« im Sinne von »geglückter Übersetzung« fußt einerseits auf der epistemologischen Annahme, dass ein Verstehen zwischen als different gedachten Kulturen trotz der Differenz möglich ist. Dabei wird meist unterschieden zwischen einer guten, »richtigen« Übersetzung und einer »schlechten«, »falschen« und direkt an Machtkonstellationen zwischen den differenten Gruppen gebundenen Übersetzung. Fuchs (i. d. B.: 128) zeigt vier verschiedene Formen der Übersetzung auf: »Es können nun vier Möglichkeiten ausgemacht werden, Differenz übersetzungstechnisch ›einzubeziehen‹: (1) Subsumption unter vertraute, eigene Kategorien; (2) Anderes als Spiegelbild des Eigenen zu behandeln, meist in Form von Instrumentalisierung des Anderen (damit ebenfalls Reduktion des Anderen auf die eigenen Koordinaten); (3) Kontext- und Horizonterweiterung, verstanden als Erweiterung des Bekannten oder Eigenen (wodurch Differenz ebenfalls zum Verschwinden gebracht wird); (4) den Zielkontext, wie auch den Ausgangskontext zu ›verfremden‹, zu dezentrieren, zu ›brechen‹ – den Akzent also auf den nicht-identischen Charakter des Neuen zu legen. Gesellschaftlich betrachtet treten alle vier Möglichkeiten in Kombination oder Mischung auf.«

Die Subsumption unter die eigenen (sprachlich elaborierten) Kategorien gilt dabei als gewalttätige Aneignung des Fremden im Sinne seiner (sprachlichen) Beherrschung, die auf den zugrundeliegenden Machtbeziehungen ruht. Dem Differenten wird so die eigene »Identität« in einer Art gewalttätiger Bemächtigung des Fremden aufgezwungen bzw. innerhalb der eigenen »Identität« als das »Fremde«, das Nicht-Identische isoliert. Die SpiegelbildVersion der Übersetzung entspricht einer Exotisierung des Fremden, indem man ihm all das Gegensätzliche des »Eigenen« zuspricht, ohne eine gemeinsame Basis anzunehmen. Das Gegensätzliche der »Identität« macht dabei also die »Differenz« zum »Anderen« aus. Die dritte Möglichkeit der Übersetzung, die Kontexterweiterung als eine »gute« Übersetzung, unterliegt als basales Grundprinzip jeglicher ethnologischer Forschung, die auf Langzeitfeldforschung basiert. Durch das empirische, induktive, methodisch abgesicherte Verständnis des »Fremden« soll eine angemessene Übertragung von Bedeutungen in eigene Sinn- und Bedeutungskontexte gewährleistet werden. Wird die Differenz dabei im Sinne eines Verlustes der eigenen Beobachterdistanz jedoch »zu sehr« zum Verschwin134

»Who’s speaking?«

den gebracht, läuft man Gefahr, dass das »Fremde«, das durch diese Horizonterweiterung zu dem »Eigenen«, zu einem Teil der Identität, geworden ist, für die »Anderen« des eigenen Herkunftskontexts nicht mehr verstehbar ist. Die vierte Möglichkeit nun, die Verfremdung des Ziel- und Ausgangskontexts, soll die Differenzen zwischen zwei »Kulturen«, »sozialen Gruppen«, »Sinnkontexten« betonen und vor der leichtfertigen Annahme einer gemeinsamen Basis warnen, die durch eine unbekümmerte Bedeutungsübertragung von einem Bedeutungssystem in ein anderes angenommen wird. Es soll gewährleistet werden, dass man Übersetzung nicht als einen mechanischen Vorgang sieht, der gemäß einem Wörterbuchprinzip annimmt, die sprachliche Übersetzung würde mit einem Verständnis des Gemeinten einhergehen. In dieser Version wird Sprache nicht nur als mechanisches, repräsentatives Benennungssystem, sondern eher als die kulturelle Ordnung und die Kognition gänzlich strukturierende, Bedeutungen herstellende Praxis angesehen, so dass kulturelle Bedeutung durch eine Übersetzungsleistung nicht ohne weiteres in eine andere Sprache übertragen werden kann. Differente Sprachen begründen, konsolidieren und artikulieren diesem Verständnis zufolge kulturelle Differenzen, sind also von Sprache nicht loszulösen. Diese Sicht entspringt oft dem Lager eines relativ rigiden kulturellen Konstruktivismus, der annimmt, dass Kulturen durch verschiedene Sprachsysteme und sprachlich ausformulierte Konzepte konstruiert sind, so dass diese Systeme die Wahrnehmung, die Ordnung der sozialen Welt, die Gedanken und Gefühle von kulturellen Subjekte strukturieren. Einerseits steckt dahinter oft implizit die Vorstellung von Kultur als relativ geschlossenes, undurchlässiges und allumfassendes Bedeutungssystem, wodurch kulturelle Differenzen hervorgehoben werden. Andererseits beinhaltet diese Fixierung auf Sprache in der Konstruktion von Kulturen eine Konzeption von Personen als relativ passive Empfänger von kulturellen Strukturen qua Sprache.

II. Möchte man jedoch soziale Akteure als aktiv Handelnde betrachten, die kreativ mit den sie umgebenden Diskursen und Sprachen umgehen, um sich zu positionieren, scheint dieser sprachliche, kulturelle Determinismus unangebracht. Will man »Übersetzung« loslösen von einem Verständnis als professionalisierte Tätigkeit eines Einzelnen und sie stattdessen, wie Fuchs, als alltagssoziale Handlung, als Basis jeglicher Kommunikation und sozialen Handlung verstehen, dann ist gerade diese Kopplung an die Handelnden, die aktiv mit Sprachen umgehen, diese auch modifizieren und intentional einsetzen, dringend notwendig. Dies hält Fuchs m. E. in seinen Überlegungen nicht konsequent genug ein. Er spricht von einem »third idiom«, das zunächst keiner Seite angehört. Hier taucht erneut die Vorstellung von zwei Seiten des Übersetzungsvorgangs auf – von der Übersetzung als Überbrückung vorausgesetzter Differenzen. Diese bewegt sich nicht auf der empirischen Ebene der sozialen Akteure, sondern wird aus der theoretischen Perspektive auf den Gegenstand der Übersetzungstheorie projiziert. Was können die »Seiten« bedeuten? Zwei differente Sprachen, zwei differente Diskurse, zwei differente Konzepte? Und was führt zu der Annahme, dass diese Sprachen, Diskurse oder Konzepte die Erfahrungen und Gedanken der Menschen repräsentieren, 135

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die sie verwenden. Was rechtfertigt die Annahme, dass die Differenz nicht lediglich sprachlich konstruiert ist, sondern real »existiert«? Und wie verhält es sich, wenn ein Subjekt auch intrakulturell auf verschiedene Diskurse, Sprachen, Konzepte zur Bedeutungsgenerierung und -benennung für Erfahrungen zurückgreifen kann? Welche Sprachen, Diskurse, Konzepte angewendet werden, unterliegt ganz entscheidend bereits der spezifischen Kommunikationssituation, die somit auch die Selektion desjenigen, was »übersetzt« werden kann, vorstrukturiert. Viele Studien zeigen, dass es neben der Vielfalt von Diskursen auch unterschiedliche »Sprachen« zum Ausdruck (oder besser: zur Interpretation und Bedeutungskonstruktion) von Gefühlen, Gedanken, Erfahrungen, Positionen gibt, die in verschiedenen Kontexten zur Anwendung kommen. Wie beispielsweise Abu-Lughod (1986) aufgezeigt hat, haben die Awlad ’Ali, eine beduinische Gruppe in Ägypten, neben der Alltagssprache über Emotionen, in der Liebesgefühle nicht artikuliert werden und es kaum Begriffe für deren Ausdruck gibt, eine andere, nicht weniger konventionalisierte Sprache der Liebespoesie, die diese metaphernreich und ganz anders als in der Alltagssprache artikuliert. Was sind hierbei die sich gegenüberstehenden Seiten? Steht die Nichtartikulation von Liebesgefühlen der Awlad ’Ali einer stark elaborierten Liebessemantik im »Westen« als »fremd« gegenüber? Oder steht die formalisierte Liebespoesie dieser Gruppe einer stärker alltagsbezogenen Artikulation von Liebesgefühlen im »Westen« gegenüber? Oder stehen sich bei den Awlad ’Ali die offizielle Nichtartikulation von Liebesgefühlen und die Liebespoesie intrasystemisch gegenüber? Steht die leibliche Erfahrung von Liebe ihrer Nichtartikulation in offiziellen Diskursen gegenüber? Der Übersetzungsprozess beinhaltet a priori eine Reduktion des komplexen sprachlichen Ausgangskontexts, den es dann anschließend in einen ebenso simplifizierten Zielkontext zu übertragen gilt. Ausgeblendet wird dabei die Beziehung der unterschiedlichen Sprachen zueinander – zunächst auf der intrakulturellen, dann auf der interkulturellen Ebene – sowie die Frage danach, wie die sozialen Subjekte, die selbst aktiv ihre lokalen Sprachen und Konzepte in eine »westliche« Sprache übertragen, diese Übersetzungssprache ansehen, und schließlich ob diese dabei als eine Art Meta-Sprache zu verstehen ist. Es stellen sich hier Fragen nach der Auswahl und der Repräsentativität des zu Übersetzenden und des Übersetzten sowie nach der Beziehung zwischen dem Übersetzten oder dem zu Übersetzenden zu dem nicht Übersetzten oder nicht zu Übersetzenden. Des Weiteren scheint es zentral zu sein, nach den Beziehungen der multiplen Sprachen zueinander zu fragen, und zwar sowohl auf der intrasystemischen als auch auf der intersystemischen Ebene: Multiple »fremde« Sprachen stehen dabei der Polyphonie »eigener« Diskurse, multipler Sprachen und Konzepte gegenüber. Gleichzeitig ist es wichtig, die Aktivität der sozialen Akteure in den Blick zu nehmen, die sich Diskurse, Sprachen, Konzepte zunutze machen und aktiv aus ihnen auswählen, um bestimmte soziale Positionen zum Ausdruck zu bringen, Identitäten zu konstruieren und verschiedene (oder auch dieselben?) Erfahrungsbereiche durch verschiedene Sprachen zu äußern. Dabei stellt sich dann auch die Frage nach der individuellen Übersetzungsleistung zwischen subjektiven, leiblich erlebbaren Erfahrungen und den unterschiedlich zur Verfügung stehenden Sprachen durch jeden Einzelnen. Diese komplexen Verhältnisse stehen jedoch 136

»Who’s speaking?«

einer einfachen Konzeption von »Übersetzung« als Bedeutungsübertragung aus einem »Ausgangskontext« in einen »Zielkontext« im Weg, weswegen sich der Gebrauch von »Übersetzung« als Leitkonzept zur Beobachtung komplexer sozialer Prozesse m. E. zu reduktiv auf die Ergebnisse auswirkt. Martin Fuchs rollt die Übersetzungsdiskussion und die damit verbundenen Probleme anhand des Fallbeispiels der Dalit, der so genannten »ExUnberührbaren«, in Indien auf. Anhand dieses Beispiels will er aufzeigen, wie in sozialen Interaktionsprozessen mit Identität und Differenz umgegangen wird. Er löst den Übersetzungsbegriff von der Bindung an einen Außenstehenden, einen Analytiker im herkömmlichen Sinne der Übersetzung; Fuchs spricht also nicht von Übersetzung als einer professionellen Tätigkeit, sondern konzentriert sich auf die Übersetzungsleistungen der sozialen Akteure im Alltag. »Übersetzen« ist für Fuchs zuerst Ausdruck eines Zwangs oder einer Notwendigkeit, die daraus resultiert, dass Akteure an verschiedenen Diskursen, Lebensformen und Sozialsystemen teilhaben, zwischen ihnen wechseln und Bedeutungen zwischen ihnen transferieren müssen – ganz im Sinne seiner These: »Niemand lebt nur in einem Kontext«. Betont er hier jedoch die Übersetzungsleistungen jedes Einzelnen als Basis und Zwang jeder Alltagskommunikation, zielt sein Fallbeispiel auf die intentionalen Übersetzungsleistungen ab, die soziale Akteure unternehmen, um damit bestimmte Ziele zu erreichen, um Diskurse umzuschreiben, wie er betont, alternative Sprachen angesichts hegemonialer dominanter Diskurse zu finden: In diesem Fall geht es um die intentionalisierte Verbesserung der Lebensbedingungen der Dalit durch ihre intentionalisierten »Übersetzungen« bzw. Übertragungen von eigenen Anliegen in Diskurse, die Fuchs als »universalistisch« bezeichnet, die jedoch zugleich die Diskurse der »Anderen« repräsentieren (Menschenrechtsdiskurse etc.). Daher sehe ich in den Erörterungen Fuchs’ drei verschiedene Abstraktionsniveaus von Übersetzung angelegt: (1) Übersetzung als professionalisierte Tätigkeit mit dem Ziel, Verstehen über Differenzen hinweg zu ermöglichen. (2) Übersetzung als soziale Praxis jedes Einzelnen in sozialen Alltagskommunikationen, in denen man sowohl Gedanken und Gefühle in die eigene Sprache übersetzen und damit auch »verändern« sowie in andere lebensweltliche Kontexte übertragen muss, um eine Kontinuität zwischen Personen und Kommunikationssystemen zu schaffen und sich als Individuum im sozialen Gefüge zu etablieren.2 (3) Übersetzung im Sinne einer intentionalisierten Umschreibung von Identitätsdiskursen im Bewusstsein der Differenz zu den eingesetzten und übernommenen Diskursen. Hier stellt sich jedoch die Frage, was diese unterschiedlichen Übersetzungsbegriffe vereint und ob es somit überhaupt gerechtfertigt ist, alle drei unter den Begriff der Übersetzung zu stellen: Kann man die bewusste und intentionale Umschreibung, also die Konstruktion von Identität, noch als Übersetzung bezeichnen? Wird durch das Verständnis von Übersetzung als alltägliche Praxis von Subjekten in sozialen Kommunikationssituationen das hervorgehobene Problem der »interkulturellen« Kommunikation obsolet? Handelt es sich hierbei nur um einen graduellen oder prinzipiellen Unterschied auf Basis der Differenzüberwindung als Alltagshandlung? Sind Prob2

Also wird auch hier das Problem der Überwindung von Differenz und Etablierung von Identität gleichermaßen wirksam.

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leme der interkulturellen Kommunikation nicht möglicherweise genauso auf der intrakulturellen Ebene zu finden?3 Wie kann man dann den zugrundeliegenden Kulturbegriff fassen? Und was ist mit sozialen Differenzen: Sind diese nicht möglicherweise genauso entscheidend oder entscheidender als kulturelle Differenzen? Bei einer Diskussion von Fuchs’ Ausführungen im Graduiertenkolleg fiel die Frage, ob ein Chinese mich nicht möglicherweise besser verstehen kann als mein fränkischer Nachbar, der bei Siemens arbeitet? Und ist theoretisch zwischen intentionalisierten und nicht-intentionalisierten Übersetzungen überhaupt zu unterscheiden? Konstruiert man nicht stets ein Selbstnarrativ und mittelbar eine Identität, wenn man eigene Belange in eine Sprache übersetzt? Wo wäre das Bewusstsein dafür, ob man bewusst und intentional übersetzt, theoretisch anzusiedeln? Oder muss man diese bewusste, intentionalisierte Übersetzung, die eher einer Konstruktion von Identität, einer aktiven Selbstpositionierung entspricht, von einer unbewussten Übersetzung als Alltagshandlung in sozialen Kommunikationssituationen unterscheiden? Wie sind diese Fragen zu beantworten, wenn die dem Begriff unterliegende Prämisse des Verstehen-Wollens und -Könnens gänzlich wegfällt?

III. In Anbetracht dieser Fragen sehe ich die von Fuchs beschriebenen vier Übersetzungsmöglichkeiten als vereinfachende Annahmen, die der Komplexität der sozialen Realität nicht entsprechen. Fragen danach, wie soziale Akteure »Identität« und »Differenz« in sozialen Übersetzungsvorgängen als alltagskommunikative Handlung konstruieren, werden zwar theoretisch gestellt, kommen jedoch in seinem Fallbeispiel, das theoretisch von diesen Fragen ausgeht, nicht deutlich genug zum Ausdruck. Dies ist deswegen verwunderlich, weil Fuchs doch theoretisch ganz entscheidend von einem Begriff von Übersetzung ausgeht, der die aktive, intentionale (Re-)Konstruktion einer kollektiven Identität der Dalit, über die sie Legitimitätsansprüche in einer sie marginalisierenden sozialen Ordnung mitzuteilen suchen, über das Zunutzemachen zur Verfügung stehender und Universalismus beanspruchender Ideen und Diskurse fokussiert – das nämlich versteht er dann als »Übersetzung«. Fuchs bedenkt zwar, dass soziale Subjekte verschiedener, mit kollektiven Identitäten »ausgestatteten« sozialen Gruppen auf unterschiedliche Sprachen und Diskurse zurückgreifen und dadurch kontinuierlich ihre Identitäten in sozialen Kommunikationssituationen situativ konstruieren, führt dies in seinem Fallbeispiel jedoch nicht aus. So liegt die Vermutung nahe, dass der Einsatz des Begriffs »Übersetzung«, der epistemologisch von Begriffen wie »Identität« und »Differenz« ausgeht, hier möglicherweise schlicht ungeeignet ist und die genaue Analyse der kommunikativen Handlungen sozialer Akteure versperrt. Die Konzeptionalisierung dieser kommunikativen Handlungen als aktive (narrative) Identitätskonstruktion in einem soziokulturellen Umfeld, die mit dem erwünschten

3

Auch wenn Fuchs dies thematisiert, wird dieser Punkt in seinem Fallbeispiel m. E. nicht genug bedacht.

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Erreichen bestimmter Ziele verbunden ist, wäre hierbei möglicherweise der direktere, analytisch ergiebigere Weg. Nötig wäre hierfür eine genaue akteursorientierte Analyse, wer, wie und in welchen Situationen welchen Kommunikationspartnern gegenüber welche Diskurse verwendet, um sich Positionierungen zuzuschreiben und Ziele zu erreichen. Dies ließe Fuchs’ Operationalisierung des Begriffs der Übersetzung als Figur zur Beschreibung von (1) kommunikativen Alltagshandlungen sozialer Akteure (vgl. Fuchs 2009) und (2) als Prozess, durch den sie sich aktiv eine Identität zuschreiben und intentional bestimmte Ziele verfolgen, eigentlich erwarten. Diese Verschiebung des Übersetzungsbegriffs von seiner sprachlichen Fixierung als Übertragungsvorgang sprachlicher Bedeutungen hin zu seinem Verständnis als alltagssoziale Handlung stellt gerade den Fokus auf Akteure theoretisch in den Vordergrund. Dennoch spricht Fuchs anschließend nicht von den Dalit, von den Akteuren selbst, die Diskurse umschreiben, diese synkretistisch miteinander verkoppeln, bewusst einsetzen und aus und in Sprachen Bedeutungen übertragen bzw. diese dadurch konstruieren, sondern von einem »third idiom«, das zunächst keiner Seite angehört. Hier taucht die Vorstellung einer Dominierung von sozialen Akteuren durch einen »Diskurs«, eine »Sprache« auf, die ein Eigenleben im Sinne von Ricoeurs noema besitzt und zumindest zum Teil von den sozialen Akteuren losgelöst ist. Genauso taucht hier die dem Begriff der Übersetzung verhaftete Vorstellung von Seiten auf, die voneinander durch eine Differenz anzeigende »Schwelle« getrennt sind, also die Vorstellung von einem Ausgangs- und einem Zielkontext. Die Aktivität der sozialen Akteure, der Dalit, wird dabei auf die Rezeptionsebene verlagert. Diese machten sich einen neuen Diskurs – den Buddhismus nach Ambedkar – zunutze, der Elemente westlicher oder, wie Fuchs es nennt, »universalistischer« Diskurse aufnimmt bzw. Anschlüsse zu diesen konstruiert. Der Übersetzende im von Fuchs entwickelten Verständnis des Begriffs wird so als jemand beschrieben, der einen Diskurs schreibt, der als »third idiom« bezeichnet wird. Dadurch wird das zuvor ausgeführte Verständnis von »Übersetzung« als soziale Alltagshandlung aller Kommunizierender jedoch wieder eingeschränkt. Bei dem hier angeführten »third idiom« geht es um den Diskurs eines Einzelnen, nämlich den von Ambedkar, der lediglich auf andere einwirkt oder von diesen bewusst eingesetzt werden kann und eine Rolle in der Selbstnarration und Identitätskonstruktion der Dalit spielt. Zudem stellt sich die Frage nach dem Universalismus der Ideen, auf die sich dieses »third idiom« bezieht. Fuchs differenziert zwischen universalistischen Ideen, nämlich solchen, die eine universale Allgemeingültigkeit beanspruchen, und partikularistischen Ideen, die speziell innerhalb bestimmter sozialer und kultureller Grenzen gültig sind. Nun stellt sich die Frage, was denn Universalismus hier bedeuten kann? Doch nur, dass diesen »universalen« Ideen auf Grund der Machtkonstellationen zwischen deren »Ursprungskontext« des Westens und deren »Rezeptionskontexten«, denen diese als Universalismus aufgedrängt wird, eine kulturelle Grenzen überschreitende Diskursmacht zukommt. Aber sind die Ideen deswegen universalistisch? Transzendieren, wie Fuchs behauptet, universalistische Ideen wirklich partikularistische Diskurse? Und ist somit die Annahme eines »third idioms« gerechtfertigt, das eine 139

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Sprache darstellt, die partikularistische Ideen in die universalistische Sprache übersetzt oder eigene partikularistische Sprachen mit diesen neu erfindet? Und sind die universalistischen Diskurse wirklich – wie Fuchs annimmt – allen zugänglich? Spiegelt die angenommene Transzendenz des Partikularismus dann nicht nur eine Idee von einem Übersetzungsvorgang wider, eine Projektion, die jedoch auf einer anderen, nämlich wissenschaftstheoretischen Ebene zu verorten ist, und nicht im Phänomen selbst? Und träfe dann die Kritik von Fuchs, »dass wir dazu tendieren, verschiedene Haltungen zu unserem Gegenstand zu vermengen (d. h. zwischen verschiedenen Haltungen zu wechseln und letztlich die Unterschiede zu verwischen)«, nicht auch auf ihn selbst zu? Verwischt er nicht die reflexive Metaebene mit der Ebene der sozialen Akteure? Denn: was genau wird getan? In Auseinandersetzung mit bestimmten Konzepten und Diskursen der »Anderen« (wie auch immer verstanden) konstruieren die Dalit eine identitätsstiftende Selbstnarration, die jedoch die Differenzen zu dem anderen nicht auflöst, selbst wenn die Selbsterzählung zeitweise als Einheit mit dem »Anderen« oder als Anschluss an diesen konstruiert wird, um sich von eigenen, als dominant angesehenen oder erfahrenen Diskursen der indischen Gesellschaft abzugrenzen, sich aktiv zu positionieren und um die Definitionsmacht des Diskurses der Anderen zu benutzen. Die Frage, ob dadurch Differenzen zwischen den Kulturen aufgelöst oder transzendiert werden, beantworte ich daher mit »nein«. Ob die Auflösung von Differenzen von den sozialen Akteuren selbst als solche konstruiert oder wahrgenommen wird, ist denkbar, wobei ich annehme, dass Differenzen dennoch aufrecht erhalten werden, schon zum Zwecke der Legitimation der eigenen Verortung im indisch-hinduistischen Kontext. Diese Konstruktionsprozesse würde ich aber nicht als Übersetzungsleistungen ansehen. Gerade hier geht es eher um die Begriffe von Identität und Differenz sowie ihre paradoxen Spannungen zueinander, die von den sozialen Akteuren in den Narrativen und in sozialen Kontexten ausgehandelt werden müssen und auch dort widersprüchlich angewendet werden können. So begrüße ich nicht ihre Ersetzung durch die Begriffe »Kontinuität« und »Diskontinuität«, nur um den zeitlichen Aspekt einer Übersetzung zu betonen. Denn das führt zu der Annahme einer temporären Fixierung, die der Gleichzeitigkeit von Momenten von Identität und Differenz in den Identitätskonstruktionen von sozialen Akteuren und ihrer Widersprüchlichkeit nicht entsprechen kann. Die Konstruktion von Identität und Differenz ist bei diesem Fallbeispiel auf der Ebene der sozialen Akteure zentral. Einer Ersetzung dieser Begriffe durch die der »Kontinuität« und »Diskontinuität« stimme ich daher nicht zu.

Literatur Abu-Lughod, Lila (1986): Veiled Sentiments: Honor and Poetry in a Bedouin Society, Berkeley: University of California Press. Fuchs, Martin (2009): »Reaching Out; or, Nobody Exists in One Context Only: Society as Translation«. Translation Studies 2.1, S. 21-40.

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Der Philosoph Kangde: Kants chinesischer Doppelgänger. Zum Problem der Hybridität moderner Philosophie in China STEPHAN SCHMIDT

Der vorliegende Aufsatz kreist um das Thema »Hybridität als philosophisches Problem« und widmet sich der Suche nach einem geeigneten Umgang mit der Mehrdeutigkeit, die aus dem hybriden Charakter von philosophischen Ideen, Texten und Entwürfen folgt. Da »Hybridität« jedoch ein eher unscharfer Begriff und keineswegs klar ist, auf welche sachlichen und methodologischen Probleme er verweist, gilt es zunächst den Gegenstandsbereich der Untersuchung abzustecken und zu zeigen, was es innerhalb dessen mit der Hybridität auf sich hat. Die vorliegende Untersuchung nimmt daher die Form einer Fallstudie an. Notgedrungen bleibt auch die Tauglichkeit der anschließend erprobten Strategien des Umgangs mit der Mehrdeutigkeit auf den hier untersuchten Fall beschränkt – die Vermutung, dass in anderen Fällen die Probleme ähnlich sind, liegt zwar nahe, müsste aber durch vergleichende Untersuchungen erhärtet werden, die über den Bereich der vorliegenden Studie hinausweisen. Trotz dieser Restriktion halte ich die Verbindung von methodologischer Reflexion und sachlicher Analyse für einen geeigneten Weg, um im komplexen Problembereich der Interkulturalität voranzukommen. Ein Blick auf die vorliegende Literatur zeigt m. E., dass die Entkoppelung beider Aufgaben auf beiden Seiten schwerwiegende Nachteile mit sich bringt: Auf der Methodenseite führt sie zu Modellentwürfen, denen es zwar nicht an theoretischer Raffinesse mangelt, die aber gerade aufgrund ihrer (angeblichen) allgemeinen Anwendbarkeit verbindungslos über den Diskursen der im Bereich Interkulturalität praktisch engagierten Einzelwissenschaften schweben.1 Andererseits sind es etwa in den außereuropäischen Philologien immer wieder spezifische Sachkompetenzen – z. B. Sprach- und Landes1

Ein Beispiel hierfür ist Göller (2000). Die fehlende Anbindung an ein sachliches Problemfeld zwingt den Autor zur durchgängigen Abstraktion gerade von denjenigen Aspekten bestimmter Kulturen, an denen sich bei konkreten Verstehensversuchen die Schwierigkeiten entzünden. Ablesbar wird die Vergeblichkeit des Ansatzes an Göllers zahlreichen Versuchen, zentrale Begriffe seiner Theorie – auf S. 272 z. B. den Kollektivsingular »Kultur« – zu definieren. Da sein Ansatz keine Eingrenzung zulässt, geraten die vermeintlichen Definitionen nämlich unweigerlich zu verkappten Beschreibungen, wobei das Bemühen um Vollständigkeit an der Komplexität der Gegenstände scheitert. Zurück bleiben schließlich bloße Aufzählungen von Facetten; zu beliebig, um von analytischem Wert zu sein, und zu sperrig, um damit zu arbeiten.

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kenntnisse –, die vergebens die Lücken fehlender Methodologie zu füllen versuchen. Gegen diese unproduktive Arbeitsteilung sollen im Folgenden methodologische Überlegungen und sachliche Fragen so kombiniert werden, dass die Tauglichkeit der ersteren und die Relevanz der letzteren einander gegenseitig untermauern oder in Frage stellen.

I. Moderner Neukonfuzianismus: Hybridität und Übersetzung Die vorliegende Untersuchung ist angesiedelt im Kontext der Auseinandersetzung mit der kantischen Philosophie im modernen Neukonfuzianismus,2 wobei ich mich auf einen chinesischen Denker beschränken werde, nämlich Mou Zongsan (1909-1995).3 Dieser ist im Westen nahezu völlig unbekannt, gilt gegenwärtig im chinesischen Sprachraum aber als einer der wichtigsten, zugleich jedoch auch als einer der umstrittensten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Ausgebildet an der Universität Peking, hat Mou Zongsan nach der Machtübernahme der Kommunisten 1949 das chinesische Festland verlassen und den Rest seines Lebens größtenteils in Taiwan verbracht, wo sich im Laufe der Jahre ein Kreis bis heute einflussreicher Schüler um ihn versammelt hat. Auf dem Festland dagegen ist erst seit den achtziger Jahren eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Mous Denken zu verzeichnen, die sich seitdem aber kontinuierlich ausgeweitet hat und deren Tenor insgesamt kritischer ist als in Taiwan. Trotz seiner lebenslangen Beschäftigung mit westlicher Philosophie – zunächst v. a. mit Russel, Whitehead und Wittgenstein, dann immer stärker mit Kant – hat Mou Zongsan, von einer einzigen Konferenzteilnahme in Hawaii abgesehen, nie ein westliches Land bereist. Und obgleich er neben westlicher Philosophie auch intensive Studien zu Buddhismus und Daoismus betrieben hat, ist er seinem eigenen Bekenntnis zufolge immer Konfuzianer geblieben.4 Als Neukonfuzianer bezeichnen wir eine zahlenmäßig überschaubare Gruppe von chinesischen Denkern,5 die sich im 20. Jahrhundert angesichts 2

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Zwei biographisch geordnete Abrisse dieser geistigen Strömung sind Bresciani (2001) und Lee Ming-huei (2001). Zur Einführung geeignet ist außerdem der Sammelband von Makeham (2003). Die bisher ausführlichste mir bekannte Auseinandersetzung mit Mou Zongsan hat der Leipziger Sinologe Olf Lehmann (2003) in seiner Dissertation vorgelegt; vgl. hierzu meinen chinesischen Rezensionsartikel: Shi Yijian (Stephan Schmidt) (2007). Vgl. die autobiographischen Reflexionen in Mou Zongsan (1988). Es ist in der chinesischen Forschung umstritten, welche Denker dieser Gruppierung zuzurechnen sind und ab wann vom Neukonfuzianismus als einer identifizierbaren Denkströmung gesprochen werden kann. Weitgehend unstrittig ist allerdings, dass mit der Veröffentlichung des Manifests »A Manifesto on the Reappraisal of Chinese Culture« im Jahr 1958 die sogenannte »zweite Generation« des Neukonfuzianismus, zu der Mou Zongsan gehört, mit einer gemeinsamen Programmatik hervortritt. Diese Denker betrachten den Konfuzianismus als Zentrum der chinesischen Kultur, welche sie gegen die Musealisierungstendenzen der westlichen Sinologie als lebendig und aktuell, und gegen die Angriffe der Anti-Traditionalisten in China als modern und ent-

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Der Philosoph Kangde

des Zerfalls des chinesischen Kaiserreichs und des Untergangs der traditionellen Kultur und ihrer Institutionen6 vor die Aufgabe gestellt sahen, eine Art von Modernisierung Chinas herbeizuführen, die nicht die Preisgabe des traditionellen Erbes implizierte, sondern gleichsam die Tradition selbst – d. h. hier: das in den kanonischen Schriften des Konfuzianismus formulierte Denken – zu modernisieren bzw. als modernitätsfähig auszuweisen versuchte. Dies geschah auf dem Wege einer intensiven Auseinandersetzung mit westlicher Philosophie, d. h. dem Versuch, mittels einer vom Westen entlehnten Begrifflichkeit das eigene Denken neu zu ordnen, terminologisch zu schärfen und philosophisch auf den Begriff zu bringen. Aus dieser Auseinandersetzung ist nach und nach eine neue philosophische Begriffssprache im modernen Chinesisch entstanden, hervorgegangen aus einem zweifachen Übersetzungsprozess, nämlich von westlicher Terminologie ins moderne Chinesisch einerseits, und von traditionellen Denkinhalten – in den kanonischen Schriften ausgedrückt in klassischem Chinesisch – in diese neue Terminologie andererseits. Die gemischte Herkunft der modernen chinesischen Begriffssprache rechtfertigt die Verwendung des Attributs »hybrid«, aber es bedarf eines genaueren zweiten Blicks, um die spezifischen Verstehensprobleme zu erfassen, die damit einhergehen. Ab dem Beginn der westlichen Expansion nach China in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde innerhalb eines kurzen historischen Zeitraums der Jahrhunderte alte Kulturalismus der chinesischen Tradition untergraben und mit der traditionellen Metaphysik zugleich die Sprache diskreditiert, in der diese ausgedrückt worden war. Progressive, traditionskritische Intellektuelle – in China stets verbunden mit dem Stichwort der »4. Mai Bewegung« (vgl. Lin Yü-Sheng 1979) – proklamierten die Notwendigkeit einer Emanzipation vom konfuzianischen Erbe, das als Hemmschuh auf dem Weg in die Moderne gebrandmarkt wurde. Orientierung an den Errungenschaften von westlicher Philosophie, Wissenschaft und Technik lautete das im Slogan von der »totalen Verwestlichung« (quanpan xihua) zusammengefasste Programm dieses wuchtigen und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einflussreichen Ikonoklasmus. Im Bereich der Philosophie ging es für die Intellektuellen des Vierten Mai also darum, einen Ersatz für die entwertete Sprache der Tradition und ihre Inhalte zu finden. Anders die konservativen Neukonfuzianer: Sie wollten den Nexus von Modernisierung und Verwestlichung lösen und die Tradition selbst zum Gegenstand ihrer Modernisierungsbemühungen machen. Die neukonfuzianische Hinwendung zur westlichen Philosophie stand daher im Zeichen der Suche nach einer neuen Form: Überzeugt vom bleibenden Wert des eigenen Erbes, suchten die Neukonfuzianer v. a. nach neuen Ausdrucksformen für bewährte Ideen, und allenfalls in zweiter Linie nach neuen Ideen. Ihre Auseinandersetzung mit Kant, Hegel, Kierkegaard und anderen westlichen Denkern war motiviert von dem Interesse, geeignete Begriffe für die Wiedergabe eigener Inhalte zu finden. Wir müssen also bei der Lektüre neukonfuzianischer Texte von vornherein mit der Möglichkeit rechnen, dass bestimmte

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wicklungsfähig ausweisen wollen. Der englische Text des Manifests ist abgedruckt in Tang Junyi (o. J.: 492-562) und wird erläutert in Bresciani (2001: 37-56). Zum historischen Kontext vgl. den Aufsatz von Chang Hao (1976) sowie die umfassende Studie von Metzger (1977).

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Stephan Schmidt

Übersetzungsausdrücke ganz andere Inhalte transportieren als diejenigen Ausdrücke in westlichen Sprachen, deren Übersetzungen sie zu sein behaupten (dazu weiter unten mehr). Die methodologischen Grundlagen der neukonfuzianischen Vermittlung von chinesischem und westlichem Denken sind weitgehend unklar. Ein unausgesprochenes strategisches Interesse hat über weite Strecken die Richtung der Auseinandersetzung bestimmt: Das Denken der eigenen Tradition7 sollte gegenüber der westlichen Philosophie als mindestens gleichwertig, wenn nicht als potentiell überlegen angezeigt werden; in Bezug auf Mou Zongsans spätes Denken (der siebziger und achtziger Jahre) lässt sich vom Versuch der Überwindung der westlichen Philosophie sprechen (vgl. Schmidt 2008). Aus heutiger Sicht ist leicht einsehbar, dass ein Projekt dieser Art notwendig einhergeht mit kruden Generalisierungen und der Tendenz, die westliche Philosophie der chinesischen gegenüberzustellen. Unter den Bedingungen einer geringen Vertrautheit mit der westlichen Philosophiegeschichte erfolgte zudem die Auswahl von geeigneten Bezugspunkten der Auseinandersetzung auf eher idiosynkratische Weise – nicht unreflektiert, aber meist ohne systematische Begründung. Eine Folge dieses Umstandes ist ein hohes Maß an interner Uneinheitlichkeit des neukonfuzianischen Sprachgebrauchs: Verschiedene Denker geben ähnliche Ideen in unterschiedlicher Terminologie wieder, wobei die Ähnlichkeit der Ideen nur durch deren Rückbindung an den traditionellen Sprachgebrauch nachgewiesen werden kann, d. h. durch die Rückführung auf denselben chinesischen Ausgangsbegriff für verschiedene konzeptionelle Neufassungen. Paradoxerweise ist es daher so, dass ohne Berücksichtigung der traditionellen Sprache, deren weitgehende Diskreditierung das neukonfuzianische Übersetzungsprojekt erst notwendig gemacht hat, die moderne Sprache der Neukonfuzianer unverständlich bleibt. Betrachten wir ein Beispiel: Ein zentraler Begriff bei Mou Zongsan lautet zhi de zhijue. Dabei handelt es sich um die chinesische Übersetzung des kantischen Terminus intellektuelle Anschauung.8 Bereits ein oberflächlicher Blick auf Mou Zongsans Verwendung des chinesischen Ausdrucks macht aber klar, dass dieser innerhalb seines Denkens eine ganz andere Bedeutung annimmt als der deutsche Ausdruck bei Kant. Der spezifischen Semantik von Mou Zongsans zhi de zhijue kommen wir erst auf die Spur, wenn wir verste7

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Mit »Tradition« ist im vorliegenden Aufsatz zum einen der antike Konfuzianismus – vertreten durch Konfuzius und Menzius – und zum anderen der sogenannte Neokonfuzianismus der Song- und Mingzeit gemeint. Für Mou Zongsan sind allerdings auch Huayan- und Tiantai-Buddhismus von großer Bedeutung. Zu Mous Deutung des Buddhismus vgl. Kantor (2006). Innerhalb der Erkenntniskritik Kants markiert dieser Ausdruck eine Grenze: Für Kant steht fest, dass der Mensch über intellektuelle Anschauung – d. h. über die Fähigkeit, die »Dinge wie sie an sich selbst sind« zu erfassen – nicht verfügt. Menschliche Anschauung ist sinnlich, also rezeptiv und damit spezifisch begrenzt. Diese Position ergibt sich mit Notwendigkeit aus der Fassung des Verstandesbegriffs in der Transzendentalen Ästhetik, denn als Vermögen der Begriffe und der Regeln kann der Verstand nicht über die Fähigkeit der Anschauung verfügen (vgl. KrV: B 33; B 308-316). Der Verstand ist spontan, nicht rezeptiv; er denkt, aber er schaut nicht an (vgl. KrV: B 139). Kants Werke werden hier in der üblichen Weise mit Sigel und AB Paginierung zitiert.

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hen, dass es sich inhaltlich um eine Neufassung des traditionellen Ausdrucks liang zhi handelt. Dieser kommt bereits bei Menzius vor, wird häufig mit »Gewissen« übersetzt und meint v. a. die Fähigkeit des Menschen zur Unterscheidung von Gut und Böse, welche nach konfuzianischer Auffassung eine angeborene Fähigkeit ist, anhand derer sich zeigt, dass der Mensch ein Moralwesen ist, dessen Lebensaufgabe darin besteht, die eigene moralische Natur bis zur Perfektion zu kultivieren. Mit Kants epistemologischem Grenzbegriff der intellektuellen Anschauung besteht hier offensichtlich kein Berührungspunkt.9 Zhi de zhijue steht bei Mou Zongsan für die von allen egoistischen Bestrebungen freie, gleichsam die Grenze zwischen zwei Individuen überwindende Fähigkeit zur Einfühlung in den anderen Menschen.10 Sie ist damit ein wichtiges Moment des traditionellen Ideals des shengren oder »moralischen Virtuosen«, d. h. der bis zur Perfektion moralisch kultivierten Persönlichkeit, wie sie in den kanonischen Schriften facettenreich beschrieben wird. Die Neukonfuzianer schaffen also eine neue philosophische Sprache, indem sie bestimmte, der eigenen Tradition entnommene Inhalte in neue, dem westlichen Diskurs entnommene sprachliche Ausdrücke fassen – jedenfalls ist dies ein wesentliches Element ihres Projekts.11 Es sollte allerdings klar sein, dass es sich bei philosophischen Begriffen nicht um gefäßartige Entitäten handelt, deren Inhalte von ihrer Form getrennt und ohne Veränderung einer neuen Form eingegeben werden können; vielmehr ist der gesamte Gebrauch von sprachlichen Formen und Inhalten stark metaphorisch und 9

Die Transformation des Ausdrucks liang zhi (direkt übersetzt bedeutet er »gutes Wissen«) in den philosophischen Terminus zhi de zhijue wirkt daher auf den ersten Blick nicht nur willkürlich, sondern regelrecht absurd. Es ist aber zu berücksichtigen, dass Mou Zongsan die Kritik der reinen Vernunft in Norman Kemp Smiths englischer Übersetzung gelesen hat, wo ihm statt intellektueller Anschauung der Ausdruck intellectual intuition begegnet ist. Und um eine Art von (moralischer) Intuition handelt es sich beim »guten Wissen« allerdings. Das Attribut »intellektuell« rechtfertigt sich dann durch Bezug auf Kants Dichotomie von Sinnlichkeit und Verstand/Intellekt sowie durch die Tatsache, dass die Art von moralischer Intuition, um die es Mou Zongsan geht, sich nicht über die Sinnesorgane vollzieht. Sie kann daher, wenn man Kants Dichotomie akzeptiert, nur intellektuell sein. Allerdings wird der Verstand bei Mou Zongsan vom oft mit »Herzgeist« übersetzten traditionellen Ausdruck xin vertreten, der zugleich auch Sitz der Gefühle ist. Es handelt sich also um einen Ausdruck, der eine andere wichtige Dichotomie Kants – zwischen Verstand und Gefühl – unterläuft. Die vermeintliche »intellektuelle« Anschauung zhi de zhijue ist metaphorisch gesprochen die Fähigkeit »mit dem Herzen zu sehen«. 10 Diese Fähigkeit wird im Buch Mengzi (2, A6) anhand des Gedankenexperiments vom Kind auf dem Brunnen veranschaulicht (s. die englische Übersetzung in Lau 2003: 73). Auf diese Passage bezieht sich auch Mou Zongsan, wenn er seinen Ausdruck zhi de zhijue inhaltlich expliziert (s. Mou 1975: 100). 11 Darüber hinaus übernehmen sie auch viele westliche Begriffe in mehr als nur formaler Weise und halten gleichzeitig an vielen traditionellen Ausdrücken in weitgehend unveränderter Form fest. Sie tun das letztere auch dann, wenn importierte Neologismen vorliegen, deren Semantik den traditionellen Ausdrücken ähnlich ist. Mou Zongsan etwa verwendet den Ausdruck liang zhi weiter, obwohl sein Leitbegriff zhi de zhijue einen ganz ähnlichen Phänomenbereich abdeckt.

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suggeriert eine wechselseitige Unabhängigkeit, die in Wirklichkeit nicht besteht. Wenn der »Inhalt« des Ausdrucks liang zhi die »Form« zhi de zhijue bekommt, dann ist dieser Inhalt nicht mehr derselbe, und in gleicher Weise gilt, dass die »Form« zhi de zhijue nicht einfach von ihrem kantischen »Inhalt« intellektuelle Anschauung abstrahierbar ist. Folglich ist zhi de zhijue weder mit liang zhi identisch noch mit intellektueller Anschauung; es handelt sich um ein Drittes, einen neuen Begriff, dessen Bedeutung wir nur erfassen, wenn wir in Kenntnis seiner beiden verwandten Termini davon absehen, ihn mit einem der beiden gleichzusetzen, und statt dessen nachvollziehen, wie der Begriff im neukonfuzianischen Diskurs verwendet wird. So wie Begriffe keine Gefäße sind, ist also auch Übersetzung kein Umfüllen von identischen Inhalten in verschiedene Formen. Was aber ist Übersetzung dann? Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung12 verstehe ich Übersetzung als einen Vorgang semantischer Doppelung, oder in negativer Form und als These formuliert: Es gibt keine Identität in der Übersetzung, weil jede Übersetzung eine Differenz einführt, die zwar von geringerer oder größerer Signifikanz sein, aber nicht gänzlich vermieden werden kann. Diese These ist nicht neu,13 aber sie steht in einer gewissen Spannung zur ebenso weit verbreiteten wie berechtigten Forderung an jeden Übersetzer, sich bei seiner Arbeit um Treue zum Original zu bemühen: Original und Übersetzung sollen demzufolge in zwei verschiedenen Sprachen dasselbe sagen. Tun sie das nicht, sind wir nicht nur geneigt, die Übersetzung für mangelhaft zu halten, sondern – wenn die Differenz besonders groß ausfällt – sogar grundsätzlich in Zweifel zu ziehen, dass es sich überhaupt um eine Übersetzung handelt. Das ist nicht verwunderlich, denn zur Beurteilung der Übersetzung als Übersetzung steht außer der Treue zum Original überhaupt kein anderer Maßstab zur Verfügung.14 Eine Übersetzung kann nur dann den Anspruch erheben, Übersetzung zu sein, wenn sie dasselbe sagt wie das Original. Die Behauptung unvermeidbarer Differenz zeitigt also das paradoxe Ergebnis, dass sie uns den einzigen Maßstab entzieht, anhand dessen 12 Mit dieser Einschränkung ist gemeint, dass ich das Übersetzungsproblem nicht in Bezug auf einzelne Wörter wie z. B. Apfel/apple oder einfache Propositionen der Art »Ich habe Hunger/I am hungry« betrachte, sondern von philosophischen Äußerungen ausgehe, die mit inhaltlich komplexen, abstrakten und außerdem in spezifischen Kontexten verwurzelten Begriffen arbeiten. Entsprechend der eingangs deutlich gemachten Einschränkung äußere ich mich hier also nicht zum Problem der Übersetzung per se, sondern orientiere mich am Kontext der neukonfuzianischen Anverwandlung der westlichen Begriffssprache. Dass ich dennoch gelegentlich auf Beispiele von deutschen und englischsprachigen Äußerungen zurückgreife, geschieht im Interesse größerer Verständlichkeit. 13 Vgl. die Überlegungen von Steiner (2004), die Texte in Hirsch (1997) sowie die aufschlussreiche Gegenüberstellung verschiedener Übersetzungsmöglichkeiten buddhistischer Texte in Elberfeld/Leibold/Obert (2000). Übersetzung nicht nur als sprachlicher, sondern als kultureller Vorgang wird in seinen verschiedenen Facetten beleuchtet in einem Sammelband von Elberfeld et al. (1999). 14 Man mag in manchen Fällen, etwa dem der Übersetzung eines philosophischen Textes, der Übersetzung den Vorzug geben, weil sie ein Problem begrifflich schärfer fasst als das zugrunde liegende Original. Es ist aber klar, dass die Übersetzung dann nicht als Übersetzung, sondern als philosophischer Text beurteilt wird.

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sich eine Übersetzung als (korrekte) Übersetzung ausweisen lässt. Zur Semantik des Wortes »Übersetzung« gehört der Anspruch auf Identität, so wie zur Praxis des Übersetzens das ständige Verfehlen von Identität gehört. Mit anderen Worten: Nur wo Identität besteht oder mindestens angestrebt wird, können wir von Übersetzung sprechen. Aber: Wo übersetzt wird, kann keine Identität sein. Zu diesem Paradox gesellt sich ein zweites: Wir können keinen theoretisch überzeugenden Beweis dafür antreten, dass zwei Äußerungen in zwei Sprachen miteinander identisch sind, folglich auch nicht dafür, dass es sich bei der einen um die Übersetzung der anderen handelt. Wenn wir eine Äußerung A1 in der Sprache S1 haben und außerdem eine Äußerung A2 in der Sprache S2, über welche Möglichkeiten verfügen wir dann, um A2 als die Übersetzung von A1 auszuweisen? Wir können zwar behaupten, dass es sich um Übersetzung handelt, weil A2 dasselbe sagt wie A1, oder dass es sich nicht um Übersetzung handelt, weil A2 etwas anderes sagt, aber was A1 und A2 sagen, können wir nur entweder in der Sprache S1 oder in der Sprache S2 wiedergeben, womit wir das Problem lediglich wiederholt haben. Oder wir bedienen uns der Sprache S3 – dann haben wir das Problem verdoppelt. Für die Ambivalenz des Übersetzungsbegriffs gibt es in der Literatur zahlreiche Beispiele,15 etwa die folgende Aussage von Gadamer: »Die Forderung der Treue, die an die Übersetzung gestellt wird, kann die grundsätzliche Differenz der Sprache nicht aufheben« (Gadamer 1990: 389). Das Zitat macht zwar erneut klar, was Übersetzung nicht zu leisten vermag, lässt aber offen, welcher Maßstab für die Beurteilung von Treue oder Untreue einer Übersetzung dann noch bleibt. Daher noch einmal Gadamer: »Der Übersetzer muß hier den zu verstehenden Sinn in den Zusammenhang hinübertragen, in dem der Partner des Gesprächs lebt. Das heißt bekanntlich nicht, daß er den Sinn verfälschen darf, den der andere meint. Der Sinn soll vielmehr erhalten bleiben, aber da er in einer neuen Sprachwelt verstanden werden soll, muß er in ihr auf neue Weise zur Geltung kommen. Jede Übersetzung ist daher schon Auslegung« (ebd.: 387f.). Demnach handelt es sich bei der Übersetzung um eine Gratwanderung entlang derjenigen schmalen Linie, die vom Original zwar abweicht, aber ohne es zu verfälschen. Ein nicht vom Einzelfall abhängiges Kriterium für die Unterscheidung von verfälschenden und nicht verfälschenden Abweichungen gibt es allerdings nicht. Die einzige Antwort auf die beiden oben festgestellten Paradoxa der Übersetzung ist daher – das Übersetzen: das im Bemühen um Treue und Annäherung erfolgende ständige Hin und Her zwischen verschiedenen Sprachen, Texten und Kontexten; das Bemühen um Verstehen und um die adäquate Wiedergabe des Verstandenen. Übersetzung ist ein hermeneutischer Vorgang, und für sie gilt wie für jede Auslegung, dass sie nicht objektiv »richtig« sein kann. Sie ist stets mehr oder weniger angemessen, besser oder schlechter begründet, in geringerem oder größerem Maße missverständlich – 15 In einem Text über den Spruch des Anaximander benutzt Heidegger (1977: 329) folgendes Bild: »Wir versuchen den Spruch des Anaximander zu übersetzen. Dies verlangt, daß wir das griechisch Gesagte in unsere deutsche Sprache herübersetzen. Dazu ist nötig, daß unser Denken vor dem Übersetzen erst zu dem übersetzt, was griechisch gesagt ist. Das denkende Übersetzen zu dem, was in dem Spruch zu seiner Sprache kommt, ist der Sprung über einen Graben.«

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und dies wiederum für verschiedene Diskursteilnehmer in unterschiedlicher Weise. Aus dem eben diskutierten Beispiel ergibt sich, dass die Missverständlichkeit von Mou Zongsans Ausdruck zhi de zhijue für einen mit Kant vertrauten Interpreten potentiell größer ist als für jemanden, der ohne ein Vorverständnis von intellektueller Anschauung die Bedeutung des Begriffs zu verstehen versucht. Wer mit der Sinnunterstellung intellektuelle Anschauung an den Begriff herangeht, muss Mou Zongsans Gebrauch für einen Verstoß gegen dessen Semantik und damit für sinnwidrig halten. Wer diese Sinnunterstellung nicht macht – z. B. weil er oder sie nicht weiß, was intellektuelle Anschauung bei Kant bedeutet –, wird unter Umständen offener sein für den Sinn, den Mou Zongsan dem Ausdruck zhi de zhijue gibt. Was folgt nun aus der Tatsache, dass die Bestimmung des Grades von Treue und Untreue der Übersetzung gegenüber dem Original zwar Auslegungssache, »absolute Treue« (Identität) zwischen Original und Übersetzung aber ausgeschlossen ist? Welche Konsequenzen hat dies für die Praxis des Übersetzens? Wie gehen Übersetzer und Interpreten um mit der unvermeidbaren, aber stets unter dem Verdacht der Verfälschung stehenden Differenz? Zwei Strategien16 scheinen besonders verbreitet zu sein: Die eine besteht darin, die Differenz unsichtbar zu machen durch die Tilgung möglichst aller Spuren des Originals und damit der inneren Zweisprachigkeit des Übersetzungstextes, so dass dem Leser nur die glatte Oberfläche der Zielsprache gegenübertritt. Der übersetzte Text gibt dann keinen Hinweis auf Differenz. Diese wird vielmehr verbannt in den unsichtbaren Übergangsbereich zwischen Original und Übersetzung und kann nur durch vergleichende Konsultation beider Texte zum Vorschein gebracht werden. Unsichtbar gemacht wird damit zugleich die Interpretationsleistung des Übersetzers, der angesichts verschiedener Möglichkeiten der Übersetzung Entscheidungen getroffen und damit den Text ausgelegt hat. So entsteht der falsche Eindruck, es handele sich bei der Übersetzung lediglich um einen Akt formaler Übertragung, durch den ein Text einer anderen Sprachgemeinschaft zugänglich gemacht wird, während in Wahrheit jede Übersetzung bereits das Resultat einer inhaltlichen Interpretation durch den Übersetzer ist. In philosophischen Abhandlungen zur chinesischen Philosophie, in denen der Autor die Doppelrolle von Übersetzer und Interpret spielt, besteht zudem die Gefahr, dass die unsichtbare Hand des Übersetzers den Text so präpariert, dass die Schlussfolgerungen des Interpreten an Plausibilität gewinnen. Übersetzung ist dann implizite Interpretation, die den Text den Beweiszielen der expliziten (nämlich argumentierenden) Interpretation des Autors gemäß macht, ohne sich dafür argumentativ zu rechtfertigen. Die andere Strategie betrifft Fälle wie den oben als Beispiel herangezogenen, in denen der zu übersetzende Text selbst bereits Übersetzungen aus der Zielsprache beinhaltet. Stellen wir uns eine deutsche Interpretation/Übersetzung eines Textes von Mou Zongsan vor, in dem bestimmte Begriffe und Zitate aus Kants Werken in chinesischer Übersetzung vorkommen. Dann besteht angesichts des Ausdrucks zhi de zhijue eine Möglichkeit darin, diesen ins kantische Original »intellektuelle Anschauung« zurück zu übersetzen. 16 Ich beschränke mich im Folgenden auf Beobachtungen innerhalb meines eigenen Arbeitsgebietes, nämlich der interkulturellen Philosophie mit besonderer Berücksichtigung des philosophischen Dialogs zwischen China/Taiwan und dem Westen.

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Eine solche Rückübersetzung ließe sich kaum als falsch bezeichnen, schließlich weist Mou Zongsan seinen Ausdruck explizit als Übersetzung dieses kantischen Begriffs aus, und ein Übersetzungsverhältnis ist trivialer Weise immer wechselseitig. Allerdings legt eine solche Rückübersetzung nahe, dass zwischen Mou Zongsans und Kants Begriff Übereinstimmung besteht, dass also »intellektuelle Anschauung« (zhi de zhijue) bei Mou und »intellektuelle Anschauung« bei Kant miteinander identisch sind.17 Wird der Ausdruck hingegen mit »intellektueller Intuition« oder »direkter geistiger Wahrnehmung« wiedergegeben – was jeweils keinen Verstoß gegen die Semantik der Zeichenkombination zhi de zhijue darstellt –, tritt eine Differenz zutage und verlangt nach Erklärung. Ich werde im dritten Abschnitt auf das Problem zurückkommen und argumentieren, dass grundsätzlich solchen Übersetzungen der Vorzug zu geben ist, die zur Schärfung von Differenzbewusstsein beizutragen vermögen. Halten wir einstweilen fest, dass Differenz in den Übersetzungsvorgängen, in denen interkulturelles Philosophieren sich vollzieht, eine zwielichtige Präsenz darstellt: Sie ist ebenso unvermeidbar wie unerwünscht, weshalb ihr Bestehen zu Strategien der Vertuschung zwingt, deren Ziel das Verdecken des Makels ist, der jeder Übersetzung notwendig anhaftet. Damit stellt sich die Frage, ob es Alternativen gibt; einen Umgang mit der Differenz nämlich, der sowohl den zum Scheitern verurteilten Versuch ihrer Tilgung unterlässt als auch das bloß resignierte Feststellen ihrer Unvermeidlichkeit, um stattdessen am Einzelfall möglichst präzise zu benennen, wo sich welche Differenzen zeigen.

II. Mou Zongsan und Kant: Endlichkeit als »Begrenztheit« (you xian xing) Ich komme zurück zum eigentlichen Gegenstand der Untersuchung. Mou Zongsan hat – aus einer Vielzahl von Gründen, über deren Stichhaltigkeit in der Forschung alles andere als Einigkeit besteht – in den 1970er und 1980er Jahren den Versuch unternommen, in der Auseinandersetzung mit der Philosophie Immanuel Kants eine moderne Form konfuzianischen Denkens zu entwickeln. Die Schriften Kants hat er dabei in englischer Übersetzung konsultiert, allerdings deuten die vielen Anfügungen von deutschen Originalbegriffen darauf hin, dass er bei wichtigen Ausdrücken das zugrundeliegende Original mindestens zur Kenntnis genommen hat.18 Sein Ziel ist es, die Modernitätsfähigkeit des konfuzianischen Denkens zu beweisen (vgl. Mou Zongsan 1975). Als Kriterium bei seiner Rekonstruktion dient ihm der kantische Begriff der Autonomie: Mou Zongsan versucht zu zeigen, dass der 17 Der Einfachheit halber sehe ich hier davon ab, dass zwischen dem deutschen Original und der chinesischen Übersetzung der englische Ausdruck intellectual intuition steht, der in gewissem Sinne eine Brücke schlägt und seinerseits mit keinem der beiden anderen Begriffe identisch ist. 18 Wie oben in Fußnote 10 angedeutet, scheint er im Fall der intellektuellen Anschauung (»intellectual intuition«) dennoch eher von der englischen Übersetzung statt vom deutschen Original aus gedacht zu haben.

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Hauptstrom innerhalb des traditionellen Konfuzianismus19 eine »Ethik der Autonomie« (zilü daode) vertritt, welcher deshalb als konfuzianische Orthodoxie bezeichnet werden kann. Orthodoxie im konfuzianischen Sinne wird also begründet mit Autonomie im Sinne Kants, konfuzianische Heterodoxie entsprechend mit kantischer Heteronomie.20 Autonomie im Sinne Kants bedeutet im engeren Sinne »Selbstgesetzgebung des Willens«, d. h. die Unterwerfung des Willens unter ein Gesetz, das er sich selbst gegeben hat. Für Kant ist dies der philosophisch präzise Sinn des Begriffs Freiheit,21 abgegrenzt von den beiden Gegenbegriffen der Heteronomie (Unterwerfung unter ein von anderen empfangenes Gesetz) und der Gesetzlosigkeit. In einem weiteren Sinne steht Autonomie bei Kant für Aufklärung schlechthin, d. h. für das Selbstdenken (sapere aude!) und den emanzipatorischen »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« (WA: A 481) – mithin für den spezifisch modernen Charakter von Kants Philosophie. Wenngleich es unmöglich ist, ein so komplexes Konzept wie das der Moderne auf einen einzigen Begriff zu reduzieren, erscheint es als eine geschickte Wahl Mou Zongsans, die Modernitätsfähigkeit des Konfuzianismus beweisen zu wollen, indem er den kantischen Autonomiebegriff zum Maßstab nimmt. Besteht der Konfuzianismus den Autonomietest, darf die Position der Intellektuellen des Vierten Mai, Konfuzianismus und Moderne seien unvereinbar, als ernsthaft erschüttert gelten.22 Der Zugang zu Kant in Mou Zongsans Schriften der siebziger Jahre ist unmittelbar inspiriert von Mous Lektüre des Kant-Buches von Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (vgl. Mou Zongsan 1971). Darin stellt Heidegger den Begriff der »Endlichkeit«, d. h. der Sterblichkeit des Menschen ins Zentrum seiner Interpretation, welche der »Unendlichkeit« Gottes gegenübersteht (vgl. Heidegger 1998: 24ff.).23 Um Heideggers entschlossene Umdeutung von Kants Vernunftkritik in eine existenzialontologische Analyse hat es heftige Diskussionen gegeben, und die Mehrzahl der Beteiligten ist zu dem Schluss gekommen, dass Heidegger allzu deutlich die Kritik der reinen Vernunft zu einem Vorläufer von Sein und Zeit gemacht und 19 Für Mous Diskussion des Autonomieproblems sind v. a. die song-mingzeitlichen Texte relevant. Der Traditionsstrang, den Mou Zongsan als den orthodoxen ausweisen möchte, zieht sich von Konfuzius und Menzius über Cheng Hao (1032-1085), Lu Xiangshan (1139-1193) und Wang Yangming (1472-1529) und von dort weiter bis zu Mou Zongsan selbst. Es ist also die in China unter dem Titel »Herzgeist-Schule« (xinxue) bekannte Ausprägung des Konfuzianismus, die Mou weiterführen will. 20 So die Konstellation in Mous dreibändiger Studie zum song- und mingzeitlichen Neokonfuzianismus (Mou Zongsan 1968/69), worin die systematische Einleitung, in der er seinen Ansatz entwickelt, knapp 200 Seiten des ersten Bandes umfasst, also für sich bereits den Umfang einer Monographie hat. 21 »[...] was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein, als Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein?« (GMS: BA 97; vgl. auch BA 105f.). 22 In Schmidt (2008) habe ich die Argumentation Mou Zongsans näher untersucht. 23 Wichtige Stellen aus der Kritik der reinen Vernunft, auf die Heidegger sich bezieht, sind z. B. KrV: B 72, B 139 und B 145. Im Hintergrund der Problematik von Rezeptivität und Kreativität steht die Unterscheidung von sinnlicher und intellektueller Anschauung bei Kant.

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die Problematik der Zeitlichkeit menschlicher Existenz in Kants Werk hineingelesen habe.24 Richtig ist allerdings, dass auch für Kant der Gegensatz zwischen der Endlichkeit des Menschen und der Unendlichkeit Gottes paradigmatisch ist. Heideggers Deutung eröffnet deshalb einen Ansatzpunkt für Mou Zongsans eigenes konfuzianisches Erneuerungsprojekt.25 Einerseits möchte er nämlich demonstrieren, dass der Konfuzianismus Kants Autonomiebegriff entspricht; andererseits versucht er aufzuzeigen, wie Kants Denken in einem christlichen Welt- und Menschenbild verwurzelt ist und deshalb keinen angemessenen Begriff von der moralischen Natur des Menschen zu entwickeln vermocht hat. Einen solchen Begriff hat nach Mou Zongsans Überzeugung v. a. der Konfuzianismus hervorgebracht. Ein Selbstverständnis des Menschen als Moralwesen ist daher auf die Ressourcen der konfuzianischen Tradition angewiesen. Mou Zongsan übersetzt den Ausdruck »Endlichkeit« als you xian xing ins Chinesische, also als eine Art von »Begrenztheit« (Haben/Grenzen/heit), die nicht in besonderer Weise auf das Faktum der Sterblichkeit verweist. Stattdessen schlägt der chinesische Ausdruck eine Brücke zu dem in der konfuzianischen Tradition verwurzelten Topos von der menschlichen »Unbegrenztheit« (wu xian xing), worunter freilich nicht »Unsterblichkeit« verstanden wird, sondern die unbegrenzte Fähigkeit zur Empathie und zum Mitleid mit anderen Menschen, zur Überwindung der Grenzen bloßer Individualität und zur Kultivierung der eigenen moralischen Anlagen. Die durch Übersetzung eingeführte Differenz betrifft hier also nicht nur die Semantik des Ausdrucks, sondern auch seinen Kontext. Der Ausdruck wird verpflanzt in ein Umfeld, in dem er in Beziehung steht zu bestimmten Topoi der chinesischen Tradition. Dass der Mensch ein im Sinne des Übersetzungsausdrucks »unbegrenztes« Wesen ist, darin besteht eine Grundannahme konfuzianischer Ethik, gleichsam die Bedingung der Möglichkeit ihrer gesamten Erziehungsund Kultivierungslehre. Das Diktum, welches in Mou Zongsans Übersetzung von »Kant«26 vertreten wird, wonach der Mensch ein begrenztes Wesen ist und allein Gott Unbegrenztheit zugesprochen werden kann, droht dagegen dieser Ethik den Boden zu entziehen und muss widerlegt werden. Für Mou Zongsan handelt es sich um einen Fall von Befangenheit in einem bestimmten religiösen Denkmuster: Aufgrund seiner Herkunft vertritt Kant ein Menschenbild, das geprägt ist vom absoluten Unterschied zwischen Mensch und Gott, d. h. von der Definition – also Eingrenzung! – des Menschen als Nicht-Gott. Als Folge dieses Denkens konnte der Mensch im abendländischen Kulturkreis nur beschrieben werden mit einer Reihe von negativen Attributen, deren jeweilige Gegenteile Eigenschaften Gottes darstellen: sterblich, unwissend, sündhaft etc. Den Menschen mit den gegenteiligen positiven Attributen zu belegen, hätte eine Verletzung göttlicher Exklusivitätsrechte bedeutet, wäre also theo24 Vgl. die Zusammenfassung der Debatte in Sherover (1972). 25 Worin Mou Zongsans Deutung sich von derjenigen Heideggers unterscheidet, wird untersucht von Billioud (2006). 26 Ich setze den Namen bereits hier in distanzierende Anführungszeichen, weil unklar ist, ob dieser Standpunkt wirklich Kant zugeschrieben werden kann. Explizit vertreten wird er lediglich von dem Denker, den ich weiter unten unter seinem chinesischen Übersetzungsnamen als Kants Doppelgänger Kangde vorstellen werde.

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logisch gesprochen ein Sakrileg gewesen. Nun ist es nach Mou Zongsans konfuzianischer Auffassung aber so, dass die genuin moralischen Fähigkeiten des Menschen solche sind, die unter den Aspekt der Unbegrenztheit fallen und damit unter ein Attribut, das dem Menschen innerhalb der christlich geprägten Kultur des Abendlandes abgesprochen werden musste. Im Zentrum von Mou Zongsans Auseinandersetzung mit dem seiner Auffassung nach verfehlten Menschenbild christlicher Provenienz steht der Begriff zhi de zhijue, also die oben eingeführte Übersetzung von Kants Konzept der intellektuellen Anschauung. Wie wir gesehen haben, ist dies bei Kant ein negativer Begriff: Er bezeichnet ein Vermögen, das nur ein unbegrenzter Verstand haben könne, über den der Mensch aber nicht verfüge. Allerdings spricht Kant diesen unbegrenzten Verstand in einigen Nebenbemerkungen Gott zu27 und gebraucht ihn damit in positivem Sinn. Gott verfüge demnach über eine nicht-rezeptive, schöpferische intellektuelle Anschauung, mittels welcher er gemäß einer weiteren Nebenbemerkung Kants die Dinge an sich selbst (und nicht bloße Erscheinungen) schaffe (vgl. KpV: A 138, zit. Mou Zongsan 1975: 116f.). Diese von den meisten westlichen Kant-ForscherInnen als rhetorische Tributzahlungen an die Autoritäten seiner Zeit verstandenen Nebenbemerkungen sind für Mou Zongsan außerordentlich wichtig. Aus ihnen glaubt er schließen zu dürfen, dass Kants transzendentale Unterscheidung in letzter Konsequenz nicht das Resultat einer erkenntniskritischen Argumentation ist, sondern die Funktion einer anderen, noch fundamentaleren Unterscheidung, nämlich der zwischen Mensch und Gott.28 Nicht Vernunftkritik, sondern theologische Dogmatik hat demzufolge Kant zu der Aussage veranlasst, der Mensch sei ein begrenztes Wesen und verfüge nicht über intellektuelle Anschauung. In der Auseinandersetzung mit Kant entwickelt Mou Zongsan also eine These, wie aufgrund bestimmter kultureller Faktoren das abendländische Menschenbild die moralische Natur des Menschen, die in seiner Unbegrenztheit liegt, verfehlt hat – und damit zugleich die Bedingung der Möglichkeit, diese Moralität praktisch zu kultivieren. Innerhalb der vorliegenden Untersuchung ist es unmöglich, der Komplexität und Tragweite dieser These gerecht zu werden. Ich beschränke mich daher auf einige Aspekte, die im Zusammenhang mit dem Thema Mehrdeutigkeit unmittelbare Relevanz besitzen. Offensichtlich erscheint zunächst, dass Mou Zongsan ein strategisches Interesse verfolgt. Seine Auseinandersetzung mit Kant fällt heraus aus dem Rahmen »normaler« Rezeptionsvorgänge, deren Ziel darin besteht, die Gedanken eines bestimmten Denkers zu rekonstruieren und sie kritisch zu durchleuchten. In Mou Zongsans Interpretation erscheint Kant als typischer Repräsentant westlicher Kultur, dessen Diktum von der Begrenztheit des Menschen in Wirklichkeit die Begrenztheit des abendländischen Menschen27 In KrV: B 72 spricht er die intellektuelle Anschauung »dem Urwesen« zu, womit natürlich Gott gemeint ist, wie spätestens aus der Transzendentalen Dialektik hervorgeht (vgl. KrV: B 659ff.). Die Passage B 72 wird zitiert und diskutiert in Mou Zongsan (1975: 108ff.). 28 Allison (2004: 454) dürfte die Mehrheit westlicher Kant-ForscherInnen vertreten, wenn er eine ursächliche Verbindung zwischen Kants Theismus und seiner transzendentalen Unterscheidung ablehnt. Westphal (1968) als Vertreter der Minderheitenmeinung steht Mou Zongsan näher.

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bildes zum Ausdruck bringt. Anders formuliert: Für Mou ist Kant der Verfasser einer Kritik der reinen westlichen Vernunft, die aus konfuzianischer Sicht die innere Unvernunft westlicher Kultur offenlegt. Mou Zongsan betreibt also eine Art von Kulturkritik in apologetischer Absicht, und er macht dabei strategischen Gebrauch von der Mehrdeutigkeit seiner Terminologie. Betrachten wir noch einmal unser Beispiel: Die Übersetzung von Endlichkeit mit you xian xing, also »Begrenztheit«, ist ebenso problematisch wie die von intellektueller Anschauung mit zhi de zhijue. Dass zwischen dem chinesischen und dem deutschen Begriff eine gewichtige Differenz besteht, lässt sich schon daraus ersehen, dass Mou Zongsan zwar vertritt, dass der Mensch unbegrenzt im Sinne von you xian xing sei, nicht aber unendlich im Sinne von unsterblich. Mou bekräftigt also den chinesischen Übersetzungsbegriff wuxianxing (»Unbegrenztheit«), nicht jedoch alle Implikationen des deutschen Ausdrucks, von dem dieser die Übersetzung ist (Unendlichkeit). Umgekehrt schließt er aber aus Kants Affirmation der Endlichkeit, dass dieser das Gegenteil des chinesischen Übersetzungsbegriffs, also die konfuzianisch verstandene »Unbegrenztheit« (wu xian xing) notwendig negieren müsse. Dieselbe Differenzierung, die er selbst in Anspruch nimmt, wird Kant damit verweigert. So kann Mou Zongsan seine Rekonstruktion des Konfuzianismus in kantischen Begriffen zugleich als Korrektur und Überwindung Kants und damit – aufgrund von Kants Funktion als Repräsentant der westlichen Kultur – als Überwindung der abendländischen Philosophie insgesamt darstellen. Dies funktioniert allerdings nur, weil Mou Zongsan einen verdeckten Wechsel zwischen zwei Sprachspielen29 vollzieht, der nicht nur unfair, sondern auch vorschnell ist. Für die Entscheidung der Frage, ob Kant das Diktum von der konfuzianisch verstandenen Unbegrenztheit akzeptiert oder verworfen hätte, gibt es keine sichere Grundlage. In seinen Texten hat Kant das Diktum weder akzeptiert noch abgelehnt – es kam in seinem geistigen Horizont schlicht nicht vor, und er hat sich folglich nicht dazu verhalten. Der Philosoph, der in Mou Zongsans Texten dem Menschen kategorisch seine Unbegrenztheit abspricht, ist also nicht Kant, sondern ein anderer. Es ist ein Denker, der sich auch nicht wie Kant auf Deutsch, sondern auf Chinesisch äußert: einer, der anders als Kant mit bestimmten Topoi des konfuzianischen Denkens vertraut ist, jedoch nicht geneigt, ihnen zuzustimmen. Diesen chinesischsprachigen Philosophen, der in den Texten Mou Zongsans eine so wichtige Rolle spielt, möchte ich im Folgenden Kangde nennen. Im gegenwärtigen chinesischsprachigen Diskurs der Philosophie ist Kangde die Romanisierung der aus zwei Schriftzeichen bestehenden chinesischen Version des Namens Kant; wer diesen Ausdruck benutzt, bezieht sich folglich auf den preußischen Philosophen, der sein Leben in Königsberg verbracht und Deutsch 29 Man könnte sagen, dass Mou Zongsan gleichzeitig zwei verschiedene Sprachspiele spielt, wobei er sich selbst vorbehält zu entscheiden, wann er seine Züge nach den Regeln des einen (des kantischen) und wann nach denen des anderen (des konfuzianischen) Sprachspiels macht. Er bedient sich außerdem gelegentlich der oben kritisierten Strategie, in seiner Eigenschaft als Übersetzer den Text so zu präparieren, dass er als Interpret sein Beweisziel leichter erreicht. Meine Kritik richtet sich daher nicht gegen die Thesen zu Kant, die Mou Zongsan aufstellt, sondern gegen die Abkürzungen im Beweisgang.

