Das politisierte Geschlecht: Biographische Wege zum Studentinnenprotest von ›1968‹ und zur Neuen Frauenbewegung [1. Aufl.] 9783839424100

Die Neue Frauenbewegung: Wie wurde das Geschlecht zum Politikum? Trotz der Vielzahl an Publikationen zur Studentenbewegu

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German Pages 410 Year 2014

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Inhalt
Dank
I. Einleitung
I.1 Einführung in den Forschungsgegenstand
I.2 Forschungsstand und Forschungsdesiderate
I.3 Forschungsfragen und Aufbau der Untersuchung
I.4 Das Sample der Untersuchung
I.4.1 Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
I.4.2 Vom Frankfurter Weiberrat zum Frankfurter Frauenzentrum
I.4.3 Datenerhebung
II. Methodischer Rahmen der Untersuchung
II.1 Das biographisch-narrative Interview
II.2 Die Dokumentarische Methode
II.3 Kontextbeschreibung und Kontextanalyse
III. Theoretischer Rahmen der Untersuchung
III.1 Sozialisation
III.2 Politische Sozialisation/Politisierung
III.3 Politische Partizipation und Geschlecht
III.3.1 Politische Partizipation
III.3.2 Geschlecht als Motiv politischer Partizipation von Frauen
III.4 Die Universität als Ort politischer Sozialisation
III.4.1 Universität als Institution und Organisation
III.4.2 Universität als politischer Erfahrungsund Handlungsraum
IV. Aufwachsen und Leben in Familie, Peer-group und öffentlichen Institutionen
IV.1 Familie von der Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre
IV.1.1 Ökonomische und soziale Bedingungen der Nachkriegszeit
IV.1.2 Wohnsituation
IV.1.3 Das politisch und öffentlich verbreitete Familienideal
IV.1.4 Eheschließung
IV.1.5 Erwerbstätigkeit von Frauen
IV.1.6 Innerfamiliäre Beziehungen
IV.2 Schule und schulische Sozialisation in den 1950er und 1960er Jahren
IV.2.1 Die Wiedereröffnung der Schulen und die Entwicklung des Schulsystems seit der Nachkriegszeit
IV.2.2 Mädchenschulen und Geschlechterverhältnisse in den 1950er und 1960er Jahren
IV.2.3 Die Schülerbewegung ab Mitte der 1960er Jahre
IV.3 Peer-groups und Jugendorganisationen in den ›langen 60er Jahren‹
IV.3.1 Jugendspezifische Rahmenbedingungen der 1950er und 1960er Jahre
IV.3.2 Jugendorganisationen und informelle Jugendgruppen
IV.4 Universität in den 1960er und frühen 1970er Jahren – Hochschulreformen, Ordinarienuniversität und Studentenprotest
IV.4.1 Bildungspolitische Debatten und Hochschulreformen seit 1945
IV.4.2 Ordinarienuniversität und Geschlechterverhältnisse
IV.4.3 Studentenbewegung und Studienbedingungen Ende der 1960er Jahre
V. Politisierung in der voruniversitären und universitären Lebensphase
V.1 Genese von Politisierung in der voruniversitären Lebensphase
V.1.1 Politisierung über intergenerationelle Beziehungen
V.1.1.1 Politisierung über intergenerationelle Kontinuität
V.1.1.2 Politisierung über intergenerationelle Distanzierung
V.1.2 Politisierung durch jugendspezifische Aktivitäten in Organisationen und Kollektiven
V.1.2.1 Suche nach Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit in Organisationen und Kollektiven nach Ausgrenzungserfahrungen
V.1.2.2 Suche nach eigener Lebensweise über die Ausrichtung an Organisationen und Kollektiven nach intergenerationeller Distanzierung
V.1.2.3 Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten
V.1.2.4 Kontinuität intergenerationell erlebter politischer Aktivitäten in jugendspezifischen Organisationen
V.2 Politisierung in der universitären Lebensphase
V.2.1 Politisierung im studentischen Alltag im Kontext der Studentenproteste
V.2.1.1 Ausrichten an bereits politisierten Bezugspersonen
V.2.1.2 Offenheit für politische Aktionen beim Übergang an die Universität
V.2.1.3 Kontinuität voruniversitärer politischer Aktivitäten an der Universität
V.2.1.4 Diskontinuität zur eigenen bereits entwickelten oder angestrebten Lebensweise
V.2.2 Politisierung im Studium über die Auseinandersetzung mit formellen und informellen Veranstaltungen an der Universität
V.2.2.1 Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen
V.2.2.2 Anerkennung der Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren
V.2.2.3 Anerkennung informeller, studentisch initiierter Arbeitsgruppen zur Erweiterung des Studiums
V.2.3 Entwicklung einer geschlechtsspezifischen Perspektive im Anschluss an eine allgemeine Politisierung
V.2.3.1 Offenheit für die theoretische Auseinandersetzung mit geschlechtspolitisch relevanten Themen im Studium
V.2.3.2 Kontinuität und Erweiterung bisheriger politischer Aktivitäten in geschlechtshomogenen Gruppen
V.2.3.3 Distanzierung von einer geschlechtsheterogenen Gruppe
V.2.3.4 Suche nach Gemeinschaftlichkeit
VI. Die Universität als Ort der Politisierung? Ein Beitrag zur historischen Sozialisationsforschung
VI.1 Voruniversitäre Politisierung und Kontinuitäten von Politisierung in der universitären Lebensphase
VI.2 Politisierung an der Universität als interaktiver Prozess im Kontext der Studentenbewegung
VI.3 Universität als Ort der Entwicklung eines geschlechtspolitischen Bewusstseins
VI.4 Weiterführende Forschungsfragen
VI.5 Möglichkeiten und Grenzen zeithistorischer Sozialisationsforschung – Die Dokumentarische Methode als Instrument historischer Sozialisationsforschung
Abbildungsverzeichnis
Quellen - und Literaturverzeichnis
Anhang
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Das politisierte Geschlecht: Biographische Wege zum Studentinnenprotest von ›1968‹ und zur Neuen Frauenbewegung [1. Aufl.]
 9783839424100

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Morvarid Dehnavi Das politisierte Geschlecht

Histoire | Band 44

2013-04-03 11-14-34 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c3331402811878|(S.

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Morvarid Dehnavi (Dr. phil.), Erziehungswissenschaftlerin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Historische Bildungs- und Sozialisationsforschung, Kindheits- und Jugendforschung, Familienforschung sowie Geschichte der Studentenbewegung ›1968‹ und der Neuen Frauenbewegung.

2013-04-03 11-14-34 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c3331402811878|(S.

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Morvarid Dehnavi

Das politisierte Geschlecht Biographische Wege zum Studentinnenprotest von ›1968‹ und zur Neuen Frauenbewegung

2013-04-03 11-14-34 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c3331402811878|(S.

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Gedruckt mit Unterstützung der FAZIT-STIFTUNG Gemeinnützige Verlagsgesellschaft mbH, der Gerda-Weiler-Stiftung für feministische Frauenforschung, D-53894 Mechernich, www.gerda-weiler-stiftung.de und der HelmutSchmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildungen: © bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Abisag Tüllmann, Frankfurt am Main 1967 (vorne) und Abisag Tüllmann, Frankfurt am Main 1974 (hinten) Lektorat & Satz: Morvarid Dehnavi Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2410-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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F ÜR MEINE E LTERN

Inhalt

Dank

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I.

Einleitung

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I.1 I.2 I.3 I.4

Einführung in den Forschungsgegenstand Forschungsstand und Forschungsdesiderate Forschungsfragen und Aufbau der Untersuchung Das Sample der Untersuchung I.4.1 Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main I.4.2 Vom Frankfurter Weiberrat zum Frankfurter Frauenzentrum I.4.3 Datenerhebung

13 20 37 40 40 41 43

I I .  Methodischer Rahmen der Untersuchung

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II.1 Das biographisch-narrative Interview II.2 Die Dokumentarische Methode II.3 Kontextbeschreibung und Kontextanalyse

51 56 63

I I I .  Theoretischer Rahmen der Untersuchung

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III.1 Sozialisation III.2 Politische Sozialisation/Politisierung III.3 Politische Partizipation und Geschlecht III.3.1 Politische Partizipation III.3.2 Geschlecht als Motiv politischer Partizipation von Frauen III.4 Die Universität als Ort politischer Sozialisation III.4.1 Universität als Institution und Organisation III.4.2 Universität als politischer Erfahrungsund Handlungsraum

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I V .  Aufwachsen und Leben in Familie, Peer-group und öffentlichen Institutionen

93

95 

IV.1 Familie von der Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre IV.1.1 Ökonomische und soziale Bedingungen der Nachkriegszeit IV.1.2 Wohnsituation IV.1.3 Das politisch und öffentlich verbreitete Familienideal IV.1.4 Eheschließung IV.1.5 Erwerbstätigkeit von Frauen IV.1.6 Innerfamiliäre Beziehungen

96  99  99  102 104 106

IV.2Schule und schulische Sozialisation in den 1950er und 1960er Jahren

108

IV.2.1 Die Wiedereröffnung der Schulen und die Entwicklung des Schulsystems seit der Nachkriegszeit

108

IV.2.2 Mädchenschulen und Geschlechterverhältnisse in den 1950er und 1960er Jahren IV.2.3 Die Schülerbewegung ab Mitte der 1960er Jahre

116 119

IV.3Peer-groups und Jugendorganisationen in den ›langen 60er Jahren‹ IV.3.1 Jugendspezifische Rahmenbedingungen der 1950er und 1960er Jahre IV.3.2 Jugendorganisationen und informelle Jugendgruppen IV.4 Universität in den 1960er und frühen 1970er Jahren – Hochschulreformen, Ordinarienuniversität und Studentenprotest IV.4.1 Bildungspolitische Debatten und Hochschulreformen seit 1945 IV.4.2 Ordinarienuniversität und Geschlechterverhältnisse IV.4.3 Studentenbewegung und Studienbedingungen Ende der 1960er Jahre

124 124 127 132 133 140 144

V .  Politisierung in der voruniversitären und universitären Lebensphase

159

V.1 Genese von Politisierung in der voruniversitären Lebensphase

161

V.1.1 Politisierung über intergenerationelle Beziehungen V.1.1.1 Politisierung über intergenerationelle Kontinuität V.1.1.2Politisierung über intergenerationelle Distanzierung

164 164 187

V.1.2 Politisierung durch jugendspezifische Aktivitäten in Organisationen und Kollektiven V.1.2.1 Suche nach Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit in Organisationen und Kollektiven nach Ausgrenzungserfahrungen V.1.2.2 Suche nach eigener Lebensweise über die Ausrichtung an Organisationen und Kollektiven nach intergenerationeller Distanzierung V.1.2.3 Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten V.1.2.4 Kontinuität intergenerationell erlebter politischer Aktivitäten in jugendspezifischen Organisationen  V.2 Politisierung in der universitären Lebensphase V.2.1 Politisierung im studentischen Alltag im Kontext der Studentenproteste V.2.1.1 Ausrichten an bereits politisierten Bezugspersonen V.2.1.2 Offenheit für politische Aktionen beim Übergang an die Universität V.2.1.3 Kontinuität voruniversitärer politischer Aktivitäten an der Universität V.2.1.4 Diskontinuität zur eigenen bereits entwickelten oder angestrebten Lebensweise V.2.2 Politisierung im Studium über die Auseinandersetzung mit formellen und informellen Veranstaltungen an der Universität V.2.2.1 Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen V.2.2.2 Anerkennung der Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren V.2.2.3 Anerkennung informeller, studentisch initiierter Arbeitsgruppen zur Erweiterung des Studiums V.2.3 Entwicklung einer geschlechtsspezifischen Perspektive im Anschluss an eine allgemeine Politisierung V.2.3.1 Offenheit für die theoretische Auseinandersetzung mit geschlechtspolitisch relevanten Themen im Studium V.2.3.2 Kontinuität und Erweiterung bisheriger politischer Aktivitäten in geschlechtshomogenen Gruppen V.2.3.3 Distanzierung von einer geschlechtsheterogenen Gruppe V.2.3.4 Suche nach Gemeinschaftlichkeit

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275 288 300

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V I .  Die Universität als Ort der Politisierung? Ein Beitrag zur historischen Sozialisationsforschung

VI.1Voruniversitäre Politisierung und Kontinuitäten von Politisierung in der universitären Lebensphase VI.2Politisierung an der Universität als interaktiver Prozess im Kontext der Studentenbewegung VI.3Universität als Ort der Entwicklung eines geschlechtspolitischen Bewusstseins VI.4Weiterführende Forschungsfragen VI.5Möglichkeiten und Grenzen zeithistorischer Sozialisationsforschung – Die Dokumentarische Methode als Instrument historischer Sozialisationsforschung

349

352 358 364 366

374

Abbildungsverzeichnis

379

Quellen- und Literaturverzeichnis

381

Anhang

405



Dank

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommer 2012 an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie leicht gekürzt und überarbeitet. In der Konzeption und Durchführung dieses Projekts habe ich von vielen Personen und Institutionen Unterstützung, konstruktive Kritik und Zuspruch erhalten, für die ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken möchte. Mein Dank gilt an erster Stelle Frau Prof. Dr. Carola Groppe, die mich und meine Arbeit in den letzten Jahren begleitet hat und mir stets mit Rat und engagierter Betreuung zur Seite stand. Herrn Prof. Dr. Arnd-Michael Nohl und seinen MitarbeiterInnen und Doktoranden danke ich für die Möglichkeit der Teilnahme an den Kolloquien. Die hier geführten Diskussionen, Analysen und Kritiken waren mir eine große Stütze. Ein besonderer Dank gilt Herrn PD Dr. Gerhard Kluchert und meinen wunderbaren Kolleginnen und Freundinnen Julia Kurig, Johanna Lauff, Isabelle Sieh und Andrea Wienhaus. Im Austausch mit ihnen erhielt ich Anregungen, Korrekturvorschläge und Ermutigung. Ein herzliches Dankeschön gilt meinen Interviewpartnerinnen, die mit mir gemeinsam in ihre Vergangenheit blickten und mich über ihre Schilderungen sowohl an schönen, aufregenden als auch an schmerzhaften Erinnerungen und Erfahrungen teilhaben ließen. Wie gewünscht bleiben ihre Namen auch an dieser Stelle anonym. Für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung danke ich den Vorstandsfrauen der Gerda-Weiler-Stiftung für feministische Frauenforschung, der FAZITSTIFTUNG und der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der HelmutSchmidt-Universität Hamburg. In der Endphase unterstützten mich viele Freundinnen und Freunde. Vielen Dank an Josephine Aniol, Anja Ley, Hanna Missou, Jorunn Scharping, Yves Uhlmann und Astrid Werner. Ein ganz besonderes Dankeschön gilt meinen Eltern Sima Ebrahimi Tofighi und Ebrahim Abolghasemi Dehnavi, die ihr Heimatland verließen, um ihren Kindern eine bessere und bildungsnahe Zukunft zu ermöglichen. Mit viel Engagement und

Willen verfolgten sie meinen Bildungsweg und unterstützten mich in meinen Entscheidungen. Auch meinem Bruder Amir Dehnavi und insbesondere meiner Schwester Maryam Dehnavi, die mir eine unerlässliche Hilfe war, möchte ich für ihre Ratschläge und ihre Unterstützung danken. Nicht zuletzt gilt mein besonderer Dank Adrian Götz, der mich in den letzten Jahren mit Rat, Ermutigungen, einem kühlen Kopf und der notwendigen Ablenkung unterstützte und an meiner Seite stand. Hamburg, im März 2013

Morvarid Dehnavi

I. Einleitung

I.1

E INFÜHRUNG

IN DEN

F ORSCHUNGSGEGENSTAND

Im Mai des Jahres 2008 eröffnete unter dem Titel ›Die 68er. Kurzer Sommer – Lange Wirkung‹ im Historischen Museum in Frankfurt am Main eine Ausstellung, die sich anlässlich des vierzigsten Jahrestages von ›1968‹ der Protestbewegung widmete. Anhand verschiedener Materialien – darunter ausgewählte Korrespondenzen, Bücher, Plakate, Fotografien, Filme und Interviewausschnitte – thematisierten die Aussteller verschiedene Seiten der Ereignisse Ende der 1960er Jahre, die sie unter der Chiffre ›1968‹ fassten. Die Besucherinnen und Besucher trafen im Museum im Eingangsbereich zunächst auf eine Installation, in der Interviewausschnitte mit acht – sowohl damals als auch heute medial bekannten – Protagonistinnen und Protagonisten von ›1968‹ in einer virtuellen Diskussionsrunde abwechselnd eingeblendet wurden. In diesen beschrieben sie einzelne Ereignisse, benannten Themen und interpretierten die Folgen von ›1968‹ rückblickend. Im Hauptraum der Ausstellung stellten die Kuratoren ›1968‹ über acht thematische Schwerpunkte vor: »Bildung und Erziehung«, »Kommune und Wohngemeinschaft«, »Alltagskultur und Lebensstile«, »Geschlechterrollen«, »Kapitalismuskritik und Selbstverwaltung«, »Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit«, »Aktionsformen und Gewaltfrage«, »Internationale Solidarität«, »Alltagskultur und Lebensstile« sowie »Spießerhölle«.1 Die in dieser Ausstellung beschriebene Wirkung von ›1968‹ erscheint für die Betrachterin/den Betrachter außerordentlich, geradezu revolutionär, und ›1968‹ als eine Zäsur, die die bundesdeutsche Gesellschaft nachhaltig bewegte. Gleichzeitig erscheint ›1968‹ vielschichtig und komplex, seine Protagonistinnen/Protagonisten und ihre Intentionen sehr unterschiedlich. Was war ›1968‹? Wer waren die Protestlerinnen und Protestler? Was waren ihre Ziele und ihre Motive? Auch diese Ausstellung verdeutlichte – neben den vielen Dokumenta-

1

Vgl. Schappach 2008, S.6ff., Zitate ebda.

14 | D AS POLITISIERTE G ESCHLECHT

tionen zu ›1968‹ sowie zahlreichen Publikationen2 – das Interesse an einer öffentlichen Auseinandersetzung mit ›1968‹, die die Gesellschaft der Bundesrepublik immer noch nachhaltig zu bewegen scheint. Gleichzeitig bot sie jedoch eine besondere Perspektive auf ›1968‹, weil sie auch die soziokulturelle Seite der Protestbewegung in den Blick nahm, indem sie u. a. auf Veränderungen der Lebenswelt3, der Lebensformen, der Erziehung und der Familienverhältnisse sowie auf die Verbindung von Geschlecht und Politik hinwies. Die öffentliche Auseinandersetzung mit den Protesten Ende der 1960er hat eine Tradition, die über vier Jahrzehnte zurückreicht. Seit Ende der 1960er Jahre – und immer wieder verstärkt zu den ›Jubiläen‹ – widmet sich die Medienlandschaft den politischen Großereignissen, darunter den Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze, den Springer-Konzern und den Vietnamkrieg, der Erschießung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 und den Studentenunruhen an vielen deutschen Universitäten. Hierbei wird ›1968‹ mit Begriffen wie ›Kulturrevolution‹, ›Jugendrevolte‹, ›antiautoritäre Bewegung‹ und nicht zuletzt ›Studentenbewegung‹ in Zusammenhang gebracht und somit auf Bezugsbereiche, Trägergruppen und Tragweiten verwiesen.4 Der Stellenwert von ›1968‹ wird in der Literatur dabei kontrovers einerseits als Erfolgs-, andererseits als Misserfolgsgeschichte bewertet. Es zeichnen sich in den Argumentationen und Stellungnahmen darüber hinaus zwei divergierende Pole ab: Während die einen ›1968‹ als eine tiefe Zäsur bewerten, die die Demokratisierung oder, dem entgegen gesetzt, Terrorismus und Werteverfall vorantrieb5, sehen andere in der Protestbewegung lediglich einen Mythos, der von den Protagonistinnen und Protagonisten selbst aufrechterhalten wird.6 In drei Dingen scheint man sich jedoch einig zu sein, nämlich dass erstens mit der Chiffre ›1968‹ eine Kulmination von Ereignissen Ende der 1960er Jahre gemeint ist, dass zweitens soziale und kulturelle Transformationen stattgefunden haben und dass drittens die Akteurinnen und Akteure der Proteste vor allem politisierte Jugendliche, Schülerinnen und Schüler und insbesondere Studentinnen und Studenten waren.7 2

Vgl. hierzu den Forschungsstand dieser Arbeit Kap. I.2.

3

Vgl. zu dem Begriff Lebenswelt Kap. II.3.

4

Vgl. dazu die Ausführungen bei Dehnavi/Wienhaus 2010 zur öffentlichen und wissen-

5

Vgl. Habermas 1988, der von Fundamentalliberalisierung spricht; vgl. dazu auch Gilcher-

schaftlichen Auseinandersetzung mit ›1968‹ seit Ende der 1960er Jahre. Holtey 1998a, die ›1968‹ als Zäsur beschreibt; vgl. Diekmann 2007, S.13, der ›1968‹ als »Epochenbruch der deutschen Gesellschaft in Richtung Egozentrik, Mittelmaß und Faulheit« bewertet; vgl. dazu auch Röhl 1995 und Wolfschlag 1998. 6

Vgl. Lübbe 1988, S.27, der die politischen Projekte als gescheitert bewertet und die

7

Vgl. hierzu die Darstellung des Forschungsstands in dieser Arbeit, Kap. I.2.

Gestaltkraft der ›68er‹ als Mythos bezeichnet.

E INLEITUNG | 15

Die Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre war zweifellos der öffentlichkeitswirksamste Teil der Protestbewegung. In den Medien wird seit Ende der 1960er Jahre bis heute immer wieder auf einzelne Ereignisse an den Universitäten sowie auf demonstrierende Studierende, verbarrikadierte Universitätsgebäude, empörte Professorinnen und Professoren, Vollversammlungen, Teach-ins, Go-ins und Sit-ins eingegangen.8 Die Dauer der Studentenbewegung wird in der Forschung auf die Zeit von 1965 bis 1970 datiert, wobei die Jahre zwischen 1967 und 1969/70 als Kernphase der Proteste beschrieben werden.9 Der Tod des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 während der Demonstrationen wird dabei als Beginn und die Auflösung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) 1969/70 als Ende der Studentenproteste angenommen.10 Die Zeit ab 1965 bis ungefähr 1967 wird als Vorlaufphase der Studentenbewegung gefasst und dabei wird insbesondere auf Aktionen der Studierenden an der Freien Universität Berlin verwiesen, die gegen Studienbedingungen sowie die im Rahmen der Debatten um Hochschulreformen – die bereits seit Ende der 1950er Jahre in Gang waren – vorgeschlagenen Reformmaßnahmen wie die Studienzeitverkürzung protestierten.11 Es waren die außeruniversitären Auseinandersetzungen, unter anderem die Proteste gegen die Notstandsgesetze und gegen den Vietnamkrieg ab Mitte der 1960er Jahre, die rückblickend den Eindruck einer einheitlichen Protestbewegung vermitteln. Als Teil der Außerparlamentarischen Opposition (APO), die als Reaktion auf den politischen Zusammenschluss der SPD und CDU zur Großen Koalition im Jahr 1966 entstand, organisierten Studentengruppen gemeinsam mit Schülerinnen/Schüler, Gewerkschaften und der Ostermarschbewegung (Kampagne für Abrüstung) Demonstrationen, Kundgebungen und andere Aktionen. Die Universitäten wurden in diesem Zusammenhang zu Räumen, in denen Protestaktionen zu innenund außenpolitischen Themen koordiniert und durchgeführt wurden. Es waren jedoch nicht nur die innen- und außenpolitischen Konfliktthemen, die die Universitäten zu Arenen politischer Auseinandersetzungen machten. Ab Mitte der 1960er Jahre geriet die Universität als Institution selbst in die Kritik und ihre Umgestaltung wurde zu einem zentralen Ziel der Studentenbewegung. Diese entwickelte sich jedoch an den bundesdeutschen Universitäten sehr unterschiedlich, aufgrund der 8

Vgl. das Dossier ›Die 68er Bewegung‹ der Bundeszentrale für politische Bildung, verfügbar unter: http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte-nach-1945/68er-beweg ung/ (04.05.2012).

9

Vgl. exemplarisch Groppe 2008, S.122 und auch Schildt/Siegfried 2009, S.281.

10 Vgl. unter anderem Allerbeck 1973, Bauß 1977, Wolff 1977, Kimmel 1998, Kraushaar 2000 und auch Lönnendonker/Rabehl/Staadt 2002. 11 Vgl. beispielhaft Bude/Kohli 1989a, die sich der Studentenbewegung und der Disziplin Soziologie in Berlin ab 1965 widmen; vgl. Wesel 2002, der im ersten Kapitel vom »Aufstieg der Revolte 1965-1968« spricht, Zitat ebda.

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verschiedenen universitären Rahmenbedingungen sowie der verschiedenen Ziele und Aktionen der Akteursgruppen, die wiederum verschiedene Reaktionen auf der universitären Seite auslösten.12 Insbesondere die Großstadt-Universitäten wie Berlin, Hamburg und Frankfurt am Main avancierten zu Hochburgen der Studentenproteste, so dass Streiks und Besetzungen den Studienbetrieb wochenlang lahm legten und gewalttätige Auseinandersetzungen und Polizeieinsätze besonders in der Hochphase der Studentenbewegung zum universitären Alltag gehörten.13 Trotz dieser Pluralität an Zielsetzungen und Aktionsformen können folgende übergeordnete Forderungen der Studierenden zusammengefasst werden: Ein Großteil der protestierenden Studierenden strebte die ›Demokratisierung der Universität‹ an. Damit einhergehend äußerten sie Kritik an den alten Strukturen der Ordinarienuniversitäten, forderten gleichberechtigte Mitwirkungsrechte für alle an der Universität beteiligten Gruppen und begriffen sich als Opposition gegen die als technokratisch bewerteten Hochschulreformen, die bereits seit Ende der 1950er Jahre diskutiert und vorangetrieben wurden. Ein Teil der Studierenden verlangte darüber hinaus eine gesellschaftskritische Reform der Wissenschaft, über die Studierende ein kritisches Bewusstsein erlangen sollten, wodurch schließlich über die Universität gesamtgesellschaftliche Veränderungen herbeigeführt werden sollten.14 Letzteres wurde insbesondere von dem antiautoritären Flügel der Studentenbewegung, vornehmlich dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), angestrebt. Die ›Antiautoritären‹, deren Hauptfigur Rudi Dutschke war, orientierten sich an den gesellschaftskritischen Analysen, wie sie unter anderem von den gesellschaftskritischen Professoren der Frankfurter Schule erarbeitet worden waren. Die Theorie sollte, so das Ziel der antiautoritären Studierenden, schließlich in die Praxis überführt und darüber eine gesellschaftliche Umwälzung initiiert werden. Auf der anderen Seite gab es einen traditionellen Flügel der Studentenbewegung, auch innerhalb des SDS, der an den Marxismus und die Arbeiterbewegung anknüpfte.15 Diese beiden Richtungen unterschieden sich sowohl in ihren Leitideen, als auch in den Aktionsformen. Während der Delegiertenkonferenzen des SDS kam es in diesem Rahmen immer wieder zu Unstimmigkeiten und Konflikten hinsichtlich der Zielsetzung und Organisation. 1970 löste sich der SDS schließlich auf; nicht zuletzt 12 Vgl. Becker/Schröder 2000, die eine Chronik der Ereignisse im Rahmen der Studentenproteste differenziert nach Universitäten beziehungsweise Universitätsstädten vorstellen. 13 Vgl. Kraushaar 1998a; vgl. Bude/Kohli 1989. 14 Vgl. dazu den Aufsatz von Groppe 2008 ›Die Universität gehört uns‹. Veränderte Lehr-, Lern- und Handlungsformen an der Universität der 68er-Bewegung‹; vgl. dazu auch Herrmann 2011 zur Forderung nach ›Demokratisierung der Universität‹ am Beispiel der Universität Tübingen; vgl. Claussen/Dermitzel 1968 und auch Klein 1968. 15 Vgl. dazu die Ausführungen bei Keller 2000, S.124f., Groppe 2008, S.124 und Demirovic 1998, S.71ff.

E INLEITUNG | 17

aufgrund einer fehlenden gemeinsamen Leitlinie. Die Studierenden organisierten sich auch in den Folgejahren insbesondere in kleineren antiautoritären Splittergruppen sowie in marxistisch-leninistischen und trotzkistischen Gruppen weiter.16 Dass auch Frauen an der Studentenbewegung beteiligt waren und sich in den unterschiedlichen studentischen formellen Hochschulgruppen und informellen Arbeitsgruppen engagierten, ist unumstritten. Sowohl innerhalb als auch außerhalb der Universitäten beteiligten sie sich gemeinsam mit ihren männlichen Kommilitonen an den politischen Aktionen. Sie waren nicht nur stille Teilnehmerinnen, sondern auch Funktionärinnen, die maßgeblich und federführend an den politischen Aktionen und Entscheidungen beteiligt waren; so beispielweise Sigrid Fronius, die 1968 Vorsitzende des AStA der Freien Universität Berlin war, oder Sigrid Rüger, die 1966 als erste Sprecherin für die Studentenschaft im Akademischen Senat der Freien Universität Berlin agierte.17 Die Frauen engagierten sich sowohl an den institutionell eingeräumten formellen Partizipationsmöglichkeiten, als Mitglieder von Hochschulgremien und -gruppen als auch in den informellen, studentisch initiierten Veranstaltungen. Im Zeitraum zwischen 1966 und 1968 waren fast 30% der Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds weiblich. Auch in den Studentenparlamenten waren Frauen vertreten, wie die Teilnehmerzahlen der Legislaturperiode 1968/69 am Beispiel der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main belegen, auch wenn ihre Zahl deutlich unter 20% liegt.18 Spätestens 1968 wurde jedoch aus den Reihen der Studentinnen Kritik an der Theorie und Praxis der Studentenbewegung laut. Im Januar 1968 gründete sich an der Freien Universität Berlin der ›Aktionsrat zur Befreiung der Frau‹. In dieser Gruppe trafen sich zunächst insbesondere studierende Mütter, um ihre eigene problematische Situation an der Universität aufgrund fehlender Kinderbetreuungsmöglichkeiten zu diskutieren. Über die ›Kinderfrage‹, die schließlich zur Gründung der ersten Kinderläden in Frankfurt und dann in Berlin führte, fand auch die Frage nach geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung in der Familie Einzug in die Diskussionsrunden der Frauen, die vornehmlich aus dem Kreis des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds stammten.19 Mit dem programmatischen Slogan ›Das Private ist 16 Vgl. zu den Strategien des SDS Keller 2000, S.126f. 17 Vgl. dazu die Darstellungen über die politische Partizipation von Studentinnen an ›1968‹ bei Schulz 2002. 18 Vgl. dazu Dehnavi 2011; die Zahlen entstammen einer eigenen Auswertung von Mitgliederlisten des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) aus dem APO-Archiv FU Berlin (Ordner ›Gruppen Frankfurt 1966-68 Aufnahmeanträge/Mitgliederbestätigungen SDS‹) sowie aus den Protokollen der Sitzungen des Studentenparlaments der Universität Frankfurt aus dem Archiv ›68‹ Walter Rüegg (StUn XI.5). 19 Vgl. dazu die Ausführungen bei Baader 2008b, S.153f.

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politisch‹ formulierten Studentinnen ein neues Politikverständnis. Die Frauen des ›Aktionsrats zur Befreiung der Frau‹ legten nach ihrer Gründung auf der nächsten Versammlung des SDS, dem sie zum Teil vormals angehört hatten, eine Resolution vor, in der sie darauf hinwiesen, dass es ihnen nicht um eine »Politisierung des Privatlebens« gehe, sondern vielmehr um »die Aufhebung der bürgerlichen Trennung von Privatleben und gesellschaftlichem Leben: es gilt, die Unterdrückung im Privatleben nicht als privat zu begreifen, sondern als politisch ökonomisch bedingte«. Dabei, so die Frauen, müsse das Privatleben verändert und »diese Veränderung als eine politische Aktion« begriffen werden. Diese Veränderungen seien als ein kulturrevolutionärer Akt zu verstehen, der Teil des Klassenkampfes sei.20 Auf einer Delegiertenkonferenz des SDS im September 1968 kam es schließlich zu einer ersten öffentlichen Rede, in der Helke Sander als Mitglied des ›Aktionsrats zur Befreiung der Frau‹ auf einen Missstand innerhalb des SDS hinwies. In ihrer Rede thematisierte sie die ungerechte Arbeitsteilung in der Familie, das Problem der Kinderbetreuung und der selbstorganisierten Kinderläden und verwies insbesondere auf das patriarchale Verhalten der männlichen Kommilitonen im SDS. Den SDS-Genossen warf sie Ignoranz vor und betonte, dass diese, »ein Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse«21 seien. Sie postulierte, dass die Ausbeutung von Frauen aus der »Trennung zwischen Privatleben und gesellschaftlichem Leben«22 entstünde und diese daher aufgehoben werden müsse. Die männlichen Kommilitonen gingen nach ihrer Rede jedoch ungerührt zum nächsten Tagesordnungspunkt über, ohne auf die Kritikpunkte und Forderungen einzugehen. Es folgte der berühmte Tomatenwurf, bei der die hochschwangere Sigrid Rüger mehrere Tomaten als symbolischen Akt gegen die Ignoranz der männlichen Kommilitonen auf das Podium warf. Nicht nur Sigrid Rüger empörte sich über die Reaktion der SDS-Männer, sondern auch viele andere an der Studentenbewegung beteiligte Frauen. In einem ›Selbstverständnispapier‹ einen Monat nach dieser Aktion gab der ›Aktionsrat zur Befreiung der Frau‹ dann an, sich selbst als eine politische antiautoritäre Gruppe zu verstehen, die sich insbesondere den Problemen der Frauen in der Gesellschaft widme. Dabei strebten auch sie, ähnlich wie der antiautoritäre Flügel des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds, eine »sozialistische Revolution« an, die jedoch aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse aus ihrer Sicht nur ohne Männer erreicht werden könne. So warfen sie den Männern vor, dass sie sich aufgrund ihrer privilegierten Lage in der Gesellschaft nicht für die Probleme der Frauen interessierten. Diese Probleme seien aufgrund der bürgerlichen Trennung des Privatlebens 20 Vgl. Resolution des ›Aktionsrats zur Befreiung der Frau‹ (o. D.) zitiert nach Nave-Herz 1993, S.67, Zitate ebda. 21 Sander 1968/1988, S.39. 22 Sander 1968/1988, S.40.

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von der Öffentlichkeit entstanden und würden die Frauen in eine ungleiche, unterlegene Situation drängen und sie zugleich in eine politische Handlungsunfähigkeit versetzen.23 In der folgenden Zeit schlossen sich in mehreren bundesdeutschen Städten Frauen in geschlechtshomogenen Gruppen zusammen.24 Gemeinsam und nur unter Frauen führten sie zunächst die antiautoritären Praktiken fort, lasen gesellschaftskritische Literatur und besprachen marxistische Ansätze in gemeinsamen Schulungsgruppen, um sich der gesellschaftlichen Lage der Frau bewusst zu werden und um diese dann mit konkreten Aktionen verändern zu können. Denn nur über eine geeignete politische und soziale Theorie, so die Idee, könne eine neue Praxis initiiert werden. Nur langsam und unter Protest einiger Frauen fanden schließlich auch Texte Einzug in die Schulungsgruppen, die sich explizit der Rolle der Frauen widmeten. Insbesondere aus der amerikanischen Frauenbewegung wurden Texte aufgenommen, zum Teil übersetzt und diskutiert. Auch die Vorgehensweise der ›selfconsciousness raising groups‹ (Selbsterfahrungsgruppen), die bereits in den USA praktiziert wurde, hielt Einzug in diese Gruppen. Hier sprachen die Frauen über ihre eigene Situation, wodurch sie ein kritisches Bewusstsein über die eigene Lage entwickeln sollten. Neben den ›Schulungsfraktionen‹ entstanden auch ›Mütterfraktionen‹, die sich im Sinne der antiautoritären Bewegung um die antiautoritären Kinderläden bemühten und dabei die Theorie mit der Praxis einer antiautoritären Erziehung zu verbinden versuchten.25 Trotz starker Überschneidungen in den Zielen unterschieden sich die Frauengruppen insbesondere hinsichtlich ihres theoretischen Rahmens. Während ein Teil der Frauengruppen sich insbesondere in der Kontinuität der Studentenbewegung als eine sozialistische und marxistische Gruppierung sah und die ›Befreiung der Frau‹ als Teil des Klassenkampfes sah, stellte ein anderer Teil der Frauengruppen insbesondere ab den 1970er Jahren die praktische Arbeit mit und für Frauen in den Vordergrund ihrer Tätigkeiten. Es war insbesondere die bundesweite Abtreibungskampagne gegen den Abtreibungsparagraphen (§ 218 Strafgesetzbuch (StGB)), die einen Großteil dieser Frauen zusammenführte. In einer Selbstbezichtigungsaktion gaben unter anderem prominente Frauen an, abgetrieben zu haben, um so öffentlich auf das Abtreibungsproblem hinzuweisen.

23 Vgl. Flugblatt des Aktionsrats zur Befreiung der Frauen, Gruppe Westberlin, 16.Oktober 1968, (Selbstverständnispapier) Archiv des Frauenmediaturms (FTM) in Köln, Zitat ebda. 24 So entstand beispielsweise in Bonn der ›Arbeitskreis Emanzipation‹ (AKE), in Münster und Frankfurt am Main sogenannte ›Weiberräte‹ und in München die ›Münchener Frauenkommune‹; vgl. Schulz 2002, S.85ff. 25 Vgl. dazu die Ausführungen bei Schulz 2002, S.94ff.

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Dass einige Frauen im Kontext der Studentenbewegung Geschlecht zu einem Politikum machen und darüber die ›Neue Frauenbewegung‹ mit initiieren, ist unumstritten. Offen bleibt jedoch, wie es dazu kommt, dass Geschlecht für einige Frauen zu einem Politikum wird. Bei der Betrachtung der bisherigen Forschung zu diesem Thema ist besonders auffällig, dass die Rolle der Universität als Sozialisations- und Erfahrungsraum für die Akteurinnen und Akteure der Studentenbewegung kaum untersucht worden ist. Die vorliegenden Untersuchungen zur Universitätsgeschichte der 1960er Jahre sind überwiegend sozial-, struktur- und diskursgeschichtliche Analysen, die sozialisationshistorische Fragestellungen nicht berücksichtigen.26 Aus diesen Beobachtungen leitet sich die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung ab: Wie kommt es biographisch dazu, dass sich einige Studentinnen an der Universität im Rahmen der Studentenproteste in Frauengruppen – dem Frankfurter Weiberrat und dem Frankfurter Frauenzentrum – zusammenschlossen und politischen Aktivitäten nachgingen und mit ihren Aktivitäten das Thema Geschlecht und Geschlechterverhältnisse zu einem Politikum machten? Und daran anschließend: Welche Bedeutung hat die Universität als Ort politischer Sozialisation für diese Frauen? Bevor für die vorliegende Untersuchung die Fragestellung differenzierter ausformuliert wird, soll der Blick zunächst auf die sehr umfangreiche Forschungsliteratur zu ›1968‹ und zur Studentenbewegung gerichtet werden, um den Stellenwert der Fragestellung der Untersuchung darlegen zu können. Anschließend werden sowohl Forschungsbeiträge diskutiert, die sich den Universitäten in den 1960er Jahren widmen, als auch solche Forschungsbeiträge, die geschlechtsspezifische Analysen zu ›1968‹ darstellen, um darüber für die folgende Untersuchung bedeutsame bildungshistorische Forschungsdesiderate zu formulieren. Die vorliegende Untersuchung versteht sich dabei als ein bildungshistorischer, insbesondere sozialisationshistorischer Beitrag zur Geschichte von ›1968‹, zur Geschichte der Universitäten in den 1960er Jahren und zur Geschichte der Frauenbewegung.

