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German Pages 232 [231] Year 2015
Stefan Kramer Das chinesische Fernsehpublikum
Stefan Kramer (PD Dr. phil.) ist Hochschuldozent für Medienwissenschaft an der Universität Konstanz und assoziierter Mitarbeiter am Seminar für Sinologie und Koreanistik der Universität Tübingen. Er forscht u.a. zu Kultur, Kulturgeschichte, Kulturtheorie und Diskursgeschichte der Medien, Medienkommunikation und Interkulturalität, kulturelle Identität, Kultur- und Literaturgeschichte Chinas sowie den Medien Ostasiens.
Stefan Kramer Das chinesische Fernsehpublikum. Zur Rezeption und Reproduktion eines neuen Mediums
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INHALT
1. Einleitung und Methode 7 2. Netzwerke der Kultur und Medien der Repräsentation 31 Medialität der Kultur und Kulturalität der Medien 34 Netzwerke kultureller Produktion 42 Versuchsanordnungen 51 3. Nutzungsanordnungen I: Das technische Dispositiv und die Gesellschaft 65 Städtische und ländliche Medienteilnehmer 67 Freizeit, Unterhaltung, Kommunikation 81 Kanäle der Information und Formationen des Wissens 95
4. Nutzungsanordnungen II: Fernsehen, Kultur und Tradition 109 Traditionen der Repräsentation 111 Unmittelbare Kommunikation 121 Mittelbar-apparative Kommunikation 133 5. Wahrnehmungsanordnungen I: Fernsehen und Raum 145 Heterotopien des Fernsehdispositivs 145 Konstruktionen des Anderen 158 Konstruktionen des Eigenen 167 6. Wahrnehmungsanordnungen II: Fernsehen und Zeit 179 Dauer und Moment 183 Vergangenheit 191 Gegenwart 203 Literatur 221
1. E I N L E I T U N G
UND
METHODE
Als das inzwischen weltweit prägende Leitmedium von Information und Unterhaltung hat das Fernsehen nach dem 2. Weltkrieg zunächst in den industrialisierten Gesellschaften Europas und Nordamerikas einen rasanten Aufstieg erlebt. Durch die seit den 1950er Jahren fortschreitende ökonomisch-technische und die politische Neukonstituierung der Nachkriegsgesellschaften veränderten sich dort auch die Kommunikationsstrukturen nachhaltig. Dies brachte, parallel zur Entwicklung des Fernsehens, einen beschleunigten Wandel von den arbeits- bzw. kapitalintensiven Produktionsweisen der industriellen Hochmoderne zu denjenigen der hochspezialisierten postindustriellen Gesellschaften des Informationszeitalters mit sich. Unter den technisch-ökonomischen Prozessen der neu konstituierten Gesellschaften fand eine unaufhörliche Beschleunigung der Kommunikationstechniken statt. Zugleich haben letztere die Neukonstitution der Weltwirtschaft und -politik erst dadurch ermöglicht, daß sie die für deren Erfolg notwendigen Kommunikationsstrukturen bereitgestellt haben. Mit Hilfe der neuen Technologien, zu denen u.a. die Einführung und flächendeckende, durch ihre inzwischen gängige Massenproduktion immer preiswertere Verbreitung von Transistoren und Silizium gehörten, setzten die aufstrebenden Unternehmen und Volkswirtschaften zusehends auf global standardisierte und automatisierte Kommunikations- und Produktionsweisen. Gleichzeitig etablierten sich unter den neuen ökonomischen Konditionen stärker global angeordnete Absatzmärkte, die immer mehr von transnationalen Unternehmensstrukturen mit lokalen Produktionsstätten bedient wurden. Unter den Bedingungen standardisierter, aber dennoch zusehends lokal ausdifferenzierter Massenproduktion sowie eines transnationalen Vertriebs werden immer mehr Empfänger in aller Welt und in allen sozialen und geosozialen Schichten erreicht. So konnte sich das Fernsehen in relativ kurzer Zeit von seinem frühen Status als experimentelle Technik der Erzeugung und Übertragung von elektronischen Bildimpulsen zu der im Hinblick auf die massenmediale Kommunikation und die weltweite Verbreitung von Wissen und Bedeutung einflußreichsten und ökonomisch erfolgreichsten kulturtechnischen Errungenschaft des 20. Jahrhun-
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derts entwickeln. In den nur zwei Jahrzehnten, die es in Europa und Nordamerika für seine flächendeckende Verbreitung benötigte, ist es zum prägenden Medium der Information und Unterhaltung geworden. Auf der Grundlage seines Echtzeitcharakters, seiner unerreichten Breitenwirkung sowie seiner die Sprachgrenzen wie soziale und Bildungsschichten sprengenden Visualität hat es sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts daran gemacht, die seit der frühen Neuzeit über Jahrhunderte hinweg dominante Kultur der Typographie allmählich unter seine Dispositionen zu zwingen. Von den Technikentwicklungen und den Produktions- und Vertriebsstrukturen Nordamerikas wie dessen auf Liberalismus und frei verfügbares bzw. erwerbbares Wissen setzender Wirtschaftsideologie ausgehend über das sich unter US-amerikanischem Einfluß neu konstituierende Europa und Australien bis in die sich postkolonial neu ordnenden Staaten Asiens, Südamerikas und Afrikas hinein hat das Fernsehen die unangefochtene Rolle als Leitmedium in aller Welt übernommen. Es ist damit zu einem wesentlichen Teil einer neuen Medienkultur geworden. Kennzeichnend dabei ist, daß es nicht die zentralistisch ausgerichteten fordistischen Produktions- und Kommunikationsstrukturen der Vorkriegszeit fortgetragen hat. Vielmehr hat es in erheblichem Maße dazu beigetragen, die Dispositionen für das postfordistische Ökonomie- und Kommunikationsmodell einer zugleich in höchstem Grade standardisierten Hardwaretechnik mit national, später lokal extrem partikularisierten Aneignungsräumen bereitzustellen, unter denen das gegenwärtige »glo/kale« Weltsystem funktioniert. Dies wiederum hat die Bedingungen geschaffen, unter denen die seit der Kulturkritik der Frankfurter Schule in der Soziologie und den Kommunikationswissenschaften gängige Massenmedienforschung, welche von standardisierten und ihr Publikum standardisierenden Bedeutungsangeboten ausging, die Frage danach zu stellen, was die Medien bei ihren Nutzern bewirken. Diese Frage ist heute neu zu formulieren. Die Berücksichtigung und Einbindung der neuerlichen Partikularisierung von Kultur unter den postfordistischen Bedingungen der Medien haben sich in unterschiedlichen Forschungsansätzen niedergeschlagen; so zunächst in disziplinären Ausrichtungen der Cultural Studies, welche als erste auch den Medienrezipienten als bedeutungsbildende Komponente der Kommunikationsprozesse ernst genommen haben, aber auch in der Soziologie selbst, so nicht zuletzt in Manuel Castells bahnbrechender dreibändiger Arbeit zum Informationszeitalter1, und schließlich auch in zahlreichen regionalwissenschaftlichen Forschungsrichtungen. In deren Folge versteht sich auch die vorliegende 1
Manuel Castells: Das Informationszeitalter. 3 Bd. Opladen 2003.
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Untersuchung. Sie will sich dem chinesischen Fernsehpublikum als kulturschaffender Kraft annähern und dabei so weit, wie dies irgend möglich ist, von homogenisierenden Betrachtungsweisen abrücken. Damit möchte sie zum einen den Medienteilnehmer als Individuum in den Mittelpunkt rücken und zum anderen neuere, polyzentrische Modelle einer Rezipientenforschung austarieren. Dabei wird sie weder auf eine empirische Betrachtung der Fernsehzuschauer als einzelne und kollektive Kulturteilnehmer noch auf die kultur- und diskursanalytische Analyse verzichten, welche die für sich selbst nur wenig aussagenden empirischen Forschungsergebnisse erst mit Bedeutung füllen. China hat sich von gänzlich anderen Wahrnehmungstraditionen aus das Fernsehen angeeignet, als dies in Europa und Nordamerika der Fall war. Der Blick auf das Reich der Mitte mit seinem weltweit größten Fernsehpublikum liegt daher auch dann auf der Hand, wenn man Grundsätzlicheres nicht nur über das betrachtete System selbst sondern auch über die Bedingungen der Konstruktion und Stabilisierung der gegenwärtigen Systeme von Kultur und Kommunikation aussagen will. Der Blick soll daher nicht allein nach China führen, sondern darüber hinaus ermöglichen, einen heterotopen Standpunkt anzunehmen und von diesem aus auf die Dispositionen des Eigenen zurückzublicken. Die Entwicklung des Fernsehens und dessen Weg in die Welt, auf dem es auch nach China gelangte, fanden unter den Bedingungen seines Eingebundenseins in die spätmoderne Welle ökonomischer und kultureller Globalisierung statt. Diese ging in den 1950er Jahren längst nicht mehr allein von Europa und Nordamerika aus, sondern schloß immer mehr auch die ehemaligen Empfängerkulturen fordistischer Produktion als aktive Teilnehmer an der kulturellen Konstituierung der weltweiten Medien- und Konsumkultur mit ein. Im selben Zuge verkürzten sich nicht nur die Reise- und Kommunikationswege des Austauschs und der Verbreitung von Waren und Informationen. Vielmehr wurden immer mehr die gesamte Welt und alle in ihr lebenden Individuen als mögliche Adressaten der global vertriebenen Konsumprodukte wie auch der inzwischen selbst zu einer der ertragreichsten Waren avancierten Information und Unterhaltung selbst entdeckt. Eine immer schnellere Informationsübertragung und deren preiswerte Empfangstechnik sowie die grenzenlose und nahezu bildungsunabhängige Verfügbarkeit war maßgebliche Voraussetzung für den Erfolg der auf die globalen Märkte drängenden nationalen und später auch transnationalen Konzerne und liberal-demokratischen Systeme. Sie hat auch deren sozialistische oder autoritäre, post- und antikoloniale, sich antineokolonialistisch gebende und totale oder totalitäre Widerstandssysteme solange am Leben gehalten, bis sie in Ermangelung eigener Kapital9
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kraft nicht mehr in der Lage waren, von diesen Techniken zu profitieren, um sodann von ihren globalen Weiterentwicklungen abgeschnitten zu werden. Unter diesen Bedingungen hat das Fernsehen als wichtigster Kulturexport mühelos alle politisch-ideologischen, sprachlich-kulturellen und volkswirtschaftlichen Grenzen zu überwinden vermocht, um sich global zu etablieren und seine eigenen Dispositionen in die Gesellschaften einzuschreiben. Es ist damit zum maßgeblichen Trägermedium eines global standardisierten, sich dabei aber national und schließlich auch lokal ganz unterschiedlich ausdifferenzierenden Wissens und von transnational gültiger, aber in lokalen Räumen unterschiedlich rezipierter und reproduzierter Bedeutung geworden. Als solches hat es in den 1950er Jahren zunächst als experimentelle Nachrichtenübermittlungstechnik und lokale Unterhaltungsattraktion, seit den 1980er Jahren als Massenmedium Eingang in die bis dahin unter der totalen bis totalitären Herrschaft Mao Zedongs weitgehend verschlossene Volksrepublik China gefunden. Dabei hat es sich auf unterschiedliche Weise am postkolonialen sowie seit den Liberalisierungen der 1980er und 1990er Jahre auch am postsozialistischen »Nation building« wie zugleich auch an dessen Fragmentierungen und Auflösungstendenzen beteiligt. Infolge seiner nationalen Neuordnung und der industriellen Aufbaumaßnahmen, die maßgeblich durch den technischen und wirtschaftlichen Austausch mit den damaligen »sozialistischen Bruderstaaten« Osteuropas möglich wurden, sollte das Fernsehen in China zu einem der wichtigsten »Transmissionsriemen« der kommunistischen Staatspolitik werden. Es scheiterte mit diesem Anspruch aber zunächst an den technischen und wirtschaftlichen Bedingungen sowie an der schlechten Infrastruktur des Landes, das unter der Herrschaft Mao Zedongs bis in die 1970er Jahre hinein von einer in die nächste Krise trieb. China verblieb unter seiner fehlgeleiteten und ideologisierten Politik, welche jeglichen Pragmatismus in staatsökonomischen Fragen und die Errichtung freier Märkte, auf denen sich die Medien hätten entfalten können, verhinderte, in seiner industriellen wie auch kommunikationstechnischen Entwicklung weitgehend auf einem vormodernen Stand. Unter Ausschluß effizienter, privatwirtschaftlich agierender und in globalen Maßstäben interagierender Konzerne blieb sie allein in die Verantwortung zentralstaatlicher Institutionen gestellt. Diese verfügten weder über ein gut ausgebildetes und experimentierfreudiges Personal noch hatten sie die notwendige Technik und Finanzkraft zur Verfügung. Zudem konnten sie unter dem Gängelband von häufig wechselnden politischen Vorgaben kaum längerfristig planen. So waren die Installation eines wirksamen Fernsehnetzwerkes und von funktionsfähigen Sendeanstalten sowie die für die Etablierung 10
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eines neuen Massenmediums ausreichende Verbreitung von Empfangsgeräten in Chinas Privathaushalten bis nach dem Ende von Maos Herrschaft nahezu unmöglich. China verfügte unter diesen Bedingungen, was das Fernsehen betraf, bis in die späten 1970er Jahre über eine sich nur schleppend entwickelnde kommunikations- und informationstechnische sowie ordnungspolitische Infrastruktur. Es hatte nur wenige ausstrahlende Sender und ein noch kaum ausgebautes, die meisten Regionen noch nicht erreichendes terrestrisches Sendenetz. Auch die Videotechnik, mit der das Fernsehen in Nordamerika und Europa bereits in den 1950er Jahren auch als Speichermedium entdeckt wurde, womit eine Programmgestaltung möglich geworden ist, blieb in China zunächst fremd. Ihr Import aus dem »Westen« war aus ideologischen und wohl auch aus ökonomischen Gründen zunächst unvorstellbar. Daher blieb das Fernsehen entgegen seiner eigentlichen Bestimmung als Massenmedium lange Zeit eine mehr oder weniger auf seine technische Attraktion beschränkte Unterhaltungs- und Informationsquelle für wenige politisch privilegierte Teilnehmer. Es verortete sich entgegen seiner eigentlich auf den privaten Wahrnehmungsraum seiner Nutzer ausgerichteten Anordnungsstrukturen zunächst nahezu ausschließlich im öffentlichen Raum, in Gemeindesälen, Parteizentralen oder Regierungsgebäuden. Fernsehen bedeutete in jenen zweieinhalb Jahrzehnten seiner Frühphase in China seine Reduktion auf das Ausstrahlen von Spielfilmen, welche 1:1 von ihren 35mm-Originalfilmstreifen abgetastet und auf die Bildschirme übertragen und gegen Bezahlung in den Gemeindesälen dargeboten wurden. Hinzu kamen einige wenige live ausgestrahlte Informationsprogramme mit explizit politisch-proklamatorischem Zweck, welche vor allem in den Regierungs- und Parteivertretungen der Gemeinden sowie in Stadtteilvertretungen ihr Publikum fanden. Dort wurden eigens Fernsehräume nach dem Vorbild der Kinosäle eingerichtet, in denen das neue Medium sich in Verkennung seiner eigentlichen medialen Eigenschaften unter strenger staatlicher und parteilicher Kontrolle zunächst einer zahlenmäßig kaum nennenswerten Zuschauerschaft nicht von ungefähr als »Kleines Kino« 㓽 ᔶ ᕅ ࠻ 䰶 präsentierte. Erst nach dem Tod Mao Zedongs im Jahre 1976 und der zwei Jahre später vollzogenen Machtübernahme Deng Xiaopings veränderten sich allmählich die ökonomischen und politischen Bedingungen für die Medien in China. Die von Deng eingeführte Politik der »Vier Modernisierungen« und die damit einhergehende wirtschaftliche Öffnung und kulturellpolitische Entideologisierung schufen die notwendigen ordnungspolitischen Voraussetzungen, um das Fernsehen in die Privathaushalte der in11
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zwischen zu Milliardengröße angewachsenen Bevölkerung der Volksrepublik China zu tragen. Dieser Zeitpunkt wirtschaftlicher Öffnung und vorsichtiger politischer Liberalisierung markierte nach zwei Jahrzehnten der Krise und des Experimentierens den eigentlichen Beginn der Geschichte des Fernsehens in China. In den 1980er Jahren durchschritt es einen rasanten Entwicklungsweg, bis es in den 1990er Jahren die ihm zugedachte Rolle des nationalen Leitmediums übernehmen konnte; eine Voraussetzung, unter der eine Untersuchung wie die Vorliegende erst möglich und sinnvoll geworden ist.
»Kleine Kinos«, Fernsehen auf dem Lande Das Fernsehen gliederte sich seit den 1990er Jahren immer stärker auch in China in eine sich dort gleichzeitig ausbreitende transnationale Konsum- und Medienkultur sowie in die globale Informationsgesellschaft ein, innerhalb derer sich die nationalen und lokalen Nutzungs- und Wahrnehmungsräume des unter Mao noch weitgehend hermetisch abgeschlossenen Landes zusehends zu verorten haben. Nachdem China sich Jahrzehnte lang erfolglos um die Entwicklung eigener technischer Standards im Rundfunkwesen bemüht hatte, wurden erst mit der liberaleren, auf technische Modernisierung und Internationalität setzenden Wirtschaftspolitik Deng Xiaopings und seiner Nachfolger an den Schalthebeln der Macht Technikimporte in großem Umfang möglich. Sie schufen die Voraussetzungen für den Aufbau einer produktions- und sendetechni12
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schen Infrastruktur, die sich an europäischen Standards orientierte. Begleitet von einem in den urbanen Ballungsräumen auflebenden Markt mit Zeitungen und Zeitschriften sowie dem ökonomisch zunächst aufstrebenden, bald aber von den Bildschirmmedien verdrängten Kino, die inzwischen beide vor allem zu Referenzmedien für das Fernsehen geworden sind und mit diesem in vielfältigen inter- und transmedialen Interaktionsbeziehungen stehen, erlebte das Fernsehen seinen Aufstieg zum Träger einer ›postsozialistischen‹ chinesischen und sich in China breit machenden glo/kalen Medienkultur. Innerhalb von nur einem Jahrzehnt zwischen dem Beginn einer zweiten Phase wirtschaftlicher Liberalisierung im Jahre 1992 und den vorliegenden Untersuchungen avancierte es zum ersten Medium in der Geschichte Chinas, mit dem nahezu eine Vollversorgung der gesamten Bevölkerung mit Informationen erreicht worden ist. Im Zuge des flächendeckenden Ausbaus mit terrestrischen und Kabelnetzen und der landesweiten Versorgung mit Empfangsgeräten, welche bereits in den späten 1980er Jahren nahezu erreicht worden war, wurden die Markt-Voraussetzungen und die notwendigen unternehmerischen Anreize für weitere inhaltlich-programmatische Entwicklungen und technische Experimente mit Digital- und Bouquetfernsehen, Pay-TV und Fernsehen, das über Mobiltelephone übertragen wird, geschaffen. Nur so ist das Fernsehen als erstes Medium in der zweitausendjährigen Geschichte des chinesischen Einheitsstaates überhaupt in die Lage gekommen, eine gleichzeitige Versorgung seiner gesamten Bevölkerung mit einheitlichem Wissen und standardisierten Kommunikationsformen und Zeichensystemen zu erreichen. Insbesondere das sich daraus ergebende Spannungsfeld zwischen den Standards der Fernsehkommunikation und den lokalen und nationalen Wahrnehmungsstrukturen von Wissen und Bedeutung macht eine Betrachtung des chinesischen Fernsehpublikums mit Erkenntnismöglichkeiten, die somit unmittelbar auf unseren eigenen europäischen Erkenntnisraum zurückverweisen, derart interessant. Nachdem die bis dahin über zwei Jahrtausende hinweg dominante Schriftkultur die Mehrzahl ihrer leseunkundigen Empfänger letztlich immer erst nach einer weiteren medialen Übertragung in die Mündlichkeit zu erreichen vermochte, die oralen Volkskulturen indes selten mehr als lokale Bedeutung erlangt hatten, ist das Fernsehen mit seinen weit mehr als 1 Milliarde inländischen sowie zahlreichen weiteren Zuschauern in den ›Overseas Communities‹ zum ersten singulär bestimmbaren Leitmedium in der Geschichte Chinas überhaupt geworden. Seine von ›westlichen‹ Medien oftmals euphorisch gefeierte Konkurrenz in Gestalt digitaler Bildschirm- und Onlinemedien mit ihren (so schreibt etwa die 13
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»Süddeutsche Zeitung« in ihrer Ausgabe vom 5. Oktober 2005) »100 Millionen Nutzern« wird noch über Jahrzehnte hinweg nicht an die Aufmerksamkeit heranreichen, welche dem noch überwiegend analog ausstrahlenden Programm-Bildschirmmedium gegenwärtig zukommt. Nahezu alle sozialen und soziogeographischen Bevölkerungsschichten im weitläufigen China sind zu Nutzern dieser Kulturtechnik und zu Konsumenten der durch das Fernsehen transportierten Informationen geworden. Dabei haben sie sich seine medialen und kulturell-ideologischen Anordnungsbedingungen auf die eine oder andere Weise mit angeeignet und in das eigene Selbstverständnis integriert. Somit vermochte nach der zweitausendjährigen Geschichte des chinesischen Einheitsstaates dieses importierte Medium als erstes die bereits seit den kulturellen Brüchen der bürgerlichen Revolution 1911 und der kommunistischen Revolution 1949 politisch angestrebte und oftmals verkündete Auflösung der Zweiteilung zwischen elitärer Schriftkultur und populärer Volkskultur zu verwirklichen. Mit seinem Echtzeitcharakter und seiner beispiellosen Verfügbarkeit und Rezipierbarkeit hat das Fernsehen seine Verweismedien, den Hörfunk, die Zeitungen und Bücher und auch das Internet, strukturell immer stärker überlagert und deren Anordnungen mit geprägt. Es hat bei der Konstitution einer multimedialen Medienkultur und einer global ausgerichteten chinesischen Informationsgesellschaft eine entscheidende Rolle bei den hegemonialen wie auch von deren widerständigen Identitätsbildungen übernommen. Das Fernsehen ist dabei zu einem Medium der gleichzeitigen Herstellung einer flächendeckenden »nationalen« Öffentlichkeit wie auch der (Wieder-)Entdeckung des individuell determinierten Wahrnehmungssubjektes als Konsument von Waren und Bedeutungen geworden. Damit hat es seine Rolle weit über diejenige als eines neutralen Kommunikators und Multiplikators von Wissen, welche die Regierung anstrebte, ausgeweitet. Kraft seiner medialen Strukturen hat es aktiv an der Produktion von Bedeutungsdiskursen teilgenommen und die Gesellschaft dadurch mehr verändert, als es seit der Einführung der frühen Schriftträger Jahrtausende zuvor irgendein Medium jemals vermocht hatte. Auf der Grundlage seiner Medialität und seiner gesellschaftlichen Verortung als Kulturtechnik hat das Fernsehen sich in den Alltag und die Selbst- wie die Weltwahrnehmung seiner Nutzer eingeschrieben. Es hat eigene Formen der kulturellen Repräsentation, Kommunikation und Wahrnehmung ausgebildet und in Gestalt des Fernsehzuschauers ein Medienpublikum etabliert, das als konsumierender wie zugleich aktiv gestaltender empirischer ›Leser‹ zu einem Teil der multilokalen weltweiten medien- und Konsumkultur geworden ist. 14
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Das Fernsehen hat, wie ich an anderer Stelle herausgearbeitet habe,2 ein í hier am Beispiel des Zuschauers zu untersuchendes í Spannungsfeld erzeugt. Es offenbart sich zwischen den Dispositionen einer vor allem metaphorisch argumentierenden kulturellen Repräsentations- und Wahrnehmungspraxis, wie sie die vormodernen Medien und die Gelehrtenkultur Chinas geprägt hat, auf der einen Seite. Auf der anderen Seite zeigt sich eine sich im Fernsehdispositiv entäußernde, sich in seinem vor allem durch den »flow« gekennzeichneten Programmcharakter aber teilweise bereits wieder auflösende Kultur exakter, Abbilder schaffender Repräsentation. Hinzu kommt eine an der bildhaften Nähe zum Abgebildeten gemessene Wahrnehmung von Realität und Wahrheit, wie sie die industrielle Moderne hervorgebracht und Kolonialismus und Globalisierung nach China getragen haben. In diesem Sinne wird es in den nachfolgenden Untersuchungen immer auch um die Frage nach Position oder Disposition gehen. Die typographische Kultur, die zunächst in Form der Printpresse, von Buch und Zeitung, aber auch in der Kinematographie nach China gelangt ist, fragt von ihren medialen Strukturen her immer nach der materiellen Referenzebene, auf welche sich das Abbild mimetisch oder in bewußter Abgrenzung gegen mimetische Konventionen bezieht, um somit seine Referentenposition möglichst eindeutig bestimmen zu können. Dagegen waren die Vertreter einer chinesischen Repräsentationstradition zumeist darum bemüht, die Dispositionen des jeweiligen Wahrnehmungs- sowie des Produktionsmomentes in der metonymischen Beziehung zwischen Künstler und Gegenstand oder in der metaphorischen Beziehung zwischen dem Kunstwerk und seinem Rezipienten zu erfassen. Dabei unterließen sie es, zugleich eine materielle Positionsbestimmung vorzunehmen und Bedeutungen, die sich immer nur im Fluß, in der Dauer und im Moment finden lassen, materiell zu fixieren, d.h. í im Sinne der Renaissancemalerei und der abbildenden apparativen Medien í technisch-mathematisch zu verobjektivieren. So wird eine der Aufgaben der nachfolgenden Untersuchungen sein, das Fernsehen als nunmehr chinesisches Dispositiv kultureller Wahrnehmung und Reproduktion, das dabei seine technischen Anordnungen aber nicht verändert hat, anhand seines Publikums auf der Basis seiner beiden auf den ersten Blick gänzlich widersprüchlichen Vorbedingungen graduell zwischen Position und Disposition zu verorten. Dabei soll das Eigene zum Vorschein gebracht werden, durch welches es sich in der Interaktion mit seinem chinesischen Publikum manifestiert. 2
Stefan Kramer: Vom Eigenen und Fremden. Fernsehen und kulturelles Selbstverständnis in China. Bielefeld 2004.
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Urbanes Fernsehen in den 1980er Jahren Nicht einmal drei Jahrzehnte sind seit der Einführung des Fernsehens in die Privathaushalte der Ballungszentren Chinas wie auch seiner ländlichen Bereiche vergangen. Letztere stellen nach wie vor etwa 80 % der mittlerweile mehr als 1,3 Milliarden Menschen umfassenden Bevölkerung in der VR China. Insbesondere die rurale Öffentlichkeit hatte zuvor kaum einen Zugang zu nationalen oder gar internationalen Informationen. Noch konnte sie gar eine eigene Stimme erheben, die über die unmittelbaren Kontaktpersonen der Dörfer und Landkreise hinaus erhört worden wäre. Sie hat, nachdem sie als Konsumentenschaft von Ideologien, Waren und Informationen entdeckt worden ist, den ökonomischen wie zugleich politischen Ausschlag dafür gegeben, daß sich das Fernsehen fast mühelos gegenüber den zeitgleich ebenfalls expandierenden Printmedien, den Zeitungen, Zeitschriften und Büchern, aber auch gegenüber dem Kino durchzusetzen vermochte. Es hat sich inzwischen nahezu konkurrenzlos zum wichtigsten Medium der Information und Unterhaltung und damit der Konstruktion und Kommunikation von nationalem, aber auch von globalem und lokalem Wissen und von kultureller Bedeutung entwickelt. Fernsehen bestimmt das Welt- und Selbstbild seiner Nutzer mehr als es jedes andere Einzelmedium in China bisher vermocht hat. Dagegen werden seine digitalen Weiterentwicklungen und Nachfolger, Bildschirmmedien wie der Computer und das Internet, denen eine ähnliche Bedeutung für die Zukunft zuzutrauen ist, wie sie das Fern16
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sehen derzeit erfährt, angesichts der enormen innerchinesischen Strukturdifferenzen noch über Jahrzehnte hinweg kaum an eine Verbreitung denken können, die über die urbanen Ballungsräume und deren privilegierte Bildungsschichten hinauszugehen vermag. Die Fragen nach der technischen und soziokulturellen Entwicklung sowie nach den kulturellen Anordnungen der neuen Kulturtechnik, welche das Fernsehen auch noch in den beginnenden 1990er Jahren für China darstellte, war Gegenstand der bereits erwähnten Arbeit Vom Eigenen und Fremden. Darin wurde neben einer grundlegenden historischen und diskurshistorischen Bestandsaufnahme des Fernsehens in China vor allem die Frage nach den realen und konstruierten Konflikten, zwischen alt und neu, zwischen Tradition und Innovation, zwischen dem Eigenen und dem Fremden in den Vordergrund gerückt. Sie sind bei der Aneignung der industriellen und postindustriellen Kulturtechniken evident geworden. Dabei haben sie sich zu einer der maßgeblichen Grundlagen für die Re- und Neukonstruktion der Anordnungsbedingungen chinesischer Kultur und einer nationalen wie auch lokalen und individuellen Selbstwahrnehmung chinesischer Menschen entwickelt. Ausgegangen wurde in dieser Arbeit von dem Grundmodell eines »Circuit of Culture«, in dem der britische Soziologe Stuart Hall die polysemische Konstruktion einer modernen und spätmodernen kulturellen Bedeutungs- und Identitätskonstitution als ein Angebot für eine interdisziplinäre kulturanalytische Methode vorgestellt hat.
Stuart Halls »Circuit of Culture«
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Halls »Circuit of Culture« beschreibt anstelle eines in zeitlicher Abfolge angeordneten Kreislaufs in Wirklichkeit eher ein multizentrisches Netzwerk kultureller Bedeutungsproduktion. Es löst sich aus dem immer auch zeitlich und somit in gewissem Sinne linear und hierarchisch angeordneten Modell eines Kreislaufs in eine ständige Gleichzeitigkeit und Gegenseitigkeit der Kommunikation und ihrer Elemente auf. Gleichzeitigkeit bedeutet hier indes nicht das Einfrieren von Zeit im Augenblick, als welcher Gegenwart gemeinhin begriffen wird. Vielmehr versteht sie sich als Bewegung, als unaufhörlicher »flow« im Sinne von Henri Bergsons Konzeption der »durée«3 und verweist damit im Hinblick auf die spätmoderne Medienkultur bereits auf deren Brüche mit dem linear-zielgerichteten und zentralperspektivischen, nach Positionierungen strebenden Repräsentationsmodell der Hochmoderne in Richtung auf Multizentrismus und Polysemie. So bedeutet sie in gewissem Sinne eine Annäherung an ein vormodernes chinesisches Verständnis. Im »flow« sind alle Elemente dynamisch und veränderlich. Anstatt zu einem in der Zeit fixierbaren Bild und Abbild zu werden, bleiben sie ständiger wechselseitiger Aktualisierung unterworfen und unterliegen in ihrem Selbstverständnis sehr viel stärker als dies bei den exakten Repräsentationen von Renaissancemalerei und hochmoderner Medientechnik der Fall war der individuellen und momentanen Wahrnehmungsleistung ihrer Rezipienten. Damit stehen die bedeutungsbildenden Elemente des »Circuit of Culture« mit jedem ihrer Mitspieler in einem unaufhörlichen interaktiven Wechselverhältnis. Dieses Netzwerk besteht nach Hall in Form einer sich multipel brechenden und beliebig neu anzuordnenden Kausalitätskette zwischen 1. der Produktion kultureller Texte innerhalb der unterschiedlichen Medien, 2. deren medialer Repräsentation, 3. dem Konsum, also der Nutzung und Wahrnehmung der dem Konsumenten, resp. Zuhörer, Zuschauer oder Leser dargebotenen kulturellen Texte, welche 4. durch die Regulierung beeinflußt werden. Darunter verstehen sich alle diejenigen Parameter der kulturellen Wahrnehmung, welche (z.B. Erfahrungen, kulturelle Vorbildung, die neurophysiologische, kognitive Leistung, aber auch der soziale Status und die psychische Situation des Wahrnehmenden) neben der nach Henri Bergson »reinen Wahrnehmung«4 des Textes, also der Hypothese einer puren, ungestörten und unbeobachteten Signalübertragung, außerdem dessen Aneignung, Übersetzung und Reproduktion mitbestimmen. 3 4
Vgl. Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung. Zürich 1972. Vgl. Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1982.
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Schließlich führen 5. alle diese Parameter zur Konstitution von Selbstverhältnissen des Subjektes resp. der Gemeinschaften, welche ihrerseits zur Voraussetzung für jegliche hegemoniale oder widerständige kulturelle Reproduktion werden. Nach dem im Anschluß an die Thesen Henri Bergsons entwickelten deleuzeschen Prinzip eines ständigen, sich nie in ein fixes Sein auflösenden Werdens aller wahrgenommenen Materie führt die unaufhörliche Aktualisierung der Einzelelemente wie auch ihrer Kommunikationsstrukturen zu einer besonderen Dynamik. Deren Verlauf ist die einzige verbleibende materielle Bezugsebene der Bedeutungskonstruktion, welche es demnach hinsichtlich ihrer strukturbildenden Fähigkeiten privilegiert empirisch zu untersuchen gilt. Er ist nicht als eingefrorener Punkt in der Zeit und weder als Linie im kantschen Sinne einer europäischen Kultur der Moderne noch als Kreis zu verstehen, der im Verständnis asiatischer aber auch vormoderner europäischer Kulturen jeweils wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückstrebt. Vielmehr bildet er eine Spirale. Zweidimensional, nämlich von oben betrachtet, strebt jede Spirale jeweils unmittelbar auf ihren Ausgangspunkt zurück. Sie bildet einen einfachen Kreislauf. Von der Seite betrachtet, bildet sie eine sich zwar schlängelnde, dabei aber konsequent von ihrem Ausgangspunkt wegstrebende Linie. Erst in einer dreidimensionalen Betrachtungsweise, die sich ja einer »reinen«, also ohne konventionalisierte Rückübersetzungen auskommenden Wahrnehmung entzieht, läßt sich ihr Wesen der gleichzeitigen, nun vor allem metonymischen Bezugnahme auf das Ausgangsmaterial wie auch der unaufhörlichen Aktualisierung erkennen. Die Spirale kennzeichnet das Ereignis wie auch dessen Wahrnehmung und Reproduktion als singulär, stellt zugleich aber eine Beziehung zwischen allen Elementen im Sinne von Gilles Deleuzes Beschreibung der »Wiederholung« und des »Werdens« her, mit der der französische Philosoph sich unmittelbar auf die Thesen Bergsons bezieht: Außerdem aber hat ein Begriff ein Werden, das nun sein Verhältnis zu anderen Begriffen auf derselben Ebene betrifft. Die Begriffe passen sich hier einander an, überschneiden einander, stimmen ihre Konturen aufeinander ab, bilden ihre jeweiligen Probleme […] Denn mit einer endlichen Anzahl von Komponenten wird sich jeder Begriff in andere, anders zusammengesetzte Begriffe verzweigen, die jedoch andere Gebiete derselben Ebene konstituieren, anschließbaren Problemen entsprechen und an einer Mit-Schöpfung teilhaben.5
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Gilles Deleuze und Félix Guattari: Was ist Philosophie? Frankfurt a.M. 1996, S. 24. Vgl. auch Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung. München 1992.
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In diesem Verständnis einer multizentrischen, polysemischen und sich unaufhörlich aktualisierenden, in einem ständigen Werden, einer unaufhörlichen »durée« begriffenen Produktion von Bedeutung(en) auf allen Ebenen vom technischen zum ideologischen Dispositiv, vom Text zur Repräsentation, von der Vermarktung zur Nutzung und Wahrnehmung durch den Zuschauer sind auch die Kulturproduktion und das Fernsehen in China zu verstehen; und zwar nicht als Position und Materie, sondern vielmehr als eine bedeutungsbildende Disposition und Struktur. Diese sind somit gegenüber dem angenommenen Sein, wie es in den meisten Untersuchungen zu China und in der empirischen Sozial- und Medienforschung im Vordergrund steht, privilegiert zu betrachten. Die in den Modellen von Deleuze und Hall zum Tragen kommenden und für die Analyse fruchtbar gemachten Fragmentierungen, Neuanordnungen und Beschleunigungstendenzen, wie sie die spätmoderne Kultur im allgemeinen auszeichnen, zeigen sich auch beim Blick auf die tatsächlichen Bedingungen der Medien in China. Sie sollen im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung stehen. Der Band Vom Eigenen und Fremden hatte sich auf der Grundlage des netzwerkartigen Verständnisses von Kultur und Kommunikation, wie Hall es formuliert, zur Aufgabe gemacht, die Fragen nach der kulturellen Produktion, Repräsentation und den institutionellen wie ideologischen Anordnungen der Regulation im Hinblick auf die Konstruktion, Destruktion oder Dekonstruktion und unaufhörliche ›Aktualisierung‹ (Deleuze) von Identität(en) in und durch das Fernsehen in China zu beantworten. Dazu versteht sich die vorliegende Arbeit quasi als Ergänzung und Fortsetzung. Sie knüpft an die dortige Verortung des chinesischen Wahrnehmungssubjektes als ideologische Konstruktion und ökonomisches wie mediales Kalkül in der Medien- und Fernsehgesellschaft an. Sie geht aber darüber hinaus und folgt in dieser Hinsicht Stuart Halls Zurückweisung der Ausschließlichkeit wirkungstheoretischer Ansätze als Analysemethoden der Bedeutungsproduktion kultureller Texte.6 Statt dessen führt sie das Publikum, das dort in Form einer Konsum- und Textstrategie als Teil der Produktionsprozesse von Kulturtechniken und deren Anordnungsstrukturen sowie Marketingmodellen und nicht zuletzt der kulturellen Texte selbst zu Bedeutung gelangt, mithin imaginär geblieben ist, nun als aktive Größe der kulturellen Bedeutungsbildung ein. Diese gilt es im Hinblick auf ihre Dispositionen in der chinesischen und glo/kalen Medienkultur empirisch zu betrachten 6
Stuart Hall: ›Encoding/Decoding‹. In: Stuart Hall et. al. (Hg.): Culture, Media, Language. Working Papers in Cultural Studies, 1972-79. London 1980, S. 128-138.
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und in ihrem Konsumverhalten und ihren tatsächlichen Wahrnehmungsstrukturen mit den Anordnungen und Strategien der überwiegend hegemonial gesteuerten Kulturproduktion im allgemeinen wie des Fernsehens im besonderen zu vergleichen. Dabei, das darf bereits vorweggenommen werden, wird sich das nationale Projekt der postsozialistischen chinesischen Regierung unter ungebrochener Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei, zumindest was die Auswirkungen seiner medialen Kommunikation betrifft, als nur bedingt erfolgreich und in maßgeblichen Punkten gar als gescheitert herausstellen. Tatsächlich erweist sich das Publikum nämlich als weitgehend unabhängiger Kulturproduzent. Es bezieht sich in seiner kulturellen Reproduktion í metonymisch í zwar unmittelbar auf das Ausgangsmaterial, zu dem das Fernsehdispositiv und die Fernsehtexte, aber auch zahlreiche weitere Einflüsse gehören. Dabei folgt das Publikum allerdings weder einer hegemonialen Vorgabe, noch widerspricht es dieser durch die Errichtung von Widerstandsdiskursen oder ist in der Lage, einen Kompromiß mit ihr auszuhandeln, wie es das kulturelle Rezeptionsmodell von David Morley und Kevin Robins als Möglichkeiten der Wahrnehmung eigentlich vorsieht.7 Vielmehr folgt das Fernsehpublikum in seinem Wahrnehmungs- und Rezeptionsprozeß weitgehend einer unabhängigen, an multiple materielle und immaterielle Bedingungen gebundenen Struktur der Bedeutungsproduktion. Darunter machen die Dispositionen und die konkreten Bedeutungsangebote des Fernsehens nur einen geringen Teil aus. Dieser erhält nur im Zusammenhang mit allen anderen Elementen wie auch von deren Veränderungen, ihrer Bewegung in Raum und Zeit, seine bedeutungs- und identitätsbildende Relevanz. Somit ist auch einer linearen Kommunikationskette von Bedeutungen zu widersprechen, welche die empfangene Nachricht unmittelbar und ausschließlich auf den Sender und auf die von ihm gewählten Nachrichtenkanäle rückprojizieren und einen Umkehrschluß der Bedeutungsherstellung damit möglich machen würde. Genauso wenig lassen sich aus den Fernsehangeboten, dekontextualisiert betrachtet, wirksame Schlüsse über die tatsächliche Struktur der Bedeutungsbildung im Rezeptionsprozeß ziehen, was sich insbesondere an der teilweise gänzlich unterschiedlichen Wahrnehmungsleistung von übereinstimmenden Programmen durch unterschiedliche chinesische Publikumsgruppen bestätigt. Das in der vorangegangenen Untersuchung bereits theoretisch und produktionsanalytisch formulierte dynamische Netzwerk kultureller Be7
Vgl. David Morley und Kevin Robins: Spaces of Identity. Global Media, Electronic Landscapes and Cultural Boundaries. London 1995.
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deutungsproduktion wird sich also auch inhaltlich bestätigen und somit methodisch als gegenüber den wirkungsästhetischen Ansätzen der Literaturwissenschaften genauso überlegen herausstellen wie gegenüber den nach Repräsentationsexaktheit suchenden (oder diese imaginär konstruierenden) systemtheoretischen Ansätzen, wie sie aus den Naturwissenschaften über die Sozialwissenschaften in die Medienanalyse eingedrungen sind. In ihrer mathematischen »Konstruiertheit« und ihren Kategorisierungsangeboten eröffnen sie kaum Spielraum für die Betrachtung der Dynamik tatsächlicher Wirkungsprozesse. Die wirtschafts- und ordnungspolitischen Bestrebungen der Pekinger Zentralregierung sind, wenn man auf die Absichten der Nachrichtenproduktion und -übermittlung aber auch auf die Konstruktion fiktionaler Formate blickt, nichtsdestoweniger immer zugleich auch als Anweisungen an die Medienproduktion, als verlängerter Arm und Sprachrohr der zentralen Macht zu begreifen. Sie bestehen seit dem Wegfall des sozialistischen Wertesystems im Zuge der – durch Chinas Aufnahme in die WTO im Dezember 2001 in ihrem Regelwerk auch institutionalisierten – marktwirtschaftlichen Angleichung Chinas an transnationale Prozesse mehr denn je in der Erzeugung einer einheitlich konsumierenden und wahrnehmenden »idealen Rezipientenschaft«. Die flächendeckende Kommunikation von zentralisiertem Wissen und hegemonial konstruierten kulturellen Bedeutungseinheiten, wie sie das Fernsehen als erstes Medium in China hat durchsetzen können, dient dabei – machtpolitisch wie makroökonomisch motiviert – vor allem der Errichtung einer »Imagined Commuity«8 der chinesischen Nation. Nach Benedict Anderson versteht sich darunter die Erzeugung einer der Vorstellung nach existierenden Gemeinschaft – in diesem Falle Chinas als Nationalstaat – als hegemoniales Machtprinzip der Pekinger Zentrale. Sie, so die Bestrebung der Zentralregierung, soll zentral und hegemonial von Peking aus gesteuert werden. Mit Hilfe der flächendeckend verfügbaren »Massenmedien« soll sie zudem mit einem einheitlichen Wissen und dem Bewußtsein einer fixen kollektiven Identität ausgestattet werden. Dabei haben sich allerdings die aus den kultur- und diskursanalytischen Untersuchungen des vorangegangenen Bandes gewonnenen Grundannahmen für die vorliegende Untersuchung bestätigt. Denn dieselbe 8
Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. (Erw. Neuausgabe) Frankfurt a.M. 1996. Mit Andersons Begriff der »Imagined Communities« folgt diese Arbeit dem Titel und seiner Verwendung in der englischsprachigen Originalausgabe dieses Bandes: Imagined Communities, Reflections on the Origin and Spread of Nationalisms. New York 1983, 1991.
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Medientechnik, die tatsächlich eine große Wirkung bei der Versorgung der chinesischen Bevölkerung mit »nationalem Wissen« hat, erweist sich in gewissem Sinne zugleich auch als Bumerang für die hegemonialen nationalen Bestrebungen. Anstelle einer linear kommunizierten und kongruent mit der hegemonialen Bedeutungszuweisung dekodierten fixen Identität wurde durch die Prozesse der Anbindung Chinas an transnationale Märkte und globalisierte Prozesse der Bedeutungsbildung in Wirklichkeit ein polyzentrisches Modell vielfältig miteinander kommunizierender und interagierender fragmentierter Selbstverständnisse in der Form freigesetzt, wie Stuart Hall es beschreibt. Dieses erweist sich in seiner Heterogenität und Dynamik zwar durchaus als chinesisch, ist dabei aber immer weniger zentral steuerbar und auf homogene Strukturen und eine hegemoniale Sinnproduktion oder auch auf deren unmittelbare Widerstände reduzierbar, wie sie das nationalstaatliche Modell anstrebt. Anstatt die Medienteilnehmer als ein homogenes chinesisches Publikum zu definieren, wie es der Titel dieser Arbeit vermuten lassen könnte, ist also von einem überaus heterogenen chinesischen Medien- und Fernsehpublikum auszugehen. Ohnehin ist, wie es bereits John Fiske festgestellt hatte,9 die Bestimmung eines Fernsehpublikums als Differenzkonstruktion auch im Falle Chinas inzwischen nahezu obsolet geworden. Quasi alle Menschen sind ja inzwischen zu Fernsehzuschauern geworden, ohne dies allerdings ausschließlich zu sein, so daß sich über die Bezeichnung ›Fernsehpublikum‹ längst keine differenzierende Aussage mehr machen läßt. Das Fernsehpublikum, also die Menschen in China, sagt sich unter dem Eindruck des Fernsehens und multipler Einflüsse von einer ausschließlich nationalen Selbstverortung genauso los wie von einer monomedialen Aneignung von homogenen Wissensdiskursen. Jeder Einzelne verortet sich, ohne sein Chinesischsein aufgeben zu müssen, nun auch sichtbar und mit wirkungsvoller eigener Stimme zusehends in lokalen, dabei angesichts spätmoderner Kommunikationstechnologien nicht mehr zwangsläufig an territoriale Anordnungen von Lokalität gebundenen Kontexten. Diese stehen auf der Basis ihrer Kommunikationsstrukturen zugleich in einem dynamischen Wechselverhältnis mit globalen Entwicklungen, Wertesystemen, symbolischen Strukturen etc. und müssen dabei ihre auch nationalen Bezugsebenen durchaus nicht aufgeben. Das zeigt sich bei Sportwettkämpfen, aber auch bei einigen politischen Ereignissen wie dem ungebrochenen Konflikt mit Japan um die Bewältigung der Kriegsvergangenheit immer wieder. In dieser mannigfaltigen, sich stets 9
John Fiske: Television Culture. London 1990.
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aktualisierenden und dabei gleichzeitig auf unterschiedlichste nationale, lokale, transnationale wie zusehends – unter dem Stichwort einer asiatischen oder demjenigen einer konfuzianischen Kultur – auch regionale Bezugsebenen rekurrierenden Selbstwahrnehmung reagiert der chinesische Mediennutzer zusehends individueller und beweglicher auf die im Fernsehen repräsentierten und medial produzierten wie wahrgenommenen Ereignisse. Dieser Wandel von einem (in Wirklichkeit von Beginn an fälschlich) als »ideal« und passiv wahrgenommenen zu einem aktiven Publikum war absehbar und ist nicht zuletzt durch die Dynamik der neueren Medien wirksam geworden. Mit der wirtschaftlichen Öffnung Chinas in ihren beiden symbolischen Hauptschritten von 1978 und 1992 setzten zwangsläufig ein Prozeß der Dezentralisierung der Produktion und Verteilung von Waren und Wissen sowie ein kaum aufzuhaltender Fluß von Bedeutungen ein. Sie definieren sich nicht mehr vorwiegend national sondern vor allem lokal und transnational und versetzen den Konsumenten und Mediennutzer in die Notwendigkeit und bieten ihm die Chance einer zusehends individuell angeordneten Aneignung und Rekonstruktion von Bedeutungen. Anstelle des in den »westlichen« Medien nach wie vor gerne bemühten »blauen Ameisenmenschen« ist also in dieser Untersuchung von einer Pluralversion aktiver chinesischer Publika auszugehen, die sich nicht nur in der geographischen Hinsicht regionaler und lokaler Aneignungsräume, sondern auch bezüglich der jeweiligen sozialen wie kulturellen Bedingungen und Bildungs- wie Altersstrukturen sowie den unterschiedlichen infrastrukturellen Voraussetzungen multipel ausdifferenzieren. Diese Erkenntnis hat die Anordnungsbedingungen der vorliegenden Untersuchungen maßgeblich geprägt. Nichtsdestoweniger müssen auch sie mit Kategorien operieren, um durchführbar und nachvollziehbar zu sein. In diesem Sinne reagieren sie auf eine der wohl schwerwiegendsten Problematiken des chinesischen Modernisierungsprozesses. Es ist die sich immer deutlicher öffnende Lücke zwischen den sich rasch entwickelnden urbanen Ballungsräumen in den Tiefebenen im Osten und Südosten des Landes auf der einen und dem riesigen ruralen Hinterland, das von all diesen Entwicklungen weitgehend abgeschlossen geblieben ist, auf der anderen Seite. Im gleichen Maße unterscheidet auch diese Untersuchung zwischen einem privilegiert entwickelten und mit infrastrukturellen Merkmalen versehenen urbanen und einem weitgehend unterentwickelten ruralen China. Dabei kann auch diese Binarität nicht mehr als eine – allerdings darstellungstechnisch notwendige – operationale Größe sein. Diese vermag der tatsächlichen Vielfalt der kulturellen und sozialen Anordnungsräume Chinas bei weitem nicht gerecht zu werden. Überdies ist diese nicht wesen24
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hafter sondern allenfalls, abhängig vom jeweiligen Entwicklungsstand und den infrastrukturellen Bedingungen der betreffenden Regionen, gradueller Art. Die Modernisierungsbestrebungen der kommunistischen Regierung haben solche Metropolen wie Shanghai, Peking, Kanton oder Shenzhen in großen Schritten über die industrielle Moderne hinweg unmittelbar in ein postindustrielles oder auch spätmodernes Zeitalter katapultiert und über vielfältige Kommunikationsformen an die Weltgemeinschaft angebunden. Dem gegenüber verharren weite Regionen des überwiegend bäuerlichen Chinas, so etwa die Provinzen in den unzugänglichen westlichen und nordwestlichen Regionen oder diejenigen des südlichen Zentralchinas, nach wie vor auf dem Stand einer agrarischen Vormoderne, deren einziger Kontakt zur Außenwelt und zu den überlokalen Wissens- und Sinnangeboten über das Fernsehen besteht. Eine ähnliche Schere tut sich innerhalb der jeweiligen lokalen Räume Chinas selbst auf, die derzeit eine nie dagewesene Kluft zwischen einer immer schneller aufstrebenden Oberschicht und einer zusehends verarmenden und von den ›Segnungen‹ der Modernisierung abgeschnittenen Klasse von Arbeitern, Bauern und vor allem einer wachsenden Anzahl Arbeitsloser und Wanderarbeiter erleben. Die Fragmentierung der einst von Mao als einheitliche Volksmasse geplanten Bevölkerung hat die soziale Brisanz und – in unserem Zusammenhang – die Problematik einer Bestimmbarkeit der Bevölkerungsstrukturen und ihrer Wahrnehmungsmuster zusätzlich verschärft. Zudem hat sie die fixen geopolitischen Anordnungen der Kultur(en) Chinas weitgehend außer Kraft gesetzt. Auf der Grundlage einer – gedachten – Zweiteilung zwischen urbanem und ruralem China, welche die Auswahl der Orte der empirischen Untersuchungen dieser Arbeit prägt, sind also zusätzliche Ausdifferenzierungen vorzunehmen. Dadurch lassen sich die Bevölkerungsgruppen in ihrer zunehmenden sozialen und kulturellen Vermengung zumindest annähernd exemplarisch erfassen. Die in horizontaler wie vertikaler Ausrichtung erwirkte flächendeckende Verbreitung des Fernsehens hat aber, so viel läßt sich vorwegnehmen, immerhin entscheidend zu einer Vereinheitlichung des Wissens und zu einer Verringerung der Differenzen beim Zugang zu Informationen geführt. Letztere sind zwar in den Städten medial sehr viel stärker ausdifferenziert. Sie finden sich auf der Ebene einer Grundversorgung allesamt aber im Fernsehen wieder und sind somit auch auf dem Lande verfügbar. Damit hat das Fernsehen die Bevölkerung Chinas, unabhängig von der sozialen Stellung des Einzelnen und unabhängig auch von seiner lokalen Zugehörigkeit, auf einem geringsten gemeinsamen Nenner zusammengeführt. Auf dieser Ebene hat es zweifellos einen erheblichen Anteil an dem im China Mao Zedongs bzw. 25
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demjenigen der Printkultur, des Kinos und der oralen Information damals nur mäßigen Erfolg des ›Nation building‹ gehabt. Die Vielfalt des Medienangebotes, welche gleichzeitig mit dem Fernsehen und der Medienkultur das Land überschwemmt hat, hat es allerdings auf der Ebene der jeweiligen Wahrnehmungsdispositionen und der konkreten Mediennutzung und Aneignung sowie im Hinblick auf die kulturelle Reproduktion eines jeden Einzelnen wieder erheblich ausdifferenziert. Die Argumentation dieser Untersuchung hat, wenn sie das chinesische Fernsehpublikum unter den genannten Auswahlkriterien und den damit verbundenen Einschränkungen im Hinblick auf die Aussagekraft für das gesamte China im einzelnen betrachtet, zunächst allgemein von den transkulturellen medialen Bedingungen des Fernsehens auszugehen. Diese charakterisieren es mit seinen spezifischen Anordnungsstrukturen als Kulturtechnik und Instrument wie Gegenstand und Auslöser von kultureller Wahrnehmung wie vor allem eines aktiven kulturellen Handelns. Die Anordnungen der nach wie vor zwischen Stadt und Land sowie zwischen den Bildungsschichten sehr unterschiedlichen Möglichkeiten des Zugriffs auf Informationen bestimmen auch die Versuchsanordnungen dieser Arbeit. Von ihnen läßt sich auf die tatsächliche Fernsehnutzung und die mediale Wahrnehmung innerhalb des Netzwerks kultureller Bedeutungsproduktion abheben. Die hierzu vorgenommenen empirischen Analysen verstehen sich als Ergänzung und Bestätigung der Ergebnisse der Untersuchungen zur kulturellen Produktion durch das Fernsehen in dem Band Vom Eigenen und Fremden. Sie verorten sich bedeutungsbildend innerhalb dieses Netzwerks. Sie generieren aber auch ihrerseits ein interaktives Kommunikationsverhältnis mit den medialen und kulturellen Anordnungen, auf die das Fernsehpublikum reagiert, an denen es zugleich aber auch selbst einen produktiven Anteil hat. Die allgemeinen Überlegungen zum Fernsehen, seinem Publikum sowie der Kultur und gesellschaftlichen Räume, in denen diese agieren, werden auf die spezifischen Bedingungen innerhalb des chinesischen Modernisierungsprozesses mit Blick auf seine kulturellen Traditionen und die Aneignungsbedingungen der einstmals fremden Kulturtechnik bezogen. Die empirischen Betrachtungen zum chinesischen Fernsehpublikum, welche den Hauptteil dieser Arbeit ausmachen, greifen auf einige wenige publizierte chinesische Analysen zur Mediennutzung in unterschiedlichen Regionen der VR China zurück. Trotz gewisser Bedenken bezüglich ihrer Unabhängigkeit von politisch-ideologischen Vorgaben können diese zumindest als Vergleichswerte herangezogen werden. Die Aussagen, welche in dieser Arbeit bezüglich des Fernsehpublikums in China getroffen werden, beziehen sich aber vor allem auf die Ergebnisse 26
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der diesem Band zugrunde liegenden quantitativen (Fragebögen) und qualitativen (Interviews) Analysen sowie einer teilnehmenden Beobachtung innerhalb der untersuchten Familien und Gemeinschaften. Diese Fragebögen und Interviews wurden mit der unverzichtbaren Unterstützung der Professoren Wang Yu ⥟✰ und Dai Jianzhong ᠈ᓎЁ von der Pekinger Akademie für Sozialwissenschaften (࣫Ҁ⼒Ӯ⾥ᄺ䰶) und ihres Teams zwischen 2000 und 2004 in unterschiedlichen Städten und Regionen Chinas geführt bzw. ausgefüllt. Sie unterscheiden zwischen den Nutzungs- und den Wahrnehmungsanordnungen der Medien und des Fernsehens in China als wesentliche Voraussetzungen für die kulturelle Reproduktionsleistung der Medienteilnehmer. Beide Kategorien verstehen sich allerdings ebenfalls als operative Größen und sind in ihren Anteilen an der individuellen und kollektiven Bedeutungsbildung nicht wirklich voneinander abtrennbar. Vielmehr stehen sie in einer gegenseitigen Abhängigkeit voneinander und haben in dynamischen Wechselwirkungsprozessen ihren Anteil an der Bedeutungsproduktion. Sie konstituiert sich im Rahmen des kulturellen Netzwerks, das sich in China und innerhalb der globalen Medienkultur herausgebildet hat und sich in unaufhörlich aktualisierender Entwicklung und Verschiebung befindet. Auf der Grundlage der infrastrukturellen Bedingungen von Information sowie der Verteilung der Bevölkerung, welche in den statistischen Jahrbüchern der Akademie der Sozialwissenschaften weitestgehend dokumentiert sind, lassen sich bis zu einem gewissen Maße durchaus repräsentative Werte ermitteln. Es werden zunächst allgemeine Strukturen der Information und Kommunikation nachskizziert und in eine Beziehung zum Verhalten der Bevölkerung im Hinblick auf die Freizeitgestaltung und Nutzung von Unterhaltungs- und Medienangeboten gestellt. Auf diese Weise werden die Formationen der Produktion von Wissen und Bedeutung, innerhalb derer sich auch die Fernsehnutzung verortet, allgemein herausgearbeitet. Anschließend werden die Ergebnisse dieser Analysen, die zu gleichen Teilen aus den zugrunde liegenden quantitativen und qualitativen Untersuchungen gewonnen werden, in eine Beziehung gesetzt zu den Anordnungen der Nutzung und Wahrnehmung von Kultur zwischen Position und Disposition. Kultur definiert sich im Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation, von Fremdem und Eigenem und schließlich der vortechnischen und der technisch-apparativen industriellen und postindustriellen Gesellschaft, wie sie durch das Fernsehen repräsentiert wird. Sie wird in der Wahrnehmungsgegenwart der chinesischen Fernsehproduzenten und Medienrezipienten immer wieder rekonstruiert und aktualisiert.
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Die beiden abschließenden Kapitel schließlich widmen sich der apparativen Wahrnehmung dieses Mediums wie auch derjenigen seiner Programmangebote und ihrer Aneignung im Rahmen der jeweils eigenen kulturellen und sozialen (Re-)Produktion. Im Mittelpunkt steht auch hier die Frage nach dem Eigenen und dem Fremden oder vielmehr diejenige nach der Konstruktion des Eigenen und seines Anderen im Hinblick auf die individuelle und kollektive Selbstverortung des gegenwärtigen chinesischen Fernsehpublikums. Sie konstituiert sich auf der Basis unterschiedlicher Raum- und Zeitstrukturen im Spannungsfeld zwischen der nationalen Selbstbestimmung Chinas gemäß der hegemonialen Regierungsdiskurse, ihrer globalen Entgrenzungen, wie sie vorrangiges Ziel der transnationalen Medienindustrie und ihrer Marketingstrategien sind, und schließlich der lokalen Neuanordnung durch die jeweiligen Rezipientengemeinschaften. Eine Relokalisierung von Bedeutung wird sich, wie die Tendenzen vermuten lassen, aus den Mediendispositiven quasi als ungewolltes Nebenprodukt der Globalisierungstendenzen wie auch als Widerstand gegen die restriktive zentralstaatliche Hegemonie in China in Zukunft mehr und mehr herauskristallisieren. Die aus Stuart Halls Ansatz des »Encoding/Decoding« entwickelte und sich dabei auf die Studien des Soziologen Frank Parkin10 zu den sozialen Schichtungen in kommunistischen und kapitalistischen Gesellschaften berufende Annahme einer grundlegenden Dreiteilung der Medienrezeption in eine dominante, eine ausgehandelte und eine oppositionelle Rezeptionsweise11 bietet eine wichtige Hilfestellung bei der Methodik der Untersuchung. Sie läßt sich in ihren Ergebnissen in unserem Kontext allerdings nicht zur Gänze bestätigen. Statt dessen übernimmt sie im großen und ganzen die allgemein angenommene Binarität zwischen hegemonialem und oppositionellem Diskurs, die sie nur um die Position eines zwischen beiden austarierten Kompromisses erweitert. Dabei verkennt sie aber die tatsächliche Vielfalt der sich ins Unendliche ausdifferenzierenden und in der Kommunikation miteinander unaufhörlich aktualisierenden Diskurse. Diese ergeben kein fixierbares Sein. Vielmehr befinden sie sich in einem unaufhörlichen Werden, so daß sich immer neue Formen von Hegemonie und Widerstand herausbilden, ohne sich auf diese 10 11
Frank Parkin: Class Inequality and Political Order. Social Stratification in Capitalist and Communist Societies. London 1971. Diese Rezeptionskategorien werden etwa in der auf Stuart Halls »Circuit of Culture« basierenden Analyse zum Sony-Walkman evident. Vgl. Paul du Gay, Stuart Hall, Linda Janes, Hugh Mackay, Keith Negus (Hg.): Doing Cultural Studies. The Story of the Sony Walkman. London, Thousand Oaks, New Delhi 1997.
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fixieren zu lassen. Eine Dominanz und ein sich unbeweglich verortender Widerstand im Sinne der Diskursbestimmungen Michel Foucaults sind in dieser simplen Binäropposition in Wirklichkeit nicht mehr sinnvoll bestimmbar, auch wenn die jeweiligen Diskurse sich selbst in aller Regel nach wie vor in dieser í dem Denken durch die Ideologien und die Medien der Moderne vorgegebenen í Binarität begreifen. Tatsächlich ist im Falle Chinas von sehr viel stärker ausdifferenzierten Formen der kulturellen Aneignung und Reproduktion auszugehen. Eine Spirale, wie sie oben beschrieben wurde, läßt, in immer größere Beschleunigung versetzt, ihre Einzelelemente nicht mehr erkennen. Sie wird, wie wir alle das von Spielkreiseln kennen, in ihrer Struktur fast nicht mehr wahrnehmbar. Dabei ist sie aber nach wie vor an ihren Ausgangspunkt gebunden, der sich als materielle oder strukturelle Spur in ihr wiederfindet und auf die sie sich í metonymisch oder metaphorisch í bezieht. Die kulturelle Reproduktion der Medienteilnehmer versteht sich als deleuzesche »Wiederholung« und »Aktualisierung« ihrer multipel und polyzentrisch angeordneten Diskurse zwischen nationalen und internationalen, globalen und lokalen wie nicht zuletzt immer vor allem auch individuellen Selbstverständnissen. Als solche ist sie nur auf ihrer Selbstvergegenwärtigungs- und Rezeptionsebene an ihre strukturbildenden Kategorien gebunden, dabei in Raum und Zeit offen und nach allen Seiten durchlässig. Sie interagiert in sich aktualisierenden Formationen von Netzwerken dynamisch mit ihren Einzelelementen wie auch nach außen und unterliegt dabei ständigen Prozessen der Auflösung, Neustrukturierung und Reformulierung. So wird das dem Titel dieser Arbeit möglicherweise entnehmbare Anliegen einer einheitlichen Definition »des chinesischen Fernsehpublikums« am Ende uneingelöst, ja uneinlösbar bleiben. Denn die Konstante einer national definierbaren Gemeinschaft, wie wir seit Benedict Anderson wissen, ist entgegen der Bestrebungen der jeweiligen auf ihre eigene Identität und Legitimation beharrenden hegemonialen und widerständigen Diskurse niemals auf einer materiellen Basis begründbar. Sie kann daher immer nur eine ideologische und soziale Konstruktion und strukturbildende Imagination sein, die daher, abhängig von den Anordnungen der Diskurse, instabil und veränderbar ist. Zudem ist sie niemals in einem Moment einfrierbar, sondern bildet ihre Bedeutungen gerade in der durée, der Dauer und Bewegung, heraus. 12 Doch sollen diese Einsichten und die ausdifferenzierten, dabei immer nur unter Vorbehalt exemplarisch zu nennenden Untersuchungsergebnisse immerhin Erkenntnisse 12
Vgl. Henri Bergson: Zeit und Freiheit. Frankfurt a.M. 1989.
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über die Anordnungsbedingungen der Medienkultur in China und zudem über die allgemeine Verortung des Wahrnehmungssubjektes bei der Produktion kultureller Bedeutung im Prozeß medialer Kommunikation liefern. Als solche vermögen sie auch weit über die unmittelbare Fernsehbindung hinaus einiges über die Kultur und die Identitätsbildungsprozesse der Menschen in China selbst wie auch über die medialen Anordnungen des Fernsehens und seine kulturellen Kontextualisierungs- und Referenzebenen auszusagen. Dies zumindest, wenn wir uns daran erinnern, daß der Terminus des Fernsehpublikums ja längst nicht mehr als Differenzkonstruktion verstanden werden kann, es also in China inzwischen weder ein nennenswertes Nicht-Publikum gibt noch die Identität des fernsehenden Menschen im Moment seines Fernsehens von derjenigen außerhalb der Zeiten des Fernsehkonsums zu trennen ist. So soll dieser Band neben den konkreten Ergebnissen zu den jeweiligen Untersuchungsorten und Untersuchungsgegenständen, über die hinaus jede verallgemeinernde Aussage – insbesondere bei dem äußerst diversifizierten Kulturraum Chinas – immer riskant ist, zumindest auch das Verständnis von der Gesellschaft Chinas neu zu prägen und außerdem die Medialität des Fernsehens als transnationales Wahrnehmungsdispositiv konkreter zu bestimmen helfen.