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geschrieben hat (bzw. zu Beginn seiner Laufbahn Latein), z. B. die Kritik der reinen Vernunft. Ich werde demgegenüber unterscheiden zwischen diesem Königsberger Denker und seinem chinesischen Doppelgänger Kangde, der keine feste Heimat hat, aber Chinesisch schreibt und etwa der Verfasser eines Werkes namens Chuncui lixing pipan (Kritik der reinen Vernunft) ist.

III. Kant, Kangde und der Begriff des Doppelgängers Welchen Sinn hat nun diese auf den ersten Blick widersinnige Unterscheidung? Zunächst ist sie natürlich heuristischer und experimenteller Natur und möchte nicht die tatsächliche Existenz eines Menschen behaupten, der in Wahrheit nie gelebt hat. Sie bezieht sich in provokant kritischer Form auf den bisherigen Stand des neukonfuzianischen Diskurses, von dem ich glaube, dass er aufgrund problematischer Vorannahmen das gedankliche Potential von Mous Auseinandersetzung mit Kant nicht auszuschöpfen vermocht hat. Stattdessen droht sich der Diskurs festzufahren in die enge Alternative pro oder kontra Mou Zongsan, wobei die einen behaupten, Mous Kant-Interpretation sei als solche schlüssig und stichhaltig, während die anderen dagegen halten, Mou verzerre Kants Denken und stelle es geradezu auf den Kopf.30 Beide Lager stimmen aber darin überein, dass der einzige Maßstab zur Beurteilung von Mou Zongsans Interpretation in den Schriften Immanuel Kants liegt, d. h. beide behandeln Mous Philosophie als ein Stück Kant-Rezeption – wobei es für die Diskursteilnehmer keinen Unterschied macht, ob Kants Schriften auf Deutsch, Englisch oder Chinesisch herangezogen werden, weil sie Übersetzung ohnehin als einen Vorgang der Wahrung semantischer Identität verstehen. Meine Unterscheidung hat zum Zweck, diese geteilte Grundannahme in Frage zu stellen durch die Behauptung, dass es sich bei dem Denker, der uns in Mous Schriften begegnet, gar nicht um den uns bekannten Königsberger Philosophen Kant, sondern um dessen im Westen weitgehend unbekannten Doppelgänger Kangde handelt. Die Unterscheidung ist zudem motiviert durch die Einsicht, dass Mous strategischer Umgang mit Kant in vielerlei Hinsicht problematisch ist. Innerhalb des herkömmlichen Verständnisses von Auslegung und Rezeption wären weite Teile seiner Kant-Interpretation demnach zu verwerfen. Dann allerdings käme die Auseinandersetzung erst gar nicht zu dem Punkt, wo sie philosophisch interessant wird, nämlich zum Problem der grundsätzlich anders akzentuierten Menschenbilder in Konfuzianismus und Christentum sowie zur Frage, welche Konsequenzen sich daraus für die Moralphilosophie in beiden Kulturkreisen ergeben. Hierzu entwickelt Mou Zongsan auf philologisch brüchiger – nämlich wegen der Äquivozität seiner Übersetzungsbegriffe unklarer – Grundlage philosophisch interessante Gedanken, die es verdienen, ernst genommen zu werden. Meine Unterscheidung will daher die durch Übersetzung in den Diskurs eingeführten, aber im Diskurs nicht berücksichtigten Differenzen zunächst einmal sichtbar machen; eben so, dass der deutschsprachige Philosoph Kant und sein chinesischsprachiger Kollege Kangde heuris30 Mou Zongsans Schüler Lee Ming-huei (1990) und Yang Zuhan (1987) verteidigen ihren Lehrer, Chen Yingnian (2005) sowie die erwähnte Studie von Lehmann (2003) vertreten die Gegenmeinung.

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tisch als zwei Denker betrachtet werden, die zwar vielfach aufeinander bezogene, darum aber nicht identische Positionen vertreten. Grundsätzlich lässt sich im Sinne meiner Unterscheidung jeder Übersetzungsvorgang als Konstitution eines Doppelgängers verstehen. Wenn Übersetzung ein Vorgang semantischer Doppelung ist, dann ist das Resultat notwendig ein Doppelgänger: ein dem Original zum Verwechseln ähnlich sehendes und dennoch nicht mit ihm identisches Konstrukt. Zu fragen ist lediglich, erstens ob die Unterschiede zwischen Original und Übersetzung groß genug sind, dass es sich lohnt, die Sache so zu betrachten; und zweitens ob die Missachtung der Differenz im jeweiligen Diskurs so eklatant ist, dass eine radikale Intervention geboten scheint. Im Fall von Kant, Kangde und dem neukonfuzianischen Diskurs treffen beide Annahmen zu. Die Rede von einem Doppelgänger räumt zwar ein, dass der Philosoph Kangde in einer Abhängigkeitsbeziehung zum Königsberger Philosophen Kant steht, ohne den es ihn ja nicht geben würde.31 Gleichwohl verweist der Ausdruck auf die Möglichkeit, dass die Interpretation für einen Moment die hierarchische Beziehung zwischen Original und Übersetzung suspendiert und heuristisch den chinesischsprachigen Philosophen Kangde als »zweites Original« behandelt. Für die Beurteilung von dessen Texten müssen dann andere Kriterien gefunden werden als das der Treue zu oder der Abweichung von den Texten Kants. Und die Suspension der hierarchischen Beziehung zwischen Original und Übersetzung bedeutet auch eine Korrektur der abendländischen Deutungshoheit über »unseren Kant«: Ihm treten eine moderne chinesische (bzw. chinesischsprachige)32 Philosophie und »deren Kangde« gegenüber. Auf einer eher praktischen Ebene soll der Begriff »Doppelgänger« die beiden eingangs angesprochenen Strategien des Umgangs mit Differenz durchkreuzen, welche beide auf der unausgesprochenen Voraussetzung einer Identität von Original und Übersetzung beruhen. Der Doppelgänger beharrt auf seiner Differenz auch dann, wenn er dem »Original« zum Verwechseln ähnlich sieht, und er stellt gerade wegen seiner Ähnlichkeit die Originalität des Originals in Frage. Wenn er konsequent ist, maßt sich der Doppelgänger sogar an, die Beziehung umzukehren und das Original zu seinem Doppelgänger zu erklären.

31 Allerdings liegt eine Abhängigkeit nicht nur zu Kant vor, sondern beispielsweise auch zum Bestehen einer modernen chinesischen Philosophiesprache. So wie Kant ein Vertreter der deutschen Aufklärung ist, so ist Kangde ein Vertreter der chinesischen Moderne, v. a. hinsichtlich ihres hybriden und interkulturellen Charakters. 32 Die Unterscheidung von »chinesischer Philosophie« (zhongguo zhexue) und »chinesischsprachiger Philosophie« (hanyu zhexue) hat Fabian Heubel vorgeschlagen, um deutlich zu machen, dass es angesichts der massiven Beeinflussung durch westliche Terminologie eine »rein« chinesische Philosophie heute nicht mehr gibt, und auch nicht geben kann. Zur chinesischsprachigen Philosophie gehört im Sinne von Heubels Unterscheidung das gesamte Korpus westlicher Texte in chinesischen Übersetzungen – das leitende Kriterium der Zuordnung verschiebt sich also von der ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit von Autoren zur Sprache von Texten (s. He Fabi [Fabian Heubel] 2005).

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Eine deutsche Interpretation, die gemäß der zweiten Strategie – der identischen Rückübersetzung in den Originalausdruck33 – verfährt, müsste Mou Zongsans Ausdruck you xian xing immer mit der kantischen »Endlichkeit« statt mit »Begrenztheit« wiedergeben. Zur Differenz zwischen beiden würde sie folglich nicht vorstoßen oder verfügte jedenfalls über keine Möglichkeit, sie genau zu benennen. Ein Blick auf die moderne Geschichte der Verständigung zwischen chinesischen und westlichen Philosophen fördert eine Fülle von Beispielen zutage, wie beide Seiten jeweils mit ihren Begriffen argumentieren und dabei unterstellen, dasselbe zu meinen wie die Gegenseite – etwa, wenn auf der einen Seite von bentilun und auf der anderen von »Ontologie« gesprochen wird. Diese beinahe willkürlichen Übersetzungen werden dann durch fortgesetzten Gebrauch in Sprachspielen standardisiert, die sich über viele Jahrzehnte erstrecken und in denen Einverständnis sich einstellt nicht als Resultat des Austauschs von Argumenten, sondern als bloße Funktion wechselseitig undurchschauter Missverständnisse. Gerade weil es für die Richtigkeit einer Übersetzung keinen anderen »Beweis« als den pragmatischen Erfolg der Verständigung gibt, lässt sich das Missverständnis nur durch einen Sprung heraus aus dem eingespielten Sprachspiel und hinein in eine neue Übersetzung sichtbar machen (aber wiederum nicht beweisen). Mit dem Ausdruck »Doppelgänger« soll deshalb auf die sich immer wieder neu ergebende Notwendigkeit solcher Sprünge hingewiesen werden. Der Name Kangde signalisiert die Weigerung, das kantische Sprachspiel einfach auf Chinesisch weiterzuführen, und die Notwendigkeit, den Sinn der im Sprachspiel verwendeten chinesischen Begriffe neu zu bestimmen, statt von einer Identität mit den deutschen Begriffen auszugehen. Der Ausdruck »Doppelgänger« markiert also einen Spielraum der Übersetzung und Auslegung, in dem weder vorschnell Identität behauptet noch Differenz als zu tilgender Makel dargestellt wird. Im Gegenteil: Es kommt v. a. auf die Differenzen an. Während im herkömmlichen Paradigma von Auslegung Kangde immer dort Unrecht hat, wo er sich von Kant unterscheidet, gilt es die Möglichkeit zu betonen, dass das, worin Kant und Kangde sich unterscheiden, uns über beide Philosophen etwas zu sagen haben könnte. Wir müssen schließlich damit rechnen, dass eine Übersetzung nicht willkürlich Differenzen produziert, sondern interne Differenzen und damit die Mehrdeutigkeit eines Begriffs sichtbar macht. Der Doppelgänger wäre dann die explizite Realisierung einer im Original angelegten Möglichkeit der Auslegung. So wie eine interne Mehrdeutigkeit des Wortes »Geist« zutage tritt durch die Überlegung, es entweder als spirit oder mind ins Englische zu übersetzen, so kann auch die Übersetzung von Kants Terminologie ins Chinesische neue und bisher nicht gesehene Mehrdeutigkeiten offen legen. Wenngleich Kants Rede von der Endlichkeit des Menschen nicht als bewusste Zurückweisung der konfuzianischen Unbegrenztheit verstanden werden darf (da Kant von letzterer keine Kenntnis hatte), könnte sich die Kontrastierung mit dem konfuzianischen Menschenbild als hilfreich erweisen beim Aufspüren von Momenten von Kants Philosophie, denen die westliche KantForschung bisher keine Aufmerksamkeit geschenkt hat. Mit anderen Worten, es könnte sich der Versuch lohnen, auf der Grundlage von Kants Schriften 33 Beziehungsweise in Mous Falle in den englischen Übersetzungsausdruck, den er seiner »Fort(über)setzung« ins Chinesische zugrundelegt.

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diejenige Antwort zur Unbegrenztheitsthese zu rekonstruieren, die Kant hätte geben müssen, wäre ihm die These vorgelegt worden.34 Alle diese Überlegungen bewegen sich diesseits einer Entscheidung über die »Richtigkeit« von Mou Zongsans Interpretation und sollen lediglich zeigen, wie unangemessen die Frontstellung ist, in der sich der neukonfuzianische Diskurs festzufahren droht: Mou Zongsan hat weder alle wesentlichen Probleme und Widersprüche des Kritizismus beseitigt, wie seine Anhänger behaupten, noch hat er etwa Kant gar nicht verstanden, wie seine Gegner ihm vorhalten. Vielmehr hat er Kant ins Chinesische und den Konfuzianismus ins Kantische übersetzt und damit letztlich von beiden einen Doppelgänger geschaffen: Einen Konfuzius, ausgestattet mit dem philosophischen Problembewusstsein und der terminologischen Schärfe nach-kantischer Philosophie, und einen Kant, der als Kenner der konfuzianischen Tradition auftritt und sich ihr gegenüber kritisch äußert. Diesen Philosophen gab und gibt es in Wirklichkeit nicht, aber sein Denken lässt sich aus Mou Zongsans Schriften, sowie aus den Werken Kants und des Konfuzianismus gewinnen, wenn man sie mit der Bereitschaft liest, in ihnen andere Inhalte als die längst kanonisierten zu entdecken. Wohlgemerkt: Es geht hier um die Erweiterung von Spielräumen für die Auslegung, nicht um die Lockerung oder gar Auflösung von »Standards« für die Übersetzung. Keiner mutwilligen Produktion von Unterschieden durch fahrlässigen Umgang mit Texten soll hier das Wort geredet werden, sondern dem Mut zum kreativen Umgang mit Differenzen, der eine genaue Textlektüre zur Voraussetzung hat – mit verschleierten Differenzen oder solchen, die erst gar nicht bemerkt worden sind, ist schließlich kein kreativer, sondern allenfalls ein dilettantischer Umgang möglich.

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34 Womit noch nicht behauptet werden soll, eine solche Antwort ließe sich mit Eindeutigkeit feststellen. Der Versuch könnte auch ergeben, dass Kants Philosophie in diesem Punkt unentschlossen ist.

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Übersetzung. Annäherungen an einen spezifischen Verstehensprozess MARTIN DÖSCH

Die folgenden Seiten beschäftigen sich mit verschiedenen Aspekten des Übersetzens. Sie erheben keinen Anspruch auf Genauigkeit, Vollständigkeit oder gar Systematik. Sie entspringen meiner eigenen Übersetzungspraxis und sind die Folge reflektierender Bemühungen – sind also geprägt von dem zweifachen Bemühen, Übersetzungen anzufertigen und diese selbst wieder theoretisch einzufangen. Und doch sind sie auch etwas Drittes. Sie gehen nicht auf in Übersetzung, denn das sind sie nicht, stellen aber auch keine Theorie des Übersetzens dar. Man findet weder Anweisungen für richtiges Übersetzen noch systematische Reflexion über das Wesen der Übersetzung. Es handelt sich um etwas anderes – es sind einfach Gedanken.

I. Ein Beispiel Um über Übersetzung zu sprechen, müssen wir uns einen (wenn auch vielleicht naiven) Begriff davon machen, wovon wir eigentlich sprechen wollen. Übersetzung kann zunächst einmal sowohl Verfahren als auch Ergebnis sein. Man könnte damit die Ersetzung eines Textes in einer Ausgangssprache durch einen äquivalenten Text in der Zielsprache bezeichnen. Dabei muss man aber auch die Bedingungen angeben, unter denen diese Äquivalenz bestehen soll. Schwierigkeiten tauchen schon dann auf, wenn man festlegen möchte, in welcher Sprache diese Äquivalenzbedingungen formuliert werden sollen. Sie setzen sich fort, wenn es darum geht, diese Bedingungen zu überprüfen, denn es steht eben keine Metasprache zur Verfügung, die eine Überprüfung ermöglichte, wie bereits der chinesische Denker Zhuangzi (4./3. Jahrhundert v. Chr.) sagte: »Angenommen, du disputierst mit mir. Wenn du mich schlägst und ich dir unterliege, muß das dann heißen, daß du wirklich recht hast und ich wirklich unrecht habe? Schlage ich dich und du unterliegst mir, habe ich dann wirklich recht, und hast du wirklich unrecht? Hat einer von uns recht, und der andere hat unrecht? Oder haben beide von uns recht oder beide unrecht? Weder du noch ich können das wissen, und andere tappen noch mehr im dunkeln. Wen sollen wir um einen Schiedsspruch bitten? Sollen wir jemanden fragen, der deiner Meinung ist? Da er deiner Meinung ist, wie könnte er fair entscheiden? Sollen wir jemanden fragen, der meiner Meinung ist? Da er meiner Meinung ist, wie könnte er fair entscheiden? Soll jemand die Angelegenheit entscheiden, der mit uns beiden nicht über-

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Martin Dösch einstimmt? Wie könnte er entscheiden, wenn er mit keinem von uns übereinstimmt? Soll jemand die Angelegenheit entscheiden, der mit uns beiden übereinstimmt? Wie könnte er entscheiden, wenn er mit uns beiden übereinstimmt? Wenn nun also weder du noch ich, noch eine andere Person in der Lage sind zu entscheiden – sollen wir auf noch jemand anderen warten?« (Mair 1998b: 84f.)

Dieser Text Zhuangzis ist selbst eine deutsche Übersetzung einer englischen Übersetzung des chinesischen Originals. Um die Transitionalität der Übersetzung zu zeigen, wird zunächst die englische Übersetzung, von der sie gewonnen ist, präsentiert, und im Anschluss daran der chinesische Text in seiner klassischen Sprachform. »Suppose that you and I have a dispute. If you beat me and I lose to you, does that mean you’re really right and I’m really wrong? If I beat you and you lose to me, does that mean I’m really right and you’re really wrong? Is one of us right and the other wrong? Or are both of us right and both of us wrong? Neither you nor I can know, and others are even more in the dark. Whom shall we have decide the matter? Shall we have someone who agrees with you decide it? Since he agrees with you, how can he decide fairly? Shall we have someone who agrees with me to decide it? Since he agrees with me, how can he decide fairly? Shall we have someone who differs with both of us to decide it? Since he differs with both of us, how can he make a decision? Shall we have someone who agrees with both of us to decide it? Since he agrees with both of us, how can he make a decision? Given that neither you nor I, nor another person, can know how to decide, shall we wait for still another?« (Mair 1998a: 23) »㡲∎㒠咖啴戾䩲ᇭ啴╬㒠ᇭ㒠ₜ啴╬ᇭ啴㨫㢾⃮ᇭ㒠㨫槭⃮挹ᇭ㒠╬啴ᇭ啴ₜ⛍╬ᇭ㒠㨫㢾 ⃮ᇭ力㨫槭⃮挹ᇭ␅㒥㢾⃮ᇭ␅㒥槭⃮挹ᇭ␅⊀㢾⃮ᇭ␅⊀槭⃮挹ᇭ㒠咖啴ₜ厌䦇䩴⃮ᇭⓖ ⅉ⦉♦␅煽桖ᇭ⛍崿∎㷲⃚ᇭ∎⚛⃝啴劔㷲⃚ᇭ㡲咖啴⚛䩲ᇭ㍰厌㷲⃚ᇭ∎⚛⃝㒠劔㷲⃚ᇭ 㡲⚛⃝㒠䩲ᇭ㍰厌㷲⃚ᇭ∎䟿⃝㒠咖啴劔㷲⃚ᇭ㡲䟿⃝㒠咖啴䩲ᇭ㍰厌㷲⃚ᇭ∎⚛⃝㒠咖啴 劔㷲⃚ᇭ㡲⚛⃝㒠咖啴䩲ᇭ㍰厌㷲⃚ᇭ䏅ⓖ㒠咖啴咖ⅉᇭ⊀ₜ厌䦇䩴⃮ᇭ力㈔㈋⃮挹ᇭ« (燙䓸嵥᧨ 嶇⷟楕㒟)

Dieser Text beschäftigt sich mit dem Problem der Entscheidbarkeit von Diskussionen. Wenn wir für »ich«, »du« und »anderer« die Begriffe »Zielsprache«, »Ausgangssprache« und »dritte/Meta-Sprache« setzen, erhalten wir eine Diskussion unseres Problems. Es seien lediglich ein paar Anmerkungen zu diesem Text und seinen Übersetzungen erlaubt. Übersetzung kann offenbar in mehreren Stufen ablaufen (Übersetzung von Übersetzung). Was ist somit die eigentliche Referenz? Der Urtext (wie wird er ermittelt)? Oder der direkte Ausgangstext (welche Bedeutung hat er)? Schauen wir uns ein paar Details der Übersetzung an. Die Ausgangssituation im Chinesischen ist annähernd symmetrisch: 㒠咖啴 (ich und du), dem folgt das Englische, während das Deutsche eines der Subjekte deutlich vom anderen abhebt (Hypotaxe anstelle von Parataxe). In beiden Übersetzungen verschwindet die Eigenschaft des chinesischen Zeichens 㢾, welches sowohl »dies« als auch »richtig« und »ja« bedeuten kann (und im modernen Chinesischen einfach die Kopula »sein« bezeichnet) und hier mit »right« bzw. mit »recht haben« übersetzt wird. Nach diesen Eindrücken des Übersetzungsprozesses, komme ich nun zu den inhaltlichen Bemerkungen.

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Übersetzung

Es bietet sich an, den Text auf die Frage nach der richtigen Übersetzung zu übertragen. Nehmen wir an, wir haben einen Text und seine Übersetzung. Wie können wir entscheiden, ob sie übereinstimmen? Wir können es aus der Perspektive des Textes sehen (»du«), wir können es auch aus der Perspektive der Übersetzung sehen (»ich«) – aber könnten wir eine Zwischenposition einnehmen? Was wäre das Kriterium, um zwischen richtig und falsch zu entscheiden? Weder der, der nur je eine Sprache beherrscht, noch der, der keine der beiden Sprachen spricht, ist dazu in der Lage. Selbst der, der beide Sprachen beherrscht, ist nicht in der Lage zwischen richtig und falsch zu entscheiden, da es auch für ihn kein Kriterium der Entscheidung gibt (NB: das »fairly« ist zwar vielleicht nicht falsch, aber nicht so explizit im Chinesischen angelegt). Die Entscheidung wird also immer wieder aufgeschoben. Und die Lösung? Sie liegt in der rhetorischen Frage, ob wir wirklich warten sollen, bis tragfähige (Mair schreibt »fair«) Kriterien vorliegen, die eine „richtige“ Übersetzung ermöglichen. Sie impliziert die pragmatische Antwort: Nein, wir müssen nicht warten, das Leben geht dennoch weiter, also arbeiten wir mit dem, was wir haben. Selbst wenn es unvollkommen ist, so wird es doch nur dadurch vollkommen, dass wir es vollziehen.

II. Weitere Aspekte des Übersetzungsprozesses Auch im Folgenden unternehmen wir keine systematische Analyse von Übersetzung. Wir wenden uns eher einzelnen Aspekten, Gesichtspunkten zu, die im Prozess und Ergebnis von Übersetzung eine Rolle spielen. S EMANTISCHE I DENTITÄT Definitionen: Identität ist eine zweistellige Relation, die jeder Gegenstand nur (und genau) zu sich selbst hat. Bezeichnungen heißen dann identisch, wenn sie sich auf denselben Gegenstand beziehen. Semantische Identität herrscht also zwischen Begriffen gleicher Referenz. Überlegungen: Semantische Identität erscheint als Idealvorstellung des Übersetzens. Aber ist diese Identität überhaupt zu erreichen, und wenn ja, wäre dies zu wünschen? In der Übersetzung geht es aber nicht nur um semantische Identität einzelner Begriffe, sondern um die eines ganzen Textes. Um wirkliche semantische Identität zu erreichen, müssten also nicht nur einzelne Begriffe synonym sein, sondern sie müssten auch in exakt denselben Beziehungen zu allen anderen in diesem Text auftauchenden Begriffen wie in der Ausgangssprache stehen, denn auch die Textstruktur hat Einfluss auf die Semantik. Eine zusätzliche Schwierigkeit besteht darin, dass in geisteswissenschaftlichen Texten (aber nicht nur in diesen) die Referenz oftmals eine Idee, ein geistiges Konstrukt ist, so dass die Identität nicht nur die Bedeutung, sondern auch den Sinn erfassen müsste. Aber mit einer Einfühlung in den intendierten Sinn tut man sich nicht nur nach Schleiermacher schwer.

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Martin Dösch

Ä QUIVOZITÄT Definitionen: Besitzt ein Wort mehrere Bedeutungen, so nennt man es äquivok. Ein Großteil der Wörter einer Sprache sind äquivok. Dabei gibt es mehrere Arten von Äquivozität, z. B. ist »Schloss« in einem etwas anderen Sinne äquivok als »Geist«. Die Sprachwissenschaft spricht statt von »äquivok« lieber von »homonym« und knüpft daran weitere Unterscheidungen. Überlegungen: In der Regel bringt die Verwendung äquivoker Ausdrücke keine Schwierigkeiten mit sich, da aus dem Kontext des Sprechers meist erkennbar ist, welche Bedeutung gerade gemeint ist. Schwierig wird es jedoch dann, wenn die Unterscheidung der einzelnen Bedeutungen nicht gemacht wird, sei es, weil sie nicht bewusst sind – da vergessen oder nicht bekannt –, sei es, weil absichtlich mit einem verschiedenen Bedeutungsgehalt gespielt wird. Auch in literarischen Kontexten wird oft mit der Mehrdeutigkeit von Bezeichnungen gespielt. Für die Übersetzung stellt die Äquivozität ein Problem dar, wenn die Bedeutungsebenen nicht deutlich genug unterschieden werden (können). D IFFERENZEN Definitionen: Eine »Differenz« bringt auseinander, sie unterscheidet das Nichtidentische. Sie ist sowohl das Ergebnis einer Subtraktion (Erkenntnistheorie) als auch die Folge der Nichtidentität (Ontologie). Überlegungen: Differenzen bringen nicht nur auseinander, sondern sie schaffen auch erst die Voraussetzungen und Möglichkeiten, aufeinander zugehen zu können. Die Übersetzung ist eine Reaktion auf Differenzen und hebt diese in sich auf, indem sie sie sowohl beseitigt als auch bewahrt, auf eine höhere Stufe hebt. Um Übersetzung zu sein – und zu bleiben –, muss sie also erst Differenzen feststellen, die bestehenden Differenzen beseitigen (der Übersetzer muss erst hinübersetzen), aber sie zugleich wieder einsetzen (der Übersetzer muss auch wieder herübersetzen) und so transformieren. Es bleiben also immer Differenzen bestehen, nur sind sie im Prozess des Übersetzens transformiert worden. R AHMEN Definitionen: Ein »Rahmen« macht eine Vorgabe, innerhalb welchen Bereiches es um etwas geht. Er steckt das Spielfeld ab und gibt die Regeln vor. Ein Rahmen setzt eine Grenze zwischen Innen und Außen. Überlegungen: Für die Übersetzung sind zweierlei Rahmen von Bedeutung. Zum einen der Rahmen, innerhalb dessen sich der zu übersetzende Text befindet. Es ist dies der geistige, kulturelle, politische, materielle Hintergrund des Autors und seiner Motivationen. Diesen Rahmen zu erkennen, ist die erste (und vielleicht wichtigste) Aufgabe des Übersetzers. Es gibt jedoch noch einen zweiten Rahmen, der vielleicht ebenso wichtig ist. Dieser Rahmen wird gesetzt durch den Zweck, zu dem die Übersetzung verfasst wird. Geht es etwa um eine Übersetzung für ein allgemeines Publikum, so kann (oder muss) die Übersetzung anders gestaltet werden, als wenn sie sich an ein Fachpublikum richtet. 164

Übersetzung

M OTIVATIONEN Definitionen: »Motivationen« sind Gründe und Antriebe des Handelns oder Verhaltens. Es kann sich dabei um einen Willensakt handeln, aber nicht notwendigerweise. Überlegungen: Oftmals bestimmen Motive und Motivationen eine Übersetzung in entscheidendem Maße. Stephan Schmidt hat dies in seinem Beitrag in Bezug auf Mou Zongsan sehr deutlich gemacht (Schmidt i. d. B.). Gerade weil die Konnotationen von Original und Übersetzung so gut wie nie übereinstimmen, halte ich den Begriff der Motivation für entscheidend, um mich der Qualität des Übersetzungsprozesses anzunähern. Bei der Benutzung von Übersetzungen könnte man deswegen auf die Idee kommen, die Übersetzung zu bevorzugen, die nicht um einer bestimmten Untersuchung/Argumentation willen entstanden ist. Aber auf Motive und Motivationen lässt sich dennoch nicht ganz verzichten – es gäbe sonst keine Übersetzungen. K RITERIEN /M ASSSTÄBE Definitionen: Ein »Kriterium« ist allgemein ein Unterscheidungsmerkmal, ein entscheidendes Kennzeichen, an dem die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Menge oder zu einem Bereich abgelesen werden kann. In der Logik ist es Kennzeichen der inhaltlichen oder formalen Richtigkeit eines Satzes. Überlegungen: Kriterien beurteilen die Gegenstände, Eigenschaften und Sachverhalte, deren Kriterium sie sind. Sie sind also von dem Beurteilten verschieden. Wie sind sie also anwendbar? Wie müssen die »inneren« Eigenschaften eines Textes veräußerlicht werden, um als transportierbarer Maßstab auf einen anderen Text angewendet und verinnerlicht zu werden? Die Schwierigkeit, ein für Übersetzung geeignetes Kriterium zu finden, liegt zum einen an einer fehlenden Metasprache (s. obige Bemerkungen zum Text von Zhuangzi), zum anderen aber auch an der oftmals fehlenden Bereitschaft, einen geeigneten Rahmen feststellen zu wollen, innerhalb dessen Übersetzung geschieht. R ICHTIG /G UT Definitionen: »Richtig« bedeutet dem tatsächlichen Sachverhalt entsprechend (Erkenntnistheorie), keinen Fehler oder Widerspruch enthaltend (Logik) oder den Erwartungen oder Umständen entsprechend (Handlungstheorie, Ethik). »Gut« in Bezug auf eine Übersetzung bedeutet, dass sie den Ansprüchen genügt und von hinreichender (wie auch immer zu beurteilender) Qualität ist. Eine Übersetzung kann sowohl richtig/korrekt sein als auch gut/geeignet, muss aber nicht beide Eigenschaften vereinen. Überlegungen: Um richtig und gut einer Übersetzung zu beurteilen, bedarf es der Kenntnis mehrerer Faktoren. Für ein Urteil immer nötig ist ein Maßstab, an dem es sich ausrichtet. Es muss den Rahmen seiner Gültigkeit beachten und sollte auch auf die beteiligten Motive Rücksicht nehmen. Die »Richtigkeit« fragt v. a. nach semantischer Identität, nach Äquivalenz. Die Bewertung der »Güte« einer Übersetzung fragt v. a. nach der Lesbarkeit und Anwendbarkeit bzw. Brauchbarkeit. Auch die Auswahl dieser Kriterien ist 165

Martin Dösch

Motivationen unterworfen. Sie steht in einem Rahmen, übersetzt für sich selbst Übersetzung.

III. Ausblick Wir haben verschiedene Aspekte betrachtet, gelegentlich aus etwas seltsam anmutenden Perspektiven. Aber auch das leistet Übersetzung: Sie setzt eine fremde Perspektive in eine Perspektive, die der Betrachter betrachten kann, sie erhält und verändert. Nur durch den Wechsel von Perspektiven erfahren wir Neues, tauchen wir ein in das Leben anderer. Der Prozess der Übersetzung kann so als Metapher für den Prozess des Lebens dienen. Was und wie viel hier übertragen wird, liegt an uns selbst.

Literatur Mair, Victor H. (Hg.) (1998a): Wandering on the Way. Early Taoist Tales and Parables of Chuang Tzu, Honolulu: University of Hawai’i Press. Mair, Victor H. (Hg.) (1998b): Zhuangzi. Das klassische Buch daoistischer Weisheit, Frankfurt/M.: Krüger. Zhuangzi jijie 嘙⷟楕屲 [Gesammelte Erläuterungen zu Zhuangzi], Zhuzi jicheng ed. Zhonghua shuju chubanshe.

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IV. GRENZEN

Zur Epistemologie der Natur/Kultur-Grenze und zu ihren disziplinären Folgen* ALBRECHT KOSCHORKE

I. Die Opposition Natur-Kultur ist so geläufig und wird in der Regel so gedankenlos gebraucht, dass es wenig lohnend scheint, sich ein weiteres Mal mit ihr zu befassen. Wer das dennoch unternimmt, lädt sich drei Probleme auf. Zum einen muss er darlegen, was unter »Natur« zu verstehen ist, oder genauer: wie dieser Begriff unter den unterschiedlichen historischen und erkenntnistheoretischen Vorzeichen bestimmt wurde. Zum anderen muss er die Frage beantworten, welchen Gehalt im Gegenzug der Begriff »Kultur« hat, wenn er als Antonym von »Natur« gefasst wird – und nicht etwa in Differenz zu Kulturlosigkeit oder zu anderen Kulturen. Und schließlich ist da noch der Bindestrich in der Mitte, der als unscheinbares Drittes der Unterscheidung die beiden Terme sowohl trennt als auch miteinander verkettet. Man ist also nicht nur mit den beiden Seiten der begrifflichen Opposition, sondern auch mit dem Modus des Unterscheidens selbst konfrontiert. Was die Funktionsweise der Natur/Kultur-Entgegensetzung betrifft, scheint die Begriffsgeschichte von »Kultur« zunächst eine einfache Handreichung zu bieten. »Kultur« ist ja anfangs ein unselbständiger Ausdruck und bedarf einer Genitivergänzung, um sinnvoll zu werden: angefangen von der Agrikultur als dem lateinischen Wortursprung über die cultura animi bei Cicero bis hin zu mittelalterlich-christlichen Prägungen (cultura dolorum; vgl. Perpeet 1976: 1309f.; Baecker 2003: 45). Erst im 18. Jahrhundert wird die Kultur grammatikalisch und der Sache nach autonom. Fortan kommt sie ohne Spezifizierung aus; sie ist nicht mehr die Kultur, und d. h. alteuropäisch: die Kultivierung, die Pflege von etwas, und damit nicht mehr vorrangig auf etwas Zuhandenes, ihr Vorgegebenes, als natürlich oder göttlich Unverfügbares verwiesen. Stattdessen vermag sie sich nun auf sich selbst oder auf andere Gestaltungen ihrer selbst zu beziehen; sie wird zu einer in sich vollständigen Welt – auch wenn das Vorgängige der Kultur, die Natur, mehr oder minder eingestandenermaßen, eine Randbedingung kultureller Erscheinungen bleibt. Wenn sich auf diese Weise rein sprachgeschichtlich ein wachsendes Gewicht von »Kultur« innerhalb der Natur/Kultur-Dichotomie verzeichnen lässt, so scheint dieses Begriffspaar darum doch vergleichsweise einfach gebaut zu sein. Es handelt sich ja offenbar um zwei Teilmengen eines Ganzen, *

Zuerst erschienen in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 83 (2009), S. 9-25.

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Albrecht Koschorke

die sich zusammen zu 100% addieren. Kultur ist, was nicht Natur ist, und umgekehrt. Nimmt der Raum der vom Menschen geschaffenen Wirklichkeit auf unserem Planeten zu, so vermindert sich der Bereich der »Natur« dementsprechend. Die Interaktion beider Terme bleibt ein Nullsummenspiel: Nichts geht verloren, nur die Balance zwischen den Begriffen verschiebt sich. Bei näherem Hinsehen geht diese Rechnung allerdings nicht so glatt auf. Es sind hier grundsätzlich zwei Niveaus zu unterscheiden: das Niveau der materiellen und das einer symbolischen Produktion. Erstere betrifft die ergologische Dimension der Kultur, die sich auf den Menschen als Werkzeug gebrauchendes Wesen bezieht. Agrikultur als Ursprung von Kultur überhaupt heißt ja nichts anderes als die Bearbeitung des natürlichen Bodens mit Hilfe von Werkzeugen, um den Ertrag an natürlicher Nahrung zu steigern. Entsprechend lässt sich die Technik, jedenfalls in vorindustriellen Gesellschaften, als Bearbeitung der Natur mit Werkzeugen verstehen. Dadurch wird natürlich Gegebenes vermehrt oder verfeinert, oder es werden Artefakte geschaffen, mit denen sich Menschen eine über die vorfindlichen Bedingungen der Natur hinausgehende Existenzform ermöglichen. Auch wenn man das Verhältnis zwischen Kultur und Natur – in Anlehnung an basale Ernährungsvorgänge – mit einem gewissen Recht als Stoffwechsel bezeichnen kann, ist darunter nicht eine Abnahme auf der einen und Zunahme auf der anderen Seite zu verstehen. Kulturelle Artefakte hören ja nicht auf, aus natürlichen Substanzen zu bestehen, auch wenn sie weitgehend von Menschen geschaffen wurden. Um einen »Zuwachs an Kultur« und eine korrelative »Abnahme von Natur« auf materieller Ebene zu denken, wäre folglich ein komplexeres Modell von kulturellem Stoffwechsel einzuführen. Es hätte nicht ein einfaches Geben und Nehmen zwischen beiden Seiten dieser Dichotomie, sondern eine mehrstufige Verarbeitungskette von in der Natur Vorfindlichem darzustellen. Dabei würden sogenannte Rohstoffe (das sind sie ja nicht von sich aus, sondern erst aus einer technischen Verwertungsperspektive) in verschiedenen Schritten zu Gebilden verarbeitet, die es in einer Natur ohne Menschen nicht gäbe. In dieser Hinsicht kann man tatsächlich sagen, dass das natürlich Beschaffene abnimmt und das unter kulturellen Vorzeichen Produzierte zunimmt, jedenfalls entlang der Oberfläche des Planeten Erde. Es ist ein Gemeinplatz, dass die menschliche Technik immer tiefer in die natürlichen Grundlagen eingreift. Allerdings bedeutet auch das nicht einfach einen »Schwund« der Natur, sondern ihre Anverwandlung und Umgestaltung. Hier zeigt sich schon, dass man auf die Dauer nicht mit einem binären Modell Natur-Kultur auskommen kann, sondern es zu einem (mindestens) ternären Modell erste Natur – kulturelle/technische Bearbeitung – zweite Natur erweitern muss. Aber »Kultur« bedeutet ja nicht nur das technische Hervorbringen von Dingen, die in der Natur so nicht vorkommen. Entsprechend beschränkt sich das Verhältnis der Kultur zur Natur nicht auf Verbrauch oder Aufbereitung von Rohstoffen. Neben dieser Ebene der materiellen Anverwandlung gibt es eine zweite Ebene, nämlich die Ebene der symbolischen Produktion. Ein entscheidendes Definiens von menschlicher Kultur ist neben dem Werkzeuggebrauch der Symbolgebrauch. Zentral ist dafür die Sprachlichkeit des menschlichen Verhältnisses zur Welt, die es erlaubt, nicht bloß mit materiellen Dingen umzugehen, sondern Bedeutungen zu prozessieren. Bei Max Weber heißt es: »›Kultur‹ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen 170

Zur Epistemologie der Natur/Kultur-Grenze

Unendlichkeit des Weltgeschehens« (1968: 180). In der Kulturwissenschaft um 1900, zu der auch Webers Soziologie zu zählen ist, war es mit den Worten Dirk Baeckers (2003: 90) eine neuartige Idee, »daß die Kultur es mit selbstgeschaffenen Bedeutungswelten zu tun hat und daß der Mensch, wenn er sich in seiner Welt orientiert, auf nichts anderes stößt als auf diese selbstgeschaffenen Bedeutungswelten.«

Wenn nun Kultur nicht nur eine Welt aus Artefakten ist, sondern auch eine vom Menschen »selbstgeschaffene Bedeutungswelt«, eine Welt aus Symbolen, wie soll man sich dann einen »Stoffwechsel« vorstellen, der Naturdinge in kulturell erzeugte Symbole verwandelt? Es empfiehlt sich, diese Frage – die Grundsatzfrage jeder Epistemologie – vorsichtshalber nicht frontal, sondern über einen Umweg anzugehen. Mit Blick auf die Begriffsgeschichte von »Kultur« wurde gesagt, dass sich in ihr eine Tendenz zur Autonomisierung dessen abzeichnet, was menschliche Kultur genannt werden kann; sie wird unabhängig von Genitivkonstruktionen, die sie als Bearbeitung bzw. Verfeinerung eines vorfindlichen Gutes charakterisieren, und vermag sich in wachsendem Maß auf sich selbst als eine Form der Welthervorbringung sui generis zu beziehen. Trifft dies nun auch auf den Aspekt von Kultur zu, den Dirk Baecker eine »selbstgeschaffene Bedeutungswelt« nennt? Wird auch die Symbolproduktion unabhängiger von dem, was in der Natur vorfindlich und insofern »unvordenklich« ist? Spätestens an dieser Stelle beschwört die Analogie von materieller und symbolischer Naturaneignung, so nützlich sie in anderen Zusammenhängen sein mag, eine ganze Reihe von schier unüberwindlichen Schwierigkeiten herauf. Erstens: Inwiefern sind Symbole Instrumente der Bearbeitung von vorfindlicher Natur? Wie soll man zwischen Natur und Kultur eine Linie ziehen und auf der einen Seite eine Liste der natürlich zuhandenen Dinge, auf der anderen Seite eine Liste der kulturell verfügbar gemachten Symbolisierungen anlegen? Zweitens: Was bedeutet das wachsende Autonomwerden von Kultur in diesem Zusammenhang? Emanzipiert sich die »selbstgeschaffene Bedeutungswelt« von der Vorfindlichkeit der Natur? Heißt das, dass höher entwickelte Gesellschaften eine Bedeutungswelt geschaffen haben, die von der vorfindlichen Natur weiter entfernt ist als in, sagen wir, Jäger- und Sammlerkulturen? Man gelangt hier an einen Punkt, an dem die Analyse fundamentaler gesellschaftlicher Unterscheidungen in die Analyse kultureller Narrative übergeht, die man Große Erzählungen nennen kann. Es gibt ja eine große geschichtsphilosophische Erzählung, die von der Emanzipation des Menschen durch sein Vermögen zur Symbolisierung handelt: Anfangs wären die Menschen auch in ihrer Symbolproduktion durch den geringen Entwicklungsgrad ihrer Produktivkräfte gefesselt gewesen und hätten nur verzeichnen können, was die Natur ihnen gebot; erst später hätten sie die Freiheit gefunden, sich von dem unmittelbar Vorfindlichen auch ihrem Erkenntnisstand nach zu emanzipieren. D. h., am Anfang wären die Symbole gleichsam näher an den Sachen gewesen und hätten sich erst nach und nach Freiheitsspielräume von der Fesselung durch das Materielle erworben. Diese Große Erzählung wirkt plausibel, wenn man einen bestimmten Ausschnitt der Symbolproduktion wählt: beispielsweise all die Symbolsysteme, die überhaupt erst durch eine 171

Albrecht Koschorke

fortgeschrittene Technik welthaltig wurden und in der sozialen Kommunikation implementiert werden konnten. Das second life-Universum, das im Internet entsteht und sich dort ausdehnt und vervollständigt, ist unter diesem Blickwinkel sicherlich weiter entfernt von der vorfindlichen Natur als die Objektsprache von Stammeskulturen, die auf Subsistenzwirtschaft beruhen und von der Natur in einer elementaren Weise abhängig sind. Aber es gibt zu dieser Großen Erzählung, die von der Emanzipation der kulturellen Symbolproduktion spricht, ein ebenso plausibles und machtvolles Gegennarrativ: nämlich das Narrativ der Aufklärung und des wissenschaftlichen Fortschritts. Diesem Narrativ zufolge ist die symbolische Produktion früher Kulturen, niedergelegt in ihren magischen Praktiken, Mythen und religiösen Erzählungen, ein mehr oder weniger willkürliches Gespinst der Phantasie. Sie hat, zumindest nach modernen wissenschaftlichen Maßstäben, keinen oder nur einen sehr eingeschränkten und deformierten Objektbezug. Nach diesem grand récit (Lyotard) sind die vom Menschen geschaffenen Symbolwelten auf dem langen Weg vom Mythos zum Logos nicht etwa unabhängiger von der Natur geworden, sondern im Gegenteil näher an sie herangerückt – jedenfalls dort, wo sie sich auf externe Referenten beziehen. Es ist also auf dem Niveau der Symbolproduktion nicht einfach, die Formel Natur + Kultur = 100% zur Anwendung zu bringen. Wenn man einen irgendwie beschaffenen Gleichlauf von technischer und symbolischer Naturaneignung annimmt, dann müsste man von einer wachsenden Autonomie kultureller Symbole gegenüber einer zurückweichenden Vorfindlichkeit von Natur ausgehen. Dann hätte es eine frühe Entwicklungsstufe der Menschheit gegeben, auf der die Menschen in naiver Einheit mit oder Nähe zur Natur gelebt hätten. Diesem sentimentalischen Narrativ, das erst die Moderne erfunden hat, steht ein Kompensationsmodell entgegen: In einer Menschheitsphase, in der der Grad technischer Naturbeherrschung gering ist, würden demnach die Menschen kompensatorisch in magischen Angst- und Allmachtsphantasien schwelgen und die naturgesetzlichen Abläufe in ihrem Wesen verkennen (so jedenfalls eine ältere, von Freud psychoanalytisch vertiefte Sichtweise), während umgekehrt wachsende Naturbeherrschung mit der Durchsetzung eines technisch nüchternen Realitätsprinzips einherginge. – Im einen Fall bewegt sich die Kultur von der Gegebenheit der Natur weg, im anderen Fall zu ihr hin.

II. Zu verzeichnen ist hier eine sowohl theoretische als auch narrative Doppelkonditionierung, innerhalb derer sich die Natur/Kultur-Opposition, jedenfalls in ihrer modernen Ausprägung, bewegt. Um diesen Sachverhalt besser zu verstehen, ist es notwendig, noch einen Schritt zurückzutreten und sich über die logische Form dieser Unterscheidung klarer zu werden.

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Zur Epistemologie der Natur/Kultur-Grenze

Natur

Kultur

[Skizze 1] Die erste, scheinbar rein formale Frage ist: Kann man sich Natur und Kultur durch einen geraden Trennstrich unterschieden denken? Anders gesagt: Lässt sich diese Unterscheidung als eine symmetrische Unterscheidung denken? Es geht hier ja um eine jener großen Unterscheidungen, die in ihrer Gesamtheit die ganze Welt umfassen. Gibt es einen epistemischen Ort, von dem aus wir sozusagen links die Natur und rechts die Kultur als in sich abgeschlossene und voneinander unabhängige Entitäten zu denken vermögen, zwischen denen eine saubere vertikale Trennung verläuft? Das Problem besteht darin, dass eine Unterscheidung zwischen A und B, bei der A und B in der Summe 100% ergeben, nur von einem Ort innerhalb der Unterscheidung getroffen werden kann. Die Unterscheidung ist also epistemologisch in sich selbst eingefaltet. Man könnte in diesem Fall geltend machen, die Unterscheidung sei nur von der Seite der Kultur aus zu treffen. Aber wie kommt die Menschheit im Kulturzustand dann auf die andere Seite der Dichotomie, zur Natur, wenn beide voneinander unabhängige Entitäten sind? Oder anders: Wie gelangt man zur Einheit der Unterscheidung? Eine Unterscheidung muss beides leisten, trennen und verbinden. In der Operation der Unterscheidung muss deshalb auch die Einheit der Unterscheidung ihren Ort finden, sonst zerfällt sie einfach in zwei unzusammenhängende Teile. Ohne das an dieser Stelle eingehender begründen zu können, sei die Behauptung aufgestellt, dass ein solches Auseinanderfallen notwendig erfolgt, wenn die zwei Terme A und B sich streng symmetrisch gegenübertreten. Wenn der Trennstrich die beiden Seiten der Unterscheidung glatt teilt, dann ist zwischen ihnen keine Wechselbeziehung möglich. Solche Unterscheidungen können weder logisch noch im weiteren Sinn kulturell prozessiert werden, weil kein Weg von A nach B beziehungsweise kein Weg von A zu der Verbundenheit und Einheit von A und B führt. Eine mögliche Antwort auf dieses Problem – oder genauer: die traditionelle Antwort auf dieses Problem – lautete ungefähr so: Die Einheit der Unterscheidung kann in der Unterscheidung selbst nur dann enthalten sein, wenn sie asymmetrisch angelegt ist, d. h. aus einem großen und einem kleinen Term besteht. Dann ist der jeweils große Term dafür zuständig, den kleinen Term, dem er sich entgegenstellt, zugleich zu umgreifen und damit das umschließende Ganze der Unterscheidung zu bilden. Er wird, mit einem Ausdruck von Niklas Luhmann, als »Führgröße für die Unterscheidung selbst« verwendet (Luhmann 1995: 48). So ist die gesamte metaphysische Tradition verfahren: Sie hat Gott und die Schöpfung, den Geist und die Natur, das Gute und das Böse als ungleiche Oppositionen behandelt, in denen der jeweils stärkere Begriff seinen schwächeren Widerpart gleichsam umklammert. Da173

Albrecht Koschorke

mit wurden zwei Effekte erzielt: erstens eine normative Stabilisierung zugunsten des großen und folglich hegemonialen Terms innerhalb der Opposition; zweitens die Sicherung der Einheit der Unterscheidung, weil zwei gleich große Mächte in einen unschlichtbaren manichäischen Dualismus geführt hätten.1 Unter postmetaphysischen Bedingungen, oder anders ausgedrückt: in modernen, dezentrierten Ordnungen, werden sich die Unterscheidungslogiken nicht mehr auf solche normativ prästabilierten Ungleichgewichte stützen können. Damit stellt sich das Problem der Einheit der Unterscheidung mit neuer Dringlichkeit, weil diese Einheit nun nicht mehr als identitär vorausgesetzt werden kann. Aber wenn die Synthesis der sozialen Welt nicht mehr durch begriffliche Hierarchien gesichert wird, in der sich die Gegensätze stufenförmig einklammern und schließlich in einem letzten, Einheit stiftenden Prinzip gipfeln – genauer: wenn ein hegemonialer Diskurs, der eine solche Synthesis behauptet, sich nicht mehr allgemein durchsetzen kann –, wie lässt sich dann verhindern, dass die Gegensätze auseinanderfallen? Haben monistische Systeme nicht immer für sich in Anschlag gebracht, dass sich ohne das Prinzip hierarchischer Inklusion die Welt in Anomie auflösen würde? Die Lösung kann hier nicht darin liegen, dass nun die beiden Seiten der Unterscheidung gleichsam in demokratischer Gleichberechtigung nebeneinanderstehen und sich wechselseitig vollkommen relativieren. Vielmehr muss man den Blick darauf richten, dass die Asymmetrien wechseln, dass sie im Fluss sind und nicht mehr einer einzigen, alles umschließenden hegemonialen Ordnung des metaphysisch Wahren, Guten, Rechten, Eigenen gehorchen. Moderne Ordnungssemantiken stehen in der Pflicht, beweglichere Modelle zu entwickeln, als sie uns durch die philosophische Tradition zur Verfügung gestellt werden. Aus der epistemologischen Sackgasse, in die eine strenge Dichotomie zwischen Monismus und Zerfall führen würde, kommt man nur heraus, wenn man gleichsam ethnographisch vorgeht und die heterogene Beschaffenheit jedes epistemischen Feldes zum Ausgangspunkt nimmt. Nach einer solchen Sichtweise ziehen kulturelle Unterscheidungen keine gerade Linie zwischen zwei Welthälften, sondern bestehen aus zahllosen Grenzregimes lokaler oder regionaler Reichweite, die Prozesse des Austauschs, der Verhandlung und Verständigung bis zu einem gewissen Grad notwendig mit einschließen, weil Grenzen immer auch Kontaktzonen sind. In der Sprache einer ethnographisch orientierten Kultursemiotik: Teile beziehungsweise Untergruppen einer Begriffspopulation siedeln im gegenüberliegenden Feld; es gibt epistemische En- und Exklaven; verschiedene Artikulations- und Abstraktionsniveaus bilden sich aus und führen zu jeweils unterschiedlichen epistemologischen Settings, und so können immer wieder begrenzte Allianzen zwischen antagonistischen Begriffssphären entstehen. In Wahrheit sind ja auch hierarchische Stufenbauten alles andere als homogen, sondern bestehen aus vielerlei unzusammengehörigen Bauteilen. Das bedeutet, die schlichte Totalalternative zwischen Ordnung (= Vollinklusion) und Anomie (= Null-Inklusion), zwischen Synthesis und Zerfall aufzulösen in eine dichte Beschreibung von sich überlagernden oder gegenläufigen Kohärenzen, Querverbindungen, lokalen Grenzüberschreitungen und 1

Man sieht hier, dass die Unterscheidungslehre tiefe theologische Implikationen trägt.

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Zur Epistemologie der Natur/Kultur-Grenze

Symbiosen, kurz: in ein bewegliches, lose gekoppeltes Gefüge von Beziehungen dritter Art. Diese Beziehungen verklammern die beiden Terme der Unterscheidung, insofern sie sie mit Asymmetrien von jeweils begrenzter Reichweite durchsetzen. Was heißt das nun für die Unterscheidung Natur/Kultur? Aus der These der Unmöglichkeit glatt symmetrischer Unterscheidungen ergibt sich, dass auch diese Unterscheidung nur handhabbar ist, insofern man nach Formen der Asymmetrie Ausschau hält. Aus unserer Sicht liegt es nahe, unseren Beobachterstandort auf der rechten, also der Kulturseite der Unterscheidung einzunehmen. Wir würden die Unterscheidung Natur/Kultur also von der Kulturseite her asymmetrisieren. Aber wie gewinnen wir dann die Einheit dieser Unterscheidung? Anders gefragt: Wie lässt sich sicherstellen, dass Natur überhaupt intelligibel ist und nicht ein absolutes Jenseits gesellschaftlicher Symbolisierungen bildet? Noch einmal anders gewendet: Auf welcher Seite der Unterscheidung ist die Natur/Kultur-Unterscheidung selbst angesiedelt? An dieser Stelle sei eine Passage aus einem Konstanzer Forschungsprogramm zitiert, die auf Susanne Lüdemann zurückgeht: »Trotz seiner Wurzeln in der römischen Antike ist ›Kultur‹ ein spezifisch moderner Begriff. [...] ›Kultur‹ ist, was immer auch anders sein könnte (Nicht-Natur), und was doch nicht ohne weiteres, per Handstreich oder Verordnung, geändert werden kann (›erzwungene Wahl‹; habitualisierte und institutionalisierte Handlungsroutinen als ›zweite Natur‹). In den letzten Jahrzehnten hat sich der Bereich dessen, was in diesem Sinne als ›kulturbedingt‹ verhandelt wird, beständig ausgeweitet: Geschlechterrollen und Formen der Wahrheitsfindung, die soziale Strukturierung von Raum und Zeit, Formen der Konfliktaustragung und der politischen oder juridischen Entscheidungsfindung, ja die Art und Weise selbst, wie in verschiedenen Gesellschaften zwischen Natur (Gegebenem, Unverfügbarem) und Kultur (Gemachtem, Verhandelbarem) unterschieden wird.«2

Es geht hier nur um den letzten Teil der Überlegung – darum, dass man eine Expansion des kulturalistischen Ansatzes verzeichnen kann und dass dieser Ansatz inzwischen einschließt, dass auch die Unterscheidung »zwischen Natur (Gegebenem, Unverfügbarem) und Kultur (Gemachtem, Verhandelbarem)« eine kulturbedingte Angelegenheit ist. Die Kultur würde hier unterscheidungslogisch den großen, man könnte sogar sagen: hegemonialen Term bilden, der Kontrolle über die Unterscheidung als ganze, jedenfalls über die Grenzziehung innerhalb der Unterscheidung ausübt. Das Begriffspaar Natur/Kultur, so ließe sich dieser Ansatz reformulieren, ist seinerseits ein kulturelles Konzept, dessen Genese in einer Begriffsgeschichte von »Kultur« rekonstruiert werden kann (wie es hier versucht wurde). Dann wäre die Natur der kleine Term, diskursiv abhängig von dem, was kulturell mit ihm angestellt wird.

2

Antrag auf das Exzellenzcluster Kulturelle Grundlagen von Integration, Abschnitt »Kultur als Differenzkategorie«.

175

Albrecht Koschorke

Natur

Kultur

[Skizze 2] Es ließe sich aber mit gutem Grund auch eine entgegengesetzte Asymmetrisierung einführen. Man kann ja geltend machen, dass der Naturbezug kultureller Symbolisierungen umgekehrt dadurch gewährleistet wird, dass Menschen eben Naturwesen sind und dass die menschliche Kultur nur eine kleine Enklave bildet, deren Entstehung womöglich durch nichts bedingt ist als durch die Fortentwicklung natürlicher Anlagen des Menschen. Für eine solche Sichtweise wäre »Natur« der große Term, und »Kultur« nur eine abhängige Variable von unserer Determiniertheit durch die Natur – selbst wenn man einräumt, dass sich diese Abhängigkeit durch den kulturellen Fortschritt vermindert haben mag, dass es also tatsächlich eine gewisse Autonomie »selbstgeschaffener Bedeutungswelten« gegenüber den natürlichen Bedingungen gibt. Dieses Modell sähe unterscheidungslogisch so aus:

Natur

Kultur

[Skizze 3] Hier sind es die natürlichen Bedingungen, unter deren Maßgabe sich Kulturen entfalten, die darüber entscheiden, was als kulturell im Sinn von »verhandelbar« angesehen werden kann. – So kann man also zwei ihrerseits spiegelbildliche, d. h. symmetrische Asymmetrien anlegen, die dafür Sorge tragen, dass Natur und Kultur eine wie auch immer prekäre Einheit bilden. Der »kulturalistische« Ansatz besagt, dass Natur den Menschen nur in ihren kulturbedingten Repräsentationen zugänglich ist, dass überhaupt »Natur« ein kulturelles Konzept ist und dass über die Frage, wo die Grenze zwischen Kultur und Natur verläuft, nach kulturspezifischen Kriterien entschieden wird. Der »naturalistische« Ansatz stellt dem entgegen, dass Menschen die Reichweite ihrer kulturellen Autonomie grob überschätzen, wenn sie sich nicht der Tatsache bewusst bleiben, dass kulturelle Vorgänge gleichsam nur den verlängerten Arm natürlicher Vorgänge bilden. Das ist zwar auch eine in einem bestimmten kulturellen Zusammenhang entstandene Theorie, aber sie spricht im Namen einer Instanz, die jenseits kulturalistischer Selbstherr176

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lichkeit liegt – eben der Natur. Beide Ansätze sind komplementär, ohne sich jedoch zu ergänzen, weil sie sich ja sozusagen wechselseitig den Boden unter den Füßen wegziehen. Dieser Befund wird übrigens auch durch einen Blick auf die Begriffsgeschichte von »Natur« bestätigt. Bei aller Vielfalt der Bestimmungen, die »Natur« von der griechischen physis und der lateinischen natura her erfährt – Ritters »Historisches Wörterbuch der Philosophie«, das im deutschen Sprachraum zuständige Nachschlagewerk, listet unter anderem das Angeborene, das sich selbst Bewegende, »das Selbständige, Freie, Mächtige, Ursprüngliche, Gute, Vorbildliche« auf (Kaulbach 1984: Sp. 468) –, gibt es eine auffällige Parallele zur Karriere des Gegenbegriffs »Kultur«: nämlich das Autonomwerden beider Begriffe. Dass »Kultur« im 18. Jahrhundert ihre Zusätze verliert und zu einem selbständigen Substantiv wird, wurde oben erwähnt. Aber etwas ganz Ähnliches trägt sich mit der »Natur« zu. Sie emanzipiert sich von ihrem göttlichen Schöpfer und wird zu einer eigenständigen, ihren eigenen Gesetzen folgenden und insofern geschlossenen Welt. Kant verwendet den prägnanten Ausdruck der »sich selbst überlassenen« Natur (ebd.: Sp. 470). Im 18. Jahrhundert dankt Gott gewissermaßen ab; seither stehen sich, so scheint es, Natur und Kultur als autonome Sphären gegenüber. Nun lässt sich leicht das Argument ins Feld führen, dass die verschiedenen Naturbegriffe, die hier nur ganz flüchtig gestreift werden konnten, schon aufgrund ihrer Varietät einen Beweis dafür liefern, dass »Natur« keine Essenz, sondern ein kulturelles Konstrukt ist, das den jeweiligen historischen, technischen, ideellen Bedingungen ihrer Zeit unterliegt. Aber gegen dieses kulturalistische Argument würden »Naturalisten« anführen, dass es auf jeder Stufe der Begriffsgeschichte von »Natur« um etwas geht, das außerhalb der Reichweite kultureller Verfügbarkeit und Modellierung liegt. So würde sich also die betreffende Dichotomie auf jeder Stufe erneuern; ja man könnte paradox formulieren, dass Gesellschaften in ihrem Begriff von »Natur« symbolischen Zugang zu etwas suchen, was qua definitionem unzugänglich, der kulturellen Gestaltung vorgeschaltet und letztlich kulturell unverfügbar ist. Im Begriff »Natur« tritt also das Paradox einer symbolischen Verfügbarmachung des Unverfügbaren zutage.

III. Weil hier nicht ontologisch, sondern kultursemiotisch argumentiert werden soll, kann die Frage, ob es dieses Unverfügbare »gibt« und wie sich wissen lässt, dass es »da draußen« ist, unentschieden bleiben. Man kann sich stattdessen darauf beschränken, zu beobachten, wie die Unterscheidung Natur/Kultur prozessiert wird beziehungsweise wie sie ihre Widersprüche und Paradoxien austrägt, und zwar ganz offenbar, ohne dadurch entbehrlich zu werden, und welchen Grenzverlauf sie unter unterschiedlichen diskursiven Bedingungen nimmt. Mit dieser Fragestellung öffnet sich ein unermessliches Feld. Im gegebenen Rahmen müssen einige stichwortartige Bemerkungen genügen. Zunächst einmal wäre die Fragestellung aufzuteilen. Man kann sie erstens epistemologisch akzentuieren; dann geht es um das altbekannte Problem, wie unser

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Wissen von den Dingen einerseits und andererseits »die Dinge selbst«, kantisch gesprochen: die »Dinge an sich«, zusammenhängen. Zweitens ist die Bestimmung des Grenzverlaufs zwischen Natur und Kultur aber auch in der sozialen Praxis relevant; sie greift tief in die Organisation von Gesellschaften ein. Denn menschliche Gesellschaften sind ja selbst ein Hybrid aus Natur und Kultur – schon allein deshalb, weil sie trotz aller symbolischen Regulative auf dem Fundament sexueller Reproduktion beruhen. Auf absehbare Zeit jedenfalls hängt ihr Fortbestand noch davon ab, dass Körper sich vereinigen und fortpflanzen. Insofern stellt der menschliche Körper in allen seinen Dimensionen wohl den wichtigsten Schauplatz dar, auf dem sich der Widerstreit zwischen Natur- und Kulturreferenz zuträgt. Das betrifft den Körper als Geschlechtskörper in einer sozialen, d. h. kulturell konditionierten Ordnung; den Grenzverlauf zwischen natürlichen Gegebenheiten und kulturellen Modellierungen in Hinsicht auf sex und gender; die durch den Stand der medizinischen Technik brennend gewordene Frage, welche biologischen Indikatoren über Anfang und Ende des Menschseins entscheiden; die Sozialstruktur, insoweit sie sich auf naturbedingte Verbundenheiten zwischen Individuen beruft; schließlich das Verhältnis der Generationen zueinander und die Art und Weise, wie Gesellschaften Kontinuität durch den Transfer materieller wie spiritueller Güter sicherzustellen suchen. So ist das Verwandtschaftssystem, ohne das bisher keine soziale Organisation ausgekommen ist, eine Kreuzung zwischen Natur und Kultur. Von den beiden Achsen jedes Verwandtschaftssystems ist die eine, die Deszendenz, mehr oder minder direkt auf natürliche Vorgänge bezogen; die andere, die Allianz, beruht dagegen auf der freien Vergesellschaftung von Menschen, nach welchen kulturellen Imperativen auch immer. Deszendenz referiert also auf die Naturseite, Allianz auf die Kulturseite von menschlichen Beziehungen, genauer: der Beziehungen zwischen menschlichen Körpern. Und gerade darum fällt auf, wie außerordentlich variationsfähig nach dem Zeugnis der ethnologischen Literatur der Verlauf dieser Grenze, je nach kultureller Ordnung, gestaltet ist. Das Beispiel der Verwandtschaft macht evident, dass der Grenzverlauf der Natur/Kultur-Dichotomie quer durch elementare gesellschaftliche Organisationsformen geht, wobei Verwandtschaftstermini sozusagen die Grenzrelais bilden. Abstammung, Ehe, Familie sowie daraus abgeleitete Konzepte, z. B. das der Generation, sind hochgradig voraussetzungsreiche kulturelle Konstrukte, die jedoch – jedenfalls ihrem Selbstverständnis nach – dazu dienen, natürliche Bezüge zu ratifizieren. So wären diese Klassifikationen auf den ersten Blick getreue Abbilder vor-kultureller, natürlicher Gegebenheiten. Die Befunde der Verwandtschaftsethnologie zeigen jedoch, dass es sich nicht so einfach verhält. Zwischen biologischer Verwandtschaft und kulturbedingten Verwandtschaftstaxonomien besteht keinesfalls eine Eins-zu-eins-Beziehung. Verwandtschaftssysteme können »natürliche« Verwandtschaften sowohl annullieren als auch erzeugen. Matrilineare Systeme zum Beispiel erkennen die Verwandtschaft des Kindes mit dem Vater nicht an und erfinden sozusagen Ersatznarrative, um sie zu leugnen. Adoption hingegen (oder auch Patenschaft, jedenfalls im christlichen Mittelalter) ist ein rechtlicher Akt, der eine Eltern-Kind-Beziehung etabliert – häufig mit denselben Folgen wie bei biologischer Elternschaft, etwa im Hinblick auf das Inzesttabu.

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Es gibt also »natürliche« Beziehungen auf der rechten Seite der Natur/Kultur-Dichotomie, und es gibt umgekehrt kulturelle Konditionierungen dort, wo angeblich nur die Natur am Werke ist. Und die Grenze zwischen beiden ist kein trennscharfer Schnitt in einer durch große Dichotomien geordneten Welt, sondern ein drittes Feld, in dem sich entscheidet, was kulturell als natürliche Tatsache anerkannt bzw. erzeugt wird und wie umgekehrt natürliche Faktoren gegenüber kulturellen Regelungen (Leugnungen, Überschreibungen) persistieren. Es wird hier besonders augenfällig, dass zur Beschreibung solcher Verhältnisse weder ein purer Naturalismus auf der einen Seite noch andererseits das Schlagwort der »kulturellen Konstruktion« ausreichend sind. Offensichtlich ist das Wissen über Verwandtschaft kulturell produziert und hängt vom jeweiligen Stand des gesellschaftlichen Wissens insgesamt ab. Vaterschaft in totemistischen Religionen ist etwas anderes als unter den Vorzeichen des römischen Rechtsdenkens, wie es der Code Napoléon erneuerte, oder im Zeitalter von DNA-Analysen und modernen Reproduktionstechnologien. Gleichwohl lässt sich kein Verwandtschaftssystem ohne Rekurs auf natürliche Gegebenheiten rekonstruieren, die von den entsprechenden Klassifikationen bis zu einem gewissen Grad unabhängig sind. Wie unabhängig oder wie abhängig, lässt sich nicht ontologisch oder methodisch vorab entscheiden. Es hängt davon ab, wie der Grenzverkehr über die Natur/Kultur-Schwelle jeweils kulturell modelliert ist (oder durch natürliche Tatsachen determiniert, die auf bestimmten Entwicklungsstufen des biologischen Wissens unabweisbar werden, wie heute durch genetische Vaterschaftstests). Ein wichtiger Relaisbegriff, der eng mit diesen verwandtschaftsterminologischen Natur-Kultur-Schaltungen verbunden ist, ist der Begriff des Erbes. Er scheint unabdingbar, um die biologische, familiensoziologische, ökonomische, moralische, ökologische und kulturelle Beziehung zwischen den Generationen zu regulieren. Auch hier zeigt sich, dass die Trennlinie innerhalb der Natur/Kultur-Dichotomie von ständigen Transfers in beiden Richtungen durchbrochen wird (vgl. Müller-Wille/Rheinberger 2007; Ahrens 2003). Auf dem Weg einer Konzeptwanderschaft bzw. eines Konzepttausches wandern kulturell geprägte Vorstellungen von Erbschaft in die Biologie (oder ihre Vorläuferwissenschaften) ein, während umgekehrt biologische Erkenntnisse auf gesellschaftlich-kulturelle Denkweisen im Hinblick auf das Verhältnis zwischen den Zeiten und den Generationen zurückwirken. Die genannten Relaisbegriffe sind also nicht so sehr Grenzstationen als vielmehr Orte des Austausches zwischen den epistemischen Regimes »Natur« und »Kultur«. Es sind Orte, wo die kulturelle Semiose auf etwas von ihr Unabhängiges und Unverfügbares trifft – oder, anders betrachtet, wo das kulturelle Zeichensystem Dinge als unverfügbar externalisiert und damit dem Zugriff der menschlichen Willkür entzieht. Denn es ist ja immer auch eine politische Frage, was Gesellschaften als »Natur« und damit als unvordenklich ansehen und was sie als Gegenstand kultureller Aushandlungsprozesse freigeben. Das wird noch deutlicher, wenn man das Konzept der Ethnie unter diesem Blickwinkel betrachtet. Auch Ethnien sind klassifikatorische Begriffe, die von sich behaupten, eine natürliche (oder anders, zum Beispiel herderianisch durch Sprache und Volksgeist, ontologisch begründete) Referenz zu haben. Man weiß aber, dass Verwandtschaftsgrenzen ethnische Grenzen 179

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durchkreuzen, so dass eine Vielzahl von cross-cutting ties, von Übergängen und Hybriden entsteht. Umgekehrt gibt es Verfahren der Aufnahme von Fremden in die Ethnie, Verfahren der Naturalisierung. Ethnien rangieren offenbar auf einer Ebene, die sich so weit von elementaren Vorgängen der sexuellen Reproduktion entfernt, dass man sie innerhalb der Natur/KulturDichotomie vergleichsweise weit rechts eintragen muss. Man kann daraus ersehen, wie unergiebig es ist, binäre Oppositionen ihrerseits mit binären begrifflichen Mitteln zu bearbeiten. Eine kultursemiotische Feldtheorie, wie sie hier in einer noch sehr rudimentären Form vorgestellt wurde, hätte sozusagen schon allein kartographisch mehr Möglichkeiten, Abgrenzungs- und Austauschprozesse zu beschreiben, als es das bloße Sortieren auf die linke bzw. rechte Seite der Unterscheidung bietet. Eine solche Feldtheorie könnte auch in zeitlicher Extension eine Art von »epistemischem Kampf« zwischen natürlichen Determinanten und kulturellen Klassifikationen mit seinen wechselnden Frontverläufen, Geländegewinnen und Niederlagen nachzeichnen. Aber sie könnte, und das ist wahrscheinlich noch interessanter als das Modell von Kampf und Expansion, jene Scharnierstellen und Schauplätze identifizieren, wo Konzepte ineinander transformiert werden und dabei neue Konfigurationen entstehen. Statt dem Imperativ »Natur!« einfach den Imperativ »kulturelle Konstruktion!« oder »Kontingenz!« entgegenzustellen, wären dann Prozesse der Naturalisierung und der Entnaturalisierung zu beobachten, die in ihrer Summe die Konsistenz der sozialen Wirklichkeit bilden. Dieselbe Methode wäre auf anderen strittigen Terrains anzuwenden. Beispiele sind die nature-nurture-Debatte, der Streit über genetische Bedingtheit oder kulturelle Erworbenheit von Charaktereigenschaften, Intelligenz und Verhalten. Mit den Fortschritten der Technik rückt das Problem der Grenzziehung immer näher an den anthropologischen Kernbestand heran – mit Blick auf medizinische, juristische und moralische Definitionen dessen, wann menschliches Leben beginnt und endet. Immer steht hier »das Natürliche« zur Disposition, und immer zeigt es sich in zwei inkommensurablen Perspektiven: einerseits als ein Substrat, auf das die kulturelle Semiosis nicht zugreifen und das sie nicht manipulieren kann oder darf; andererseits als Effekt von kulturellen Strategien der Verifikation, der Authentifizierung, der Externalisierung, der Verdinglichung, der kollektiven Beglaubigung und der kunstfertigen Herstellung von Evidenz.