I.2

F ORSCHUNGSSTAND

UND

F ORSCHUNGSDESIDERATE

Im Folgenden wird zunächst skizziert, wie sich die Forschung zu ›1968‹ und der Studentenbewegung seit Ende der 1960er Jahre entwickelt hat und wo sie aktuell steht. Außerdem wird auf Forschungsdesiderate hingewiesen. In diesem Zusammenhang wird der Blick insbesondere auf Publikationen und Forschungsstudien gerichtet, die ›1968‹ und die Studentenbewegung aus einer geschlechtsspezifischen Perspektive betrachten. Auch Forschungsbeiträge, die sich zwar nicht explizit der

26 Vgl. hierzu Kap. I.2 Forschungsstand und Forschungsdesiderate.

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Studentenbewegung oder den Studentinnen von ›1968‹ widmen, jedoch einen Beitrag zu analytischen Erhellung der Studentenbewegung und ihrer geschlechterhistorischen Betrachtung leisten können, werden im Folgenden diskutiert. Die Forschung zu ›1968‹ und der Studentenbewegung ist kaum zu überschauen und enthält neben Erinnerungsliteratur27 vor allem historiographische Darstellungen der Ereignisse28, Dokumentationen29, Quellensammlungen30 und auch wissenschaftliche Analysen, die nach den Akteurinnen und Akteuren oder Gruppierungen31, den Ursachen und nach dem Stellenwert von ›1968‹ und der Studentenbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik fragen.32 Dabei wird beispielsweise nach dem Einfluss der Frankfurter Schule33, der Neuen Linken34 und der Außerparlamentarischen Opposition35 gefragt. Auch gibt es Vergleiche zwischen der bundesdeutschen Protestbewegung und anderen Ländern wie den USA und Frankreich.36 Zudem werden einzelne bundesdeutsche Universitäten untersucht und dabei die Entwicklung der Ereignisse an den Hochschulen dokumentiert.37 In diesem Zusammenhang ist das Gesamtwerk von Wolfgang Kraushaar zu nennen, das eine umfangreiche Dokumentation der Studentenbewegung in Frankfurt am Main, unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses der Frankfurter Schule bietet. In drei Bänden dokumentiert er die Ereignisse seit der Rückkehr von Max Horkheimer aus dem amerikanischen Exil im Jahr 1946 und zeichnet einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der ›Kritischen Theorie‹ der Frankfurter Schule und den Studentenprotesten auf.38 In der Vielfalt der Publikationen, die in mehr als vier Jahrzehnten erschienen sind, kommen sowohl die Komplexität als auch die unterschiedlichen Facetten des Phänomens ›1968‹ zum Ausdruck. So lässt sich für die Forschung zu ›1968‹ und der 27 Vgl. exemplarisch Wesel 2002 und Busche 2003. 28 Vgl. exemplarisch Kraushaar 1998a und Becker/Schröder 2000. 29 Vgl. exemplarisch Wolff/Windaus 1977 und Kraushaar 1998b. 30 Vgl. exemplarisch Becker/Schröder 2000. 31 Vgl. exemplarisch zum Sozialistischen Deutschen Studentenbund Fuhrmann/Koll/ Lönnendonker/Rabehl/Schroeder 1989, Albrecht 1994, Lönnendonker/Rabehl/Staadt 2002; zu Rudi Dutschke vgl. exemplarisch Dahlmann 1991. 32 Vgl. zur Forschungslage zu ›1968‹ Dehnavi/Wienhaus 2010. 33 Vgl. exemplarisch Gilcher-Holtey 1998a, Kraushaar 1998a/b/c und Albrecht/Behrman/ Bock/Homann/Tenbruck 2000. 34 Vgl. exemplarisch Weiss 1969, Eisenhardt 1975 und Ludwig 1995. 35 Vgl. exemplarisch Otto 1977. 36 Vgl. exemplarisch Gilcher-Holtey 2001 und Schmidtke 2003. 37 Vgl. exemplarisch Rabehl 1988 und Bude/Kohli 1989 für Berlin; Claussen/Dermitzel 1968 für Frankfurt am Main. 38 Vgl. Kraushaar 1998a/b/c.

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Studentenbewegung folgende Entwicklung aufzeigen39: Die Publikationen, die bereits Ende der 1960er Jahre erscheinen, befassen sich insbesondere mit Studierenden und ihrem Protest innerhalb wie außerhalb der Universitäten. Dabei beziehen sie sich einerseits auf die geplanten Hochschulreformen und die Situation der Studierenden an den bundesdeutschen Hochschulen,40 andererseits nehmen sie die Protestierenden in den Blick und versuchen deren Motive und Ziele zu beleuchten.41 Auch nach der Rolle der Neuen Linken sowie des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds wird bereits Ende der 1960er Jahre gefragt.42 Auffällig ist bei diesen Publikationen, dass es sich in der Mehrheit zunächst einmal um subjektive Einschätzungen sowie Reaktionen Beteiligter auf die Studentenproteste und die tagespolitischen Auseinandersetzungen handelt.43 Bereits einige Jahre später in den 1970er Jahren geht die Zahl der Publikationen zunächst erheblich zurück. Neben Dokumentationen der Ereignisse gibt es in dieser Zeit aber bereits erste soziologische Analysen zur Entstehungsgeschichte und erste Bilanzierungsversuche der Studentenbewegung.44 So versucht beispielsweise Allerbeck bereits 1973 in seiner Studie Hypothesen und Annahmen zur Studentenbewegung und zu den protestierenden Studierenden anhand empirischer Daten zu überprüfen.45 Das Jahr 1968 wird erst in der Forschung ab den 1980er Jahren als Chiffre für tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen verstanden, welches sich schließlich in den Publikationen der 1990er Jahre, insbesondere anlässlich des 30. Jubiläums, manifestiert. Während in diversen Schriften, die in den 1970er Jahren erscheinen, auf das Ereignis am 2. Juni 1967 als zeitlichen Ausgangspunkt hingewiesen wird,46 werden 1998 zahlreiche Texte veröffentlicht, die dreißig Jahre danach ›1968‹ auch im Titel führen und von den sogenannten ›1968‹ern sprechen.47 Bei der Fülle der Publikationen, die seit Ende der 1960er bis in die 1990er Jahre erschienen sind, handelt es sich bei nur wenigen um wissenschaftliche Aufbereitungen und Analysen der Ereignisse. Ein Großteil der erschienenen Schriften zu den 39 Vgl. zur Entwicklung der Forschung zu ›1968‹ Dehnavi/Wienhaus 2010. 40 Vgl. exemplarisch Habermas 1969, Jacobsen/Dollinger 1969, Schwan/Sontheimer 1969 und Schulz 1969. 41 Vgl. exemplarisch Schlaffke 1968, Schwerbrock 1968 und Freytag 1968. 42 Vgl. exemplarisch Oelinger 1969 und Weiss 1969. 43 Vgl. hierzu die Erläuterungen zum Stand der Forschung bei Spix 2008, S.32. 44 Vgl. exemplarisch Brunotte 1973 und Eckert 1973. 45 Vgl. dazu Allerbeck 1973, auch bei Bauß 1977 gibt es Ansätze einer analytischen Herangehensweise. 46 Vgl. dazu Wolff/Windaus 1977 und Deppe 1977; vgl. zur Verschiebung von 1967 auf 1968 Kraushaar 1998d. 47 Vgl. für die 1990er Jahre exemplarisch Agnoli 1998, Fink/Gassert/Junker 1998, GilcherHoltey 1998a und Kraushaar 1998d.

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Studentenunruhen ›1968‹ versammeln oberflächliche und unspezifische Darstellungen von biographischen Erfahrungen, zugleich aber häufig mit dem Anspruch, Verläufe, Ursachen und Wirkungen zu erklären.48 Dabei ist die Vielfalt der Deutungen der beteiligten Akteurinnen und Akteure nicht nur an die »divergierenden Standorte, Erkenntnisinteressen und Werteideen der Akteure, Zeitzeugen und Wissenschaftler geknüpft, sondern spiegelt auch ein analytisches Problem wider«49, nämlich, so wird man festhalten können, ›1968‹ nicht auf eine einfache Interpretation festlegen zu können. Schließlich entwickelt sich in der Forschung Ende der 1990er Jahre eine stärker systematische Auseinandersetzung mit dem Phänomen ›1968‹ mit dem Anspruch, die attestierte unwissenschaftliche Betrachtung des Phänomens zu überwinden bzw. der Vielfältigkeit des Phänomens analytisch gerecht zu werden. In diesem Rahmen ist der Sammelband von Ingrid Gilcher-Holtey erschienen, in dem ›1968‹ nicht mehr nur als ein »Ereignis« diskutiert wird, sondern als »Gegenstand der Geschichtswissenschaft«.50 Bereits in der Einleitung moniert sie, dass »eine wissenschaftlich fundierte und empirisch gestützte vergleichende historische Analyse« aussteht und dass sich die Zeitgeschichte bisher ›1968‹ nicht systematisch zugewandt hat.51 In diesem Sammelband wird ›1968‹ als Ausdruck einer sozialen Bewegung verstanden. Damit wird die inhaltliche und personelle Durchlässigkeit der Bewegung betont und der Blick auf politisch mobilisierbare und mobilisierte Netzwerke von Gruppen und Organisationen gerichtet.52 Auch Michael Kimmel begreift in seiner Analyse die Studentenbewegung als soziale Bewegung und richtet seinen Blick auf einen Vergleich der Bundesrepublik mit Frankreich und den USA. Dabei blickt er auf den politischen Protest und grenzt diesen von einer attestierten jugendlichen Gegenkultur ab. In seiner politikwissenschaftlichen Analyse stützt er sich jedoch ausschließlich auf Sekundärliteratur und zieht keine eigenen Quellen heran.53 Aus der zeithistorischen Forschung wird seit Ende der 1990er Jahre den bisherigen Forschungsansätzen zu ›1968‹ als kurzfristiges und einschneidendes Ereignis der Entwurf der ›langen 60er Jahre‹ gegenübergestellt. ›1968‹ wird darin als eine Phase beschrieben, die in eine längere Transformationsperiode eingebettet ist, die sich ungefähr von 1958 bis 1973 erstreckt und in der sich Ende der 1960er Jahre verschiedene bereits in Gang gesetzte Entwicklungen verdichten und wechselseitig beschleunigen. Bei der zeitlichen Rahmung der ›langen 60er Jahre‹ wird auf die 48 Vgl. in diesem Zusammenhang exemplarisch Dannenberger 1998 und Wolfschlag 1998. 49 Schulz 1998b, S.256. 50 Vgl. Gilcher-Holtey 1998a, Zitate im programmatischen Titel des Bandes. 51 Vgl. Gilcher-Holtey 1998a, S.7, Zitat ebda. 52 Vgl. dazu den Beitrag von Rucht 1998 in demselben Sammelband. 53 Vgl. Kimmel 1998.

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zeitgleiche Prosperitätsphase der Bundesrepublik verwiesen, in der mit dem einsetzenden materiellen Wohlstand auch dynamische sozialökonomische und kulturelle Entwicklungen zu verzeichnen sind.54 Durch die Überwindung einer zeitlichen, sozialen und inhaltlichen Eingrenzung soll ein erweiterter Zugang zu den Ereignissen geschaffen und damit ›1968‹ einer Analyse zugänglich gemacht werden. Gleichzeitig verliert ›1968‹ über diesen erweiterten Blick seine prominente Position als Ursprungsereignis.55 In diesem Zusammenhang ist vor allem der Sammelband von Christina von Hodenberg und Detlef Siegfried ›Wo ›1968‹ liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik‹ zu nennen, in dem die Proteste Ende der 1960er Jahre in die ›langen 60er Jahre‹ eingeordnet werden. Hier werden der Anfang und das Ende der ›langen 60er Jahre‹ grob mit dem wirtschaftlichen Aufschwung (›Wirtschaftswunder‹) und der Energiekrise in den frühen 1970er Jahren gekennzeichnet. In den einzelnen Beiträgen werden verschiedene von Veränderungen betroffene Themenbereiche wie das Aufkommen der Massenmedien oder die sexuelle Liberalisierung in einem größeren zeitlichen Rahmen diskutiert und darüber hinaus auf bereits einsetzende Veränderungen seit der Nachkriegszeit verwiesen.56 Auch der Sammelband von Axel Schildt und Detlef Siegfried ›Between Marx und Coca-Cola‹ stellt die Ereignisse Ende der 1960er Jahre in einen größeren zeitlichen Rahmen, wobei die Autoren hier sogar den zeitlichen Endpunkt erst 1980 setzen. Siegfried stellt in seinem eigenen Beitrag dann die Studentenbewegung als die Zuspitzung von zwei Entwicklungen dar – die zunehmende Konsumorientierung und die ansteigende Politisierung in den ›langen 60er Jahren‹ –, die in einem Spannungsverhältnis zueinander gestanden und in der Studentenbewegung ein Ventil gefunden hätten.57 In seinem Band ›Time is on my side‹ widmet er sich dann ausführlich und differenziert den Jugendlichen in der Gesellschaft der 1960er Jahre, die er als die entscheidende Trägergruppe des gesellschaftlichen Wandels versteht, und fragt nach der Verbindung von Jugendkultur und politischer Oppositionsbewegung.58 Die These von den ›langen 60er Jahren‹, durch welche die ereignisgeschichtliche Charakterisierung von ›1968‹ und seine herausragende Bedeutung in der Geschichte der BRD in der jüngsten Forschung infrage gestellt wird, kann vor dem Hintergrund einer neuen Forschergeneration auch als »kritische Stellungnahme

54 Vgl. Hodenberg/Siegfried 2006 und auch Siegfried 2008. 55 Vgl. Siegfried 2008, S.13f. 56 Vgl. Hodenberg/Siegfried 2006. 57 Vgl. Schildt/Siegfried 2006, darin der Beitrag von Siegfried 2006; vgl. dazu auch Siegfried 2008b. 58 Vgl. Siegfried 2008.

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(…) zu der Deutungshegemonie akademischer Väter« verstanden werden.59 Es ist somit kein Zufall, dass vierzig Jahre nach den Protesten die Kritik der jüngeren Forscherinnen und Forscher an den bis dato erschienenen Publikationen sehr klar ausfällt und eine Hinwendung zur systematischen Aufarbeitung der Ereignisse erfolgt, die ›1968‹ zugleich viel von seiner ›Charismatik‹ nimmt. Während die Geschichtswissenschaft sich nun seit über zehn Jahren einer systematischen Analyse der Ereignisse Ende der 1960er Jahre widmet, nähert man sich aus bildungshistorischer Perspektive nur sehr langsam der Erforschung von ›1968‹ und der Studentenbewegung. In diesem Zusammenhang ist der Sammelband von Meike Sophia Baader aus dem Jahr 2008 ›Seid realistisch, verlangt das Unmögliche! Wie 1968 die Pädagogik bewegte‹ zu nennen. Der Fokus liegt hier auf Fragen zur Bedeutung von ›1968‹ für die praktische Pädagogik und die akademische Erziehungswissenschaft, die, wie Baader konstatiert, in der Forschung bisher kaum beachtet wurde.60 In diesem Band werden Themen wie die Entstehung der Kinderläden, die neue Sexualerziehung und die frühkindliche Erziehung behandelt und darüber hinaus nach der Bedeutung und dem Stellenwert pädagogischer Theoriebildung im Kontext der Kritischen Theorie gefragt. Die Beiträge zu Schule, Universität, Generationen, Geschlechtern und Familie thematisieren dann überwiegend zeitgenössische Debatten der 1960er Jahre; empirische Untersuchungen, die die Erziehungspraxis oder die konkrete Sozialisation im Kontext von ›1968‹ und den ›langen 60er Jahren‹ zum Gegenstand haben, sind – der Quellenlage geschuldet – erst in Ansätzen vorhanden, verweisen aber bereits auf den zu erwartenden großen Ertrag solcher Untersuchungen.61 2011 erscheint ein weiterer Sammelband, herausgegeben von Meike Sophia Baader und Ulrich Herrmann, mit dem Titel ›68 – Engagierte Jugend und Kritische Pädagogik. Impulse und Folgen eines Umbruchs in der Geschichte der Bundesrepublik‹. In diesem Band erfolgt eine kritische bildungsgeschichtliche Betrachtung von ›1968‹ und seiner bildungshistorischen Bedeutung für Transformationsprozesse in den dynamischen ›langen 1960er Jahren‹. Die zeitgeschichtliche Vorgehensweise, ›1968‹ in einen größeren Rahmen einzubetten, wird hier als Möglichkeit gesehen, die Entwicklungen der Nachkriegszeit, der 1950er und 1960er Jahre sowie der 1970er Jahre, für die Analyse von Fragen zu Erziehung, Bildung und Sozialisation um ›1968‹ zu nutzen. Der Sammelband gliedert sich in vier Bereiche: In den ersten drei Themenfeldern widmen sich die Autorinnen und Autoren zunächst den Trägergruppen – Schülerinnen/Schüler, Jugendliche und 59 Vgl. dazu die Erläuterung zur Forschungsdebatte der Studentenbewegung im Kontext der ›langen 1960er Jahre‹ im Aufsatz zu ›Universität, Generationenverhältnisse und Generationenkonflikte um ›68‹ bei Groppe 2011, S.133, Zitat ebda. 60 Vgl. Baader 2008a, S.7ff. 61 Vgl. Baader 2008a.

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Studierende – in ihren jeweiligen pädagogischen Institutionen und Organisationen. Thematisiert werden dabei unter anderem die Kinderladenbewegung, die Schülerbewegung sowie die Politisierung in Jugendzentren. Vorgestellt wird zudem ein Analyseansatz zur Erforschung der Universität als Ort generationeller Auseinandersetzungen. Der letzte Teil des Bandes widmet sich pädagogischen Reflexionen unter anderem zur Entstehung der Kritischen Pädagogik, der Kritischen Theorie und zur Rezeption der Psychoanalyse in der Erziehungswissenschaft.62 Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch die Analyse von Torsten GassBolm zur Geschichte des Gymnasiums (1956 bis 1980). Die Entwicklungen an den Gymnasien stellt er in einem Zusammenhang langfristiger gesellschaftlicher Veränderungen in den ›langen 1960er Jahren‹. In seiner Untersuchung zeichnet er die sich in diesen Jahren vollziehenden Demokratisierungs- und Liberalisierungstendenzen nach, die sich schließlich in den Lehrer-Schüler-Verhältnissen, der Unterrichtspraxis und den Lehrplänen der Gymnasien durchsetzen. Die Schülerbewegung ab Mitte der 1965 versteht er als einen Teil dieser Transformationsphase. Er analysiert die Kritik der Schülerinnen und Schüler an den autoritären Strukturen und die Forderungen nach Demokratisierung sowie die Reformbereitschaft der Lehrerinnen und Lehrer und auch der Behörden. Mit seiner Analyse und den Ergebnissen leistet er einen wichtigen Beitrag zur Schulgeschichte und liefert empirische Ergebnisse, die die These der ›langen 60er Jahre‹ stützen.63 Bis auf einzelne erziehungswissenschaftliche und bildungshistorische Beiträge wird allerdings bei der Betrachtung der bisherigen Forschungsliteratur zu ›1968‹ und zur Studentenbewegung deutlich, dass insbesondere empirische Untersuchungen fehlen, die explizit Fragen von Erziehung, Bildung und Sozialisation im Kontext von ›1968‹ thematisieren und dabei nach der Bedeutung der Institutionen fragen, sowohl hinsichtlich der Vorgeschichte von ›1968‹ – sozusagen in den ›langen 60er Jahren‹ – als auch im konkreten Ereigniszusammenhang. Es gibt bisher nur wenige Analysen, die die Lebenswelt als Sozialisationsraum, die Familienverhältnisse, die Erziehungsstile und -ziele, die gesellschaftlichen und privaten Geschlechter- und Generationsverhältnisse sowie die pädagogischen Institutionen betrachten. Insbesondere die Universitäten als Sozialisationsinstanzen, aber auch andere Sozialisationsräume sind dabei eine bildungshistorische Leerstelle der Forschung. Einen wichtigen Beitrag zur Erhellung der Rolle der Universität für die Studentenbewegung, am Beispiel der Länder Hessen und Bayern, bietet die umfangreiche und differenzierte Forschungsarbeit von Anne Rohstock. Sie analysiert unter Berücksichtigung der ›langen 60er Jahre‹ die Wechselwirkung zwischen den Hochschulreformen und den Studentenprotesten ›1968‹ und betrachtet dabei die hochschulpolitischen Debatten und Reformansätze sowie die entsprechenden Reaktionen 62 Vgl. Baader/Herrmann 2011. 63 Vgl. Gass-Bolm 2005.

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der Protagonistinnen und Protagonisten, wie Politikerinnen/Politiker, Professorinnen/Professoren und Studentinnen/Studenten. Mit ihrer Untersuchung erfasst sie insbesondere die institutionellen Rahmenbedingungen der Studentenproteste an den Universitäten und fragt zugleich nach Aktionen und Reaktionen der Protagonistinnen und Protagonisten. Insgesamt stellt sie damit die Wechselwirkung zwischen den politisch angestoßenen Hochschulreformen und den Protesten ›1968‹ in den Vordergrund ihrer Analyse. Dabei knüpft sie an bereits erschienene Studien zu Hochschulreformen und Studentenbewegung an, zieht aber einen umfangreichen und bemerkenswerten archivarischen Quellenkorpus heran, um so verschiedene Protagonistinnen und Protagonisten (Studentinnen/Studenten, Dozentinnen/ Dozenten, Hochschulverwaltung, Bildungspolitik) in den Blick nehmen zu können. Damit leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Analyse des Verhältnisses von Hochschulentwicklungen in den ›langen 60er Jahren‹ und der Studentenbewegung ›1968‹.64 Zu nennen ist auch die Arbeit von Boris Spix. Er widmet sich am Beispiel von sechs Universitäten in Berlin und Nordrhein-Westfalen dem politischen Verhalten von Studierenden, jedoch vor allem für die Zeit zwischen 1957 und 1967. Überraschenderweise endet seine Untersuchung noch vor der Hochphase der Studentenbewegung. Für seine Analyse zieht er unterschiedliche Quellenmaterialien heran, darunter zeitgenössische Dokumente wie Zeitschriften, Zeitungen und sogar Zeitzeugeninterviews mit ehemaligen Studierenden. Letztere werden allerdings nicht systematisch und methodisch reflektiert ausgewertet, sondern das Erzählte wird als Faktenwissen ergänzend hinzugezogen.65 In seiner Quellenbeschreibung bewertet er dieses Vorgehen selbst als problematisch, zieht aber letztlich daraus keine methodischen Konsequenzen. Das politische Verhalten der Studierenden beschreibt Spix zudem nur über die Analyse organisierter Studentengruppen anhand statistischer Daten. Somit bleibt seine Untersuchung, ähnlich wie die Arbeit von Anne Rohstock, eine struktur- und diskursgeschichtliche Analyse der Institution Universität, über die die Aktionen und Reaktionen der in ihr versammelten Protagonistinnen und Protagonisten dargestellt werden. An dieser Stelle lohnt es sich, einen Blick auf Studien und Forschungsbeiträge zu richten, die sich zwar nicht explizit mit dem Phänomen ›1968‹ und der Studentenbewegung beschäftigen, jedoch die Institution Universität und ihre Entwicklung von der Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre betrachten. Gemeinsam haben sie alle, dass sie sozialhistorisch vorgehen und die Strukturen der Institutionen und ihre Entwicklungen beschreiben, jedoch die Akteurinnen und Akteure nicht als Handelnde untersuchen. Dennoch leisten sie einen Beitrag zur Erhellung der Entwicklungen Ende der 1960er Jahre an den Universitäten, weil sie Auskunft über die 64 Vgl. Rohstock 2010. 65 Vgl. Spix 2008.

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Rahmenbedingungen geben, in denen Akteurinnen und Akteure handeln und Orientierungen entwickeln. Die Forschung, die sich der Universitätsgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts widmet; ist jedoch insgesamt sehr dünn.66 Diejenige Forschung, die aus universitätsgeschichtlicher Perspektive die Bildungs- und Hochschulreformen betrachtet, besteht insbesondere aus sozial- und strukturgeschichtlichen Analysen, die den Blick auf die nationalen und europäischen Entwicklungen des Bildungs- und Hochschulsystems richten.67 In den Beiträgen werden unter anderem Hochschulstrukturen in ihren Entwicklungen sowie Reformüberlegungen und -umsetzungen seit 1945 dargestellt. Die Frage nach der Verbindung der Studentenbewegung mit den Hochschulentwicklungen der 1960er Jahre wird hier nicht gestellt. So wird beispielsweise in dem ›Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte‹ aus sozialgeschichtlicher Perspektive die Studentenbewegung lediglich an einigen Stellen erwähnt und als Teil der ›1968‹er-Bewegung bewertet, der die Entwicklungen an den Hochschulen beeinflusste.68 Der im Jahr 2010 erschienene vierte Band zur ›Geschichte der Universität in Europa – Vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende des 20. Jahrhunderts‹ richtet seinen Blick auf die Strukturen des Universitätswesens in Europa, darunter die Entwicklung der Studentenschaft, die Zusammensetzung des Lehrpersonals sowie der Wandel einzelner Wissenschaftsdisziplinen. Problematisch erscheint in diesem Band insbesondere die schmale quellenbasierte Analyse. Bei dem Großteil der Autorinnen und Autoren handelt es sich um eine Generation von Professorinnen und Professoren, die rückblickend die Entwicklungen an den europäischen Hochschulen nachzeichnet,69 die sie überwiegend selbst miterlebt und mitgestaltet hat. Im Jahr 2012 erschien für die Universität Frankfurt am Main der zweite Band zur Universitätsgeschichte von Notker Hammerstein, der die Entwicklungen der Jahre 1945 bis 1972 betrachtet. Der Schwerpunkt wird hier einerseits auf die Ordinariate der einzelnen Fakultäten und Institute der Universität Frankfurt gelegt und andererseits die Hochschulpolitik des Landes sowie der Stadt Frankfurt beleuchtet. Die Geschichte der Studentinnen und Studenten der Universität Frankfurt und damit auch der Studentenproteste werden lediglich am Rande 66 Vgl. dazu Strobel 1994 und Bruch/Kaderas 2002. In beiden Sammelbänden widmen sich die Autorinnen und Autoren insbesondere der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; die zweite Hälfte bleibt insgesamt bis auf die unmittelbare Nachkriegszeit eher unterbelichtet. 67 Vgl. dazu exemplarisch Führ 1997 oder das Handbuch von Führ/Furck 1998 mit Beiträgen zur Entwicklung des Bildungssystems seit 1945, darin Oehler 1998 zur Hochschulentwicklung nach 1945; vgl. in diesem Zusammenhang das Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte herausgegeben von Lundgreen/Scheunemann/Schwibbe 2008 und auch Koch 2008 sowie Rüegg 2010 zur Geschichte der Universität in Europa. 68 Vgl. Führ/Furck 1998, S.17f. 69 Vgl. Rüegg 2010.

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erwähnt. Somit ist dieser voluminöse Band überwiegend eine Überblicksdarstellung der Personalstrukturen und der hochschulpolitischen Entwicklungen, ohne dass hier beispielsweise nach der Verbindung der Entwicklungen der Hochschul- und der Personalstruktur mit den Auseinandersetzungen Ende der 1960er Jahre zwischen den verschiedenen Universitätsmitgliedern gefragt wird.70 Das ›Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte Band VIII, Berufliche Schulen und Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland, 1949-2001‹ bietet vor allem einen Überblick über die strukturgeschichtliche Entwicklung des Bildungssystems ab 1945. Neben statistischen Daten zu den beiden Teilsystemen, der Allgemeinbildung und Berufsbildung, werden Strukturentwicklungen der Institutionen Schule und Hochschule präsentiert und die Frequenz von Schülerinnen/Schüler und Studentinnen/Studenten in diesen Institutionen, ihre Qualifikationen und Bildungsabschlüsse, erfasst und vorgestellt.71 Auch die Studierendenforschung, die insbesondere quantitative Erhebungen durchführt und somit Zahlen, Daten, Fakten beispielsweise zum Studienfachwahlverhalten, zur Studienzufriedenheit, zur ökonomischen und sozialen Lage der Studierenden bietet, ist an dieser Stelle zu nennen. Seit 1951 führt das Deutsche Studentenwerk alle drei Jahre Sozialerhebungen durch, die die Studierenden an den Universitäten betrachten und insbesondere ihre soziale Lage einschätzen.72 Die quantitative Erhebungsmethode wird jedoch in den letzten Jahren immer häufiger kritisiert. So moniert beispielsweise Barbara Friebertshäuser (2006) für die Studierendenforschung, dass es über quantitative Erhebungen hinaus notwendig ist, biographische Analysen durchzuführen, um soziale und politische Entwicklungen an den Hochschulen überhaupt sichtbar machen zu können: »In den großen Zahlenbergen, die alljährlich beispielsweise über Studentinnen und Studenten angehäuft werden, verschwindet das konkrete Leben des Einzelnen, wird abstrahiert zu einem Element einer statistischen Größenangabe und subsumiert in statistischen Angaben über repräsentative Stichproben«.73

Auch wenn in diesen sozial- und strukturgeschichtlichen Analysen ›1968‹ bzw. die Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre nicht explizit betrachtet werden, können diese für die Erforschung des Verhältnisses der Institution Universität zur Studen70 Vgl. Hammerstein 2012. 71 Vgl. Lundgreen/Scheunemann/Schwibbe 2008. 72 Vgl. dazu Friebertshäuser 2006, S.296; die Erhebungen erscheinen unter dem Titel ›Das soziale Bild der Studentenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks‹ und werden seit der 10. Auflage vom HIS HochschulInformations-System durchgeführt. 73 Friebertshäuser 2006, S.297.

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tenbewegung ›1968‹ herangezogen werden und die hier gebotenen Ergebnisse als bildungs-, erziehungs- und sozialisationsgeschichtliche Voraussetzungen und Folgen von ›1968‹ diskutiert werden. Sie geben beispielsweise Auskunft über die Rahmenbedingungen und Kontexte, in denen Sozialisationserfahrungen gemacht werden. Die politische Sozialisationsforschung widmet sich insbesondere den Instanzen politischer Sozialisation, darunter insbesondere der Familie, der Schule und der Peer-group, und fragt hierbei nach Sozialisationsbedingungen sowie Politisierungsprozessen ihrer Mitglieder.74 Politische Sozialisation an Hochschulen als Forschungsgegenstand wird innerhalb verschiedener sozialwissenschaftlicher Disziplinen erforscht. Eine Vielzahl der Studien – insbesondere aus der Studierendenforschung – widmet sich insbesondere dem, was als das Ergebnis politischer Sozialisation gefasst werden kann (politische Einstellungen, aktuelles politisches Engagement), und untersucht dabei die Mitglieder der Hochschule. In diesem Zusammenhang werden seit Jahrzehnten Umfragen sowohl für die gesamte Bundesrepublik, als auch für einzelne Universitäten oder Studienfächer durchgeführt.75 Befragungsinhalte sind dann unter anderem das politische Interesse, das Demokratieverständnis und die politische Selbsteinordnung.76 Die ersten umfangreichen Studien entstehen Ende der 1950er Jahre.77 Auch in den 1960er und 1970er Jahren gibt es größere Erhebungen, die sich den Studierenden und ihren politischen Einstellungen widmen. Darunter sind einerseits die Erhebungen der Meinungsforschungsinstitute78 zu nennen, wie beispielsweise des Instituts für Demoskopie in Allensbach und anderseits Forschungsgruppen, die sich insbesondere einzelnen Universitäten und ihren Studierenden zuwendeten.79 Diese Form der Untersuchung setzte ihren Weg bis in die Gegenwart fort. Die Forschung zur politischen Sozialisation in Hochschulen ist 74 Vgl. dazu die Sammelbände Claußen/Wasmund 1982 und Claußen/Geißler 1996; vgl. dazu auch das Sammelband zur Politischen Sozialisation an Hochschulen, herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung 1985. 75 Vgl. für einen Überblick über Ergebnisse empirischer Untersuchungen Bargel 1985; vgl. in diesem Zusammenhang auch Wellie 1996 zur Universität als Lebensraum und Arbeitsplatz; vgl. auch den Beitrag von Huber 1991 zur allgemeinen Sozialisation an der Hochschule. 76 Vgl. Wellie 1996, S.224. 77 Vgl. Habermas/Friedeburg/Oehler/Weltz 1961, die in ihrer Untersuchung Frankfurter Studierende in den Jahren 1957/58 befragten. 78 Vgl. Institut für Demoskopie 1967 und Institut für Demoskopie 1979. 79 Vgl. Friedeburg/Hörlemann/Hübner/Kadritzke/Ritsert/Schumm 1968 (Erhebung aus dem Jahr 1963, Berliner Studierende); vgl. Deichsel/Helfen/Laga/Laga/Tiemann/Wittern 1974 (Erhebung in den Jahren 1966 und 1968, Hamburger Studierende).

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daher stark funktional ausgerichtet und besteht vorwiegend aus quantitativen Untersuchungen80, die sich auch zum Ziel setzen, Grundlagen und Informationen für hochschulpolitische Entscheidungen zu liefern. Im Folgenden möchte ich den Blick insbesondere auf die bestehende Forschung richten, die eine geschlechterhistorische Betrachtung von ›1968‹ und der Studentenbewegung an der Universität vornimmt oder sich explizit Studentinnen widmet, um im Anschluss an aufgezeigte Forschungsdesiderate die Fragestellung meiner Untersuchung differenziert zu formulieren. Dass auch Studentinnen an den Protesten beteiligt waren, wird in Dokumentationen zu ›1968‹ deutlich, wie z. B. in den drei Bänden von Wolfgang Kraushaar81 oder auch in Dossiers zu ›1968‹ wie dem der Zeitschrift ›Emma‹ oder dem der ›Bundeszentrale für politische Bildung‹.82 In der Forschung zur Studentenbewegung gibt es dagegen nur wenige geschlechtsspezifische Analysen.83 In den vorliegenden Publikationen zur Studentenbewegung heißt es oft, dass die Studentinnen an der Universität und in den studentischen Gruppen benachteiligt behandelt worden seien und dann aufgrund einer Differenzerfahrung in geschlechtshomogenen Gruppen zusammen gekommen seien, um ›unter sich‹ politisch aktiv zu werden: »Die Studentenbewegung der sechziger Jahre verstand sich als emanzipatorisch und sozialrevolutionär, allerdings waren die weiblichen Studenten weitestgehend ausgeschlossen. Sie waren in den Augen der Kommilitonen gut genug zum Tippen und Verteilen von Flugblättern, aber wurden nicht für fähig erachtet, die Politik mitzubestimmen. (…) Helke Sander vom ›Aktionsrat zur Befreiung der Frauen‹ forderte auf der 23. SDS-Delegiertenkonferenz 1968 in Frankfurt, dass der Verband eine Zusammenarbeit nur erwarten könne, wenn der SDS (…) die spezifische Problematik der Frauen begreife. (…) Dies war der Beginn der Konstitution von Frauengruppen«.84

80 Vgl. dazu auch die Kritik von Wellie 1996, S.226ff. 81 Vgl. Kraushaar 1998a bis 1998c. 82 Vgl. Emma Mai/Juni 2008, S.74-101; vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, verfügbar unter: http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte-nach-1945/68er-bewegung/ (04.05.2012). 83 In diesem Zusammenhang sind die Arbeiten von Kristina Schulz zu nennen, die sich mit der Frage der Formierung der Neuen Frauenbewegung beschäftigt, vgl. Schulz 1998a, 1998b und 2002 und die Beiträge von Meike Sophia Baader, die insbesondere die Kinderladenbewegung in den Blick nimmt und beispielsweise in ihrem Aufsatz ›Das Private ist politisch. Der Alltag der Geschlechter, die Lebensformen und die Kinderfrage‹ die Forderungen und Ziele der Frauen ›1968‹ formuliert, vgl. Baader 2008b. 84 Metz-Göckel/Roloff/Schlüter 1989, S.20.

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Diese Erklärung erscheint auf den ersten Blick, insbesondere hinsichtlich der Kritiken und Forderungen, die Helke Sander formuliert, zutreffend. Eine solch enge Perspektive verschließt jedoch den Blick dafür, dass die Frauen an den Universitäten unterschiedliche Sozialisationserfahrungen machten und verschiedene Partizipationsmotive hatten. In den Publikationen zur Studentenbewegung werden die Anliegen der Frauen und ihr Weg in die Protestbewegung an den Universitäten jedoch keiner empirischen Untersuchung unterzogen. Es kann festgehalten werden, dass eine geschlechtergeschichtliche Analyse der Studentenbewegung bisher noch aussteht. So kritisiert Ute Kätzel im Vorwort ihrer biographischen Sammlungen zu Recht die bisherige Forschung zu ›1968‹: »Die Bewegung von ›1968‹ ist zwar in der Öffentlichkeit immer wieder ausführlich diskutiert worden. Doch der Anteil der Frauen wird dabei meistens verschwiegen. Die Debatte kreist um den ›Mythos 68‹, um intellektuelle Diskurse zur ›Kritischen Theorie‹, zur ›Frankfurter Schule‹ und um ‹68 als ›antiautoritäre Bewegung‹. Selbst diejenigen, die 1968 als Kulturrevolution bezeichnen, verlieren kein Wort über ihre wichtigsten Ergebnisse: Die Rolle der Frauen hat sich geändert und mit ihr die Gesellschaft als Ganzes«.85

Die wenigen Publikationen, die sich den protestierenden Akteurinnen widmen, sind vor allem Erinnerungsliteratur und biographische Darstellungen einzelner Akteurinnen der Protestbewegung. Zu nennen ist hier beispielsweise die biographische Sammlung der Historikerin und Soziologin Ute Kätzel, in der vierzehn lebensgeschichtliche Interviews mit Frauen wiedergegeben sind, die sich selbst als ›68erinnen‹ bezeichnen und retrospektiv auf ihre Partizipation an den Protesten ›1968‹ blicken.86 Auch in der eben genannten Zeitschrift ›Emma‹ aus dem Jahr 2008 stellen zum 40. Jubiläum von ›1968‹ die »68erinnen«, die sogenannten »Bräute der Revolution«, ihre Erfahrungen und Erinnerungen als Akteurinnen vor.87 Auch gibt es eher subjektive Analysen von ehemaligen Beteiligten, die rückblickend nicht nur ihre Geschichte erzählen, sondern in diesem Zusammenhang auch die Auseinandersetzungen Ende der 1960er Jahre interpretieren.88 Diejenige Forschung, die den Zusammenhang von Studentinnen und ›1968‹ in den Blick nimmt, konzentriert sich daher vor allem auf die Frage nach der Bedeutung von ›1968‹ für die Entstehung der Neuen Frauenbewegung ab den frühen 1970er Jahren. Die Jahre um 1967/68 bleiben unberücksichtigt und werden – wenn

85 Kätzel 2002, S.9. 86 Vgl. Kätzel 2002. 87 Vgl. Emma Mai/Juni 2008, S.74ff., Zitate ebda. 88 Vgl. exemplarisch Notz 1999 und Steffen 1998.