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2. UND
NETZWERKE DER KULTUR MEDIEN DER REPRÄSENTATION
Die Nutzung und Wahrnehmung des Fernsehens durch chinesische Publika wie deren kulturelle Reproduktion und Bedeutungsbildung lassen sich, wie das vorhergehende Kapitel gezeigt hat, nicht sinnvoll untersuchen, wenn diese als bloße Konsumenten- und Empfängermasse begriffen werden. Das Publikum, dessen kulturelle Reproduktionsprozesse sich aus den individuellen und kollektiven Nutzungs- und Wahrnehmungsstrukturen des Fernsehens und seiner Kontexte aktualisieren, ist immer auch ein selbst bedeutungsbildender Teil der lokalen, nationalen und transnationalen Kultur- und Bedeutungsproduktion. Daraus folgert, daß es nur innerhalb der Anordnungsbedingungen der Medien, Kultur und Gesellschaft transparent werden kann, aus denen es sein Wissen und seine Bedeutungen bezieht, an deren Konstituierung es zugleich aber immer auch selbst beteiligt ist. Die Anordnungsbedingungen der medialen Produktion von Wissen und Bedeutung, bei der das Fernsehen einen privilegierten aber niemals autonomen Status einnimmt, lassen sich demnach nicht, wie es die meisten empirischen Studien annehmen, als eine lineare und monokausal argumentierende Kette verstehen. Bei einer solchen stände der Zuschauer am Ende der Bedeutungskette. Er wäre das Ziel aller entwicklungsorientierten Kommunikation und würde als passiver Konsument der medial vermittelten Wissens- und Sinnangebote verstanden. Dagegen wären seine Kultur und Identität im Umkehrschluß jeweils unmittelbar auf die Fernsehinhalte zurückführbar. In dieser Weise argumentieren die meisten der klassischen Ansätze der Wirkungsforschung, wenn sie die Frage danach, was die Medien mit dem Publikum anstellen, was sie beim einzelnen Zuschauer bewirken und wie sie in Gesellschaften hineinwirken, in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen stellen. In anderen Untersuchungsansätzen dagegen, die sich seit den 1970er Jahren als oppositionelle Lesart kultureller Texte haben etablieren können, steht der Zuschauer am Anfang derselben Kette. Insbesondere die Rezeptionsforschung der British Cultural Studies und deren weltweiten Weiterent-
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wicklungen, darunter Autoren wie David Morley, Ien Ang oder James Lull, gingen von einem »active audience« aus, wenn sie die Frage danach, was der Zuschauer seinerseits mit den Medien anfängt, in den Mittelpunkt ihrer Analysen rückten. Dabei klammerten sie die Macht der medialen Dispositive und Texte aber weitgehend aus. Beide Ansätze weisen durch den Ausschluß des jeweils anderen erhebliche Mängel auf. Wenn man indes ihre Grundannahmen sinnvoll miteinander verknüpft, verbinden sie sich zu einem Modell, welches ein sowohl als auch der gegenseitigen Bedingtheit im Sinne des »Encoding/Decoding« von Stuart Hall begründet. Dabei steht das Publikum als unabhängiger Bedeutungsproduzent im Mittelpunkt der Sinnkonstruktion. Allerdings ist das Individuum dabei jeweils nur im Rahmen seiner kulturell-sozialen Anordnungen zu betrachten. Zudem hinterlassen die von ihm wahrgenommenen und rezipierten Medien als Dispositive wie Programme und Texte immer auf die eine oder andere Weise materielle Spuren in seiner Sinnund Identitätskonstitution, werden zu Erinnerungsleistungen, die, bewußt oder unbewußt, aktiv in den kulturellen Reproduktionsprozeß eingebunden werden und Einfluß auf die Bildung von Struktur nehmen. Demnach ist die Verknüpfung der beiden Ansätze eines passiven und eines aktiven Publikums die methodische Grundlage der vorliegenden Untersuchung. Diese erlaubt somit eine oft verpönte, hier aber bewußt eingesetzte Verknüpfung von empirischen mit diskurshistorischen und kulturanalytischen Methoden, ohne sich als deren bloße Addition zu verstehen. Vielmehr begreift sie sich als Begründung einer sich aktualisierend in der Bewegung (der »durée«) und in der Wechselwirkung der passiven und aktiven Zugangsweisen des Publikums zu seiner Umwelt und den Medien verortenden Perspektive. Sie beinhaltet sowohl die Beobachtung der Wahrnehmungsgegenwart (empirisch) wie auch deren Einbettung in vorgängige und aktuelle Kontextualisierungen, kulturhistorische Vorbedingungen und gesellschaftliche Dispositionen (kultur-, diskursanalytisch) und bezieht diese aufeinander. Wenn in diesem Band Aussagen über das chinesische Fernsehpublikum gemacht werden, die sich zudem zu Teilen auf empirisch erhobene Daten berufen, dann bedeutet dies weder eine Fixierung dieses Parameters innerhalb der kulturellen und gesellschaftlichen Bedeutungsproduktion Chinas noch eine beweiskräftige Erhebung der Rolle der Medien wie im besonderen des Fernsehens innerhalb von deren Kreisläufen. Anknüpfend an die vorangegangenen Untersuchungen zum Anordnungsraum Fernsehen und seiner medialen Einwirkung auf das kulturelle Selbstverständnis in China wird es vielmehr darum gehen, grundlegende Strukturen, nach denen sich Bedeutungsspiralen der Medien konstituie32
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ren, herauszuarbeiten und im Hinblick auf den í jeweils nur bedingt exemplarischen í Einzelfall zu spezifizieren. Es wird zudem darum gehen, ausgehend vom empirisch erhobenen Einzelfall der Nutzung und Wahrnehmung von Fernsehen und anderer Medien in unterschiedlichen sozialen und geopolitischen Wahrnehmungsräumen Chinas, auf das Ganze der Bedeutungsspirale zurückzuschließen und das Individuum in ihr als sich unaufhörlich »aktualisierendes« Wesen zu entdecken. So sollen gerade jenseits der Einzeldaten, welche sich auf den singulären Moment und Ort ihrer Erhebung und auf die spezifische Wahrnehmungssituation ihrer Teilnehmer beziehen, grundsätzliche Aussagen nicht nur über das im Moment eingefrorene Sein, sondern vor allem über das sich unaufhörlich aktualisierende Werden der Wissensanordnungen und der medialen Bedeutungsproduktion in China möglich werden, aus denen Kultur als Ordnung und Struktur hervorgeht. Als methodische Einleitung und Voraussetzung für die anschließend zu konkretisierenden Publikumsdaten soll dieses Kapitel in Anknüpfung an die diesem Projekt bereits zugrunde gelegte Publikation Vom Eigenen und Fremden zusammenfassend den Raum abstecken, innerhalb dessen sich die Produktion und Wahrnehmung der Medien-Kultur in China ereignet und auf welchen sich die empirischen Untersuchungen beziehen. Dazu wird zunächst auf die wechselseitige Befruchtung von medialen und kulturellen bzw. sozialen Prozessen innerhalb des sich geopolitisch homogen präsentierenden, tatsächlich aber äußerst heterogen und dynamisch verortenden ordnungspolitischen Raums der VR China einzugehen sein. Die Beschränkung auf den Raum der VR China geschieht dabei im Bewußtsein, daß der chinesische Kulturraum sich nicht auf die VR China beschränken läßt, sondern geopolitisch entgrenzt ist und neben Hongkong und Taiwan auch die zahlreichen Overseas Communities mit einschließt. Allerdings steht im Mittelpunkt dieser Untersuchung nicht der globalisierte Mythos, welchen China für alle unter diesem Namen firmierenden Gemeinschaften darstellt. Vielmehr geht es hier um das spezifische Ordnungssystem der VR China, welches (genauso wie jede einzelne dieser Gemeinschaften) erst in dieser Konkretisierung und Ausgrenzung eine reale Struktur und damit Kultur hervorbringt, die sich im nächsten Schritt chinesisch nennt. Nur auf Grundlage dieser Einschränkung läßt sich eine konkrete Zuordnung der Wahrnehmungsparameter von Medienkultur und ihrer Kommunikationsprozesse vornehmen und begründen. Innerhalb des damit zu beschreibenden Netzwerkes von Kultur läßt sich durchaus eine í nicht im räumlich und zeitlich eingefrorenen Sein, aber doch in den Strukturen seines Werdens formulierbare í Verortung des Publikums vornehmen. 33
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Medialität der Kultur und Kulturalität der Medien Die dem Titel dieses Abschnitts zugrunde liegenden Termini ›Medium‹ und ›Kultur‹ markieren bereits die zentralen Aspekte der in dieser Arbeit vorzunehmenden Untersuchungen. Beide haben sich seit der ökonomischen Öffnung und der Einführung und Verbreitung der spätmodernen Medientechnologie auch in China inzwischen zu dem BindestrichKonstrukt einer »Medien-Kultur« verknüpft.1 Dabei bilden sie mit ihren Hauptvertretern, der Printkultur, dem Kino, dem Fernsehen, dem an Kabel gebundenen und mobilen Telefon sowie den jüngsten Bildschirmund Online-Medien, eine multimedial vernetzte Einheit. In diesem Zusammenhang sind im allgemeinen die transnationalen Prozesse einer vor allem ökonomisch motivierten, vielfältige lokale und globale Entwicklungen bedingenden technisch-sozialen Dynamik zu beschreiben, welche die postindustrielle Spätmoderne kennzeichnet. In China genauso wie in jeder anderen Gesellschaft hat Kultur sich seit jeher nur in ihrer Wechselwirkung mit den Medien ihrer Kommunikation konstituieren können. Dies beinhaltete die gegenseitige Bedingtheit gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher bzw. ideologischer Prozesse auf der einen, technologischer Entwicklungen und institutioneller sowie ökonomischer Dispositionen auf der anderen Seite. Letztere bringen jeweils die Idee und somit auch die Medien der Kommunikation hervor, während die Medien ihrerseits unabdingbar sind, um Märkte zu beleben, Ideologien zu verbreiten und den Gesellschaften ihre Identitäten als kollektives Bewußtsein von Zusammengehörigkeit, als »Imagined Community«2 zu verleihen. Diese kommt ihrerseits in ihrer Institutionalisierung und den durch die Institutionen stabilisierten hegemonialen gesellschaftlichen Ordnungsmodellen zum Ausdruck. Das sich industrialisierende und in Nationalstaaten reorganisierende Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, aus welchem die modernen und spätmodernen Medienapparaturen maßgeblich hervorgegangen waren, hatte sich nicht unerheblich durch die wechselseitigen linearen Prozesse von technischen Erfindungen, Marktentwicklungen und gesellschaftlichideologischem Wandel ausgezeichnet. Eine Ideologie der linearen Entwicklung und des Wachstums, der exakten Repräsentation und Positio1 2
Vgl. Douglas Kellner: Media Culture. Cultural Studies, Identity and Politics Between the Modern and the Postmodern. New York 1995 Vgl. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. a.a.O.
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nierung der Welt und aller sich in ihr befindlichen belebten Wesen und toten Gegenstände sowie der mit diesem Erkenntnis- und Darstellungsdrang einhergehende Erfindergeist und nicht zuletzt die Marktgesetze der säkularisierten industriellen Moderne hatten das Mittelalter auch ideengeschichtlich endgültig abgelöst. Die bis dahin überwiegend oral und skriptographisch-elitär angeordneten lokalen Volkskulturen haben sich dann seit dem 19. Jahrhundert gemeinsam unter dem Diktat des Marktes zu den massenkulturellen und massenmedialen Anordnungen der zentralistischen (fordistischen) Kulturindustrie in der Hochmoderne zusammengefunden. Diese wiederum strebte zugleich nach Ausdehnung und trachtete in zahlreichen kolonialistischen Eroberungszügen mit allseits bekanntem Erfolg die Weltmärkte, darunter auch denjenigen Chinas, zu unterwerfen. Dagegen verweisen die seit Mitte des 20. Jahrhunderts evident gewordenen neuerlichen Fragmentierungen der Kultur unter den Bedingungen einer sich zusehends dezentralisierenden (postfordistischen, sonyistischen) Spätmoderne auf einen weiteren medialen und kulturellen Umbruch. An diesen Prozessen, die gegenwärtig die Diskurse der Weltpolitik prägen und sich in zahlreichen Themen von Medienhegemonie über ökonomischen Neokolonialismus, den ›Kampf der Kulturen‹ bis hin zu neuen Nationalismen und Terrorismus niederschlagen, sind vor allem das Fernsehen und schließlich die digitalen Medien beteiligt. Sie haben die ehemaligen kulturellen Kartographien neu angeordnet und von ihren geopolitischen Bezugsebenen losgelöst, indem sie sie an neue, durch die multimedialen Dispositionen der Informationsgesellschaft bestimmte Räume der Kommunikation angebunden haben. Die unter dem Schlagwort ›Globalisierung‹ nur unzureichend beschriebenen weltweiten politisch-ökonomischen Entwicklungen haben dabei die infrastrukturellen Bedingungen bereit gestellt, um die vor allem an das Fernsehen geknüpfte Medienkultur zum beherrschenden kulturellen und informationstechnischen Konzept des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts zu machen. Unter Medienkultur versteht sich in Wirklichkeit aber nicht die oftmals angemahnte und von der Massenmedienforschung im Hinblick auf eine passive Empfängermasse von Informationen und Bedeutungen hin untersuchte Homogenisierung und Universalisierung eines einzigen hegemonialen Konzeptes von Kultur. Sie stellt vielmehr eine spezifische, von den Bedingungen der globalen Märkte und somit auch von deren Standardisierungen beherrschte Anordnungsstruktur dar. Unter deren Bedingungen können sich lokale Kulturen mehr noch als unter denjenigen des hochmodernen Fordismus beliebig segmentieren. Durch die Befreiungstendenzen gegenüber ihren geopolitischen Bezugsräumen vermögen sie sich in beispiellosem Maße eigenständig zu definieren und lokal wie über 35
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die nahezu kostenlos nutzbaren Netze der Kommunikation auch weltweit zu kommunizieren. Die kulturellen, politischen und ökonomischen Bedingungen der industrialisierten ›westlichen‹ Welt haben mit ihrem Streben nach Ausdehnung und unaufhörlicher Beschleunigung bei allen diesen Entwicklungen zweifellos die kulturellen Grundlagen geschaffen. Bis in das späte 19. Jahrhundert war die chinesische Kultur und Selbstwahrnehmung gänzlich frei geblieben von den ideologisch-technologischen und politisch-ökonomischen Anordnungsstrukturen, welche in Europa und Nordamerika die Technikeuphorie der Moderne ausgelöst und eine Kultur der zentralperspektivischen Linearität, der exakten, abbildhaften Repräsentation und schließlich des sich in der Abbildung produzierenden und kommunizierenden Ereignisses begründet hatten. In seinen traditionellen, nicht-technischen Kommunikationsstrukturen gefangen und von der Industrialisierungswelle abgeschnitten, die Europa, Nordamerika und nicht zuletzt auch das seit der Meiji-Restauration rasch modernisierte Japan erfaßte, war China bis zur kolonialistischen Einführung der Printmedien in der Mitte und des Kinos zum auslaufenden 19. Jahrhundert nicht unmittelbar mit den industriellen Entwicklungen, technischen Erfindungen und ökonomischen Prozessen in Kontakt gekommen. Mit diesen waren in Europa und Nordamerika die Kommunikationssysteme konstruiert worden, welche die Anordnungen von Wissen und Bedeutung bis in die Gegenwart prägen. Genauso wie alle diese Medienapparaturen traf auch das Fernsehen bei seiner erstmaligen Einführung in China in den 1950er Jahren auf eine Umwelt, die sich durch keinerlei eigene ideengeschichtliche, technische oder soziokulturelle Errungenschaften oder Kommunikationsstrukturen, an welche diese neue Technik hätte anknüpfen können, auszeichnete. Die Einführung des Fernsehens fiel zudem unmittelbar in die historische Phase der Dekolonisierung des durch innere wie äußere Gewaltherrschaft bis kurz zuvor noch quasi doppelt kolonisierten China. Der postkolonialen Regierung der Kommunistischen Partei unter Mao Zedong kam das lineare europäische Ordnungsmodell von Kultur (Industrialisierung und Marxismus) mitsamt seinen Kommunikationsstrukturen und Massenmedien allerdings gerade recht, um ihre Dekolonisierungsbestrebungen und die für das ›Nation building‹ unabdingbare kollektive Identität zum Erfolg zu bringen und damit den eigenen Machterhalt zu sichern. Sie symbolisierten den Bruch mit den vormodernen Traditionen wie zugleich die Aufnahme des Fehdehandschuhs im Kampf Chinas gegen jegliche koloniale Bevormundung und für die Rückgewinnung seines verloren gegangenen Status als ökonomische, kulturelle und militär-strategische Weltmacht. Dabei wurde zunächst billigend in Kauf genommen, 36
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daß mit der Aneignung der importierten marxistischen Ideologie genauso wie mit den Importen von Kommunikations- und Reise- sowie Waffentechniken auch die spezifischen Ordnungs- und Anordnungsstrukturen der ehemaligen Kolonialherren durch die Hintertüren wieder Eingang in die Gesellschaft Chinas fanden. Die Kultur mußte unter den politischen Umständen jener Zeit weit zurückstehen hinter den ökonomischen, ideologischen und militärstrategischen Gesichtspunkten der Entwicklung Chinas und seiner Nationenbildung. Letzteres zeigte sich deutlich in der staatspolitisch funktionalisierten und restriktiv kontrollierten Kulturproduktion und – durch die wirtschaftlich-infrastrukturelle Misere zusätzlich forciert – der verheerenden zentralistischen Informationspolitik. Der Erfolg der Dekolonisierung, welche schließlich Mao Zedong konsequent zu Ende führte, um auf ihm ein neues, nicht minder kolonialistisch agierendes Machtsystem zu errichten, beruhte vor allem auf der Formierung einer »Volksmasse« als mehr oder weniger einheitlicher und somit schlagkräftiger Empfängergruppe des von der Partei gesteuerten Willens. Seine Massenpolitik, die auf einer zumindest rudimentären Übernahme der importierten Massenmedien, insbesondere des Kinos und des Rundfunks sowie in den sich durch eine geringere Illiterarizität auszeichnenden urbanen Ballungsräume auch der Printmedien, beruhte, kam dabei dem Konsumentenkörper, auf dem die kapitalistische westliche Kulturindustrie beruhte, weitaus näher als es von der Regierung gewünscht und zugegeben wurde. Die hegemoniale nationale Politik bediente sich im Hinblick auf das Ziel der Homogenisierung der Bevölkerung mehr und mehr der apparativen Medien, um ihre Empfänger möglichst vollständig und zeitnah zu erreichen, und entdeckte dabei bereits in den 1950er Jahren auch die Macht des in der westlichen Welt aufstrebenden Fernsehens für sich. Es sollte nach den (im struktur- und devisenschwachen China damals unvorstellbar) Vorbildern der westlichen Verbreitungsmaßstäbe ausgebaut sowie angeordnet und, um das kulturell Eigene sowie die zentralistischen Machtansprüche durchzusetzen, zugleich in die vormoderne hierarchische Proklamatorentradition gerückt werden. Unter dieser ging es, anders als in marktwirtschaftlich-liberalen Strukturen, vor allem darum, sich selbst zu repräsentieren und ein funktionalisiertes und geleitetes Wissen zur Grundlage kollektiver Identität und Loyalität zu bestimmen. Die kulturellen Voraussetzungen dafür waren vor der Einführung der apparativen Massenmedien über zwei Jahrtausende hinweg im Rahmen eines streng zentralistisch angeordneten Verwaltungssystems mit entsprechenden Kommunikationsstrukturen geschaffen worden. Darin waren zentralstaatliche kaiserliche Anordnungen schriftlich per Boten an die Führungseliten der Provinzen und Regie37
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rungsbezirke und von dort auf demselben Wege weiter an die einzelnen Präfekturen übermittelt worden. Von dort aus gelangten die Informationen í oftmals erst Monate oder gar Jahre nach Ausgabe der Nachricht í zu den Dorfverwaltungen und nach einer weiteren medialen Übersetzung auf mündlichem Wege weiter an die überwiegend illiterate Bevölkerung. Der Verwaltungsapparat des kommunistischen China hielt auch nach 1949 und unter Verwendung der modernen Medienapparaturen und Kommunikationswege weitgehend an diesen Strukturen der schriftlichmündlichen Überlieferung fest. Dabei führte aber die Realität der neuen, apparativen Medien, so weit sie angesichts der verheerenden infrastrukturellen und wirtschaftlichen Situation überhaupt Fuß fassen konnten, zu einer unaufhörlichen Beschleunigung der Information. Nachdem die elektrische Telegraphie in China nur wenig Einfluß hatte gewinnen können und die Zeitungen daher nicht die Relevanz erreicht hatten, welche ihnen in Europa und Nordamerika durch die Zuarbeit dieses Ergänzungsmediums zugekommen war, wurde unter diesen Bedingungen schließlich bereits in den späten 1950er Jahren das Fernsehen zum neuen Leitmedium Chinas erkoren. Zwar war damals noch keinerlei ausbaufähige Infrastruktur für das Fernsehen vorhanden und ließen die ökonomische und politische Lage auch keine Hoffnung auf eine rasche Verbesserung der Situation durch Technikimporte oder die Entwicklung eigener Standards zu. Doch immerhin erkannte die Regierung bereits in jener Zeit, als ihr Fernsehen allenfalls auf einer technischen Experimentierstufe zur Verfügung stand, daß sich in ihm die Zukunft einer zentralistischen Kommunikationspolitik entfalten könnte. Es erwies sich durch seinen Echtzeitcharakter, welcher die Live-Übertragung von Ereignissen ermöglichen und sich als unmittelbarstes, zugleich für die breite illiterate Bevölkerung am leichtesten rezipierbares Medium verbreiten lassen würde, als massenwirksamste Alternative zu den vormodernen Informationsstrukturen. In Wirklichkeit ließen sich diese politischen Ziele mit dem Fernsehen allerdings erst in den 1980er Jahren allmählich in die Tat umsetzen. In den Metropolen Chinas entstand von diesem Zeitpunkt an eine Gleichzeitigkeit der Auflösung von Indifferenz in die Differenzen des Postkolonialismus und Postsozialismus. Gleichzeitig drängten neben dem Fernsehen allerdings auch zahlreiche weitere Implikate des Fremden nach China. Dadurch begann sich allmählich eine multimediale und polysemische Kultur herauszubilden, die ihre nationalen, bis dahin an deren Territorialität gebundenen Grenzen bald sprengte. Somit wurde das politische Ziel der Homogenisierung und Habitualisierung durch die transnationalen Medien der globalisierten Kulturindustrie unter Umgehung linearer Pro38
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zesse der Moderne fast im selben Zuge mit seiner Verwirklichung schon wieder in die Partikularismen indifferenter spätmoderner Entwicklungen expediert. Diese Diskurse haben, mit dem inzwischen zum unangefochtenen Leitmedium aufgestiegenen Fernsehen in ihrem Mittelpunkt, die Auseinandersetzung mit sich selbst und seinen realen und imaginären Anderen im 20. und frühen 21. Jahrhundert maßgeblich beherrscht. Damit haben die technischen Medien in gleicher Weise zum neokolonialen wie auch zum post- und antikolonialen Projekt beigetragen. Die jeweils dominanten Diskurse haben dabei in allen Fällen auch ihre Gegendiskurse wie ihre Gegendiskurse gegen diese Gegendiskurse mit produziert. Damit haben sie sich in immer größerer Geschwindigkeit einer Unabhängigkeit vom zugrunde gelegten Ausgangsmaterial angenähert, ohne diese allerdings, wie es die Aktualisierungsspirale vorgibt, jemals erreichen zu können. Sie haben die nationalen und pannationalen wie auch die postnationalen Identitäten der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart in das kulturelle Gedächtnis der Menschen und Völker Chinas eingeschrieben. Dabei haben sich die Differenzen zwischen den Strategien kolonialen und postkolonialen Medienschaffens, zwischen den europäischen ästhetisch-ideologischen Einschreibungen der Medienapparaturen und den Formen chinesischer Aneignung und Stukturbildung, und damit schließlich immer mehr auch zwischen den sich in ihren dominanten Selbstdarstellungen nach wie vor deutlich voneinander trennenden Kulturen selbst zusehends aufgelöst. An ihre Stelle tritt immer mehr die Dominanz der Bilder sowie ihrer Apparaturen und Dispositive, welche ihren Produzenten und Rezipienten allerdings zugleich zahlreiche Möglichkeiten der Aneignung und kulturellen Determinierung eröffnen; dies auch im Hinblick auf Debatten des Postkolonialismus, die unter Verwendung von Elementen und Strategien der jeweiligen Diskurse um Macht und Widerstand dennoch ein sich von diesen lösendes Eigenes hervorzubringen in der Lage sind. Kultur, die sich als Summe der gesellschaftlichen Diskurse und ihrer Repräsentationen versteht, hatte sich auch in dem im allgemeinen als hermetisch und starr beschriebenen China der Vormoderne immer nur in der Dynamik ihrer Wechselwirkung mit der Medialität ihrer Produktion und Kommunikation als ein sich in einem ständigen Werden befindlicher Prozeß begreifen lassen. Mit der Einführung der apparativen Medien hat sie sich in ihren Zeitstrukturen unendlich beschleunigt. In der Konstitution neuer virtueller, medialer Räume hat sie zudem ihr geokulturelles Selbstverständnis im Spannungsfeld zwischen Universalismus und Ich-Du-Binarität auf eine gänzlich neue, sich zusehends netzwerkartig anordnende Ebene befördert.
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Angesichts einer sich von der í durch China ja nie wirklich angeeigneten í Hochmoderne in die Spätmoderne fortsetzenden Entwicklung kulturell-gesellschaftlicher und kommunikationstechnischer Prozesse weicht auch dort die von den Kommunisten errichtete Illusion einer fixierbaren nationalen Identität zusehends der Gewißheit über die Nichtidentität der eigenen Kultur. Wandlungs- und damit auch Übersetzungsprozesse sind, so wie die Identitäten von Individuen und Gemeinschaften, in den urbanen Ballungsräumen immer stärker im ständigen »flow« begriffen und immer weniger in der Zeit fixierbar, während sich im chinesischen Hinterland, abgeschnitten von den Entwicklungen der Konsum- und Informationskultur, gleichzeitig eine überwiegend auf die lokale Selbstwahrnehmung und die Face-to-Face-Kommunikation ausgerichtete vormoderne Identitätsstruktur hat erhalten können. Die multimedialen Strukturen, welche in Zusammenhang mit dem Siegeszug vor allem der Bildschirmmedien die Städte erobert haben und Film, Fernsehen, Video und Computer untereinander und im WorldWideWeb auch mit anderen Nutzern und Anbietern zu einer Gruppe von Gemeinschaften verbinden, sind dort noch längst nicht angekommen. Im urbanen China indes bestimmen sie die Selbstwahrnehmung inzwischen maßgeblich. Diese definiert sich insbesondere durch die veränderten Anordnungen der weltweiten Kommunikation mit Hilfe von Hochgeschwindigkeitskabeln und weit verzweigten Datennetzwerken. Hartmut Rosa3 knüpft in dieser Hinsicht mit seinen í die Entwicklungsprozesse Chinas von der Vor- zur Spätmoderne sowie die Differenzen zwischen urbanem und ruralem Raum treffend beschreibenden í Analysen einer beschleunigten Moderne an die Untersuchungen Arjun Appadurais zur Moderne und an dessen Konzept eines ›Cultural flow‹ an.4 Damit rekurriert er zudem auf die Definition von Hyperkulturalität, mit welcher der Philosoph Byung-Chul Han nicht-lineare Phänomene von Kultur unter den Bedingungen gegenwärtiger Globalisierungsprozesse beschreibt. 5 Wie der Soziologe Rosa geht Han aus der methodisch anderen Perspektive seiner eigenen disziplinären Verortung dennoch übereinstimmend von einer Auflösung der fixen Raum- und Zeitstrukturen der Hochmoderne und der durch diese hervorgebrachten binären Differenzen zwischen dem hier und dem dort sowie zwischen dem jetzt und dem in der Vergangenheit angesiedelten dann aus. Aus dem grenzüberschreitenden Pilger und Reisenden der 3 4 5
Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Frankfurt a.M. 2005. Vgl. auch Kap. 6 dieser Arbeit. Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis, London 1996. Byung-Chul Han: Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung. Berlin 2005.
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Hochmoderne wird unter den Bedingungen einer entauratisierten Kultur das spätmoderne Subjekt, ein aktiver Medienteilnehmer und Kulturproduzent: ein hyperkultureller Tourist. Anders als noch James Clifford mit seinen ›Travelling Cultures‹6 den Touristen als Metapher für den modernen Menschen als interkulturellen Grenzüberschreiter und transkulturellen Grenzverwischer beschrieben hat, tritt dieser nun in eine Dynamik immerwährender Aneignungsprozesse ein. Sie beziehen sich immer weniger auf eine indexikalisch erfaßbare und somit an gesellschaftlich fixierte Raum- und Zeitstrukturen gebundene äußere Realität als vielmehr auf eine symbolische und multipel konnotierbare mediale Wahrnehmung. Sie findet ausschließlich im hier und jetzt des Wahrnehmenden statt, in dem sich auch die Realität der Wahrnehmungsobjekte auflöst. Dabei ist diese Gegenwart selbst gegenüber der Moderne unendlich beschleunigt und schließt die Erinnerungsbilder der Vergangenheit im Sinne von Gilles Deleuzes Thesen zur Wiederholung in unaufhörlich aktualisierter Wiederholung in den Moment der (als solche wahrgenommenen) Gegenwart ein. Diese Spirale erzeugt eine Kulmination aller Orte und Zeiten der Repräsentation genauso wie aller Medien der Produktion und Kommunikation von Bildern und Zeichen der Kultur auf die Wahrnehmung und kulturelle Reproduktion selbst. Es entsteht nach Bjung-Chul Han ein raumloses »Hyperpräsens«, oder, nach Manuel Castells, ein »Space of flows«, das sich durch die oben für China beschriebene und im nachfolgenden zu belegende Auflösung, die Implosion von geopolitischen Räumen auszeichnet. Zudem entsteht nach Hartmut Rosa eine »Timeless time«, bei der sich Zeit in der Zeit selbst unaufhörlich strukturiert und restrukturiert. Im Hyperpräsens finden alle Wissens- und Sinnkonstruktionen in den Diskursanordnungen der jeweiligen Wahrnehmungsgegenwart statt und lösen sich alle Wissensanordnungen, Formen und Inhalte in eine ständige Neumontage an deren Ort auf, von dem aus in Echtzeit jeder beliebige andere Ort kommunikativ angesteuert werden kann. Die dabei entstehende Struktur von Kultur zeichnet sich, auf die Medienrepräsentationen bezogen, auch in Form des individuell gekennzeichneten aktiven Handelns, des taktilen Eingreifens in die Wort-, Zeichen- oder Bildkonstruktion einer von ihren geopolitischen Fixierungen und materiellen Anbindungen losgelösten Kultur und somit einer individuellen, im Moment stattfindenden Weltkonstruktion aus. Diese findet, so der Ausgangspunkt der nachfolgenden Untersuchungen, vor allem in der Interaktion der chinesi6
James Clifford: Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century. Cambridge, Mass. 1997.
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schen Menschen mit ihrem kulturell-sozialen Leitmedium, dem Fernsehen, sowie dessen multimedialen Referenzmedien statt.
Netzwerke kultureller Produktion Betrachtet man das Fernsehen jenseits seiner í in aller Regel national oder gar lokal orientierten í Programme als mediales Dispositiv, dann ist es auch in seiner chinesischen Variante trotz deren ungebrochen nationaler Selbstbeschreibung in Wirklichkeit vor allem in den oben erläuterten transnationalen Zusammenhängen zu verstehen. Der Transnationalismus des postindustriellen Informationszeitalters kennzeichnet sich im Hinblick auf das Fernsehen vor allem in einer zunehmenden Standardisierung der technischen Aufnahme- und Sendeformate und in einer zunehmenden Monopolisierung des Programmangebotes auf wenige, weltweit agierende Medienkonzerne. Auch die chinesische Mediengesellschaft ist mit allen ihren Teilnehmern längst zu einem Konsumenten und aktiven Mitspieler, zu einem Im- wie auch Exporteur der globalen Medienwirtschaft geworden. Entgegen den in der westlichen Öffentlichkeit noch immer nicht überwundenen Bildern von einem hermetischen, gar totalitären System stehen die Medienkonzerne Chinas mit ihren Mitstreitern in aller Welt längst in einer lebendigen Austauschbeziehung und Konkurrenz um chinesische und weltweite Marktanteile. Nach einigen í gescheiterten í Versuchen der Etablierung eigener technischer Standards der Fernsehübertragung und Fernsehwiedergabe in den vom ›Kalten Krieg‹ und der noch immer vorherrschenden Konfrontation mit den USA wie auch mit der Sowjetunion geprägten 970er Jahren setzt China seit den 980er Jahren ausschließlich auf international gebräuchliche Formate wie das europäische PAL-System. Es hat auch alle Weiterentwicklungen bis hin zu HDTV und digitalen Sendeformaten eingeführt, durch die es technisch kompatibel und damit weltweit marktfähig geworden ist. Dabei, so etwa bei der Einführung von HDTV und Komprimierungstechniken für die Übertragung von Fernsehprogrammen auf Mobiltelephone, hat China aufgrund seiner autoritären zentralen Medienpolitik in einigen Bereichen gar schnellere Erfolge zu verzeichnen als viele seiner westlichen Mitstreiter. Seit der weitreichenden Liberalisierung seiner Märkte nach 992 betreibt China einen umfangreichen Import von Medientechnik. Man vermochte zahlreiche Joint-Venture-Unternehmen der Hardware-Industrie auf den heimischen Märkten zu etablieren und gleichzeitig eigene aufzubauen. Deren Akteure decken nicht mehr nur den heimischen Markt ab. 42
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Mobiltelelephon mit Fernsehtechnologie in Shanghai Vielmehr haben sich inzwischen vollständig oder teilweise privatisierte und unter marktwirtschaftlichen Bedingungen agierende Konzerne wie Haier, Peony, Huawei, Lenovo oder TCL selbst als ›Global Player‹ auf den Weltmärkten etabliert. Dabei sind sie durch Exporte wie vor allem durch die Übernahme europäischer und nordamerikanischer Unternehmen zu wichtigen Entscheidungsträgern der ökonomischen und technischen Weiterentwicklungen weit über ihr eigenes Arbeitsgebiet hinaus geworden. Durch die flächendeckende Versorgung internationaler Märkte mit preiswerten und qualitativ immer hochwertigeren Produkten betreiben sie in dem Stile, wie es zunächst Japan und Südkorea vorgemacht hatten, eine aggressive Wirtschaftspolitik. Diese ist nicht mehr regional begrenzt. Sie hat ihre Entscheidungskriterien und -gremien längst deterritorialisiert, globalisiert und jenseits ihrer nationalen Herkunft auf diejenigen Orte verteilt, an denen die globalen medien- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen getroffen werden und lokale Märkte zu bedienen sind. Blickt man indes auf die Programme der einzelnen Sendeanstalten, so hat das Fernsehen als transnationales Medium ein í nach wie vor durch die US-amerikanische Produktion von Fernsehserien und Nachrichten geprägtes í Standardformat etabliert, ohne ästhetisch oder strukturell darüber hinaus nennenswerte eigene Akzente setzen zu können. Es ist seit den Liberalisierungen der 1990er Jahre aber immerhin in eine scharfe Konkurrenz zu den ehemals vorwiegend national ausgerichteten, 43
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sich an vormodernen Formen der Kommunikation orientierenden Formaten getreten und hat diese dabei selbst erheblich verändert. Neben den Produktionen der inzwischen eigenwirtschaftlich handelnden Fernsehsender und Programmproduzenten Chinas hat der Import ausländischer Formate seit den 1990er Jahren erheblich zugenommen. Diese haben ästhetisch-narrative und qualitative Standards gesetzt, die zum Maßstab auch für die chinesischen Anbieter geworden sind. 7 Insbesondere USamerikanische Kriminal- wie Familienserien haben den nationalen chinesischen Markt erobert. Doch auch koreanische und taiwanesische Programme sowie solche aus dem 1997 aus kolonialer britischer Hand als »Special Administration Region« (SAR) eingegliederten Hongkong wie nicht zuletzt internationale Lizenzeinkäufe und Kooperationen u.a. auch mit den deutschen Sendern RTL und ZDF, aus der etwa eine chinesische Variante der Unterhaltungsshow »Wetten dass…« hervorgegangen ist, haben zu einem immer breiteren und hochwertigeren Programmangebot geführt. Darauf haben die chinesischen Produzenten ihrerseits in zahlreichen inzwischen jenseits des vormaligen sozialistischen Einheitsangebotes miteinander konkurrierenden nationalen (CCTV und die Provinzsender) und lokalen (teilprivatisierte Anstalten wie Shanghai TV, Oriental TV, Shenzhen TV, Guangdong TV oder Beijing TV) Sendern reagiert. Es ist eine zusehends heterogene Fernsehlandschaft entstanden, welche die ehemalige Illusion eines hegemonial monosemische Bedeutungen produzierenden und sich nach innen wie außen einheitlich kommunizierenden Zentralstaates unumkehrbar aus dem Felde geräumt hat. Fernsehen bedeutet in China unter Globalisierungsbedingungen inzwischen eine sich gegenseitig befruchtende Mischung aus nationalen und transnationalen Techniken, Ökonomien, Formen und Formaten. 8 Diese differenzieren sich immer auch in die lokalen Räume ihrer einzelnen Sender und ihrer Aneignung durch ein chinesisches, sich zugleich aber in globale und auch lokale Kommunikations- und Wahrnehmungsebenen partikularisierendes Publikum aus. Die dabei aufeinander einwirkenden multiplen Bezugsebenen haben nicht nur auf der medial-dispositiven Ebene sondern auch in den Programmformaten eine dynamische Spirale der Wechselwirkung von Wissensangeboten und Wahrnehmungsweisen etabliert. Blickt man unter diesen Aspekten auf die Medienpolitik und auf die Programmangebote wie die publizierte öffentliche
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Vgl. Stefan Kramer: Vom Eigenen und Fremden. Kap. 4. Vgl. Jean K. Chalaby: ›Towards an Understanding of Media Transnationalism‹. In dies. (Hg.): Transnational Television Worldwide. Towards a New Media Order. London, New York 2005, S. 1-13.
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Wahrnehmung des Fernsehens in China, so läßt sich, wie dies bei den meisten Fernsehsendern in aller Welt der Fall ist, seine kulturelle Verortung nach wie vor überwiegend innerhalb nationaler Kontexte festmachen. Dies entspricht durchaus der Idee des Fernsehens, so wie es sich als vornehmlich öffentlich-rechtliche Institution der jeweiligen Regierungen weltweit zunächst als nationales Sprachrohr und innerhalb fixer territorial-politischer, sprachlicher und kultureller Grenzen hatte etablieren können.9 In Wirklichkeit ist aber gerade in Gesellschaften, die wie China keine lineare medientechnologische Entwicklungsgeschichte aufzuweisen haben, die Evolution der medialen Wahrnehmung in Richtung auf transnationale Standardisierung wie zugleich auf eine lokal angeordnete und somit an vormoderne Kommunikations- und Wissensvermittlungsformen orientierte Partikularisierung evident.10 In den Gesellschaften Europas und Nordamerikas hatten die industriellen und medientechnologischen aber auch die soziopolitischen und ökonomischen Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert zwangsläufig auf die Bildschirmmedien mit ihren spezifischen Dispositionen einer reprivatisierten Öffentlichkeit und ihrem allumfassenden, immer stärker multimedial ausgerichteten Informations- und Unterhaltungscharakter hingewiesen.11 Dagegen fanden sich im vormodernen China in Ermangelung säkularer kapitalistischer und entwicklungsorientierter Strukturen keinerlei Entsprechungen für diese Prozesse. Es gab dort keinerlei Tendenzen einer linear und konsequent aus der eigenen kulturellen Tradition hervorgegangenen medientechnologischen Entwicklung, aus der heraus das Fernsehen sich hätte kulturell begründen und in eine eigene Entwicklungslinearität einfügen können. 12 Nachdem alle seine unmittelbaren Vorgängermedien, der Telegraph und das Telephon genauso wie der Rundfunk und das Kino, von den europäischen und japanischen Kolonialherren in China eingeführt worden und zunächst vor allem im Sinne von deren Politik zum Einsatz gekommen waren, stand die Einführung
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Vgl. David Morley: Home Territories. Media, Mobility and Identity. London 2000. Monroe E. Price: Media and Sovereignty. The Global Information Revolution and Its Challenge to State Power. Cambridge, Mass. 2002. Eine Begründung für die Vierteilung der Wahrnehmungsräume von Fernsehen in die Kategorien Global, Regional, National und Lokal ist nachzulesen bei Joseph Straubhaar: ›Distinguishing the Global, Regional and National Levels of World Television‹. In Annabelle Sreberny-Mohammadi et. al. (Hg.): Media in Global Context. A Reader. London 1997, S. 286. Vgl. Ulrike Hick: Geschichte der optischen Medien. München 1999. Albert Abramson: Die Geschichte des Fernsehens. München 2002. Knut Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens. Stuttgart, Weimar 1998. Vgl. Stefan Kramer: Vom Eigenen und Fremden. Kap. 1.
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des Fernsehens in den 1950er Jahren von Beginn an unter dem Zeichen zum einen der Auseinandersetzung mit dem kolonialen Fremden und seiner Kultur und zum anderen der Dekolonisierung und Definition des Eigenen in Abgrenzung zu jenen. Dekolonisierung bedeutete im kommunistischen China dann auch über die drei Jahrzehnte von Maos hochideologisierter Herrschaft hinaus noch in den 1980er Jahren vor allem die eigentlich längst abgeschlossen geglaubte Frage nach der Wiederherstellung der staatlichen und kulturellen Unabhängigkeit. Letztere formierte sich unter einer mehr oder weniger intensiven Verwendung des für den nationalen Gedanken unabdingbaren europäischen Modells einer Kultur und Volkswirtschaft der Differenzen. Die sich daraus ergebenden vor allem semantisch, allerdings kaum inhaltlich-programmatisch interpretierbaren Figuren des »Patriotismus« ⠅ЏН und des »Sozialismus chinesischer Prägung« Ё⡍ 㡆ⱘ⼒ӮЏН, über welche China seine Selbständigkeit errichten wollte, zu etablieren und zu kommunizieren, war und ist seitdem die vordringliche Aufgabe der staatlichen Medien- und Informationspolitik. Dies erforderte indes die í partielle í Übernahme auch der Produktionsund Kommunikationstechniken der spätindustriellen Moderne und die Errichtung einer nationalen, sich an internationalen Maßstäben messenden Wissens- und Informationsgesellschaft. In dieser Hinsicht erforderte die nationale Selbstbestimmung Chinas eine Neudefinierung des Eigenen im Spannungsfeld zwischen dem nostalgisch reproduzierten Bild des Eigenen und der technisch-ökonomischen Moderne. Die nationale Selbstverortung Chinas hat sich dabei innerhalb der global florierenden und miteinander konkurrierenden Systeme von Ideologie, (Medien-)Technik und -wirtschaft sowie Kultur entwickelt. Dadurch war jene simple Binarität zwischen dem Eigenen und dem Fremden, wie sie die Gründung der europäischen Nationalstaaten Jahrhunderte zuvor bedingt hatte, von der sich selbst post- und antikolonial begreifenden Kommunistischen Partei Chinas auch in den 1980er und 1990er Jahren zwar noch immer gewollt. Eine ausschließlich nationalstaatliche Verortung des Fernsehens hatte aber unter den sich rasant verschiebenden globalen Anordnungen von Wirtschaft, Kultur und Kommunikation in Wirklichkeit keine Chance mehr, sich über die politischen und ökonomischen Abgrenzungsstrategien der Zentralregierung und deren Kommunikationsmethoden hinaus in einer Art selbständig und unabhängig zu definieren, wie es die europäischen Nationalstaaten, die sich inzwischen ihrerseits in spätmodernen Auflösungsprozessen befinden, einst vorgemacht hatten.
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Fernsehturm in Peking Unter diesen Diskursanordnungen des sich neu formierenden und formulierenden Staates geriet das chinesische Fernsehen während seines Aufstiegs in den 1980er Jahren in eine Phase, in der die zentralstaatlichen Bemühungen um die Errichtung eines nationalen Ordnungs- und Wertesystems bereits von spätmodernen Fragmentierungstendenzen und einer mit diesen einhergehenden Informations- und Bedeutungsdifferenzierung konterkariert wurden. Das in der industriellen Moderne Europas entwickelte Modell des Nationalstaats schwebte der Pekinger Zentralregierung in Verbindung mit einem sich auf den Konfuzianismus berufenden autoritären und zentralistischen Herrschafts- und Wissensvermittlungsmodell als Vorbild für die Zukunft Chinas vor. Es sah sich einer über das Land hereinbrechenden Medienvielfalt und einer mit der notwendigen ökonomischen Öffnung Chinas einhergehenden kulturellen Vielfalt sowie einer Beschleunigung aller gesellschaftlichen Prozesse gegenüber, deren Kontrolle sich mehr und mehr jeglicher zentralistischen Führung entzieht. Dies setzte eine dynamische Wechselwirkung der Selbstbetrachtung zwischen Nationalstaat und Panasiatismus auf der einen, globalen und lokalen Tendenzen auf der anderen Seite in Gang. Zugleich bildeten die Etablierung des Fernsehens und die erst damit erreichte Wissens- und Informationsgesellschaft die entscheidenden Voraussetzungen für die Herstellung einer privatisierten, also äußerst fragmentierten Öffentlichkeit und damit einen wichtigen Schritt in Richtung einer postsozialistischen 47
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Bürgergesellschaft, die sich vermehrt wieder lokal definiert und kommuniziert. Deren Entstehen macht eine Untersuchung des Publikums und dessen Wahrnehmungsverhaltens überhaupt erst möglich und interessant. Ein Blick auf die Raumachse der seit den 1980er Jahren aktiven Prozesse in China zeigt, wie sehr sich die Nation selbst in postkolonialer Tradition als widerständiges Modell gegen die befürchtete universelle Verwischung kultureller Eigenheiten durch das Schreckgespenst der Globalisierung versteht. Darunter wird in den hegemonialen nationalen Diskursen Chinas nach wie vor eine weltweite Hegemonie der USA und somit eine nationale Binarität, also eine Notwendigkeit des gemeinsamen Widerstandes begriffen. Durch die Institutionalisierung und landesweite Kommunikation des nationalen Eigenen in Abgrenzung zu seinem großen »Anderen«, dessen Bild zugleich von technikeuphorischer Bewunderung wie von kultureller Abneigung und den psychischen Nachwirkungen kolonialer Unterdrückung geprägt ist, soll zugleich die kollektive Identität einer nationalen Schicksalsgemeinschaft gestiftet werden.13 Folgt man dabei den Diskursen der Pekinger Zentralregierung, dann ist das Fernsehen das wichtigste Medium, diese Identität durch die Herstellung (bzw. Aufrechterhaltung und postsozialistische Neuanordnung) einer größtmöglichen inneren Homogenität, Habitualität und binären Abgrenzung nach außen zu stabilisieren. Dem gegenüber haben sich als Modell eines Widerstands gegen die nationalstaatliche Hegemonie zahlreiche lokal zu nennende Bedeutungseinheiten herausgebildet. Diese diversifizieren sich endlos und rekurrieren dabei in gleichem Maße sowohl auf die nationale (so etwa national und international agierende Unternehmen, die sich als Subkulturen etabliert haben) wie auch auf räumlich lokale Bezugsebenen (so etwa Lokalregierungen mit eigenen, miteinander konkurrierenden Zielsetzungen) und nicht zuletzt auf deterritorialisierte Größen. Dazu zählen transnationale Konzerne, die sich etwa als Franchiser lokal ausagieren, genauso wie die Medien der Internetkommunikation, denen kaum noch ein Ort im herkömmlichen Sinne zugewiesen werden kann. Sie alle existieren in einem Spannungsfeld zwischen der Nation, auf deren institutionelle Anordnungen und Kommunikationsinfrastrukturen sie zurückgreifen, und den transnationalen Neuanordnungen von Kommunikation und Kultur, innerhalb derer sie ihre Widerstandsmodelle gegen die zentrale nationale Hegemonie etablieren, sie 13
Vgl. die auf internationaler, also zwischenstaatlicher Differenzierung beruhende nationale Medienbegründung von Pan Zhichang ┬ⶹᐌ und Lin Wei ᵫ ⦂: Dazhong chuanmei yu dazhong wenhua ӫӴၦϢӫ᭛࣪ (Massenmedien und Massenkultur). Shanghai 2002. Vgl. auch Stefan Kramer: Vom Eigenen und Fremden. S. 305ff.
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gefährden, dabei durch ihre Schaffung von innernationalen Ausgleichsgrößen zugleich aber immer auch stützen. Alles in allem verweisen das nationale Fernsehen Chinas und seine immer wichtiger werdenden lokalen Programme auf zahlreiche geopolitische Bezugsebenen, die in ihrer Deterritorialisierung immer neue Räume generieren. Schaut man darüber hinaus auch auf die bei der Betrachtung von Identitäts- und Differenzkonstruktionen nur allzu oft vernachlässigte Zeitachse dieses Modells, so vermischen sich die räumlichen und geopolitischen Wahrnehmungsräume zwischen dem Eigenen und dem Fremden der apparativen Medien mit denjenigen einer real resp. medial wahrgenommenen Gegenwart und zahlreichen Vergangenheitsebenen. Diese stellen ja inzwischen selbst eine Differenz zur Erfahrungsgegenwart des chinesischen Publikums dar. Sie haben sich in multiplen Übersetzungsund Aneignungsschritten als zwar angenommenes Eigenes, dabei in Wirklichkeit aber als ein für die Diskurse des Eigenen funktionalisiertes und in vielerlei Hinsicht selbst exotisiertes Fremdes eingeschrieben.
Fernsehturm »Oriental Pearl« in Shanghai
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Das haben bereits die Untersuchungen zu historischen Fernsehformaten in dem Band Vom Eigenen und Fremden gezeigt. In der Kommunikation der Raum- mit den Zeitachsen sowie der unterschiedlichen medialen Wahrnehmungsräume mit ihren jeweils eigenen, dabei aber aufeinander verweisenden semantischen und syntaktischen Ebenen ergibt sich ein um so mehr polysemisches Modell der Ebenen von Wissen und Bedeutung im gegenwärtigen China. Der chinesische Fernsehkonsument erfüllt für den wissenschaftlichen Beobachter, der den Blick auf China aus europäischer Perspektive bislang vor allem auf dessen Institutionen fokussiert hatte, um von diesen ausgehend allgemeingültige Aussagen über das gesamte ›Reich der Mitte‹ treffen zu können, alles in allem die Funktion, welche der österreichische Schriftsteller Peter Handke dem Protagonisten seiner Erzählung Die Angst des Tormanns beim Elfmeter14 hat zukommen lassen. Der germanistische Literaturwissenschaftler Josef Fürnkäs beschreibt den Schluß dieser Erzählung: Am Ende der Erzählung beobachtet der arbeitslose Monteur Josef Bloch, der früher ein bekannter Tormann gewesen war und nun Mörder auf der Flucht ist, bei einem Fußballspiel auf einem Provinz-Sportplatz »nicht den, der gerade sprach, sondern jeweils den, der zuhörte«. Mit einem Zuschauer kommt er alsdann selber ins Gespräch: »Es ist sehr schwierig, von den Stürmern und dem Ball wegzuschauen, um dem Tormann zuzuschauen«, sagte Bloch. »Man muß sich vom Ball losreißen, es ist etwas ganz und gar Unnatürliches.« Man sehe statt des Balls den Tormann, wie er, die Hände auf den Schenkeln, vorlaufe, zurücklaufe, sich nach links und rechts vorbeuge und die Verteidiger anschreie. »Üblicherweise bemerkt man ihn ja erst, wenn der Ball schon aufs Tor geschossen wird.« Konsequent hat Handke in seiner Erzählung den Fokus der Beobachtung vom Stürmer auf den Tormann, vom Sprecher auf den Hörer, vom Handelnden auf die Menschen und Dinge verstellt, auf die jener einwirkt. Nicht nur die Schlußszene auf dem Fußballplatz zeigt, daß seine Beschreibungskunst die ›natürliche‹ Identifikation mit dem Angreifer verwirft, um die ganze Aufmerksamkeit auf die Reaktionen, Effekte und Wirkungsindizien zu lenken, die das angegriffene ›Opfer‹ zeigt.15
Folgt man dieser Perspektive beim Blick auf die Konstruktion von Wissen und Bedeutung durch das Fernsehen in China, so ist es nur konse14 15
Peter Handke: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter. Frankfurt a.M. 1972, S. 111. Josef Fürnkäs: ›Moderne Aphoristik. Mediale Möglichkeiten und literarische Form.‹ In Josef Fürnkäs et. al. (Hg.): Medienanthropologie und Medienavantgarde. Ortsbestimmungen und Grenzüberschreitungen. Bielefeld 2005, S. 267f.
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quent, daß sich die Aufmerksamkeit von den in den wenigen Untersuchungen, die es zu diesem wichtigen Bereich chinesischer Kultur bislang gibt, privilegierten Texten der Programminhalte über die í in meiner Betrachtung Vom Eigenen und Fremden in den Vordergrund gehobene í Anordnungsstruktur hin zu den Wahrnehmungssubjekten verschieben muß. Letzten Endes ist es an diesen, aus all den ihnen dargebotenen dispositiven Strukturen und inhaltlich-ästhetischen Wissenseinheiten durch bewußte und unbewußte Nutzungsentscheidungen und Wahrnehmungsweisen Bedeutungen hervorzubringen, um durch kulturelle Reproduktionen die Spirale als unendliche Wiederholung der Bewegungen in Gang zu halten. Von dieser Möglichkeit haben die chinesischen Fernsehnutzer ausgiebig Gebrauch gemacht.
Versuchsanordnungen Die empirische Erfassung eines chinesischen Fernsehpublikums in der VR China und dessen Eingliederung in die Spirale der Herstellung von Wissen und Bedeutung, mithin von Kultur, gliedert sich notwendigerweise in zwei grundlegende Fragestellungen. Zum einen geht es darum, auf der Basis der durch die medientechnologische Infrastruktur, die ordnungspolitischen Bedingungen und nicht zuletzt durch das Medium selbst vorgegebenen Nutzungsanordnungen eine Messung der realen Fernsehnutzung innerhalb des Alltagsgeschehens vorzunehmen. Dabei bestätigt sich die außerordentliche, ja mittlerweile konkurrenzlose Bedeutung des Fernsehens innerhalb der kulturellen und soziopolitischen Diskurse Chinas quantitativ. Zugleich erweist sich das Fernsehen bereits hier als äußerst heterogen und in seinen Bedeutungsdiskursen polysemisch. Es läßt über die numerischen Meßergebnisse hinaus, die für sich stehend immer aussagefrei sind, keine eindeutigen Bestimmungen zu, wie sie von fremden Beobachtern oftmals angenommen und von der Pekinger Zentralregierung zumindest herbeigewünscht werden. Zum anderen geht es darum, das Fernsehen als Wahrnehmungsdispositiv zu begreifen und den Blick von seiner rezeptionsästhetischen auf seine rezeptionspragmatische Seite zu lenken. Das bedeutet eine Erfassung der Wahrnehmung der Medialität von Fernsehen und seiner Formate sowie deren Einfügung in ein Ich- und ein Wir-Verhältnis seiner Nutzer, welches durch zahlreiche Faktoren, darunter in nicht unerheblichem Maße auch durch das Fernsehen, geprägt wird. Die Nutzung des Fernsehens durch sein Publikum läßt sich quantitativ mit Hilfe der in China durch offizielle Institutionen durchgeführten Statistiken sowie durch die 51
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für diese Untersuchung organisierte Fragebogenanalyse mit verhältnismäßig großer Genauigkeit festhalten. Dabei ist ein weiteres Mal zu betonen, daß über die grobe, keinesfalls als homogene Einheit begreifbare Einteilung »VR China« hinaus letzten Endes differenziertere Analysen nur für die tatsächlich untersuchten Räume innerhalb des abgegrenzten Analysezeitraums gelten und deren Übertragung auf andere geographische und soziale Räume Chinas spekulativ bleiben muß. (1) (2) (3) (4)
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Geschlecht: (1) männlich (2) weiblich Ethnische Zugehörigkeit: (1) Han (2) andere; Welche? _____ Geburtsjahr: 19__ Bildung (Abschluß): (1) Analphabet oder nur geringe Bildung (2) Grundschule (3) Unterstufe der Mittelschule (4) Mittelschule oder Berufschule (5) Hochschule (B.A.) (6) Hochschule (Master oder höher) Beruf: (1) Spezialist und Techniker (2) Geschäftsführer (3) Abteilungsleiter (4) Angestellter (5) Arbeiter (6) Dienstleistungsangestellter (7) Bauer (8) Selbständiger (9) Unternehmer (10) ohne Beruf (11) Rentner (12) Schüler (13) Student (14) andere___ Wohnhaft: (1) Stadtbereich (2) Vorort (3) Außenbezirk Wie viele Mitglieder wohnen in Ihrem Haushalt?____ Wie viele Generationen leben in Ihrem Haushalt?____ Waren Sie schon einmal im Ausland oder in Hongkong, Macao oder Taiwan? (1) ja (2) nein Wenn ja: In welchen Ländern und Gegenden?_______ Wenn ja: Wie lange haben Sie sich dort aufgehalten? ____Jahre _____Monate Ist Ihr Haushalt oder Arbeitsplatz ausgestattet mit (Mehrfachnennungen möglich): (1) Tageszeitungen (2) Magazinen und Zeitschriften (3) Radio (4) Stereoanlage (5) vernetzte Computer (6) Fernsehgeräte (7) KTV (8) STV (9) Videorecorder (10) VCD (11) DVD? Wenn Ihnen ein Fernsehgerät zur Verfügung steht: Wie viele Kanäle empfangen Sie?____ Empfangen Sie ausländische oder Hongkonger Fernsehprogramme? (1) ja (2) nein Wenn ja: Welche?________ Wieviel Freizeit steht Ihnen neben Ihrer Arbeit, Schlafen, Haushalt und Körperpflege an einem normalen Arbeitstag zur Verfügung? (1)____Stunden oder (2) Minuten_____ Wie verbringen Sie überwiegend Ihre Freizeit? (Mehrfachnennungen möglich) (1) Fernsehen (2) Video sehen (3) Radio hören (4) Musik hören (5) Zeitungen, Zeitschriften und Bücher lesen (6) Freunde treffen (7) Sport treiben (8) Shopping und Spaziergänge (9) Kinobesuche (10) Besuch von Bars oder Tanzlokalen (11) Schlafen (12) Verwandtschaft besuchen (13) Mahjong oder Karten spielen (14) andere Tätigkeiten_____ Wie viele freie Tage haben Sie pro Woche? ____Tage Wie viele freie Tage hatten Sie vergangenes Jahr (inklusive der wöchentlichen freien Tage, der nationalen Feiertage und der Ferientage)? _____ Mit welchen Tätigkeiten verbringen Sie überwiegend Ihre Ferien? (Mehrfachnennung möglich) (1) Fernsehen und Video schauen (2) Radio und Musik hören (3) Bücher, Zeitungen und Zeitschriften lesen (4) Verwandte besuchen (5) Haushalt erledigen (kochen, putzen etc.) (6) Kindern bei den Hausaufgaben helfen (7) Sport treiben (8) Shopping (9) Kinooder Theaterbesuche (10) Ausstellungs- oder Museumsbesuche (11) Parks oder Freizeitzentren besuchen (12) Bars oder Tanzlokale besuchen (13) Mahjong oder Karten spielen (14) Schlafen (15) andere Tätigkeiten ___ Welches ist Ihr wichtigstes Medium der Information? (bitte notieren Sie nach der Reihenfolge) (1) Zeitungen (__) (2) Zeitschriften (__) (3) Radio (__) (4) Fernsehen (__) (5) Gespräche mit anderen (__) (6) Internet (__) (7) andere Medien___(__) Welches ist Ihr wichtigstes Medium/Ihre wichtigste Tätigkeit der Unterhaltung? (Bitte notieren Sie nach der Reihfolge) (1) Zeitung (___) (2) Zeitschriften (__) (3) Radio (__) (4) Fernsehen (__) (5) Kino (__) (6) traditionelles Theater (__) (7) modernes und westliches Theater (__) (8) Teehaus (__) (9) Cafe (__) (10) andere Tätigkeit___(__) Nimmt das Kino eine wichtige Stellung in Ihrem Leben ein? (1) sehr wichtig (2) wichtig (3) normal (4) nicht sehr wichtig (5) unwichtig Schauen Sie lieber Filme im Kino oder im Fernsehen? (1) im Kino (2) im Fernsehen Warum? ____ Wie oft schauen Sie jeweils fern? (1) mehr als zwei Mal pro Tag (2) ein bis zwei Mal pro Tag (3) zwei bis drei Mal pro Woche (4) selten. Wie lange schauen Sie jeweils fern? (1)_____Stunden oder (2) _____Minuten Zu welchen Tageszeiten schauen Sie überwiegend fern? (Bitte notieren Sie morgens oder abends) (1) (m/a) ___Uhr bis (m/a) ___Uhr (2) (m/a)______Uhr bis (m/a)____Uhr (3) (m/a)___Uhr bis (m/a)___Uhr Tun Sie während des Fernsehens auch andere Dinge? (1) Ich sehe ausschließlich fern (2) Ich sehe hauptsächlich fern, tue dabei aber auch andere Dinge (3) Ich tue hauptsächlich andere Dinge und sehe dabei gelegentlich auf den Fernseher
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NETZWERKE DER KULTUR UND MEDIEN DER REPRÄSENTATION (30) Wo schauen Sie meistens fern? (1) zu Hause (2) am Arbeitsplatz (3) zu Hause und am Arbeitsplatz (4) weder zu Hause noch am Arbeitsplatz (31) Sehen Sie gerne gemeinsam mit anderen Leuten fern? (1) lieber alleine (2) mit Familiemitgliedern (3) mit Freunden (4) mit Kollegen (5) mit anderen___ (32) Ist Fernsehen ein wichtiger Teil Ihres Alltags? (1) sehr wichtig (2) wichtig (3) normal (4) nicht sehr wichtig (5) unwichtig (33) Haben Sie einen Lieblingssender? (1) ja (2) nein (34) Wenn ja: Welchen? ____ (35) Wie suchen Sie die Programme aus, die Sie sehen möchten? (Bitte notieren Sie die Reihfolge) (1) Ich orientiere mich an Zeitschriften und Zeitungen (__) (2) durch Empfehlung von Freunden (__) (3) durch zappen (__) (4) ich lasse andere für mich entscheiden (__) (5) andere (__)____ (36) Welche Art von Sendungen sehen Sie am liebsten? (Bitte notieren Sie die Reihfolge) (1) Nachrichten und aktuelle Informationssendungen (__) (2) Reportagen (___) (3) Sport (__) (4) Unterhaltung (__) (5) Spielfilme (__) (6) Fernsehserien (__) (7) Theatersendungen (__) (8) Musiksendungen (__) (9) andere (__)____ (37) Aus welchem Land oder welcher Region stammen die Produktionen, die Sie am liebsten sehen? (Bitte notieren Sie in Reihfolge) (1) VR China (__ ) (2) Hongkong (__ ) (3) Taiwan (___) (4) USA (__) (5) Europa (__) (6) Japan (__) (7) Andere (__)___ (8) unabhängig von Land und Region je nach Sendung (__) (38) Worin bestehen Ihrer Meinung nach die Unterschiede zwischen Sendungen aus China und dem Ausland? ___ (39) Haben Sie eine Lieblingssendung? (1) ja (2) nein (40) Wenn ja: Welche?_____ (41) Wenn ja: Was mögen Sie an ihr?____ (42) Sind Sie zufrieden mit den chinesischen Fernsehprogrammen? (1) zufrieden (2) unzufrieden (43) Wenn Sie zufrieden sind: Was mögen Sie am meisten?_______ (44) Wenn Sie unzufrieden sind: Was mögen Sie am wenigsten?_____ (45) Trägt das Fernsehen Ihrer Meinung nach zur Verbesserung der Bildung bei? (1) ja (2) nein (46) Richten sich Ihre jeweilige Tagesplanung auch nach den Fernsehprogrammen, die Sie sehen möchten? (1) ja (2) nein (47) Welche Funktion hat das Fernsehen für Sie? (Mehrfachnennungen möglich) (1) dem Alltag entfliehen (2) Gefühle erleben (3) Information (4) Bildung (5) Gesprächsthemen finden (6) Unterhaltung (7) das politische Bewußtsein erhöhen (8) andere____ (48) Worin drückt sich Ihrer Meinung nach der Charakter des Fernsehens aus? (Mehrfachnennungen möglich) (1) Realismus (2) Kunst (3) Spannung (4) Unterhaltung (5) Wertevermittlung (6) andere____ (49) Sollte Fernsehen Ihrer Meinung nach Werte vermitteln? (1) ja (2) nein (3) schwierig zu sagen (50) Wenn ja: Welche?_______ (51) Vermittelt das Fernsehen in seiner gegenwärtigen Form Ihrer Meinung nach Werte? (1) ja (2) nein (52) Wenn ja: Welche?________ (53) Halten Sie die Informationen, welche die Nachrichten liefern, für glaubwürdig? (1) unbedingt (2) überwiegend (3) bedingt (4) wenig (5) sehr unglaubwürdig (54) Reflektiert die Darstellung im Fernsehen Ihrer Meinung nach die Realität der chinesischen Gesellschaft? (1) ja (2) überwiegend (3) schwer zu sagen (4) kaum (5) überhaupt nicht (55) Reflektiert die Darstellung im Fernsehen Ihrer Meinung nach die Realität der europäischen und amerikanischen Gesellschaften? (1) ja 2) überwiegend (3) schwer zu sagen (4) kaum (5) überhaupt nicht (56) Können Sie kurz zusammenfassen, worin Ihrer Meinung nach der gesellschaftliche Unterschied zwischen China und Europa bzw. Nordamerika besteht?____ (57) Entspricht die Darstellung der Differenzen im Fernsehen Ihrer Vorstellung? (1) ja (2) nicht vollständig (3) nein (58) Woher beziehen Sie überwiegend die Informationen, aus denen Sie Ihre Meinung bilden?_____ (59) Erkennen Sie im Fernsehen Vorbilder für sich selbst? (1) ja (2) nein (60) Wenn ja: Wer könnte Ihr Vorbild sein?_____ (61) Wenn ja: Wodurch ist er Ihr Vorbild? (1) kämpft für das Gute (2) hilft den Schwachen (3) ist mutig (4) ist klug (5) ist reich (6) ist hübsch (7) andere Gründe_____ (62) Halten Sie die Werbung im Fernsehen für glaubwürdig? (1) ja (2) teilweise (3) nein (63) Würden Sie Produkte aufgrund ihrer Werbung im Fernsehen kaufen? (1) ja (2) nein (64) Wenn ja, kaufen Sie überwiegend Produkte aus dem (1) Inland? (2) Ausland? (65) Glauben Sie, daß das Fernsehen positiv zur Entwicklung in China beiträgt? (1) ja (2) schwer zu sagen (3) nein (66) Können Sie kurz zusammenfassen, was das Fernsehen Ihrer Meinung nach für die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung Chinas bedeutet? ___
Übersetzung der Fragebögen
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Um das spekulative Element gering zu halten und landesweite Übereinstimmungen zumindest auf einem geringen gemeinsamen Nenner zu ermöglichen, folgt die Auswahl der Orte der Fragebogenanalysen und der Interviews der groben binären Einteilung zwischen hochentwickelten Metropolen auf der einen, von den Entwicklungen der Moderne und Spätmoderne weitgehend abgeschnittenen ruralen Gebieten im Norden und Süden Chinas auf der anderen Seite. Der Schwerpunkt der quantitativen Untersuchung fragt angesichts des bisher absolut unzureichenden Forschungsstandes in diesem Bereich zunächst allgemein nach der medientechnischen Ausstattung und nach dem Freizeit- und Nutzungsverhalten des Publikums, auch in der Beziehung zur Nutzung anderer Medien der Information und Kommunikation. Erst auf der Grundlage einer auf diese Weise quantifizierbaren Bedeutung des Fernsehens in der gegenwärtigen chinesischen Gesellschaft gewinnt auch die Frage nach spezifischen Sehpräferenzen von Fernsehprogrammen sowie nach deren Wahrnehmung und ihrem Einfluß bei der kulturellen Reproduktion an Bedeutung. Dabei soll dieser Teil keineswegs als abgeschlossene, für Gesamtchina Gültigkeit besitzende Forschungsleistung verstanden werden. Er begreift sich vielmehr als Einstieg und Voraussetzung für eine tiefergreifende Medienforschung, welche notwendigerweise Fragen nach dem Publikum, nach den Medieninhalten sowie nach den materiell-dispositiven sowie ideologisch-dispositiven Bedingungen und den kulturhistorischen Voraussetzungen in gleichem Maße berücksichtigt und damit unterschiedliche Forschungsdisziplinen zusammenführt. Die wenigen ausschließlich soziologisch ausgerichteten Untersuchungen chinesischer Institute und Fernsehsender zur Medienausstattung, die bisher vorliegen, geben in dieser Hinsicht nur begrenzt Aufschluß. Sie sind aber, vor allem mit ihren statistischen Werten, bei der Auswertung der Fragebögen und deren Abgleichung mit den Ergebnissen von Interviews und teilnehmender Beobachtung berücksichtigt worden. Alles in allem entsteht, wie anschließend im einzelnen dargestellt werden soll, durch diese multimethodische Herangehensweise, bei der die erkenntnistheoretische und kulturanalytische Betrachtung der empirisch gewonnenen Ergebnisse diesen erst eine relevante Bedeutung verleiht, ein vielfältiges Bild chinesischer Kulturkonstruktion in Bezug auf die Mediengesellschaft. Diese verschafft sich in globalisierten Praktiken der Produktion und Rezeption Ausdruck. Sie bemüht mit denselben Mitteln zugleich verstärkt auch wieder Möglichkeiten der Rekonstruktion des vermeintlich Traditionellen, das durch seine nostalgische Verklärung aber teilweise zum Fremden geworden und erst in der Selbstexotisierung 54
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durch den medialen Filter wieder vereinnahmt worden ist. Gleichzeitig rekurriert sie auf Lokales, welches sich medial allerdings unter ganz anderen – kaum noch geopolitischen als vielmehr virtuellen – medial bestimmten Raumstrukturen präsentiert als in Zeiten einer überwiegend oralen oder an die Schriftlichkeit gebundenen Kommunikation. In der medialen Aufbereitung von Kultur bilden sich immer neue Formen des Eigenen heraus. Diese zeichnen sich dadurch aus, daß sie sich nicht mehr auf die Wiederentdeckung und Rekonstruktion ihrer eigentlichen Bezugsquellen, der Strukturen der importierten Medientechnik und Medienökonomie auf der einen, einer imaginierten Kulturtradition auf der anderen Seite, beschränken. Vielmehr bestimmen sie diese, indem sie sich von der abbildhaften Bindung an ihre Materialität lossagen, zum Gegenstand eigener Diskurse, in denen alles Vorgängige als Spur erhalten bleibt. Die gegenwärtigen Diskurse um Chinas Kultur spielen sich überwiegend in den virtuellen Räumen der Medien ab. Sie finden ausschließlich im hier und jetzt ihrer medialen Konstruktion und Rekonstruktion sowie ihrer Rezeption statt, die ebenfalls medial und durch die Dispositive der Medien, aber auch durch die eigene Prägung und ZeitRaum-Konstellation ihrer Zuschauer bedingt wird.