IV. Aus dem Gesagten ergibt sich eine weitaus kompliziertere Topographie der wissenschaftlichen Disziplinen, als die Rede vom great divide zwischen sciences (= Naturreferenz) und humanities (= Kulturreferenz) suggeriert. Diese Trennlinie löst sich nicht auf, aber sie vervielfacht und verästelt sich, schwächt sich in manchen Zonen ab und wird in anderen hart und unüberwindlich. Aber dasselbe gilt auch für offene oder stillschweigende Austauschvorgänge oder Konzeptwanderschaften über die epistemischen Furchungen der Wissenschaftslandschaft hinweg. Das Feld wird nicht von zwei sich gegenüberstehenden Blöcken beherrscht, sondern von einem Gewimmel

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von Differenzen in allen Größenordnungen, die sich fortwährend neu auftun und kollabieren. Abschließend seien einige Bemerkungen zu der Frage angefügt, inwiefern die vorgestellten Überlegungen für die Literaturwissenschaft relevant sind und was diese Disziplin zur Bearbeitung der behandelten Fragen beitragen kann: (1) Erstens ist die Natur/Kultur-Dichotomie, wie gezeigt werden sollte, nur im Modus einer regulativen Fiktion zu haben und fällt damit in den Zuständigkeit einer Allgemeinen Literaturwissenschaft, die sich mit dem Zustandekommen und Funktionieren sozialer Fiktionen generell, nicht allein in poetischen Texten, beschäftigt. Näherhin sind besonders die mit dieser Dichotomie verbundenen Narrative lohnender Gegenstand einer sich literaturwissenschaftlicher Methoden bedienenden Analyse. (2) Zweitens greift die jeweilige Verlaufsform der epistemischen Grenze zwischen Natur- und Kulturreferenz tief in die Methodologie unserer Fächer ein. Es sei nur an eine sonderbare Parallelentwicklung erinnert, die sich – vielfach unbemerkt – in den vergangenen 30 Jahren zugetragen hat. »Natur« und »Kultur« können ja nicht für sich selbst sprechen, sondern sind auf disziplinäre Sachwalter angewiesen, die sozusagen stellvertretend einen Hegemonialkonflikt um die Vorherrschaft innerhalb der Natur/Kultur-Unterscheidung austragen. Eine solche Sachwalterschaft auf der »rechten« Seite der Unterscheidung war der cultural turn der letzten Jahrzehnte. Als Kind des linguistic turn besteht seine dominante »Theoriegeste« darin, auf dem Sachverhalt zu bestehen, dass uns die Wirklichkeit nicht naturaliter, sondern nur unter den Bedingungen sprachlicher und näherhin diskursiver Repräsentation gegeben ist. Das geht bis zu der bekannten und beliebten Formel von der sozialen bzw. kulturellen Produktion der Realität. Diesem Konstruktivismus – der noch andere Ursprungsherde hat, in der Kybernetik, in der Biologie und Kognitionswissenschaft, in bestimmten philosophischen Erkenntnistheorien – steht die Dekonstruktion als ein gewissermaßen negatives Verfahren zur Seite. Sie lehrt, allen Behauptungen zu misstrauen, die sozialen Phänomenen den Charakter von Naturgegebenheit oder Wesenhaftigkeit leihen wollen. Ihre »Theoriegeste« besteht darin, die falsche, ideologisch der Festigung bestehender Machtverhältnisse verschriebene Naturalisierung, Essenzialisierung und Biologisierung sozialer Kategorien analytisch aufzubrechen. So mit Blick auf den Rassendiskurs, auf die Behauptung sozialer, ethnischer, nationaler Identität und v. a. auf die angebliche Natürlichkeit des Geschlechtergegensatzes. Dies soll als Kurzporträt dieser theoretischen Richtung genügen. Sie scheint einen Terraingewinn der »Kultur« auf voller Linie anzuzeigen. Zur gleichen Zeit hat sich aber auch eine exakt gegenläufige Entwicklung abgespielt. Es sei nur ein Schlagwort genannt: die Soziobiologie. Wie der Poststrukturalismus hat sie ihre Inkubationszeit in den siebziger Jahren, aber sie tritt mit der genau gegenteiligen »Theoriegeste« hervor. Grundlage ist – in den Worten des Zoologen Edward O. Wilson – die Behauptung, dass »the humanities and social sciences shrink to specialized branches of biology; history, biography, and fiction are the research protocols of human ethology; and anthropology and sociology constitute the sociobiology of a single pri181

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mate species« (Wilson 1975: 547; vgl. Heinrich 2004; Richter 2005). Alle kulturellen Entwicklungen, so versichern die Vertreter dieser theoretischen Richtung, sind an die Leine genetischer Dispositionen genommen und sind nach den Maßgaben eines mehr oder minder elaborierten Sozialdarwinismus erklärbar. So kam es in den siebziger Jahren zu einer symmetrischen Spaltung des epistemischen Feldes: auf der einen Seite ein szientistischer Neo-Naturalismus, der einen hegemonialen Anspruch der Biologie, insbesondere der Genetik, auf dem Feld der Geistes- und Sozialwissenschaften durchzusetzen versucht; auf der anderen Seite die Dekonstruktion und verwandte poststrukturalistische Strömungen, die nicht nur solche Biologismen kritisieren, sondern auch zum »Gegenangriff« übergehen: etwa in der Dekonstruktion der biologischen Geschlechterpolarität. Teils nehmen beide Richtungen polemisch aufeinander Bezug3, teils ignorieren sie sich wechselseitig und bewegen sich in weitgehend getrennten Kommunikationssphären. Wie auch immer, Soziobiologie und (poststrukturalistische) Kulturwissenschaft erscheinen hier als zwei inverse Formationen, um die Natur/Kultur-Differenz einem der beiden Terme als dominantem Term zu unterstellen. Und es wird einmal mehr deutlich, dass die Differenzlinie zwischen Natur und Kultur kein harmloser Trennstrich ist, sondern die Front in einem epistemischen Kampfgebiet. (3) Ein drittes Themenfeld, auf dem die Natur/Kultur-Dichotomie für die Literaturwissenschaften relevant wird, lässt sich unter die Stichworte »Körper und Medien« subsumieren. Spätestens seit der Moderne leben die Menschen ja nicht in einer Welt natürlicher Körper, sondern einer durch Distanzmedien (allen voran: die Schrift) gleichsam entwendeten und imaginativ wiedererstatteten Körperlichkeit. Diese Transformation macht die Rede von »Natürlichkeit« bis zu einem gewissen Grad obsolet, weil das, was Menschen als ihre Natur ansehen, ihnen durch kulturelle und technische Vermittlung gegeben beziehungsweise zurückgegeben ist. (4) Das letzte Terrain der Natur/Kultur-Dichotomie und ihrer vielfachen Metamorphosen, das hier angesprochen werden soll, ist schließlich die Literatur selbst. Es ist ja eine besondere Eigenschaft von Metaphern im engeren (linguistischen) und weiteren (literarischen) Sinn, beiden Verschiebungen – vom Künstlichen ins Natürliche und zurück – einen Schauplatz zu bieten. Je nach ihrer Anlage können sprachliche Gebilde etwas als Natur Geltendes in den Modus der Uneigentlichkeit rücken und umgekehrt einen anfangs uneigentlich verwendeten Ausdruck mit allen Attributen der Natürlichkeit, Ursprünglichkeit, Unvordenklichkeit ausstatten. Bevorzugtes Objekt solcher sprachlichen Strategien ist der Körper in seiner sowohl individuellen als auch sozialen Dimension, der sich fast ohne Rest kulturell überschreiben oder aber als letztes Reservat einer widerständigen Authentizität adeln lässt. Dann kann der Körper sogar als Instanz des Einspruchs der Natur gegen seine zeichenhafte Darstellung in der Literatur behandelt werden. Und so trägt potenziell jeder poetische Text etwas von der paradoxen Grundspannung aus, in der kulturelle Symbolik und naturhaft Entzogenes sich zueinander befinden. 3

Eine Art Schlachtenchronik der sogenannten science wars in den USA der 1990er Jahre bietet Thomas F. Gieryn (1999, insbes. S. 336ff.).

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Literatur Ahrens, Jörn (2003): »Von der Genetik des Geistes. Über einen Widerstreit zwischen Natur- und Humanwissenschaften«. In: Klaus Scherpe/Thomas Weitin (Hg.), Eskalationen. Die Gewalt von Kultur, Recht und Politik, Tübingen: A. Francke Verlag, S. 15-28. Baecker, Dirk (2003): Wozu Kultur?, Berlin: Kadmos Kulturverlag. Gieryn, Thomas F. (1999): Cultural Boundaries of Science. Credibility on the Line, Chicago: University of Chicago Press. Heinrich, Axel (2004): »Gesellschaft ›am langen Band der Gene‹ (E. O. Wilson). Überlegungen zum metapolitischen Charakter der Soziobiologie«. Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 45, S. 61-82. Kaulbach, Friedrich (1984): »Natur«. In: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel: Schwabe Verlag, Sp. 421-478. Luhmann, Niklas (1995): »Kultur als historischer Begriff«. In: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 31-54. Müller-Wille, Staffan, Hans-Jörg Rheinberger (Hg.) (2007): Heredity Produced. At the Crossroads of Biology, Politics, and Culture, 1500-1870, Cambridge/Mass.: MIT Press. Perpeet, Wilhelm (1976): »Kultur, Kulturphilosophie«. In: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Basel: Schwabe Verlag, Sp. 1309-1324. Richter, Dirk (2005): »Das Scheitern der Biologisierung der Soziologie. Zum Stand der Diskussion um die Soziobiologie und anderer evolutionstheoretischer Ansätze«. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 57, S. 523-542. Weber, Max (1968): »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«. In: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen: Mohr, S. 146-214. Wilson, Edward O. (1975): Sociobiology. The New Synthesis, Cambridge/Mass.: Harvard University Press.

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Differenz und Referenz – Theoretische Probleme der postmetaphysischen Methodologie bei Albrecht Koschorke MICHAEL GUBO

Albrecht Koschorke geht es in seinem Beitrag nicht darum, die Begriffe der »Natur« und der »Kultur« näher zu bestimmen. Vielmehr analysiert er die Veränderungen in den Mustern der Erzählungen über »Natur« und »Kultur«. Erzählungen begreift er im Allgemeinen als konstitutiv hoch wirksame Konstruktionen bzw. Fiktionen. Die Kategorie der »Fiktionalität«, die das in diesen Diskursen konstruierte Wissen bezeichnet, hat dann einen entscheidenden Status sowohl in Bezug auf konstitutionstheoretische als auch auf methodologische Annahmen im Gebäude des Forschungsprogramms: »Unsere soziale Realität ist in einem tiefen Sinn fiktional, sie gründet sich auf Fiktionen« (Koschorke 2005: 245). Die Aufgabe der folgenden Überlegungen besteht darin, den zirkulären Zusammenhang, der zwischen Methodologie (Semantikbeobachtung) und Theorie (Konstitutionstheorie) besteht, näher zu betrachten. Dabei versuche ich zu zeigen, dass Koschorke, indem er keine Ebenendifferenzierung bzgl. der Konstitution sozialer Realität in sein Denken einbezieht, es zu einem Kategorienfehler kommt, weil deshalb nicht berücksichtigt werden kann, dass der Erzeugung der beobachteten Semantiken eine pragmatische Dimension des primären Weltzugangs zugrunde liegt. Vor diesem Hintergrund soll die These vertreten werden, dass voreilige Festlegungen der Weltauffassung als in erster Linie (oder gar ausschließlich) semiotisch strukturiert, den Zirkel, der hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Methodologie, Konstitutionstheorie und Teleologie des Forschungsprogrammes besteht, eindimensional vorbestimmen. Die daran anschließende Annahme ist, dass eine konzeptuelle Differenzierung emergenter Ebenen hinsichtlich der Konstitution des Sozialen hilft, den Zirkel genauer zu erfassen. Zum Schluss soll gezeigt werden, inwiefern diese differente Sichtweise einen anderen Umgang mit Differenzdiskursen nahe legt.

I. Differenz und Referenz Beobachtet man aus einer differenzlogischen Warte die Entwicklung von Diskursen, so geht es immer um die Bezeichnung der Veränderungen eines Verhältnisses zwischen zwei begrifflichen Polen. Dabei bekommt man es stets mit einem Syndrom logischer Problematiken zu tun, das sichtbar wird, 185

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wenn man die Möglichkeiten der Relationierung der beiden Begriffe durchspielt. Die Paradoxie liegt dabei in der Form der Unterscheidung bzw. in der Art der Differenz dualer Begrifflichkeiten begründet. Man kann sagen, dass sich bei allen Texten oder Theorien, die sich dualer Begrifflichkeiten bedienen, notwendig zirkuläre Relationen ergeben. Im Zuge seiner semantikanalytischen Forschungen hat Koschorke festgestellt, dass sich im traditionellen Umgang mit dem dual strukturierten NaturKultur-Diskurs für das (implizite) Problem der Zirkularität ihrer wechselseitigen Verweisungszusammenhänge dem Prinzip nach zwei Lösungen herauskristallisiert haben – entweder wurde die Differenz betont oder die Einheit der Unterscheidung. Doch jeder der beiden Fälle ist mit unlösbaren Widersprüchen beladen (vgl. Koschorke 2005: 250). Innerhalb dieser differenzlogischen Rekonstruktion ergibt sich das erkenntnistheoretische Problem der Nachträglichkeit. Aus den aktuellen Reflexionen heraus muss auf ein vorgängiges, identisches Ereignis geschlossen werden, um sie als eine Schwelle des Übergangs (z. B. von der Natur zur Kultur) beschreiben zu können. Geht man methodisch von einem Differenzdenken aus, ergeben sich spezielle Probleme, wenn man die synchronen und diachronen Schwellensituationen näher betrachten möchte, denn Kontinuität und Diskontinuität müssen zugleich beschrieben werden können (vgl. ebd.: 251). Wenn man diese paradoxe Lage anerkennt, kann man eine allgemeine Form von Konstruktionszwängen feststellen, denen Schwellenerzählungen genauso unterliegen wie Theorien, die Grenzen und Übergänge beschreiben. Beide Formen des Umganges mit Differenzen können sich einem epistemologischen Standortproblem nicht entziehen. Es lässt sich allgemein auf die Frage reduzieren, wie man von der jeweiligen Seite der Operation ausgehend die Grenzen der eigenen Intelligibilität überwinden kann. Das Forschungsprogramm Koschorkes steht nun deshalb vor folgender Paradoxie: Wie kann man dieses Problem lösen, wenn man sich einerseits nicht in epistemologische Widersprüche verstricken will und zugleich weiß, dass man die Standortproblematik in einer analytischen (quasi-objektiv distanzierten) Einstellung nicht widerspruchsfrei übergehen kann? Koschorkes postmetaphysische Methodologie geht nun aber davon aus, dass es nur noch darum gehen kann, Diskurse zu beobachten und dann zu beschreiben, wie diese mit den genannten paradoxalen Strukturen umgehen. Es kommt dabei nicht darauf an, Begrifflichkeiten angeben zu können, welche die eigenen Beobachtungen strukturieren können, sondern das Interesse wird ausschließlich darauf gelenkt, wie die Relation zwischen den Begriffen innerhalb der beobachteten Diskurse gebaut sind. Welche Position nimmt man aber dabei ein? Läuft man als Diskursanalytiker nicht stets selbst Gefahr, sich den Gegenständen der eigenen Betrachtung in analytischer Geste quasi gegenüberzustellen, wenn man den Beobachter dabei beobachtet, wie er seinerseits die Paradoxien der Schwelle aufzulösen sucht? Die folgenden Ausführungen unternehmen den Versuch, vor dem Hintergrund der von Albrecht Koschorke angestrebten Lösung dieser Fragen eine alternative, pragmatistische Sichtweise skizzenhaft vorzustellen und anzudeuten, welche wechselseitigen Befruchtungsmöglichkeiten, aber auch welche Inkommensurabilitäten bestehen.

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Differenz und Referenz

II. Emergenz und Situation Einem Argument Hilary Putnams zufolge wird die Situationsgemäßheit der Äußerung von Sätzen sowohl von sprachimmanenten als auch von sprachexternen Faktoren bestimmt. Um Sätze überhaupt situationsadäquat verwenden zu können, reicht es nicht aus, über einen semantischen Zusammenhang von Begriffen und zugehörigen Vorstellungsbildern zu verfügen (vgl. Putnam 1990: 38). Hinzukommen muss die Fähigkeit, internalisierte Satzzusammenhänge situationsgemäß applizieren zu können. Wichtig an Putnams Argument ist, dass auch nicht-sprachliche Faktoren zur Situationsbestimmung notwendig sind. Diese These, für deren Geltung in den folgenden Schritten argumentiert werden soll, dient in meiner Auseinandersetzung mit Koschorkes Perspektive auf Diskurse dazu, zu zeigen, inwiefern eine konstitutionstheoretische Betrachtung von emergenten Ebenen, die am Aufbau sozialer Strukturen beteiligt sind, dazu beitragen kann, die ethnographisch- diskursanalytischen Entdeckungen in ein fruchtbares, aber auch notwendiges Verhältnis mit begrifflich- theoretischen Festlegungen zu setzen. Allein die Möglichkeit, auf sprachliche Phänomenbeschreibungen zurückgreifen zu können, reicht nicht aus, um in einer konkreten Situation Sprache oder Wissen anwenden zu können – so die These Putnams, in deren Folge das Problem der Sprachverwendung weder rein konstruktivistisch, noch rein repräsentationalistisch gedacht werden kann. Sprachlich strukturierte Vorstellungsbilder allein können nicht bestimmen, was eine Situation »ist«. Vielmehr kommt es darauf an, dass ein Handelnder dazu in der Lage ist, Denken und Handeln wechselseitig aufeinander beziehen zu können und anhand dieser zweiseitigen Beziehung eine Anwendungskompetenz gedanklicher Bilder zu erlernen. Wenn das Problem der Anwendung von Sprache ernst genommen wird, »so ist der Versuch, Denken durch so genannte »phänomenologische« Untersuchungen zu verstehen, grundsätzlich verfehlt; denn was die Phänomenologen übersehen, ist, dass das von ihnen Beschriebene der innere Ausdruck des Denkens ist, während das Verstehen dieses Ausdrucks – das Verstehen der eigenen Gedanken – kein Ereignis ist, sondern eine Fähigkeit« (ebd.: 39).

Die eigenen Gedanken zu verstehen ist die Grundvoraussetzung dafür, diese situationsbedingt anwenden zu können. Indem Verstehen nun nicht als Ereignis, sondern als Fähigkeit gefasst wird, ist ein aktives Verhältnis angezeigt, das mit der Produktion neuer Gedanken allein nicht erklärt werden kann. Warum aber soll diese Fähigkeit zur Anwendung mit einer rein phänomenologischen Auffassung des Verstehens und der Bedeutungskonstitution nicht adäquat beschrieben werden können? Die folgende Rekonstruktion von Putnams Gedankengangs, wie er ihn in seinem Aufsatz »Gehirne im Tank« (s. ebd.: 15-40) vorstellt und dessen Ziel es ist, sein Verständnis von Begriffen als Fähigkeiten zu begründen, deren konkreter Inhalt sich notwendig auf reale Relata in der Außenwelt beziehen soll, ist ein erster Schritt des Versuchs, zu zeigen, inwiefern es wichtig ist, den begrifflichen Inhalt von Diskursen wiederum mit eigenen Begriffen aus einer eigenen, begrifflich herzuleitenden Position heraus zu rekonstruieren.

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Dabei muss gezeigt werden, dass das Verhältnis von Wort und Wirklichkeit, von dem Putnam ausschließlich ausgeht, hinsichtlich der auf dieses Verhältnis angewendeten Argumentationsstruktur übertragbar ist auf die Problematik der Referenz von Diskursen (also Zusammenhängen und Zirkulationen mehrerer aneinandergereihter Wörter). Die Quintessenz des Arguments in Bezug auf dieses Problem besagt dann – so meine Interpretation –, dass die Geltung und Bedeutung von Diskursen nicht allein durch die Diskurse selbst erzeugt werden kann. Denn – so die Annahme – die Produktion und Reproduktion von Diskursen ist abhängig von äußeren Relata, auf die sich die sprachlichen Ausdrücke innerhalb der Diskurse beziehen.1 Wenn dies gilt, so müsste man folgern, dass die erzeugten diskursiven Fiktionen nicht rein fiktional hervorgebracht worden sein können, sondern in ihrer Konstitution in gewisser Weise (die es noch näher zu bestimmen gilt) von einer äußeren Wirklichkeit abhängig sind. Wären Diskurse rein fiktional, also ohne jeglichen außersprachlichen Bezug, so könnten diese nicht »legitimerweise« »Wahrheit« für sich beanspruchen.2 Zur Begründung dieser Aussage kann ein von Putnam verwendetes Gedankenexperiment hilfreich sein (vgl. ebd.: 18ff.): Man stelle sich einen Menschen vor, der keine Bäume kennt. Er/Sie hat noch niemals einen Gegenstand gesehen, den wir als »Baum« bezeichnen. Dennoch hat er/sie ein Vorstellungsbild eines Baumes. Diese Vorstellung des Baumes soll als identisch mit der Vorstellung eines Baumes eines Menschen angenommen werden, der tatsächlich schon Bäume gesehen hat. Der wesentliche Unterschied, der schon auf der Ebene des Gedankenexperimentes festgemacht werden kann, besteht nun darin, dass es nicht vorstellbar ist, dass ein Mensch, der lediglich die Vorstellung eines Baumes besitzt, diese in verschiedenen Situationen und Kontexten zur Anwendung bringen kann. Und wenn er/sie dies nicht kann, kennt er/sie auch nicht die Bedeutung des Wortes »Baum« (vgl. ebd.: 38). Um deutlich zu machen, warum ein Bild bzw. eine bewusste Vorstellung nicht ausreicht, um handlungsfähig zu sein, hilft ein Verweis auf das Problem des unendlichen Regelregresses, wie man im Anschluss an die Darlegungen von Ludwig Wittgenstein verstehen kann (vgl. dazu Wittgenstein 2003: 133ff.). Für die Anwendung einer innerhalb eines Sprachspiels gültigen Regel bedarf es eines Könnens, das implizit strukturiert sein muss, um eine abstrakte (situationstranszendente) Regel3 zu applizieren. Gäbe es nur explizite Re1

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Es soll damit nicht ausgeschlossen werden, dass es Diskurse gibt, für die das nicht gilt. Aber zumindest gilt dies für Diskurse, die bestimmten und bestimmbaren Transformationen unterliegen. Gerade die Veränderung der Diskursstrukturen wird ja von Koschorkes empirischer Diskursanalyse herausgestellt. Ich will also versuchen zu zeigen, dass gerade diese Veränderbarkeit von Diskursen ein zentrales Kriterium für die Unterstellung eines realen Außenbezuges derselben bereitstellt. Dies gilt mutatis mutandis sowohl für alltagsweltliche als auch für wissenschaftliche Diskursformationen. Das Rätsel des Zustandekommens und der situationstranszendenten Stabilität von Regeln muss hier nicht behandelt werden. Wir halten es für evident, dass, wenn vom Anwenden einer Regel gesprochen wird, transsituative Elemente im Regelbegriff enthalten sein müssen.

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geln zur Anwendung einer anderen (vorgängigen) Regel, so müssten stets wieder Regeln bereit stehen, welche für deren Anwendung bereitstünden. Denkt man sich das Problem der Regelanwendung auf diese Weise, so würde dies zu einem unendlichen Regress führen. Aufgrund der Evidenz der Anwendungsfähigkeit von explizitem Regelwissen (Beispiel: ein Richter spricht Urteile) muss man auf ein implizites Anwendungskönnen zurückschließen. Umgekehrt erfordert diese Annahme dann aber auch, dass das explizite Wissen als ein nachträgliches Erzeugnis impliziter Weltverarbeitungsprozesse angesehen wird, deren Explikation auch implizites Können voraussetzt (auch hierfür kann es in analoger Weise keine expliziten Regeln geben). Diese Argumentation in Anlehnung an Wittgenstein ist mit Putnams Situationsbegriff kompatibel und wechselseitig ergänzbar. »Kreativität« – im Sinne eines basalen Könnens im Umgang mit zuhanden Strukturen der Welt und mit Regeln – ist notwendiges Medium der Formbildung von sprachlichen Aussagen sowie der pragmatischen Anwendung von kondensiertem regelhaftem (sprachlichem) Sinn. Die Indexikalität der Situation stellt für diese kreativen Prozesse den Rahmen dar. Hinsichtlich der Annahme – welche im Folgenden noch plausibel gemacht werden muss – einer außerhalb eines Applikationsoperators existierenden Referenz, kann man dann nicht dualistisch von der vorgängigen Vorhandenheit von Dingen an sich ausgehen. Die Annahme (welche man über einen indirekten Rückschluss gewinnt) der Zuhandenheit einer Welt, die eine autonome materielle Sphäre darstellt, die Voraussetzung für eine pragmatisch-kreative Formbarkeit (»Verdinglichung«) von Situationen und damit für Sozialität und soziale Binnenstrukturen, also auch für die Entstehung von Diskursen ist, ist aber unabdingbar. Ob eine Anwendung situationsadäquat ist oder nicht, bestimmen dann sowohl eingespielte kommunikative Erwartungsstrukturen als auch das real zuhandene Relatum in der Außenwelt und der nichtsprachliche Umgang mit diesem (der durchaus von kondensierten Sprachbedeutungen abhängig ist, aber von diesen nicht vollständig determiniert werden kann).4 Versuchen wir nun die dargestellte Argumentation auf die Struktur von Diskursen zu beziehen. Nehmen wir an, Diskurse würden sich fiktional, also ohne tatsächliche Referenznahmen reproduzieren. Für den Fall des Unterschiedes von Kultur/Natur würde dies bedeuten, dass wir nicht davon ausgehen, dass der begriffliche Unterschied von tatsächlichen Referenzen abhängig sein muss. Auch die Transformation der mit dieser Differenz befassten Diskurse müsste sich ausschließlich konstruktivistisch und selbstreferenziell erklären lassen. Können wir dies aber aus guten Gründen annehmen? Eine aussagenlogische Betrachtung kann ein erster Schritt zur Beantwortung dieser Frage sein. Dazu soll die Struktur der Aussage »Differenzdiskur-

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Dieses Verhältnis kann hier nur andeutungsweise dargestellt werden. Eine genauere Ausführung des Zusammenspiels der hier angedeuteten, bei der Konstitution und Genese sozialer Ordnung beteiligten Ebenen findet sich in Joachim Renns Versuch, eine »neue«, pragmatistische Gesellschaftstheorie zu entwickeln. Hier wird zwischen materiellen, subjektiven und semantischen Registern unterschieden, die in je nach Situation unterschiedlichem Ausmaß an der Konstitution und Reproduktion von Sozialität im Allgemeinen und sozialen und kulturellen Teilbereichen immer beteiligt sind (vgl. Renn 2006).

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se haben keine reale Referenz und sie reproduzieren und transformieren sich ausschließlich selbstreferenziell als Fiktion« näher betrachtet werden. Die skizzierte Kommensurabiltät der Argumentation Putnams (Begriffe als Fähigkeiten) und Wittgensteins (Annahme der Notwendigkeit eines impliziten Könnens bei der Anwendung von Regeln) würde die Falschheit dieser These nahe legen, weil diese These als sprachliche Aussage auch als Resultat eines sozialen Konstitutionsprozesses angesehen werden muss. Unklar würde nämlich bleiben, wie bzgl. des Sprunges von einer primären Referenznahme auf Zuhandenes im Prozess der Diskursivierung und der damit einhergehenden und nicht zu bestreitenden zunehmenden Selbstbezüglichkeit der Kommunikation5 nachträglich die Annahme der vollkommen Fiktionalität, also der Unabhängigkeit der diskursiven Reproduktion von äußeren referentiellen Tatsächlichkeiten, für gültig erklärt werden kann. Der ersten Intuition folgend wäre die genannte Aussage also nicht haltbar. In einem weiteren Schritt soll nun die Falschheit dieses Satzes aussagenlogisch nachvollzogen werden. Begründet werden soll, dass es sich um eine »selbstwiderlegende« Aussage handelt – also um eine Aussage die, wenn sie als »wahr« gilt, ihre eigene Falschheit implizieren würde (vgl. Putnam 1990: 23). Eine Paradoxie, die nicht produktiv aufzulösen wäre, nimmt man den der Aussage inhärenten Wahrheitsanspruch6 ernst. Betrachten wir nun die Figur einer sich selbst widerlegenden Aussage für den Fall der These »referenzloser Differenzdiskurse«. Folgender Syllogismus soll zur Klärung beitragen: 1. Differenzdiskurse haben keine reale Referenz und sie reproduzieren sich selbstreferenziell als fiktionaler Bedeutungszusammenhang. 2. Es gilt: Sofern wir legitimerweise darüber spekulieren können, ob diese Aussage wahr oder falsch ist, ist sie nicht wahr. 3. Also ist sie nicht wahr. Die Gültigkeit dieses syllogistischen Schlusses hängt nun von der Plausibilität der mittleren Aussage ab. Was heißt es, »legitimerweise« über eine Aussage »spekulieren« zu können, ob sie wahr oder falsch ist? Das Ziel der im Rahmen eines aussagenlogischen Modells durchgeführten Argumentation ist es, zu zeigen, dass ein Diskurs »legitimerweise« von sich selbst nicht sagen kann, dass er rein fiktionaler Natur sei – d. h., dass es keine Aussage innerhalb seiner selbst geben kann, die von sich in »legitimer«

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Die zunehmende Abstraktion und Selbstbezüglichkeit der Kommunikation im Zuge des Prozesses gesellschaftlichen Wandels ist kaum zu übersehen. Bzgl. ihrer theoretischen Grundannahmen vollkommen inkommensurable Theorien sind sich diesbezüglich einig. Was man unter einem Wahrheitsanspruch versteht, ist abhängig von der zugrundeliegenden Theorie der Sinn- und Bedeutungskonstitution, die in einem engen Verhältnis mit der Problematik des Referenzbezuges von sprachlichen Aussagen steht. Als eine Einführung in diese Problematik kann z. B. dienen: Habermas (1997). Demnach ist es sinnvoll, dieser Zirkularität nachzugehen, will man der Frage nach der Referenzhaltigkeit von Diskursen auf die Spur kommen.

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Weise behaupten kann, dass ihr begrifflicher Inhalt ohne reale Referenz zirkuliert. Die Rechtfertigung einer solchen Aussage bedürfte der Vorstellbarkeit eines selbstreferenziellen Apparates, der eine Zirkulation von Differenzen erzeugt, dem die Möglichkeit innewohnen würde, immer weitere Differenzen in differenten Kontexten hervorzubringen, ohne für die eigene Veränderbarkeit einen Bezug zur Realität aufbauen zu können und zu müssen. Was sind die Bedingungen der Möglichkeit, sich einen solchen Apparat vorstellen zu können? Wie kann eine solche Vorstellung Geltung beanspruchen? »Indem man über etwas spricht, impliziert man die Geltung des Gesagten.« Akzeptiert man zunächst diese Aussage, muss noch theoretisch geklärt werden, von welcher Eigenschaft diese Geltung abhängen soll. Für uns ist dabei die Frage interessant, was es für Diskurse bedeutet, Geltung zu beanspruchen. Vor dem Hintergrund, des oben dargestellten Arguments liegt es nahe, die Geltung von Aussagen und Aussagenzusammenhängen von deren Gebrauchsfähigkeit in Situationen abhängig zu machen. Wodurch bestimmt sich aber diese Fähigkeit? Ein Advokat der Theorie der Fiktionalität könnte anführen, dass die Gebrauchsfähigkeit von Sätzen allein davon abhängt, dass der Inhalt, also die Referenzen derselben, konventionelle Sinnkondensate sind, die ihre Gültigkeit und Anschlussfähigkeit dadurch gewinnen, dass sie als Referenzillusionen im Sinne von »Repräsentationskonventionen« fungieren (vgl. dazu auch Putnam 1990: 27f.). Allein, dies kann nicht erklären, warum wir Äcker und Äpfel wahrnehmen können und zugleich in der Lage sind, etwas mit ihnen anzufangen, im Sinne eines praktischen Umgangs mit diesen. Um diesen Schritt, der zwischen dem pragmatischen Umgang und der sprachlicher Identifizierbarkeit besteht, näher erläutern zu können, hilft die Erinnerung daran, dass ein (sprachlich strukturiertes) Vorstellungsbild allein nicht ausreicht, um eine Handlung durchführen zu können. Putnam spricht in diesem Zusammenhang von einer bestimmten Art von Regeln, die in diesen Schwellensituationen zur Anwendung kommen: »Es gibt ›Spracheingangsregeln‹, die uns von Apfel-Erlebnissen zu solchen Äußerungen führen wie ›Ich sehe einen Apfel‹, sowie ›Sprachausgangsregeln‹ die uns von sprachlich artikulierten Entscheidungen (›Ich werde ein paar Äpfel kaufen‹) zu nichtsprachlichen Handlungen führen« (ebd.: 26).

Für fiktionale Diskurse, die sich selbstreferenziell erzeugen, können solche »Regeln« nicht konstitutiv wirksam sein. Wichtig ist nun, dass es zwar logisch denkbar ist, dass Differenzdiskurse zustande kommen, ohne dass ihre konkreten inhaltlichen Aussagen auf ein reales Außen referieren (und dies ist wie wir noch sehen werden auch tatsächlich geschehen), solche rein fiktiven Diskurse aber Probleme bekommen, wenn sie vor der Frage stehen, wie sie ihre eigenen strukturellen Transformationen – welche z. B. bei den Natur/Kultur-Diskursen zu beobachten sind (vgl. Koschorke i. d. B.) – aus sich selbst heraus erklären sollten. Es ist nun also zwar möglich, dass solche Diskurse im Umlauf sind. Diese hätten aber keine Möglichkeit auf eine Veränderung der realen Referenz zu reagieren. Sie könnten einen Input, der auf nichtsprachlichen Umgang mit realen Referenzen aufbauen würde, nicht integrieren. D. h., dass ihre eigene Transformation von einer anders gearteten Wider191

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ständigkeit initiiert worden sein muss. Da dafür nur kondensierte und konventionell gültige Deutungsmuster in Frage kommen, können diese nicht für die Erklärung der Diskurstransformationen in Anschlag gebracht werden – aufgrund ihrer Nicht-Einsetzbarkeit für eine Erklärung des Problems des praktischen Umgangs, zusammengenommen mit der Evidenz des Anwendungszwanges expliziter Regeln und der damit verbundenen theoretischen Verpflichtung, die Frage nach dem Modus ihrer Applikation zu lösen7. Die Idee, dass die Veränderung dadurch zustande gekommen sei, dass sich »alte« Fiktionen an »neuen« Fiktionen gerieben haben, ist nicht haltbar. Denn wie sollte man sich das Zustandekommen dieser neuen Fiktionen erklären können und welche Korrekturverhältnisse sollten für deren Konstitution in Betracht kommen? Solange sich eingespielte Natur/Kultur-Diskurse, die entweder die eine oder die andere Seite der Differenz betonen, keine äußere Widerständigkeit erfahren, können die von Koschorke beobachteten Veränderungen (Annäherungs- und Überlappungsprozesse) nicht erklärt werden. Auch wenn es der Fall ist, dass sich Fiktionen selbstreferenziell an Fiktionen messen, so ist doch die Entstehung neuer, strukturell anderer Diskursformationen – so wie sie Koschorke beobachtet – nur erklärbar, wenn man die reale Existenz einer äußeren Tatsächlichkeit als Initiator der Transformation der diskursiv erzeugten konstruktiven begrifflichen Bezugnahmen annimmt. Diskurse können also von sich nicht behaupten, dass ihre Referenz von ihnen selbst erzeugt ist und diese lediglich als Realitätsillusion fungiert, wenn sie die Bedingungen der Möglichkeit ihrer eigenen Transformation mitreflektieren. In Bezug auf den obigen Syllogismus können wir nun zusammenfassen und präzisieren: Der Satz, Diskurse seien rein selbstreferenzielle Konstrukte, besagt etwas Falsches. Der Irrtum, der diese Aussage als sinnvoll erscheinen lässt, geht, wie wir gezeigt haben, von einer unzulässigen Theorie der Referenz aus. Ein legitimes Spekulieren über die »Wahrheit« oder die »Falschheit« der Aussage (1.) würde es erfordern, sich einen selbstreferenziellen Apparat vorzustellen, der diese Transformationen erklären könnte. Wir haben gezeigt, dass dies nicht möglich ist. Es ist also nicht »legitim«, über diese Aussage zu spekulieren (2.), und daraus folgt deren Falschheit (3.). Wenn das sprachliche Denken also nicht lediglich ereignishaftes Verstehen selbstreferenzieller Gedankenproduktion ist, sondern grundsätzlich an die Fähigkeit der situativen Anwendung gebunden ist, ergibt sich für die in Differenzdiskursen entfalteten Begriffsoppositionen, aufgrund des dargestellten Konzepts der notwendigen Referenzunterstellung, dass die Transformation der Diskurse nicht reduktionistisch mit semiotischen Prämissen erklärt werden kann. Der Vorschlag Putnams, dass Begriffe nicht lediglich Vorkommnisse sind, sondern Fähigkeiten (vgl. Putnam 1990: 40), kann als Beleg für eine notwendige Ebenendifferenzierung bzgl. der Entwicklung eines theoretischen Konzeptes zur Erklärung des Zustandekommens der Transformation und dann des methodischen Beobachtens von Diskursen genommen werden. Begriffe sind somit keine in einem selbstreferenziellen Diskurs hervorgebrachten Ereignisse, die entweder als Realitätsillusion fungieren oder »Dinge« der Außenwelt adäquat repräsentieren. Aber auch wenn nun keine Dinge, Sachverhalte oder Ähnliches der Außenwelt repräsentiert werden können – dem Denken Vorgängiges also nicht 7

Wobei hier als Lösung nur implizite Strukturen des Könnens in Frage kommen.

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im Sinne einer adäquaten Repräsentation intelligibel ist –, so muss doch im Zuge der angestrebten pragmatistischen Position im Gegensatz zu der von Koschorke vertretenen semiotischen von den Konsequenzen einer real wirksamen äußeren Referenz des Denkens ausgegangen werden, wenn man die Evidenz der Strukturveränderung der beobachten Diskurse theoretisch genauer betrachten möchte.8 Eine theoretische Bestimmung des eigenen Beobachtungsstandortes muss diesen Umstand mitreflektieren: zum einen, um über Form und Bedingungen der eigenen Aussagen Rechenschaft ablegen zu können, und zum anderen, um die Struktur und den Wandel der beobachteten Diskurse begrifflich verstehen zu können. Das Kriterium ist dabei nicht die Materialität von vorhandenen Gegenständen, sondern die im beschriebenen Prozess entstehende Wirksamkeit von Referenzen der pragmatischen Bezugnahme. Ein der Reflexion auf dieses Korrelat entstammender Begriff, der in dem beschriebenen Sinn als pragmatische Fähigkeit verstanden werden muss, ist somit an einen kontinuierlichen Prozess der Erzeugung und Transformation seiner selbst angeschlossen – erzeugt sich aber nicht rein selbstreferenziell oder fiktional. Diese Angeschlossenheit ermöglicht es überhaupt erst, von einem Verstehen begrifflicher Transformationen sprechen zu können. In einem nächsten Argumentationsschritt soll nun näher darauf eingegangen werden, inwiefern die von Koschorke beobachteten Strukturänderungen der Natur/Kultur-Diskurse selbst Indikatoren für die Annahme sind, dass sich diese Diskurse (auch) aufgrund der Widerständigkeit einer realen Außenreferenz transformieren. Dabei kann das neuerdings in der soziologischen Theorie immer häufiger diskutierte Problem der Emergenz helfen.9 Folgende These liegt dem nächsten Abschnitt zugrunde: Die Emergenz der Semantik selbst ist Interpretant der Emergenz von gesellschaftlichen Strukturen. »Wir können nicht nach der Emergenz von etwas fragen, ohne die Emergenz einer Perspektive in Betracht zu ziehen, die ex post ihre eigenen Bedingungen der Möglichkeit und den Unterschied zwischen sich als Kontinuität und der Kontinuität, der sie zugleich entstammt und entronnen ist, reflektiert« (Renn 2008: 254).

Dieser Zusammenhang soll nun genauer anhand der Heterogenität von Ebenen, die innerhalb der soziologischen Theoriebildung identifiziert werden, rekonstruiert werden. Aufgrund eines differenten Umgangs mit dem Emergenzproblem kommt es zu zentralen Unterschieden zwischen der hier skizzierten pragmatistischen Perspektive und der von Koschorke vertretenen fiktionalistisch-semiotischen Konstitutionstheorie. Allerdings können wir einen gemeinsamen Ausgangspunkt identifizieren, der einen Vergleich möglich macht: Es wird Emergenz in den gesellschaftlichen Erzählstrukturen der Moderne beobachtet (diachrone Emergenz). Nur die Modi der Ableitungen aus dieser Beobachtung unterscheiden sich. Koschorke geht aufgrund der festgestellten Strukturwandlun8 9

Dieser Zusammenhang wird am Ende des Aufsatzes noch anhand der Natur/KulturDiskurse beispielhaft erläutert. Als Einführung in das Problem der »Emergenz« in der soziologischen Theorie eignet sich Heintz (2004).

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gen in den Erzählungen zu einem Forschungsprogramm über, das die »Kontaktzonen« zwischen Diskursen zu beobachten sucht (vgl. Koschorke i. d. B. 174). Dabei nimmt er eine Position außerhalb seiner beobachteten Gegenstände ein – welche er mit einem ternären Instrumentarium bewerkstelligen möchte – ohne, so meine Interpretation, die eigene Position als Gegenstand der Beobachtung mitzureflektieren und daraus Konsequenzen zu ziehen. Zu welchen Konsequenzen das pragmatistische Argument Putnams dagegen führt, ist ein nächster Schritt, um am Ende zeigen zu können, wie ein pragmatistisch inspirierter Umgang mit modernen Differenzdiskursen aussehen könnte.

III. Referenz, Emergenz, eigener Standort Das Argument, Begriffe als Fähigkeiten konzipieren zu müssen, weil man sonst situativ keine Anwendungsmöglichkeiten von situationstranszendierenden Strukturen hätte, macht es plausibel, konstitutionstheoretisch von einer Ebenendifferenzierung auszugehen. Das allgemeine Problem des theoretischen Standortes lässt sich so durch eine genauere Analyse des Zusammenspiels und der wechselseitigen Irritationsverhältnisse zwischen diesen Ebenen in den Blick nehmen. Davon ausgehend, dass die Emergenz sowohl synchrone als auch diachrone Relationen bezeichnet, kann vor dem Hintergrund der soziologischen Diskussion um dieses Problem eine theoretische Einbettung der beobachteten diachronen Emergenzphänomene der Entwicklung der Natur/Kultur-Diskurse in synchrone Verhältnisse einer Konstitutionstheorie sozialer Ordnung vorgenommen werden. Mit diesem Unternehmen ist die Frage nach der Bestimmbarkeit der Zugänglichkeit der theoretischen Konzeption eines Gegenstandes und damit die Bestimmung des eigenen Standortes verbunden. In synchroner Perspektive ist in der Soziologie das Gefälle zwischen Mikro- und Makroebenen (Individuum/Gesellschaft etc.), in diachroner Perspektive die Transformationen der gesellschaftlichen Differenzierungsstruktur – z. B. bei Luhmann: von segmentärer Differenzierung über die stratifikatorische Differenzierungsstruktur hin zur funktional differenzierten Gesellschaft (vgl. Luhmann 1999) – interessant. Die Bestimmung der Übergänge zwischen diesen Ebenen betrifft notwendig die Frage, wie und von welchem Standort aus man eine solche theoretische Präzisierung vornehmen kann. Das Paradox der Emergenz, Kontinuität und Diskontinuität gleichzeitig beschreiben zu müssen10 sowie das damit verbundene Problem der Nachträglichkeit der Reflexion sind die abstrakten Bezugspunkte, vor deren Hintergrund diese Frage beantwortet werden soll. Um diesen Problemzusammenhang unter Berücksichtigung von Putnams Argument auflösen zu können, richten wir nun den Blick auf das Problem des Beobachtens von Beobachtungen. Der eigene Standort wird problematisch, wenn man die Einheit von verschiedenen Diskursen beschreiben will. Wie 10 Dies muss man können, um überhaupt von einer Einheit der differenzierten Ebenen ausgehen zu können. Will man eine gleichsam magische Theorie der Emergenz vermeiden, ist die Beschäftigung mit der Frage um diese Übergänge von primärem Interesse.

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kann man die Instanz der eigenen Beobachtungen näher beschreiben? Benötigt man eine dritte Instanz, welche den Vergleich gleichsam »neutral« durchführen kann? Die Antwortstrategie für diese Frage koppelt zunächst Analysen des Umgangs mit Problemen synchroner wie diachroner Emergenz in Bezug auf das Standortproblem theoretischer Aussagefähigkeit. Sie führt dann zu dem Vorschlag, methodologisch von einem bestimmten Konzept der Zirkularität von Theorie (hier: systemtheoretisch-pragmatistischer Konstitutionstheorie) und Methode (ethnographischer Diskursanalyse) auszugehen. Die festgestellten Strukturänderungen der Natur/Kultur-Semantiken innerhalb der modernen Gesellschaft können erklärt werden, wenn man die beobachtete diachrone Emergenz auf eine ihnen zugrunde liegende gesellschaftliche Strukturveränderung zurückführt. Es werden dabei zwei differente, aber voneinander abhängige Typen der diachronen Emergenz postuliert. Folgender erkenntnistheoretischer Zusammenhang, der durch eine analoge Art des Rückschlusses, wie wir ihn im Allgemeinen durch die Verbindung von Putnams und Wittgensteins Konzepten bzgl. des Problems der Applikation gewonnen haben (wir schließen von der Beobachtbarkeit von Transformationen in der Sprache auf materielle Initiatoren dieser Änderungen), besteht in Bezug auf diese Korrelation: Aufgrund der Beobachtbarkeit der Änderung des Natur/Kultur-Diskurses geht man referenzoptimistisch von einer zuvor stattgefundenen Änderung der gesellschaftlichen Struktur aus. An dieser Stelle steht Koschorke vor folgender Problemkonstellation: »man könnte paradox formulieren, dass Gesellschaften in ihrem Begriff von ›Natur‹ symbolischen Zugang zu etwas suchen, was qua definitionem unzugänglich, der kulturellen Gestaltung vorgeschaltet und letztlich kulturell unverfügbar ist.« (Koschorke i. d. B.: 177)

Angesichts dieser Problemlage identifiziert Koschorke zwei Effekte der traditionellen Lösung dieses Problem in Differenzdiskursen. Entweder kam es zu einer Stabilisierung eines der beiden Terme als Leitmedium der weiteren Unterscheidungen innerhalb des Diskurses oder es kam zu einer Betonung der Einheit der Unterscheidung, weil durch die Betonung jeweils einer Seite ein unüberwindbarer Dualismus entstand, der aber aufgrund des offensichtlich identischen thematischen Bezugs das Bedürfnis nach Klärung auslöste (vgl. ebd.: 173f.). Weiter stellt Koschorke fest, dass im Fortgang gesellschaftlicher Entwicklungen, welche namentlich zu »modernen, dezentrierten Ordnungen« führen, »sich Unterscheidungslogiken nicht mehr auf solche normativ prästabilierten Ungleichgewichte stützen« (ebd.: 174) können. Vielmehr stelle sich nun die Frage, wie denn jetzt überhaupt noch die Stabilität und Einheit eines solchen Diskurses gewährleistet werden kann, wenn gleichzeitig die differenzlogische Prämisse Gültigkeit haben soll, dass »ohne das Prinzip hierarchischer Inklusion die Welt [sich] in Anomie auflösen würde« (ebd.). Die beobachtete Lösung, welche sich im Funktionieren moderner Diskurse zeitigt, ist nicht, dass Differenzpaare »gleichsam in demokratischer Gleichberechtigung nebeneinanderstehen«, denn die Feststellung, dass »die Asymmetrien wechseln« und nicht mehr einer »einzigen, alles umschließenden hegemonialen Ordnung des metaphysisch Wahren, Guten, Rechten, Eigenen« (ebd.) gehorchen können, führt zu der Konsequenz, dass die »Moderne[n] 195

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Ordnungssemantiken […] in der Pflicht [stehen], beweglichere Modelle zu entwickeln, als sie uns durch die philosophische Tradition zur Verfügung gestellt werden« (ebd.; meine Hervorh.). Diese beobachtete, als empirische Tatsache geltende Wahrheit ist für Koschorke Anlass für ein ethnographisch, kultursemiotisch orientiertes Vorgehen, das die »heterogene Beschaffenheit jedes epistemischen Feldes zum Ausgangspunkt nimmt« (ebd.). Beobachtet wird hierbei, dass »immer wieder begrenzte Allianzen zwischen antagonistischen Begriffspaaren entstehen« (ebd.). Methodisch zu handhaben sind diese qua »dichte[r] Beschreibung von sich überlagernden oder gegenläufigen Kohärenzen, Querverbindungen, lokalen Grenzüberschreitungen und Symbiosen« (ebd.: 175) Die Diskurse verändern ihre Struktur, insofern sie als »ein bewegliches, lose gekoppeltes Gefüge von Beziehungen dritter Art« (ebd.) beschrieben werden können. Dabei verklammern diese »Beziehungen […] die beiden Terme der Unterscheidung, insofern sie sie mit Asymmetrien von jeweils begrenzter Reichweite durchsetzen« (ebd.). Erstaunlicherweise spricht Koschorke, wenn er die Schlussfolgerungen aus diesen Beobachtungen für sein Forschungsprogramm zieht, von »begrifflichen Mitteln« (ebd.: 180; meine Hervorh.)11, mit deren Hilfe er den Beobachtungsgegenstand – »binäre Oppositionen« (ebd.) –, so sein Postulat, aus einer Position heraus zu beschreiben sucht, aus der es möglich sein soll, den Gegenstand selbst nicht mit einem binär strukturierten Instrumentarium zu beschreiben. Konkret geht es dabei darum, dass Möglichkeiten ausgenutzt werden sollen, die einen Mehrwert gegenüber dem »bloße[n] Sortieren auf die linke bzw. rechte Seite der Unterscheidung bietet« (ebd.), indem der Blick auf die »Abgrenzung- und Austauschprozesse« zwischen den Diskursen gerichtet werden soll. Für die methodische Beobachtung der Natur/Kultur-Differenz könnte dies dazu führen, dass eine »solche Feldtheorie« in der Lage wäre, »auch in zeitlicher Extension eine Art von ›epistemischem Kampf‹ zwischen natürlichen Determinanten und kulturellen Klassifikationen mit seinen wechselnden Frontverläufen, Geländegewinnen und Niederlagen nach[zu]zeichnen«, wodurch dann ermöglicht würde »dem Imperativ ›Natur!‹ einfach den Imperativ ›kulturelle Konstruktion!‹ oder ›Kontingenz!‹ entgegenzustellen«, »Prozesse der Naturalisierung und der Entnaturalisierung zu beobachten, die in ihrer Summe die Konsistenz der sozialen Wirklichkeit bilden« (ebd.). Bevor wir nun zum Schluss den Umgang Koschorkes mit den Transformationen der Kultur/Natur-Unterscheidung pragmatistisch hinterfragen, wollen wir zunächst die implizierten emergenztheoretischen Annahmen hinsichtlich der Zirkularität von Methode und Theorie untersuchen. Meine These ist, dass Koschorke, indem seine Untersuchungen zu einseitig auf der semiotischen Ebene verharren, ungewollt dem differenzlogischen Denken verhaftet bleibt; deshalb bleibt seine Position des methodischen Beobachters begrifflich intransparent. Die Eigentümlichkeit besteht dabei darin, dass auf rein semiotischer Ebene, die nachweislich den Paradoxien des differenzlogischen Denkens unterliegt, eine Position eingenommen werden soll, 11 Erstaunlich ist diese Schlussfolgerung, weil sich Koschorke an anderer Stelle explizit gegen eine Praxis der eigenen Begriffsbildung bzgl. des Kulturbegriffes ausspricht – vielmehr soll die Funktionsweise von »Unbestimmtheit« analysiert werden (vgl. Koschorke 2007).

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die von einer differenzlogischen zu eine tertiärlogischen Position voranschreitet. Sie soll also vom beobachteten Gegenstand getrennt sein. Damit kommt es in Bezug auf die Frage nach der Zirkularität von Theorie und Gegenstand zu einem Sprung, der unreflektiert bleibt. Denn theoretische Annahmen werden ja durchaus postuliert, wenn von einer Fiktionalität des Sozialen die Rede ist. Die Zirkularität von Theorie und Methodologie zeigt sich dann in der Form der Fiktionalität der Konstitution des Sozialen und der zugehörigen Methodologie der Semantikbeobachtung, welche zugleich die konstitutionstheoretische These stützen soll. Doch von welchem Standort aus und mit welchen theoretischen Argumenten wird dieser Zirkel eingeführt? Wenn man dagegen die Argumentation für eine reale Referenz in der Welt als eigenständig wirksames Konstituens annehmen will, kommt man zu einer quasi postkonstruktivistischen Konzeption der Zirkularität von Theorie und Methodologie. Dadurch wird der Einstieg in den Zirkel transparent und zugleich theoretische Falsifizierbarkeit gewährleistet. Aus diesem Blickwinkel ist die Forschungsprogrammatik, die Koschorke verfolgt, m. E. unterkomplex, wenn nicht zusätzlich der eigene Standort innerhalb der ausdifferenzierten Gesellschaft qua Begriffsbildung transparent gemacht wird. Dies könnte mithilfe einer Konstitutionstheorie geschehen, die nicht nur sensibel ist für Unterschiede auf einer Ebene der Konstitution (bei Koschorke die Ebene der Fiktionalität), sondern Ebenendifferenzen als Voraussetzung der eigenen Praxis annimmt. Der gemeinsame Ausgangspunkt der semiotischen wie der pragmatistischen Konzeption – die Sichtbarkeit der Veränderung der Diskurse in der Moderne – bleibt aus rein semiotischer Warte streng genommen nicht beschreibbar, weil sie keine reale Irritation von außen theoretisch für sich beanspruchen kann. Die Unterscheidung der Heterogenität von Diskursen von der Heterogenität von Emergenzebenen etabliert den entscheidenden Unterschied zwischen semiotischer Selbstbeobachtung und pragmatistischer Konstitutionstheorie. Im Zuge dieser pragmatistischen Argumentation muss es als ein Kategorienfehler gewertet werden, wenn man nur eine Ordnungsebene als konstitutiv wirksam definiert. Damit geht eine Verkürzung des methodologischen Programms einher, die den Modus der Zirkularität mithilfe einer Reduktion auf einen quasi-ontologischen Fiktionalismus bestimmen will. Vor dem Hintergrund der vorgetragenen Argumentation lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen: Die Konsequenz der ausschließlichen Beobachtung von asymmetrischen Diskursen ist, dass nur ein Aspekt der näheren Aufklärung der Natur/KulturDifferenz ermöglicht wird – nämlich ausschließlich derjenige, der in fremden Diskursen verhandelt wird. Darüber hinaus ist aber begrifflich-argumentative Arbeit nötig, um ein adäquates Hantieren mit diesem Begriffspaar zu ermöglichen. Der blinde Fleck in der Konzeption Koschorkes besteht darin, ex post nichts darüber sagen zu können, wie etwas »Neues« bzw. »Emergentes« entstehen kann, das zugleich aber als Beobachtung postuliert wird. Während Koschorke das Problem der Emergenz für die Strukturänderung auf semantischer Ebene postuliert, geht es doch bei der Untersuchung von emergenten Strukturen theoretisch zumindest auch um das Problem, wie »Neues« auf einer anderen Ebene der Ordnungsbildung entsteht (vgl. Renn 2008: 258). Die Fruchtbarkeit der kultursemiotischen Beobachtungen Koschorkes könn197

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ten in diesem Sinne verstärkt werden, wenn man den beobachteten diachronen Emergenzbeziehungen zwischen Struktur und Semantikveränderungen eine Konstitutionstheorie zugrunde legt, die synchrone Strukturen der Konstitution und Genese von emergenten Strukturen beleuchten kann. Eine solche Theorie soll anhand der Natur/Kultur-Semantik nun kurz erläutert werden.

IV. Die Natur/Kultur-Differenz als komplexe Begriffsbildungspraxis Da nicht »legitim« denkbar ist, dass die sich transformierenden Diskurse nicht auf das beziehen, was sie auszudrücken versuchen, gehe ich von einer gemeinsamen Referenz der Natur/Kultur-Diskurse aus. Wenn man von einer Vergleichbarkeit der Diskurse ausgeht, geht man davon aus, dass diese in gewisser Hinsicht kommensurabel sind. Diese Kommensurabilität ist gerechtfertigt, folgt man der oben ausgeführten Argumentation der Unterstellbarkeit einer gemeinsam »zuhandenen« Grundlage der differenten Bezugnahme. Die Inkommensurabilität von radikal naturalistischen und kulturalistischen Diskursen begründet sich dann auf differenten Wahrheitsbedingungen, die für die Geltung ihrer Erkenntnisse in Anspruch genommen werden müssen. In einem naturalistischen Diskurs nimmt man die physikalische Möglichkeit der Existenz eines beobachteten Phänomens, also dessen Vorhandenheit, als den entscheidenden Prüfstein von Aussagen über die Tatsächlichkeit eines Phänomens an. Das Wahrheitskriterium ist hier also ein physikalisches. Der naturalistische Diskurs geht dabei von der Möglichkeit der Annäherung an eine objektive, vorgängig vorhandene Welt aus. Differenzlogisch formuliert bedeutet das, dass qua Betonung der Natur als der bestimmende Term die Erklärung von Kulturphänomenen allgemein auf der Grundlage eines Naturverständnisses zu erfolgen hat (vgl. Koschorke i. d. B.: 176). Dagegen schreibt ein kulturalistischer Diskurs – differenzlogisch rekonstruiert – die Irritierbarkeit seiner Erkenntnisse allein kulturellen Konstrukten zu. Selbst die Unterscheidung zwischen »Natur« und »Kultur« wäre demnach als kulturelles Konstrukt zu begreifen (ebd.: 177). Eine ›wahre‹ Aussage innerhalb dieses Diskurses wäre dann allein an der Anschlussfähigkeit innerhalb des kulturell konstruierten Diskurses zu messen. Die Widerständigkeit theoretischer Aussagen wäre also lediglich in Form von vorgängigen und anerkannten Konstrukten zu sehen. Die Schlussfolgerung Koschorkes angesichts dieser Lage ist, dass »Beide Ansätze […] komplementär [sind], ohne sich jedoch zu ergänzen, weil sie sich ja sozusagen wechselseitig den Boden unter den Füßen wegziehen« (ebd.). Wie also wäre nun mit dem Begriffspaar von Kultur und Natur sinnvollerweise umzugehen? Verharrt man bei einer naturalistischen oder kulturalistischen Position, ist keine Vergleichbarkeit möglich. Die postmodernen Beobachtungen aber, welche Annäherungen offen legen, sind ein Indiz dafür, dass beide in je eigener Weise ihr Wahrheits- und Geltungskriterium falsch konstruieren. Um zu einem geeigneten Geltungs- und Wahrheitskriterium zu kommen, müssen wir die Philosophie zu Rate ziehen – es genügt nicht, Diskurse quasi von außen beobachten zu wollen. Die begriffliche Konstruktion 198

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der eigenen Geltung ist nicht freischwebend, sondern sie muss die Regeln der Übersetzung nichtsprachlichen Inputs in sprachliche Annäherungen berücksichtigen und so ein pragmatistisches Wahrheitskriterium hervorbringen. Es wird dabei eine schwache ontologische Annahme heranzuziehen sein, denn sprachliche Aussagen können nur sinnvoll-legitim in Geltung gesetzt werden, wenn eingestanden wird, dass sie sich auf ihren Inhalt tatsächlich beziehen – und dies in einem Sinn, der weder naturalistisch noch kulturalistisch interpretiert werden kann. Das Minimalkriterium einer legitim anschlussfähigen Aussage ist also die Unterstellung einer äußeren Existenz der Referenz der Aussage. Diese Minimalentscheidung ist notwendig. Dagegen behauptet Koschorke: »Weil hier nicht ontologisch, sondern kultursemiotisch argumentiert werden soll, kann die Frage, ob es dieses Unverfügbare ›gibt‹ und wie sich wissen lässt, dass es ›da draußen‹ ist, unentschieden bleiben.« (Koschorke i. d. B.: 177)

Wenn man den Wandel der beobachteten Diskurse aber theoretisch befriedigend erklären will, d. h. ohne die Existenz der eigenen Referenzen radikal kontingent zu setzen, müssen ontologische Fragen m. E. in die Argumentation mit einbezogen werden.

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Diasporische Doppelgänger: Philip Roths Operation Shylock1 ULLA HASELSTEIN

I. The Merchant of Venice ist das nach Hamlet am häufigsten kommentierte Drama Shakespeares (vgl. Mahon 2002: 1). Die anhaltende kritische Aufmerksamkeit gilt natürlich Shylock, der bekanntesten jüdischen Figur der Literaturgeschichte (vgl. z. B. Danson 1978; Cohen 1980; Bloom 1991; Gross 1992; Yaffe 1997; Gross 2006; Bloom 2006). Mit dem die Höhe von Antonios Borgsumme und deren Risiko und Gewinn abwägenden Satz »Three thousand ducats – well« (I. 3. 1) betritt er die Bühne: Als habgieriger Geldverleiher tritt er auf, als Christenhasser und hinterhältiger Schuft stellt er sich alsbald heraus. Die Hartnäckigkeit, mit der er seine juristischen Ansprüche auf ein Pfund Fleisch Antonios durchzusetzen versucht, macht ihn zu einem Bösewicht par excellence. Doch Shylock begründet sein Verhalten mit den Kränkungen und Missachtungen, denen er als Jude in Venedig fortwährend ausgesetzt ist: Antonio hat ihn am Rialto beschimpft und bespuckt und kündigt ihm selbst im Moment des Geschäftsabschlusses weitere Misshandlungen an. In seiner berühmten Rede hält Shylock der venezianischen Gesellschaft den Spiegel vor, und seine Grausamkeit fällt auf sie zurück: »I am a Jew. Hath not a Jew eyes? Hath not a Jew hands, organs, dimensions, senses, affections, passions, fed with the same food, hurt with the same weapons, subject to the same diseases, healed by the same means, warmed and cooled by the same winter and summer as a Christian is? If you prick us, do we not bleed? If you tickle us, do we not laugh? If you poison us, do we not die? And if you wrong us, shall we not revenge? If we are like you in the rest, we will resemble you in that. If a Jew wrong a Christian, what is his humility? Revenge! If a Christian wrong a Jew, what should his sufferance be, by Christian example? Why, revenge! The villainy you teach me I will execute, and it shall go hard but I will better the instruction.« (III. 1. 49-62)

Shylock gilt der Wunsch nach Rache als natürliche und universale menschliche Reaktion auf erfahrene Verletzung und Beleidigung: Das Gebundensein an einen fragilen Körper und das Streben nach Vergeltung, das auf die Verletzbarkeit des Körpers zielt, bilden für ihn die Quintessenz des Humanen. 1

Der vorliegende Aufsatz wurde für eine zu Ehren von Hendrik Birus im April 2008 veranstaltete Konferenz mit dem Titel »Poetische Gerechtigkeit« verfasst (vgl. Lüdeke/Packard/Richter [in Vorb.]).

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Die Venezianer vermögen sich freilich gegen solche Reziprozität zu schützen, sofern sie es mit Außenseitern zu tun haben, deren gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten sie begrenzen können. Doch Shylock nutzt das auf Reziprozität basierende Vertragsrecht aus; Antonio hat den Wechsel über dreitausend Dukaten mit all seinen Klauseln unterzeichnet und damit sein Leben aufs Spiel gesetzt. Shylock pocht vor Gericht auf sein Recht (»I stand here for law« [IV. 1. 142]), und der Doge als Herr des Verfahrens kann das Gesetz nicht brechen, ohne die allgemeine Rechtssicherheit in Venedig und die Bedeutung der Stadt als internationalen Handelsplatz zu beeinträchtigen (vgl. III. 3. 26-28). Der Doge und nach ihm noch einmal Portia versuchen daher, Shylock zu überreden, Mitleid mit Antonio zu zeigen und auf sein Recht zu verzichten. Gnade vor Recht ergehen zu lassen, so Portia, kommt nicht nur dem Empfänger, sondern auch dem Gebenden zugute (»It blesseth him that gives and him that taketh« [IV. 1. 186]): Vergebung ist eine (göttliche) Gabe,2 die das austarierte Gleichgewicht einer ökonomischen oder juristischen Reziprozität und der darauf basierenden Idee von menschlicher Gerechtigkeit außer Kraft setzt; eine Gnade, auf die am Tag des Jüngsten Gerichts Christen und Juden gleichermaßen angewiesen sein werden. Doch Shylock verschließt sich dieser Argumentation, und so macht Portia nicht nur durch eine geschickte buchstäbliche Deutung des Vertragstexts (vgl. Kofmann 1989: 54) – die mehrere Kritiker als rabbinisch charakterisieren (Budick 2007: 79) – Shylock die Einlösung seiner Forderung unmöglich, sondern legt obendrein dar, dass nach venezianischem Recht seine Klage als raffinierter Anschlag auf das Leben eines Bürgers durch einen Fremden zu werten ist. Während das venezianische Vertragsrecht nicht zwischen Bürgern und Nicht-Bürgern unterscheidet, privilegiert das von Portia angeführte Strafrecht die Venezianer, indem es ihnen einen besonderen Schutz gegenüber allen Fremden gewährt: Der Anschlag eines Fremden auf das Leben eines Venezianers gilt als Handlung, die sich gegen den venezianischen Staat richtet, und zieht besondere Sanktionen nach sich. Shylocks Klage gegen Antonio stellt demnach einen Rechtsbruch dar, der mit dem Verlust von Shylocks gesamtem Vermögen sowie mit der Todesstrafe zu ahnden ist, die nur der Doge selbst außer Kraft setzen kann. In dieser neuen juristischen Situation lassen die Repräsentanten des venezianischen Staates Gnade walten: der Doge, indem er Shylock begnadigt und die dem Staat zustehende Hälfte von dessen Vermögen auf ein Bußgeld reduziert; und Antonio, indem er verspricht, die ihm als Shylocks Opfer gesetzlich zustehende andere Hälfte des Vermögens treuhänderisch für Shylocks Tochter zu verwalten. Antonios Rolle vor Gericht aber hat sich nicht nur von derjenigen des Beklagten in die des Klägers verwandelt, er übernimmt auch noch die Funktion des Richters, wenn er zwei Auflagen für Shylocks Begnadigung formuliert, die der Doge sich prompt zu eigen macht: Shylock muss zum Christentum übertreten und seine Tochter Jessica und ihren Ehemann Lorenzo, die ihn bestohlen und zutiefst gekränkt haben, als Erben seines Vermögens einsetzen. Das Recht interveniert nicht in den Parteienstreit, sondern wird als parteilich ausgewiesen.

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Zu einer Lektüre der verschiedenen Tauschprinzipien im Stück vgl. Weigel (1996).

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Man kann in diesem Urteil ohne weiteres das Prinzip der poetischen Gerechtigkeit erkennen: Shylocks hartnäckiges Pochen auf einen sittenwidrigen Rechtsanspruch bringt ihn zu Fall; aus dem Kläger wird ein Beklagter, seinen Versuch, Antonio mit juristischen Mitteln ums Leben zu bringen, muss Shylock mit seinem eigenen symbolischen Tod bezahlen. Auch die Struktur der Gerichtsverhandlung folgt dem Muster der Reziprozität: War es erst Shylock, der in Portia einen »most rightful« and »most learned judge« (IV. 1. 300 bzw. 303) erkannte, so zitiert Gratiano höhnisch diese Worte, nachdem Portia Shylocks Klage abgewiesen hat. Doch obwohl das Urteil eine symmetrische Struktur zwischen Verstoß und Strafe herstellt und damit der Gerechtigkeit formal Genüge getan wird, versöhnt es keineswegs, sondern verschärft den zugrunde liegenden Konflikt. Denn das säkulare Gerichtsverfahren um die Einhaltung eines kommerziellen Vertrags ist zugleich als Widerstreit religiös begründeter Rechtsprinzipien angelegt: Das alttestamentarische lex talionis, das der augustinischen Universalgeschichte zufolge von der christlichen Mitleidsethik abgelöst wurde, tritt dieser im Gerichtssaal als Kontrahent gegenüber, und die von Portia behauptete Überlegenheit von Gnade und Vergebung als Attribute des göttlichen Richteramts (»It is enthroned in the heart of kings/It is an attribute to God himself« [IV. 1. 192f.]) über die irdische Gerechtigkeit der Reziprozität von Rechtsverstoß und Strafe erweist sich im Laufe des Verfahrens als illusionär. Shylock hatte es abgelehnt, Portias paradoxer Forderung »then must the Jew be merciful« (IV. 1. 182) nachzukommen, während im Gegenteil die Venizianer sich sogar unaufgefordert zu Gnadenakten gegenüber Shylock bereit zeigen; doch die Voraussetzung dafür ist der Ausschluss der Juden aus der Rechtsgemeinschaft. Obwohl Portia Shylocks Namen explizit erfragt, redet sie ihn doch durchweg als »the Jew« an, ebenso wie der Doge, Antonio, Bassanio oder Gratiano. Die streitenden Parteien werden ihren eigenen Rechtsprinzipien nicht gerecht: Shylocks Vertrag missbraucht den Buchstaben des Gesetzes, während die Venezianer die Gnade in den Dienst der Rache stellen.3 Denn die Konsequenzen des Urteils sind so bitter, dass Shylock es zunächst ablehnt, begnadigt zu werden (IV. 1. 373-377), ist dies doch darauf angelegt, Shylock dauerhaft zu demütigen und seine religiöse Identität als Jude, seine Autorität als Vater, seine Selbstverantwortung als Geschäftsmann zu vernichten. Shylocks letzte Worte zeigen ihn als gebrochenen Mann, der sich aus der Öffentlichkeit zurückzieht. Für ihn ist kein Platz in Venedig, und im fünften Akt tritt er folglich nicht auf. Doch zuvor ist er von Rechts wegen gehalten, die juristische Vernichtung seines Status als Subjekt durch seine Unterschrift zu besiegeln: »Portia: Art thou contented, Jew? What dost thou say? Shylock: I am content. Portia: Clerk, draw a deed of gift.

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René Girard (1991: 294) hat darauf hingewiesen, dass Shylock auf Zinsforderungen gegenüber Antonio verzichtet, was ihn zum »grotesken Doppelgänger« des christlichen Kaufmanns macht.

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Ulla Haselstein Shylock: I pray you give me leave to go from hence. I am not well, send the deed after me, and I will sign it. Duke: Get thee gone, but do it.« (IV. 1. 390-397)

Shylock ist der Jude, gegen den sich das christliche Venedig über alle Standesgrenzen hinweg einig weiß. Dem Staat gelten die Juden als Fremde und damit als ständige Bedrohung, auch wenn ihr Handel der Prosperität der Stadt dient. In seiner eingangs zitierten Rechtfertigungsrede beschreibt Shylock den Antagonismus der mimetischen Struktur interpersonaler Beziehungen, in der eine Beleidigung nur mit einer Beleidigung beantwortet werden kann. René Girard (1979: 15) hat in Violence and the Sacred die Institution des Rechts als Ausweg aus dieser potentiell unabschließbaren Gewaltspirale bestimmt: »[O]ur judicial system [...] serves to deflect the menace of vengeance. The system does not suppress vengeance; rather it effectively limits it to a single act of reprisal, enacted by a sovereign authority specializing in this particular function.« Für Girard ist die Entwicklung des Rechts eine kulturelle Leistung, die ältere Opferrituale ersetzt, die eine die Gemeinschaft insgesamt bedrohende Praxis der Rache durch das ersatzweise Töten eines anderen, schwächeren Mitglieds der Gruppe, eines Fremden oder Außenseiters (ebd.: 267) oder aber eines Opfertieres zu unterdrücken suchten.4 Shylock sucht nun das Gesetz als Instrument seiner Privatrache zu nutzen und setzt damit eine subversive Strategie ein, der seitens der staatlichen Institution nur durch eine besondere hermeneutische Anstrengung, v. a. aber durch eine Kollusion des Rechts mit dem Opfer begegnet werden kann. Diese Kollusion wird zwar durch den souveränen Gnadenakt des Dogen sofort wieder rückgängig gemacht, doch nur um durch die mit demselben Gnadenakt erzwungene Konversion erneut hervorzutreten. Shylocks Konversion ist aber zugleich die Bedingung dafür, dass dieser Rückgriff auf die Logik des Opfers als eine Ausnahme erscheint und die Herrschaft des Rechts nicht auf Dauer ausgesetzt wird. Girard hat daher Shakespeares Verwendung des Motivs des Sündenbocks als paradoxe Strategie charakterisiert: »To those who do not want to challenge the anti-Semitic myth, or Shakespeare’s own espousal of that myth, The Merchant of Venice will always sound like a confirmation of that myth. To those who do challenge these same beliefs, Shakespeare’s own challenge will become perceptible.« (Girard 1991: 297)

Giorgio Agamben hingegen hat unter der Perspektive der Biopolitik des modernen Staates die Konsequenzen des Ausnahmerechts beschrieben, allerdings ohne dabei auf die Kategorie des Opfers oder des Sündenbocks dezidiert zurückzugreifen. Die Trennung des »nackten Lebens« von der politischen Identität der Staatsbürger stellt für ihn vielmehr den fundierenden Akt moderner Staatlichkeit dar, weil sie auf dem Ausnahmezustand und der Setzung des Rechts durch den Souverän gründet – mit der Konsequenz, dass der Staat als Souverän bestimmte Gruppen ihrer Rechte verlustig erklären, als 4

Girard folgt damit der Genealogie des Rechts, wie sie Aeschylus’ Orestie etabliert (Hinweis von Daniel Selden, Santa Cruz).