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überhaupt – als Vorphase der Neuen Frauenbewegung bewertet.89 In diesen Beiträgen wird vor allem auf der Diskursebene die neu erfahrene Perspektive der Frauen auf das Thema Geschlecht und Geschlechterverhältnisse betrachtet und in diesem Zusammenhang einzelne Ereignisse am Ende der 1960er Jahre als ›Wurzel‹ der Neuen Frauenbewegung benannt, wie beispielsweise die Gründung des ›Aktionsrats zur Befreiung der Frauen‹ in Berlin, der erste Kinderladen im Jahr 1967 in Frankfurt am Main, die Rede von Helke Sander im Namen des ›Aktionsrates zur Befreiung der Frau‹ auf der 23. Delegiertenkonferenz des SDS im September 1968 in Frankfurt oder die Flugblattaktion der Sozialistischen Frauen Frankfurts90 – später auch Frankfurter Weiberrat genannt – auf der 24. Delegiertenkonferenz des SDS im gleichen Monat.91 Damit verweist die Literatur auf die Gründung von geschlechtshomogenen (Arbeits-)Gruppen ab 1968, darunter die wohl bekannteste Gruppe, der ›Aktionsrat zur Befreiung der Frau‹ in Berlin, und die sogenannten Weiberräte an mehreren bundesdeutschen Universitäten. Auch in Frankfurt wird 1968 ein Weiberrat gegründet, der zunächst bei offiziellen Anlässen noch den Namen ›Sozialistische Frauen Frankfurts‹ trägt, wodurch die Nähe zum Sozialistischen Deutschen Studentenbund erkennbar werden soll.92 Einen Beitrag zur Erforschung der Proteste Ende der 1960er Jahre und der Frauenbewegung findet sich in den Publikationen von Kristina Schulz. Aus einer vergleichenden Perspektive heraus fragt sie explizit nach der Bedeutung der ›68‹erBewegung für die Formierung der Neuen Frauenbewegung. Hierbei vergleicht sie die Länder Frankreich und Deutschland. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1998 wählt sie als Ausgangspunkt ihrer Untersuchung die Mobilisierung von Frauen gegen das 89 Vgl. dazu Anders 1988, Schulz 2002, Schmidt-Harzbach 1988, Nave-Herz 1993, Frauenforschungs-, Frauenbildungs- und Fraueninformationszentrum e. V. 1990 und auch Heinrich Böll-Stiftung/Feministisches Institut 1999. Gleichzeitig wird in der Forschung zur Entstehung und Entwicklung der Frauenbewegung auch eine Systematisierung deutlich, in der einzelne Entwicklungsphasen der Neuen Frauenbewegung definiert werden. In diesen Phasen werden Unterschiede hinsichtlich Themen und Organisationsformen erkennbar; vgl. dazu Lenz 2004, die die Neue Frauenbewegung und ihre Entwicklung in folgende Phasen einteilt: Bewusstwerdungsphase- und Artikulationsphase (1968-1976), Phase der thematischen Differenzierung, Projektbildung und institutionelle Integration (19761988) und die Phase der Internationalisierung und Neuorientierung (1989-2000). 90 Die Gruppe ›Sozialistische Frauen Frankfurts‹ nannte sich auch Frankfurter Weiberrat. Die Bezeichnung Weiberrat wurde zunächst von den männlichen Studierenden genutzt und im Laufe der Auseinandersetzungen von den Frauen selbst verwendet; vgl. dazu die Ausführungen bei Anders 1988, S.11. 91 Vgl. dazu die Ausführungen bei Anders 1988, Schulz 2002, Nave-Herz 1993 und auch Schenk 1980. 92 Vgl. dazu die Ausführungen in Frankfurter Frauen 1975.

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herrschende Abtreibungsgesetz, das sie als »konstitutives Element« der Frauenbewegung bezeichnet, und fragt nach den Mobilisierungsvoraussetzungen der Kampagne gegen Abtreibung in der ›68‹er-Bewegung. Insbesondere in den Initiativen der Kinderläden und den Kommunen-Experimenten sieht sie Verbindungen zwischen ›1968‹ und der Formierung der Frauenbewegung. Sie kommt zu dem Schluss, dass erstens ein partieller »Transfer normativ-ideeller Elemente« wie die Frage nach der Selbstbestimmung von Frauen von der einen Bewegung auf die Nachfolgebewegung stattgefunden hat. Zweitens hebt sie hervor, dass »organisatorische Fähigkeiten«, die während der Studentenbewegung erworben wurden, in der Frauenbewegung fortgesetzt werden konnten, so dass es Kontinuitäten in den Aktionsund Organisationsformen gab. Drittens verweist sie darauf, dass bei der Mobilisierung der Abtreibungskampagne auf »Kommunikationsstrukturen« und bereits gebildete Netzwerke zurückgegriffen werden konnte.93 In ihrer umfangreichen Untersuchung aus dem Jahr 2002, in der sie die im Aufsatz bereits vorgestellten Analyseansätze und Thesen weiter vertieft, kommt sie zu dem Fazit, dass »die Formierung der Frauengruppen (…) sowohl auf der Ebene von Netzwerken als auch auf der Ebene der Deutungssysteme durch die 68er Bewegung geprägt [war]. Das Aufeinanderfolgen der beiden Bewegungen war daher kein Zufall«94. Auch wenn Schulz einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des Zusammenhangs der Proteste Ende der 1960er Jahre und der Entstehung der Neuen Frauenbewegung leistet, fragt auch sie nicht danach, über welche Erfahrungen die Frauen zu einem Engagement in der Studentenbewegung kommen und schließlich die Frauenbewegung initiieren. Der Großteil der Publikationen zum Verlauf und der Entwicklung der Neuen Frauenbewegung, die in diesem Zusammenhang auch Akteurinnen und ihre Erfahrungen und Motive betrachten, sind, wie bereits angedeutet, jedoch von ehemaligen Protagonistinnen selbst geschrieben. Im Rahmen der sich etablierenden Frauenforschung in den 1970er und 1980er Jahren machen sich die Frauen selbst zum Gegenstand der Forschung. Aber auch in den Jahren danach entstehen weiterhin Arbeiten, die von den Protagonistinnen selbst geschrieben sind. So beispielsweise der Aufsatz von Gisela Notz (1999) mit dem Titel ›Die Auswirkungen der Studentenbewegung auf die Frauenbewegung‹. Im zweiten Abschnitt ihres Aufsatzes beschreibt sie ihre Intention, die sie zum Schreiben veranlasste, wie folgt: »Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf die westdeutsche Frauenbewegung, die ich als ›Zeitzeugin‹ miterlebt habe. Ich hoffe, dass einige ›Stories‹, die ich erzählen werde, vor allem die jungen Menschen, die diese Zeit nur aus der Literatur kennen, interessiert«95. Ihre Darstellung beginnt sie klassischerweise nach einer kurzen Vorbemerkung mit der Beschreibung des ›Tomatenwurfs‹ auf der 23. Delegiertenkonferenz des Sozia93 Vgl. Schulz 1998b, S.267f., Zitate ebda. 94 Schulz 2002, S.105. 95 Notz 1999, S.105.

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listischen Deutschen Studentenbunds und zeichnet dann die Entwicklung der Aktivitäten einzelner Gruppierungen vor dem Hintergrund verschiedener Ereignisse und Themen der Frauen nach. Hierbei greift sie sowohl auf eigene Erfahrungen zurück als auch auf zeitgenössische Literatur. So zeigt sich das ›Zeitzeugenproblem‹ und damit ›das Problem der Befangenheit der Forscherin/des Forschers‹ nicht nur in der allgemeinen Forschung zu ›1968‹ und der Studentenbewegung, sondern auch in der Forschung zur Frauenbewegung. Ein Forschungsbereich, der sich explizit den Studentinnen in größeren historischen Zusammenhängen widmet, ist die im Rahmen der Frauenbewegung entstandene Frauenforschung. Seit den 1970er Jahren ist das Thema Frauen an deutschen Hochschulen immer wieder Gegenstand der Forschung geworden96. Dabei steht die Situation von Studentinnen und auch von weiblichen Lehrenden an Hochschulen im Vordergrund. So werden die Anfänge des Frauenstudiums anhand einzelner, zum Teil historischer Forschungsarbeiten, Ausstellungsprojekte97 und Kongresse98 unter Berücksichtigung einzelner Universitäten wie der Friedrich-Wilhelms Universität Berlin99, der Universität Tübingen100 und der Universität Würzburg101, rekonstruiert und die Situation der Frauen zum Teil anhand biographischer Informationen zu Einzelfällen dargestellt. Der Schwerpunkt liegt bei einigen Untersuchungen insbesondere in der Erfassung der Bedingungen an den Universitäten und der damit häufig verbundenen institutionellen Barrieren sowie des daraus entstandenen Kampfes der Frauen um Positionen und Themen in der Wissenschaft.102.Somit wird hier auf Diskursebene die Perspektive von Frauen auf das Thema Geschlecht und Geschlechterverhältnisse fokussiert. Die erzählten Lebensgeschichten der Frauen wurden besonders in der Anfangsphase der Frauenforschung, zum Teil aber auch noch bis heute, als Quellen zur Illustration von Ereignissen verwendet, ohne sie als 96 Vgl. exemplarisch Metz-Göckel 1979, Billotet-Hoffmann/Demes/Gebhardt-Benischke/ Metz-Göckel/Neber/Schlüter 1982, Bock/Braszeit/Schmerl 1983, Ecarius 1988 und Schlüter/Kuhn 1986. 97 Vgl. Bußmann 1993. 98 Vgl. Dickmann/Schöck-Quinteros 2002, die einen Tagungsberichtband zum Kongress ›100 Jahre Frauenstudium in Deutschland‹ mit unterschiedlichen Beiträgen der Kongressteilnehmer herausgaben. So ging es einerseits um die Darstellung des Frauenstudiums in den unterschiedlichen Fachgebieten wie der Sozial- und Kulturwissenschaften, der Medizin und den Naturwissenschaften (die anhand von ausgewählten Wissenschaftlerinnen jener Zeit dargestellt wurden). Andererseits wurde versucht, die studentische Perspektive mit Fragen nach dem persönlichen Erleben der Wissenschaft herauszuarbeiten. 99 Vgl. Jank 1990. 100 Vgl. Glaser 1992. 101 Vgl. Hessenauer 1998. 102 Vgl. exemplarisch Keller/Mischau 2002 und Lind 2004.

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zu analysierende Quellen zu verstehen und »nach den Bedingungen ihrer Produktion, insbesondere im Forschungsprozess selbst zu fragen«.103 Die Biographieforschung hielt nur langsam Einzug in die feministische Forschung, stellt jedoch mittlerweile einen wichtigen Bereich dar.104 Versteht man die Lebensgeschichten von Frauen als zu analysierendes Material, das mehr bietet als nur Selbstdeutungen und Interpretationen von Zeitzeuginnen, so können sie zur Erforschung von Sozialisations-, Erziehungs- und Bildungsprozessen von Akteurinnen hinzugezogen werden.105 Der Blick in die bestehende Forschung zu ›1968‹ und der Studentenbewegung, zur Universitätsgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert sowie zur Entstehung und Entwicklung der Neuen Frauenbewegung und Studentinnenforschung offenbart eine Reihe von Forschungsdesideraten. Insbesondere aus bildungshistorischer Perspektive gibt es bisher keine empirischen Untersuchungen, die nach den Sozialisations- und Erziehungserfahrungen der Akteurinnen fragen und Sozialisationsprozesse rekonstruieren, um aufzuzeigen, wie die Frauen – diese sogenannten ›1968erinnen‹ – sowohl zu ihrem allgemein politischen Engagement an den Universitäten Ende der 1960er Jahre kommen als schließlich auch Geschlecht zu einem Politikum machen. Welche Rolle dabei den Sozialisationsinstanzen, unter anderem der Familie, der Schule, der Peer-group und insbesondere der Universität als der bedeutsamste Ort politischer Auseinandersetzungen ›1968‹, bei der Herausbildung einer politischen Identität zugesprochen werden kann, ist noch zu erforschen. Die Rolle der Universität als Sozialisationsinstanz kann dabei am ehesten anhand von Fallrekonstruktionen aufgezeigt werden; politische Sozialisationsprozesse über die ›dicht beschriebenen‹ (Geertz 1983) und interpretierten Lebensgeschichten von Studentinnen, für die Geschlecht zu einem Politikum wird. So kann dem noch unklaren Bild der ›1968erinnen‹ sowie den Initiatorinnen der Neuen Frauenbewegung eine Kontur gegeben werden. Hier setzt meine Arbeit an.

103 Vgl. dazu die Kritik bei Dausien 2004, S.315, Zitat ebda. 104 Vgl. dazu Becker-Schmidt/Bilden 1991 und auch Dausien 2004 und Dausien 2006. 105 Vgl. zum Stellenwert von Interviews Kap. II.1.

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I.3

F ORSCHUNGSFRAGEN DER U NTERSUCHUNG

UND

AUFBAU

Bislang gibt es keine Untersuchungen, die akteursbezogen nach den Prozessen politischer Sozialisation106 von Frauen fragen, die sich als Studentinnen im Kontext der Studentenbewegung in einer Frauengruppe engagierten und Geschlecht zu einem Politikum machten. Diese Frauen forderten die Politisierung des Privaten und machten mit ihrer politischen Arbeit sowohl innerhalb als auch außerhalb der Universität die von ihnen wahrgenommene Unterdrückung von Mädchen und Frauen zu einem öffentlichen Thema. In der vorliegenden Untersuchung wird vor diesem Hintergrund zwei zentralen Fragen nachgegangen. Erstens: Wie kommt es biographisch dazu, dass sich einige Studentinnen an der Universität im Rahmen der Studentenproteste in Frauengruppen – dem Frankfurter Weiberrat und dem Frankfurter Frauenzentrum – zusammenschlossen, politischen Aktivitäten nachgingen und mit ihren Aktivitäten das Thema Geschlecht und die Geschlechterverhältnisse zu einem Politikum machten? Zweitens und daran anschließend: Welche Bedeutung hat die Universität als Ort politischer Sozialisation für diese Frauen? Im Sinne einer integrierten Sozial- und Kulturgeschichte107 wird einerseits in einer Kontextbeschreibung und -analyse die Lebenswelt der Frauen mit Rückgriff auf Ergebnisse zeithistorischer Forschung beschrieben und damit die Rahmenstrukturen über die Sozialisationsinstanzen Familie, Peer-group und Jugendorganisationen, Schule und Universität erfasst, in denen die Frauen aufwachsen und politisch sozialisiert werden (Kap. IV). Ohne die Kenntnis dieser Rahmenstrukturen sind viele der gezeigten Handlungsorientierungen nicht verständlich und auch nicht in ihrer Genese zu interpretieren. Über zehn biographisch-narrative Interviews mit ehemaligen Studentinnen der Frankfurter Universität, die Mitglied im Frankfurter Weiberrat und/oder Frankfurter Frauenzentrum waren, werden andererseits Handlungsorientierungen herausgearbeitet, die das politische und insbesondere auch das geschlechtspolitische Handeln dieser Frauen strukturieren. Die gezeigten Handlungsorientierungen sind das Ergebnis von Politisierungsprozessen, die sich in Interaktion mit den Sozialisationsinstanzen, Familie, Schule, Peer-group, Jugendorganisationen und Universität mit ihren Mitgliedern vollziehen. Ziel der Auswertung der Interviews, die nach der Dokumentarischen Methode erfolgt, ist eine mehrdimensionale sinngenetische Typenbildung.

106 Vgl. die Ausführungen zu ›Politische Sozialisation‹ im Theoriekapitel dieser Arbeit Kap. III.2. 107 Vgl. dazu Kap. II.

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Um die politische Sozialisation von Frauen analysieren und die Bedeutung der Universität für diese Frauen bestimmen zu können, waren folgende Fragen zentral: Welche politisch-relevanten oder explizit-politischen108 Sozialisationserfahrungen machen Frauen in Familie, Peer-groups, Jugendorganisationen, Schule und schließlich an der Universität? Mit welchen politisch-relevanten Sozialisationserfahrungen kommen diese Frauen an die Universität? Zeigen sie bereits vor dem Beginn des Studiums eine Sensibilität für politische Themen oder gar politische Handlungen im Jugendalter, beispielsweise während ihrer Peer-group Aktivitäten oder in der Schule? Unter welchen familiären Bedingungen wachsen sie auf? Wie nehmen sie die Universitätsstrukturen, die Studienbedingungen und die Geschlechterverhältnisse wahr? Wie erfahren sie ihre Handlungsmöglichkeiten an der Universität, die ihnen institutionell eingeräumt werden? Wie erleben sie die politischen geschlechtsheterogenen Studentengruppen und die Studentenproteste innerhalb und außerhalb der Universität Ende der 1960er Jahre? Was führt Frauen zu einem Engagement an den studentischen Protesten und schließlich zu einem Engagement in einer oder mehreren Frauengruppen, in denen sie Geschlecht zu einem Politikum machen? Welche Bedeutung hat dabei die Universität als Sozialisationsinstanz und Erfahrungsraum? Auf der Grundlage des Forschungsinteresses und der Forschungsfrage dieser Arbeit gestaltet sich das weitere Vorgehen der Untersuchung wie folgt: In Kapitel II wird der dieser Arbeit zugrunde liegende methodische Rahmen vorgestellt. Über Interviews mit Akteurinnen, die im Kontext der Studentenbewegung an der Universität eine geschlechtsspezifische Perspektive entwickeln und Geschlecht zu einem Politikum machen, sollen Sozialisationserfahrungen einer Analyse zugänglich gemacht werden. Als Erhebungsmethode ist das biographischnarrative Interview nach Fritz Schütze (1984) gewählt worden, dessen methodologische Grundannahmen und Nutzen für diese Untersuchung erläutert werden. Die Auswertung der erhobenen Interviews erfolgt mit der Dokumentarischen Methode, deren methodologische Ausgangsbasis und einzelne Analyseschritte, so wie sie in der vorliegenden Arbeit vollzogen werden, nachfolgend vorgestellt werden. Über die Lebensgeschichten können politisch-relevante und explizit-politische Orientierungen rekonstruiert werden, die das Handeln dieser Frauen strukturierten. Diese zu rekonstruierenden Handlungsorientierungen sind das Ergebnis kollektiver wie individueller Politisierungsprozesse.109 Angestrebt wird eine mehrdimensionale sinngenetische Typenbildung. Vor dem Hintergrund meines Forschungsinteresses, das den Voraussetzungen, Bedingungsgefügen und Verläufen von politischer Sozialisation, dabei insbesondere der Bedeutung der Universität als Ort politischer Sozialisation 108 Ausführlicher zu den Begriffen ›politisch-relevant‹ und ›explizit-politisch‹ vgl. Kap. III.2. 109 Zu dem Begriff ›Politisierung‹ vgl. Kap. III.2.

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in der 1968er-Zeit, gilt, erfolgt ergänzend zur qualitativen Rekonstruktion von Handlungsorientierungen über Interviews eine Kontextbeschreibung und -analyse, deren Bedeutung für die Untersuchung ebenfalls in Kapitel II erläutert wird. In Kapitel III wird der theoretische Rahmen dieser Untersuchung vorgestellt. Mit Blick auf die Forschungsfrage dieser Arbeit werden zunächst die theoretischen Grundlagen über die Theorieansätze zu den Komplexen Sozialisation, politische Sozialisation/Politisierung sowie politische Partizipation und Geschlecht bestimmt. Der Zugang zu diesen Begriffen wird über entsprechende theoretische Konzepte hergestellt und deren Erkenntniswert für die vorliegende Untersuchung erläutert. In einem weiteren Schritt wird die Sozialisationsinstanz Universität sowohl als Institution und Organisation diskutiert als auch als Erfahrungs- und Handlungsraum, in dem Prozesse politischer Sozialisation stattfinden können, erfasst. Kapitel IV widmet sich dann der Kontextbeschreibung und -analyse. In diesem Kapitel wird die Lebenswelt110, in der die interviewten Frauen aufwachsen und sozialisiert werden, mit Rückgriff auf bestehende Forschungsliteratur aus der bildungshistorischen und zeithistorischen Forschung rekonstruiert. Da die Lebenswelt alle Umweltbedingungen, denen Individuen und Kollektive unterliegen, umfasst111, wurden die Interviews bei der Auswahl der zu beschreibenden Kontexte herangezogen. Die in den Interviews dargestellten Sozialisationsinstanzen und Erfahrungsräume bildeten die Grundlage für die Kontextbeschreibung und -analyse. Die Lebenswelt der Frauen wird über die Sozialisationsinstanzen Familie, Schule, Peergroups/Jugendorganisationen und Universität unter Berücksichtigung der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Veränderungsprozesse ab der Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre beschrieben. Ziel ist dabei, eine möglichst ›dichte Beschreibung‹ zu erzeugen, die es nach Geertz (1983) erst möglich macht, »einen Zugang zur Gedankenwelt der von uns untersuchten Subjekte« zu finden, »so dass wir – in einem weiteren Sinn des Wortes – ein Gespräch mit ihnen führen können«112. In Kapitel V dieser Arbeit wird die mehrdimensionale sinngenetische Typenbildung, wie sie nach dem Auswertungsverfahren der Dokumentarischen Methode abstrahiert wurde, durchgeführt. Um dabei nicht nur der Frage nach den biographischen sozialisatorischen Zusammenhängen der Politisierung der interviewten Frauen, sondern auch der Frage nach der Bedeutung der Universität als politischer Erfahrungsraum und Sozialisationsinstanz nachgehen zu können, innerhalb derer politisch-relevante und explizit-politische Handlungsorientierungen in Interaktionen gezeigt werden, war es wichtig zu erfassen, mit welchen Sozialisationserfahrungen und politischen-relevanten und explizit-politischen Vorerfahrungen die Akteurinnen 110 Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. II.2. 111 Vgl. dazu die Ausführungen bei Groppe 2004, S.22. 112 Geertz 1983, S.35; auch bei Groppe 2004, S.38.

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ihr Studium an der Universität beginnen und welche sie an der Universität machen. Die Typenbildung gliedert sich somit in zwei Teile: Erstens wird rekonstruiert, welche politisch-relevanten und explizit-politischen Handlungsorientierungen in der voruniversitären Lebensphase gezeigt werden, um anschließend zweitens solche Handlungsorientierungen zu rekonstruieren, die das politische Handeln der Studentinnen an der Universität strukturieren und schließlich zur Entwicklung einer geschlechtsspezifischen Perspektive führen. Kapitel VI ist das letzte Kapitel dieser Arbeit. Hier werden die Ergebnisse der Typenbildung mit der Kontextbeschreibung und -analyse analytisch verknüpft und diese Ergebnisse im Hinblick auf die Frage nach der Bedeutung der Universität als Erfahrungsraum und Ort politischer Sozialisation in der 1968er-Zeit interpretiert. Die Gesamtergebnisse werden schließlich vor dem Hintergrund der bestehenden Forschung zur Bedeutung der Universität aus der Universitätsgeschichte, der Neuen Frauenbewegung, der Forschung zur Studentenbewegung und der Frage nach Grenzen und Möglichkeiten historischer Sozialisationsforschung diskutiert. Bevor der methodische Rahmen dieser Arbeit in Kapitel II erläutert wird, erfolgt in einem nächsten Schritt die Beschreibung und Begründung der Auswahl des Samples.

I.4

D AS S AMPLE

DER

U NTERSUCHUNG

Um der Frage nach der politischen Sozialisation von Frauen, die im Kontext der Studentenbewegung eine geschlechtsspezifische Perspektive entwickeln und Geschlecht zu einem Politikum machen, nachgehen zu können und dabei die Bedeutung der Universität als politischer Erfahrungsraum für diese Frauen erörtern zu können, musste bei der Zusammenstellung des Samples zweierlei berücksichtigt werden: Erstens mussten Frauen gefunden werden, die in der Phase der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre und der Entstehung der Neuen Frauenbewegung Studentinnen waren und für die Geschlecht zu einem Politikum wird. Um Aussagen über die Universität als politischen Erfahrungsraum machen zu können, war es zweitens wichtig, dass die universitären Rahmenbedingungen, unter denen diese Studentinnen politische Erfahrungen machten und politisch handelten, gleich konstituiert sind. I.4.1

Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main wurde vor allem deshalb als Fallbeispiel gewählt, da sie neben der Freien Universität Berlin einer der Hochburgen der Studentenbewegung war. Dieses resultiert daraus, dass nicht

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nur der Bundesvorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) seinen Sitz in Frankfurt hatte, sondern auch die Frankfurter Schule, die den theoretischen Rahmen der Studentenbewegung bildete, wenn auch zum Teil sehr spannungsvoll und kritikreich diskutiert.113 Hinzu kommen die städtischen Rahmenbedingungen, die Frankfurt zu einem Zentrum außeruniversitärer politischer Auseinandersetzungen macht, die jedoch in Teilen innerhalb der Universitäten ausgefochten wurden. Norbert Frei beschreibt Frankfurt am Main folgendermaßen: »Von dort gingen in diesen Jahren die wichtigsten theoretischen Impulse aus, aber auch eine Fülle praktischer Aktivitäten. Denn Frankfurt, das war die amerikanischste der deutschen Nachkriegsstädte, Hauptquartier der US-Truppen in Europa, Inbegriff des kapitalistischen Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders, Sitz einer starken Sozialdemokratie und einer selbstbewussten IG Metall, Ort einer großen jüdischen Vergangenheit, linkskatholischer Gegenwart (›Frankfurter Hefte‹), radikaldemokratischer Traditionen, wichtiger Verlage und einer ernstzunehmenden Presse. Frankfurt, das bedeutete satirische Frechheit (seit 1962 in Gestalt von ›Pardon‹) und intellektuellen Anspruch (seit 1963 ›neue Kritik‹, seit 1963 ›edition suhrkamp‹, seit 1965 ›Kursbuch‹), Modernität und Konsum, Lust auf das Neue und Bereitschaft zur Veränderung. Frankfurt in den sechziger Jahren war die verdichtete Wirklichkeit einer im Umbruch befindlichen Bundesrepublik«114.

Im Kontext der Studentenbewegung in Frankfurt und auch noch einige Jahre später gründeten sich an der Universität Frankfurt mehrere Frauengruppen – darunter in Abfolge zwei Frankfurter Weiberräte und schließlich das erste Frauenzentrum in Frankfurt –, deren Mitglieder eine geschlechtsspezifische Perspektive auf politische Themen entwickelten und über ihre politische Arbeit Geschlecht zu einem öffentlichen politischen Thema machten. I.4.2

Vom Frankfurter Weiberrat zum Frankfurter Frauenzentrum

Bei der Suche nach einem geeigneten Sample wurde zunächst der Kontakt zu Frauen der Frankfurter Weiberräte aufgenommen, denn es war davon auszugehen, dass für diese Frauen aufgrund ihrer Partizipation in einer geschlechtshomogenen Gruppe Geschlecht zu einem Politikum wird. Der erste Frankfurter Weiberrat, der im Wintersemester (WS) 1968 gegründet wurde, war eine informelle Gruppe, deren Inhalte, Ziele und Vorgehensweise zwischen der Gründung und der Auflösung stark variierten. Wie groß der erste Frank-

113 Vgl. hierzu die Ausführungen bei Kraushaar 1998a, S.13. 114 Frei 2008, S.94f.

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furter Weiberrat war, geht aus Dokumentationen nicht hervor. Die Zahl wird von ehemaligen Mitgliedern auf 50-100 Mitglieder geschätzt. In der Literatur wird als Motiv für die Gründung das Erkennen des Widerspruchs zwischen den politischen Forderungen und Theorien und dem diskriminierenden praktischen Verhalten der männlichen Kommilitonen an der Universität genannt.115 Frauen – insbesondere ehemalige SDS-Mitglieder – trafen sich unter Ausschluss ihrer männlichen Kommilitonen, um diverse politische Themen der Studentenbewegung autonom zu besprechen. Sie organisierten dabei eigene Protestaktionen oder den Anschluss an bereits geplante Aktionen anderer Frauengruppen. Der erste Frankfurter Weiberrat löste sich bereits einige Monate nach seiner Gründung wieder auf. Es waren interne Konflikte bezüglich der Vorgehensweise und der Inhalte, fehlende Resultate und persönliche Konflikte zwischen einzelnen Mitgliedern, die die Frauen spalteten. Erst 1970 kam es schließlich zu einer Neugründung des Frankfurter Weiberrats. Hier lag der Fokus der Arbeit zunächst in der Organisation und Durchführung von Schulungsgruppen, in denen Frauen unter anderem Texte von Simone de Beauvoir und Betty Friedan lasen, um so über die Analyseansätze ein kritisches Bewusstsein für den Themenkomplex Geschlecht und Geschlechterverhältnisse zu entwickeln. Aber auch philosophisch-politische Texte von Marx wurden im Kollektiv gelesen, um die Rolle der Frau in der Gesellschaft zu verstehen und darüber hinaus grundlegende Kenntnisse über die Struktur der Gesellschaft und die Möglichkeit ihrer »Umwälzung« zu erlangen.116 In einem Protokoll des Weiberrats im April 1971 hieß es: »Schulung soll [die] Einsicht vermitteln, dass politische Arbeit notwendig ist, sie soll uns die Kategorien lehren, mit denen wir die Situation am Arbeitsplatz analysieren können, soll auch den wissensmäßigen Abstand zwischen Männern und Frauen aufheben«117. Aber auch in diesem zweiten Weiberrat zeichneten sich bereits kurz nach der Neugründung verschiedene Interessengruppen mit sehr unterschiedlichen Beitrittsmotiven ab, die Konflikte und Diskussionen auslösten. Erst mit der Abtreibungskampagne gegen den § 218 im Jahr 1971, an dem der Weiberrat nach erster Zurückhaltung teilnahm, wird den Frauen des Weiberrats der praktische Zugang zu einer wichtigen Frauenfrage eröffnet. So heißt es selbstreflexiv: »Wir mussten als Gruppe nicht mehr ein bedeutungsloses Schattendasein führen, sondern waren jetzt Teil einer eigenen Bewegung: der Frauenbewegung! Endlich konnten wir den Genossen, die uns immer nur abfällig belächelt hatten, etwas Handfestes entgegenhalten«118. Trotz dieser gemeinsamen Kampagne, der sich viele Frauen anschlossen, gab es jedoch auch weiterhin unterschiedliche Vorstellungen über Ziele und Aufgaben des Frankfurter Weiberrats. Einige Frauen distanzierten sich 115 Vgl. hierzu Frankfurter Frauen 1975, Steffen 1998, S.130 und auch Dehnavi 2011. 116 Vgl. Frankfurter Frauen 1975, S.19f., Zitat ebda. 117 Frankfurter Frauen 1975, S.23. 118 Frankfurter Frauen 1975, S.39f.

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von den feministischen Zügen, die der Weiberrat annahm, und verließen ihn daher. Andere wiederum sahen eine Notwendigkeit des Ausbaus der praktischen Tätigkeiten. Im Jahr 1973 wurde dann von ein paar Mitgliedern des Weiberrats gemeinsam mit einer Stadtteil-Frauengruppe ein Frauenzentrum in Frankfurt eröffnet, in dem sich interessierte Frauen austauschen und eigene Projekte für und mit Frauen initiieren konnten.119 I.4.3

Datenerhebung

Der Kontakt zu der ersten Interviewpartnerin entstand über eigene Recherchen. Zunächst wurde explizit nach Frauen gesucht, die Mitglied im Frankfurter Weiberrat gewesen waren. Diese erste Suche stellte sich jedoch als schwierig dar, da es sich bei dem Frankfurter Weiberrat um eine informelle Gruppe handelte und daher Mitgliederlisten nicht zu Verfügung standen. Publikationen und Dokumente, an denen Mitglieder des Frankfurter Weiberrats mitgearbeitet oder in anderer Form beteiligt waren, enthielten vorwiegend die Vornamen der beteiligten Frauen. Dennoch konnten über diese erste Recherche die ersten Namen von beteiligten Frauen herausgearbeitet werden. Nun ging es darum, diese Frauen ausfindig zu machen und von der Teilnahme an dieser Untersuchung zu überzeugen, was sich jedoch als ebenso schwierig herausstellte. Aufgrund von Standortwechsel oder Namensänderung wegen Heirat war es nicht immer möglich, den Kontakt zu den recherchierten Personen herzustellen. Hinzu kam, dass einige der Frauen lediglich im Frankfurter Weiberrat mitwirkten, jedoch nicht an der Universität Frankfurt studierten. Andere Frauen wiederum lehnten ein Interview aus persönlichen Gründen ab. Zwei meiner Interviewpartnerinnen begegneten mir bei dieser ersten Recherche und waren bereit, mir ein Interview zu geben. Bei den Interviewanfragen wurde das Forschungsinteresse so weit wie möglich ausgeklammert. Die Frage nach der Beteiligung in einer Frauengruppe während des Studiums an der Universität Frankfurt konnte jedoch nicht weggelassen werden und musste aufgrund der Kriterien des Samples gestellt werden. Während der ersten beiden Interviews wurden von den interviewten Personen in den Erzählungen immer wieder Namen von anderen Mitgliedern genannt und in weiteren Gesprächen außerhalb der Interviewsituation potenzielle Interviewpartner empfohlen, die die weitere Suche nach Interviewpartnerinnen erleichterte. Darüber kam der Kontakt zu den anderen Interviewpartnerinnen zustande. Für die vorliegende Untersuchung wurden zunächst zwölf biographischnarrative Interviews mit Frauen durchgeführt, die Mitglied im Frankfurter Weiberrat waren, und schließlich um solche mit Frauen erweitert, die im Frankfurter Frau-

119 Vgl. dazu Frankfurter Frauen 1975.

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enzentrum aktiv waren. Gemeinsam haben sie alle, dass Geschlecht für sie zu einem politischen Thema wurde120 und dass sie Studentinnen der Universität Frankfurt waren. Nach der Erhebung der Interviews stellte sich heraus, dass zwei der Interviews nicht in die Untersuchung einbezogen werden konnten. Eine der beiden Personen studierte lediglich an der Fachhochschule Frankfurt und beendete bereits 1964 ihr Studium, was deutlich außerhalb der studentenbewegten Zeitphase liegt. Die zweite ausgeschlossene interviewte Person studierte zwar an der Universität Frankfurt, dies jedoch so kurz, dass in der Erzählung die Universität Frankfurt kaum Erwähnung fand. Daher wurden von den zwölf erhobenen biographisch-narrativen Interviews insgesamt zehn in die Auswertung einbezogen. Acht der zur Auswertung hinzugezogenen Interviewten waren unter anderem Mitglied im Frankfurter Weiberrat, zwei Interviewte beteiligten sich zunächst in anderen geschlechtshomogenen Gruppen und wurden schließlich im Frankfurter Frauenzentrum aktiv. Für diese zehn Frauen, die zwischen 1965 und 1972121 ein Studium an der Universität Frankfurt aufnahmen, wird Geschlecht zu einem Politikum. Alle Interviews fanden an Orten statt, die die Personen selbst aussuchen durften. Hierbei wurde von sieben Interviewpartnerinnen das eigene Zuhause gewählt und von drei die Büroräumlichkeiten. Insgesamt liegt ein knapp 16 Stunden umfassendes Interviewmaterial vor. Die Interviews wurden alle anonymisiert.

120 Ausführlich zur Wahl der Erhebungsmethode des biographisch-narrativen Interviews nach Schütze (1984) vgl. Kap. II.1. 121 Neun der Frauen nehmen ihr Studium zwischen 1965 und 1969 auf. Davon beginnen drei Frauen ihr Studium im Jahr 1965, somit vor der Hochphase der Studentenbewegung (1967-1969/70). Nur eine der Frauen beginnt ihr Studium erst im Jahr 1972, somit deutlich nach der Hochphase der Studentenbewegung. Diese beteiligt sich jedoch bereits in den Jahren vor der Aufnahme des Studiums an den studentischen Aktionen. Die Universität stellt für sie bereits vor ihrer ordentlichen Mitgliedschaft im Jahr 1972 einen Ort dar, an dem sie sich aufhält.

II. Methodischer Rahmen der Untersuchung

Die Erforschung von Sozialisations-, Erziehungs- und Bildungsprozessen in Institutionen ist in der Historischen Bildungsforschung, die Teil der Erziehungswissenschaft ist, ein klassisches Thema.1 Dabei bedient sich die Historische Bildungsforschung nicht nur der Paradigmen der Erziehungswissenschaft und der Geschichtswissenschaft, sondern auch der methodisch-theoretischen Grundlagen anderer Nachbardisziplinen wie der Soziologie oder der Psychologie. Es ist jedoch vor allem die Geschichtswissenschaft und speziell ihr lange Zeit dominanter sozialhistorischer Ansatz sowie die damit verknüpften theoretischen und methodischen Grundlagen, die auf die bildungshistorische Forschung bis vor kurzem maßgeblich eingewirkt hat. Daher verstand sich auch die Historische Bildungsforschung bis in die jüngste Zeit überwiegend als eine ›historische Sozialwissenschaft‹. Die bildungshistorische Forschung seit den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts widmete sich vor diesem Hintergrund hauptsächlich den institutionellen Orten von Erziehung und Bildung sowie ihren politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.2 Diese sozialhistorische Perspektive nimmt somit vor allem die gesellschaftlichen Bedingungen und somit Strukturen, Funktionen und Institutionen in den Blick, um historische Prozesse zu erklären. Die Erforschung von Sozialisation und der Entwicklung pädagogischer Institutionen erfolgte in den 1970er und 1980er Jahren daher insbesondere über statistische und soziologische Strukturanalysen. 3 Die jeweils klassen- oder schichtspezifische soziale Lage erschien in der sozialhistorischen Bildungsforschung als entscheidende, wenn nicht gar determinierende Bedingung der Persönlichkeitsentwicklung.4

1

Vgl. exemplarisch die Aufsätze in den Jahrbüchern für Historische Bildungsforschung, die seit 1993 jährlich erscheinen.

2

Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen bei Groppe 2004, S.21 und Tenorth

3

Vgl. exemplarisch die Untersuchung von Müller 1977.

4

Vgl. Groppe 2004, S.21 und Groppe 2009, S.101.

2010, S.140.

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Seit den 1990er Jahren ist die historische Bildungsforschung – ähnlich wie auch andere historische Disziplinen – von Diskussionen geprägt, in denen vor dem Hintergrund neuerer kulturgeschichtlicher Ansätze Grenzen und Möglichkeiten sozialund kulturhistorischer Zugänge thematisiert werden.5 Die kulturhistorische Perspektive hebt dabei die Bedeutung des historischen Akteurs und seiner Handlungen für die historischen Entwicklungen hervor. Während die Individuen bei einem sozialhistorischen Zugang als Agenten der vorgegebenen Strukturen verstanden werden, die die gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen für sich nutzen können oder ihre ›Opfer‹ sind, wird in der Kulturgeschichte auf eine stärkere Konzentration auf das Individuum, seine Handlungen, Praktiken und Sinngebungen verwiesen.6 Kultur wird in diesem Zusammenhang als ein »Gesamtkomplex von kollektiven Sinnkonstruktionen, Denkformen und Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen (…) [verstanden, der] (…) sich in Symbolsystemen materialisiert«7. Über individuelle und kollektive Handlungen, so der kulturhistorische Zugang, sei es erst möglich, die historische Realität, im Sinne der ›Bedeutung‹ von Ereignissen und Prozessen, zu erfassen.8 In dieser theoretischen Konzeption eröffnet also erst ein kulturhistorischer Zugang ein wirkliches ›Verständnis‹ der Geschichte. Dies impliziert wie schon angedeutet eine Verschiebung des Forschungsinteresses hin zu den Akteurinnen und Akteuren, um über deren symbolische Handlungen und Sinndeutungen ein Verständnis der Vergangenheit(en) zu erzeugen.9 Der Historiker Thomas Mergel hat sich in mehreren Publikationen intensiv mit den Vor- und Nachteilen sowie den theoretischen Voraussetzungen und Implikationen sozial- und kulturgeschichtlicher Ansätze befasst. In einer vermittelnden Position schlägt er schließlich als Lösung vor, »Geschichte als ›Handeln in Strukturen‹« zu verstehen und in einer »dichten Sozialgeschichte« zu realisieren.10 Überträgt man diesen Lösungsansatz auf die Forschungsperspektiven der Historischen Bildungsforschung, so kann man sehen, dass in der bildungshistorischen Forschung bereits seit längerem ein Ansatz existiert, der diese beiden Zugänge – Kultur- und Sozialgeschichte – aus Sicht der historischen Bildungsforschung zu integrieren versucht. In neueren Arbeiten11 wird mit Rückgriff auf interaktionistische sozialisationstheoretische Überlegungen darauf hingewiesen, dass die Rollen von Individuen in Gesellschaft und Institutionen nicht nur im Sinne einer bloßen Erfüllung gesell5

Vgl. dazu die Aufsätze von Mergel 1996 und auch Priem 2006.

6

Vgl. in diesem Zusammenhang Mergel 1996, S.58 und Groppe 2004, S.21.

7

Nünning 2001, S.355; auch bei Groppe 2004, S.23.

8

Vgl. Groppe 2012, S.170.

9

Vgl. zur Übersicht über die Auseinandersetzungen zwischen Kultur- und Sozialgeschichte in der Historischen Bildungsforschung Priem 2006; vgl. Groppe 2012, S.170.