Provinzen der VR China
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Die vorliegenden Untersuchungen wurden an verschiedenen Orten Chinas durchgeführt, ohne dabei eine Repräsentativität für jenes als Ganzes beanspruchen zu können. Vielmehr wird die nach wie vor oftmals gebrauchte fixe Identitätseinheit und kulturelle Bezugsgröße China grundlegend in Frage gestellt oder doch zumindest zahlreichen alternativen, in der Wahrnehmung der Menschen gleichermaßen wirksamen Identitätseinheiten gegenüber gestellt. Die Metropolen Peking ࣫Ҁ (in der Karte Beijing) und Shanghai Ϟ⍋, denen der urbane Untersuchungsanteil gilt, sind neben der Region um das Perlfluß-Delta im südlichen Guangdong ᑓϰ die maßgeblichen Motoren des chinesischen Modernisierungsprozesses. Dort wurden unter den ca. 11 Millionen Pekinger Einwohnern und den 13 Millionen Shanghaier Bürgern 1400 Fragebögen entsprechend der im fünfjährigen Turnus erscheinenden offiziellen Bevölkerungsstatistik der Akademie für Sozialwissenschaften aus dem Jahre 2000 repräsentativ nach einem sozialen und soziogeographischen Querschnitt (vor allem nach Geschlechts-, Bildungs-, Berufs- und Altersstruktur) ausgewählt. Die Bögen wurden nicht verschickt. Vielmehr haben wir, um das persönliche und gewissenhafte Ausfüllen sicherzustellen, die ausgewählten Kandidaten selber aufgesucht. Nach demselben Schlüssel wurden quantitative Befragungen im selben Umfang in zwei Landkreisen der Provinz Hebei ⊇࣫ und in zwei Landkreisen der Provinz Shanxi ቅ 㽓 im nördlichen China durchgeführt. Diese zeichnen sich bei jeweils unterschiedlichen spezifischen historischen Voraussetzungen und gegenwärtigen geographischen, klimatischen, infrastrukturellen und wirtschaftlichen Bedingungen durch ihren ruralen Charakter, relative Armut mit nur wenig entwickelter Infrastruktur und durch eine weitreichende Abgeschlossenheit gegenüber den Entwicklungszentren Chinas aus. Fernsehversorgung ist in allen untersuchten Orten gegeben und war notwendige Voraussetzung für deren Auswahl. Dabei ist, wie die Statistiken der Staatsregierung und der Akademie für Sozialwissenschaften zeigen, eine ausreichende Fernsehversorgung aber längst auch für das rurale China jenseits der urbanen Ballungsräume und jenseits auch der landwirtschaftlichen Speckgürtel im Osten und Südosten des Landes, die zudem eine überwiegend gute Infrastruktur und verkehrstechnische Anbindung an das übrige China aufzuweisen haben, der Normalfall. Als letztes Auswahlkriterium kam schließlich die sehr unterschiedliche Bereitschaft der jeweiligen lokalen Behörden zur Mitarbeit oder doch zumindest zur Zulassung der Untersuchungen hinzu. Daß diese angesichts der Beteiligung ausländischer Forscher nicht unbemerkt stattfinden konnte, war uns Beteiligten von vorne herein klar. Doch haben die lokalen Behörden und Parteivertreter sehr unterschiedlich auch auf die Beteili56
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gung durch die Pekinger Akademie für Sozialwissenschaften reagiert. Die Reaktion schwankte zwischen Respekt und Freude über das Interesse am Leben dort, was in der Regel zu Unterstützung, leider auch zu Kontrolle geführt hat, und einem grundlegenden Mißtrauen gegenüber der Regierungszentrale und dem Rückzug in den Rechtfertigungszwang gegenüber den Kreis- oder Provinzbehörden. Dadurch wurden unsere Bemühungen zumeist mit í mehr oder weniger freundlichen í Blockaden behindert. Dies führte zumeist zu üppigen Banketteinladungen für die »Gäste aus der Hauptstadt und aus dem Ausland«, darüber hinaus aber zu Ablehnungen mit dem Hinweis auf mangelnde oder zu schlecht ausgestattete, ungeheizte Unterkunftsmöglichkeiten, widrige verkehrstechnische Umstände auf den Wegen in die Dörfer, mangelndes Personal bei der í zu unserem Schutze, wie immer wieder versichert wurde, unbedingt notwendigen í Begleitung etc. Alles in allem hat sich die Untersuchung letzten Endes auf die genannten Städte Peking und Shanghai, in denen keinerlei Widerstände die Untersuchungen behindert haben, sowie auf einige Kreise und Dörfer in den besagten Provinzen Hebei und Shanxi fokussiert.
Provinz Hebei
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Dort waren die Widerstände gering oder boten sich gute Möglichkeiten, sie mit mehr oder weniger legalen Mitteln zu überwinden. Im südwestlichen Teil der Provinz Hebei wurde unter diesen Gesichtspunkten der 45 km von der Provinzhauptstadt Shijiazhuang ᆊᑘ entfernt liegende Kreis Xingtang 㸠 für die Untersuchungen ausgewählt. Xingtang verfügt über eine Gesamtpopulation von 395.400 Einwohnern. Es gilt trotz seiner kargen, gebirgigen Böden als ein traditionell landwirtschaftliches Gebiet, das u.a. zu den Hauptproduzenten der in Ostasien als Heilmittel bekannten roten Datteln zählt. Es ist allerdings mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von 2468 RMB im Jahr (Wert aus dem Jahre 2000, entspricht ca. 250 Euro) den einkommensschwächeren und, trotz seiner Nähe zur Hauptstadt Peking, den strukturschwachen Regionen Chinas zuzurechnen. Xingtang verfügt nicht über ein eigenes Zeitungsorgan und hat seinen einzigen Rundfunksender zu Beginn der 1990er Jahre eingestellt. Statt dessen hat es einen eigenen Fernsehsender im terrestrischen Netz, welches den einzigen verfügbaren Zugang zum Fernsehen bietet, auf Sendung gebracht. Ebenfalls in der Provinz Hebei liegt der zweite Ort der Untersuchungen im ruralen China, der Kreis Qinglong 䴦啭. Qinglong im Norden Hebeis verfügt über eine Gesamtpopulation von 500.000 Einwohnern und ist mit großer Trockenheit und einer Jahresdurchschnittemperatur von 9˚C klimatisch weniger begünstigt als die südlichen Regionen Hebeis. Mit seinem überwiegend durch den Anbau von bpfeln, Aprikosen und Kastanien erzielten durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von 1751 RMB im Jahre 2000 ist es noch erheblich einkommensschwächer als Xingtang und liegt damit, gemessen an den Angaben der Weltbank, deutlich unter der Grenze der ›absoluten Armut‹. Der die genannten Kreise in der Provinz Hebei prägende Armutsfaktor trifft nur bedingt auf die beiden im Norden der Provinz Shanxi liegenden Orte zu, die wir für die quantitativen Analysen ausgewählt haben. Dabei handelt es sich zum einen um den Kreis Taigu 䈋, der auf einem Plateau auf etwa 1500 m Meereshöhe im Nordosten der ZhongpenTiefebene ЁⲚഄ liegt, zum anderen um den Gebirgs-Kreis Meng ᄳ nördlich der Stadt Yangquan 䰇⊝ auf einer Meereshöhe von mehr als 1800 Metern. Taigu besteht aus drei Bezirken mit 11 Dörfern. Es verfügt über eine Gesamtpopulation von 263.200 Einwohnern. Hauptertragszweige sind in der Landwirtschaft der Getreide- (Weizen, Hirse, Mais u.a.) sowie der Obstanbau (Wassermelonen u.a.) und in der schwach entwickelten Industrie der Bau von landwirtschaftlichen Maschinen sowie verschiedene Zweige der chemischen Industrie. Mehr noch als Taigu mit seinem Maschinenbau profitiert der Kreis Meng von der in der Provinz 58
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Shanxi recht gut ausgebauten Bergbau-Industrie und der damit verbundenen Infrastruktur sowie besseren Verkehrsanbindungen. Meng besteht aus 4 Bezirken mit insgesamt 21 Dörfern und verfügt über eine Gesamtpopulation von 254.000 Einwohnern.
Provinz Shanxi Haupteinnahmequelle ist neben einer marginalen Landwirtschaft (Hirse, Mais, Bohnen u.a.) vor allem eine umfangreichere Schwerindustrie, in der Eisen und Stahl produziert werden, wodurch zudem zahlreiche Zweige der weiterverarbeitenden Industrie versorgt werden. Die Fragebögen, welche wir in den Metropolen Peking und Shanghai verteilt haben, stimmen weitgehend mit denjenigen in den ruralen Untersuchungsgebieten überein. Nach einem Probelauf in Shanxi, bei dem wir einige Probleme mit den in Peking und Shanghai bereits verteilten Bögen hatten, haben wir uns entschlossen, marginale Veränderungen vorzunehmen. Diese beziehen sich zum einen auf die Sprache, deren städtische Formen bei der ländlichen Bevölkerung oftmals auf Unverständnis stießen, zum anderen auf einige Inhalte. Für die städtische Bevölkerung relevante Fragen wie diejenigen nach Auslandsaufenthalten, Urlauben oder auch nur freien Tagen (die Bauern kennen keine festen Arbeitszeiten und keine Wochenenden, sondern richten sich nach den Notwendigkeiten in der Landwirtschaft) sowie nach dem Computergebrauch erwiesen sich als genauso problematisch wie die Wahrnehmung von Zeit (während die städtische Bevölkerung konkrete Angaben in Stunden, Minuten, Wochen, Tagen 59
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etc. machte, waren die Antworten der ruralen Bevölkerung zumeist vage, etwa: »…wir sehen nach der Arbeit fern«, »…wir haben Freizeit, sobald die Ernte eingeholt ist«) oder auch die Selbstwahrnehmung, was sich in Fragen nach der Bedeutung der Medien, nach der Einschätzung von Programmen und deren Relevanz für die eigene Lebenspraxis und Selbstwahrnehmung etc. ausgedrückt hat. Fragen mit der Möglichkeit eigener Formulierung von Antworten sowie nach der Einschätzung größerer gesellschaftlicher und kultureller Zusammenhänge sind von der ruralen Bevölkerung zumeist unbeantwortet geblieben. Um zu relevanten Ergebnissen zu kommen, waren daher dort einige weitere Modifikationen notwendig und haben sich darüber hinaus einige Vergleichswerte erst in persönlichen Gesprächen und durch Nachfragen herauskristallisiert. Zudem war in einigen Dörfern die Illiterarizität derart hoch, daß wir die Fragen zahlreichen Teilnehmenden einzeln vorlesen, teilweise erläutern und die Antworten selbst eintragen mußten, was die Anordnungen der Untersuchung marginal beeinflußt hat. Die Inhalte der auf eine Beantwortungsdauer von 30 bis 45 Minuten ausgelegten Fragebögen beziehen sich in ihrem ersten Teil auf die persönlichen Bedingungen der Befragten (Alter, Geschlecht, Bildung, Beruf, Freizeitmöglichkeiten etc.) und ihrer Haushalte. Sie erfragen zudem die Nutzungsvoraussetzungen (technische Ausstattung, Medienkonsum und Bezugs- bzw. Empfangsmöglichkeiten von Medienangeboten) und die konkrete Gestaltung von Freizeit sowie die Nutzung der Medien und des Fernsehens. Auch hier haben sich einige wenige Modifikationsnotwendigkeiten zwischen Stadt und Land ergeben: Die Frage nach der genaueren Bestimmung des Wohnviertels ist für die Städte relevant, spielt für die Dörfer aber keine Rolle. Eine Frage, die sich auf Auslandsbesuche bezieht, wurde, da Auslandsbesuche bei den Dorfbewohnern mit Ausnahme weniger Parteikader nicht vorkamen, auf diejenige nach Reisen innerhalb der eigenen Provinz und innerhalb Chinas verschoben, um die Mobilität der Befragten festzustellen. Eine Frage nach freien Tagen wurde aus den genannten Gründen der landwirtschaftlichen Arbeitseinteilung nach Anbau- und Erntephasen bei den an industrielle Arbeitsabläufe gewöhnten Stadtbewohnern nach Wochenrhythmen, auf dem Lande indes nach Jahresrhythmen ausgerichtet. Die an die Konkretisierung der Befragtengruppen und ihrer Medienkonsumvoraussetzungen anschließenden Fragen beziehen sich auf die Wahrnehmung und Vorlieben bzw. Abneigungen der Medien- und Fernsehnutzung. Sie vergleichen das Interesse an Fernsehen mit demjenigen an anderen Medien und alternativen Möglichkeiten der Information und Freizeitgestaltung sowie nach der Wahrnehmung der Medialität des Ge60
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sehenen. Dabei konkretisieren sich die Fragen auf das Fernsehen und fragen nach der Einschätzung von dessen Bedeutung als Teil der Alltagsund Freizeitgestaltung, von Unterhaltung und Konsum sowie im Hinblick auf Information und Bildung. Weitere Fragen richten sich auf die Formate des Fernsehens und Nutzungsvorlieben zwischen unterschiedlichen Sendeangeboten. Sie richten sich auch auf die Wahrnehmung von konkreten Formaten und Einzelsendungen und auf die Einschätzung der Qualität des Angebotes. Schließlich konzentriert sich die Befragung auf die Selbstwahrnehmung der Befragten und die Einschätzung der Bedeutung des Fernsehens bei der Gestaltung eines individuellen sowie kollektiven Selbstverständnisses. Der letzte Teil der empirischen Untersuchungen besteht in einer qualitativen Analyse des Publikums in ausgewählten Städten und Dörfern der genannten und in weiteren Untersuchungsräumen, die sich auf die Ergebnisse der quantitativen Analyse durch Fragebögen stützt. Sie ist durch eine teilnehmende Beobachtung der Lebensgewohnheiten und des Medienkonsums sowie Kommunikationsverhaltens der dort lebenden Menschen begleitet worden. Hierzu haben wir für jeweils einige Wochen an dem Leben und Medienkonsum der Menschen teilgenommen. Wir haben Beobachtungen gemacht und persönliche Interviews in den zuvor quantitativ befragten Städten Peking und Shanghai sowie in Xingtang (Provinz Hebei) und Taigu (Provinz Shanxi) durchgeführt. Hinzu kamen solche in dem Kreis Wuxiang ℺е im Süden der Provinz Shanxi ቅ㽓 sowie im Kreis Ledong Фϰ im Südwesten der südchinesischen Inselprovinz Hainan ⍋फ. Durch mächtige Gebirgsketten von den Verkehrswegen und der Infrastruktur in der Region um die Provinzhauptstadt Taiyuan ॳ abgeschnitten, gehört Wuxiang mit seiner kargen Landwirtschaft zu den ärmeren Regionen Chinas und liegt weit unter der Armutsgrenze. Zudem ist es als historische Stätte, die als Rückzugsort der Kommunistischen Truppen während des Asien-Pazifik-Krieges (193745) zu Ruhm gelangt ist, zu einem politisch sensiblen Ort geworden, den zu besuchen Ausländern grundsätzlich untersagt ist. Nachdem wir dieses Verbot mit der Autorität der Pekinger Akademie für Sozialwissenschaften im Rücken immerhin haben umgehen können, wurde uns dann aber jegliche Unterstützung bei der Verteilung der Fragebögen durch die lokalen Behörden untersagt. So haben wir í mehr oder weniger illegal í zwar einige Tage in verschiedenen Dörfern Wuxiangs zubringen, mit den Bewohnern dort leben und diese interviewen und filmen können, auf die organisationsaufwendigen und, etwa bei der soziographischen Auswahl der Befragten, von der behördlichen Zuarbeit abhängigen quantitativen Analysen mußten wir aber verzichten. 61
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Provinz Hainan In Ledong auf der Insel Hainan indes waren uns trotz schlechter Verkehrsanbindungen aufgrund einer relativen bürokratischen Unkompliziertheit seiner Behörden und einer für den Süden Chinas typischen Offenheit seiner Bewohner umfangreiche Reisen in verschiedene Dörfer und Gespräche mit deren Bewohnern möglich. Auf eine umfangreiche Fragebogenanalyse mußten wir hier allerdings ebenfalls verzichten, da diese in der von unserem Ausgangspunkt Peking weit abgelegenen Provinz eine langwierige Kontaktaufnahme zu den Behörden wie vor allem einen enormen zusätzlichen Kostenfaktor bedeutet hätte, was das Budget dieses Projektes letzten Endes nicht mehr hergab. Nichtsdestoweniger haben, wie wir meinen, die Untersuchungen in der durchgeführten Konstellation und mit allen Einschränkungen, welche diese Form der empirischen Forschungsarbeit bekannterweise mit sich bringt, zu beachtenswerten Ergebnissen über die Fernsehnutzung und die Medienwahrnehmung sowie über die Selbstkonstruktion und die Formierung von Ich- und Wir-Verhältnissen bei den Menschen in den untersuchten Orten geführt. Sie haben darüber hinaus einen í noch nachzuweisenden í repräsentativen Charakter für die chinesische(n) Gemeinschaft(en) und die globale Mediengesellschaft schlechthin. Zumindest fügen sie sich in den größeren Analysekontext zum chinesischen Fernsehen ein, mit welchem sie im folgenden neben ihrer Reproduktion zugleich in Zusammenhang gebracht werden sollen. Sie ergänzen und bestätigen in dieser Hinsicht zu weiten Teilen die Ergebnisse der Diskurs62
NETZWERKE DER KULTUR UND MEDIEN DER REPRÄSENTATION
und Programmanalysen, welche diesem empirischen Projektanteil vorausgingen und dessen Frageformate und Anordnungsstrukturen mitbedingt haben, vor allem hinsichtlich der dort begründeten Polysemie der Wissens- und Bedeutungsdiskurse. Die Fragen um die Wissens- und Bedeutungsdiskurse in China standen auch im Mittelpunkt der Auswertung der Fragebögen und Interviewaufzeichnungen. Von diesen liegen einige als Videobänder, andere als Tonaufzeichnungen vor, einige sind aus Rücksicht auf die Vorbehalte und auch manche bngste der Befragten vor rechtlichen Konsequenzen ihrer Mitarbeit anonym und nur in Form schriftlicher Notizen aufgezeichnet worden. Im einzelnen wurden in den oben beschriebenen empirischen Untersuchungen auf der Grundlage der Analyse der im ersten Teil dieses Projektes beobachteten kulturellen und wissenschaftlichen Diskurse zum chinesischen Fernsehen und seinen Programmformaten und -inhalten im Hinblick auf deren kulturelle Bedeutungsproduktion (Bedeutung I)16 die Bezugsgrößen der Bedeutungsherstellung und Identitätskonstruktion durch chinesische Publika festgestellt. Das geschah im Hinblick auf das Gewicht des dominanten Wissenskonstrukteurs und -vermittlers Fernsehen bei der Konstitution ihres kulturellen Selbstverständnisses (Bedeutung II). Das wiederum wurde mit Bedeutung I in Beziehung gesetzt, um dem Kreislaufmodell kultureller Produktion, Konsumption und Reproduktion Rechnung zu tragen. In Verbindung mit den diskursanalytischen Untersuchungen des ersten sowie den programmanalytischen Betrachtungen des zweiten Teils der vorangegangenen Publikation gelangt man zu komplexen Ergebnissen über die Medienproduktion und Identitätskonstruktion durch die kulturelle Bedeutungsproduktion in China. Sie bestätigen die angenommene Spirale einer sich unaufhörlich aktualisierenden Bedeutungskonstitution. Diese hat ihre Ursprünge zwar jeweils in den wahrgenommenen ideologisch/sozialen Diskursen und den materiellen Bedingungen sowie den Medienformaten selbst. Dabei differenziert sie sich von diesen aber aus und ordnet sich immer wieder neu an, um í aktualisiert í auf jene selbst zurückzuwirken und damit das unhierarchische, multipel kommunizierende Spiralenmodell der Kulturformation in Gang zu halten. Dazu tragen die Nutzer der Medien in erheblichem Maße selber bei.
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Vgl. Stefan Kramer: Vom Eigenen und Fremden. a.a.O.
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3. N U T Z U N G S A N O R D N U N G E N I: DAS TECHNISCHE DISPOSITIV UND DIE GESELLSCHAFT Um die Bedeutung des Fernsehens beim Publikum in China angemessen untersuchen zu können, ist es, wie die einleitenden Kapitel gezeigt haben, unumgänglich, über die Medialität und die Programme des Fernsehens selbst hinauszuschauen. Es ist im größeren Rahmen seiner technisch-kulturellen Herleitungen, seiner politisch-ideologischen Aneignungen sowie seiner sozialen und kulturell-semantischen Nutzungs- und Wahrnehmungsräume zu verorten. Erst aus deren Zusammenwirken gehen die kollektiven und persönlichen Anordnungsbedingungen hervor, innerhalb derer die apparative Technik des Fernsehens und seine Programminhalte sich bewegen und auf deren Grundlage sie bei jedem Einzelnen ihrer Nutzer Wissen und Bedeutung produzieren und sich deren individuellen und kollektiven Selbstverhältnisse ausagieren. Die von chinesischen Institutionen erhobenen Daten zur Medienausstattung und zur Mediennutzung, die in den untersuchten Städten und Kreisen selbst gemachten Beobachtungen und Gespräche mit den Menschen und Familien über ihre Lebensumstände, ihre soziale Position, ihre Arbeits- und Freizeitaktivitäten, die Ausstattung ihrer Haushalte mit Informations- und Kommunikationstechniken sowie ihre Zugangsmöglichkeiten zu lokalen, regionalen, nationalen und inter- oder transnationalen Medienanbietern und nicht zuletzt der erste Teil der Fragebogenanalysen: Aus allen diesen Daten setzen sich die Aussagen dieses Kapitels zusammen. Es geht zudem auf die tatsächliche Verfügbarkeit und Nutzung der Angebote von Information und Unterhaltung in China ein und setzt diese Größen miteinander in Beziehung. Daraus lassen sich die Charakteristika einer chinesischen »Mediengesellschaft« in ihrer Wechselwirkung mit regionalen, nationalen und transnationalen Wissensdispositiven beschreiben, um von daher die Anordnungsbedingungen der anschließend zu betrachtenden medialen Wahrnehmung und Selbstbeschreibung der Menschen in der VR China näher eingrenzen zu können.
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DAS CHINESISCHE FERNSEHPUBLIKUM
Der methodisch offene Ansatz, der hierbei zugrunde gelegt wird, legt sich weder auf ausschließlich soziologisch-empirische noch auf ausschließlich informationstheoretische oder (text-)kulturanalytische Modelle fest. Er verwirft sie alle aber auch nicht gänzlich. Vielmehr will er sie produktiv aufgreifen und zur Beschreibung der Wechselbeziehung zwischen Medientechnik, semantischen Angeboten, individueller Nutzungsleistung und gesellschaftlicher Disposition zusammenfügen. Er wird schließlich auf die Frage nach der Beziehung zwischen dem Fernsehen und dem Selbstverständnis der gesellschaftlichen Bezugsräume Chinas konkretisiert. Alles in allem schafft dies die Vorbedingungen für die in den Schlußkapiteln in den Mittelpunkt gerückten Untersuchungen zur Wahrnehmung des Fernsehens sowie der Wechselwirkung zwischen demselben und der Selbst- und Weltkonstruktion seiner Nutzer. Ihm liegt ein grundsätzlich materialistisches Verständnis von Fernsehen als technischem Mediendispositiv zugrunde. Es entfaltet seine bedeutungsbildende Kraft in erster Linie auf der Grundlage seiner Medialität und seiner dispositiven Verortung in der Gesellschaft und der Lebens- und Wahrnehmungswelt seiner Zuschauer und erst in zweiter Linie auf derjenigen der bsthetik und Narrativität seiner Programme, die überdies ja immer nur in Abhängigkeit von ersteren und unter deren Bedingungen entwickelt werden können. Seit den Thesen der Mathematiker Claude E. Shannon und Warren Weaver1 Mitte des 20. Jahrhunderts gehen wir von einem í teilweise í mathematisch geprägten Kommunikations- und Informationsbegriff aus, nach dem es sich bei jeder Kommunikation nicht ausschließlich um die lineare, kybernetisch denkbare Übertragung von Information und also Sinn, sondern vor allem auch um den Vorgang der í bewußten und unbewußten í Selektion von Information und Bedeutung handelt. Letztere findet gleichermaßen beim Sender, dem Produzenten der Nachricht, wie auch beim Empfänger, dem hier in den Fokus gerückten Zuschauer, statt. Shannons Modell wurde vor allem durch den Physiker Donald MacKay weiterentwickelt und mit seinem Vorschlag einer »state of conditional readiness«2 für die Frage nach der Verortung der Teilnehmer an der Kommunikation fruchtbar gemacht. Demnach ist der Fernsehzuschauer im Rahmen der ihm materiell, also durch die gesellschaftlichen Diskurse und deren Institutionen sowie durch die medientechnische Inf-
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Claude E. Shannon und Warren Weaver: Mathematische Grundlagen der Informationstheorie. München 1976. Donald M. MacKay: Information, Mechanism and Meaning. Cambridge, Mass. 1969.
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rastruktur und seine individuelle Ausstattung mit Informations- und Kommunikationstechniken vorgegebenen Möglichkeiten, in hohem Maße in der Lage, selbst an der Aufnahme, Aneignung und Reproduktion von Informationen und Bedeutungen teilzuhaben. Dabei vermag er auch immer wieder Korrekturen und Neumontagen seiner Wahrnehmung und somit seines Selbstverständnisses vorzunehmen. Er verabschiedet sich, wie oben bereits ausgeführt, letzten Endes immer wieder von der einseitig linearen Anordnung der Kommunikationswege und seiner darin eingeschriebenen passiven Rolle als ›idealer Rezipient‹. Mit der Einführung eines ›aktiven Publikums‹ und eines ›empirischen Rezipienten‹, der aus ihm vorgegebener Struktur immer neue Struktur hervorbringt, wird aber nicht zugleich auch die gegenseitige Beziehung der Teilnehmer am Kommunikationsprozeß untereinander und die jeweilige Bezugnahme seiner Bedeutungsbildung auf die Dispositivität der Medien wie die Materialität von deren Abbildungsobjekten aufgegeben. Sie bleiben in dem Bewußtsein, daß Struktur jeweils aus Materie hervorgeht, in der Bedeutungsbildung eines jeden Individuums als Spur vorhanden, auch wenn der Umkehrschluß auf das einzelne Ausgangsmaterial in der Fülle der einflußnehmenden Parameter an der Weltkonstruktion der Menschen kaum mehr nachweisbar sein wird. So steht die Frage nach der Verortung des Empfängers in der Nachricht des Senders genauso im Mittelpunkt der Überlegungen wie diejenige nach dem Verweis auf den Sender in der Sinnkonstruktion des Empfängers. Daher ist bei unseren Überlegungen zu den Fernsehrezipienten nicht zuletzt auf die Bezugnahme beider auf das Material und die Dispositionen der Kommunikation zu achten, nämlich die Medientechnik und die Gesellschaft.
Städtische und ländliche Medienteilnehmer Geht man von den oben beschriebenen Anordnungsbedingungen der Kommunikation und medialen Erzeugung von Wissen und Bedeutung aus, dann gilt es zum einen das Verhältnis zwischen dem einzelnen Medienteilnehmer und der Gesellschaft, zum anderen dasjenige zwischen beiden und ihren Medien zu betrachten. Letzteres ist vor allem durch die jeweiligen Bedingungen der Einzelparameter, also durch die Kultur und Ideologie, die soziale Struktur und die Institutionen der Gesellschaft, deren hegemoniale und widerständige Diskurse und deren Verortung zueinander sowie die individuelle Prägung und die jeweilige Verfaßtheit 67
DAS CHINESISCHE FERNSEHPUBLIKUM
des Individuums innerhalb seiner Umgebung geprägt. Das Verhältnis zwischen Individuum und den Institutionen der Gesellschaft ist zudem geformt durch die Kanäle von Information und Kommunikation, welche sie miteinander zu Gemeinschaften von Identität und Differenz verbinden und sie durch die unterschiedlichen und ständig wechselnden Anordnungsbedingungen ihrer Medialität auf immer neue Grundlagen stellen. Angesichts der außerordentlichen Heterogenität der chinesischen Bevölkerung in sozialer, geosozialer wie ethnisch-kultureller Hinsicht ist es noch schwieriger als bei kleineren, homogener angeordneten Gesellschaften, einheitlich relevante Werte für das Publikum zu finden und diesem eine fixe Identität zuzuweisen. Statt dessen kann es sich bei empirisch erhobenen Daten immer nur um Ausschnitte und Annäherungen an einen verhandelbaren gemeinsamen Nenner aus der Summe der betrachteten Individuen im Hinblick auf deren gesellschaftlichen Konsens und ihre Möglichkeit der Kommunikation untereinander handeln, welche zudem den wissenschaftlich-epistemischen wie auch medial-sprachlichen Bedingungen ihrer eigenen Untersuchungsanordnungen unterliegen. Sie sind überdies in einem Moment der sie ständig weiter treibenden Bewegung in der Zeit eingefroren und treffen auch in räumlicher Perspektive als Stichpunktproben nur bedingt auf das Ganze des zu untersuchenden Raumes und noch weniger auf einen í hier ohnehin als fixe Größe in Frage zu stellenden í chinesischen Einheitsstaat und seine Bevölkerung zu. Im einzelnen ist es müßig und steht auch nicht im Mittelpunkt der Untersuchungen, die im allgemeinen recht gut dokumentierten Bevölkerungsdaten Chinas exakt wiederzugeben. Vielmehr dient die Orientierung an ihnen nur dazu, einen repräsentativen Querschnitt zumindest auf dieser Ebene von Geschlechts- und Altersverteilungen, ethnischen, sozialen und Bildungszugehörigkeiten zu erzielen, um die unvermeidbaren Ungenauigkeiten der Untersuchungsergebnisse zumindest teilweise in die Verantwortung der geosozialen Verteilung überführen zu können. Mit der Reduktion auf die Binaritäten von Stadt und Land sowie von Nord- und Südchina können immerhin verwertbare Tendenzen aufgezeigt werden, welche auch jenseits ihrer individuellen Ausprägungen auf die Wahrnehmungsweisen der Medien und die Selbstkonstruktion der Mediennutzer in China zurückverweisen. Für die quantitativen Fragebogenanalysen in den urbanen Untersuchungsräumen Peking und Shanghai wurden 50,1 % Männer, 49,9 % Frauen mit einer ethnischen Zugehörigkeit von 95,7 % Han, in den ruralen Untersuchungsräumen in Hebei und Shanxi 52,2 % Männer, 47,8 % Frauen mit einer ethnischen Dominanz von 96,9 % Han befragt. Dies entspricht mit Ausnahme der ethnischen 68
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Minderheitenregionen im äußersten Nordosten, dem Westen und Südwesten Chinas dem landesweiten Durchschnitt, wie er im Fünfjahresrhythmus von der Akademie für Sozialwissenschaften für alle Provinzen Chinas erhoben und publiziert wird.3 Auch die Altersverteilung orientiert sich an den nationalen Statistiken. Hier sind allerdings erhebliche Abweichungen zwischen den urbanen Zuwanderungsräumen und den von bedrohlicher Abwanderung betroffenen strukturschwachen ländlichen Gebieten zu verzeichnen. Durch sie rechtfertigt sich bereits im Vorfeld der Befragungen die operationale Zweiteilung der Untersuchung. 70
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Altersstruktur Stadt Während die Kurve in den Metropolen ihre Spitzen bei den überwiegend im Arbeitsleben tätigen mittleren Jahrgängen, der Bevölkerung im Alter zwischen 21 und 50 Jahren, aufweist, sind in den ländlichen Regionen gerade die mobilen und oftmals in die Städte abgewanderten oder als Wanderarbeiter ihre Familien ernährenden Altersstufen zwischen 21 und 40 Jahren kaum noch vertreten. Die Spitzen der Altersverteilung sind
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Der vorliegenden Untersuchung lagen die im Jahre 2000 erhobenen Daten zugrunde. Vgl.: 2000 quanguo 1 % renkou chouyang diaocha ziliao. 2000 ܼ 1 %Ҏষᢑḋ䇗ᶹ䌘᭭ (Gesamtchinesische Bevölkerungsstatistik des Jahres 2000, gemessen an 1 % der Gesamtbevölkerung). Peking 2001.
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dort bei den weniger mobilen alteingesessenen Bauern und Arbeitern zwischen 51 und 70 Jahren zu finden. 120
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Altersstruktur Land Selbst die abwanderungsunwillige Altersgruppe über 81 Jahren ist mit 23,26 % noch stark vertreten. Den Hinweisen auf einen in den Städten bereits vollzogenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturwandel von einer vorindustriellen unmittelbar in eine postindustrielle Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft, der eine nach wie vor überwiegend agrarwirtschaftlich und infrastrukturell vormodern angeordnete ländliche Region gegenübersteht, entsprechen auch die Bildungs- und die Berufsgruppenverteilung der befragten Personen. In beiden Metropolen haben ohne nennenswerte Unterschiede 27,8 % immerhin die Grundstufe der Mittelschule (insgesamt 9 Schuljahre) abgeschlossen, weitere 43,3 % können nach 12 Schuljahren einen Mittelschulabschluß aufweisen, der sie zur Teilnahme an den Aufnahmeprüfungen für die Hochschulen berechtigt, 22,1 % einen B.A.-Abschluß an einer Hochschule oder Fachhochschule und 1,7 % verfügen über einen Masterabschluß. All das unterstreicht die gewachsene Bedeutung von Wissen und Information in den Städten. Dagegen ergaben sich in den ländlichen Regionen ganz andere Werte. Dort finden sich, zumeist unter der älteren Bevölkerung, fast 10 % Analphabeten, eine Quote, die in einigen abgelegenen Dörfern noch sehr viel höher liegt. Weitere 22,5 % sind über die 6 Pflichtjahre
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der Grundschule und 36,8 % über die Grundstufe der Mittelschule nicht hinausgekommen. 700
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1. Analphabeten oder nur geringe Bildung: 1,5 %; 2. Grundschule: 3,6 %; 3. Unterstufe der Mittelschule: 27,6 %; 4. Mittelschule oder Berufschule: 43,1 %; 5. B.A.: 22 %; 6. Master oder höher: 1,7 %
Bildungsverteilung im urbanen China Immerhin ein Viertel der Befragten hat einen Mittelschulabschluß und, zumeist Techniker in den Fabriken oder Absolventen der landwirtschaftlichen Fachhochschulen, durch die sich ein allmählicher Wandel von einer ursprünglichen Handarbeit zu technisierten Produktionsformen andeutet, weisen zu 5,7 % einen B.A.-Abschluß auf. Höhere Bildungsabschlüsse, welche über die Technisierung in der landwirtschaftlichen Produktion und einige industrielle Ansiedlungen hinaus auf einen grundlegenden Strukturwandel der ländlichen Gemeinden hin zu einer spätmodernen Gesellschaftsform, wie sie die Städte inzwischen dominiert, verweisen würden, kommen nicht vor. Diese Ergebnisse verweisen bei mehr oder weniger kongruenten urbanen Prozessen der Arbeitsentwicklung und der Informations- und Kommunikationsstrukturen zugleich auf eine bemerkenswerte Spannung innerhalb der ruralen chinesischen Gesellschaft. Sie bildet sich zwischen den vor- oder frühmodernen Produktionsprozessen und den auf dem Lande inzwischen angekommenen spätmodernen Informationsformen, vor allem des Fernsehens. Deren Erscheinen hat die im allgemeinen angenommene historische Kontinuität
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technischer Entwicklungen und deren Gleichzeitigkeit mit denjenigen von Gesellschaft, Ökonomie und Kultur aufgehoben. 500
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1. Analphabeten oder nur geringe Bildung: 9,6 %; 2. Grundschule: 22,3 %; 3. Unterstufe der Mittelschule: 36,3 %; 4. Mittelschule oder Berufschule: 24,9 %; 5. Hochschule (B.A.): 5,6 %
Bildungsverteilung im ruralen China Statt dessen stellen sie eine Gleichzeitigkeit dessen her, was die populären ›westlichen‹ Medien in aller Regel als »Tradition und Innovation« beschreiben, um damit die gesamte chinesische Gesellschaft klischeehaft zu charakterisieren. Diese scheinbare Divergenz zwischen archaisch anmutenden Lebens- und Arbeitsstrukturen auf der einen, teilweise spätmodernen Unterhaltungs- und Kommunikationsformen auf der anderen Seite verweist auf kulturelle Dispositionen der Nutzung und Wahrnehmung der neueren Medien, die sich von denen in der früh industrialisierten westlichen Welt in vielem unterscheiden. Dies wird durch die Berufsgruppenverteilung zusätzlich unterstrichen. Demnach ist die Hälfte der ruralen Bevölkerung in der Landwirtschaft und sind 18 % als Schüler, 8,4 % als Arbeiter in den industriellen Fertigungsstätten und 4 % als Selbständige überwiegend im Einzelhandel tätig, während weitere Berufsfelder kaum ins Gewicht fallen. Deutlich heterogener fällt die Verteilung in den Städten aus. Auch hier zeigen sich nur marginale Unterschiede zwischen Peking und Shanghai, wo sich die Bevölkerung zwischen 63,2 % Bewohnern der Innenstadtbereiche, 20,4 % Bewohnern von Außenbezirken und 14,8 % der 72
NUTZUNGSANORDNUNGEN I
Vororte aufteilt. Damit haben chinesische Städte – nicht zuletzt durch das enorme Gefälle zwischen urbanem Raum und dem bis in die entlegenen Vororte der Metropolen hineinragenden ländlichen China – gegenüber den verkehrstechnisch und infrastrukturell besser ausgestatteten Städten und ländlichen Außenbezirken Europas eine deutliche Gewichtung aller infrastrukturellen Entwicklungen zunächst noch zugunsten der Zentren aufzuweisen, wie sie für die Ballungsräume der meisten Entwicklungsländer signifikant ist. 700
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1. Spezialisten und Techniker: 6,1 %; 2. und 3. keine Geschäftsführer und Abteilungsleiter; 4. Angestellte: 3,2 %; 5. Arbeiter: 8,4 %; 6. Dienstleistung: 2,7 %; 7. Bauern: 48,8 %; 8. Selbstständige: 3,9 %; 9. Unternehmer: 1,4 %; 10. ohne Beruf: 2,0 %; 11. Rentner: 1,9 %; 12. Schüler: 17,9 %; 13. Studenten: 1,1 %; 14. andere Berufe: 2,2 %
Berufsgruppenverteilung im ruralen China Sie verschiebt sich in China allerdings deutlich schneller als in zahlreichen Städten Südostasiens und Südamerikas zugunsten der sowohl in Peking als auch in Shanghai derzeit in großer Menge entstehenden und mit Autobahn und Schienenverkehr an die Innenstädte angebundenen Luxus-Vorstädte und deutet damit auf das Entstehen einer zusehends an sozialer Relevanz gewinnenden bürgerlichen Mittelschicht. Während in den Städten die Arbeiterschaft trotz Strukturwandels noch immer 25,4 % der berufstätigen Bevölkerung ausmacht und die Bauern, die zweite große Stütze der ehemaligen sozialistischen Politik, noch mit immerhin 9 % vertreten sind, zeigt sich der Wandel dort im aufstrebenden Spezialistentum mit inzwischen 11,4 % Technikern und einem an Gewicht gewin73
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nenden Sektor von Handel und Dienstleistung. Dies unterstreicht die unübersehbare Abwendung vom einstigen Bauern- und Arbeiterstaat und die Annäherung an eine spätmoderne Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft. Sie begründet jene Mittelschicht, die in ihren Berufen zumeist in hohem Maße abhängig ist von Information und in ihrer Freizeit die notwendige Bildung und Finanzkraft für die Teilnahme an den Informationsmedien vorweisen kann. Im Vergleich wird sich zeigen, inwiefern diese Entwicklungen und Verschiebungen auch für die Mediennutzung und -wahrnehmung von Bedeutung sind. 400
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1. Spezialist und Techniker: 11,4 %; 2. Geschäftsführer: 4,5 %; 3. Abteilungsleiter: 5,3 %; 4. Angestellte: 7,1 %; 5. Arbeiter: 25,3 %; 6. Dienstleistungsangestellte: 6,9 %; 7. Bauern: 9,0 %; 8. Selbstständige: 1,1 %; 9. Unternehmer: 0,5 %; 10. ohne Beruf: 4,9 %; 11. Rentner: 9,5 %; 12. Schüler: 6,2 %; 13. Studenten: 7,0 %; 14. andere Berufe: 1,1 %
Berufsgruppenverteilung im urbanen China Erhebliche Unterschiede zwischen Stadt und Land zeigen sich auch bezüglich der Größe der befragten Haushalte. In Peking und Shanghai hat sich mit 54,3 % Drei-Personen-Haushalten und einer Generationen-Verteilung von 8,1 % (1 Generation) zu 63,6 % (2 Generationen) zu 26,9 % (3 Generationen) inzwischen deutlich die Politik der Ein-Kind-Familie genauso wie die Trendwende zu einer Individualisierung der Gesellschaft durchsetzen können. In diesem Zusammenhang kam es zur Herausbildung einer neuen, sich von ehemaligen kollektiven Strukturen der Familie und Einheit (Danwei ऩԡ) loslösenden, dabei neue í etwa medial definierte virtuelle í Gemeinschaften herausbildenden Öffentlichkeit. Da74
NUTZUNGSANORDNUNGEN I
gegen haben die Haushalte auf dem Lande den Bruch in der Familienpolitik unter Mao Zedong nur bedingt umgesetzt. Sie teilen sich auf zwischen Zwei-Generationen-Haushalten (55,8 %) und Drei-GenerationenHaushalten (35,2 %) sowie zwischen solchen von 3 (23,3 %), 4 (32,6 %) und 5 (21,8 %) Mitgliedern, wobei immerhin 9,4 % gar 6 Mitglieder haben, die sich in aller Regel einen Fernseher teilen. Genauso wie Alter und Bildungsstand, Beruf und Haushaltszusammensetzung nehmen nicht zuletzt auch die physische Mobilität und die außermediale Welterfahrung der Befragten erheblichen Einfluß auf deren Medienverhalten und Wahrnehmungsfähigkeit medialer Formationen und Inhalte. Signifikant zu beobachten ist auch hier der Unterschied zwischen Stadt und Land, der in vielerlei Hinsicht die operationale Binarität dieser Untersuchung zwischen urbanem und ruralem China rechtfertigt, ohne damit die bei einer Reise durch das Land und bei Gesprächen mit der Bevölkerung offensichtlich werdenden regionalen und lokalen Ausdifferenzierungen negieren zu wollen. 1000
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Größe der Haushalte im urbanen China (Personen) Das Leben in Städten wie Peking oder Shanghai ist 25 Jahre nach der Einführung von Deng Xiaopings Modernisierungspolitik (1978) und mehr als ein Jahrzehnt nach der weitgehenden wirtschaftlichen Liberalisierung und Öffnung der Märkte (1992) im Hinblick auf die Lebensqualität und die Möglichkeiten von Information und Unterhaltung weithin vergleichbar mit demjenigen in den postindustriellen Städten Europas und 75
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Nordamerikas. Ungeachtet einer nach wie vor scharfe Zensur ausübenden zentralistischen Informationspolitik haben die Modernisierungsbestrebungen, welche insbesondere auch den kommunikations- und informationstechnischen Sektor betreffen, dazu geführt, daß der Zugang zu Informationen für eine gebildete und zahlungskräftige urbane Bevölkerung selbstverständlich geworden ist. Sie ist über Telephon- und Internetleitungen genauso mit der äußeren Welt verbunden wie über Zeitschriften und das Fernsehen mit seinen í legalen í Hongkonger und teilweise illegal über Satelliten empfangenen US-amerikanischen, taiwanesischen und britischen Kanälen. Das bedeutet, daß sie kaum noch wirklich regulierbar ist. 500
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Größe der Haushalte im ruralen China (Personen) Hinzu kommt die Modernisierung der Stadtbilder selbst. Sie sind inzwischen teilweise weit jenseits ihrer chinesischen Wurzeln zu Zitaten und bedeutungstragenden Teilen einer globalen und zugleich lokale Charakteristika herausprägenden Kultur geworden, in der sich jeder ihrer Bewohner mit weitaus größerer Freiheit (und Identitätsunsicherheit) als jemals zuvor individuell selbst zu definieren hat. Die Bezugsgröße China spielt dabei ungeachtet der nationalistischen Informationspolitik der Regierung eine rasant abnehmende Rolle insbesondere bei der jüngeren Bevölkerung. Sie ist aber, wie die Fragen zur Wahrnehmung zeigen werden, überraschenderweise deutlich höher anzusiedeln als bei der ruralen Be76
NUTZUNGSANORDNUNGEN I
völkerung Chinas. Bei den befragten Menschen dieser Städte hatten immerhin 10 % bereits eine oder (die Hälfte davon) mehrere Auslandsreisen hinter sich gebracht, wobei insbesondere Hongkong, Japan, und angrenzende asiatische Länder, die USA und europäische Staaten (darunter vor allem Großbritannien und Deutschland) sowie Australien als Reiseziele genannt wurden. Bei 35 % der Auslandsreisen handelte es sich um ein- oder mehrjährige Aufenthalte zu Studien- oder Arbeitszwecken. Bei dieser Gruppe kann von einer über das Touristische hinausgehenden Erfahrung und Kenntnis anderer kultureller und gesellschaftlicher Systeme ausgegangen werden, welche sich, wie noch zu zeigen sein wird, ihrerseits auf ihre kulturelle Selbstkonstruktion und die Wahrnehmung medialer Inhalte und Apparaturen auswirkt. Missing Auslandsreise(n)
keine Auslandsreise
Reiseerfahrung urbaner Chinesen Blickt man dagegen in die ruralen Untersuchungsgebiete, so bietet sich ein ganz anderes Bild. Weitgehend abgeschnitten von den Modernisierungsprozessen, die Städte wie Peking und Shanghai binnen kürzester Zeit aus einer frühindustriellen Phase in eine spätmoderne Informationsund Wissensgesellschaft katapultiert haben, sind sie, wie bereits die Erwerbsstrukturen gezeigt haben, in ihren dörflichen Strukturen und Lebensweisen trotz einiger industrieller Ansiedlungen teilweise auf einem vor- oder frühmodernen Stand stehen geblieben. Dieser kollidiert auf die eine oder andere Weise mit den in den meisten Kreisen í auf geringerem Niveau í durchaus verfügbaren Kommunikations- und Medientechniken. Dies begründet interessante neue Wahrnehmungsanordnungen, die sich
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grundlegend von denjenigen in Gesellschaften unterscheiden, welche in allen ihren Entwicklungsschritten auf eine lineare, unmittelbar aufeinander Bezug nehmende und sich gegenseitig begründende industriell-wirtschaftliche, sozial-kulturelle und kommunikationstechnische Entwicklung zurückblicken können. in der Provinz Missing
in China
Reiseerfahrung ruraler Chinesen Bei den Bewohnern des ländlichen China, die zudem anders als die Bewohner der weltoffenen und von unzähligen Touristen, Diplomaten, ausländischen Firmenvertretern und Handelsreisenden bevölkerten Metropolen Chinas nur in den seltensten Fällen bereits selbst Kontakt zu ausländischen Besuchern hatten, hat sich die Frage nach Auslandsaufenthalten und damit nach unmittelbaren Kontakten mit fremden Kulturen nicht gestellt. Vielmehr haben 38,8 % der Befragten niemals auch nur ihr eigenes Dorf verlassen und dort damit ein Leben geführt, das sich nur durch wenige technische Fortschritte in den Arbeitsabläufen und Haushaltsführungen, demgegenüber aber durch die Verbindung zur Außenwelt, welche die Medien virtuell ermöglicht haben, von demjenigen unterscheidet, welches ihre Vorfahren Jahrhunderte lang geführt hatten. Dabei sind selbst die immerhin 59,6 % derjenigen Befragten, die bereits aus ihren Dörfern herausgekommen sind, nicht häufig weiter als bis in die nahen Städte mit ihren verbesserten Ausbildungsmöglichkeiten, selten in die
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jeweiligen Provinzhauptstädte und nur in den wenigsten Fällen in moderne Metropolen wie Peking, Shanghai oder Kanton gelangt. Schlüsselt man diese Statistiken zusätzlich nach Alters- und Geschlechterverteilung auf, dann zeigt sich deutlich, daß die ländliche Bevölkerung nach wie vor überwiegend eine Verteilung aufweist, wie sie aus der ursprünglichen handarbeitlichen Akkumulation hergeleitet werden kann. Das bedeutet einen hohen Anteil gering gebildeter, in der Landwirtschaft, dem Rohstoffabbau oder in der Maschinenproduktion tätiger männlicher Arbeiter und Bauern mittleren Alters, die zugleich einen hohen Prozentsatz aus dem Erwerbsleben ausgeschiedener älterer Angehöriger sowie í ebenfalls in der Landwirtschaft und in den Haushalten tätiger í geringgebildeter Frauen versorgen. Dagegen wandert die nachfolgende Generation junger Auszubildender und Erwerbstätiger zu großen Teilen in die urbanen Ballungsräume ab. Für sie ist eine Rückkehr in die landwirtschaftliche Produktion und in das Leben in den strukturschwachen Regionen zumeist kaum noch attraktiv. In den Städten indes findet sich eine nahezu gleiche Geschlechtsverteilung und eine í mit abnehmendem Alter immer bessere í Ausbildung sowie ein zunehmendes Spezialistentum in technischen Berufen und solchen der Dienstleistungs-, immer mehr aber auch der Informationsgesellschaft. Diese bietet einer gut ausgebildeten nachwachsenden auch ländlichen Generation die Verheißung eines Lebens jenseits der harten körperlichen, dabei schlecht bezahlten Arbeit in Landwirtschaft und Produktion und jenseits der an Unterhaltungsmöglichkeiten armen ländlichen Dorfeinheiten. Dazu gehört freilich auch das Schreckgespenst von zunehmender Erwerbslosigkeit und mangelnder sozialer Sicherung, das auf dem Lande noch teilweise durch enge innerfamiliäre und innerdörfliche Strukturen aufgefangen wird. Betrachtet man die chinesischen Bevölkerungsstatistiken und die Befragungsergebnisse dieser Untersuchung und vergleicht diese mit den Bildern, welche die untersuchten Städte und Dörfer mit ihren Haushalten sowie die befragten Menschen und ihre Lebensumstände und Lebensweisen abgeben, so bestätigt sich alles in allem die grundlegende Annahme und operationale Voraussetzung dieser Untersuchung. Diese geht ja zum einen von einer extremen Heterogenität der chinesischen Medienteilnehmer aus. Sie räumt diesen zum anderen aber auch weitgehend übereinstimmende soziale Prägungen und ein durch Überlieferung und ein über Jahrhunderte und die unterschiedlichsten Regierungssysteme hinweg konstant gebliebenes institutionelles Staatsmodell ein. Dieses weist Kommunikationsformen auf, welche in einem rasanten, die Städte auf ganz andere Weise als das strukturschwache Land erfassenden Wandel 79
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von vormodernen zu postindustriellen Strukturen der Wissens- und Informationsgesellschaft begriffen sind. Dabei werden die neueren Medien zwar in aller Regel rasch und problemlos angeeignet. Sie vermögen ihre eigenen Anordnungen dabei aber nicht gänzlich an die Stelle der vormodernen Strukturen zu stellen. Vielmehr werden sie von den Medienteilnehmern auf die eine oder andere Weise in jene integriert und nehmen damit eine (Dis-)Position ein, in der sie das herkömmliche Modell kraft ihrer massenmedialen Strukturen zunächst gar zu stützen vermögen, um es, aber auch sich selbst, dabei in unaufhörlicher Aktualisierung und Interaktion immer weiter zu verändern und dabei langfristig etwas Neues herauszubilden. Dieses entspricht weder dem einen noch dem anderen, wird aber immer die Spuren von beidem in sich aufweisen. In dieser Weise entstehen neue gesellschaftlich-kommunikative Formationen sowie sich verändernde Nutzungsweisen und Wahrnehmungsformen der Medien. Sie lassen sich bei aller regionalen und geosozialen Fragmentierung grundlegend in die gesellschaftliche Binarität zwischen Stadt und Land unterteilen, die wiederum ein Phänomen der unterschiedlich forcierten Entwicklung Chinas unter der Herrschaft der KPCh darstellt. Nicht also die Zugangsmöglichkeiten zum Fernsehen und den neueren Medien selbst bestimmen dessen Nutzungs- und, wie sich in den weiteren Untersuchungen bestätigen wird, auch seine Wahrnehmungsanordnungen. Zugang zum Fernsehen ist in China bei nahezu allen Haushalten unabhängig von dieser Zweiteilung mittlerweile flächendeckend vorhanden, so daß ein Vergleich zwischen einer Vor-Fernseh-Wahrnehmung und einer durch das Fernsehen dominierten Erkenntnis von Realität jenseits einer lokalen, nicht medial gefilterten Betrachtung inzwischen historisch ist. Statt dessen rücken die gravierenden Unterschiede zum einen der persönlichen Lebensumstände und der infrastrukturellen Bedingungen und Bildungs- wie Arbeitsverteilungen, zum anderen der í eng damit zusammenhängenden í Informations- und Unterhaltungsmöglichkeiten jenseits des Fernsehens in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Letzten Endes sind sie es, welche die Wissensdiskurse und die Bedeutungsanordnungen herstellen, in die sich die Nutzung und Wahrnehmung des Fernsehens einzufügen hat, denen das Fernsehen aber immer auch selbst einen machtvollen eigenen Stempel aufdrückt. So bestätigt sich bei einer genaueren Betrachtung des Publikums, das in zahlreichen Studien ja immer wieder homogenisiert und auf eine passive, vom übermächtigen Staatsfernsehen manipulierte Empfängermasse reduziert worden ist, daß die Wissens- und Bedeutungshorizonte des Fernsehens in China nicht in erster Linie über dessen Programminhalte, sondern vielmehr über seine technischen Arrangements und seine 80
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Nutzungs- und Wahrnehmungsanordnungen, also seine Struktur zu begreifen sind. Diese formieren sich in einem sich unaufhörlich aktualisierenden Wechselspiel zwischen der Gesellschaft mit ihren Institutionen, dem Individuum und schließlich der Kommunikation mitsamt den Medien, durch welche sich deren Anordnungsbedingungen formieren und die í jede Wahrnehmung ganz entscheidend mitbedingende í sprachliche Konsensfähigkeit herausbilden, durch welche jegliche Kommunikation und somit auch jegliche Bildung von Gemeinschaft und Identität erst möglich werden. In diesem Sinne soll im folgenden der Blick zunächst auf grundlegende Tendenzen der Tages- und Freizeitgestaltung in den untersuchten Räumen gerichtet werden. Anschließend sind die Formationen der Herstellung und Kommunikation von Wissen und Bedeutung zu betrachten, innerhalb derer sich die traditionellen und die apparativen Medien verorten.
Freizeit, Unterhaltung, Kommunikation Das tatsächliche Freizeit- und Kommunikationsverhalten ist selbstverständlich vor allem abhängig vom jeweiligen Angebot und dessen Anordnungsstrukturen, aus denen heraus alle Bedürfnisse geweckt und Nutzungsentscheidungen getroffen werden. Zwar werden die Sinnstrukturen der Medien- und Konsumangebote in ihrer Nutzung und Wahrnehmung nicht reproduziert. Dennoch findet in der Anwendung der Medienapparaturen immer eine Wiederholung derselben statt í eine Wiederholung, so wie Gilles Deleuze sie als Aneignung und Aktualisierung des Angebotes verstanden hat. Dabei werden auch die sozial-kulturelle Situation der Mediennutzer und die gesellschaftlichen Dispositionen selbst zu einem Teil des materiellen Ausgangspunktes der Mediennutzung und Medienwahrnehmung. Blickt man auf die institutionalisierten gesellschaftlichen Bedingungen der Medienaneignung in China, so ergeben sich aus den sehr unterschiedlichen Zeitstrukturen des Arbeitslebens bei der städtischen und der überwiegend bäuerlichen ländlichen Bevölkerung auch gänzlich verschiedene Muster des Freizeitverhaltens und der Informationsaufnahme. Die Ausstattung der Haushalte und deren Zugang zu Informationen und Freizeiteinrichtungen innerhalb Pekings und Shanghais stimmen demnach weitgehend überein. Auch die untersuchten Dörfer in Hebei, Shanxi und Hainan haben in dieser Hinsicht untereinander nahezu gleiche Werte. Dagegen ist der Unterschied zwischen diesen beiden Einheiten von Stadt und Land signifikant. So sind 89,7 % der städtischen Haus81
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halte mit Tageszeitungen, 67,3 % zusätzlich mit Zeitschriften und Magazinen, 73,5 % mit einem Radio, aber nur 38,3 % mit einer Musikanlage und 26 % mit einem Computer ausgestattet. 93,1 % der Befragten verfügen über ein Fernsehgerät, 81,3 % über Kabelfernsehen und 18,9 % über Satellitenfernsehen. Letzteres ist nach wie vor nur in genehmigten Ausnahmefällen legal; so etwa in Hochschulen oder Regierungshaushalten, bei denen die Empfangsanlagen zumeist für unerwünschte ausländische Programme wie CNN, VOA oder Free Taiwan TV gesperrt und nur für regierungskonforme Anbieter wie die Hongkonger Sender Phönix TV (Fenghuang ߄ৄ) oder Star TV freigegeben sind. Mit 47,2 % verfügt nahezu die Hälfte aller urbanen Haushalte über einen eigenen Videorecorder und noch immer 53,4 % über die in China beliebte Video CD. Diese wird allerdings allmählich durch die leistungsfähigere und auf dem lebendigen Raubkopiermarkt durch ihre höhere Speicherkapazität auch preiswertere DVD (6,9 %) und wohl bald auch durch deren auf den Markt drängenden Nachfolger abgelöst.
DVD VCD
Tageszeitung
Videorecorder
STV
Magazin
KTV Radio
Musikanlage
Fernsehgerät
Computer/Internet
Medienausstattung der Haushalte im urbanen China Vergleicht man die urbanen Daten zur Medienausstattung mit den Erhebungen auf dem Lande, dann zeigen sich prägnante Unterschiede. Dort verfügen nicht mehr als 45,6 % der Haushalte über eine Zeitung, von denen die meisten zudem thematisch kaum mehr als den eigenen Bezirk und die wichtigsten politischen Nachrichten der staatlichen Agentur Xinhua ᮄढ abdecken. Nicht mehr als 39,9 % haben darüber hinaus Zu-
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griff auf Zeitschriften und Magazine, während 50,7 % über einen Radioempfänger verfügen. 19,7 % der Haushalte haben eine Musikanlage und nicht mehr als 5,3 % einen Computer. Dagegen erweist sich mit 84,4 % der Fernseher als das wichtigste Medium der Unterhaltung und Information. Allerdings haben nur 36,9 % Kabel- und nicht mehr als 5,4 % Satellitenempfang und verfügen nur 14,9 % über einen Videorecorder und 27,3 % über Video CD, während mit 8,1 % der Anteil an DVD dort gar höher ist als in den Städten. DVD VCD
Tageszeitung
Videorecorder STV Magazin KTV
Radio
Fernsehgerät Musikanlage Computer/Internet
Medienausstattung der Haushalte im ruralen China Was das für die Vielfalt an Informationen und deren konkrete Nutzung bedeutet, zeigt ein Blick auf die Empfangsmöglichkeiten von Fernsehprogrammen. Bei der Gesamtzahl der Programme in den mit flächendeckenden Kabelnetzen ausgestatteten und inzwischen längst auch an der Digitalisierung der Sendetechnik feilenden Städten bildet sich ein Mittelwert von zwischen 20 und 25 empfangbaren Sendern. Auf dem noch immer überwiegend terrestrisch an das Sendenetz angeschlossenen Lande indes reduziert sich das auf nicht mehr als 5 bis 10 Programme. In vielen abgelegenen Dörfern können sogar nicht mehr als ein bis zwei Programme empfangen werden. Ausländische Sender, womit hier wie dort vor allem die für den chinesischen Markt zugelassenen Hongkonger Programme Phoenix und, weniger, das überwiegend in englischer Sprache sendende Star TV gemeint sind, können in den Städten 11,8 % der Befragten empfangen, auf dem Lande nur 3,2 %.
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DAS CHINESISCHE FERNSEHPUBLIKUM
Blickt man zudem auf die Arbeits- und Freizeitanteile in den unterschiedlichen Strukturregionen Chinas sowie auf die konkreten Anteile der Medien und des Fernsehens an der Freizeit im Jahresrhythmus und im Alltag der Befragten, dann ergibt sich ein noch genaueres Bild. Die Alltagseinteilung ermöglicht den Menschen eine (abzüglich Arbeit, Schlafen, Körperpflege und Haushalt) freie Zeit von in den Städten durchschnittlich etwa dreieinhalb Stunden täglich. 140
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Empfangbare TV-Kanäle im urbanen (oben) und ruralen China
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NUTZUNGSANORDNUNGEN I
Dabei liegen die Spitzen zwischen 2 (25,4 %), 3 (20,6 %) und 4 Stunden (18.7 %). Damit entsprechen sie in etwa dem Alltag der Bewohner europäischer oder nordamerikanischer Metropolen, deren Entwicklungsstand, Arbeitsstrukturen und Alltagsdispositionen sie weitgehend erreicht haben. 400
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Tägliche Freizeitanteile im urbanen China Dieselbe Frage ist für die Landbevölkerung sehr viel schwieriger zu beantworten. Dort ist, insbesondere bei der bäuerlichen Bevölkerung, der Alltag noch sehr viel mehr durch die natürlichen Gesetzmäßigkeiten der Jahreszeiten, des Wetters und der Viehwirtschaft geprägt als unter den auf industriellen und spätindustriell standardisierten, zusehends durch den Dienstleistungs- und Informationssektor geprägten gesellschaftlichen Dispositionen Pekings und Shanghais. Zwar liegen auch dort die Spitzen bei 2-3 täglichen Stunden Freizeit. Dabei handelt es sich allerdings um sehr viel beweglichere Werte, wie der Blick auf die freien Tage im Jahresrhythmus zeigt. So finden sich hier die Spitzen vor allem in den landwirtschaftlich arbeitsärmeren Wintermonaten, in denen, während die Saat- und Erntemonate kaum Freizeit ermöglichen, ganze Wochen und Monate ohne nennenswerte Arbeitstätigkeiten überwiegend der freien Zeit zuzurechnen sind. So liegt die Spitze freier Tage dort bei etwa 130 aufeinanderfolgenden Tagen, während die städtische Bevölkerung zwar nur kurze Ferien mit in der Regel nicht mehr als zwei Wochen, dabei aber mit 67,6 % (zwei freie Tage) und 14,5 % (ein freier Tag, überwie-
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gend in Dienstleistung und Handel) insgesamt 82,1 % der Befragten regelmäßig freie Wochenenden haben und somit auf über 100 freie Tage im Jahr kommen. Bei den 10,8 % Nennungen 7 freier Tage wöchentlich indes handelt es sich überwiegend um die zunehmenden Gruppen von Rentnern und Arbeitslosen. 400
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Tägliche Freizeitanteile im ruralen China Dieselbe Frage nach einer Wocheneinteilung von Arbeits- und freien Tagen kann von einem Großteil der ländlichen Bevölkerung aus den genannten Gründen ihrer Arbeitsprozesse nicht sinnvoll beantwortet werden. Sie verschiebt sich weitestgehend auf die Jahresrhythmen zwischen landwirtschaftlicher Anbau- und Ruhephase. Mit der kaum voneinander abweichenden Summe, einer dabei aber stark divergierenden Verteilung der Freizeit zwischen der städtischen und der ländlichen Bevölkerung läßt sich im Zusammenhang mit den jeweils vorhandenen Freizeitangeboten auch deren konkrete Gestaltung beschreiben. Die Frage nach der Art der täglichen Freizeitgestaltung wird von der städtischen Bevölkerung wie folgt beantwortet: Der Kontakt zu Freunden und Bekannten steht bei 39,6 %, zu Verwandten bei 27,2 % in der Gunst, 22,6 % verbringen ihre freien Stunden mit sportlichen Aktivitäten, zu großen Teilen in Vereinen. Shopping und Spaziergänge werden von 35,6 % genannt, Kinobesuche von 11,4 % und der Besuch von Bars und Tanzlokalen von nur 4,1 %. 16,2 % verbringen ihre Freizeit teilweise mit Gesellschaftsspielen wie Mahjong, für 47,7 % ist Schlafen ein wichtiger Aspekt von Freizeit. Blickt man auf den Medienkonsum, dann zeigt sich, daß das un86
NUTZUNGSANORDNUNGEN I
ter Mao Zedong so wichtige Radio zwar noch immer eine beachtliche Rolle als Unterhaltungsmedium spielt, als Informationslieferant aber zusehends an Bedeutung verliert und in Nischen abwandert (39,8 %). Dagegen sind die Videotechniken und die damit verbundene selbstbestimmte Einteilung von Bildschirmkonsum bei einem Großteil der Bevölkerung noch nicht in vorderste Front gerückt. Sie gewinnen aber, vor allem bei der jungen Generation, immer mehr an Relevanz (35,9 %). andere Tätigkeiten Mahjong/Karten Verw andtschaft
Fernsehen
Schlafen Bars/Tanzlokale Kino
Video
Shopping etc. Radio Sport
Freunde
Musik
Zeitungen
Freizeitnutzung im urbanen China Wichtiger ist derzeit noch das Musikhören (51,3 %), die Erledigung von Arbeiten im Haushalt sowie der Konsum von Printmedien (Zeitungen, Zeitschriften und Bücher) mit 71,1 %, während das Fernsehen, wie erwartet, mit 91,4 % die absolute Spitzenstellung der Freizeitunterhaltung einnimmt. Der Blick auf die Gestaltung der Ferien bestätigt die Werte für das Freizeitverhalten. Diese werden auch von der städtischen Bevölkerung Chinas nur in wenigen Fällen zu Reisen genutzt. An ihrer Stelle stehen zunächst noch Tagesausflüge zu Freizeitparks und Sehenswürdigkeiten der näheren Umgebung, weniger der Besuch von Kultureinrichtungen, im Vordergrund. Dagegen erweist sich auch hier das Fernsehen mit 78,5 %, gefolgt von Musik hören und der Lektüre von Printmedien, als wichtigste Tätigkeit. Nur in wenigen, aber äußerst aussagekräftigen Punkten zeigen sich bei der Befragung nach dem Freizeitverhalten auf dem Lande andere Werte als in den Städten. Demnach nimmt auch dort das Fernsehen mit 90,1 % die unangefochtene Spitzenstellung ein. Dem folgt aber, und dar87
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an zeigen sich die nach wie vor vorhandenen traditionellen Strukturen des Lebens in den Dörfern, der Besuch von Freunden (58,3 %) und Verwandten (18,7 %) auf dem Fuße. Während hier zudem der geringe Konsum von Printmedien zum einen auf die hohe Illiterarizität und den erschwerten Zugang zu Zeitungen, Zeitschriften und Büchern, zum anderen auf den körperlich anstrengenden Alltag mit einem erhöhten Erholungsbedürfnis deuten und der geringe Anteil von Musikkonsum auf die unterschiedlichen Alters- und Arbeitsstrukturen zwischen Stadt und Land verweist, zeigen sich bei anderen Tätigkeiten gegenüber den Städten unauffälligere Werte: Video 22,6 %, Radio 25,9 %, Sport 11,5 %, Shopping und Spaziergänge 16,6 %, Besuch von Bars und Tanzlokalen 2,7 %, Gesellschaftsspiele, auch hier vorwiegend Karten und Mahjong, 23,4 % und das hier wie dort wichtige Schlafen 49,8 %. Diese Daten lassen sich weitgehend auf die freien Tage im Jahresrhythmus übertragen, ergänzt um die Arbeiten im Haushalt (50,2 %), während hier, anders als in den Städten, die kaum vorhandenen Freizeitparks (3,9 %) keine Rolle spielen. andere Tätigkeiten Mahjong/Karten Verwandtschaft Fernsehen
Schlafen
Bars/Tanzlokale Video Kino Shopping etc. Radio
Sport
Musik
Freunde
Zeitungen
Freizeitnutzung im ruralen China Das Bild, welches sich durch diese Befragungsergebnisse ergibt, verweist, auch bei der Reihenfolge der Freizeitgestaltung und der Informationsträger, auf eine deutliche Dominanz des Fernsehens gegenüber allen Mitkonkurrenten. Bei der Betrachtung von Stadt und Land zumindest besteht auf der Ebene des Fernsehkonsums ein nur geringer Unterschied im Hinblick auf die Zugangsmöglichkeiten zum Fernsehen selbst sowie in
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der Nutzungsdauer und -frequenz desselben. Sehr viel mehr als dieser fällt indes der Blick auf die jeweiligen Kontexte der Fernsehnutzung ins Gewicht. Hier zeigt sich in den Städten eine deutlich ausgewogenere Situation sowohl im Hinblick auf die Freizeitangebote und deren Nutzung wie auch im Hinblick auf andere Medien, die mit dem Fernsehen konkurrieren. Zugleich bilden diese aber auch gemeinsam eine auf gegenseitigen Verweisen beruhende, ihre Inhalte dadurch zusätzlich legitimierende Informationskette. Fügt man diesen Werten die bereits genannten Bildungs- und Berufsstrukturen der Bevölkerung in den Untersuchungsräumen hinzu, aus denen sich die Vielfalt der Aktivitäten der Freizeitgestaltung und das Interesse an Informationen maßgeblich prägen, und stellt man diese gemeinsam den í an anderer Stelle bereits untersuchten4 í Daten zur Fernseh- und Medienlandschaft mit ihren technischinfrastrukturellen und ihren inhaltlich-ästhetischen Angeboten gegenüber, dann läßt sich daraus ein relativ geschlossenes Bild der Freizeitgestaltung und Mediennutzung im urbanen und ruralen China zeichnen. Die zuallererst auf der Hand liegende und für die anschließend zu untersuchenden Wahrnehmungsbedingungen zwischen traditionellen und spätmodernen Wissensformationen weit tragende Erkenntnis dabei ist diejenige, daß in China, genauso wie in den ›westlichen‹ Industrienationen, der Medienkonsum insgesamt zur wichtigsten Freizeitbeschäftigung geworden ist. Als solche bestimmt er in einer Gesellschaft, die zugleich ein zunehmendes Spezialistentum aufweist und Wissen somit zu einem Zugangskriterium für Macht und sozialen Status (wie nicht zuletzt für die Flucht vom Lande in die prosperierenden Städte) gemacht hat, zugleich den inzwischen in einigen Regionen erreichten Status Chinas als spätmoderne Informationsgesellschaft.5 Diese charakterisiert sich dort durch die spezifische Situation des Aufeinandertreffens von in Wirklichkeit überwiegend rural-frühmodernen Arbeits- und Lebensbedingungen und einer sich durch die neuen Informations- und Kommunikationstechniken flächendeckend ausbreitenden Medienkultur. Sie hat die globale Urbanisierung von Kultur aber auch im ländlichen China zu einer í wenn auch nur virtuellen í Realität gemacht und ist dort, ohne selbst materiell mit ihr in Berührung zu kommen, mit ihren Symbolen und Mythen zu einem integralen Bestandteil des individuellen und kollektiven Selbstverständnisses der Menschen geworden.