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»nacktes Leben« deklarieren und dem Tod überantworten oder, so wäre hinzuzufügen, begnadigen kann (s. Agamben 1998, insbes. S. 114). Portia beruft sich auf venezianisches Recht, das Fremden die Gleichheit vor dem Gesetz grundsätzlich vorenthält und damit dem Dogen als dem Repräsentanten der Republik die souveräne Entscheidung über das Leben Shylocks zuspricht. Vor diesem Hintergrund trägt im Merchant of Venice alle venezianische Gerechtigkeit (und auch die poetische) die Züge einer antisemitischen Farce.

II. Vielfach preisgekrönt und international beachtet, spannt sich Philip Roths umfangreiches Werk von seinem mit dem National Book Award ausgezeichneten Erzählband Goodbye, Columbus (1959) über den Skandal-Erfolg Portnoy’s Complaint (1969) zu den Arbeiten der Gegenwart. Roths Ruhm gründet sich auf seinen Beobachtungen des amerikanischen jüdischen Milieus mit Blick fürs stimmige Detail und absurde narrative Pointen; seine Protagonisten – Nathan Zuckerman etwa oder David Kepesh – treten unumwunden als fiktionale Eben- oder auch Gegenbilder des Autors in Erscheinung. Indem Roth diese Figuren immer wieder zum Mittelpunkt seiner Romane macht, ermöglicht er es dem Leser, den Verlauf ihres Lebens über Jahrzehnte zu verfolgen. Die Texte fügen sich zu einer Chronik der amerikanischen jüdischen Mittelschicht im 20. Jahrhundert, deren Authentizität durch den Fundus autobiographischer Erfahrungen, mit denen die Figuren vom Autor ausgestattet werden, abgesichert ist. Während in den 1950er und 1960er Jahren Roths satirische Porträts die neurotischen Verhaltensweisen der Figuren als Konsequenz der klaustrophobischen Enge eines stark familial geprägten Imaginären der amerikanischen jüdischen Kultur herausstellten (vgl. Roth 1977a,b) – und zwar mit derart respektlosem Witz, dass der einflussreiche, Roth ursprünglich durchaus wohlgesonnene Kritiker Irving Howe ihn 1972 der Stereotypisierung und der Schädigung jüdischen Ansehens in Amerika zieh (Howe 1972) –, so gilt für Roths Texte aus den 1980er und 1990er Jahren, dass sich die einst in der Karikatur ebenso präzis wie polemisch erfasste soziale und kulturelle Lage für die Protagonisten wie für den sich in ihnen spiegelnden Autor in dem Maße zu verwischen beginnt, als sich die USA nach der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre zu einer multikulturellen Gesellschaft entwickeln, in der ethnische Identität nicht mehr als Schicksal, sondern als Resultat einer persönlichen Entscheidung zur Übernahme eines kulturellen Rollenprofils gilt. Für die mehrheitlich aus Osteuropa stammenden jüdischen Einwanderer in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war Amerika der Ort, an dem sie hoffen konnten, bürgerliche Partizipation und wirtschaftliche Prosperität zu erreichen; zugleich aber waren sie sich in hohem Maße bewusst, einer religiösen und kulturellen Minderheit anzugehören. Es ist kein Zufall, dass amerikanische jüdische Intellektuelle, allen voran Israel Zangwill und Horace Kallen, an der Formulierung des Selbstverständnisses der Vereinigten Staaten im 20. Jahrhundert wesentlichen Anteil hatten: Während über viele Jahre Zangwills Metapher des »melting pot« dominierte, stellte sich Kallens Konzept des »cultural pluralism« (das die Akzeptanz einer angloamerikanischen Prägung der Öffentlichkeit und der politischen Institutionen vorsah) auf lange 205

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Sicht als mindestens ebenso wirkmächtig heraus (vgl. Biale 1998). Zangwills Formel umreißt den Prozess der Assimilation der europäischen Einwanderer der Jahrhundertwende aus Ost- und Südeuropa unter Einschluss der Juden. Die Forschung hat diesen Prozess unter dem Titel How the Jews Became White Folks (Brodkin 1998) dokumentiert und dessen Konsequenzen beschrieben: Nach den ökonomischen Erfolgen der ersten und zweiten Einwanderergeneration und dem Abbau von Zugangsschranken zu den universitären Bildungseinrichtungen in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg begann sich das amerikanische jüdische Milieu mit seiner Verwurzelung im Jiddischen und seinem engen, familial organisierten Beziehungsnetz aufzulösen. Die zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung erfolgreiche Assimilation der europäischen und jüdischen Einwanderer ließ im Gegenzug einen strukturellen Rassismus der amerikanischen Gesellschaft umso stärker hervortreten: »Except among some anti-Semites, Jew has stopped being the description of a racial category, as it was in the early decades of the twentieth cenury, whereas black and African American, different in connotation but not necessarily in denotation from Negro, typically have not. Jews are now ethnic, but blacks remain racial, not because the idea of race per se has creditable scientific or genetic meaning but because color, whether the communal traits associated with it or the group membership ascribed to it, still trumps everything else, notwithstanding widespread agreement that «race« is constructed, contingent, ephemeral, illusionary, or non-existent.« (Sundquist 2005: 14f.)

Die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung auf dem juristischen und politischen Sektor konnten aber über die mangelnde soziale, kulturelle und ökonomische Integration der »people of color« nicht hinwegtäuschen. Unter dem Banner des Multikulturalismus wird seither versucht, die kulturelle Identität von Minderheiten zu stärken. Insofern diese politischen Ziele »versions of the nineteenth-century ›Jewish question‹« (Biale/Galchinsky/Heschel 1998: 4) darstellen, werden sie von vielen amerikanischen Juden mitgetragen. Doch die Agenda des Multikulturalismus treibt auch die liminale Rolle der amerikanischen Juden im amerikanischen Identitätsspektrum5 hervor: »Because they are now seen as white and therefore capable of passing as other whites, I suggest that Jews at the end of the twentieth century are rapidly becoming a good example of a [postethnic] community of choice. […] Jews are an ethnic group, but not an ethnic group traditionally conceived. Neither are they characterized by uniform religious practice and belief. The instability and multiplicity of Jewish identity, which has a long history going back to the Bible itself, has become even more true today.« (Biale 1998: 31)

Aufgrund dieser Vielfältigkeit und Instabilität wird die Bestimmung amerikanischer jüdischer Identität in der Gegenwart zum Gegenstand diskursiver Auseinandersetzungen und politischen Richtungsstreits, wobei häufig zwei historische Ereignisse im Mittelpunkt stehen, die außerhalb des amerikanischen jüdischen Erfahrungsraums liegen, nämlich der Holocaust und die 5

»they [the American Jews] represent that boundary case whose lack of belonging to a recognizable category creates a sense of unease« (Biale/Galchinsky/Heschel 1998: 5).

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Gründung des Staates Israel. Die zionistische Bewegung und später der Staat Israel fanden breite Unterstützung seitens der amerikanischen jüdischen Gemeinden, ohne dass damit der Akkulturation in den amerikanischen Mainstream eine Absage erteilt worden wäre; die USA erschienen vielmehr als ein anderes »Promised Land« (vgl. Rubin-Dorsky 2001). Nicht zuletzt als Reaktion auf die multikulturalistische Debatte wird jedoch in den letzten Jahren mit dem Begriff der Diaspora zunehmend das traditionelle Konzept jüdischer Selbstdefinition wieder aufgegriffen. Seiner früheren religiösen Konnotationen weitgehend entledigt, bezeichnet der Begriff heute eine transnationale Lebensform, die auf einem Bewusstsein der eigenen Geschichte sowie auf Solidarität gegenüber den Mitgliedern der eigenen minoritären Kultur beruht, ohne politische Allianzen mit anderen Gruppen auszuschließen.6 Der Staat Israel hat im amerikanischen jüdischen Imaginären eine besondere Funktion inne: »Israel has a variety of possible meanings for American Jews: a religious prophecy that has been fulfilled; a homeland to which Diaspora Jews can return; a political refuge for persecuted Jews. […] But Israel has another set of possible meanings, with political and personal implications that are, to many American Jews, more immediate and tangible: it is a familial land inhabited by relatives who must be protected against deadly enmity; it is a cause that could conceivably place a strain on relations between Jews and other Americans; it is a country whose vulnerability to attack reminds American Jews of their own vestigial sense of insecurity.« (Lipset/Raab 1995: 111)

Der gegenwärtige Diskurs der amerikanischen jüdischen Diaspora betont vor allem ein genealogisch vermitteltes Gemeinschaftsgefühl und die Erinnerung an die Opfer des Holocaust.7 Es ist jedoch strittig, ob diese Faktoren genug Bindungskraft entwickeln können, um eine jüdische Kultur in den USA angesichts der immer weiter fortschreitenden Assimilation zu bewahren. Diese Verlegenheit wird durch den Umstand verschärft, dass der Staat Israel die jüdische Diaspora zu einem Anachronismus erklärt und sich als Heimatland aller Juden definiert, aber aufgrund des Dauerkonflikts mit den Palästinensern auf die Unterstützung insbesondere der jüdischen Diaspora in den USA angewiesen bleibt. Zugleich wird insbesondere von amerikanischen jüdischen Schriftstellern die Erinnerung an die von den Nazis zerstörte osteuropäische jüdische Kultur wachgehalten. Polemisch formuliert diesbezüglich Michael Galchinsky: »If American Jewish writers have longed to return to any Zion, it is not to Jerusalem but to Bialystok.« (Galchinsky 1998: 201)8 Diesen komplexen Zusammenhang zwischen der Assimilation der Juden in den USA, der diskursiven Neubegründung diasporischer jüdischer Identi6

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Zur Geschichte des jüdischen Begriffs der Diaspora vgl. Stratton (1997) und Galchinsky (1998). Für eine Literaturgeschichte der modernen jüdischen Diaspora s. Finkelstein (1992), Shreiber (1998), Ezrahi (2000), Omer-Sherman (2002). Vgl. Boyarin/Boyarin (1993) und die Kritik an dieser Position bei Galchinsky (1998: 202f.), Novick (1999), Flanzbaum (1999). Eine andere Perspektive findet sich bei Eisen (2007). Philip Roth fungierte als Herausgeber der Penguin-Reihe »Writers from the Other Europe« und publizierte u. a. Werke von Bruno Schulz, Tadeusz Borowski, Milan Kundera and Bohumil Hrabal.

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tät, der Solidarität mit einem zwischen Triumph und Tragödie schwankenden Israel sowie der Nostalgie für die zerstörte jüdische Kultur Osteuropas hat Philip Roth in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren zum Gegenstand zweier Texte gemacht, in denen er die autobiographische Unterfütterung seiner Texte mit Hilfe von selbstreferentiellen Verfahren thematisiert und seine eigene Identität als Jude und Amerikaner systematisch befragt.9 In der folgenden Analyse werde ich mich auf Operation Shylock beschränken.

III. Wie der Untertitel (»A Confession«) und das Vorwort: »I’ve drawn Operation Shylock from notebook journals. The book is as accurate as I am able to give of actual occurrences that I lived through my middle fifties« (Roth 1993a: 13)10 deutlich machen, beansprucht Roth explizit autobiographische Faktizität für seinen Text; in einem Essay im New York Times Book Review (Roth 1993b) und in Interviews hat Roth diese Aussage mehrfach wiederholt. Operation Shylock beginnt damit, dass der Autor Philip Roth 1988 von einem Verwandten sowie von seinem Freund, dem israelischen Romancier und Holocaust-Überlebenden Aharon Appelfeld, darauf aufmerksam gemacht wird, dass in Jerusalem ein Mann auftritt, der sich als der amerikanische Schriftsteller Philip Roth ausgibt und dessen kulturelles Kapital sowie die Anwesenheit zahlreicher Journalisten während des Demjanjuk-Prozesses nutzt, um in Interviews und Vorträgen für ein sehr spezielles »diasporistisches« Projekt zu werben: Um einen drohenden zweiten Holocaust (verübt von den Arabern an den Juden Israels) zu verhindern, sollen die aus Europa stammenden Israelis nach Europa remigrieren, wo man sie freudig willkommen heißen werde. Wie israelischen Zeitungs- und Rundfunkberichten zu entnehmen ist, hat »Philip Roth« es sogar vermocht, sich für dieses Projekt der Unterstützung Lech Walesas zu versichern. Der Autor bricht nach Jerusalem auf, um den falschen Roth zu enttarnen und seinen eigenen guten Namen zu retten, doch in Jerusalem überschlagen sich die Ereignisse: Wie der »echte« Roth feststellen muss, ist der »falsche« Roth ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, selbst die Kleidung der beiden stimmt bis hin zu abgerissenen Hemdknöpfen überein. Selbstbewusst hält der Doppelgänger dem Schriftsteller entgegen: »It was not without resistance that I accepted my role: the naked you/the messianic you/the sacrificial you« und bittet ihn »Let me exist. [...] I am the you that is not words« (87). Er nimmt für sich in Anspruch, das kulturelle Kapital des Autors für die jüdische Sache einzusetzen, was dieser selbst versäumt habe: »I am only spending the renown you hoard. [...] Allow me to be the public instrument through which you express your love for the Jews« (ebd.). Statt den »falschen« Roth des Identitätsdiebstahls überführen zu können, findet sich der »echte« Roth in der ständigen Verlegenheit, nicht nur mit den eigenen literarischen Erfolgen, sondern auch mit den diasporistischen Positionen des Doppelgängers identifiziert zu werden – und gibt dem dadurch entste-

9 Der zweite Text ist The Counterlife (1986); er gehört zum Zuckerman-Zyklus. 10 Die folgenden Seitenangaben ohne Jahr beziehen sich auf die 1993 bei Simon and Schuster (New York) erschienene Ausgabe von Operation Shylock (Roth 1993a).

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henden Sog nach, indem er sich in bestimmten Situationen diese Positionen zu eigen macht. Trotz dieser Volten vermag der Leser die beiden Figuren jedoch stets auseinanderzuhalten, da der »echte« Roth als Ich-Erzählers auftritt und dem »falschen« Roth den jiddischen Spottnamen Moishe Pipik (Moses Bauchnabel) verpasst, um ihn zu einer komischen Figur ohne Realitätsgehalt zu depotenzieren; der Name weist freilich auch auf die Nabelschnur hin, die ihn mit seinem Schöpfer Philip Roth verbindet.11 Je weiter die Handlung voranschreitet, desto stärker wird die Kontrolle des Ich-Erzählers über seinen Doppelgänger.12 Pipik stellt bald keine Bedrohung für den »echten« Roth mehr dar: Er leidet an einer tödlichen Krebserkrankung, zum Geschlechtsakt ist er nur noch mithilfe eines Penis-Implantats in der Lage. Vom »echten« Roth immer wieder gedemütigt, fällt Pipik irgendwann aus der Romanhandlung heraus; von seinem Tod erfährt der Leser nur aus einem (vom Ich-Erzähler erklärtermaßen erfundenen) Brief. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Roths, aber auch zwischen dem »echten« Roth und allen anderen Figuren im Text, wird vom IchErzähler mit ostentativ theatralischen Mitteln in langen, emotionalen Dialogen geschildert; er räumt ein, dass die Konfrontation »the appearance of a nonsensical, crude, phantasmagorical farce« (252) besitzt, während der Auftritt real existierender Personen wie Appelfeld oder die Beschreibung eines zeitgeschichtlichen Ereignisses wie des Demjanjuk-Prozesses zugleich für eine sehr konkrete historische Kontextualisierung sorgt. Der Autor hält sich offensichtlich nicht an den auf dem Titelblatt des Textes angekündigten autobiographischen Pakt der Konfession, sondern nimmt statt dessen die Freiheit des Schriftstellers in Anspruch, literarische Figuren und Figurenkonstellationen als Symbolisierungen historischer Realitäten zu erfinden, ohne den juristischen Zwängen der Wahrheit, Kohärenz und Konsistenz unterworfen zu sein. Mehr noch: Roth parodiert die Gattung der Konfession, die die öffentliche Darstellung eines geheimen Selbst beinhaltet, indem er sich mit einem Doppelgänger ausstattet, dessen politische Vorstellungen jenen Vorstellungen entgegen kommt, die sich viele Leser von ihm machen mögen, nur um diese als lächerlich abzuweisen. Operation Shylock thematisiert auf diese Weise, was Roths Schreibpraxis seit jeher ausmacht: nämlich ein Aufspalten, Umschreiben und Neuerfinden der eigenen Subjektivität in verschiedenen Romanfiguren, die als Inszenierung typischer Widersprüche jüdischer Existenz lesbar sind.13 Philippe Lejeune (1975) hat die Gattung der Autobiographie definiert, indem er darauf hinwies, dass der Name des Autors als textuelle und referentielle Markierung funktioniert und damit einen Pakt zwischen Autor und Le11 Das Manuskript des Romans enthält eine handschriftliche Notiz des Autors, dass er als Kind den Spitznamen Moishe Pipik trug (vgl. Shostak 2000: 38). 12 Vgl. bei Shostak (1997: 728) die Titel, die Roth für seinen Roman in Erwägung zog: »Split«, »Duality«, »The Other One«, »You Are Not Yourself«. 13 »Why couldn’t the Jews be one people? Why must Jews be in conflict with one another? Why must they be in conflict with themselves? Because the divisiveness is not just between Jew and Jew – it is within the individual Jew. Is there a more manifold personality in the world? I don’t say divided. Divided is nothing. Even the goyim are divided. But inside every Jew there is a mob of Jews.« (334) l

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ser begründet, der wiederum der Identität von Autor und autobiographischem Ich quasi-rechtliche Kraft verleiht. In Operation Shylock erzählt ein IchErzähler von seinem Kampf mit einem Doppelgänger, ohne in der Lage zu sein, sich darüber klar zu werden, inwiefern dieser seiner eigenen paranoiden Phantasie entspringt. Damit inszeniert der Text die Spiegelstruktur der Selbstreflexion, die dem autobiographischen Diskurs zugrunde liegt. Aber er treibt auch die unvermeidliche Figuralität des autobiographischen Ich hervor, denn dieses Ich wird als referentielle Entität durch die Erzähl»stimme« erzeugt, dessen rhetorische Struktur durch kulturell institutionalisierte Lektürepraktiken beständig verdrängt wird (DeMan 1984: 70). Der Doppelgänger aber irritiert diese Lektüre; das daraus resultierende Problem für die Leser, die Beziehung zwischen den Versionen des Selbst und dem Autor zu bestimmen, wird zur Allegorie diasporischer jüdischer Identität. So wird die Struktur des imaginären Verkörperns (»impersonation«) in der erzählten Welt des Textes mehrfach als Erklärung für die Existenz des Doppelgängers und die überraschenden Wendungen des Plots diskutiert: Roths Schriftstellerfreund Appelfeld etwa kommt das Auftreten des »falschen« Roth wie ein Motiv aus einem Roth-Roman vor. Damit aber wird nicht nur Pipik, sondern auch der auf seiner Identität mit dem Autor beharrende Ich-Erzähler zu einer Spielfigur depotenziert. In einer typischen metafiktionalen Volte diagnostiziert der Ich-Erzähler diesen Gedanken bei sich selbst als habituellen Fluchtreflex aus einer als übermächtig empfundenen Realität: »Although the idea probably originated in Aharon’s remark that he felt that he was reading to me out of a story I’d written, it was nonetheless another ridiculous attempt to convert into a mental event of the kind I was professionally all too familiar with what had once again been established as all too objectively real. It’s Zuckerman, I thought whimsically, stupidly, escapistly, it’s Kepesh, it’s Tarnopol and Portnoy – it’s all of them in one, broken free of print and mockingly reconstituted as a single satirical facsimile of me. In other words […] it’s got to be literature.« (34)14

In der Sekundärliteratur wird Operation Shylock als postmodernes Werk diskutiert, da der Text mit einer paradoxen Erzählsituation, instabilen Figurenidentitäten und metafiktionalen Reflexionsstrukturen arbeitet.15 Diese Verfahren haben klar umrissene Funktionen: Sie legen das artistische Spiel frei, das der Autor mit den Bruchstücken seiner Konfession treibt, und geben ihm politische und kulturelle Bedeutung:

14 Vgl. auch die folgende Reflexion des Ich-Erzählers: »It wasn’t that, after the fact, I could no longer believe that the unlikely had befallen me as easily as it does anyone else; it was that three decades as a novelist had so accustomed me to imagining whatever obstructed my impeded protagonists – even where raw reality had provided the stimulus – that I began to half believe that even if I had not invented Operation Shylock outright, a novelist’s instincts had grossly overdramatized it.« (360) 15 So vergleicht z. B. David Brauner (2007: 101) Operation Shylock mit Bret Easton Ellis’ Lunar Park und charakterisiert Roths Roman als »a parody of both realism and postmodernism«; vgl. auch Safer (2006: Kap. 3).

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Diasporische Doppelgänger »I found myself wondering if it might be best to present the book not as an autobiographical confession that any number of readers, both hostile and sympathetic, might feel impelled to challenge on the grounds of credibility, not as a story whose very point was its improbable reality, but – claiming myself to have imagined what had munificently provided, free of charge, by superinventive actuality – as fiction, as a conscious dream contrivance, one whose latent content the author had devised as deliberately as he had the baldly manifest. I could even envision Operation Shylock misleadingly presented as a novel […].« (360f.)

Um die Kontingenz und den Aberwitz des Realen in ein sorgfältig konstruiertes Artefakt zu überführen, bedarf es lediglich eines auktorialen Fiat, »the sacrosanct prank of artistic transsubstantiation« (361) – und schon ist der IchErzähler nicht mehr Spielball der politischen Verhältnisse und Figur in einem von anderen verfassten Skript, sondern Ursprung und Kontrollinstanz einer imaginären Textwelt, deren Charakter als politische Allegorie einer überdeterminierten, viele verschiedene Möglichkeiten in sich bergenden Geschichte (vgl. Lehmann 1998) durch das Doppelgängermotiv und andere »contrivances« hervorgehoben wird. Alle diese Manipulationen der Autorfunktion richten die Aufmerksamkeit der Leser auf die jüdische Identität Philip Roths. Ist der die parodistische Dekomposition seiner Figuren betreibende Autor ein amerikanischer Liberaler, dessen Judentum nostalgischen Charakter hat? Vertritt er eine diasporische Position und artikuliert eine Verbindung von jüdischer und amerikanischer Kultur, die zwischen staatsbürgerlicher und kultureller Identität unterscheidet? Welche Rolle spielt der Holocaust, wie ist das Verhältnis zum Staat Israel bestimmt, und welche Position nimmt der Autor Roth zum israelisch-palästinensischen Konflikt ein? Dies sind politische Fragen, die Operation Shylock mithilfe seiner metafiktionalen Verfahren nicht etwa blockiert, sondern im Gegenteil in ihrer den Text organisierenden Funktion herausstellt.16

IV. Pipiks »Diasporism« ist ein Projekt, das im Roman der Lächerlichkeit anheimfällt: »Diasporism! Diasporism is a plot for a Marx Brothers movie – Groucho selling Jews to Chancellor Kohl!« (221) Pipik, der darauf setzt, Europa mithilfe von Selbsthilfegruppen vom Antisemitismus kurieren zu können, ist die Karikatur eines Repräsentanten der jüdischen Diaspora. Der Gedanke einer Revision des zionistischen Projekts im Sinne einer Repatriierung der europäischen Juden erscheint als absurdes politisches Programm, das allerdings die fortwährende Existenz eines europäischen Antisemitismus auf eindringlichere Weise verdeutlicht als es jede politische Analyse vermöchte. Statt aber seine eigene Haltung gegenüber dem Konzept der Diaspora und dessen gelebter Praxis in Amerika zu erklären, übernimmt der »echte« Roth im Laufe des Romans immer wieder Pipiks Position und führt sie sogar weiter aus. Offensichtlich gibt es Resonanzen zwischen Pipiks Projekt und der

16 Vgl. die Lektüren von Fishman (1997), Omer-Sherman (2002, insbes. S. 233f.), Budick (2007), Ezrahi (2000: 225ff.).

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Haltung des »echten« Roth, auch wenn letzterer solche Resonanzen sofort als ironische Nachahmung Pipiks markiert und damit als inauthentisch und selbstparodistisch abweist. Die Gesprächspartner des Ich-Erzählers – der palästinensische Aktivist George Ziad und der israelische Soldat Gal Metzler – werden der Mimesis des »echten« Roth an seinen Doppelgänger freilich nicht gewahr. Der Ich-Erzähler vertraut sich nur dem Leser an, der auf diese Weise zum Vertrauten der inneren Gespaltenheit des »echten« Roth und seiner widersprüchlichen politischen Meinungen und moralischen Sympathien wird. Die Situationen, in denen der »echte« mit dem »falschen« Roth in der Apologie der Diaspora übereinkommt, sagen jedoch etwas über die Funktion diasporischer jüdischer Identität in Israel aus. Roth trifft in Jerusalem seinen arabischen Studienfreund George Ziad wieder, der die USA verlassen hat, um sich als Literaturprofessor an der Universität Ramallah für die Sache der Palästinenser einzusetzen. Für Ziad steht Pipiks diasporistisches Projekt im Einklang mit Philip Roths schriftstellerischen Arbeiten: »Old friend, we need you, we all need you, the occupiers as much as the occupied need your Diaspora boldness and your Diaspora brains. You are not in bondage to this conflict, you are not helpless in the grip of this thing. You come with a vision, a fresh and brilliant vision to resolve it – not a lunatic utopian Palestinian dream or a terrible Zionist final solution but a profoundly conceived historical arrangement that is workable, that is just.« (137)

Ziad nimmt »Roth« mit nach Ramallah, um ihm die Gewalttaten der israelischen Besatzung vorzuführen, und will ihn als prominenten Unterstützer der PLO gewinnen. Ziads leidenschaftliche Anklagen Israels erhalten breiten Raum im Text; der Ich-Erzähler widerspricht Ziad nicht, wohl aber markiert er in zahlreichen Kommentaren seine Distanz: »As we drove, embittered analysis streamed forth unabated, of Jewish history, Jewish mythology, Jewish psychosis and sociology, each sentence delivered with an alarming air of intellectual wantonness, the whole a pungent ideological mulch of overstatement and lucidity, of insight and stupidity, of precise historical data and willful historical ignorance, a loose array of observations as disjointed as it was coherent and as shallow as it was deep – the shrewd and vacuous diatribe of a man whose brain, once as good as anyone’s, was now as much a menace to him as the anger and the loathing that, by 1988, after twenty years of occupation and forty years of the Jewish state, had corroded everything moderate in him, everything practical, realistic and to the point.« (129)

Ziad wirft den Israelis vor, den Holocaust zu instrumentalisieren, um ihre Expansionspolitik der Weltöffentlichkeit als historische Gerechtigkeit für die Opfer des Genozids präsentieren zu können, während sie in Palästina als Unterdrücker des palästinensischen Volkes agieren. »This is the public-relations campaign cunningly devised by the terrorist Begin: to establish Israeli military expansionism as historically just by joining it to the memory of Jewish victimization: to rationalize – as historical justice, as just retribution, as nothing more than self-defense – the gobbling up of the Occupied Territories and the driving of the Palestinians off their land once again. What justifies seizing every opportu-

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Diasporische Doppelgänger nity to extend Israel’s boundaries? Auschwitz. What justifies bombing Beirut civilians? Auschwitz. What justifies smashing the bones of Palestinian children and blowing off the limbs of Arab mayors? Auschwitz. Dachau. Buchenwald. Belsen. Treblinka. Sobibor. Belsec.« (132f.)17

»Roth« begleitet Ziad nach Ramallah und besucht mit ihm eine Gerichtsverhandlung, in der minderjährige Aktivisten der Intifada einem Militärgericht vorgeführt und von einem orthodoxen jüdischen Bürgerrechtsanwalt verteidigt werden, der offenbar zugleich für den israelischen Geheimdienst arbeitet. Der Ich-Erzähler kommentiert: »My second Jewish courtroom in two days. Jewish judges. Jewish laws. Jewish flags. And non-Jewish defendants. Courtrooms such as Jews had envisioned in their fantasies for many hundreds of years, answering longings even more unimaginable than those for an army or a state. One day we will determine justice!« (140)

»Roth« findet sich zwischen den Fronten wieder; er protestiert gegen den Vergleich, den ein palästinensischer Gesprächspartner zwischen Israel und dem Dritten Reich zieht, sieht sich aber prompt vom Richter missverstanden, der in »Roths« sichtlicher Aufregung eine antikolonialistische Affektreaktion gegen das Gerichtsverfahren vermutet. Das Thema der Annahme einer falschen Identität bzw. des Imitierens eines anderen tritt damit aus dem literarischen Horizont des Doppelgängers als Metapher künstlerischer Selbstreferentialität und moralischer Zerrissenheit des Autors heraus und weitet sich zum Tableau tödlicher nahöstlicher Verwirrspiele und Verstrickungen. Denn »Roth« hat auch Ziad selbst im Verdacht, als Informant für die Israelis tätig zu sein und seine Verzweiflung über die alltäglich erfahrene Ungerechtigkeit nur zu spielen. Für diesen Verdacht gibt es keine Beweise im Text, weshalb er als Hinweis darauf gelesen werden kann, dass »Roth« auf die überwältigende Realität der israelischen Besatzung mit einem Rückzug in die Irrealität literarischer Textwelten zu reagieren beginnt: »Where everything is words, you’d think I’d have some mastery and know my way around, but all this churning hatred, each man a verbal firing squad, immeasurable suspicions, a flood of mocking, angry talk, all of life a vicious debate, conversations in which there is nothing that cannot be said […]. Here I had only the weakest understanding of what might underlie the fighting and the shadow fighting; nor was my own behavior much more plausible to me than anyone else’s.« (149f.)

Im Laufe des weiteren Gesprächs mit Ziad übernimmt »Roth« die diasporistische Position Pipiks und steigert sie ins Groteske: »If this is the way George wants to play it, then this is the way we shall go. I am not writing this thing. They are. I don’t even exist.« (155) In seiner Rolle als Pipik geht »Roth« nicht nur auf Ziads Vorschlag ein, sich mit Vertretern der PLO zu treffen, sondern verlangt ein persönliches Treffen mit Arafat und behauptet, mit Lech Walesa in engem Kontakt zu stehen, um die Unterstützung des pol17 Vgl. die Kontextualisierung dieser Kritik im Diskurs der amerikanischen jüdischen Linken bei Furman (1997: 146f.).

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nischen Papstes für sein Umsiedlungsprojekt zu gewinnen und auf diese Weise dazu beizutragen, den arabisch-israelischen Konflikt zu lösen (156).18 Der zweite Anlass, Pipiks Position zu übernehmen, ist weniger histrionisch geprägt. Auf der nächtlichen Rückfahrt von Ramallah nach Jerusalem wird Roth von einer Einheit der israelischen Armee aufgegriffen. Der kommandierende Offizier Gal Metzler, der Sohn eines Holocaust-Überlebenden, stellt sich jedoch als begeisterter Roth-Leser heraus, befreit den Autor und gesteht ihm auf der Rückfahrt nach Jerusalem seinen lang gehegten Traum, die moralische Last der Besatzung abzuschütteln und an der NYU Filmwissenschaft zu studieren. Roth reagiert auf diese Fluchtphantasie mit Sympathie und einer Darstellung des »Diasporism«, die nicht auf Pipiks Repatriierungsprojekt referiert, sondern das Konzept im Sinne einer »de-Israelization of the Jews« (171) interpretiert: »[A Diasporist] is a Jew for whom authenticity as a Jew means living in the diaspora, for whom the Diaspora is the normal condition and Zionism the abnormality – a Diasporist is a Jew who believes that the only Jews who matter are the Jews of the Diaspora, that the only Jews who will survive are the Jews of the Diaspora, that the only Jews who are Jews are the Jews of the Diaspora« (171).

Die sich überstürzenden elliptischen und zunehmend tautologischen Sätze legen nahe, dass es sich hier erneut um eine Selbstparodie handelt, auch wenn sie diesmal auf der selbstironischen Haltung der Hilflosigkeit des diasporischen Schriftstellers angesichts der Dimensionen des historischen Konflikts gründen mag. In seinem an die Leser gerichteten Kommentar bezeichnet der Ich-Erzähler sein Verhalten jedoch erneut als »playing-at-Pipik« und stellt damit die Verbindung zu dem Auftritt her, den er wenige Stunden zuvor im Gespräch mit Ziad abgeliefert hat. In der Konfrontation mit Ziad und Gal gewinnt »Roths« diasporische Identität ein psychologisches Profil: Gewährt die jüdische Diaspora eine »poetic license« (Ezrahi 2000: 225) zur Selbsterfindung, so erscheint dies vor dem Hintergrund der Vernichtung der europäischen Juden und des israelisch-palästinensischen Konflikts als Flucht aus der jüdischen Geschichte.

V. Operation Shylock endet nicht mit »Roths« Sieg über Pipik, und auch nicht mit den beiden verwandten Gesten der Manie und der Melancholie, mit denen der Schriftsteller »Roth« seine Ohnmacht gegenüber den historischen Verwerfungen der Realpolitik bekennt. Auch die paranoiden Konstruktionen, mit denen »Roth« George Ziad unterstellt, sich »Roths« zu PR-Zwecken zu bedienen (288f.), bleiben Gedankenspiel. Statt dessen wird die gesamte Text-

18 Am nächsten Tag erklärt sich »Roth« gegenüber Ziad und entschuldigt sich für seine diasporistische Maskerade. Ziad antwortet: »You are still who you were. Always on stage. You’re an actor, an amusing actor performing endlessly for the admiration of his friends. You’re a satirist, always looking for the laugh, and how can a satirist be expected to suppress himself with a raving, ranting, slobbering Arab?« (283)

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konstruktion noch einmal radikal verändert, und das Thema der falschen Identität und der Doppelgängerei wird ein weiteres Mal variiert: »Roth« wird vom israelischen Geheimdienst entführt. Die Konfrontation mit Pipik, seine Begegnungen mit George und mit Gal – alle diese Ereignisse waren (möglicherweise) vom Mossad gesteuert, um entweder »Roths« Reputation als Repräsentant der amerikanischen jüdischen Diaspora zu diskreditieren oder aber sich dessen Loyalität mit Israel zunutze zu machen, um ihn dazu zu bewegen, an dem von Ziad vorgeschlagenen Treffen mit Vertretern der PLO in Athen mit dem Ziel teilzunehmen, jüdische Unterstützer der PLO auszuspionieren. Der Codename des Spionageauftrags lautet Operation Shylock. Hatte sich »Roth« bis zu diesem Zeitpunkt als Autor dargestellt, der gegen einen grotesken Schwindler vorgeht und sich dabei in jeder Situation immer wieder neu als der Andere seiner selbst erfindet, so muss er nun die Existenz eines Skripts zur Kenntnis nehmen, das er in seinen Selbstdramatisierungen unbewusst zur Aufführung brachte, und entscheiden, ob er die für ihn im Skript vorgesehene Rolle auch bewusst ausfüllen will – was letzten Endes nichts anderes bedeutet, als das Konzept autonomer Autorschaft aufzugeben. Wie sich zeigen wird, ist auch dieses Skript ein doppeltes. »Roth« wird vom Mossad in einem Klassenzimmer festgesetzt und verhört. An der Tafel stehen neun Wörter – in hebräischer Schrift, die »Roth« nicht lesen kann: »Four decades after those three years of afternoon class at the Hebrew school, I could no longer even identify the letters of the alphabet. […] Hebrew school wasn’t school at all but a part of the deal that our parents had cut with their parents, the sop to pacify the older generation – who wanted the grandchildren to be Jews the way they were Jews, bound as they were to the old millennial ways – and, at the same time, the leash to restrain the breakaway young, who had it in their heads to be Jews in a way no one had ever dared to be a Jew in our three-thousand-year history: speaking and thinking American English, only American English, with all the apostasy that was bound to beget. […] What could possibly come of those three or four hundred hours of the worst possible teaching in the worst possible atmosphere for learning? Why, everything – what came of it was everything! That cryptography whose signification I could no longer decode had marked me indelibly four decades ago; out of the inscrutable words written on this blackboard had evolved every English word I had ever written.« (310, 312)19

An der Unlesbarkeit des Textes auf der Tafel kristallisieren sich »Roths« diasporische Identität als amerikanischer Jude und das säkulare Verständnis seines schriftstellerischen Arbeit heraus, das auf der Abweisung der jüdischen religiösen Tradition beruht. Trotz der Ablehnung der mit ihm verbundenen kulturellen Verbindlichkeiten wird der biblische Text jedoch als die stärkste Kraft in »Roths« Schreiben ausgewiesen.

19 Zusammen mit einem Kierkegaard-Zitat dienen diese neun Wörter auch als Motto für den gesamten Text: auf dem Vorsatzblatt werden sie in hebräischer Schrift abgedruckt, mit einer beigefügten Übersetzung: »So Jacob was left alone, and a man wrestled with him until daybreak« (Genesis 32: 24).

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Die Konfrontation mit Smilesburger,20 einem Abgesandten des israelischen Geheimdienstes, dem »Roth« zuvor in einer anderen Identität begegnet ist (nämlich als Holocaust-Überlebendem, der Pipiks Projekt unterstützt), gibt erneut Gelegenheit zu theatralischen Auftritten: »›Go,‹ said Smilesburger. ›Go to Appelfeld. Go to New York. Go to Ramallah. Go to the American Embassy. You are free to indulge your virtue freely. Go to wherever you feel most blissfully unblamable. That is the delightful luxury of the utterly transformed American Jew. Enjoy it. You are the marvelous, unlikely, most magnificent phenomenon, the truly liberated Jew. The Jew who is not accountable. The Jew who finds the world perfectly to his liking. The comfortable Jew. The happy Jew. Go. Choose. Take. Have. You are the blessed Jew, condemned to nothing, least of all to our historical struggle.‹ ›No,‹ I said, ›not a hundred percent true. I am a happy Jew condemned to nothing who is condemned, however, from time to time to listen to superior Jewish windbags reveling in how they are condemned to everything.‹« (352)

Mit der anhaltenden Weigerung »Roths«, den Auftrag anzunehmen, endet das Buch. In einem Epilog allerdings gibt der Ich-Erzähler dem Leser zu verstehen, dass das letzte Kapitel des Romans fehlt: »I have elected to delete my final chapter, twelve thousand words describing the people I convened with in Athens, the circumstances that brought us together [...]. Of this entire book, whose completed manuscript Smilesburger had asked to inspect, only the contents of chapter 11, ›Operation Shylock‹ were deemed by him to contain information too seriously detrimental to his agency’s interests and to the Israeli government to be published in English, let alone in some fifteen other languages.« (357)

Der Epilog führt aus, dass »Roth« auf die Vorhaltungen Smilesburgers, das letzte Kapitel zu unterdrücken, und dessen kaum verhüllte Drohungen, der Mossad werde im Falle einer Weigerung »Roths« Reputation nachhaltig beschädigen, zunächst erneut strikt ablehnend reagiert hatte. In einem Selbstgespräch charakterisiert er Smilesburgers Forderung polemisch als Ansinnen, dem Mossad freiwillig ein Pfund Fleisch zu geben (393). Als Smilesburger ihm dann noch einen Koffer voll Geld überreicht, um seiner Forderung auf diese Weise Nachdruck zu verleihen, hält ihm »Roth« mit einer apotropäischen Geste ein Zitat aus The Merchant of Venice entgegen: »Three thousand ducats,« I said to Smilesburger, repeating aloud for the first time since Athens the identifying code words that I’d been given to use by him before leaving on the mission purportedly for George. (395f.)

Diese Zitate des Merchant of Venice überschreiben die Auseinandersetzung von »Roth« und Smilesburger in eine verquere Doppelstruktur. Die Grundkonstellation von Shakespeares Drama, der Kampf des Juden um ein Menschenrecht auf Rache gegen den ihn systematisch ausgrenzenden christlichen Nationalstaat, wird auf den Konflikt zwischen dem amerikanischen jüdischen 20 Timothy L. Parrish (2003: 137) charakterisiert Smilesburger als Tricksterfigur, die Pipiks Rolle als Roths alter ego übernimmt.

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Schriftsteller, der beim Schreiben keine anderen Rücksichten als ästhetische nehmen will, und dem Repräsentanten des jüdischen Nationalstaates projiziert, der aus Gründen der Staatsräson von »Roth« die Selbstzensur verlangt. Smilesburger wird von »Roth« als Shylock tituliert, der auf seiner Forderung von einem Pfund Fleisch beharrt, wenn er von »Roth« verlangt, seine Integrität als Autor zu beschädigen. »Roth« zitiert Shylocks ersten Auftritt im Merchant of Venice aber auch, um Smilesburgers Geschenk für geleistete Dienste als ironische Inversion von Shylocks Darlehen zu kennzeichnen: Während Shylock den Wechsel mit seiner berühmten Klausel ausstellte, um Antonio in eine juristische Falle zu locken, hat »Roth« Smilesburgers Auftrag ohne jedes finanzielle Interesse angenommen – und ist ihm dabei ahnungslos in die Falle gegangen. Geriert sich also »Roth« derart als Antonio, der den Ränken Shylocks zum Opfer fällt, so hatte »Roth« selbst Shylocks »three thousand ducats« während seiner Mission als »identifying code« benutzt; die Rolle Shylocks einzunehmen, ist also auch »Roth« nicht fremd. Die Auseinandersetzung zwischen »Roth« und Smilesburger stellt sich dann als eine zwischen Shylock und Shylock dar – aber eben zugleich auch als eine zwischen Antonio und Antonio, denn nicht nur »Roth« begreift sich in dieser Rolle, sondern auch Smilesburger hat sie inne, insofern er einen Staat vertritt, der nun nicht die Juden, sondern die Palästinenser als homines sacri behandelt. Neben dem Skript des Mossad gibt es also noch ein weiteres, nämlich Shakespeares Theaterstück. Die intertextuelle Verbindung von Operation Shylock zu Shakespeares Drama wiederholt die Figuren- und Machtkonstellation des Merchant of Venice und legt dabei eine strukturelle Parallele hinsichtlich des Ausnahmerechts frei. Smilesburger, der Vertreter der Staatsräson, erklärt unumwunden: »What we have done to the Palestinians is wicked. We have displaced them and we have oppressed them. We have expelled them, beaten them, tortured them, and murdered them. The Jewish state, from the day of its inception, has been dedicated to eliminating a Palestinian presence in historical Palestine and expropriating a land of an indigenous people. The Palestinians have been driven out, dispersed, and conquered by the Jews. To make a Jewish state we have betrayed our history – we have done unto the Palestinians what the Christians have done to us: systematically transformed them into the despised and subjugated Other, thereby depriving them of their human status.« (349f.)

Diese – folgt man Agamben – für den modernen Nationalstaat konstitutive Konstruktion des homo sacer ist jedoch wieder unlesbar, sobald die Rollen der Antagonisten Shylock und Antonio von »Roth« und Smilesburger eingenommen werden und der Widerstreit zwischen dem Staat und den Anderen durch den Gegensatz zwischen jüdischer Diaspora und jüdischem Nationalstaat bzw. durch den Gegensatz von Kunstfreiheit und Staatsräson ersetzt wird. Diese Tilgung des homo sacer aus dem symbolischen Register des Textes findet wiederum ein Vorbild in The Merchant of Venice: zieht sich dort Shylock, aller seiner Rechte beraubt, aus der Öffentlichkeit zurück, so wird in Operation Shylock George Ziad von Unbekannten ermordet. Die intertextuelle Verbindung zwischen Operation Shylock und dem Merchant of Venice erlaubt es mithin, die Position Ziads als homo sacer artikulierbar zu machen und zugleich den strukturellen Ausschluss dieser Position zu thematisieren. 217

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VI. In Shakespeares Drama löst das Gerichtsurteil den fiktionalen Fall Shylock; die poetische Gerechtigkeit obsiegt und erweist sich zugleich als antisemitische Farce. Operation Shylock hingegen behandelt den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern und die nationalsozialistische Vernichtung der europäischen Juden, historische Ereignisse, die jede Konstruktion poetischer Gerechtigkeit von vorneherein scheitern lassen. The Merchant of Venice erweist sich jedoch als ein Text, der die Geschichte der nahöstlichen Zwangslage zu erklären hilft. Dem Holocaust kommt dabei in der Tat eine zentrale Funktion zu, wenn auch ganz anders als in Ziads Argumentation. Das Shylock-Motiv wird im Roman durch den Antiquar David Supposnik eingeführt, der wie Aharon Appelfeld den Holocaust in den ukrainischen Wäldern überlebt hat und wie Smilesburger als Agent tätig ist. Für Supposnik fasst die Figur des Shylock die zweitausendjährige Tradition des europäischen Antisemitismus zusammen: »For four hundred years now, Jewish people have lived in the shadow of this Shylock. In the modern world, the Jew has perpetually been on trial; still today the Jew is on trial, in the person of the Israeli – and this modern trial of the Jew, this trial which never ends, begins with the trial of Shylock. […] I studied those three words – three thousand ducats – by which the savage, repellent, and villainous Jew, deformed by hatred and revenge, entered as our doppelgänger into the consciousness of the enlightened West. […] [T]his is Europe’s Jew, the Jew expelled in 1290 by the English, the Jew banished in 1492 by the Spanish, the Jew terrorized by Poles, butchered by Russians, incinerated by Germans, spurned by the British and the Americans while the furnaces roared at Treblinka.« (274f.)

Shakespeare hat demnach mit der Figur des Shylock dem europäischen Antisemitismus sein definitives Feindbild geliefert und allen Juden die Rolle des Shylock auf den Leib geschrieben.21 Nach dem Gespräch mit Supposnik kehrt »Roth« in die historische Wirklichkeit Israels zurück, nämlich in den Gerichtssaal, in dem der DemjanjukProzess stattfindet. Dort verfolgt er das Kreuzverhör eines Zeugen, der Demjanjuk als Wächter in Treblinka identifiziert hat, seine Aussage jedoch nicht beweisen kann und von Demjanjuk der Lüge bezichtigt wird. Für »Roth« verbinden sich Demjanjuks Worte und Shylocks »three thousand ducats« in einem »ragged overlay of words and pictures« (302): Die historische Gerichtsszene wird von Shakespeares fiktionaler Gerichtsszene überlagert, die gleichzeitig als Quelltext und Kommentar fungiert.

21 Vgl. die Überlegungen Lionel Trillings (1980: 76) zum Mythos des Juden in der westlichen Welt: »When the Jew [...] entered into the life of the Western world, he found the myths awaiting him. [...] When he came to write of himself he was not able to free himself from them. Some of them had become a Doppelgänger of his, moving by the side of the real person we supposed he must be. And the task that every Jewish novel presents to the critical reader – and the serious writer – is that of disentangling what is mythical from what is actual. And that task is difficult, for in the mythical there is usually, of course, a little of what is true.«

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Die Konsequenz auf der diegetischen Ebene des Textes ist evident: »Roth« akzeptiert den Spionageauftrag und später auch die Unterdrückung der Darstellung dieses Unternehmens als eine Art »textueller Beschneidung« (vgl. Budick 2007: 75). Die allegorische Bedeutung dieser Ereignisse zu formulieren fällt nicht schwer: Die Bereitschaft »Roths«, für Israel zu spionieren (der historische Parallelfall Jonathan Pollard wird im Lauf des Romans mehrmals aufgegriffen), zeigt die Loyalität des Autors Roth mit dem jüdischen Staat an, eine Loyalität, die auf Roths Selbstverständnis als Jude beruht, der seine Verpflichtung gegenüber der jüdischen Geschichte als einer Geschichte antisemitischer Verfolgungen anerkennt. Die Unterdrückung des 11. Kapitels wiederum formulierte dann entsprechend die Bereitschaft des Erzählers Philip Roth, sich der israelischen Zensur zu unterwerfen und damit seine frühere Haltung schriftstellerischer Autonomie aufzugeben, die »Roth« zuvor folgendermaßen resümiert hatte: »Jews who found me guilty of the crime of ›informing‹ had been calling for me to be ›responsible‹ from the time I began publishing in my middle twenties, but my youthful scorn had been plentiful and so were my untested artistic convictions, and though not untrammelled by the assault as pretended, I had been able to hold my ground. I hadn’t chosen to be a writer, I announced, only to be told by others what was permissible to write. The writer defined the permissible. That was his responsibility. Nothing need hide itself in fiction. And so on.« (377)

Das Bekenntnis Roths zur Loyalität mit Israel wird jedoch wieder in Frage gestellt, wenn auf den Epilog eine allerletzte Seite folgt und Operation Shylock mit dem konventionellen Kunstvorbehalt endet. Zugleich wird damit aber auch die Forderung Smilesburgers erfüllt, das Buch eine »subjectivist fable« (391) zu nennen und damit als Fiktion zu deklarieren, deren Referentialität von vorneherein suspendiert ist. Operation Shylock verweigert sich mithin einer eindeutigen Stellungnahme hinsichtlich der Loyalität »Roths« gegenüber Israel und legt sie doch zugleich immerfort nahe. Shakespeares Lösung des Konflikts im Merchant of Venice – vermittels der Figur der poetischen Gerechtigkeit und deren Dementi als antisemitische Farce – hat in Operation Shylock ihr Pendant in Pipiks diasporistischem Repatriierungsprojekt und dessen offensichtlich groteskem Charakter. Die beiden Gerichtsverhandlungen im Roman – gegen Demjanjuk, gegen die Palästinenser – werden zwar nur ausschnitthaft präsentiert, sie stehen jedoch für den historischen Zusammenhang der Gründung des jüdischen Nationalstaats als Antwort auf die Vernichtungspolitik der Nazis. Nach Pipiks und Ziads Vorstellung soll die Remigration der europäischen Juden Israels in ihre früheren europäischen Heimatländer die Historie ungeschehen machen und Juden und Palästinensern Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ein solches Gedankenspiel hat sich aber immer schon selbst desavouiert, und nur als offen deklarierte Farce kann »Roth« sich diese Phantasie im Gespräch mit Ziad zu eigen machen. An die Stelle einer symbolischen Lösung setzt Operation Shylock die kontroverse Darstellung der politischen Konflikte, ihrer historischen Dimensionen und moralischen Brechungen. Die den Text organisierende Figur ist »Roths« Geständnis seines Doppellebens als amerikanischer Autor und jüdischer »Spion«, als Antonio und Shylock, als »Roth« und Pipik. Er verleiht aber nicht nur »the mob of Jews« (334) in seinem Inneren Sprache, son219

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dern vermag mithilfe seiner Verstellungs-Kunst auch die Rede und Gegenrede der Anderen vorstellbar zu machen.22 Der Widerruf des Geständnisses am Ende des Romans ändert daran nichts: »Note to the Reader This book is a work of fiction. The names, characters, places and incidents either are products of the author’s imagination or are used fictitiously. Any resemblance to actual events or locales or persons, living or dead, is entirely coincidental. This confession is false.« (399)

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22 Zur Rezeption der »pro- and anti-Jewish attitudes« in Operation Shylock vgl. Fishman (1997: 136).

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Zehn und nicht elf: von der öffentlichen Gefahr ein Moishe Pipik zu sein (mich eingeschlossen) URS ESPEEL ‫ שלושה לשון הרע הורגת‬:‫ועוד אמרו חכמים‬: ‫ המקבלו וזה שאומר עליו‬,‫האמרו‬. ‫ יותר מין האומרו‬- ‫והמקבלו‬1 »Die Gelehrten sagten des weiteren: Drei tötet die üble Nachrede: Denjenigen, der sie in Umlauf bringt, denjenigen, der sie annimmt und denjenigen, über den sie ergeht. Denjenigen, der sie annimmt – mehr als denjenigen, der sie in Umlauf bringt.« (Mishne Thora, Hilchaot De’ot 7, 3)2

Operation Shylock, A Confession von Philip Roth (1994) zeigt schon im Titel, dass es schier unmöglich ist, sich in einer einfachen Weise diesem Text zu nähern. Denn es werden zwei ganz unterschiedliche Themen aufgerufen und gleichzeitig miteinander verbunden. Da ist zum einen Shakespeares Drama Der Kaufmann von Venedig, welchem die Figur Shylock entnommen ist. Dieser Text liefert ein kanonisches Beispiel dafür, wie tief der Antijudaismus in der westlichen, also nicht nur der englischsprachigen Kultur verhaftet ist, und so ist es mehr als nur eine kleine Gefahr, diesen Text von einer der lutherischen Theologie nur allzu bekannten Warte aus zu rechtfertigen.3 Zum anderen weist der Untertitel A Confession auf eine Gattung hin, die im klassischen Judentum selbst, soweit es mir bekannt ist, nicht verbreitet ist, wenn nicht sogar ganz fehlt. Die Gattung der Bekenntnisliteratur ist eher bekannt durch Augustins Confessiones und setzt eine bestimmte Theologie voraus, die sich ebenfalls durch einen starken Antijudaismus auszeichnet. Dieser kommt überall dort zum Vorschein, wo die christliche Theologie die jüdische Tradition aufgrund der eigenen als überlegen begriffenen Innerlichkeit zu übertreffen sucht oder gar an ihre Stelle treten will. Der Ernst, der sich im Bekenntnis ausspricht, erhebt durch die vermeintlich authentische Entblößung des Bekenners zugleich den Anspruch, unangreifbar zu sein. Einem Bekenntnis kann kaum widersprochen werden, weil es mit Ernst und innerer Überzeugung sich an den Leser wendet und zuerst einmal dessen Zustimmung erwartet.

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‫ ג‬,‫ הלכות דעות ז‬,‫משנה תורה‬ Übersetzung des Verfassers. Vgl. hierzu den exzellenten Artikel von Derek Cohen (2006).

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Das Ernste ist auch ein Kennzeichen der Tragödie,4 und für einen christlichen Theologen ist die Frage nicht nebensächlich, ob die Theologie in gewisser Weise ein tragisches Element beinhaltet, weil sie zu ernst ist, gerade indem sie der Innerlichkeit in Form des Bekenntnisses so viel Aufmerksamkeit schenkt.5 So sind ja nicht nur die Confessiones Augustins, sondern z. B. auch die autobiographischen Schriften und Aufzeichnungen Simone Weils beliebte Lektüren (Chenavier 2008). Doch sei noch einmal wiederholt: Sowohl Shakespeare als auch die beiden genannten Bekenntnisautoren, denen noch weitere hinzugefügt werden könnten, schreiben unter der Voraussetzung einer christlichen Theologie, die von außen auf das Judentum blickt, mit Neugier genauso wie mit Vorurteilen.6 Der Innerlichkeit des Bekenntnisses bin ich als Theologe natürlich selbst verbunden, so dass bei aller Selbstkritik zwangsläufig die Gefahr besteht, selbst zu einem Moishe Pipik zu werden, und zwar immer dann, wenn sich in der Auslegung des Textes die Behauptung einschleicht, etwas Tiefes und Verbindliches für die Allgemeinheit gesagt zu haben. Denn es ist dieser Bezug auf das Tiefe, einer Offenbarung vergleichbar, kurzgeschlossen mit einem Allgemeinheitsanspruch, der etwas übersieht, worauf es vielleicht ankommen könnte. Um dieses, was immer es auch sei, soll es im Folgenden gehen. Es betrifft eine Hermeneutik, die ihren Ausgangspunkt nicht im Ernst, sondern im Vollzug der Ironie nimmt. Im Gegensatz zum tragischen Ernst zeichnet sich die Ironie dadurch aus, dem Ernst begegnen zu können, ohne von ihm verschlungen zu werden oder ihn zu negieren.7 Die Ironie wird nicht zur Satire, die als das einfache Gegenteil zur Tragik gesehen werden könnte. Sie steht nicht in Opposition zu etwas. Die Ironie macht nichts lächerlich oder gibt die Ernsthaftigkeit eines Standpunktes der Lächerlichkeit preis. Sie unterscheidet zwischen dem ernsthaften Anliegen, das der Bekenner hat, und der mit dem Ernst verbundenen Weltsicht, die eine verengte sein kann.

I. Words generally only spoil things Operation Shylock, A Confession weist in seinem Inhaltsverzeichnis eine Struktur auf, die einen Vergleich zu einem weiteren kanonischen Text nahe legt. Wie der Dekalog nach jüdischer Tradition, ist das Buch in zwei Teile zu je fünf Kapiteln gegliedert. Am Ende wird dann noch ein Epilog mit der

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Vgl. die Bemerkungen Schmitts (2008: 123f.) zum tragischen Handeln. Einem breiten Publikum wurde der Streit über diese Frage durch Umberto Ecos »Der Name der Rose« bekannt, in welchem die Mönche auf der Suche nach dem Humor in Form der normativen Größe Aristoteles’ sind. Das allein ist schon witzig. Simon Critchley versucht dem Humor in der Philosophie seinen Platz zu geben, wobei eine positive Würdigung der Ironie unterbleibt (Critchley 2007: 73-81). Vgl. hierzu die Polemik Lévinas’ (2006: 205-217) gegen Weil. Lévinson verbindet diesen Zug der Ironie, der nicht zu verwechseln ist mit Sarkasmus, innerhalb der Literatur explizit mit der rabbinischen Tradition. Diese zeichne sich ebenfalls dadurch aus, sich explizit gegen eine tragische Weltsicht zu wenden (vgl. Levinson 2005: 133).

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Überschrift »Words generally only spoil things« angefügt. Akzeptiert man diesen Vergleich des Inhaltsverzeichnisses mit der Dekalogstruktur, so stellt sich die Frage, welcher Dekalog hier gemeint ist. Denn nach rabbinischer Tradition gibt es nicht nur in den Büchern Exodus und Deuteronomium einen Dekalog, sondern auch im 19. Kapitel des Buches Leviticus, in dem das Gebot der so genannten Nächstenliebe am Ende formuliert ist. Einen Hinweis, dass dieser letzte Dekalog gemeint sein könnte, liefert nicht nur das Kapitel 10 mit der Überschrift »You shall not hate your brother in your heart«8, welches nach einem Midrash aus Leviticus Rabba das Pendant zum 10. Wort des Dekalogs »Du sollst nicht begehren [...]« darstellt, sondern auch der mögliche Fokus des Buches auf der üblen Nachrede. Sie wird von Roth auf Jiddisch mit loshon hora wiedergegeben und bezieht sich in der rabbinischen Auslegung vor allem auf das neunte Wort des Dekalogs in seinem Zusammenhang mit Leviticus 19 – das Gerücht (Leviticus Rabba 24, 5). Der Dekalog aus dem Buch Exodus oder Deuteronomium unterscheidet sich von dem aus Leviticus vor allem dadurch, dass die in ihm formulierten Normen viel alltäglicher und damit auch viel praxisnäher sind. Lügen oder üble Nachreden finden sich im Alltag z. B. viel öfter als falsche Zeugenaussagen, selbst wenn jene nicht direkt geahndet werden. Leviticus 19 zeigt damit die Gültigkeit des Dekalogs aus Exodus und Deuteronomium im Alltag.9 Vor diesem Hintergrund gewinnt die Überschrift des Epilogs – »Words generally only spoil things« – eine schillernde Bedeutung. Denn seine Übersetzung ins Deutsche ist gar nicht so einfach. Je nachdem wie das Adverb »generally« übersetzt wird, ändert sich der Sinn. Bezieht es sich auf den gesamten Satz, dann wird damit gesagt, dass Worte im Allgemeinen das, worum es geht, zerstören. Sie verkürzen. Dies wäre eine pessimistische Sicht auf Sprache – und damit auch auf Schreiben und Lesen. Weil Sprache nicht das ausdrücken kann, was der Sprecher sagen will, sind Missverständnisse vorprogrammiert. Dem Autor werden dann Meinungen unterstellt, die so nicht intendiert waren, oder der Leser liest seine eigene Perspektive in den Text hinein und verwechselt sich mit dem Autor. Diese Sicht reproduziert Roth erzählend im Romantext: in der Figur seines Doppelgängers Moishe Pipik genauso wie in der des Studienkollegen George Ziad. Beide schreiben auf ihre Weise das elfte Kapitel all jener Bücher, die sie vom Autor gelesen haben, also das, was nicht geschrieben steht. Sie glauben sich in der Lage, die Konsequenz aus den Büchern ziehen 8

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Auszug aus Leviticus 19, 17; vgl. hierzu im Zusammenhang des Gebots der sogenannten Nächstenliebe: Cohen (1995: 520-523). Interessant ist die Auslegung Cohens aus dem Grund, dass Frieden nur negativ bestimmt wird, indem der Hass negiert wird. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass das Nächstenliebegebot, ähnlich wie bei Rabbi Aquiba, selbst keinen konstruktiven Weltbezug hat, sondern etwas Überschüssiges bedeutet, oder eben weniger eine Handlungsanweisung denn eine Regel ist. Dass die Heiligkeit damit im Alltag beginnen könnte, und nicht in einem außerordentlichen Erlebnis besonderer Art, ist eine wichtige Konsequenz. Denn es ist eine Sache, das Heilige als Durchbrechen des Alltags anzusehen, und eine andere, sie im Vollzug des Alltags zu verorten. Wenn also zwei Traditionen das Wort heilig benutzen, meinen sie durchaus nicht dasselbe. 0

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zu können, die der Autor, aus welchen Gründen auch immer, nicht zu ziehen in der Lage war. Sie lesen die Bücher als Handlungsanweisungen und verwechseln fiktionale literarische Sätze mit normativen Aussagen, indem sie sich argumentativ darauf beziehen. Sie lernen von der Literatur, nicht mit ihr, und berufen sich dabei auf die Autorität des Autors. Sie übersetzen.10 Wird das Adverb »generally« aber für sich genommen – so dass es die Art und Weise beschreibt, wann Worte das, worum es geht, zerstören –, dann ergibt sich ein leicht veränderter Sinn. Wenn Worte allgemein – und d. h.: ohne Kontext – für sich genommen werden, dann zerstören sie das, worum es geht. Eine solche Lesart macht darauf aufmerksam, dass eine pessimistische Sicht auf Sprache selbst nicht voraussetzungslos ist. Denn die Kritik richtet sich nicht gegen die Sprache selbst, sondern gegen eine pessimistische Sicht auf die Sprache, gegen eine Sicht, die Verständigung von ihrer Unmöglichkeit und damit von einer strikten Trennung zwischen Autor und Leser her denkt. Damit wird die Annahme negativ kritisiert, es könnten Worte die Kontexte bestimmen, so dass die Beschreibungen von Herrschaftsworten her ihren Sinn erhielten. Gleichzeitig wird aber auch eine Idee von Sprache wenigstens für möglich gehalten, die nicht defizient ist, ohne dabei positiv bestimmt werden zu können. Verständigung kann es demnach geben. Ihre Voraussetzung ist lediglich, dass der Sinn der Worte nicht aus dem Kontext herausgerissen wird. Eine solche Sicht auf Sprache ist selbst nicht positiv, sondern verbleibt in dem, worum es geht – im Konkreten.11 Gerade im Zusammenhang mit dem Doppelgänger Roths, Moishe Pipik, und George, die sich beide auf den Autor Roth beziehen und ihn in gewisser Weise besser zu verstehen glauben, als dieser sich selbst (vgl. hierzu Gadamer 1986: 188-201), zeigt sich nun eine zweifache Antwortmöglichkeit für Roth, die oben schon angedeutet wurde: die tragische und die ironische, die beide an das Satyrspiel angrenzen, in ihr vielleicht, wie Cohen (1982: 59f.) schreibt, sogar ihren Ursprung haben.

II. Is this a Moishe Pipik! In einer Tragödie ist der Protagonist immer das Opfer seiner selbst und der Umstände. Diese doppelte Struktur ist auch kennzeichnend für den Autor Roth im Buch. Er hat die Texte, die seine Leser auslegen, geschrieben. In diesem Sinne ist er mit der Auslegungsgeschichte verbunden und ist auch da noch für sie verantwortlich, wo er keinen Einfluss auf diese hat. Die Auslegungen wirken auf ihn zurück. Sie beeinflussen sein Leben sogar in

10 Natürlich meint Übersetzen in diesem Kontext etwas ganz Spezifisches. Die Ausleger Roths suchen innerhalb ihrer Selbstrechtfertigung nach einer Autorität, die ihnen Recht gibt. Sie suchen Trost bei den Geschichten des Autors und zumindest einen Hinweis darauf, dass dieser berühmte Schriftsteller einer von ihnen ist. 11 Eine Anlehnung an die Sprachphilosophie im Anschluss an Wittgenstein liegt nah. Denn auch dieser versucht durch seine Weise zu philosophieren bei den Dingen selbst zu bleiben und sich von metaphysischen Sprachspielen nicht verhexen zu lassen.

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dem Maße, dass er sich aufgerufen sieht, den Doppelgänger persönlich in seine Schranken zu weisen. Dabei hält sich Roth die Möglichkeit offen, den Rechtsweg zu beschreiten, um dem Treiben seines Doppelgängers ein Ende zu bereiten. Doch dies tut er gerade nicht. Er weiß selbst nicht genau warum, obwohl seine Frau ihn zu den rechtlichen Schritten drängt. Diese Lücke, der fehlende Grund seines Nicht-Handelns, ermöglicht eine Verbindung zwischen dem Tragischen und dem Ironischen. Denn würde ein Grund genannt werden können, dann würde eine Struktur etabliert, die sowohl die Voraussetzung für die Tragödie als auch für die Satire ist. Diese besteht darin, den Autor an seine Texte so zu binden, dass jener mit diesen identifiziert wird. Wäre eine solche Verbindung hergestellt, dann würde Roth selbst zu einem Opfer werden, das sich verteidigt. Seine Romane könnten missverstanden werden und würden damit in einen Streit über Standpunkte hineingezogen. Dieser Opferrolle verweigert sich Roth konsequent sowohl gegenüber seinem Doppelgänger als auch gegenüber George. Indem er diese Rolle ablehnt oder abzulehnen versucht, wird das Tragische ins Ironische verwandelt, welches durchaus Züge des Satirischen oder Sarkastischen annehmen kann. Dies zeigt sich sowohl in der Zustimmung Roths zu Georges Erläuterungen der politischen Lage in Israel als auch in seiner Übernahme der Doppelgänger-Identität gegenüber dessen Freundin und Smilesburger.12 Am deutlichsten zeigt sich die Ironie im Umgang mit seinem Doppelgänger, wenn Roth ihm einen anderen Namen gibt: Moishe Pipik. In der Umbenennung vollzieht sich der Wandel in der Beziehung Roths zu ihm. Er wird kritisiert und nicht mehr als lebensbedrohlich für die eigene Identität wahrgenommen. Er wird entmythologisiert, so dass der Autor handeln kann. Doch zeigt sich in der Figur des Moishe Pipik noch mehr. Dies wird in einer der vielen Definitionen dieser Figur deutlich, die Roth (1994: 116) gibt: »when one or another of us pint-sized boys, having said or done something thought to be definingly expressive of an impish inner self, [he] would hear the loving aunt or mocking uncle announce, ›Is this a Moishe Pipik!‹«

Ein Moishe Pipik ist also jemand, der meint, etwas sehr wichtiges gesagt zu haben, hinter dem er aus voller Überzeugung steht. Er wird das Gesagte mit großem Ernst vorgetragen haben, ohne die Konsequenzen für das Gesagte genau abschätzen oder dafür eintreten zu können. Weil es sich dabei um ein Kind handelt, wird es von den Erwachsenen nicht auf seine Aussage reduziert. Es wäre ein Missverständnis, wenn mit dem Kosewort eine Kritik an der Aussage verbunden würde. Worum es in der Benennung »Moishe Pipik« eher geht, ist der Umgang mit der Ernsthaftigkeit, mit welcher der Standpunkt vorgetragen wurde, denn eine solche Ernsthaftigkeit kann und soll einem Kind nicht zugemutet werden. 12 Von einer philosophischen Perspektive aus betrachtet, ähnelt das Verhalten Roths im Buch dem polemischen Gebrauch von Ideen, wie Kant ihn in der Kritik der reinen Vernunft beschreibt. Dieser zeichnet sich vor allem dadurch aus, einer verrückten Idee strategisch gerade dadurch zu begegnen, diese in ihrer Konsequenz nachzuvollziehen und ihr eine mindestens ebenso verrückte zur Seite zu stellen (Kant 1998: B 766-785).

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Indem sich der Erwachsene ironisch auf die Aussage des Kindes bezieht und nicht etwa auf das Kind selbst, nimmt er jener die Endgültigkeit und gibt dem Kind seine Freiheit wieder, sich zu seinen Aussagen zu verhalten. Wenn nun Roth seinen Doppelgänger mit diesem Kosewort benennt, dann drückt sich dabei auch eine Verbundenheit zu ihm aus, die sich mit einer gewissen Überlegenheit paart. Diese Verbundenheit impliziert zumindest die Möglichkeit, missbraucht zu werden. Kindisch ist der erwachsene Pipik gerade indem er glaubt, auf komplexe Probleme eine klare Antwort geben zu können. Denn es wirkt geradezu lächerlich, eine Gruppe für anonyme Antisemiten zu gründen, als ob der Antisemitismus mit einer Drogenabhängigkeit verglichen werden könnte; und genauso merkwürdig ist es, wenn ein Erwachsener ernsthaft vorschlägt, den Konflikt zwischen Israel und Palästina durch einen Exodus lösen zu wollen.

III. Existence is surely a debate Das Kindische13 liegt vielleicht in der Sehnsucht, auf der richtigen Seite stehen zu wollen oder zu meinen, auf einer solchen stehen zu können. Das Erwachsene bestünde dann darin, in Anlehnung an das Zitat Kierkegaards, welches dem Buch vorangestellt wird, die (eigene) Existenz14 der Debatte auszusetzen und damit beweglich zu bleiben. Und genau an dieser Stelle scheint mir der Hinweis auf die üble Nachrede, die sich gerade in der Neugier auf das elfte Kapitel ausdrücken könnte, eine wichtige Rolle zu spielen. Denn es ist eine Sache zu denken, dass das elfte Kapitel hätte eigentlich geschrieben werden müssen, es aber nicht geschrieben werden konnte, weil höhere Interessen dies verhinderten. Es ist aber eine völlig andere Sache zu denken, es dürfe prinzipiell nicht geschrieben werden. Im ersten Fall würde an einer Idee von Literatur festgehalten, die ihre Aufgabe v. a. darin sähe, in literarischer Form etwas dem Publikum mitzuteilen, was es eigentlich wissen müsse, ja sogar ein Recht darauf habe, zu wissen – vielleicht in Form eines Enthüllungsromans oder gar eines Bekenntnisses oder Geständnisses. Im elften Kapitel würde das Publikum dann die Auflösung der in den zehn Kapiteln verschlüsselten Aussage erhalten, wodurch literarisches Schreiben und das mit ihm verbundene Lesen zu einer Übung des Chiffrierens und Dechiffrierens würde. Wer »richtig« lesen könnte, der bräuchte demnach nicht einmal das elfte Kapitel.

13 »Kindisch« ist von »kindlich« zu unterscheiden. Im Unterschied zum Kindlichen, das die Entwicklungsbedürftigkeit eines Kindes anerkennt, bezieht sich das Kindische eigentlich auf Erwachsene, so dass durchaus vermutet werden könnte, dass ein Satz wie »ein kindisches Kind« dem Kind als Kind nicht gerecht wird oder einfach nur sinnlos ist. 14 Aus dem angeführten Zitat ist nicht zu entnehmen, ob die eigene oder die Existenz im Allgemeinen gemeint ist. Doch ist diese Unterscheidung irreführend. Denn selbst wenn nur die eigene Existenz gemeint wäre, könnte diese doch nicht relevant werden ohne ihren konkreten Kontext. Wenn nun die Existenz selbst die Debatte ist, dann steht sie nicht zur Debatte.