10 Mergel 1996, S.57f., Zitate ebda. 11 Vgl. dazu exemplarisch die Arbeit von Groppe 2004.

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DER

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schaftlich vorgegebener Rollenerwartungen – so die ältere Sozialgeschichte – interpretiert werden sollten, sondern dass die Individuen selbst als Handelnde begriffen werden müssen, die ihre Rolle mitkonstruieren und damit latent oder manifest verändern.12 Handlungsentscheidungen erfolgen dabei allerdings unter strukturellen Bedingungen und in Interaktion mit der sozialen Umwelt. Sozialisationserfahrungen und Handlungsorientierungen gestalten das Rollenhandeln mit und können gleichzeitig unmittelbar oder mittelbar Institutionen und Erfahrungsräume beeinflussen.13 Strukturen und Akteure werden als »wechselseitig produziert und als durch Symbolsysteme miteinander vermittelt verstanden«14. Meine Untersuchung versteht sich als eine sozial- und kulturgeschichtlich integrierte Sozialisationsforschung.15 Der Arbeit wird im Sinne der oben stehenden Ausführungen zugrunde gelegt, dass sich Strukturen und Institutionen einerseits und das Handeln von Akteurinnen/Akteuren und Sinndeutungen andererseits wechselseitig bedingen.16 In der Erweiterung einer rein sozialgeschichtlichen Herangehensweise, die sich den Strukturen und ihren Bedingungen widmet und dabei Individuen und Gruppen analysiert, die in vorgegebenen Strukturen agieren, ist dann eine veränderte Perspektive auf die Handlungsmöglichkeiten der historischen Akteurinnen/Akteure notwendig. Wird Kultur dabei als ein Erfahrungs- und Deutungsrahmen verstanden, durch den Institutionen und Handlungen erklärbar gemacht werden, muss allerdings auch geklärt werden, unter welchen Bedingungen ›Kultur‹ entsteht. Denn Symbolsysteme und individuelle oder kollektive Handlungen entstehen wiederum historisch, sind also in einer Abhängigkeit zu den sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft zu sehen. Individuen werden in einer integrierten Sozial- und Kulturgeschichte also nicht »als Repräsentanten der sie umgebenden sozialen Bedingungen und Diskurse wahrgenommen (…), sondern als Akteure (…), die nicht gänzlich autonom, aber auch nicht vollständig determiniert sind«17, verstanden. Mit einer sozial- und kulturhistorisch integrierten Sozialisationsforschung ist es möglich, sich neuen historischen

12 Vgl. dazu Giddens 1988, S.113 und seine Ausführungen zum ›role making‹; vgl. in diesem Zusammenhang die theoretischen Überlegungen bei Grundmann 2006. 13 Vgl. Grundmann 2006, der Sozialisation als Interaktionsprozesse begreift; vgl. dazu auch Kap. III.1 dieser Arbeit. 14 Kluchert 2010, S.126. 15 Dafür gibt es in der Historischen Bildungsforschung bereits einige Konzepte und forschungspraktische Vorbilder, auf die für die vorliegende Arbeit zurückgegriffen wird: vgl. exemplarisch Groppe 2004 und Groppe 2009 und Kluchert 2006. 16 Vgl. Groppe 2009, S.101f. 17 Groppe 1997, S.11.

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Fragestellungen zu nähern und der Komplexität historischer Entwicklungen differenzierter gerecht zu werden.18 Mit einem solchen erweiterten Zugang eröffnen sich aber nicht nur neue Themen und Perspektiven. Auch biographische Quellen, insbesondere autobiographische Zeugnisse, erhalten eine besondere Bedeutung.19 Auch wenn in der historischen Forschung diese Quellengattung nicht unumstritten ist, ermöglicht sie doch »Entstehungsprozesse und -bedingungen von Identitäten«20 zu erfassen, die über andere Quellen nicht zu erschließen sind. Über die (historische) Biographieforschung kann ein Zugang zu den subjektiven Erfahrungen, den Handlungspraktiken sowie den Selbst- und Weltdeutungen von Akteurinnen/Akteuren hergestellt werden. Damit rückt »der Mensch im Kontext seiner historischen, gesellschaftlichen und sozialen Umwelt als deutendes und interpretierendes Wesen, das sich aktiv mit der Welt auseinandersetzt, (…) ins Zentrum des Interesses«21. In diesem Sinne wird aus sozialisationstheoretischer Perspektive von Interaktionsprozessen zwischen Individuen und ihrer sozialen Umwelt ausgegangen, die in einer dialektischen Beziehung zueinander stehen.22 Individuen oder Kollektive entwickeln über die Interaktion mit ihrer sozialen Welt (unter anderem Familie, Peer-group, Schule, Universität) sowohl ihre Persönlichkeit als auch strukturierte und strukturierende Handlungspraktiken.23 In der vorliegenden Arbeit geht es um die Rekonstruktion der Verarbeitung von Erlebnissen und Erfahrungen aus lebensgeschichtlicher Perspektive und im Austausch mit der sozialen Welt der Personen, mithin um Sozialisationsprozesse. Wie etwas verarbeitet wird, äußert sich in den spezifischen Einstellungen und Orientierungen (von Individuen und auch Kollektiven), die das Handeln strukturieren.24 Anhand der in Interviews geschilderten Erfahrungen und Handlungspraktiken von Mitgliedern des Frankfurter Weiberrats bzw. des Frankfurter Frauenzentrums wer18 Vgl. exemplarisch die Arbeit von Groppe 2004, die nicht nur für eine integrierte Sozialund Kulturgeschichte plädiert, sondern diese in einer familienbiographischen Arbeit exemplarisch umzusetzen versucht. 19 Zur ›Biographieforschung in der Historischen Pädagogik‹ vgl. Glaser/Schmid 1999; vgl. exemplarisch die Analyse von Kluchert 2006 zu ›Biographie und Institution‹ am Beispiel eines Gymnasiums und auch Gippert 2005, der biographische Daten, darunter lebensgeschichtliche Interviews, für seine Analyse heranzieht. Beide Arbeiten leisten einen sozialwie kulturhistorischen Beitrag zur historischen Sozialisationsforschung. 20 Kleinau 2004, S.290. 21 Friebertshäuser 2006, S.297. 22 Vgl. dazu Kap. III.1; hier wird das dieser Arbeit zugrunde liegende Verständnis von Sozialisation erläutert wird. Vgl. auch Groppe 2004, S.23ff. und Groppe 2012, S.170. 23 Vgl. Hurrelmann/Grundmann/Walper 2008, S.25. 24 Vgl. dazu Gestrich 1999 und auch Ecarius 2003, S.309.

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den politische Handlungsorientierungen und deren Genese rekonstruiert. Diese Handlungsorientierungen strukturierten das (geschlechter-)politische Handeln in der eigenen Lebenswelt (in Familie, Schule, Peer-group, jugendspezifischen Organisationen und Universität) und im Kontext politischer Ereignisse (Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre innerhalb und außerhalb der Universität). Vor dem Hintergrund dieser rekonstruierten Handlungsorientierungen wird dann in einem zweiten Schritt nach der Bedeutung der Sozialisationsinstanz und des Erfahrungsraumes Universität für die (geschlechtsspezifische) Politisierung dieser Frauen gefragt. Folgendes Vorgehen erscheint mir mit Blick auf mein Forschungsinteresse und meine Fragestellung sinnvoll: Der Zugang zu den Erfahrungen, Handlungspraktiken und -orientierungen der Frauen in ihren historisch-sozialen Kontexten wird über ihre Lebensgeschichten mithilfe des biographisch-narrativen Interviews nach Schütze (1986) hergestellt. Es ist insbesondere die dieser Erhebungsmethode zugrunde liegende Textsortentrennung, über die ein Zugang zu den in der Vergangenheit liegenden politischen Handlungsorientierungen der Frauen, die rückblickend ihre Lebensgeschichten erzählen, geschaffen werden kann. Dies werde ich im weiteren Verlauf dieses Kapitels in Abschnitt II.1 erläutern. Narrative Interviews können mit unterschiedlichen, in den Sozialwissenschaften etablierten Methoden wie beispielsweise mit der Objektiven Hermeneutik, z. B. bei Oevermann/Allert/ Konau/Krambach (1979) und Rosenthal (2011), oder mit der Narrationsstrukturanalyse wie bei Schütze (1983) und Riemann (2006) ausgewertet werden. In dieser Untersuchung wurde das Auswertungsverfahren nach der Dokumentarischen Methode gewählt. Denn über die in dieser Methode angestrebte mehrdimensionale Typenbildung ist es möglich, die kollektiv erfahrenen strukturellen Bedingungen, unter denen Handlungsorientierungen entwickelt werden, zu erfassen. Über das Auswertungsverfahren der Dokumentarischen Methode können die den Akteurinnen nicht reflexiv zur Verfügung stehenden handlungsleitenden Orientierungen rekonstruiert und eine fünfdimensionale Typologie abstrahiert werden (Kap. V).25 Sowohl die Erhebungsmethode des narrativ-biographischen Interviews als auch das Auswertungsverfahren der Dokumentarischen Methode, das sich bei der Interpretation der Interviews auf die erzähltheoretischen Grundlagen von Schütze stützt26 (Kap. II.1), haben sich als geeignete Vorgehensweisen erwiesen, um über empirisches Material, hier biographische Erzähltexte, einen bildungshistorischen Beitrag zur Erforschung von politischen Sozialisationsprozessen zu leisten. Vor dem Hintergrund, dass mein Forschungsinteresse insbesondere auch den institutionellen und nicht-institutionellen Voraussetzungen und Bedingungsgefügen gilt und damit auch den politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Rah25 Vgl. Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2007b, S.9. 26 Vgl. Nohl 2006a und auch Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2007b.

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menbedingungen unter Berücksichtigung ihrer historischen Entwicklungen, wird ergänzend ein dritter Schritt vollzogen: Es wird die ›Hinterbühne‹ der Ereignisse und Entwicklungen beschrieben. In dieser Kontextbeschreibung wird die Lebenswelt27 der Frauen, in die sie hineingeboren und in der sie sozialisiert werden, mit Rückgriff auf die aktuelle Forschungsliteratur der Zeitgeschichtsschreibung und unter Berücksichtigung des Erzählten in den Interviews rekonstruiert.28 Die in den Interviews beschriebenen Erfahrungsräume und Sozialisationsinstanzen bilden die Grundlage für die Auswahl der zu beschreibenden Sozialisationskontexte, in denen Erfahrungen gemacht und Handlungsorientierungen gezeigt werden. Denn die lebensgeschichtlichen Erzählungen geben konkreten Aufschluss über diejenigen Ausschnitte der Lebenswelt, in denen Erfahrungen gemacht werden und Handlungen erfolgen.29 Über die Darstellung der Strukturbedingungen werden die geschilderten, in der Vergangenheit liegenden Erfahrungen der Frauen erst verständlich. Daher wird die Kontextbeschreibung und -analyse (Kap. IV) der Interviewauswertung (Kap. V) vorangestellt. Nach einer differenzierten Auswertung der Interviews erfolgt im Hinblick auf die Frage nach der Bedeutung der Universität als politischem Erfahrungsraum und Sozialisationsinstanz, eine Verknüpfung der erarbeiteten kontrastierenden Typen mit der Kontextbeschreibung (Kap. VI.1-3). Es ist hervorzuheben, dass im Vergleich zu Einzelfallanalysen die Typenbildung nach der Dokumentarischen Methode die Basis für die Generierung eines Modells bietet. Die in dieser Untersuchung abstrahierten Typiken und Typen ermöglichen es, Aussagen über die Politisierung von geschlechtspolitisch aktiven Studentinnen einer bestimmten Alterskohorte zu treffen. Jedoch kann m. E. daraus kein Modell für die Politisierung von Frauen allgemein entwickelt werden. Es ist aber möglich, Aussagen über die Bedeutung der Universität als Ort politischer Sozialisation für die interviewten Frauen zu machen und aus diesen Ergebnissen Hypothesen und Fragestellungen für die Forschung zur Universitätsgeschichte, zur Neuen Frauenbewegung und zur Studentenbewegung ›1968‹ zu entwickeln (Kap. VI.4). Darüber hinaus werden die Erträge der Dokumentarischen Methode für eine zeithistorische Sozialisationsforschung dargestellt, da diese Methode bislang im Rahmen historischer Bildungsforschung noch nicht fruchtbar gemacht worden ist (Kap. VI.5).

27 Vgl. dazu die Definition von Groppe 2004, S.22: »Die Lebenswelt ist das Ensemble von Umweltbedingungen, in denen Gruppen und Individuen stehen« und umfasst die Strukturbedingungen (Herrschaftssystem, Ökonomie, Sozialstruktur) einer Gesellschaft. Dabei werden vom einzelnen Subjekt immer nur Ausschnitte davon erfahren. 28 Zur Bedeutung von Kontextanalysen vgl. Groppe 2004, S.22. 29 Vgl. Schütze 1984, S.99.

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Im Folgenden werden das narrativ-biographische Interview als Erhebungsmethode und die Dokumentarische Methode als Auswertungsmethode in ihren Grundannahmen und Analyseschritten erläutert. Schließlich wird der Nutzen der Kontextanalyse als ergänzender Schritt mit Blick auf mein Forschungsinteresse und meine Forschungsfragen erklärt.

II.1

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BIOGRAPHISCH - NARRATIVE I NTERVIEW

Interviews sind in der qualitativen Sozialforschung eine gängige Methode der Datenerhebung. Unterschiedliche Interviewarten, die nach Forschungsinteresse und ziel ausgewählt werden, eröffnen verschiedene Möglichkeiten, Informationen über Einstellungen, Erfahrungen, Motive und Orientierungen von Akteurinnen und Akteuren zu erhalten. Die Form der Interviews reicht von Experten- und Leitfadeninterviews (strukturierte Interviews mit einem Leitfragenkatalog), über problemzentrierte Interviews (teilstrukturierte Fragen) bis hin zu biographischen Interviews (offene Erzählaufforderung), denen allen gemeinsam ist, dass sie – im Vergleich zu standardisierten Interviews – den Interviewten keine Vorgaben machen, was genau sie antworten sollen.30 Für Interviews gilt grundsätzlich, dass das in den Interviews Erzählte immer eine Konstruktion des Erzählenden ist und somit nicht das ›wirkliche Geschehen‹ widerspiegelt. So kann anhand von Interviews nicht auf in der Vergangenheit liegende »faktische Geschehensabläufe« zurückgegriffen werden, »wohl aber auf die von den befragten Personen erzählte Erfahrung mit diesen Geschehensabläufen«.31 Untersuchungen, die mithilfe von Interviews einen Zugang zu Erfahrungen mit Geschehensabläufen herstellen, sind im engeren Sinne auch immer historische Analysen, da sie ein Interesse an den in der Vergangenheit liegenden Erfahrungen haben. Für die vorliegende Untersuchung, in der nach Politisierungsprozessen von denjenigen Frauen gefragt wird, die als Studentinnen vor etwa vierzig Jahren im Kontext der Studentenbewegung in einer geschlechtshomogenen politischen Gruppe aktiv waren, wurde die Methode des biographisch-narrativen Interviews nach Fritz Schütze (1983) zur Datenerhebung ausgewählt.32 Bei dieser Erhebungsform wird

30 Vgl. Friebertshäuser 2003; Hopf 2005 und Nohl 2006a, S.19ff. 31 Nohl 2006a, S.29, Zitate ebda. 32 Den Ursprung hat das biographisch-narrative Interview im so bezeichneten »narrativen Interview«, das Schütze in den 1970er Jahren im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Universität Bielefeld entwickelte, vgl. Schütze 1976. Während er zu Beginn seiner Untersuchungen themenzentrierte narrative Interviews durchführte und die Überlegungen

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grundsätzlich davon ausgegangen, dass es über das biographisch-narrative Interview und die darüber erhaltenen Narrationen möglich ist, eine enge Verbindung zwischen der aktuellen Kommunikation und dem vergangenen impliziten Wissen sowie den daraus entstandenen Handlungsorientierungen des Erzählenden herzustellen.33 Bedeutend ist hierbei die von Fritz Schütze vorgenommene Unterscheidung zwischen drei im Interview unterscheidbaren Textsorten: Erzählung, Beschreibung und Argumentation.34 Es ist insbesondere die Textsorte Erzählung, über die die Forscherin/der Forscher einen Zugang zu dem nicht reflexiv zur Verfügung stehenden und damit impliziten Wissen und den Handlungsorientierungen erhalten kann. Erzählungen sind dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen Erlebnisse, Handlungspraktiken und Erfahrungen und ihr Verlauf in einer Abfolge geschildert werden, ohne dass ein konkretes ›Ziel‹ damit verbunden ist. Sie beziehen sich auf in der Vergangenheit liegende Ereignisse, die an »eine bestimmte Zeit, einen bestimmten Ort und an eine bestimmte Person« gebunden sind.35 Sie haben einen Anfang und ein Ende. Über die Erzählungen hinaus enthalten biographische Darstellungen der Interviewten zudem Beschreibungen und Argumentationen.36 In Beschreibungen werden immer wieder erlebte Ereignisse und wiederkehrende Handlungsabläufe oder Sachverhalte (wie beispielsweise ein Zimmer oder ein Bild) komprimiert geschildert. Argumentationen sind vor allem die Textpassagen, in denen die Interviewte reflexiv Stellung zum Erlebten nimmt und Motive sowie vorausgegangene Überlegungen erläutert.37 Eine Analyse des Erzählten mithilfe der beschriebenen Textsortentrennung ermöglicht es somit, die Textstellen zu erkennen, die nahe an den jeweiligen lebensgeschichtlichen Erfahrungen der Frauen liegen und einen Einblick in die Erfahrungsausrichtung und Haltung der Erzählenden geben (Erzählungen).38 Zudem ist eine Differenzierung zu denjenigen Textstellen möglich, die an den Vorstellungen und Einstellungen der Erzählenden im Hier und Jetzt gebunden sind (Argumentationen).39 Ralf Bohnsack formuliert das Ziel der Erzählanalyse wie folgt:

zur Erhebung und Auswertung entsprechend auch formulierte, entwickelte er sein Erhebungsverfahren später weiter, indem er es biographisch ausrichtete und ihm methodologische Überlegungen beifügte. 33 Vgl. Küsters 2009, S.23; vgl. als Überblicksliteratur zu narrativen Interviews auch Jakob 2003. 34 Vgl. dazu die Ausführungen bei Kallmeyer/Schütze 1977. 35 Vgl. Rosenthal 2011, S.153, Zitat ebda. 36 Vgl. Kallmeyer/Schütze 1977. 37 Vgl. dazu Nohl 2006a, S.27. 38 Vgl. Nohl 2006b, S.21. 39 Vgl. Rosenthal 2011, S.153.

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»Dabei ist (…) Ziel der Erzählanalyse des narrativen Interviews, zu den Orientierungsstrukturen vergangenen Handelns und Erleidens vorzudringen, also zu jener mit (auch weit zurückliegendem) biographischem Handeln unmittelbar verbundenen Erfahrung, welche von der zum Zeitpunkt der Erzählung sich vollziehenden Erfahrungsrekapitulation zwar überformt ist (…), diese Überformung aber (vor allem aufgrund der Ausdifferenzierung von Erzähl- und Argumentationsschema) als solche erkennbar bleibt«40.

Über die Textsorte Erzählungen ist es somit möglich, frühere Orientierungen der Frauen herauszuarbeiten und sie von Orientierungen zur Zeit des Interviews abzugrenzen, die in den reflexiven Argumentationen und Bewertungen deutlich werden. Aufgrund des Forschungsinteresses an den Sozialisationserfahrungen und -prozessen der interviewten Frauen war es besonders wichtig, ein Datenmaterial zu erhalten, das durch längere Erzählungen bestimmt ist und in dem die Interviewten ihre Erfahrungen und ihre Lebensgeschichte selbstbestimmt und zunächst ohne Interventionen des Interviewers schildern. Ein Erzählstimulus, der zu Beginn des Interviews biographisch formuliert wird, animiert dann die interviewten Personen zu einer Stegreiferzählung.41 In einer längeren Erzählphase wird in Interaktion mit dem Gegenüber über selbsterlebte Erfahrungen erzählt. Bei dieser Stegreiferzählung unterliegt die Interviewte nach Kallmeyer/Schütze (1977) aufgrund der Aufforderung, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, drei Zugzwängen. Diese bewegen sie dazu, ihre Erlebnisse erstens so detailliert wie möglich und zweitens so komplett wie möglich wiederzugeben sowie drittens die für sie relevantesten Punkte ihrer Lebensgeschichte aufzuzählen.42 In dieser längeren Erzählphase ist die Interviewte in die Dynamik eines Erzählvorgangs eingebunden und muss sich »auf die Reproduktion bereits abgearbeiteter (und in ihrer Selbsterfahrung und Selbstkonstitution verankerter) sowie theoretisch-reflexiv wenig überformter Erfahrungen einlassen«43. Über einen Stegreiferzählvorgang, der nach Schütze nach den vorhergehend geschilderten theoretischen Überlegungen sehr nahe an den Erfahrungen der Erzäh-

40 Bohnsack 2008, S.102f., im Original hervorgehoben. 41 Die Voraussetzung für eine Stegreiferzählung ist nach Schütze, »daß der Informant (…) keine systematische Ausarbeitung der Erzählthematik vorzunehmen vermochte, die Formulierungen kalkulieren oder gar schriftlich abzirkeln und dann für die Präsentation einüben konnte«, Schütze 1987, S.237; vgl. hierzu auch die Ausführung zur Datenerhebung für die vorliegende Untersuchung in Kap. I.4.3. 42 Nach Kallmeyer/Schütze 1977 sind die drei Zugzwänge somit der ›Detaillierungszwang‹, der ›Gestaltschließungszwang‹ und der ›Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang‹. 43 Bohnsack 2008, S.93.

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lenden liegt, kann die »in die Gegenwart transformierte Erfahrungsaufschichtung durch die Dynamik des Erzählvorgangs wieder verflüssigt werden«44. In einem biographisch-narrativen Interview werden idealtypisch drei Schritte vollzogen45, die ich konkret an den von mir durchgeführten Erhebungen explizieren möchte: In der Erhebungssituation wurden die zu interviewenden Frauen zunächst über eine erzählgenerierende Eingangsfrage aufgefordert, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. In meinen Interview wurde folgende Eingangsfrage gestellt: »Ich bin an Ihrer Biographie interessiert. Bitte erzählen Sie mir Ihre Lebensgeschichte«. Die Erzählenden erhielten bei der Aufforderung der Interviewerin zur Stegreiferzählung keinerlei Vorgaben für die Antworten und waren somit frei in der Formulierung der eigenen Lebensgeschichte. Damit wurde den Interviewten bewusst die Möglichkeit gegeben, ihre Geschichte nach eigenem Ermessen und eigenen Relevanzen zu strukturieren. Dabei rekonstruierte die Erzählerin ihr Erlebtes und stellte dieses in einen lebensgeschichtlichen Kontext. In dieser Hauptphase der Interviews war der Anteil der Textsorte ›Erzählung‹, in der die Interviewten den Zugzwängen folgten, hoch. Dennoch gab es während der Erzählungen auch argumentative Hintergrundkonstruktionen. Sie wurden in der Auswertung als solche identifiziert und entsprechend gewichtet, da bei argumentativen Hintergrundkonstruktionen das Erzählte häufig durch die Erzählzeit überformt ist.46 Nach dieser längeren Erzählphase, die von den interviewten Frauen selbst beendet wurde, folgte ein immanenter Frageteil. Hier wurde nach Fritz Schütze das sogenannte »tangentielle Erzählpotential«47 ausgeschöpft. D. h. es wurde über eine immanente Frage ein Erzählstimulus erzeugt, der die Erzählerin nun dazu veranlasste, über die Erfahrungen und Erlebnisse zu berichten, die aufgrund unterschiedlicher Gründe (z. B. ein schmerzhaftes Erinnern oder thematische Überschneidungen im Erzählfluss) zunächst ausgelassen worden waren. Eine Frage zum immanenten Nachfrageteil war in meinen Interviews beispielsweise: »Sie erzählten bereits etwas über die Situation in xy. Können Sie sich noch daran erinnern, wie es genau war?«. Im letzten Abschnitt, dem exmanenten Frageteil, wurden Fragen zu Themen gestellt, die bisher vom Interviewten nicht erwähnt worden waren, die jedoch für die Untersuchung von Bedeutung waren, so beispielsweise Fragen zu Handlungen, zu konkreten Orten und Umständen. Die Interviewten gaben hier insbesondere Informationen über die Gründe und Motive des Handelns.48 Im exmanenten Teil des Interviews wurden schließlich auch Argumentationsfragen gestellt, in denen die interviewten Frauen die Gründe ihres 44 Glinka 1998, S.9. 45 Zu den Prinzipien und zur Technik narrativer Gesprächsführung vgl. Schütze 1987, Nohl 2006a und Rosenthal 2011. 46 Vgl. Nohl 2006a, S.30. 47 Schütze 1983, S.285. 48 Vgl. Nohl 2006a.

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Handelns schilderten und die Ereignisse von ›1968‹ rückblickend zu interpretieren versuchten. Diese wurden jedoch bei der Auswertung der Interviews nicht herangezogen, sondern dienten dem ergänzenden Verständnis der Ereignisse auf Seiten der Interviewerin. Gleichzeitig erzeugten auch die Argumentationsfragen immer wieder Erzählungen, die dann in die Interviewauswertung aufgenommen wurden. Die geschilderte Erhebungsmethode stellt für diese Untersuchung eine angemessene Datenerhebungsform dar, weil in Abgrenzung zu Frage-Antwort-Dialogen zwischen Interviewer und Interviewten eine längere Erzählphase angestrebt wird.49 Bei Frage-Antwort-Dialogen sind die Antworten der Interviewten stärker strukturiert, da die Interviewten die Themen ihrer Erzählung nicht frei wählen können und sich nach dem vorgegebenen Forschungsinteresse des Interviewers richten müssen. Insbesondere bei zeitlich kürzeren Frage-Antwort-Dialogen wird nur ein Zugang zum expliziten und kommunikativen Wissen der Akteurinnen hergestellt. In biographisch-narrativen Interviews – zumindest in der ersten längeren Erzählphase und prinzipiell auch danach – sind die Interviewten frei, ihre Erzählungen selbst zu gestalten. Anhand dieser Form der Erhebung ist es möglich Erzählpassagen zu erhalten, bei denen der Anteil an Erzählungen relativ hoch ist. Über diese Erzählungen wird der Zugang zu dem impliziten Wissen und zu handlungsstrukturierenden Orientierungen hergestellt, die das (geschlechter-)politische Handeln der interviewten Frauen angeleitet haben. Die handlungsstrukturierenden Orientierungen dokumentieren sich, wie im Folgenden in der Darstellung der Dokumentarischen Methode erläutert wird, in der Schilderung vergangener Sozialisationserfahrungen und -prozesse. Diese können über die Erzählpassagen und die beschreibenden Passagen der Interviews einer Analyse zugänglich gemacht werden. Denn schließlich geht es in der Untersuchung nicht um die Herausarbeitung des faktischen Wissens der interviewten Frauen als Zeitzeuginnen oder um die Illustration von historischen Entwicklungen und Ereignissen,50 sondern um die analytische Erfassung der Genese von Handlungsorientierungen bei den Interviewten und um die daraus ableitbare 49 Mittlerweile existiert eine sehr umfangreiche Auswahl an Publikationen zur Erhebungsmethode des narrativen Interviews sowie entsprechenden Ansätzen zur Auswertung von narrativen Interviews, die sich hinsichtlich ihres Vorgehens und den einzelnen Auswertungsschritten unterscheiden; vgl. unter anderem Schütze 1983, Schütze 1984 und Schütze 1987; vgl. dazu auch Rosenthal 2011; Überblick über Interviewtechniken bei Friebertshäuser 2003; zum problemzentrierten Interview Witzel 1982; Experteninterviews bei Bogner/Littig/Menz 2002; Überblick über Auswertungsmethoden der qualitativen Forschung bei Flick 1996 und auch Friebertshäuser/Prengel 2003. 50 Vgl. dazu den Forschungstand dieser Arbeit (Kap. I.2) und den exemplarisch aufgezeigten Umgang mit Erinnerungsliteratur oder biographischen Erzählungen in Publikationen zu ›1968‹, der Studentenbewegung und der Neuen Frauenbewegung.

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Bedeutung von Sozialisationsinstanzen, insbesondere der Universität, für die Interviewten. Nach den Interviews lag mir somit ein Datenmaterial vor, das zu einem großen Teil aus Erzählungen und Beschreibungen bestand. Über eine Erzählanalyse der transkribierten Texte im Anschluss an die Interviews war es möglich, eine Trennung nach Textsorten vorzunehmen und somit die Textteile mit einer hohen narrativen Dichte für die Interpretation erkennbar zu machen. Die Interviews wurden im Anschluss an die Datenerhebung mithilfe der Dokumentarischen Methode ausgewertet. Sie wird im folgenden Kapitel vorgestellt.

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Die Dokumentarische Methode, die Ralf Bohnsack unter Mitarbeit von Forscherinnen und Forscher seit den 1980er Jahren zu einer empirischen Auswertungsmethode entwickelt hat, zählt mittlerweile zu einer der wichtigsten und theoretisch sowie methodologisch fundiertesten qualitativen Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft.51 Zur Methodologie der Dokumentarischen Methode gibt es mittlerweile eine große Anzahl von Publikationen, die die Methode und ihre Verwendung vorstellen und diskutieren und sie zudem auch forschungspraktisch konkret anwenden. Innerhalb der Erziehungs- und Sozialwissenschaft hat sich die Methode mittlerweile in verschiedenen Themen- und Forschungsfeldern etabliert wie beispielsweise in der Kindheits- und Jugendforschung, Geschlechterforschung oder Organisationskulturforschung – um hier nur einige zu nennen.52 Im folgenden Abschnitt werden die methodologischen Grundannahmen der Dokumentarischen Methode erläutert und im Anschluss daran die einzelnen vorgesehenen Analyseschritte in der Reihenfolge vorgestellt, wie sie in der vorliegenden Untersuchung vollzogen wurden. Die Dokumentarische Methode steht in der Tradition der Wissenssoziologie nach Karl Mannheim und der Ethnomethodologie Harold Garfinkels und ist als Auswertungsverfahren zunächst für Gruppendiskussionen konzipiert und später auch für Bildinterpretationen und Auswertungen narrativer Interviews erweitert worden.53 Die Methode zielt auf die Rekonstruktion von Handlungs- und Lebensorientierun-

51 Vgl. Friebertshäuser/Langer/Prengel 2010. Überblick über unterschiedliche Auswertungsmethoden und -konzepte bei Marotzki 2006, S.119ff. 52 Vgl. Nohl 2006a, Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2007a und Bohnsack 2008; ein Überblick über bisherige Forschungsarbeiten findet sich bei Bohnsack 2008, S.31. 53 Vgl. dazu Bohnsack 2008 und Nohl 2006a.

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gen. Dabei stützt sie sich bei der Interpretation der Interviews auf die erzähltheoretischen Grundlagen von Fritz Schütze.54 »Die Dokumentarische Methode kann an die Textsortentrennung mit ihrer Unterscheidung zwischen argumentativ angeführten Handlungsmotiven einerseits und der Erzählung und Beschreibung unmittelbarer Handlungsabläufe andererseits anschließen und sie grundlagentheoretisch erfassen.«55

So wird grundlegend davon ausgegangen, dass das im Interview Erzählte zwei Sinnebenen hat: Beim ›immanenten Sinngehalt‹ geht es um das, was inhaltlich bewusst gesagt und ausgesprochen wird – nach Mannheim auch ›Objektsinn‹ oder ›intentionaler Ausdrucksinn‹ genannt; der ›dokumentarische Sinngehalt‹ meint das Implizite des Gesagten, d. h. wie ein Thema behandelt wird.56 Über die Dokumentarische Methode ist es möglich, sowohl einen Zugang zu dem Was herzustellen, also dem reflexiven oder theoretischen Wissen, das den Akteurinnen zugänglich ist, als auch zu dem Wie, dem handlungsleitenden Wissen der Akteurinnen – dem vorreflexiven Wissen.57 Es wird davon ausgegangen, dass es das handlungsleitende Wissen ist, das die Handlungspraxis strukturiert. »Die Rekonstruktion der Handlungspraxis zielt auf das dieser Praxis zugrunde liegende habitualisierte und z. T. inkorporierte Orientierungswissen, welches dieses Handeln relativ unabhängig vom subjektiv gemeinten Sinn strukturiert.«58 Dieses handlungsleitende Wissen wird auch ›atheoretisches‹ oder ›konjunktives Wissen‹ genannt, da es den Interviewten zur Verfügung steht, ohne dass es kommuniziert und somit expliziert wird. Es kann von mehreren Menschen geteilt werden, wenn es auf einer gleichartigen Handlungspraxis oder Erfahrung beruht.59 Der Zugang zu dem reflexiven und kommunizierten Wissen – dem aktuellen Wissen – ist unproblematisch, da es im Interview expliziert wird oder auch direkt abgefragt werden kann. Dagegen kann das handlungsleitende und konjunktive Wissen – über das ein Zugang zu vergangenen Erfahrungen mit Geschehensabläufen herstellbar ist – nur über Erzählungen und Beschreibungen oder direkte Beobachtungen der Handlungspraxis erschlossen werden.60 Das Wissen der Interviewten bleibt die empirische Basis der Auswertung, löst sich jedoch von den »intentionalen Sinnzuschreibungen der Akteure«, wenn im 54 Vgl. Nohl 2006a. 55 Nohl 2006b, S.21. 56 Vgl. dazu Mannheim 1964 und auch bei Nohl 2006a. 57 Vgl. dazu die Ausführungen bei Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2007b, S.9. 58 Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2007b, S.9. 59 Vgl. dazu Nohl 2006a, S.10f und auch Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2007b, S.11. 60 Vgl. Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2007b, S.14.

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Sinne der Textsortentrennung zwischen dem »kommunikativen und theoretischen Wissen einerseits und dem handlungspraktischen und impliziten konjunktiven Wissen andererseits« unterschieden wird.61 Letzteres findet sich vor allem in Erzählungen und – mit Abstrichen – auch in Beschreibungen der Handlungspraxis. So erhält die Forscherin/der Forscher »einen Zugang zur Handlungspraxis und zu den dieser Praxis zugrunde liegenden (Prozess-)Strukturen, die sich der Perspektive der Akteure selbst entziehen«62. In der Dokumentarischen Methode gibt es drei Auswertungsstufen, die am Ende der Auswertung über eine sehr früh einsetzende komparative Analyse unterschiedliche Typiken hervorbringen sollen. Die frühe komparative Analyse unterscheidet die Dokumentarische Methode von anderen qualitativen Methoden, wie beispielsweise von der Narrationsstrukturanalyse, und dient vor allem dazu »fallübergreifende Muster in ihrer Mehrdimensionalität zu erfassen«63. Diese beginnt bereits ab dem ersten Interpretationsschritt. Um eine Unterscheidung zwischen dem kommunikativen und theoretischen Wissen und dem handlungspraktischen und implizit konjunktiven Wissen methodisch sauber vornehmen zu können, werden forschungspraktisch zunächst zwei Analyseschritte vollzogen: Der erste Schritt ist die ›Formulierende Interpretation‹, bei der zunächst das kommunikative Wissen herausgearbeitet wird; der zweite Schritt ist die ›Reflektierende Interpretation‹, über die der Zugang zum konjunktiven Wissen hergestellt wird, dem dokumentarischen Sinngehalt des Textes. Schließlich erfolgt drittens eine mehrdimensionale Typenbildung.64 Im Auswertungsteil der vorliegenden Arbeit wird jeweils nach der zitierten Interviewpassage zunächst eine knappe formulierende Interpretation vorgenommen. Darauf folgt eine reflektierende Interpretation, in der – auch sprachlich durch entsprechende Formulierungen sichtbar65 – das konjunktive Wissen (Handlungsorientierungen) ›dokumentiert‹ wird. In der vorliegenden Arbeit kommt es dann im Sinne der Dokumentarischen Methode zu einer mehrdimensionalen sinngenetischen Typenbildung, bei der an entsprechenden Stellen auch Relationen zwischen den typisierten Orientierungsrahmen der einzelnen Dimensionen aufgezeigt werden. Die identifizierten Relationen werden in dieser Untersuchung jedoch nicht im Sinne einer relationalen Typenbildung typisiert.66 Eine soziogenetische Typenbildung, die 61 Vgl. Nohl 2006b, S.22, Zitate ebda. 62 Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2007b, S.12. 63 Henkelmann 2012, S.98. 64 Vgl. Nohl 2006a, S.46ff. 65 Beispielsweise ›dokumentiert sich‹, ›zeigt sich‹, ›wird deutlich‹ und ähnliche Formulierungen. 66 Vgl. zur relationalen Typenbildung und zum Mehrebenenvergleich Nohl 2013; Nohl stellt hier die relationale Typenbildung als einen neuen Weg der Dokumentarischen Methode

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ebenfalls vollzogen werden kann, erfolgt in dieser Untersuchung nicht. In einer soziogenetischen Typenbildung werden Bezüge zwischen den Orientierungen und dem Erlebnishintergrund – bzw. dem sozialen Zusammenhang, in dem Orientierungen entwickelt werden – hergestellt.67 Dabei wird nach einem »spezifischen Erfahrungsraum« (Erfahrungsdimensionen) gefragt, »innerhalb dessen die Genese einer Orientierung, eines Habitus zu suchen ist«, so z. B. innerhalb eines Geschlechts-, Milieu-, Alters- oder Bildungszusammenhangs, der aber nur durch kontrastierende Fälle und eine darauf bezogene vergleichende Analyse ermittelt werden kann.68 In dieser Arbeit ist eine solche soziogenetische mehrdimensionale Typenbildung nicht angestrebt worden. Das Forschungsinteresse richtete sich vielmehr auf die Analyse einer bestimmten Gruppe von Frauen, die als Gemeinsamkeit die politische Tätigkeit in geschlechtshomogenen Gruppen an der Universität in den 1960er und 1970er Jahren haben, und in diesem Zusammenhang auf die Rolle der Universität für diese Frauen. Wie bereits vorgestellt, umfasst mein Sample daher Personen eines Geschlechts, die allesamt zwischen 1940 und 1950 geboren sind. Herausgearbeitete Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Orientierungen können somit möglicherweise als geschlechts- oder generationsspezifisch definiert werden. Dies muss jedoch vorsichtig und hypothetisch geschehen, da eine soziogenetische Typenbildung nicht vorgenommen worden ist. Dagegen lassen sich durch die vorliegende Untersuchung differenzierte – die gesamte Lebensspanne der Interviewten bis zu ihrer (geschlechter-)politisch aktiven Zeit in den 1960er und 1970er Jahren umfassende – Aussagen über eine bestimmte Kohorte von Frauen treffen, die geschlechtspolitisch aktiv werden. Im Folgenden werden die in dieser Arbeit vollzogenen Analyseschritte der Dokumentarischen Methode im Einzelnen skizziert: Vor der ›Formulierenden Interpretation‹ der vorliegenden transkribierten Interviews wurden zunächst sogenannte ›Thematische Verläufe‹ für die einzelnen Fälle erstellt, in denen für das gesamte Interview tabellarisch Themen identifiziert wurden.69 Schließlich wurden diejenigen Textpassagen und Themen identifiziert, die vornehmlich auf die Erarbeitung der dieser Arbeit zugrunde liegenden Fragestelvor, fallübergreifenden empirischen Ergebnissen zu erhalten. Die relationale Typenbildung kann wie auch die soziogenetische Typenbildung an eine mehrdimensionale sinngenetische Typenbildung anknüpfen. Dabei wird herausgearbeitet, wie Orientierungen, die in unterschiedlichen Dimensionen zu finden sind, miteinander zusammenhängen. So können Relationen typisierter Orientierungen identifiziert werden und erneut typisiert werden. 67 Vgl. Bohnsack 2007, S.141. 68 Vgl. dazu Bohnsack 2007, S.232, Zitate ebda. 69 Vgl. Bohnsack 2008, S.135.