4 5
Stefan Kramer: Vom Eigenen und Fremden. a.a.O. Zur Prägung und Definition des Begriffs der Informationsgesellschaft vgl. Manuel Castells: Das Informationszeitalter. 3 Bd., a.a.O.
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Als Informationsgesellschaft, die als geschlossen und im Ganzen betrachtet wird, zeigt China in den Anordnungsbedingungen seiner Nachrichtenproduktion und -verbreitung eine weitgehend hegemonial hergestellte nationale Formierung von monosemischen Unterhaltungs- und Wissensangeboten. Sie werden innerhalb der jeweiligen lokalen Kontexte ihrer Ausstrahlung genutzt. Dabei haben sie sich in die Alltagsgestaltung und -wahrnehmung der Menschen und Gemeinschaften in China eingeschrieben und diese mit gestaltet, oder aber sie werden selbst in gewisser Weise zu einem Teil der Arbeitsrhythmen der Menschen und bestimmen durch die Homogenität ihrer Anordnungsstrukturen wie ihrer Wissensinhalte dessen kollektives Selbstverständnis entscheidend mit. Dadurch entstehen í nationale í Brücken zwischen den kulturell und sprachlich teilweise sehr unterschiedlichen und auch geographisch weit gestreuten Gesellschaften und Regionen Chinas.
Bushaltestelle mit Fernsehempfang in Shanghai Die VR China hat sich ungeachtet der Spaltung ihrer industriell-ökonomischen Entwicklungsstufen zwischen spätmodernen urbanen und frühmodernen ruralen Lebenswelten längst als eine nationale Wissensund Informationsgesellschaft formiert. Darin hängt ein Zugang zu Informationen immer weniger von der Frage nach dem ›ob‹ als vielmehr zusehends von derjenigen nach dem ›wie‹ ab: Wie greife ich auf í weitgehend übereinstimmende í Informationen zu? Welche medialen Anordnungsbedingungen bestimmen die Form von deren Wahrnehmung, und 90
NUTZUNGSANORDNUNGEN I
wie verorte ich diese in welchen Kontexten meiner Umwelt und meines Selbstverständnisses? Zugleich verweist das Bild, welches die Nutzungsbedingungen der Medien in China zeichnen, aber auch auf jene unter dem gemeinsamen Deckmantel spätmoderner urbaner Medienkultur mittlerweile nicht mehr zu übersehende Spaltung der Gesellschaft. Sie ist mit der hier als operative Größe benutzten geosozialen Einteilung von Stadt und Land nur unzureichend beschrieben. Vielmehr stellt sie ein grundlegendes Phänomen des Entwicklungsprozesses in China dar, welcher eine Gleichzeitigkeit und auch räumliche Konzentration allen wahrgenommenen Seins auf den einen Ort und die eine Zeit des jetzigen Medienkonsums heraufbeschworen hat. Dies kennzeichnet im selben Moment mit der präsentierten Homogenität der chinesischen Nation auch eine längst räumlich wie zeitlich offene Gesellschaft, die sich als beweglich, extrem partikularisiert und genauso heterogen wie in ihren Selbstverständnissen und medialen Nutzungsformen polysemisch erweist.
Dorf im Kreis Xingtang, Hebei Die Diversifizierung der ehemals als Massengesellschaft sozialistischer Prägung am Reißbrett geplanten VR China unter dem Eindruck der neueren Medien bestätigt sich beim Blick auf die Aufteilung der Mediennutzung bei den Befragten. Demnach bezeichnen 54,1 % unter der urbanen Bevölkerung Pekings und Shanghais das Fernsehen als wichtigstes 91
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Medium ihrer Informationsgewinnung und sprechen sich immerhin noch 34,9 % für das Fernsehen als zweitwichtigstes und 7,2 % als drittwichtigstes Medium aus. Es konkurriert in den Metropolen vor allem mit dem vielfältigen Angebot an Tageszeitungen. Diese nennen 38,1 % der Befragten als wichtigstes, 45,2 % als zweitwichtigstes und 11,8 % als drittwichtigstes Informationsmedium. Neben Fernsehen und Zeitungen gelten Radio und Zeitschriften, die von den meisten Befragten vor allem an dritter und vierter Stelle genannt werden, als wichtige Referenzmedien. Dagegen wird das Internet mit 9,1 % an erster, mit 8,8 % an zweiter Stelle und mit jeweils knapp über 10 % an dritter, vierter und fünfter Stelle zwar í überwiegend von Jugendlichen und jungen Erwachsenen í in zunehmendem Umfang genutzt. Es hat allerdings aufgrund einer nach wie vor relativ schwachen Verbreitung in Privathaushalten, durch die die Mehrzahl der Nutzer auf öffentliche Zugänge in Hochschulen, Bibliotheken oder Internetcafes angewiesen sind, noch lange nicht den Stand der uneingeschränkt verfügbaren Medien Fernsehen und Zeitung erreicht. Während in den Städten die orale Kommunikation und der unmittelbare Kontakt scheinbar zusehends an Gewicht verlieren, haben diese auf dem Lande nach wie vor eine nennenswerte Bedeutung. Mit 11,3 % Nennungen an erster, 25,6 % an zweiter und jeweils etwa 10 % an dritter bis fünfter Stelle der Informationsgewinnung hat die Face-to-Face-Kommunikation ihre ehemals dominante Stellung aber inzwischen an das Fernsehen mit 71,8 % an erster und 16,6 % an zweiter Stelle abtreten müssen. Zum einen zeigt sich anhand der von den Befragten dokumentierten Bedeutungslosigkeit von Radio, Internet, Zeitschriften und anderen Medien, zu denen auch die in den Städten so wichtigen Zeitungen mit auf dem Lande nur 9,7 % an erster, 22,3 % an zweiter Stelle zählen, die dort unübersehbar schlechtere Infrastruktur und Versorgung der Bevölkerung mit Medientechniken und Informationen jenseits von Fernsehen und Radio. Zum anderen bestätigt sich der deutlich niedrigere durchschnittliche Bildungsstand auf dem Lande einschließlich einer hohen Illiterarität. Durch sie spielen dort die Printmedien und auch die Computer mitsamt dem Internet nach wie vor gegenüber ihrer hohen Bedeutung in den Städten eine relativ (Zeitungen) und tatsächlich (Internet mit nur jeweils ca. 1 % an erster bis fünfter Stelle) marginale Rolle. Dem gegenüber stehen relativ hohe Anteile an einer unmittelbaren mündlichen Kommunikation. Dies zeigt den teilweisen Erhalt von í in den Städten längst zugunsten hoher Mobilität, Individualität und Anonymität sowie indirekter Kommunikation aufgeweichten í vormodernen Strukturen des Zusammenlebens und der Kommunikation, die sich somit auf dem Lande weitgehend 92
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zwischen oraler Kommunikation zur Erlangung lokaler Informationen und dem Fernsehen zur Erlangung nationaler und internationaler Informationen aufteilt.
Dorf im Kreis Ledong, Hainan Auch bei der Beantwortung einer Frage nach der Befriedigung von Unterhaltungsansprüchen bestätigen sich diese Aussagen. Auch hier ist das Fernsehen in den Städten wie auf dem Lande deutlicher Favorit und ergibt sich dieselbe Reihenfolge wie bei der Frage nach den Informationsfavoriten. Auf dem Lande spielen die nachgefragten Möglichkeiten von Theater, Teehaus, Café oder Kino keine Rolle. Das allgemein zu verzeichnende allmähliche Sterben der Kinos scheint dort bereits weitgehend abgeschlossen zu sein. Seine Räumlichkeiten, zumeist die unter Mao Zedong errichteten Säle für Propaganda, Agitation und Massenunterhaltung, haben den beliebten Videospielsälen oder DVD-Hallen weichen müssen. Dagegen sieht die Situation in den Städten anders aus. Auch hier bestätigen sich zwar die Daten zur Informationsgewinnung und nimmt das Fernsehen mit 65,7 % die erste Stelle der Unterhaltung ein. Allerdings erweist sich das allgemeine Angebot an Medien und Unterhaltung hier als deutlich vielfältiger als auf dem Lande. Vor allem an der dritten und vierten Position der Nennungen nach dem Fernsehen und den Zeitungen haben Kinobesuche, aber auch Theater und Teehäuser, ihre Bedeutung noch nicht gänzlich verloren. Vielmehr haben sie durch 93
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Umstrukturierungsmaßnahmen und ihre post-staatswirtschaftliche unternehmerische Anpassung an die Unterhaltungsbedürfnisse einer zusehends mobilen und finanzkräftigen urbanen Jugend und jungen Erwerbstätigengesellschaft, wie sie erst in den 1990er Jahren politisch möglich wurde, eigene Nischen auf den vielfältiger werdenden Unterhaltungsmärkten zu schaffen vermocht.6 Insbesondere sind hier Computerspielhallen, Multiplex-Kinos und westliches Theater, die Renaissance der vorkommunistischen Traditionen im Bühnendrama und eine boomende Teehauskultur zu nennen andere Medien Internet
Zeitungen
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Radio
Fernsehen
Informationsmedien im urbanen China Faßt man die Antworten auf die Fragen nach der Nutzung von Informations- und Unterhaltungsangeboten zusammen, so ergibt sich als im Hinblick auf diese Untersuchung wichtigste Aussage, daß das Fernsehen unabhängig von der Unterscheidung zwischen urbanem und ruralem China mit großem Abstand die Funktion als Leitmedium und wichtigstes Mittel der Unterhaltung übernommen hat. Differenzen ergeben sich vor allem bei dessen unterschiedlicher Verortung im jeweiligen Alltag der Befragten sowie in einem allgemein zunehmenden, dabei aber zwischen Stadt und Land erheblich voneinander abweichenden Angebot an privaten und öffentlichen Mitbewerbern aus dem Medien- und Unterhaltungssektor. Diese avancieren zugleich zu gegenseitigen Referenzmedien. Sie 6
Allerdings nannten 76,5 % der städtischen Befragten bei der Frage danach, wo sie lieber Filme sähen, das Fernsehen gegenüber 23,5 %, die den Kinosaal bevorzugten.
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sind nicht als Einzelmedien sondern vor allem in ihren Verweisen und Anordnungen zueinander zu den entscheidenden Bedeutungsträgern einer ›glo/kalen‹ Medienkultur geworden, in deren multimedialen und polysemischen Anordnungen sich die hegemonial-nationalen Medienangebote Chinas mit ihren Homogenisierungsbestrebungen immer schwieriger zu behaupten wissen. Das Leitmedium und der wichtigste Produzent der diesen allen zugrunde liegenden medialen Anordnungsstrukturen, welche die Mediennutzung im Arbeitsalltag und Freizeitverhalten der Menschen mit determiniert, wie auch der Bilder, die sich als Realität in ihr Bewußtsein einschreiben und das individuelle wie kollektive Selbstverständnis prägen, ist das Fernsehen. Dieses gilt es im Folgenden anhand seiner materiell-medialen Aneignung und Verortung im Lebensrhythmus und Alltag seiner Nutzer sowie anhand seiner konkreten inhaltlich-ästhetischen Formate als Identitäten herausprägendes Wahrnehmungsdispositiv zu bestimmen, um es anschließend in die Raum- und Zeitstrukturen sowie in die Prozeßhaftigkeit der Individuen und Gemeinschaften Chinas einordnen zu können.
Kanäle der Information und Formationen des Wissens Der gegenwärtige Umbruch der kulturellen und medialen Systeme Chinas hatte seine Vorläufer bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Import des industriellen Buchdrucks, der darin aufgehenden Photographie sowie, um die Wende zum 20. Jahrhundert, mit der Einführung des Kinos. Diese modernen Mediensysteme haben zugleich eine mimetisch orientierte Form der Repräsentation in das sich bis dahin in seiner Schrift, Malerei und Bühnenkunst vor allem metaphorisch darstellende China getragen. Sie traten teilweise an die Stelle der vormodernen Verbreitungssysteme von Informationen. Sie verknüpften sich mit diesen, bekämpften sie und wurden von ihnen bekämpft. Dabei begleiteten sie die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen Chinas zwischen Tradition und Moderne, dem Eigenen und dem Fremden und nicht zuletzt zwischen alten und neuen Formen von Öffentlichkeit mitsamt der damit einhergehenden Frage nach dem Verhältnis zwischen Staat und Individuum ein ganzes Jahrhundert lang in prägender Weise. Die grundlegende Frage, welche die neuen Medien für das chinesische Selbstverständnis aufwarfen, war diejenige nach dem zukünftigen Weg Chinas. Er entschied sich zwischen der überlieferten multiperspektivisch und zyklisch ausgerichteten Kultur und Selbstwahrnehmung im 95
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Rahmen des sinozentrischen Universalismus auf der einen, einer linearen, binär denkenden und entwicklungsorientierten, die exakte Abbildung favorisierenden Kultur, wie sie die industrielle Moderne und deren Medienapparaturen und nicht zuletzt die Waffensysteme der Kolonialmächte nach China gebracht hatten, auf der anderen Seite. Der Streit um die Dispositionen der Kommunikation steht damit stellvertretend für den selbst binären Wettkampf Chinas um seinen Weg in die Zukunft, wie er bis in die 1980er Jahre hinein alle Auseinandersetzungen maßgeblich geprägt hat und auch die gegenwärtige Lebensrealität in erheblichem Maße mit gestaltet. Einen wirklichen kulturellen Umbruch, so die These, die ich bereits in dem Buch Vom Eigenen und Fremden vertreten habe, hat es indes erst gegeben, als sich diese Auseinandersetzung und damit die Binarität aller Entscheidungsprozesse aufgelöst haben. An ihre Stelle trat unter dem Eindruck der spätmodernen und in gewissem Sinne postbinären Medienapparaturen eine an traditionelle Denkformen anknüpfende, dabei globale Entwicklungen und transnationale Techniken gleichermaßen vereinnahmende Neuanordnung des Selbstverständnisses, das sich allerdings nicht als bloße Aneignung und Wiederholung des einen oder des anderen versteht. Spricht man in Bezug auf China also von Medienumbrüchen als Spiegel und Katalysatoren gesellschaftlich-kultureller Wandlungen, dann haben Buchdruck und Kino als Störfaktoren zwar entscheidende Voraussetzungen für ein kulturelles Umdenken geschaffen. Ein wirklicher Wandel und die Verabschiedung traditioneller Strukturen, welche in Nationalismus und Sozialismus ihre Widerstandsdiskurse wie zugleich ihre Entsprechungen gefunden haben, konnten aber erst ein Jahrhundert später, nämlich mit dem Abschütteln der Normprägung beider, möglich werden. Damit ist es China gelungen, vom vormodernen Stand, der sich in binären Diskursen um das richtige Modell einer eigenen kulturellen, politischen und ökonomischen Entwicklung zerrieb und bei seinem dogmatischen Beharren auf í überwiegend importierten í Modellen den Blick auf das Eigene weitgehend in Vergessenheit geraten ließ, mit einem Schritt in eine multizentrische und polysemische Spätmoderne zu springen. Sie könnte alle sich bis dahin konträr gegenüberstehenden Standpunkte und Gesellschaftsformationen in sich vereinen und aus ihnen heraus etwas Neues, Eigenes formen und formulieren: Wann […] kommt es in der Kulturgeschichte zu Umbrüchen, die qualitative Veränderungen mit sich führen, Veränderungen, an deren Ende nichts mehr so ist, wie es einmal war? Immer dann, so könnte die Antwort lauten, wenn eine ›Störung‹ des je gegenwärtigen kulturellen Systems eintritt […], immer
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NUTZUNGSANORDNUNGEN I dann also, wenn sich ein kulturelles System oder Subsystem erschöpft hat, wenn es leer geworden ist, wenn es aus sich heraus keine Antworten mehr findet auf die Fragen, die sich ihm stellen, auch dann, wenn es zu langsam geworden ist im Verhältnis zu den Beschleunigungsfaktoren, welche die umgebenden Teilsysteme bestimmen î immer dann setzen Störungen ein, die das kulturelle System oder das Subsystem in Frage stellen. […] Die Richtung der Veränderung des kulturellen Systems oder Subsystems ist grundsätzlich unbestimmt. Es kann zu Dynamisierungen oder auch zu Rückwendungen kommen, selten zum Stillstand, bisweilen zur Implosion, und häufig entstehen Mischformen, aus denen Kräftekonstellationen nicht vorhersehbaren Ausmaßes hervorgehen.7
Diese Einschätzung Ralf Schnells zu den Faktoren medialer Umbrüche trifft auf die Prozesse Chinas seit Mitte des 19. Jahrhunderts in besonderem Maße zu. Sie sind durch zahlreiche Störfaktoren geprägt. Diese kulminieren in dem Eindringen des Fremden, welches die industrielle Moderne für China zunächst darstellte. In ihren Waffentechniken genauso wie in ihren Kommunikations- und Medientechniken haben sie vor allem den Zweck erfüllt, der chinesischen Kultur in ihrer vormodernen Ausformung die Grenzen ihrer Entwicklung aufzuzeigen. Ein wirklicher Medienumbruch, der über die Auseinandersetzung mit den Störfaktoren der Kultur hinaus auch einen kulturellen Umbruch darstellt, ist indes nicht, wie in Europa, an der historischen Bruchstelle der industriellen Produktion und der Elektrizität, welche u.a. das Kino als bedeutendes MimesisMedium hervorgebracht haben, sondern erst an derjenigen der Einführung der Bildschirmmedien anzusiedeln. Der rasante Aufstieg der neueren Medien, vor allem des Fernsehens, und seine Auswirkungen auf die Umstrukturierung Chinas ist auch Gegenstand einer unter Federführung des Nanjinger Kommunikationswissenschaftlers Fang Xiaohong ᮍᰧ㑶 durchgeführten Untersuchung, die den Wandel der Medienlandschaft in der ostchinesischen Provinz Jiangsu ∳㢣 seit den frühen 1980er Jahren analysiert.8 In seinen Forschungen, die wir mit den Ergebnissen unserer eigenen Untersuchungen und Befragungen in Beziehung setzen wollen, um entsprechende Entwicklungstendenzen zu belegen, beruft Fang sich auf eine Befragung aus den Jahren 1983 bis 1985 und vergleicht deren Ergebnisse mit seinen eigenen empi7
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Ralf Schnell: ›Avantgarde als Retrogarde‹. In: Josef Fürnkäs et. al. (Hg.): Medienanthropologie und Medienavantgarde. Ortsbestimmungen und Grenzüberschreitungen. Bielefeld 2005, S. 141. Vgl. Fang Xiaohong ᮍᰧ㑶: Dazhong zhuanmei yu nongcun ӫӴၦϢݰᴥ (Massenmedien und das ländliche China). Peking 2002.
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rischen Umfragen, die er zwischen 1998 und 2000 in Städten und ländlichen Kreisen Jiangsus durchgeführt hat. Im Fokus seiner Analyse steht die Wechselwirkung zwischen der Entwicklung in den untersuchten Städten und Kreisen und derjenigen der neueren Informationsmedien: der Zeitung, des Hörfunks und des Fernsehens. Als Ergebnis seiner Lektüre der Untersuchung aus den 1980er Jahren beschreibt Fang eine in jener Zeit nach wie vor überwiegend manuell produzierende, in frühindustrielle Produktionsprozesse eingebundene ländliche Bevölkerung mit geringem Bildungsniveau und hoher Illiterarität. Deren wichtigstes Medium der Unterhaltung und Erzeugung eines nationalen und internationalen Wissens, das über lokale, durch Face-to-Face-Kommunikation bewirkte Informationen hinausgeht, war das Radio. Der Hörfunk war unter der Proklamationspolitik Mao Zedongs seit den 1950er Jahren zu starker Verbreitung gelangt. Bei seinen Bemühungen um die Ideologisierung der Bevölkerung mußte Mao angesichts der nur langsam voranschreitenden Verbreitung des eigentlich favorisierten Kinos lange Zeit vor allem auf die Wirkung des gesendeten Wortes setzen. Dabei knüpfte man an die í in letzter Konsequenz immer mündlich an die Bevölkerung gebrachten í vormodernen Proklamationsmethoden Chinas an. Das Radio bestimmte auch noch in den frühen 1980er Jahren als Medium im privaten Haushalt wie als solches in der lokalen Öffentlichkeit (durch Lautsprecherausstrahlungen in Arbeitseinheiten wie in den Dörfern) die Medienlandschaft im ruralen China. Während die in Fangs Studie wiedergegebenen Daten zu den frühen 1980er Jahren allerdings rudimentär bleiben, kommt er bei seinen eigenen umfangreichen Fragebogenanalysen, die er zwischen den Jahren 1998 und 2000 von insgesamt 1700 Bewohnern aus 45 Landkreisen Jiangsus hat ausfüllen lassen, zu ausdrucksstarken Ergebnissen. Diese entsprechen im Hinblick auf die Bevölkerungsverteilung weitgehend denjenigen unserer Untersuchungen in Hebei und Shanxi. In Jiangsu, das agrarwirtschaftlich sehr viel aktiver und attraktiver ist als die nordchinesischen Provinzen, findet sich allerdings eine ausgewogenere Altersverteilung und eine auffällige Dominanz von nahezu zwei männlichen über einen weiblichen Bewohner, was im Hinblick auf die tatsächliche Bevölkerungsverteilung jener Zeit eine Verfälschung darstellt. Auch auf eine Zweiteilung seiner Untersuchung zwischen städtischen und ländlichen Kreisen hat Fang verzichtet, so daß hier mit 31,3 % Absolventen der Grundstufe der Mittelschule, 34,7 % Absolventen der Mittelschule und 12,3 % B.A.-Absolventen sowie einem hohen Anteil Angestellter (32,7 %) wie auch Wanderarbeiter und Studenten (die er überraschenderweise zusammenfaßt, 24,7 %) eine mittlere Verteilung der Befragten zwischen 98
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den Städten und den ländlichen Kreisen Jiangsus ersichtlich wird. Bedingt durch ein relativ fruchtbares Land und die hohen Stadtanteile der Befragung liegt zudem das durchschnittliche Einkommen mit weit mehr als 10.000 CNY/Jahr für das rurale China relativ hoch.
Dorf im Kreis Wuxiang, Shanxi Vor allem die Ergebnisse von Fangs Untersuchung im Hinblick auf die Mediennutzung der Bevölkerung Jiangsus sind bemerkenswert. Auch hier hat das Fernsehen (92,2 % Versorgung, davon 85,6 % Kabelanschluß) das Radio (67,9 %) als wichtigstes Medium inzwischen abgelöst und erweist sich vor den Zeitungen (74 %) als primäre Informationsquelle und bevorzugtes Medium der Freizeitunterhaltung. Neben diesen drei Medien sind alle anderen als bedeutungslos einzustufen, und auch der Computer (13,6 %, von dessen Benutzern 72,8 % auch bereits das Internet besucht haben) hat hier noch keine mit dem Fernsehen vergleichbare Rolle übernehmen können. Dem stehen nach wie vor die Arbeitsverteilung, bei welcher der Computer noch kaum eine Rolle spielt, das geringe Bildungsniveau wie vor allem die schlechte Infrastruktur im Wege, welche selbst private Telephonanschlüsse als Voraussetzung für den Internetzugang noch zur Ausnahme macht. Dabei spielt das Telephon als Medium der interaktiven Kommunikation ohnehin in den meisten Dörfern keine nennenswerte Rolle. Dies liegt vor allem daran, daß sich der Bekanntenkreis der dortigen Bewohner in aller Regel auf die í zu Fuß er99
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reichbare í eigene Dorfgemeinschaft beschränkt. Dagegen ist das Interesse an Unterhaltung und Information groß. So verfügen 36,3 % der Befragten gar über zwei oder mehr Fernsehgeräte und geben dafür überwiegend (86,5 %) die Attraktivität an, daß mit ihnen die Personen innerhalb des Haushaltes gleichzeitig unterschiedliche Programme verfolgen können. Aufschlußreich sind auch die Daten von Fangs Studie zur Reihenfolge der Medienbeliebtheit. Demnach war im Jahre 1983, als die flächendeckende Versorgung mit Fernsehgeräten und dessen Weg von den »Kleinen Kinos« in die Privathaushalte gerade erst einsetzte, das Radio noch deutlicher Favorit vor den Zeitungen und dem – damals für viele noch unbekannten – Fernsehen an dritter Stelle. Nur zwei Jahre später hatte das Fernsehen die Zeitungen bereits überholt und sich hinter dem Radio an zweiter Stelle zu plazieren vermocht. Bis zum Jahre 2000 hatte das Fernsehen, wie erwartet, die unangefochtene Favoritenrolle übernommen. Signifikant für die mediale Verortung desselben innerhalb der sich zusehends multimedial ausrichtenden Mediengesellschaft Chinas ist dabei vor allem, daß mit dem Fernsehen auch die Zeitungen einen enormen Aufschwung verzeichnen konnten. 9 In den frühen 1980er Jahren noch weitgehend bedeutungslos, haben die Einführung eines nationalen und internationalen Wettbewerbs sowie der Aufschwung Chinas zur Informationsgesellschaft dazu geführt, daß Unterhaltung und Informationen, die über den lokalen Raum hinausgehen, im allgemeinen entscheidend an gesellschaftlicher Bedeutung gewinnen konnten. Entgegen der landläufigen Vermutung, daß die Medien mit zunehmender Vielfalt in schärfere Konkurrenz- und gegenseitige Ablösungsprozesse eintreten (Nullsummenspiel), ist, wie es insbesondere der historische Vergleichstest Fangs zu zeigen imstande ist, in Wirklichkeit eine Situation entstanden, in der die technisch-apparativen Medien der Information, der Zeitungsdruck genauso wie das Radio und das Fernsehen, allesamt von der wachsenden Bedeutung von Information haben profitieren können und sich ein allgemeiner Anstieg des Medienkonsums in bislang ungebrochener Entwicklungslinearität durchsetzt. Mit ihren gegenseitigen Verweisen in der Nachrichtenproduktion stehen die Medien also nicht ausschließlich in einer Konkurrenzsituation zueinander. Vielmehr befruchten sie sich auch inhaltlich und ästhetisch wechselseitig, während sich zugleich die inhaltlich-ästhetische Attraktion, die gesellschaftliche Bedeutung und damit die Nutzungsdauer der Medien insgesamt entscheidend verlängert haben. So ist das Fernsehen 9
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mit einer durchschnittlichen Nutzungsdauer von 144 Minuten täglich weit vorne, doch gleichzeitig hat bei einer enorm verbesserten Versorgung auch der Zeitungskonsum zugenommen und ist selbst das Radio, das zwar weit abgeschlagen hinter Fernsehen und Zeitungen auf dem dritten Platz angelangt ist, noch ein bedeutender, sich zusehends aber vom Mainstream ablösender und nur noch Nischen besetzender Informationsträger. Angesichts einer unbestreitbaren Hinwendung zu einer visuell dominierten Mediennutzung und einer sich an die »westlichen« Dispositionen einer vor allem an das Sehen geknüpften Wahrnehmung orientierenden Konstruktion medialer Realität ist die apparativ-auditive Wahrnehmung von Lautsprechern und Radios, die bei den politischen Kampagnen unter Mao Zedong noch eine privilegierte Rolle spielte und häufig die einzige überlokale Informationsquelle auf dem Lande war, inzwischen mehr und mehr zu einer solchen an Orten und zu Zeiten geworden, die í so an Arbeitsplätzen oder im Auto í zwar keine visuelle Aufmerksamkeit für Medien erlauben, aber durchaus offen sind für die Hintergrundbeschallung mit Musik und Nachrichten. Dabei sind inzwischen die meisten öffentlichen Verkehrsmittel und gar Taxis in den Metropolen mit Fernsehempfängern für ihre Fahrgäste ausgestattet, findet der Videoscreen Eingang in immer mehr private Fahrzeuge und ist das Mobiltelephon-Fernsehen in China seinen Entwicklungen in Europa längst voraus und droht die ausschließlich auditive Information auch aus diesen Nischen zu verdrängen. Die zunehmende Ausstattung auch des öffentlichen Raums in China mit Videomonitoren wird das Radio in Zukunft noch weiter auch von dort verdrängen. Darauf weist bereits heute das allmähliche Verschwinden von lokalen und regionalen Radiosendern in Hebei und Shanxi hin. Bei unseren Untersuchungen bestätigte sich zudem die unangefochtene Dominanz und inhaltliche Leitfunktion des Fernsehens vor allen anderen Unterhaltungs- und Informationsangeboten. Diese haben sich í anders als in Europa, wo die Zeitungen nach wie vor eine starke meinungsbildende Kraft haben í dem Fernsehen in ihrer Programmgestaltung weitgehend untergeordnet. Sie sind teilweise zu seinen Referenz- und Ergänzungsmedien degradiert worden. Dabei gehen sie eine Kommunikationseinheit mit ständigen gegenseitigen Verweisen ein. Sowohl in den Städten wie auch auf dem Lande sehen die Befragten, welche über ein Fernsehgerät verfügen, mit nur wenigen Ausnahmen täglich fern. Dasselbe trifft mit etwas schwächeren Werten auch auf die Lektüre von Tageszeitungen und, mit deutlich schwächeren Werten, auf das Hören von Radio zu. Blick man darüber hinaus auf die Dauer des täglichen Konsums, dann hebt sich das Fernsehen allerdings entscheidend von seinen Mitspielern 101
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und Konkurrenten ab. Durch das Fernsehen als Leitmedium abgelöst, hat das Radio inzwischen in den meisten Haushalten überwiegend eine Unterhaltungsfunktion eingenommen, die neben anderen Tätigkeiten des Berufs oder Haushalts ihre Rolle spielt.
Fernsehempfangsschüssel in einem Dorf des Kreises Xingtang, Hebei Die Lektüre von Tageszeitungen beansprucht täglich durchschnittlich nicht mehr als 45 Minuten und hat, wie auch die Befragungen Fangs in Jiangsu bestätigen, vor allem zwei Zwecke: Zum einen geht es darum, sich über ökonomische Daten zu informieren, die für das eigene wirtschaftliche Handeln, etwa Wertpapierkäufe oder -verkäufe, aber auch Einkäufe von Konsumgütern auf Märkten und in benachbarten Supermärkten von Bedeutung sind. Dies wiederum unterstreicht die weitaus größere Bedeutung der Zeitungen für die Städte gegenüber dem ruralen Hinterland. Zum anderen geht es darum, lokale Informationen über Ereignisse innerhalb der eigenen Stadt oder des eigenen Landkreises und über dortige Programmangebote zu erhalten, welche die meisten der überwiegend regional oder überregional ausgerichteten Fernsehsender nicht liefern. Das Fernsehen dagegen, dem die Befragten sowohl auf dem Lande wie auch in den Städten eine durchschnittliche tägliche Aufmerksamkeit von knapp 3 Stunden gewähren, ist zugleich wichtigste Informationsquelle für alle regionalen, nationalen und internationalen Angelegenheiten. Dabei sind Städte wie Peking und Shanghai mit ihrem großen Angebot an öffentlichen und semiprivaten lokalen und gar Stadtteil102
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Sendern in der Lage, auch einen gewissen Teil des für Entscheidungen im individuellen Alltag notwendigen Informationsbedarfs abzudecken. 600
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Tägliche Fernsehdauer im urbanen China Der entscheidende Faktor für den Erfolg des Fernsehens liegt allerdings darin begründet, daß ihm neben dem hohen Informationswert (dem angesichts seiner Visualität und scheinbaren Authentizität auch ein hoher wahrgenommener Wahrheitscharakter zukommt, wie anschließend noch dargelegt wird) auch ein sehr hoher Unterhaltungswert zukommt, der allen Mitkonkurrenten, insbesondere denjenigen, die ständig und preiswert verfügbar sind, überlegen ist. Der mediale Charakter des Fernsehens als privilegiertes Instrument von Information und Unterhaltung spiegelt sich auch in den Tageszeiten, zu denen es bevorzugt konsumiert wird. Während das Radio bereits hinsichtlich seiner Nebenfunktion im Arbeitsalltag beschrieben worden ist und die Lektüre von Tageszeitungen überwiegend entweder vor oder während der Arbeitszeit stattfindet, ist das Fernsehen offensichtlich ein integraler Bestandteil der Freizeitgestaltung chinesischer Menschen und entspricht damit weitgehend seiner Funktion im »Westen«. Auf dem Lande wie in den Städten spielt es bei einem geringen Bevölkerungsteil (ca. 8 %), darunter überwiegend die nicht-berufstätigen Dauerseher, ab den Morgenstunden (ca. 7 Uhr) eine prägende Rolle im Alltag, während die große Mehrheit erst nach 19 Uhr zu dieser Beschäftigung kommt, die auf dem Lande in der Regel gegen 22 Uhr, in den Städten, wo der Arbeitstag später beginnt, ein wenig spä103
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ter endet. Das Fernsehen fällt also vor allem in die Freizeit, insbesondere in die Abendstunden und freien Tage seiner Nutzer. Es ist nahezu in derselben Weise, wie es sich in Europa und Nordamerika bereits seit den 1950er Jahren hat durchsetzen können, in China seit den 1980er Jahren zu einem Mitspieler und Spiegel der Abläufe und Strukturen einer modernisierten, an industrielle und postindustrielle Arbeitsprozesse angepaßten Gesellschaft geworden. Diese haben sich in den Städten auch strukturell, auf dem Lande, wo sie im Alltag noch kaum angekommen sind, zumindest virtuell, in den Fernsehbildern und den durch sie vermittelten Selbstbildnissen, verwirklicht. 600
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Tägliche Fernsehdauer im ruralen China Diese Ergebnisse bestätigt ein Blick auf die konkrete Wahrnehmungssituation der Fernsehzuschauer. Sie schafft die Bedingungen für die apparative Verortung des Fernsehens, innerhalb derer sich die Programmangebote zu verorten haben. Demnach hat das Fernsehen in China, zumindest was seine apparativen Anordnungen betrifft, weitgehend diejenige gesellschaftliche Funktion übernommen, die es in Europa seit den 1950er Jahren bekleidet. Als zentralperspektivisch aufgestelltes Medium der Aufmerksamkeit hat es die Wohnzimmer der meisten Haushalte erobert und die Menschen in derjenigen Zeit, die sie daheim verbringen, in eine Situation der Aufmerksamkeit befördert, die alle anderen Tätigkeiten und Wahrnehmungen dominiert. Dabei hat es sich als ein Medium erwiesen, das mit Anteilen von 95,2 % (Städte) bzw. 92,4 % (Land) nahezu ausschließlich in den privaten Haushalten konsumiert wird und damit seinen 104
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frühen Ruf als »Kleines Kino« längst abgelegt hat. Doch auch an den Arbeitsplätzen ist das Fernsehen in China nicht in derart hohem Maße tabuisiert wie in Europa. Dies zeigt sich bei einem Spaziergang durch die untersuchten Dörfer und Städte, in denen laufende Fernseher an öffentlichen Plätzen wie Bushaltestellen und Warteräumen von Behörden sowie in Geschäften und Friseur- wie Massagesalons längst zu einer alltäglichen Selbstverständlichkeit geworden sind. Unter den städtischen Befragten geben darüber hinaus 53,3 % an, in der Zeit, die sie daheim vor dem Fernseher verbringen, ihre Aufmerksamkeit ausschließlich dieser Tätigkeit zuzuwenden. Weitere 42,5 % geben an, hauptsächlich fernzusehen, dabei aber noch andere Tätigkeiten auszuführen, welche eine geringere Aufmerksamkeit von ihnen abverlangen. Nur 3,7 % indes sagen aus, daß der Fernseher in ihren Haushalten nur nebenher laufe, während sie sich hauptsächlich anderen Tätigkeiten widmeten. Die Untersuchung in den ländlichen Kreisen zeigt mit einer Verteilung von 61,2 % zu 35 % zu 3,8 % bei derselben Frage noch deutlicher die große Aufmerksamkeit, welche dem Fernsehen während seines Konsums zukommt. Demgegenüber führen Tendenzen, wie sie in Europa und Nordamerika das Fernsehen teilweise zu einem Dauermedium mit allerdings geringer Aufmerksamkeitszuwendung gemacht haben, hier in den urbanen Metropolen erst allmählich zu leichten Verschiebungen. Nach wie vor sind in der sich modernisierenden und gesellschaftlich erst allmählich spätmodern neuformierenden Gesellschaft Chinas die technische Attraktion des Fernsehens und sein Charakter als Teil des familiären Lebens von nicht unerheblicher Bedeutung für dessen Anordnung im Lebensalltag und in den Haushalten seiner Nutzer. Er hatte ihm in den 1950er Jahren in Europa nicht zu Unrecht den Vergleich mit den urtümlichen Lagerfeuern eingebracht, um welche sich die Familien nach getaner Arbeit an den Abenden vereinen. Von diesem Charakter ist in der Gesellschaft Chinas, in der das Fernsehen auf eine sehr viel kürzere Geschichte zurückblickt, noch deutlich mehr erhalten geblieben als etwa in Europa und Nordamerika. Dies zeigt sich auch in einem ungebrochenen Gemeinschaftserlebnis, welches das Fernsehen für die ruralen mehr noch als für die städtischen Zuschauer bedeutet. So geben im ländlichen China 61,3 % der Befragten an, ausschließlich oder fast ausschließlich gemeinsam mit der Familie fernzusehen. Trotz der rasanten Individualisierungstendenzen in den Metropolen mit ihren zunehmenden Singlehaushalten sind es dort immerhin noch 56,3 %. Vor allem aber werden die Anordnungen des Fernsehens durch den konkurrenzlosen, in älteren Fernsehgesellschaften teilweise wieder verloren gegangenen bzw. durch neuere Medien wie das Internet 105
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überdeckten Informationscharakter dieses Mediums in seiner gesellschaftlich-politischen Funktionalisierung wie auch in der Wahrnehmung durch die Menschen in China bestimmt. Daher macht die Information in der í im Vergleich etwa zu Nordamerika noch nicht ganz so popularisierten í Medienkultur Chinas noch immer ein bedeutsames Element seiner Nutzung aus und verlangt dem Fernsehen eine größere Aufmerksamkeit ab als etwa die Telesoaps und Talkshows, die das Programm in anderen Fernsehgesellschaften zunehmend beherrschen. Alles in allem schätzen die meisten Befragten mit unerheblichen Schwankungen zwischen Stadt und Land das Fernsehen als mittelwichtigen bis wichtigen Teil ihres Alltags ein und bestimmen in ihrer Nutzung und Wahrnehmung dieses Mediums als aktives Publikum nicht zuletzt dadurch seine Bedeutung für die kulturellen und gesellschaftlichen Diskurse in China mit.
Bauernpaar in einem Dorf in Xingtang, Hebei Zu ähnlichen Ergebnissen ist auch die Studie von Fang Xiaohong gekommen. Die Schlüsse, welche diese aus ihrem nutzungsanalytischen Teil für die kulturellen Prozesse Chinas herleitet, beziehen sich vor allem auf dessen allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Strukturwandel seit den 1980er Jahren. Ausgehend von den urbanen Motoren der Entwicklungen, unter denen Fang immer wieder das nahe bei Jiangsu gelegene Shanghai anführt, habe der Strukturwandel erhebliche Auswirkun106
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gen auf die ländliche Entwicklung gehabt. Dabei geht die allmähliche Industrialisierung der Produktion, die zwangsläufig mit einer Verbesserung des Bildungsniveaus, wachsender Mobilität und einer Ausweitung des produktionstechnischen Spezialistentums (auch in der Landwirtschaft) einhergeht, Hand in Hand mit der Verbesserung einer informationstechnischen Infrastruktur und der immer umfangreicheren Nutzung von Medien, welche Wissen zu einem bedeutenden sozialen und auch ökonomischen Faktor haben werden lassen. Fang verzeichnet eine sich gegenseitig bedingende Wechselwirkung zwischen einer unaufhaltsamen Dominanz der städtischen Entwicklungsräume und einer Urbanisierung der Kultur, worunter er vor allem den Siegeszug einer transnationalen Spätmoderne und der kommerziellen Populärkultur versteht, sowie der Entwicklung und der Verbreitung der apparativen Medien in China. Das Fernsehen nimmt, wie sich zusammenfassend sagen läßt, innerhalb der Medienkultur Chinas eine doppelte, sich nur scheinbar widersprechende Funktion ein. Zum einen ist es selbst Träger der Verbreitung einer von Fang beklagten importierten Populärkultur, welche seiner Ansicht nach das Eigene des traditionellen ländlichen Chinas an den Rand dränge und den Menschen auf dem Lande mit ihren ursprünglichen Lebensweisen das Bewußtsein eigener Minderwertigkeit vermittle.10 Zum anderen hat es, wie Fang ebenfalls zugesteht, der ländlichen Bevölkerung, welche Informationen und Unterhaltung fast ausschließlich über diese Quelle erfährt, die erste und bisher einzige Möglichkeit geboten, an den Entwicklungen und dem Leben außerhalb ihrer physischen Lebenswelt zu partizipieren. Als Konsumenten von Waren und Medienangeboten, die eine virtuelle Nische, einen eigenen kulturellen Raum in ihrem Alltag bilden, können sie erstmals auch aktiv an den Geschicken des Landes und an den urbanen Entwicklungen Anteil nehmen, die sie selber in Wirklichkeit noch längst nicht erreicht haben. Somit vermag der rurale Medienteilnehmer, der aus seiner archaischen Welt heraus dennoch zum Teilnehmer an der spätmodernen Medienkultur wird, zumindest in Ansätzen vom passiven Untertanen zum aktiv partizipierenden und gestaltenden Bürger zu werden.11 Wie die weiteren Untersuchungen zur Medienwahrnehmung zeigen werden, ist aus den scheinbaren Widersprüchen und der Binarität der hegemonialen Diskurse heraus in Wirklichkeit ein dynamisches, sich unaufhörlich aktualisierendes Netzwerk von Diskursen um Wissen und Bedeutung generiert, innerhalb dessen sich jeder chinesische Bürger auf die eine oder andere Weise als Individuum wie Teil 10 11
Fang Xiaohong. S. 231ff. Fang Xiaohong. S. 144.
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einer í allerdings offenen í Gemeinschaft wiederfinden kann. Um dies zu konkretisieren, wird sich das folgende Kapitel vor allem damit beschäftigen, wie sich das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft sowie den unterschiedlichen Kanälen der Kommunikation gestaltet, welche diese in ihren dynamischen Raum- und Zeitstrukturen miteinander verknüpfen und auf ihrer materiellen Grundlage Identitätsgemeinschaften hervorrufen. Hierzu muß der empirische Blick auf den kollektiven Konsumentenkörper zunächst wieder mit den Diskursen der chinesischen Kultur über sich selbst verknüpft werden, um darüber durch die Einbindung in weitere Befragungsergebnisse zu relevanten Resultaten im Hinblick auf die Bedeutung der Verortung und Anordnung der Medien im Allgemeinen wie des Fernsehens im Besonderen bei der Konstitution von Selbstverhältnissen in China gelangen zu können.
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4. N U T Z U N G S A N O R D N U N G E N II: FERNSEHEN, KULTUR UND TRADITION Für eine hinreichende Bewertung der Nutzungsanordnungen des chinesischen Fernsehens sind die quantitativen Analysen zum Publikumsverhalten, wenn sie allein für sich stehen, nicht wirklich hinreichend. Sie zeigen Tendenzen auf für die tatsächliche Bedeutung dieses Mediums und seine Anteile an der Herstellung von Wissen und Sinn. Sie geben zudem Aufschluß über die allgemeinen Kanäle der Information und über die konkrete Versorgungssituation der unterschiedlichen Regionen Chinas. Darüber hinaus informieren sie über die Ausstattung der Haushalte mit Informations- und Unterhaltungsmedien sowie über die räumliche und zeitliche Verortung des Fernsehkonsums innerhalb des Arbeits-, Freizeitund Konsum- wie Informationsverhaltens seiner Nutzer. Keine in dieser Hinsicht erstellte Empirie kommt allerdings über den Status der aussagearmen Zahlenansammlung und des statischen Rechenexempels um Vergleichs- und Differenzierungswerte hinaus. Sie kann allenfalls ein bloß quantitatives Publikum als kollektiven Körper definieren, der in seiner statistischen Summe recht wenig über den einzelnen Medienteilnehmer und dessen inneren Befindlichkeiten und kulturell-historischen Herleitungen auszusagen imstande ist. Um weiterreichende Aussagen zu erzielen, müssen die numerischen Ergebnisse daher mit den Diskursanordnungen wie auch mit dem Einzelnutzer kontextualisiert und interpretiert werden, um aus den Datenmengen heraus Aussagen über das tatsächliche Verhältnis zwischen Individuum, Gesellschaft und den konkreten materiellen und dispositiven Bedingungen der Mediennutzung ausdifferenzieren zu können. Im folgenden wird es vor allem darum gehen, die Daten der Publikumsanalysen durch den Vergleich mit einem historisch-gesellschaftlichen und kulturellen Textwissen zu Aussagen über die mediengesellschaftliche Konstitution Chinas zu verdichten. Im Mittelpunkt der Analysen stehen drei grundsätzliche Fragen, die sich allesamt auf die Verortung des Fernsehens innerhalb seiner Aneignungskontexte in China be-
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ziehen. Ihre Beantwortung schafft die notwendigen Voraussetzungen für eine Analyse der Wahrnehmungsbedingungen von Fernsehen. 1. Zunächst ist die Frage nach der Bestimmung des Fernsehens als Dispositiv individueller und kollektiver Wahrnehmung zu beantworten. Fernsehen verortet sich im Rahmen von bzw. als widerständiges Konzept gegen das, was im allgemeinen als kulturelle Tradition bezeichnet wird, in Wirklichkeit aber vor allem als ein Mythos der chinesischen Gegenwartskonstruktion zu einem maßgeblichen Bezugspunkt seiner nationalhegemonialen Selbstbeschreibung (als »5000-jährige Kulturnation« Ѩग ᑈⱘ᭛࣪⇥ᮣ Wuqian nian de wenhua minzu) geworden ist. Unter ihren Bedingungen haben sich spezifische Strukturen von Kultur mit einer ganz eigenen Wahrnehmungsform etabliert, auf welche das Fernsehen bei seiner Einführung in China als zunächst fremde Kulturtechnik mit völlig unterschiedlichen semantischen und syntagmatischen Anordnungen getroffen ist. Beide bilden ein sich gegenseitig befruchtendes Spannungsfeld, das in seiner Aktualisierung ein dynamisches Drittes darstellt. 2. Daraus ergibt sich die Frage nach der spezifischen materiellen Anordnung des Fernsehens innerhalb der Repräsentationskultur/den Repräsentationskulturen Chinas. Medienkultur manifestiert sich als spezifisches Wahrnehmungsdispositiv, das sich auf der Basis der Rekonstruktion einer realen oder imaginären Vergangenheit und Tradition auch apparativ als Mythos in die gegenwärtige Selbstwahrnehmung der fernsehenden Individuen und Gemeinschaften Chinas eingeschrieben hat und somit zu einem Gegner wie zugleich Förderer der Mythen Chinas um das Eigene und dessen Anderes geworden ist. 3. Schließlich verortet sich das Fernsehen inzwischen nicht mehr allein als Antagonist einer wie auch immer definierten kulturellen Tradition, wie sie in zahlreichen Binärpaaren wie Stadt und Land, Tradition und Innovation oder vormoderne und moderne Kommunikationsmedien immer wieder bemüht wird. Vielmehr ist es immer mehr auch als Teil einer partikularisierten multimedialen und zugleich globalisierten Medienkultur zu begreifen. Diese geht mit den nationalen und lokalen Repräsentationsweisen in China eine wechselseitig wirksame Verknüpfung ein, um daraus in der medialen Wahrnehmung ein immer wieder Neues zu aktualisieren. Dabei verschieben sich die Grenzen zwischen dem angenommenen Eigenen und dem als solches vermuteten Fremden immer wieder, um sich jeweils neu zu montieren. Alles in allem soll der nachfolgende Rekurs über die kulturellmediale Verortung des Fernsehens im Rahmen seiner Nutzungsanordnungen einen vertieften Einblick in die medialen Aneignungsbedingung-
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en des Fernsehens in China vermitteln und die Daten der empirischen Befragungen im vorangegangenen Kapitel dadurch mit Bedeutung füllen.
Traditionen der Repräsentation Das Fernsehen ist, wie das vorherige Kapitel bestätigt hat, in den 1980er Jahren aus seiner vollständigen Abwesenheit heraus in schnellen Schritten zu einem integralen Bestandteil des individuellen und kollektiven Selbstverständnisses nahezu aller Menschen in China geworden. Mehr noch als der produktionstechnisch-ökonomische Strukturwandel hat es entscheidend dazu beigetragen, das Land im Bewußtsein der Menschen quasi unmittelbar von einer vormodernen agrarischen in eine spätmoderne Informations- und Wissensgesellschaft zu katapultieren. Es ist mit seinen Programmen und Bildern maßgeblicher Bedeutungsträger einer virtuellen Modernisierung und Urbanisierung des in Wirklichkeit nach wie vor überwiegend ländlich organisierten Staates und hat damit maßgeblichen Anteil an dessen national(istisch)er Selbstbeschreibung vor einem einheimischen wie auch weltweiten Publikum genommen. Obgleich Mao Zedong die chinesische Bevölkerung bei seiner sozialistischen Revolution drei Jahrzehnte zuvor noch als ein »unbeschriebenes Blatt« definiert hatte, das erst mit Bedeutung zu füllen sei, sind die industriellen Medien, die Telegraphie und das Telephon genauso wie der Buch- und Zeitungsdruck, das Kino und schließlich das Fernsehen, bei ihrer massenmedialen Verbreitung in China in Wirklichkeit auf eine Gesellschaft getroffen, die auf eine lange (multi-)kulturelle Tradition von Wissensdiskursen sowie medialen und semantischen Systemen zurückblickt. Sie alle hatten sich auf die eine oder andere Weise in das Selbstverständnis aller Menschen in China eingeschrieben. Sie haben die Anordnungsbedingungen definiert, unter denen die neueren Medien wahrgenommen und angeeignet wurden und zum Teil der Weltwahrnehmung wie zugleich des eigenen Selbstverständnisses ihrer Nutzer geworden sind. Anders als es zahlreiche chinesische Kritiker konstatieren und anders auch als es viele »westliche« Interpreten im Hinblick auf ihre eigenen Gesellschaften bewerten, ist das Fernsehen in China nicht ausschließlich kolonialistisch aufgetreten. Es hat entgegen der populären Neokolonisierungstheorien die mit ihm ›infizierten‹ Kulturen durchaus nicht einfach als Geiseln einer transnationalen Populärkultur genommen. Vielmehr ist es selbst von den jeweiligen Gesellschaften, so auch von der chinesischen, assimiliert worden. Es hat seine Anordnungen nur vor dem Hintergrund der angestammten Wahrnehmungskonventionen und in deren 111
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vorgegebenen strukturellen Rahmen entfalten können, um darauf wechselseitig neue kulturelle Formationen begründen und aktualisieren zu können. In diesen bestehen immer sowohl das mediale Dispositiv wie auch die kulturelle Tradition als deleuzesche Wiederholung fort und schreiben sich als Spuren in jeden Text, in jedes Programmformat und deren Wahrnehmung ein. Die Herausbildung und gesellschaftliche Verortung von Wissensdiskursen in der historischen Entwicklung Chinas wie vor allem unter dem Einfluß kulturell-medialer Wandlungsprozesse bis hin zu den spätmodernen Globalisierungstendenzen hat daher ihrerseits maßgeblich auf den Weg, welchen das Fernsehen in China eingeschlagen hat, eingewirkt. Vor allem der in der chinesischen Republikzeit (1912-1949) aktive Philosoph Zhang Dongsun ᓴϰ㤾 (1896-1973) hat in seinen theoretischen Schriften zur Frage nach Wissen und Kultur sowie nach dem Zusammenhang von Sprache und Denken in der chinesischen Kultur die Bedeutung der Wissensanordnungen für die kulturellen Umbrüche seines Landes eindringlich beschrieben. Dabei hat er zugleich sozusagen die Voraussetzungen für die Aneignung der importierten Medientechniken formuliert. 1 Insbesondere in seiner scharfen Kritik am Universalismus der Erkenntnis in Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft plädiert Zhang für das Modell eines epistemologischen Pluralismus, das, von ihm theoretisch angedacht, vielleicht erst im Fernsehen seine mediale und kulturelle Entsprechung hat finden können. Seine von dieser Kritik am Logozentrismus der (europäischen) Wissenschaft ausgehenden Thesen haben ihre Bedeutung in jedem Falle auch jenseits ihrer historischen Verortung in der gesellschaftlichen Umbruchsphase nach dem Zerfall des theokratischen Systems entfalten können. Sie sind für die Debatten um eine spätmoderne globalisierte Kultur und Gesellschaftsordnung relevant geworden. Zhangs epistemologischer Relativismus geht von einer Verflechtung und wechselseitigen Kausalität gesellschaftlicher Prozesse zwischen dem Innen und dem Außen aus. Daraus gehen immer neue Konstellationen hervor, in denen sich die Menschen wiederfinden. Das gesellschaftlich 1
Unter den zahlreichen Schriften Zhang Dongsuns vgl. insbesondere die von Zhang Yaonan ᓴ㗔फ erstmals im Jahre 1946 herausgegebene Textsammlung: Zhishi yu wenhua ⶹ䆚Ϣ᭛࣪ (Wissen und Kultur). Peking 1995. Darin insbesondere den gleichnamigen Aufsatz: S. 172-195, sowie der Aufsatz: »Sixiang ziyou yu wenhua« ᗱᛇ㞾⬅Ϣ᭛࣪ (Denkfreiheit und Kultur), S. 414-431. Vgl. auch Martina Eglauers sprachanalytische Studie zu Zhang Dongsun: Die Welt als Kaleidoskop. Zhang Dongsuns Reflexionen über den Zusammenhang von Sprache und Denken. Bochum 1999. Zur Editionsgeschichte der o.a. Textsammlung darin vor allem S. 13, FN 23.
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konstitutive Wissen entsteht dabei weniger in Form einer unmittelbaren Konfrontation der beteiligten Parameter des Eigenen und des Fremden sowie des Alten und des Neuen. Vielmehr geht es aus vielfältigen Wahrnehmungsprozessen des jeweils anderen hervor, die immer durch die eigenen Diskurse sowie deren sprachliche und mediale Systeme gefiltert sind. In diesem Sinne hat Wissen in seinem Entstehungsprozeß immer eine Reihe von Störfaktoren bis hin zu demjenigen der kulturellen und sozialen Prägung seines Rezipienten zu durchlaufen, bevor es sich als solches manifestiert: Es ist in jedem Fall relativ und dynamisch und niemals derart fixierbar, wie es die zentralperspektivische Buchkultur und die ›logisch‹, also in einer strengen Binarität zwischen dem í wissenschaftlich analysierten í Innen und dem í dabei notwendigerweise unbeachtet bleibenden í Außen argumentierenden Wissenschaften mit ihrem Streben nach exakter Abbildung zugrunde liegender Materie lange Zeit behauptet haben. Unter den genannten Gesichtspunkten der Verortung von Wissen in der Form eines epistemologischen Pluralismus, welcher antibinär und somit in der Lage ist, die Außenräume als Zeugen zu berufen und als solche in seine Analysen einzubeziehen, gewinnen seine kulturell-semantischen Verortungsräume und seine medialen Anordnungsräume eine privilegierte Relevanz. Sie geht teilweise über die Inhalte des Wissens hinaus, determiniert diese in jedem Fall aber in den kulturellen Spannungsfeldern der Wahrnehmung zwischen Innen und Außen, Subjektivität und Objektivität. Sie gestaltet sie somit als eigenständige Werteeinheit. Zhang bezieht dieses Modell von Wissenschaft auf die Entwicklungen der chinesischen Kultur. Er hebt insbesondere die Rolle ihres visuell-schriftlichen wie auditiv-mündlichen Sprachsystems hervor, welches, wie wir wissen, ja auch der Wahrnehmung von Fernsehen bedeutungsbildend zugrunde liegt.2 Mit seiner Argumentation nimmt Zhang in gewisser Weise bereits die Logozentrismus-Kritik der philosophischen Dekonstruktion vorweg, die ja erst einige Jahrzehnte später in Europa aufgekommen und im Rahmen poststrukturalistischer Theoriebildung populär geworden ist. Er beschreibt hinsichtlich der chinesischen Sprache eine Multiperspektivität und Polysemie. Sie bedinge alle Wissensformationen in der zweieinhalb Jahrtausende dauernden Kulturgeschichte im ›Reich der Mitte‹ strukturell mit und hätte somit Chinas gegenüber dem logozentristischen, der griechischen Traditition verhafteten Europa gänzlich unterschiedliche Denkmodelle und Ordnungsstrukturen wie Semantiken etabliert. Die hinreichende Voraussetzung für diese Differenzierung besteht in der Viertei2
Zhang Dongsun. S. 240ff.
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lung des Erkenntnisprozesses beim Menschen. Zhang Dongsun geht zunächst von einer strukturell geordneten, inhaltlich aber dynamischen und sich ständig verändernden, materiell erfaßbaren Außenwelt (Waijie jiagou ⬠ᶊᵘ) aus. Deren pure Datensätze werden in eine zweite Wahrnehmungsphase, diejenige der Sinneseindrücke (Ganjue ᛳ 㾝 ) »sensa«, transformiert, welche auf die unmittelbare oder auf die mittelbar, also medial vermittelte Außenwelt reagiert und damit selbst eine mediale Position zwischen materieller Struktur und subjektivem Empfinden einnimmt. Bei Zhangs dritter Wahrnehmungsschicht handelt es sich um diejenige der Konstruktionen (Zaochengzhe 䗴៤㗙). Darunter versteht sich allerdings nicht eine bquivalenz mit der materiellen, auf der ersten Ebene von ihrer sprachlichen Verfaßtheit unabhängigen Außenwelt. Vielmehr geht es um eine aus der Wechselwirkung von Sprache und Materie zustande gekommene und von beiden in gleichem Maße abhängige menschliche Erschaffung. Diese drei Kategorien des menschlichen Erkenntnisprozesses unterliegen letzten Endes immer der letzten Kategorie, der Interpretation (Jieshi 㾷䞞). Durch sie werden alle materiellen Konstruktionen kulturell zu gänzlich unterschiedlichen Wissens- und Bedeutungsstrukturen ausdifferenziert. Vor allem auf diesen gründet Zhangs Annahme eines epistemologischen Relativismus. In dessen Zentrum steht sein bereits im ersten Wahrnehmungsparameter transparent werdendes Abrücken von Kants materiellem Verständnis der Substanz (Benzhi ᴀ䋼) und deren Ersetzung durch den Terminus der Struktur (Jiagou ᶊᵘ). Sie unterliegt bei Zhang keinem Universalismus. Vielmehr löst sie sich jeweils in die partikulare Kultur und Sprache ihrer gesellschaftlichen Aneignungsräume auf und definiert sich dort als ›Interpretation‹ immer wieder neu. Sie aktualisiert sich unter den individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen ihres Interpreten in dessen spezifischen Raum- und Zeitstrukturen. Damit rücken die jeweilige Sprache der Sender wie vor allem der Empfänger von Nachrichten wie zugleich die Medialität des Repräsentierens und des Wahrnehmens von Materie und Konstruktion in den Mittelpunkt der Bedeutungsbildung. Sie besteht auf der Wahrnehmungsseite in einem Prozeß der Herstellung und Interpretation von Wissen nicht unmittelbar aus Materie sondern vielmehr aus deren Anordnungsbedingungen, der »Struktur«. Dabei bedingen die gesellschaftlich-kulturellen und sprachlich-medialen Dispositionen der Wahrnehmenden selbst diese Struktur, genauso wie die Struktur ihrerseits auf die Anordnungsbedingungen der Gesellschaften einwirken:
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NUTZUNGSANORDNUNGEN II Wir ziehen physikalische Gesetzmäßigkeiten heran, um Materie zu ersetzen, und ebenso ersetzen wir »Leben« durch biologische Gesetzmäßigkeiten. Auf diese Weise gibt es nur physikalische Gesetzmäßigkeiten, aber keine Materie, es gibt nur biologische Gesetzmäßigkeiten, aber kein »Leben«, es gibt nur geistige und psychische Gesetzmäßigkeiten, aber keinen Geist. Bei allem handelt es sich ausschließlich um Strukturen und nicht um das Wesen. Unsere Erkenntnis ist untrennbar an diese Strukturen gebunden.3
Unter diesen Bedingungen stehen alle Wissensprozesse und eine jede gesellschaftliche Konstitution und Selbstwahrnehmung in unabdingbarer Wechselwirkung mit den Strukturanordnungen der sprachlichen und medialen Bedingtheit der aneignenden Gesellschaft und des aneignenden Individuums. Dabei trägt dieses seinerseits zu der Herausbildung derjenigen Strukturen bei, unter denen es wahrnimmt und Bedeutungen konstruiert. Im Rahmen einer sich unaufhörlich aktualisierenden Bedeutungsbildung begründet Zhang seine erkenntnistheoretische Anordnung von Wissen und Kultur als dynamische Wahrnehmungs- und Strukturbildungsprozesse. Deren sprachlich-kulturelle und mediale Bedingtheit ist Voraussetzung für jede kulturelle Wahrnehmung, Reproduktion und Kommunikation des Selbst und seiner Differenzen. Sie manifestieren sich als sprachlich und medial quasi rematerialisierte Parameter der Wahrnehmung. Es handelt sich um eine antikantsche ›Wiederholung‹, wenn man der í ja ebenfalls aus der Kritik an Kants Substanzverständnis gewonnenen í deleuzeschen Definition dieses Terminus folgen möchte. Zhang Dongsun entwickelt seine kulturtheoretischen Thesen vor allem aus dem Vergleich zwischen China und dem ›Westen‹. Sie sind in einer Zeit entstanden, als Chinas Politik und Sozialsysteme sich noch in einer unmittelbaren kolonialen und postkolonialen Situation befanden. Diese zeichnete sich vor allem durch die binäre Auseinandersetzung des Eigenen mit seinem realen oder imaginierten Anderen aus. Es ging um die Auflösung des vermeintlichen Widerspruchs zwischen der nationalen Ablehnung des fremden Imperialismus auf der einen, der Faszination gegenüber dem scheinbar funktionierenden System einer industriellen Moderne, welches der Kolonialismus mit sich brachte, auf der anderen Seite. Die linear-zentralperspektivischen Medien der Typographie und des Kinos, die eine abgeschlossene Wahrnehmungssituation erzeugten und hohe Aufmerksamkeit erforderten, erlangten ihre Bedeutung im China des
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Zhang Dongsun: Renshilun ( 䅸 䆚 䆎 Erkenntnistheorie). Shanghai 1934, S. 131. Zitiert nach der Übersetzung von Martina Eglauer: Die Welt als Kaleidoskop. S. 18.
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20. Jahrhunderts quasi als kulturelle Entsprechung der nationalpolitischen und antikolonialistischen Diskurse. Diese waren vor allem von den unbedingten Bemühungen um den kulturellen Bruch und die Übernahme eines importierten ideologisch-gesellschaftlichen Modells mitsamt seinen industriellen Strukturen und Kommunikationsweisen geprägt. Er war notwendig geworden, um sich durch eine Stärkung des binären Modells der Differenzen mit den ehemaligen Kolonialherren wirtschaftlich und militärisch ›messen‹ zu können. Der Siegeszug des Fernsehens seit den 1980er Jahren indes zeugt, genauso wie es mittel- und langfristig derjenige der interaktiven Onlinemedien tun wird, von der Verabschiedung des post- und antikolonialen Weges aus der chinesischen Politik wie vor allem aus der Wahrnehmung und dem kulturellen Selbstverständnis der Menschen in dem allmählich zu einer Zivilgesellschaft erwachenden China. Dieser ordnungspolitische und medienkulturelle Umbruch markierte den kulturellen Schritt in Richtung auf eine postindustrielle Spätmoderne wie zugleich auf eine Rückkehr zu der í niemals wirklich abhanden gekommenen í Multiperspektivität und Polysemie der vormodernen chinesischen Repräsentations- und Wahrnehmungsformen. Wie an anderer Stelle dargelegt 4 , kommen die Bildschirmmedien sowohl in ihren Repräsentations- wie auch in ihren Nutzungs- und Wahrnehmungsstrukturen einer ›glo/kalisierten‹ Kultur der Spätmoderne entgegen. Diese zeichnet sich ja insbesondere durch ihre Abwendung von Zentralperspektive, Mimesis und Monosemie aus und gibt somit den Weg vor für eine Rekonstitution des chinesischen Eigenen aus den Fragmenten der importierten Moderne wie auch aus solchen der chinesischen Vormoderne. Sie lösen sich in den postindustriellen Kommunikationssystemen der Spätmoderne ineinander auf und montieren ihre Strukturen in unaufhörlicher Aktualisierung neu. Aus der industriellen Produktions- und Arbeitsstruktur geboren, welche in China nur bedingt hat Fuß fassen können, hat sich das Fernsehen dort nach seiner massenmedialen Einführung in den 1980er Jahren binnen kürzester Zeit zum zentralen Medium der spätmodernen Neuordnung von Kultur und Gesellschaft entwickelt. Mehr als jedes andere Medium zeigt es sich imstande, zahlreiche Elemente des angenommenen Eigenen wie auch des als solches konstruierten Fremden in sich zu vereinen und zu aktualisieren. Der mit seiner Einführung in die chinesischen Diskurse vollzogene Wandel zu den Bildschirmmedien hat die rückwärts gerichtete Starre vormoderner Hegemonialdiskurse genauso wie den í importierten í Logozentrismus des chinesischen Postkolonialismus teilweise wie4
Stefan Kramer: Vom Eigenen und Fremden. a.a.O.