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Wiewohl Operation Shylock, A Confession durchaus viele Züge eines Kriminalromans aufweist, in dem es ein Rätsel gibt, das nach Auflösung zu rufen scheint, und den Text damit in die Nähe eines Politthrillers rückt, scheint es möglich, zwischen den Konventionen dieser Gattung und ihrem Gebrauch durch Roth zu unterscheiden. Denn wenn Roth diese Gattung aufgreift, dann nur deshalb, um sich ihr an einem entscheidenden Punkt zu verweigern. Die Gattung des Spionageromans und was diese ausmacht, ist das Problem und hat zumindest an einem Punkt eine Ähnlichkeit zu einem Bekenntnis oder Geständnis, dem sich Roth verweigert. Denn das Leben als den Vollzug einer Debatte zu begreifen, ist etwas anders als das Leben von bestimmten Großerzählungen her zu beurteilen und sich ihnen zu unterwerfen (Wiesing 1999). Nicht zufällig können dann die Gespräche zwischen dem Roth des Buches und allen anderen aus dieser Perspektive als ein bestimmter Umgang mit der Kategorie gefasst werden, die mit dem Geständnis oder Bekenntnis assoziiert werden kann: das Gewissen, oder etwas weniger dramatisch, das Innere in seiner Verbindung mit dem Öffentlichen. Augenfällig wird dies gerade im Epilog, in welchem Smilesburger, Agent des Mossad, Roth davor warnt, interne Details seines Auftrages zur Unterstützung des palästinensischen Staates preiszugeben. »Let your jewish conscience be guide« (Roth 1994: 398), ist dabei kein eindeutiger Satz. Die zumindest doppelte Auslegemöglichkeit dieses Satzes – eines jüdischen Gewissens, das eine identifikatorische Verbindung zum Staat Israel und seiner politischen und historischen Situation nahelegt, oder eines Gewissens, das sich an eine schriftlich niedergelegte Tradition erinnert – ausnutzend, versucht Smilesburger Roth ins Gewissen zu reden. Ähnlich versuchen dies auch George oder eben Moishe Pipik, der sich gar als die Inkarnation des Gewissens Roths ausgibt, indem er in Roths Namen und Person die Konsequenzen aus dessen Büchern zieht, die Roth selbst nicht gezogen hat. Sie alle erlauben es sich, die Bücher Roths als Legitimationsgrundlage herzunehmen, den Autor also an sein Gewissen zu erinnern; sie tun dies nur unterschiedlich. Alle versuchen, Roth daran zu erinnern, dass er konsequent in der einen oder anderen Weise handeln müsste, wenn er sich selbst – seinem Inneren, dass er doch nach außen bezeugt – treu bleiben wolle. Sie sind Essentialisten und dadurch moralisch.

IV. Drei tötet die üble Nachrede Die rabbinische Auslegung zu loshon hora ist vielfältig und differenziert. Die griffige Beschreibung, die Maimonides in Mishne Tora aus der Mishna zitiert15, kann sie in ihrer Komplexität und Schönheit zwar nicht zusammen-

15 Maimonides alias Rabbi Moshe ibn Maimon gehört zu den wohl wichtigsten Verfassern von Gesetzescodices der Halacha. Sein halachisches Hauptwerk Mishne Tora oder ha-jad ha-chasaqa versammelt wichtige Entscheidungen unter übergeordneten Gesichtspunkten aus den verschiedenen Traktaten des Talmuds. Aus diesem Grund ist es für das Studium der Halacha genauso unersetzlich wie umstritten. Denn die Ent-

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fassen, wohl aber ein Licht auf ihre ethische Konsequenz werfen. Besonders interessant ist die Schlussbemerkung, dass nicht nur derjenige, der eine üble Nachrede verbreitet und derjenige, über den sie spricht, sondern gerade derjenige, der sie willig aufnimmt, davon im schwersten Maße betroffen ist. Die üble Nachrede schadet zwar allen drei Gruppen, der letzten aber in stärkerem Maße als den anderen beiden. Sicherlich ist der Tod, den die üble Nachrede bei allen dreien auslöst, auf abstrakter Ebene kaum zu unterscheiden. Indem die Rabbinen aber darauf bestehen, dass die Öffentlichkeit, die einem Gerücht Glauben schenkt, stärker durch den Tod betroffen ist als der, der Gerüchte verbreitet, weisen sie darauf hin, dass die Öffentlichkeit eine Verantwortung für den Diskurs hat, die noch über dessen Verantwortung hinausgeht. Nur wenn die Öffentlichkeit das Gerücht annimmt, in dem sie es für bare Münze nimmt, kann sich seine tödliche Wirkung entfalten.16 Über Leviticus 19 als Auslegung des Dekalogs und als angenommene Struktur des Buches ergibt sich dann ein weiterer interessanter Aspekt. Denn jener Text aus der Tora legt den Dekalog unter dem Gesichtspunkt der Heiligkeit aus, so dass in der exegetischen Literatur Leviticus 19 auch bekannt ist unter der Überschrift »Das Heiligkeitsgesetz«. Heilig ist nach rabbinischer Auslegung dabei nicht zu verwechseln mit sakral.17 In der Auslegung Rashis bedeutet heilig in diesem Kontext so viel wie »SichEnthalten-können«18. Dies nun nicht im Sinne der Askese, sondern im Sinne des Rechts. Wenn Askese eine persönliche Übung der inneren Selbstscheidungsfindung, wie sie im Studium des Talmuds abgebildet ist, geht in der Sammlung selbst verloren. 16 Es würde Falschgeld in Umlauf gebracht. Dieses zeichnet sich dadurch aus, äußerlich nicht unterscheidbar zu sein von richtigem Geld, sondern nur in der Art und Weise, wie der eine mit dem anderen dadurch kommuniziert, als solches erkannt werden zu können (vgl. Derrida 1991). 17 Auf diese wichtige Unterscheidung weist Lévinas in mehreren Talmudlesungen ausführlich hin. Das Heilige wird vom Sakralen vor allem durch zwei Merkmale unterschieden. Zum einen wird jede Esoterik abgewehrt, die von der Sehnsucht nach einem ungebrochenen Gotteserlebnis bestimmt ist und dieses sogar inhaltlich behauptet. Zum anderen zeichnet sich das Heilige durch eine Absage an eine Herrschaftsidee aus, die auf blinden Gehorsam angelegt ist. Beide Abgrenzungen legen ein Feld frei, in welchem das Heilige dann in seiner ethischen Bedeutung aufscheinen kann (Lévinas 1977). 18 Rashi alias Rabbi Shlomo ben Izchaqui, wichtigster Kommentator der schriftlichen und mündlichen Tradition für das rabbinische Judentum, schreibt in seinem Kommentar zur Stelle: ‫ שאתה מוצא גדר ערוה אתה‬,‫ ה פרושים מין העריות שכל מקום‬.‫קדושים תהיו‬ ‫ מוצא קדושה‬Die Übersetzung von ‫ פרושים‬als Interpretation von ‫ קדושים‬muss dabei aus seinem Kontext, und d. h. aus seinem Gebrauch im Buch Leviticus, genommen werden. Wenn es auf das Nicht-Übertreten der intimen Integrität des Anderen ankommt, dann stellt sich des Weiteren die Frage, ob es sich um ein negatives oder positives Gebot handelt. Der Unterschied ist interessant. Denn: Handelte es sich um ein negatives Gebot, dann würde der Trieb des Menschen begrenzt. Da aber alle Gebote, die mit der Heiligkeit zusammenhängen, nach rabbinischer Tradition positive Gebote sind, wird dem Heiligen unterstellt, dass das Sich-Enthalten-können keine Restriktion des eigenen Triebes ist, sondern eine Tat, die dem Anderen zugutekommt.

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vervollkommnung ist, dann meint das Sich-Enthalten-können im Zusammenhang des Rechts die Fähigkeit, über die Öffentlichkeit das Innere der Anderen nicht zu beeinträchtigen: das eigene »impish inner self« nicht zum Ausgangspunkt der Weltdeutung zu machen. Auf diese Weise meint das SichEnthalten-können positiv, sich für den Anderen entschlossen einzusetzen, um sich so von den Heiden zu unterscheiden. Denn diese zeichnen sich nach der rabbinischen Literatur vor allem dadurch aus, die Intimität des Anderen zu verletzen (vgl. Levine 1989). Auf diese Weise erhält der an seine palästinensischen Bekannten gerichtete Satz Roths sein volles Gewicht: »No metaphors, where there is reported history« (Roth 1994: 142). Nun kann auch der im DemjanjukProzess seitens der Verteidigung erhobene Vorwurf gegenüber einem Überlebenden der Shoa in seiner tödlichen Wirkung erahnt werden: »You’re a liar!« (ebd.: 301). Das Gleiche gilt vielleicht auch für den Kaufmann von Venedig: Inwiefern unterwirft man sich dem dort gezeichneten Bild Shylocks?19 In allen drei Fällen ist die Öffentlichkeit vom Versuch ihrer Negation betroffen. Und jedes Mal wurde eine Grenze überschritten, die nicht einfach wieder zur Geltung gebracht werden kann. An dieser Stelle eröffnet sich ein komplexes Feld zwischen den Personen im Buch genauso wie zwischen dem Buch und seinen Lesern. Während es im ersten Fall noch relativ leicht fällt, die Gerüchteküche zu beschreiben, steht diese Beschreibung in der Auslegung des Buches bei jedem Lesen immer noch aus, je nachdem, ob der Interpret glaubt, mit Hilfe des Buches etwas Entscheidendes gesagt zu haben oder durch das Buch das Entscheidende rechtfertigt. Denn im ersten Fall verantwortet er das Gesagte selbst, im zweiten vereinnahmt er das Buch, indem er Autor und Buch mit sich selbst identifiziert.

19 Ich verweise ein zweites Mal auf Derek Cohen (2006) und greife dabei ein Beispiel besonders heraus, auf das Haselstein ebenfalls zu sprechen kommt. In einem kurzen Monolog rechtfertigt Shylock seine Rachegedanken dadurch, dass Christen sich an Juden gerächt hätten, wenn diese jenen Unrecht getan hätten, und somit, wenn alle Menschen gleich seien, auch Juden sich rächen könnten, wenn sie Unrecht erfahren. Aus den vielen Punkten, die hier analysiert werden könnten, soll nur einer herausgegriffen werden. Shylock leitet sich das Recht zur Rache ab. Wird Shylock als Repräsentant des Judentums genommen, dann wird dabei übersehen, dass das Judentum die Rache allein Gott überlässt und auf diese Weise Recht denkt (vgl. gerade das Heiligkeitsgesetz!). Im Monolog zeigt sich vielmehr die Angst einer christlichen Kultur vor sich selbst, die ihre Aggression anderen unterschiebt. Sie kann sich nicht vorstellen, dass es etwas anderes geben könnte als ihre Weltsicht und gesteht ihre eigene Schuld indirekt ein. Wer würde in diesem Zusammenhang nicht an Portia denken, der die Überlegenheit der christlichen Kultur gegenüber dem christlichen Bild vom Judentum demonstriert?

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V. and a man wrestled with him until daybreak20 Roth verweigert sich den beiden Kategorien, die in den Überschriften – Shylock und ein Bekenntnis – anklingen. Weder Rache, die glaubt eine Konsequenz aus Geschehenem ziehen zu können und immer irgendwie nach Rechtfertigung sucht, noch Erlösung durch eine wie auch immer gedachte Bestätigung der Allgemeinheit treiben ihn dazu, das elfte Kapitel in der Form »des Rätsels Lösung…« dennoch zu schreiben. Die Beziehungsgeflechte werden nicht aufgelöst, so wie jedes abschließende Urteil unterbleibt. Das Interessante an der Bibelstelle aus dem Buch Genesis, die dem Buch vorangestellt wird, ist ja, dass Jakob, der mit einem unbekannten Gegenüber kämpft,21 die Rechtfertigungslogik unterbricht. Er fordert seinen Gegner auf, ihn ohne Bekenntnis der eigenen Schuld zu segnen; zudem unterlässt es Jakob, solch ein Bekenntnis von seinem Angreifer zu fordern. Nicht der Kampf an sich wird geleugnet, sondern sein Ende wird gefordert, ohne letztgültige Erklärung, die einen kindlichen Urzustand wieder herstellen würde.22 In gleicher Weise fordert Roth seinen Doppelgänger Pipik auch nicht zu einem Geständnis auf, sondern nur dazu, dass dieser endlich aufhöre, die Öffentlichkeit in eine Gerüchteküche zu verwandeln. Gleiches gilt für George. Denn die Gerüchteküche verhindert die Öffentlichkeit, in welcher sich Veränderungen ergeben, gerade indem das konkrete Leben verdeckt wird. Leben wird unmöglich. Tod ist die Folge, nicht nur der eigene. Aus diesem Grund ist Smilesburgers Beziehung zu Roth aus dieser Perspektive so interessant. Denn auf den ersten Blick versucht er ja, eine Gerüchteküche zu verhindern, indem er Roth dazu anhält, die geheime Geldgeberkonferenz und Informationen, die dem Staat Israel gefährlich werden könnten, zu verschweigen. Roth würde damit zu einem Agenten des negativen Gerüchts: der Verheimlichung. Würde Roth etwas auf diese Weise verheimlichen, dann würde er das zu hütende Geheimnis als etwas Inhaltliches und Nicht-Öffentliches bestätigen. Doch muss das nicht geschriebene elfte Kapitel nicht als Verheimlichung gelesen werden. Denn dass die Geldgeberkonferenz im Roman stattgefunden

20 Das Zitat entstammt der berühmten Erzählung »Jakobs Kampf am Jabbok«. Bevor Jakob seinem Bruder Esau begegnen wird, den er um sein Erstgeborenenrecht betrogen hat und dessen Rache er fürchtet, kämpft er in der Nacht gegen einen Mann bis zum Morgengrauen und kann ihn nicht überwinden. Als dieser von ihm ablassen will, lässt ihn Jakob nicht gehen, bis er von ihm gesegnet wird. 21 Die Auslegungen sind vielfältig. Sie reichen von einem inneren Kampf bis hin zu der Annahme, es könnte sich um einen Gesandten Esaus handeln. 22 Interessant ist ja, dass der Segen dem tatsächlich gelebten Leben Jakobs gilt. An keiner Stelle wird das Unrecht gerechtfertigt, so dass Jakob eine weiße Weste erhielte. Gerade darin liegt die Stärke des Textes, das Leben zu segnen, ohne mit dem Segen eine Wiederherstellung der Unschuld zu assoziieren. Auf diese Weise kämpft Jakob mit Gott. So vielleicht auch Rashi: ‫ לא יאמר עוד שהברכות באו לך בעקבה ורמיה כי אם‬.‫לא יעקב‬ ‫( בשררה וגלוי פנים‬Nicht Ja’akov: es soll nicht mehr gesagt werden, die Segnungen seien zu dir gekommen durch Betrug und List, sondern glänzend und offen [meine Übersetzung]).

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hat, wird ja explizit gesagt. Dass nicht alles geschrieben wird, ist vielleicht Ausdruck von Diskretion, die sich vor allem dadurch auszeichnet, die Teilnehmer der Konferenz nicht zu beurteilen und spekulativer Neugier auszusetzen. Denn die Tatsache der Konferenz ist an sich nicht illegal. Nur totalitäre Gedankengänge schließen von dem Nicht-Öffentlichen auf eine Gefahr. Gesellschaftliches Interesse entstünde erst da, wo die Gesellschaft selbst betroffen ist. Der Roth des Buches wäre damit nicht nur dem Staat Israel gegenüber loyal, sondern auch der Öffentlichkeit, die privates Engagement respektiert23, indem er keine Gerüchte in die Welt setzt oder eine geheime Geldgeberkonferenz mit deren Illegalität verwechselt. Öffentlichkeit lässt Diskretion zu und darf weder mit absoluter Transparenz noch mit einer in sich geschlossenen Gemeinschaft verwechselt werden. Es liegt am Leser, vom Fehlen des elften Kapitels nicht auf etwas Verheimlichtes zu schließen. Aus diesem Grund scheint es auch der Diskussion bedürftig, ob Roth im Auftrag des Mossad an der Geldgeberkonferenz teilnimmt, also quasi als Spion. Denn indem er sich jeder Abhängigkeit verweigert, handelt er öffentlich, nicht ohne den Mossad, auch dann, wenn die ethische Konsequenz, das elfte Kapitel nicht zu schreiben, mit dem Wunsch Smilesburgers übereinstimmt. Denn das positive Verständnis von Öffentlichkeit, dass sich auch und gerade im Umgang mit der üblen Nachrede zeigt, kennt weder einen Ausnahmezustand noch einen Sündenbock. Weil Roth das Innere nicht nach außen kehrt, kann mit und gegen Smilesburger gesagt werden (Roth 1994: 393f.): »The message of your book? [...] It’s a happy book, as I read it. Happiness radiates from it.«

Literatur Chenavier, Robert (2008): »Simone Weil, issue de la judéité ou assignée à la judéité?«. JUDAICA 64.4, S. 303-332. Cohen, Hermann (1982): Ästhetik des reinen Gefühls, Bd. 2, Werke, Bd. 9, Hildesheim: Georg Olms. Cohen, Hermann (1995): Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Wiesbaden: Josef Metzler Verlag. Cohen, Derek (2006): »Shylock and the Idea of the Jew«. In: L. S. Marcus (Hg.), The Merchant of Venice, New York, S. 193-206. Critchley, Simon (2007): Infinitely Demanding. Ethics of commitment – Politics of Resistance, London: Verso. Derrida, Jacques (1991): Donner le temps 1: Fausse monnaie, Paris: Editions Galilée. Gadamer, Hans-Georg (1986): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer

23 Dies scheint mir die Thematisierungsbedingung von Roths Buch Indignation zu sein. Denn in ihm wird eine Öffentlichkeit gezeichnet, die auf den Gedanken einer in sich kohärenten Gemeinschaft fußt und so Öffentlichkeit mit sich selbst gleichsetzt – bedrückend. Doch sei dies nur als These formuliert.

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Urs Espeel

philosophischen Hermeneutik, Gesammelte Schriften, Bd. 1, Tübingen: Mohr und Siebeck. Kant, Immanuel (1998): Kritik der reinen Vernunft, Hamburg: Felix Meiner (= Phb 505). Lévinas, Emmanuel (1977): Du Sacré au Saint, cinq nouvelles lectures talmudiques, Paris: Les éditions de minuit. Lévinas, Emmanuel (2006): »Simone Weil contre la Bible«. In: ders., Difficile liberté. Essais sur le judaïsme, Paris: Albin Michel, S. 205-217. Levine, Baruch A. (1989): The JPS Torah Commentary: Leviticus. The Traditional Hebrew Text with the New JPS Translation, Philadelphia: Jewish Publication Society. Levinson, Joshua (2005): The Twice Told Tale. A Poetics of the Exegetical Narrative in Rabbinic Midrash, Jerusalem: Magnes-Press, S. 133. ( ‫הסיפור‬ ‫ אמנות הסיפור המקראי המורחב במדרשי חזל‬,‫[ שלא סופר‬Die nicht erzählte Erzählung, Poetik der exegetischen Erzählungen im rabbinischen Midrasch]) Mishne Thora, Hilchaot De’ot 7, 3. Roth, Philip (1994): Operation Shylock. A Confession, New York: Vintage International. Schmitt, Arbogast (2008): Kommentar. In: Aristoteles, Poetik. Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 5, übers. u. hg. Arbogast Schmitt, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, S. 123f. Wiesing, Lambert (1999): »Extreme ästhetischen Denkens. Kurt Schwitters, Ludwig Wittgenstein und die Philosophie der Postmoderne«. In: Richard Faber/Barbara Naumann (Hg.), Literarische Philosophie – Philosophische Literatur, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 185-203.

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Kracauers Geschichte – Vor den letzten Dingen und die Frage nach dem Ort des Sprechens: eine Relektüre im Anschluss an Ulla Haselstein und Albrecht Koschorke KAY KIRCHMANN

I. Bei aller vordergründigen Verschiedenheit ihrer Gegenstände und Zugriffsweisen treffen sich die in diesem Band befindlichen Beiträge von Ulla Haselstein und Albrecht Koschorke im tertium einer epistemologischen Befragung heuristischer Grenzziehungen – und damit Differenzbildungen. Ausgehend von der Beobachtung, dass »Grenzen immer auch Kontaktzonen sind« (Koschorke i. d. B.: 174), und der Einsicht, dass – systemtheoretisch gewendet – jede Unterscheidung auf der Außenseite des Systems innerhalb des Systems gleich mit abgebildet wird, steht jedes Sprechen in respektive über Differenzen vor dem Problem, sich mit der Formulierung einer Unterscheidung zugleich die Frage nach der »Einheit dieser Unterscheidung« (ebd.: 175) einzuhandeln und somit die Frage nach dem Ort, von dem aus beides zugleich zu denken (Einheit und Differenz, In- und Exklusion in einen der binären Terme) überhaupt möglich sein kann. Wie Koschorke an der Natur-Kultur-Dichotomie zeigt, schreibt jedes Denken, das seinerseits versucht, »binäre Oppositionen […] mit binären begrifflichen Mitteln zu bearbeiten« (ebd.: 180), die basalen Aporien der kategorialen, epistemischen oder temporalen Grenzziehungen lediglich fort. Was bleibt, ist die Beobachtung (zweiter Ordnung) eben jener Narrative, die derartige Grenzziehungen prozessieren und diskursivieren (vgl. ebd.: 177f.), sowie die Frage nach der jeweiligen Funktionalität derartiger Narrative zu einem je gegebenen historischen und/oder kulturellen Zeitpunkt resp. Ort. Freilich kann – ein alter Denkfehler in so mancher diskursanalytischer Verfahrensweise – auch die Beobachtung solcher Narrative sich ihrerseits nicht aus dem basalen epistemologischen Zirkel suspendiert sehen, bleibt doch auch ihr, insofern sie selbst mit Grenzziehungen arbeitet (mindestens mit der distinkter Beobachtungsniveaus), die Frage auferlegt, ob und wenn ja, wie ein Sprechen über Differenz gedacht werden kann, das nicht auf jeder Ebene der Beobachtung ebenjene Unterscheidungslogiken perpetuiert, die es eigentlich zu überwinden sucht. Dies gilt selbstredend auch für die Denkfigur der Transdifferenz: Auch sie muss sich – und genau dies geschah in der Abschlusskonferenz – daraufhin befragen lassen, ob sie, ungeachtet aller Versuche, binäre 235

Kay Kirchmann

Denkoperationen zu transzendieren, nicht aus sich selbst heraus notwendigerweise wiederum ihr »Anderes« entlässt. Zu Koschorkes These, dass »potenziell jeder poetische Text etwas von der paradoxen Grundspannung aus[trägt], in der kulturelle Symbolik und naturhaft Entzogenes sich zueinander befinden« (ebd.: 182f.), liefert Ulla Haselsteins an Girard und Agamben geschulte Lektüre der »metafiktionalen Verfahren« (Haselstein i. d. B.: 211) in Philip Roths Roman Operation Shylock gleichsam die Probe aufs Exempel. Die komplexen, letztlich in unauflösbarer Spannung verharrenden Spiele mit kultureller Identität sowie politischer und nationalstaatlicher Zugehörigkeit, die im Zentrum von Roths Pseudo-Autobiographie und den diese begleitenden poetologischen Reflexionen stehen, werden lesbar als »ein Aufspalten, Umschreiben und Neuerfinden der eigenen Subjektivität in verschiedenen Romanfiguren« (ebd.: 209), das seinerseits als Reflex auf die durch die »Agenda des Multikulturalismus [...] [hervorgebrachte] liminale Rolle der amerikanischen Juden im amerikanischen Identitätsspektrum« (ebd.: 206) und die hieran rückgekoppelte Re-Diskursivierung des Diaspora-Narrativs (vgl. ebd.: 207ff.) zu verstehen ist. Roths selbstreflexives Spiel mit realen und fiktionalen Identitätsentwürfen treibt den Gedanken der Diaspora literarisch ins Extrem, indem jeder Ort des Sprechens gleichzeitig mit einer Figur des Entzugs überschrieben wird, die jeglichen Zugriff auf die Persona des Sprechenden verweigert (vgl. ebd.: 219). Zwar lässt Roth keinen Zweifel an seiner Skepsis an der Diaspora als politischem Projekt einer »Revision des zionistischen Projekts im Sinne einer Repatriierung der europäischen Juden« (ebd.: 211) aufkommen, doch performiert sein Text selbst ein Sprechen der im doppelten Sinne »Bodenlosigkeit«, ein »Verstreut-Sein«, das keinen originären Ort des Sprechens mehr identifizierbar macht. Genau darin scheint das utopische Potenzial dieser literarischen Rede begründet zu sein: Sie imaginiert ein boden-, weil heimatloses Sprechen, das jenseits der Grenzziehungen stattzufinden verspricht, weil es sich jeder Verortung zu entziehen sucht. Wenn aber jedes Sprechen notwendigerweise Relikte epistemischer Operationen in sich birgt, die Differenzen und damit Grenzen produzieren müssen, um sich überhaupt artikulieren zu können, so könnte allenfalls ein Sprechen aus der Exterritorialität heraus jene Utopie (im etymologischen Sinne des Nicht-Ortes) noch aufscheinen lassen, als jenes bodenlose »homeland« fungieren, das seinerseits wiederum Spuren der Diaspora in sich trägt und nur als unabschließbare Wanderbewegung überhaupt noch gelingen kann. Die hier von Neuem adressierten wissenschaftstheoretischen Problemhorizonte erlangen unter den Vorzeichen eines kultursemiotischen oder -hermeneutischen Projekts nicht von ungefähr neuerliche Relevanz und Brisanz. Auch wenn das konstruktivistische Axiom von der unhintergehbaren Kulturalität allen Sprechens – wie Koschorke ja schön gezeigt hat – ein Produkt jenes Denkens in Natur-Kultur-Dichotomien ist, die darin zugleich geleugnet zu werden versuchen, so gewinnt die Frage nach dem Ort des Sprechens über und in Differenzen in politischer wie epistemologischer Hinsicht an Bedeutung, wenn Verstehen im Banne des Globalisierungsnarrativs zur interkulturellen Alltagspraxis avancieren soll. Nicht von ungefähr lässt sich Roths Entzugsfigur daher auch in die zeitgenössische Bevorzugung »nomadischer Subjekte« einordnen, die als Fortschreibungen älterer Konzepte des »Fremden« oder des »Wandernden« à la Simmel oder Schütz reüssieren (vgl. Geb236

Kracauers Geschichte – Vor den letzten Dingen

hardt/Hitzler 2006) und jene Standortungebundenheit in Aussicht zu stellen scheinen, die als Antidot zu den hier aufgerissenen Problemen figuriert. Vor diesem Hintergrund lässt sich in Ergänzung zu den Beiträgen von Haselstein und Koschorke auch noch einmal eine gleichfalls etwas ältere Denkfigur in die Betrachtung einbeziehen, die Siegfried Kracauer als Ermöglichungsbedingung des historiographischen Sprechens identifiziert hat: die Figuration des »Ausgebürgerten« als eines idealen Historikers. Kracauer (1889-1966), zu dessen zahllosen intellektuellen Tätigkeiten die des Soziologen, Essayisten, Redakteurs, Architekturkritikers, Kulturphilosophen, Literaten, Filmkritikers und -theoretiker gehörten (vgl. exemplarisch Volk 1996), ist letztlich keiner bestimmten Methodik oder Schule eindeutig zuzuordnen, obwohl die Majorität seines Schaffens einer materialistisch inspirierten Ideologiekritik massenkultureller Phänomene verschrieben zu sein scheint. Er selbst hat sich zeit seines Lebens jeder Festlegung auf bestimmte Denkrichtungen vehement verweigert, obgleich er gerade zu namhaften Vertretern der Frankfurter Schule wie Theodor W. Adorno, Ernst Bloch oder Leo Löwenthal langjährige enge Kontakte unterhielt. Die von Kracauer jedoch auch noch hier kultivierte Rolle eines intellektuellen Außenseiters und Einzelgängers korrespondiert indes in signifikanter Weise mit der stupenden Breite seiner Betätigungsfelder und Gegenstandsbereiche und ist wie diese Reflex seiner tiefsitzenden Skepsis gegenüber jedweder monothetischen Methodik, Denkschule und Disziplin, v.a. solchen teleologischen Zuschnitts, wohinter er stets latente Affinitäten zu regressiv-metaphysischen Weltanschauungen vermutete. Als Kracauers wissenschaftshistorisch bedeutsamste Leistung gilt seine Auseinandersetzung mit den Phänomenen der jungen Populärkultur in der Weimarer Republik, die ihn zu einem zentralen Wegbereiter einer nicht länger an kanonischen Ästhetiken orientierten Medien- und Kulturwissenschaft werden ließ. Wenngleich ihm als dem führenden Filmkritiker der Weimarer Republik v. a. das Verdienst zukommt, dem Medium breitere Akzeptanz in den damaligen Intellektuellenkreisen verschafft zu haben, blieb seine »Hinneigung zum Unteren, von der hohen Kultur Ausgeschlossenen« (Adorno 1965: 94f.) keineswegs auf den Film beschränkt. Als einer der wichtigsten Feuilletonisten dieser Jahre und als Redakteur der renommierten Frankfurter Zeitung widmete sich Kracauer mit der Operette, dem Detektivroman, der Photographie, der Revue oder den Vergnügungsparks auch zahlreichen anderen Erscheinungsformen der sich etablierenden Kulturindustrie, deren Produkte er in seiner 1930 erschienenen Studie Die Angestellten (Kracauer 1971b) als fundamental auf die Zerstreuungs- und Kulturbedürfnisse dieser neuen, politisch unreflektierten Mittelschicht zugeschnitten und als dem tradierten bürgerlichen Kunstverständnis zwangsläufig inkompatibel erkannte. Die »phänomenologische Lektüre der Alltagswelten der Moderne« (Koch 1996: 14) ist in Kracauers Weimarer Arbeiten – darin Walter Benjamin verwandt – eingebunden in das Projekt einer Großstadtsoziologie, in dem sich neben den eigenen biographischen Wurzeln in der Architektur auch der Einfluss seines Lehrers Georg Simmel manifestiert, die darüber hinaus aber methodologisch wie in ihrer expliziten Hinwendung zur »Lebenswelt« starke Bezüge zu Edmund Husserl aufweist. Kracauers Faszination für die Oberflächenphänomene einer Gesellschaft basiert dabei auf der freudianischen Prämisse eines gesellschaftlichen Unbewussten, das sich in Gestalt »unbeachte237

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te[r] Regungen« (Kracauer 1977: 50) der Zensur des kollektiven Bewusstseins entzieht und sich allein in kulturellen und medialen »Oberflächenäußerungen« (ebd.) hieroglyphisch zu artikulieren vermag. Dort harrt es seiner hermeneutischen Entzifferung durch einen »Schriftkundigen«, der hierfür seiner eigenen Verstrickung in das »Ornament der Masse« durch die gezielte Einnahme einer gesellschaftlichen Randposition notwendigerweise zu entsagen hat (vgl. Ernst 2005: 233ff.). Nicht von ungefähr hat Kracauer die stringenteste Realisierung dieses Programms denn auch aus der Position des Exilierten – er emigrierte 1933 zunächst nach Frankreich, 1941 schließlich in die USA – heraus verfasst: In der mentalitätsgeschichtlichen Studie Von Caligari zu Hitler (1947) versucht er mittels einer content analysis in den Sujets des Weimarer Films retrospektiv jene »tiefenpsychologische[n] Dispositionen« (Kracauer 1993: 7) der Deutschen aufzuspüren und nachzuzeichnen, die dann im Nationalsozialismus kulminieren sollten. Insgesamt bleibt die Figur der Heimatlosigkeit eine konstitutive Bezugsgröße des gesamten Kracauerschen Oeuvres, das v. a. im Früh- und Spätwerk von einer fundamentalen Ambivalenz gegenüber den Erscheinungsformen der Moderne geprägt ist. Auch wenn er dort die Irreversibilität des metaphysischen Verlustes ausdrücklich (an)erkennt und als konstitutiv für die Lebenswelten des 20. Jahrhunderts ausweist, bleibt für ihn der Wunsch leitend, zwischen Totalität und Partikularismus, ideologischer Verwurzelung und szientifischem Relativismus, beglaubigter Sinnstiftung und skeptischem Rationalismus dennoch eine trag- und lebensfähige Synthese zu kreieren. Die Trauerarbeit ob der transzendentalen Heimatlosigkeit der modernen conditio humana, die er im Frühwerk wie dem Traktat Der Detektiv-Roman (1925 [Kracauer 1979]) und im Essay Die Wartenden (1922 [in Kracauer 1977]) abzuleisten versucht, bleibt letztlich unvollendet, weist ihm aber den Weg zu einer stärker lebensweltlich orientierten Analysepraxis. Schon in der frühen programmatischen Schrift Soziologie als Wissenschaft (1922 [Kracauer 1971a]) war ihm eine epistemologische Fundierung der Soziologie als Gesellschaftshermeneutik nur als epochaler Reflex auf eine nunmehr »sinnentleerte Realität« (ebd.: 14) überhaupt modellierbar erschienen. Doch schreibt sich die unverminderte Sehnsucht nach einer säkularisierten Erlösungsutopie noch überdeutlich Kracauers Spätwerken ein und nimmt dort im normativen Anspruch an die photographischen Medien (Theorie des Films, 1960 [Kracauer 1985]) und die Historiographie (Geschichte – Vor den letzten Dingen, posthum 1969), denen Kracauer gleichermaßen die Potenz zuschreibt, die »Dinge« im medialen Abbild oder in der mikrohistoriographischen Rekonstruktion der »Vergessenheit zu entreißen« (Kracauer 1973: 219) und dadurch zu »erretten«, endgültige Gestalt an. Nur, dass nunmehr die Topographie einer solchen Erlösungsfigur unter erneuter Anlehnung an Edmund Husserl radikal diesseitig, in einem dezidiert lebensweltlichen »Vorraum vor den letzten Dingen« (ebd.: 218) der Philosophie und Metaphysik verortet wird. Adorno hat in Kracauers »Fixierung [...] an die Gutartigkeit der Dinge« die Basis für jenen »Primat des Optischen« (Adorno 1965: 87) gegenüber dem Begrifflichen erkannt, der Kracauers Werk durchzieht und ihn folgerichtig zum Anwalt der visuellen Medien werden ließ. So sind bereits die frühen ideologiekritischen Essays über das Kino der Weimarer Zeit bei aller ironischen Distanz zum Gegenstand immer auch durch eine geheime Allianz mit der »naiven Sehlust des Kinobesuchers« (ebd.: 94) gekennzeichnet, hinter der 238

Kracauers Geschichte – Vor den letzten Dingen

Kracauers Wunsch nach einer im Visuellen sichergestellten Konkretheit des Weltbezugs durchscheint, von der er sich eine Befriedung der als epochal erlebten Widersprüche der Moderne erhoffte.

II. Es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass Kracauers Denken von einer massiven Skepsis gegenüber den »Großen Erzählungen« durchzogen ist – und dies zu einem historischen Zeitpunkt, als vielen seiner Zeitgenossen diesen Erzählungen zu folgen durchaus noch als heilsversprechende Option erschien. Gerade sein letztes, posthum erschienenes Werk Geschichte – Vor den letzten Dingen liest sich heute auf vielen Ebenen wie ein vehementes Plädoyer für eine »Philosophie der Differenz« avant la lettre. In den in acht Einzelessays vorgelegten Reflexionen über das Verhältnis von Natur und Geschichte, Mikro- und Makrohistorie, Universal- und Spezialgeschichte, die Kracauer in der Auseinandersetzung mit Proust, Benjamin und Marx, klassischen Historikern wie Ranke, Croce oder Burckhardt und zeitgenössischen Denkern wie Lévi-Strauss gleichermaßen entfaltet, erweist er sich an seinem Lebensende (und geprägt von langen Jahren im Exil) ein weiteres Mal als radikaler Skeptiker gegenüber totalisierenden Erkenntnissystemen. Die Leitfrage nach dem disziplinären Charakter der Historiographie entwickelt Kracauer daher in Abgrenzung von einem deterministischen Wissenschaftskonzept einerseits, den metaphysischen Gebäuden der Geschichtsphilosophie andererseits. Der aus Kracauers Sicht notwendigerweise dem »Katarakt der Zeiten« (Kracauer 1973: 227) überantwortete Historiker wird sich gegen die nivellierende Perspektive einer Universalgeschichte den divergierenden »Sequenzen« (ebd.: 115), Überlagerungen und Ungleichzeitigkeiten pluraler Mikrogeschichten zu überantworten haben und muss dabei eine »Affinität zur kleinen, monographischen Form« (ebd.: 108) entwickeln, die allein der »nicht-homogenen Struktur des Universums« (ebd.: 240) und dessen Kontingenzen angemessen erscheint. Anstelle der immanent immer schon vorausgesetzten geschichtsphilosophischen Gewissheiten um historische Verlaufsformen muss der Historiker ein »Geschick zur passiven Beobachtung« und ein »ursprüngliches Ergeben [...] vor den Tatsachen« (ebd.: 116) kultivieren, was den Historiker nach Kracauer mit dem Filmregisseur verbindet. Die Untersuchung dieser »fundamentalen Analogie« (ebd.: 74) zwischen Geschichte und photographischen Medien macht einen der zentralen Argumentationsstränge von Geschichte – Vor den letzten Dingen aus. Beiden ist ihre letztlich hermeneutische Funktionalität beim »Lesen, Studium und Entziffern eines schwer lesbaren Textes« (ebd.: 71) gemein, eines Textes, der von Kracauer nachdrücklich der Hemisphäre der Husserlschen »Lebenswelt« zugeordnet wird. Die historische Realität begreift er dabei ebenso wie die photographische als in einem »Vorraum« (ebd.: 218) beheimatet – eben »vor den letzten Dingen« der Philosophie und Metaphysik –, der zugleich Handlungsort der Alltagswelt und der hierin angesiedelten »vorletzten Dinge« (ebd.: 240) ist. In diesem Vorraum kann es um nichts anderes gehen als um

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die »Errettung« der Dinge und ihrer physischen Konkretheit.1 Allein die historische wie die photographische Anstrengung um Vermittlung und Konservierung des Empirisch-Sinnfälligen kann die Dinge der Macht des Todes entwinden. Deswegen haben der Photograph/Filmemacher wie der Historiker der ästhetischen und der philosophischen Abstraktion zu entsagen.2 Hier nun kommt das in der Theorie des Films generierte Begriffspaar der »formgebenden« und der »realistischen« Tendenz wieder ins Spiel, das photographisches wie historiographisches Handeln gleichermaßen determiniert, wobei für Kracauer die unverzichtbaren formgebenden Anteile immer im Dienst der realistischen Anteile zu stehen haben. Wie der Filmemacher, so hat auch der Historiker sich stets jener fragilen »Grenze« bewusst zu sein, an der die unumgängliche Beanspruchung homogenisierender und/oder ästhetischer Instrumente »auf seine wesentlichen Tätigkeiten übergriffe« (ebd.: 204). Es ist nämlich gerade der Abstand vom Ästhetischen, Szientifischen wie Philosophischen gleichermaßen, der die historiographische Arbeit auszuzeichnen hat – und diese dadurch der photographisch-filmischen Arbeit annähert. Nur wenn dies gewährleistet ist, erfüllen Historiker, Photographen und Filmemacher ihre eigentliche Mission bei der »Errettung der äußeren Wirklichkeit«. Für unseren Zusammenhang ist v. a. interessant, dass Kracauer darauf insistiert, dass Historio- wie Kinematographie einer freiwilligen »Selbstauslöschung« (ebd.: 211) ihrer jeweiligen Autoren bedürfen, einer »vorsätzlichen Aufhebung der schöpferischen Kräfte« in der jeweiligen Gestaltung zugunsten einer »farblosen Objektivität« (ebd.: 210). Dies kann und wird dem Historiker nur gelingen, wenn er sich »ein mobiles Ich« (ebd.: 100) zulegen kann, sein »Geist gewissermaßen nicht auf einen festen Wohnsitz festzulegen ist, [sondern] ohne feste Bleibe umherwandert« (ebd.: 112). Der ideale Historiker also ist ein »Ausgebürgerter« (ebd.: 103) und ewiger Wanderer zwischen den Zeiten, ganz wie der von Kracauer schließlich als Prototyp identifizierte Ahasver (vgl. ebd.: 162-188). Kracauers Konzeption der Historiographie bleibt also rückgebunden an die Standortlosigkeit des Exilierten und des Nomaden als einzig denkbarem »Ort« des Sprechens über Geschichte. Die bei Roth als selbstironisches Spiel inszenierte Selbstauslöschung erschien Kracauer schon gute 30 Jahre zuvor als conditio sine qua non der historiographischen Erkenntnis. Wie später bei Vilèm Flusser3 (1999) fungieren auch hier die Bodenlosigkeit und die Exterritorialität als Ermöglichungsbedingungen des Entzugs, als – wenn man so will – transdifferente Basisoperationen, die allein es erlauben, dem epistemologischen Drift der Differenzbildungen – hier zwischen Mikro- und Makrogeschichte, Geschichten (stories) und Geschichte (history), Allgemein- und Spezialgeschichte – zu entkommen. Dass auch diese Denkfigur überlagert ist von Erlösungsphantasien, deren Dynamik zugleich Zeugnis ablegt vom wahren Ausmaß der zugrundeliegen-

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»Die photographischen Medien erleichtern es uns, die vergänglichen Phänomene der äußeren Welt einzuverleiben und sie derart der Vergessenheit zu entreißen. Etwas Ähnliches wäre auch über Geschichte zu sagen.« (Kracauer 1973: 219) »Das eigentümliche Material dieser Bereiche entzieht sich dem Zugriff systematischen Denkens und ist auch nicht zu einem Kunstwerk zu formen.« (Kracauer 1973: 218) Vgl. hierzu auch das im Rahmen des Erlanger Graduiertenkollegs entstehende PostDoc-Projekt von Christoph Ernst über Flussers Emigrationsessayistik.

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Kracauers Geschichte – Vor den letzten Dingen

den Aporien eines ortlosen Sprechens, dürfte evident sein. Auch dieses Narrativ schreibt selbstredend jene Binarismen fort, die zu überwinden sie vorgibt, etwa in Gestalt des Schismas von Nomadismus und Ortsgebundenheit. Die Faszination, die von solchen, hier am Beispiel Kracauers noch einmal durchgespielten Figurationen der Bodenlosigkeit ausgeht, ist das Moment des Entzugs, des fortwährenden Transits durch Räume und Zeiten als Einlösung jenes Versprechens eines (temporären) Orts des Sprechens jenseits der Differenzen. Albrecht Koschorkes Vorstoß folgend, gälte es also auch hier, einer naiven Ontologisierung dieser Denkfigur zu widerstehen, sondern sie ihrerseits als reines Narrativ wahrzunehmen und zu lesen. Die Rückgebundenheit dieser rekurrierenden Rede vom (temporären) exterritorialen Sprechen an das große Narrativ der Globalisierung zu untersuchen, dürfte so reizvoll wie lohnend sein – und womöglich ein genuin kulturhermeneutisches Projekt darstellen.

Literatur Adorno, Theodor W. (1965): »Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer«. In: ders., Noten zur Literatur III, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 83109. Ernst, Christoph (2005): Essayistische Medienreflexion. Die Idee des Essayismus und die Frage nach den Medien, Bielefeld: Transcript. Flusser, Vilèm (1999): Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie, Frankfurt/M.: Fischer. Gebhardt, Winfried/Hitzler, Ronald (Hg.) (2006): Nomaden, Flaneure, Vagabunden. Wissensformen und Denkstile der Gegenwart, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Koch, Gertrud (1996): Kracauer zur Einführung, Hamburg: Junius. Kracauer, Siegfried (1971a): »Soziologie als Wissenschaft«. In: ders., Schriften, Bd. 1, hg. v. Karsten Witte, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Kracauer, Siegfried (1971b): Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Kracauer, Siegfried (1973): Geschichte – Vor den letzten Dingen, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Kracauer, Siegfried (1977): Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Kracauer, Siegfried (1979): Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Kracauer, Siegfried (1985): Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Kracauer, Siegfried (1993): Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Volk, Andreas (Hg.) (1996): Siegfried Kracauer. Zum Werk des Romanciers, Feuilletonisten, Architekten, Filmwissenschaftlers und Soziologen, Zürich: Seismo.

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»Writing Culture« – in einem Aufsatzwettbewerb deutsch-argentinischer Schulen CRISTIAN ALVARADO LEYTON

Die in den 1980er Jahren begonnene Debatte über Writing Culture fordert die Ethnologie in ihrem Selbstverständnis als auf Feldforschung beruhender Verhaltenswissenschaft radikal heraus. Ihre Herausforderung bleibt aber nicht auf die Ethnologie beschränkt, adressiert sie doch grundsätzliche, für viele Disziplinen relevante Probleme der Repräsentation von Kulturdifferenzen und Machtverhältnissen (vgl. Lackner/Werner 1999). Writing Culture führt dabei jene kritische Selbstreflexion fort, die im Kontext von Dekolonialisierung und revolutionären Unruhen in der »Dritten Welt«, dem traditionellen Arbeitsgebiet der Ethnologie, Ende der 1960er Jahre angestoßen wurde, ebenso wie die postkolonialen Kritiken seitens ehemaliger Forschungsobjekte, die nunmehr selbst als ForscherInnen an der ethnologischen Arbeit teilnehmen (Hymes 1969; Asad 1973; Huizer/Mannheim 1979; vgl. Schupp 1997). Die kritische Untersuchung des ethnographischen Kulturschreibens hat herausgearbeitet, dass die auf Feldforschung beruhenden Ethnographien subjektiv-selbstbezügliche Textprodukte sind, die in bestimmten Machtverhältnissen gestaltet werden, während sie in der Formgebung westlichen literarischen Konventionen und Topoi folgen, es sich also um kulturelle Artefakte handelt (s. insbes. Marcus/Cushman 1982; Clifford/Marcus 1986; Marcus/ Fischer 1986). Es zeigte sich ferner, dass die Repräsentation kultureller Differenzen nicht nur mit bestimmten kulturtheoretischen Perspektiven und epistemologischen Standpunkten verknüpft ist, sondern strukturell bestimmte gesellschaftliche Machtverhältnisse reflektiert, in denen Feldforschungen und die anschließende Verschriftlichung der Felddaten stattfinden. Die nach 1910, mit dem Paradigma der Feldforschung einsetzende »moderne« Wende hatte Schreibformen etabliert, die bis in die 1960er Jahre nahezu ungebrochen tradiert wurden. Sie kamen einem Formzwang gleich, so dass sich Ethnographien – monographische Verarbeitungen von Felderfahrungen – dieser Zeit erstaunlich ähneln, obwohl die »moderne« ethnologische Praxis von Gegenstand, Methode und Fragestellung her hochgradig unterschiedlich ist. Insofern thematisiert die v. a. von anglophonen EthnologInnen geführte WritingCulture-Debatte den westlichen kulturellen Hintergrund ethnologischer Arbeit sowie die Machtgebundenheit wissenschaftlicher Praxis, was insbesondere das traditionelle positivistische Selbstverständnis der Disziplin verunsichert und die Frage nach neuen Schreibformen aufwirft. Die Writing-Culture-Debatte verfolge ich hier in einem Aufsatzwettbewerb deutsch-argentinischer Schulen zum Thema Deutsche sehen Argentinier 243

Cristian Alvarado Leyton

– Argentinier sehen Deutsche. Wie zu sehen sein wird, finden sich die zentralen Punkte der Writing-Culture-Debatte in diesen Aufsätzen wieder, was dem Aufsatzthema geschuldet ist, da die SchülerInnen ausgehend von eigenen Erfahrungen über Kulturdifferenzen schreiben sollten. Ich gehe dabei der Frage nach, wie die an dem Wettbewerb teilnehmenden Jugendlichen »Kultur« repräsentieren, wie sie sich im Umgang mit Fremdem und Eigenem positionieren und ob sich in ihren Antworten Hinweise darauf finden lassen, wie neue Schreibformen der Differenzrepräsentation aussehen könnten. Dafür diskutiere ich zunächst den Kontext des im Juni 2007 stattgefundenen Aufsatzwettbewerbs und wende mich dann den Repräsentationen von Kulturdifferenzen und Machtverhältnissen in diesen Aufsätzen zu, um mit einem Blick auf mögliche Konsequenzen aus den Reflexionen über das Kulturschreiben zu schließen. Im Rahmen meiner Anfang 2008 begonnenen Feldforschung über die Bedeutung deutscher Identität und des Weißseins für Nachfahren deutschsprachiger ImmigrantInnen in Buenos Aires habe ich diese Aufsätze in Kopie vom dortigen Deutschen Klub, der den seit 1980 stattfindenden nationalen Aufsatzwettbewerb veranstaltet, erhalten können.1 Mir liegen 77 Aufsätze vor sowie das zweiseitige Rundschreiben an die jeweiligen Schulleitungen, die E-Mail mit den Gewinnerinnen – 2007 belegten nur Schülerinnen die aufgeführten fünf Plätze – und eine zweiseitige Auflistung der Aufsatzthemen von 1980 bis 2007, betitelt mit »Preisausschreiben deutscher Schulen«.2

I. Die Aufsätze im Kontext Seit 1980 veranstaltet der 1855 von deutschsprachigen Einwanderern in Buenos Aires gegründete Deutsche Klub jährlich einen nationalen Aufsatzwettbewerb unter den zumeist privaten deutsch-argentinischen Schulen (s. Lege 2007: Kap. 2.2; Club Alemán en Buenos Aires 2005), der im Juni, mitten im argentinischen Schuljahr stattfindet. In diesem Wettbewerb verfassen SchülerInnen des vorletzten Jahrganges der Secundaria (vgl. RS: 1), der dreijährigen argentinischen Oberstufe, Aufsätze zu einem vom Klub gestellten Thema. Meist sind die SchülerInnen in dieser Klasse 16 oder 17 Jahre alt. Jedes Jahr wird ein neues Thema gestellt, das den jeweiligen SchulleiterInnen am Vortag des Wettbewerbs übermittelt wird (vgl. RS). Die SchülerInnen haben dann bis zu 4 x 40 Minuten Zeit, über das vorgegebene Thema zu schreiben. Anschließend wählen die LehrerInnen und SchulleiterInnen aus den Aufsätzen die ihrer Meinung nach besten aus und senden sie über die

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Ich danke José Antonio Mastrangelo, dem Geschäftsführer des Deutschen Klubs, ebenso wie Thomas Leonhardt, dem ehemaligen Klubpräsident, für ihre großzügige Unterstützung. Laura Glauser und Maria Büchner danke ich für hilfreiche Diskussionen und kritische Hinweise. Die Aufsätze zitiere ich nach den Nummern, die ich dem Aufsatzkorpus ausgehend von den aufsteigenden Originalnummern von 2 bis 953 durchgängig verliehen habe, also von 1 bis 77. Das Rundschreiben zitiere ich mit RS, die E-Mail mit E und die Themenliste mit dem Datum 22.11.2005 – die Themen von 2006 und 2007 wurden handschriftlich eingetragen – mit TL.

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Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schulen in Argentinien an den Deutschen Klub in Buenos Aires, wobei dieser für den Wettbewerb 2007 um eine Begrenzung auf fünf Aufsätze pro Schule gebeten hatte. Über die fünf GewinnerInnen des Wettbewerbs entscheidet eine Jury, die sich 2007 aus sechs Personen inklusive zweier hoher Funktionsträger des Deutschen Klubs zusammensetzte (E). Die Preisverleihung – der 1. Preis besteht aus einem von der Lufthansa gestifteten Freiflug nach Deutschland – sollte schließlich in der Deutschen Botschaft in Buenos Aires erfolgen. Der Aufsatzwettbewerb 2007, von der Themenkonzeption bis zur Preisverleihung, erstreckte sich damit über ein halbes Jahr.3 Das Rundschreiben der vom Deutschen Klub mit der Umsetzung beauftragten Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schulen in Argentinien enthält Angaben zum konkreten Ablauf des Wettbewerbs. Ausgeschlossen von dem Wettbewerb sind SchülerInnen, »die in Deutschland ansässig sind und sich nur auf Zeit in Argentinien befinden«, es sei denn, diese hätten die ganze Oberstufe in Argentinien absolviert, ohne sich zeitweise in Deutschland aufgehalten zu haben, auch nicht im Urlaub (RS: 1). Diese Restriktion sichert, dass es sich bei den Teilnehmenden v. a. um argentinische SchülerInnen handelt, die in der Mehrzahl einen deutschen Migrationshintergrund haben (vgl. Lege 2007: Kap. 2.2). Des Weiteren wird in dem Rundschreiben darum gebeten, die Aufsätze unkorrigiert und anonym an den Deutschen Klub weiterzuleiten, wobei die Namen der SchülerInnen mit korrespondierenden Aufsatznummern in einem zweiten Umschlag separat beigefügt werden sollen (RS: 1f.). Die mir vorliegenden Aufsätze sind daher nur mit Nummern versehen. Die Texte variieren stark in Aufbau, Inhalt und Umfang. Die meisten Aufsätze führen den Haupttitel »Argentinier sehen Deutsche – Deutsche sehen Argentinier«, häufig auch den Untertitel »Klischees und der Versuch einer Annäherung an die Realität« auf. Beide Titel bilden das offizielle Thema des Wettbewerbs, wie es in der Auflistung der seit 1980 gesetzten Themen ersichtlich wird (TL: 2). Bei einigen Aufsätzen findet sich noch ein weiterer, meist in Klammern gesetzter dritter Titel: »(Unter anderem auch anhand der Erfahrungen an einer Begegnungsschule und, soweit erfolgt, anlässlich eines Schüleraustausches)«. Als viertes wichtiges textleitendes Element findet sich in einer »Kohorte« (s. u.), wie in dem Rundschreiben an die Schulleitungen auch, das Logo der 2007 stattgefundenen 150-Jahrfeier der Unterzeichnung eines Handels- und Freundschaftsvertrages zwischen Preußen, im Logo mit der bundesdeutschen Fahne repräsentiert, und Argentinien. Dieses Jubiläum zog viele öffentliche, weithin wahrnehmbare Aktivitäten insbesondere in Buenos Aires, einziges Machtzentrum des Landes, nach sich.4 Die drei Titel und das Logo bilden wichtige inhaltliche Vorgaben für das Schreiben der Aufsätze. 3

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Das Informations-Rundschreiben datiert vom 7. Mai 2007, das Schreiben der Aufsätze erfolgte am 7. Juni (RS). Die E-Mail mit der Liste der Gewinnerinnen ist vom 2. November und nennt als Datum der Preisverleihung in der Deutschen Botschaft in Buenos Aires den 10. November 2007 (E). So wurde eines der wichtigsten Symbole von Buenos Aires, der 67 m hohe Obelisk auf der 20spurigen Hauptstraße Avenida 9 de Julio im Stadtzentrum, drei Tage lang in eine deutsch-argentinische Mischfahne gekleidet (s. das Titelbild von Lege 2007). Für einen Überblick der vielfältigen Aktivitäten s. http://www.buenos-aires.diplo.

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Von den 77 handschriftlich verfassten Aufsätzen liegen mir bis auf einen, bei dem die letzte Seite fehlt (58), alle vollständig vor. Die den Aufsätzen zugewiesenen, nicht immer lesbaren Zahlen beginnen bei 02 und enden bei 953. Angesichts der erwähnten Bitte, pro Schule nur »rund 5 Arbeiten« (RS: 1) einzureichen, könnten die Aufsätze in 15 »Kohorten« gebündelt werden, was 15 Schulen entspräche.5 Hier gilt es zu bedenken, dass es sich bei den teilnehmenden Schulen um sehr verschiedenartige Institutionen handelt, weil sie sich vom sozialen Status der jeweiligen Schülerschaften wie von der materiellen und personellen Ausstattung her stark unterscheiden. Auch die Form der Aufsätze ist sehr unterschiedlich: Mal sind sie auf Zetteln aus Schreibblöcken, mal sind sie auf formalisierten Vorlagen geschrieben worden, die unseren Abiturprüfungsvorlagen ähneln. Eine Kohorte führt im Kopf zudem das Logo der 150-Jahrfeier, mehrere führen den Titel »Aufsatzwettbewerb des Deutschen Clubs [sic] Buenos Aires am 07. Juni 2007« auf. Die formalisierten Schreibvorlagen, v. a. wenn sie durch das Logo ergänzt werden, verstärken die Bedeutung dieses Aufsatzwettbewerbs – er ist »offiziell«. Der absolute Seitenumfang bewegt sich zwischen einer und sechs Seiten (67; 3); der Wortumfang der Aufsätze liegt zwischen 215 und 930 Wörtern (22; 3). Insofern handelt es sich bei dem Sample von 77 Aufsätzen mit geschätzten 500 Wörtern im Durchschnitt um ein relativ großes Textkorpus.6 Wie schildern nun die SchülerInnen ihre eigenen Erfahrungen mit kultureller Differenz, wenn sie über Argentinier und Deutsche schreiben?

II. Kulturen repräsentieren Um die Darstellungsweisen der einzelnen Aufsätze exemplarisch zu diskutieren, sie abstrahierend gleichsam zu verorten, lassen sich zwei überkreuzende »Denkachsen« etablieren, auf denen sich die Rede über Kulturdifferenzen bewegen kann: intrakulturelle Homogenität/Heterogenität (I / II) und interkulturelle Identität/Differenz (III / IV), wobei letztere Achse erstere auf einer höheren Abstraktionsebene abbildet. Eine solche Vorgehensweise mag einer diskursanalytischen Kartographie ähneln, wie sie Koschorke in diesem Band betreibt, doch die folgende ethnographische Verortung der Aufsätze auf diesen Denkachsen erteilt dem diskursanalytischen Objektivismus eines nicht in

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de/Vertretung/buenosaires/de/06/R_C3_BCckblick__150__Jahre__Seite.html (24.08. 2009). Die Bedeutung dieses Jubiläums zeigt sich auch an der über 200 Seiten starken Hochglanzpublikation zum Jubiläum – mit Grußwort des seinerzeitigen deutschen Außenministers F.-W. Steinmeier –, die die Deutsche Botschaft in Buenos Aires im Eigenverlag herausgegeben hat (Cannilla 2007). »Kohorten« würden sich dann in 50er-Zahlenabschnitte gliedern; eine beginnt z. B. bei 256 und endet bei 279, eine andere beginnt bei 800 und endet mit 802. Die kleinste Kohorte würde dann drei Aufsätze umfassen, die größte acht. Von den 20 möglichen (bei der höchsten Zahl 953), käme ich auf 15; so liegen mir etwa keine Aufsätze vor, die mit 600 beginnen oder deren Nummerierung zwischen 550 und 600 liegt. Zum Vergleich: Tang (2003: 49) arbeitet in seiner fehlerlinguistischen Dissertation mit einem Sample von 33 Aufsätzen, die durchschnittlich 179 Wörter umfassen.

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die Forschung involvierten Forschenden, dem »Ideal der totalen Atopie« (zit. n. Favret-Saada 1979: 38, Fn. 2), eine Absage. Eine Kartographie setzt schließlich eine Perspektive voraus: Die AutorInnen nehmen häufig widerstreitende Positionen ein, d. h. sie setzen eine Differenz und heben sie, wie zu sehen sein wird, an anderen Textstellen auf, so dass die Ortszuweisung ihrer Kulturrepräsentationen subjektive Auslegungssache ist. Potentiell kann bei den interkulturellen Gegensätzen eine absolute Differenzsetzung mit Hierarchisierung erfolgen, was heute als »othering« beschrieben wird. Hier sind die als kulturell different wahrgenommenen Menschen radikal anders, sie sind das Andere schlechthin und schnell als dem kulturellen Selbst unter- oder überlegen wahrgenommen. Auf der anderen Seite kann interkulturelle Differenz aufgehoben werden, wenn das Andere in einer akulturellen menschlichen Gleichheit und sozialen »In-Differenz« verschwindet.7 Die zweite, intrakulturelle Achse konstituiert sich mit den Polen der Homogenität – wenn Menschen einer Kultur als gleich gedacht werden – und der Heterogenität, wenn Angehörige einer Kultur als sehr unterschiedlich wahrgenommen werden. Keiner der Aufsätze sieht von der Darstellung interkultureller Differenzen ab. Wenn die SchülerInnen z. B. eine interkulturelle Gleichheit repräsentieren, »brechen« sie diese, weil sie zugleich Differenzen zwischen Deutschen und ArgentinierInnen darstellen.8 Die Aufsätze gehen daher nur von zwei der vier möglichen Aussagen aus, und zwar 33 Aufsätze von der Kombination Homogenität und Differenz (I+IV), 44 Aufsätze von der Kombination Heterogenität und Differenz (II+IV). Nimmt man die Brechungen hinzu, ergeben sich im Ganzen fünf Gruppen.9 Wie erfolgt nun konkret die eigene Positionierung der AutorInnen mittels der ethnographisch repräsentierten kulturellen Identitäten und Unterschiede?10 Ich beginne mit der Kombination von interkultureller Differenz: »Argentinier und Deutsche sind verschieden« (IV) und intrakultureller Homogenität: »Argentinier und Deutsche sind jeweils gleich« (I). Diese Kombination macht, wie erwähnt, die zweitgrößte Gruppe aus, nämlich 33 der 77 Aufsätze. Von diesen 33 Aufsätzen sind 23 »konsequent«, heben also Differenz und Homogenität im Text nicht wieder auf, während die verbleibenden zehn Aufsätze eine der beiden Aussagen brechen. In einem Aufsatz mit »konsequenter« Schilderung sind die Unterschiede zentrales Motiv, das gleich zu Beginn eingeführt wird: »Weltweit gibt es Un7

Vgl. Todorov (1985: 80): »Das Postulat der Differenz zieht leicht das Gefühl der Überlegenheit, das Postulat der Gleichheit das Gefühl der In-Differenz nach sich«. 8 Wenn solche Brechungen erfolgen, bin ich zwecks Verortung nach den Schwerpunkten gegangen, die die AutorInnen in ihren Aufsätzen m. E. qualitativ, von der These her, setzen. 9 Diese fünf Gruppen setzen sich aus zwei »ungebrochenen« Gruppen mit 23 bzw. 20 Aufsätzen – I+IV bzw. II+IV – zusammen sowie drei weiteren, »gebrochenen« Gruppen mit 24 Aufsätzen in der Kombination II+IV(+III), acht Aufsätzen mit I+IV(+III) und zwei Aufsätzen mit I+IV(+II). 10 In meiner Diskussion der Aufsätze übernehme ich die jeweilige Terminologie, so dass ich etwa bei gender nicht differenziere, weil es fast alle AutorInnen unterlassen, und spreche daher nur von »Argentiniern«. Sofern es im Aufsatz unklar bleibt, ob es sich um eine Autorin oder einen Autor handelt – weil etwa das eigene Geschlecht nicht genannt und es auch indirekt nicht erschließbar wird –, rede ich von AutorIn.

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terschieden der Gesellschaft, Kulturen, Gewohnheiten, usw.« (34: 1).11 Anschließend spricht der/die AutorIn über Klischees und die Bedeutung, andere Länder selbst kennenzulernen, um dann quasi in einen Ausblick darauf zu münden, »die Klischees zerstören [zu können], die wir vielleicht haben« (ebd.: 2), da die Klasse des/r Schreibenden bald nach Deutschland fahre. Doch schon vorher habe eine Klassenkameradin aus Deutschland geholfen, sich der deutschen Realität anzunähern – eine der Aufgabenstellung entnommene, auch in den anderen Aufsätzen wiederkehrende Formulierung –, »denn sie erzählt wir wie Deutschland ist. Natürlich weiß sie alles darüber. Deshalb können wir auf sie vertrauen, wenn sie uns Deutschland mit Worten beschreibt« (ebd.). Dies verweist auf ein homogenes Bild von »Deutschland« der/s VerfasserIn, da die deutsche Informantin alles darüber wüsste, wie Deutschland ist, also vom Perspektivismus und der damit verbundenen partikularen bzw. positionierten Wahrnehmung absieht. Diese Schülerin ist der Referenzpunkt für den/die AutorIn, um nun kulturelle Unterschiede zwischen deutscher und argentinischer Gesellschaft aufzuzählen, wobei vorweggenommen wird, dass deren scheinbar klischeehafte Qualität der Realität entsprechen würde, denn diese Schülerin »hat uns gezeigt, dass viele den Unterschieden an die wir geglaubt haben, waren wirklich« (ebd.: 3). In die folgende Auflistung der diskutierten Unterschiede zwischen Argentiniern und Deutschen werden die Themen »Zärtlichkeit [i. e. Begrüßungsformen]«, »Familie«, »Essen« aufgenommen, wobei »wir«, »uns« und »die Argentinier« bzw. »sie« und »die Deutsche« synonym verwendet werden (ebd.). So wird beim Differenzmarker »Zärtlichkeit« erwähnt, dass sich Argentinier »viel mehr« küssen »als sie« – ein vielfach genanntes Differenzkriterium, weil sich auch Männer zur Begrüßung küssen – und beim Treffen mit Freunden »umarmen wir uns immer« (ebd.). Das homogenisierend-generalisierende Verständnis von Kulturunterschieden verdeutlicht sich in diesem Aufsatz gut beim Thema des Essens, weil die/der AutorIn jeweils »typische« Speisen und sehr unterschiedliche Essenszeiten darstellt. Beendet wird der Aufsatz mit der Feststellung, »dass die Unterschiede zwischen die Länder ganz positiv sind, denn sie machen das Welt interessant« (ebd.: 4). Unterschiede zwischen Nationalkulturen sind gesetzt und werden naturalisiert – sie sind »da«. Dies geht konform mit der vorher gemachten Aussage, dass die deutsche Austauschschülerin »natürlich« alles über ihr Land weiß, was die primordialistische, essentialisierende Sichtweise des/r VerfasserIn anzeigt. Die Differenzrede – ob homogenisierende oder heterogenisierende – der SchülerInnen wird häufig mit dem Verweis auf Machtunterschiede untermauert, etwa wenn Deutschland und Argentinien in ein repräsentatives Verhältnis von »Erster Welt« und »Dritter Welt« gebracht werden. In einem Aufsatz erfolgt die Feststellung radikaler interkultureller Differenz wieder zu Beginn,12 wobei die Stereotypen über beide Nationen dieser Differenz ent11 Aus den Aufsätzen zitiere ich wörtlich, ohne sic. Außerdem zitiere ich ohne Änderung der Deklination, Konjugation usw., auch um den jeweiligen Duktus zu vermitteln. Zur Problematik der linguistischen Bestimmung von »richtig« und »falsch« s. Tang (2003: 21f., 26-31). 12 »Deutschland und Argentinien sind ganz verschiede Welten. Deutschland ist ganz anders als Argentinien. Das ist wie schwarz und weiß.« (72: 1)

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springen würden (72: 1). Insbesondere in der Aufzählung der kulturellen Unterschiede von Deutschen und Argentiniern, exemplifiziert an den Themen »Umgang miteinander« und »körperliche Sauberkeit«13, kommt dann die homogenisierende Rede zum Zuge. An diesem Aufsatz ist interessant, dass die intrakulturelle Homogenität für Argentinien fast gebrochen wird, als das deutsche Klischee über Argentinier – »dass wir Indianer sind« (ebd.) – diskutiert wird. Hiervon rückt der/die AutorIn entrüstet ab, denn »das ist ganz anders« und verweist gleich auf dessen Entstehungsgrund: »sie [die Deutschen] denken das, weil früher als die Argentinier kolonisiert wurden, lebten viele Indianer im Land« (ebd.). Hier wird ein innerer Anderer, der die intrakulturelle Homogenität aufheben würde, mit »früher« und »lebten« in die koloniale Vergangenheit projiziert und für die Gegenwart erneut durch das »es ist ganz anders« ausgeblendet, sich selbst vergewissernd. Für die Aufrechterhaltung der Idee einer homogenen Kultur Argentiniens verwendet der/die AutorIn die klassische evolutionistische Technik, »das Andere« räumlich und zeitlich von einem »Selbst« zu distanzieren (Fabian 1983), wobei zugleich die soziale Funktion des Narrativs »Nationalkultur« in Lateinamerika deutlich wird: gegenwärtige indigene Gruppen zu negieren (vgl. Erdheim 1994). Bei zehn Aufsätzen dieser Gruppe mit ihrer Kombination von Differenz und Homogenität erfolgt aber auch eine Brechung, zumeist hin zum Achsenende »Deutsche und Argentinier sind gleich« (8x), weniger zu jener der intrakulturellen Heterogenität (2x). Aufschlussreich für diese Kulturrede der SchülerInnen ist der Aufsatz eines 16jährigen Mädchens, das in Süddeutschland geboren sei und seit elf Jahren in Argentinien lebe (49: 1). Obwohl sie mit einem selbstreferentiellen Verweis auf intrakulturelle Heterogenität beginnt, die ihr Deutschsein in den Augen der argentinischen Anderen aufheben würde,14 etabliert sie im Anschluß dennoch die jeweilige intrakulturelle Homogenität mit einer generalisierenden Kollektivrede über »die Deutschen« und »die Argentinier«. Beim Erzählen positioniert sie sich kontinuierlich als Deutsche, auch in der wiedergegebenen Fremdwahrnehmung, etwa wenn sie die einheimischen Reaktionen auf die Niederlage der argentinischen gegen die deutsche Nationalmannschaft in der Fußball-WM 2006 thematisiert, denn da »hassten mich alle Argentinier« (ebd.: 2). Die Unterschiede reiht sie auf an den Themen des gesellschaftlichen wie individuellen Reichtums und der sozialen Eigenschaften. Sie beendet den Aufsatz mit der unentschiedenen Frage, wer die besseren Menschen seien, »wenn ich zwischen den Deutschen und Argentinier aussuchen müßten« (ebd.: 4). Diese Schlussfrage konstruiert homogene und differente Gruppen, »zwischen« denen es sich zu entscheiden gälte, so dass ihre eingangs festgestellte, am eigenen Subjekt festgemachte Heterogenität auf der physischen Ebene stehen bleibt und dazu nur für die deutsche Kultur thematisiert wird, während sie Verhaltensweisen kulturell 13 Die Idee, Deutsche seien »nicht ganz sauber« (72: 1), weil sie – anders als die Argentinier – nicht jeden Tag duschen würden, ist auch in anderen Aufsätzen ein wichtiges interkulturelles Differenzzeichen (s. etwa 42; 62; 69; 75). 14 »Die Leute hier glauben oft nicht, dass ich eine Deutsche bin, weil die Argentinier glauben, dass die Deutsche normalerweise blonde Haare und blaue oder grüne Augen haben. Ich weiß, dass die Nortdeutschen oft blonde Haare und helle Augen haben, aber die Süddeutschen haben dunkle Haare und dunkle Augen. Ich selber habe dunkle Haare und helbraune Augen.« (49: 1f.)

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homogenisiert. Die dargestellte interkulturelle Differenz bleibt ungebrochen, während die intrakulturelle Homogenität nur für eine der Kulturen, und auch nur in einem Aspekt gebrochen wird. Dass Deutsche und Argentinier anders sind (IV), sie sich aber jeweils »kulturimmanent« betrachtet nicht gleichen (II), macht als ethnographische Aussage die Mehrzahl der Aufsätze, 44 von 77, aus. Für diese Kombination von intrakultureller Heterogenität und interkultureller Differenz sind vor allem die Klassendifferenzen zentral, um eine intrakulturelle Homogenität zu brechen: »Klar alle Deutsche sind nicht gleich, und auch nicht alle Argentinier. Es ist sehr verschieden, wenn man eine arme Person sieht oder wenn man die Deutsche Welle ankuckt und sieht ein armes Städtchen von Buenos Aires, als man mit einer Person, die Arbeit und eine gute Wirtschaft hat, spricht. Der Abschluss, dass man haben könnte ist nicht der selbe.« (53: 2)

Die für die heterogenisierende Kulturrede hier explizit angezeigte Bedeutung der Frage »Wer spricht?« (s. Heinrichs 1992) verstärkt die Autorin rhetorisch, wenn sie eines der meistgenannten interkulturellen Differenzzeichen, das physische Aussehen, beidseitig bricht, da es auch Deutsche gebe, die nicht blond und blauäugig seien, »die mehr wie uns sind: mit dunkle Haut, Augen und Haaren« (53: 1). Anschließend verweist sie auf sich selbst, um die rhetorische Frage, ob »Argentinier nur dunkle Haut?« haben, zu verneinen, indem sie schreibt, »es gibt viele wie ich mit blonden Haaren, grünen Augen und weißer Haut« (ebd.). Überhaupt wird in dieser Kulturrede verstärkt auf die individuellen Subjektpositionen des Sprechens verwiesen, die es einer Autorin zufolge unmöglich machen, überhaupt zu generalisieren: »Die Bevölkerung musste nicht im allgemeinen geprüft werden, denn jede Person ist ganz anders als die Anderen. So, man müsste nie sagen ›Die Deutsche / Argentinier sind…‹ sondern über diese bestimmte Situation sprechen« (36: 2; s. a. 48: 2) – ein Standpunkt, den sie auf der interkulturellen Ebene nicht »konsequent« besetzt, denn hier schreibt sie etwa davon, dass der Alltag von Deutschen und Argentiniern »ganz anders« (36: 3) sei. Während sie intrakulturelle »Bevölkerunggewöhnlichkeiten« eigentlich aufhebt, weil die subjektdifferenten Handlungen ihre Generalisierung absurd erscheinen lassen, setzt sie diese interkulturell wieder ein.15 Eine interessante Variante dieser Konstellation bringt ein/e AutorIn, indem sie/er auf die Kulturveränderungen durch Einwanderung verweist, weil die Einwanderung von »Fremden« die ehemals »typische Kultur« (8: 2) heterogenisiert habe. So waren dem/r VerfasserIn zufolge »Deutsche vorher so 15 »Irgendwohin man fährt, findet man natürlich ganz fremde Kulturen, Bevölkerunggewöhnlichkeiten und andere Essen« (36: 1). Adorno, sich von Theorie in die Empirie wagend, hat diese durch hochdifferente, hier: heterogene Daten ausgelöste Schwierigkeit der Verallgemeinerung, also »daß bei qualitativ reichen Auswertungsinstrumenten die für jede einzelne Kategorie sich ergebenden Zahlen so gering werden, daß ihnen einstweilen kaum Relevanz zugesprochen werden kann« (1975: 140), pragmatisch gelöst, indem er es bei ihrer Trennung unaufgelöst beließ (s. ebd.: 133f., 140).