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lung abzielen, nämlich nach politischer Sozialisation. Dabei wurden bereits die Passagen erkennbar, die eine »interaktive und metaphorische Dichte«70 aufzeigten, also Textstellen, in denen eine detaillierte Narration aufzufinden war. Bereits in der ›Formulierenden Interpretation‹ wurden fallübergreifend Themen erkennbar, die von einigen interviewten Frauen sehr ähnlich behandelt wurden. Diese fallübergreifenden Themen sind für die ›Reflektierende Interpretation‹ wichtig.71 Für die zehn vorliegenden Interviews konnten grob folgende Oberthemen definiert werden, die sich in allen Fällen aufzeigen ließen: Die familiären Lebensverhältnisse, Schulzeit und Peer-group-Aktivitäten, Universität und Studium, Frankfurter Weiberrat, weitere politische Aktivitäten, Freizeit und Freundschaften, Weiterqualifikation und Beruf. Eine saubere Trennlinie zwischen den Oberthemen war in den Interviews nicht immer gegeben, so dass einzelne Passagen auch mehreren Oberthemen zugeordnet werden konnten. Diese Oberthemen konnten wiederum in mehrere Unterthemen gegliedert werden. So konnten beispielsweise für das Oberthema ›Frankfurter Weiberrat‹ Unterthemen wie ›Einstieg‹ und ›Aufgaben und Interessen‹ herausgearbeitet werden. In einem weiteren Schritt erfolgte die Feininterpretation, indem die einzelnen Unterthemenpassagen aller Interviews thematisch und auf einer Sachebene mit eigenen Worten zusammengefasst wurden.72 In einem zweiten Schritt erfolgt in der Dokumentarischen Auswertung die ›Reflektierende Interpretation‹. In diesem Abschnitt wird anhand einer komparativen Analyse insgesamt rekonstruiert, »wie ein Thema oder eine Problemstellung verarbeitet, d. h. in welchem Orientierungsrahmen ein Thema oder eine Problemstellung abgehandelt wird«73. Hierbei gilt es, die Fälle so früh wie möglich miteinander zu vergleichen. Durch das Hinzunehmen weiterer Fälle können die reflektierenden Interpretationen des ersten Falls untermauert und zugleich auch neue Vergleichshorizonte erfasst werden.74 Nach Nohl (2006) wird die reflektierende Interpretation in zwei Komponenten vollzogen: Er unterscheidet zwischen der formalen Interpretation mit Textsortentrennung und der semantischen Interpretation mit komparativer Sequenzanalyse.75 Diese Interpretationsschritte zielen insgesamt auf die Typenbildung ab, die im nächsten Abschnitt genauer vorgestellt wird. Auf der formalen Ebene der Interpretation mit der Textsortentrennung wird die Unterscheidung zwi70 Bohnsack 2008, S.135. 71 Vgl. Nohl 2006a, S.46. 72 Vgl. Nohl 2006a, S.46f. 73 Nohl 2006a, S.9. 74 Würde man diesen Vergleich mit anderen Fällen nicht hinzuziehen, so würden die Forscherinnen und Forscher »(…) den Text vor dem Hintergrund ihrer eigenen, durch Erfahrungen, Gedankenexperimente, (Alltags-)Theorie und/oder frühere empirische Forschung (…)« interpretieren, Nohl 2006a, S.54. 75 Vgl. Schütze 1984, S.78ff. und Nohl 2006a, S.47ff.

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schen »atheoretischem, konjunktivem Wissen« und »theoretischem, kommunikativem Wissen« erleichtert, so dass einerseits über Erzählungen und Beschreibungen sowie andererseits über Argumentationen beide Sinnebenen – das Was und das Wie einer Erzählung – deutlich gemacht werden können.76 In der semantischen Interpretation werden die Erzählpassagen, die innerhalb eines Falles aufeinanderfolgen, und Erzählpassagen, die fallübergreifend sind, miteinander verglichen. Wird davon ausgegangen, dass »in einem Fall ein Thema auf eine (und nur eine) bestimmte Art und Weise (d. h. in einem Rahmen) erfahren wird«, so folgt innerhalb einer thematischen Interviewpassage auf den »ersten Erzählabschnitt nur ein spezifischer, nämlich ein der jeweiligen Erfahrungsweise, dem jeweiligen Rahmen entsprechender zweiter Abschnitt«.77 Wird das Thema im zweiten Abschnitt auf eine homologe Weise bearbeitet, so wird davon ausgegangen, dass in einem dritten Schritt der Rahmen ratifiziert wird. Mit der komparativen Analyse wird die homologe Bearbeitungsweise von Themen des einen Falls mit anderen Fällen verglichen, gleichzeitig werden in anderen Fällen andersartige Orientierungsrahmen herausgearbeitet.78 So werden die Verläufe der Fälle miteinander verglichen. Während bei Einzelfallbetrachtungen die Forscherin/der Forscher häufig auf die eigene Perspektive sowie auf die Analyse eines Falls beschränkt bleibt, gilt es hier, Fälle so früh wie möglich miteinander zu vergleichen. Durch das Hinzunehmen weiterer Fälle können die reflektierenden Interpretationen des ersten Falls untermauert und zugleich neue Vergleichshorizonte erfasst werden. Das komparative Vorgehen trägt somit zur Validität der Untersuchung bei.79 In einem letzten Schritt kommt es schließlich zur ›Typenbildung‹, was sowohl Ergebnis wie auch Ziel der vorhergehenden Analyseschritte und der komparativen Analyse ist. Die Herausarbeitung von Orientierungsrahmen, die nicht nur in einem Fall zu finden sind, sondern auch in anderen Fällen, steht hier im Zentrum. Bohnsack fasst die praxeologische Typenbildung, die auch sinngenetische Typenbildung genannt wird, wie folgt zusammen: »In einem praxeologischen Verständnis ist die Frage nach dem Sinn einer Handlung oder Äußerung diejenige nach der Struktur, nach dem generativen Muster oder der generativen Formel, dem Modus operandi des handlungspraktischen Herstellungsprozesses. Die Identifikation dieses generativen Musters, also dessen Interpretation, setzt die Beobachtung einer Handlungspraxis voraus. Diese kann uns entweder unmittelbar gegeben sein oder auf dem

76 Vgl. Nohl 2006a, S.48ff., Zitate ebda. 77 Vgl. Nohl 2006a, S.51, Zitate ebda. 78 Vgl. Nohl 2006a, S.51f. 79 Vgl. Nohl 2006a, S.53ff. und Bohnsack 2008, S.137.

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Weg von Erzählungen und Beschreibungen der Erforschten. Das generative (Sinn)-Muster bezeichnen wir – wie gesagt – als Orientierungsrahmen oder auch Habitus«80.

Diese Typenbildung knüpft an die bereits beschriebene reflektierende Interpretation an und führt diese systematisch bis zur Abstraktion von Typen fort. Hierbei geht es nun um die Herausarbeitung von Kontrasten zwischen mehreren Fällen unter Einbezug der abstrahierten fallübergreifenden Orientierungsrahmen. Es wird also überprüft, inwiefern Unterschiede innerhalb gemeinsamer Orientierungsrahmen zu finden sind. Wird in mehreren Fällen ein und derselbe Orientierungsrahmen sichtbar, so können diese zu einem Typus zusammengefasst werden.81 Innerhalb einzelner Typen können wiederum Untertypen abstrahiert werden, die die Kontraste innerhalb eines Typus aufzeigen.82 Für die vorliegende Untersuchung konnte eine mehrdimensionale Typenbildung abstrahiert werden. D. h. es wurden mehrere Typiken innerhalb einer Typologie generiert, die »Erfahrungsdimensionen bzw. -räume voneinander unterscheiden und damit ermöglichen, die Soziogenese von Orientierungen zu beschreiben«83. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass ein Fall keinen ›Gesamttypus‹ (gleichsam als gesamten Lebensverlauf) konstituiert, und auch nicht nur innerhalb einer einzigen Erfahrungsdimension (Typik) einen Typus konstituiert, sondern auch jeweils einen Typus in anderen Erfahrungsdimensionen (Typiken) darstellt. Dadurch ist es möglich, die über die Schilderungen der Fälle abstrahierten Orientierungsrahmen in ihren einzelnen Erfahrungsdimensionen und räumen zu erfassen.84 Die Dokumentarische Methode ist bis zur sinngenetischen Typenbildung, bei der in einem weiteren Schritt auch Relationen zwischen den typisierten Orientierungen aufgezeigt werden können, für diese Untersuchung geeignet. Zum einen führen die vorgestellten Auswertungsschritte (die Formulierende und Reflektierende Interpretation sowie die komparative Analyse) dazu, dass die Standortgebundenheit der Forscherin/des Forschers einer methodischen Kontrolle unterzogen wird, da die Interviews systematisch aufbereitet und bereits sehr früh vergleichend interpretiert werden. Zum anderen bietet diese Methode einen sehr guten Zugang zur Rekonstruktion von Politisierungsprozessen unter Berücksichtigung der jeweiligen Sozialisationsinstanzen und des Erfahrungsraums der interviewten Frauen – Familie, Peer-group, Schule, jugendspezifische Organisationen und Universität. So eröffnet die sinngenetische Typenbildung über die Sozialisationserfahrungen und die Hand80 Bohnsack 2007, S.231. 81 Vgl. Nohl 2006a. 82 Vgl. Nohl 2006a, S.88ff. 83 Nentwig-Gesemann 2007, S.289. 84 Vgl. Nentwig-Gesemann 2007, S.289.

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lungspraxis der Frauen einen systematischen Zugang zu den fallübergreifenden Orientierungsrahmen, die das politisch-relevante und explizit-politische Handeln der Frauen strukturierten. Über die Herausarbeitung kontrastierender Orientierungstypen kann aufgezeigt werden, auf welche Art und Weise und in welchem Rahmen (d. h. Interaktion mit bestimmten Sozialisationsinstanzen) Politisierungsprozesse vollzogen werden. Da die Frage nach der Bedeutung der Universität als Handlungsund Erfahrungsraum und Sozialisationsinstanz eine zentrale Frage dieser Untersuchung darstellte, wird bei der Typenbildung insbesondere zwischen einer voruniversitären und einer universitären Lebensphase unterschieden. Damit ist es möglich, gezielt nach Sozialisationserfahrungen und fallübergreifenden Orientierungen zu fragen, die vor Beginn und während des Studiums an der Universität gezeigt werden. Die Prozesshaftigkeit von Politisierung wird über die Verbindungen von Orientierungstypen der einen Lebensphase (Kap. V.1) und der anderen Lebensphase (Kap. V.2) erkennbar. So lassen sich sowohl Kontinuitäten von Orientierungen über die Lebensphasen und die unterschiedlichen Kontextbedingungen hinweg aufzeigen als auch Diskontinuitäten von Orientierungen sowie neue Orientierungen, die erst an der Universität gezeigt werden. An einigen spezifischen Stellen gibt es deutliche Relationen zwischen den Typen einzelner Erfahrungsdimensionen (Typiken).85 Diese werden an entsprechender Stelle herausgearbeitet.

II.3

K ONTEXTBESCHREIBUNG

UND

K ONTEXTANALYSE

In meiner Untersuchung wird neben der Auswertung der Lebensgeschichten von politisch aktiven Frauen ein weiterer Schritt vollzogen, der dazu dient, die Sozialisationskontexte, somit die Rahmenbedingungen, unter denen politisch-relevante und explizit-politische Handlungen strukturierende Orientierungen gezeigt werden, herauszuarbeiten. In der Kontextbeschreibung wird die Lebenswelt86 der Frauen, in die sie hineingeboren und in der sie sozialisiert werden – jenseits ihrer Schilderungen –, mit Rückgriff auf Ergebnisse zeithistorischer Forschung rekonstruiert. »Die Lebenswelt«, so Groppe (2004), »ist das Ensemble von Umweltbedingungen, in denen Gruppen und Individuen stehen«87. In Anlehnung an Wehlers Konzept von Gesellschaft unterscheidet sie dabei vier Dimensionen, die die Gesellschaft konstituieren: Politik (Herrschaft), Sozialstruktur, Wirtschaft und Kultur. Diese Dimensionen stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander, so dass beispielsweise davon ausgegangen werden kann, dass sich politische Veränderungen sowohl auf

85 Vgl. zur relationalen Typenbildung und zum Mehrebenenvergleich Nohl 2013. 86 Vgl. Groppe 2004, S.22f.; vgl. dazu auch die Ausführungen von Münch 1996. 87 Groppe 2004, S.22.

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die Sozialstruktur als auch auf die ökonomischen Verhältnisse, aber auch auf die symbolische Ordnung sowie Normen und Wertesysteme auswirken oder anders gedacht, Wirtschaftsentwicklungen einen Einfluss auf politische Machtverhältnisse und Symbolsysteme nehmen.88 Die allgemeine und auch politische Sozialisation des Einzelnen erfolgt im Austausch mit seiner Lebenswelt, somit den verschiedenen informellen und formellen Sozialisationskontexten, die einerseits in ihren Bezügen zueinander betrachtet werden müssen und andererseits in ihrer Bedeutung als Sozialisationsfaktoren wahrgenommen werden müssen.89 Die definitorische Fassung der Lebenswelt nach Groppe (2004) steht dabei auf den ersten Blick in einem gewissen Kontrast zu den Grundannahmen der Mannheim'schen Wissenssoziologie, die in der Dokumentarischen Methode ansonsten häufig der Interpretation zugrunde gelegt werden. Mit dem ›konjunktiven Erfahrungsraum‹ wird bei Mannheim von geteilten Erlebens- und Erfahrungswelten der Akteurinnen/Akteure ausgegangen, die im impliziten, atheoretischen Wissen der Akteurinnen/Akteure sichtbar werden90 und die in den ›Reflektierenden Interpretationen‹ rekonstruiert werden können. Bei der Kontextbeschreibung in Anlehnung an das Konzept der Lebenswelt nach Groppe geht es jedoch in einem ersten Schritt weniger um die Beschreibung eines subjektiven oder kollektiven Erfahrungszusammenhangs, sondern vielmehr um die Bedingungen, unter denen Erfahrungszusammenhänge entstehen. Diese werden dann mit den ›konjunktiven Erfahrungsräumen‹ in Beziehung gesetzt, um historische Sozialisationsprozesse als Interaktionsprozesse zwischen Individuen und ihrer sozialen Umwelt rekonstruieren zu können. Die Kontextbeschreibung schließt indirekt an die Typiken sowie an die über die Interviews abstrahierten Erfahrungsdimensionen und -räume an, so dass das Erzählte bei der Auswahl der zu beschreibenden Kontexte herangezogen wurde. Denn in den lebensgeschichtlichen Erzählungen gaben die Interviewten zahlreiche Informationen über die Kontexte, in denen sie politisch-relevante und explizit-politische Erfahrungen machen und Handlungen zeigen.91 Die in den Interviews beschriebenen Sozialisationsinstanzen und Erfahrungskontexte stellen daher die Grundlage für die Auswahl der zu beschreibenden Sozialisationskontexte dar. Es sind die bereits beschriebenen Zugzwänge in den Stegreiferzählungen des biographisch-narrativen Interviews, die die Erzählenden dazu bewegen, ihre Schilderungen so komplett und detailliert wie möglich zu gestalten und dabei die relevanten Themen ihrer Geschichte darzustellen.92 Um das geschilderte Geschehen dabei plausibel zu gestal88 Vgl. dazu Groppe 2004, S.22f., die auf Wehler 1995, S.6ff. verweist. 89 Vgl. dazu die Ausführungen bei Trommsdorff 2008, S.229ff. und Groppe 2009, S.101ff. 90 Mannheim 1980. 91 Vgl. Schütze 1984, S.99. 92 Vgl. Kallmeyer/Schütze 1977.

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ten, werden die sozialen Kontexte, in denen Erfahrungen gemacht werden, von den Interviewten beschrieben.93 Dies erfolgt jedoch nur in dem Umfang, in dem sie für die Plausibilität des Gesagten den Interviewten notwendig erscheinen. Denn gleichzeitig ist die Interviewte bemüht, in einer solch langen Erzählphase einzig nur die wesentlichen Dinge zu beschreiben. Damit ermöglicht das Erhebungsinstrument, das biographisch-narrative Interview, einen Einblick in die Lebenswelt der Interviewten, zumindest in diejenige, die sie als relevant für ihre Darstellungen erachtet. Bohnsack nennt diese »Lebenswelt[en]« auch »Relevanzsysteme« und meint damit die »Kontexte« oder »Interpretationsrahmen« des Erzählten.94 In den Interviews wurden die Erfahrungen und erlebten Ereignisse insbesondere unter Einbezug der Herkunftsfamilie, der Peer-group, der jugendspezifischen Organisationen, der Schule und der Universität sowie deren Mitglieder beschrieben, mit denen die Interviewten interagierten. Da die Interviews aber nur über die für die Interviewten zentralen Aspekte ihrer Lebenswelt Auskunft geben, ist es notwendig, sie durch eine Kontextbeschreibung zu ergänzen. Daher werden die Lebenswelt der untersuchten Frauen und die politisch-relevanten Sozialisationskontexte im Folgenden anhand der zentralen Sozialisationsinstanzen Familie, Schule, Peergroup/Jugendorganisationen und Universität beschrieben.95 Die vier Sozialisationsinstanzen werden hinsichtlich ihrer Strukturen, Funktionszuschreibungen und der Alltagspraktiken ihrer Mitglieder von der Nachkriegszeit bis in die erste Hälfte der 1970er Jahre unter Berücksichtigung der sich vollziehenden politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Veränderungen dargestellt.96 Für die voruniversitäre Lebensphase, in der sich die befragten Frauen im Kindes-, Jugend- und einige von ihnen im frühen Erwachsenenalter befinden, sind vor allem die Sozialisationsinstanzen Familie, Schule, Peer-group und Jugendorganisationen

93 Vgl. Bohnsack 2008, S.93. 94 Vgl. Bohnsack 2008, S.20, Zitate ebda. 95 Unter Berücksichtigung des in Kap. III.2 herausgearbeiteten und dieser Arbeit zugrunde liegenden Verständnisses der Begriffe ›politische Sozialisation‹ und ›Politisierung‹ wird davon ausgegangen, dass die Kontexte, in denen Personen aufwachsen und in der sie in Interaktion mit anderen Personen, Kollektiven, Organisationen oder Institutionen treten, auf die Sensibilisierung für politische Themen Einfluss haben können. 96 Ausführlich zu den 1950er Jahren der Bundesrepublik vgl. Abelshauser 1987 ›Die langen fünfziger Jahre‹, und Schildt/Sywottek 1998 ›Modernisierung im Wiederaufbau‹; zur Entwicklung der westdeutschen Gesellschaft der 1960er Jahren vgl. Schildt/Siegfried/ Lammers 2003 ›Dynamische Zeiten‹ und vgl. auch Frese/Paulus/Teppe 2005 ›Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch‹.

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von Bedeutung, die sozialisierende Funktionen haben und somit auch auf die politische Sozialisation der Frauen Einfluss nehmen können:97 Aufgrund der Geburtenjahrgänge der untersuchten Frauen (1940-1950) werden die familiären Sozialisationskontexte für die Zeit zwischen den letzten Kriegsjahren bis Anfang der 1970er Jahre beschrieben. Dabei werden die Struktur und Funktion der Familie sowie die familiären Lebensverhältnisse im Kontext der ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Veränderungen in den Blick genommen. Welchen sozialisierenden Einfluss die Familie auf ihre Mitglieder hat, ist abhängig von unterschiedlichen Ressourcen und Eigenschaften, wie »sozioökonomische[n] Bedingungen, Bildungsniveau, (Generationen-)Beziehung, aber auch kulturelle[n] Alltagspraktiken, Werte[n] sowie Orientierungen und Erziehungsstile[n]«98. Auch die schulischen Sozialisationskontexte werden für den Zeitraum zwischen der Nachkriegszeit und Anfang der 1970er Jahren beschrieben. Die Veränderungen von Struktur und Funktionszuschreibung werden besonders gut in der Phase des Wiederaufbaus in der Nachkriegszeit anhand der im Rahmen der wirtschaftlichen Prosperitätsphase einsetzenden Bildungsdiskussionen um die Bildungsexpansion sowie anhand der Proteste an den Schulen Ende der 60er Jahre deutlich. Zu beachten ist dabei, dass Schulen (und dies gilt auch für die Universität) »komplexe soziale Erfahrungsfelder darstellen, in denen sich das Lernen nicht auf die fachlichen Inhalte beschränkt. So ist das Einüben in die Verkehrsformen der Institutionen (Hierarchie und Konkurrenz) und in das Beziehungsgeflecht der Peer-group (Solidarität, Anerkennung) für die Persönlichkeitsentwicklung mindestens so wichtig wie der Erwerb des fachlichen Wissens«99. Auch die Peer-group als Sozialisationsinstanz darf bei der Beschreibung der Lebenswelt der untersuchten Frauen nicht fehlen. Bei Peer-groups handelt es sich um Gruppierungen von Kindern und Jugendlichen gleichen Alters, die freiwillig und häufig im Umfeld von Bildungsinstitutionen wie der Schule zustande kommen. Sie stellen einen informellen Sozialisationskontext dar, in dem es um die Gestaltung von Freizeitaktivitäten und gruppenspezifischen Interessen geht und im Rahmen dessen eine Distanzierung von Elternhaus sowie elterlichen Erwartungen stattfinden kann.100 Die Bedeutung von Peer-groups für Kinder und Jugendliche und damit auch ihr Einfluss als Sozialisationsinstanz haben, wie herausgearbeitet werden wird, seit den 1950er Jahren kontinuierlich zugenommen. 97 Bei der Sortierung der Interviews nach Haupt- und Unterthemen war auffällig, dass sich die interviewten Personen in Bezug auf ihre voruniversitäre Lebensphase an Erfahrungen und Auseinandersetzungen insbesondere im Zusammenhang mit diesen drei Sozialisationsinstanzen erinnerten. 98 Ecarius/Fuchs/Wahl 2008, S.104. 99 Horstkemper/Tillmann 2008, S.290; vgl. dazu auch die Ausführungen in Kap. IV.2. 100 Vgl. Ecarius/Eulenbach/Fuchs/Walgenbach 2011, S.113.

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Schließlich erfolgt ein Blick auf die Lebensphase der Frauen, in der insbesondere die Sozialisationsinstanz Universität als Institution und Erfahrungs- und Handlungsraum eine wichtige Rolle spielt:101 Da die befragten Frauen in der Zeit zwischen 1965 und 1972 ein Studium an der Universität Frankfurt begonnen haben, wird das Augenmerk insbesondere auf die universitären Rahmenbedingungen in dieser Zeitphase gerichtet.102 Dabei werden die Organisationsstruktur und Bildungsbedingungen unter Berücksichtigung der Diskussionen um Reformen sowie ihre Umsetzung an den westdeutschen Hochschulen und der Universität Frankfurt beschrieben. Zudem werden die Studienbedingungen und der studentische Alltag der Frauen ab 1965 dargestellt und es wird der Frage nachgegangen, wie sich diese im Rahmen der Studentenproteste an der Universität Frankfurt veränderten. Die Beschreibung der Lebenswelt und – in diesem Zusammenhang – der universitären Rahmenbedingungen ist notwendig, um sich der zweiten zentralen Frage dieser Arbeit, nämlich der Bedeutung der Universität als Sozialisationsinstanz und Erfahrungsraum für die Frauen, widmen zu können. In der abschließenden Ergebnisdiskussion dieser Arbeit werden die Ergebnisse der mehrdimensionalen Typenbildung mit der Kontextbeschreibung verknüpft, um schließlich Aussagen über die Bedeutung der Universität als Ort politischer Sozialisation für die interviewten Frauen machen zu können. Diese werden abschließend vor dem Hintergrund bestehender Forschung zur Universitätsgeschichte, Neuen Frauenbewegung und Studentenbewegung ›1968‹ diskutiert (siehe Kap. VI.4).

101 Genauere Erläuterungen zur Universität als Institution und Erfahrungs- und Handlungsraum sowie ihre Bedeutung für Politisierungsprozesse siehe Kap. III.4. 102 Zur Erinnerung: Drei der befragten Frauen beginnen ihr Studium deutlich vor der Hochphase der Studentenbewegung im Jahr 1965; eine der befragten Frauen erst 1972, wobei diese bereits vorher sowohl mit Studierenden in Kontakt steht und sich an der Universität und ihren Räumlichkeiten aufhält; sechs der Interviewten beginnen ihr Studium in der Hochphase der Studentenbewegung zwischen 1967 und 1969; vgl. dazu Kap. I.4.

III. Theoretischer Rahmen der Untersuchung

Der theoretische Rahmen dieser Untersuchung wird im Folgenden über die Klärung der dieser Untersuchung zugrunde liegenden Theorieansätze zur Sozialisation, politischen Sozialisation/Politisierung, politischen Partizipation und zum Geschlecht als Motiv politischer Partizipation bestimmt. Da ein Schwerpunkt dieser Untersuchung die Frage nach der Bedeutung der Universität als möglicher Ort politischer Sozialisation ist, wird in einem weiteren Schritt die Universität als Institution und Organisation gefasst sowie als politischer Erfahrungs- und Handlungsraum beschrieben.

III.1 S OZIALISATION Der Prozess der Persönlichkeitsentwicklung und der gleichzeitigen Integration des Einzelnen in eine Gemeinschaft kann insgesamt mit dem Begriff Sozialisation beschrieben und erfasst werden. Es ist einer der Begriffe innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften, der je nach Disziplin (u. a. Soziologie, Erziehungswissenschaft und Psychologie) und je nach Forschungsschwerpunkt (u. a. Familienforschung, Geschlechterforschung, Bildungsforschung) unterschiedlich fokussiert verwendet wird. Die Differenzen ergeben sich aus der theoretischen Ableitung. Seit der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert haben sich verschiedene theoretische Konzepte und Überlegungen zur Sozialisation etabliert, die hier im Einzelnen nicht vorgestellt werden können.1

1

Einen Überblick über die historische Entwicklung der Sozialisationstheorien gibt Veith, 2008, S.32ff.; wenige der hier vorgestellten Autoren haben ihre Theorien als ›Sozialisationstheorie‹ bezeichnet. Dennoch können diese als Konzepte der Sozialisation gefasst werden, beispielsweise von Emile Durkheim (Soziologie), George H. Mead (Pragmatismus), Max Horkheimer, Erich Fromm und Theodor W. Adorno (Kulturanthropologie), Talcott Parson (Strukturfunktionalismus), Eric Erikson (Psychoanalytische Entwicklungs-

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Innerhalb der Erziehungs- und Sozialwissenschaften besteht aber mittlerweile darüber Konsens, die Verflochtenheit von Individuum und Umwelt im Sozialisationsprozess zu betonen. Hurrelmann/Grundmann/Walper (2008) schlagen vor, mit Sozialisation folgenden Prozess zu beschreiben: »Sozialisation ist ein Prozess, durch den in wechselseitiger Interdependenz zwischen biopsychischen Grundstrukturen individueller Akteure und ihrer sozialen und physischen Umwelt relativ dauerhafte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen auf persönlicher ebenso wie auf kollektiver Ebene entstehen«2.

Es wird zum einen auf die »Persönlichkeitsgenese«, zum anderen aber auch auf die »Strukturgenese sozialer Handlungsweisen«, also auf die zwei unterschiedlichen, aber miteinander verbundenen Aspekte des Sozialisationsprozesses, verwiesen, die sowohl individuell als auch kollektiv im Austausch mit der Umwelt vollzogen werden.3 Sozialisation wird hierbei jedoch immer als Interaktionsprozess zwischen Individuum und seiner Umwelt verstanden und es wird auf die dialektische Beziehung zwischen Subjekt und der gesellschaftlich vermittelten Realität hingewiesen. Individuen brauchen die Gesellschaft für die Genese ihrer Persönlichkeit und der Entwicklung einer Identität; Gesellschaften benötigen Sozialisationsprozesse als Voraussetzung ihrer Existenz. Denn Sozialisation ist der Prozess, über den eine spezifische ›Kultur‹ – hier verstanden als Interaktionsformen, Institutionen, Werte und Normen etc. einer Gesellschaft – aufrecht erhalten und weiter entwickelt werden kann. Identität ist zu verstehen als ein »selbstreflexives Bewusstsein«4, das in einem lebenslang andauernden und unabgeschlossenen »Prozeß der Konstruktion und Revision von Selbstbildern«5 durch die kontinuierliche und reflektierte »Teilhabe an sozialen Gruppen und Prozessen«6 entsteht. Die Identität einer Person geht aus einer Vielzahl verschiedener sozialer Rollen, die sie im Alltag übernimmt, hervor. Der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Rollen einer Person wird als IchIdentität bezeichnet.7 In einem Strukturmodell differenziert Hurrelmann vier Ebenen des Sozialisationsprozesses: Die Gesellschaftsebene, die Organisations- und Institutionsebene, die theorie), Jürgen Habermas (Kommunikationstheorie), Pierre Bourdieu (Habitustheorie), Ulrich Beck (Individualisierungstheorie); Niklas Luhmann (Systemtheorie). 2

Hurrelmann/Grundmann/Walper 2008, S.25.

3

Vgl. Hurrelmann/Grundmann/Walper 2008, S.25, Zitate ebda.

4

Groppe 2004, S.31.

5

Glomb 2001, S.267; auch bei Groppe 2004, S.32.

6

Groppe 2004, S.31.

7

Vgl. Geulen 1977, S.125; vgl. dazu auch Groppe 2004, S.32.

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Interaktionsebene und die Individualebene. Die Gesellschaftsebene umfasst die gesamtgesellschaftlichen Strukturen, also soziale Gegebenheiten und Kontexte, die das Individuum umgeben. Die Organisations- und Institutionsebene umfasst Sozialisationsinstanzen wie Familie, Peer-group, Schule, Universität und Arbeitsstätte, mit denen das Individuum im Austausch steht. Die Individualebene umfasst die Persönlichkeitsentwicklung und die innere Struktur des Individuums. Diese Ebene steht in einer Wechselwirkung zu der Interaktionsebene, da das Individuum in einem ständigen Austausch mit den Sozialisationsinstanzen steht.8 Auch wenn mit dieser oben aufgeführten Ordnung der Versuch unternommen wird, eine Einheitlichkeit in der Sozialisationsforschung zu schaffen und verschiedene Perspektiven miteinander zu verbinden, bleibt der Sozialisationsbegriff hier immer noch relativ unscharf. Für die vorliegende Untersuchung wird ein besser operationalisierbarer Begriff von Sozialisation benötigt, d. h. zu dem Begriff müssen »Vorgehensweisen« bestimmt werden, durch die überprüft werden kann, »ob und in welchem Ausmaß der mit dem Begriff bezeichnete Sachverhalt in der Realität vorliegt«.9 Grundmanns interaktionistisches Verständnis von Sozialisation ist operationalisierbar und daher für diese Arbeit geeignet. Grundmann (2006) hebt in seinen theoretischen Überlegungen zu Sozialisationsprozessen die Interaktionsbeziehung zwischen verschiedenen Akteurinnen und Akteuren hervor und betont dabei, dass diese sich gegenseitig unbewusst oder auch bewusst beeinflussen, wenn sie miteinander interagieren und dabei Erwartungshaltungen an die Interaktionspartner herantragen sowie Beziehungen aufbauen. Aus der interaktionistischen Sicht wird alles handelnd und interaktiv hergestellt. Die Umwelt stellt in Grundmanns Konzeption den Rahmen dar, innerhalb dessen Interaktionen stattfinden, nicht nur »in konkreten Sozialbeziehungen«, sondern auch in »formalen Beziehungskontexten und in unterschiedlichen Sozialisationsinstanzen«.10 Sozialisation vollzieht sich vor dem Hintergrund bestimmter soziokultureller Lebensverhältnisse, denn die sozialisatorischen Umwelten haben eine spezifische »Kultur des sozialen Miteinanders«11, d. h. es gibt historisch herausgebildete »Sinn- und Handlungsstrukturen (…), auf deren Grundlage Menschen ihre Wirklichkeit deuten, Ereignissen und Erlebnissen Bedeutungen zuschreiben und im Spiegel des gemeinsamen Lebens bewerten und schließlich ihr Handeln ausrichten«12. In den Lebensphasen bzw. im gesamten Lebensverlauf werden dann typische Handlungsmuster herausgebildet. Diese Perspektive 8

Vgl. Hurrelmann 1989, S.105.

9

Vgl. Kromrey 2009, S.173, Zitate ebda.

10 Vgl. Grundmann 2006, S.40, Zitate ebda. 11 Grundmann 2006, S.95. 12 Grundmann 2006, S.96.

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stellt deutlich einen Gegenentwurf bzw. eine Erweiterung zu den Sozialisationstheorien dar, in der die Prozesse der Sozialisation als reine Vergesellschaftungsprozesse und Vermittlung gesellschaftlicher Werte und Handlungsmuster interpretiert werden.13 Es sei im Folgenden auf zwei Aspekte hingewiesen, die bei der Konkretisierung des Begriffs und mit Blick auf die vorliegende Untersuchung hilfreich sind: Sozialisation ist ein lebenslanger Prozess, d. h. dass das Individuum seine Persönlichkeit im Laufe der gesamten Lebensspanne entwickelt. Dabei wird in der Forschung eine Unterscheidung zwischen primären und sekundären Sozialisationsphasen vorgenommen, in denen den Lebensphasen Kindheit und Jugend eine besondere Bedeutung bei der Herausbildung der Persönlichkeit zugesprochen wird.14 In der vorliegenden Untersuchung wird aufgrund des Erkenntnisinteresses forschungspraktisch zwischen einer voruniversitären und universitären Lebensphase der befragten Frauen unterschieden (siehe Kap. V.1 und Kap. V.2). Da in dieser Untersuchung auch nach der Bedeutung der Universität als Sozialisationsinstanz gefragt wird, kann über eine solche Differenzierung zudem rekonstruiert werden, mit welchen Orientierungen und Handlungsdispositionen die Frauen an die Universität kommen und welche erst an der Universität gezeigt oder hier verändert werden. »Der Prozeß der Sozialisation ist immer abhängig vom jeweiligen historischen Entwicklungsstand und [von] kulturellen Kontexten einer Gesellschaft und der sozialen Lage des Individuums in ihr«15. Somit geben die historisch gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen, darunter die ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten, die Rahmenbedingungen vor, innerhalb derer Individuen ihre Persönlichkeit entwickeln. Das Individuum und seine Handlungen können nur dann verstanden werden, wenn sie »in einen sozialen und gegenständlichen Kontext« gestellt werden und dabei überprüft wird, »welchen Gestaltungsspielraum für subjektive Deutungen, Handlungen und Entwicklungen es [das Individuum] hat und welche es ausschöpft«.16 Mit Blick auf die Fragestellung, die dieser Arbeit zugrunde liegt, wird in der Kontextbeschreibung (siehe Kap. IV) die Lebenswelt der Frauen über die Sozialisationsinstanzen Familie, Schule, Peer-group, Jugendorganisation und Universität mit Rückgriff auf bestehende bildungs- und zeithistorische Forschungsergebnisse und entlang der geschilderten Kontexte in den Interviews beschrieben. Die Kontexte wiederum stehen im Zusammenhang der ökono13 Wie beispielsweise aus strukturfunktionalistischer Sicht nach Talcott Parsons; vgl. dazu die Ausführungen bei Hurrelmann 1995, S.82ff. 14 Vgl. Tillmann 2000, S.18ff. und auch Hurrelmann 2005. 15 Gestrich 1999, S.12. 16 Vgl. Hurrelmann 1995, S.86, Zitate ebda.

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mischen, politischen, kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen einer Zeit. Insbesondere die sogenannten ›langen 60er Jahre‹ (ungefähr von 1958-1973) können als eine Transformationsphase verstanden werden, in der sich Ende der 1960er Jahre bereits in Gang getretene Entwicklungen verdichten und gegenseitig beschleunigen.17 Zusammenfassend ist hervorzuheben, dass sowohl äußere Bedingungen (Sozialisationsinstanzen, eingebettet in ihre jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, mit denen Individuen in Interaktion stehen), als auch innere Bedingungen (Erfahrungsablagerungen, vorhandene und bereits entwickelte Handlungsdispositionen) Sozialisationsprozesse strukturieren und Einfluss auf das Handeln der Individuen nehmen. Für meine Untersuchung bedeutet das, dass die befragten Frauen in Interaktion mit den Sozialisationsinstanzen ihre Persönlichkeit und Handlungspraktiken in allen Lebenslagen weiter entwickeln und ggf. verändern. In der voruniversitären Lebensphase ist es vor allem der Austausch mit innerfamiliären Bezugspersonen, wie Eltern, Erziehungsberechtigten, aber auch außerfamiliären Bezugspersonen wie Freundinnen und Freunden, Kollektiven (Peer-groups) oder Organisationen wie Schule, Verein, Berufsstätte. In der universitären Lebensphase treten die Frauen in Interaktion mit einzelnen Personen wie Kommilitoninnen/Kommilitonen, Tutorinnen/Tutoren, Professorinnen/Professoren, aber auch mit universitären Gruppen wie unter anderem den Studentengruppen und der Professorenschaft.18 Da es in der vorliegenden Untersuchung jedoch nicht um die Frage nach der allgemeinen Sozialisation der befragten Frauen geht, sondern um die politische Sozialisation dieser Frauen, werden im Folgenden theoretische Ansätze zur politischen Sozialisation/Politisierung für die Untersuchung bestimmt.

17 Vgl. Siegfried 2008a; bei der zeitlichen Definition der ›langen 60er Jahre‹ wird auf die Prosperitätsphase verwiesen, in der mit dem einsetzenden materiellen Wohlstand dynamische sozialökonomische und kulturelle Entwicklungen stattfanden. Zu den 1960er Jahren in der Bundesrepublik vgl. exemplarisch Schildt/Siegfried/Lammers 2003. 18 Bei der Typenbildung in Kap. V wird eine Differenzierung zwischen einer voruniversitären Lebensphase und einer universitären Lebensphase vorgenommen, um so im Hinblick auf mein Forschungsinteresse – der Frage nach der Bedeutung der Universität als Ort politischer Sozialisation – herausarbeiten zu können, welche handlungsleitenden Orientierungen vor dem Beginn des Studium bereits gezeigt werden und welche erst im universitären Kontext das Handeln der Frauen strukturieren.

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III.2 P OLITISCHE S OZIALISATION /P OLITISIERUNG Politische Sozialisation kann als ein Teilprozess von Sozialisation im Allgemeinen gefasst werden. Die politische Sozialisationsforschung hat ihre Wurzeln in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert und geht insbesondere einher mit der Demokratieforschung.19 Es ist daher nicht verwunderlich, dass politische Sozialisation in der Regel normativ begriffen wird und dabei von der Vermittlung und Aneignung von Einstellungen und Handlungsdispositionen ausgegangen wird, die zum Erhalt einer demokratischen Ordnung notwendig sind.20 Dieser Theorieansatz zur politischen Sozialisation, ist »an eine bestimmte politische Ordnung, nämlich eine demokratische«21 gebunden, deren Erhaltung betont wird. Diesen Ansatz findet man nicht nur bei Almond/Verba (1963), auf die in diesem Zusammenhang so häufig verwiesen wird, sondern auch beispielsweise bei Claußen (1989) oder bei Kuhn (2000). So definiert Claußen (1989) politische Sozialisation wie folgt: »Politische Sozialisation bezeichnet den Prozeß des Erwerbs staatsbürgerlicher Gesamtpersönlichkeit. Dieser umfasst eine Vielzahl einander durchdringender Lernprozesse unterschiedlichster Art. Er gipfelt in der Ausprägung jenes Anteils individueller Identität, in dem Personen als Einzelmenschen, Mitglieder sozialer Gebilde und Gattungsangehörige ihr eigenes flexibles Steuerungszentrum für die aktive wie passive Existenz in lokalen, regionalen, territorialen, globalen, kosmischen Gemeinwesen finden«22.

Auch in dieser Definition sind die Prozesse politischer Sozialisation an ein bestimmtes Gesellschaftsbild gebunden. So wird davon ausgegangen, dass eine staatsbürgerliche Identität über die Integration in ein gesellschaftliches System und über eine Rollenübernahme erworben wird. Auch die Definition von Kuhn (2000), die sich insbesondere auf das Jugendalter bezieht, das in der Forschung einheitlich als eine besonders prägende Lebensphase für politische Sozialisation verstanden wird, ist eng gefasst: »Mit politischer Sozialisation im Jugendalter wird die Aneignung von Wissen, und die Entwicklung von Einstellungen und Handlungsbereitschaften bezeichnet, welche zur Übernahme der Rolle des politisch mündigen Bürgers führen – und somit die Integration in die demokratische politische Gemeinschaft gewährleisten«23.

19 Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen bei Lemke 1991, S.20. 20 Vgl. dazu Rippl 2008, S.444. 21 Rippl 2008, S.444. 22 Claußen 1989, S.13. 23 Kuhn 2000, S.137.