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der außer Kraft zu setzen vermocht. Es ist ein Wandel, der die scheinbare Mimesis des Fernsehbildes und die zentralperspektivischen Anordnungsstrukturen der Fernsehapparatur in einen í jeweils etwas Neues gebärenden í Einklang gebracht hat. Das geschah in den metonymischen und metaphorischen Formen des Wahrnehmens. Diese hatten die geschriebene und gesprochene chinesische Sprache und nahezu alle künstlerischen und medialen Ausdrucksformen von der Malerei über die Kalligraphie bis hin zum Teehaus- und Bühnentheater einst bedingt. Dabei verwandelt die Alterität die Identifikation jeweils zur Metonymie angrenzender Andersheit. In ihr wird der eigentliche Raum der Identität durch einen anderen ersetzt, der zu ihm in realer Beziehung steht. Er steht in einem zeitlichen, räumlichen, ursächlichen, logischen oder erfahrungsmäßigen Zusammenhang zu ihr – findet sich als Spur in ihr wieder. Die Identität wird damit zum Stückwerk, zu der ihr Stellvertreter als ihr Supplement hinzugefügt ist. Die Metonymie wird in der Aneignung der Mimesis-Medien in China als Kontiguität, also als eine tatsächliche sachliche Zusammengehörigkeit, zur Hinzu-Fügung der Metapher chinesischer Wahrnehmungstradition, welche ja immer eine sachliche bhnlichkeit aber eben keine reale Beziehung bezeichnet. Die in vorapparativen Zeiten der Kommunikation geformten und in der Gegenwart selbst zu Gegenständen der Interpretation und Wiederholung generierenden Strukturen von Wissen, Kultur und Kommunikation haben sich unmittelbar in der konkreten Nutzungs- und Wahrnehmungssituation des Fernsehens im gegenwärtigen China niedergeschlagen. Wie ein Blick auf die Wissensanordnungen bei Zhang Dongsun erweist, zeichnen sie sich vor allem durch die konkrete sprachliche Bedingtheit der Wahrnehmung aus. Sie zeichnet sowohl für das í für die materiellsinnliche Erfahrung einstehende í »Wahrnehmungswissen« (Guanjue de zhishi ᅬ㾝ⱘⶹ䆚) wie auch für das sich auf begriffliche Abstraktionen jenseits der Materialität von Gegenständen beziehende »begriffliche Wissen« (Gainian de zhishi ὖᗉⱘⶹ䆚) verantwortlich. Beide beziehen sich wechselseitig aufeinander und stehen in einer unabdingbaren Abhängigkeit von ihrer sprachlichen Bedingtheit und von den Anordnungen ihrer Kommunikation und Wahrnehmung. Letztere wiederum haben individuellen, vor allem aber gesellschaftlichen Charakter. Sie beziehen sich auf ein konkretes soziales System, welches unter seinen spezifischen Ordnungsbedingungen seine eigene Sprache und seine signifikanten Kommunikationsanordnungen hervorbringt, während beide in gleichem Maße auch ihrerseits zur Gestaltung des Systems beitragen, aus dem sie hervorgehen und in dessen Ordnungsstruktur sie stets als Spur vorhanden sind. 117
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Anders als die marxistischen Theoretiker des chinesischen Modells, die von einer jeweils gegenwärtig-materiellen Bedingtheit ökonomischer und gesellschaftlicher Strukturen ausgehen, argumentiert Zhang mit einer gesellschaftlichen Tiefenstruktur, bei der ihre Raum-/Zeitstrukturen in einer gegenwärtigen, durch die sprachlichen und medialen bußerungsund Wahrnehmungsformen determinierten gesellschaftlichen Psyche kulminieren. Sprache, Kommunikation und Wissen befinden sich in einem unaufhörlichen dynamischen Wechselspiel miteinander. Daraus ergibt sich eine chinesische Spezifik kultureller Wahrnehmung, welche das Fernsehen als neue Kulturtechnik unter ganz andere Bedingungen zwang als etwa in Europa und Nordamerika. Folgt man den Thesen Zhang Dongsuns und überträgt diese auf die neuen Medien, dann sind aus dem Wechselspiel zwischen dem Fernsehen und den anderen Medienapparaturen auf der einen, der Gesellschaft mit ihren sprachlich-kulturellen Anordnungen und deren historischen Herleitungen auf der anderen Seite Anordnungsbedingungen hervorgegangen, welche das chinesische Modell von Fernsehen und Fernsehwahrnehmung immer unabwendbarer in die transnationale Medienkultur integrieren. Allerdings unterscheidet sich diese in der lokalen Spezifik ihrer partikulären Aneignung deutlich von den Wahrnehmungsanordnungen der Medienteilnehmer in den bereits früh industrialisierten Staaten. Nicht zuletzt finden sich in der Konsequenz dieses Wechselverhältnisses immer mehr chinesische (und unendlich viele andere) Elemente in der transkulturellen Medienkultur wieder. Diese tendieren somit in Wirklichkeit mit dem Grad ihrer Aktualisierungen immer weiter von ihrem neokolonialistischen Ausgangspunkt weg, ohne dessen Spuren aber jemals vollständig aus ihrem Selbstverständnis austilgen zu können. Nichtsdestoweniger wird bis in die Gegenwart von zahlreichen Kritikern der medienkulturellen Globalisierung das Bild einer homogenen und passiven Empfängermasse der populären Produktion transnationaler Medienkonzerne gezeichnet. Ungeachtet der großen Vorteile, welche die Globalisierung China bei seiner Wiedergewinnung kultureller Identität und dem ökonomischen Wiederaufbau eingebracht hat, dient das auch seinen kommunistischen Meinungsmachern nach wie vor für die Durchsetzung ihrer nationalistischen Abgrenzungsstrategien. Bei einem Blick auf das tatsächliche Publikum der Medienangebote läßt es sich allerdings nicht aufrecht erhalten. An seiner Stelle steht in Wirklichkeit ein in seiner Summe polysemisches Publikum. Es bestätigt die Thesen Zhang Dongsuns bezüglich einer pluralistischen Erkenntnistheorie insbesondere im Hinblick auf die spätmoderne Wissens- und Sinnproduktion in der
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Mediengesellschaft Chinas und unter deren Bedingungen einer wechselwirksamen Spirale von Sprache, Denken und Kultur. Zhang stellt das chinesische Sprachsystem und dessen Bedeutung für die Strukturen des Denkens in den Mittelpunkt der Begründung seiner pluralistischen Erkenntnistheorie. Dabei ist für ihn Sprache í und sind, wenn man seine Gedanken konsequent fortführt, auch alle Medien í nicht allein Mittel und Methode des Ausdrucks und der Kommunikation von Gedachtem. Vielmehr bestimmt Sprache und bestimmen die »Strukturen« die Anordnungen des Denkens, aus dem sie selbst hervorgehen. Im Hinblick auf die griechische Tradition europäischer Kultur geht er von einer monokausalen und zentralperspektivischen, eindimensionalen Sprachkonstruktion aus. Sie habe sich bereits in der frühen griechischen Grammatik abgezeichnet und sei in die Denkprozesse aller auf ihr basierenden Kulturen transformiert worden, um deren gesellschaftlich-kulturellen genauso wie ihre technisch-ökonomischen Prozesse einschließlich der Entwicklung und gesellschaftlich-kulturellen Fundierung der typographischen Kultur und der apparativen Medien seither entscheidend zu bedingen. Dagegen erkennt Zhang im chinesischen Sprachsystem ganz andere Bedingungen, die sich ihrerseits in das Denken und in alle daraus hervorgehenden Prozesse Chinas eingeschrieben hätten. Dort stehe der linearen, monosemischen Kultur und Logik der griechischen Tradition ein auf Mehrdeutigkeit und Metaphorik angelegtes Sprach- und Zeichensystem gegenüber. Dieses beruhe nicht auf den scharfen Sinndifferenzierungen, wie sie die griechische Grammatik und alle sich auf sie beziehenden Sprachfamilien und Denksysteme befruchtet habe. Statt dessen setze die chinesische Sprache und stelle das chinesische Denken Wissen und Bedeutung vor allem auf der Ebene der Interpretation her. Diese beziehe sich zwar im Sinne einer Metonymie unmittelbar auf die Semantik und Syntagmatik, mithin auf das Material der Kommunikation. Sie betrachte diese aber eher als eine strukturelle Voraussetzung für Kultur denn als deren materielle Bedingung, wie es in den kantschen Thesen zur ›Substanz‹ vorgesehen ist.5 Zhang Dongsuns Grundannahme einer Differenz kultureller Wahrnehmung ist die Voraussetzung für die Ausdifferenzierung dieses Problemfeldes in verschiedene philosophische Fragestellungen. Es ist zudem die Vorbedingung für die Beschreibung und Erklärung zahlreicher kultu5
Zur Sprachphilosophie Zhang Dongsuns vgl.: Zhishi yu wenhua (Wissen und Kultur). S. 226ff. Für sprachanalytische Konkretisierungen und Anwendungen seines Modells vgl. Martina Eglauer: Die Welt als Kaleidoskop. S. 45ff.
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rell-gesellschaftlicher Phänomene Chinas an seiner Schnittstelle zwischen Vor- und Spätmoderne bis hin zu solchen der Kommunikation, Repräsentation und Wahrnehmung von Kultur und Wissen. Sie bedingt mithin das Verständnis der spezifischen Aneignungsprozesse und der Anordnungsbedingungen des Fernsehens im gesellschaftlichen Alltag seiner í chinesischen í Nutzer auch in der Gegenwart. Aus der metaphorischen Anordnung der Sprache in China schließt Zhang gegenüber der vernunftorientierten Logik des ›Westens‹ und deren ›reiner Lehre‹ sowohl einen größeren philosophisch-ideologischen Pragmatismus als auch eine stärker moralische Orientierung des Denkens. Sie sei bereits in den frühkonfuzianischen Schriften und den zyklischen Denkstrukturen zum Ausdruck gekommen, aus denen heraus sich alle bisherigen Gesellschaftsmodelle formuliert haben. Ihnen gegenüber sei selbst die eigentlich ausschließlich linear argumentierende ›reine Lehre‹ des Marxismus in ihrer chinesischen Interpretation nicht gefeit gewesen, indem sie sie vor allem moralisch rezipiert und in gängige Denkstrukturen eingebettet, ihre strukturelle Komponente aber nicht wirklich zur Kenntnis genommen habe. Dasselbe betrifft die Strukturen eines chinesischen Wahrheitsverständnisses. Für dieses ist in den mimetischen Medien, die mit der Modernisierung nach China gelangt sind, die exakte Abbildung von zentraler Bedeutung. Dagegen steht es in der metaphorisch angeordneten chinesischen Wahrnehmung unter gänzlich anderen Vorzeichen als in der griechischen Tradition. Folgt man den Thesen Zhang Dongsuns, dann bedeutet in der chinesischen Wahrnehmungstradition die Repräsentation von Wahrheit gerade nicht eine mediale Abbildung und also materielle Rekonstruktion, wie es das europäische Mimesis-Verständnis beinhaltet. Sie argumentiert nicht auf der Basis einer Gleichung zwischen Abbildendem und Abgebildetem. Vielmehr ist sie indikativ und in unmittelbarer Bezugnahme auf die Lautlichkeit ihrer sprachlichen Vermitteltheit angeordnet.6 Blickt man indes auf das Schriftsystem, dann formuliert sie sich vor allem in ihrer Bezugnahme auf die Zeichenhaftigkeit und metaphorische Bedeutungsstruktur ihrer visuellen Vermittlung. In beiden Fällen, sowohl in ihrem verbalen wie auch in ihrem schriftlichen Ausdruck, bezieht sie sich vor allem auf die Struktur, welche die Repräsentation für jede Interpretation und somit für die Herausbildung eines Neuen vorgibt. Dieses entsteht als eine eher relative, situative und individuelle, immer auch veränderbare und sich verändernden Gegebenheiten gegenüber anpassungsfähige Wahrheit aus den í gleichermaßen bedeutsamen í Parametern des medialen Zeichens, des Betrachters und seiner Umwelt. 6
Vgl. Martina Eglauer: Die Welt als Kaleidoskop. S. 32ff.
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Während Immanuel Kant mit dem Begriff der Wiederholung die Identität zweier Gegenstände oder Begebenheiten, also eine materielle Unmöglichkeit zum Ausdruck brachte, besteht hier das Wahrheitsverständnis im strukturellen Charakter der Materie. Es ist als Interpretation in dem Sinne wiederholbar, wie es Gilles Deleuze in seinem Buch Differenz und Wiederholung einige Jahrzehnte später in ähnlicher Weise wie Zhang Dongsun als subjektive Rekonstruktion beschrieben hat. Wiederholung bezieht sich demnach zwar immer auf das ihr zugrunde liegende Material. Sie klont dieses aber nicht als ›Substanz‹. Vielmehr begreift sie es als ›Struktur‹ für das jeweils eigene Interpretieren. Sie relativiert es jenseits aller objektiven Logik zu einem Gegenstand wie zugleich inhärenten Bestandteil der gesellschaftlichen Diskurse der Empfänger seiner sprachlich-medialen Vermitteltheit.7 Damit rückt weniger die substantielle als vielmehr die strukturelle Bedeutung der medialen Informationen wie auch der Medienapparaturen selbst in den Fokus einer Analyse des Verhältnisses zwischen Medien und Publikum. Diese Verschiebung der Schwerpunkte bei der medialen Wissens- und Bedeutungsbildung bestätigt sich bei einem genaueren Blick auf die Verortung des Fernsehens in seiner Bezugnahme auf die Tradition der direkten und indirekten, der nicht-apparativen und der apparativen, der vormodernen und der industriellen Kommunikations- und Repräsentationssysteme, die sich auf die eine oder andere Weise im Nutzungsverhalten all dieser Medien wie auch in deren Wahrnehmung durch jeden einzelnen Zuschauer niedergeschlagen haben.
Unmittelbare Kommunikation Betrachtet man das Verhältnis des Fernsehens zu den Medien einer unmittelbaren, nicht an technische Apparaturen gebundenen Kommunikation in China sowie insbesondere zu den Nutzungs- und Wahrnehmungsanordnungen der unterschiedlichen Mediensysteme, dann stellt sich zunächst die Frage, welche Medien recht eigentlich die maßgeblichen Träger der Kommunikation vor Einbruch der Moderne mit ihren apparativen Kommunikationsformen waren und wie diese sich innerhalb der gesellschaftlich-kulturellen Anordnungsbedingungen verortet bzw. in welcher Weise sie diese mit geprägt hatten. Wie Kultur sich im vormodernen 7
Vgl. außerdem Harald Wenzel, Harald: Die Abenteuer der Kommunikation. Echtzeitmassenmedien und der Handlungsraum der Hochmoderne. Weilerswist 2001.
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China medial konstituiert hat, habe ich im Hinblick auf die Bedingungen, welche das Fernsehen dort bei seiner Einführung in den 1950er Jahren und bei seiner massenmedialen Etablierung in den 1980er Jahren vorgefunden hat, bereits an anderer Stelle beschrieben.8 Demnach lassen sich bei aller Vielfalt der Kommunikations- und Repräsentationsformen von Kultur sowie der medialen Vermittlungssysteme zwei für die vorliegende Untersuchung besonders relevante Grundtendenzen unterscheiden. Zum einen handelt es sich um die unmittelbar an die Schriftlichkeit der Kommunikation gebundene zentralstaatliche Kultur des hegemonialen theokratischen Systems. Diese war vor Einbruch der Moderne bereits über Jahrhunderte hinweg an das Staatsbeamtentum gebunden gewesen und hatte im Rahmen streng definierter hierarchischer Strukturen eine zahlenmäßig sehr kleine, dabei mit einer großen Definitions-Macht ausgestattete Wissenselite etabliert. Zum anderen handelte es sich um die breite Masse der überwiegend agrarischen Bevölkerung. Diese war in aller Regel illiterat und somit nicht in der Lage, aktiv und unmittelbar an der elitären Schriftkultur und an dem Wissen zu partizipieren, durch welches sich die Anordnungen der Macht maßgeblich definierten. Die Masse hat aber nichtsdestoweniger, in der Summe ihrer Aktivitäten, erheblich zu der Etablierung und Jahrtausende langen Überlieferung einer kulturellen Formation jenseits des zentralstaatlichen Beamtentums beigetragen. Die chinesischen Volkskulturen waren überwiegend lokal angeordnet. Sie kommunizierten sich im Gegensatz zu der mittelbar angeordneten zentralistischen Schriftkultur überwiegend unmittelbar, also oral in Form eines Face-to-Face-Austauschs, welcher auch die Grundlage für die prägenden Repräsentationssysteme war. Die ländliche Kultur Chinas bildete ihre bsthetisierungen in Geschichtenerzählern und Schattenspielern auf den Marktplätzen genauso heraus wie in den vielfältigen Bühnen- und Teehaustheatern. Sie vermochte zugleich eine visuelle, abbildende Kunst zu etablieren, die sich scharf von der metaphorischen, an die Schrift gekoppelten und über die Kalligraphie gar mit jener verbundenen Malerei der Beamtenelite abgrenzte und von dieser daher weitestgehend ignoriert wurde. In der Entwicklung der meisten Gesellschaften Europas hatte sich diese scharfe Zweiteilung der grundlegenden kulturellen Techniken zwischen elitären und volkskulturellen Repräsentationssystemen bereits mit der Einführung des Buchdrucks und den Industrialisierungs- und Säkularisierungsschüben der frühen Neuzeit immer mehr verschoben und aufgehoben. Dagegen hatte sie in China bis in das 19. und 20. Jahrhundert 8
Stefan Kramer: Vom Eigenen und Fremden. S. 48-84.
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hinein und noch weit über die Auflösung des theokratischen Herrschaftssystems hinaus nahezu unverändert Bestand. Zwar waren diese beiden Bereiche von Kultur, welche zugleich die Identitätszugehörigkeiten definierten, gegeneinander durchlässig und ermöglichten es etwa den nichtchinesischen Eroberern oder auch den agrarischen ›Unterschichten‹, durch Schriftkunde und Bildung in das Elitensystem aufzusteigen. Die Kommunikationswege zwischen beiden indes blieben, indem sie sich vor allem als Weitergabe von Handlungsanweisungen von oben nach unten ohne nennenswerte Möglichkeiten einer umgekehrten Sendung von Signalen einseitig linear gestalteten, durch die Bruchstelle der Wissensdiskurse und ihrer medialen Kommunikationsformen bestimmt.
Marktplatztheater im heutigen Wuxiang, Shanxi Wissen wurde von Chinas hegemonialen Wissenseliten zwar seit jeher schriftlich und unter Verwendung eines sich in zweieinhalb Jahrtausenden nur marginal verändernden Zeichensystems gespeichert. Hierzu bediente man sich zahlreicher, sich im Laufe der Geschichte wandelnder Trägermedien vom Orakelknochen und den Felseninschriften über die Schildkrötenpanzer, den Bambus und die Seide bis hin zum Papier. Einer breiten nicht-elitären Bevölkerung wurden zentralstaatliches Wissen und Bedeutung allerdings bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts und teilweise weit darüber hinaus immer nur im Rahmen einer Rückübertragung der Informationen vom schriftlichen Medium in Mündlichkeit zugänglich ge123
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macht. Dagegen erschien den herrschenden Institutionen die eventuelle mündliche Rückmeldung auf die hegemonialen Wissensdiskurse mit wenigen Ausnahmen (etwa in Form der Aufzeichnung und Sammlung von Texten aus dem Volksliedgut) in aller Regel nicht aufzeichnungswürdig. Sie ging dem kollektiven Gedächtnis mit der Zeit in großem Ausmaße verloren oder wurde selbst von den herrschenden Diskursen adaptiert und funktionalisiert. So widerfuhr es zuletzt Mitte des 20. Jahrhunderts der bis dahin gegen die hegemonial-staatlichen Strömungen angeordneten ›Volkskultur‹ (⇥䯈᭛࣪ Minjian wenhua). Aus den lokalen Kulturen im ruralen China hervorgegangen und mündlich über die Generationen weitergegeben, wurde sie schließlich von den Kommunisten adaptiert und zu einem Teil der in das Zentrum der politischen Bestrebungen erhobenen ›revolutionären Massenkultur‹ (ӫ᭛࣪ Dazhong wenhua) erklärt, welche sich unter den Vorzeichen ihrer Industrialisierung und hegemonialen Steuerung selbst als widerständig und revolutionär definierte. Nach zahlreichen ökonomischen Liberalisierungsschritten, die seit den späten 1970er Jahren auf die Herrschaft Mao Zedongs folgten, findet sie sich inzwischen, auf CD und DVD gepreßt, als Teil einer globalisierten Medienkultur in den Kaufhäusern in China und in aller Welt wieder. Sie dient unter den Bedingungen ihrer transnationalen Neuanordnung hier wie dort längst nicht mehr der volkskulturellen und in diesem Sinne auch widerständigen Selbstrepräsentation. Vielmehr ist sie zu einem Mythenund bedeutungs- wie identitätsbildenden Element der Nostalgisierung einer imaginierten Vergangenheit bzw. der Exotisierung eines í in der gegenwärtig rezipierten Form nie dagewesenen í Fremden geworden. Als solches wiederum hat sie sich in vielfacher Weise aktualisierend sowohl hegemonial wie auch widerständig und als Widerstand gegen den Widerstand neu montieren und verorten können. Betrachtet man zudem die bis in die Gegenwart andauernden Bemühungen der staatlichen Führungsgremien Chinas um eine Harmonisierung der von den Kommunisten selbst etablierten Gegensätze zwischen politischem und kommerziellem Mainstream in der Kultur und in den Medien der Kommunikation, dann bestätigt sich daran die multimediale Vermengung der Wissens- und Bedeutungsproduktion in Chinas Moderne um so anschaulicher. Sie hat die bis dahin gängige Differenzierung zwischen mittelbarer und unmittelbarer Kommunikation sowie zwischen hegemonialen und widerständigen Wissensdiskursen mit ihren jeweils eigenen Mediensystemen weitestgehend obsolet gemacht. Dabei hat sich jede scharfe Unterteilung zwischen elitärer Kultur und den volkskulturellen Entäußerungsformen, mithin zwischen der aufstrebenden urbanen Kultur und dem nach wie vor
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weitgehend hermetischen und in seiner Entwicklung stagnierenden ländlichen China aufgehoben und ineinander verschoben. Wie die vorliegenden Untersuchungen bereits quantitativ bestätigt haben, hat das Fernsehen inzwischen ganz eindeutig die Herrschaft über die Kommunikation übernommen. Mit seiner beispiellosen Fähigkeit, die Menschen flächendeckend mit Wissen zu versorgen, vermochte es seine Nutzer in einer nie dagewesenen Gleichzeitigkeit unter seine spezifischen Anordnungsbedingungen zu zwingen, wodurch sich auf dieser Ebene der Herstellung von Bedeutung jegliche ansonsten prägenden und die Gesellschaft zweiteilenden Differenzen aufheben. Anstatt die konkurrierenden Medien aus dem Feld zu drängen, hat es gleichzeitig aber dazu beigetragen, das allgemeine Bedürfnis nach Information und Wissen sowohl in den sich zusehends postindustriell und informationsgesellschaftlich organisierenden urbanen Ballungsräumen wie auch in dem überwiegend noch agrarwirtschaftlich und vor- bis frühindustriell angeordneten ländlichen China erheblich zu steigern. So ist es in einem einzigen Dispositiv zugleich als hegemoniales Machtinstrument wie auch als demokratische Kulturtechnik angetreten. Dadurch haben sich die Wissensdiskurse genauso wie die narrativen und ästhetischen Anordnungen der kulturellen Wahrnehmung erheblich verschoben. Insbesondere sind nahezu alle performativen Künste weitgehend aus dem Alltag der meisten Dörfer und kleinen bis mittelgroßen Städte verschwunden. Als integrale Bestandteile der großen Feiertage neuorganisiert, haben sie einen bis dahin kaum relevanten Ereignischarakter angenommen, indem sie inzwischen nicht mehr die Marktplätze und Teehäuser füllen, sondern, in die Gemeindesäle und Theaterhäuser versetzt, neu kontextualisiert und politisch funktionalisiert worden sind. Die postindustrielle Spätmoderne hat selbst dort, wo die Industrialisierung bis in die Gegenwart nicht hat Fuß fassen können, an nahezu jedem Ort des weitläufigen chinesischen Festlandes ihre Anordnungsbedingungen etablieren können. Dort funktioniert Theater nun nicht mehr als offene und metaphorisch-diskursiv angelegte ästhetische Interaktion zwischen Darstellern und Publikum. Vielmehr ist es, wenn man ausschließlich auf seine Repräsentationsformen blickt, zu einer geschlossenen, linear kommunizierenden, auf seine Erzählungen setzenden und die Zuschauer in eine passive Rolle zwingenden einseitigen Nachrichtenübermittlung von oben nach unten geworden. Auf diese Weise haben die apparativen Medien inhaltlich in gewissem Sinne die Funktion der ehemaligen kaiserlichen Proklamatoren übernommen und an alle, auch nicht apparativen Referenzmedien weitergegeben. Dies trifft vor allem auf das Kino, die Printpresse und í so zumindest die Absicht der Befürworter 125
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seines Ausbaus in der Regierung í das Fernsehen zu, welche zu den drei maßgeblichen Medien zentralstaatlicher Massenkommunikation geworden sind. Es betrifft aber ebenfalls die sich im Gefolge von deren Etablierung verändernden Bühnenkünste und deren Formen einer unmittelbaren Kommunikation. Sie sind die medialen Träger der Vermittlung von hegemonial-staatlichen Botschaften aus einer politisch-schriftlichen in eine unterhaltsam-orale und performative Form, welche nunmehr in dem einzigen wirksamen Massenmedium, dem Bildschirmmedium Fernsehen, den anvisierten »Volksmassen« zugänglich gemacht wird und von dort auf die gesamte multimediale Anordnung von Kultur ausstrahlt. In Wirklichkeit ging die Infiltrierung der medialen Nutzungs- und Wahrnehmungskonventionen durch die apparativen Medien der Moderne aber noch sehr viel weiter, indem sie nämlich das Bewußtsein von Kultur selbst veränderte. Bis dahin in ihrer volkskulturellen und als solcher oppositionellen Form Teil des Selbstverständnisses aller Menschen im ruralen China, wurde die Wahrnehmung von Kultur nunmehr aus dem lokalen Alltag herausgehoben, um allerdings als zentralstaatlich hegemoniale, massenmedial kommunizierte Massenkultur im selben Zuge durch die Hintertür wieder Einlaß in denselben zu finden. Der Staat und die Partei haben sich im selben Zuge die Vertreterrolle für das Volk zugemessen und dies durch die Übernahme und Neumontage von dessen Repräsentationssystemen unterstrichen.
Linienbus mit Fernsehprogramm in Shanghai
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Somit sollte í mit allerdings in der realen Umsetzung nur geringem Erfolg í jegliche widerständige, nicht zentral regulierte Kultur ausgetilgt und aus dem kollektiven Gedächtnis entfernt werden. Diesen Anspruch unterstrichen schließlich auch die zentralstaatlichen Vorgaben an das Fernsehen. Mit seinem massenmedialen Charakter sowie seinen Programmstrukturen, die es (anders als das Kino, welches die vorgängigen Künste ersetzen sollte) nicht an die Stelle von Theater, Kino oder Herolden plazieren sollte, sondern alle diese Kommunikationsformen quasi in sich integrierte, wurde es zum ›wahren‹ Bewahrer der performativen Traditionen Chinas erklärt und darüber die industrielle Moderne scheinbar mit den vormodernen Traditionen Chinas versöhnt. Das Fernsehen wurde, so die hegemonialen Ansprüche an dieses Medium, im selben Zuge zu einem Repräsentanten und Wegweiser der Modernisierung und Erneuerung Chinas. Es hat fast unmerklich alle bis dahin widerständig organisierten Entäußerungsformen unter dem hegemonialen staatlichen Diskurs zentralisiert. Fragt man nach der wechselseitigen Einwirkung des Fernsehens auf die vormodernen bsthetisierungen und Kommunikationsarten von Kultur sowie umgekehrt nach den kulturellen Vorbedingungen, unter denen Fernsehen sich in China etablierte und seine Anordnungen strukturierte, so ist immer das Dreieck zwischen der elitären Schriftkultur, einer oral-performativen ruralen Tradition und schließlich dem Fernsehen selbst ins Auge zu nehmen. Neben den unbestreitbaren Vorteilen seiner medialen Infrastruktur hat dieses seine führende Rolle immer wieder durch ein sich ständig verschiebendes Gemisch von Aneignungs- und Abgrenzungsstrategien auch inhaltlich-ästhetisch zu begründen versucht. Die dispositiven Bedingungen des Fernsehens im allgemeinen sind hinlänglich untersucht. Fragt man indes nach den Besonderheiten seiner chinesischen Adaptation, dann rückt nach wie vor die von Zhang Dongsun beschriebene Bedeutung der Schriftlichkeit der chinesischen Kultur in den Vordergrund. Dazu gesellt sich aber auch diejenige der oralen Sprache für die kulturelle Verortung der apparativen Medien im Lebensalltag des Einzelnen wie zugleich in der kollektiven Wahrnehmung und gesellschaftlichen Konstitution Chinas. Dabei hat sich allerdings niemals jene Dichotomie zwischen »guten Medien« und »schlechten Medien« durchsetzen können, wie sie in Europa alle Mediendiskurse seit der frühen Neuzeit geprägt hat. Sie hat einen elitären, an die sogenannten höheren Künste gebundenen Kulturbegriff auch über alle Reformbewegungen hinaus in zahlreichen Diskursen festgeschrieben und den öffentlichen Blick auf das »schlechte Medium« Fernsehen, das nämlich mit seinem kommerziellen (und/oder staatspropagandistischen) An127
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spruch an ein Massenpublikum gerichtet und daher bereits in seinen grundlegenden Anordnungsstrukturen nicht elitär sein kann, beherrscht. Wolfgang Bauer legt dar, daß etwa die Konfuzianer noch sehr viel strenger auf eine Zweiteilung zwischen zentralstaatlicher Elitenkultur und den lokalen Volkskulturen bestanden hatten als z.B. die Verfechter daoistischer oder buddhistischer Lehren.9 Dabei hat gerade diese konfuzianische Unterscheidung zwischen einer schriftlichen Kultur und einer oralen Nicht-Kultur dazu beigetragen, daß sich das konfuzianische Modell und also auch diese Binärdifferenz nie in dem Ausmaße bei den breiten Bevölkerungsmassen haben durchsetzen können, wie es die chinesischen Bildungseliten mit ihrem erkenntnistheoretischen Universalismus eigentlich beabsichtigt hatten. Vom Konfuzianismus nur wenig beeinflußt und gar gänzlich unbelastet von den ideologischen Einschreibungen der industriellen Moderne, konnte sich bei den lokalen Empfängern der Medienbotschaften des Fernsehens ein sehr viel unverfänglicherer Umgang mit den neuen Medien herausbilden als bei den bis dahin an die Schriftkultur gebundenen Eliten. Das Kulturverständnis in China, welches aller medialen Wahrnehmung vorausgeht, beharrt unter diesen Vorzeichen nicht auf einem allen Kategorisierungen vorgängigen Anspruch auf die Unterscheidung zwischen der Wiedergabe von Realität und der künstlerischen bußerung. »Vielmehr beschreibt er [der Terminus dao 䘧 (Weg), mit welchem sich die Wahrnehmungsmuster am ehesten zum Ausdruck bringen lassen] […] eine zyklische Struktur der Entwicklung in Richtung der absichtslosen Leere und verzichtet in seiner Intuitivität dabei gerade auf die Modellbildung, welche dem Verständnis der Methode innewohnt«.10 Auch die Wahrnehmung des Fernsehens setzt in ihrer Kontextualisierung mit den vormodernen Medien in Wirklichkeit nicht auf die Herausbildung von Differenzen zwischen Kultur und Unkultur.11 Die Gründe dafür liegen weniger in der nach wie vor vorherrschenden Modernisierungseuphorie, durch welche die apparativen Medien insbesondere auf dem Lande noch immer als ein gerne vorgezeigtes Zeichen von erworbenem Wohlstand gelten. Vielmehr finden sie sich in der eigenen, in Jahrhunderten vormoderner Geschichte herausgebildeten Diskurstradition. Indem die chinesischen Dispositionen das Fernsehen in 9 10
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Wolfgang Bauer: China und die Hoffnung auf Glück. München 1989, S. 202. Stefan Kramer: Vom Eigenen und Fremden. S. 171. Vgl. auch François Jullien: Der Umweg über China. Ein Ortswechsel des Denkens. Berlin 2002, S. 92. Vgl. Zhang Dongsuns Ausführungen in seinem Aufsatz: Zhishi yu wenhua (Wissen und Kultur). a.a.O. Außerdem Stefan Kramer: Vom Eigenen und Fremden. S. 156-188.
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die Tradition des universellen Verständnisses von Kultur als wenhua ᭛ ࣪ (Mustern + Prozeß) stellen, welcher auch die Schriftlichkeit und die Literatur, wenxue ᭛ᄺ (Mustern + Lernen), unterstehen, setzen sie vor allem auf die Integration und die Assimilation und Einbindung seiner fremden Apparativität in den Rahmen der eigenen Diskursfelder. Das Fernsehen, dianshi ⬉㾚 (elektrisches Sehen), knüpft dabei durch die Aufnahme der Visualität (§ Mustern) und der Elektrizität (§ Prozeß) in seinem Terminus an dieselbe Tradition von Kultur an, welcher auch die chinesische Literatur überwiegend folgt. Deren Wahrnehmung ist überwiegend visuell, dabei aber nicht mimetischer, sondern vor allem metaphorischer Art. Sie eignet sich metonymisch Bedeutung an. Dabei bezieht sie sich weniger auf die Materialität des Signifikats als vielmehr auf die Struktur sowie die Individualität des Wahrnehmungssubjektes und seine gesellschaftliche Verortung in Raum und Zeit. Im praktischen Mediennutzungsverhalten der untersuchten Haushalte im ländlichen und städtischen China hat diese Wahrnehmungsanordnung des Fernsehens im Kontext seiner nicht-apparativen Vorgänger und Begleiter erhebliche Auswirkungen. Sie äußern sich zunächst in Form eines deutlich entspannteren Verhältnisses zwischen dem Fernsehen und den vormodernen Kulturtraditionen mitsamt ihren Repräsentationsmedien. Diese brauchen keinen ideologischen Vorgaben von guten und schlechten Medien, der Wahrheit verpflichteten und fiktionalen Gattungen sowie von der Binarität zwischen einer ungehemmten Technikeuphorie und deren apokalyptischen Gegenstimmen zu folgen, wie sie die Mediendiskurse in Europa seit jeher prägen und mit jeder technischen Einführung, mit jedem Medienumbruch erneut anheizen. Statt dessen herrschen in China ein großer Pragmatismus und ein individuelles, von persönlichen Bedürfnissen mehr als von hegemonialen Diskursen zu Kultur und NichtKultur geprägtes Verhalten beim Umgang mit den ›alten‹ und den ›neuen‹ Medien. Zwar finden sich zwischen Stadt und Land aufgrund von deren unterschiedlichen Alltags- und Kommunikationsbedingungen inhaltlich erhebliche Unterschiede im Mediennutzungsverhalten. Dabei ist aber in allen Versuchsanordnungen eine weitgehende Übereinstimmung bei der grundlegenden Einschätzung der Medien durch ihre Nutzer festzustellen. Diese weisen, wie die Befragungsergebnisse bestätigen, zudem in den meisten Fällen auch nach Jahrzehnten der politischen Propaganda durch die Zentralregierung noch immer eine große Unabhängigkeit gegenüber den Homogenisierungsbestrebungen und der Funktionalisierung der Medien auf. Die Antworten auf die den Teilnehmern an der Fragebogenanalyse gestellte Frage nach der konkreten Verwendung der Medien zeigen, daß 129
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das Fernsehen in seiner Nutzung und Wahrnehmung bei der ländlichen Bevölkerung zahlreiche der vormodernen Formen der Informationsbeschaffung und Unterhaltung in sich kulminiert, dabei aber nicht grundlegend an der großen Bedeutung einer Face-to-Face-Kommunikation in den Dörfern selbst gerüttelt hat. Während hier, anders als in einigen Metropolen, nur sehr wenige alternative Unterhaltungsformen präsent und auch die Kinos inzwischen genauso verschwunden sind wie die traditionellen Marktplatzspektakel, hat das Fernsehen alle diese Lücken aufzufüllen vermocht. Zudem hat es die Kommunikation von Macht und kollektiver Identität, welche seit jeher für das Bestehen des weitläufigen Staates von immenser Bedeutung war, um einige Zwischenschritte erleichtert und weitgehend zentralisiert.
Teegeschäft in Shanghai Dies ist allerdings nicht geschehen, ohne daß dabei als ungewollte Nebenwirkung auch zahlreichen Gegendiskursen die í mediale í Basis bereitet worden ist. Das Fernsehen dient in seinen Nachrichten- und Dokumentationsformaten als Lieferant sowohl für nationale und (vorher überhaupt nicht präsent) internationale (79,6 %) Informationen. Mit seinen immer zahlreicheren Regionalsendern, welche die noch in den 1980er Jahren im Wachstum begriffenen lokalen Zeitungen und Radiosender immer mehr ersetzen, ist es zudem im Begriff, die Herrschaft über die Verbreitung von lokalem Wissen über Gesellschaft, Politik, Kultur und Sport 130
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(50,8 %) an sich zu ziehen. Es hat zahlreiche, bis dahin den lokalen Autoritäten vorbehaltene Bildungsangebote (allgemeine Bildung 14,8 %; Technikwissen 20,7 %) zentralisiert und dabei erheblich auszuweiten wie zugleich auch zu kontrollieren vermocht. Insbesondere die regionalen Sendeformate berichten aktuell über Wetter und Verkehr, aber auch über lokale Verwaltungsanweisungen sowie über Konsum- (5 %) und Stellenangebote, welche allesamt unmittelbar den Alltag der ländlichen Bevölkerung betreffen und somit dem ursprünglichen Charakter des Nachrichtenformats (sich nach etwas richten) am nächsten kommen. In dieser Funktion hat das Fernsehen die Proklamatoren überregionaler Anweisungen wie auch die Wandzeitungen und schließlich die Radiodurchsagen der lokalen Verwaltungen zu ersetzen vermocht, welche inzwischen nur noch im unmittelbaren Face-to-Face-Raum dörflicher, stadtteilbezogener oder innerbetrieblicher bzw. inneruniversitärer Kommunikation auch auf Wandzeitungen und Lautsprecherdurchsagen zurückgreifen. Das Fernsehen ist zudem durch die Wiedergabe von Spielfilmen aus dem Inland, welche 42,3 % der Befragten bevorzugen, aus Hongkong und Taiwan (57,5 %) sowie aus dem Ausland (41,3 %) weitgehend im Interesse des Publikums an die Stelle der im Verschwinden begriffenen Kinos sowie í mit seinen insbesondere im Kabelfernsehen aufstrebenden Theaterkanälen, aber auch durch die fernsehspezifischen Unterhaltungsshows í an diejenige der Bühnen- und Marktplatztheater getreten. Es hat sie alle an dem Ort seiner Bildschirmwahrnehmung in eine immerwährende Gleichzeitigkeit und offene Kontextualisierung jenseits allen Ereignischarakters gezwungen. Alles in allem bringt der Versuch einer kritischen Bewertung der Rolle des Fernsehens im Hinblick auf seine Verortung mit oder gegen die vormodernen Medien der Kommunikation und Repräsentation in China diskrepante Ergebnisse hervor. Es muß festgehalten werden, daß das Fernsehen nahezu alle bis dahin gängigen medialen Formen zu weiten Teilen in sich aufgesogen hat. Es hat seine vorgängigen Repräsentationssysteme nicht verdrängt, sondern ihnen durch seine Motorenfunktion im Hinblick auf die Errichtung einer multimedialen Unterhaltungs- und Informationsgesellschaft in vielen Fällen wie denen des Bühnentheaters oder der Printmedien sogar zu einer Renaissance verholfen. Dabei hat es aber ihre Wahrnehmungsanordnungen entscheidend verändert, indem es sie medial übersetzt und außerdem aus dem lokalen öffentlichen Raum in einen virtuellen transnationalen Raum von Öffentlichkeit übertragen hat, welchen die privaten Haushalte durch ihre Anbindung an das nationale und internationale Sendenetz bilden. Dieser hat seinerseits entscheidend auch die Wahrnehmung von tatsächlichen Bühnenstücken verändert. 131
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Dies mag man, mit einem nostalgisierenden medienhistorischen Blick betrachtet, als unwiederbringlichen Verlust beklagen. Man kann es, mit innovationseuphorischen Augen gesehen, aber auch als die Errettung der zumindest im ländlichen China nach Revolution, Industrialisierung und Kulturrevolution ohnehin weitgehend verloren gegangenen vormodernen Traditionen betrachten. Wenn auch unter gänzlich anderen Darstellungsmodi, haben sie im Fernsehen immerhin zu einer Renaissance geführt und leben, durch die Fernseh-Aufmerksamkeit beflügelt, in kommerziellen Theatertruppen in vielfältiger Weise erneut auf. Wenn man von einer elitären, schriftgebundenen und hegemonialen Perspektive auf die Kultur absieht, spricht für die letzte These immerhin, daß das Fernsehen als erstes Medium in der zweitausendjährigen Geschichte des chinesischen Einheitsstaates überhaupt dessen Bevölkerung zu einer kontinuierlichen Versorgung mit Wissen und Unterhaltung verholfen, entscheidend zur Durchsetzung eines einheitlichen Sprachakzentes und in gewissem Sinne auch zur Herausbildung eines chinesischen Bürgertums beigetragen hat. Blickt man auf das urbane China, so zeigt sich dort zudem inzwischen wieder eine Rückkehr der vormodernen Unterhaltungs- und Repräsentationsformen, der Teehäuser wie auch der traditionellen Bühnentheater, die nicht als Konkurrenz zum Fernsehen auftreten, sondern in eine kulturelle und transmediale Offenheit hinein aufleben. Diese bildet nicht zuletzt durch die Transnationalisierung des Medienangebotes als lokale Mit- und Gegenentwürfe der globalisierten Medienkultur ein breiter werdendes Publikum heraus. Ungeachtet dessen, ob man das Fernsehen, wie derzeit noch die meisten Nutzer in China, begrüßt, oder ob man es, wie es in Europa zu einem Teil der ›politisch korrekten‹ Medienschelte geworden ist, verteufelt, bleibt festzuhalten, daß es neben seinen transnationalen Anordnungsbedingungen, welche erheblichen Einfluß auf die spätmoderne Neupositionierung der Kultur in China genommen haben, aber auch selbst in seiner spezifischen nationalen und lokalen Verortung von den vormodernen Formen der Kommunikation und Repräsentation beeinflußt worden ist. Es nimmt eine dominante Stellung innerhalb einer sich zusehends multimedial ausagierenden Medienkultur ein. Diese bezieht sich immer deutlicher auf die Bildschirmwahrnehmung ihrer Nutzer. Sie hat dabei aber vielfältige Verweis- und Bezugsebenen auch zu anderen, vormodern unmittelbar oder spätmodern mittelbar-apparativ kommunizierenden Medien der Wissens- und Bedeutungsproduktion herausgebildet.
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Mittelbar-apparative Kommunikation Wie die Ausführungen des vorangegangenen Abschnitts dargelegt haben, bezieht sich das Fernsehen in China auf mehrere miteinander interagierende mediale Bezugs- und Referenzebenen. Die Repräsentationssysteme vormoderner Kommunikation sind fast vollständig in den Bildschirmmedien aufgegangen. Sie haben aber gerade durch die neue, an die spätmoderne Konsumkultur gekoppelte Medien- und Unterhaltungsvielfalt neben dem Fremden insbesondere auch die eigene Tradition von Teehäusern und Marktplatztheatern als nostalgisch verklärte Utopie des Eigenen wiederbelebt und in dem veränderten Dispositiv aktualisiert. Zudem bestimmen die vormodernen Repräsentationstraditionen und die mit ihnen verbundenen Anordnungen von Kultur maßgeblich auch die Wahrnehmung der Bildschirmmedien. Sie kennzeichnen das Fernsehen neben seiner transnationalen Apparativität und seinen überwiegend nationalen und regionalen Programmen als eine chinesische Kulturtechnik, die transnationales genauso wie nationales und auch lokales Wissen und letzten Endes in seiner Wahrnehmung und kulturellen Reproduktion immer lokale Bedeutungen erzeugt. Neben seiner Referenz auf und seiner Wechselwirkung mit den vormodernen Repräsentationssystemen ist das Fernsehen vor allem mit den Medien der industriellen und spätindustriellen Moderne verknüpft. Es bildet seine Bedeutungen vor allem in seinen multimedialen Kontextualisierungen mit seinen medienkulturellen Mit- und Gegenspielern heraus. Dabei handelt es sich vor allem um die Zeitung, das Buch, das Kino und den Computer mit seinen zahlreichen Anwendungsformen und Vernetzungen. Die Publikumsbefragungen haben das Fernsehen als dominanten Produzenten von Wissen und Bedeutung innerhalb der multimedialen spätmodernen Kultur einer mittelbaren interaktionsfreien und interaktionsarmen Kommunikation sowie des interaktiven Internet transparent gemacht. Zudem hat sich seine Wirkung als Antriebsfeder für einen im allgemeinen deutlich ansteigenden Medienkonsum mit positiver Wirkung auch für die Medien bestätigt, welchen das Fernsehen als Referenz dient. Alles in allem hat, wie die quantitativen Analysen ergeben haben, das Fernsehen als von ihren medialen Anordnungen her demokratische Kulturtechnik den wohl entscheidenden Ausschlag gegeben, China inzwischen mehr und mehr als Wissens- und Informationsgesellschaft zu definieren. Damit wurde es kulturell aus seinem agrarischen oder frühmodernen Stand herausgelöst und als Zivilgesellschaft neu angeordnet. Auf dem Lande, das bis zum Eindringen des Fernsehens zu weiten Teilen na133
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hezu vollständig von jeglicher überlokaler Information abgeschnitten war, ist es vielfach zum ersten Medium der Teilnahme an der nationalen Gemeinschaft Chinas wie an der Weltgemeinschaft überhaupt geworden. Wie die Fragebogenauswertungen und die Interviews mit chinesischen Medienteilnehmern zudem ergeben haben, hat das Fernsehen auch die anderen Medien, insbesondere die Printpresse und das Kino, aber auch die neueren Medientechniken wie die VCD oder die DVD und die Konsolenspiele weitgehend in den Rahmen seiner medialen Bedingungen und seiner Bildschirmrepräsentationen integriert. Die Einführung des Fernsehens als Triebfeder der Medienkultur hat dessen Vorgängermedien nicht abgelöst. Vielmehr hat es ihre Dispositionen innerhalb der Gesellschaft entscheidend verändert. Die relativ hohe Bedeutung des Fernsehens im Alltag seiner Nutzer, welche eine Mehrzahl der Befragten sowohl auf dem Lande wie auch in der Stadt bestätigt hat, weist unmittelbar darauf hin. Zwar findet sich im urbanen China, insbesondere in weltoffenen Städten wie den untersuchten Metropolen Peking und Shanghai, ein vielfältiges Medien- und Unterhaltungsangebot, das auch intensiv genutzt wird. Dort lesen die Menschen in großem Umfang Zeitungen und Zeitschriften und besuchen die verbliebenen Kinos. Diese sind oftmals durch die Schaffung neuer Attraktionen in Multiplexanlagen mit Paarsitzen, Restauration, Nachtclubs und diversen Spielangeboten zu neuer Attraktion gelangt und haben sich so auf dem enger werdenden Markt vorläufig behaupten können. Darüber hinaus nehmen die Menschen dort die zahlreichen Familienangebote der Freizeitparks und Shoppingmalls wahr. Dabei stellen alle diese Freizeitangebote nicht wirklich eine Konkurrenz für das Fernsehen dar. Ebensowenig würde das Fernsehen deren Existenz gefährden. Vielmehr nehmen sie alle auf die eine oder andere Weise unmittelbar Bezug auf das Fernsehen, welches die Anordnungen der Medienkultur und die Wahrnehmung von Realität in China inzwischen maßgeblich definiert und dabei zugleich Träger seiner Konsumkultur ist. Das Fernsehen zeichnet sich in dieser Hinsicht gegenüber den anderen Medien der Kommunikation von Kultur in China vor allem durch seinen Charakter als Echtzeitmedium aus. Es steht in einer unmittelbaren Verbindung zu einer von seinen Nutzern erlebten Alltagsrealität. Zudem hat es die Bedingungen von Kultur neu definiert und in den Rahmen einer multipel kontextualisierten, an den Bildschirm sowie an das spätmoderne System einer globalen Medien- und Konsumwirtschaft gebundenen Wahrnehmung eingefügt. Diese prägt die Nutzung des Fernsehens als ein Metamedium von Unterhaltung und Information und verortet den Umgang mit Film, Zeitung und Buch und sogar mit dem Telephon und der 134
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(nach wie vor nicht ausgestorbenen, sondern durch die Fernsehangebote mit neuen Inhalten belebten) Face-to-Face-Kommunikation innerhalb der multimedialen Strukturen, in deren Mittelpunkt das Fernsehen steht. Mehr als jedes andere Medium in China zuvor nimmt das Fernsehen unmittelbar Anteil an und Einfluß auf dessen soziale und wirtschaftliche Prozesse. Zudem wäre auch die Konsumkultur, welche gegenwärtig das chinesische Selbstverständnis prägt und erheblichen Anteil an seinem wirtschaftlichen Aufschwung nimmt, ohne die vom Fernsehen geschaffenen Images und Wertesysteme nicht denkbar. Der Blick auf die individuellen Nutzungsweisen durch chinesische Medienteilnehmer bestätigt das Fernsehen und mit ihm alle anderen Medien, welche die gegenwärtige Medienkultur auszeichnen, als Instrumente der Konstruktion eines individuell bestimmten Selbstverständnisses wie zugleich auch einer kollektiven Identität. Diese kennzeichnet sich mehr und mehr über eine sich im Konsum ausdrückende Vielfalt und kulturelle Fragmentierung. unwichtig
Missing
nicht sehr wichtig
sehr wichtig
wichtig
normal
Alltagsbedeutung des Fernsehens in China Nachdem mit einer vergleichsweise großen Übereinstimmung zwischen urbaner und ländlicher Bevölkerung mehr als 87 % der Befragten das Fernsehen als einen mittel- bis sehr wichtigen Bestandteil ihres Alltags bezeichnet haben und sich dies im Hinblick auf die Nutzungsdauer und Nutzungsfrequenz auch im Vergleich mit den anderen Medien bestätigt hat, stellt sich nun die Frage nach den konkreten Nutzungsgewohnheiten des Fernsehens. Kino und Theater lassen ihren Besuchern in dieser Hinsicht keine nennenswerten Wahlmöglichkeiten und stellen die Menschen
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ausschließlich vor die Wahl der Nutzung oder Nicht-Nutzung eines (auf dem Lande mehr als in den Städten) relativ beschränkten Angebotes. Der Hörfunk indes ist mit einer großen Senderbindung seiner Nutzer zu einem Unterhaltungs- und, was seinen Informationscharakter betrifft, Referenzmedium des Fernsehens geworden. Dem gegenüber wird die Printpresse, welche mit ihren í damals zumeist über das ebenfalls junge Medium der Telegraphie in die Redaktionen weitergeleiteten í Informationen der Wochen- und schließlich Tagesausgaben ursprünglich als erstes zeitnahes Medium nach China gelangt war, inzwischen kaum noch als Echtzeitmedium wahrgenommen. Sie hat daher einen abnehmenden Einfluß auf die Realitätswahrnehmung ihrer Leser. Dagegen stellt das Fernsehen inzwischen die wichtigste Verbindung zwischen seinen Nutzern und deren nicht unmittelbar erfahrenen Umwelt dar und nimmt dabei, wie noch darzulegen sein wird, auch immer mehr Einfluß auf die Wahrnehmungsformen der nicht-medialen Umwelt. Indem es durch seine Informationsvielfalt, Kontinuität und Geschwindigkeit sowie die ökonomische und kulturelle Konkurrenz unter den Anbietern zugleich eine Segmentierung und Fragmentierung der Angebote notwendig machte, hat es sein Publikum mit graduellen Unterschieden zwischen Stadt und Land zur Auswahl und Gestaltung individueller Programme sowie zur persönlichen Verortung des Wahrgenommenen in den eigenen lokalen Alltag gezwungen. Damit hat es der Demokratisierung von Information und Bedeutung entscheidenden Vorschub geleistet. Zwar geben 57,4 % der Befragten an, daß sie einen Lieblingssender haben. Nichtsdestoweniger zeigt sich eine zusehends schwächere Bindung an konkrete Anbieter, wie sie beim Radio bis heute sehr stark ist und í durch Abonnements begünstigt í auch bei den Tageszeitungen. Hier spielen die Staatsorgane, die mit der »Volkszeitung« (Renmin ribao Ҏ⇥ ᮹) bis in die frühen 990er Jahre konkurrenzlos den Informationsmarkt beherrschten, nach wie vor eine wichtige Rolle. Anders als die in ihrer Übertragungsgeschwindigkeit weitaus trägeren Vorgänger und Mitspieler des Fernsehens kann dieses sich nicht auf die Weitergabe der von der staatlichen chinesischen Nachrichtenagentur »Neues China« (Xinhua ᮄढ) ausgewählten und weitergegebenen Informationen beschränken. Es profitiert statt dessen vor allem von den Bildern und von der Ereignisauswahl der weltweit kommerziell agierenden Nachrichtendienste und ist bereits auf dieser Ebene zu einem Teilnehmer an der transnationalen Mediengesellschaft geworden. Auf deren Wissens- und Bilderproduktion haben die nationalen Institutionen Chinas einen nur noch begrenzten Einfluß. Zudem findet die Nutzungsauswahl aus der angebotenen Programmvielfalt und ihren zahlreichen Segmenten unter individuellen Be136
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dingungen statt. Hier macht das Zapping, also die unbeeinflußte referenzlose Spontanauswahl nach Interesse, bei der urbanen Bevölkerung mit 50,7 % vor der Vorauswahl aus Fernsehzeitschriften (41,2 %) den Hauptanteil aus. Auf dem Lande spielen die kaum verfügbaren und angesichts hoher Illiterarizität wenig attraktiven Fernsehzeitschriften keine nennenswerte Rolle. Dagegen gewinnt dort die Empfehlung durch Bekannte und Familienangehörige gegenüber anderen Auswahlkriterien an Bedeutung. Dies stellt zugleich die Relevanz der dörflichen Face-toFace-Kommunikation auch in ihrer Wechselwirkung mit dem í mehr und mehr in diese integrierten í Fernsehalltag unter Beweis. Nachrichten andere
Reportagen
Sport Musiksendungen
Unterhaltung
Bühnenverfilm. Spielfilme Fernsehserien
Formatpräferenzen von Fernsehen im urbanen China Aufschlußreich sind in dieser Hinsicht vor allem die Vorlieben und Erwartungen, welche die Zuschauer bei der Auswahl zwischen den angebotenen Programmformaten zugrunde legen. Für 38,2 % der städtischen und 29,2 % der ländlichen Bevölkerung stellt das Fernsehen in erster Linie ein Informationsmedium dar. Sie stellen die täglichen Nachrichten und aktuellen Informationen an die erste Stelle ihrer Sehpräferenzen und bestätigen in vielen Fällen, daß sie nach Möglichkeit auch ihre Tagesabläufe auf den regelmäßigen Konsum von Nachrichten ausrichten, für den sie bereit sind, andere Tätigkeiten zu unterbrechen. Immerhin 10,2 % der städtischen und 7 % der ländlichen Bevölkerung setzen die Nachrichten noch auf die zweite Stelle ihrer Sehpräferenzen. Während in Peking und Shanghai nur 14,2 % der Befragten Fernsehserien und 18,1 % Spielfilme als Lieblingsformate angeben, nehmen auf dem Lande die Serien mit
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35,2 % eine deutlich wichtigere Rolle ein als die Informationsformate, während Spielfilme mit 4,7 % eine nur geringe Rolle spielen. Die Bedeutungslosigkeit von Spielfilmen gegenüber Fernsehserien im ruralen China ist darauf zurückzuführen, daß auf dem chinesischen Lande das Kino niemals jenen, an die seit den 1920er Jahren aktiven und unter Mao Zedong (sozialistisch) erneuerten großen Lichtspielhäuser gebundenen Mythos entfalten konnte, wie er in den Städten bis heute nachwirkt. Aus diesem Grund haben Kino und Kinofilme auf dem Lande niemals die Bedeutung erlangen können, welche sie auch als Fernsehwiedergaben zum Ereignis und somit zwingend attraktiv gemacht hätte. Dagegen sind die Fernsehserien zum beliebtesten Format der ländlichen Bevölkerung geworden. Das Kino ist mit seinem strengen Werkcharakter und seinen abgeschlossenen Narrationen, auch aus dem Kinosaal herausgelöst und in die schwach auflösenden Bildschirme übersetzt, den bäuerlichen Wahrnehmungswelten recht eigentlich fremd geblieben. Angesichts der geringen Sendervielfalt dort, die sich oftmals auf die zentralstaatlichen und die Provinzsender beschränkt, sind sie zudem abgeschnitten von den reichhaltigen kommerziellen Angeboten der semiprivaten und der Kabelanbieter mit ihren bunten Spielfilmkanälen, welche die chinesischen Metropolen inzwischen erreicht haben. Auch die gegenwärtige Hauptreferenzgröße für Fernseh-Spielfilme, die DVD, durch deren illegalen Vertrieb in den Großstädten ein quasi uneingeschränktes Angebot an chinesischen und ausländischen Spielfilmen aller Zeiten und Genres existiert, hat sich auf dem Lande noch nicht in vergleichbarem Ausmaß etablieren können. So hat die Spielfilmgattung dort nicht wirklich Fuß fassen können. Dagegen stellen die Erzählinhalte und -strukturen des Serienformats inmitten der ländlichen Lebenswelt eine höhere Attraktion dar. Sie bieten sich innerhalb des überwiegend erlebnisarmen, von den Beschleunigungen der Städte abgeschnittenen bäuerlichen Alltags mit ihren simplen Strukturen, wiederkehrenden Figurenensembles und wiedererkennbaren Alltagsgeschichten geradezu dazu an, zu einem Teil des individuellen Erlebens aller ihrer Zuschauer zu werden, welches sich unmittelbar mit dem realen Erleben verbindet. Indem die Menschen allabendlich an den in ihren Grundkonstellationen um Liebe, Haß und Gerechtigkeit vertrauten wie in ihren exotischen (urbanen, historischen oder gar fremdländischen) Settings zugleich faszinierend fremden Geschichten teilhaben dürfen, die sie über längere Episoden ihres Lebens begleiten, werden die Fernsehserien zu integralen Bestandteilen ihrer Selbst- und Umweltwahrnehmung.
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andere
Nachrichten
Musiksendungen Reportagen
Bühnenverfilm. Sport
Fernsehserien Unterhaltung Spielfilme
Formatpräferenzen von Fernsehen im ruralen China Dadurch, daß sie darüber hinaus zu Themen und wesentlichen Bestandteilen auch der dörflichen Kommunikation werden, erweisen sie sich außerdem als prägende Elemente der kollektiven Identität, welche die Dorfgemeinschaften zugleich an die Nation und an die Welt anbinden. Diese Fähigkeit ist dem Kino und den Fernsehwiedergaben von Kinospielfilmen verwehrt geblieben, welche in sich abgeschlossen sind und, abgetrennt vom europäischen Kinomythos und von den neuen Formen des Entertainment in den urbanen Multiplexanlagen, nur wenige Verknüpfungspunkte zum äußeren Erleben ihrer ländlichen Zuschauer anbieten. Die unmittelbare Verbindung zum eigenen Alltag und zur eigenen Lebensrealität ist die entscheidende Voraussetzung für den Erfolg des Fernsehens auf dem Lande. Dessen Bevölkerung ist in weit größerem Ausmaß als diejenige in den urbanen Ballungsräumen der vormodernen Form einer interaktiven und hoch kontextualisierten, an das Lebensumfeld seiner Nutzer gebundenen Kommunikation verhaftet geblieben, wie sie vor der Einführung des Fernsehens vor allem die Geschichtenerzähler und die Schauspieltruppen repräsentiert hatten. Moderne Formen einer linear und interaktionsarm kommunizierenden, in sich abgeschlossenen »heißen« Kunst, wie sie in Form des Schaukastentheaters und des Kinos mit der Moderne importiert worden waren, haben das rurale China nicht wirklich zu berühren vermocht. So vermögen auch die Fernsehwiedergaben von Spielfilmen genauso wie der DVD-Markt dort längst nicht an ihre urbanen Erfolge heranzureichen und auf dem Lande eine mit den Städ139
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ten vergleichbare Wirkung zu erzielen. Neben den Serienformaten, welche die ureigentliche Gattung des Programmediums Fernsehen definieren, sind es vor allem die Nachrichten, die das Fernsehen als Übermittler von nationalem Wissen und nationalen Bedeutungen, mithin von Handlungsanweisungen, mit welchen es an die kaiserlichen Herolde der Vormoderne anzuknüpfen vermochte, versehen und dadurch für die gesellschaftliche Konstitution so bedeutend gemacht haben. Zudem haben die zeitnah ausgestrahlten Informationssendungen, die den Charakter des Fernsehens auch als Echtzeitmedium unter Beweis stellen und sich mit diesem unmittelbar im Lebensalltag seiner Nutzer in den Metropolen wie in gleicher Weise auch auf dem Lande verorten, seine Funktion als Medium der gleichzeitigen Teilnahme aller seiner lokalen, nationalen und weltweiten Nutzer an den präsentierten Ereignissen unterstrichen. Erst dadurch konnten sich Gemeinschaften, die über den unmittelbaren Kontakt hinausgehen, konstituieren und China als Nation wahrnehmen. Sein Echtzeitcharakter bindet das Fernsehen an die in dieser Hinsicht vorgängigen Medien an, die es in seiner Wirkung aber bei weitem übertroffen hat. Dies sind die Zeitungen, welche seit den 1950er Jahren in Verbindung mit der Telegraphie als Trägermedien von Nachrichten von den Agenturen an die Redaktionen als erste eine zeitnahe Vermittlung von Informationen erzielt haben. Und es ist das Radio, mit dem zwar als erstes eine Live-Schaltung möglich wurde, mit der sich die heutige Definition von ›Echtzeit‹ verbindet, das aber, bar jeglicher visuellen ›Anschaulichkeit‹, in seiner Medialität immer sehr viel bewußter geblieben ist als das Fernsehen und somit nie an dessen wahrgenommenen ›Wahrheitscharakter‹ heranzureichen vermochte. Neben Nachrichten und zeitnah ausgestrahlten Informationssendungen, zu denen auch Sportberichte gehören, die in den Städten eine sehr viel größere Bedeutung haben als auf dem Lande, wo Sport selbst eine nur marginale Rolle spielt, Spielfilmen und Fernsehserien sind alle anderen Gattungen des Fernsehens, Musiksendungen genauso wie Theateraufnahmen und sogar die großen Unterhaltungsshows der nationalen Sendeanstalten, ohne nennenswerte Bedeutung für die Erwartungen, welche das Publikum an das Fernsehen richtet. Sie haben sich oftmals in Nischen zurückgezogen. Dort führen sie aber angesichts des Milliardenpublikums noch immer ein komfortables Dasein, wozu die mit Kabel, Satelliten und der einsetzenden Digitalisierung zunehmende Vielfalt an Sendeplätzen bis hin zum angestrebten Bouquetfernsehen ihr übriges beiträgt. Neben den Sendeformaten spielt die Herkunft der einzelnen Programmangebote für die chinesischen Zuschauer eine nur untergeordnete Rolle. Zwar ist die Auswahl nicht nur von ausländischen Sendern son140
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dern auch von synchronisierten und im chinesischen Fernsehen gezeigten fremdländischen Programmen hier noch immer gering. Das liegt an dem zentral verordneten Nationalismus, welcher den Import von Kulturprodukten reguliert und im Gegensatz dazu chinesische Produktionen politisch und wirtschaftlich fördert. Es liegt aber vor allem an den zumeist hohen Kosten für importierte Sendungen, welche die meisten chinesischen Anbieter gegenwärtig noch nicht zu zahlen imstande sind. Die Tendenzen deuten aber auch hier auf eine zunehmende Internationalisierung des Programmangebotes und somit auf die weitere Verflechtung des chinesischen Fernsehens und seiner Nutzer mit der transnationalen Mediengesellschaft. Was die Sehpräferenzen betrifft, zeigt sich, daß unter den genannten Umständen zwar vorwiegend chinesische Programme gesehen werden, wobei der Anteil vor allem an Hongkonger und taiwanesischen sowie koreanischen Sendungen und US-amerikanischen Serienformaten stetig wächst. Tatsächlich aber richten die meisten Fernsehzuschauer (62,7 % der urbanen und 72,3 % der ruralen Zuschauer) ihre Konsumentscheidung vor allem nach individuellen Präferenzen und der Qualität der Programme aus. Als interessant stellt sich dabei vor allem die Bewertung der chinesischen und ausländischen Sendeangebote durch die Medienteilnehmer heraus. Demnach sind immerhin 50,3 % der städtischen und 58 % der ländlichen Befragten alles in allem recht zufrieden mit dem Gesamtangebot des chinesischen Fernsehens. Die größere Zufriedenheit auf dem Lande ist dabei vor allem auf das geringere Alternativangebot zurückzuführen, welches andererseits der städtischen Bevölkerung bessere Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Unterhaltungs- und Informationsangeboten aus China und aller Welt ermöglicht. Die Gründe, welche städtische und ländliche Befragte für ihre Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit angeben, weisen dabei alles in allem aber eine relativ hohe Übereinstimmung auf. In den Einzelbegründungen heißt es, daß die chinesischen Fernsehangebote inhaltsreich seien, sich eng an den Bedürfnissen ihrer Zuschauer orientierten und dabei einen hohen Wert auf Bildung und die Vermittlung gesellschaftlicher Werte legten. Dabei kämen sie alles in allem den Realitäten des Alltags nahe, was als positives Bewertungskriterium die Wahrnehmung der Medialität von Fernsehen in seiner ursprünglichen Bedeutung als »elektrisches Sehen«, als »kaltes«, reizarmes und hoch kontextualisiertes Medium und seine deutliche Abgrenzung von Werkmedien wie dem Theater und dem Kino wie auch seine strukturbildende und darüber kulturalisierende Funktion unterstreicht. Dies zeigt sich auch bei den negativen Bewertungskriterien. Hier führen die Befragten in erster Linie allgemeine Kritikpunkte am Fernsehen an: das niedri141
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ge Niveau der Programme, deren kommerziellen Charakter und die hohen Werbeanteile. Zudem werden Gründe genannt, die dem Fernsehen einen eigentlich hohen Wert zusprechen, seine chinesischen Varianten aber hinsichtlich ihrer produktionstechnischen Mängel und ihrer ideologischen Dogmatik und Didaktik kritisieren. Die Wahrnehmung von Unterschieden zwischen chinesischen und fremdländischen Programmangeboten knüpft überwiegend an die Bewertungskriterien an und bestätigt im großen und ganzen die dort transparent gewordenen Tendenzen einer durchweg attestierbaren Zufriedenheit mit dem chinesischen Fernsehen. Verbunden ist das mit der Annahme, daß es in seiner technisch-ästhetischen Qualität noch immer weit hinter den Programmen der westlichen Industriestaaten hinterherlaufe und zudem zu sehr in seinen ideologisch-didaktischen Ansprüchen gefangen sei, um wirklich einschränkungslos informativ und unterhaltsam sein zu können. Es bestätigt sich, daß die Wahrnehmung der Medienkultur durch die chinesischen Publika den Anbietern in China inzwischen weit vorausgeschritten ist. Erstere entsprechen keinesfalls der oftmals angenommenen homogenen Empfängermasse von didaktisch verbreiteten nationalen Informationen, sondern sind in aller Regel durchaus in der Lage, diese zu filtern, zu vergleichen und bewußt kritisch zum eigenen Erfahrungshorizont in Beziehung zu setzen. So fallen nicht nur den städtischen Medienteilnehmern sondern auch denjenigen auf dem Lande trotz der geringen Vergleichsmöglichkeiten die schwache Produktionsqualität und die relative Statik chinesischer Programme gegenüber dynamisch-lebendigen, auf Unterhaltung und Emotionalität abzielenden ausländischen Angeboten auf. Zudem wird, wenn das Wort ›langweilig‹ die Bewertungen durchzieht, durchaus der tatsächliche Charakter erkannt, welcher diesem Medium innewohnt. An dessen Ansprüchen muß sich das chinesische Programmangebot orientieren, wenn es bei seinem Publikum erfolgreich sein will. Hier ist die von der Politik, den Fernsehmachern und der Theorie immer wieder mit sozialistischer Plakativität beschworene Wahrhaftigkeit und Realitätsnähe seiner Bilder nicht auf Resonanz gestoßen. Sie nimmt das Publikum, wie die Befragungen ergeben haben, diesem Medium í wie um so deutlicher auch seiner zentralstaatlichen chinesischen Variante í ohnehin nicht ab und hat es ihm wohl auch nie abgenommen. So sind die didaktischen Bemühungen der chinesischen Institutionen um dessen ideologisch-politische Funktionalisierung zur Erfolglosigkeit verurteilt. Zudem erweist sich der demokratische Charakter des Fernsehens und der Medienkultur immer wieder als resistent gegenüber den zahlreichen Manipulations- und Funktionalisierungsversuchen durch seine Produzenten. Die Befragungen bestätigen, daß das Fernsehen in seiner 142
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multiplen Kontextualisierung im Rahmen der China immer mehr vereinnahmenden transnationalen Medienkultur und in deren intermedialen Bezügen zu Zeitung, Computer und Internet wie auch dem Kino alles in allem zur allmählichen Herausbildung einer Zivilgesellschaft beigetragen hat. Dies haben seine Vorgänger, Mitspieler und Konkurrenten, die Printmedien und das Kino, in ihrer medialen Abgeschlossenheit und ihrer engen Anbindung an die importierte Kultur der industriellen Moderne, welche sie nicht wirklich in den Alltag der Menschen und in deren Selbstwahrnehmung haben übertragen können, noch nicht in diesem Ausmaße vermocht. In welcher Weise das Fernsehen unter diesen Voraussetzungen tatsächlich auf das Selbstverständnis seiner chinesischen Nutzer Einfluß nimmt oder seine Wahrnehmung von deren Dispositionen beeinflußt wird, um in einer multiplen Wechselwirkung der am Bedeutungsbildungsprozeß beteiligten Faktoren Wissen und Identität zu produzieren, werden die beiden Kapitel des abschließenden Teils dieser Untersuchung zu klären haben. Sie widmen sich den (medial) wahrgenommenen Raumund Zeitbezügen von Kultur sowie der Selbstverortung von Individuum und Gesellschaft innerhalb der vom Fernsehen dominierten spätmodernen Mediengesellschaft Chinas.