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[…], wie es das Klischee sie zeigt, aber Heutzutage wurde diese typische Kultur von den Einwanderer verändert« (ebd.). In dem Aufsatz wird diese These durch häufige Passivsetzungen verstärkt – etwa wenn die/der VerfasserIn schreibt, dass »beide Kulturen […] sehr stark verändert wurden« (ebd.) –, was den Wandel der jeweiligen Kultur durch fremde, von außen kommende Menschen anzeigt, also keine aktive, immanente Differenzierung denkt. Nun lässt die von ImmigrantInnen bewirkte kulturelle Heterogenisierung die Idee einheitlicher, »typischer Kultur« hinfällig werden. Das »Typische« bleibt demnach zwar erhalten, steht aber nur noch neben den Nicht-Typischen, den mit »fremden« Menschen eingewanderten Kulturelementen wie z. B. Institutionen, Firmen, Personen oder Nahrungsmittel.16 Insofern ist es für diese Rede wichtig, eine quasi holistische Perspektive aufzugeben, die eine Kultur als geschlossenes Ganzes wahrnimmt, und stattdessen einzelne Kulturelemente zu fokussieren, die Kollektive durchkreuzen, eine Denkbewegung, die in der Ethnologie im Diffusionismus ausgearbeitet wurde. Die Relativierung der Bedeutung interkultureller Differenzen durch Inkorporation – wenn also, wie in diesem Aufsatz, der Import von Kulturelementen die interkulturellen Differenzen relativiert – führt diese Kulturrede in das Feld der Kulturrede über Identität und Gleichheit. Doch bevor ich den paradoxen differenznivellierenden Effekt der Darstellung intrakultureller Heterogenität diskutiere, gehe ich zunächst darauf ein, wie sich eine ebenfalls scheinbar widersprüchliche Rede über interkulturelle Gleichheit bei gleichzeitigem Festhalten an intrakultureller Homogenität gestaltet. Diese Schnittmenge hat mit acht Aufsätzen einen geringen Anteil am Sample, wobei von diesen keiner »konsequent« ist, alle acht die InDifferenz von Deutschen und Argentiniern brechen, indem sie die jeweils homogen gefassten Unterschiede in das Zentrum ihrer Kulturrede stellen, während interkulturelle Gleichheit eher beiläufig dargestellt wird. Die AutorInnen kitten die Brechung insofern nie in Richtung Identität, sondern immer in Richtung Differenz, auf der in allen acht Aufsätzen der ethnographische Schwerpunkt liegt. So wird in einem Aufsatz die interkulturelle Differenz punktuell aufgehoben, während die Homogenität erhalten bleibt und als Folge unterschiedlicher Sozialisation erklärt wird: »Ich bin der Meinung, dass wir verschiedene Kultur und Denkweise haben, aber […] when du ein Deutsches Kind kennt, merkst du, dass er ein normale Junge ist, dass er mag Sport und Musik wie dir, dass Deutsche sind wie Argentinier, aber mit ein andere Erziehung« (54: 3).

Hier zeigt sich, wie die repräsentierte Kulturdifferenz jeweils homogen gefasster Kollektive ihren Gegenpart der In-Differenz rahmt, ihren gegenläufigen Eigensinn praktisch festhält. Angesichts der geringen Menge an Aufsät16 »Heutzutage gibt es in Argentinien überall deutsche Elemente, wie zum Beispiel Schulen, Ausbildungsplätze, Firmen und typische Essen. Ich besuche zum Beispiel die Schule Instituto Ballester [in Buenos Aires], wo es auch einige deutsche Lehrer gibt […] Man sieht hier deutsche Firmen wie Bayer, Volkswagen, BASF und Mercedes Benz und man isst manchmal deutsche Würste von der Metzgerei. Heutzutage kann man deshalb auch hier sehen, dass die deutsche Kultur nicht so ist, wie sie durch Klischees gezeigt wird.« (8: 3)

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zen, in denen Kulturdifferenzen zwischen Deutschen und Argentiniern relativiert werden, wenn der Beobachtungsperspektive zugleich ein homogenes Gesellschaftsbild zugrunde liegt, scheint interkulturelle In-Differenz in dieser Kombination wesentlich schwieriger denk- und darstellbar zu sein. Dagegen erleichtert es die Wahrnehmungsprämisse intrakultureller Heterogenität den AutorInnen, Deutsche und Argentinier auch als in-different zu zeichnen, sie auf der scheinbar akulturellen Ebene des Menschen anzugleichen. In dieser Gruppe, die mit 24 Aufsätzen an erster Stelle der fünf Sample-Untergruppen steht, wird eine Ähnlichkeit von Deutschen und Argentiniern (III) dargestellt und zugleich intrakulturelle Heterogenität (II) sowie interkulturelle Differenz (IV) repräsentiert. Dabei erfolgt die Verknüpfung von Differenz und In-Differenz über die narrativ zentrale Stellung der sozialen Heterogenität beider Kollektive, die insbesondere anhand individueller Differenzen dargestellt wird und auf diese Weise Identifikationspunkte über die Kollektive hinweg etabliert. Daher wird auch bei diesen Aufsätzen nicht die Aussage getroffen, dass Deutsche und Argentinier kulturell gleich seien, es keine kulturellen Differenzen zwischen ihnen gebe; sie werden aber auf der Ebene des Menschseins, des Individuums und der Person aufgehoben. In einem dieser Aufsätze negiert die Autorin fortlaufend die jeweilige intrakulturelle Homogenität, indem sie widerstreitende Eigenarten und Verhaltensweisen von Individuen aufführt, mit dem Effekt der Relativierung interkultureller Differenzen. So beginnt sie mit dem Stereotyp, »dass die Deutschen sehr kalt sind«, wobei sie hier schon einschränkt, dass dieses nicht von allen, sondern nur von der »Mehrheit« der Argentinier geglaubt würde (45: 1). Anschließend verortet sie sich selbst, indem sie ihren eigenen, empirischen Befund mitteilt: »Ich habe ungefähr zehn Deutsche kennengelernt, und sie sind wie alle. Es gibt kalte, schüchterne, zärtliche, verrückte, ruhige und liebevolle Menschen« (ebd.). Darauf erzählt sie ihre Erfahrungen mit sehr unterschiedlichen Austauschschülerinnen aus Deutschland – die eine kalt und schüchtern, die andere, »Im Gegenteil«, sehr zärtlich (ebd.). Die dann erzählten Klischees über Argentinier werden mit einem »wir sind nicht so« negiert und die Begründung wieder mit »Im Gegenteil, wir sind wie alle Menschen« eingeleitet, wobei ein historischer Rekurs auf die Geschichte Argentiniens als Einwanderungsgesellschaft erfolgt, in der ihre relative Gleichheit mit der deutschen Kultur begründet liegt: »Die Argentinier haben eine Mischung von verschiedenen Kulturen. Gleichfalls, haben wir auch verschiedenen Sachen die unterscheiden uns von den anderen. Aber wir sind nicht wie eine sehr verschiedene Gesellschaft« (ebd.: 2). Die sozialen »Gewohnheiten« der Argentinier variieren dabei je nach Familie (ebd.). Hier wird also fortwährend die intrakulturelle Heterogenität betont: Mehrheiten, Familien, Individuen/Personen, Mischungen, wobei die Kollektiv-Differenz zwischen Deutschen und Argentiniern zwar nicht aufgehoben, aber mit der Etablierung des Pols Mensch/Person/Individuum ein gemeinsames Drittes gefunden wird, das ihre Gleichheit und In-Differenz anzuzeigen vermag, die Kulturdifferenz gleichsam subsumiert. Bestimmte individuelle Eigenarten ließen sich demnach in allen Kulturen finden, so dass sich Gesellschaften über Differenzen hinweg ähneln: in ihren Mitgliedern. Auch in dieser Gruppe sind die Machtdifferenzen für die Kulturrede wichtig, wobei sie anders als bei den AutorInnen mit homogenem Gesellschaftsbild nun auch quer durch die Gesellschaften verlaufen können. So geht 252

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ein/e AutorIn von Intradifferenzen wegen unterschiedlicher Kapitalbesitzverhältnisse aus17 und setzt Argentinier auf der interkulturellen Ebene mit Ostdeutschen gleich, da deren entscheidende intrakulturelle Differenz zu Westdeutschen – wie die interkulturelle zwischen diesen und Argentiniern – unterschiedlichem Reichtum geschuldet sei. Das geringere Kapital habe bei Argentiniern und Ostdeutschen dazu geführt, sich weniger Konsumgüter leisten zu können, so dass man sich gegenseitig mehr helfen musste, was mittelbar »eine nähere interpersonelle Komunikation« nach sich gezogen hätte (13: 2). Hier erfolgt eine Angleichung von intrakulturell heterogenen Argentiniern mit heterogenen Deutschen durch Identifikation mit einer deutschen Subgruppe. Ein weiterer Angleichungspunkt wird mit der Nennung der intrakulturellen Stadt-Land-Differenz etabliert, weil es in den Städten »mehr Globalisierung gibt«, weshalb »man [dort] viele Aspekten von der West finden [kann], die Musik, die Mode und allgemeinen viele Sachen, die Jugendlichen konsumieren«, so dass es »viele änliche Gewohnenheiten gibt« (ebd.: 1). Die lebensweltlichen Ähnlichkeiten in beiden Kollektiven werden von dem/r VerfasserIn weiter verstärkt, wenn sie/er darauf hinweist, dass es in beiden Nationen »das gleiche Problem gibt«, nämlich die Diskriminierung von Ausländern, wobei in Argentinien Migranten aus Paraguay, Bolivien und Peru, in Deutschland Migranten aus der Türkei und aus Lateinamerika diskriminiert würden (ebd.: 3). Die Nennung dieser Migrantengruppen multipliziert noch einmal die jeweiligen intrakulturellen Differenzen, wobei den Argentiniern erneut, im Ganzen also zweifach die Position des inneren Anderen zugewiesen wird. Argentinier werden erst als den Ostdeutschen ähnliche Menschen und dann als Ausländer in Deutschland geschildert, die als Einwanderer ihre heterogenen, den deutschen teilweise auch gleichenden Kulturformen mitbringen.18 In einem anderen Aufsatz aus dieser Gruppe beginnt eine Autorin ihre Kulturrede mit der milieutheoretischen Begründung von Kulturdifferenzen: »Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Leute von zwei verschiedenen Länder; das passiert immer. Die Situation, die ein Argentinier leben muss ist nicht das selbe von ein Deutschen, denn sie wachsen in zwei verschiedenen Umgebungen« (39: 1). Diese Kontextdifferenz führe zu dem »Problem« der »Diskrimination«, das »nicht leicht« zu lösen sei (ebd.). Die Autorin erzählt dann, wie sie den Vorurteilen über Deutsche, sie seien »sehr kalt und zuviel ordentlich«, aufgesessen ist und diese als unwahre erfahren hat, als sie »eine Gruppe von junge deutsche Mädchen« im Schülerinnenaustausch kennenlernte, denn »Ich war sehr überrascht, weil sie ganz so nett und sehr ähnlich als uns waren« (ebd.: 2).19 Am Ende des Aufsatzes wird diese Denkbewe-

17 »[O]ffensichtlich gibt es viele und verschiedenen Verhaltensformen. Es ist sehr schwierig, über eine Kultur zu schreiben, ohne eine Gruppe zu diskriminieren. Zum Beispiel, Argentinien ist ein sehr großes Land und hat verschiedenen soziale Klassen, die ihre eigene Kultur haben.« (13: 1) 18 Ein weiterer Autor dieser Gruppe spricht von Deutschland als »einer Kultur, die gleichzeitig unterschiedlich und ähnlich als unsere ist« (12: 5). 19 Die Autorin führt dieses stereotype Wissen auch auf die Massenmedien zurück, die »nur die schlechte Sachen« anderer Nationen zeigen würden und damit für einen »Mangel von Information« sorgen (39: 2, 1), einer mehrfach vorkommenden Denkfi-

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gung komprimiert dargestellt: »Zwei Personnen, die in den selben Land wohnen, sind so nicht gleich. Jeder Mensch hat seine eigene Meinungen, Ideologie, und Personalität. Vielleicht haben sie ahnliche Gewöhnheiten, aber sie sind Individuum und man musste niemand vorschnell beurteilen« (ebd.: 3). Sie schließt mit dem Hinweis, dass »Leute [meistens] Angst [haben] vor was sie nicht kennen, das, was verschieden ist«, doch sie plädiert dafür, diese »Unterschiede zwischen die Leute« »aus[zu]nutzen«, denn sie »machen das Leben interessant« (ebd.). Hier sind kulturelle Differenzen unaufhebbar, weil unterschiedliche Lebensumstände und -orte diese bedingen, doch weder nivellieren sie die individuellen Eigenschaften von Menschen als Teil eines Kollektivs noch heben sie die in der menschlichen Individualität paradox begründete Gleichheit, damit Ähnlichkeit von Menschen auf. Dass diese Ähnlichkeiten – die, folgte man der Autorin, ohne Angst erlebt werden könnten – kaum das Bild anderer, »fremder« Menschen bestimmen, begründet ein/e andere/r AutorIn damit, dass Verschiedenheiten an sich mehr diskutiert werden, wodurch es »so aus[sieht] als ob die beiden Bevölkerungen ganz anders sind« (4: 1), doch »Alle Menschen sind sich ähnlich in ihr Verhalten und Handeln im Leben«, trotz anderer Gewohnheiten, Traditionen u. a. (ebd.). Hier zeigt sich dann eine für kulturwissenschaftliche Analysen interessante Argumentation, die auf die Funktion des Generalisierens verweist, welche die homogenisierten Kulturdifferenzen erst ins Leben ruft: »Ich persönlich, könnte solche Sachen [das einem Klischee entsprechende Verhalten] nur sagen, wenn ich eine Person kennenlerne, aber nicht generalisieren« (ebd.: 2), denn Vorurteile sind »immer allgemein« und »auf Gruppen bezogen« (ebd.: 2, 3). Im Vergleich betrachtet, erfolgt die soziale Annäherung von Menschen aus verschiedenen Kulturen demnach leichter, wenn intrakulturelle Differenzen multipliziert werden. Die hierdurch eingesetzte strukturelle Ambivalenz der Aussage von gleichzeitiger Differenz und Identität kann dann nur ausgehalten werden, sozusagen als Gleichartigkeit des Ungleichartigen. Dies verdeutlicht sich gut in einem Aufsatz, dessen Autorin mit der Feststellung beginnt, dass Argentinien und Deutschland zwei »sehr verschiedene« Länder sind, worauf Unterschiede aufgezählt werden: geographische, historische, geologische, Kultur als solche wie auch Ernährung, Sprache und Politik (50: 1). Sie werden im folgenden Absatz mit der Aussage: »Ja, es geben sehr große Unterschiede« bestätigt, erneut mit »kulturell, politisch, wirtschaftlich, religiös, soziale und geschichtlich« unterdifferenziert, dann quasi selbstkritisch objektiviert20 und nach der Aufzählung von Klischees mit der Feststellung: »Deutscher und Argentinier sind entgegengesezte Polen« (ebd.: 2) zusammengefasst. Der Verfasserin zufolge lautet ein Vorurteil, dass Deutsche »ernst und organiziert sind« (ebd.: 2). Sie stellt dann die rhetorische Frage: »wie sollen sie lustig und symphatisch sein?« (ebd.), um nun die intrakulturelle Homogenität auf individueller Ebene zu brechen.

gur in der Erklärung von Vorurteilen, die die Notwendigkeit eigener Erfahrung begründet (s. insbes. 4: 3). 20 »Vielleicht sehe nur ich so viele Differenzen zwischen Deutschland und Argentinien, aber ich bin sicher, dass jeder Mensch etwas sehr verschieden zwischen diesen zwei Ländern sehen kann: die Personen.« (50: 1f.)

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Denn der eigenen Erfahrung nach, als sie »ein deutsches Mädchen«, das einen Monat bei ihr lebte, auf eine Party mitnahm, in der es cumbia tanzte und »sehr viele Freunde gemacht [hat]«, konnte die Autorin »sie nicht erkennen«, wirkte sie doch anfangs »sehr still«, »ordentlich« und »langweilig« (ebd.: 4). Die Lektion dieser Erfahrung für sie war, dass es »nicht wichtig [ist], woher man kommt um Freunde zu machen. Alle Leute sind egal und jeder hat etwas spezielles« (ebd.), wobei »egal« eine Übersetzung aus dem Spanischen »igual« ist, was »gleich« bedeutet. Ungewollt hat die Autorin so die In-Differenz/Gleichheit treffend ausgedrückt, womit sie die Ambivalenz auch rhetorisch in den Text bringt, schließt sie doch ihren Aufsatz mit dieser empirischen Lektion der individuellen Differenzen in Kollektiven, die sie übersteigen und in einem neuen Kollektiv, das der Menschen, ihre Synthese finden. Die damit begründete Ambivalenz im Text erfordert nun eine Befriedung, die ihre Form in einer Erklärung findet: Der Autorin zufolge entstehen Stereotype, die interkulturelle Differenzen zu anderen Kollektiven homogenisierend fassen, wenn man als Individuum »wählt nur die Regeln zu ausführen« (ebd.). Dies bedingt, »dass viele Personen ihre eigene Persönlichkeit verlieren« und ein konformes Kulturbild entstehen kann, wobei mit dieser homogenen Konformität die Kulturdifferenz zu anderen Regel-Kollektiven hervorgehoben wird (ebd.) – trotz gelebter Heterogenität.21 Der sich bei der Darstellung intrakultureller Heterogenität leichter einstellende Fokus auf Individuen – mit einhergehendem höheren Potential, Differenz durch Gleichheit zu überbrücken – verdeutlicht sich gut in der rhetorischen Frage eines/r Autoren/in: »Verschiedenen Länder, verschiedenen Kulturen, aber, verschiedene Menschen?«, die im letzten Absatz mit »Man soll merken, dass alle sind Personen« beantwortet wird (43: 1, 2). Diese Argumentationsweise fasst ein anderer Autor konzise zusammen: »So [im gegenseitigen Kennenlernen] werden wir sehen, dass nicht alle Leute von dem selben Land, gleich sind, und wir werden die Unterschiede zwischen den Völkern verkleinern. Die Deutsche sind genau so Menschen wie die Argentinier« (71: 1f.). Welchen Ausblick gestattet nun die Kulturrede von 77 SchülerInnen in deutsch-argentinischen Institutionen?

III. Von SchülerInnen lernen… Die 77 Texte über »Deutsche« und »Argentinier« aus dem 2007 stattgefundenen Aufsatzwettbewerb in deutsch-argentinischen Schulen sind in ihrer Darstellungsweise, Selbstverortung und inhaltlichen Komplexität wie Miniaturen ethnologischer Ethnographien über fremde und eigene Menschen. In ihnen verdeutlichen sich die klassischen Interessen der Ethnologie, soziale

21 Die Autorin liefert damit eine wunderbare Kritik der lange Zeit hegemonial auf Kulturnormen und -regeln ausgerichteten struktur-/funktionalistischen Ethnologie, was Edmund Leach (1961: 1ff.) zu seiner mittlerweile notorischen Kritik bewog, sie betätige sich als Schmetterlingssammlerin, die homogenisierte einzelne Kulturen in ethnographischen Strukturschaukästen anordne.

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Differenzen und Ähnlichkeiten von Menschen verstehen zu wollen (vgl. Kohl 1993: Kap. 6; Sanabria 2007: 6). Ich halte es für bedeutsam, dass die Mehrheit der Aufsätze, 44, intrakulturelle Heterogenität und, hiervon ausgehend, die größte Einzelgruppe (24 Aufsätze) eine Gleichheit von Menschen über Kulturdifferenzen hinweg darstellt. In den Aufsätzen hat sich gezeigt, dass die Repräsentation intrakultureller Homogenität tendenziell die interkulturelle Differenz verstärkt, während die der intrakulturellen Heterogenität den Begriff einer Kultur unterminiert und die interkulturelle Differenz entsprechend relativiert, weil sie mit einer abstrakt höheren Ebene gebrochen wird – der des Menschseins. Deren heterogenisierende Schilderungsweise von Kulturdifferenzen ähnelt stark der ethnologiekritischen Position von Lila Abu-Lughod. Sie hat ein als Writing Against Culture – in einer intertextuellen Relation der Tropik, des Widerschreibens – benanntes ethnographisches Programm entworfen (Abu-Lughod 1991, 1993; vgl. Alvarado Leyton 2009: Kap. 5), das darin besteht, die geschilderten intrakulturellen Differenzen zu multiplizieren, damit homogenisierte kulturelle Differenzen in der Ethnographie nicht alleine stehen, weil sie die Wahrnehmung eines kulturell fremden Menschen als »other« erleichtern – mit allen mittlerweile bekannten Folgen.22 Mit diesem ethnographischen Programm heißt es dann Abschied nehmen von der Idee »der Kultur«, die klassische Ethnographien wie The Nuer möglich machte, aber auch von der Idee, Ethnologie sei die Wissenschaft des relational Fremden (z. B. Kohl 1993), beides ein Tribut an die Erkenntnis, dass »the degree to which people […] appear ›other‹ must also be partly a function of how anthropologists write about them« (Abu-Lughod 1991: 149). Abu-Lughods Programm bedeutet die Herausforderung, der inter- und intrakulturellen Identität und Differenz im ethnographischen Schreiben gleichermaßen gerecht zu werden,23 eine Praxis, die bislang kaum versucht, von einigen SchülerInnen in ihrem Kulturschreiben aber verwirklicht wurde. Nun könnte eine Erklärung hierfür die eigene Subjektposition der SchülerInnen sein. Die Deutsch-ArgentinierInnen unter ihnen schreiben über sich selbst, wenn sie über »Deutsche« und »Argentinier« nachdenken. Dies könnte die heterogenisierende Rede verständlich machen, weil es schließlich schwieriger ist, über Kulturdifferenzen homogenisierend zu sprechen, »when the ›other‹ […] is simultaneously constructed as, at least partially, a self« (Abu-Lughod 1991: 140; vgl. Mascia-Lees et al. 1993: 235). Die Heterogenität ihres Kulturschreibens schützt auch hier vor der Interpretation eines solchen Argumentes als essentialistisches einer kulturellen Determiniertheit. Auf der anderen Seite könnte diese Tendenz ihres Kulturschreibens vor dem Hintergrund hegemonialer, durch Massenmedien international diffun22 Es sei nur daran erinnert, dass »It is only quite recently in history that it has come to be widely accepted that human beings are fundamentally alike […] [which is] by no means acceptable today to many people even in ›advanced‹ societies« (Ahmed 1987: 13). 23 Vgl. Abu-Lughod: »To recognize that the self may not be so unitary and that the other might actually consist of many others […] is to raise the theoretically interesting problem of how to build in ways of accepting or describing differences without denying similarities or turning these various differences into a single, frozen Difference« (1989: 277).

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dierter Debatten über Kulturdifferenzen betrachtet werden. Die oben angezeigte Schwierigkeit, in der Multiplikation von Differenzen einen Kulturreferenten zu behalten, gründet auf der Ironie der Zeitgeschichte, dass im anhaltenden cultural turn vieler Disziplinen der zentrale Begriff »Kultur« ausgerechnet in der Cultural Anthropology zerfällt, gar in Anführungszeichen gesetzt wird, wie es ethnologische Titel nach der Publikation von Writing Culture, seit Ende der 1980er Jahre verkünden, z. B.: The Predicament of Culture – The Breakdown of Culture – In Near Ruins: Cultural Theory at the End of the Century – The Fate of »Culture« – Anthropology Beyond Culture (Clifford 1988; Fox 1995; Dirks 1998; Ortner 1999; Fox/King 2002), eine Ironie, die radikale Rückwirkungen auf die zentrale ethnologische Datenerhebungsmethode der Feldforschung zeitigt, was George E. Marcus 23 Jahre nach Writing Culture im Titel seines letzten Sammelbandes lakonisch einfängt: Fieldwork is Not What it Used to Be (Faubion/Marcus 2009). Dass in dieser Zeitspanne eine konzeptionelle Verlagerung von Kultur auf Identität stattgefunden hat (vgl. Rabinow et al. 2008: 33-36), die – wie in den betreffenden Aufsätzen – durch einen Fokus auf Individuen kulturelle Heterogenität und Gleichheit leichter berücksichtigen kann, folgt aus dem »›collapse‹ […] of cultural wholes« (ebd.: 35). Statt Kultur nunmehr Identität zu untersuchen, mag aus dem »Zusammenwirken von cultural turn […] und kulturalistisch geprägten Selbstbehauptungsdiskursen« (Lackner/Werner 1999: 42), die inner- wie außerhalb Europas seit den 1980er Jahren stark zugenommen haben, entstanden sein (vgl. ebd.: 39-42, 59; Kuper 2003). Dies begründet das Desiderat einer machtkritischen, gesellschaftlich selbstreflexiven Forschung, die versucht, »die Einseitigkeit, welche durch die Abhebung intellektueller Teilvorgänge von der gesamtgesellschaftlichen Praxis notwendig entsteht, wieder [aufzuheben]« (Horkheimer 1988: 173). Eine solche Untersuchung könnte den Wechselwirkungen von folk-concepts, Machtbeziehungen und analytischem Instrumentarium kulturwissenschaftlicher Arbeit auf den Grund gehen, um von diesem ausgehend heutige Grenzen und Möglichkeiten kulturwissenschaftlichen Wissens zu erkunden. Nur wenige Arbeiten liegen auf diesem Feld vor.24 Das Problem einer heute immer schwieriger zu gestaltenden Rede über Kulturdifferenzen, ob Folge einer neuen hegemonialen kulturalistischen Identitätsdebatte oder motiviert durch neue Subjektivitäten, zieht sich fast durchgängig durch diesen Sammelband, der vielerlei alternative Wege aufzeigt, um heute Differenzen zu denken. Allein, es fehlt die entsprechende ethnographische Umsetzung, denn empirische Differenzen zu schreiben ist nicht nur ihr Abbild, es formt sie im Schreiben selbst (Marcus/Cushman 1982: 37). Das Spektrum ethnologischer Darstellungsprinzipien wird im Kulturschreiben jener SchülerInnen überschritten, die kulturelle Identitäten und Differen-

24 Stephen Gudeman und Alberto Rivera etwa haben eine solche Forschung für das wirtschaftswissenschaftliche Denken versucht. Sie zeigen auf, wie die Rede kolumbianischer InformantInnen über die eigene Haushaltswirtschaft der Theorie der französischen Physiokraten um 1770 ähnelt, deren eigene Rede wiederum weitverbreitete folk-models zentraleuropäischer Bauern abstrahiert und differenziert habe, die die Konquistadoren nach Kolumbien brachten (vgl. Gudeman/Rivera 1990: 31ff., 92ff.).

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zen heterogenisierend vereinen. Nun gilt es, ihnen angemessene und sie verwirklichende Formen des Kulturschreibens zu wagen.

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V. TRANSFORMATIONEN

Die Funktion der kritischen Theorie im politischen Transformationsprozess Osteuropas ANDREI MARGA

Kants Artikel »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« (1784) repräsentiert ein aufschlussreiches Verständnis der Aufklärung, zu dem sich spätere Strömungen der Moderne zu Recht bekannten. Der Ausgang aus der »Unmündigkeit«, argumentierte Kant, stehe jedem Menschen frei, auch wenn sich wenige dieser Möglichkeit bedienten (Kant 1996: 9).1 Wenn aber die Menschen frei sind, kann es dem »Publikum« selbst gelingen, den Ausgang aus der »Unmündigkeit« zu finden. Sicherlich kann dieser Prozess dauern und das Publikum kommt nur langsam zur Erkenntnis. Eine »Revolution« könnte gewiss den Untergang des Despotismus beschleunigen, aber durch sie könne »niemals eine wahre Reform der Denkungsart zustande kommen; sondern neue Vorurteile werden, ebenso wohl als die alten zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen« (ebd.: 10-11). Für den Ausgang des Menschen aus der Unmündigkeit ist die Freiheit notwendig, die bedeutet, »von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen« (ebd.: 11). Wir erwähnen das Kantische Konzept von der Aufklärung als Inbegriff »kritischer Theorie«, weil in den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit im Westen und im Osten Europas, nach der dramatischen Erfahrung der Diktaturen und der totalitären Staaten, dieses Konzept als Fixpunkt für die Reflexion wiederentdeckt wurde.2 Die europäischen Gesellschaften mussten sich erneut die Bedeutung von Mündigkeit, Freiheit und dem öffentlichem Gebrauch der Vernunft vergegenwärtigen. Im Westen wurden die Rahmenbedingungen für eine Gesellschaft wiederhergestellt, die auf der Anerkennung der individuellen Freiheiten und Rechte, d. h. auf dem Modell einer pluralistischen Demo1

2

»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung« (Kant 1996: 9). Adorno hatte recht, als er bemerkte: »Die Förderung zur Mündigkeit scheint in einer Demokratie selbstverständlich [...]. Demokratie beruht auf der Willensbildung eines jeden Einzelnen, wie sie sich in der Institution der repräsentativen Wahl zusammenfasst. Soll dabei nicht Unvernunft resultieren, so sind die Fähigkeit und der Mut jedes Einzelnen, sich seines Verstandes zu bedienen, vorausgesetzt« (Adorno 1971: 133).

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kratie aufbaut. Im Osten Europas war aufgrund des Zweiten Weltkriegs und dessen geopolitischen Folgen der »östliche Sozialismus« erfolgreich, der sich als Nachfolger einer materialistischen Geschichtsphilosophie sah, die sich auf den »wirtschaftlichen Determinismus« berief und dogmatische Wissenschaftsansprüche erhob. Diesem Gesellschaftsmodell konnte keine Alternative entgegengestellt werden, ohne die Philosophie, die sie legitimierte, infrage zu stellen und zu dekonstruieren. Während im Westen Europas die Aufklärung im Sinne Kants zur normativen Basis offener Gesellschaften wurde, musste im Osten erst die Ideologie des »östlichen Sozialismus« kritisiert werden, um zu einer unverzerrten Gestaltung der Gesellschaft zurückzufinden. In historischer Perspektive ist es heute wichtig, bei der Analyse der politischen Transformationsprozesse in Ostmitteleuropa nicht nur die erfolgten Aktionen und den Verlauf der Überzeugungsprozesse zu beobachten, sondern auch die Theorien oder Theoriefragmente, die dabei zum Einsatz kamen. Welches waren also die Theorien, die beim Ablegen des »östlichen Sozialismus«, beim Durchsetzen der Transitionsreformen und bei der europäischen Integration eine kritische Funktion hatten? In welcher Form hat insbesondere die »kritische Theorie« die Rolle eines konzeptuellen Rahmens für den Umgang mit der Gesellschaft und eines Katalysators der Änderung gespielt? Ich werde in diesem Text die Funktion der in allen drei Prozessen implizierten Theorie beleuchten, indem ich mich auf meine Erfahrungen in Siebenbürgen stütze, wobei mir bewusst ist, dass ein umfassendes Bild nur dann entstehen kann, wenn es aus einer Vielfalt von Erfahrungen sehr vieler Menschen zusammengesetzt wird. Zunächst stelle ich in Kürze den kritischen Umgang mit dem »östlichen Sozialismus« dar (I). Anschließend charakterisiere ich die theoretische Komponente der Transition vom »östlichen Sozialismus« zur offenen Gesellschaft (II), dann die Philosophie der europäischen Integration (III), und am Ende ziehe ich einige Schlüsse in Bezug auf die philosophischen Optionen der »kritischen Theorie« (IV).

I. Bis zu einem Punkt war der kritische Umgang mit dem »östlichen Sozialismus« in dem Gesellschaftsprojekt, das er zu rechtfertigen versuchte, inbegriffen. Dieses Projekt beinhaltete Ziele – etwa die soziale Gleichheit, das Schaffen von »materiellen« Bedingungen für die persönliche Entfaltung, die Modernisierung der »Produktionskräfte« –, in deren Namen man die gegebenen Umstände im Hinblick auf deren Überwindung kritisieren konnte. Diese Kritik wurde zeitweilig sogar von dem System selbst kultiviert: Die Realitäten wurden vor allem aus der Sicht der »sozialen Gleichheit« und der »Entwicklung der Produktionskräfte« betrachtet. So kam es, dass einige Intellektuelle glaubten, dass eine solche interne Kritik, ja Selbstkritik des Systems ausreichen würde, um es zu verändern.3 Diese Hoffnung auf eine Veränderung des Systems aus sich selbst heraus wurde aber zu keinem Zeitpunkt bestätigt. Im Gegenteil, man konnte beo-

3

Dies war bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren der Fall; vgl. Negt (1974).

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Die Funktion der kritischen Theorie

bachten, dass der wirtschaftliche Determinismus einige Entwicklungen erklären kann, aber da er das Bewusstsein und den Willen der Menschen unterschätzt, fehlen ihm die Mittel, das System zu verändern. Andererseits bewies der »östliche Sozialismus« bei jeder Gelegenheit, dass er nur jene Kritik akzeptiert, die nicht die Grundlagen des sozialen Systems antastet (das Staatseigentum, das Monopol der politischen Macht usw.). Diese Kritik, die nicht an den Grundlagen des Systems rüttelt, nahm rückwirkend die einigermaßen »philosophische« Form des »sowjetischen Marxismus« (oder des »östlichen Marxismus«) an, eine Kodierung von Thesen und Konzepten von Marx und Engels, gefiltert durch die politische Ideologie von Lenin und dessen Nachfolgern (Marcuse 1963: 6). Die Generation der aufstrebenden Philosophen, die in den 1970er Jahren auf die Bühne trat, begegnete dem »östlichen Marxismus« deshalb in der offiziellen Politik, wobei dieser allerdings schon nicht mehr deren philosophischen Rahmen bildete (vgl. Marga 2005c). In den 1960er Jahren traten die wirtschaftsphilosophischen Manuskripte von 1844 auf die philosophische Bühne sowie die Grundlagen der Kritik der politischen Wirtschaft von Marx: Schriften, die von der östlichen Kodierung des Marxismus vergessen oder unterschätzt worden waren. Die grundsätzlich kritische Einstellung dieser Schriften hatte in großem Maße die Initiativen des »westlichen Marxismus« verwertet, angefangen mit dem jungen Georg Lukács, dann weiter über Antonio Gramsci und Karl Korsch bis hin zu deren Nachfolgern im Rahmen des »Euromarxismus«. Die Theorien der »Entfremdung«, der »Verdinglichung« und der »Praxis«, die den Diskurs dieser Schriften beherrschen, wurden zum Verdichtungszentrum der Vision des unkodierten Marxismus und galten als Basis der Kritik. Die Niederschlagung des tschechoslowakischen Versuchs, in den Sechzigern den »Sozialismus mit menschlichem Gesicht« aufzubauen, auf jeden Fall einen anderen Sozialismus als den seit langem kompromittierten »östlichen Sozialismus«, setzte jedoch den Hoffnungen, das System mit den Mitteln derselben Philosophie zu reformieren, aus der es hervorgegangen war, brutal ein Ende. Mit der Theorie der »Entfremdung« und der »Verdinglichung« kam es in der modernen Philosophie zu einem kohärent konzeptualisierten Umgang mit der bereits vom klassischen Humanismus thematisierten Beziehung zwischen den Menschen und den Produkten ihrer Handlungen. Dieser Umgang, der die Jugendschriften Hegels und vor allem die Phänomenologie des Geistes hervorgebracht hat, erlaubte das Vertiefen der Erklärungen von äußerst bedeutenden historischen Ereignissen (wie die Genese des Christentums). Er bot aber auch, und das ist noch wichtiger, die Möglichkeit einer kritischen Auseinandersetzung, welche die Grundlagen der Gesellschaften zu durchdringen schien. Die sozialen Interaktionen wurden im Zuge dieser Auseinandersetzung als Objektivierungen menschlicher Aktionen gesehen; sie stellten diese Interaktionen also wieder unter die Kontrolle sozialisierter Menschen. Viele Intellektuelle – von der Zagreber Gruppe »Praxis« bis zu den späten Spielarten des »westlichen Marxismus«4 – glaubten in der Nachfolge von

4

Der »westliche Marxismus« war nicht mehr der »ethische Marxismus«, der aus einer Kombination zwischen dem Wirtschaftsdeterminismus von Marx und der aprioristischen Ethik von Kant (vgl. Sandkühler 1997) hervorgegangen war, sondern eine kritische Behandlung der sozialen Realität mithilfe der »Entfremdungstheorie« (oder

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Georg Lukács und Herbert Marcuse, dass die Theorie der »Verdinglichung« oder die Theorie der »Entfremdung« eine ausreichende Basis für die Kritik darstellte. Sicherlich hat nicht nur die Niederschlagung des tschechoslowakischen Versuchs, sondern auch die immer stärkere Bürokratisierung des »östlichen Sozialismus« und die Hinwendung zum Nationalismus im Osten (als Reaktion auf die westlichen Bemühungen um die weltweite Anerkennung der Doktrin von den Menschen- und Bürgerrechten) Ende der 1970er Jahre Nachdenklichkeit hervorgerufen. Man erfasste, dass weder die Theorie der »Verdinglichung« noch die Theorie der »Entfremdung« die sozialen Gegebenheiten ausreichend berücksichtigen können, wenn sie nicht eine Theorie der grundsätzlichen Freiheiten und Rechte des Individuums entwickeln. Der europäische Sozialismus wurde folglich gezwungen, eine positive Beziehung zu dem klassischen Liberalismus zu finden. Die Philosophie der Praxis von Antonio Gramsci war aufgrund ihrer verschärften Perzeption historischer Fakten offener gegenüber der Akzeptanz des grundlegenden Charakters der individuellen Freiheiten und Rechte, hatte diese aber noch nicht ausreichend explizit und systematisch thematisiert. »Die kritische Theorie« ist der Begriff, unter dem das Konzept der »Frankfurter Schule« in die Geschichte der Auseinandersetzung mit der modernen Gesellschaft eingegangen ist (vgl. Wiggershaus 1988). In den 1920er Jahren von einer Gruppe junger Ökonomen, Juristen, Psychologen und Philosophen initiiert, hat diese Theorie eine eigene Geschichte durchgemacht. Als eine »Kritik der Politökonomie« entstanden (v. a. Horkheimer 1968; vgl. Marga 1980), die von den homonymen Schriften von Marx und des jungen Lukács inspiriert war, wurde sie unter dem Titel »kritische Theorie« Ende der 1930er Jahre zu einer von Husserl und Heidegger inspirierten »Kritik der instrumentellen Vernunft« (Horkheimer 1967; Horkheimer/Adorno 1969), die dann nach dem Zweiten Weltkrieg die Form einer »negativen Dialektik« (vgl. Adorno 1966; Schweppenhäuser 2000) annahm, die zutiefst skeptisch war (Kierkegaard und Schopenhauer beherrschten jetzt den Horizont). In jeder ihrer Ausprägungen aber bot die »kritische Theorie« kritische und systematische Konzeptualisierungen der sozialen Gegebenheiten. Keine andere Erörterung artikulierte eine vergleichbare kritische Auseinandersetzung mit der späten Entwicklung der Moderne (vgl. Honneth 1985). Welche dieser Ausprägungen aber spielte eine Rolle in der kritischen Behandlung des »östlichen Sozialismus«? Tatsächlich inspirierten die späten Varianten – die »Kritik der instrumentellen Vernunft« oder die »negative Dialektik« – kritische Analysen des »östlichen Sozialismus«, konnten aber aufgrund ihrer utopisch-negativen Orientierung keine auf Lösungen hin ausgerichtete Kritik unterstützen. »Die Kritik der Politikökonomie« in der Nachfolge der »Verdinglichungstheorie« von Georg Lukács und der von Hegel, Marx und Kierkegaard unterstützen »Entfremdungstheorie« führte zur Distanzierung vom »östlichen Sozialismus«, indem sie zu der Befragung der Funktionsweise der Wirtschaft Fragen zum menschlichen Schicksal hinzugesellte; sie vermochte jedoch keine ausreichend von den etablierten politischen Lösungen unterschiedene Lösung anzubieten. Habermas baute die »kritische Theorie« wieder auf in Form einer »Theorie der kommunikativen Aktion« der Theorie der »Verdinglichung«). Zur Diversifikation innerhalb des Marxismus vgl. Marga (2002: 12-163).

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Die Funktion der kritischen Theorie

(Habermas 1982; vgl. Marga 1985; Marga 2005a) und übernahm das Problem der Demokratisierung in die kritische Behandlung der modernen Gesellschaft. Auf diese Weise wies er der kritischen Behandlung des »östlichen Sozialismus« eine positive, genaue Richtung. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Rezeption der Schriften von Habermas praktische Akzente aufwies (vgl. Symanzik/Birkfellner/Sproede 2000: 389), besonders im Zusammenspiel mit den Bemühungen der westlichen Welt, die moderne Doktrin von den grundsätzlichen Rechten des Individuums und des Bürgers zu verbreiten und den »östlichen Sozialismus« dazu zu bewegen, das Abkommen von Helsinki (1975) zu respektieren.

II. Der Übergang vom »östlichen Sozialismus« zu einer offenen Gesellschaft setzte als zündendes Moment die Absage an alles Vorhandene voraus. Die fieberhaften Ansprüche in der Nachkriegszeit auf Veränderungen im »östlichen Sozialismus« und auf dessen Ersetzen wurden nicht bestätigt. Die entmutigende geopolitische Strukturierung der Welt im Atomzeitalter hinterließ den Eindruck von einer undefinierbaren Dauer des »östlichen Sozialismus«. Aber die von Gorbatschow Mitte der 1980er Jahre angeregte »Glasnost« und die »Perestroika« sowie die kritischen Einschätzungen des Kremlchefs bezüglich der Lage in Ostberlin und in Bukarest gaben zu verstehen, dass die Staatsoberhäupter in den Hauptstädten des »östlichen Sozialismus« nicht mit der unbedingten Unterstützung Moskaus rechnen konnten und ließen die Hoffnung wieder erwachen. Vor diesem Hintergrund konnten sich die Bürger auf den öffentlichen Plätzen versammeln und ihre Bürgerrechte einfordern. Der Untergang des »östlichen Sozialismus« in Mittel- und Osteuropa geschah in einem neuen geopolitischen Kontext, der entscheidend von den Abkommen zwischen Reagan und Gorbatschow sowie Bush und Gorbatschow Ende der 1980er Jahre bestimmt war, Akteure, die beflügelt waren von dem grundlegenden Charakter der individuellen Freiheiten und Rechte in der Gesellschaft. Die unüberschreitbare Freiheit der Person, der politische Pluralismus, die Marktwirtschaft und der Rechtsstaat waren die Werte, die den Ausgang aus dem »östlichen Sozialismus« bestimmten. Global gesehen war der Neoliberalismus die führende Vision dieser Veränderung von historischen Proportionen. Unter dem Aspekt der Theorie, die sie inspiriert hat, war der Übergang vom »östlichen Sozialismus« zur offenen Gesellschaft bestimmt von verschiedenen Strategien (vgl. Marga 1996). Dazu gehörte die »Schocktherapie«, die auf die schnellen transformatorischen Effekte radikaler Maßnahmen setzte (die Abschaffung der staatlichen Wirtschaft und die Zerstörung der Institutionen der monolithischen Macht). Dazu gehörte weiterhin die »Strategie der moderierten Schocks«, welche die radikalen Maßnahmen um soziale Kompensationen ergänzte, um die Unterstützung des Volkes bei Veränderungen zu erhalten. Dazu gehörte schließlich das Programm der »Umstrukturierung«, das nur langsame Veränderungen vorsah. Die »Schocktherapie« war ein Ausdruck der Ungeduld vieler Menschen in den Transformationsgesellschaften, die so schnell wie möglich die Spuren des »östlichen Sozialismus« verschwinden sehen wollten, um sich der Vorteile einer offenen Ge267

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sellschaft erfreuen zu können. Diese »Therapie« speiste die Kritik der Realitäten in der Epoche des Übergangs am meisten. Ihr wichtigstes Ergebnis war die Konzentrierung der Kritik auf die Politik und ihre kritische Einschätzung. Ihr Ziel war ausschließlich die offene Gesellschaft (Marga 1991: 162-178; Marga 1995b: 201-180). Gleichzeitig mit der Ausbreitung des Einflusses des Neoliberalismus und der vollständigen oder moderierten Umsetzung der »Schocktherapie« ereignete sich eine bedeutende Änderung im kulturellen Selbstbewusstsein der im Übergang befindlichen Gesellschaften: die Aufwertung der Politik als menschliche Tätigkeit, die in der modernen Gesellschaft unverzichtbar und entscheidend ist. Nachdem sie im antimodernistischen philosophischen Diskurs der Rechten in den 1930er Jahren als »oberflächlich« und als entfremdungsfördernd diskreditiert und in der wirtschaftlichen Bewegung im philosophischen Diskurs der Linken in der Nachkriegszeit aufgelöst worden war, fand die Politik – im aristotelischen Sinn neu geschaffen von Hannah Arendt – erneut ihren Platz in den philosophischen Bildern von der Gesellschaft. Der Ausgang aus dem »östlichen Sozialismus« und die Transition bewiesen, dass die Demokratie die Politik voraussetzt und die Politik in der offenen Gesellschaft eine unverzichtbare ordnende Tätigkeit darstellt. Die Wiederfindung der Politik geschah zu Beginn der Transition in drei Schritten. Der erste war der einer retrospektiven Untersuchung des Marxismus, der Hegelschen Linken, der Hegelianer und des Werkes von Hegel, aus dem sich die philosophische Legitimierung des »östlichen Sozialismus« speiste, verbunden mit der Frage danach, wie diese Autoren die Politik konzeptualisiert haben (vgl. Marga 1995c). Der zweite Schritt betraf die Untersuchung der Art und Weise, wie Politik in den Jahrzehnten vor 1989 konzeptualisiert worden war (Marga 1992b:14-32). Der dritte Schritt war die Einschätzung der Behandlung von Politik in den Transformationsgesellschaften (Marga 1997: 9-26). Aus diesen drei Richtungen ergaben sich Argumente für die Konzentrierung der kritischen Aktivitäten auf die Politik, für die Wiedereinsetzung der Politik in die öffentliche Kultur und für die Normalisierung des politischen Lebens in der Epoche der Transformation. Die Normalisierung des politischen Lebens in der Transformation und damit der kritische Umgang mit den kürzlich eingesetzten Politiken wurden also von Beginn der Transformation an notwendig. Daher ist die kritische Behandlung der Politik eine gewichtige kulturelle und philosophische Richtung geblieben, auf dem Hintergrund einer Transformation, die manchmal nicht über die Ebene der Makrostrukturen hinausgekommen ist, die aber neue Aktionen auf der Ebene der Differenzierung der Tätigkeiten benötigt.

III. Die kritische Betrachtung der Transformationsgesellschaften wurde gefördert durch den Erweiterungsbeschluss der Europäischen Union, um die Länder Mittel- und Osteuropas aufzunehmen, sowie den in großem Maßstab vorangetriebenen Prozess der europäischen Einigung. Die politischen, institutionellen und wirtschaftlichen Beitrittskriterien stellten Orientierungshilfen für die Kritik an der Lage dar und wurden als solche angewandt. Um die in den Bei-

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trittsverhandlungen von Brüssel festgelegten Bedingungen zu erfüllen, musste jedes Land Änderungen in der staatlichen Organisierung vornehmen. Doch weder diese Kriterien noch der äußere und innere Druck, der ihre Förderung vorantrieb, machten die kritische Behandlung der Lage überflüssig. In keinem Land wurden die Reformen bloß auf Druck von außen umgesetzt. Das lag daran, dass nicht nur die konsequente Förderung der politischen, institutionellen und wirtschaftlichen EU-Beitrittskriterien im Spiel war und ist, sondern auch die bewusste Reflexion dieser Kriterien. Deshalb bleibt die Klärung der europäischen Zugehörigkeit ein aktuelles, gewissermaßen situationsbedingtes Thema der kritischen Theorie von der europäischen Integration. Die Klärung der europäischen Zugehörigkeit bedeutete die Anerkennung des Umstandes, dass aus der Perspektive des nach dem Zweiten Weltkrieg begonnenen Prozesses der europäischen Einigung, der geographische und historische Ort nicht über die europäische Zugehörigkeit entscheiden. Geographie und Geschichte sind notwendige Bedingungen, doch da die europäische Einigung ein in erster Linie institutioneller und kultureller Prozess ist, wird die europäische Zugehörigkeit aufgrund der Einschätzung der Institutionen und der Kultur bewertet. Anders formuliert, generiert die geographische und geschichtliche Zugehörigkeit zu Europa nicht automatisch ein kulturelles Europäertum, so wie ein kulturelles Europäertum auch in Ländern zu finden ist, die im strengen Sinne geographisch und kulturell nicht zu Europa gehören (Marga 1995a: 25). Die europäische Zugehörigkeit ist vor allem durch die Kultur bedingt, aber das Kulturverständnis musste von anderen falschen Positivitäten der osteuropäischen Tradition befreit werden, die in den Jahren des »östlichen Sozialismus« unterstrichen wurden und de facto das Kulturverständnis auf Literatur, Kunst und verinnerlichte Reflexion reduzierten, die institutionellen, verhaltensmäßigen und motivationalen Folgen der Kultur aber außen vor ließen. Das Konzept von Kultur als Ensemble philosophischer Ideen, künstlerischer Symbole, wissenschaftlicher Theorien und ideologischer Programme musste wiederhergestellt und diese wiederum in soziale Formen des menschlichen Lebens eingebunden werden. Die Beobachtung musste akzeptiert werden, dass in den Prozess der aktuellen europäischen Einigung ein Konzept der individuellen Kultur eingebunden ist, die gemeinsam geteilt wird von den strukturierten Individualitäten. Schließlich musste die europäische Zugehörigkeit zunächst geklärt werden durch die kritische Überwindung nicht nur des Reizes, alles auf die spirituelle Kultur zu reduzieren, sondern auch des Reizes, allein auf die wirtschaftliche Entwicklung zu setzen. Beide Überwindungen konnten nur mithilfe eines begreifbaren Konzepts der Spezifik der europäischen Kultur durchgeführt werden: eines Konzepts, das ohne Abstriche Bescheid gibt von dem Erbe und den Leistungen Europas und sich zugleich nicht nur auf die Leistungen konzentriert, sondern auch auf die Bedingungen, die diese ermöglicht haben. Dieses Konzept musste entwickelt werden, um den falschen Positivitäten, die das öffentliche Bewusstsein zu okkupieren drohten, etwas entgegenzusetzen. Die Theorie der Systeme hat sich dabei als fähigste Theorie erwiesen. Ihr gelingt die Überwindung der essayistischen Fülle zum europäischen Spezifikum – die von kontextuellem Erleben bestimmt ist und Teilaspekte der europäischen Kultur beschreibt, ohne sie ausreichend zu bestimmen – und sie 269

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kann die Aktivitäten erfolgreich orientieren. Sie kann dies ausgehend von dem Verständnis der Gesellschaft als einem System, in dem sich Leistung und Testkriterien der Aktivitäten unterschiedlicher Subsysteme behaupten. Ich meine folgende Subsysteme: die Produktionstechnik – welche die Ergebnisse des Verbrauchs menschlicher Energie verstärkt; die Ökonomie – welche die Güter produziert, die den Bedarf der Bevölkerung decken; die Verwaltung – welche die effiziente Organisation der Aktivitäten in einer Gemeinschaft sichert; die Politik – die den Grundoptionen Legitimität verleiht; die spirituelle Kultur – welche die für den Betrieb der Institutionen unabdingbaren Motivationen generiert (Marga 1995b: 34-44). Die europäische Kultur hat Wissenschaften hervorgebracht, die der Darstellung der effizienten, gesetzmäßigen, mathematisch formulierbaren Ursachen zugewandt sind und im Dienste der Lösung technischer Probleme sowie der Kontrolle und Metamorphose der Dinge steht. Die europäische Kultur drängte das ökonomische Verhalten an den Rand, bei dem die Arbeit mehr wert ist als deren Ergebnisse und setzte ein ganz anderes Verhalten in Bewegung: das von wirtschaftlicher Rationalität bestimmte Verhalten. Es erlaubt eine Rechnung, wobei das Ergebnis einen Mehrwert der Ergebnisse darstellt in Bezug auf die Investition. In der europäischen Kultur etablierte sich das ideologisch-normative Prinzip der Leistung. Man kann dieser Kultur nicht zugehörig sein, wenn etwa die Verwaltung der eigenen Gesellschaft die Prüfung dieser von Effizienz kontrollierten Rationalität nicht besteht. Ebenso zeichnet sich die europäische Kultur dadurch aus, dass sie die Kultur des Rechts sowie des Individuums als Subjekt und Ziel des Rechts, der Souveränität und der Allgemeingültigkeit des Gesetzes fördert. Was die europäische Kultur zumindest seit der Renaissance bestimmte, ist die Orientierung der Werte auf die individuelle Freiheit und die Konzeption dieser Freiheit als Autonomie. Deshalb wurde gesagt, dass die »Autonomie das europäische Konzept der Freiheit ist« und die Freiheitsrechte oder die Bürgerrechte gebunden sind an ein Menschenbild als Bürger, das diesem die Grundgüter Leben, Freiheit und Eigentum durch rechtliche Regelungen sichert. Die europäische Kultur ist mit einem Konzept der Privatsphäre verbunden, das sich auf einen Begriff des Eigentums stützt und von den Gesetzen garantiert ist, die grundsätzliche, unabdingbare Rechte des Individuums repräsentieren. Zugleich schuf der europäische Staat Institutionen, welche die öffentliche Debatte organisieren und unterhalten sollten, und machte aus dem Bereich des öffentlichen Lebens einen Rahmen, in dem individuelle Interessen gefördert werden können. Die europäische Kultur ist nicht nur spirituelle Kultur – also verinnerlicht und in Einsamkeit und Zurückgezogenheit erlebt, weit weg von der Welt der Produktion, der Geschäfte, der sozialen und politischen Auseinandersetzungen –, sondern auch eine Kultur der Forschung, der systematischen Erkenntnis und der Konstruktion der gegebenen Realität gemäß menschlicher Ziele. Die Realität ist nicht als Fremdkörper in diese Kultur eingebunden, von dem wir uns schleunigst befreien müssen, sondern vielmehr als zu bearbeitendes Material. Die europäische Kultur hat im Laufe ihrer Geschichte folgende normative Basiskonzepte ausgebildet: das Konzept der Wahrheit als Grundwert, verstanden als in der Praxis überprüfbare Entsprechung zwischen den Aussagen und den Tatsachen; das Konzept des Wissens, das der Lösung der Lebens270

Die Funktion der kritischen Theorie

probleme der Menschen dient, die mit dem Kriterium der Nützlichkeit konfrontiert werden; das Konzept der Rationalität, das sich im Kalkül niederschlägt und anhand von Ergebnissen geprüft wird; das Konzept des Rechts als Ensemble von Regeln, das allgemein und formell ist; das Konzept der Autonomie des Individuums; das Konzept des öffentlichen Bereichs als Feld des politischen Willens; das Konzept der menschlichen Person als Individualität, die berufen ist, der einfachen Existenz einen höheren Sinn zu verleihen (Marga 2003c). Ein Problem, das sich mit besonderen Akzenten vor allem im Kontext der Liberalisierungen von 1989 in Mittel- und Osteuropa stellte, war das Management der Verschiedenheit unter den Umständen der sprachlichen und kulturellen Neuidentifizierung der ethnischen Gemeinschaften. Dies Problem fasst Charles Taylor unter den Begriff der Beziehung zwischen politics of equal dignity und politics of difference. Im Zeichen der Universalität geboren – also jenseits der Besonderheiten –, sah sich der moderne Staat durch die Annahme der Doktrin von den Rechten und Freiheiten des Menschen und des Bürgers mit einer Welle ethnischer Neuidentifikationen konfrontiert, welche die universalistische Natur der Konstruktion auf den Prüfstand stellten. Die universalen Rechte und Freiheiten dienen der Legitimation der kulturellen Besonderheit. Die politics of equal dignity werden in der Praxis von den politics of difference hervorgerufen. In diesem Kontext konnten weder die »Renaissance des Nationalstaates« noch der »neue Pluralismus« oder der »Föderalismus« und der »Prozedurale Liberalismus« bestehen. Als angebrachter, weil reflexiver, erwies sich der »subjektive Liberalismus«, der in einigen Prinzipien zusammengefasst werden kann: Der moderne Staat umfasst nicht nur das positive Gesetz, das die Allgemeingültigkeit der Freiheiten und Rechte sichert, sondern auch die Möglichkeit, die Rechte und Freiheiten dergestalt auszuüben, dass Unterschiede möglich sind; die Allgemeingültigkeit des Gesetzes bleibt das unabdingbare Fundament für die Korrelation der politics of difference mit der politics of equal dignity, doch die juristische Herangehensweise muss begleitet werden von Verantwortungsbewusstsein. Die kollektiven Rechte müssen anerkannt werden, doch diese Anerkennung darf die individualistische Struktur der Gesetzgebung nicht stören; die politics of difference sind nur auf der Grundlage einer politics of equal dignity realistisch, die das Kulturprojekt, dem sie angehören, anerkennen (Marga 1998: 77-82). Ein anderes Problem in Mittel- und Osteuropa ist jenes der ethnischen Identifikation. In unterschiedlichen Kontexten haben die Intellektuellen mit unterschiedlicher Motivation versucht, ethnische Zugehörigkeitskriterien zu entwickeln: die Verteidigung der nationalen Gemeinschaft in Zeiten, in denen die herrschenden Kräfte sich weigerten, diese anzuerkennen; der Aufschwung der nationalen Kultur nach der Organisation des Nationalstaats; der Widerstand gegenüber dem Druck des sowjetischen Staates in der Nachkriegszeit. Die Thesen dieser Intellektuellen können außerhalb des historischen Kontextes nicht verstanden werden. Doch sie wurden aus dem Kontext herausgerissen, so dass ihre Aussagen verzerrt wahrgenommen wurden. Sehr bald wurde aber gesehen, dass die ethnische Identifikation zu Legitimationszwecken politisch instrumentalisiert wird. Dennoch herrscht in Osteuropa ein für unsere Begriffe ungewöhnlich starkes Bewusstsein der ethnischen Zugehörigkeit vor. Daher muss klar gesagt werden: Europa hat keine konfliktfreie Zukunft, wenn es nicht den Weg der Versöhnung, der Integration und der Einigung 271

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geht. Für eine solide Basis dieses neuen Mittel- und Osteuropas benötigen wir Strategien, welche die Bewegung von den traditionellen ethnischen Identifikationen (anhand der Lage, durch Persönlichkeiten der Vergangenheit, durch die Sprache, durch historische Ereignisse, Religion, Philosophie usw.) zu den modernen, europäischen Identifikationen ermutigen: Der ethnische Nationalismus müsste durch den »zivilen Nationalismus« überwunden, der traditionelle Patriotismus müsste durch den Horizont des »Verfassungspatriotismus« ersetzt werden (Marga 1992a). Schon Husserl hatte in seiner berühmten Krisis-Schrift (1936) erkannt, dass man sich in einer »Krisis der europäischen Humanität« befinde, der eine Krise der Wissenschaft zugrunde liegt. Mittlerweile gibt es neue Argumente für diese Einschätzung. Viele Menschen erkannten, dass wir uns im Angesicht eines Zerfalls des alten Fortschrittsoptimismus unserer Gesellschaft befinden, die von Wissenschaft und Technik bestimmt ist. Die Angst vor den Folgen von Wissenschaft und Technik führt oft zu Pessimismus (Mack 2001: 310; vgl. Marga 2003b: 271-279). Ein Gefühl der Krise lässt sich nicht nur in der Wissenschaft ausmachen, sondern auch in der Philosophie. Die Ursache liegt – so argumentieren einige neuere Autoren – im fehlenden Bemühen um eine Synthese, gerade vor dem Hintergrund einer Vielzahl von philosophischen Talenten und Kompetenzen. Aber Philosophieren setzt unter allen Bedingungen und gegen alle möglichen Schwierigkeiten den Willen zur Synthese voraus. Tatsächlich aber geht man der Synthese aus dem Weg und zieht »Spezialisierungen« vor, die dazu führen, »dass man immer mehr über immer weniger und schließlich alles über nichts weiß« (Hösle 1997: 1). Heute wird mit Recht beanstandet, dass die Philosophie das sektoriale Denken nicht bekämpft. Schwerwiegender ist die Tatsache, dass die Philosophen selbst, statt sich der »Reduktionismen« zu widersetzen, die die Philosophie untergraben, diese systematisch pflegen. Auf jeden Fall kann gesagt werden, dass die Philosophie selbst mitverantwortlich ist für diese Untergrabung und diesen Zerfall der Vernunft, die wir heute in der späten Moderne empfinden. Sie ist folglich mit in der Schuld, das einzige Mittel zu erbringen, mit dem wir die »Gegenwartskrise« überwinden können: die Verbindung der Vernunft mit dem Glauben an moralische Werte und Pflichten. Charles Taylor hat in einer Reihe von Konferenzen in Edinburgh und Wien, die er in dem Band Die Formen des Religiösen in der Gegenwart (2002) zusammenfasste, die Art und Weise untersucht, wie Religiosität in einer Epoche der Säkularisierung gelebt wird. Demnach löst sich die von Durkheim konstatierte Assoziation zwischen Sakralem, Kirche und Staat auf, und das Sakrale wird immer öfter als diesseits der politischen Referenzrahmen der Modernität empfunden. Andererseits ist unter den Umständen der Globalisierung eine worldwide resurgence of religion festzustellen, verbunden mit einem Übergang in der Gegenwartskultur vom Anthropozentrischen zum Theozentrischen. Die Auseinandersetzung zwischen Habermas und Ratzinger bestimmte dieses Moment eines historischen Meilensteins im Demokratieverständnis (Habermas/Ratzinger 2005). Stehen die Dinge so – und viele Indizien sprechen für die Feststellung, dass wir Zeugen einer Rehabilitation des religiösen Glaubens sind –, dann kann man behaupten: Der religiöse Glauben gewinnt ein

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Die Funktion der kritischen Theorie

neues Gewicht. Die Theologen in der Globalisierungsära sind sich dieser Tatsache bewusst und bemühen sich darum, sich ihr zu stellen. Wer die Religion heute – im Zeitalter der nie da gewesenen Expansion der Wissenschaft, der unvergleichlichen Vermehrung der philosophischen Perspektiven, der kühnsten intellektuellen Initiativen, der Globalisierung der Wissenschaften, des Handels, der Kommunikation – zum Hauptanker des kritischen Denkens macht, setzt sich dem Vorwurf aus, er würde nicht nur eine alte Form spirituellen Lebens anachronistisch in die Gegenwart versetzen, sondern auch eine, die von der Patina der Zeit unweigerlich gezeichnet ist. Viele eilige, nicht informierte Menschen werfen der Religion Ungleichzeitigkeit vor. Es geht auch tatsächlich nicht darum, diesem Vorwurf zu widersprechen, sondern darum, ihn ernst zu nehmen. Johann Baptist Metz, der die Ungleichzeitigkeit der Religion zum Thema einer tiefen Reflexion gemacht hat, zeigte, dass es eine »produktive Ungleichzeitigkeit« gibt und dass diese in der modernen Welt notwendig ist. Die Religion sollte jetzt in Verbindung gebracht werden mit einer »neuen Kultur der Solidarität«, die die zivilen Rechte und die Menschenrechte ausweitet und unterstreicht, die sich im Christentums selbst entwickeln. Auf jeden Fall entsteht die Zukunft nicht nur aus den in den meisten Fällen oberflächlichen Gleichzeitigkeiten der Modernität, sondern auch aus ihren produktiven Ungleichzeitigkeiten, also auch aus der Religion (Metz, in Habermas 1979: 30). Mit gutem Recht hat Jürgen Habermas in seinem jüngsten Buch Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze (2005) gezeigt, dass die eigentliche religiöse Toleranz nicht nur bedeutet, dass es dem anderen erlaubt ist, sich unterschiedlich auszudrücken, sondern auch, dass er in seiner Verschiedenheit anerkannt wird, da die Religion »Schrittmacher kultureller Rechte« ist, denn: »Auch wenn sich Jellineks These der Entstehung der Menschenrechte aus der Religionsfreiheit historisch nicht halten lässt, besteht doch ein konzeptueller Zusammenhang zwischen einer solchen universalistischen Begründung des Grundrechts der Religionsfreiheit auf der einen und den normativen Grundlagen eines Verfassungsstaates, also Demokratie und Menschenrechte, auf der anderen Seite« (Habermas 2005: 260).

Umfassend verstanden spielt die Religion in der späten Moderne die dreifache Rolle der Unterstützung der Moral, der Verteidigung der klaren Werte und des Maßstabs der Freiheit – eine Rolle, die sie bisher in der modernen Geschichte nicht gespielt hat.

IV. Die Veränderung eines Systems kann auf dem Wege der Reflexion geschehen, also beginnend mit begrifflichen Klärungen, aber auch auf dem Weg einer Implosion. Der Zerfall des »östlichen Sozialismus« geschah in Mittelund Osteuropa durch eine Implosion. Man kann lange darüber diskutieren, ob die Implosion aufgrund einer erarbeiteten Lösung, der die Analyse der Verletzbarkeit des Systems vorausging, oder spontan stattgefunden hat. In jedem Fall stellt die Implosion theoretische Sätze oder auch Theorien auf den Prüf273

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stand. Wenn aber ein neues System aufgebaut wird, werden die theoretischen Verantwortungszuweisungen unweigerlich mit einbezogen. Man kann sagen, dass die Erarbeitung der Theorie ein Moment darstellt, dessen Bedeutung mit der Komplexität der Systeme zunimmt. Im Fall der hochkomplexen Systeme – und die spätmodernen Gesellschaften sind solche Systeme – ist eine effiziente Änderungsaktion nur aufgrund einer entsprechenden Theorie möglich.5 Die reflektierten Veränderungen setzen eine »kritische Theorie« voraus. Das Projekt einer solchen Theorie, das zu Beginn der dreißiger Jahre in Frankfurt am Main lanciert worden ist, bleibt gültig und notwendig, selbst wenn die effektive Form der »kritischen Theorie« Änderungen erleiden muss. Die »kritische Theorie« bleibt ihrer kritischen Absicht nur dann treu, wenn sie als reflexives Mittel ihre theoretischen Verallgemeinerungen selbst ändert. Die »kritische Theorie« muss daher ihre analytische Fähigkeit bei der Behandlung gesellschaftlicher Probleme in der Spätmoderne bestätigen (vgl. Marga 2001; Marga 2002; Marga 2005b). Sie muss zu einer umfassenden Theorie ausgearbeitet werden, die fähig ist, politische Handlungen zu erklären und zu orientieren (vgl. Marga 1981; Marga 2001).

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Ich brachte Argumente über die Bedeutung der systematischen theoretischen Behandlung in Marga (1992a:23-25) und in Marga (2003a: 25 -277) vor.

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Mittendrin statt nur dabei? Zu Andrei Margas Beschreibung der Transformation in Mittelosteuropa MARTIN KYPTA / ULLA REISS

Andrei Marga beschreibt die Transformation von sozialistischen zu marktwirtschaftlich organisierten Ländern aus dem Blickwinkel einer »kritischen Theorie«. Als Wissenschaftler wirft Marga einen kritischen Blick auf den Diskurs, mit dem dieser einschneidende Übergang in Mittelosteuropa stattfand und immer noch stattfindet. Dieser Blick ist immer auch geprägt von Margas persönlichen Erfahrungen, insbesondere als Bildungspolitiker des nachsozialistischen Rumäniens. Wir wollen den Text zunächst als Beschreibung des Wandels ernst nehmen und ihn danach auf seine mehr oder weniger impliziten Werturteile hin untersuchen. Im ersten Teil unserer Antwort werden wir den von Marga beschriebenen Transformationsprozess anhand eines diskursanalytischen Ansatzes untersuchen. Im zweiten Teil soll geprüft werden, welche Position Margas Text selbst im Diskurs der Transformation einnimmt.

I. Vor dem Hintergrund seiner eigenen Beteiligung am Diskurs beschreibt Marga die Transformation der Staaten in Mittelosteuropa vom Sozialismus zu offenen Gesellschaften im Rahmen der Eingliederung in die Europäische Union. Sein Blick richtet sich dabei nicht auf die institutionellen oder wirtschaftlichen Veränderungen, sondern auf die Theorien oder Theoriefragmente, die im Prozess dieser Veränderungen eine Rolle spielten. Marga untersucht einen Diskurs, der sich zusammensetzt aus »sprachlichen Ereignissen«, wobei ein sprachliches Ereignis »als eine Handlung« bestimmt werden könne, »durch die ideelle und symbolische Konstrukte in der sozialen Welt aktualisiert und ›realisiert‹ werden« (Donati 2006: 149).1 In seinen Texten wird 1

Wir arbeiten mit einem Diskursbegriff, der auf eine beschreibende Analyse von Text abzielt, von Michel Foucault entwickelt und von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe konkretisiert wurde. Unser Diskursverständnis steht damit gerade im Gegensatz zum normativen Diskursbegriff bei Jürgen Habermas (vgl. Nonhoff 2004). Der Diskurs bezeichnet jedoch keine einzelnen Teilbereiche der Gesellschaft wie bei Foucault, sondern das Soziale als Ganzes. In einer Gesellschaft gibt es demnach keine Vielzahl von Diskursen.

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Martin Kypta / Ulla Reiß

die Transformation anhand von sprachlichen Konzepten und nicht anhand von quantifizierbaren Daten beschrieben. Die Begriffe und Konzepte, die Marga untersucht, manifestieren sich in zentralen Bereichen der Gesellschaften der Transformationsstaaten. Marga betrachtet sowohl die mittelosteuropäischen Öffentlichkeiten als auch die politisch bedeutsamen Texte und Debatten aus der Wissenschaft. Margas Untersuchungsgegenstand eignet sich hervorragend für eine Anwendung der hegemonietheoretischen Diskursanalyse, da im Fall der mittelosteuropäischen Transformation eine Hegemonie im Begriff ist, von einer anderen abgelöst zu werden. Nach Antonio Gramsci sowie Ernesto Laclau und Chantal Mouffe meint »Hegemonie« die Vorherrschaft einer bestimmten politischen Zielvorstellung und die daran anhängigen (politischen) Forderungen. Ein hegemoniales Projekt gilt als erfolgreich, wenn eine »Forderung als gemeinsamer Wille politisch-gesellschaftlicher Kräfte tatsächlich über längere Zeit Verbreitung findet« (Nonhoff 2006: 148). So sind zwei Dinge offensichtlich: Zum einen war in den sozialistischen Ländern Mittelosteuropas vor 1989 eine von zentralen gesellschaftlichen Gruppen getragene Zielvorstellung vorherrschend;2 zum anderen endete diese Hegemonie abrupt mit dem Sturz der kommunistischen Regime. Mit der hegemonietheoretischen Diskursanalyse kann nun untersucht werden, welche Forderungen sich in den post-kommunistischen Ländern durchsetzten oder durchzusetzen versuchten und welche Konzepte aus der alten Hegemonie trotz des Bruchs erhalten geblieben sind. An dieser Stelle wollen wir zwei Analyseschritte hervorheben, die sich anhand der Begriffe »Äquivalenzkette« und »Repräsentation« fassen lassen.3 Verkürzt gesagt gibt es in jeder Gesellschaft Probleme, die der (politische) Diskurs hervorbringt und gleichzeitig beseitigen soll. Mit Blick auf die Auseinandersetzung mit diesen »Mängeln« wird eine Zweiteilung des diskursiven Raumes sichtbar: Elemente, etwa Begriffe, die die Mängel im jeweiligen Text beseitigen sollen, stehen auf der einen Seite; Elemente, die diesem Ziel im Wege stehen, befinden sich auf der anderen Seite. Die Elemente der jeweiligen Seiten sind untereinander gleichwertig (äquivalent) in Bezug auf das Ziel bzw. den Mangel. Der diskursive Raum kann somit in zwei Äquivalenzketten eingeteilt werden: eine mit positiv konnotierten Begriffen und eine mit negativ konnotierten Begriffen. An der Spitze der Ketten stehen ihr Repräsentant oder ihre Repräsentanten: Begriffe, die zum einen allen negativ konnotierten Elementen gegenüberstehen und zum anderen eine Vielzahl von positiv konnotierten Elementen in sich vereinen. Repräsentanten sind die

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Martin Nonhoff würde diesen Schritt nicht unbedingt mitgehen, da er seine Anwendung der hegemonietheoretischen Diskursanalyse auf »liberale und pluralistische Demokratien« beschränkt (Nonhoff 2006: 11, Fn. 1). Wir sehen es hingegen als unproblematisch an, den Hegemoniebefund auf kommunistisch regierte Länder auszuweiten, auch wenn dort öffentliche Publikationen und Äußerungen gesteuert und kontrolliert werden. Eine politische Diskussion und eine Auseinandersetzung über Leitbegriffe findet aber in jedem Fall statt, wenn auch langsamer sowie weniger pluralistisch und offen geführt. Für eine vollständigere Darstellung der Analyseschritte vgl. Nonhoff (2006) und einführend Nonhoff (2007).