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Kuhn (2000) verweist hier auf das »Konzept des politischen mündigen Bürgers«, das sich anhand der festgelegten Ziele politischer Bildung in Bildungsinstitutionen manifestiert und über diese Institutionen an den einzelnen Bürger vermittelt wird. Im Vordergrund steht neben dem Erwerb politischer Kenntnisse die Herausbildung von »Loyalität, Kritikfähigkeit und Handlungsfähigkeit«.24 Diese zu entwickelnden Eigenschaften beziehen sich auf eine demokratische Ordnung. Der mündige Bürger entwickelt in seiner politischen Sozialisation Loyalität gegenüber dieser politischen Ordnung, lernt zugleich Kritik an politischen Praxen zu entwickeln und zu äußern, insbesondere, wenn diese demokratischen Regeln entgegenstehen, und kann sich über entsprechende politische Handlungen an politischen Prozessen und Entscheidungen beteiligen.25 Wird von einem dermaßen engen Verständnis ausgegangen, so stehen vor allem Fragen nach der Vermittlung und Internalisierung expliziter politischer Inhalte – im Sinne politischer Bildung und politischer Erziehung – im Vordergrund. In einem weiteren, m. E. für die Sozialisationsforschung zielführenderen Begriffs- und Theorieverständnis wird dagegen auch nach der ungezielten und informellen Aufnahme von politisch relevanten Inhalten gefragt und dabei nicht nur die als explizit politisch ausgewiesenen Sozialisationsinstanzen (wie politische Vereine oder Parteien) betrachtet.26 Politische Sozialisation kann nach einem weiteren Verständnis in allen Lebensphasen und in allen Sozialisationskontexten, somit zu jeder Zeit, stattfinden. Sie ist als Forschungsperspektive darüber hinaus nicht an ein bestimmtes politisches System gebunden. Weil hier normative Konstrukte fehlen, kann politische Sozialisation als Forschungsfrage an alle Sozialisationsprozesse (historisch, in unterschiedlichen Gesellschaften etc.) angelegt werden. Bereits seit Ende der 1960er Jahre gibt es Forschungsbeiträge, die sich von einem engen Politikverständnis, wie es oben dargestellt wurde, distanzieren. Dabei orientiert sich die Forschung an den unterschiedlichen theoretischen Zugängen der allgemeinen Sozialisationsforschung, so dass auch hier – ähnlich wie in der allgemeinen Sozialisationsforschung – eine Theorie- und Methodenvielfalt zu finden ist.27 In der bestehenden Forschung sind somit die existierenden Definitionen zu politischer Sozialisation dahingehend unterschiedlich konstituiert, als dass sie ein unterschiedliches Verständnis davon haben, was einerseits unter ›politisch‹ und anderseits unter ›Sozialisation‹ zu verstehen ist. Politische Sozialisation kann, wie ausgeführt, daher entweder mit einem engen oder weiten Politikbegriff gefasst

24 Vgl. Kuhn 2000, S.20, Zitate ebda. 25 Vgl. Fend 1991 und auch Kuhn 2000, S.20f. 26 Vgl. dazu die Ausführungen bei Rippl 2008, S.444. 27 Einen Überblick über theoretische Konzeptionen und Forschungsansätze zur politischen Sozialisation findet sich bei Rippl 2008.

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werden. Es ist dabei insbesondere das Erkenntnisinteresse des Forschenden, das die Wahl bestimmt. Insbesondere in der jüngeren Forschung zur politischen Sozialisation wird häufig auf die weite Definition verwiesen und dabei auf die theoretischen Überlegungen von Greenstein (1968) Bezug genommen, der Ende der 1960er Jahre auf die Problematik eines engen Verständnisses von politischer Sozialisation hinwies und folgende Definition vorschlug: »Narrowly conceived, political socialization is the deliberate inculcation of political information, values and practices by instructional agents who have been formally charged with this responsibility. A broader conception would encompass all political learning, formal and informal, deliberate and unplanned, at every stage of the life cycle, including not only explicitly political learning that affects political behaviour, such as the learning of politically relevant social attitudes and the acquisition of politically relevant personality characteristics«28.

Politische Sozialisation ist im Sinne Greensteins als ein Lernprozess29 zu verstehen, in dem neben einem formellen und gezielten Lernen auch informelles und ungeplantes politisches Lernen stattfinden kann. Die Inhalte, die nicht explizit politisch sein müssen, nehmen somit Einfluss auf das politische Verhalten von Individuen. In diesem Sinne findet politische Sozialisation in allen sozialen Kontexten und zu jeder Zeit statt. An diese Konzeption schließt die vorliegende Arbeit an. Sie begreift politische Sozialisation daher – in Anlehnung an ein allgemein interaktionistisches Verständnis von Sozialisation (s. o.) 30 – als einen Prozess, in dem das Individuum in Interaktion mit seiner sozialen Umwelt Orientierungen, Fähigkeiten, Werte, Normen und ein Symbolverständnis erwirbt, die sein politisches Handeln beeinflussen und strukturieren – darin inbegriffen sind auch die Sozialisationsinstanzen, die nicht explizit den Auftrag der politischen Bildung haben (wie beispielsweise die Peer-group). Analog dazu wird dieser Untersuchung ein Politikbegriff zugrunde gelegt, der über eine gouvernementale Ebene hinausgeht. Unter politischen Handlungen werden all die Handlungen verstanden, die gesamtgesellschaftlich oder in Institutionen kollektiv bindende Entscheidungen herbeiführen oder beeinflussen sollen.31 Im Sinne einer weiten Definition von politischer Sozialisation wird in dieser Arbeit deshalb davon ausgegangen, dass Inhalte und Interaktionen zwischen Individuen, die nicht 28 Greenstein 1968, S.551. 29 Greenstein unterscheidet nicht präzise zwischen Lernen und Sozialisation. In der vorliegenden Arbeit werden Lernvorgänge, also reflektierte Aneignungsprozesse von vorhandenem Wissen und Können, als Teil von Sozialisationsvorgängen verstanden. 30 Vgl. Grundmann 2006; vgl. dazu die Ausführungen in Kap. III.1. 31 Vgl. Luhmann 2000, S.253f.

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explizit-politisch konnotiert sind und beiläufig stattfinden, dennoch politischrelevant sein können, d. h. das politische Handeln von Individuen beeinflussen. Orientiert an der obigen weiten Definition nach Greenstein (1968) unterscheiden auch Hopf/Hopf (1997) zwischen manifesten und latenten politischen Inhalten, die im Sozialisationsprozess beiläufig oder gezielt erworben werden. Die folgende Abbildung nach Rippl (2008), ausgerichtet an Hopf/Hopf (1997), macht diese verschiedenen Inhaltsdimensionen politischer Sozialisation deutlich: Abbildung 1: »Inhalte politischer Sozialisation«32 Expliziter politischer Inhalt (manifest)

Impliziter politischer Inhalt (latent)

Gezieltes Lernen

Politische Bildung in der Schule (1)

Förderung von toleranten Haltungen von Kindern (2)

Beiläufiges Lernen

Übernahme von Parteipräferenzen der Eltern (3)

Konsum von Filmen, die Gewalt verharmlosen (4)

Während im ersten Fall (1) politische Inhalte oder Positionen über Sozialisationsinstanzen gezielt vermittelt werden, geht es im zweiten Fall (2) um das gezielte Lernen impliziter Inhalte, wie z. B. eine tolerante Haltung gegenüber Mitmenschen. Im dritten (3) und vierten Fall (4) werden explizite und implizite politische Inhalte beiläufig erworben. So kann einerseits von einer ›latenten‹ und andererseits von einer ›manifesten‹ politischen Sozialisation gesprochen werden. Diese Gegenüberstellung ist in der Forschung nicht konsensual, so dass gezieltes Lernen expliziter Inhalte auch als ›manifeste‹ politische Sozialisation und die anderen drei Möglichkeiten als ›latente‹ politische Sozialisation bezeichnet werden.33 Für die vorliegende Arbeit hat sich als Instrumentarium zur Analyse politischer Sozialisationsprozesse jedoch die oben in der Abbildung wiedergegebene Unterscheidung bewährt, da diese eine differenzierte Kategorisierung zulässt. Hopf/Hopf (1997) verweisen im Zusammenhang der Analyse politischer Sozialisation auf Möglichkeiten, aber auch auf Grenzen, die eine weite Definition von politischer Sozialisation offeriert. Diese ermöglicht eine erweiterte Betrachtung des politischen Feldes, andererseits weisen Hopf/Hopf aber auch darauf hin, dass über die Öffnung der Perspektive fast alle Lebensbereiche und Stationen des Individu-

32 Rippl 2008, S.444 in Anlehnung an Hopf/Hopf 1997, S.12. 33 Vgl. dazu Hopf/Hopf 1997, S.13.

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ums relevant für politische Sozialisation werden und damit auch die empirische Überprüfung latenter politischer Sozialisation schwierig gestaltbar ist. In der Forschung stehen daher häufig eher Fragen zur politischen Bildung und Vermittlung expliziter Inhalte im Zentrum, seltener wird nach latenter politischer Sozialisation gefragt. In dieser Arbeit wird nach der Genese von allgemeiner und geschlechtsspezifischer Politisierung im Lebensverlauf von Frauen gefragt und der Blick von der Kindheit über die Jugend bis ins Erwachsenenalter gerichtet. Dabei werden sowohl die latenten Prozesse politischer Sozialisation im obigen Sinne als auch die manifesten Prozesse politischer Sozialisation herausgearbeitet. Der Begriff der Politisierung wird in der Forschung oft synonym mit dem Begriff der politischen Sozialisation verwendet, so auch bei Claußen (1996). Dieser Begriff lässt sich insbesondere in der Forschungspraxis als Instrument besser einsetzen, da durch ihn die individuellen und kollektiven Handlungen im Prozess der Persönlichkeitsentwicklung konkreter benennbar sind. Der Begriff Politisierung, so Claußen (1996), ist für die Erforschung von politischer Sozialisation nicht nur deshalb fruchtbar, weil in ihm »Kernmerkmale politischer Sozialisation aufgehoben (…) und mit basalen Charakteristika der Entgrenzung von Politik bereits verbunden sind«, sondern weil er »die Konzentration oder gar Rückführung auf den Nukleus politischer Sozialisation« erleichtert.34 Politisierungsprozesse lassen sich in dieser Untersuchung einerseits über die Rekonstruktion handlungsleitender Orientierungen, die zunächst nicht politisch-relevant, d. h. auf den ersten Blick nicht mit politischen Inhalten besetzt sind, jedoch politisches Handeln strukturieren (wenn auch nicht unmittelbar), aufzeigen. So können beispielsweise über die Interaktion mit familiären oder nichtfamiliären Bezugspersonen Handlungsorientierungen erzeugt werden, die nicht unmittelbar zu politischen Handlungen führen, jedoch das politische Handeln zu einem späteren Zeitpunkt und in anderen Kontexten strukturieren. Andererseits lassen sich Politisierungsprozesse auch über solche handlungsleitenden Orientierungen aufzeigen, die in einem explizit-politischen Zusammenhang stehen, also explizit-politisch sind und politische Handlungen unmittelbar strukturieren. Wird politische Sozialisation/Politisierung in einem weiten Rahmen begriffen und nach latenten und manifesten Prozessen gefragt, so ist es notwendig, sowohl Sozialisationsinstanzen zu berücksichtigen, die offiziell und nominal als zuständig für politische Erziehung oder politische Bildung verstanden werden, als auch solche, die nicht unmittelbar einen expliziten Bildungsauftrag haben. Claußen (1996) schlägt vor, einen weiten Instanzenbegriff zu verwenden, »mit dem verschiedenwertige und unterschiedlich ausgreifende formelle wie informelle Beziehungsräume, Orte, Handlungsbereiche, Einrichtungen, Organe sowie (…) Begleitumstände 34 Claußen 1996, S.23, Zitate ebda.

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der politisch-sozialen Existenz (…), aber auch Übergangs- oder Überlappungsfelder der Politisierung bezeichnet und eingefangen werden«35. Demnach sind Instanzen politischer Sozialisation all die Bezugsgruppen und -systeme, die Einfluss auf das politische Bewusstsein und das politische Handeln von Individuen und Kollektiven nehmen. Diese treten nicht in einer vorbestimmten Reihenfolge auf, sondern oft parallel nebeneinander oder ergänzend und können sich gegenseitig ersetzen. Sozialisationsinstanzen sind gleichzeitig Erfahrungsräume, in denen sich der Mensch über die Lebensspanne hinweg bewegt, wie unter anderem die Familie (darunter auch familienähnliche oder familienersetzende Lebensgemeinschaften), die Peergroup und die Schule. Diese sind vor allem in der Kindheits- und Jugendphase von großer Bedeutung; jedoch findet hier nicht die gesamte Politisierung statt.36 So können Freundschaften und die Beteiligung in einer jugendspezifischen Vereinigung z. B. Ersatz für fehlende Kommunikation in der Familie sein oder die Zugehörigkeit und Aktivität in einer Peer-group als Protest, Ergänzung oder Fortsetzung der politischen Sozialisation in der Familie verstanden werden. Als weitere Sozialisationsinstanzen können Lebensräume hinzugezählt werden, die nicht alle Menschen betreffen und auf eine bestimmte Zeit beschränkt sind, wie beispielsweise Universitäten, Arbeits- und Ausbildungsstätten, Vereine.37 Neben diesen zentralen Instanzen sind nach Claußen (1996) im weiten Sinne auch soziale Rahmenbedingungen zu berücksichtigen. Diese sind all die Umstände in der Lebensspanne des Menschen, die »andauernd oder phasenweise, überall oder gebietsweise« auftreten und in die beschriebenen Instanzen hineinwirken und sie beeinflussen können, wie z. B. »polit-ökonomische Rahmenbedingungen«, »individuelle wirtschaftliche Lage«, »Konsum- und Freizeitwelt als Prinzip des Lebens«, »materielle Freizügigkeit« oder »das Leben mit religiösen Prinzipien«.38 Sie sind häufig den Menschen gar nicht bewusst, dennoch manchmal in einem bestimmten kulturellen oder historischen Kontext allgegenwärtig und mit großem Einfluss versehen. Hieran anknüpfend ist auch die politische Kultur einer Gesellschaft für die politische Sozialisation von großer Bedeutung. So können z. B. »die Sichtbarkeit und Intensität zivilgesellschaftlichen Engagements oder auch die Sichtbarkeit des Versagens politischer Institutionen«39, die sich in intensiver Auseinandersetzung oder gar im Protest zeigen – wie es Ende der 1960er Jahre der Fall war – das politische Interesse beeinflussen. Deutlich wird also, dass politische Sozialisation/Politisierung über die gesamte Lebensspanne innerhalb verschiedener Bezugsgruppen und -systeme sowie in histo35 Claußen 1996, S.30. 36 Vgl. dazu Claußen 1996 und auch Rippl 2008. 37 Vgl. Claußen 1996, S.34. 38 Claußen 1996, S.34, Zitate ebda. 39 Rippl 2008, S.448.

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risch und kulturell bedingten Kontexten stattfindet. Zugleich ist politische Sozialisation – wie bereits auch im Abschnitt zur Sozialisation im Allgemeinen vorgestellt – immer auch abhängig von persönlichen Wahrnehmungen und Deutungen eines Individuums. Diese Faktoren stehen in einer Wechselwirkung zueinander, was eine detaillierte Analyse der Relevanz einzelner Einflüsse schwierig macht. Dennoch ist es möglich, Politisierungsprozesse für Individuen oder Kollektive herauszuarbeiten, indem individuelle und kollektive politisch-relevante und explizit-politische Handlungsorientierungen, die in Interaktion mit verschiedenen Sozialisationsinstanzen – unter anderem Familie, Peer-group, Schule und insbesondere der Universität – gezeigt werden, herausgearbeitet, diese vor dem Hintergrund der sozialen und institutionellen Kontexte interpretiert und in ihrer Relevanz für politische Orientierungen und politisches Handeln – hier im Kontext von Studenten- und Frauenbewegung – eingeschätzt werden.

III.3 P OLITISCHE P ARTIZIPATION

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In der vorliegenden Untersuchung geht es um die Frage, wie es dazu kommt, dass einige Frauen – hier Studentinnen der Universität Frankfurt – im Kontext der Studentenbewegung politische Handlungen zeigen und in diesem Zusammenhang Geschlecht zu einem Politikum machen. Voraussetzung für die Auswahl des Samples war somit, dass die zu untersuchenden Frauen alle an diversen politischen Teilhabe- und Teilnahmemöglichkeiten partizipieren und über ihre politischen Aktivitäten Geschlecht zu einem Politikum machen. Daher soll im Folgenden der Begriff der politischen Partizipation für diese Untersuchung erläutert werden. Dafür wird zunächst die bestehende Forschungsdiskussion um die Definition politischer Partizipation skizziert, woran eine Begriffsbestimmung für die vorliegende Arbeit anschließt und am Beispiel der Universität erläutert wird. Welche Determinanten die politische Partizipation von Frauen beeinflussen können, wird an einem Erklärungsmodell nach Hoecker (1995) dargestellt und darüber schließlich das Verhältnis von politischer Partizipation und Geschlecht am Untersuchungsgegenstand erläutert. III.3.1

Politische Partizipation

Was genau unter politischer Partizipation zu verstehen ist, welche Handlungen und Kommunikation darunter zu fassen sind, welche Differenzierungen hierbei möglich sind und auf welche Weise schließlich eine Systematisierung politischer Partizipationsformen erfolgen kann, begleitet die meisten wissenschaftlichen Diskussionen um politische Beteiligung und politische Sozialisation. Die Forschungsgeschichte

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zur politischen Partizipation verläuft ähnlich wie die Forschung zur politischen Sozialisation. Bis in die 1970er Jahre hinein wurden darunter all die institutionalisierten Beteiligungsformen von Bürgerinnen und Bürger gezählt, die mit Prozessen politischer Willensbildung und Entscheidungen in institutionalisierter Form verbunden waren, wie z. B. Aktivitäten in Parteien.40 Mit einem weiten Politikbegriff wurden schließlich aber auch hier neben institutionellen Formen politischer Partizipation auch nicht-institutionelle Formen hinzugenommen. Ab den 1970er Jahren wird in der Forschung dann zwischen konventionellen (verfassten) und unkonventionellen (unverfassten) Formen sowie zwischen legalen und illegalen Formen politischer Partizipation unterschieden.41 Diese Differenzierung hat sich bis heute weitestgehend etabliert. Als konventionell werden all die Beteiligungsformen bezeichnet, die institutionalisiert sind, wie die Wahlbeteiligung; als unkonventionell all die Beteiligungsformen, die institutionell nicht verfasst sind, wie z. B. die Beteiligung an genehmigten Demonstrationen, an einer politischen Gruppe, an einer Bürgerinitiative (legal) oder an nicht genehmigten Demonstrationen, Streiks oder Hausbesetzungen (illegal).42 In einem weiten Verständnis politischer Partizipation sind auch Handlungen inbegriffen, die innerhalb eines »explizit nicht-politisch abgegrenzten Umfeldes« stattfinden und denen eine »politische Dimensionen im Sinne politischer Bedeutsamkeit« zugesprochen werden kann.43 Kritisiert wird an einem solchen Verständnis, dass dann nahezu jedes Handeln darunter gefasst werden könnte und somit die Erforschung politischer Partizipation kaum eingrenzbar wäre. Aus forschungspragmatischer Sicht hat sich deshalb – parallel zur Forschung zur politischen Sozialisation – eine Definition politischer Partizipation im engeren Sinne durchgesetzt.44 Die folgende Definition von Kaase (1994) wird in Publikationen zur politischen Partizipation oft verwendet, ist jedoch eng an ein Demokratieverständnis und ein entsprechendes politisches System gebunden: »Partizipation in der Politik bedeutet alle Handlungen, die Bürger einzeln oder in Gruppen freiwillig mit dem Ziel unternehmen, Entscheidungen auf den verschiedenen Ebenen des politischen Systems (Gemeinde, Land, Bund, evtl. supranationale Einheiten) zu beeinflussen und/oder diese selbst zu treffen«45.

40 Vgl. dazu die Ausführungen bei Kaase 2003, S.495ff. 41 Vgl. Kaase 2003, S.495ff.; vgl. dazu auch Uehlinger 1988. 42 Vgl. Hoecker 1995. Sie untersucht in ihrem Band sowohl die Entwicklung konventioneller als auch unkonventioneller politischer Partizipation von Frauen. 43 Kaase 1992, S.146, Zitate ebda. 44 Vgl. dazu die Anmerkungen von Kaase 2002, S.350. 45 Kaase 1994, S.442.

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In dieser engen Definition wird politisches Handeln als bewusste und freiwillige Tätigkeit gefasst, »mit dem Ziel, Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen«46. Hierbei werden jedoch, wie Geißel/Penrose (2003) konstatieren, Handlungen ausgelassen, die »in ihrer Konsequenz, nicht aber in ihren Intentionen politisch sind«47. Damit machen Geißel/Penrose (2003) auf den Umstand aufmerksam - den auch Kaase selbst beschreibt –, »dass man bei kollektiven Erscheinungen politischer Partizipation (wie z. B. Demonstrationen) nicht automatisch für jedes sich beteiligende Individuum eine instrumentelle, auf politische Ziele hin gerichtete Partizipationsmotivation unterstellen kann«48. Politische Partizipation kann aber mit sehr unterschiedlichen Motiven verbunden sein, die die Akteurinnen und Akteure bewusst zum Handeln bewegen. So können diese von individuellen und kollektiven Erfahrungen der Ungleichheit geleitet sein; möglicherweise geht es ihnen um die Bewahrung bzw. den Neuerwerb individueller oder kollektiver Interessen. Vielleicht sind sie selbst nicht direkt betroffen und sehen ihr Engagement als Hilfeleistung für benachteiligte Personen oder Personengruppen.49 Personen können beispielsweise auch aus einem Mobilisierungszusammenhang politisch partizipieren, ohne ein konkretes politisches Ziel zu verfolgen. Damit wird deutlich, dass eine enge Begriffsdefinition lediglich ein eingeschränktes Verständnis politischer Partizipation zulässt und daher für diese Untersuchung zu kurz greift. Es ist kein Zufall, dass die schärfste Kritik an einem solch engen Begriffsverständnis aus der feministischen Forschung stammt. Diese beanstandet, dass die politische Beteiligung von Frauen insbesondere ab Ende der 1960er Jahre und im Rahmen der neuen Frauenbewegung mit einem solchen engen Begriff nicht zu erfassen sei.50 Fuchs (2006) fasst die Kritik wie folgt zusammen: »Insbesondere wurde kritisiert, dass nur intentionale Handlungen als politisch gelten. Identitätsbildungsprozesse, expressive Handlungsweisen gerade sozialer Bewegungen und gesellschaftliches Engagement, das sich auf die Zivilgesellschaft richtet, hätten nämlich sehr wohl politische bzw. politisierende Konsequenzen. Ein enger Begriff verschleiere die politische und soziale Partizipation von Frauen«51.

Aus dieser Kritik heraus näherten sich die ›genderorientierte‹ und die ›allgemeine‹ Partizipationsforschung mit dem Ziel an, den Begriff der politischen Partizipation und das, was er zu fassen versucht, zu erweitern. Es wird vorgeschlagen zwischen 46 Kaase 2002, S.350. 47 Geißel/Penrose 2003, S.3. 48 Kaase 2002, S.350. 49 Vgl. Rucht 2010, S.1. 50 Zur Kritik vgl. Geißel/Penrose 2003. 51 Fuchs 2006, S.239.

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direkten und indirekten, legalen und illegalen, verfassten und nicht verfassten, institutionalisierten und nicht-institutionalisierten, unmittelbaren und mittelbaren, konventionellen und unkonventionellen Formen zu unterscheiden.52 Das Aufbrechen der engen Vorstellung von politischen Partizipationsformen ermögliche, so die Kritiker, einen Zugang zur Erfassung jeglichen politischen Handelns. Mit einem solch weiten Begriffsverständnis werden aber auch weitere Probleme hervorgerufen. Bei einem Versuch, diese unterschiedlichen Formen als Kategorien zu fassen, kann eine klare Trennung zwischen einzelnen Partizipationsformen verloren gehen und somit können Überschneidungen sowie Grauzonen entstehen.53 Durch die definitorische Ausdehnung des Forschungsgegenstandes konzentrieren sich daher die meisten Forschungsarbeiten zur politischen Partizipation und politischen Sozialisation inzwischen vor allem auf eine der folgenden Forschungsperspektiven, nämlich die politische Partizipation in einer bestimmten Institution oder das politische Partizipationsverhalten einer bestimmten Akteursgruppe.54 Für die vorliegende Untersuchung ist die Unterscheidung verschiedener Partizipationsformen hilfreich, um Politisierungsprozesse herauszuarbeiten. Da die Partizipationsformen während der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre an den Universitäten vielfältig sind, ist es möglich, mit einem solchen weiten Partizipationsbegriff jegliches politisches Handeln der Frauen mit zu berücksichtigen; gleichzeitig wird nur eine bestimmte Akteursgruppe berücksichtigt und in ihren Sozialisationsprozessen untersucht. Unter politischem Handeln werden im Folgenden alle Handlungen und Kommunikationen verstanden, die alleine oder kollektiv unternommen werden, um Einfluss auf gesamtgesellschaftliche und institutionelle Entscheidungen zu nehmen.55 Bei der Frage nach politischer Partizipation an der Universität kann zwischen institutionalisierten Partizipationsformen und nicht-institutionalisierten Partizipationsformen unterschieden werden. Für die vorliegende Untersuchung wurden in diesem Zusammenhang folgende Unterscheidungen entwickelt: Die nichtinstitutionalisierten Partizipationsformen unterteilen sich in legale und illegale Aktionsformen. Diese können einmalig, zeitweilig oder aber für eine längere Zeit stattfinden. Während die institutionalisierte politische Partizipation an die Dauer der Institutionsmitgliedschaft gebunden ist, können nicht-institutionalisierte Partizipationsformen an der Universität auch den Raum der Universität verlassen. Unter institutionalisierter Partizipationsform ist die Teilhabe von Studentinnen an politischen Entscheidungen der Universität zu verstehen, die durch die Universität einge52 Vgl. dazu Geißel/Penrose 2003, S.4. 53 Vgl. dazu Geißel/Penrose 2003, S.5. 54 Vgl. exemplarisch Hoecker 1995, Kuhn 2000, Fuchs 2006. 55 Vgl. Luhmann 2000, S.253f.

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räumt und ermöglicht wird, wie z. B. die Mitgliedschaft in Hochschulgruppen, die Beteiligung an Hochschulwahlen oder auch hochschulöffentlichen Diskussionsrunden. Mit dieser Form der politischen Partizipation wird den Studierenden als Mitgliedern der Universität die Möglichkeit offeriert, an vordefinierten politischen Entscheidungen teilzuhaben. Gleichzeitig wird mit der Ermöglichung von Teilhabe an politischen Prozessen auch eine gewisse Rollenerwartung der Institution an die Studierenden vermittelt. Mit der Form der nicht-institutionalisierten legalen Partizipation können alle Handlungen und Aktivitäten gefasst werden, die nicht über die Institution Universität verfasst sind, jedoch bis zu einem bestimmten Grad aufgrund ihrer rechtlichen (manchmal auch moralischen) Legitimität geduldet werden. Darunter fallen die Teilnahme an genehmigten Demonstrationen, Versammlungen, Mitgliedschaften in informellen Gruppen sowie Arbeits- und Diskussionsgruppen. Neben diesen kann auch nicht-institutionalisierte illegale Partizipation im Raum der Universität stattfinden. Damit sind all jene Aktivitäten und Handlungen gemeint, die rechtlich sanktionierbar sind, wie z. B. Teilnahme an verbotenen Demonstrationen, die Beteiligung an Streiks und Besetzungen. Diese müssen nicht, können aber mit gewalttätigen Handlungen verbunden sein, insbesondere dann, wenn mit restriktiven Maßnahmen auf diese Partizipationsform reagiert wird. Die nichtinstitutionalisierte Partizipation kann sowohl mit einem konkreten Ziel verbunden sein, aber auch aufgrund eines Mobilisierungszusammenhangs zustande kommen, ohne dass zunächst eine politische Intention gegeben ist. Gleichzeitig kann über die Form der politischen Partizipation, die ein Ausdruck der Umgangsweise mit der Rollenerwartung der Institution an seine Mitglieder ist, Aussagen über Konformitäten und Brüche mit der definierten Mitgliederrolle und den damit verbundenen Verhaltenserwartungen gemacht werden.56 In dieser Untersuchung können über Schilderungen der Sozialisationserfahrungen, die nicht unbedingt explizit-politisch konnotiert, jedoch politisch-relevant sind, und die nach der Dokumentarischen Methode ausgewertet und interpretiert werden, somit in differenzierter Form alle Handlungsorientierungen rekonstruiert werden, die das politische Handeln der Frauen strukturieren. III.3.2

Geschlecht als Motiv politischer Partizipation von Frauen

Die Entscheidung zur politischen Partizipation von Individuen hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Hoecker (1995) verweist hierbei erstens auf gesamtgesellschaftliche Bedingungen wie die politische Kultur einer Gesellschaft, zweitens auf die institutionellen Rahmenbedingungen, die den Institutionsmitgliedern Parti-

56 Vgl. dazu weitere Ausführungen zur Universität als Institution und Organisation sowie Erfahrungs- und Handlungsraum in Kap. III.4.

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zipationsmöglichkeiten anbieten oder nicht, sowie drittens auf individuelle Dispositionen und den sozioökonomischen Status eines Menschen. Diese Faktoren stehen in einer Wechselbeziehung zueinander.57 Mit Blick auf das Forschungsinteresse geht es im Folgenden um die Frage, wie die Kategorie ›Geschlecht‹ erstens theoretisch zu fassen ist, zweitens – und damit verknüpft – wie und wodurch Geschlecht zu einem Politikum werden kann, das schließlich im Falle der interviewten Frauen politische Handlungsorientierungen strukturiert. Wird ›Geschlecht‹ im Sinne von ›gender‹ als soziale Kategorie verstanden, so sind Geschlechterverhältnisse und die assoziierten Geschlechterstereotype einer Gesellschaft sowohl kulturell als auch historisch konstruiert58 und somit variabel und dynamisch59. Wetterer (2008) fasst zusammen, dass Konzepte, die von einer Konstruktion von Geschlecht ausgehen, »die soziale Wirklichkeit zweier Geschlechter in Gesellschaften (…) als das Ergebnis historischer Entwicklungsprozesse und einer laufenden sozialen Praxis [beschreiben], die immer neu auch zur Reproduktion der Alltagstheorie der Zweigeschlechtlichkeit«60 beitragen. In alltäglichen Interaktionen erfahren bewusst oder unbewusst Individuen ›Geschlecht‹ als eine Kategorie, die die soziale Ordnung und Herrschaftsverhältnisse konstituiert. Es werden sowohl geschlechtsspezifische Erfahrungen gemacht und geschlechtsspezifische Erwartungen an Individuen herangetragen, die das alltägliche Handeln von Individuen und Kollektive bestimmen. Das soziale Handeln ist somit geschlechterbezogen, sowohl auf das Geschlecht des Interaktionspartners ausgerichtet als auch auf das eigene.61 Die Geschlechterverhältnisse können von Einzelnen oder im Kollektiv infrage gestellt werden, wenn sie nicht mehr als anthropologisch gegeben, sondern als historisch-kulturell entwickelt begriffen werden, wie es am Beispiel des geschlechtspolitischen Handelns der untersuchten Frauen erkennbar wird. Für die untersuchten Frauen wird Geschlecht – und damit die Geschlechterverhältnisse und 57 Vgl. Hoecker 1995, S.28. Hoecker bezieht sich in ihrem Erklärungsmodell hauptsächlich auf Einflussfaktoren, die die institutionalisierte Form politischer Partizipation – beispielsweise Gremienarbeit oder Wahlbeteiligung – von Frauen beeinflussen. Dieses Modell kann jedoch auch weitergedacht auf nicht-institutionalisierte Partizipationsformen angewendet werden. 58 Mit der Kategorie ›Geschlecht‹ werden ›typische‹ Verhaltensweisen assoziiert, die das Handeln von Individuen, aber auch Erwartungshaltungen, Normen und Werte einer Gesellschaft bestimmen. Sie dienen »(…) vor allem der Orientierung (…), der Einordnung und Klassifizierung, der Unterscheidung und der Verständigung über die jeweilige Bedeutung in der Gesellschaft«, Rendtorff/Moser 1999, S.17. 59 Vgl. dazu die Ausführungen bei Bilden 1991. 60 Wetterer 2008, S.126. 61 Vgl. Bilden 1991, S.281.

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die geschlechtsspezifischen Rollenmuster und -stereotype, die sie im Alltag erleben und mitkonstruieren, infrage gestellt und über politische Partizipation in nichtinstitutionalisierter Form zu einem Politikum gemacht. Eine individuelle und kollektive Infragestellung von Geschlechterverhältnissen und Geschlechterstereotypen ist dabei gleichfalls ein Teil der (Neu-)Konstruktion von Geschlecht. Aus einer sozial- und kulturgeschichtlichen Perspektive wird in dieser Untersuchung dann davon ausgegangen, dass die soziale Konstruktion von Geschlecht sich vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Rahmenbedingungen innerhalb der Lebenswelt62 vollzieht, in der die Frauen aufwachsen. Die Beschreibung der Lebenswelt der Frauen (Kap. IV) gibt somit Auskunft darüber, unter welchen geschlechtsspezifischen Rahmenbedingungen die untersuchten Frauen sozialisiert werden und schließlich Geschlecht infrage stellen. Die Lebensgeschichten der Frauen, die aus den Interviews hervorgehen, geben differenziert Auskunft darüber, wie die Frauen Geschlecht erfahren, selbst konstruieren und schließlich infrage stellen. Über die Auswertung der Interviews können somit Aussagen über individuelle oder kollektive Wahrnehmungen und Konstruktionen von Geschlecht in Interaktion mit der sozialen Umwelt gemacht werden. Schließlich explizieren diese Frauen eine Kritik an die erlebten Geschlechterverhältnisse und machen durch ihre politischen Aktivitäten Geschlecht zu einem Politikum. Über eine biographische Analyse und die Rekonstruktion von Zusammenhängen, so Dausien (2006), könne sich daher »eine ›bis auf weiteres‹ gültige, plausible Theorie biographischer Prozesse und Erfahrungskonfigurationen, die sich in der Relation konkreter Subjekte zu den je konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen sie leben und handeln, konstituieren«63. Dabei können »gesellschaftliche Subjekte (…) in ihren jeweiligen historisch-sozialen Verhältnissen als widersprüchliche, differente und veränderliche, leiblich-konkrete ›Orte‹ der Erfahrungsbildung und des Handelns (…) – als reflexive Subjekte, die in je konkreten gesellschaftlichen Kontexten Identität und Zugehörigkeit konstruieren und eine Geschichte ausbilden«64, analysiert werden. Mit Blick auf eines meiner Forschungsinteressen, nämlich die Bedeutung der Universität als Ort politischer Sozialisation, wird im folgenden Abschnitt die Universität sowohl als Institution und Organisation beschrieben als auch als Erfahrungs- und Handlungsraum. Über diese theoretische Skizze soll erläutert werden, inwiefern die Universität als ein Ort politischer Sozialisation zu verstehen ist, an dem sich individuelle und kollektive Politisierungsprozesse vollziehen. 62 Vgl. zum dem Begriff der Lebenswelt die Ausführungen in Kap. II.3. 63 Dausien 2006, S.31. 64 Dausien 2006, S.31.

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III.4 D IE U NIVERSITÄT ALS O RT POLITISCHER S OZIALISATION Das Verhältnis von Staat, Gesellschaft, Institutionen und Individuum ist ein zentraler Gegenstand sozialwissenschaftlicher Untersuchungen. Über verschiedene zum größten Teil interdisziplinäre Ansätze wird hierbei der Versuch unternommen, die Reziprozität zwischen Staat, Gesellschaft, Institutionen und Individuen zu erklären und eine Brücke zwischen den Ebenen zu schlagen. Die Überlegungen hierzu sind vielfältig und reichen von (struktur-)funktionalistischen Systematisierungen bis hin zu Subjekt- und Akteurszentrierungen.65 Die Forschungsfrage, das Forschungsziel sowie die Zugehörigkeit der Forscherin/des Forschers zu einem Wissenschaftsdiskurs sind dabei ausschlaggebend für die theoretische Perspektive, die gewählt wird. Um in dieser Untersuchung der Frage nachgehen zu können, welche Bedeutung die Universität als Ort politischer Sozialisation hat, bedarf es einer theoretischen Erfassung der Universität als ein soziales Gebilde und als Sozialisationsraum, in der in institutionalisierter Form normative Regelungen und soziale Rollen vermittelt werden, aber auch Interaktionen stattfinden, die zu individuellen oder kollektiven Handlungen führen – auch abweichend von den formalen Regeln und Erwartungen der Universität. Diese Handlungen können wiederum aufgrund ihres politischen Charakters Einfluss auf die Organisationsstruktur, -ziele und -erwartungen der jeweils betroffenen Universität nehmen. Im Folgenden wird zunächst vorgestellt, inwiefern die Universität als Institution, aber auch gleichzeitig als Organisation gefasst werden kann. Daran anschließend wird die Universität als Erfahrungs- und Handlungsraum beschrieben, innerhalb derer sich Politisierungsprozesse vollziehen können. III.4.1

Universität als Institution und Organisation

Die Universität kann sowohl als Institution als auch als Organisation gefasst werden. Über eine genaue begriffliche Differenzierung kann die Universität sowohl in ihrer staatlichen und gesellschaftlichen Funktion sowie ihrer Struktur bestimmt werden als auch in der Umsetzung ihrer institutionellen Aufgaben und Ziele als Organisation. Darüber soll schließlich erläutert werden, inwiefern Universitäten zu Arenen politischer Auseinandersetzungen werden können. Im Allgemeinen werden solche im Staat geschaffenen Gebilde als Institution verstanden, »die dauerhaft (Permanenz) sowie unabhängig von sozialen Akteuren bestehen (Externalität und Objektivität), bestimmte gesellschaftliche Leitideen

65 Vgl. zur Systemtheorie Luhmann 1984; vgl. akteurstheoretische Ansätze bei Schimank 2004 und Geulen 2005.

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repräsentieren (Sinnbezug) und darüber hinaus Einfluss auf das soziale Handeln nehmen (Regulation)«66. Somit sind Regelsysteme wie die Ehe, Gesetze, das Bildungssystem, aber auch soziale Gebilde wie die Familie, die Schule und auch die Universität – als übergeordnetes Konzept – unter dem Begriff Institution zu fassen. Nach Kuper/Thiel (2010) sind Institutionen »(…) Träger der normativen Vorgaben und der sozialen Rolle, deren Verinnerlichung im Prozess der Sozialisation erfolgt«67. Sie geben staatlich geschaffene, rechtliche und normative Rahmenregelungen vor, die gesellschaftlich erwartet und in der Regel eingehalten werden.68 Die Universität als gesellschaftlich anerkanntes Regelsystem ist also als eine (Bildungs-)Institution zu verstehen, gleichzeitig können aber die einzelnen Universitäten auch als Organisationen gefasst werden. Scholl (2009) schlägt vor, Organisationen, die er als Teil bzw. Spezifizierungen von Institutionen begreift, wie folgt zu fassen: »Der Begriff der Organisation bezieht sich auf das tatsächliche soziale Gebilde (…), in dem Regeln angewendet werden. In Organisationen werden die institutionellen Regeln in tatsächliche Handlungen umgesetzt und verwirklicht. Neben der ausdrücklichen Auswahl und Vorgabe von Verhaltenszielen werden dazu generalisierte Regeln aufgestellt, die gebotene Mittel benennen, mit denen die Ziele erreicht werden können«69.