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5. W A H R N E H M U N G S A N O R D N U N G E N I: FERNSEHEN UND RAUM Auf der Grundlage der in den vorhergehenden Abschnitten getroffenen Aussagen zur Medienausstattung und -nutzung sowie der Verortung des Fernsehens im Alltagsverhalten der befragten Menschen beschäftigen sich die beiden abschließenden Kapitel mit der »Wahrnehmung« der Medienangebote durch chinesische Medienteilnehmer und mit deren kultureller Reproduktion. Sie analysieren in Form von quantitativen und qualitativen Befragungen sowie einer teilnehmenden Beobachtung und diskursanalytischen Auseinandersetzung mit dem Beobachteten deren Praxis der Herstellung von individueller und kollektiver Bedeutung unter den Anordnungsbedingungen des Fernsehdispositivs. Im Vordergrund stehen die Konstruktionsbedingungen von Raum und Zeit, unter deren Dispositionen jede Bedeutung generiert und sich in ihre konkreten Gegenstände ausdifferenziert. Dabei geht es vor allem um die Frage danach, ob und in welcher Form das Fernsehen als Kulturtechnik innerhalb der chinesischen Gesellschaft hat Fuß fassen und sich als Produzent von Wissen und Bedeutung im Alltag seiner Nutzer verorten können. Es geht zudem darum, das Fernsehen als fremdes oder eigenes apparatives Dispositiv und als Konstrukteur und Träger von Selbst- und Fremdbildnissen herauszustellen, das zum entscheidenden Teil einer vormodernen oder spätmodernen individuellen und kollektiven Identitätsbildung seiner Zuschauer und Teilnehmer in der VR China geworden ist.
Heterotopien des Fernsehdispositivs Zur Bestimmung der Wahrnehmung von Struktur und Ordnung als eigene oder fremde Kultur sowie einer unmittelbaren Verortung des Fernsehens und seiner Formate ist der Blick auf die Wahrnehmungsleistungen und die Prägungen der kulturellen Reproduktion durch das Publikum selbst zu richten. Die von Stuart Hall entwickelten Thesen zum »Enco-
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ding/Decoding« und das in Anlehnung daran vorgeschlagene Modell eines »Circuit of Culture« gehen, wie in der Einleitung dargelegt, im Verständnis von »Active Audiences« davon aus, daß mit den Wahrnehmenden nicht passive Empfänger von Strukturen und Informationen gemeint sind, deren Habitus in ausschließlicher Abhängigkeit von den Bedeutungsangeboten entsteht. Darunter verstehen sich aber auch nicht Zuschauer, die ihr Selbstverständnis ohne jegliche wechselwirksame Beeinflussung durch die Medienangebote und deren Dispositionen konstruieren. Vielmehr sind die Mediennutzer als individuelle wie zugleich immer auch als Gemeinschaften herausbildende aktive Teilnehmer selbst Produzenten im Netzwerk der Kommunikation von Wissen und Bedeutung. Dabei aktualisieren sie immer auch Wahrnehmungs- und Erinnerungsfragmente der kommunizierten Bedeutungen und ihrer materiellen Anordnungsstrukturen, um diese í bewußt und unbewußt í als Spuren metonymisch in ihr Welt- und Selbstverständnis und in ihre kulturelle Strukturbildung einzuarbeiten. Ausgangspunkt der nachfolgenden Untersuchungen ist daher die Annahme einer grundlegenden Trennung von Mitteilung und Information. Sie unterscheidet die hier gemeinte Form der Wahrnehmung »vom bloßen Wahrnehmen des Verhaltens anderer«, wie es Niklas Luhmann zur Begründung seines Kommunikationsbegriffs als Synthese der drei Selektionen von Information, der Mitteilung dieser Information und eines selektiven Verstehens oder Mißverstehens derselben anführt: Im Verstehen erfaßt die Kommunikation einen Unterschied zwischen dem Informationswert ihres Inhalts und den Gründen, aus denen der Inhalt mitgeteilt wird. Sie kann dabei die eine oder die andere Seite betonen, also mehr auf die Information selbst oder auf das expressive Verhalten achten. Sie ist aber immer darauf angewiesen, daß beides als Selektion erfahren und dadurch unterschieden wird. Es muß, mit anderen Worten, vorausgesetzt werden können, daß die Information sich nicht von selbst versteht und daß zu ihrer Mitteilung ein besonderer Entschluß erforderlich ist. Und das gilt natürlich auch, wenn der Mitteilende etwas über sich selbst mitteilt. Wenn und insoweit diese Trennung der Selektionen nicht vollzogen wird, liegt eine bloße Wahrnehmung vor.1
1
Niklas Luhmann: ›Was ist Kommunikation ?‹ In Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung. Bd. 6, Frankfurt a.M. 1995, S. 115. Vgl. hierzu Dirk Baecker: ›Kommunikation als Differenz‹. In Dirk Baecker: Kommunikation. Leipzig 2005, S. 73-83.
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Wenn im Folgenden von der Wahrnehmung und dem Verstehen des transnationalen Fernsehdispositivs sowie spezifischer chinesischer Fernsehformate die Rede sein wird, dann ist damit nicht die pure Aufnahme von Signalen, d.h. von reinen Informationen gemeint. Genauso wenig ist eine mediale Übertragung von Wissen und Bedeutung gemeint, bei der das Medium als ein selbst neutrales Instrument in Händen der Programmmacher verstanden würde. Vielmehr geht es in Anlehnung an Luhmanns These eines selektiven Verstehens oder Mißverstehens um die Darstellung eines in der oben beschriebenen Weise aktiven, aber an das Ausgangsmaterial seiner Wahrnehmung gebundenen Publikums und um die Herausstellung der bedeutungsbildenden Elemente von Kommunikation im Spiegel ihrer kulturellen Aneignung und Reproduktion von Medienbedeutungen bzw. um deren Verortung oder auch Ablehnung im Rahmen seines eigenen kollektiven und individuellen Selbstverständnisses und Lebensalltags. Es geht also um denjenigen Teil der Kommunikation, bei welchem der Wahrnehmende über seine Nutzungsentscheidungen hinaus auch im Hinblick auf die Konstruktion seines eigenen Selbstverständnisses bewußte oder auch unbewußte Entscheidungen trifft. Diese veranlassen ihn, immer neue Selektionen vorzunehmen und vieles zu vergessen, das Ausgewählte hingegen zu kategorisieren, zu erinnern und auf die eine oder andere Weise in den unaufhörlichen Prozeß seiner individuellen Wissens- und Sinnproduktion einzubinden. Die Wissensproduktion steht ihrerseits in einer ständigen Wechselwirkung mit den Prozessen einer kollektiven Erinnerung, aus denen sowie ihren Anordnungen und Strukturen heraus ein kulturelles Gedächtnis, mithin Identität entsteht. Anhand der Beantwortungsmodi von drei Fragen aus den Bögen der vorliegenden quantitativen Untersuchungen läßt sich diese Problematik veranschaulichen. Gefragt wurde dabei zum einen nach der Wahrnehmung von Vorbildern für das eigene Selbstverständnis in den Fernsehprogrammen sowie nach deren Beurteilung, zum anderen nach der Glaubwürdigkeit von Werbeformaten des Fernsehens und deren Einfluß auf das jeweils eigene Kauf- und Konsumverhalten mit Blick auf einen möglichen Unterschied in der Wahrnehmung chinesischer und nicht-chinesischer Produkte. Bei der Frage nach Vorbildern geben immerhin 42,3 % der städtischen und sogar 64,6 % der ländlichen Befragten an, daß sie in Fernsehfiguren Vorbilder für das eigene Denken und Handeln sähen. Dabei spielen vor allem universelle Wertkonfigurationen, wie sie sich in der globalisierten Weltgemeinschaft festgeschrieben haben, eine Rolle: Kampf für das Gute, Unterstützung Bedürftiger und Mut. Es handelt sich um eine Wertegruppe, die man auch bei europäischen Untersuchungen in 147
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ähnlicher Weise antreffen würde. In geringem Ausmaße spielen insbesondere für die ländliche Bevölkerung zudem Werte wie Reichtum und Schönheit eine Rolle, im urbanen China indes überhaupt nicht. An erster Stelle wird allerdings sowohl bei den ländlichen (28,2 %) wie auch bei den städtischen Befragten (29,2 %) einvernehmlich ein anderer Wert genannt, der in Europa bei vergleichbaren Studien kaum Erwähnung findet: Weisheit. Weisheit als Wertekategorie, die sich grundlegend vom philosophischen Gedanken des europäischen Denkens in der griechisch-römischen Tradition unterscheidet, verweist unmittelbar auf konfuzianischbuddhistisch-daoistische Vorbilder aus der chinesischen Gelehrtentradition. Sie wird aus den Sinnangeboten des Fernsehens herausgefiltert oder in sie hinein konnotiert und zum Teil der Selbstkonstruktion der Medienteilnehmer. Dabei spielt das Fernsehen in gleichem Maße die Rolle als Sinngeber wie auch als leere Projektionsfläche für die Entscheidungsprozesse der Zuschauer und ihre kulturelle Erinnerung, in der sich Strukturen reproduzieren und mit immer neuen Semantiken und Bedeutungen verknüpfen. Sie werden zu Mythen aktualisiert, um daraus jeweils neue Zeichen zu generieren und sich somit in einer Spirale von Wechselwirkungen unaufhörlich neu zu montieren, ohne dabei allerdings das strukturelle Anordnungssystem der zugrunde liegenden kulturellen und sozialen Ordnung zu verlassen. Das zweite Beispiel bezieht sich auf die in der populären chinesischen Wahrnehmung ungeteilt einer importierten westlich-kapitalistischen Kultur zugerechneten Werbeangebote im Fernsehen. Diese halten immerhin 69,8 % der ländlichen und gar 74,7 % der urbanen Fernsehzuschauer für zumindest teilweise glaubwürdig. Sie gestehen ihnen einen unmittelbaren Informationscharakter zu und ordnen sie dem Wissens- und Sinndispositiv Fernsehen zu. Die Werbung chinesischer Produkte erscheint dabei noch als glaubwürdiger als diejenige ausländischer Fabrikate. Sie erweckt bei den Befragten deutlich mehr Vertrauen im Hinblick auf das eigene Kauf- und Konsumverhalten. Nichtsdestoweniger geben 65 % der städtischen und 74 % der ländlichen Bevölkerung an, sich im Hinblick auf das eigene Kaufverhalten nicht von der Werbung beeinflussen zu lassen. Anhand dieser beiden Beispiele zeigt sich deutlich, wie sehr das Fernsehen als ein offen kontextualisiertes Medium zu betrachten ist, das Bedeutungen nicht ausschließlich aus seinen Formaten und Texten und auch nicht ausschließlich aus seinen medialen Strukturen, sondern vielmehr aus den sich unaufhörlich aktualisierenden »flows« zwischen diesen beiden Parametern und der kulturellen Wahrnehmungsleistung seines Publikums produziert. Letztere indes setzt sich aus den neurophysiologischen Grundlagen der Wahrnehmung genauso zusammen wie aus sozia148
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len und kulturellen Vorbedingungen und den jeweiligen Dispositionen der Gesellschaft: dem sich aus diesen formierenden kulturellen Gedächtnis wie dessen Semantiken, Syntagmen und Praktiken. Aus ihnen ergeben sich die Nutzungs- und Wahrnehmungsentscheidungen, welche wiederum in letzter Instanz Sinn und kulturelle Reproduktionspraktiken hervorbringen. Diese gehen ihrerseits in die Spirale technischer Innovationen und eines Mythenmodells nach Roland Barthes ein.2 Die beiden Beispiele aus unseren Befragungen zeigen, daß Wahrnehmung, wenn man sie mit Barthes betrachtet, in diesem Sinne durchaus wörtlich zu verstehen ist: etwas für wahr nehmen. Sie allein bildet die hinreichende Beziehung zwischen der Innenwelt der Medienteilnehmer und ihrer Umwelt einschließlich der medial kommunizierten Sphäre und nicht zuletzt auch der Medien selbst. Diese Beziehung wird vor allem in ihren räumlichen Anordnungen verstanden. Sie ist aber niemals linear im Sinne der Verbindung zweier Punkte im Raum miteinander. Sie läßt sich auch nicht als interaktive Kommunikation zwischen bloß zwei Elementen, dem Medium mit seiner Botschaft auf der einen, dem Rezipienten auf der anderen Seite verstehen. Es ist von einer »reinen Wahrnehmung«3 abzusehen, wie Henri Bergson sie als maschinelle Signalübertragung beschrieben und damit als bloße Denkfigur eingeführt hat. Befreit man indes í ebenfalls als tatsächlich unmögliche reine Denkfigur í die Wahrnehmung von der Materialität des Wahrgenommen wie zugleich auch von der Signifikanz des Zeichens, dann wird man zwangsläufig auf das Wahrnehmungssubjekt zurückverwiesen und kann dessen Anordnung im Hinblick auf seine Beziehung zur Umwelt zur »reinen Wahrnehmung« hinzumontieren. Demnach ist in unserem Zusammenhang weniger nach den neurophysiologischen Bedingungen der Wahrnehmung, welche als »reine Wahrnehmung« frei wäre von Umwelteinflüssen jenseits der reinen Signalübertragung, oder nach den Signifikanzen von Medienbotschaften zu fragen. Statt dessen steht das Wahrheitsverständnis der chinesischen Medienrezipienten in seiner Wechselwirkung mit den unterschiedlichen Konstruktionen ihres individuellen und kollektiven Selbstverständnisses im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Wahrnehmung des Publikums ist in eine Beziehung zu setzen zum einen zu der Medialität und den Dispositionen ihrer Vermittlung und zum anderen zu den unterschiedlichen Modellen nationaler Identitätsdiskurse sowie deren historischen Herleitungen und schließlich ihren Ausdifferenzierungen oder Gegendiskursen. 2 3
Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt a.M. 1981. Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg 1991, S. 19ff.
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Aneignungs- und Ausdifferenzierungsprozesse von Sinn und Bedeutung finden auf vielfältige Weise statt. Dabei machen die Dispositionen der Wahrnehmung selbst zwar nicht den einzigen hinreichenden aber doch einen wesentlichen Faktor aus. Der Schweizer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Adolf Muschg etwa beschreibt in seinem 1965 entstandenen literarischen Debütwerk, dem Roman Im Sommer des Hasen4, eindringlich die Formen der Wahrnehmung des Fremden durch seinen fremden, europäischen Betrachter. Er erzählt die Geschichte von sieben Japan-reisenden Journalisten, die sich mit ganz unterschiedlicher Intention und Bereitschaft mit der Gesellschaft und Kultur Japans auseinandersetzen, mit dem gemeinsamen Ziel, durch einen möglichst authentischen Artikel ihre eigenen Karrieren anzukurbeln. Während sich sechs der jungen Journalisten auf unterschiedliche Weise in das Leben der Städte oder in die angenommene Ursprünglichkeit und Reinheit des Landes begeben, verzichtet die Figur des Autoren Paul Weigerstorfer darauf, den ihm angetragenen Reise- und Erlebnisbericht über Japan anhand eigener – touristischer – Erfahrung zu verfassen. Er entsagt vollständig den Besuchen aller Sehenswürdigkeiten. Er begibt sich während der Materialsuche für seine Texte auch nicht in den japanischen Alltag. Für die Erfahrung des ihm fremden Landes, über das er schreiben will, erscheint ihm jegliche äußere Realität bedeutungslos. Statt dessen verbringt Weigerstorfer die Zeit seines Aufenthaltes überwiegend in seinem Hotelzimmer. Dort zappt er durch die lokalen und nationalen Fernsehsender und ersetzt die Erfahrung der äußeren Realität durch diejenige ihrer Mediatisierungen. Die von ihm geschriebenen Berichte werden auf diese Weise zu literarischen Reproduktionen und also Symbolisierungen der audiovisuellen technischen Reproduktionen von Realität, wie sie das Fernsehen verbreitet. Sie verlieren hier wie in aller Regel durch diese Materialgrundlage gegenüber den Lesern jede Glaubwürdigkeit, mithin sogar ihre literarische Qualität, weil ihnen nicht die eigene Erfahrung von Realität zugrunde liegt, sondern »nur« das mediale Erleben, aus dem sich im Prozeß des Aufschreibens eine zweite Metaphernbildung herauskristallisiert. In dieser Einschätzung und Bewertung der Realitätswahrnehmung und ihrer Mediatisierungen verbirgt sich der gesamte Anspruch der Fernsehrezeption. Zudem verweist sie auf die apparative, mediale Bedeutung des Fernsehens zurück und prägt die Strategien der Programmgestaltung jeweils entscheidend mit. Die Bilder des Fernsehens werden genauso wie die Berichte von Reisenden, wenn sie sich als solche ausgeben, in aller Regel bedenkenlos als Realität wahrgenommen. 4
Adolf Muschg: Im Sommer des Hasen. Frankfurt a.M. 1975, S. 94-103.
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Dabei erscheinen nicht nur die Inhalte als authentisch. Vielmehr nivelliert sich durch sie sogar das Bewußtsein von der Medialität der Texte und Bilder. Gleichzeitig wird allerdings dem Verfasser der Texte nicht gestattet, dieselben Kriterien an die Bilder und Texte anzulegen und sie als authentisch einzuschätzen, was ja eine Voraussetzung wäre, um diese ebenso glaubwürdig in seine eigenen Texte und Bilder zu expedieren. Ihm und seinen Bildern und Texten wird also ungeachtet dessen, daß man den Bildern, sofern ihre Kontexte eine Authentizität behaupten, uneingeschränkt Glauben schenkt, von dem Moment an nicht mehr geglaubt, in dem man weiß, daß seine Erfahrung von Realität auf eben denjenigen Bildern beruht, denen man selbst alles Vertrauen entgegengebracht hat. Die Reproduktion von Realität ist im Hinblick auf die Wahrnehmung von Authentizität durchaus gestattet, die Reproduktion der Reproduktion indes nicht mehr. Sie wird zur Lüge. Auf der anderen Seite liegt dieser Regel von Realitätswahrnehmung immer jener mimetische Glaubenssatz zugrunde, welcher besagt, daß man das, was man sieht, auch glauben kann, wenn man diesen inzwischen nicht sogar auf ein als materielle Abbildung wahrnehmbares »Nur das, was man sieht, kann man auch glauben« erweitern muß. Ungeachtet dessen, daß Bilder, wenn sie sich als mimetisch, also als abbildend, begreifen, ja über das Abgebildete hinaus eigentlich gar nichts aussagen, sie also im Umkehrschluß auch nicht lügen können, beherrscht die Frage nach der Authentizität des Bildes die Mediendiskurse spätestens seit Beginn der digitalen Manipulierbarkeit von (in Wirklichkeit in analoger Herstellung ja nicht weniger konstruier- und veränderbaren) Bildern entscheidend. In Bezugnahme auf diese Formel stellt die Romanfigur Paul Weigerstorfer mit Recht die Frage nach der Legitimation für die Annahme eines authentischen Bildes, welche zwangsläufig zu derjenigen nach der Differenz zwischen einer medialen und einer außermedialen Wahrnehmung von Raum führt: Weigerstorfer wollte wissen, was denn primär sei: etwa die Sehenswürdigkeiten, die ein Reiseunternehmen auf dem plattesten möglichen Niveau vorentscheide und dann, nach Preisklassen geordnet, auf eine Busreise montiere? Hier bestätige man ja nur, was man für die westliche Idee des Exotischen halte. Die Tour sei eine lebende Postkarte, die in Los Angeles entworfen sein könnte. Dagegen der Film! Nicht nur der, mit dem man in Cannes eine Palme hole, sondern gerade der triviale, für den Massenkonsum entworfene! Hier male der Japaner sein eigenes Selbstbildnis, interpretiere, was für ihn Wirklichkeit sei, erfülle sich seine Wünsche, nicht explizit, sondern in der untrüglichen Sprache der Optik.
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Blickt man auf die mediale Konstruktion Chinas wie seiner in die Texte eingeschriebenen Wahrnehmungsstrategien, so ergibt sich ein ähnliches Bild wie in der von Adolf Muschg dargestellten Situation, welche durch die Beschreibung der Ausnahme ein kritisches Bild der Regel und Norm entwirft. Dabei macht es bei der Konstruktion von Bildern und Texten eigentlich keinen Unterschied, welche Medien verwendet werden und mit welchen Genre- und Gattungsbezeichnungen die einzelnen Werke und Produkte etikettiert werden. Wichtig ist der Glaubensgrundsatz, welcher dem Wahrnehmungsbegriff durch seinen Anspruch, »etwas als wahr zu nehmen« von vorne herein eingegeben und in die Medialität des Wahrnehmungsdispositivs Fernsehen eingeschrieben ist. Daraus ergibt sich eine grundsätzliche Übereinstimmung des medial abgebildeten mit dem medial wahrgenommenen Objekt als Voraussetzung der Annahme von Authentizität. Diese würde sich auf der Grundlage dieser Voraussetzung einzig und allein aus der indexikalischen Beziehung zwischen dem Signifikat und dem Signifikanten der Darstellung, nicht aber aus derjenigen zwischen Signifikanten und wahrnehmendem Subjekt ergeben. Außerdem würde sie den für die tatsächliche Wahrnehmungsleistung ebenso wichtigen Faktor der Zeit und Bewegung völlig außer acht lassen. Während diese Annahme auch von den maßgeblichen Vertretern der chinesischen Medientheorie verfochten wird, geht Olaf Breidbach in seinen Untersuchungen zur neuronalen bsthetik von komplexeren Wahrnehmungsstrukturen und einer Bedeutungskonstitution aus, die sich vom wahrgenommenen Objekt und seiner Mediatisierung in die neuronalen Prozesse des wahrnehmenden Subjektes verlagert.5 Dabei wird das Innen der menschlichen Wahrnehmung sehr viel weniger vom Außenraum bestimmt, als vielmehr die Konstruktion des Außen durch die Bedingungen des Innenraums Hirn, der zugleich das eigene Ich und somit, entscheidend für unseren Diskurs über die mediatisierte chinesische Selbstwahrnehmung im Fernsehen, auch die eigene Kultur zum Objekt der Betrachtung, zum wahrnehmbaren Außen bestimmt: Der Blick in das Innere des Schädelkastens, diese im Instrumentarium erfolgende Nabelschau des Hirns ist doch nichts anderes als die Objektivierung jenes Inneren, das sich derart wie ein Handschuh umstülpt und sich selbst zum Außenraum einer Analyse macht, die nun so das Subjekt objektivierbar findet. Aus dieser Objektivierung, die in ihrer Zerstückelung auch jeden Frei5
Olaf Breidbach: ›Die Innenwelt der Außenwelt î Weltkonstitution im Hirngewebe?‹ In: Olaf Breidbach und Karl Clausberg (Hg.): Video ergo sum. Repräsentation nach innen und außen zwischen Kunst- und Neurowissenschaften. Hamburg 1999, S. 35-60.
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WAHRNEHMUNGSANORDNUNGEN I raum abtrennt, wird das Innenleben des Eigenen augenfällig. Das Selbst wird wahrnehmbar, in Bilder übersetzbar, die eine Entgegensetzung, eine Auseinandersetzung erlauben. Sie machen die Inszenierung des Ichs in seinen Elementen zu einem Theater, in dem die Skalenausschläge der Registraturen die Bühne ersetzen, auf der die Außenwelt sich in das Innenleben des Hirnes eingeholt und zugleich in der Analyse auch ausgliederbar findet.6
Breidbachs neuroästhetische Analyse bietet durchaus eine physiologische Legitimation für das Modell Stuart Halls wie für unseren von jenem auszudifferenzierenden Untersuchungsansatz. Sie stützt sich auf die neurowissenschaftlichen Untersuchungen von C.A. Skarda und W.J. Freeman.7 Dabei kommt sie nicht zuletzt auch einem chinesischen Modell der Bedeutungskonstitution nahe. Wie an anderer Stelle ausgeführt, versteht sich Wahrheit dort auch unter den Bedingungen der spätmodernen Anordnungen von Medien und Kultur eben nicht ausschließlich mimetisch oder allegorisch. Vielmehr ist sie auch als ein diskursiver Prozeß der Kommunikation zwischen dem Medium, sei es der Schauspieler auf der Bühne oder der an dessen Stelle tretende Fernseher im heimischen Wohnzimmer, und seinem Rezipienten zu begreifen, wie er sich zumindest als Spur aus den vormodernen Wahrnehmungskonventionen in die gegenwärtige Fernsehrezeption hinein aktualisiert und mit dem MimesisVerständnis des Fernsehens zu einer immer neuen Bedeutungsstruktur montiert hat. Die Differenz zwischen erlebter äußerer oder medial vermittelter Realität spielt dabei für den Wahrnehmungs- und den Wahrheitskonstruktionsprozeß im Innenraum des einzelnen Medienteilnehmers, aber auch im Innenraum der sich selbst als Identitätseinheit konstruierenden Gesellschaft eine untergeordnete Rolle. Sie entzieht sich in der Wirklichkeit der Fernsehwahrnehmung letzten Endes doch immer wieder einem jeden indexikalischen Vergleich. Der Außenraum ist, wie Barthes es in seinem Japan-Essay Das Reich der Zeichen8 exemplarisch vorgeführt hat, auch hier am Ende nichts anderes als ein in der Wahrnehmung zum Mythos generierendes Zeichen und somit immer ein Produkt des Innenraums Hirn, das nur mittelbar auf den Außenraum zurückverweist. Dabei bedient es nichtsdestoweniger die Authentizitäts-Konventionen des hegemonialen Fernsehdiskurses, welche in diesem Falle selbst den gesellschaftlich konstitutiv wirksamen Mythos des kollektiven 6 7
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Ebd. S. 41. C.A. Skarda und W.J. Freeman: ›How brains make chaos in order to make sense of the world‹. In: »Behavioral and Brain Sciences«. 10/1987, S. 161195. Roland Barthes: Das Reich der Zeichen. Frankfurt a.M. 1981.
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Selbstbildnisses darstellen. Von Bedeutung ist dabei vor allem, daß sich in Breidbachs Neuroästhetik die Differenz zwischen der Wahrnehmung des Ich und derjenigen des Anderen, die allem kulturellen Denken in der europäischen Tradition zugrunde liegt und konsequenterweise auch die Medienapparaturen als Differenz zur Identität des Wahrnehmenden Subjektes resp. der wahrnehmenden Gesellschaft mit einschließt, am Ende quasi auflöst. Zumindest entpuppt sie sich aber als eine soziokulturell geprägte, in ihrer Medialität ästhetisierte Konstruktion. Dies eröffnet zugleich den Raum für alternative Formen der Rezeption von Fernsehen, in deren Mittelpunkt die Befreiung von den Strukturen und Dispositionen seiner technisch-materiellen Eigenschaften steht. Sie vermögen die Leerstellen des Wahrnehmungsprozesses im Rahmen eigener Prägung und Konventionen mit Bedeutung zu füllen und somit einem vormodernen chinesischen Kulturverständnis mit seinen ganz anderen ästhetischen Konventionen und Wahrheitsvorstellungen den Boden für die Aneignung auch des Fernsehens und der multimedialen Kultur der Spätmoderne im Rahmen gegenwärtiger Diskurse wie dem Fremden den Weg für seine Einfügung in die Diskurse des Eigenen zu bereiten: Es zeigt sich damit schon auf der physiologischen Ebene, daß sich das Hirn seinen Außenbezug konstituiert. Nur ist das Hirn selbst als Organ auch als Element dieses Außenraumes zu begreifen. Das Organ ist das Produkt eines komplexen historischen Prozesses, den wir Evolution nennen und in einer Terminologie beschreiben, in der Begriffe wie Anpassung und Selektion zentrale Bedeutung haben. Strikt gesehen hat sich in dem Innenraum demnach eigentlich nur ein Außen verinnerlicht; oder besser, es zeigt sich, daß das Vokabular, das hier ein Innen und ein Außen portioniert, unzureichend ist. Wir müssen fragen, ob sich der vermeintliche Gegenstand von Subjekt und Objekt von den Ergebnissen der Neurobiologie her überhaupt noch rechtfertigen läßt.9
In Breidbachs Analyse lösen sich die mimetischen, an den Raum und die scheinbare Mimesis seiner Materialität gebundenen Wahrnehmungsmuster auf, die dem Rezeptionsverständnis des Fernsehens als Form einer inneren Repräsentation des wahrgenommenen bußeren eigentlich zugrunde liegen. An ihre Stelle tritt jene innere Bedeutungskonstruktion, die zwar nach wie vor auf bußeres reagiert, dieses allerdings nicht mehr in Form einer scharfen Innen-Außen-Differenzierung und als bildhafte Abbildung, sondern vielmehr als imaginierte Eigenkonstruktion mit einer 9
Olaf Breidbach: ›Die Innenwelt der Außenwelt î Weltkonstitution im Hirngewebe?‹ S. 41.
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metaphorischen oder, eher, metonymischen Bezugnahme auf das bußere erzeugt: Die Orte der Dinge im Hirn wären vielmehr in ganz anderer Weise zu fassen: Nicht das Abbild der Außenwelt ist im Hirn gespeichert î gleichsam in Form eines wie auch immer gearteten Bildarchivs. Die Verortung des Außen im Hirn wäre eine andere. Die Topologie des Ereignisraumes im Hirn ist der Ort der Repräsentation des Außen. Diese Repräsentation erfolgt nach Maßgabe der inneren Disponiertheit des Hirnes. Entsprechend ist das adäquate Konzept zur Vorstellung der Repräsentation das der internen Repräsentation. [...] Der Ort der Vorstellungen ist also bestimmt durch die internen Vorgaben des Systems, die Bewertungsfunktion ermittelt sich aus den Eigenheiten des Systems und faßt sich als eine Bestimmung der Ereignistopologie des Systems. Insofern ist das Bild einer Verortung treffend. Nur ist Ort hier nunmehr das Signum für eine komplexe Textur im Raum-Zeit-Gefüge.10
Folgt man den Thesen Olaf Breidbachs, dann bezieht Identität sich weniger auf eine unmittelbare materielle Beziehung zwischen Innen- und Außenwelt, als vielmehr auf eine in gleicher Weise in Raum und Zeit verortete Konstruiertheit innerhalb der Innenwelt des Subjektes oder der Gesellschaft bzw. auf deren Struktur. So war sie ja bereits von Zhang Dongsun gegenüber dem Material, welches als Spur in der Struktur aufgeht und aktualisiert wird, in den Vordergrund gehoben worden. Sie formiert sich, wie dieses Kapitel im Hinblick auf die räumliche Wahrnehmung des Eigenen und des Anderen untersucht, bevor im abschließenden Kapitel die notwendige Zeitkomponente in dieses Modell einzufügen sein wird, in einer ständigen Dynamik der Wechselwirkung zwischen individuellen und kollektiven Anordnungen der Produktion, Kommunikation und Reproduktion von Wissen und Bedeutung im Aneignungsprozeß der Kommunikationsteilnehmer. Sie bestätigt sich in der Herstellung von Differenzen, in der Konstruktion des Anderen, über welche sich das Eigene immer wieder zu bezeugen hat. Schließlich formen sich in der Dynamik unaufhörlicher Neuanordnungen der Positionen des Eigenen und des Anderen immer neue Räume, die sich aus der Binarität der Identitäts-Differenz-Konstruktion heraus jenseits derselben verorten und als Struktur, die sich aus der Materie und den diese aneignenden Diskursen montiert, Kultur und Ordnung erzeugen. Diese ist durchaus in der Lage, Eigenschaften einer Heterotopie, die Position des Anderen, anzunehmen. Dabei unterliegt sie allerdings in aller Regel be10
Ebd. S. 58.
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reits einer neuerlichen Vereinnahmung durch die Positionen des Eigenen und des Anderen und somit immer wieder auch einer Integration in das binäre Modell von Kultur. Im Falle Chinas ergibt sich, wenn man die von ihrer grundlegenden Struktur her auf Differenz angelegten – aus der industriellen Moderne Europas importierten – Anordnungen der apparativen Medien mit denjenigen einer vormodernen kulturellen Tradition des Eigenen in Beziehung setzt, welche die Innenräume der chinesischen Medienteilnehmer nach wie vor entscheidend prägen, eine Konstellation, die sich damit grundlegend von derjenigen des Fernsehpublikums etwa in Europa unterscheidet. Während sich das Fernsehen in den Gesellschaften seiner technischen Entwicklung zunächst in deren Differenzkulturen einfügte und diese erst im Zuge seiner trans- und hyperkulturellen Entortungen in Frage stellte, blickt China auf eine Wahrnehmungstradition zurück, in welcher die Konstruktion von Identität und Differenz niemals eine solche von Innen und Außen, von Ich und dem Anderen war, sondern sich von vorne herein selbst in die Bezugsebenen des Inneren auflöste. Es handelt sich um das Innen der Kultur wie auch eines jeden Einzelnen, die sich konstituiert, ohne dadurch eine neue Differenz aufmachen zu müssen. François Jullien hat dies in einem Essay zu dem konfuzianischen Philosophen Menzius anhand der sprachlichen Konstruktionen in China dargestellt. Diese seien nicht als Differenzen und auch nicht dialektisch angelegt. Vielmehr bildeten sie ihre Bedeutungen aus Beziehungen heraus in Form immer neuer, sich unaufhörlich aktualisierender Einheiten. So entstehe z.B. aus den Zeichen für Berg ቅ und Wasser ∈ die Landschaft ቅ∈, aus Himmel und dem Darunter ϟ das Universum ϟ, aus Ost ϰ und West 㽓 der Gegenstand ϰ㽓 und nicht zuletzt aus der Reizung ᛳ und der Erschütterung ࡼ die Ergriffenheit ᛳࡼ als tragende Form der medialen Wahrnehmung von Fernsehen: Ausgehend von einer bipolaren Auffassung der Realität (anstatt die Welt ausgehend von einer einmaligen und isolierten Instanz wie die Seele oder Gott zu betrachten), haben die Chinesen das Reale als einen Aktualisierungsprozeß verstanden, der sich ausschließlich durch die Wirkung der vorhandenen Interaktion entwickelt […] Die Welt als Fluß ist eine wechselseitige und kontinuierliche Erregung. Und das läuft darauf hinaus, zu sagen, daß ihr continuum nur aus »Reizauslösungen« besteht, die unaufhörlich zwischen ihren verschiedenen Aspekten entstehen und die innerhalb des Realen »kommunizieren«, indem sie sich vermehren […]. Die Reaktion […] läßt sich nun folgendermaßen verstehen: sie ist in der Interaktion, die sich zwischen mir und dem anderen […] herstellt, die Reizung, die vom anderen ausgeht und sich durch meine Af-
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WAHRNEHMUNGSANORDNUNGEN I fektivität ausbreitet und die sogleich meine Reaktion auslöst. Die Emotion, die sie charakterisiert, ist somit eine E-Motion, deren Vermögen, in meinem Inneren etwas zu erregen, sowohl meinem Interesse als auch meiner Reflexion entgeht. Aus diesem Phänomen geht die Initiative hervor – und nicht aus meinem Ich als isolierter Instanz.11
Raum läßt sich demnach in China von vorne herein nicht als ausschließlich materielle, wahrnehmungs- und zeitunabhängige Materie denken, die aus Gegensätzen von Identität und Differenz gewonnen wird: gegenüber der Zeit sowie zwischen dem einen (dem inneren) und dem anderen (dem äußeren) Raum. Vielmehr ist das Konzept der durée, der Dauer, mit welchem Henri Bergson im europäischen Kontext erstmalig erkenntniskritisch auf diese fixen Kategorisierungen reagierte, schon immer fester Bestandteil des Denkens und der Wahrnehmung in China und damit – anders als bei Bergson – auch selbst keine Differenzkonstruktion. Die Auseinandersetzung mit einem Außen und mit der Idee zeitunabhängiger fixer materieller Strukturen sowie von deren linearer Prozessualität ist für China erst mit dem Einbruch der westlichen Moderne evident geworden – und damit für den Großteil der Bevölkerung erst mit dem Fernsehen. Dieses begann allerdings mit seinen Anordnungsbedingungen (des »flow«) seinerseits bereits, die linearen und auf Differenz hin ausgerichteten Strukturen der industriellen Moderne zu demontieren. Die Wahrnehmungsbedingungen von Raum in ihrer Bezugnahme auf eine vermeintlich fixe Materialität desselben bilden nichtsdestoweniger im hegemonialen nationalstaatlichen Diskurs Chinas im 20. und 21. Jahrhundert die maßgeblichen Parameter einer nationalen Identitätsbildung. Sie orientieren sich vor allem an den geopolitischen Anordnungen der Moderne und der Hochmoderne. Es ist in den nachfolgenden Untersuchungen darzulegen, inwieweit sich die grundlegenden modernen Positionen einer binären Konstruktion von Kultur als räumlich gefaßter Komponente im Hinblick auf die spezifische Situation innerhalb der untersuchten Städte und Regionen Chinas und bei deren einzelnen Medienteilnehmern im Hinblick auf deren historisch verfaßte Wahrnehmungsbedingungen bestätigen läßt. Dabei wird sich zeigen, daß sie zumindest zu Teilen zugunsten einer multisemischen und dynamischen, sich jenseits der modernen geopolitischen Strukturen neue Räume suchenden Konstruktion des Eigenen verworfen werden muß und damit zwangsläufig auf 11
François Jullien: Dialog über die Moral. Menzius und die Philosophie der Aufklärung. Berlin 2003, S. 41f. Vgl. auch Stefan Kramer: Vom Eigenen und Fremden. S. 298ff.
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die vormodern verfaßte Kategorie von Zeit und Bewegung verweist. Hierzu geben die Antworten auf konkrete Fragen der quantitativen Analysen gewisse Hinweise. Vor allem verdichten sich die Positionen aber in den Interviews und einer teilnehmenden Beobachtung derjenigen Untersuchungsteilnehmer, die uns in ihren Bezirken, Dörfern und Haushalten aufgenommen und uns einen Einblick in ihren Lebensalltag und ihre Freizeitgewohnheiten gewährt haben. Sie haben uns gemeinsam mit ihren Familien fernsehen und an Gesprächen mit Verwandten, Freunden und Nachbarn teilnehmen lassen, sie durften wir bei ihren Einkäufen und bei anderen Aktivitäten begleiten und sie haben uns vor allem mit großer Offenheit Auskunft über Dinge ihres privaten Lebens gegeben.
Konstruktionen des Anderen Wie an anderer Stelle in Bezug auf die kulturelle Produktion in China dargelegt, haben sich die nachkaiserliche und schließlich die postkoloniale wie inzwischen auch die postsozialistische Nationenbildung dort vor allem auf die Herausbildung bzw. Imaginierung von Differenz bezogen. Es handelt sich um die Konstruktion einer bis dahin gänzlich unbekannten Differenz des Eigenen gegenüber dem kolonialen und dem ideologischen Anderen wie schließlich gegenüber den ökonomischen und militärstrategischen Konkurrenten im globalen Wettstreit.12 Erst die im Zuge von Entkolonialisierung und Nationenbildung notwendig gewordene Errichtung eines Anderen hat die Stabilisierung eines kollektiven Eigenen als hegemoniale Bestimmung von Identität ermöglicht: die chinesische Nation als der Vorstellung nach existierende und in der kollektiven Wahrnehmung aktuell und materiell werdende Einheit. Freilich haben diese Prozesse immer auch eine Übernahme von Elementen des Anderen in die Konstruktion des Eigenen bedeutet. Wie es erst der Blick vom imaginären kollektiven Körper der chinesischen Nation weg auf das kulturpartizipierende Individuum bestätigt, bedeutet das allerdings nicht zwangsläufig auch eine kulturelle Überlagerung oder gar Vereinnahmung der Kultur, die sich der fremden Materie, Dispositionen und Zeichen bedient. Sie ist durchaus in der Lage, im Rahmen ihrer diskursiven Verwendung des angeeigneten Fremden in Form von Struktur, Ordnung und also Kultur Eigenes zum Ausdruck zu bringen oder solches gar im Dialog mit dem Fremden und Diskurs über das Fremde erst zu konstruieren.
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Stefan Kramer: Vom Eigenen und Fremden. a.a.O.
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Dabei ist dieses Eigene freilich nicht mehr dasselbe, das es vor der Aktualisierung der angeeigneten Techniken und Repräsentationssysteme war. Bei der Frage nach dem Eigenen, dem Fremden und dem Anderen geht es in Wirklichkeit also nicht um grundlegende Wesensunterschiede, wie sie in den Konstruktionen von Identität und Differenz impliziert sind. Es handelt sich vielmehr immer um graduelle Unterschiede, die sich ineinander verschieben, gegeneinander aufheben und als Struktur immer wieder neu konstruieren. Ich habe an anderer Stelle dargelegt, wie die Elemente des Eigenen und des Fremden im Moment ihrer Mediatisierung zu einer sich nicht als Abbildung des Ereignisses sondern als Diskurs über das Ereignis präsentierenden Wiederholung, zu einer Differenz im deleuzeschen Sinne werden. Unabhängig von ihrer tatsächlichen historischen Verortung überlagern sie die inhärenten chinesischen Diskurse über ihr Eigenes und werden damit als Signifikanten der Differenz oder der Identität zu inhärenten Bestandteilen des chinesischen Selbstverständnisses. Die fixen Identitäten der importierten Industrialisierung und des angeeigneten Modernismus mitsamt ihren zu Mythen geronnenen Semantiken sind längst durch eine sich offen präsentierende Heterogenität und eine multiperspektivische Polysemie in Raum und Zeit abgelöst worden. Sie verschafft sich im Fernsehen mehr noch als in allen anderen gegenwärtigen Medien und Repräsentationssystemen Ausdruck. Damit werden die – medialen – Perspektiven auf das Andere zum Teil der Auseinandersetzung eines jeden Einzelnen mit sich selbst und also zum Bestandteil der Identität des Objektes der Betrachtung wie zugleich des Betrachters und nicht zuletzt auch zur imaginierten Differenz derselben. Die hegemonial konstruierten identitätsstiftenden Differenzen sind nicht als fixe Größen definierbar. Dies bestätigen die Befragungen und die teilnehmende Beobachtung der Fernsehnutzer in den Untersuchungsräumen ergänzend zu den medialen Anordnungen und den Texten des Fernsehens. Sie unterliegen vielmehr einer ständigen Veränderung sowie einem unaufhörlichen Austausch mit dem vermeintlichen Anderen und sind somit letzten Endes immer selbst multiperspektivisch angeordnet. Das in Abgrenzung gegen seine imaginäre oder reale Identität definierte Andere wird dabei in Form einer unaufhörlichen Prozeßhaftigkeit und Dynamik bereits durch den Kontakt allein entscheidend verändert und zum Teil des Eigenen. Daraus generiert es in seiner Aktualisierung jeweils neue Diskurse zwischen dem Eigenen und seinem (vermeintlichen und in der Imagination an Realität gewinnenden) Anderen. Genauso wie in der europäischen Selbstwahrnehmung seit jeher China als das große Andere gegolten hat, auf welches der bewundernde wie zugleich furchtsame Blick gerichtet war und an den sich zahlreiche Utopien des Eigenen 159
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geknüpft haben, so ist der Blick Chinas spätestens seit Beginn der Kolonialzeit vornehmlich auf die Kultur Europas wie politisch und ökonomisch inzwischen vor allem auf dessen nordamerikanische Extensionen gerichtet: die USA als mächtigster Partner und Gegner im globalen militärstrategischen und wirtschaftlichen Wettstreit. Von den wenigsten Chinesen aus der VR China bereits durch eigene Reisen erfahrbar geworden, ist die Wahrnehmung Europas und Nordamerikas dort vor allem medialer Art. Mehr als jedes andere Medium liefert das Fernsehen die Angebote, über welche sich Bilder und also Mythen der Differenz in das kulturelle Bewußtsein einschreiben und darüber das Eigene als hegemoniale nationale Konstruktion stabilisieren sollen. Die tatsächliche Wahrnehmung der Fernsehbilder über und aus dem Abendland ist allerdings sehr viel ambivalenter, als es die oftmals klischeehaften medialen Angebote vermuten lassen. So glauben, wie die Fragebogenanalysen ergeben haben, 86,7 % der städtischen und immerhin noch 68,8 % der ländlichen Medienteilnehmer, daß die Fernsehbilder nur bedingt bis überhaupt nicht als authentische Spiegel der abgebildeten Kulturen und Gesellschaften gelten können. Nur 1,3 % der städtischen und 2,5 % der ländlichen Befragten sind dagegen von einer uneingeschränkten Realitätsnähe der Fernsehdarstellungen überzeugt. Und auch die Darstellung von kulturellen Differenzen zwischen »China« und dem »Westen« erscheint in der polarisierenden Form ihrer Darstellung der überwiegenden Mehrheit (87,5 %) als nicht glaubwürdig. Dem wiederum widerspricht zumindest teilweise die Wahrnehmung der tatsächlichen Differenzen zwischen den Kulturen durch die Befragten. Hier bewegen sich die Antworten überwiegend innerhalb der nationalen Diskursangebote Chinas. Dabei bestimmt in vielen Fällen zweifellos mehr die Semantik als der Inhalt der hegemonialen Diskursangebote auch deren reproduzierfähige Inhalte durch die Rezipienten, weshalb die Antworten doch nicht von endgültiger Aussagekraft über die tatsächliche Positionierung der Individuen sind: So wird unter weitgehender Verwendung der offiziellen Terminologie zunächst von den meisten recht allgemein über kulturelle Unterschiede und verschiedene Traditionen berichtet, über voneinander abweichende Denkweisen, Problemlösungsstrategien und Gebräuche, über unterschiedliche politisch-ökonomische Systeme. Dabei werden in großer Zahl nach wie vor die Begriffe Kapitalismus und Sozialismus, Industrienation und Entwicklungsland gebraucht, ohne daß diese auf den Gegenstand hin spezifiziert würden. Zudem wird von Wertesystemen berichtet, die sich voneinander unterscheiden. Die chinesische Tradition wird überwiegend als durchweg konservativ, der Westen indes als liberaler, offener, aber auch als moralisch unterlegen eingeschätzt. 160
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Ambivalent werden die Antworten zumeist dort, wo es um eine persönliche Bewertung der Unterschiede geht, welche die Befragten zwingt, den sicheren Pfad der nationalen Diskurse und ihrer Terminologie zu verlassen. Hier differenzieren sich die bis dahin recht homogenen Antworten aus und zeigt sich eine stärkere Textgebundenheit und unmittelbarere Orientierung am offiziellen Sprachgebrauch der ländlichen gegenüber der städtischen sowie der nordchinesischen gegenüber der südchinesischen Bevölkerung. Sie lassen schließlich doch unmittelbare Rückschlüsse auf deren jeweilige Positionierung gegenüber den Bedeutungsangeboten zu. Die Antworten der Menschen in den strukturell weiter entwickelten bzw. gegenüber der Außenwelt weiter geöffneten Regionen bedienen sich offensichtlich einer individuelleren Sprache als diejenigen der ländlichen bzw. nordchinesischen Befragten. Dort haben die meisten Interviewpartner erst in langen Gesprächen zu einer selbstreflexiven, sich vom offiziellen Sprachgebrauch loslösenden Perspektive auf sich selbst und ihre Umwelt gefunden. Diese steht in ihrer Kritikfähigkeit gegenüber den hegemonialen nationalen Anordnungen derjenigen der Befragten im Süden, wo die Teilnehmer in aller Regel von vorne herein von einer stärker individuellen, an den eigenen Lebensbedingungen orientierten Perspektive ausgehen, in nichts nach. Mehr als bei jenen zeigt sich bei ihnen allerdings die Wahrnehmung der Widersprüchlichkeit in der Einschätzung von kulturellen Differenzen und die Ambivalenz der Bewertung des Eigenen im Verhältnis zu dem »westlichen« Anderen. Während etwa der Blick auf den medienvermittelten Liberalismus, die Offenheit von Gesellschaften, den gesellschaftlich-ökonomischen Entwicklungsstand und das hohe Bildungsniveau, auf Werte wie Freiheit, Demokratie und Markt- wie Weltoffenheit und Individualismus unübersehbar mit Bewunderung verbunden ist, erscheint deren Wahrnehmung doch häufig indifferent. So sind selbst in Peking und Shanghai die wenigsten der Befragten in der Lage, über die bloßen medienpräsenten Keywords und die dazu gehörigen Bilder hinaus konkretere Aussagen darüber zu machen, was sie sich etwa unter einer demokratischen Gesellschaft und einem politischen und ökonomischen Liberalismus und unter individueller Freiheit vorstellen. Genauso wenig vermögen sie über die üblichen Schlagworte hinaus zu definieren, worin tatsächlich die Traditionen, Denkweisen und Wertesysteme bestehen, welche die Gesellschaften voneinander unterscheiden. Statt dessen wirken die medialen Zeichen und Bedeutungsangebote unmittelbar in den eigenen Sprachgebrauch hinein. Ungeachtet einer durchaus prägnanten Differenzierungsfähigkeit bei den Medienteilnehmern bestimmen sie die Wahrnehmung des Eigenen und des Anderen als polarisierende Konstruktionen von Differenz in 161
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erheblichem Maße mit und rekonstruieren immer wieder die in nationaler Hinsicht (China und die Anderen) hegemonial kommunizierten Klischees kultureller (und politischer) Ungleichartigkeit. Diese bewegt sich letzten Endes aber ausschließlich im Rahmen des Eigenen und greift auf dessen Wahrnehmungsformen und Semantiken zurück, reproduziert das Fremde also immer nur als bereits angeeigneten Teil eigener kultureller Erfahrung und des eigenen sprachlichen Ausdrucks.
Bauer in Wuxiang, Shanxi Dazu zählen Binärkonstruktionen wie europäischer Egozentrismus und Vergnügungssucht vs. chinesischer Gemeinsinn und Verantwortungsgefühl, soziale und ethnische Ungleichheit und religiöse Unterdrückung vs. ethnische Gleichstellung, Religionsfreiheit und soziale Gerechtigkeit, 162
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wie sie alle ja tatsächlich in China verfassungsrechtlich vorgesehen, unter dem Allmachtanspruch der Partei aber nur selten praktiziert werden. Die offen geäußerte Bewunderung für einen »höheren Entwicklungsstand westlicher Gesellschaften« und ein Exotismus in der Wahrnehmung der europäischen Kulturen, welche vor allem die frühe Moderne medial in den Blickpunkt rückt und in bunten Bildern von Kostümen und Schlössern aus der Renaissance und der Zeit der Romantik schwelgt, bilden, wie sich in den Interviews immer wieder bestätigt, ganz und gar keinen Widerspruch zu der Festschreibung einer eigenen Überlegenheit. Diese beruft sich vor allem auf moral-ethische Kriterien, über welche sich das Eigene als Differenz gegenüber dem »Westen« und dessen Logozentrismus definiert und legitimiert. Auf der Darstellungsebene, welche zugleich die syntaktischen und semantischen Bedingungen für die Konstruktion des (nationalen) Mythos bereitstellen, bestätigt sich zunächst die Bedeutung des Mediums Fernsehen als maßgeblicher Produzent von hegemonialem nationalem Wissen und Sinn in China. Das Fernsehen hat es vermocht, das Andere sichtbar zu machen und damit die eigene Identität als postkoloniale, sich inzwischen als Global Player präsentierende nationale Einheit zu stabilisieren. Dabei hat es, wie die gegenüber den medialen Angeboten sehr viel differenzierter und kritischer ausgefallenen Befragungsergebnisse zeigen, allerdings keineswegs die in den Programmen der zentralstaatlichen und provinzeigenen Anbieter oftmals propagierten Nationalismen zu realisieren vermocht. Vielmehr hat es sich selbst als dritte Bezugsgröße eingeführt und seine mediale Eigenständigkeit auch gegenüber den Programmmachern unter Beweis gestellt. Es hat erheblich dazu beigetragen, eine multidimensional wahrnehmende »demokratische« Zuschauerschaft hervorzubringen, die in der Lage ist, sich selbst nicht ausschließlich im Rahmen hegemonial kommunizierter nationaler Binärdifferenzen sondern in vielfältigen Bezügen zwischen Individualität und unterschiedlichen, auf verschiedenen Ebenen in Raum und Zeit angeordneten Gruppenzugehörigkeiten wahrzunehmen. Dabei bilden sie alle jeweils auch ihre eigenen Differenzen heraus, ohne dabei in nennenswerte Widersprüchlichkeiten zu geraten. Erst dies war es letztlich, was die Identitäten in einem dynamischen Wechselspiel aus individuellen und unmittelbaren Größen sowie mittelbaren dynamischen Selbstverhältnissen zu stabilisieren vermocht hat. Dazu gehören nicht zuletzt auch globale und lokale Bezugsgrößen sowie immer mehr virtuelle, in der Wahrnehmung und kulturellen Reproduktion strukturbildende und aktuell werdende Einheiten, welche neben der modernen Nation mehr und mehr auch die chinesische Spätmoderne prägen. 163
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Die Wahrnehmung von Identität und Differenz, durch welche sich das Eigene definiert, findet unter den Anordnungsbedingungen des Fernsehens entgegen der Bemühungen der Zentralregierung inzwischen nicht mehr ausschließlich in der Binarität zwischen China (im Sprachgebrauch: ៥ ›unser Land‹ oder ⼪ ›das Land der Ahnen‹) und dem Ausland () oder in der Differenz zwischen ›im Lande‹ ( )ݙund ›außerhalb des Landes‹ (), von innen und außen und somit als nationale Schicksals- und Solidaritätsgemeinschaft statt. Vielmehr hat ausgerechnet das Fernsehen, das ursprünglich angetreten war, China zu homogenisieren, ausschlaggebend dazu beigetragen, zahlreiche alternative Bezugsgrößen für eine kollektive und individuelle Konstruktion des Eigenen und des Anderen mit jeweils eigenen Mythen einzuführen. Es hat die bis dahin unter dem Mythos des Tianxia ϟ (des alles vereinenden imaginären und der Vorstellung nach durchaus auch materiell werdenden und somit stets aktuell existierenden Kosmos) verborgene Fremdheit der Menschen und Gruppen auch im eigenen Lande erst in das Bewußtsein der Medienteilnehmer gehoben und seine Strukturen gleichzeitig in eine Globalisierungsthematik mit ihren spezifischen Anordnungsbedingungen zwischen dem Globalen und dem Lokalen hinein aktualisiert. Erst die Visualisierung der unterschiedlichsten Kulturen und Gemeinschaften auch innerhalb Chinas, welche das Fernsehen betrieben hat, hat diese also konkret und somit zur Differenz der jeweils eigenen Selbstwahrnehmung werden lassen, innerhalb derer sich auch das Fernsehdispositiv nicht mehr, wie in den europäischen Wahrnehmungskonventionen, als materielles Außen sondern als inhärenter Bestandteil des Innen eigener Kultur verortet. Das Fernsehen hatte China erstmals in seiner Geschichte für seine Bewohner als Bezugsgröße für die individuelle Identitätsbildung konkret und damit erst auf einer zweiten í imaginär-kollektiven í Ebene zum gemeinsamen Eigenen, vor allem aber ursprünglich zur Differenz eines jeden Einzelnen werden lassen. Es handelt sich um eine Differenz, die sich in erster Linie gegenüber dem eigenen Körper und der eigenen erfahrbaren Umwelt verortet. Dabei entsteht zunächst eine ausschließlich medial erfahrbare Verschiedenheit, bei welcher das Medium selbst zum Parameter derselben generiert. Darüber hinaus haben sich durch die hegemoniale mediale Einschreibung der kollektiven Bezugsgröße China in die kulturelle Wahrnehmung und durch die mit der Einführung der Massenmedien erstmals erfolgte Loslösung der Wahrnehmung von dem Kontakt mit dem Kommunikatoren, an dessen Stelle das Medium selbst getreten ist, für dessen Bewohner und Angehörige zahlreiche neue Abgrenzungen etabliert. 164
WAHRNEHMUNGSANORDNUNGEN I
Sie bezeichnen nicht eine reale Beziehung zwischen den Kommunikationspartnern, welche die Differenz herausbilden. Statt dessen sind sie immer als mediale Zeichen und Texte erfahrbar, aus denen sich die Erzählungen und Mythen der Differenz (und Identität) unabhängig von etwaigen indexikalischen Bezugsebenen etablieren und unaufhörlich aktualisieren. Sie bestehen etwa zwischen lokalen, ohne mediale Übersetzungsleistungen erfahrbaren Gemeinschaften und anderen Regionen und Zusammenschlüssen des weitläufigen Landes, zwischen unterschiedlichen ethnischen, politischen, sich wirtschaftlich definierenden und religiösen Gruppierungen, zwischen Interessengemeinschaften, die sich erst medial auch in überlokaler Form herausbilden konnten, zwischen urbanen und ruralen, entwickelten postindustriellen und unterentwickelten vorindustriellen Räumen und nicht zuletzt zwischen der realen und der medialen Erfahrung, zwischen Erzählung, Mythos, Metapher und physisch erlebbarer Realität selbst. Die Loslösung der Bedeutungsbildung von der erfahrbaren Umwelt und deren Verschiebung auf die Welt des medial kommunizierten Zeichens, dessen indexikalischen Bezüge damit bedeutungslos werden, hat schließlich als notwendige Voraussetzung, um das Fernsehen doch noch in den Innenraum des eigenen Selbstverständnisses zu integrieren, eine Vielzahl von Differenzkonstruktionen und somit eine Fragmentierung von Identitätsräumen hervorgebracht. Darin hat sich jeder Einzelne vielfältig und auch parallel zu verorten. Die Bezugsgröße der Nation, einst mit Hilfe der apparativen Medien als Widerstand gegen die koloniale Fremdbestimmung und ein vormodernes theokratisches Herrschafts- und Ordnungssystem angetreten, ist als Mythos und Zeichensystem des Staates und seiner Autoritäten längst zu einer bestimmenden Macht in der Gesellschaft und in den Gesellschaften Chinas geworden. Dieser gegenüber haben sich unter den Bedingungen spätmoderner Kultur immer mehr lokale und entterritorialisierte Gemeinschaften wie Interessenverbände, Wirtschaftsunternehmen, religiöse Gruppen, Mediengemeinschaften wie Chat- und Blogräume im WorldWideWeb als widerständig verortet und von ihrer jeweiligen Position aus eigene Perspektiven und Interessen in den Staat eingebracht, die ihrerseits in eine Wechselwirkung mit dem System der Nation eingetreten sind. Die Nation indes verortet sich inzwischen mehr und mehr als Widerstandsgemeinschaft nicht mehr gegen die einstige Kolonisierung sondern gegen das Schreckgespenst der Globalisierung, innerhalb derer sie sich allerdings zugleich als Führungskraft, als Global Player, etablieren möchte. Dagegen haben zahlreiche der fragmentierten Identitätsgrößen längst die staatlichen Grenzen und die Anordnungen der semantischen Systeme Chinas überschritten. 165
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Bäuerlicher Haushalt in Xingtang, Hebei Sie haben sich jenseits geopolitisch fixierbarer Räume »glo/kal« neu angeordnet. In den Interviews mit Bauern aus den Provinzen Shanxi und Hebei ergaben sich in aller Regel mehrere parallel existierende Binärdifferenzen. Sie verorten sich in unmittelbarer Hinsicht zwischen der eigenen Persönlichkeit der Befragten und ihren Familien sowie der Dorfgemeinschaft mit ihren Autoritäten. Sie verorten sich zwischen dem Dorf, dem sie sich persönlich durch ständige Kontakte und gemeinsame Erfahrungen zugehörig fühlen, und der Provinzregierung, deren Vertreter gelegentlich als überwachende und exekutive Autoritäten im Dorf auftreten. Sie verorten sich auf dem Wege mittelbarer Kommunikation zwischen all den genannten Größen unmittelbarer Kommunikation sowie der imaginären, medial kommunizierten und in eher abstrakt wahrgenommenen Regelsystemen real werdenden Größe der Nation und des Nationalstaats. In dieser Hinsicht war es etwa bei unseren Kontakten mit den Dorfautoritäten recht schwierig, unsere durch die Pekinger Zentralregierung erteilte Autorität geltend zu machen, deren unmittelbare autoritative Bezugsebene nicht die Zentralregierung sondern die zwischengeschalteten Provinzregierungen sind. Darüber hinausgehende Regeln und Autoritäten, wie sie Peking darstellt, werden für die Dorf- und Kreisautoritäten niemals konkret, weil ihrer Kommunikation jeweils mehrere mediale und institutionelle Übersetzungsschritte (mit zahlreichen Eigen166
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interessen seitens der weitervermittelnden Institutionen) zwischengeschaltet sind. Somit erreicht der ›Arm des Staates‹ sie also mit seiner abstrakt bleibenden Macht niemals wirklich, derjenige der Provinzregierungen zeigt indes um so unmittelbarer Wirkung. Wahrheit und Habitus, um die es beim Thema Wahrnehmung auf die eine oder andere Weise immer geht, entstehen in diesen sich unaufhörlich multiplizierenden Binärdifferenzen und den Kommunikationswegen, durch welche sie zustande kommen. Durch das Fernsehen ist, wie sich an dieser Stelle zusammenfassend sagen läßt, das Konzept von Identität und Differenz in dieser modernen Form, welche zugleich das Bewußtsein der Nation als Identitätsgemeinschaft in China erst möglich gemacht hat, verbreitet worden. Dabei hat erst die mediale Konstruktion von Differenz, welche in hegemonialer Hinsicht das Andere nicht-chinesischer Nationen darstellen, auch die Bestimmung eines kollektiven Eigenen möglich gemacht, innerhalb von dessen Anordnungen sich jedes Individuum verortet. Es hat sich quasi im selben Zuge aber auch wieder zu verflüchtigen begonnen, indem die Fähigkeit dieses Mediums, imaginäre Welten zu kreieren und in das Bewußtsein und Selbstverständnis seiner Nutzer einzuprägen, alle Zeichen und mythischen Texte von Binärkonstruktionen zwischen dem Eigenen und dem Anderen unaufhörlich in Raum und Zeit aktualisiert und letzten Endes gar in seiner eigenen Medialität in unendliche Fragmentierungen auflöst. Dies bestätigt sich beim Blick auf die mediale Konstruktion des Eigenen im und durch das Fernsehen.