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Mittendrin statt nur dabei?

Stellvertreter für eine Kette von Begriffen, die alle für die Verfolgung eines bestimmten (politischen) Ziels stehen. Mit dieser Analysemethode kann die sprachliche Ebene der Transformation in den Ländern Mittelosteuropas nach Begriffen abgesucht werden, die den Bruch unbeschadet überstanden haben, sowie nach Begriffen, die zum Sinnbild des zu beseitigenden Systems wurden. Gab es neue, vorher undenkbare Verbindungen und Differenzen? Welche Konzepte haben sich an die Spitze der Auseinandersetzung um eine neue Hegemonie gesetzt? Eine vollständige Analyse der Transformation in Mittelosteuropa aus hegemonietheoretischer Perspektive kann hier freilich nicht durchgeführt werden. Das liegt erstens daran, dass Margas Darstellung notwendigerweise relativ kurz ist und zweitens vor allem daran, dass sich ein umfassendes Bild der Transformation nur »aus einer Vielfalt von Erfahrungen sehr vieler Menschen« (i. d. B. 264) zusammensetzen kann. Diese Erschwernisse sind wohl auch der Grund dafür, dass Marga auf einen nachvollziehbaren Beleg seiner Quellen häufig genauso verzichtet wie auf eine detaillierte Zusammenstellung von Texten, die zentrale gesellschaftliche und politische Bedeutung für die beschriebenen Transformationsprozesse aufweisen. Das soll Marga hier aber nicht vorgeworfen werden, sondern als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen zur Transformation dienen. Margas fokussierte Darstellung des Diskurses der Transformation verspricht nämlich eine aufschlussreiche Einsicht in die inneren Perspektiven auf den Bruch und die Ablösung von der Hegemonie des »östlichen Sozialismus« durch das hegemoniale Projekt einer »offenen Gesellschaft«. Gemäß seiner primären Fragestellung betont Marga in der alten Hegemonie des »östlichen Sozialismus« lediglich die kritischen Momente: »soziale Gleichheit, das Schaffen von ›materiellen‹ Bedingungen für die persönliche Entfaltung, die Modernisierung der ›Produktionskräfte‹« (i. d. B. 264) können demnach als zentrale Leitideen oder Ziele des »östlichen Sozialismus« gelten, der sich bekanntlich auf die theoretischen Modelle von Marx, Engels und Lenin stützte (ebd.: 265). Eine Forschung im Anschluss an Marga müsste einerseits die Leitideen des alten Diskurses herausarbeiten, und zwar insbesondere in den Bereichen, wo sie heute noch Wirkung entfalten und der Entwicklung hin zum Ideal einer »offenen Gesellschaft« im Wege stehen. Andererseits könnten Begriffe identifiziert werden, die vor dem Bruch zwar ebenso positiv konnotiert waren wie danach, die nun jedoch in neuen Zusammenhängen stehen, so wie es etwa beim Begriff der Demokratie der Fall sein kann. Beide Arbeiten leistet Marga in diesem Band nur vereinzelt. Für Marga »musste im Osten erst die Ideologie des ›östlichen Sozialismus‹ zerstört werden, um zu einer unverzerrten Gestaltung der Gesellschaft zurückzufinden« (ebd.: 264). Der Rumäne versteht die Absage an alles Vorhandene als »zündendes Moment« der Transformation (ebd.: 267). Aber Marga ist selbstverständlich klar, dass sich die alten Ideen und Theorien nicht von heute auf morgen beseitigen lassen. Die »Kraft der Traditionen« müsse nüchtern anerkannt werden, betont er und zeigt gleichzeitig das Programm des neuen hegemonialen Projekts an, das diese Traditionen anhand von entsprechenden Strategien ersetzen müsse (ebd.: 271f.). Die alte Hegemonie ist demnach etwa in traditionellen ethnischen Identifikationen verankert, die sich über geographische Lage, historische Persönlichkeiten und Ereignisse, Spra279

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che, Religion und Philosophie definieren. Hier müsse sich das Projekt einer modernen europäischen Identifikationen durchsetzen, die aus beispielhaften Leistungen in Wissen, Ökonomie, Demokratie, Kultur ihre strategische Kraft gewinne (ebd.). Margas Beschreibung des Bruchs eröffnet eine Perspektive auf die Zweiteilung des diskursiven Raumes in den Ländern Mittelosteuropas. Konzepte und Traditionen der alten Hegemonie des Ostblocks stehen den Forderungen eines neuen Projekts entgegen. Dieser Dualismus steuert die politischen Auseinandersetzungen in diesen Ländern. Marga betont die Kraft des neuen hegemonialen Projekts, das sich auf die Leitkategorien westeuropäischer Theorien stützen kann. Deshalb beginnt sein Aufsatz mit Immanuel Kant und dessen Leitkategorie »Aufklärung«, die Westeuropa nach 1945 und Osteuropa über 40 Jahre später als »Fixpunkt für die Reflexion« gedient habe (ebd.: 263). Mit der Aufklärung als Repräsentant des neuen hegemonialen Projekts in Mittelosteuropa, so Marga, wurden vor allem die Forderungen nach »Mündigkeit, Freiheit und dem öffentlichen Gebrauch der Vernunft« gestärkt (ebd.: 263). Als weiteren Repräsentanten des hegemonialen Projekts kennzeichnet Marga das Konzept der »offenen Gesellschaft«, denn hinter diesem Leitbegriff sammeln sich die zentralen Werte und Konzepte der europäischen Kultur, nach deren Erfüllung die Länder Mittelosteuropas im Sinne des hegemonialen Projekts streben und streben sollen. Das hegemoniale Projekt der offenen Gesellschaft formuliere »eine Theorie der grundsätzlichen Freiheiten und Rechte des Individuums« (ebd.: 266) als Mangel, den der Marxismus auch in seiner reformwilligen Spielart nicht beseitigen konnte. So wurden, wie Marga rekonstruiert, in der Zeit der Abkommen zwischen Gorbatschow und Reagan bzw. Bush nicht nur freundschaftliche, institutionelle und ökonomische Neuerungen beschlossen, sondern gleichzeitig Leitwerte für den Ostblock formuliert, Forderungen, sich dem Westen und der »führenden Vision des Neoliberalismus« anzunähern. So sei die Wende beflügelt worden »von dem grundlegenden Charakter der individuellen Freiheiten und Rechte in der Gesellschaft. Die unüberschreitbare Freiheit der Person, der politische Pluralismus, die Marktwirtschaft und der Rechtsstaat waren die Werte, die den Ausgang aus dem ›östlichen Sozialismus‹ bestimmten« (ebd.: 267). Fortan sei die Politik in den Transformationsgesellschaften auf ein einziges Ziel ausgerichtet gewesen: die »offene Gesellschaft« (ebd.: 268). Mit diesem primären Ziel seien sekundäre, aber ebenso grundlegende Forderungen wie die nach »Demokratie« und einer Aufwertung der Politik zu einer unverzichtbaren gemeinschaftlichen Regulierungsinstanz verbunden gewesen (vgl. ebd.). Als dritter Repräsentant des hegemonialen Projekts fungiert bei Marga der Begriff der »europäischen Kultur«. Die Europäische Union gab und gibt nicht nur institutionelle Ziele in Form ihrer Beitrittskriterien vor. Allein die Errungenschaften der europäischen Kultur zeigen den Mangel und gleichzeitig die Ziele auf, welche die Gesellschaften Mittelosteuropas jetzt nachholend erreichen müssten. Die »Zugehörigkeit zur europäischen Kultur« übe einen immensen Einfluss auf den Diskurs in den Ländern des ehemaligen Ostblocks aus, der sich nicht nur auf die geographische und historische Zugehörigkeit zu Europa 280

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erstrecke. Wie Marga eindrücklich zeigt, spielt die Frage nach der Zugehörigkeit bis heute in allen Ländern Mittelosteuropas eine zentrale Rolle für die jeweiligen politischen Öffentlichkeiten.4 Aus Andrei Margas Text lassen sich grob sechs Diskurs- und Themenfelder herausfiltern, auf denen die »europäische Kultur« als Repräsentant einer weit reichenden Zielvorstellung das politische Handeln aller Akteure beeinflusst: 1. Wissenschaft, 2. Recht, 3. Öffentlichkeit, 4. Theorie als Praxis, 5. Liberalismus und Nation sowie 6. Philosophie und Religion. 1. In den Augen von Marga hat die europäische Kultur eine bestimmte Art von Wissenschaft hervorgebracht. Die Darstellung von effizienten, gesetzmäßigen, mathematisch formulierbaren Ursachen sowie die Lösung technischer Probleme stehe dabei im Mittelpunkt. »Rationalität« und »Leistung« sind die Schlagwörter dieses Bereichs. Politische Entscheidungsträger und Bürokratien in Mittelosteuropa werden im Sinne der Mitgliedschaft zur europäischen Kultur anhand dieser Kriterien überwacht und überprüft. »Man kann dieser Kultur nicht zugehörig sein, wenn etwa die Verwaltung der eigenen Gesellschaft die Prüfung dieser von Effizienz kontrollierten Rationalität nicht besteht« (ebd.: 270). 2. Im Bereich des Rechts fordert die »europäische Kultur« den Schutz des Individuums, seiner Freiheit und Autonomie sowie eine rechtliche Sicherung dieser grundsätzlichen Güter durch den Souverän (ebd.: 270). Seit der Renaissance sei die Autonomie der Person zugleich »das europäische Konzept der Freiheit« (ebd.: 270). Das Menschenbild der europäischen Kultur hat den Bürger zum Mittelpunkt, dem die Grundgüter Leben, Freiheit und Eigentum mit Hilfe von Freiheitsrechten und Bürgerrechten gesichert werden sollen. Das Leitbild der »europäischen Kultur« fordert von den politischen Handlungsträgern Mittelosteuropas, eine Sicherung dieser Grundwerte in ihre rechtliche Ordnung einzuschreiben und diese Sicherung stets zu überwachen. Für jede menschliche Person sei ein Privatbereich zu schaffen, der sich auf Eigentum stützt. 3. Dem Privatbereich steht in Margas Beschreibung der »europäischen Kultur« eine Öffentlichkeit gegenüber, in der Probleme von gemeinsamem Interesse aufgenommen und diskutiert werden. Der »Bereich des öffentlichen Lebens« bietet dort den Rahmen für kontroverse Meinungen, in welchem nach der normativen Diskurstheorie von Jürgen Habermas das »beste Argument« vorherrschen soll. Die politischen Handlungsträger sollen demnach Institutionen bereit stellen, welche diese Debatte organisieren und unterhalten, sie aber keinesfalls steuern und einengen. 4. Die Zugehörigkeit zur »europäischen Kultur« bedeutet die Absage an Ideologien und rein theoretische Utopien. Zwar führt Marga im vorliegenden Text nicht genau aus, wovon sich die Länder Mittelosteuropas abwenden 4

Der mit Marga dargestellte Prozess kann als Argument für eine Theorie fungieren, welche die Eingebundenheit und Abhängigkeit von politischen Akteuren in vorhandene Strukturen betont. Für die Vereinigung Europas unter gemeinsame Leitbegriffe und Institutionen können Namen von großen Politikern aufgerufen werden; im Zentrum stehen jedoch immer die Begriffe und Institutionen selbst. Sogar Theoretiker nehmen für bestimmte Leitziele einer Gesellschaft eine Stellvertreterrolle ein, wie das etwa bei Charles Taylor und Jürgen Habermas der Fall war. Dass Marga selbst diese Einschätzung teilt, kann man jedoch bezweifeln.

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müssen, doch ist in seiner Darstellung des geforderten Wegs zur Zugehörigkeit zu Europa auch an dieser Stelle der Antagonismus zur kommunistischen Vergangenheit spürbar. Die »europäische Kultur« bewege sich nicht nur in einem Raum der Spiritualität. Die Realität müsse als »zu bearbeitendes Material« (ebd.: 270) eingebunden werden. Ein Theoretiker, der sich nicht an den aktuellen Problemen seiner Gesellschaft orientiert und sich an der Diskussion über deren Lösung beteiligt, gehöre der »europäischen Kultur« nicht an und stehe fortan den Zielen und der Zukunft der neuen Hegemonie im Weg. 5. Für das Problem der ethnischen Vielfalt schlägt das hegemoniale Projekt der »europäischen Kultur« einen »subjektiven Liberalismus« vor. Als theoretische Bezugsperson für das »Management der Verschiedenheit unter den Umständen der lingualen und kulturellen Neuidentifizierung der ethnischen Gemeinschaften« (ebd.: 271) ruft Marga Charles Taylor auf. Der Antagonismus zu den Gegnern des hegemonialen Projekts manifestiert sich dabei in folgenden Schlagwörtern: »Renaissance des Nationalstaates« »neuer Pluralismus«, »Föderalismus« und »Prozedurale[r] Liberalismus« (ebd.: 271).5 Der »subjektive Liberalismus« erweist sich als dem hegemonialen Projekt zugehörig, weil er mit dessen Leitkategorien verbunden wird. Er gilt als »reflexiver«, sichert »Freiheiten und Rechte« und ermöglicht eine Verbindung von »kollektiven Rechten« und einer »individualistischen Struktur der Gesetzgebung« (ebd.: 271). An dieser Stelle betont Marga nochmals, dass Institutionen und rechtliche Regelungen allein nicht ausreichen. Das hegemoniale Projekt der »europäischen Kultur« fordert »Verantwortungsbewusstsein« von der Gesellschaft, es zielt immer auch auf die Verfassungswirklichkeit. Deutlich wird wiederum die antagonistische Struktur des hegemonialen Projekts: »Der ethnische Nationalismus musste durch den ›zivilen Nationalismus‹ überwunden, der traditionelle Patriotismus musste durch den Horizont des ›Verfassungspatriotismus‹ ersetzt werden« (ebd.: 272). 6. Noch deutlicher konzipiert Marga das hegemoniale Projekt der »offenen Gesellschaft« als eine Aufgabe für ganz Europa im Bereich von Philosophie und Religion. Für die »Überwindung der Gegenwartskrise«, einen klar formulierten Mangel, schlägt das Projekt die »Verbindung der Vernunft mit dem Glauben an moralische Werte und Pflichten« (ebd.: 272) vor. Es ist also eine Kombination von Philosophie und Religion, die Marga im Sinne des Projekts für Europa vorschwebt. Gefordert wird hier nicht nur die unabdingbare »Religionsfreiheit«, sondern auch der direkte Bezug auf »Demokratie« und »Menschenrechte«, die sich als normative Grundlagen des Verfassungsstaates eben nicht nur rational legitimieren ließen. Die Religion soll im hegemonialen Projekt einer »späten Modernität« eine dreifache Rolle spielen bei der »Unterstützung der Moral, der Verteidigung der klaren Werte und des Maßstabs der Freiheit« (ebd.: 273).

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Auch diese Dimension müsste eine zukünftige Forschung herausarbeiten: Welche unterschiedlichen Projekte mit hegemonialem Anspruch stehen sich in den Transformationsstaaten gegenüber? Um welche (stets positiv konnotierten) Leitbegriffe wird gekämpft? Welche Repräsentanten können den verschiedenen Gruppierungen zugeordnet werden?

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II. Margas Ausweitung der Perspektive von Mittelosteuropa auf ganz Europa zeigt, dass auch eine etablierte Hegemonie einer »offenen Gesellschaft« und »europäischen Kultur« immer in Bewegung bleibt, einen Mangel in ihrem Zentrum behält, weil immer Ziele offen bleiben werden. Margas Version einer »kritischen Theorie« macht diese Unabgeschlossenheit des europäischen Gesellschaftsprojekts besonders deutlich. Sie ermöglicht es oder macht es sogar nötig, bei der Analyse des Transformationsprozesses Stellung zu beziehen. Marga hält mit seiner Position bereits bei der Auswahl des theoretischen Ansatzes nicht hinter dem Berg: Er zeigt offen seine Begeisterung für das, was er »kritische Theorie« nennt und mit einer »moderne[n] Doktrin« (ebd.: 267) identifiziert, die sich wie keine andere mit der »späten Entwicklung der Moderne« (ebd.: 266) auseinandergesetzt habe. Als zentralen Aspekt, der die Vorrangstellung der kritischen Theorie besonders unterstreiche, bezeichnet Marga deren vor allem durch Jürgen Habermas ausgearbeitete »praktische Akzente« (ebd.: 267), die das Problem der Demokratisierung in die Theorie integriert hätten. Marga macht also deutlich, dass er keine deskriptive, wertneutrale Analyse der Vorgänge zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Gegenwart anstrebt. Er betont mithin den Strang der kritischen Theorie, der eine Beschreibung der Gesellschaft vor allem zu dem Zweck anstrebt, diese in Zukunft zu verbessern, was sowohl eine Bewertung der aktuellen Situation als auch eine notwendigerweise normativ geprägte Zielvorstellung impliziert.6 Margas Hinwendung zu diesem Ansatz nimmt nicht Wunder, zieht man in Betracht, dass er als Politiker aktiv an den politischen Umbrüchen Mittelosteuropas teilhatte. Neben seiner Stellung als Rektor der Babes-Bolyai Universität Cluj-Napoca (Klausenburg), die er von 1993 bis 2004 und wieder seit 2008 innehat, bekleidete er in den Jahren 1997 bis 2000 zugleich das Amt des rumänischen Bildungsministers. Zudem zeichnet ihn ein vielfältiges Engagement für die internationale Bildungspolitik aus: Als eines von zahllosen Beispielen sei nur seine Tätigkeit als Vizepräsident des Beirats des europäischen Zentrums für Hochschulbildung genannt. Die Abkehr der mittelosteuropäischen Staaten vom Sozialismus und ihre Hinwendung zu einem subjektiven Liberalismus beschreibt Marga nicht nur, sondern bewertet sie auch sehr deutlich als »Normalisierung des politischen Lebens« (ebd.: 268) und als den Weg zu einer »unverzerrten Gestaltung der Gesellschaft« (ebd.: 264). Nur dieser Liberalismus könne »die sozialen Gegebenheiten ausreichend berücksichtigen« (ebd.: 266). Die Verwendung des Begriffs der Normalisierung ist freilich problematisch: »Wie definieren Sie eigentlich Ihren Grundbegriff ›Normalität‹, ohne den Ihre Argumentation auf der Stelle kollabieren würde?«, fragte in seiner Monographie zum Thema Jürgen Link (Link 1997: 15). Als Gegenmodell zu diesem von Marga eindeutig positiv eingeschätzten Weg wird der Nationalismus beschrieben, der nicht weniger deutlich negativ

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Es überrascht insofern nicht, dass Marga dezidierte Ansichten sowohl über die Gestaltung der Gegenwart und Zukunft als auch über die richtige Lesart der Vergangenheit vertritt.

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bewertet wird. Jede ethnische Identifikation wird als nicht gerechtfertigt, da politisch instrumentalisiert charakterisiert und wird im Gegensatz zur »modernen« europäischen Identifikation als »traditionell« herabgesetzt (ebd.: 272). Eine Analyse der Gründe für das Aufkommen des Nationalismus wird nicht vorgenommen; stattdessen wird der Appell geäußert, dass Europa »keine konfliktfreie Zukunft« habe, »wenn es nicht den Weg der Versöhnung, der Integration und der Einigung geht« (ebd.: 271). In diesem Abschnitt gewinnt der Politiker, der für die europäische Integration kämpft, deutlich die Überhand. Eine ebenso prägnante Unterscheidung des richtigen und des falschen Weges in die Zukunft trifft Marga im Bereich der Philosophie. Die von ihm konstatierte Tendenz der aktuellen Philosophie zum Spezialistentum bezeichnet er als »Zerfall der Vernunft« (ebd.: 272). Als Heilmittel der gegenwärtigen Krise der Philosophie macht Marga die Religion aus, die zum »Hauptanker des kritischen Denkens« gemacht werden könne (ebd.: 273). Dieses Zukunftsszenario erscheint an einigen Stellen höchst diskutabel, beispielsweise wenn Marga Kriterien für eine europäische Zugehörigkeit aufstellt. Seine Bewertung von historischen Zugehörigkeitskriterien als nicht mehr wirkmächtig erscheint fraglich. Strittig ist auch seine Zukunftsvision eines in Politik, Verwaltung, Kultur und Wirtschaft effizient durchrationalisierten Europas, wie er es anhand der »Theorie der Systeme« beschreibt (ebd.: 269). Deutlicher lässt sich die Entscheidung Margas, jeweils eine bestimmte Perspektive ungebrochen zu bevorzugen, an seiner Sicht der Vergangenheit herausarbeiten. Die Zeit zwischen dem Zweiten Weltkrieg und den Umbrüchen während der 1990er Jahre sieht er gekennzeichnet durch die Dichotomie einer umgesetzten Aufklärung in den Demokratien Westeuropas einerseits und einem vom Autor eindeutig als inferior bewerteten (und eventuell deswegen immer in Anführungszeichen gesetzten) »östlichen Sozialismus« andererseits: Marga beschreibt ihn als »seit langem kompromittiert« (ebd.: 265). Die Tatsache, dass die Staaten dieses »östlichen Sozialismus« immerhin mindestens vierzig Jahre existierten, erklärt er nicht explizit. Es wirkt, als habe für den Umsturz des sozialistischen Systems lediglich die passende theoretische Untermauerung gefehlt, die schließlich in der kritischen Theorie gefunden wurde. Zudem spricht Marga den Staaten die Fähigkeit ab, sich aus sich selbst heraus zu wandeln. Diese Analyse lässt die Frage aufkommen, ob gemäß dieser Definition überhaupt ein System in der Lage ist, solch eine Reform aus sich selbst heraus durchzuführen, denn schließlich wurde die Wende von 1989/1990, wie Marga selbst beschreibt, durch einen führenden Politiker der Sowjetunion, Gorbatschow, eingeleitet, und von den Bürgern der sozialistischen Staaten selbst vorangetrieben. Zudem bleibt offen, wie Marga es sich erklärt, dass Habermas die von ihm gerühmte Weiterentwicklung der kritischen Theorie ausgerechnet in einem Teil der westlichen Welt vollzog, die doch laut Marga den Zustand der Aufklärung bereits erreicht und die »Bedeutung von Mündigkeit, Freiheit und öffentlichem Gebrauch der Vernunft« zur Grundlage ihrer Gesellschaft gemacht hatte (ebd.: 263). Das Ziel, für das Marga die kritische Theorie in den Transformationsprozess einzubeziehen gedenkt, hatte der Westen seiner Ansicht nach ja bereits erreicht. Entweder dient also die kritische Theorie, anders als Marga den Eindruck erweckt, nicht hauptsächlich der Durchsetzung 284

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offener Gesellschaften, oder die westlichen Gesellschaften hatten noch nicht den Zustand der Offenheit erreicht, den Marga ihnen zuerkennt, und hoben sich von den östlichen Gesellschaften nicht in der extremen Intensität ab, die Marga beschreibt. Als Triebkräfte für die Transformation der mittelosteuropäischen Staaten hebt Marga zum einen die Reformen Gorbatschows hervor, zum anderen das Bürgertum, das angetrieben wurde »von der Akzeptanz des grundlegenden Charakters der individuellen Freiheiten und Rechte in der Gesellschaft« (ebd.: 267). Marga zitiert an dieser Stelle keine Theorien, aber schreibt den Bürgern, ermutigt durch Gorbatschows Glasnost-Politik, die entscheidende Rolle für die Transformation zu. Implizit greift er damit Talcott Parsons’ Modernisierungs- bzw. Differenzierungstheorie auf (Parsons 1971). Dessen Erklärungsansatz geht davon aus, dass sich traditionelle Gesellschaften durch die Ausdifferenzierung ihrer sozialen Teilsysteme evolutionär zu modernen Gesellschaften entwickeln, indem bestimmte Universalien ausgebildet werden, z.B. eine Bürokratie, ein Rechtssystem oder freie Wahlen. Fehlt eine oder mehrere dieser Universalien, wird das System delegitimiert. Anders ausgedrückt: Mit einer modernen Gesellschaft entsteht eine Zivilgesellschaft, die auf politische Teilhabe drängt. Dieser Prozess läuft Margas Interpretation zufolge aber nicht automatisch ab, sondern bedarf des Anstoßes oder zumindest der Ermutigung von außen. Marga bezieht deshalb den viel zitierten »Gorbatschow-Faktor« mit ein (Brown 1996) und liefert so zugleich eine Erklärung des Zeitpunkts, warum die Bürger gerade zu einer bestimmten Zeit auf die Straße gingen – eine Konkretisierung, die die Modernisierungstheorie nicht erbringt. Das Ende des osteuropäischen Kommunismus lässt sich aber auch in anderen theoretischen Modellen fassen. Diese sollen hier kurz referiert werden, um zu verdeutlichen, dass Margas Auffassung vom Ablauf der Transformation bloß eine von vielen möglichen Meinungen darstellt. Valerie Bunce beispielsweise entwickelt die These der »subversiven Institutionen« sozialistischer Systeme, die sich selbst untergraben und auf diese Weise ihr eigenes Ende herbeiführen (Bunce 1999). Demnach beruhe die Legitimität des Regimes auf wirtschaftlichem Erfolg, den das planwirtschaftliche System selbst gerade verhindere. Die Fusion des Machtmonopols in Wirtschaft und Politik führt laut Bunce dazu, dass sich Misserfolge auf einem dieser beiden Sektoren immer auch auf den anderen ausweiten. Zudem bewirke die enorme Machtstellung der Partei eine extreme Anfälligkeit für intraelitäre Konflikte. Die Homogenisierung der Gesellschaft führt nach Bunce dazu, dass die Bürger sozialistischer Staaten dieselben Erfahrungen teilen und deshalb ein gemeinsames Feindbild entwickeln können. Auf diese Weise steigt das Potenzial politischen Widerstands in der Gesellschaft. Zuletzt würde in den föderativen sozialistischen Staaten das Aufkommen eines Nationalismus gefördert. Nicht ein wie auch immer geartetes aufgeklärtes Bürgerbewusstsein lässt die Gesellschaft in diesem Erklärungsansatz erstarken, sondern die Institutionen des sozialistischen Regimes selbst. Zudem bewertet Bunce die zunehmende Bedeutung nationaler Identifikationsfiguren weniger als zu korrigierenden Irrweg denn als Faktor, der die Implosionsgefahr der sozialistischen Vielvölkerstaaten steigerte. Ein weiteres Beispiel für alternative Erklärungsmöglichkeiten des Niedergangs des osteuropäischen Sozialismus bildet die Theorie der Regimety285

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pen, angestoßen von Juan Linz und Alfred Stepan (Linz et al. 1996).7 Sie gehen davon aus, dass sich ein totalitäres Regime nach dem Tod des totalitären Anführers zu einem posttotalitären Regime entwickelt, in dem der Terror abnähme und der Glaube an Ideologien zu einer bloßen Akzeptanz derselben herabsinke. Im weiteren Verlauf der Geschichte schwinde diese Akzeptanz entweder aufgrund ausbleibenden wirtschaftlichen Erfolgs so weit, dass die posttotalitäre Führung keine Legitimation mehr besitze und gestürzt würde, oder das Regime leite selbst Reformen ein, so dass es zu einer durch Verhandlungen erwirkten Transformation kommen könne. Dieser Ansatz besitzt den Vorteil, nicht nur den Mechanismus der Transformation, sondern auch verschiedene Spielarten des Regimewechsels erklären zu können. Auch in dieser Theorie spielt die emanzipatorische Kraft der Bürger eine weitaus weniger wichtige Rolle als in Margas Erklärungsansatz, denn erst der Systemwandel macht Bürgerbewegungen überhaupt möglich. Ebenso lässt sich die Beliebtheit der Schocktherapie zur Transformation der sozialistischen Wirtschaft in eine Marktwirtschaft mindestens mit Blick auf die von Marga beschriebene alternativlose Begeisterung in Zweifel ziehen. Auch wenn sich gerade die mittelosteuropäischen Staaten bald für den Weg einer schnellen Transformation entschieden, wurden doch verschiedene Szenarien diskutiert.8 Die meisten GUS-Staaten wählten die Alternative einer graduellen Transformation (Aslund 2007: 83). Aus einem stark wirtschaftswissenschaftlich geprägten Blickwinkel kann des Weiteren der schnelle Beitritt der mittelosteuropäischen Staaten zur EU durchaus kritisch beurteilt werden, wenn man davon ausgeht, dass das europäische Sozialmodell mit hohen Steuern und einem stark regulierten Arbeitsmarkt bzw. grundsätzlich ausgeprägter Regulierung den aufstrebenden Marktwirtschaften eher schadete als nützte (Aslund 2007: 282-86). Aus der Europäischen Union wurden zudem schon vor 2004 zweifelnde Stimmen laut, die die schnelle Erweiterung der Union um zehn mittelosteuropäische Länder als ein Menetekel für die zukünftige Unbeweglichkeit der Union interpretierten. Sie sahen die Gefahr, dass eine Gemeinschaft mit so vielen Mitgliedstaaten nicht über den Status einer besseren Freihandelszone hinausgelangen könne und so eine Vertiefung der Union schlechterdings unmöglich mache.9 Marga präsentiert also nur eine der vielen Geschichten, die man über die letzten sechzig Jahre der europäischen Vergangenheit erzählen kann. In Margas Narrativ spielt die Aufklärung zu einer offenen Gesellschaft die entscheidende Rolle:10 Zu Beginn der Geschichte hat sie gerade das tiefe Tal durchquert, in das Europa im Zweiten Weltkrieg versunken war. Nun beginnt sie sich durchzusetzen, der Westen Europas wendet sich ihr wieder zu und wird 7

Für die Entstehung verschiedener Oppositionsarten in den unterschiedlichen Regimetypen vgl. Lopez et al. (2001). 8 Die Diskussion zwischen den Anhängern einer Schocktherapie und den Gegnern wird, wenngleich vom Standpunkt des Befürworters, nachgezeichnet bei Aslund (2007: 29-56). 9 Zu den politischen Herausforderungen der Osterweiterung der EU vgl. z. B. Martens (2004). Auf einer grundsätzlicheren Ebene diskutieren die Frage Faber (2007) und Schimmelfennig (2002). 10 Zur Diskussion um Narrativität vgl. den klassischen Aufsatz von Stone (1979).

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dafür mit offenen Gesellschaften, Freiheit und Demokratie belohnt. Ermöglicht wird diese Bekehrung durch die Rezeption der kritischen Theorie. Der Osten Europas hingegen unterliegt der Macht einer Ideologie, die vielleicht bisweilen das Gute will, aber doch nicht mehr als das Böse schafft. Erst als die Bürger der sozialistischen Staaten ihren kritischen Geist entdeckten, konnte die Aufklärung ihren Siegeszug in den Osten antreten. Am Ende von Margas Geschichte hat die offene Gesellschaft obsiegt, jedoch beginnt ihr im Nationalismus ein neuer Feind zu erstehen, gegen den es sich, so der Appell an den Leser, zu wappnen gilt.11 Auf diese Weise verbindet sich bei Marga ein bestimmtes Ziel für die Gegenwart und Zukunft mit einer bestimmten Sichtweise der Vergangenheit. Insofern beschreibt Marga nicht nur einen Prozess, der als hegemoniales Projekt gelesen werden kann, sondern liefert mit seinem Aufsatz auch einen wichtigen Baustein dafür. Margas Text würde sich demnach eignen, dem oben skizzierten Forschungsprogramm als Quelle zu dienen, die die Hegemonie der offenen Gesellschaft durchsetzen will. Marga bezieht eine konkrete politische Position im Diskurs über die Transformation, was für manchen – gerade westeuropäischen – Sozialwissenschaftler befremdlich wirken mag. Dadurch wird die Frage aufgeworfen, inwieweit über politisch so bewegte Zeiten überhaupt von einer externen Beobachterposition aus geurteilt werden kann, zumal wenn die betreffenden Vorgänge erst der jüngsten Vergangenheit angehören. In Deutschland lässt sich ein gewisses Unverständnis für die wechselseitigen Positionen etwa in der Debatte um die Stasi finden. Kann beispielsweise einerseits ein Bürgerrechtler, selbst von der Stasi mehrere Jahre inhaftiert, einen glaubwürdigen Zeitzeugen abgeben? Steckt andererseits in der scheinbar objektiven Bewertung durch einen westdeutschen Wissenschaftler, der sich jedes Urteils enthalten möchte, nicht eine ebensolche Voreingenommenheit, die die Gefahr mit sich bringt, den aus Sicht des Bürgerrechtlers unzweifelhaften Unrechtscharakter des Überwachungssystems zu missachten? Inwieweit können und dürfen sich historische Erfahrung und wissenschaftliche Bewertung überschneiden? Eventuell steht aber das Problem, wie über ein Ereignis gerade der jüngeren Vergangenheit geschrieben werden kann, erst an zweiter Stelle. Zunächst sollte sich jeder Leser selbst mit der Frage konfrontieren, wie ein Text wie der von Marga neutral gelesen werden kann, bevor er seine eigenen Vorurteile und Meinungen an ihn anlegt.

Literatur Aslund, Anders (2007): How Capitalism Was Built. The Transformation of Central and Eastern Europe, Russia, and Central Asia, Cambridge: Cambridge University Press. Brown, Archie (1996): The Gorbachev Factor, Oxford: Oxford University Press. Bunce, Valerie (1999): Subversive Institutions. The Design and the Destruction of Socialism and the State, Cambridge: Cambridge University Press.

11 Die Grundlage für die Diskussion um Historiker als Geschichtenerzähler lieferte White (1973).

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Donati, Paolo R. (2006): »Die Rahmenanalyse politischer Diskurse«. In: Reiner Keller/Andreas Hirseland/Werner Schneider/Willy Viehöver (Hg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd. 1: Theorien und Methoden, 2. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 147-177. Faber, Anne (2007): »Die Weiterentwicklung der Europäischen Union: Vertiefung versus Erweiterung?« Integration 2, S. 104-116. Link, Jürgen (1997): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen: Westdeutscher Verlag. Linz, Juan/Stepan, Alfred (1996): Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South Africa and Post-Communist Europe, Baltimore: Johns Hopkins University Press. López, Juan/Thompson, Mark R./Saxonberg, Steven (2001): Toward an Explanation of Transitons and Non-Transitions from Communism. Proceedings from a Symposium held at Dalarna College in Falun, March 2001, Dalarna: Högskolan Dalarna. Martens, Stephan (2004): »Das erweiterte Europa«. Aus Politik und Zeitgeschichte 17, S. 3-5. Nonhoff, Martin (2004): »Diskurs«. In: Gerhard Göhler/Mattias Iser/Ina Kerner (Hg.), Politische Theorie. 22 umkämpfte Begriffe zur Einführung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 65-82. Nonhoff, Martin (2006): Politischer Diskurs und Hegemonie. Das Projekt »Soziale Marktwirtschaft«, Bielefeld: transcript. Nonhoff, Martin (2007): »Politische Diskursanalyse als Hegemonieanalyse«. In: ders. (Hg.), Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie. Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Bielefeld: transcript, S. 173-193. Parsons, Talcott (1971): The System of Modern Societies, Englewood-Cliff: Prentice-Hall. Schimmelfennig, Frank/Sedelmeier, Ulrich (2002): »Theorizing EU Enlargement. Research Focus, Hypotheses and the State of Research«. Journal for European Public Policy 9.4, S. 500-528. Stone, Lawrence (1979): »The Revival of the Narrative. Reflections on an Old New History«. Past and Present 85, S. 3-24. White, Hayden (1973): Metahistory. The Historical Imagination in 19th Century Europe, Baltimore: Johns-Hopkins University Press.

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Kulturelle Transformationen und die Revision des Diskontinuitätsmodells: ein Beitrag zur Soziologie kulturellen Wandels ANDREAS RECKWITZ

Wie kann die Soziologie Prozesse sozialen und kulturellen Wandels erklären? In welcher Form lassen sich soziale und kulturelle Transformationen beschreiben? Die Frage nach den Mechanismen sozialen Wandels ist so alt wie die Soziologie selbst und doch kommt ihr im Rahmen des soziologischen Diskurses ein prekärer Stellenwert zu. Dieser ergibt sich aus dem Spannungsfeld zweier grundsätzlicher Tendenzen innerhalb des soziologischen Denkens: einer basalen Struktur- und Reproduktionshypothese einerseits, der Annahme einer Ubiquität des Wandels und der Veränderung andererseits. Klassischerweise neigt die soziologische Theorie zu einer quasi-strukturalistischen Reproduktionsprämisse, deren Kehrseite dann die Frage nach dem sozialen Wandel bildet, die als ein Spezialproblem verstanden werden muss. Indem die Soziologie – im Gegensatz etwa zum Historismus der Geschichtswissenschaft mit seiner Fixierung auf immer wieder neue Ereignisse – das Soziale als Regeln und Regelmäßigkeiten modelliert, als in der Zeit konstante Strukturen, normative oder kognitive Muster, technische Ordnungen oder Differenzierungsformen, erscheinen zunächst soziale Konstanz und Reproduktion als der Normalfall sozialer Realität. Konsequenterweise bedarf dann der soziale Wandel einer spezifischen Erklärung; er erscheint als erklärungsbedürftiger Sonderfall, der auf eine besondere »Theorie des sozialen Wandels« angewiesen ist (vgl. etwa Müller/Schmid 1995; Boudon 1991; kritisch dazu Giddens 1988). In diesen Zusammenhang ist auch die verbreitete soziologische Neigung einzuordnen, der modernen Gesellschaft bestimmte, scheinbar unwandelbare Strukturmerkmale zuzuordnen – etwa formale Rationalität, funktionale Differenziertheit oder die Gesetze des Kapitalismus –, die sich wie eherne Gesetze ins Unendliche zu reproduzieren scheinen. Obwohl der soziologische Diskurs damit ein konstitutives Vorurteil zugunsten der Struktur und gegen den Wandel in seine Grundbegrifflichkeit eingebaut hat, weist er zugleich genau umgekehrt die Tendenz auf, Wandlungsprozesse als dermaßen allgegenwärtig wahrzunehmen, dass sie scheinbar keiner übergreifenden Erklärung mehr bedürfen. Soziale Veränderungen – sei es in den Familien- oder Berufsverhältnissen, den jeweiligen neuen Medien und neuen Technologien, der Migration, der Stadtentwicklung usw. – werden in der empirischen Soziologie seit ihrem Beginn in der Mitte des 19. Jahrhunderts beständig und immer wieder neu diagnostiziert, so dass nun gerade die Veränderungen, die Steigerungen und Reduktionen, die Um289

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schichtungen und Neuentwicklungen das einzig Berechenbare an der modernen Gesellschaft zu sein scheinen. Die Soziologie hat hier gewissermaßen ein konstitutives Vorurteil zugunsten des gesellschaftlich »Neuen«. Sie beschreibt diese Wandlungsprozesse routinemäßig und versucht gewissermaßen »lokale«, begrenzte Erklärungen, ohne dass sich das übergreifende Problem einer Theorie sozialen Wandels in diesem Zusammenhang als relevante Frage stellen könnte. Die einander entgegenstehenden Grundannahmen einer Konstanz von Strukturen und einer Ubiquität vielgestaltigen Wandels nehmen damit im Grunde zwei widerstreitende Konnotationen der Semantik des »Modernen« und der »Moderne« selbst auf (vgl. auch Kumar 1995): einerseits jene im 18. Jahrhundert wurzelnde Konnotation, die das Moderne als eine radikal neuartige, aber in sich selbst nicht mehr überholbare Strukturformation betrachtet (der Wissenschaften, des Staates, der Marktökonomie etc.), als ein Ergebnis sozialen Wandels, das jeden grundsätzlichen sozialen Wandel unüberbietbar an ein Ende bringt, und andererseits jene am Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende Konnotation der Modernität – vor allem im ästhetischen Diskurs nach Baudelaire –, in der diese als die permanente und ungerichtete Entstehung des Neuen schlechthin interpretiert wird. Die prekäre soziologische Arbeitsteilung zwischen einer übergreifenden Strukturprämisse, in deren Zusammenhang eine Theorie sozialen Wandels zu einem Spezialproblem avancieren muss, das selber nur auf sehr abstrakter Ebene behandelt werden kann, und der spezifischeren Diagnose einer Ubiquität von Wandlungsprozessen geringerer Reichweite in allen möglichen empirischen Feldern moderner Gesellschaften ist für ein heuristisch fruchtbares Verständnis des Zusammenhangs von sozialer Reproduktion und sozialem Wandel hinderlich. Im Folgenden soll es darum gehen, das soziologische Problem der Beschreibung und Erklärung von Transformationsprozessen mit Blick auf eine konkrete Frage und einen konkreten Erklärungsfall zu behandeln, und zwar auf jenen der kulturellen Transformation der westlichen Formen des Selbst, des Individuums und der Persönlichkeit. Es soll also um die Veränderung dessen gehen, was man als »Subjektordnungen« umschreiben kann. Ich werde daher die Frage nach sozialem Wandel und Transformation von vornherein auf die Frage nach dem kulturellen Wandel, d. h. nach der Transformation von Sinnmustern und Codes zuspitzen, die soziale Praktiken anleiten, und ich werde mich in diesem Zusammenhang auf die Frage nach dem kulturellen Wandel jener sinnhaften Muster konzentrieren, welche die Form des modernen Selbst generieren. Ausgangspunkt ist zunächst (I.) die Feststellung, dass sich hier auf der Grundlage einer Vielzahl von Analysen ein grundsätzlicher kultureller Wandel der Subjektordnung ausmachen lässt, der sich schlagwortartig als Transformation von einem innenorientierten, bürgerlichen Selbst über eine »extroverted personality« hin zu einem expressiv-ökonomischen Subjekt der Postmoderne umschreiben lässt. Die Epochenschwellen der allmählichen Ablösung der Subjektformationen sind um 1920 und um 1980 festzumachen. Es geht im Folgenden jedoch nicht darum, diese Transformation(en) im Detail darzustellen – dies habe ich andernorts, vor allem in Das hybride Subjekt (Reckwitz 2006) – versucht. Im Vordergrund steht vielmehr die Frage, wie sich dieser Transformationsprozess einer spezifischen kulturellen Ordnung erklären lässt. Dieses Problem soll anschließend diskutiert werden. In Teil II werde ich argumentieren, dass sich ein Teil des Erklärungsproblems 290

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schon durch die Problemstellung selbst ergibt: Ein Narrativ, das von vornherein nur von homogenen kulturellen Formationen und radikalen Diskontinuitäten ausgeht, enthält genau jenen Bias zugunsten sozialer Strukturen, der ein angemessenes Verständnis von Transformationsprozessen verhindert. Ich werde demgegenüber zwei basale, aber effektive heuristische Konzepte vorschlagen, die bisher eher im kultur- und literaturwissenschaftlichen Kontext verwendet werden, die aber aus meiner Sicht für die soziologische Neuperspektivierung kultureller Transformationsprozesse instruktiv sein können: die Konzepte der Hybridität und der Intertextualität. Die Subjektordnungen können dann nicht nur als hybride Überlagerungsgebilde bestimmter aneinander gekoppelter, aber damit instabiler kultureller Codes dechiffriert werden, sondern auch als Gebilde, zwischen denen präzise rekonstruierbare quasi-intertextuelle Verweisungs- und Aneignungszusammenhänge existieren. Da sich die Vorstellung radikaler Brüche auf diese Weise als ein Narrationsprodukt erweist, das sich entdramatisieren und in die heuristisch interessantere Frage nach Hybriditäten und Intertextualitäten überführen lässt, möchte ich in Teil III zeigen, wie man darüber hinaus die Frage nach der Entstehung des kulturell Neuen durchaus sinnvoll stellen kann, wenn man sie in den Suchauftrag nach jenen kulturellen Nischen übersetzt, die sich als besonderer gesellschaftlicher Kontext der Sinnproduktion ausmachen lassen. Am Ende wird sich herausstellen, dass für den Fall der relativen Transformation von Subjektordnungen um 1920 und um 1980 vor allem drei Sinnproduktionsnischen in Frage kommen: die kulturellen, insbesondere ästhetischen Gegenbewegungen, humanwissenschaftliche Diskurse, schließlich Artefaktrevolutionen, vor allem solche medialer Artefakte, die alle drei in ihrem simultanen Auftauchen Impulse für den Wandel der Subjektordnungen geliefert haben.

I. Die Transformation kultureller Makrostrukturen am Beispiel von Subjektkulturen Wie haben sich innerhalb der modernen, westlichen Kultur das Selbst, das Subjekt und seine Identität transformiert? Welcher spezifische kulturelle Transformationsprozess lässt sich hier rekonstruieren? Diese Problemstellung beschäftigte bereits Max Weber und Georg Simmel, und sie reicht in der zeitgenössischen Diskussion bis zu Michel Foucault und Charles Taylor (vgl. Foucault 1991, Taylor 2005). Dabei geht es nicht allein um den Wandel der Semantiken dessen, was ein »Selbst« ist, sondern darüber hinaus um die Transformation dessen, was Foucault (2005) die Subjektivierungsform oder Bourdieu (1987) den Habitus des Akteurs nennt. Riesman (1949) sprach auch von der Transformation des »Sozialcharakters«. Diese Subjektivierungsform ist kein intellektuelles, sondern ein alltägliches Phänomen sozialer Praxis.1 Sie kreuzt verschiedenste Sphären sozial-kultureller Verhaltensweisen, vor allem die ökonomischen Praktiken des Berufs und des Arbeitens, die privaten Praktiken persönlicher Beziehungen zwischen den Geschlechtern und in Fa1

Zum Konzept des »Subjekts« in den Sozial- und Kulturwissenschaften vgl. auch Reckwitz (2008).

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milien, die Praktiken der Erziehung und schließlich auch die Bereiche des Konsums, der Freizeit und der alltäglichen Nutzung von Medien. Sicherlich existieren zu jeder Zeit je nach Milieu und sozialer Klasse unterschiedliche Habitusdispositionen, aber trotzdem spricht vieles dafür, dass sich in den gesellschaftlichen Leitmilieus vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart ein Wandel der Subjektkulturen feststellen lässt. Zu diesem Schluss kann man kommen, wenn man eine Fülle von Arbeiten aus der Kulturgeschichte und Soziologie auswertet, in denen die Veränderung von Berufs- und Arbeitsweisen, von Geschlechterbeziehungen sowie Familien- und Partnerschaftskonstellationen oder von Mediennutzung und Konsumverhalten rekonstruiert worden sind. In der historischen Transformation der modernen Kultur lassen sich nun drei Phasen unterscheiden, in denen jeweils drei unterschiedliche Subjektordnungen, verstanden als kulturelle Makrostrukturen, dominieren:2 Die erste Fassung einer modernen Subjektkultur, die des bürgerlichen Subjekts, bildet sich auf den drei Feldern der Arbeit, der Intimbeziehungen und der Selbstpraktiken im 18. Jahrhundert. Dieses bürgerliche Subjekt übt sich in einer Innenorientierung, die entlang eines Codes der Moralität und eines Codes der Souveränität erfolgt. Als bürgerliches formt sich das moderne Subjekt in moralischer Selbstdisziplinierung, die allgemeingültigen rationalen Maßstäben folgen soll, sowie in einer souveränen Selbstregierung, die ihm eine autonome Selbsterhaltung, eine demonstrative Unabhängigkeit von äußeren Regularien ermöglicht. Diese Subjektstandards kristallisieren sich auf allen zentralen Feldern sozialer Praktiken heraus: Das bürgerliche Selbst formt sich als Arbeitssubjekt, entwickelt ein Berufsethos ebenso wie professionelle Kompetenzen und einen Sinn für das Eigeninteresse der ökonomisch Handelnden. Es bildet sich als Intimsubjekt der bürgerlichen Familie und der Freundschaftsbeziehungen, die als empfindsame, sexuell selbstkontrollierte und souverän gewählte Beziehungen modelliert werden. Schließlich formt es sich in den Technologien des Selbst der Schriftkultur, im Lesen und Schreiben, die in der konzentrierten Bildung als Selbstbildung eine moralische und empfindsame Innenwelt hervortreiben. Diese moralisch-souveräne Selbstformung des bürgerlichen Subjekts vollzieht sich – parallel zur Abgrenzung vom »abhängigen« Subjekt des Dritten Standes, später auch des Proletariats – vor allem im Unterschied zur Aristokratie und ihrem höfischen Persönlichkeitstypus. Das bürgerliche Subjekt und seine bürgerliche Kultur errichten im 19. Jahrhundert eine fragile Hegemonie; sie geraten jedoch an der Schwellenphase zu Beginn des 20. Jahrhunderts dadurch in die Defensive, dass soziale Praktiken entstehen, die einen neuen Subjekttypus forcieren. Man kann diese neue, leitende Subjektkultur des Westens in Anlehnung an Kracauer als die des »Angestellten« umschreiben und die neue Form der Moderne mit Peter Wagner (1994) als »organisierte Moderne«. Auf allen subjektkonstitutiven 2

Eine ausführliche Darstellung der historischen Subjektordnungen mit entsprechenden Literaturreferenzen findet sich in Reckwitz (2006). Der Begriff der »Makrostrukturen« wird hier in Anlehnung an Giddens (1988) verwendet, und zwar im Rahmen einer Bemühung, den Dualismus zwischen Mikro- und Makroebene zu überwinden: die »Makro«-Ebene bezieht sich in diesem Verständnis auf jene Strukturen, die »Raum und Zeit binden«, d.h. die über einzelne lokale und situativ-momenthafte Kontexte präsenter Akteure und Objekte hinweg existieren.

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sozialen Feldern lässt sich diese Verschiebung der Hegemonie und eine entsprechende Umcodierung des Subjekts in den 1910er und 20er Jahren beobachten. Die USA bilden zunächst ihr Zentrum: In den Praktiken der Arbeit, die nun in den Großorganisationen und Korporationen stattfinden, schält sich als Subjektmodell ein organization man heraus, der an der Spitze der Figur des Manager-Ingenieurs entspricht und technische mit sozialtechnischen Kompetenzen vereinigt. In der Intimsphäre sieht sich die bürgerliche Familie verdrängt durch die amerikanistische peer society in der suburbia-Gemeinschaft, die mit einer relativen Aktivierung des weiblichen Subjekts, auch mit einer Sexualisierung des Paares verbunden ist. Im Bereich der Technologien des Selbst entsteht die audiovisuelle Kultur des Films und des Fernsehens, welche das Subjekt von den kognitiven, nach innen gerichteten zu den visuellen, nach außen zielenden Fertigkeiten umorientiert. Zudem verbreiten sich Praktiken der Konsumtion in der nach-bürgerlichen Warenwelt symbolisch aufgeladener Güter. In der Homologie dieser Kulturtechniken bildet sich das Angestelltensubjekt als ein extrovertiertes. Grundlegend sind dabei die social ethics, die Orientierung am Sozialen eines Kollektivs, die teilweise nach Art einer Neuen Sachlichkeit mit dem Modell der Perfektion einer technischen Ordnung verknüpft ist. Eine dritte Form moderner Kultur und eine wiederum neuartige Subjektform bilden sich in Auseinandersetzung mit der Angestelltenkultur seit den 1970er Jahren heraus. Man kann sie als »postmoderne« Kultur umschreiben und ihre leitende Subjektform als konsumtorisches Kreativsubjekt. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts entwickeln sich wiederum auf den Feldern der Arbeit, der Privatsphäre und der Technologien des Selbst neuartige Praxisformate, deren Subjektform sich neu positioniert. Sozialstrukturell ist diese Subjektform in der new creative class verankert, wobei sie sich insbesondere vom nun konventionell und unauthentisch erscheinenden Angestelltensubjekt der organisierten Moderne absetzt. In den Arbeitspraktiken der neuen Leitbranchen – Medienindustrie, Forschung und Entwicklung, Beratung, Unterhaltung etc. – entstehen Arbeitsformen einer post-bürokratischen Organisation, deren Subjekt sich als eine Symbiose aus Kreativem und »Unternehmer seiner selbst« (enterprising self) herausstellt. Die persönlichen Beziehungen gehen auf Distanz zur sozialen Regulierung der peer society und entwickeln einen Typus der Paar- und Freundschaftsbeziehung als mittelfristiges Projekt, das sich am Maßstab des self growth der jeweiligen Individuen messen lässt. In den Technologien des Selbst schließlich entstehen neue Körperpraktiken – im Umkreis von Sport und Gesundheitsorientierung –, Praktiken des Umgangs mit der digitalen Kultur sowie eine individualästhetisch orientierte Form der Konsumtion. Das postmoderne Subjekt, das sich in allen diesen Feldern formiert, ist expressiv und unternehmerisch und in diesem Sinne individualistisch ausgerichtet. Grundlegend scheint eine Orientierung an der Vielfältigkeit und Dynamik des inneren Erlebens, an der Authentizität eigener Individualität, die sich aus der spielerischen Potenzierung von Erfahrungen ergibt. Zugleich ist die postmoderne Subjektivierungsform auf generalisierte ökonomisch-selbstunternehmerische Dispositionen ausgerichtet, die überall von einer Konstellation der Wahl zwischen Optionen sowie der Sicherung der eigenen Wählbarkeit durch andere ausgeht. Die postmoderne Subjektkultur beruht auf einer Differenzmarkierung zu einem Subjekt, dem

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es sowohl an Expressivität wie an wahlorientierter Handlungsfähigkeit mangelt. II. Zur Revision des Diskontinuitätsmodells kulturellen Wandels: Hybriditäten und Intertextualitäten Die Darstellung der Transformation moderner Subjektordnungen, wie ich sie bisher geliefert habe, ist von vornherein in einem gängigen Narrativ gerahmt: in einem Narrativ der Diskontinuitäten.3 Ein solches Narrativ kennt man beispielsweise aus Foucaults Die Ordnung der Dinge (1990), wo epistemologische Brüche zwischen Wissensordnungen rekonstruiert werden. In vielerlei Hinsicht handelt es sich hier – jedenfalls auf den ersten Blick – durchaus um ein heuristisch fruchtbares Narrativ. Es presst nämlich – Foucault hat dies selbst hervorgehoben – die Transformation zwischen kulturellen Ordnungen nicht in eine große Erzählung der Kontinuitäten, der Teleologien, der rationalen Ablösung und letztlich des Fortschritts, wie sie etwa aus der Tradition der soziologischen Modernisierungstheorien sehr vertraut ist.4 Auch in unserem Fall ist es auf der Grundlage des Diskontinuitätsnarrativs möglich, die Denkfigur einer gesellschaftlichen und kulturellen Steigerung zu vermeiden. Die historische Sequenz von der Kultur des bürgerlichen Subjekts über das extrovertierte Angestelltensubjekt bis zum expressiven und unternehmerischen Selbst der Postmoderne lässt sich nicht in eine lineare Abfolge bringen. Es handelt sich weder um eine Steigerungs- noch um eine Verfallsgeschichte, sondern um differente kulturelle Formationen, die jede für sich den zeitgenössisch plausiblen Anspruch der Modernität erheben. Allerdings stellt sich damit unvermeidlich eine Frage, mit der auch Foucault konfrontiert wurde und dessen Beantwortung er zunächst ausdrücklich vermieden hat: Wie ist es zu erklären, dass hier jeweils eine bestimmte kulturelle Formation durch eine andere abgelöst wird? Dieses Problem lässt sich in zwei Schritten behandeln: In einem ersten ist das Diskontinuitätsmodell selbst zu relativieren, in einem zweiten gilt es, die Suche nach kulturellen Nischen für Praxisund Sinnexperimente aufzunehmen. Zunächst stellen sich die begrifflichen und narratologischen Voraussetzungen des Diskontinuitätsmodells als fragil heraus. Dabei ist festzuhalten, dass die Kehrseite der Diskontinuitätshypothese immer die quasi-strukturalistische Annahme stabiler und eindeutiger kultureller Muster innerhalb der jeweiligen kulturellen Formation bildet. Die vorgeblich strikten Differenzen zwischen der Wissensordnung des bürgerlichen, des post-bürgerlichen und des postmodernen Subjekts »nach außen« sollen mit der Identität, der Homogenität der drei Subjektordnungen »nach innen« korrespondieren. Damit taucht die basale sozialwissenschaftliche Strukturhypothese in historisierter Form wieder auf. Sozialwissenschaftler sind zum großen Teil derart gewöhnt an das Denkmuster einander ablösender Strukturen, dass zunächst gar keine Alternative zu ihm denkbar scheint. Eine solche Alternative zeigt sich jedoch 3 4

Die Perspektive, wissenschaftliche Behandlungen des Wandels als »Narrativ« zu betrachten, wird von Jean-Francois Lyotard (1994 [1979]) eröffnet. Vgl. zu den soziologischen Modernisierungstheorien Van der Loo/Van Reijen (1992); kritisch Knöbl (2001).

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bereits, wenn man sich die beiden kulturwissenschaftlichen Denkfiguren der »Hybridität« und der »Intertextualität« vergegenwärtigt und diese auf den soziologischen Kontext der Analyse sozial-kultureller Wandlungsprozesse anwendet. Das Konzept der Hybridität erlaubt es, kulturelle Formationen nicht als homogen und einheitlich, sondern als einen Überlagerungszusammenhang unterschiedlicher kultureller Codes zu modellieren, die damit durchaus eine Struktur bilden, aber eben eine kombinatorische Struktur, die das Potential für Instabilitäten in sich trägt. Das Konzept der Intertextualität gestattet es, die historische Abfolge kultureller Formationen nicht als absolute Diskontinuitäten zu lesen (ohne wiederum in das Kontinuitätsdenken zu verfallen), sondern als partielle Diskontinuitäten, zu denen partielle Wiederaneignungen, Neuinterpretationen und Zitationen vergangener kultureller Elemente parallel laufen. Der Begriff des Hybriden ist bekanntlich vor allem von den post colonical studies profiliert worden, um gegen essentialistische Kulturmodelle die kulturellen Mischungsverhältnisse in nicht-westlichen oder migrationsspezifischen Lebensformen sichtbar zu machen.5 Daneben haben die science studies – etwa Donna Haraway in ihrer Figur des »Cyborg« – das Konzept auf die Relationen zwischen Menschen und Maschinen bezogen. Die Bedeutung dieser Arbeiten lässt sich verallgemeinern und auch auf kulturelle Ordnungen sowie – für unseren Zusammenhang – auf Subjektordnungen anwenden. Die Komplexe, in denen sich hier ein Subjekt formt, erweisen sich regelmäßig als synkretistische Kombinationen unterschiedlicher Sinnmuster verschiedener Herkunft, als Überlagerungen mehrerer kultureller Schichten. Bei genauerer Betrachtung stellt sich jede der drei genannten Subjektordnungen auf ihre spezifische Weise als mindestens doppelcodiert heraus. D. h., ihre leitende Subjektform setzt sich jeweils nicht aus einer einzigen Unterscheidung, sondern aus einer hybriden Kopplung (mindestens) zweier verschiedener Differenzmuster unterschiedlicher Herkunft zusammen: In der bürgerlichen Kultur handelt es sich um die Kombination zwischen dem Subjektcode der prinzipienorientierten Moralität und dem Code sich selbst regierender Souveränität, in der Angestelltenkultur der organisierten Moderne um die Anforderung der sozialen Normalität der Gruppe und eine ästhetische Orientierung des Subjekts an attraktiven, visuellen Oberflächen, in der Postmoderne um das Künstlersubjekt und den Unternehmer seiner selbst, d. h. um die ästhetischexpressive und zugleich marktförmige Ausrichtung des Handelns. Diese hybriden Code-Kopplungen wirken auf einer ersten Ebene überdeterminierend, d. h. sie verstärken sich gegenseitig und produzieren damit gerade durch ihre Doppellegitimation eine besonders stabile, hegemoniefähige Subjektkultur. Zugleich implantieren sie jedoch in diese stabile Subjektkultur potentielle Spannungen bis hin zu Konstellationen eines psychologischen »double bind«. Solche immanenten Spannungen können in kulturelle Friktionen münden, welche die Subjektkultur insgesamt kollabieren lassen. Tatsächlich setzen sich die hybriden Code-Kopplungen der drei Subjektordnungen in historisch nachweisbare Instabilitäten um: So erhält die bürgerliche Kultur ihre leitende Instabilität durch die Spannung zwischen der Grenzstabilisierung der bürgerlichen Moralität und Respektabilität und den möglichen ris5

Ich lehne mich im Folgenden an die Argumentation in Reckwitz (2006) an. Vgl. zum Konzept der Hybridität in seiner engeren Bedeutung Pieterse (1995).

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kanten Grenzüberschreitungen, die sich aus einer Radikalisierung der bürgerlichen souveränen Selbstregierung ergeben, etwa in der ökonomischen Risikoorientierung. Die Angestelltenkultur der amerikanisch geprägten organisierten Moderne impliziert eine zentrale Instabilität, indem sie eine ästhetisch-hedonistische Orientierung, wie sie sich in den Bereichen Konsumtion und Sexualität konkretisiert, mit einer Orientierung am ›Normalismus‹ der Sozialität und der Sachlichkeit kombiniert. Die kulturelle Formation der Postmoderne schließlich sieht sich destabilisiert durch die Konkurrenz zwischen ihrer im Kern ästhetisch-expressiven Subjektlogik und ihrer quasiökonomischen Logik eines Subjekts, das sich als Objekt von marktförmigen Prozessen der Wahl formen (lassen) muss. Eine Sensibilisierung der sozialwissenschaftlichen Analyse von Wandlungsprozessen für diese hybriden Kombinationen mehrerer Codes in einer kulturellen Formation ist dabei nicht mit einem hegelianischen, dialektischen Verständnis von »Widersprüchen« gleichzusetzen. Zwar stimmen die dialektische und die hybriditätsorientierte Perspektive in ihrer Sensibilisierung für Instabilitäten und damit für immanent wandlungs- und bewegungsinduzierende Elemente überein. Aber aus der am Leitkonzept des Hybriden geschulten Perspektive geht es nicht um logische Widersprüche, die sich auflösen lassen – Margaret Archer (1996) hat eine genau so orientierte Theorie kulturellen Wandels präsentiert –, sondern um Kombinationen von Codes, die einander verstärken und wandlungsinduzierend wirken können. Die kulturellen Formationen erscheinen aus diesem Blickwinkel wie eine Montage heterogener Elemente, die in einem unberechenbaren Verhältnis zueinander stehen. Angesichts dieser immanenten Unberechenbarkeiten infolge der Überlagerungs- und Kombinationsstrukturen verliert das Diskontinuitätsnarrativ jedoch deutlich an Rigidität: Nun stehen sich eben nicht mehr drei Blöcke wie Basaltmonumente gegenüber, sondern Formationen, die Fissuren enthalten. Das Diskontinuitätsbild verändert sich weiter, wenn man den Blick auf die intertextuellen Verweisungszusammenhänge zwischen den kulturellen Formationen und auf die Art und Weise lenkt, in der spätere kulturelle Kontexte auf frühere zurückgreifen, diese neu interpretieren, zitieren und sich einverleiben.6 Die Hybridität jeder einzelnen, historisch-spezifischen kulturellen Ordnung entsteht in entscheidendem Maße durch selektive Sinntransfers, durch kulturelle Applikationen von Elementen vorhergehender Zeitpunkte und -räume. Hier finden sowohl Sinntransfers aus vergangenen dominanten Subjektkulturen als auch solche aus früheren nicht-dominanten Kulturen, vor allem aus kulturellen Gegenbewegungen statt. Diese Applikation lässt die Bedeutung eines Subjektmodells nicht unverändert: Es kann kein bloßer »Transport« von Sinn von einem in den anderen Kontext stattfinden, sondern nur eine interpretative Aneignung, die das Angeeignete selbst modifiziert und somit wiederum problemlose Kontinuität verhindert. Der Sinntransfer erhält eher die Form einer Zitation aus einem Kontext, der nicht mehr der gegenwärtige ist. Für die moderne Kultur ist kennzeichnend, dass sie diese historisch vergangenen Sinnelemente verfügbar hält und damit einem späteren, unberechenbaren Sinntransfer zugänglich macht: in kulturellen Objekten wie Texten, Bildern, Monumenten sowie in nicht-hegemonialen und anti6

Zum Konzept der Intertextualität in seiner ursprünglichen kulturwissenschaftlichen Bedeutung vgl. Morgan (1985).

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hegemonialen Milieus. Eine Subjektkultur kann ihre Bedeutung damit nicht in der geschlossenen Präsenz ihrer selbst finden. Sie ist vielmehr affiziert durch präzise bestimmbare Signifikations-»Spuren« der ganzen historischen Kette von Praktiken, Diskursen und Codes, die ihr vorausgeht, so dass – mit Derrida gesprochen – »sich jedes Element [...] aufgrund der in ihm vorhandenen Spur der anderen Elemente der Kette oder des Systems konstituiert« (Derrida 1986: 67). Solche intertextuellen Spuren und Aneignungen des Vergangenen im Gegenwärtigen finden sich nun für die Subjektordnungen der bürgerlichen Moderne, der organisierten Moderne und der Postmoderne: Die bürgerliche Subjektordnung bildet sich einerseits zwar über eine Differenzmarkierung sowohl zur amoralisch erscheinenden aristokratischen Kultur als auch zum vorgeblich abhängigen und unmündigen Subjekt der religiösen Volkskultur. Zugleich imitiert sie andererseits jedoch fasziniert die körperliche und kommunikative Souveränität des höfischen Selbst und kopiert zentrale religiöse Sinnmuster, vor allem die Annahme einer mundanen Wohlgeordnetheit, in ihre Grundprämisse einer natürlichen Rationalität der Handlungswelt. Die Angestelltenkultur der organisierten Moderne hängt ihrerseits sowohl von einer Kontinuität mit als auch von einer Differenzmarkierung zur historisch vorhergehenden bürgerlichen Kultur ab: Die sozialorientierte wie zerstreuungsorientierte Extroversion des Subjekts der Angestelltenkultur steht in Opposition zur Innenorientierung bürgerlicher Moralität. In dieser Hinsicht herrscht also eine strikte Diskontinuität. Aber zugleich greifen die Grundannahmen sozialer und technischer Rationalität der organisierten Moderne auf Präsuppositionen bürgerlicher Ordnungs- und Rationalitätsorientierung zurück. Schließlich ergeben sich zusätzliche intertextuelle Komplikationen mit der Entstehung der postmodernen Subjektkultur. Es finden hier intensive Sinntransfers aus der zeitlich weiter zurückreichenden bürgerlichen Kultur statt, die sich etwa im Training des Subjekts in souveräner Selbstregierung zeigen, einschließlich seiner Ausbildung in Risikomanagement, »emotionaler Kompetenz« und biographischer Selbstplanung. Es finden aber zugleich auch Sinntransfers aus den ästhetischen Gegenbewegungen der Moderne bis hin zur Romantik mit ihrem expressiven Selbst statt.

III. Experimentalsysteme kultureller Innovationen Die sozial-kulturelle Transformation zwischen den drei genannten Subjektordnungen lässt sich damit als eine Transformation zwischen hybriden kulturellen Formationen neu beschreiben, die sich zugleich in einem intertextuellen Verweisungszusammenhang befinden. Durch den vorgeschlagenen Wechsel der Beobachtungsperspektive lässt sich damit das Modell absoluter Diskontinuitäten zwischen stabilen kulturellen Strukturen aufbrechen. Damit ist jedoch trotzdem noch nicht die Frage beantwortet, wie sich die westlichen Subjektordnungen um 1920 und um 1970 in der genannten Weise verändern. Auch wenn diese Subjektordnungen instabil und damit wandlungsinduzierend sind, und auch wenn sie niemals vollständig »neu« sein können, sondern immer Elemente vergangener kultureller Formationen enthalten, die sie sich aneignen, so sind sie doch zumindest relativ neu. Aber woher stammen diese neuen Sinnelemente, welche die Subjektform der Angestelltenkultur dann 297

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doch von jener der bürgerlichen Kultur und die der Postmoderne von jener der Angestelltenkultur unterscheiden? Auch hier kann man sich bereits durch die Formulierung der Frage daran hindern, eine passende und befriedigende Antwort zu erhalten. Dies geschieht, wenn man den kulturellen Wandel mit einem Ursprungsmythos des Neuartigen verquickt: mit der Annahme, im Rahmen der prinzipiellen Reproduktion des Alten, d. h. bisheriger kultureller Strukturen, stelle die Produktion des absolut Neuen eine Ausnahmesituation dar, die sich dann etwa nur individualistisch – z. B. über die Schöpfer religiöser, künstlerischer oder politischer Ideen – oder aber mechanistisch erklären lässt, d. h. als eine neue kulturelle Struktur, die von einer dahinter liegenden sozialen Struktur hervorgebracht wird. Eine solche mechanistische Erklärung ist vor allem in der klassischen Soziologie populär gewesen – man denke an Durkheims (1992) Versuch, die Kultur des Individualismus aus der Arbeitsteilung »abzuleiten«. Vor einem kulturwissenschaftlichen und darin gerade auch poststrukturalistisch beeinflussten Hintergrund ist allerdings diese geradezu verzweifelte Suche nach den Ursprüngen des Neuen, die für die Umwälzung des Alten verantwortlich gemacht werden können, eine verfehlte Fragestellung. Wiederum steht hier ein klassischer, stabilitätsorientierter Strukturbegriff im Wege, der die Produktion von Neuem als Aberration gegenüber dem Normalfall der Reproduktion verstehen muss. Verarbeitet man stattdessen Derridas (1992) Konzepte der différance und der Iterabilität soziologisch, können die schleichenden Sinnverschiebungen, die Widerständigkeiten des Augenblicks, der flexible Umgang mit Polysemien mikrosoziologisch sichtbar werden – all die Momente also, die beispielsweise auch die Ethnomethodologie immer wieder hervorgehoben hat. Dass damit die Produktion des Neuen als Potential in jedem Moment kultureller Praxis enthalten ist, entdramatisiert die Frage nach dem Ursprung des Neuen beträchtlich. Allerdings schließt sich sogleich eine pragmatischere Anschlussfrage an: In welchen Kontexten lässt sich gehäuft eine solche Produktion von relativ neuen Sinnelementen feststellen, denen es dann in einem zweiten Schritt auch gelingt, sich gesellschaftlich zu verbreiten? Welches sind gewissermaßen – um einen Begriff Hans-Jörg Rheinberger (2001) zu entlehnen – die kulturellen »Experimentalsysteme«, die einen besonderen Beitrag zur Transformation ganzer Subjektordnungen liefern? Hier geht es nicht um die Identifizierung eines bestimmten dominanten Funktionssystem, etwa der Ökonomie, der Politik oder der Religion, sondern um die Identifizierung spezifischerer und zugleich weniger eindeutig funktional fixierter sozial-kultureller Kontexte, die um 1920 und um 1970 – also an den »Epochenschwellen« – als solche kulturelle Experimentalsysteme wirken und die beide genannten Bedingungen erfüllen: Einerseits bilden sie Produktionsstätten quantitativ und qualitativ herausragender neuer Sinnelemente, welche die Form von Subjektivität beeinflussen; andererseits entfalten sie zugleich über ihre jeweilige kulturelle Nische hinaus eine gesellschaftliche Wirksamkeit. Entscheidend ist, dass es sich bei diesen kulturellen »Innovationen«7 zu Anfang keineswegs um massenhafte Erscheinungen handelt, sondern nicht selten um ausgespro7

Der Begriff der »Innovation« soll hier wertneutral verwendet werden und keine Fortschrittskonnotation erhalten. Bisher wurde der Begriff häufig mit einem technischökonomischen Bias verwendet, vgl. Braun-Thürmann (2005).