In diesem Sinne ist die einzelne Universität eine Organisation, das Universitätssystem oder – noch weiter gefasst – das Bildungssystem, die Institution. Die Universität – sowohl als Institution als auch Organisation gedacht – ist gleichzeitig ein öffentliches Gebilde, so dass staatliche und gesellschaftliche Erwartungen an sie gerichtet werden. In den Erwartungen kommen ihre Zuständigkeit sowie die zu erbringenden Leistungen zum Ausdruck. Diese Erwartungen werden über juristische Regelungen, politische Forderungen sowie private Erwartungen Einzelner an die Universität herangetragen.70 Um die staatlichen und gesellschaftlichen Erwartungen und Aufgaben erfüllen zu können, haben Universitäten eine festgelegte Struktur, über die ihre Aufgaben und Ziele umgesetzt werden sollen. Dabei werden den an der Universität versammelten Akteurinnen/Akteuren und Akteursgruppen unterschiedliche Rollen und Funktionen zugeschrieben. Hierbei kann zwischen leitenden und administrativen, lehrenden und forschenden sowie lernenden Personen oder Personengruppen unterschieden werden, die in einer Inter66 Koch/Schemmann 2009, S.22. 67 Kuper/Thiel 2010, S.485. 68 Vgl. Scholl 2009, S.81. 69 Scholl 2009, S.82, Zitat im Original hervorgehoben; Scholl verdeutlicht diesen Zusammenhang am Beispiel der Schule. 70 Vgl. Scholl 2009, S.77f.

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aktionsbeziehung zueinander stehen. Universitäten haben eine Leitungsinstanz, die die Steuerung der Kooperationen anführt und sie nach außen vertritt. Hinzu kommen Selbstverwaltungsgremien innerhalb und Instanzen außerhalb von Universitäten, die die Entscheidungsbefugnisse der Leitungsinstanz kontrollieren und ergänzen. Universitäten verfügen über eine »formale und informale Verfassung, welche die Zweckbestimmung, die hierarchische Ordnung sowie die Rechte und Pflichten, der in ihr zusammengeschlossen Akteure (…) gewährleisten soll«71. Damit die in einer Universität versammelten Mitglieder die institutionellen Regeln der Universität einhalten, gibt es institutionelle Maßnahmen wie beispielsweise institutionell festgelegte Entlohnungen, wie die Auszeichnung der Leistungen mit einem Abschluss oder auch Sanktionen wie beispielsweise die Aufhebung der Mitgliedschaft durch Exmatrikulation.72 Die Koordination der Einhaltung der Regeln sowie die Umsetzungen der Ziele obliegen den einzelnen Organisationen, die wiederum über staatlich geschaffene Institutionen wie den Kultusministerien kontrolliert werden. Dabei darf nicht vergessen werden, dass historische gesellschaftliche Entwicklungen und dabei insbesondere allgemeinpolitische und bildungspolitische Diskurse die Funktion und Ziele der Institution Universität beeinflussen. Kommt es beispielsweise zu politischen und rechtlichen Änderungen im Bildungssystem, wird von den Universitäten als Organisationen erwartet, ihre Ordnungen und Regelungen entsprechend anzupassen und für ihre Umsetzung zu sorgen, so etwa bei Hochschulreformen.73 Genauso können auch soziale, politische, ökonomische und kulturelle Veränderungen zu neuen gesellschaftlichen Erwartungen gegenüber der Institution Universität führen, die von Mitgliedern in einzelnen Universitäten als Organisationen explizit formuliert werden. Den einzelnen Universitäten wird ein Gestaltungsspielraum, was die Umsetzung staatlicher Erwartungen und gesellschaftlicher Erwartungen anbelangt, zugesprochen. Bei Nicht-Einhaltung formulierter staatlicher Erwartungen beziehungsweise der zeitlichen Verzögerung der Umsetzungen können von den Kontrollgremien und Kontrollorganisationen Sanktionen ausgesprochen werden. Werden gesellschaftliche Erwartungen, formuliert von Kollektiven oder Individuen, nicht erfüllt und umgesetzt, können die institutionellen Regeln infrage gestellt werden und diese entsprechend an einzelnen Universitäten 71 Abraham/Büschges 2009, S.22. 72 Eine solche Verhaltenserwartung der Universität an eine Mitgliedergruppe – hier die Studierenden – wird im folgenden Beispiel deutlich: Die Universität verlangt, dass die Studierenden an den Lehrveranstaltungen teilnehmen, Wissen erwerben und dieses Wissen in Prüfungen wiedergeben können. Diese Erwartung wird in Form von Regeln innerhalb der Prüfungsordnung festgehalten und kann bei fehlerhafter Umsetzung dieser Handlungserwartung zu einem Ausschluss vom Studium führen. 73 Vgl. dazu die Analyse von Rohstock 2010 zu den Hochschulreformen und der Studentenbewegung in den 1960er Jahren.

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artikuliert werden. Ebenso kann es auch zwischen einzelnen Mitgliedern und Mitgliedergruppen innerhalb einer bestimmten Universität zu unterschiedlichen Erwartungshaltungen gegenüber der institutionellen Regelungen oder ihrer Umsetzung kommen, so dass Konflikte zwischen Gruppen entstehen und im Raum der Universität ausgetragen werden. In diesem Sinne ist die Universität als ein Raum zu verstehen, in dem institutionsspezifische und politisch-relevante Fertigkeiten, Normen, Verhaltensweisen, Rollenmuster, Handlungskompetenzen, Werthaltungen und Einstellungen angeeignet werden und gleichzeitig normative Vorgaben und soziale Rollen infrage gestellt werden können. Im folgenden Abschnitt wird die Universität als ein solcher Erfahrungs- und Handlungsraum beschrieben. III.4.2

Universität als politischer Erfahrungs- und Handlungsraum

Die Universität kann als ein Raum begriffen werden, innerhalb dessen ihre Angehörigen Erfahrungen sammeln und handeln. Hier werden Erfahrungen mit Konflikten, Hilfe, Erfolgen oder Misserfolgen, Herrschaft und Abhängigkeit, aber auch mit Selbstbestimmung und Fremdbestimmung gemacht.74 Die Bedeutung, die der Universität als Lebensraum dabei zugesprochen wird, ist abhängig von individuellen Faktoren, die von Mitglied zu Mitglied unterschiedlich sein können. So können unter anderem die Erwartungen an die Aufgaben der Universität, die persönliche Identifikation mit den zu erfüllenden Aufgaben und Zielen und nicht zuletzt die über die Universität entstehenden sozialen Beziehungen Faktoren sein, die die zugesprochene Bedeutung der Universität als Lebensraum mitbestimmen.75 Insbesondere die im Raum der Universität stattfindenden Interaktionen zwischen einzelnen Akteurinnen/Akteuren und Akteursgruppen besitzen Einfluss auf das politische Handeln dieser Akteure und Gruppen. Die Interaktionen werden beeinflusst durch die mitgebrachten sowie an der Universität neu erworbenen Erfahrungen, aber auch die institutionellen Normen und Verhaltens- bzw. Rollenerwartungen, die über die Institution Universität an die Mitglieder herangetragen werden. Die institutionell vordefinierten Rollen lassen eine arbeitsteilige Differenzierung verschiedener Positionen im Raum zu, so dass die an der Universität versammelten Akteurinnen und Akteure unterschiedliche Handlungs- und Entscheidungsbefugnisse und Kompetenzen zugesprochen bekommen. Wer welche Position und Rolle einnimmt, wird somit über die formalen Regeln bestimmt. Diese formalen Regeln werden in Form von Rechten, Erwartungen und Pflichten über eine

74 Vgl. Abraham/Büschges 2009, S.31. 75 Vgl. Abraham/Büschges 2009, S.44.

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Verfassung oder eine Ordnung formuliert und sind maßgebend für die Kommunikation zwischen einzelnen Akteursgruppen (wie beispielsweise Administration, Professorenschaft, Studierende).76 Akteursrollen haben jedoch auch Handlungsmöglichkeiten einschränkende Konsequenzen, da aufgrund formal geregelter Organisationsstrukturen häufig keine Handlungsalternativen zugelassen sind und da aufgrund definierter Gratifikationen oder Sanktionen die Handlungen und Reaktionen der Akteurinnen und Akteure in bestimmten Handlungssituationen möglicherweise eingegrenzt werden.77 Das heißt aber nicht, dass das individuelle Verhalten über die formalen Regeln und die Mitgliedschaftsrolle gänzlich determiniert ist. Es obliegt den Mitgliedern, wie sie mit den formalen Regeln der Universität umgehen, da die Rollen jeweils gestaltbar sind und in Interaktionen interpretiert und auch verändert werden. Da jedoch die Mitgliedschaft an die Universität an die grundsätzliche Einhaltung formaler Regeln gebunden ist, ist bei dauerhafter Nichteinhaltung der Erwartungen und formalen Regeln die Fortsetzung der Mitgliedschaft gefährdet.78 Mit den formalen Regeln und den hierdurch zum Ausdruck kommenden Erwartungen ist somit keine konkrete Handlungspraktik verknüpft. Formale Regeln sind hinsichtlich ihrer Bedeutung sowie ihrer Anwendung in einer bestimmten Situation nicht ganz eindeutig definiert, womit auf eine wichtige Problematik hinsichtlich des Umgangs mit diesen hingewiesen ist. Ortmann (2003) verweist darauf, »(…) dass keine Regel ihre eigenen Anwendungsbedingungen zu regeln vermag, dass, mit anderen Worten, die Anwendung einer Regel Interpretationen und Entscheidungen verlangt, die sie selbst nicht (restlos) steuern kann«79. Dieses Problem lässt sich auch nicht durch die Hinzufügung einer zweiten Regel, mit der die Anwendung der ersten Regel festgelegt werden soll, beheben. Diese zweite Regel würde erneut eine entsprechende Regelung – eine Meta-Regel – benötigen.80 Innerhalb der einzelnen Universitäten finden sich daher neben formellen Organisationsstrukturen, in denen die Aufgaben und die Zusammenarbeit einzelner Mitglieder und Mitgliedergruppen 76 Vgl. dazu Ortmann/Sydow/Windeler 1997, S.319 und in diesem Zusammenhang auch Schulz/Beck 2002, die einen Überblick über organisatorische Regeln sowie die bisherige Forschung dazu geben. 77 Vgl. hierzu die Ausführungen bei Ortmann/Sydow/Windeler 1997, S.161. 78 Vgl. dazu Kap. III.4.1. Eine solche formal geregelte Erwartung der Universität an eine Mitgliedergruppe – hier die Studierenden – wird am folgenden Beispiel deutlich: Die Universität verlangt, dass die Studierenden an den Lehrveranstaltungen teilnehmen, bestimmte Inhalte erlernen und das Erlernte in den Prüfungen wiedergeben können. Diese Erwartung wird in Form von Regeln innerhalb der Prüfungsordnung festgehalten und kann bei fehlerhafter Umsetzung dieser Handlungserwartung zu einem Ausschluss vom Studium führen. 79 Ortmann 2003, S.35. 80 Vgl. Ortmann 2003 und auch Nohl 2010, S.198.

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über Regeln feststehen, auch informelle Organisationsstrukturen und informelle Regeln.81 Zu dieser Umsetzungsproblematik kommt eine weitere Problematik im Umgang mit formalen Regeln hinzu. Innerhalb von einzelnen Universitäten können Widersprüche und Unvereinbarkeiten zwischen den institutionellen Erwartungen und Zielen auf der einen Seite und den individuellen Interessen einzelner Akteurinnen/Akteure oder Akteursgruppen auf der anderen Seite entstehen.82 Die individuellen Orientierungen der Akteurinnen/Akteure spielen hierbei eine wichtige Rolle und bestimmen die Bereitschaft, der vorgegebenen Rolle an der Universität gerecht zu werden und entsprechende Handlungen bzw. Handlungsalternativen aufzuzeigen oder auch nicht. Diese Orientierungen werden über Sozialisationsprozesse erworben, die nicht nur innerhalb der Universität selbst vollzogen werden, sondern bereits in der Kindheit und Jugend, nämlich in familiären, peer-group-, schulspezifischen und jugendorganisatorischen Kontexten.83 Für die vorliegende Untersuchung lässt sich Folgendes festhalten: Die Universitäten ›1968‹ können somit als Erfahrungs- und Handlungsräume verstanden werden, in denen verschiedene Akteurinnen und Akteure politisch-relevante und explizitpolitische Erfahrungen machen, die ihr politisches Handeln strukturieren; gleichzeitig wird die Universität ›1968‹ als Institution in einzelnen Universitäten zum Gegenstand des Protestes.

81 Vgl. dazu Zell 2011, S.18. 82 Vgl. Abraham/Büschges 2009, S.11. 83 Vgl. Hurrelmann 2002.

IV. Aufwachsen und Leben in Familie, Peer-group und öffentlichen Institutionen

Die Lebenswelt1 der interviewten Frauen, in die sie hineingeboren wurden, war von tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbrüchen gekennzeichnet. Während zwei der befragten Frauen noch vor 1945 zur Welt kamen und somit ihre ersten Lebensjahre im Krieg verbrachten, wurden die anderen acht befragten Frauen in der Nachkriegszeit zwischen 1945 und 1950 geboren. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fanden Veränderungsprozesse nicht nur auf der politischen Ebene statt, sondern betrafen insbesondere das Alltagsleben der Bevölkerung. Während die parlamentarische Demokratie als Herrschaftssystem und die Republik als Staatsform 1949 eingeführt wurden und bis auf einige latente Krisen ihre innen- und außenpolitische Stabilität nicht wieder verlieren sollten, war es vor allem die Gesellschaft, die von einer Vielzahl ökonomischer, sozialer und kultureller Veränderungen, insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren, betroffen war.2 Gemeinsam haben alle Frauen, dass ihr Alltag in den ersten Lebensjahren von den Kriegs- und Nachkriegswirren geprägt war. Ihre Kindheit verbrachten sie in der Wiederaufbauphase Deutschlands und erlebten im Laufe der 1950er Jahre Modernisierungsprozesse, die durch den wirtschaftlichen Aufschwung und eine rasante Technikentwicklung, die sowohl das private Leben als auch die Arbeitswelt betraf, gekennzeichnet waren.3 Ihre Jugend verbrachten sie in den ›dynamischen

1 2

Zum Begriff der ›Lebenswelt‹ siehe Erläuterungen in Kap. II.2. Vgl. Schildt 2005; ausführlicher zur Entwicklung der westdeutschen Gesellschaft in den 1950er Jahren vgl. Abelshauser 1987 zu den ›Langen fünfziger Jahren‹ und Schildt/ Sywottek 1998 ›Modernisierung im Wiederaufbau‹; zur Entwicklung der westdeutschen Gesellschaft der 1960er Jahre vgl. Schildt/Siegfried/Lammers 2003 ›Dynamische Zeiten‹ und auch Frese/Paulus/Teppe 2005 ›Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch‹.

3

Vgl. Schild/Sywottek 1998.

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Zeiten‹4, den ›long sixties‹5. Als Transformationsphase waren die ›langen 60er Jahre‹ von wirtschaftlich-technischen Innovationen und sozioökonomischen Veränderungen durchzogen, die im Anstieg des Nettoeinkommens sowie der sinkenden Arbeitslosigkeit zum Ausdruck kamen und zu verbesserten Lebens- und Wohnstandards führten. Es entstand ein Wohlstandszuwachs für die Mehrheit der Bevölkerung, die es bis dahin nicht gegeben hatte. Zudem waren in dieser Zeitphase der ›langen 60er Jahre‹ kulturelle Entwicklungen erkennbar, die insbesondere in den Veränderungen der Geschlechter- und Familienbeziehungen, Eheschließungsprozessen sowie Erziehungsformen zum Ausdruck kamen.6 Die zeithistorische Forschung7 ist sich einig, »dass am Ende der 1950er und in den 1960er Jahren ein Einschnitt in der bis dahin dauernden Wiederaufbauphase der Bundesrepublik Deutschland erfolgte, dass in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen ein fundamentaler gesellschaftlicher Wandel stattfand und sich die Bundesrepublik auch kulturell und mental endgültig der westlichen Demokratie öffnete«8. Diese gesellschaftlichen Wandlungsprozesse wirkten sich auf die Sozialisationsinstanzen aus, so dass im Laufe der 1950er und 1960er Jahre Veränderungen in den Strukturbedingungen und Funktionszuschreibungen der Sozialisationsinstanzen erkennbar waren, die wiederum von öffentlichen und politischen Debatten dieser Zeit begleitet wurden. Um die Lebenswelt und die Bedingungen, unter denen die interviewten Frauen aufwuchsen und sozialisiert wurden, erfassen zu können, werden die Sozialisationsinstanzen unter Berücksichtigung der politischen, ökonomischen, sozialen und

4

Vgl. Schildt/Siegfried/Lammers 2003; in diesem Sammelband mit dem Titel ›Dynamische Zeiten‹ werden die gesellschaftlichen Entwicklungen seit Ende der 1950er Jahre bis in die Anfänge der 1970er Jahre nachgezeichnet.

5

Vgl. hierzu Marwick 2006.

6

Den Begriff der ›langen 60er Jahre‹ hat vor allem der britische Historiker Arthur Marwick mit den ›long sixities‹ bereits in den 1990er Jahren geprägt; vgl. Marwick 2006; vgl. Siegfried 2008a, S.15ff. zum Stellenwert von ›1968‹ in den ›langen 60er Jahren‹.

7

In der Geschichtswissenschaft wird unter ›Zeitgeschichte‹ die an die Gegenwart rückwärtig anschließende jüngste Vergangenheit verstanden. In der historischen Bildungsforschung, aber auch in der Geschichtswissenschaft, wird insbesondere in der Forschung zu Deutschland auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als Beginn der Zeitgeschichte verwiesen; vgl. Schildt 1998b, S.318. Zeitgeschichte wird demnach in der Regel als diejenige Epoche verstanden, über die Zeitzeugen noch mündlich Auskunft geben können; vgl. Rothfels 1953, S.2.

8

Frese/Paulus 2005, S.2.

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kulturellen Veränderungsprozesse der 1950er und 1960er Jahre beschrieben.9 In den biographisch-narrativen Interviews, in denen die befragten Frauen ihre Lebensgeschichte erzählten, ›kontextualisierten‹ sie bereits ihre Erfahrungen und Handlungen. Dabei war auffällig, dass insbesondere vier Sozialisationsinstanzen als Erfahrungs- und Handlungskontexte erzählt und z. T. auch beschrieben und erörtert wurden. In Anlehnung an das in den Interviews Erzählte werden im Folgenden die voruniversitären Lebensbedingungen, unter denen die untersuchten Personen aufwuchsen, dargestellt. Betrachtet werden hierbei zunächst die Sozialisationsinstanzen Familie, Schule, Peer-group und Jugendorganisationen. Im Anschluss daran erfolgt eine Beschreibung der Universität als vierte Sozialisationsinstanz, indem die allgemeinen universitären Rahmenbedingungen sowie die Studienbedingungen in den späten 1960er Jahren und Anfang der 1970er Jahre erläutert werden. Die Kontextbeschreibung dient – wie bereits in Kapitel II.3 skizziert – insbesondere dazu, die in den Interviews beschriebenen Erfahrungs- und Handlungskontexte in Ergänzung zu den subjektiven Erinnerungen und gegenwärtigen Deutungen der erwachsenen Frauen bezüglich ihrer Kindheit, Jugend und ihres jungen Erwachsenenalters zu beschreiben. Hierdurch soll es ermöglicht werden, den Rahmen, in dem Erfahrungen gemacht und Prozesse politischer Sozialisation sowie sozialer und politischer Identitätsbildung vollzogen werden, zu erfassen und im Zusammenhang der Sozialisationsprozesse der Frauen zu interpretieren.

IV.1 F AMILIE

VON DER N ACHKRIEGSZEIT BIS IN DIE 1960 ER J AHRE

Die Beschreibung der familiären Rahmenbedingungen, unter denen die befragten Frauen aufwachsen, erfolgt unter Berücksichtigung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen von der Nachkriegszeit über die 1950er bis in die 1960er Jahre, die von dynamischen und tiefgreifenden sozioökonomischen und kulturellen Veränderungen durchzogen waren. In der historischen Forschung wird der Institution Familie sowohl ein Wandel der äußeren Struktur als auch der innerfamiliären Beziehungen seit der Nachkriegszeit attestiert.10 Der Blick wird im Folgenden zunächst auf die sozioökonomischen Bedingungen der Nachkriegszeit sowie ihre Entwicklung in den 1950er und 1960er Jahren gerichtet. Deren Ausmaß wird insbesondere in der

9

Theoretische Erläuterungen zu Sozialisation und den Sozialisationsinstanzen vgl. Kap. III.1.

10 Vgl. in diesem Zusammenhang Fend 1990 zur Sozialgeschichte des Aufwachsens; vgl. Peuckert 2008 zu Familienformen im Wandel; vgl. exemplarisch Nave-Herz 2009 zum strukturellen Wandel der Familie.

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verbesserten Wohnsituation in den 1960er Jahren deutlich. Daraufhin erfolgt eine Betrachtung des politisch und öffentlich-medial verbreiteten Familienideals. Inwiefern die propagierte Form der ›Normalfamilie‹ umgesetzt wurde und welche weiteren Entwicklungen sich insbesondere ab den 1960er Jahren abzeichneten, wird über die Zahl der Eheschließungen sowie der Frauenerwerbstätigkeit erkennbar. Schließlich erfolgt ein Blick auf die innerfamiliären Verhältnisse und deren Entwicklungen in den 1950er und 1960er Jahren. IV.1.1

Ökonomische und soziale Bedingungen der Nachkriegszeit

Der einsetzende wirtschaftliche Aufschwung der 1950er Jahre und die dynamischen 1960er Jahre wirkten sich auch auf die Lebensbedingungen von Frauen und Mädchen deutlich aus. Diese Entwicklungen spiegeln sich, wie im Folgenden deutlich werden wird, besonders in den politischen und öffentlichen Debatten dieser Zeit über die Situation und Funktion der Familie wider. Insbesondere für die 1950er Jahre bezeichnend ist ein öffentlich und politisch propagiertes Familienideal, das mit einer konservativen Vorstellung von Funktion und Aufgaben der Familie sowie ihren Mitgliedern, insbesondere der Frau, einhergeht, aber im Laufe der 1960er Jahre in dieser Form immer mehr in Frage gestellt wird.11 Das familiäre Leben in der unmittelbaren Nachkriegszeit war vor allem von Entbehrungen, Versorgungsengpässen, zerstörten Städten und großen Flüchtlingsströmen geprägt. In den ersten Nachkriegsjahren standen für die Bevölkerung zunächst die Sicherung des Grundbedarfs sowie der Wunsch nach Normalisierung der Lebensverhältnisse im Vordergrund. Doch die Rückkehr zur Normalität gestaltete sich aufgrund der langjährigen Abwesenheit der Männer, die in Kriegsgefangenschaft waren oder als vermisst galten, der zerstörten Wohnhäuser, der fehlenden Infrastruktur und der Nahrungsmittelknappheit als äußerst schwierig. Das Ausmaß der Notlage zeigte sich insbesondere im strengen Winter 1946/47, als die Ernährungsversorgung und der Verkehr zusammenbrachen.12 Trotz oder gerade wegen dieser schwierigen Lebenssituation nahm das Bedürfnis nach Häuslichkeit und Familie in einem besonderen Maße zu. Die Institution Familie erfuhr eine Aufwertung, da sie für die verunsicherten und vom Krieg und Nationalsozialismus geprägten Menschen einen ›Anker‹ darstellte, aber auch einen privaten Raum und Rückzugsmöglichkeiten zusicherte, die diese während der Zeit des Nationalsozialismus

11 Vgl. in diesem Zusammenhang Ruhl 1988; vgl. Niehuss 1998 zur Familie in den 1950er Jahren; vgl. Paulus 2005 zu den Geschlechterverhältnissen in den 1950er und 1960er Jahren. 12 Vgl. Ruhl 1988 zu den sozialen Lebensverhältnissen in den Nachkriegsjahren, S.11f.

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aufgrund der diktatorischen Kontrolle der Familie aufgeben mussten.13 Die Trennung von privater und öffentlicher Sphäre wurde in der Nachkriegszeit wieder ausgebaut und die Familie als privater Rückzugsort definiert. Schelsky konstatierte diesbezüglich im Jahr 1957: »Diese Ereignisse und Erfahrungen, die – bei manchen nachteiligen Folgen – doch letzthin und durchschnittlich die gruppenhafte Stabilität der deutschen Familie erhöht haben, festigen vor allem ihre Solidaritätsfunktion, rücken den Zusammenhalt der Familienmitglieder (…) wieder in den Vordergrund der familiären Bedürfnisse«14. Besonders Frauen standen bereits in den Kriegsjahren, aber auch bis in die 1950er Jahre hinein, vor der Herausforderung, nicht nur für die finanzielle Absicherung der Familie zu sorgen, sondern z. B. auch den Hof oder den familiären Betrieb weiterzuführen. Aus dieser Notwendigkeit heraus erweiterten immer mehr Frauen ihre Aufgaben über die häuslichen Pflichten hinaus, so dass es nach der Rückkehr der Männer aus der Kriegsgefangenschaft zu innerfamiliären Spannungen um die Aufgabenverteilung kommen konnte.15 In den Nachkriegsfamilien stellte besonders die Mithilfe der Kinder eine Entlastung von der Doppelrolle der Frauen als Hausfrauen und Ernährerinnen dar. In Untersuchungen wie beispielsweise von Thurnwald (1948) wird die Hilfe der Kinder im familiären Alltag als Selbstverständlichkeit beschrieben und umfasst einen großen Teil der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit. Je nach Schicksalsschlägen und Grad der Überlastung der Eltern war die Kindheitsphase sowohl von Mithilfe und Arbeitspflicht im Haus und auf dem Hof geprägt als auch von einer Abwesenheit der Eltern beziehungsweise deren fehlenden zeitlichen Zuwendung. Erst mit den sozialen und ökonomischen Veränderungen ab den 1950er Jahren und den damit einhergehenden Lebensverhältnissen gewann die Kindheit zunehmend als Lern- und Schonraum an Bedeutung. Zudem bekam ab Ende der 1950er und in den 1960er Jahren die Freizeit für Kinder und Jugendliche eine besondere Aufwertung, die nicht nur auf die zunehmend vorhandene freie Zeit – Fünftagewoche, Arbeitszeitverkürzung und bessere Verdienstmöglichkeiten – zurückzuführen war, sondern auch auf neue innovative Freizeitgestaltungsmöglichkeiten.16

13 Vgl. in diesem Zusammenhang Mühlfeld/Schönweiss 1989; vgl. Kater 1985 und seinem Beitrag zur Elternschaft im nationalsozialistischen Erziehungssystem. 14 Schelsky 1957, S.129. 15 Vgl. Wehler 2008, S.181ff. 16 Vgl. in diesem Zusammenhang Schildt 1997, S.4f. und Siegfried 2008b, S.36ff.; vgl. dazu auch Abelshauser 1987, S.139, darin eine Repräsentativumfrage zu Arbeitszeit und Freizeit: Während 1957 nur 29% der Befragten eine Fünftagewoche und 13% an ein oder zwei Samstagen frei haben, haben noch 58% der Befragten keinen freien Samstag. Bereits einige Jahre später sieht diese Verteilung anders aus. 52% der Befragten geben an,

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Mit dem einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwung ab den 1950er Jahren kam es zu einer ernormen Wohlstandssteigerung, deutlich verbesserten Lebensstandards und zur Verbreitung moderner Konsumgüter. Das steigende Bruttosozialprodukt, der Anstieg des Nettoeinkommens von Arbeitern, Angestellten und Beamten sowie die Zunahme der ausgabefähigen Einnahmen um 50% wirkten sich deutlich auf das Familienleben aus.17 Dennoch verhielt sich die Bevölkerung in den ersten Jahren des Wirtschaftswunders in Bezug auf ihr Konsumverhalten zurückhaltend.18 In den privaten Haushalten machte sich erst ab den späten 1950er Jahren eine Veränderung der Verbrauchsstruktur und des Anschaffungsverhalten der Bevölkerung bemerkbar. Während in den 1950er Jahren noch vor allem der »starre« Bedarf gedeckt wurde und dabei das Geld für die lebensnotwendigen Gegenstände wie Nahrung, Wohnung, Heizung etc. ausgegeben wurde, überwog ab den 1960er Jahren der »elastische« Bedarf und damit die Ausgaben für unter anderem Hausrat, Kleidung und Genussmittel.19 Diese Veränderungen im Konsumverhalten und die vermehrte Nutzung neuer technischer Geräte wirkten sich auf die häuslichen Tätigkeiten innerhalb der Familie aus. Beispielsweise stieg die Anzahl der Kühlschränke im Haushalt von 52% im Jahr 1962 auf 93% im Jahr 1973 und die Verfügbarkeit von Waschmaschinen von 34% auf 75%.20 Es zeichnete sich nicht nur eine Offenheit für Technisierung und Konsum ab, sondern auch eine Veränderung der körperlichen Tätigkeiten von Hausfrauen im Haushalt, was jedoch keine Abnahme des zeitlichen Aufwandes hierfür bedeutete. Denn über die Etablierung neuer Haushaltgeräte änderte sich auch das Reinlichkeits- und Putzverhalten, da die technischen Geräte nun auch regelmäßig von den Hausfrauen eingesetzt werden mussten.21 Insgesamt waren die ›langen 60er Jahre‹ im Bereich der ökonomischen und sozialen Bedingungen in ihren Auswirkungen auf die Familien ›dynamische Zeiten‹.22

eine Fünftagewoche zu haben, 16% haben an ein oder zwei Samstagen frei und 32% haben an keinem Samstag frei. 17 Vgl. dazu die Ausführungen bei Abelshauser 1987 und Wildt 1998. 18 Vgl. Wildt 1998, S.276ff., Michael Wildt zeigt hier anhand der Verbraucherstruktur auf, dass das Konsumverhalten der Bevölkerung in den 1950er Jahren noch von Genügsamkeit und Einschränkungen geprägt war. 19 Vgl. Schildt 2005, S.280, Zitate ebda.; vgl. in diesem Zusammenhang auch Schildt 2005, S.579ff. zu den Anfängen der Konsumgesellschaft. 20 Vgl. dazu Glatzer 1998, S.295, Schildt 2005, S.581f. und auch die Ausführungen bei Lindner 2005. 21 Vgl. in diesem Zusammenhang Silies 2010, S.49. 22 Vgl. Schildt/Siegfried/Lammers 2003.

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IV.1.2

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Wohnsituation

Die Wohnsituation in den unmittelbaren Nachkriegsjahren stellte sich besonders in den vom Krieg stark beschädigten Städten als prekär heraus. In Quartieren und Mehrfamilienwohnhäusern kamen zum Teil mehrere Familien in einer Wohnung zusammen. Für viele Familien gehörte eine beengte Wohnsituation sowie eine fehlende Privatsphäre zum Alltag; dies konnte innerfamiliäre Spannungen, aber auch Streitigkeiten zwischen Familien um die Benutzung der Räumlichkeiten auslösen. Viele Flüchtlinge und heimatlose Familien zogen zu Verwandten und Bekannten in die ländlichen Gebiete, die weniger stark vom Krieg betroffenen waren. Zum Teil fanden sich hier ganze Familienverbände ein, die gemeinsam unter einem Dach lebten.23 Auch wenn sich die Situation in den 1950er Jahren langsam verbesserte, blieb der Wohnungsmangel auch in diesem Jahrzehnt weiterhin bestehen. Auf staatlicher Seite wurde eine Wohn- und Nutzfläche von zehn Quadratmetern pro Person als ausreichend bewertet.24 Zwischen den Jahren 1950 und 1960 kam es zu einer erheblichen Steigerung des Wohnungsbaus, so dass über fünf Millionen neue Wohnungen gebaut wurden, wovon mehr als die Hälfte staatlich subventionierte Sozialwohnungen waren.25 Dennoch war bis in die 1960er Jahre ein Sechstel aller Wohnungen mit mehr als nur einem Haushalt belegt. Dieser Zustand änderte sich erst im Laufe der 1960er Jahre. In dieser Zeit stellten größere Wohnungen mit eingeplantem Kinderzimmer sowie ein Eigenheim mit Garten am Rande der städtischen Ballungszentren immer häufiger den Rahmen für den familiären Alltag.26 IV.1.3

Das politisch und öffentlich verbreitete Familienideal

Bereits in den ersten Nachkriegsjahren widmeten sich unterschiedliche gesellschaftliche Interessengruppen der Familie. Einerseits entstanden in dieser Zeit die ersten größeren wissenschaftlichen Studien, die insbesondere von der soziologischen Familienforschung vorangetrieben wurden und in denen die Erforschung der Struk-

23 Vgl. Ruhl 1988, S13ff. 24 Vgl. Niehuss 1998, S.321. 25 Vgl. Schildt 1997, S.8. 26 Die Zahl der Wohnungen erhöhte sich zwischen den Jahren 1950 und 1961 um mehr als 50% und stieg bis in die 70er Jahre deutlich an; vgl. dazu Schildt 2005. Auch die uns heute als selbstverständlich erscheinenden Wohnstandards wie Zentralheizung, Einbauküche, Kinderzimmer und Badezimmer wurden im Laufe der 1960er Jahre zur Selbstverständlichkeit; vgl. dazu Schildt 2003b, S.27; zur Entwicklung des Kinderzimmers in den 1950er Jahren und den pädagogischen Empfehlungen in Ratgebern vgl. Kurth/Mallwitz 1992, S.85ff.

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tur und sozialen Lage der Familie sowie ihrer Entwicklung in der Nachkriegszeit im Vordergrund standen.27 Des Weiteren beschäftigten sich insbesondere Politikerinnen/Politiker und Forscherinnen/Forscher aus konservativen Kreisen um die katholische Kirche mit der Institution Familie. Letztere dominierten zunächst die öffentlichen Debatten um die Bedeutung und Funktion der Familie sowie die Rollenverteilung in der Familie.28 Dabei setzte sich die Kleinfamilie, ausgerichtet an einem bürgerlichen modernen Familienideal – bestehend aus verheirateten Eltern und ihren durchschnittlich zwei Kindern29 – in den 1950er Jahren nicht nur in den konservativen Kreisen innerhalb der Politik, Öffentlichkeit und Forschung, sondern auch allgemein in der Bevölkerung als Idealbild einer funktionierenden Familie durch. In diesem Familienideal drückte sich eine traditionelle Auffassung der Rolle der Frau innerhalb der Familie aus. Insbesondere in der Nachkriegszeit konnte diese Idee der Idealfamilie jedoch lediglich von einem Teil der westdeutschen Gesellschaft umgesetzt werden. Die Zahl der ›vollständigen Familien‹ wurde in den Anfängen der 1950er Jahre auf ungefähr 60% geschätzt.30 Dagegen wurden im Jahr 1950 1,7 Millionen Witwen gezählt, 2,2 Millionen Kinder erhielten Waisenrente und jedes vierte Kind wuchs ohne Vater auf.31 Hinzu kamen ein Anstieg der Scheidungsziffer sowie der Zahl der unehelichen Kinder. In den ersten Nachkriegsjahren war ein regelrechter ›Scheidungsboom‹, das heißt eine Verdopplung der Scheidungsrate, zu verzeichnen. Die hohe Scheidungsziffer war dabei jedoch einerseits auf den in den unmittelbaren Nachkriegsjahren bestehenden Verwaltungsstau zurückzuführen, wodurch Scheidungsprozesse aufgrund der eingeschränkten Tätigkeit der Gerichte aufgeschoben werden mussten und es schließlich gegen Ende der 1940er Jahre zu einer Anhäufung von Scheidungen kam. Andererseits war diese hohe Zahl auf die in den Jahren des Krieges geschlossenen Ehen sowie Fronturlaubsehen zurückzuführen. Diese hielten der jahrelangen Trennung und dem erneuten Zusammenleben der Paare nicht stand. Zudem stellte die Familie den privaten Raum dar, in dem die Aufarbeitung der vergangenen Erfahrungen sowie die Bewältigung der Nachkriegsherausforderungen stattfanden, was sich konfliktreich gestal27 Die soziologische Familieforschung wurde in den 50er Jahren vor allem von Helmut Schelsky vorangetrieben. Siehe dazu die veröffentlichten Ergebnisse seiner Bestandsaufnahmen der Wandlung der deutschen Familien im Jahr 1953; vgl. Schelsky 1953; vgl. auch exemplarisch die Arbeit von Hilde Thurnwald (1948), die sich mit den ›gegenwärtigen‹ Problemen Berliner Familien auseinandersetzte. 28 Zur Bedeutung der katholischen Kirche in der Nachkriegszeit vgl. exemplarisch Herzog 2006, 86ff.; vgl. auch Gabriel 1998 ›Katholiken in den 50er Jahren‹ oder auch Ringshausen 2003 über die Kirche in den 1960er Jahren. 29 Vgl. Fend 1990, S.102. 30 Vgl. Silies 2010, S.42. 31 Vgl. Wehler 2008, S.181.

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ten konnte.32 Aufgrund des Männermangels verringerten sich nicht nur die Heiratschancen für Frauen, es erhöhte sich zudem die Zahl der unehelichen Beziehungen sowie unehelichen Kinder. Von tausend lebend geborenen Kindern waren 1945 ungefähr 170 Kinder unehelich. Ab 1950 verringerte sich diese Anzahl auf unter 100 Kinder mit einer sinkenden Tendenz.33 Eine Besonderheit stellten die unehelichen Kinder von Besatzungsangehörigen dar. In einer Umfrage des ›Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge‹ wurden für das Jahr 1951 93.000 uneheliche Kinder von Besatzungsangehörigen ermittelt. Sowohl für diese Kinder, die den Status des ›illegitimen Kindes‹ erhielten, als auch für die nicht verheirateten und zum Teil alleinstehenden Mütter stellte sich die Situation als äußerst schwierig dar.34 Nicht immer konnten die Mütter für den Lebensunterhalt der Kinder aufkommen, die bis 1970 laut Gesetzgeber der Amtsvormundschaft unterstanden. Während 45% der unehelichen Kinder bei ihren Müttern aufwuchsen, lebten 30% bei den Großeltern (insbesondere bei den Eltern der Mutter) oder in Pflegefamilien und knapp 10% in Kinderheimen.35 In konservativen Kreisen wurden die Nachkriegsentwicklungen in den 1950er Jahren zum Anlass genommen, in politischen und öffentlichen Debatten über den ›Zerfall der Familie‹ zu sprechen und damit die Sozialform Familie als gefährdet zu beurteilen. Über die gesellschaftlich-mediale Verbreitung des Idealbildes der westdeutschen Kleinfamilie wurden andere nicht-eheliche Lebensformen rechtlich wie moralisch explizit ausgeschlossen und abweichendes Rollenverhalten gesellschaftlich nicht toleriert. Dies äußerte sich besonders in der Frage der Erwerbstätigkeit von Frauen und Müttern. Während die Berufstätigkeit bei verwitweten Frauen als notwendig erklärt wurde und daher auch öffentliche Akzeptanz erfuhr, wurde die Erwerbstätigkeit von Frauen aus ›vollständigen Familien‹ nicht gutgeheißen, auch wenn das durch die Mutter verdiente Geld zur Sicherung der finanziellen Lage der Familie notwendig war.36 Fragen nach der Erwerbstätigkeit von Müttern und der Bedeutung von Hausarbeit entwickelten sich in den darauffolgenden Jahren zu gesellschaftlichen Streitthemen.37 Die politische Förderung des Idealbildes der ›Kleinfamilie‹ lässt sich einerseits besonders gut an der allgemeinen Gesetzeslage zur Familie und Ehe erläutern, andererseits auch anhand der familienpolitischen 32 Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen bei Niehuss 1998, S.322f. und auch Wehler 2008, S.181f. 33 Vgl. Niehuss 1998, S.318f. 34 Vgl. dazu die Ausführungen bei Niehuss 1998, S.318f., die sich hier auf Akten des Bundesarchivs Koblenz bezieht; zur Lebenssituation unehelicher Kinder vgl. Gärtner 1978. 35 Vgl. Groth 1961, S.149 zitiert nach Niehuss 1998, S.318. 36 Vgl. dazu Silies 2010, S.42f. 37 Vgl. zur Bedeutung und Wandel der Hausarbeit Sachse 2002; vgl. zur Erwerbstätigkeit von Frauen unter anderem Oertzen 1999 und 2005.