Konstruktionen des Eigenen Die identitätsstiftende Konstruktion des Anderen im Dispositiv und den Programmen und Sinnangeboten des Fernsehens steht in einer notwendigen Wechselbeziehung mit derjenigen des Eigenen. Identität erweist sich hierbei nicht als ausschließlich nationale und auch nicht als bloß individuell fixierbare Größe. Vielmehr läßt sie sich nur in der Bewegung und in ihrer unaufhörlichen Aktualisierung und Neumontage aus sich verschiebenden Raumeinheiten zwischen dem eigenen Körper sowie den körperlich erfahrbaren und medial kommunizierten Bedeutungen beschreiben, die in ihrer Wahrnehmung kaum auf die Kategorien der medialen Sinnangebote reduzierbar sind. Dies bestätigt sich hinsichtlich des chinesischen Fernsehpublikums bereits an der gegenüber den zentralen Angeboten doch überraschend selbstbestimmten Nutzung, Programmund Formatauswahl und an der differenzierten Einschätzung des chinesi167
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schen Fernsehangebotes durch seine Zuschauer, wie sie in den vorherigen Kapiteln transparent geworden sind. Insbesondere auf dem Lande, wo den meisten Medienteilnehmern ein geringes Vergleichsangebot von Informationen und Unterhaltung zur Verfügung steht, überrascht die kritische Auswahl und trotz sprachlicher Ausdrucksmängel doch urteilssichere Bewertung des Dargebotenen im Hinblick auf die individuelle und kollektive Selbstverortung der Zuschauer. Dies bestätigt die These, daß es ungeachtet einer restriktiven staatlichen Homogenisierungspolitik in China den Herrschern über die Politik und Information bislang bei weitem nicht gelungen ist, einen kollektiven nationalen Körper von Medienteilnehmern zu stabilisieren. Vielmehr haben dieselben Medien und dieselben kulturellen Anordnungen, mit denen das Ziel der Errichtung einer homogenen und untereinander wie gegenüber der zentralen »Volksregierung« loyalen Volksmasse verfolgt worden ist, dazu beigetragen, derselben die Vielfalt der Kulturen und die eigene Individualität vor Augen zu führen und sich zugleich in wachsendem Maße selbstbestimmt gegenüber den zunehmenden Angeboten an Wissen und Bedeutung zu verhalten. Angesichts weitergehender Ausdifferenzierungen der Medienangebote und sich zusehends verbessernder Zugangs- und Vergleichsmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Inhalten und Dispositionen wird sich diese Tendenz künftig noch verstärken und somit eher in Richtung einer mehr und mehr individuell und selbständig ausagierten Zivilgesellschaft als in diejenige des kollektiven nationalen Körpers tendieren. Dies sollte im übrigen aus ökonomischen Gesichtspunkten auch der Regierung geboten erscheinen, was den Ausschlag dafür gibt, daß die zentralistischen Behauptungstendenzen allmählich einer multilokalen Anordnung der Wirtschaft weichen í und wohl immer mehr auch von Kultur und Kommunikation. Auf die Frage nach der persönlichen Funktion des Fernsehens für die Medienteilnehmer im Hinblick auf ihre Verortung gegenüber sich selbst und der Gesellschaft messen die meisten urbanen Zuschauer der dem Fernsehen im allgemeinen an erster Stelle unterstellten Komponente von Alltagsflucht und Entspannung (18,3 %) in Wirklichkeit eine nur untergeordnete Bedeutung zu. Sie schätzen auch das emotionale Miterleben dargebotener Inhalte (33,7 %) nicht allzu hoch ein. Hier zeigt sich eine starke Differenz gegenüber den ländlichen Medienteilnehmern, deren Tagesabläufe in aller Regel sehr viel stärker durch die Dualität zwischen Arbeit und einer sich auf den Fernsehkonsum und die Nachtruhe beschränkenden Erholungsphase bestimmt ist als in den sich durch differenziertere Arbeitszeiten auszeichnenden und von ihren vielfältigen Freizeitangeboten profitierenden Städten. Dort geben 74 % die Entspannung 168
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als wichtiges Kriterium des Fernsehkonsums an. Die Aufnahme von Informationen und der Erwerb von Bildung dagegen entpuppen sich als für die städtische (71,4 % bzw. 73,8 %) wie für die ländliche Bevölkerung (69,9 % bzw. 58,8 %) in ähnlicher Weise entscheidende Kriterien für einen regelmäßigen Fernsehkonsum. andere Alltag entfliehen
Politik
Gefühle erleben
Unterhaltung Informationen
Gesprächsthemen Bildung
Bedeutungen des Fernsehens für urbane Medienteilnehmer Auffallend an dieser Antwortstruktur ist auch, daß die aus Sichtweise der Zentralregierung in untrennbarem Zusammenhang mit Information und Bildung stehende Frage nach der Ausbildung eines politischen Bewußtseins bei den Befragten sowohl in den Städten (33,9 %) als auch auf dem Lande (29,3 %) eine überwiegend abwehrende Haltung erzeugt. Politik und Ideologie, die quasi während des gesamten 20. Jahrhunderts von den Regierungen immer wieder als maßgebliche Kriterien herangezogen wurden, den Einheitsstaat zu stabilisieren, ihn scharf gegenüber seinen Anderen abzugrenzen und ihm eine kollektive Identität und Habitualität zu vermitteln, erweisen sich inzwischen in dieser Hinsicht als gänzlich unbrauchbar. Das bestätigen auch die Gespräche mit den Medienteilnehmern, die sich, sofern sie den nationalen Programmen überhaupt jemals so nahe standen, wie dies die Regierung gewollt und der exotisierende westliche Beobachterblick auf die »revolutionäre Masse« lange Zeit vermutet hatte, zumeist als desillusioniert gegenüber den großen Ideen und Idealen der national(istisch)en Politik präsentieren. Sie haben jenseits der nationalen Mythen überwiegend zu einem ›postsozialistischen‹ Pragmatismus gefunden. Dieser bedeutet in seiner Konsequenz immer auch Individualismus und eine Kritikfähigkeit gegenüber den von allen Seiten
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den von allen Seiten zunehmenden und miteinander konkurrierenden Wissens- und Sinnangeboten. Das allmähliche Entstehen einer entideologisierten Zivilgesellschaft bildet zudem die hinreichende Grundlage dafür, daß der neben den Schlüsselindustrien und der Informationsindustrie auch auf einem Mittelstand (und Bürgertum) beruhende Wirtschaftsaufschwung kontinuierlich durchgeführt werden und, sofern es gelingt, auch das ländliche China mit in diese Tendenzen einzubeziehen, dadurch nicht zuletzt die soziale Stabilität (und der kommunistische Machterhalt) gesichert werden können. andere Politik Alltag entfliehen
Unterhaltung
Emotionen Gesprächsthemen
Informationen Bildung
Bedeutungen des Fernsehens für rurale Medienteilnehmer Ideologie und Ökonomie stehen dabei unter spätmodernen Anordnungsbedingungen in einem nur scheinbaren Widerspruch zueinander. Er löst sich in der pragmatischen Wahrnehmung der Sinnangebote in Form eines ›sowohl-als-auch‹ von nationalem Bewußtsein, lokaler Bodenständigkeit und individueller Selbstbestimmung, Unterhaltung und Bildung durch die Medienteilnehmer und ›Bürger‹ auf. Dabei nimmt das Fernsehen nicht in erster Linie eine Vermittlerrolle als Überbringer von Informationen ein. Vielmehr rückt es selbst in den Mittelpunkt, wird zum zentralen ›Marktplatz‹ der Kommunikation. So geben nicht zufällig inzwischen 35,9 % der Befragten in den Städten und 31,6 % auf dem Lande an, daß das im Fernsehen Gesehene ein wichtiges Gesprächsthema unter Freunden, Bekannten und Kollegen darstellt und somit selbst einen bedeutsamen Teil desselben ausmacht. Dabei vermischt sich das mediale Wahrnehmen immer mehr mit demjenigen der real erlebten Umwelt und wer-
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den die Medien selbst zu einem entscheidenden Bestandteil des wahrgenommenen Lebensraums. andere Wertevermittlung Realitätsnähe
Information
Kunst
Spannung
Unterhaltung
Einschätzung des Charakters von Fernsehen durch urbane Zuschauer Das Fernsehen, so bestätigen die Befragungen, hat sich unabhängig von seinen Programmen durch seine medialen Anordnungen in einem ersten Schritt selbst zu dem Anderen entwickelt, über welches sich Identität bei chinesischen Medienteilnehmern konstituiert. Es ist, wie sich weiterhin zeigt, in gleichem Maße aber auch zu einem sich aus dem virtuellen Anderen heraus ständig aktualisierenden inhärenten Bestandteil des Eigenen geworden, über das sich die Erzählungen, die Mythen des kollektiven Selbstverständnisses, in das kulturelle Gedächtnis eines jeden Einzelnen wie der Gemeinschaft einschreiben. In diesen spezifischen, multilokal stattfindenden Aktualisierungsprozessen finden sich über das transnationale Mediendispositiv hinaus die konkreten Charakteristika einer chinesischen Fernsehwahrnehmung und kulturellen Reproduktion wieder, die ihre besonderen Bedeutungen nicht in den Programmen und Inhaltsangeboten sondern immer erst auf der Seite der Rezeption herausbilden. Identität formiert sich dabei als sich unaufhörlich verschiebende und neumontierende wechselwirksame Kommunikationssituation aus individuellen und lokalen Wahrnehmungsbedingungen, nationalen Bedeutungsangeboten sowie einer wirkungsmächtigen globalen Konsumkultur mit ihren mehr und mehr standardisierten narrativen und ästhetischen Mustern, unter deren Bedingungen auch die konkreten Programmangebote nationaler und lokaler chinesischer Sender ihren Platz finden.
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Fernsehen wird in dieser Hinsicht ganz und gar nicht als ausschließlich unterhaltendes oder als ausschließlich informierendes Medium wahrgenommen. Vielmehr spiegeln sich seine kulturelle Vielfalt und seine mediale Heterogenität auch in seinen konkreten Wahrnehmungsweisen wider. So werden von den Befragten Unterhaltung (73,6 % Städte, 64,7 % Land), Information (61 % Städte, 48,7 % Land) und die Realitätsnähe seiner Programme (67,2 % Städte, 62,1 % Land) als die maßgeblichen Charakteristika seiner Medialität angegeben. Während der Spannungsfaktor, in der Nähe zur Unterhaltung angesiedelt, von jeweils einem Viertel der Befragten als bedeutsames Charakteristikum erwähnt wird, zeigen sich vor allem bei der Einschätzung der Merkmale von Fernsehen im Hinblick auf die Vermittlung von gesellschaftlichen und kulturellen Werten eklatante Unterschiede zwischen den Teilnehmern im urbanen (18,9 %) und im ruralen China (61,9 %). Diese auf grundlegend unterschiedliche Selbstpositionierungen der Medienteilnehmer im hochentwickelten urbanen und im überwiegend rückständig gebliebenen ländlichen China verweisenden Ergebnisse bestätigen sich in der Einschätzung des didaktischen Charakters von Fernsehen im Hinblick auf die Vermittlung von Werten. andere Realitätsnähe
Wertevermittlung
Kunst Information
Spannung
Unterhaltung
Einschätzung des Charakters von Fernsehen durch rurale Zuschauer Diese formulieren die kollektiven Erzählungen (Mythen) mit, schreiben dem gesellschaftlichen Ordnungssystem und dessen Institutionen ihre Bedingungen ein und stellen somit einen entscheidenden Faktor für die Bestimmung kollektiver Identität dar. Im urbanisierten China erwarten indes nur 38,2 % der Befragten vom Fernsehen einen didaktischen, Wer-
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te vermittelnden Charakter, welchen ihm 45,8 %, dies nicht immer positiv bewertend, tatsächlich zusprechen, während es auf dem Lande 77,7 % bzw. 80,9 % sind. Die gegenüber den meisten Befragungsgegenständen extrem erhöhte Diskrepanz zwischen Stadt und Land in dieser Frage, wobei sich zudem auffällige Unterschiede auch zwischen den einzelnen Regionen der Befragungen zeigen, wird durch die Konkretisierung und Begründung der jeweiligen Einschätzung durch die Befragten transparent. Hier zeigt sich ein deutliches Gefälle von Peking nach Shanghai sowie vom nördlichen zum südlichen China. Es konstituiert sich im Hinblick auf die unmittelbare Bindung der Medienteilnehmer an die hegemonialen nationalen oder in zunehmendem Maße globalen oder auch lokalen Sinn- und Identitätsangebote. Die Antworten der ländlichen Bevölkerung, mehr dabei derjenigen im nördlichen (Hebei, Shanxi) als derjenigen im südlichen China (Hainan), weisen zumeist in hohem Maße die patriotische Handschrift der Partei- und Regierungsdirektiven auf, die bis in die Terminologie der gewählten Antworten hinein wirksam ist. Dies deutet nicht zwangsläufig auf einen größeren Patriotismus und auf eine engere Regierungsanbindung der Menschen auf dem Lande. Vielmehr zeugt es von einem in aller Regel geringeren Bildungsstand, welcher die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten beschränkt und die individuellen Redefiguren somit stärker an die wenigen zugänglichen Medienangebote und deren Semantiken bindet. So bestätigt diese Diskrepanz vor allem die unterschiedlichen Zugriffsmöglichkeiten auf Wissen und Information zwischen Stadt und Land, welche die für eine differenzierte Bewertung notwendigen Vergleichsmöglichkeiten im ruralen China nach wie vor deutlich reduziert. Die Landbevölkerung bezieht überlokales Wissen noch immer überwiegend durch die Nachrichten von CCTV 1 und durch die Unterhaltungs- und Informationsangebote der in dessen Abhängigkeit stehenden, allerdings regional orientierten Provinzsender und somit nahezu ausschließlich unter den Anordnungsbedingungen des Fernsehens. Neben den mangelnden inhaltlichen Vergleichsmöglichkeiten und begrenzten Ausdrucksfähigkeiten wird der Raum für kritische Stellungnahmen und die Wiedergabe einer individuell geprägten Weltsicht durch die Landbevölkerung insbesondere auch durch die monomedialen Anordnungsbedingungen ihrer Wahrnehmung geprägt. Die Wahrnehmung in den spätmodernen Ballungsräumen dagegen wird durch ihre Multimedialität und ihre vielfältigen kulturellen Einflüsse bestimmt, welche unterschiedlichste Raum- und Zeitstrukturen in sich aufnehmen. Dagegen ist es auf dem Lande das Fernsehen mit seinen Programmen, welche in einer unverändert agrarischen, lokal angeordneten Raumanordnung das einzige relevante überlokale (nationale wie zugleich 173
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transnationale) Eigene darstellen, über welches sich Identität als nicht ausschließlich lokale Größe manifestiert. Zudem zeigt sich an den andersgearteten bußerungen der Menschen aus verschiedenen Regionen deutlich die regionale und gar lokale Spezifik der Bedeutungskonstruktion und ihrer Semantik. Im längeren Gespräch mit den Interviewten zeigt sich zwar häufig eine sehr viel ausgeprägtere Differenzierungsfähigkeit der Fernsehangebote, als dies aus den statischen, an ihre Schriftlichkeit und Knappheit gebundenen Fragebögen ersichtlich ist. Eine individuelle, sich von den Fernsehangeboten differenzierende Bewertung von Wertemaßstäben und von Fernsehen als sinnvermittelndem Medium entsteht dort nichtsdestoweniger einzig und allein im Vergleich mit den jeweils eigenen Lebensbedingungen. Sie machen auf dem Lande anstelle des in den Städten mehr und mehr auflebenden Informationsvergleichs den wichtigsten Maßstab für die Positionierung gegenüber den medial vermittelten Wissens- und Bedeutungsangeboten aus. Dagegen werden Werte in den Metropolen, insbesondere in Shanghai, nicht (mehr) vor allem in der ideologisch-kulturell oder ökonomisch orientierten Auseinandersetzung zwischen dem Individuum bzw. der lokalen Identitätseinheit mit dem Staat sondern sehr viel differenzierter und in mannigfaltigen Bezugnahmen definiert, von denen Staat und Nation nur noch eine unter zahlreichen Bestimmgrößen ausmachen. Dies verweist auf eine dort durch die kulturelle Vielfalt inzwischen möglich gewordene vielgestaltige Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten soziokulturellen und politischen Einflüssen aus lokalen, nationalen und transnationalen Bezugräumen sowie medialen Angeboten. Auch hier ist zwar immer wieder von Vaterlandsliebe, patriotischer Moral und gar von der Liebe zur Partei und zum Sozialismus die Rede, wie sie durch die zentralstaatlichen Medien kommuniziert werden. All diese Schlagworte modifizieren und relativieren sich im längeren Gespräch aber maßgeblich und werden durch vielschichtige kritische Stellungnahmen mit deutlich individuelleren und an die lokal erfahrbare Umwelt geknüpften Ausdrucksformen ersetzt. Gleichzeitig werden in verstärktem Maße wieder traditionelle Tugenden, insbesondere diejenigen einer konfuzianischen Morallehre, so wie sie heute verstanden wird, beschworen. Elemente derselben hatten die Dispositionen in den Dörfern ohnehin häufig auch unter radikalkommunistischen Bedingungen bestimmt, und in nicht wenigen Fällen hatten auch die lokalen kommunistischen Größen selbst ihre Macht nach ihrem Verständnis ausgeübt, so daß hier nicht wirklich von einem Bruch auszugehen ist. Zudem rücken universelle Werte von Bildung, Aufrichtigkeit, Zivilcourage, Gerechtigkeit etc. mehr und mehr in den Vordergrund. Sie zeugen innerhalb 174
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des heterogener werdenden Medien- und Bedeutungsangebotes von einer Individualisierung und Zuwendung auch zu transkulturellen, universellen Sinnangeboten. Und nicht zuletzt ist die Frage nach den ökonomischen Lebensbedingungen des Einzelnen in China, die noch bis in die 1980er Jahre hinein als Bezugseinheit für die individuelle und kollektive Selbstbestimmung und für die Bewertung des Staates als kollektive Identitätseinheit (und/oder deren Differenz) kaum jemandem über die Lippen gekommen wäre, nicht zuletzt durch die Öffnung der Politik und der Medien gegenüber einem transnationalen Wertekanon und dessen medialer bsthetisierung und Narrativierung inzwischen zu einem prägenden Thema der Auseinandersetzung eines jeden Einzelnen mit sich selbst und der Gemeinschaft geworden: Wo stehe ich innerhalb der Gesellschaft? Das prägt nicht zuletzt auch die Auseinandersetzung der Gemeinschaft mit ihrem Anderen: Wo steht China in der Welt?
Fernsehabend in Shanghaier Haushalt Dabei stellt sich nicht zuletzt die Frage danach, wie im Einzelnen Informationen und Sinnangebote aus dem Fernsehen aufgenommen und eingeschätzt werden, um aus ihnen heraus eine Bestimmung des Eigenen als kollektives Bewußtsein, als Idee der Zugehörigkeit zu einer sich geopolitisch definierenden lokalen oder nationalen oder auch einer spätmodernen Gemeinschaft vorzunehmen, die sich nicht an herkömmliche Raumstrukturen anbindet. Die Quellen der Information unterscheiden sich vor 175
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allem durch die in den Städten größere Vielfalt an Informationsmöglichkeiten. Hier wie dort steht das Fernsehen an erster Stelle. Dabei bestätigen bzw. relativieren sich dessen Informations- und Sinnangebote im urbanen China durch zahlreiche mediale Referenzen und Widerspruchsmöglichkeiten in den Printmedien und anderen Informationsquellen. Dagegen können auf dem Lande in aller Regel nur die eigene Erfahrung und die mündlich übermittelte Information innerhalb der lokalen Gemeinschaften als Vergleichsmedien herangezogen werden. Es ist nicht zu vergessen, daß sich das Fernsehen durchaus nicht als homogene Informationsquelle präsentiert, sondern auch selbst mit vielfältigen Informationen und Sinnangeboten an die Öffentlichkeit tritt, die letzten Endes immer erst von ihren Rezipienten durch Auswahl und Interpretation, Erinnerung und Vergessen mit Bedeutung angefüllt werden. Der Unterschied bei der Verortung des Fernsehens als Einzelmedium der Herstellung von Identität(en) ist zwischen Stadt und Land vor allem gradueller Natur. Er wirkt sich weniger durch die Inhalte der Informationen als durch deren Wahrnehmungsanordnungen aus. Sie erzeugen auf dem Lande vor allem einen Dualismus zwischen lokaler Face-to-Face-Kommunikation und dem Fernsehen, in den Städten hingegen eine Multimedialität der Information, welche die somit vergleichbar gewordene Medialität selbst in stärkerem Ausmaß zum Gegenstand kritischer Reflexion bestimmt. Dies zeigt sich bei der Einschätzung der Glaubwürdigkeit der fernsehvermittelten Informationen. Im Vergleich mit der Fernsehwahrnehmung in demokratisch organisierten Gesellschaften mit relativ großer Medienfreiheit und nahezu unbehinderten Zugriffsmöglichkeiten auf Nachrichten werden medienvermittelte Informationen in China nach wie vor als sachlich relativ glaubwürdig eingeschätzt. Das bestätigt die zumindest in dieser Hinsicht ungebrochene Wirksamkeit der autoritären Staatsführung und der nationalen Informationspolitik. Entwicklungstendenzen in Richtung einer zunehmenden Meinungsvielfalt und individuellen Kritik gegenüber dem Informationsangebot machen sich indes in den auch hier transparent werdenden Differenzen zwischen Stadt und Land als Indikatoren für wahrscheinliche Auswirkungen einer zukünftig verbesserten Infrastruktur und Verbesserung des ländlichen Lebensstandards bemerkbar. So halten immerhin inzwischen die Hälfte der städtischen Untersuchungsteilnehmer die Fernsehinformationen für nur noch bedingt bis überhaupt nicht glaubwürdig und zeigen insgesamt auch gegenüber Konkurrenz- und Referenzmedien eine überwiegend kritische Haltung, um damit allmählich in Richtung von Werten zu tendieren, wie sie etwa in Europa gemessen werden. Demgegenüber schätzen auf dem 176
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Lande noch immer mehr als 64 % der Befragten das Fernsehen als überwiegend bis sehr glaubwürdig ein und zeigen überdies großen Respekt gegenüber den Printmedien, welche ihnen ja nur bedingt zugänglich sind. Diese Bewertung bestätigt sich bei der Frage nach der Wahrhaftigkeit der Darstellung Chinas im Fernsehen. Hier zeigt sich in Ermangelung eigener Erfahrung und der medialen Vergleichsmöglichkeit, aber auch in Ermangelung einer differenzierten Medienbildung, bei zwei Dritteln der ländlichen Befragten die Annahme einer medialen Abbildung (und Abbildbarkeit) der kulturellen und sozialen Realität Chinas durch das Fernsehen. In Kombination mit einer gegenüber den städtischen Untersuchungsteilnehmern deutlich erhöhten Autoritätsgläubigkeit unterstreicht dieser Authentizitäts- und Wahrhaftigkeitsglaube die Komponenten der Identitätsbildung im ländlichen China. Sie basiert auf einer í der medialen Wahrnehmung zwischen lokalem Face-to-Face und national angeordneten Fernsehprogrammen entsprechenden í Kombination aus hegemonialen nationalen Angeboten und den im Dorf und in der Familie vermittelten Werten, welche sich häufig in ihrer Tradiertheit deutlich von den nationalen Sinnangeboten unterscheiden. Dazu kommt noch die persönlich erfahrene soziale und ökonomische Situation. Wie die teilnehmenden Beobachtungen und Gespräche in den Dörfern Shanxis, Hebeis und Hainans ergeben haben, erweist sich jene in den Fragebögen geäußerte Autoritäts- und Abbildungsgläubigkeit letzten Endes aber immer wieder als eine vor allem semantische Größe. Da diese innerhalb und mit den Mitteln des zu betrachtenden Systems argumentiert, sagt sie nicht allzu viel über die tatsächlichen Wahrnehmungs- und Reproduktionsdispositionen derselben aus. Genauer nachgefragt, erweisen sich die Stellungnahmen der ländlichen Bevölkerung nämlich immer wieder als sehr viel differenzierter und kritikfähiger mit äußerst klarem Blick auf die eigene Situation und die eigene Beziehung zu den Autoritäten, als es die Fragebogenantworten ermöglichen. In ihrer Knappheit und schriftlichen bzw. bei den Nicht-Schriftkundigen mündlichen Form lassen sie keine Nachfragen und Konkretisierungen und somit auch keine längeren Ausführungen in den Antworten zu. Eine Ausweitung des Unterhaltungs- und Informationsangebots sowie der Zugangsmöglichkeiten auch zu nicht-chinesischen Angeboten wird, wie die Tendenzen in den Städten bereits heute bestätigen, zukünftig zu einer noch verstärkten Loslösung von den nationalen Sinnangeboten und deren Institutionen führen. Diese besetzen schon jetzt in den meisten Fällen eine Identitätsgröße, die den erfahrbaren Lebensbedingungen der Menschen und Gemeinschaften in China nur wenig entsprechen. Als Errungenschaften einer nur kurz auflebenden antikolonialen und antifeudalen Moderne in 177
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China hatten sie ihre sinnstiftenden Erzählungen nur unter Ausschluß von alternativen Sinnangeboten kurzfristig mit nachweisbarem Erfolg flächendeckend verbreiten können.
Hausfrau in der Provinz Hebei Damit könnten sie zeitweise eine nationale Einheit durch Differenz imaginieren. Die Vielfalt der alternativen Informations- und Sinnangebote wird sie mehr und mehr zurückdrängen. Dabei wird, wie es in den Städten bereits heute zu beobachten ist, die Globalisierung immer mehr extrem partikularisierte Identitätsangebote verbreiten. Diese werden die lokalen Gemeinschaften wieder stärken und zahlreiche virtuelle, nicht mehr an geopolitische Raumbedingungen sondern an Kommunikationsformen und Interessen gebundene, dabei zeitlich instabile Communities hervorbringen. Sie werden die Nation als mythische Einheit mehr und mehr überflüssig machen, aber gerade dadurch den Staat und das Machtund Ordnungssystem Chinas als vor allem institutionelle Größe wahrscheinlich innerhalb der globalisierten spätmodernen Weltgemeinschaft stabilisieren und in ihm immer neue, wenn auch vermehrt partikularisierte und instabile Mythen und Bedeutungen hervorbringen.
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6. W A H R N E H M U N G S A N O R D N U N G E N II: FERNSEHEN UND ZEIT Wie das vorherige Kapitel gezeigt hat, findet jeder Raum im Rahmen der von den weltweiten Mediengesellschaften anerkannten Ontologien seine Wahrnehmungsanordnungen ausschließlich in der und unter den Bedingungen der Zeit, innerhalb derer sich seine Dispositionen aktualisieren. Genauso ist auch die Zeit ohne Raum und ohne eine materielle Vorstellung desselben, in dem sie sich abbilden könnte, weder denk- noch darstellbar. Diese unabdingbare Verknüpfung von Raum- und Zeitstrukturen hatten chinesische Philosophen bereits vor der Reichseinigung, etwa seit dem 4. vorchristlichen Jahrhundert erkannt.1 Sie hat im Hinblick auf das universalistische Selbstverständnis Chinas entscheidenden Anteil an der kulturellen Bedeutungsbildung gehabt, ohne dabei eine signifikante Trennung zwischen natürlichen und kulturellen Phänomenen, zwischen dem Werden und Vergehen der Umwelt auf der einen, den Wahrnehmungen und Messungen von Zeit im menschlichen Handeln auf der anderen Seite zu implizieren. Nicht zufällig montiert sich in dieser Hinsicht der im modernen China in wissenschaftlichen Kontexten verwendete Begriff ᅛᅭ (Yuzhou) für ›Universum‹ aus den Einzelzeichen für Raum ᅛ und Zeit ᅭ. Dieses Verständnis ist nicht erst Ergebnis moderner experimentalphysikalischer Forschung im 20. Jahrhundert, deren Wirkungen auch nach China gelangt und dort von der Wissenschaft aufgegriffen, angeeignet und weiterentwickelt worden sind. Vielmehr ist es schon immer Teil des chinesischen Selbst- und Weltbildes, welches die Teilung zwischen Raum und Zeit nicht kannte. Dies bestätigt Joseph Needham in seinen Ausführungen zum chinesischen Wissenschaftsverständnis mit einem Zitat aus dem 11. Kapitel des dem Philosophen Liu An ߬ᅝ (ca. 175-122 v.Chr.) zugeschriebenen Werkes Huainanzi ⏂फᄤ:
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Vgl. Joseph Needham: Wissenschaftlicher Universalismus. Über Bedeutung und Besonderheit der chinesischen Wissenschaft. Frankfurt a.M. 1979, S. 176ff.
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DAS CHINESISCHE FERNSEHPUBLIKUM Die ganze Zeit, die seit dem Altertum bis heute verstrichen ist, nennt man chou; den ganzen Raum in jeder Richtung, nach oben und nach unten, nennt man yü. Das tao (die Ordnung der Natur) ist in ihnen, doch niemand kann sagen, wo es sich aufhält.2
Ausgehend von einer Raum-Zeit-Konstellation, welche zum einen deren Einheit im universalistischen Selbstbild, zum anderen deren Teilung im importierten modernen Wissenschaftsverständnis propagiert und durch die apparativen Medien kommuniziert, soll in diesem abschließenden Kapitel der Blick auf den letzten, entscheidenden Faktor der Identitätskonstruktion durch das Fernsehen gerichtet werden: die Zeit und deren Verhältnis zur Wahrnehmung des Raumes. Um zu relevanten Einsichten in die Selbstkonstruktion der fernsehenden Menschen und Gemeinschaften in China zu gelangen, ist es also notwendig, empirisch an die Raumwahrnehmung und die räumliche Identitätsbestimmung der Medienteilnehmer aus dem vorherigen Kapitel anzuknüpfen und parallel dazu einen Blick auf die Diskurse über die Zeit und ihr nahestehende bzw. alternative Termini zu werfen. Wir alle kennen in dieser Hinsicht neben den raumbasierten (z.B. lokale oder nationale, vorwiegend an die Institution Staat gebundene Zugehörigkeit) auch die zeitbasierten Schlagwörter der hegemonialen Selbstbestimmung im modernen, national angeordneten China. So war die Politik in Maos China vor allem durch die Teilung von Zeit in vorrevolutionär resp. kolonialistisch und feudalistisch auf der einen, revolutionär und befreit auf der anderen Seite geprägt und begründet sich der Staat derzeit vor allem auf dem í diese Teilung rückgängig machenden í Mythos des Begriffs der »5000-jährigen Kulturnation« Ѩग ᑈⱘ᭛࣪⇥ᮣ. Dies impliziert die Vorstellung von einer linearen Zeit, die sich nunmehr in den – für die nationale Konstitution unabdingbaren – Mythen-bildenden Ereignissen teilt und kausal von der Vergangenheit in die Gegenwart gerichtet ist. Sie prägt die Historikerberichte der VR China inzwischen häufig in ganz ähnlicher Darstellungsweise wie diejenigen im Europa der griechisch-römischen Tradition, welche das Verständnis einer Entwicklung von Vergangenheit in die Gegenwart und die Zukunft als lineare, in Ereignisse teilbare Abfolge ursprünglich hervorgebracht hatten. Auf der Vorstellung der Teilung basierend und mit dieser linearen Zeitvorstellung unmittelbar verknüpft ist aber ebenso das zuerst genannte 2
Joseph Needham: Wissenschaftlicher Universalismus. S. 177. Vgl. eine englischsprachige Übersetzung: Charles Le Blanc (Hg.): Huai-nan Tzu: Philosophical Synthesis in Early Han Thought. Hongkong 1991.
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Verständnis der Abgrenzung des revolutionären China gegenüber seiner feudalistischen und fremdbestimmten Zeit. Es war die legitimatorische Grundlage der sozialistischen Revolution wie aller politischen Kampagnen unter Mao Zedong. Diese Vorstellung ist bis heute nicht gänzlich aus den Köpfen der Menschen in der VR China verschwunden und prägt unverändert das Selbstverständnis der Einparteienherrschaft durch die KPCh mit. Auch darin steckt der Gedanke einer Entwicklungslinearität, die sich an Ereignissen wie demjenigen der Revolution und der Staatsgründung orientiert. Sie bilden demnach die Anfangs- und Endpunkte, welche den Entwicklungsgedanken prägen. Zugleich knüpft die Vorstellung eines Bruchs und Neubeginns, der auch in der kommunistischen Namensgebung des »Neuen China« ᮄढ verborgen ist, unmittelbar an das dynastische Denken an. Dieses hatte die chinesische Geschichtsschreibung in Abhängigkeit der Loyalitäten ihrer Historiker an ihre jeweiligen Dynastien gebunden, die den Moment und die Dauer, die Ewigkeit der Selbstwahrnehmung bestimmt hatte. Die Anwendung von zyklischen Anordnungsstrukturen wie derjenigen von Dynastien, der Ahnenverehrung mit ihrem Streben zu den Ursprüngen und nicht zuletzt der an Naturphänomenen orientierten spiralförmigen Strukturen des Prinzips eines zhong-shi 㒜ྟ (Ende-Anfang), wie sie sich etwa in den zyklischen, niemals identischen Sonnen- und Mondphasen oder in den Jahreszeiten ausdrücken, setzt Brüche in der Geschichte. Doch diese haben keine Ereignishaftigkeit. Sie sind vor allem von Übergängen geprägt, die sich nicht unmittelbar an ein Ereignis, den Augenblick knüpfen. Sie verstehen sich vielmehr als Momente einer unaufhörlichen Aktualisierung, die durchlässig ist und keine Schnittstellen, also auch keine geteilte Zeit und weder eine Differenz noch eine Identität des Ereignisses kennen. Vielmehr definieren sie sich als ständige Übergangssituation, als Momente in der Dauer, welche immer auch die Ewigkeit kennzeichnen. Blickt man auf die kulturelle Konstruktion im gegenwärtigen China, so läßt sich auf den ersten Blick (des europäisch sozialisierten Auges) durchaus eine grundlegende Binarität zwischen den in den populären Diskursen immer wieder beschworenen Kategorien von Tradition und Moderne wahrnehmen. Es handelt sich um eine Binarität, die sowohl den Raum (Tradition als die Bewahrung des inneren Raums des Eigenen, Moderne als Abbild des Außenraumes des Fremden) wie auch die Zeit (das Vorher, die Vergangenheit der Vormoderne bzw. der Fremdbestimmtheit und die Gegenwart der national selbstbestimmten Moderne und der in den Regierungsprogrammen noch nicht wirklich angekommenen Spätmoderne) beinhaltet. Beide sind nicht nur Gegenstand der Fernsehprogramme und ihrer ästhetischen und narrativen Strategien, 181
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sondern finden sich auch in der Auseinandersetzung mit dem Fernsehen und in dessen Wahrnehmungsräumen wieder: etwa in der Differenz zwischen Technik und medialem Dispositiv auf der einen, den chinesischen Programmen und Wahrnehmungsanordnungen auf der anderen Seite. Oder sie manifestieren sich zwischen der Entwicklungslinearität der technischen Erfindungen und Inventionen des Fernsehens sowie seinem Programm-Flow und den täglichen und wöchentlichen Nutzungs- und Wahrnehmungszyklen. Diese differenzieren sich zwischen der jungen und älteren, der ländlichen und städtischen, weiblichen und männlichen oder der berufstätigen und nicht erwerbstätigen Bevölkerung noch unendlich weiter aus, um nur ein paar Beispiele der Konstruktion von Teilungen zu nennen, welche die Herausbildung chinesischer Innen- und Außenräume kennzeichnen. Im folgenden wird daher zu untersuchen sein, wie Zeit sich als die neben dem Raum zweite entscheidende Kategorie des Selbstverständnisses in China definiert und in der Fernsehwahrnehmung durch die unterschiedlichen Rezipientengruppen rekonstruiert wird. Ausgangspunkt der Überlegungen und Analysen ist die Idee der Binarität einer teilbaren Zeit. Diese hat die Moderne mit ihren Medien und Kommunikationsstrukturen als Ordnungssystem nach China gebracht. Tatsächlich kann sie für unsere Überlegungen aber nicht mehr als eine operative Größe sein und erweist sich in der Wirklichkeit der kulturellen Wahrnehmung in China als nicht-existent, zumindest aber als durchlässig und dynamisch. Dabei ist nicht zuletzt auch die zugrunde liegende Idee einer Binarität zwischen Raum und Zeit wieder in den Blick zu nehmen. Sie erweist sich im Falle Chinas ebenfalls als Produkt der importierten Moderne. Als solches hat sie sich mit den hegemonialen und volkskulturellen vormodernen Anordnungen der Selbstwahrnehmung verknüpft, um daraus das Selbstverständnis zu begründen, mit dem sich die Menschen in China wie auch dessen Gemeinschaft gegenwärtig auf die eine oder andere Weise definieren. Aus ihm heraus gestalten sie in unaufhörlicher Aktualisierung und vielfältigen Raumanbindungen ihre Gegenwart resp. den Moment ihrer Selbst- und Weltwahrnehmung. Um diese wird es in den drei Abschnitten dieses abschließenden Kapitels zur Wahrnehmung von Dauer und Moment sowie von Vergangenheit und Gegenwart in der chinesischen Fernsehrezeption und schließlich dem damit einhergehenden Verständnis von Identität und Differenz, Innen und Außen gehen.
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Dauer und Moment Raum und Zeit werden im Europa der griechisch-römischen Tradition seit jeher als zwei getrennte, ja gegensätzliche Komponenten der Weltkonstitution mit gänzlich unterschiedlichen Innen-Außen-Bezügen betrachtet. Im Hinblick auf den Zeitbegriff findet sich bereits bei Aristoteles die bis in die Gegenwart gängige Vorstellung einer fließenden Zeit, die aber immer in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft teilbar und im Augenblick, dem Ereignis, fixierbar und darstellbar wird. Noch die transzendentalphilosophischen Thesen in Kants Kritik der reinen Vernunft, in welcher er vor allem die Anschauung von Raum und Zeit erkenntnistheoretisch untersucht, gehen von einer strikten Trennung von Raum (§2-3) und Zeit (§4-6) sowie von einer Linearität und Entwicklung letzterer zwischen jeweils zwei Punkten aus. Ungeachtet der Erkenntnis, daß beide Komponenten sich notwendigerweise aufeinander beziehen, bringen auch sie die unterschiedlichen Wahrnehmungsparameter einander nicht wirklich näher. Erst die kritischen Debatten im Anschluß an Henri Bergsons Thesen zur »Durée« als einer die herkömmlichen Differenzen zwischen Raum und Zeit aufhebenden und zugleich die Teilbarkeit der Zeit, deren Fixierung im einzelnen Bild negierenden Wahrnehmungskategorie haben in Europa zu einer erkenntniskritischen Rezeption und zu einer allmählichen Desontologisierung des Raum- und Zeitbegriffs geführt. Indem er sie als unaufhörliche Aktualisierung von Raum und Bewegung versteht, hat Bergson die Wahrnehmung von Raum und Zeit wieder zu einer Einheit zusammengeführt. Damit hat er etwa die Theorien Albert Einsteins und zahlreicher Naturwissenschaftler zu befruchten vermocht. Nichtsdestoweniger ist sein Modell nur bedingt in das kulturelle (und kulturwissenschaftliche) Bewußtsein Europas eingedrungen. Zwar haben sich in deren Zuge zahlreiche Theoretiker des 20. Jahrhunderts von Martin Heidegger über Gilles Deleuze bis hin zu Maurizio Lazzarato an die Neu- und Dekonstruktion des Raum- und Zeitbegriffs gewagt. Die in der Hochmoderne maßgeblich konstruktivistisch geprägte, tief in unser sprachliches System eingebundene Sichtweise auf die Anordnungen von Raum und Zeit und die ihnen zugrunde liegenden Ontologien einer linearen Zeit als Entwicklung von a zu b, die also nur in Kategorien des Raumes darstellbar und in dieser Form auch den apparativen Medien bedeutungsgebend eingeschrieben sind, vermochten aber auch sie nicht wirklich aufzubrechen. In diesem Bewußtsein einer Begrenztheit der Erkenntnis innerhalb des logischen Konstruktionssystems von Zeit innerhalb der europäischen 183
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Moderne hat in jüngster Zeit insbesondere François Jullien einen vergleichenden Blick auf die kulturellen Traditionen Chinas gerichtet.3 Dort erkennt er, so wie ein halbes Jahrhundert vor ihm bereits Zhang Dongsun in seiner Kant-Kritik, ein Denken der Zeit, welches ursprünglich in einem sehr viel unmittelbareren Zusammenhang mit dem Denken des Raumes steht als in der griechischen Tradition. Es kennt die dort übliche binäre Trennung dieser Kategorien nicht. Daher hat es diese auch nicht erst zu dekonstruieren, um sich einem Verständnis der unteilbaren Zeit annähern zu können, ohne dabei deren Wahrnehmbarkeit und Darstellbarkeit in der Weise unmöglich zu machen, wie es im Europa der exakten, also unmittelbar an die in der geteilten Zeit eingefrorene Materie gebundenen Abbildung der Fall ist. Zudem hat China die scharfe Differenzierung zwischen Vergangenheit und Gegenwart mit dem zusätzlichen Hinweis auf die Zukunft als lineare Verbindung zwischen Anfangs- und Zielpunkt bereits in seinen semantischen Kodierungen seit jeher vermieden. Anstelle der Kategorien von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die jeglichen Entwicklungsgedanken in der griechischen Tradition wie insbesondere in der industriellen europäischen Kultur der Neuzeit einschließlich ihrer Medien als Bewegung von dem einem zu dem anderen Punkt prägen, erkennt Jullien die Kategorien von ›Moment‹ (shi ᯊ) und ›Dauer‹ (jiu Й) als zentrale Elemente des chinesischen Denkens von Zeit.4 Sie haben sich, wie er weiter ausführt, auch in die modernen sprachlichen Kodierungssysteme übertragen, als sich seit dem späten 19. Jahrhundert unter dem Einfluß des Kolonialismus, der Öffnung des Denkens gegenüber den technischen, ökonomischen und kulturell-politischen Modellen des »Abendlandes« und des Siegeszuges der an der Mündlichkeit orientierten reformierten Schriftsprache ›Baihua‹ ⱑ 䆱 die Begriffe ›kongjian‹ ぎ 䯈 (Zwischen-Leere für Raum) und ›shijian‹ ᯊ 䯈 (Zwischen-Moment für Zeit) etablieren konnten. Damit konnte die klassisch-elitäre Schriftsprache allmählich aus dem literarischen und amtssprachlichen Gebrauch verbannt werden, ohne daß dabei aber ein ausschließlich für sich selbst stehender Terminus für Raum und Zeit herausgebildet worden wäre.5 Anders als das Ereignis, welches als Terminus der Teilbarkeit und Teilung allem Zeitdenken in der europäischen Moderne kulturkonstitutiv voransteht, versteht sich dabei der zentrale Be-
3 4 5
François Jullien: Über die Zeit. Elemente einer Philosophie des Lebens. Zürich, Berlin 2004. François Jullien: Über die Zeit. S. 44ff. François Jullien: Über die Zeit. S. 58f.
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griff des Momentes nicht unmittelbar als ein solcher der Zeit. Er beruht damit notwendigerweise auch nicht auf der Vorstellung einer Teilbarkeit derselben. So kennt er auch nicht die Trennung von Vergangenheit und Gegenwart. Wenn es kein Verständnis einer Gegenwart als ereignishaft erlebbaren, von der Vergangenheit abtrennbaren Augenblicks gibt, kann es dazu auch keine Differenzkonstruktion, keine Vergangenheit geben, die gegenüber der Gegenwart abgeschlossen wäre. Vielmehr kulminieren beide im Moment, der kein im Augenblick eingefrorenes Ereignisbild ist, sondern sich als dynamisches Erinnerungsbild versteht. Darin drückt sich die unaufhörliche Aktualisierung der Vergangenheit in die Gegenwart aus, wie es dem bergsonschen Bildbegriff und Wahrnehmungsverständnis bis zu diesem Punkt noch nahekommt. Jullien faßt dies mit Blick auf die vormodernen Diskursanordnungen in China wie folgt zusammen: Ein Moment hat weder Anfang noch Ende, aber er öffnet sich und schließt sich; er definiert sich nicht durch seine Extremitäten, sondern indem er sich eintieft und sich mit Schwellen und Stufen umgibt: anders als die Zeit, die extensiv ist, ist der Moment ein Intensivum; während ein Zeitabschnitt immer finit ist, ist der Moment ein Infinitum – er ist es sogar, in dem das Leben seine einzige Unendlichkeitsdimension findet –, er ist unerschöpflich. Denn statt nach Art der Zeit hämorrhagisch und unbestimmt zu seiner Folge, seiner Flucht hinzustreben, definiert oder vielmehr konstituiert sich der Moment dadurch, daß er sich, während er fließt, sich selbst zuwendet, indem er sich um seine Qualität zentriert und sich in ihr vertieft: so daß sich eine neue Perspektive ergibt, die nicht mehr die des (in dem, was wir die »Zeit« nennen, isolierten) Vorbeigehens oder gar die der Flucht ist, sondern – wie es anders darstellen? – die, wie ich vorschlug, seiner »Höhlung«.6
Im Moment finden sich demnach, ohne daß der chinesische Diskurs diese Kategorien benutzen müßte oder auch nur könnte, alle Elemente von Vergangenheit und Gegenwart als Erinnerungsbilder wieder. Er kennt keinen Bruch, kein Ereignis. Vielmehr ist er als unaufhörliche Aktualisierung in der Dauer zugleich auch immer das Ewige, das weder Anfang noch Ende kennt und somit auch keine zwischen diesen beiden imaginären Punkten angelegte Entwicklungslinearität herstellen muß. In diesem Punkt geht das chinesische Denken weit über dasjenige von Bergson hinaus (oder bleibt hinter diesem zurück, was dann ja keine Rolle mehr spielt), indem es seinen Diskurs nicht an den Kategorien von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft abarbeiten und sich gegenüber diesen ver6
François Jullien: Über die Zeit. S. 171.
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orten muß, sondern sie allesamt in die universelle Vorstellung von Moment und Dauer integriert und somit in ihrer Eigenständigkeit und Teilung obsolet macht. Sie lassen sich, mit Bergson, als in den Vielheiten angeordnete, somit nicht historisch anzuordnende Erinnerungsbilder auch in der gegenwärtigen Medienkultur und insbesondere im Wahrnehmungsdispositiv des Fernsehens vorstellen. Der Import und die Aneignung der Ideologie der industriellen Moderne, zu denen nicht zuletzt auch die apparativen Medien mit ihren spezifischen Dispositionen gehörten, haben China aber seit dem 19. Jahrhundert und insbesondere in der Phase der Nationenbildung seit Mitte des 20. Jahrhunderts zunächst eine Konstellation beschert, in der die Rezeptionssituation eines jeden einzelnen Medienteilnehmers beide Elemente beinhaltet: die lineare Entwicklungsideologie der Medien und das in den vormodernen Repräsentationspraktiken angelegte prozessuale Zeitdenken in Form von Moment und Dauer. Und schließlich haben spätmoderne Kommunikationsapparaturen wie das Fernsehen als Medium des »flow«, aber auch die Onlinemedien, seit den 1980er Jahren in Verknüpfung mit den ökonomischen Umwälzungsprozessen der globalisierten Informations- oder Netzwerkgesellschaften selbst eine Konstellation herbeigeführt, in welcher die lineare Weltkonstitution nicht mehr funktioniert und auch das Ereignis sowie das Denken von Anfang und Ende eine ganz neue Bedeutung verliehen bekommen haben.7 Wie an anderer Stelle dargelegt, ist im Falle von Buchdruck und Kino in China zunächst eine Dialektik entstanden, welche die Linearität der medialen Repräsentationspraxis im Moment der Wahrnehmung teilweise in das zyklisch angeordnete Denken jenes »Zhong-shi« (㒜ྟ Ende-Anfang) hat übersetzen können.8 Das Fernsehen dagegen knüpft in seiner Konzeptualisierung als Programmedium, das sich insbesondere durch den Charakter des »flow« auszeichnet, in seiner chinesischen Wahrnehmungssituation durchaus auch medial bereits an jenes im »Zhong-shi« angelegte vormoderne Kunst- und Kulturverständnis an. François Jullien hat es beschrieben, um das zyklisch-fragmentarische und zugleich universalistische, auf Differenzen verzichtende Weltverständnis Chinas gegen das linear-zielgerichtete Weltbild des industrialisierten Europa abzugrenzen. Wenn im Folgenden diskurshistorisch und empirisch bei den chinesischen Medienteilnehmern nach der Wahrnehmung von Zeit gefragt wird, 7 8
Vgl. Manuel Castells: Das Informationszeitalter I. Die Netzwerkgesellschaft. Opladen 2001. Stefan Kramer: Vom Eigenen und Fremden. a.a.O. Vgl. hierzu insbesondere François Jullien: Der Umweg über China. Ein Ortswechsel des Denkens. S. 77f.
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sind die beiden Bezugsebenen einer chinesischen Wahrnehmungstradition und der sich in den transkulturellen Medienapparaturen repräsentierenden Moderne und Spätmoderne gleichermaßen zu berücksichtigen. Dabei soll aber nicht von einem neuerlichen Dualismus ausgegangen werden, der sie beide gegenüberstellt, um die althergebrachte Frage nach kultureller Kolonisierung oder kultureller Assimilation zu stellen. Vielmehr sollen sie als mögliche Erklärungsmuster herangezogen werden, um eine keineswegs binär zu denkende Wahrnehmungssituation zu beschreiben, welche immer das sowohl als auch beinhaltet, d.h. das eine wie das andere in die kulturelle Reproduktion durch die einzelnen Fernsehzuschauer übernimmt, ohne es allerdings zu kopieren. Statt dessen ist auch hier von einer unaufhörlichen Aktualisierung auszugehen, welche Zeit durchaus in linear-binärer Form von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft strukturiert, wie es die im Fernsehen präsentierten Diskurse im Sinne nationaler Selbstwahrnehmung überwiegend kommunizieren. Zugleich entstehen, so die These, im »flow« der Programmgestaltung wie auch in der individuellen Selbstwahrnehmung der Fernsehnutzer, immer neue Erinnerungsbilder. Diese verorten sich nicht, wie Henri Bergson in Europa die Problematik der Zeit mit bahnbrechender Wirkung für Naturund Kulturwissenschaften um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erstmals thematisierte, im »durée«, der Dauer, als einem unaufhörlichen Aktualisierungsprozeß von einer virtuellen (räumlich-bildhaften) und aktuellen, nämlich einer in Wirklichkeit unteilbaren Wahrnehmung von Zeit. Vielmehr geht das chinesische Denken noch darüber hinaus, indem es die Zeit aus der Individualität und Subjektivität einer Wahrnehmungsstruktur, die zwangsläufig an eine Linearität zwischen Anfang und Ende gebunden ist, heraushebt und in das Konzept des »Zhong-shi« einfügt. Dieses denkt die Zeit von ihrem Ende her, um dabei die Differenzen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eine immerwährende Gegenwart nicht des ereignishaften und damit exkludierenden Augenblicks sondern in eine solche des integrativen, alles Vorgängige mit allem Gegenwärtigen aktualisierend zusammenschließenden Momentes aufzulösen. Da es, bar der Vergangenheit und Zukunft, aber keine Gegenwart als Differenzkonstruktion geben kann, kann es also auch keine Teilung der Zeit, keinen Zustand mehr geben, der bildhaft erfaßbar und im Raum fixiert reproduzierbar wäre. Statt dessen entsteht der Prozeß als unaufhörliche, eben nicht auf die Lebenslinien des Individuums mit ihren Anfangs- und Endpunkten reduzierte und darin eingefrorene Wahrnehmung des Momentes sondern als in der Ewigkeit stattfindende unaufhörliche Aktualisierung von Form (ᔶ xing), die ohne jegliche Differenzierung 187
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auskommt. Sie ist keineswegs als eine nur unterschiedliche Art der Teilung von Zeit zu verstehen, wie es der europäische Begriff der Form vorsieht, welcher durch die Teilung von Zeit eine bild- und ereignishaft fixierbare Raumkategorie herausbildet. Vielmehr ist sie von vorne herein immer zugleich als Verbalkonstruktion, als Prozeß, zu verstehen. Bei dem chinesischen Philosophen Menzius hat sich Form zudem bereits vor zweieinhalb Jahrtausenden ausschließlich als Abbildungskategorie verstanden. Diese reproduziert nicht den äußeren Raum. Vielmehr konstituiert sie sich als ein Wahrnehmungsbild, das sich immer erst durch den sich unaufhörlich aktualisierenden Ausdruck des Wahrnehmenden manifestiert: »᳝䇌ݙᖙᔶ䇌« (Was im Inneren entsteht, bildet seine Form immer nach außen, aus: Mengzi: ›Meister Gao‹).9 Es bezeichnet niemals den Zustand sondern immer den Prozeß, der weder einen Anfang noch ein Ende kennt, also auch niemals zielgerichtet sein kann. Die daraus zu ziehende Schlußfolgerung für die Modalitäten der Abbildbarkeit und der Abbildung von Außenräumen ist in China bereits vor mehr als zwei Jahrtausenden anhand der Lyrik wie insbesondere anhand der Malerei mit einer abschließenden Wertsetzung gezogen worden. Diese hatte bis zum Einbruch der importierten í mimetischen í Moderne uneingeschränkt Gültigkeit und ist auch darüber hinaus nicht gänzlich überdeckt sondern vielmehr von den neuen, apparativen Medien teilweise aufgegriffen und »aktualisiert« worden: Eine Vertiefung des Ähnlichkeitsvermögens in der Figuration gibt es nur durch eine Gesamtähnlichkeit mit dem ›großen dao‹, das heißt mit seiner Harmonie gleichzeitiger Möglichkeiten, wobei diese Figuration sich ausreichend ent-individuiert, um auf ihrem Grund den die Differenzen aufhebenden und harmonisierenden Quellgrund aufscheinen zu lassen, aus dem sie hervorgeht. Diese ›Gesamtähnlichkeit‹ […] wird also eine Ähnlichkeit durch Nicht-(anekdotische oder partikuläre)-Ähnlichkeit sein. Indem die Zeichnung leer und die Figuration unbestimmt wird, besteht die wahre Ähnlichkeit in der Anspielung auf die Dimension des Unsichtbaren, die die konkrete Partikularität aller Striche durchzieht. Im Gedicht »Von der greifbaren Charakterisierung« […] heißt es: So unterschiedlich die durch Bilder evozierten Phänomene auch sein mögen î ob es sich nun um die Bewegung des Winds und der Wolken handelt, oder um den Geist, der den Blumen entströmt, um die beständige Erneuerung der Wellen oder um die endlose Aneinanderreihung von Gipfeln î, sie werden nur dann auf ähnliche Art und Weise gemalt, das heißt in ihrem unaufhörlichen Verströmen-Verwandeln, wenn sie sich von der Dimension des Geistes und 9
In: Mengzi Zhengquan ᄳᄤ䆕ࠌ (Ϟϟ). Peking 1987.
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WAHRNEHMUNGSANORDNUNGEN II des Atems durchdringen lassen, die sie auf diese Weise ständig variieren läßt und ihre Formen endlos erneuert. Deshalb, so schließt das Gedicht logischerweise, »erreicht man Ähnlichkeit« nur, »wenn man die Form losläßt« und sich von ihrem Zwang befreit.10
Jullien zitiert hier eine unabdingbare Abhängigkeit des Raums von der sich in der Bewegung manifestierenden Zeit. Sie darzustellen ist Grundlage aller Abbildung in der Malerei und auch in der Lyrik, welche in China in einer sehr viel größeren Nähe zueinander gesehen werden als etwa die Malerei zu der ihr in der europäischen Tradition nahestehenden Bildhauerei. Die hier privilegiert zu beachtenden Begriffe von Zeit und Bewegung, von Moment und Dauer widersprechen weitestgehend dem kantschen Zeitverständnis, so wie er die Anordnungsstrukturen der Medien in der Moderne und Hochmoderne maßgeblich geprägt hatte, und bestätigen somit Zhang Dongsuns Thesen auch und insbesondere für die multimediale Spätmoderne Chinas. Kants Kritik der reinen Vernunft zufolge ist die Zeit als »eine reine Form der sinnlichen Anschauung« »innerer Sinn« des Wahrnehmenden, der keinerlei materielle Verbindung zum wahrgenommenen Gegenstand aufweist und auch die Verknüpfung zu dem äußeren Sinn, welchen der Raum darstellt, nur in seiner inneren Wahrnehmung herstellt, indem dieser nämlich den äußeren Sinn durch eine in der Bewegung hergestellte Multiplizierung des Raumbildes aktualisiert. Grundlage all dieser Überlegungen ist nach wie vor eine Linearität von Zeit wie auch deren Teilbarkeit, wie sie die apparativen Medien geprägt hatte: den industriellen Buchdruck, mit dem insbesondere in den Zeitungen das Ereignis repräsentiert werden sollte, genauso wie die Photographie, welche das Ereignis einzufrieren gedachte, oder den Kinofilm, welcher auf der Basis des im Einzelbild eingefrorenen Ereignisses durch dessen Addition in ein ›Bewegungs-Bild‹ und dessen Reflexion in einem ›Zeit-Bild‹ einen neuen í technischen í Diskurs über die Wiedereinführung der Bewegung initiierte.11 Das Fernsehen indes kommt, wie ich an anderer Stelle bereits diskurshistorisch dargelegt habe, dem Zeit-BildVerständnis, welches die Philosophie und Geschichtsschreibung genauso wie die Malerei und Lyrik als über zwei Jahrtausende hinweg prägende Ausdrucksformen chinesischer Kultur geprägt hatte, entscheidend näher. 12 Sein Charakteristikum des Programm-»flow« und die Auflösung 10 11
12
François Jullien: Das große Bild hat keine Form. München 2005, S. 141. Vgl. hierzu insbesondere die beiden Kinobücher von Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt a.M. 1995. Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt a.M. 1997. Stefan Kramer: Vom Eigenen und Fremden. a.a.O.
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seiner materiellen Bildhaftigkeit (nach dem Bildverständnis einer teilbaren Zeit) in eine durch den Zeitfaktor und die Aktualisierung geprägte Struktur sich unendlich verdichtender und neu anordnender BildschirmPixel sind die Faktoren. Mit diesen hat sich die durch die Typographie geprägte industrielle Kultur Europas unter nach wie vor heftigen Konflikten bis hin zu apokalyptischen Unkenrufen auseinanderzusetzen. Sie prophezeien einen mit den Bildschirmmedien einhergehenden Untergang der abendländischen Kultur und wiederholen damit in endloser Spirale die mit allen bisherigen Medienumbrüchen einhergegangenen Verteidigungsriten seitens der Vertreter der durch das Neue bedrohten Ordnungsund Machtmodelle. In China dagegen haben die Bildschirmmedien und die durch sie evozierten Formen von Öffentlichkeit eine Anbindung an die vormodernen Traditionen, an die Performanz und die Multiperspektivität, an den Moment und die Dauer angeboten, wie dies mit der streng linearen und in ihrer Werkhaftigkeit abgeschlossenen, dabei stets fremd gebliebenen Printkultur der Hochmoderne nicht möglich geworden war. Dabei läßt sich allerdings auch die Tatsache nicht verleugnen, daß es gerade die Ideologien der industriellen Hochmoderne waren, welche aus einem Jahrtausende alten theokratischen Selbstverständnis heraus mit den kolonialen Kontakten im 19. Jahrhundert und darüber hinaus den chinesischen Nationalstaat erst motiviert und dessen nationalistische und kommunistische Regierungen über nahezu ein Jahrhundert unangefochten in ihren Machtpositionen gehalten haben. Von daher darf der Einfluß der importierten Moderne, einer nationalstaatlichen Identitätsbildung und der Anbindung Chinas an eine maßgeblich durch die Printkultur geprägte Weltgemeinschaft also keinesfalls unterschätzt werden. Ohne Zweifel ist zu konstatieren, daß der Faktor Zeit neben demjenigen des Raums in der Wahrnehmung des Eigenen und des Anderen einen entscheidenden Einfluß ausübt und das Fernsehen als das privilegierte Medium der Produktion und Kommunikation von Selbstverhältnissen maßgeblicher Träger desselben ist. Wie sich in der Wahrnehmung des chinesischen Fernsehpublikums Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aber tatsächlich als zielgerichtete Entwicklungskategorien gegenüber dem vormodernen chinesischen Denken von Moment und Prozeß verhalten, wird im Folgenden zu erörtern sein. Dabei geht es auch darum zu zeigen, wie sich das Fernsehen als Wahrnehmungsdispositiv, welches auch die Kategorie Raum wieder in die Diskurse um die Zeit einführt und den hegemonial kommunizierten Raumkategorien von Nation und dem Anderen eine nicht mehr dualistisch zu denkende Differenz gegenüberstellt, darin verortet und zwar unter Berücksichtigung der oben beschriebenen Anordnungsbedingungen kultureller Wahrnehmung in China. 190
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Vergangenheit Das Kino als repräsentatives und sinnbildendes Medium einer importierten Kultur der Typographie hatte mit seinen Revolutions- und Dekolonisationsdramen zunächst die Vorgaben geschaffen für die Programmgestaltung des Fernsehens als bedeutungs- und identitätsbildendes Leitmedium der VR China. Es basierte in seinen Aussagen und Kommunikationsstrategien maßgeblich auf der ideologisch und machtpolitisch motivierten Idee der Teilung von Zeit, wie sie bereits die Typographie als entscheidendes Konzept der Kommunikation einer industriellen und nationalen Moderne nach China gebracht hatte. Es führte zugleich die Trennung zwischen einem vor dem Abbild existierenden Abgebildeten und seinem nachhaltigen Stellvertreter, dem das Abgebildete exakt repräsentierenden Abbild, ein. Darüber hinaus trennte es auf dieser grundlegenden Anordnung einer sich auf diese Weise nach europäischem Vorbild modern darstellenden Geschichtsschreibung sowie einer Kultur des Erinnerns und Speicherns zudem zwischen einer feudalen und fremdbestimmten Vergangenheit und einer volksdemokratischen und selbstbestimmten Gegenwart, mit deren Symbolen und Mythen sich das hegemoniale System Chinas legitimiert. Von daher waren die modernen Medienapparaturen angetreten, als dritte Zeitkategorie eine strahlende nationale Zukunft Chinas unter Führung der KPCh zu skizzieren, welche ihre Wirkung nicht als Utopie sondern als mimetische Abbildung einer (im Werden begriffenen) Gegenwart entfalten sollte.13 Mit nur geringer Zeitversetzung führte allerdings die ökonomische und kulturelle Öffnung Chinas gegenüber der Welt, die in den 1980er Jahren also nicht ganz zufällig einherging mit der Etablierung des Fernsehens als neuem Leitmedium, vielmehr mit jener in unabdingbarer wechselseitiger Kausalität stand, auch wieder zu einem Bruch mit den í hochmodernen í Ideologien des Sozialismus und seiner scharfen Differenzierungsstrategien. Spätestens seit den 1990er Jahren rückte das Schlagwort der ›5000-jährigen Kulturnation‹ Ѩगᑈⱘ᭛࣪⇥ᮣ immer deutlicher in das Zentrum der Diskurse um die nationale Identität und deren Differenzen. Von entscheidender Bedeutung für das Fernsehpublikum ist seit dieser Zeit die Gleichzeitigkeit und Parallelität der über das Fernsehen vermittelten Diskurse einer unterschiedlich angeordneten Teilung der Zeit. Diese rufen einerseits in unendlicher Wiederholungsschleife unverändert die Mythen der Revolution an und verweisen dabei auf alle feudalen und kolonialen Übel, von 13
Vgl. hierzu Stefan Kramer: Vom Eigenen und Fremden. Kap. 5, 6.
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denen sie sich in einer einzigen Teilung der Zeit identitätsstiftend abgrenzen. Zugleich beschwören sie aber inzwischen wieder die Kontinuität der eigenen Kultur genauso wie die í sich auf eben die Maßstäbe der importierten Ideologien des Marktes berufenden í Erfolge der chinesischen ›Nation‹ im globalen Wettstreit um technische und wirtschaftliche Entwicklungen. Darüber hinaus beteiligen sie sich bei der Kommunikation derselben an der in der globalen Mediengesellschaft inzwischen gängigen Ereigniskultur, welche die Zeit in unendlicher Fragmentierung in Augenblicke teilt, die jeweils als Ereignisse kommuniziert resp. verkauft werden. Betrachtet man unter diesen Gesichtspunkten die Wahrnehmungssituation des Fernsehpublikums in China, dann verweist diese (unter den Anordnungsbedingungen einer typographischen Kultur) scheinbare Ambivalenz zum einen auf die oben beschriebenen vormodernen Wahrnehmungsstrukturen von Zeit als ein sich unaufhörlich aktualisierender, polysemische Strukturen generierender Moment in der Ewigkeit. Sie verweist zum anderen auf die Medialität und die Kommunikationssituation des Fernsehens und einer spätmodernen Kultur, als dessen primäres Medium das Fernsehen gelten kann. So stellt sich für unseren Forschungszusammenhang die Frage danach, wie das Publikum mit den Zeitstrukturen des Fernsehens und seiner Programmangebote tatsächlich umgeht, ob es die unterschiedlichen Zeitmodelle als widersprüchlich empfindet oder sie in die eigenen Diskurse hinein zu aktualisieren in der Lage ist, und, vor allem, wie es daraus und in Wechselwirkung von medialer und Alltagserfahrung seine Selbstverhältnisse produziert. Bereits die Untersuchung der Nutzungsstrukturen von Fernsehen in China hat ja ergeben, daß sich in dieser Hinsicht ein, zwar nicht im Wesen begründeter sondern gradueller, aber nichtsdestoweniger erheblicher Unterschied zwischen der ländlichen und der städtischen Bevölkerung konstatieren läßt. Dieser basiert nicht auf den í sieht man von einer in den Städten in aller Regel größeren Programmvielfalt ab, ja nahezu übereinstimmenden í Angeboten des Fernsehens. Vielmehr basiert er auf den sich grundlegend voneinander unterscheidenden Lebensstrukturen und Lebenserfahrungen auf dem Lande und in den Städten. Das urbane China hat seine Zeitanordnungen unter den Prozessen der Modernisierung vordergründig inzwischen weitgehend von den Zyklen der Natur abgekoppelt. Es hat auf der Basis industrieller Strukturen, welche die moderne Stadt mit ihren spezifischen Anordnungen als Lebensraum in China ja erst hervorgebracht haben, das Konzept Zeit in Anlehnung an global-spätindustrielle Bedingungen der Produktion neu errichtet.
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Friseursalon in der Provinz Hebei Dies impliziert fixierte Abläufe zwischen Arbeit und Freizeit wie auch in den Lebensläufen zwischen Ausbildung, Produktionszeit und Altersfreizeit, die unmittelbar an die Produktionsverhältnisse gebunden sind. Sie alle gehen von einer unverrückbaren materiellen Text-, Medien- und Kulturdefinition als Differenzbeschreibung aus, wie sie die industrielle Moderne hervorgebracht hat, die in der Spätmoderne aber immer weniger trägt. Nachdem Identität, wie Hartmut Rosa 14 es am europäischen Modell geschildert hat, bis in die Frühmoderne hinein noch überwiegend intergenerational geprägt war, also über Generationen hinweg innerhalb fixer Gemeinschaften weitergegeben wurde, ist sie in der Moderne synchron geworden, also dem Individuum und seiner Zeit angepaßt worden. Die von Rosa beschriebene Differenz zwischen Vormoderne und Moderne markiert zugleich diejenige zwischen dem urbanen und dem ruralen China der Gegenwart. Identität bindet sich in den stärker industrialisierten und urbanisierten Regionen immer weniger an Dorf- und Familienstrukturen, sondern verstärkt an das Individuum und dessen Lebenszeit und seinen Lebensort. Differenz indes besteht neben der räumlichen auch in der zeitlichen Perspektive, nämlich von einer zur nächsten Generation bzw., auf nationale Zusammenhänge übertragen, von einer zur nächsten Herrschaftsform, von einer zur nächsten Herrschaftspersonalie oder von 14
Hartmut Rosa. Beschleunigung. a.a.O.