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chene Minderheitsphänomene, die sehr spezifische Subkulturen, soziale Mikrokosmen, hochspezialisierte Diskurse oder zunächst wenig verbreitete Artefaktsysteme betreffen.8 Diese sehr viel spezifischere und heuristisch fruchtbarere Frage nach den kulturellen Nischen der Produktion von relativ Neuem lässt sich nicht grundsätzlich und theoretisch, sondern nur am Material beantworten. Im Fall der Transformation von Subjektordnungen um 1920 und um 1970 kann man mit guten Gründen argumentieren, dass hier drei kulturelle Experimentalsysteme wirken, die als Nischen in besonderem Maße neuartige Subjektformen hervorgebracht haben, welche dann verhältnismäßig rasch zu einer Transformation der gesamten Subjektordnungen beitrugen. Diese Experimentalsysteme sind: die ästhetischen Bewegungen als ein Komplex subkultureller Praktiken und Diskurse, die mit dem expliziten Ziel der Subjektrevolutionierung auftreten, sodann die Diskurse der Humanwissenschaften als Orte einer systematischen Neudefinition von Subjektivität, und schließlich die technischen Artefaktrevolutionen, vor allem in Form der Revolution medialer Artefakte, in deren Umkreis sich neuartige Subjektdispositionen herausbilden. Diese drei Kontexte liefern zu bestimmten historischen Zeitpunkten Sinninnovationen bezüglich neuer Subjektformen, die sich an den kulturellen Transitionsschwellen gegenseitig verstärken und selektiv in die neue, dominante Subjektkultur aufgenommen werden. Während der beiden Transitionsphasen von der bürgerlichen zur organisierten Moderne und von der organisierten Moderne zur Postmoderne findet um 1920 und um 1970 eine synchrone Sinninnovation von Subjektivität in allen drei Kontexten statt, die im Folgenden jeweils eigens dargestellt werden sollen.9 1. Ästhetische Bewegungen: Kulturelle Bewegungen lassen sich unter modernen Bedingungen als Subjekttransformationsbewegungen begreifen. Anders als bei jenem Phänomen, das unter dem Begriff der sozialen Bewegungen zusammengefasst wird, stehen hier nicht Emanzipations-, sondern Identitätsfragen im Mittelpunkt. Für Konflikte um das moderne Subjekt und dessen Transformation spielen die ästhetisch orientierten Bewegungen, die mit ästhetischen Diskursen und subkulturellen Praktiken verknüpft sind, eine besondere Rolle. Es sind diese ästhetischen Bewegungen und ihr Modell eines ästhetischen Selbst, die bereits in der Romantik, dann in den Avantgardebewegungen um 1900 und schließlich in der Counter Culture um 1970 besondere kulturelle Experimentalsysteme bilden. Sie generieren Modelle eines Selbst, das nicht am zweckrationalen Handeln, sondern an einer Sensibilisie8

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Man kann an dieser Stelle von Ideen aus den kulturalistischen Evolutionstheorien profitieren, ohne in einen neodarwinistischen Evolutionismus zu verfallen: Soziologische Evolutionstheorien unterscheiden zu Recht Kontexte der »Innovation« bzw. Variation von jenen der Selektion bzw. Reproduktion und richten damit den Blick auf die Nischen der Produktion von zufällig Neuem, das kurzfristig auch nischenhaft bleiben kann und erst langfristig Effekte zu erzielen vermag (was in der Regel medientechnische Bedingungen voraussetzt). Vgl. etwa Luhmann (1997). Das Problem der systemtheoretischen Analysen sozialen Wandels bei Parsons und Luhmann ist nicht die Evolutionstheorie, sondern das differenzierungstheoretische (und bei Parsons auch werttheoretische) Korsett, in das sie diese zwängen. Vgl. zum Folgenden wiederum die Darstellung und die Literaturverweise in Reckwitz (2006: 73ff.).

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rung der Wahrnehmung, nicht am normorientierten Handeln, sondern an kreativer Gestaltung, nicht am Alltagsrealismus, sondern am Alltagskonstruktivismus orientiert ist und damit auch das Ideal-Ich des Künstlers profiliert. Die ästhetischen Bewegungen versuchen den universalen Horizont des herrschenden Subjektmodells aufzubrechen und mit einer Alternative zu konfrontieren. Schließlich werden Elemente dieser Alternative mit der Angestelltenkultur nach 1920 und vor allem mit der Postmoderne seit den 1970er Jahren zur dominanten Kultur. Der Umbau der Subjektform in der Angestelltenkultur sowie in der postmodernen Kultur setzt mit seinen dezidiert ästhetischen Elementen jeweils die Experimentalsysteme der ästhetischen Bewegungen um 1900 und 1970 voraus, aus denen die neuen dominanten Kulturen zentrale Bausteine beziehen. 2. Humanwissenschaftliche Diskurse: Diese zum großen Teil eher protowissenschaftlichen und teilweise auch in popularisierte Interdiskurse übergehenden Diskurse definieren und formen seit dem 18. Jahrhundert in immer neuen Sinninnovationen den Code des »Menschen« und seiner Eigenschaften. Sie umfassen unter anderem Diskurse aus den Bereichen der Psychologie, der Soziologie, der Politischen Theorie, der Philosophie, der Wirtschaftswissenschaft, der Humangenetik und der Neurophysiologie. Tatsächlich fällt jede Transformationsschwelle der Subjektordnungen mit Sinninnovationen solcher humanwissenschaftlicher Diskurse zusammen. Dies gilt bereits für die bürgerliche Morallehre und Politische Ökonomie, die Moralischen Wochenschriften und die bürgerliche Belletristik (bürgerlicher Roman) im 18. Jahrhundert, die als Voraussetzungen der bürgerlichen Subjektordnung fungieren. Es gilt weiterhin für die sozialpsychologischen und sozialtechnischen Disziplinen vom Taylorismus und der Human Relations-Schule über die Psychotechniken und das social engineering bis hin zu den sozialorientierten Familien-, Paar- und Erziehungsberatungsdiskursen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ansetzen. Und es gilt schließlich für die an der IchEntfaltung orientierte Psychologie, wie sie auch die Persönlichkeitsberatung beeinflusst, sowie für den neuen Managementdiskurs im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Für die Epochenschwellen um 1920 und um 1970, an denen sich die relativen Verschiebungen der Subjektordnungen ausmachen lassen, ist damit übereinstimmend eine Vorbereitung dieser Verschiebungen durch eine Transformation der humanwissenschaftlichen Diskurse zu beobachten. 3. Artefaktrevolutionen: Generell werden Praktiken nicht allein vom inkorporierten Wissen menschlicher Subjekte getragen; in ihnen sind auch technische Artefakte im weitesten Sinne enthalten, die zwar keine determinierende Wirkung besitzen, aber materiale Bedingungen für mögliche und unmögliche Praktiken wie Subjektformen liefern. Damit stellt sich die Verfügung über bestimmte Artefakte zugleich als ein Kontext dar, in dem sich spezifische Subjektdispositionen ausbilden. Das technologische Artefaktsystem der Schrift und des Buchdrucks sowie die Praktiken des Lesens und Schreibens liefern beispielsweise die Voraussetzung für eine spezifische kognitivmoralisch-imaginative Innenorientierung des Subjekts. Um 1900 bzw. 1920 findet eine Ballung von Artefaktrevolutionen statt, die Bedingungen für eine Umorientierung der Subjektform in die Richtung sozialer, technischer und ästhetischer Extroversion zur Verfügung stellen: So ermöglicht eine Transformation der Produktionstechnologien durch die zweite Revolution der Industrie und der Verkehrstechnologien jene Großkorporationen, auf welche 300

Kulturelle Transformationen

die sozial-technische Subjektkultur antwortet. Gleichermaßen liefern die Techniken der Massenproduktion Voraussetzungen für einen Massenkonsum und damit für die Entwicklung eines Konsumsubjekts. Schließlich bildet die Revolution der audiovisuellen Medien die Bedingung für einen Umbau des Subjektverhaltens im Umgang mit medialen Praktiken nach der Buchkultur und wirkt sich damit auch auf die neue Konsumkultur aus. In ähnlicher Weise fällt die kulturelle Transformation um 1970/1980 mit einer erneuten Artefaktrevolution zusammen, deren wichtigster Bestandteil die digitale und mikroelektronische Transformation der Kommunikationstechnologien ist. Diese ermöglicht nicht nur neue mediale Praktiken, sondern auch veränderte Organisations- und Arbeitsformen von der flexiblen Spezialisierung bis zum computer aided design. Für eine Transformation der gesamten Subjektordnung ist um 1920 und um 1970 eine dreifache Koinzidenz von (1.) ästhetischen Gegenbewegungen mit ihrer Version einer »Kulturrevolution« und von (2.) Paradigmenwechseln des humanwissenschaftlichen Diskurses und von (3.) Artefaktrevolution(en) erforderlich gewesen. In dieser Koinzidenz treffen Prozesse der Produktion neuer Subjektformen aus allen drei zunächst nischenhaften kulturellen Räumen, die sich weitgehend autonom voneinander entwickelt haben, aufeinander und verstärken sich gegenseitig in der Erosion der alten und in der Beeinflussung einer neuen Subjektkultur. Die beiden kulturellen Schwellenphasen der Transition von der bürgerlichen zur organisierten Moderne und von der organisierten Moderne zur Postmoderne um 1920 und um 1970 stellen sich als solche Koinzidenzpunkte heraus, an denen sich sowohl ästhetische Gegenbewegungen als auch eine neue Artefaktkultur sowie neu ausgerichtete Subjektmodelle im humanwissenschaftlichen Diskurs entwickeln. In der Überlagerung dieser Experimentalkulturen kommt es zu einer Umwälzung der bisher dominanten Subjektkultur. Die Frage nach der Beschreibung und Erklärung sozial-kultureller Wandlungsprozesse in der Soziologie lässt sich damit von den grundsätzlichen Annahmen der Diskontinuitäten zwischen kulturellen Blöcken und des Rätselcharakters der Entstehung des Neuen lösen und durch zwei heuristisch fruchtbare Operationen ersetzen: zum einen durch eine Konzentration auf die Frage nach den Hybriditäten und Intertextualitäten, die sich zwischen kulturellen Ordnungen herausbilden; zum anderen durch die Frage nach den spezifischen kulturellen Experimentalsystemen, den sozialen »Nischen«, welche zu bestimmten Zeitpunkten in besonderem Maße kulturelle Innovationen hervorgebracht haben, die dann langfristig großflächige Effekte erzielt haben. Es könnte sich damit ein empirisches Forschungsprogramm zu kulturellen Wandlungsprozessen ergeben, das bereit ist, seine eigenen narratologischen Voraussetzungen in Frage zu stellen.

Literatur Archer, Margaret Scotford (1996): Culture and Agency. The Place of Culture in Social Theory, Cambridge: Cambridge University Press. Boudon, Raymond (1991): Theories of Social Change. A Critical Appraisal, Cambridge: Polity.

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Andreas Reckwitz

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Blinde Flecken hegemonialer Analyse? Ein Kommentar zu Andreas Reckwitz ANJA ROZWANDOWICZ

In seinem Beitrag zu diesem Band möchte Andreas Reckwitz soziale Transformationsprozesse adäquat beschreibbar und der Soziologie zugänglich machen, ohne in die von ihm ausgemachten Sackgassen einer Annahme allgegenwärtigen sozialen Wandels einerseits und einer Struktur- und Reproduktionshypothese andererseits zu laufen, die Veränderungen als Sonderfall betrachtet. Ob diese beiden Pole die gegenwärtige Soziologie tatsächlich repräsentieren sei dahingestellt (kritisch dazu der Beitrag von Stephanie Garling i. d. B.). Beide würden sich allerdings der von Reckwitz aufgeworfenen Frage nach einer Theorie sozialen Wandels verschließen. Dieser Frage versucht Reckwitz anhand eines konkreten Falls nachzugehen, nämlich dem hegemonialer Subjektkulturen und deren Transformationen in der westlichen Moderne. Als Denk- und Analysemittel bringt er die in den Kultur- und Literaturwissenschaften etablierteren Konzepte von Hybridität und Intertextualität für eine soziologische »Neuperspektivierung« (Reckwitz i. d. B.: 291) zum Einsatz. Der folgende Kommentar konzentriert sich auf die von Reckwitz zu diesem Zweck vorgenommene Rezeption dreier zentraler Begriffe und Konzepte: (1) Subjekt, (2) Hybridität und (3) Intertextualität. (1) Reckwitz’ »hybrides Subjekt« setzt sich aus (zeitlich) überlagernden Codes kultureller Leit-Subjektformen zusammen. In diesem Zusammenhang verweist er auf Foucaults Begriff der Subjektivierung sowie Bourdieus Habituskonzept, um zu konturieren, was als ein Selbst verstanden werden soll. Nun ist es nicht Reckwitz’ Ziel, eine Theorie des Subjekts auszuarbeiten, ebenso wenig expliziert er sein Verständnis von »Subjekt«. Sein Ziel ist vielmehr die Beschreibung und Analyse hegemonialer Subjektkulturen in sogenannten Leitmilieus. Der Verweis auf zwei Denker – Foucault und Bourdieu –, die die Frage danach, wie ein Mensch zum Subjekt wird, in den Zusammenhang von Macht und Sein/Leben gestellt haben, irritiert zuweilen im weiteren Textverlauf: In Reckwitz’ Diagnose und Deskription der drei hegemonialen Subjektkulturen der Moderne fällt dieses für Foucault und Bourdieu so zentrale Wechselverhältnis von Subjekt und Macht sowie Habitus und »Feld der Macht« einfach weg. Damit erübrigt sich auch die Frage nach den Ermöglichungsbedingungen bzw. dem »Möglichkeitsfeld« (Foucault 2005: 255), in dem Subjekte überhaupt erst Intelligibilität erreichen können, »das heißt, in denen sie [als Subjekte] überhaupt zum Vorschein kommen« (Butler 1993: 123). Insofern wird mit und im Anschluss an Foucault nicht nur die Frage nach möglichen Existenzformen ganz buchstäblich 303

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aufgerufen, sondern damit verbunden auch die Frage nach ihrer Regulierung durch die diskursiv zur Verfügung stehenden Subjektformen. So verstanden ist der Begriff der Subjektivierung auch einer, der die Möglichkeiten und Begrenzungen von Seinsweisen in kritischer Absicht aufsucht, um das Möglichkeitsfeld zu erweitern. Das aber heißt, dass Diagnose und Analyse nicht getrennt voneinander zu denken sind, da sich ein Aufruf zum Aufsuchen von Widerständen nicht allein in der Suche nach Nischen potentieller Sinninnovationen erschöpft, die rückblickend aufgespürt werden (vgl. Reckwitz i. d. B.: 299f.). Versteht man zudem Hegemonie als einen Aushandlungsprozess darüber, was kulturelle Autorität beanspruchen darf und soll, so dass »Autorität« ständig hergestellt, verteidigt, verändert wird (vgl. Hark 1999: 25), dann gehören zum Verständnis jeweiliger Hegemonien nicht allein die zur jeweiligen Zeit geltenden hegemonialen Codes, sondern ebenso die Kämpfe und Widerstände, durch die diese Codes konstituiert werden. Foucault schreibt dazu: »[W]enn wir wissen möchten, was Machtbeziehungen sind, müssen wir vielleicht die Widerstände dagegen untersuchen und die Bemühungen, diese Beziehungen aufzulösen [...]: den Widerstand gegen die Macht der Männer über die Frauen, der Eltern über ihre Kinder, der Psychiatrie über die Geisteskranken, der Medizin über die Bevölkerung, der staatlichen Verwaltung über die Lebensweise der Menschen« (Foucault 2005: 244).

Auch für Bourdieus Konzeption des Habitus ist die jeweilige Situiertheit eines Subjekts in einem Feld genauso zentral wie die Frage nach den jeweiligen Aushandlungen sozialer Konfigurationen. Wenn man davon ausgeht, dass der Habitus einerseits von Strukturen strukturiert wird, die andererseits durch diesen Habitus wiederum erst hervorgebracht und reproduziert werden – wobei Reproduktion nicht heißt, dass alles beim Alten bleiben muss –, dann eröffnet sich ein Blick auf die in und mit der Reproduktion von Subjektivität vorgenommenen Verschiebungen. Sinninnovationen als vom sozialen Raum entbunden zu betrachten, wie von Reckwitz in seinem Beitrag, blendet die Bedingungen für die Ausbildung sozialer Formationen aus, die für Bourdieu immer auch Kämpfe um Veränderungen und Erhalt der Grenzen und Konfigurationen des sozialen Raums sind. Dies zu vernachlässigen verkürzt und reduziert die analytische Bewegung Bourdieus. Denn Felder sind ihm zufolge immer auch Orte von Kräfteverhältnissen – nicht allein von Sinnverhältnissen – und von Kämpfen um die Veränderung dieser Verhältnisse (Bourdieu 2006: 134f.). In diesen Kämpfen sind »die Strategien der Akteure abhängig von ihrer Position im Feld, das heißt in der Distribution des spezifischen Kapitals, und von ihrer Wahrnehmung des Feldes, das heißt von ihrer Sicht auf das Feld als der Sicht, die sie von einem bestimmten Punkt im Feld aus haben« (Bourdieu 2006: 132).

Nun würde Reckwitz dies auch gar nicht bestreiten, doch stellt er die »je nach Milieu und sozialer Klasse unterschiedlichen Habitusdispositionen« zurück und wendet sich den »gesellschaftlichen Leitmilieus« zu, anhand derer er kulturelle Makrostrukturen identifiziert (Reckwitz i. d. B.: 292). Diese Zurückstellung ist ein weiterer Preis, der gezahlt werden muss für eine Ana304

Blinde Flecken hegemonialer Analyse?

lyse, die sich allein um hegemoniale Subjektformen kümmert. Denn durch die Nicht-Thematisierung unterschiedlicher Wirkungen von Faktoren wie Klasse, Ethnizität, Geschlecht oder auch geopolitische Positionierung und den damit unterschiedlichen Möglichkeiten und Wirklichkeiten von SubjektSein geraten diese aus dem Blickfeld der Analyse. Nachdenklich stimmt hier auch die von Reckwitz an anderer Stelle vorgenommene Charakterisierung von Ethnizität, Klasse und Geschlecht als weitere mögliche Kriterien für die »Unterscheidung von Subjektformen«, d. h. als Kriterien, »die in sämtlichen Feldern und Milieus eine zusätzliche Verkomplizierung von Subjektivierungsweisen ergeben« würden (Reckwitz 2008: 142; meine Hervorh.). Doch welches Subjekt wäre dann Ausgangspunkt der Analyse? Wäre es eines das frei ist von jeglicher Klassen-, Geschlechts- oder Ethnienzugehörigkeit? Diese Fragen müssten in die Analyse Eingang finden, auch wenn Subjektanalyse nicht bedeutet, dass immer schon vorab nach diesen Kategorien sortiert oder gefahndet werden sollte, zumal die Frage, welche Eigenschaften (einem) Geschlecht, (einer) Ethnizität und (einer) Klasse subsumiert werden, eben genau die ist, die zu analysieren ist. (2) Der Begriff des Hybriden, den Reckwitz in Anlehnung an postkoloniale Theorien einführt, soll es ermöglichen, »kulturelle Formationen nicht als homogen und einheitlich, sondern als einen Überlagerungszusammenhang unterschiedlicher kultureller Codes zu dechiffrieren« (Reckwitz i. d. B.: 295). So ergibt sich eine Art von Kombinatorik, mit der die von Reckwitz ausgemachten drei Subjektformationen (bürgerliches Subjekt, Angestelltensubjekt, unternehmerisches Subjekt) in der westlichen Moderne als »mindestens doppelcodiert« (ebd.) gedacht und beschrieben werden können. Nicht nur stellt sich hier die Frage, ob eine Doppelcodiertheit moderne Subjektivitäten angemessen beschreiben kann. Vielmehr verwundert, dass die Rezeption von Hybridität hier auf ein Begriffsinstrument reduziert wird, das dazu dient, »kulturelle Mischungsverhältnisse in nicht-westlichen oder migrationsspezifischen Lebensformen sichtbar zu machen« (ebd.; meine Hervorh.). Das verwundert deshalb, da über die miteinander verwobenen Geschichten, die »entangled histories« (Conrad/Randeria 2002: 17; zit. n. Castro Varela/Dhawan 2009: 23) Kolonialisierter und Kolonialisierender und mithin »die Unmöglichkeit, die Geschichte des ›Westens‹ ohne die Geschichte der Kolonialländer zu schreiben und vice versa« (ebd.: 24), kein Wort gesagt wird. Damit gerät die Aufgabe, die komplexen sozialen, kulturellen und ökonomischen Verflechtungen in den Blick zu nehmen, ins Abseits, die ebenso Teil postkolonialer Theoriebildung sind – und dies nicht erst (dafür aber um so stärker) in einer Zeit, die gemeinhin durch das Leitwort »Globalisierung« charakterisiert wird. Schließlich fällt bei Reckwitz der interventionistische Charakter postkolonialer Theorie als Widerstandsform gegen (neo-)koloniale Formen der Herrschaft und ihre Konsequenzen (vgl. ebd.: 25) völlig weg. (3) Reckwitz’ Ausblendung von Machtbeziehungen und -wirkungen prägt auch die Einführung des Konzepts der Intertextualität. Späteren kulturellen Kontexten, so Reckwitz, sei es möglich, auf frühere zurückzugreifen und durch Zitat und (Neu)Interpretation an sie anzuschließen. Für die moderne westliche Kultur sei diese uneingeschränkte Bereitstellung kultureller Codes geradezu charakteristisch. Es sei also kennzeichnend für diese Kultur, »dass 305

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sie diese [sowohl dominanten als auch nicht-dominanten] historisch vergangenen Sinnelemente verfügbar hält und damit einem späteren, unberechenbaren Sinntransfer zugänglich macht« (Reckwitz i.d.B.: 296). Aber allein ihre technisch unbegrenzt mögliche Zugänglichkeit1 bedeutet nicht, dass alle kulturellen Objekte, Wissens- und Praxisformen in gleicher Weise verfügbar und zugänglich gehalten werden und damit für alle gleichermaßen anschließbar sind, wie Reckwitz nahelegt. Der Preis einer Analyse kultureller Hegemonien, die allein auf sogenannte kulturelle Leitmilieus gerichtet ist, besteht darin, dass Reckwitz Begriffe einseitig rezipiert und verwendet, indem er die Aushandlungen, Kämpfe und Widerstände ausblendet, die diese Begriffe mit prägen und die insofern auch ein kritisches Potential enthalten. Dieses kritische Potential kann aber nicht zum Tragen kommen, wenn Begriffe auf theoretische Instrumente zur Identifikation kultureller Nischen der Sinninnovation (vgl. Reckwitz i. d. B.: 299) reduziert werden. Es geht aber durchaus um etwas mehr, wenn der Zusammenhang von Macht, Sein und Wissen zur Analyse steht, an dem auch die gegenwärtige Sozialwissenschaft teilhat, indem sie objektivierende Instrumente zur adäquaten Beschreibung von Subjekten vorschlägt und mit diesen Vorschlägen ihrerseits einen Platz in dem Diskurs darüber ausfüllt, welche Formen des Seins erst intelligibel und verstehbar sind. Versteht man Theorie und die in der wissenschaftlichen Arbeit angewendeten Kategorien mit Bourdieu als Programme der Wahrnehmung (Bourdieu 1997: 153 f.), so ist angesichts der Verwendung von Kategorien wie Geschlecht als unhinterfragt eingesetzte Erkenntnismittel – verortet in der Sphäre privater Praxen und (intimer) Beziehungen – die Aufforderung Bourdieus ernstzunehmen, Begriffe wie Geschlecht immer auch als Erkenntnisgegenstand zu verwenden, also nicht bloß als Erkenntnismittel (Bourdieu 1997: 153; vgl. Hark 2001: 366). In diesem Sinne müssten unterschiedliche Positionierungen und Ausgangslagen von Subjekten nicht als eine »zusätzliche Verkomplizierung« betrachtet werden, wie Reckwitz dies in seiner Analyse vorschlägt, sondern vielmehr als Realitäten, die selbst zur Analyse stehen und nicht durch Komplexitätsreduktion zum Schweigen gebracht werden sollten.

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1

Diese Zugänglichkeit kann angesichts auch in der Gegenwart möglicher materieller Zerstörung kultureller Artefakte freilich bezweifelt werden – man denke nur an den jüngst geschehenen Einsturz des Kölner Stadtarchivs.

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Blinde Flecken hegemonialer Analyse?

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Innovation als Norm STEPHANIE GARLING

I. Einleitung Einen derart stimmigen und anregenden Beitrag, wie ihn Andreas Reckwitz mit seinem in diesem Band veröffentlichten Aufsatz vorgelegt hat, kritisch zu betrachten, ist kein Leichtes. Es kann und soll hier daher auch nicht um die Richtigkeit seiner Überlegungen zur Modellierung der drei skizzierten Subjektordnungen bzw. der dargestellten synchronen Sinninnovationen unter Anwendung von Hybridität und Intertextualität gehen. Diese Überlegungen sind in ihren Grundzügen sehr überzeugend und bieten sowohl einen guten systematischen Überblick als auch einen fruchtbaren theoretischen Ausgangspunkt für weitere Diskussionen. Dennoch zollt das von Reckwitz angestrebte Ziel einer »Neuperspektivierung« (vgl. Reckwitz i. d. B.: 291), sprich einer begrifflichen Innovation, der Stimmigkeit und Kohärenz seines Aufsatzes Tribut. Dies wird der folgende Text ausführlicher darstellen. Er wird damit auf konzeptuelle und begriffliche Unschärfen in Reckwitz’ Ausführungen eingehen, um zu zeigen, dass erstens eine Neuperspektivierung fraglich ist, und dass zweitens Reckwitz’ Argument eine Verkürzung von vormals kritisch-analytischen Konzepten enthält, die durchaus kritikwürdig, zumindest aber klärungsbedürftig erscheint.

II. Stimmige Basalte Reckwitz skizziert für seine Neuperspektivierung zwei dominante, einander fundamental entgegengesetzte Denksysteme der Soziologie. Das erste System gehe von der Grundprämisse konstanter Strukturen aus, während das zweite auf der Grundannahme einer Allgegenwärtigkeit von Wandel beruhe. Diese sich konträr zueinander verhaltenden Denkfiguren bewertet Reckwitz beide als hinderlich »für ein heuristisch fruchtbares Verständnis des Zusammenhangs von sozialer Reproduktion und sozialem Wandel« (Reckwitz i. d. B.: 290). Die kontrastierten Konzepte erscheinen in dieser vereinfachten Form jedoch eher als Inbegriff genau jener »Basaltmonumente«, die Reckwitz an anderer Stelle überwinden möchte (ebd.) Er erbaut sie selbst in ihrer Festigkeit um sie dann einstürzen zu lassen bzw. aufzubrechen. Es handelt sich hier demnach um eine rhetorische Figur, die zwar die Schlüssigkeit der Argumentation unterstützt, die aber zugleich der Zielstellung einer Neuperspektivierung entgegenläuft, da sie gegenüber bereits existierenden hybriden Nuancen blind bleibt. So schrieb Foucault bereits 1969 in der Archäologie des Wissens: 309

Stephanie Garling »Zu sagen, daß eine diskursive Formation an die Stelle einer anderen tritt, [...] heißt, daß sich eine allgemeine Transformation der Beziehungen vollzogen hat, die aber nicht unbedingt alle Elemente verändert; es heißt, daß die Aussagen neuen Formationsregeln gehorchen, es heißt nicht, daß alle Gegenstände oder Begriffe, alle Äußerungen oder alle theoretischen Wahlmöglichkeiten verschwinden. Man kann im Gegenteil ausgehend von diesen neuen Regeln Phänomene der Kontinuität, der Rückkehr und der Wiederholung beschreiben und analysieren.« (Foucault 1981: 246)

In Überwachen und Strafen spricht Foucault ebenfalls von »simultanen Systemen« (Foucault 1994: 349), die sich über die bloße Freiheitsberaubung gelegt haben. Die Parallelität von Stabilität und Ausdifferenzierung demonstriert er anhand der Zwangs- und Strafinstitutionen sowie der körper- und seeleorientierten Strategien. Reckwitz ordnet Foucault aber ausschließlich dem Narrativ der Diskontinuität zu. Es stellt sich nun die Frage, ob dies nicht zu kurz greift, zumal Foucault bereits Möglichkeiten aufzeigt, das Diskontinuitätsmodell zu relativieren, ohne in historisierte Strukturmuster zu verfallen und zugleich – im Sinne einer Neuperspektivierung wie sie Reckwitz vornehmen möchte – nach kombinatorischen Strukturen zu suchen, die Potentiale für Instabilitäten enthalten können (vgl. Reckwitz i. d. B.: 294f.).

III. Konkret und neu Reckwitz sieht viele SozialwissenschaftlerInnen weiterhin insbesondere dem zweiten Modell verpflichtet – dem Denken in sich ständig ablösenden Strukturen. Mit den Konzepten von Hybridität und Intertextualität möchte er deshalb nun »zwei basale, aber effektive heuristische Konzepte« (ebd.: 291) zur Darstellung kulturellen Wandels vorschlagen. An der mehr oder minder konkreten Fragestellung nach »der kulturellen Transformation der westlichen Formen des Selbst, des Individuums und der Persönlichkeit« möchte Reckwitz sinnhafte Muster aufzeigen, die das moderne Selbst generieren. Ziel der Verwendung von Konzepten der Hybridität und der Intertextualität soll es dabei sein, sowohl hybride Überlagerungsgebilde gekoppelter aber instabiler kultureller Codes als auch »quasi-intertextuelle Verweisungs- und Aneignungszusammenhänge« sichtbar zu machen (ebd.). Aber hat dieser Appell zur Verwendung von Hybridität und Intertextualität nicht längst außerhalb der wissenschaftlichen Nischen (und damit auch der Soziologie) Fuß fassen können? Ha etwa sieht in dem Konzept der Hybridität wegen seiner wachsenden Akzeptanz und inflationären Wiederholung gar schon einen »akademischen Allgemeinplatz« (Ha 2005: 85). Zweifellos kann auch das interdisziplinäre Graduiertenkolleg, in dessen Rahmen dieser Sammelband erscheint, als Beispiel für eine Hinwendung und (Weiter)Entwicklung entsprechender Denkformen betrachtet werden. Darauf verweist nicht nur der Titel »Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz«; auch die einzelnen nachwuchswissenschaftlichen Projekte füllen bereits seit mehreren Jahren Konzepte wie Hybridität und Intertextualität mit Leben und sind demnach schon lange in diesem Feld angekommen.

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Innovation als Norm

IV. Einfach und effektiv Insbesondere der Reichweite und kritischen Kraft von »Hybridität« wird man in keinem Fall gerecht, wenn man das Konzept als einfach und effektiv charakterisiert.1 Reckwitz degradiert hier ein Konzept des politischen Aktivismus zu einem Werkzeug, das leicht zu bedienen und Erfolg versprechend einzusetzen sein soll. Ihm zufolge dient Hybridität ausschließlich der Sichtbarmachung von kulturellen Mischungsverhältnissen gegenüber essentialistischen Kulturmodellen. Dabei vergisst er jedoch die politische Konnotation und damit den Interventionscharakter des Begriffs. So schrieb diesbezüglich u. a. bereits Bhabha: »Hybrididtät interveniert in die Ausübung von Autorität« (Bhabha 2000: 169) – sie soll den Ursprungsmythos kolonialer Macht erschüttern (ebd.: 171). Auch bei Haraways Konzept des »cyborg« scheint sich Reckwitz zu scheuen, die Wirren des Machtbegriffs aufzunehmen, wie sie in Form einer Gleichzeitigkeit sich überlagernder Emanzipations- und Kontrollchancen in diesem Hybridwesen konvergieren (vgl. Haraway 1995). Reckwitz’ Neuverwendung der Konzeption von Hybridität kann somit als ein Beispiel für den von Ha festgestellten Verlust an kritischem Potential (Ha 2004: 222) gesehen werden. Entgegen Bhabhas Gebrauch wird »Hybridität« als harmonische und ästhetische Form kultureller Vermischung gedacht, zu einem third space Ansatz verkürzt (Ha 2004: 225) und nicht wie ursprünglich als kritisch-analytischer Begriff verwendet. An anderer Stelle bezeichnet Reckwitz den Übergang von kulturwissenschaftlicher Analytik zu normativer Politischer Theorie am Beispiel von Chantal Mouffe und Ernest Laclau als »klärungsbedürftig« (Reckwitz 2006: 348). Hier stellt sich nun die Frage, ob nicht für die Umkehrung dieses Übergangs, wie Reckwitz sie vornimmt, Ähnliches eingefordert werden kann. »Hybridität« und »Intertextualität« sind also keine einfachen und effizienten Formeln zur Neubeschreibung kombinatorischer und diskontinuierlicher Strukturen. Bei Reckwitz müssen sie dies aber sein, um die Schlüssigkeit seines Textes zu gewährleisten. Den für diese Textstimmigkeit gezahlten Preis macht Reckwitz an keiner Stelle deutlich. So werden, drastisch formuliert, die Konzepte ihrer politischen Kraft beraubt und in ein archivarisches Problemsondieren eingebettet, das dem Gestus der Begriffsherrschaft zu verfallen droht (vgl. Butler 1994: 34).

V. Begriffe und Reflexion Die Textstimmigkeit gerät demnach an den Stellen ins Wanken, an denen Reckwitz zum einen die Starrheit der von ihm postulierten »Basaltmonumente« soziologischen Denkens kritisiert, diese aber zum anderen durch eine kontinuierliche Verwendung und Bezugnahme selbst perpetuiert. Dies trifft neben den bereits angesprochenen problematischen Begriffsverwendungen auch auf andere seiner Konzepte zu. So spricht er von »Epochen« genauso 1

Auch der Begriff der Intertextualität wurde im Anschluss an Kristeva (vgl. 1972) als Form des Protestes gegen etablierte kulturelle und soziale Werte eingeführt und genutzt (vgl. Plett 1991).

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selbstverständlich, wie von »westlichen Formen des Selbst«, »historischer Nachweisbarkeit« und eben von der bereits erwähnten »Innovation«. All diese Begriffe lassen prozesshistorisches, wenn nicht gar modernisierungstheoretisches Wandlungsdenken genauso fortbestehen wie das Denken in differenten, klar absteckbaren Kultur- und Geschichtsblöcken. Diese Unentschiedenheit zwischen Kritik und Weiterverwendung wirkt auch in Reckwitz’ generellen Umgang mit Sprache hinein. Eine Mischung aus poststrukturalistischem Theorievokabular und klassischem soziologischen Differenzdenken lässt die Aussagen seines Textes mitunter etwas unklar erscheinen. Reckwitz versteht Begriffe wie Diskurs und Geschlecht nicht als Ermöglichungskonzepte einer je verschieden zu leistenden theoretischen Rahmung, sondern als Beschreibungen konkreter Phänomene, die im Modell der Sinninnovation darstellbar sind. Aber ist nicht sprachliche Reflexion Ausgangspunkt und Grundlage einer jeden poststrukturalistischen Analyse, um nochmals bei Reckwitz’ eigenen Unterscheidungsmustern zu bleiben (vgl. Reckwitz i. d. B. 298). Führt demnach eine »Hybridität« bei diesem Kriterium nicht zwangsläufig zu analytischen Unstimmigkeiten?

VI. Neutrale Innovation Es wird nun deutlich, dass auch die vorliegende Antwort auf einer Form der Zuspitzung und Abstraktion basiert, hinter der sich eine rhetorische Figur verbirgt, die nicht nur »Neues« bieten kann und deshalb auch dem eigenen, selbst erzeugten Anspruch auf »Innovation« kritisch gegenüber steht. Reckwitz selbst stellt fest, dass die Soziologie ein »konstitutives Vorurteil zugunsten des gesellschaftlichen ›Neuen‹« (ebd.: 290) in sich trägt, und auch Butler spricht von einer Jagd nach dem »Neuen« als Anliegen der Hochmoderne (Butler 1994: 36). Damit wären wir zurück bei der Norm der Innovation, die diesem Denken und den daraus resultierenden Erwartungen zugrunde liegt. Denn gerade diese Erwartungen durchziehen nicht nur den vorliegenden Text und die formulierten Ansprüche an den Beitrag von Andreas Reckwitz, sondern in Form von Konzepten der »Innovationskontexte« und »Sinninnovationen« auch Reckwitz’ eigene Analyse. Er »löst« dieses Problem, indem er darauf verweist, den Begriff »Innovation« wertneutral verwenden zu wollen. Wäre es an dieser Stelle aber nicht »innovativer« – im Sinne einer Neuperspektivierung –, nicht Normen und Gegenstände der Innovation innerhalb des Transformationsverlaufs zu identifizieren, sondern zu betrachten, wie das Konzept der Innovation selbst zu einer Norm der Transformation geworden ist? Ungeachtet dieser Kritikpunkte kann die argumentative Schlüssigkeit von Reckwitz’ Text hier wichtige Impulse zum – vielleicht ja auch ein wenig »innovativen« – Weiterdenken und zur Suche nach transdifferenten Fissuren geben.

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Innovation als Norm

Literatur Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur, Tübingen: Niemeyer. Butler, Judith (1994): »Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der ›Postmoderne‹«. In: Seyla Benhabib/Judith Butler/Drucilla Cornell/Nancy Fraser: Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt/M.: Fischer, 31-58. Foucault, Michel (1981): Archäologie des Wissens (1969), Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1994): Überwachen und Strafen (1976), Frankfurt/M.: Suhrkamp. Ha, Kien Nghi (2004): »Hybridität und ihre deutschsprachige Rezeption. Zur diskursiven Einverleibung des Anderen«. In: Karl H. Hörning (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld: transcript, 221-238. Ha, Kien Nghi (2005): Hype um Hybridität, Bielefeld: transcript. Haraway, Donna (1995): Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt/M.: Campus. Kristeva, Julia (1972): »Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman« (1967). In: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd.. 3, Frankfurt/M.: Athenäum, S. 345-375. Plett, Heinrich F. (1991): Intertextualities. In: ders. (Hg.), Intertextuality. Berlin: de Gruyter, 3-29. Reckwitz, Andreas (2006): »Ernesto Laclau. Diskurse, Hegemonien, Antagonismen«. In: Stephan Moebius/Dirk Quadflieg (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, S. 339349.

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VI. AUSBLICK

Das Eigene und das Andere der Transdifferenz: Rückblick und Ausblick WALTER SPARN

Das 2001 eingerichtete Erlanger Graduiertenkolleg »Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz« verdankte sich einem ambitionierten Forschungsprogramm interdisziplinärer Wissenschaft. Die Leistungsfähigkeit dieses Programms sollte, soweit es in fast acht Jahren realisiert und modifiziert worden ist, eine Abschlusskonferenz vom 6. bis 8. November 2008 unter dem Titel »Das Andere der Trans/Differenz« auf den Prüfstand stellen. Der vorliegende Band enthält die beiden einführenden Vorträge (Teil I) sowie die meisten der für diesen Kongress erbetenen Beiträge auswärtiger, auf verschiedenen Feldern der Kulturhermeneutik arbeitender WissenschaftlerInnen. Sie sollten die theoretischen und wissenschaftspraktischen Ergebnisse des Kollegs aus ihren Forschungsperspektiven und von ihren Arbeitssituationen her aufgreifen und weiterentwickeln, worauf wiederum PromovendInnen des Kollegs replizierten. Auch diese Repliken sind hier abgedruckt. Der folgende kritische Rückblick beruht auf meinem Schlussvortrag und versucht die noch frischen Eindrücke von der Abschlusskonferenz zu bündeln. Dieser Vortrag hatte nicht die Aufgabe einer Laudatio – vom wissenschaftlichen Nutzen des kulturhermeneutischen Konzepts der Transdifferenz, wie er im einleitenden Beitrag von Helmbrecht Breinig und Klaus Lösch dargestellt wird, mögen sich die LeserInnen dieses Bandes (und anderer Publikationen des Kollegs) selbst überzeugen. Wissenschaftlich produktiv war das Konzept des Kollegs aber auch und gerade dort, wo es im Verlauf seiner praktischen Durchführung an analytische Grenzen und methodische Schwächen gestoßen ist oder blinde Flecken dieser Theoriebildung offenbart hat. Daher wurden v. a. mögliche weitere und neue Aufgaben, die sich in den Vorträgen und Diskussionen schon abzeichneten, möglichst pointiert herausgestellt. Wie seinerzeit vorgetragen, folgt dieser resümierende Text nicht der numerischen Reihung der Sektionen und dem Gang dieses Bandes, sondern geht den Weg vom Eindruck relativ leichter Verbesserlichkeit der kulturhermeneutischen Figur der Transdifferenz zu dem ihrer Ergänzungsbedürftigkeit durch andere Wahrnehmungsformen und Theoriebildungen.

I. Transformationen Die Beiträge und Diskussionen in dieser Sektion (in diesem Band der Teil V) haben die Erwartung bestätigt, dass gesellschaftliche Transformationen, seien sie politischer, sozialer oder medialer Art, und deren Wechselspiel sich nicht 317

Walter Sparn

in Begriffen beschreiben lassen, die auf der Annahme identischer Substanz oder permanenter Qualität basieren, sondern Kategorien erfordern, die Bewahrung und Veränderung sowie, quer dazu, soziale Struktur und kulturelle Semantik nicht differenz- oder gar binärlogisch trennen. Solche Prozesse sind daher den Phänomenen vergleichbar, für deren Beschreibung das Kolleg die nicht teleologisch oder essentialistisch vereinnahmende Kategorie der Transdifferenz eingeführt hat; möglicherweise erzeugen solche Prozesse unter Umständen ebenfalls Transdifferenz. Auch lässt sich zeigen, dass bestimmte Aspekte kultureller Transformationsprozesse durch Kategorien wie etwa »Hybridität« nicht spezifisch erfasst werden können, erst recht nicht ihre politische Funktionalisierung. Die praxeologische Erweiterung des Forschungsspektrums des Kollegs war jedoch ein Gewinn auch darin, dass sie einen Mangel im Gebrauch des Transdifferenz-Begriffs selbst zutage gebracht hat. Dieser Mangel ist die unklare oder nur äußerliche Beziehung auf die Zeitlichkeit der mit diesem Begriff bezeichneten Phänomene. In den ersten Jahren des Kollegs, die primär texthermeneutisch geprägt waren und nach den Bedingungen des Verstehens von Andersheit und Fremdheit fragten, wurde oft angenommen, dass Transdifferenz ein den regulären, kontinuierlichen Zeitfluss unterbrechendes oder aus ihm momentan und transitorisch heraustretendes Phänomen sei; gelegentlich wurde sogar radikal konstruktivistisch in Abrede gestellt, dass Transdifferenz empirisch verortbar sei. Auf der anderen Seite gab es starke Argumente dafür, dass auch dann, wenn Transdifferenz nicht vorhersehbar oder herstellbar, sondern erst im Augenblick der Gewahrwerdung »da« sei, sie doch als affektive und möglicherweise kognitive Erfahrung, als ambivalentes (vielleicht positiv oder negativ besetztes) Erleben von unaufgelöster und nicht ohne weiteres auflösbarer Dissonanz zwischen den Bedeutungen, Zuschreibungen oder Zugehörigkeiten beschrieben werden kann, die in einer Person, wenn auch unstabil und oszillierend, koexistieren. Das ist in den meisten Beiträgen zu diesem Kongress bekräftigt worden: unter Hinweis auf die Plausibilität fiktionaler Figuration in Texten oder visuellen Medien, aber ebenso durch den Rekurs auf psychische und soziale Selbstwahrnehmung im Rahmen von kultureller Praxis überhaupt, durch die Beobachtung von transdifferenten Räumen ethischer Solidarität oder durch den Nachweis, dass die psychosoziale Situation von Transdifferenz unter Umständen ein Leben lang anhalten kann. Dies alles legt die Vermutung nahe, dass eine analytische Anwendung des Begriffs Transdifferenz die zeitliche Extension der so beschriebenen Phänomene in die Betrachtung einbeziehen sollte, und zwar obwohl oder vielleicht besser: weil es sich bei der Erfahrung von Transdifferenz um ein »schwaches« Phänomen« handelt. Das gilt um so mehr, als es sich bei dieser zeitlichen Extension nicht nur (oder nur von außen gesehen) um eine Form der Chronologie handelt, sondern um das nichtlineare Verhältnis von Ereignis (Unterbrechung, Augenblick usw.) und Dauer (in den Zeitekstasen von Erinnerung und Erwartung usw.). Nichtlinear ist diese Beziehung insofern, als die eineindeutige Folge von Ursache und Wirkung in einer Situation der Transdifferenz für die Betroffenen nicht gegeben ist, jedenfalls von ihnen nicht in Anspruch genommen werden kann – es sei denn, sie vereindeutigen die Situation durch binäre Unterscheidungen und Ein- bzw. Ausschlüsse und treten wieder in die lineare Korrelation von Identität und Differenz ein.

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Das Eigene und das Andere der Transdifferenz

Die Frage nach der spezifischen Diachronizität von Transdifferenz war schon in Projekten des Kollegs gestellt worden, die sich der Analyse religiöser Praxis und der religiösen Aspekte kultureller Praxis widmeten. Die Asymmetrie von kairos und chronos sowie die lebenslang transdifferente Existenz eines Gläubigen als »neuer« und »alter« Mensch zugleich spielt nicht nur im Christentum eine wichtige Rolle. Während der Konferenz wurde diese Frage insbesondere im Hinblick auf politische, soziale und mediale Transformationen beantwortet, z. B. durch die Platzierung von historisch Neuem in doppelt kodierten, zugleich stabilen und instabilen Experimentalmilieus, in denen im kulturellen Wandel Spuren des Früheren im Späteren bewahrt werden (Andreas Reckwitz). Aber auch die Analyse der transformativen Kraft von Übersetzungen, d. h. des sozialen Interaktionsprozesses »Übersetzen«, legt die Frage nach der zeitlichen Dimension von Transdifferenz nahe, wenn sie die Binarität von Identität und Differenz in die prozessuale Unterscheidung von Kontinuität und Diskontinuität überführt (Martin Fuchs). Nicht zuletzt der Hinweis darauf, dass Phänomene von Präsenz oder von Ereignissen nur mit zeitlicher Verspätung sprachlich eingeholt und als Sinngebilde kommuniziert werden können (Dieter Mersch), sollte nach der spezifischen Temporalität von Transdifferenz fragen lassen.

II. Grenzen Die Erwartungen an diese Sektion (in diesem Band Teil IV) waren von dem Interesse an einer kulturell, d. h. einer räumlich, zeitlich, sozial, rechtlich und auch begrifflich sachhaltigen Näherbestimmung der Kategorie der Differenz geleitet: einer Kategorie, die durch das Konzept der Transdifferenz nicht etwa gegenstandslos wird, sondern »nur« in ihrer Gestalt als binäre – d. h. etwas ganz ein- oder aber ganz ausschließende – Grenzziehung »trans«-zendiert werden soll. Es stellte sich schon in der ersten Phase des Kollegs heraus, dass man sich »im Zeichen von Differenz und Transdifferenz« von der klassischmodernen hermeneutischen Annahme verabschieden muss, es könne Verstehen des kulturell Fremden durch die »Verschmelzung« (wie das seit HansGeorg Gadamer genannt wird) der jeweiligen »partikularen« Horizonte zu einem »universalen«, allgemeinmenschlichen Horizont des Verstehens erzielt werden. Die konstitutive kulturelle Bedeutung der Erfahrung von Differenz und des aktiven Umgangs mit Differenz wurde in den einleitenden Vorträgen angesichts quasi esoterischer Missverständnisse nochmals festgestellt und etwa durch die Kritik an der strategischen Selbstzuschreibung von Differenz zwecks Anerkennung und Erwerbs von Handlungsmacht oder durch die Kritik einer ideologischen Ethik der Alterität näher bestimmt (Doris Feldmann). Vielleicht weil ihm der kategoriale Bezug auf Differenz klar ist, hat das Kolleg die Frage nach der Materialität von Differenzen nicht hinreichend einbezogen, wie die Konferenz nun gezeigt hat. Mehrere Beiträge (Albrecht Koschorke, Ulla Haselstein, Urs Espeel) rückten den in der Interferenz von Kultur und Natur, aber auch von Individuum und Gattung stehenden Körper als Austragungsort von Grenzziehungen und Machtaushandlungen in den Vordergrund. Immerhin hatte der Ausschreibungstext »Grenzen, Schwellen, Schranken« als Begriffe für Differenz genannt und in eine Art Klimax aneinander319

Walter Sparn

gereiht. Diese Klimax von relativ verschiebbaren Grenzen, von überschreitbaren Schwellen, die Unterscheidungen provozieren, und Schranken, die jenes Überschreiten unmöglich machen und das Unterscheiden limitieren – diese Klimax ist nicht verifiziert worden. Die Gründe dafür sind vielfältig. Trotz seiner hohen sozialen und moralischen Valenz wurde der Begriff der Schranke gar nicht aufgenommen, der Begriff der Schwelle nur gelegentlich. Das hat sicherlich mit dem schon angesprochenen, geringen Interesse an diachronen Aspekten von Transdifferenz zu tun. Im Falle der »Schwelle« hat nicht erst Hans Blumenberg darauf hingewiesen, dass sie stets erst ex post als solche erkennbar sei. Hier ist der oben angesprochene zeitliche Index tatsächlich wesentlich, dem Transdifferenz-Programm war er bislang unwesentlich. Das Forschungsprogramm enthielt sogar eine Begründung für die Geringschätzung des zeitlichen Index kultureller Prozesse: Der Unterschied zwischen z. B. gruppenbezogener synchroner kultureller Differenz und diachroner Differenz von Entwicklungsstufen einer Kultur sei nicht wirklich grundlegend, wenn Kulturen als beständige Transformationsprozesse und zugleich als komplexe Mischungen des Eigenen und des Anderen verstanden würden. Diese Minimierung des Unterschieds von historischer Alterität und kulturräumlicher Alterität hat den Vorzug, die Ergebnisse von Untersuchungen in ganz verschiedenen historischen Zeiten vergleichen zu können. Sie hat jedoch auch den höchst bedenklichen Nachteil, historiographische Unterschiede zu nivellieren – nicht zufällig hat das Kolleg nur wenige Untersuchungen »vergangener« Phänomene und gar keine eigentlich historiographische Arbeit angezogen. In seiner Forschungsarbeit hat das Kolleg den Begriff der Grenze allzu fraglos dem der Differenz zugeordnet. Eine Grenzziehung ist aber eine sehr spezifische, ihrerseits komplexe Form der Differenzsetzung, und die Konstruktion von Identität und Alterität durch eine ein- bzw. ausschließende Differenzsetzung ist nicht dasselbe wie die Disjunktion von »diesseits« und »jenseits« einer Grenze; letzteres ist, wie die Phänomene unscharfer Grenzen oder die auch im Kolleg benannte Annahme von »Grenzzonen« belegen, ein dialektischer Vorgang. An dieser Stelle zeigt sich, wie wünschenswert mehr philosophische Kompetenz im Kolleg gewesen wäre; bei Kant und Hegel hätte man sich belehren lassen können. Im Blick auf Niklas Luhmann ist das immerhin geschehen, hier aber nicht hinsichtlich der für das Kolleg so wichtigen Frage, wann Grenzen einen »Stachel der Negativität« wirksam werden lassen und wann oder wie sie die Anerkennung von Anderssein ermöglichen. Meint Transdifferenz die vollendete Dialektik der Grenze, wie in der Diskussion gesagt wurde? Leider hat die Ausschreibung der Sektion einen überaus wichtigen Begriff weggelassen, der im Entwurf noch gebraucht worden war. Er tauchte in der Bemerkung auf, dass Grenzen relativ zu einem spezifischen (geographischen, kulturellen, diskursiven, epistemischen) Horizont der jeweiligen Grenzziehung gültig seien. Der Begriff des Horizonts bezeichnet in der Tat eine Bedingung der Möglichkeit von Unterscheidung und Grenzziehung überhaupt. Allerdings taugt dafür nicht der systemtheoretische Begriff, der nur die »Welt« im Sinne eines Hintergrunds und Verweisungssystem so nennt. Umso mehr taugt dafür der phänomenologische Begriff des Horizonts (und verwandte Begriffe wie Milieu und Atmosphäre), der, weder essentialistisch noch transzendentalistisch, die oft impliziten, für jeglichen Weltzugang 320

Das Eigene und das Andere der Transdifferenz

und für jede intersubjektive Kommunikation schlechterdings wesentlichen »Räume« kultureller Praxis meint. Der spatial turn, den das Kolleg auf seine Weise vollzogen hat, könnte aporetisch werden, wenn die phänomenalen Horizonte kultureller Praxis als Möglichkeitsbedingung von Differenz und Transdifferenz abgeblendet bleiben. Denn diese Horizonte machen durch sinnliche Anmutung, soziale Platzierung und kulturelle Qualifikation des Einzelnen oder des Kollektivs die ästhetische, moralische und theoretische Kunst des Unterscheidens (und ihren Missbrauch) allererst möglich. Für das Transdifferenz-Konzept ist besonders fruchtbar, dass ein solcher Horizontbegriff die logische oder metaphysische (die binäre Opposition von »Ich« und »das Andere« begründende) Zentralität des erfahrenden und handelnden Subjekts suspendiert zugunsten seiner phänomenalen Zentralität in mehreren, keineswegs immer konzentrischen, auch mit anderen Subjekten geteilten, zeitlich mitgehenden, veränderlichen Horizonten. Hier wird m. E. die Rede von Transdifferenz au fond plausibel.

III. Übersetzen Das Kolleg hat seinen Ausgang genommen von den besonders komplexen Aufgaben, mit der die lebensweltlichen Erfahrungen interkultureller Kommunikation – ihres überraschenden Gelingens und beharrlichen Misslingens, ihrer Grenzen und Ambivalenzen – die hermeneutische Reflexion herausfordern. Im Verlauf der Arbeit des Kollegs wurde klar, dass die Strukturen interkultureller Kommunikation, aber auch schon die der innerkulturellen Kommunikation sich texthermeneutisch nicht hinreichend genau erkennen lassen, dass die Zielsetzung des Kollegs vielmehr praxeologisch erweitert werden muss. Für die methodisch reflektierte Wahrnehmung der pragmatischen Aspekte jeglicher Kommunikation und der hier erbrachten Übersetzungsleistungen haben die SoziologInnen des Kollegs wichtige Beiträge erbracht (vgl. Ernst/Sparn/Wagner 2008: 245ff.). Sie haben überdies dazu ermutigt, interkulturelle Kommunikation nochmals texthermeneutisch zur Diskussion zu stellen und die Praxis des Übersetzens nochmals genauer zu analysieren, zumal im Rahmen des Kollegs eine besonders schwierige, mehrstufige Übersetzung praktisch durchgeführt wurde (vgl. ebd.: 491ff.). Die Beiträge und Diskussionen in dieser Sektion (hier: Teil III) haben durchweg die Hypothese des Ausschreibungstextes bestätigt, der zufolge Übersetzungen, als Kommunikationsprozesse gesehen, nicht eindeutig den einzelnen Beteiligten zugerechnet werden können und sich in jedem Fall produktiv auswirken, wobei wiederum die Anteile des Affirmativen und des Subversiven nicht ohne Weiteres festgestellt werden können. Die Übersetzung kann auch erhellende Missverständnisse und Störungen, sogar angemessene Paradoxien zur Folge haben. Die Rede von »gelingender« und »misslingender« Übersetzung ist daher auch darin relativ, dass der hybride Mehrwert jeder Übersetzung gegenüber der Ausgangs- wie gegenüber der Zielsprache nicht sogleich feststeht, sondern in der Pluralität seiner Rezeption jeweils anders oder neu bestimmt wird. Dafür ist der Vorgang einer »Selbstübersetzung« (Martin Fuchs) ein besonders riskantes Beispiel. Anlässlich der Beobachtung, dass Übersetzungen Differenz nicht einfach »überbrücken«, sondern Differenz in andere Differenz überführen, hat sich auch herausge321

Walter Sparn

stellt, dass das Verhältnis zwischen Transdifferenz, die am Ort des Übersetzens auftritt (könnte man hier auch von différance sprechen?), und Differenz, wie sie im Übersetzen neu erzeugt wird, komplizierter ist als im Kolleg angenommen – mit anderen Worten: Der Differenzbegriff blieb zunächst unterbestimmt. Einleitend wurde darauf hingewiesen, dass der Differenzbegriff des Kollegs anfänglich zu undifferenziert war, sich nämlich nur an einer recht formalen Beschreibung von kultureller Differenz als relationalem Konstrukt im Wechselspiel von Selbst- und Fremdbeschreibung orientierte. Schon ein früherer Sammelband aus dem Kolleg führte dagegen den Titel »Differenzen anders verstehen« (Allolio-Näcke/Kalscheuer/Manzeschke 2005). Vielleicht war es die Sorge, der im Transdifferenz-Konzept unterstellte Begriff der Differenz sei unabweislich essentialistisch, ja eine »ontologische Erblast«, die der Beschäftigung damit entgegenstand, dass auch »Transdifferenz«, wenn das Wort nicht gar nichts bedeuten soll, ein Phänomen von sozialer, psychischer, fiktionaler Differenz ist (das gälte auch, wenn es sich nur um eine Konstruktion handelte). Insofern ist die Thematisierung von Transdifferenz nicht bloß nicht der Vernichtung von Differenz, sondern vielmehr der Respektierung und Rettung einer (bestimmten Form von) Differenz verpflichtet. Das liegt daran, dass »Differenz« ein analoger Begriff ist, der zur univoken »Identität« in einem asymmetrisch konträren Verhältnis steht. Der symmetrische Gegensatz dazu wäre »Indifferenz«, ein Wort, als das »Transdifferenz« im Kolleg nie verstanden wurde. Vielleicht war dies nicht deutlich genug, vielleicht hat auch die kategoriale Schwäche des Differenzbegriffs die Folge gehabt, dass von Differenz fast nur im Zusammenhang mit Aktionen wie Setzungen, Forderungen usw. gesprochen wurde, während sie aber nicht als Ereignis in den Blick kam, das den Betroffenen auch widerfahren kann oder sogar erlitten wird. Eine solche passive Erfahrung würde nicht nur eine »Grenze« zwischen den Betroffenen und allen Anderen bedeuten, z. B. zwischen einer Frist und der für andere weiterlaufenden Zeit, sondern eine harte Schranke, die die angesprochene Dialektik von Grenzziehungen fürs erste außer Kraft setzen würde. An dieser Stelle stellte sich eine ethische bzw. politische Frage, die im Kolleg kontrovers blieb, aber entgegen der Annahme, das Transdifferenz-Konzept sei nur literarisch-ästhetisch interessant, häufig diskutiert wurde – die Frage nämlich, ob Transdifferenz ein emanzipatorisches oder gar subversives Potenzial in sich trage oder freisetzen könne. Für eine zustimmende Antwort kann man anführen, dass Transdifferenz nicht frei wählbar ist, sondern kontingent eintritt oder aufscheint; dagegen lässt sich das unstrittig zu beobachtende Verhalten von Erfahrungs- und Handlungssubjekten in der Situation von Transdifferenz anführen. Woran entscheidet sich, wann die Erfahrung von Transdifferenz eine die Betroffenen belastende oder eine entlastende Erfahrung darstellt? Diese Frage, die sich übrigens auch ästhetisch stellt (ein Beitrag sprach von der kurzfristig immersionsbefreiten Partizipationspause beim Betrachten eines Bildes), erfordert die Klärung, wann und inwiefern Transdifferenz ihrerseits Differenz, und zwar annehmbare Differenz und damit Ich/WirStärke begründet. Insofern es kein Ort der Exemtion oder der Indifferenz ist (das ist sie m. E. realiter nie), stellt auch das Phänomen der Transdifferenz kein Argument gegen eine Ethik der Differenz dar.

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Das Eigene und das Andere der Transdifferenz

IV. Präsenz Unser Graduiertenkolleg war kritische und konstruktive Arbeit am kulturellen Paradigma »Differenz«. Es hat dieses Paradigma zunächst im kulturellen Medium »Sprache« bearbeitet, und das ist auch jetzt noch plausibel. Zum einen ist es das von den Gegenständen der beteiligten Disziplinen her, die es v. a. mit verbalen, textlichen, gestischen und medial kodierten Semiosen zu tun haben. Plausibel war und ist es zum anderen im Rahmen »unserer« Teilhabe an einer Kultur, in der die elementar orientierende Bedeutung von etwas als etwas, d. h. die Möglichkeit des Anspruchs auf Identität, durch unterscheidende Sinnzuschreibungen aufgebaut, kommuniziert und tradiert wird: Grammatik und Logik erfordern – religiös, ästhetisch und politisch-ethisch sanktioniert – bei »uns« seit jeher und immer noch: distinguendum est. Es ist das vorläufige Ergebnis der Arbeit des Kollegs, das semiotische und operationale Paradigma »Differenz« in der aktuellen Situation erneut differenziert zu haben: Transdifferenz ist ein irritierendes, aber auch produktives Moment in der Kultur von Differenz und der hier erhobenen Ansprüche auf Eigenart und Identität. In dieser Arbeit hat sich jedoch immer wieder gezeigt, dass die hermeneutische Korrelation von Identität und Differenz, obgleich eine »basale Operation« in allen Prozessen von Kultur, nicht für alle Ereignisse und Vorgänge in unserer Kultur gilt (in anderen Kulturen als der »unsrigen« ist das Bewusstsein dafür ohnedies sehr viel intensiver). Dass hier ein für das Programm des Kollegs relevantes Problem liegt, zeigte sich z. B. daran, dass Transdifferenz einerseits beschrieben wurde als ein (bei diskrepanten Zugehörigkeitssemantiken) notwendiges Implikat iterativer Sinnproduktion, also ein möglicherweise immer auftretendes Nebenprodukt der Prozesse von Identitätsbildung und -fortbildung. Andererseits wurde Transdifferenz beschrieben als ein überraschender, eher störender oder schmerzlicher Moment, als eine liminale Situation, in der man sich »betwixt and between« vorfindet (die Forderung eines zeitlichen Index für Transdifferenz kehrt hier auf einer neuen Ebene wieder). Außerdem zeigte jene Korrelation von Identität und Unterschied sich immer dann als eine (mindestens) nicht nur lineare, wo es in der psychischen und sozialen Realität, aber auch in den literarischen und visuellen Medien um die Beziehung von Identität und (eigenem) Leib bzw. (gegenständlichem) Körper ging, zumal im Blick auf intersubjektive Anerkennung und auf die dabei immer mitspielende machtförmige Kommunikation. Das haben auch die Verhandlungen der Konferenz in der Sektion »Grenzen, Schwellen, Schranken« expliziert. Die Abschlusskonferenz hat daher unter dem Titel Präsenz die Frage nach einem Anderen zu semiotischen Sinnbildungsprozessen gestellt. Damit wird die Kritik an der »Wut des Verstehens« aufgenommen, die immerhin schon Hegel artikuliert hat, und, neuestens, auch die Kritik an der völligen Gleichsetzung semiotischer Repräsentation mit Kultur überhaupt. Die Vorträge und Diskussionen dieser Sektion (hier: Teil II) haben das »posthermeneutische« Paradigma der Präsenz als das Andere von Kultur als Repräsentation von Sinn hervorgehoben und haben die Phänomene von Präsenz nicht bloß als Unterbrechung oder Störung des durch die Kunst des Unterscheidens Wohlgeordneten, sondern geradeswegs als »Konfusion« und »Umheimlichkeit« charakterisiert (Dieter Mersch). Das bestätigt die Hypo323

Walter Sparn

these des Ausschreibungsentwurfs, dass die Präsenzlektüren in den kulturhermeneutischen Disziplinen die »Initiationsmomente« reflektieren, die jeweils Zeichen- und Kommunikationsprozesse in Gang setzen. Nicht akzeptiert wurde jedoch die Hypothese, dass Phänomene der Präsenz das Spannungsfeld zwischen Unmittelbarkeit und Übersetzung eröffneten bzw. dass »Präsenz« als das Andere jedes Zeichenprozesses und als Produkt von Kommunikation und Zeichen aufgefasst werden könne, mithin »vermittelte Unmittelbarkeit« besage. Widerspruch gegen diesen Hegelianismus wäre schon kulturgeschichtlich anzumelden. Denn sowohl der religiöse Begriff der Offenbarung und des Neuen oder der liturgische Begriff der Realpräsenz als auch die säkularen Begriffe der Kontingenz, der Emergenz, aber auch der ästhetischen Inspiration kennzeichnen sich unzweideutig als Indizes von Phänomenen, deren Imagination, Narration und Reflexion immer erst »danach« möglich sind und die sich in diesen »Übersetzungen« als mehr oder weniger deutliche, jedoch nur gewaltsam völlig verwischbare Alteritätsspuren präsent halten. Das gilt auch dann, wenn dieses Andere nicht transzendenten Ursprungs ist, sondern »nur« die Individualität, das Antlitz eines Menschen, wie das im Anschluss an Emmanuel Lévinas der Befund mehrerer literatur- und medienwissenschaftlicher Dissertationen war. Die Rede von Transdifferenz muss, so hat sich gezeigt, die kategoriale, d. h. hier: die epistemische, hermeneutische und m. E. auch ontologische Asymmetrie aufnehmen, die zwischen dem unterbrechenden Ereignis, an dessen »Dass« oder dessen Erscheinung man nur mit deiktischem Gestus erinnern kann, und dem nachträglichen Verstehen, das die erzählende und gestaltende Erinnerung aufbaut. Das erfordert von der semiotischen Kommunikation, Hinweise nicht bloß auf ihre zeitliche Nachträglichkeit, sondern auch auf ihre kategoriale Insuffizienz mit sich zu führen. Dies bedeutet möglicherweise ihre Selbstunterbrechung durch ein »Schweigen«, das gezielt »etwas« offen lässt, umgeht, sich nicht anverwandelt – dadurch verliert sie nicht, sondern gewinnt an Authentizität und Faktizität. Sollte man eine solche konzeptuelle Veränderung als »posthermeneutisch« bezeichnen oder nicht besser als phänomenologisch aufgeklärte, d. h. der Grenzen ihrer Theoriefähigkeit bewusste Kulturhermeneutik? Auch scheint es doch einer Überlegung wert, die im Zuge der Vorbereitung der Präsenz-Thematik angestellt wurde: Ist Transdifferenz ein Phänomen, das im Geflecht kultureller Produktion und Repräsentation auftritt, dieses jedoch in actu zugleich unterbricht? Dann wäre Transdifferenz in bestimmter Hinsicht kein Phänomen, das gänzlich in Sinn übersetzt werden könnte, sondern ein Phänomen asemiotischer Präsenz, das im paradoxen Entzug von Sinn, aber auch im abgründigen Widerstand gegen Identifikation aufscheint und einen anderen, kategorial nicht erfassbaren Modus von Realität und Evidenz anzeigt. Transdifferenz verwiese dann auf einen Modus, dessen nachträgliche sprachliche Repräsentation auf die Metaphorizität der Sprache und auf ihren poetischen und paradoxen Gebrauch setzt. Den für diese Sicht notwendigen Abschied von einem univoken Kulturbegriff hat das Kolleg, so möchte ich behaupten, bereits genommen: zugunsten eines Begriffs, der das kulturelle Kontinuum nicht metaphysisch gegen Risse und Brüche aufrüstet, der sich nicht immunisiert gegen das (noch) nicht sagbare Andere und Neue.

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Das Eigene und das Andere der Transdifferenz

Der Titel des vorliegenden Bandes, »Identität und Unterschied. Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz« weicht zu Recht ein Stück weit ab vom Titel »Das Andere der Trans/Differenz« der Abschlusskonferenz. Dieser Konferenz-Titel wurde, gegen seine (in der auffälligen Schreibung »Trans/ Differenz« wohl nicht hinreichend deutliche) Absicht, geradezu essentialistisch missverstanden, als hätte das Kolleg einen bestimmten lebensweltlichen Gegenstand namens »Transdifferenz« in Gestalt einer »Kulturtheorie der Transdifferenz« erfasst. In der Tat ist diese Bezeichnung im Kolleg gelegentlich beansprucht worden. In diesem Band ist vorsichtiger von »Forschungsfelder[n] der Transdifferenz« die Rede (Teil I). Die Beiträge, Repliken und Diskussionen der Konferenz haben sich tatsächlich mit solchen Forschungsfeldern befasst und haben so den Begriff »Transdifferenz« in seiner erstaunlich großen, offenbar aber auch begrenzten analytischen Reichweite weiter geklärt. Das wiederum hat die Frage nach der Phänomenalität von Transdifferenz aufgeworfen, die es noch genauer zu untersuchen gilt.

V. Ausblick Das Globalziel des Kollegs »Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz« ist insofern erreicht worden, als das – immer bloß rhetorisch gebrauchte – »im Zeichen von« jetzt ohne die Ambition einer Totaltheorie expliziert werden kann: Die Rede von »Transdifferenz« ist Bestandteil einer nicht nur textwissenschaftlich, sondern auch praxeologisch und medientheoretisch arbeitenden Kulturhermeneutik, deren Gegenstand »Differenzen ohne Ende« sind (Doris Feldmann), die über die lineare Korrelation von Differenz und Identität hinaus komplexere, unschärfere und ungewissere Formen von Identifikation, Bedeutung und Sinn in den Blick zu nehmen vermag und die sich phänomenologisch aufmerksam in den Grenzen ihrer Sinnwelt bescheidet. »Transdifferenz« war zunächst nur ein heuristischer Begriff; er entwickelte sich zu einem die Forschungspraxis anleitenden deskriptiven, erst einmal experimentell theoretischen Begriff. Jetzt steht er als eine hinreichend begründete, aber sachgemäß »schwache« Kategorie einer nicht-essentialistischen Kulturhermeneutik zur Debatte. Ein ambitioniertes Forschungsprogramm darf man dann ein gutes Programm nennen, wenn es im Lauf seiner Realisierung methodische Korrekturen, wissenschaftspraktische Erweiterungen und innovative Theoriebildungen herausfordert und Alternativperspektiven wohlweislich zulässt. Auch im Blick auf letzteres sollte man weiterhin ihrem iterierenden Imperativ folgen: Neugier auf Differenz!

Literatur Allolio-Näcke, Lars/Kalscheuer, Britta/Manzeschke, Arne (Hg.) (2005): Differenzen anders denken: Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz, Frankfurt/M.: Campus. Ernst, Christoph/Sparn, Walter/Wagner, Hedwig (Hg.) (2008): Kulturhermeneutik. Interdisziplinäre Beiträge zum Umgang mit kultureller Differenz, München: Fink. 325

Autorinnen und Autoren

Dr. Cristian Alvarado Leyton, Universität Hamburg. [email protected] Prof. em. Dr. Helmbrecht Breinig, Universität Erlangen-Nürnberg. [email protected] Martin Dösch, M.A., Universität Erlangen-Nürnberg. [email protected] Dr. Philipp Erchinger, University of Exeter. [email protected] Urs Espeel, M.A., Universität Erlangen-Nürnberg. [email protected] Prof. Dr. Doris Feldmann, Universität Erlangen-Nürnberg. [email protected] Prof. Dr. Martin Fuchs, Universität Erfurt. [email protected] Stephanie Garling, M.A., Universität Erlangen-Nürnberg. [email protected] André Grzeszyk, M.A., Universität Erlangen-Nürnberg. [email protected] Michael Gubo, M.A., Universität Erlangen-Nürnberg. [email protected] Prof. Dr. Ulla Haselstein, Freie Universität Berlin. [email protected] Peter Isenböck, M.A., Universität Erlangen-Nürnberg. [email protected] Prof. Dr. Kay Kirchmann, Universität Erlangen-Nürnberg. [email protected] Prof. Dr. Albrecht Koschorke, Universität Konstanz. [email protected] 327

Autorinnen und Autoren

Martin Kypta, M.A., Universität Erlangen-Nürnberg. [email protected] Janna Lau, M.A., Universität Erlangen-Nürnberg. [email protected] Dr. Klaus Lösch, Universität Erlangen-Nürnberg. [email protected] Prof. Dr. Andrei Marga, Universität Babeş-Bolyai, Klausenburg. [email protected] Prof. Dr. Dieter Mersch, Universität Potsdam. [email protected] Prof. Dr. Andreas Reckwitz, Universität Konstanz. [email protected] Ulla Reiß, M.A., Universität Frankfurt am Main. [email protected] Anja Rozwandowicz, M.A., Universität Erlangen-Nürnberg. [email protected] Dr. Stephan Schmidt, Academia Sinica, Taipei. [email protected] Prof. em. Dr. Walter Sparn, Universität Erlangen-Nürnberg. [email protected]

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Kultur- und Medientheorie Matthias Bauer, Christoph Ernst Diagrammatik Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld April 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1297-4

Jürgen Hasse Unbedachtes Wohnen Lebensformen an verdeckten Rändern der Gesellschaft Juni 2009, 254 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1005-5

Thomas Hecken Pop Geschichte eines Konzepts 1955-2009 September 2009, 568 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-89942-982-4

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2009-12-14 14-49-52 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 032e228633916274|(S.

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3) ANZ1182.p 228633916282

Kultur- und Medientheorie Christian Kassung (Hg.) Die Unordnung der Dinge Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls Juni 2009, 476 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-721-9

Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Juli 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien Juni 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5

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2009-12-14 14-49-52 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 032e228633916274|(S.

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3) ANZ1182.p 228633916282

Kultur- und Medientheorie Christof Decker (Hg.) Visuelle Kulturen der USA Zur Geschichte von Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen und Neuen Medien in Amerika

Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.) Ökonomien der Zurückhaltung Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion

April 2010, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1043-7

März 2010, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1260-8

Barbara Eder, Elisabeth Klar, Ramón Reichert, Martina Rosenthal (Hg.) Theorien des Comics Ein Reader

Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Netzwerk Kultur Die Kunst der Verbindung in einer globalisierten Welt

Februar 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1147-2

Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien März 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Von Monstern und Menschen Begegnungen der anderen Art in kulturwissenschaftlicher Perspektive Dezember 2009, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1235-6

Februar 2010, ca. 174 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1356-8

Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts Februar 2010, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-89942-420-1

Roberto Simanowski Textmaschinen – Kinetische Poesie – Interaktive Installation Studien zu einer Hermeneutik digitaler Kunst März 2010, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-976-3

Sacha Szabo (Hg.) Kultur des Vergnügens Kirmes und Freizeitparks – Schausteller und Fahrgeschäfte. Facetten nicht-alltäglicher Orte Oktober 2009, 334 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1070-3

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2009-12-14 14-49-52 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 032e228633916274|(S.

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3) ANZ1182.p 228633916282

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