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einem zum nächsten Ordnungssystem. Sie besteht damit zwangsläufig auch in einer materiellen und materiell unterscheidbaren Mediendefinition, nach der im hegemonialen nationalen Diskurs Medien vor allem als Vermittler oder Übermittler von Informationen verstanden werden, die jenseits der Medialität selbst verortet sind. Angesichts einer sich von der Moderne oder oft gar direkt von der Vormoderne in die Spätmoderne fortsetzenden Entwicklung kulturell-gesellschaftlicher und kommunikationstechnischer Prozesse, wie sie sich in den mehr und mehr dienstleistungs- und informationsgesellschaftlich angeordneten urbanen Räumen abzeichnen, weicht die Illusion einer fixierbaren Identität inzwischen aber bereits immer deutlicher der Gewißheit über die Nichtidentität der Kultur nach dem Verständnis der modernen Differenzkonstruktionen. Diese legen die Definition des Mediums als Vermittler zwischen zwei Identitätsfiguren an. Wandlungs- und damit auch Übersetzungsprozesse finden, zeitlich betrachtet, nun nicht mehr intergenerational wie in der Frühmoderne und auch nicht mehr synchron wie in der Moderne statt. Vielmehr ordnen sie sich zusehends intragenerational an. Sie sind, so wie die Identitäten von Individuen und Gemeinschaften, im ständigen »flow« begriffen und immer weniger in der Zeit fixierbar. Gegenüber den industriellen Strukturen der Hochmoderne, die im China Mao Zedongs und darüber hinaus nur kurzzeitig hatte Fuß fassen können, zeigen sich im urbanen China der Gegenwart bereits deutliche Veränderungen in Richtung der dezentralisierten Strukturen einer postindustriellen Spätmoderne. Sie äußern sich bezüglich des Freizeitverhaltens und des Medienkonsums u.a. darin, daß die festen Tagesabläufe, welche zuvor alle Menschen in nahezu übereinstimmende Zeitstrukturen (Arbeit von früh morgens bis spät nachmittags, freie Abende, die überwiegend in der Familie verbracht werden, freie, kürzere oder, später, längere Wochenenden und feste Jahresurlaube, die zudem in aller Regel durch die Danwei ऩԡ, die Arbeitseinheiten, zentral verplant wurden) gezwungen hatte, weitestgehend aufgebrochen worden sind und sich erheblich diversifiziert haben. Dies hatte in den 1990er Jahren u.a. zur Folge, daß sich die zusehends marktwirtschaftlich ausgerichteten und in Konkurrenzsituation zueinander stehenden Freizeit- und Medienangebote an diese neue Zeitordnung anpaßten und das Fernsehen, um seinem medialen Charakter des »flow« entsprechen und gegen die Vielfalt der Freizeitmöglichkeiten konkurrenzfähig bleiben zu können, etwa erstmals Vollprogramme und, mit Hilfe der Satelliten- und Kabeltechnik, auch eine Vielzahl von Spartenkanälen anbot. Diese wandten sich unmittelbar an die Bedürfnisse von spezifischen Zielpublika und ließen damit den einstmals angedachten sozialistischen Einheitsbürger vergessen. 194
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Dagegen sieht die Situation auf dem Lande nach wie vor ganz anders aus. Hier sind, wie die Befragungen ergeben haben, die meisten Medienteilnehmer nicht in der Lage (und unterliegen auch kaum der Notwendigkeit), die in den Städten mit der Industrialisierung etablierten Meßwerte von Zeit unmittelbar auf die eigenen Lebensstrukturen zu beziehen. Die überwiegend in der Agrarwirtschaft tätige Landbevölkerung vermag in dieser Hinsicht genauso wenig die eigenen Arbeits- und Freizeitstrukturen innerhalb eines Jahres- oder Wochenablaufs zu benennen, wie sie quantitative Angaben über den Medienkonsum in Bezug auf Stundenzahlen zu geben imstande ist. Auch die in den Städten längst üblichen Einteilungen von Lebensläufen anhand von institutionalisierten und standardisierten ›Ereignissen‹ wie der Aufnahme in den Kindergarten, der Einschulung, dem Wechsel von Primär- zu Sekundärschule und an die Hochschulen sowie dem Einstieg in das und dem Ausstieg aus dem Berufsleben nehmen im ruralen China eine (noch) untergeordnete Bedeutung ein. Genauso wenig vermögen die medialen Ereignisse, welche das öffentliche Leben (so derzeit etwa die bevorstehenden Olympischen Spiele im Jahre 2008 in Peking oder die Weltausstellung im Jahre 2010 in Shanghai) in den Städten sichtbar strukturieren, in den von der Ereigniskultur abgeschnittenen und durch sie noch kaum sozialisierten ländlichen Gegenden Chinas ihre massenmediale identitätsbildende Wirkung zu entfalten. Statt dessen finden privates und soziales Leben und ein Ich- und Wir-Bewußtsein fast ausschließlich innerhalb einer weit über die Individualität des Einzelnen hinausgehenden Anordnungsstruktur statt. Sie orientiert sich nach wie vor in erster Linie an der Institution Familie sowie an derjenigen der über unmittelbare Kommunikation und durch gemeinsame Interessen miteinander verbundenen Dorfgemeinschaft. Die Übergänge in den Zeitläufen sind fließend und verlieren gegenüber den jeweils größeren Funktionseinheiten, in die sie sich einbetten, an Bedeutung. Die bäuerlichen Menschen kennen nicht die überwiegend medial produzierte Ereignishaftigkeit der Selbstwahrnehmung, welche in den Städten zu ordnungspolitisch gewollten Teilungen geführt hat. Übergänge, zu denen auch die Geburt und der Tod von Mitgliedern der Gemeinschaft oder Hochzeiten (bislang noch kaum Scheidungen, die im urbanen China seit den 1990er Jahren rasant zugenommen haben) gehören, markieren jeweils Momentlinien des Lebens, ohne dabei zugleich derartige Brüche und Zeitteilungen darzustellen, wie sie durch die (Medien-)Ereignisse das spätmoderne urbane Leben prägen. Die Differenz zwischen einer ereignishaft wahrgenommenen und einer im Moment stattfindenden, ohne Brüche auskommenden Vergangenheit und Gegenwart läßt sich allerdings nicht binär zwischen Stadt und 195
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Land konstatieren. Sie wird nur graduell, nämlich in Abhängigkeit vom jeweiligen industriellen Entwicklungsstand und den Produktionsbedingungen der betreffenden Regionen, evident. Nichtsdestoweniger bestätigt sich bereits an diesen rudimentären Betrachtungen, daß die standardisierten Abläufe der hoch- und spätmodern angeordneten Städte auf dem Lande bislang nur wenig haben Fuß fassen können. Statt dessen sind die Lebensbedingungen hier noch immer an die unmittelbare eigene Umwelt, an die natürlichen Gegebenheiten von Ackerbau, Viehzucht und Handwerk, aber auch an die persönliche Wahrnehmung von zyklischen Strukturen wie den Jahreszeiten gebunden. Sie prägen den außermedial wahrgenommenen Alltag. Letzteres spiegelt sich in den Erscheinungsformen der natürlichen Umwelt genauso wider wie in den Anforderungen, welche die genannten Umstände an das Verhalten der Menschen im erwerbstätigen und, daraus folgernd, auch im privaten Alltag stellen. Sie prägen die Zeitstrukturen der dörflichen Gemeinschaften maßgeblich. Als solche haben sie sich durch das Fernsehen als ›Eindringling‹ aus der nicht unmittelbaren und als Schaufenster in eine nicht real erfahrbare Umwelt noch kaum durch alternative Wahrnehmungsformen und Gegenstände erschüttern lassen. Erst eine multimediale, sich mit entsprechenden Produktionsverhältnissen verknüpfende und somit polysemisch angeordnete Medienkultur, so wie sie die Städte längst erreicht hat, könnte auf dem strukturschwachen Lande in Zukunft wesentlichere Einschnitte in die Wahrnehmungsanordnungen herbeiführen und diese von ihrer unmittelbaren Umwelt aus verstärkt in die virtuellen Welten der Medienangebote hineinführen. Die gegenwärtige Abwesenheit der Medien in der Selbstkonstruktion der ruralen Bewohner, die Fernsehen ohne ein Bewußtsein für die Ereigniskultur auch ganz anders lesen als die typographisch sozialisierten städtischen Zuschauer, ist dagegen offensichtlich. So war es während eines sommerlichen Besuches in den ländlichen Gebieten der Provinzen Hebei und Shanxi nahezu unmöglich, tagsüber ein männliches Mitglied der Gemeinden in den Dörfern anzutreffen. Interviews mußten wir zunächst mit den Frauen und den aus dem Erwerbsleben Ausgeschiedenen führen, die ihren Tätigkeiten überwiegend in den eigenen Haushalten nachgehen, während die männlichen Erwerbstätigen überwiegend auf den Feldern und in den verarbeitenden Betrieben tätig sind. Die Tagesarbeitszeiten für sie betragen, ohne freie Tage, in den Anbauphasen zumeist 14 und mehr Stunden, so daß nebenher kaum Zeit für Freizeitaktivitäten und für den abendlichen Fernsehkonsum bleibt bis auf kurze Nachrichtensendungen und eine zufällige Auswahl von Unterhaltungsprogrammen.
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Imbiß in einem Shanghaier Vorort Dagegen trafen wir bei einem Besuch auf den tief verschneiten Hochebenen Hebeis und Shanxis im Februar 2004 die meisten Dorfbewohner in den Häusern an. Frei von den Tätigkeiten auf den Feldern, verbringen sie ihre Tage neben der nicht allzu zeitaufwendigen Versorgung der Tiere und Reparaturarbeiten an Häusern und Arbeitsgeräten in der anbaufreien Jahreszeit überwiegend mit Karten- und Brettspielen in den Gemeinschaftsräumen oder in den größeren Häusern der Dorfmitglieder. Fernsehen läuft dabei zwar fast unaufhörlich, bleibt aber im Hintergrund und wird zumeist nur marginal wahrgenommen. Ein Bauer im Kreis Wuxiang etwa, der uns auch daheim einen Schwarz/Weiß-Fernseher vorführte, welcher mit handgebastelter Antenne nur ein einziges Programm (Shanxi 1) empfangen konnte, welches zudem vor allem Rauschen sendete, erklärte uns, daß es für ihn und seine Familie keine Rolle spiele, ob das Bild farbig oder schwarz-weiß und der Empfang klar oder durch Rauschen bestimmt sei. Die Inhalte der Programme ständen für ihn und seine Familie nicht im Vordergrund. So würden sie niemals bewußt auswählen, was sie schauen wollten, und hätten auch nur geringes Interesse an den Informationen der Nachrichten und an den Narrationen der Fernsehserien und Spielfilme. Statt dessen sei es die Anwesenheit des laufenden Fernsehers selbst, was ihn interessiere und ihm genüge. Ein bewußter Konsum von Fernsehen findet, wenn überhaupt, dann überwiegend abends statt, nachdem sich die Gemeinschaften aufgelöst haben und die Dorfbewohner in ihre Familienkreise zurückgekehrt sind. Doch auch hier zeigen 197
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sich, wenn auch nicht in jedem Fall so radikal wie bei dem zitierten Bauern, nur wenige Berührungspunkte mit dem eigenen Alltag der Menschen und zu deren Selbst- und Fremderfahrung. Frei von den multimedialen Kontextualisierungen und sozialen Bezugnahmen, welche seinen Konsum in den Städten prägt, ist das Fernsehen als Medium der Information auf dem Lande also recht eigentlich fremd geblieben. Informationen kommen als Stückwerk über ein semantisch formuliertes, symbolisch und mythisch aber fremd bleibendes Fremdes, das somit auch nicht zum kulturellen Anderen generieren kann, bei seinen Rezipienten an. Darüber hinaus vermag das Fernsehen mit seinen fremd anmutenden Geschichten als bloße Unterhaltung und Fiktionen sowie Gesprächsstoffe evozierende Freizeitbeschäftigung ebenfalls keine wirklichen Identifikationsangebote bereitzustellen. Immerhin prägt es aber, auch wenn diese das reale Leben der Menschen noch nicht wirklich berührt, die auf eine erwachende Moderne verweisende Idee von Nation und technischem Fortschritt allmählich in ihr Bewußtsein ein. Dabei entfaltet es seine Macht vor allem auf dieser Ebene einer virtuellen Teilnahme an den Geschicken und am Schicksal einer ansonsten kaum bewußt werdenden nationalen Gemeinschaft. Alles in allem lassen sich, wie die Befragungen und unsere Beobachtungen ergeben haben, auf dem Lande keine festen Rhythmen des Fernsehkonsums in der Form verzeichnen, wie sie in den industrialisierten Städten an fixen Arbeitsabläufen orientiert sind und die Sehgewohnheiten von deren í sich in ihrem Freizeitverhalten durchaus nach den Programmangeboten richtenden í Bewohnern maßgeblich prägen. Anders als in den Städten sind es dort nicht die sich in regelmäßigen Tages- und Wochenstrukturen wiederholenden und fortsetzenden Programmformate, welche das Publikum in ihren »flow« einbinden, seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen und dabei dessen Zeit-Strukturen in gegenseitiger kausaler Wechselwirkung mit den Arbeitsstrukturen und deren künstlich oktroyierten national-hegemonialen Ordnungsstrukturen prägen. An ihrer Stelle findet sich auf dem Lande eine relative Unabhängigkeit von den Zeiteinheiten des modernen China und eine unmittelbare Anbindung an die natürlichen und im Umgang mit der Natur entwickelten lokalen Strukturen. Darin verortet sich das Fernsehen weniger als Medium des »flow« als vielmehr als ein solches, welches sich partikularisiert und eher punktuell innerhalb der gültigen Zeitstrukturen wirkt, also auch kaum das Bewußtsein einer als Fluß oder als Teilung erfolgten Vergangenheit jenseits des eigenen Erlebensraumes der Medienteilnehmer als Differenzoder Identitätsstruktur zu vermitteln imstande ist.
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Im Spannungsfeld dieser regional und lokal durchaus unterschiedlichen Anordnungsbedingungen bildet das Fernsehen in China seine ambivalenten Wahrnehmungsformen heraus. Als spätmoderne Medienapparatur trifft es auf die lokalen Umstände unterschiedlicher Gemeinschaften und verändert diese genauso wie es seine Dispositionen durch sie und ihr spezifisches Verständnis von Zeit als Teilung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von Ereignis und Zielgebundenheit oder als Moment und Fluß in der Ewigkeit verändern läßt. Der Blick auf die Vergangenheit als Kategorie der Teilung, wie sie die Medialität des Fernsehens als Wahrnehmungsdispositiv selbst kommuniziert, wird dabei von den hegemonial-nationalen Diskursen und den Programmanbietern in der oben beschriebenen Hinsicht forciert. Das soll bewirken, daß sie zu gleichen Teilen das Material für einen Kontinuität suggerierenden Ursprungsmythos wie für die Abgrenzung einer guten Gegenwart (unter kommunistischer Führung) gegen das fremdbestimmte und feudalistische Übel in das kulturelle Gedächtnis einprägen.15
Elektrogeschäft in Peking In der Wahrnehmung dieser Bedeutungsangebote zeigen sich, abhängig von den jeweiligen Nutzungsanordnungen des Fernsehens im Rahmen seiner regional unterschiedlichen Wahrnehmungskontextualisierungen gänzlich unterschiedliche Rezeptions- und Reproduktionsweisen von Vergangenheit. Während im urbanen China eine Hinwendung zu den 15
Vgl. Stefan Kramer: Vom Eigenen und Fremden. S. 373ff.
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Zeitstrukturen der importierten Moderne zu beobachten ist, nach denen die Wahrnehmung von Zeit sich grundlegend an den durch das Fernsehen und die Moderne kommunizierten Einteilungen orientiert, um von dort aus mit Akzeptanz oder Widerstand auf die inhaltlichen Bewertungen der Vergangenheit zu reagieren, ist diese Betrachtungsweise den meisten Menschen im ländlichen China recht eigentlich fremd geblieben. Dort orientiert sich die Wahrnehmung von Zeit als Identitäts- oder Differenzparameter, abhängig vom jeweiligen Urbanisierungsgrad und der Anbindung an urbane Räume und deren multimedialen Kommunikationsstrukturen, noch immer unmittelbar an den eigenen Lebensumständen, an der wahrgenommenen Umwelt. Die ländlichen Bewohner lassen sich durch die medialen Bedeutungsangebote demnach überraschenderweise weitaus weniger in ihrer Selbstkonstruktion beeinflussen als die städtischen Befragten. Diese definieren sich zusehends im Rahmen der virtuellen Wahrnehmungswelten der Mediengesellschaft und rücken von daher nicht von ungefähr ihre nationale, überwiegend medial kommunizierte Zugehörigkeit sehr viel stärker in den Vordergrund als die ländliche Bevölkerung, bei der Familie und Dorfgemeinschaft als Identitätsgrößen dominieren. Dagegen spielt der für sie symbolisch bleibende Raum mit allen seinen hegemonialen Zeitkonstruktionen eine nur untergeordnete Rolle. Nicht zuletzt dies ist der Grund dafür, daß Fang Xiaohong in seiner Studie zu den Massenmedien im ländlichen China vor allem eine Forcierung der Urbanisierung als Mittel der weitergehenden Nationalisierung und nationalen Stabilisierung betrachtet.16 Eine Standardisierung der Ordnungsstrukturen in China, bei denen der Faktor Zeit wie insbesondere die Wahrnehmung einer gemeinsamen Vergangenheit eine entscheidende Rolle spielen, bedeutet zugleich eine Stabilisierung der Regierungsmacht. Dies läßt sich inzwischen nur noch mit Mitteln einer globalisierten Populärkultur erreichen. Vor allem sie vermag es, in der Fernsehkommunikation und in deren Referenzmedien in einer unaufhörlichen Wiederholung von standardisierten Formaten und Bedeutungsangeboten Geschichte zu Ereignissen zu stilisieren, die in der Wahrnehmungsgegenwart des Publikums zu solchen der individuellen Selbstbestätigung und der kollektiven Identitätsbildung generieren. Gleichzeitig verweisen ihre Anordnungsstrukturen allerdings immer bereits auch schon auf die Auflösung einer geopolitisch fixierbaren Identität, die in der Lage ist, räumlich abgegrenzte Hegemonialdiskurse mit ihren eigenen Mythen herauszubilden. An ihre Stelle treten fragmentierte und vergangenheitslose Strukturen. Deren Zeichensysteme verweisen aus16
Fang Xiaohong. S.78ff.
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schließlich auf eine sich als Ereignis darstellende Gegenwart. So haben es bislang auch die transnationalen Medienanordnungen zwar noch nicht vermocht, einen identitätsstiftenden globalen Ursprungsmythos zu begründen. Es ist ihnen nichtsdestoweniger aber gelungen, den lokalen Räumen ihrer Aneignung neue Mittel in die Hand zu geben, sich selbst gegen die hegemonialen Ordnungsmodelle der typographischen Kultur und der Nationalstaaten zu verorten und zu kommunizieren. Auf China bezogen bedeutet das unter den Bedingungen des Fernsehens, das zudem mit immer neuen lokalen Sendern auf den Markt tritt, immerhin eine bis dahin nicht möglich gewesene Auswahl unterschiedlicher Bedeutungsangebote, innerhalb derer das Eigene sich selbst zu formulieren in der Lage ist. Der tatsächliche Erfolg einer medialen Sozialisierung, wie sie zentralistisch mit Hilfe des Fernsehens u.a. durch die Herstellung fixer Zeitstrukturen und eines konkreten Vergangenheitsbildes mit seinen spezifischen ästhetisch-semantischen Repräsentationsformen beabsichtigt ist, ist demnach ambivalent. Zum einen haben im urbanen China, wo die Standardisierung der Zeitstrukturen durch den Erfolg des Fernsehens und seiner zahlreichen Referenzmedien, über deren Multimedialität sich die Spätmoderne ja vor allem definiert, weit vorangeschritten ist, zahlreiche alternative Bedeutungsangebote sich den Weg zu bahnen vermocht. Darüber hinaus sind industrielle Zeitangebote zugunsten der flexiblen Modelle der Informations- und Dienstleistungsgesellschaft teilweise bereits wieder in Auflösung begriffen. Zum anderen hat es die Populärkultur im ländlichen China bis heute nicht vermocht, über das Fernsehen hinaus Fuß zu fassen. Dort ist dieses Medium ein singuläres Kommunikationsmittel geblieben, das keine Referenzmedien hat und zumeist auch noch nicht integraler, bedeutungsbildender Bestandteil eines grundlegenden Struktur- und Wahrnehmungswandels ist, wie er die Städte längst erfaßt hat. Es hat sich innerhalb der Dorfstrukturen zwar fest zu etablieren vermocht und erheblichen Einfluß auf die sich maßgeblich über die Konstruktion von Vergangenheit auszeichnende Weltwahrnehmung der Menschen genommen. Die Befragungen haben allerdings gezeigt, daß es die nach wie vor an die orale Kommunikation und den unmittelbaren Kontakt geknüpfte Selbstwahrnehmung, ganz anders als in den Städten, deren Bewohner sich mehr und mehr als Teile einer nationalen und gar einer Weltbevölkerung betrachten, nicht aufgebrochen hat. Zeit ist dort noch immer an die eigenen Lebensbedingungen und an die oralen Überlieferungen einer familiär erfahrenen Vergangenheit gebunden. Sie hat sich in sehr viel schwächerem Ausmaße als in den Städten als Wahrnehmungskategorie einer nationalen Geschichtsschreibung etablieren kön201
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nen. Deren Mythen transportieren sich in immer neue Zeichen und tragen als solche medial in die Gegenwart, zu deren Legitimation sie herhalten. Fang Xiaohong kommt in seiner Studie zu dem Ergebnis, daß die lokalen Kulturen und gar die Dorfgemeinschaften selbst durch eine hohe Akzeptanz der populärkulturellen Angebote des Fernsehens gefährdet seien und malt dabei apokalyptische Visionen einer urbanen Massenkultur im chinesischen Hinterland, dem selbst die Rentnergeneration verfallen sei.17
Familie in Shanghai Nichtsdestoweniger haben wir bei unseren Untersuchungen auf dem Lande weitgehend intakte Dorfstrukturen und eine Kommunikationssituation vorgefunden, die überwiegend oral und durch den persönlichen Kontakt geprägt ist. Dabei wird das Fernsehen zu großen Teilen in den gemeinsamen Alltag integriert, indem man etwa gemeinsam fernsieht und die medialen Informationsangebote und auch Unterhaltungssendungen als Gesprächsthemen herhalten, diese die Dorfkultur aber an keiner Stelle durch die Errichtung dominanter alternativer Identifizierungsangebote gefährden. Geschichte präsentiert sich dort nach wie vor in erster Linie als eine solche des persönlichen Erlebens einschließlich des oral überlieferten familiären Hintergrundes, wobei selbst die Dorfgemeinschaften zumeist nur das Dispositiv der Lebensgeschichten, nicht aber ei17
Fang Xiaohong. S. 215.
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nen integralen Bestandteil der Identitätsfindung darstellen. Die Identifizierungsangebote des Fernsehens sind der Landbevölkerung, losgelöst aus den medialen und soziokulturellen Kontextualisierungen, welche ihm in den Städten erst zu seiner Relevanz verhelfen, also trotz intensiven Fernsehkonsums recht eigentlich fremd geblieben. Eine Populärkultur, wie sie in den Fernsehangeboten präsentiert wird, ist in derart großer Ferne geblieben, daß sie, ohne realistische Verwirklichungsangebote für die Landbevölkerung mitzuliefern, als Symbolsysteme, die nur wenige Überschneidungen mit den eigenen Kommunikationsformen und kaum Anknüpfungspunkte an die eigenen Umwelterfahrungen aufzuweisen haben, nahezu wirkungslos verpufft.
Gegenwart Geschichte wird ausschließlich unter den Bedingungen der Gegenwart des Historikers geschrieben. Damit erhält die durch den Historiker in die Literatur, den Film oder das Fernsehen mediatisierte Vergangenheit ihre Bedeutung jeweils vor allem im Hinblick auf die Gestaltung der Gegenwart am Ort von deren Rezeption und Reproduktion, für deren Publikum Geschichte geschrieben wird.18 In der Gegenwart treffen Raum und Zeit unabdingbar aufeinander und lösen ihren imaginierten Dualismus in die angenommene ›Einheit des Seins‹, tatsächlich aber wohl eher in die ›Vielheiten des Werdens‹ auf, in welche die ungeteilte Zeit weiterfließt. Erst dies ermöglicht einen geteilten Blick auf eine und die Abbildung oder schöpferische Konstruktion einer vorgängigen Vergangenheit im Rahmen der jeweils eigenen Dispositionen. In China war Geschichtsschreibung in ihrem Selbstverständnis, anders als in der griechisch-europäischen Tradition, von Beginn an weniger eine (vermeintlich absichtslos abbildende) Chronologie der Vergangenheit als vielmehr immer auch schon ein intendierter Akt der Abfassung einer Nachricht. Nach deren vor allem moralischem Gehalt hatte sich das Publikum der Lektüregegenwart, also insbesondere die jeweilige Herrschaftselite, zu richten. Wahrheit ist demnach niemals mimetischer Art und einer objektiven Natur eigen, sondern immer unmittelbar zweckgebunden und Bestandteil eines größeren moralisch-gesellschaftlichen Zusammenhangs. Er findet
18
Vgl. hierzu meine Ausführungen zur filmischen Geschichtsschreibung im chinesischen Kino, die bis zu einem gewissen Grad durchaus auf das Fernsehen übertragbar sind. Stefan Kramer: Schattenbilder. Filmgeschichte Chinas und die Avantgarde der achtziger und neunziger Jahre. Dortmund 1996.
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im Begriff des dao 䘧 als Grundordnung des kosmischen resp. sozialen Seins/Werdens seine Anwendung und wird von dort nicht nur metaphorisch sondern konkret und nützlich auf die jeweilige gesellschaftliche Situation projiziert. Wie ich zudem an anderer Stelle19 anhand der medialen Anordnungen des Fernsehens erläutert und im ersten Abschnitt dieses Kapitels bezüglich seiner konkreten Nutzung durch ein chinesisches Publikum beschrieben habe, kulminiert spätestens seit der Durchsetzung des Fernsehens als flächendeckend wirksames Leitmedium ohnehin alle Wahrnehmung immer in der Gegenwart und am Ort der medialen Repräsentation und Rezeption. Das Fernsehdispositiv und Chinas vormoderne Wahrnehmungskonventionen finden hier, indem sie sich als ihr jeweiliges Anderes ausmachen und dieses im selben Schritt immer wieder in die innere Anschauung ihres Werdens aktualisieren, zu einer Univozität, welche dieses Medium unter den Bedingungen einer auf Teilung basierenden europäischen Kultur der Typographie bislang nicht evozieren konnte. Dieser Moment der Wahrnehmung, Aktualisierung und kulturellen Reproduktion bildet jeweils eine die Differenz von Vergangenheit und Gegenwart in seinen Dispositionen auflösende Instanz. Er ist entscheidend für die Beantwortung der Frage nach den Identitätsdiskursen der Fernsehnutzer. Die Gegenwart, also der Moment der Fernsehrezeption, als welche die Schritte von Wahrnehmung, Aktualisierung und Reproduktion zusammengefaßt werden sollen, entspricht derjenigen aller Herstellung von Wissen und Bedeutung. Er entspricht zugleich jeder kulturellen Reproduktion derselben unter Einbeziehung alles Vorgängigen, individuell Erinnerten und in das kulturelle Gedächtnis Eingeprägten, welche sich in der Dauer und im Moment auflösen. Gegenwart bedeutet demnach keine Übereinstimmung der Wahrnehmung mit den Programmstrukturen und Wissens- und Sinnangeboten des Fernsehens. Diese kommunizieren ja nicht Moment und Dauer, sondern vor allem das Ereignis und die Entwicklung. Sie übertragen diese als hegemonial-ideologische Anordnungsstrukturen in den Augenblick derselben, bilden sich in Wirklichkeit aber immer erst in ihrer Mediatisierung und Repräsentation heraus und schreiben sich identitätsbildend in die wahrnehmenden Gesellschaften ein. Dagegen bedeutet die Wahrnehmungsgegenwart der Medienteilnehmer, wie oben dargelegt, in Wirklichkeit eine unaufhörliche Aktualisierung von Wahrnehmungsbildern (und Tönen etc.) in den individuell und kollektiv erlebten Moment hinein. Als eine Zeitkategorie, die zugleich Ausdehnung und Komprimierung und die Einheit durch die Vielheiten 19
Stefan Kramer: Vom Eigenen und Fremden. S. 373ff.
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bedeutet, befreit sich der Moment immer wieder von der zeitlichen Punktualität der transnationalen Ereigniskultur und der Entwicklungslinearität der nationalen Geschichtsschreibung, um seine eigenen Anordnungen zu konstruieren. Diese nehmen zweifellos immer wieder Bezug auf die medialen Angebote von Wissen und Bedeutung sowie deren maßgebliche Referenz, die Substanz resp. die Materie. Dieser wird eine Ereignishaftigkeit zugeschrieben, über die sie berichten und mit deren Referenz sie ihre Nachrichten als Handlungsanweisungen formulieren.
Gemeindesaal in einem Dorf des Kreises Xingtang, Hebei Dabei funktioniert die Wahrnehmung in Wirklichkeit eben nicht als Beziehung zwischen Abbild und Abgebildeten, wie es die europäischen Humanwissenschaften als Wiedergewinnung der Substanz in der mimetischen Vorstellung des Menschen beschwören und den Fernsehdiskursen vorgeben. Vielmehr erweist sie sich unter den kulturellen Vorbedingungen Chinas als eine solche zwischen der Struktur der gesellschaftlichkulturellen wie vor allem moralischen Angebote (von denen das Fernsehen einen mehr oder weniger gewichtigen Teil ausmacht) und dem Selbstverständnis des wahrnehmenden und reproduzierenden Individuums unter dem alles vereinenden moralisch-gesellschaftlichen Anspruch des dao. Eine Wahrnehmungsgegenwart entsteht im Fernsehdispositiv jeweils im Spannungsverhältnis zwischen Innen- und Außenräumen, zwischen der Identität des Subjekts und dessen Anderem, welches in China 205
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ja erst durch die Moderne als Differenzkonstruktion zwischen dem Eigenen und dem Anderen transparent werden konnte und somit vor allem im Fernsehen selbst kulminiert. Sie widerspricht damit auf den ersten Blick in jeder Hinsicht dem integrativen Selbstverständnis des chinesischen Denkens, welches die Binarität zwischen Innen- und Außenräumen genauso wenig kennt wie diejenige zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Aus den scheinbar widersprüchlichen Anordnungsstrukturen des apparativen Mediums und der tradierten Wahrnehmungskonventionen heraus entsteht Bedeutung jeweils in deren Interaktionsfeldern wie in ihren Dispositionen unter den konkreten Umweltbedingungen ihrer Aneignung. Dabei erweist sich das Fernsehen schließlich als nicht zwangsläufig den Anordnungen der industriellen Hochmoderne verhaftet, unter denen es die zentralistischen Regierungsdiskurse für sich vereinnahmt haben. Vielmehr zeigt es sich im Falle seiner chinesischen Rezeption als heterogen und polysemisch. Es erweist sich als vereinnahmbar durch zahlreiche auch widerständige Formen chinesischer Kultur, die in diesem mehr als in jedem anderen Medium zuvor Strukturen einer vormodernen genauso wie solche einer spätmodernen, einer nationalen genauso wie einer lokalen und einer globalen Kultur anzueignen und in ein immer wieder Neues zu aktualisieren in der Lage ist. Für seine rurale Bevölkerung etwa müßte das Fernsehen eigentlich mehr als in den sich zusehends multimedial und polysemisch anordnenden urbanen Ballungsräumen den maßgeblichen Außenraum darstellen, an dem sich die Identität der Menschen zu messen hat. Dabei agiert sich die Differenz zwischen Innen- und Außenraum dort aber nach wie vor überwiegend als eine solche der Gegenwartskonstruktion in unaufhörlicher Aktualisierung des Momentes in dessen Verhältnis zu einer sich in universeller Beständigkeit manifestierenden Ewigkeit aus. Dadurch aktualisiert sich jede Binarität immer wieder in den Wahrnehmungsmoment und in dessen moralisch-gesellschaftliche Funktionalität hinein. Dagegen zeigen sich in den multimedial und polysemisch angeordneten spätmodernen Ballungsräumen Chinas unerwarteter Weise teilweise gegenläufige Tendenzen. Nach denen ist es zu einer Verdichtung der Wahrnehmung des Raum-Zeit-Verhältnisses gekommen, welche ein semantisch derart geschlossenes Mythensystem kreiert und die exakte Anschauung darin in einer Weise festgeschrieben hat, daß einer nicht-mimetischen Wahrnehmung keinerlei Raum zur Verfügung steht und die Kommunikation daher symbolisch bleibt, ohne jemals konkret und funktional werden zu können.
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Restaurantküche im Kreis Ledong, Hainan Alles in allem bestätigt sich daran die Eingangsthese, daß weder von einer starren Anordnungsstruktur und Kommunikationssituation des Fernsehens noch von einem homogenen chinesischen Fernsehpublikum gesprochen werden kann. Vielmehr ist dieses in seinen Innen-Außen-Beziehungen und seiner Aneignung von überlieferten Wahrnehmungskonventionen, medialen Angeboten und apparativem Mediendispositiv wie nicht zuletzt der unmittelbar erfahrbaren Umwelt und den sich unter lokalen Kommunikationsbedingungen ausagierenden Geschichts- und Gegenwartsbildern polysemisch und heterogen. Die sich dabei abzeichnenden Konzeptionen von Innen- und Außenräumen und von Ich- und WirVerhältnissen in der Wechselwirkung mit der Fernsehkommunikation soll daher, um die Grundstrukturen der Selbstkonstruktion darstellbar werden zu lassen, diskutiert und auf grundlegende Muster und Tendenzen hin ausdifferenziert werden. Das geschieht im Bewußtsein dessen, daß die tatsächliche Vielfalt der Bedeutungen und Strukturen sich damit niemals adäquat darstellen läßt. Diesbezügliche Fragen aus unseren Publikumsbefragungen beziehen sich vor allem auf die Bedeutung des Fernsehens für die kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung Chinas sowie auf die Problematik dessen, was die Identitätskategorie China für jeden Einzelnen im Hinblick auf seine individuelle und kollektive Selbstverortung besagt und wie sie sich gegenüber alternativen Identifikations207
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angeboten verhält. Sie untersuchen vor allem die Wahrnehmung von Struktur und deren Bedeutung für die Selbstkonstruktion im Medienkonsum. Ausgangspunkt dieser Fragen ist, ganz anders als vergleichbare Befragungen in Europa ergeben haben, die Feststellung eines weitreichenden Konsenses der Fernsehzuschauer darüber, daß das Fernsehen alles in allem einen positiven Einfluß auf die Entwicklung Chinas ausübt. Diese Zustimmung zeigt sich mit 70,4 % auf dem Lande und 71,7 % in den Städten, denen 26,6 % bzw. 27,4 % Unentschlossene und nur 3 % der ländlichen und 0,9 % der städtischen Bevölkerung gegenüberstehen, die von negativen Einflüssen des Fernsehens auf Chinas Gegenwart und Entwicklung ausgehen. Was die Befragten im Einzelnen darunter verstehen, wenn sie das Fernsehen als positiven Motor der gesellschaftlichen Prozesse begreifen, zeigt die Konkretisierung ihrer Antworten. Sie bezieht sich zumeist auf die persönliche Situation der Befragten und auf deren Einschätzung der nationalen und staatlichen Geschicke Chinas in Gegenwart und Zukunft. Auffällig dabei ist, daß die Wahrnehmung einer Verknüpfung des persönlichen Schicksals mit demjenigen der chinesischen Nation und des chinesischen Staates bei den Shanghaier Befragten am deutlichsten ausgeprägt und bei denjenigen in Peking auch noch teilweise erkennbar ist, dagegen auf dem Lande aber keine Rolle spielt. In Shanghai steht insbesondere die Verbindung der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes wie vor allem der eigenen Stadt mit derjenigen der eigenen Person im Vordergrund. Darunter verstehen sich in den meisten Fällen, wie genauere Nachfragen gezeigt haben, allerdings eher die ökonomische Situation und der soziale Status der eigenen Familie als eine geistig-mentale Persönlichkeitsbildung, die indes zahlreiche der Pekinger Befragten in den Vordergrund heben. Diese Tendenzen scheinen dem in China gängigen Klischee gerecht zu werden, nach dem die Sozialisierung und Habitualisierung in Shanghai eher lokal und ökonomisch, in Peking dagegen eher national und kulturell-politisch ausgerichtet ist. Dies wiederum verweist unmittelbar auf eine nicht nur transnationale und nationale sondern auch und vor allem auf eine lokale Rezeption der Medienangebote. Diese sagen sich in den zahlreichen lokalen und privatwirtschaftlich handelnden Sendern mehr und mehr vom zentralen Staatsfernsehen mit seinen überwiegend virtuellen (nationalen) Bezugsebenen los und setzen dessen Bedeutungsmacht spezifische Informationen mit einer an die außermedial erfahrbaren Lebensumstände angebundenen und somit mit einem gegenüber dem Staatsfernsehen extrem erhöhten Kontextualisierungsgrad im eigenen Lebensalltag entgegen. Blickt man indes auf das rurale China, dann erhält das Fernsehen, wie oben bereits dargelegt, neben sei208
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nem Unterhaltungscharakter nahezu ausschließlich im Hinblick auf die unmittelbare persönliche Situation Bedeutung. Es spielt für die Identitätsstiftung, mithin über seine Leistung, China überhaupt als nationale Einheit bewußtgemacht und gegenüber anderen Staaten und Kulturen abgegrenzt zu haben, hinaus keine nennenswerte Rolle. Doch selbst dieses medial erlangte Wissen kann ohne eine breitere Kontextualisierung mit anderen medialen Angeboten und vor allem ohne die strukturelle Möglichkeit, es in den persönlich erfahrenen Lebensraum einzubetten und mit der Umwelt zu verknüpfen, über die im Konsum selbst erfahrenen momentanen emotionalen Impulse hinaus keine nachhaltige Wirksamkeit entfalten. Es beharrt auf seinem symbolischen, aber leeren Charakter, ohne dabei zum Mythos werden zu können, welcher unter hochmodernen Bedingungen etwa die Erzählung der Nation oder diejenige der Stadt schreiben könnte, und ohne auch konkret werden und somit im erlebten Alltag zu Nützlichkeit gelangen zu können, wie es die vormodernen Diskurse Chinas, die allesamt auf Konkretheit abzielten, einst vorgemacht hatten.
Fernsehzuschauerin in Shanghai China erweist sich in unterschiedlichem Grade, der von lokalen Bedingungen und vom Entwicklungsgrad seiner Räume und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten zur Kontextualisierung seiner Wissens- und Bedeutungsangebote abhängt, in seiner medialen Selbstbeschreibung zu209
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nächst als eine weniger reale denn vielmehr als eine semantische Wahrnehmungskategorie, als eine symbolische Größe, auf die es zu reagieren gilt. Sie wird von ihren Rezipienten, abhängig von deren eigenem Lebensumfeld, mit gänzlich unterschiedlichen Bedeutungsinhalten aufgefüllt und mit der persönlichen Situation und Selbstwahrnehmung in Verbindung gebracht: zwischen mimetisch abbildender und metaphorischmoralischer, dabei in der individuellen Aneignung metonymischer und konkret werdender Form. Identität und Differenz sowie Innen und Außen gehen dabei als stabile Kategorien der modernen Selbstbeschreibung oder als sich aktualisierend auflösende und immer wieder neu montierende Parameter einer vormodernen resp. spätmodernen Polysemie Hand in Hand. Sie haben sich, wie unsere Untersuchungen zeigen, im Falle Chinas zwar als hegemoniales Konzept der nationalen Selbstbeschreibung durchsetzen und in das Bewußtsein der Mediengesellschaft einschreiben können. In Wirklichkeit bilden sie aber auf ihrer konkreten Wahrnehmungs- und Rekonstruktionsebene, mit deutlich erkennbaren graduellen Unterschieden zwischen den Befragten in Shanghai, Peking und den ländlichen Regionen, zumeist kein Gegensatzpaar sich gegenseitig ausschließender Substanz und Materie, sondern ein solches der sich gegenseitig vereinnahmenden und immer neue Univozitäten herausbildenden Strukturen. Sie ordnen sich situativ ausschließlich im Moment an und bilden bei ihrer Selbstkonstruktion vielfältige Verknüpfungsebenen zwischen medialer Wahrnehmung, Wahrnehmung der Medien in ihrer multimedialen Kontextualisierung und erfahrbarer außermedialer Umwelt, welche sich alle miteinander und mit der individuellen und kollektiven Subjektkonstruktion des Wahrnehmenden in eine sich unaufhörlich aktualisierende Wechselbeziehung setzen. Wie sich Verknüpfungen konkret gestalten und was die Befragten im einzelnen unter der Bedeutung des Fernsehens bei diesen Prozessen verstehen, erschließt sich vor allem aus den persönlichen Gesprächen mit den Zuschauern, mit denen sich die Antworten des Fragebogens konkretisieren. Dabei wird das Fernsehen, so die grundlegende Erkenntnis der Gespräche, alles in allem mit zunehmender Verringerung der von den Befragten wahrgenommenen Differenz gegenüber dem westlichen Ausland und der globalen Gemeinschaft in verstärktem Maße als Differenz wahrgenommen, welche zudem selbst Außenräume kommuniziert. Dagegen ist bei Befragten, die selbst weniger mit den Dispositionen der Hochmoderne in Berührung gekommen sind oder diese auch überwunden zu haben scheinen, die Differenz zwischen einem wahrgenommenen Außen- und Innenraum erheblich weniger ersichtlich. Unterschiede lassen sich in dieser Frage nicht nur zwischen Stadt und Land sondern auch im Vergleich der beiden Metropolen 210
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Shanghai und Peking und zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen und Generationen beschreiben. In Shanghai zeichnet sich eine enge Verknüpfung der ökonomisch-sozialen Selbstpositionierung der Menschen innerhalb der persönlichen wie zugleich der über Fernsehprogramme wie Shanghai TV Ϟ⍋⬉㾚ৄ und Oriental TV ϰᮍ⬉㾚ৄ sowie (bei einer flächendeckend verbreiteten Lesefähigkeit und hohem durchschnittlichem Bildungsniveau) über die lokalen Printmedien vermittelten virtuellen Gemeinschaft ab. Sie hat nicht zuletzt die lokale Differenzkonstruktion Shanghaier Ϟ⍋Ҏ vs. Außenstehende ഄҎ quasi als Erneuerung der vormodernen Selbstbeschreibung Chinas als sich gegen die Barbarei abgrenzende Zivilisation in das Selbstverständnis vieler Menschen eingeprägt. Dies verhindert indes nicht die weitere Differenzierung Shanghais in seine Verwaltungsbezirke und Wohnquartiere. Demnach hat sich auch innerhalb der Gemeinschaft, die sich nicht zuletzt auch über ihren lokalen í von den Behörden allerdings nicht geförderten und weitgehend aus den Medien verbannten í Sprachdialekt definiert, eine innere Hierarchie, ebenfalls mit sozialen Kriterien im Blick, errichtet und entsprechende Wanderungsbewegungen in der Stadt selbst ausgelöst. Sieht man von der ökonomisch-sozialen Komponente der Selbstbeschreibung Shanghais ab, dann erweisen sich die dort Befragten als im Vergleich mit den anderen Untersuchungsräumen überraschenderweise alles in allem am patriotischsten und am wenigsten kritisch gegenüber der Regierungsposition, zugleich als am wenigsten offen für den Blick über die eigenen Grenzen hinaus. Dabei gestaltet sich die Wahrnehmung der Bedeutung des Fernsehens bei der nationalen Identifikationssituation überwiegend in Schlagwörtern wie »Verbreitung der Nationalkultur im Lande und in der Welt«, »Stärkung des Zusammenhalts der chinesischen Völker« oder »Modernisierung des Sozialismus und Verbreitung der chinesischen Kultur in der Welt«. Der vor allem auf die Homogenisierung eines Massenpublikums abzielende Charakter von Fernsehen, der sich in derartigen Kommentaren ausdrückt, spiegelt sich auch in der grundlegend positiven Einstellung der Shanghaier Befragten zum didaktischen Wert des Fernsehens, das demnach »das bedeutendste Medium für die Verbreitung von Informationen und für die Erziehung« sei, welches »am ehesten die gesellschaftliche Realität widerspiegelt« und den Menschen in China und aller Welt hilft, »China besser zu verstehen und seine Entwicklung mit zu verfolgen«. Dabei fällt zudem die in den meisten Fragebögen und Gesprächen immer wieder erfolgte Gleichsetzung zwischen Staat, Nationalkultur, Regierung und der herrschenden Kommunistischen Partei auf, die sich und somit die »Volksmeinung« einheitlich über das Fernsehen kommunizierten. Auf dieser Ebene der nationalen Selbstverortung spielen der 211
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Shanghaier Lokalpatriotismus und die ansonsten immer wieder auffällige Abgrenzung gegenüber Peking keine signifikante Rolle. Das Fernsehen wird in Shanghai mit zahlreichen Ausnahmen also überwiegend durchaus als massenmediales Instrument der Vermittlung monosemischer Bedeutung und eines einheitlichen nationalen Diskurses betrachtet, unter dem sich die Mehrzahl der Befragten mit großer Zufriedenheit zusammenfindet. Dabei stellen seine Repräsentationen in gewissem Sinne eine Meßlatte für den Entwicklungsstand des eigenen Lebensumfeldes im Vergleich zu den Metropolen und den führenden Wirtschaftsnationen der Welt dar und dienen somit erheblich zur Stabilisierung auch der individuellen Selbstverhältnisse der Menschen in der Metropole am HuangpuFluß. Beflügelt und angetrieben durch die Triebkraft wie zugleich Geißel, welche die Modernisierung für die Menschen darstellt, hat das Selbstbildnis dort längst das mit den apparativen Medien nach China gelangte mimetisch-technische Selbstverständnis einer Reproduzierbarkeit und Abbildbarkeit von Natur angenommen und zur Grundlage seiner Entwicklungsdogmatik gemacht. Dies hat Shanghai ohne Zweifel binnen kürzester Zeit das Wirtschaftswunder beschert, auf das sich seine Regierung und mit ihr seine Bürger nunmehr berufen. Es hat damit in seinen populären Diskursen aber zugleich die wohl radikalste Abkehr von einem kulturellen Selbstverständnis mit sich gebracht, mit welchem China sich zwei Jahrtausende lang äußerst erfolgreich hatte behaupten können. Somit zeigt sich am Beispiel Shanghais (welches, da auch in Shanghai andere Entwicklungen zu beobachten sind und die genannten dominanten Beobachtungen in Shanghai in geringerem Maße, durchaus auch auf andere Orte zutreffen, hier selbst nur exemplarischen Charakter hat) wohl am deutlichsten die Problematik des Modernisierungsprozesses für die kulturelle Selbstbestimmung in China. So wurde Shanghai seit 1992 die wirtschaftliche Motorenfunktion für die Entwicklung Chinas auferlegt und diese Rolle den Menschen in endloser Wiederholungsschleife medial eingeprägt, um eine spezifische lokale Identität zu begründen, die sich genauso gegenüber dem Ganzen der chinesischen Nation abgrenzt wie sie diese in der Welt zu repräsentieren hat. Dies bestätigen nicht zuletzt die zahlreichen Berichte über China in den europäischen Medien, welche in den letzten Jahren immer mehr Shanghai in den Fokus gerückt und dessen dichotomisches Selbstverständnis reproduziert haben. Hierzu haben die lokalen Medien in Shanghai auffälliger, als dies woanders zu beobachten ist, ein geschlossenes lokales System der Medienkommunikation errichtet, welches auf höchstem technischem Niveau letzten Endes doch nur lokale Informationen bzw. solche kommuniziert, die zur Ab212
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grenzung und Identitätsstiftung des Lokalen gegenüber seinem Anderen dienen. Somit hat sich dort eine Gegenwarts-Identität quasi geschichtslos und in scharfer räumlicher Abgrenzung gegenüber dem übrigen China wie auch gegenüber der entwickelten Welt als eine mediale Konstruktion des Fernsehens errichtet. Unter deren Dispositionen haben sich die individuellen Selbstverhältnisse seiner Bürger zu verorten und wird nach deren Anweisungen die Stadt mitsamt ihren Anwohnern selbst als Ersetzung des durch die Moderne zerbrochenen universalistischen Selbstverständnisses durch das vorgestellte und in den Medien wie einer nach deren Vorbild errichteten äußeren Wirklichkeit quasi am Reißbrett erbaut.
Shanghaier Rentnerpaar In Shanghai trägt in diesem Sinne das Fernsehen mit seinen zahlreichen Referenzmedien in entscheidendem Maße dazu bei, lokal-nationale Symboliken zu begründen und aus ihnen heraus eine virtuelle Realität herzustellen, in der ein lokales Selbstbildnis quasi als Vorbild für die nationale Zukunft entworfen und als solches zugleich zum Exportschlager wird, an dem sich auch das übrige China messen soll. Dieses Bild, das in Wirklichkeit ja nicht das vorgegebene Abbild sondern eine, durch ihre Geschichtslosigkeit allerdings gescheiterte, mythische Konstruktion ist, wird mit allen damit produzierten Klischees von den Stadtplanern und von aus der ganzen Welt in diese Stadt strömenden experimentierfreudigen Architekten entsprechend zu einer äußeren Realität gestaltet. Diese 213
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wiederum erweist sich, wenn man in das Stadtbild und in die zahlreichen neu errichteten Vorstadtquartiere (darunter auch ein nach vermeintlichem deutschem Vorbild errichtetes Viertel) hineinschaut, als pure Form und Zitation von Inhalt ohne vorgängige Bedeutung. Damit entspricht die Stadt durchaus einer im europäischen Sinne spätmodernen Stilbildung, ohne dabei allerdings tatsächlich auf eine real erlebte Moderne zu reagieren, was in Europa ja die Voraussetzung für die spätmodernen Prozesse war. In dieser Weise hat Shanghai sich, ohne zum Mythos werden zu können, als ein für China und die Welt gültiges Symbol durch die Fernsehkommunikation etablieren können und daraus seine eigene Realität auch materiell gestaltet. Als solche ist sie zum Objekt der Berichterstattung auch ausländischer Medien geworden. Sie ist als Abbild einer nach einem aus Abbildern zahlreicher Zitate von Symbolen montierten materiellen Realität, die durch die weltweite Berichterstattung zum Ereignis geworden ist, mit der Beweiskraft und dem Wahrheitsgehalt der medialen Wiederholung nach China und nach Shanghai zurückgelangt und hat die Dispositionen für deren gegenwärtigen Identitätskonstruktionen geschaffen. Die Menschen in Shanghai haben sich demnach auf die eine oder andere Weise gegenüber dem ihrer Selbstkonstruktion vorgängig gewordenen Symbol ihres Selbst zu verorten. Dabei geht es zumindest denjenigen, die sich nicht gänzlich jenseits ihrer sozialen Umwelt definieren, immer darum, eine Position zu bezeichnen, die dem mit dem Selbstbildnis Shanghais auch für seine Einwohner gültig gewordenen Druck standhält, sich gesellschaftlich zu behaupten und dem in unendlicher medialer Wiederholung in das Selbstverständnis eines jeden Einzelnen eingeprägten Klischee gerecht zu werden, um das Eigene innerhalb dieses streng abgeschlossenen symbolischen Systems zu bestätigen. Dies ist, wie die Befragungen und Gespräche gezeigt haben, angesichts einer Realität, die zusehends durch ihre nun der äußeren Realität vorgängigen medialen Abbilder beherrscht wird, dabei aber nichts an ihrer dogmatischen Wirkungskraft einbüßt, nicht jedem in einer Form gelungen, die eine deutliche Abgrenzung gegenüber der kollektiven Identität Shanghais erkennen läßt. Der Erfolg einer mit der Moderne und vor allem mit dem Fernsehen nach China gelangten Kultur der exakten technischen Abbildbarkeit ist hier, wenn auch erst in seiner spätmodernen Variante, in der das Abbild nicht mehr unmittelbar auf das Vorbild zurückverweist, augenfällig. Zugleich wird darin aber, wenn die Signifikate der Shanghaier Selbstkonstruktion nicht mehr unmittelbar auf vorgängige Signifikanten verweisen sondern diese selbst erst herstellen, auch die (aus mimetisch geschulter europäischer Perspektive) doppelte Bedeutung des chinesischen 214
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Zeichens 䈵 (Xiang) für das Bild evident. Dieses steht sowohl für dessen Aussehen wie auch für die (ihm zugrunde liegende) Erscheinung ein und löst somit die Trennung zwischen dem Phänomen und dessen Abbild letzten Endes immer auf. 20 Auf der Ebene der reinen Repräsentation kommt die transnationale Spätmoderne damit einem vormodernen chinesischen Kulturverständnis auffällig nah. Dabei handelt es sich sowohl beim Phänomen wie auch bei seinem Abbild jeweils um bloße Bilder und Symbole, die keine historischen und moralisch lesbaren gegenwärtigen Konnotationen anbieten. Ihre Bedeutungen konstruieren sie statt dessen nur in sich selbst und aus sich heraus und schaffen somit alles andere als eine Differenz. Damit scheitert das Unterfangen einer Anbindung an weitergehende historisch generierte und gegenwärtige Bedeutungsebenen schließlich an der Unüberwindbarkeit des notwendigen weiteren Schrittes. Er bestände in der Gestaltung eines inneren Bildes ᛣ䈵 (Yixiang) als Aktualisierung der medialen Repräsentation in das individuelle wie zugleich kollektive, an die moralische Bedeutung gebundene Selbstverständnis. Auf diese Weise bleiben Identität und Differenz ungeachtet der multimedialen Bedeutungskonstruktionen im spätmodernen Shanghai stabil und weitgehend von einer vormodernen Wahrnehmungskonvention abgekoppelt. Auf dem Lande und auch in Peking sind in dieser Hinsicht teilweise ganz andere Strukturen der medialen und außermedialen Selbstwahrnehmung zu beobachten als in der Hafenmetropole am Huangpu-Fluß. Blickt man in die ländlichen Regionen, so hat sich weder in den nordchinesischen Provinzen Hebei und Shanxi noch im südchinesischen Hainan die Ereigniskultur durchsetzen können, die durch die Multimedialität ihrer Kommunikation das Gegenwartsbild Shanghais entscheidend prägt und dieses sowohl aus seiner linear-kausal abbildenden wie auch aus seiner metaphorisch-moralisch funktionalen Historizität befreit. Doch auch die von der Zentralregierung kommunizierten Mythen einer modernen chinesischen Nation mit »fünftausendjähriger Geschichte« sind dort nicht erfolgreich angekommen. Sehr viel unmittelbarer als in Shanghai zeigt sich in den ländlichen Bezirken statt dessen ein abgeschlossenes System der Kommunikation und Selbstwahrnehmung (als Familie und Dorfgemeinschaft), in welche das Fernsehen als zunächst apparatives Anderes eingedrungen ist. Damit ermöglicht es als erstes Medium überhaupt eine durchgängige Kommunikation über die räumlichen Grenzen der Dorfgemeinschaften hinaus und erzeugt somit das Bewußtsein nationaler Identität und einer nicht-chinesischen Außenwelt. Weitgehend frei von den 20
Vgl. hierzu auch François Jullien: Das große Bild hat keine Form. S. 266ff.
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Implikationen der Moderne und somit frei auch von einer Wahrnehmungskonvention, die das Andere als Außenraum zu denken in der Lage ist, zeigt sich dort allerdings in Wirklichkeit eine Situation, in der die unmittelbar erlebte eigene Umwelt sowie die oral vermittelten Geschichtsbilder die einzige Bezugsebene der medialen Wahrnehmung wie auch der Wahrnehmung des Mediums Fernsehen darstellen. Dadurch bleibt das Fernsehen in seiner Bedeutungsbildung unbeeinflußt von den multimedialen Kontextualisierungen, die eigentlich unabdingbarer Bestandteil seiner Dispositionen sind und maßgeblich zu seiner mimetischen Illusionierungsleistung und seiner ereignishaften Wahrheitskonzeption wie nicht zuletzt seiner Mythenbildung beitragen. Indem statt dessen die unmittelbare Umwelt seiner Rezipienten die einzige Referenzebene darstellt, verliert das Fernsehen ungeachtet seiner Informationshoheit weitgehend seine bedeutungsbildende Macht und muß seine Strukturen den vorgängigen Dispositionen seines Aneignungsraums unterordnen. Damit bildet es trotz seiner offensichtlichen medialen Fremdheit keinen Raum des Anderen, gegenüber dem die ländliche Bevölkerung eine Identität als Abgrenzungsstrategie errichten müßte. Vielmehr werden die Fernsehangebote quasi von den abgeschlossenen Bedeutungsstrukturen geschluckt. So verbindet sich dieses Medium fernab seiner eigentlichen Dispositionen unmittelbar mit dem inneren Bild ᛣ䈵 des moralischen und dabei immer auch unmittelbar an seine Nützlichkeit im realen Alltag gebundenen Selbstverständnisses. Aus diesem heraus werden nicht zuletzt auch seine inhaltlichen Angebote rezipiert. Diese präsentieren zu weiten Teilen Bilder, die keinerlei Bezüge zu der eigenen Wahrnehmungsgegenwart aufweisen, damit abstrakt bleiben und keine Verweisstruktur zu ihren außermedialen Referenzen plausibel machen können. Sie bleiben mit der Ausnahme der wenigen Bilder, die hinsichtlich ihrer unmittelbaren Nützlichkeit für das ländliche Leben konkret werden, im allgemeinen pure ästhetische Konstruktionen, ohne darüber hinaus zu Abbildern werden zu können, aber auch ohne zu inneren Bildern zu werden und dadurch Bedeutungen zu generieren. Vielmehr sind es die vorgängigen inneren Bilder, welche die Macht über die Wahrnehmung der Fernsehangebote übernehmen. Die meisten Aussagen zu der Frage nach der Bedeutung des Fernsehens bezogen sich dem gemäß auf seinen Unterhaltungswert wie in einigen Fällen auf seine Nützlichkeit im Hinblick auf das konkrete Verhalten in Beruf und Alltag: Wettervorhersagen, neue landwirtschaftliche Technologien, neue Verwaltungsvorschriften etc. Dabei ist der häufig genannte Blick in die Außenwelt in diesem Falle wohl vor allem dem Unterhaltungscharakter zuzurechnen, berührt die Menschen darüber hinaus aber kaum. Grundlage für diese Struktur des Fern216
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sehens im ruralen China, das somit dort recht eigentlich fremd blieb, ist, daß es seine Medialität zu großen Teilen den dort nach wie vor herrschenden überaus hermetischen Strukturen hat opfern müssen. Solange sich die infrastrukturellen Bedingungen dort nicht entscheidend verbessern und eine auf breiteren Fundamenten stehende Kommunikation mit der Außenwelt ermöglichen, wird es auch nicht wirklich zu einer Öffnung der tradierten Selbstverständnisse gegenüber neuen Formen, wie sie die spätmoderne Informationsgesellschaft nach China gebracht hat, beitragen können. Deshalb erscheint diese Variante allenfalls aus einer exotischen oder nostalgischen fremden Perspektive als attraktiv, während die Bauern selbst, wie die Wanderungsbewegungen in die Städte zeigen, in den meisten Fällen eher einer strukturellen Verbesserung ihrer Lebensumstände zuneigen als an einem tradierten Selbstverständnis von Kultur festzuhalten. Diese wiederum assimiliert das Fernsehen so weit, daß es seine eigentlichen Eigenschaften aufgeben muß.
Dorf im Kreis Ledong, Hainan Schließlich zeigt ein Blick auf die Selbstkonzeptionen der befragten Fernsehzuschauer in der Hauptstadt Peking eine gewisse Mischform zwischen den in Shanghai und in den ländlichen Provinzen vorgefundenen Rezeptionsweisen des Fernsehens und der in Wechselwirkung mit diesen entstehenden Selbstverhältnisse. Auch in dem politischen Zentrum Chinas hat die dort in besonderem Maße betriebene Kommunikation natio217
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naler Mythen nicht den von der Zentralregierung gewünschten Erfolg einer Homogenisierung des Publikums gezeitigt. Zwar gibt eine im Vergleich mit den anderen Befragungsorten relativ große Zahl der Fernsehnutzer dort einen positiven Einfluß des Fernsehkonsums auf das kulturelle Niveau sowie für den Bildungsstand und die Herausbildung von Weltoffenheit an. Ein patriotisches Bewußtsein stellt sich hier indes nicht in Form einer Identifikation mit den Medienangeboten her. Vielmehr erzeugt gerade deren autoritäre Form in Verbindung mit den multimedialen Wissens- und Bedeutungsangeboten, die sich längst nicht mehr kontrollieren oder gar verhindern lassen, mehr als in Shanghai oder auf dem Lande Widerstände. Bedeutung entsteht daher aus den Angeboten heraus vor allem durch die in der Auseinandersetzung mit diesen erwirkten Persönlichkeitsbildung eines jeden Einzelnen. Dabei sind es nicht vor allem die ›guten‹ Programme, die dadurch, daß sie das ›wahre‹ Bild einer glanzvollen Nation kommunizieren, jeden Einzelnen damit an diesem Glanz teilhaben lassen, was die Befragten unter Persönlichkeitsbildung verstehen. Vielmehr erschließt, wie die Gespräche gezeigt haben, diese sich gerade über die kritische Auseinandersetzung mit den medialen Wissens- und Bedeutungsangeboten sowie im Vergleich mit anderen Medienangeboten wie nicht zuletzt auch mit der persönlich erfahrbaren Situation und Umwelt eines jeden Einzelnen. Das bedeutet, daß sich die Differenz, welche über das Fernsehen kommuniziert wird, so diejenige zwischen China und dem Ausland, zwischen traditionellen Werten und angestrebtem Fortschritt oder zwischen den medialen Angeboten, bei denen hier oftmals auch die Vorteile des Internet als interaktivem Medium gegenüber dem Fernsehen betont werden, nicht als solche des Eigenen mit den Anderen gestaltet. Vielmehr verlagert sie sich in die inneren Prozesse eines jeden Einzelnen und löst sich somit quasi immer wieder auf. Die damit verbundene überaus kritische Sicht auf das Ich wie auch auf die kommunizierte und die materiell erfahrene Umwelt äußert sich vor allem in der Wahrnehmung des Fernsehens nicht als abbildendes Medium sondern als Feld von mannigfachen Diskursen. Diese berichten aus unterschiedlichen Blickwinkeln (Chinas wie des Auslands) über Negatives genauso wie über Positives, wobei sie diese Nachrichten aber immer funktional im Hinblick auf die Gestaltung der eigenen Gegenwart aktualisieren und reproduzieren. Sich häufig wiederholende bußerungen wie »das Fernsehen bietet Anstöße für eine Weiterentwicklung der traditionellen Werte im Austausch mit fremden Kulturen«, »das Fernsehen vereinigt eine weltweite Gemeinschaft, die sich untereinander beobachten und durch gegenseitiges Verständnis sowie durch Kritik weiterentwickeln kann«, »das Fernsehen bildet ein Fenster 218
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zur Außenwelt, ein Fenster für die Außenwelt, aber auch eine Brücke zwischen den Welten« oder »das Fernsehen verhilft China dazu, seine Wirtschaft anzukurbeln und sich weiter in Richtung eines Rechtsstaats zu entwickeln« unterstreichen diese Komponente der medialen Wahrnehmung, wie sie von einzelnen an allen Befragungsorten, vor allem aber bei den Pekinger Befragten, anzutreffen ist. Indem jedes dieser Ziele nicht als Symbol für die kollektive (lokale und/oder nationale) Identität mit einer abgebildeten nicht-medialen Realität gleichgesetzt und als Materie und Substanz (Benzhi ᴀ䋼) wahrgenommen wird, in der jeder Einzelne aufgeht, sondern vor allem als ein Bedeutungsangebot verstanden wird, das es erst anzueignen und unter den Dispositionen des symbolischen und aktuellen Raumes und der Wahrnehmungsgegenwart zu aktualisieren gibt, wird das Fernsehen konkret und nützlich. Es dient mit seinen Bildern (Xiang 䈵) und in seinen multimedialen Dispositionen, welche, anstatt fixe Substanz zu sein, die Struktur (Jiagou ᶊᵘ) bilden, der Verknüpfung mit dem Anderen und wirkt in dieser Einfügung des Anderen in die Prozesse des Eigenen zur interpretierenden Aktualisierung desselben (Jieshi 㾷䞞) in innere Bilder (Yixiang ᛣ䈵) ihrer Rezipienten und der Gesellschaft. Damit erfüllt es exakt die Kriterien, mit welchen der oben zitierte Philosoph Zhang Dongsun die Dispositionen chinesischer Kultur beschrieben hatte. Nicht die hegemoniale nationale Funktionalisierung des Fernsehens im Sinne der zentralistischen Regierungsdiskurse, wie sie in ihrer monosemischen Bedeutungsproduktion bei gleichzeitigem Ausschluß von Konkurrenzaber auch von Referenzmedien mit geringem mythenbildenden Erfolg auf dem Lande eingesetzt werden, trägt zur Konstitution einer spätmodernen chinesischen Kultur bei. Und auch die lokalistischen Identitätsdiskurse, wie sie unter spätmodernen, postindustriellen Bedingungen einer ausschließlich symbolischen Kommunikation, ohne konkret zu werden, Substanz herausbilden sollen, sind nicht in der Lage, das Ziel eines stabilen Ordnungssystems zu erreichen. Zudem nehmen sie dabei einen weitreichenden Strukturverlust in Kauf, indem sie das dynamische Selbst und dessen integrative Univozität der Binarität zwischen dem Selbst und dem Anderen opfern. Statt dessen ist es einer offen kommunizierenden, multimedial kontextualisierten und für den Alltag seiner Rezipienten durchlässigen Anordnung der medialen Kommunikation am ehesten gegeben, die chinesische Kultur in die Zukunft zu führen. Sie bietet sowohl globale wie auch nationale und lokale Diskurse an, hält diesen dabei aber immer die Möglichkeit offen, in ihrer Rezeption und Reproduktion durch die Fernsehnutzer als ›innere Bilder‹ in den realen Raum des eigenen Lebensumfeldes hinein aktualisiert und dort konkret und nützlich zu werden. 219
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Nur eine durch ihre produzierenden und rezipierenden Teilnehmer in aller Konflikthaftigkeit und Dynamik frei gestaltbare Kultur ist in der Lage, die ureigentliche Funktion von Kultur, diejenige der Errichtung und Stabilisierung einer symbolischen und in ihrer Anwendung und Weiterentwicklung konkret und nützlich werdenden Ordnung, herzustellen. Dies käme letzten Endes auch dem Funktionssystem der Gesellschaft zugute. Wenn der Schulterschluß zwischen den zahlreichen Diskurs- und Bedeutungsangeboten im Wechselspiel zwischen alten und neuen Medien sowie zwischen den im Wechselspiel mit diesen konstruierten symbolischen, metaphorischen und realen Innen- und Außenräumen gelingt und dem Publikum auf dieser Basis bald endlich auch von Wirtschaftsund Regierungsseite her der notwendige Respekt und die ihm zustehende Rolle als entscheidender Produzent von Kultur, Wissen und Bedeutung mit einer größtmöglichen Freiheit zugestanden wird, scheinen die Bedingungen dafür günstiger zu sein als in Europa, wo man nach wie vor in den Nachwirkungen der typographischen Kultur und in einem an der exakten mimetischen Abbildung hängenden Weltbild verfangen bleibt. Ein China, das sich wieder verstärkt von den importierten Dogmen der Substanz und Materie ab- und seiner ureigentlichen Privilegierung der Struktur zuwendet und dabei die Ordnung ohne eine notwendige Materieanbindung immer wieder aus sich selbst heraus zu bilden vermag, kann dann, ohne irgendwelche Widersprüche zu erzeugen, aus seinen Traditionen schöpfen, um auf deren Grundlage aktiv an der Gestaltung der inneren wie auch der Weltordnung teilzunehmen und dieser produktive Angebote zu liefern. Das Fernsehen und seine noch vermehrt interaktiv angeordneten Nachfolgemedien stellen als Dispositive der Kommunikation und Konstitution von Kultur in ihrer chinesischen Aktualisierung in vielerlei Hinsicht für ihre aktiven Nutzer und kulturgestaltenden Reproduzenten die hinreichenden Bedingungen dafür bereit.
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Diese Publikation und das ihr zugrunde liegende Forschungsprojekt wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Ich danke zudem allen an ihrem Entstehen Beteiligten. Mein besonderer Dank gilt Wang Yu und Dai Jianzhong sowie ihrem Team von der Pekinger Akademie für Sozialwissenschaften für die langjährige fruchtbare Zusammenarbeit, Joachim Paech für seine Unterstützung, Rückendeckung und wertvollen Anregungen, Chou Meng-lin für die Mitarbeit bei der Auswertung und Übersetzung der Fragebögen und Interviews, Klaus Lindemann für sein engagiertes Korrekturlesen, Martina Kupper von der Universität Konstanz sowie Gero Wierichs und Alexander Masch aus dem Hause transcript für ihre unverzichtbare Unterstützung bei der Gestaltung des Manuskripts und, wie immer, Zhen Zhen dafür, daß es sie gibt.
Abbildungsnachweise S. 12, 16: Beijing Institute of Radio and Television; S. 55, 57, 59, 62: Beijing Academy of Social Sciences; S. 43, 47, 49, 90, 91, 93, 99, 102, 106, 123, 126, 130, 162, 166, 175, 178, 193, 197, 199, 202, 205, 207, 209, 213, 217 und alle statistischen Grafiken: Kramer
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Simone Dietz, Timo Skrandies (Hg.) Mediale Markierungen Studien zur Anatomie medienkultureller Praktiken Dezember 2006, ca. 270 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-482-4
Peter Rehberg lachen lesen Zur Komik der Moderne bei Kafka Dezember 2006, ca. 224 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-577-4
Nic Leonhardt Piktoral-Dramaturgie Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869-1899) Dezember 2006, ca. 350 Seiten, kart., ca. 30,80 €, ISBN: 3-89942-596-0
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Constanze Bausch Verkörperte Medien Die soziale Macht televisueller Inszenierungen November 2006, 250 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-593-6
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Karin Knop Comedy in Serie Medienwissenschaftliche Perspektiven auf ein TV-Format November 2006, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-527-8
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Bettina Mathes Under Cover Das Geschlecht in den Medien
Helga Lutz, Jan-Friedrich Mißfelder, Tilo Renz (Hg.) Äpfel und Birnen Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften
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Jutta Zaremba New York und Tokio in der Medienkunst Urbane Mythen zwischen Musealisierung und Mediatisierung Oktober 2006, 236 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 25,80 €, ISBN: 3-89942-591-X
Petra Leutner, Hans-Peter Niebuhr (Hg.) Bild und Eigensinn Über Modalitäten der Anverwandlung von Bildern Oktober 2006, 206 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-572-3
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Kultur- und Medientheorie Barbara Becker, Josef Wehner (Hg.) Kulturindustrie reviewed Ansätze zur kritischen Reflexion der Mediengesellschaft August 2006, 296 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-430-1
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Michael Treutler Die Ordnung der Sinne Zu den Grundlagen eines ›medienökonomischen Menschen‹ Juli 2006, 282 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-514-6
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de