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Maßnahmen der 1950er und 1960er Jahre: Auch wenn die Gesetzesänderungen 1957/58, in der die Gleichheit von Mann und Frau gesetzlich verankert wurde, zunächst den Eindruck vermittelt, Politik und Bevölkerung der Nachkriegszeit und der 1950er Jahre hätten die Gleichberechtigung der Geschlechter akzeptiert, wird bei genauerer Betrachtung der öffentlichen Reaktionen und vor allem der politischen Maßnahmen deutlich, dass dem nicht so war. Im Gleichberechtigungsgesetz (GleichberG) der BRD vom 18. Juni 1957 wurden die spezifischen Aufgaben von Mann und Frau innerhalb der Ehe und der Familie verankert. Nach § 1356 und § 1360 GleichberG war die Frau in eigener Verantwortung für die Führung des Haushalts zuständig, wodurch sie ihren Anteil an der Arbeit zum Unterhalt der Familie beitrug. Der Mann war dagegen für die Sicherung des Unterhalts der Familie durch seine Berufstätigkeit zuständig.38 Gleichzeitig richtete auch die Politik ihre Aufmerksamkeit immer stärker auf die Veränderungen von Familienstrukturen und auf das Beschäftigungsverhältnis von Frauen und jungen Mädchen, so dass in herausgegebenen Forschungsberichten deren Situation in Familie und Arbeitswelt zunehmend thematisiert wurde. Dennoch hieß es in einem Bericht der Bundesregierung aus dem Jahr 1960 über die Situation der Frauen: »(…) Mädchen, die eine Berufsausbildung erhalten hatten und dann ihren Beruf auch ausübten, empfanden ihre Berufstätigkeit zum Teil nur als eine mehr oder weniger sinnvolle Überbrückung der zwischen Schulentlassung und Eheschließung liegenden Zeit«39. Damit verweist der Bericht auf den Umstand, dass die in den meisten Familien verankerte Rollenverteilung auch noch an die jüngere Generation als Verhaltensnorm weitervermittelt wurde, so dass junge Frauen Anfang der 1960er Jahre eine dauerhafte Berufstätigkeit teilweise ablehnten und sich für eine Hausfrauenehe entschieden. IV.1.4

Eheschließung

Waren die Diskussionen in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch von der Furcht vor einer Instabilität der Familie geprägt, da die zeitgenössischen Beobachter und konservativen Politiker die Situation und Stabilität der Familie als bedroht einschätzten, kam es ab den 1950er Jahren aufgrund der steigenden Eheschließungszahlen und der sinkenden Scheidungszahlen zu einer Abmilderung der Zerfallsszenarien. Die Ehe und die Gründung einer Familie waren in der konkreten Lebensführung für immer mehr junge Erwachsene aufgrund der sozioökonomischen Verhältnisse realisierbar. In diesem Zusammenhang sank auch das Heiratsalter in den 1950er Jahren durchschnittlich von 28,1 auf 25,9 Jahren bei Männern und von 25,4

38 Vgl. Helwig 1987, S.129. 39 Bericht der Bundesregierung über die Situation der Frauen in Beruf, Familie und Gesellschaft, herausgegeben vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1960, S.9.

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auf 23,7 Jahren bei Frauen. Hinzu kam eine Entwicklung zu sogenannten ›Frühehen‹.40 Die Anzahl von jungen Frauen, die bei der Eheschließung unter 21 Jahren waren, verdoppelte sich zwischen 1950 und 1965 beinahe.41 Dieser Trend zur früheren Eheschließung hatte unterschiedliche Auslöser. Einer der Gründe lag in der größeren Chance, aus der elterlichen Obhut heraustreten zu können, denn für verheiratete Paare war es einfacher eine Wohnung zu erhalten, als für Ledige.42 Zudem war für voreheliche Beziehungen und voreheliche sexuelle Betätigung der sogenannte ›Kuppeleiparagraph‹ ein großes Hindernis. Eltern und Vermietern von Studierendenwohnungen drohte bei der Ermöglichung oder Duldung sexueller Beziehungen zwischen Minderjährigen in ihrem Haushalt eine Haftstrafe bis zu fünf Jahren.43 Somit war die Entscheidung, früh zu heiraten, auch mit dem Wunsch verbunden, auf legalem Wege und ohne gefürchtete Sanktionen sexuell aktiv zu werden. Ein weiterer Grund für die frühe Heirat stellte insbesondere die bereits eingetretene Schwangerschaft von jungen Frauen dar. So heißt es im Familienbericht des Bundesministeriums für Familie und Jugend aus dem Jahr 1968 über die Frühehen von Minderjährigen: »Die überwiegende Zahl dieser Ehen kommt nicht aus freiem Entschluß der jungen Partner zustande, sondern weil das junge Mädchen ein Kind erwartet«44. Im Jahr 1963 sind 38,1% der ehelich Erstgeborenen unehelich gezeugt worden. Von 58.000 der erstgeborenen Kinder von Frauen unter 21 Jahren waren 1963 83% vor der Eheschließung empfangen worden.45 Diese Zahlen verdeutlichen eine anzunehmende fehlende sexuelle Aufklärung und sexuelle Unwissenheit von Jugendlichen, die sich auch in zeitgenössischen Erhebungen abzeichnete.46 40 Vgl. Bundesministerium für Familie und Jugend aus dem Jahr 1968 zu den ›Frühehen‹, d. h. der Eheschließung von unter 21-Jährigen; vgl. dazu auch Zinnecker 1981, S.108f. und auch Frevert 2003, S.644. 41 Vgl. Bundesministeriums für Familie und Jugend 1968, S.27. 42 Vgl. zu Familie in den 1950er Jahren die Ausführungen bei Niehuss 1998, S.331. 43 Vgl. dazu Schäfer 1977 und auch Hartmann 2006. Hierbei ist zu beachten, dass erst mit dem 21. Lebensjahr die Volljährigkeit erreicht wurde. Erst 1975 wird die Volljährigkeit auf das 18. Lebensjahr herabgesetzt. 44 Bundesministerium für Familie und Jugend 1968, S.26. 45 Vgl. Bundesministerium für Familie und Jugend 1968, S.27. 46 In seinen Studien befragte Heinz Hunger ab 1954 unter anderem Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren über ihr Wissen um Fortpflanzungsorgane und um den sexuellen Akt. In den neuen Auflagen ab 1960 legten die Ergebnisse seiner Befragung von 1.000 Schülerinnen und Schüler dar, dass das Wissen über Sexualität und Fortpflanzung bei einem Teil der Jugendlichen gering ausfällt. Es sind insbesondere jüngere Mädchen, die kaum über Sexualwissen verfügen; vgl. Hunger 1972; in diesem Zusammenhang vgl. auch Wurzbacher 1968, S.37f. und Silies 2010, S.53.

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IV.1.5

Erwerbstätigkeit von Frauen

Nicht nur die Wohn- und Lebenssituation von Familien veränderte sich, auch das bis dahin politisch und gesellschaftlich akzeptierte Verständnis geschlechtsspezifischer Aufgabenverteilung in der Familie, wonach der Ehemann ausschließlich für die Erwerbsarbeit zuständig war und die Ehefrau und Mutter für die innerfamiliären Arbeiten, wurde hinterfragt. Die Unzufriedenheit der nicht berufstätigen Frauen mit ihrer täglich zu verrichtenden häuslichen Arbeit wurde zu Beginn der 1960er zu einem öffentlichen Diskussionsthema. Die ›Brigitte‹, eine der meist gelesenen Frauenzeitschriften der Bundesrepublik, machte beispielsweise in ihrem Artikel ›Die zornigen jungen Frauen‹ 1961 auf den Unmut junger Frauen aufmerksam: »Sie haben nie Zeit, und trotzdem langweilen sie sich zu Tode – über Arbeiten, die getan werden müssen, aber keinen Spaß machen. Sie hängen an ihrem Mann und an ihren Kindern, aber sie fühlen sich benachteiligt, zurückgesetzt, verkümmert, weil sie immer nur an der einen Hälfte des Lebens beteiligt sind und weil ihnen das verloren geht, was ›andere Frauen‹ haben: ein spannender Beruf, Umgang mit interessanten Menschen, Abwechslung, Unterhaltung (…). Sie sind unbezahlte Köchinnen, Putzfrauen ohne Stundenlohn, Kindermädchen mit Familienanschluß. Sie sind nur Hausfrauen«47.

Dass die einsetzenden Diskussionen nicht zu einem radikalen Bruch mit der bisherigen Geschlechterrollenverteilung führten, zeigen die quantitativen Relationen in den Reaktionen der Frauen auf die geäußerte Kritik. Während einige Frauen die Beschreibungen der Zustände als adäquat empfanden und sich wiedererkannten, wies der größte Teil die Vorwürfe zurück und verdeutlichte damit die Akzeptanz der in der Kleinfamilie praktizierten Geschlechterrollen.48 Entgegen dem weit verbreiteten konservativen Geschlechterrollenverständnis in den 1960er Jahren stieg jedoch parallel der Anteil der berufstätigen Frauen beträchtlich an und löste damit weitere öffentliche Debatten um die Berufstätigkeit von Frauen, insbesondere von Müttern, aus. Der Anteil der verheirateten Frauen unter den weiblichen Berufstätigen stieg in der Zeit zwischen 1950 und 1961 von 19% auf 35% und erhöhte sich nochmals bis in die 1970er Jahre, so dass 1970 fast jede zweite verheiratete Frau berufstätig war.49 Die öffentlichen und politischen Diskussionen drehten sich in diesem Rahmen insbesondere um die Gefahr der Nichterfüllung der ›mütterlichen

47 Brigitte Nr. 15 1961, S.75, zitiert nach Frevert 2000, S.645. 48 Vgl. Frevert 2003, S.645. 49 Zu den Daten vgl. Willms 1983, S.35; Gesamtüberblick über die Entwicklung der Erwerbsarbeit von Frauen von der Nachkriegszeit bis Ende der 1960er Jahre vgl. Oertzen 1999 und 2005.

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Pflichten‹ aufgrund der Berufstätigkeit von sogenannten »Rabenmüttern«, deren Kinder – als sogenannte »Schlüsselkinder« – nach Auffassung der Kritiker verwahrlosten.50 Angestoßen von öffentlichen Diskussionen über die vermeintliche erneute Bedrohung der Familie durch die mütterliche Erwerbsarbeit entstanden nun eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen, wie beispielsweise die sehr umfangreiche Studie von Elisabeth Pfeil, die sich mit dem Phänomen der Berufstätigkeit von Müttern beschäftigte.51 Pfeil (1961) weist in ihrer Studie darauf hin, dass im Jahr 1955 59% der befragten Personen sogar ein Gesetz begrüßt hätten, in dem ein Berufsverbot für Frauen mit unter zehnjährigen Kindern ausgesprochen worden wäre. Gleichzeitig spiegelte die steigende Zahl der Frauen, die sich am Erwerbsleben beteiligten, einerseits den Bedarf an Arbeitskräften in den 1950er Jahren wider, andererseits aber auch die Orientierung an Konsummöglichkeiten, von denen die Frauen durch ihren Verdienst für sich und ihre Familien einen Anteil beanspruchen wollten. Das bis dahin traditionelle »Drei-Phasen Modell«52 das die Erwerbstätigkeit von Frauen strukturierte und vereinbar mit ihren häuslichen Pflichten machte, wurde von Frauen in den 1960er Jahren dann immer weniger verfolgt. Das DreiPhasen-Modell hatte vorgesehen, dass Frauen vor der Ehe und Geburt des ersten Kindes erwerbstätig sein sollten, die Arbeit jedoch in der zweiten Phase aufzugeben hatten, um sich um die Erziehung der Kinder zu kümmern, und schließlich erst nach dem Auszug der Kinder aus dem Elternhaus wieder berufstätig werden konnten.53 Die Teilzeitarbeit, die sich schließlich in den 1960er Jahren etablierte, führte gesellschaftlich zu einer wachsenden Akzeptanz der Frauenerwerbstätigkeit, bedeutete gleichzeitig aber auch eine Doppelbelastung für die Frauen, denn sie waren in den 1960er Jahren auch weiterhin für den Haushalt und die Betreuung der Kinder zuständig.54 Insbesondere auch die familienpolitischen, konservativen Bemühungen, die die ab 1958 rechtlich verankerte Geschlechtergleichheit ignorierten, machten die gesellschaftliche Umsetzung des Gleichberechtigungsgesetzes Jahre lang fast unmöglich. Der fehlende Umsetzungswille auf politischer Ebene wurde insbesondere an den Forderungen und Maßnahmen des Familienministers Franz-Josef Wuermeling deutlich.55 Das ›Ministerium für Familienfragen‹ entstand 1953 und konzentrierte sich zunächst auf die innerfamiliären Themen wie Kindererziehung und Kinderbe50 Vgl. in diesem Zusammenhang Niehuss 1998, S.327, Zitate ebda. 51 Vgl. Pfeil 1961; in ihrer Erhebung untersucht Elisabeth Pfeil 900 Frauen aus ›vollständigen Familien‹. 52 Niehuss 1998, S.329. 53 Vgl. zum Drei-Phasen-Modell Niehuss 1998, S.329. 54 Vgl. zur Erwerbsarbeit und Teilzeitbeschäftigung von Frauen Oertzen 1999. 55 Vgl. zu den Geschlechterverhältnissen in den 1950er und 1960er Jahren Frevert 2003, S.643ff.

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treuung, aber auch auf die finanzielle Situation von Familien sowie die Probleme, die zur Instabilität von Familien führen könnten. Die sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnisse, Werte und Normen wurden nicht konstruktiv berücksichtigt, sondern eher als Bedrohungsszenarien für das konservative Familienleitbild wahrgenommen. Die Radikalität von Franz-Josef Wuermelings konservativer Familienpolitik wurde insbesondere in den 1960er Jahren erkennbar, als er die Umsetzung politischer Maßnahmen forderte, die die Geburtenkontrolle verhindern, die Scheidung erschweren und schließlich die Erwerbstätigkeit von Müttern ganz verbieten sollten.56 IV.1.6

Innerfamiliäre Beziehungen

Doch wie gestalteten sich die Umgangsformen innerhalb der Familie und das Erziehungsverhalten der Eltern in den 1950er und 1960er Jahren? Betrachtet man die Familienforschung, die sich sowohl mit innerfamiliären Beziehungen als auch speziell mit dem Eltern-Kind-Verhältnis auseinandersetzt, so wird einstimmig konstatiert, dass sich seit der Nachkriegszeit die Autoritätsverhältnisse innerhalb der Familie gewandelt haben. Dabei wird auf ein stärker autoritäres Verhalten in den 1950er Jahren und einer Abnahme von Autorität sowie die Tendenz zu partnerschaftlichen, diskussionsoffenen und transparenten Umgangsformen zwischen Eltern und Kindern besonders ab Ende der 1960er Jahre verwiesen.57 Bereits in der Forschung der 1950er Jahre stellt Schelsky – verweisend auf soziologische Untersuchungen von Wurzbacher 1949/50 und dem Emnid-Institut 1954 – für die Gesellschaft dieser Zeit eine Entwicklung von einer patriarchalischen hin zu einer partnerschaftlich-gleichberechtigten Beziehung der Familienmitglieder zueinander fest: »Bei etwa zwei Drittel der deutschen Familien ist heute eine partnerschaftliche, von institutionellen Autoritätsansprüchen wesentlich freie Familienverfassung festzustellen, während der Anteil patriarchalischer Familien sicherlich unter 20% liegt«58. Hinsichtlich der Eltern-Kind-Verhältnisse verweist Schelsky erneut auf die Studie von Wurzbacher 1949/50, der eine quantitative Typisierung des Eltern-KindVerhältnisses vornahm und zu folgenden Ergebnissen kam: »Er (Wurzbacher) unterschied die ›Ausübung starker elterlicher Verfügungsgewalt über das Kind‹, also das patriarchalische Elternverhältnis (7%), von einer Gruppe von Familien, in denen das Kind eine zentrale Stellung in der Familie einnimmt, aber auch starke Übertragun-

56 Vgl. Silies 2010, S.45ff. zu den familienpolitischen Maßnahmen der 1950er und 1960er Jahre. 57 Vgl. in diesem Zusammenhang Fend 1990, S.126 und Peuckert 2008, S.132ff. 58 Schelsky 1957, S.148f.

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gen von Elternwünschen auf das Kind vorhanden sind (47%), und einer Gruppe, in der die Eigenständigkeit des Kindes und der kindlichen Entwicklung von den Eltern betont und geachtet wird (38%)«59.

In diesem Zusammenhang verweist auch Fend 1990 auf eine Emnid-Jugendstudie, in der sich die befragten Personen an ihre Erziehung zurückerinnern sollten und konstatiert eine Veränderung der Umgangsformen der Eltern gegenüber ihren Kindern seit der Nachkriegszeit, die er als Ausdruck veränderter Autoritätsverhältnisse interpretiert. 24% der Befragten der Geburtsjahre 1954/55 gaben an, eine harte/strenge und manchmal ungerechte Erziehung erfahren zu haben, 46% gaben an, ausgeschimpft und angemurrt worden zu sein und 21% wurden geschlagen. Im Vergleich dazu sagten Personen, die zehn Jahre später geboren worden waren, dass sie weniger autoritäres elterliches Verhalten erfahren haben (14% harte/strenge und manchmal ungerechte Erziehung; 37% wurden ausgeschimpft und angemurrt; 9% wurden geschlagen).60 Die für diese Untersuchung befragten Frauen wuchsen in den 1950er und 1960er auf, die auch in der Forschung als die »golden age of marriage«61 bezeichnet werden. Die Eheschließung sowie die Familiengründung erhielten in dieser Zeit, sowohl über die öffentlich-mediale Verbreitung eines Idealbildes der Familie als auch über die politisch-rechtlichen Verankerungen und Fördermaßnahmen für verheiratete Paare mit Kindern, eine deutliche Aufwertung. Der familiäre Normaltypus, der als erstrebenswert propagiert wurde, ist die moderne Kleinfamilie, bestehend aus verheirateten Eltern und durchschnittlich zwei Kindern. Jeder Erwachsene war nicht nur berechtigt eine eigene Familie zu gründen, sondern auch dazu verpflichtet.62 Damit einhergehend erleben die interviewten Frauen ein öffentlich und politisch vertretenes konservatives Familienleitbild und Geschlechterrollenmuster, in dem abweichendes Verhalten und die Nichteinhaltung der gesellschaftlichen Erwartungen als Normbruch und sittlicher Verfall gewertet wurde. Auch Sexualität galt als ein Tabuthema und nicht-eheliche Beziehungen wurden nicht akzeptiert, was die Zahl der geschlossenen Frühehen aufgrund von Schwangerschaft Anfang der 1960er Jahre belegen. Die 1960er Jahre können daher zunächst als eine »Phase der sexuellen Informalisierung und Verunsicherung« bewertet werden und weniger »als Phase tiefgreifender Verhaltensveränderung«.63 Gleichzeitig werden aber über die 59 Schelsky 1957, S.150. 60 Emnid-Jugendstudie des Jugendwerk der Deutschen Shell 1981, zitiert nach Fend 1990, S.108ff.; vgl. dazu auch Zinnecker 1981, S.91ff. 61 Van de Kaa (o. D.) zitiert nach Peuckert 2008, S.16. 62 Vgl. Peuckert 2008, S.20f. 63 Vgl. Schildt 2003b, S.33, Zitate ebda.

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sozioökonomischen wie kulturellen Veränderungen auch Tendenzen erkennbar, die auf einen Wandel der innerfamiliären Beziehungen, Erziehungsvorstellungen sowie auf geschlechtsspezifische Rollenmuster hindeuten. Festzuhalten ist, dass Frauen sich stark verändernde Familienverhältnisse erlebten. Außerhalb der familiären Lebenswelt machten die befragten Frauen Erfahrungen in jugendspezifischen Institutionen und Gruppen. Insbesondere im Austausch mit den Sozialisationsinstanzen Schule und ihren Mitgliedern sowie mit der Peergroup öffneten sich jenseits der Familie neue Erprobungsräume für die jungen Mädchen, innerhalb derer jugendspezifische Aktivitäten möglich waren. Daher wird im Folgenden der Blick auf die Schule und schulische Sozialisation in den 1950er und 1960er Jahren gerichtet, um daraufhin die Peer-group und die Jugendorganisationen als Sozialisationsinstanzen zu betrachten.

IV.2 S CHULE UND SCHULISCHE S OZIALISATION IN DEN 1950 ER UND 1960 ER J AHREN Der schulische Alltag der befragten Frauen begann aufgrund der unterschiedlichen Geburtsjahre zu verschiedenen Zeitpunkten. Während zwei Frauen – die vor 1945 geborenen – noch Schulbedingungen erlebten, die von den Kriegsfolgen und den Entbehrungen der unmittelbaren Nachkriegszeit geprägt waren, begann für die weiteren acht Frauen die Schulzeit erst in den 1950er Jahren. Der Blick wird im Folgenden auf die schulischen Rahmenbedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit – die Wiedereröffnung der Schulen – gerichtet, worauf in einem zweiten Schritt eine Betrachtung der Entwicklung des Schulsystems unter Berücksichtigung der Reformdebatten und -reforminitiativen erfolgt. Da alle interviewten Frauen im Schulverlauf für eine kurze oder längere Zeit eine Mädchenschule besuchten, werden auch die Mädchenschulen sowie zeitgenössische Debatten um Geschlechterverhältnisse in den 1950er und 1960er Jahren eingehender betrachtet. Schließlich wird die Schülerbewegung ab Mitte der 1960er Jahre beschrieben und darüber die in diesem Rahmen bestehenden schulischen Sozialisationsbedingungen erfasst, die für die Frauen bedeutsam sind. IV.2.1

Die Wiedereröffnung der Schulen und die Entwicklung des Schulsystems seit der Nachkriegszeit

Die Wiedereröffnung der Schulen vollzog sich insbesondere in den schwer zerstörten Städten schleppend. In einigen Regionen wurden die Schulen aufgrund der dramatischen Lebenssituation der Bevölkerung zunächst nicht unmittelbar nach Kriegsende wiedereröffnet. Wenn der Unterricht dann wieder stattfinden konnte,

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fand dieser in den ersten Jahren und in einigen Gegenden sogar bis Mitte der 1950er Jahre aufgrund des Raummangels abwechselnd an Vormittagen und Nachmittagen statt. Hinzu kam das Problem fehlender Lehrkräfte, das sowohl auf die Entnazifizierung als auch auf die Kriegsgefangenschaft oder den Tod vieler Lehrerinnen und Lehrer zurückzuführen war.64 Improvisation bzw. Provisorien, fehlende Lehrbücher und Lehrmaterialien zeichneten den Unterricht in den ersten Nachkriegsjahren aus. Die erste Konferenz der Erziehungsminister alle Länder fand im Jahr 1948 statt, in der über die schwierige Situation der Schulen, die Befürchtung der sinkenden Leistung der Schülerinnen und Schüler, mangelnde Bildung als zu befürchtendes Resultat sowie die sittliche Gefährdung der Schülerinnen und Schüler debattiert wurde.65 Der westdeutsche Schulbetrieb wurde in einer vertikalen Struktur mit unterschiedlichen Schularten (Grundschule, Volksschule, Mittel-/Realschule, Gymnasium) organisiert. Damit blieb die äußere Form des deutschen Bildungssystems in seiner historisch gewachsenen Struktur, das heißt in der Tradition des Deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik, erhalten. Das Besondere am Schulsystem seit dem 19. Jahrhundert lag in der äußeren Differenzierung des Sekundarunterrichts in unterschiedliche Schularten sowie in der Unterscheidung zwischen niederem und höherem Bildungswesen. Während die Volksschulen z. B. im Kaiserreich für die Elementarbildung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung zuständig waren, die in den acht Pflichtschuljahren in der Regel keine andere Schule besuchten, vermittelten die höheren Unterrichtsanstalten (Realschultypen, Gymnasialformen) am Ende des 19. Jahrhunderts weiterführende und in den Gymnasien wissenschaftsorientierte Lehrinhalte. So erhielten die Schulabsolventinnen und -absolventen dann an den Gymnasien die Berechtigung zum Eintritt in die höhere Berufslaufbahn des öffentlichen Dienstes sowie die Berechtigung zum Hochschulstudium.66 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die vertikale Struktur nach einer langen Entwicklungsphase durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch klar ersichtlich und durch Schulen bestimmt, die nach Typen differenziert werden können. Zu den höheren Unterrichtsanstalten, die zum Studium befähigten, gehörten ab 1900 »das (altsprachliche) Gymnasium, das (neusprachliche) Realgymnasium und die (mathematisch-naturwissenschaftliche) Oberrealschule«67. In den schulpolitischen Debatten der Zeit wurden die höheren Anstalten (insbesondere die Gymnasialtypen) von ihren Kritikern als Reproduktionsinstanzen der Bildungsinteressen der bürgerlichen Schichten beurteilt, die aufgrund eines bildungspolitischen Protektionismus die soziale Mobilität und den Aufstieg für den Mittelstand sowie für die Arbeiter64 Vgl. zum Lehrermangel nach 1945 und die Wiedereröffnung der Schulen Führ 1997, S.238. 65 Vgl. Furck 1998a, S.247. 66 Vgl. zur Entwicklung des deutschen Bildungssystems Drewek 1994b, S.228f. 67 Drewek 1994b, S.230.

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schaft über Bildungsabschlüsse erschwerten. Aufgrund der geburtenstarken Jahrgänge, der wirtschaftlichen Hochkonjunktur und der relativ guten sozialen Absicherung auch für den alten und neuen Mittelstand setzte im späten Kaiserreich zugleich eine ›Bildungsexpansion‹ im höheren Schulsystem ein, in deren Zuge Schülerinnen und Schüler bzw. Familien insbesondere aus dem Mittelstand durch die sozioökonomische Lage dazu ermuntert wurden, über die Erreichung höherwertigerer Abschlüsse bessere Berufspositionen und damit einen sozialen Aufstieg anzustreben. So entstand ein »sozialer Druck auf höherwertige Bildungskarrieren«, der insbesondere durch die Kopplung von Bildungs- und Beschäftigungssystem durch das Berechtigungssystem (Schul- und Hochschulqualifikationen regulieren die Laufbahnen und Gehaltsstrukturen im Beruf und damit den sozialen Status) entstand.68 Diese Struktur, ein vertikal gegliedertes Schulsystem mit unterschiedlichen Berechtigungen je nach Schulart, blieb auch in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus erhalten. Sie wurde nur graduell, ohne die systemisch relevanten Elemente zu berühren, verändert. So blieb auch in der Weimarer Republik die äußere vertikale Gliederung des Schulsystems weiterhin bestehen. Lediglich die Einführung der Grundschule ragte in dieser Zeit aus der Summe der Reformen heraus, wobei auch diese Reform, die zu einer höheren sozialen Gerechtigkeit beim Übergang in die weiterführenden Schulen führen sollte, dieses Ziel nicht erreichte. Die Grundschulen wurden schulorganisatorisch geführt als Unterstufe der Volksschulen. Durch Umzüge der Eltern konnte die Einschulung der Kinder auf bestimmten Grundschulen vermieden werden.69 Die soziale Differenzierung des Zugangs zu den Schulen wurde kaum verändert. Auch im Nationalsozialismus blieb die äußere Struktur des Schulsystems erhalten. Lediglich die Vielzahl der bestehenden höheren Unterrichtsanstalten seit der Weimarer Republik wurde mit dem Begriff der ›Deutschen Oberschule‹ zu einer Schule zusammengefasst, ohne jedoch tiefgreifende Veränderungen in den Strukturen und Funktionen (Berechtigungssystem) hervorzurufen. Veränderungen und Anpassungen erfuhren insbesondere die Lehrinhalte, die an die Ideologie des Nationalsozialismus angepasst wurden, sowie die Zusammensetzung der Lehrerschaft, die durch Gesetze und Terror dem Regime gefügig gemacht werden sollten.70 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden parallel zur praktischen Wiederherstellung des Schulbetriebs Ansätze für eine Reform des Schulsystems. Die bildungspolitischen Reforminitiativen wurden insbesondere von den alliierten Besatzungsmächten sowie von den im Nationalsozialismus unterdrückten und ver68 Drewek 1994a, S.230, Zitat ebda. 69 Vgl. zur Entwicklung der höheren Schulen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus Gass-Bolm 2005, S.60f.; vgl. zur Entwicklung des Schulsystems in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus Zymek 1987, S.121ff. 70 Vgl. in diesem Zusammenhang Drewek 1994b, S.230f.; vgl. Zymek 1987.

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folgten politischen Organisationen und Parteien, aber auch von Einzelpersonen, die aus der Emigration zurückgekehrt waren, angestoßen und umgesetzt. Einig war man sich politisch darin, dass eine Wiedererstarkung nationalsozialistischer Überzeugungen und politisch aggressiver wie kriegerischer Expansionspolitik durch Aufklärung und Erziehung verändert bzw. verhindert werden müssten und dass das Bildungssystem dazu einen wichtigen Beitrag leisten müsse und könne. Das gemeinsame Umerziehungsprogramm (re-education) der Alliierten wurde dann durch eine Kontrollratsdirektive bestimmt, die insbesondere durch die amerikanischen Besatzer beeinflusst war. Diese, so Herrlitz/Hopf/Titze/Cloer (2009), »(…) bekräftigte die Prinzipien einer demokratischen Bildungsreform (gleiche Bildungschancen für alle, Unentgeltlichkeit des Unterrichts) und konkretisierte sie vor allem im Sinne des amerikanischen Schulsystems, indem sie sich für ein integriertes, stufenartiges Bildungswesen (comprehensive educational system) und für die starke Betonung staatsbürgerlicher Erziehung, sowohl durch ein eigenes Schulfach (›Gemeinschaftskunde‹ im späteren Sprachgebrauch) als auch durch eine demokratische Gestaltung des gesamten Schullebens aussprach«71.

Bildungspolitische Interventionen wurden in drei Bereichen als notwendig attestiert: »Bei der umfassenden Revision der Inhalte schulischen Lernens, beim Auswechseln des an der nationalsozialistischen Herrschaft beteiligten Lehrpersonals und bei der Veränderung der Schulstruktur«72. Aus amerikanischer Perspektive wurde die vertikale Gliederung des deutschen Schulsystems, das seit dem 19. Jahrhundert zwischen Volksschulen und höheren Schulen unterschied, als Hindernis für eine politische Demokratisierung und Modernisierung bewertet.73 Gleichzeitig wurde die Trennung von »Elite- und Massenbildung (…) als Ursache für die festgestellte Unterwürfigkeit der Deutschen«74 gewertet, die ein Denken in Hierarchien und Autoritätsmustern zur Folge hatte, welche letztlich auch zur Akzeptanz eines diktatorischen politischen Systems beitrug. Gefordert wurde von den Amerikanern eine horizontale Gliederung des Schulsystems, wie es im amerikanischen Schulsystem gegeben war. Während die Amerikaner eine grundlegende Veränderung des historisch gewachsenen deutschen Schulsystems als notwendig erachteten, waren sich die französischen und britischen Besatzer darin einig, dass keine wesentliche Veränderung und Anpassung des deutschen Schulsystems, z. B. an das französische oder englische Schulsystem erforderlich sei, sondern es ausreiche, auf Lehrerschaft und Unterrichtsinhalte einzuwir71 Herrlitz/Hopf/Titze/Cloer 2009, S.158. 72 Herrlitz/Hopf/Titze/Cloer 2009, S.158. 73 Vgl. Drewek 1994a, S.235f. 74 Gass-Bolm 2005, S.127.

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ken.75 Auch aus deutscher Sicht wurde eine äußere Umstrukturierung des Schulsystems überwiegend abgelehnt und an der Tradition des Schulsystems der Weimarer Republik, an der man sich als demokratischer Vorbildepoche auch in schulstrukturellen Fragen orientierte, festgehalten. Spätestens 1947 veränderte sich die amerikanische Schulpolitik vor dem Hintergrund des sich aufbauenden Ost-WestKonflikts. Mit der veränderten politischen Lage entstanden Bestrebungen, die neue Bundesrepublik Deutschland als Verbündeten in das ökonomische und bündnispolitische System der Westmächte zu integrieren. Dabei wurden die amerikanischen Bestrebungen zugunsten der deutschen Reformkonzepte, die sich an den Traditionen des deutschen Bildungssystems orientieren, zurückgenommen. Diese Konzepte leiteten in den 1950er Jahren die Schulpolitik in den einzelnen Bundesländern an.76 Im Sinne des Föderalismus waren die Länder selbst für die Wiederherstellung und Normalisierung der Rahmenbedingungen der Schule und für die Struktur des Schulsystems verantwortlich. Dies führte dazu, dass in den ersten Jahren unterschiedliche Voraussetzungen, Rahmenbedingungen und Gesetzesinitiativen formuliert wurden, die in den Ländern unterschiedliche Umstrukturierungen der Schulen vorsahen.77 So wurde beispielsweise in Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein die Dauer der Grundschule von vier Jahre auf sechs Jahre ausgedehnt, im Verlauf der 1950er Jahre jedoch erneut auf vier Jahre verringert. Konsens gab es jedoch in der ersten Nachkriegszeit hinsichtlich der Erziehungsund Bildungsziele der Schulen, die von christlichen, aber insbesondere demokratischen Grundüberzeugungen geprägt waren. So hieß es beispielsweise in Artikel 56 der hessischen Landesverfassung vom 1.12.1946, an dem der Kultusminister und Verfassungsrechtler Erwin Stein mitarbeitete: »Grundsatz eines jeden Unterrichts muß die Duldsamkeit sein. Der Lehrer hat in jedem Fach auf die religiösen und weltanschaulichen Empfindungen aller Schüler Rücksicht zu nehmen. (…) Ziel der Erziehung ist, den jungen Menschen zur sittlichen Persönlichkeit zu bilden, seine berufliche Tüchtigkeit und die politische Verantwortung vorzubereiten zum selbständigen und verantwortlichen Dienst dem Volk und der Menschheit durch Ehrfurcht und Nächstenliebe, Achtung und Duldsamkeit, Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit. Der Geschichtsunterricht muß auf getreue, unverfälschte Darstellung der Vergangenheit gerichtet sein. Dabei sind in den Vordergrund zu stellen die großen Wohltäter der Menschheit, die Entwicklung von Staat, Wirtschaft, Zivilisation und Kultur, nicht aber Feldherren, Kriege und Schlachten.

75 Vgl. Drewek 1994a, S.241. 76 Vgl. zur Entwicklung der Schulen in der Nachkriegszeit die Ausführungen von Herrlitz/Hopf/Titze/Cloer 2009, S.161f. 77 Vgl. Furck 1998a, S.248.

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Nicht zu dulden sind Auffassungen, welche die Grundlagen des demokratischen Staates gefährden«78.

In den Landesverfassungen und Schulgesetzen anderer Ländern waren die Aufgaben auf ähnliche Weise definiert. Die Kirchen konnten allerdings in der unmittelbaren Nachkriegszeit die demokratischen Forderungen nach Einheitlichkeit und Entkonfessionalisierung der Schulen zurückweisen.79 In einigen Ländern wurden Bekenntnisschulen errichtet, »in der Überzeugung, dass nur eine christliche Erziehung in der Einheit des Bekenntnisses von Kirche, Elternhaus und Schule die wahren sittlichen Werte vermitteln könne«80. Gleichzeitig führten die verschärften OstWest-Unterschiede zu verstärkten antikommunistischen Grundhaltungen im Westen, damit zu einer von Politik und Bevölkerung geteilten Ablehnung von »Einheitsschulen«, die unter den Verdacht »kommunistischer Nivellierung« fielen.81 Die christliche Erziehung – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Minimierung und Vereinnahmung christlich-religiöser Überzeugungen und Praktiken – hatte mancherorts eine enorme Aufwertung erhalten, die bis in die 1960er Jahre erhalten blieb.82 In den 1950er Jahren wurde schließlich das allgemeine dreigliedrige Schulsystem, das sich als Grundstruktur bereits ab der Weimarer Republik immer deutlicher abgezeichnet hatte, flächendeckend durchgesetzt. Damit sich das Bildungssystem durch die föderative Struktur und Zuständigkeit nicht noch weiter ausdifferenzierte, wurde die ›Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder‹ (KMK) geschaffen. Mit dem ›Düsseldorfer Abkommen‹ von 1955 war die Dreigliedrigkeit des Schulsystems (Volksschule, Mittelschule, Gymnasium) festgeschrieben. Die traditionellen und nicht zum Abitur führenden höheren Schulen, wie die Rektoratsschulen sowie die im Nationalsozialismus als Deutsche Oberschulen fortgeführten höheren Anstalten, die in der Weimarer Republik entstanden waren, wurden mit diesem Abkommen aus dem Schulsystem der Bundesländer gestrichen und für alle Länder die Bezeichnung ›Gymnasium‹ für alle Anstalten mit Abiturberechtigung festgelegt.83 Die Notwendigkeit einer Reform des dreigliedrigen Bildungssystems, durch die die Schulen Strukturveränderungen, qualitative Verbesserungen sowie einen quantitativen Ausbau erfahren sollten, wurde erst durch die Zunahme der Schülerzahlen – es traten die geburtenstarken Jahrgänge in das Bildungssystem ein – und die öffentlichen bildungspolitischen Diskussionen um die ökonomische Wettbewerbsfähig78 Hessische Landesverfassung vom 1.12.1946, Artikel 56, zitiert nach Führ 1997, S.21. 79 Vgl. in diesem Zusammenhang Herrlitz/Hopf/Titze/Cloer 2009, S.162. 80 Furck 1998b, S.283. 81 Vgl. dazu die Ausführungen bei Herrlitz/Hopf/Titze/Cloer 2009, S.163, Zitat ebda. 82 Vgl. Führ 1997, S.57ff. 83 Vgl. zur Entwicklung des Schulsystems seit 1945 Drewek 1994b, S.245.

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keit der Bundesrepublik im internationalen Vergleich zu einem dringlichen Thema. Ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre waren die zeitgenössischen Bildungsdebatten daher vor allem von Kritik durchzogen. Spätestens mit dem sowjetischen Erdsatelliten – als Symbol für die fortgeschrittene wissenschaftliche Entwicklung und das Wissen und Können der Bürgerinnen und Bürger in der Sowjetunion – nahmen dann die öffentlichen Debatten um eine Rückständigkeit des deutschen Bildungssystems im internationalen Bildungswettbewerb zu und wurden nachdrücklicher. Dieser sogenannte ›Sputnikschock‹ verstärkte somit die tiefgreifenden bildungspolitischen Diskussionen, die an den bereits laufenden hochschulpolitischen Debatten nicht folgenlos vorbeigingen. In den darauf folgenden Jahren wurden diese Diskussionen durch die Prognose von Georg Picht aus dem Jahr 1964, die unter dem Stichwort einer »deutschen Bildungskatastrophe« veröffentlicht wurde, und Ralf Dahrendorfs Plädoyer, der ein Jahr später Bildung zum Bürgerrecht deklarierte, intensiviert.84 Sowohl Georg Picht als auch Ralf Dahrendorf verstärkten bereits laufende öffentliche Debatten, ihre Bedeutung für die Bildungsreformen ab Mitte der 1960er Jahre darf aber nicht überschätzt werden.85 Es waren längst vehemente öffentliche und bildungssysteminterne Diskussionen im Gange; zudem waren Bildungsanalyse und Bildungsplanung fester Bestandteil der Bildungspolitik geworden.86 Auf bildungspolitischer Ebene wurde die Forderung gestellt, den angenommenen Bildungsrückstand im internationalen Vergleich durch Bildungsreformen zu reduzieren und somit die Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Landes durch eine verstärkte Mobilisierung der Bildungsreserven zu sichern. Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit wurden zu wichtigen Themen der bildungspolitischen Diskussionen.87 Im Vordergrund der Schulreformen, die als notwendig bewertet wurden, standen die Qualitätsverbesserung der Volksschulbildung hinsichtlich der Lehrer-Schüler-Relation, die Ausweitung der Mittelschulen, die Ausweitung der praktischen und technischen Qualifikation und nicht zuletzt eine verstärkte Eingliederung der Mädchen in die berufliche Bildung.88 Gleichzeitig hatte der Druck auf das höhere Schulsystem in den 1960er Jahren auch deshalb zugenommen, weil soziale Sicherheit und wirtschaftliches Wachstum immer mehr Familien ermunterten und in die Lage versetzten, ihre Kinder auf höhere Schulen zu schicken. In der Forschung zum Bildungssystem wird daher darauf hingewiesen, dass die »Niveaueffekte« die »Struktureffekte« in dieser Zeit weit übertrafen.89 Sichtbar 84 Vgl. Picht 1964, Zitat ebda.; vgl. Dahrendorf 1965; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen von Kenkmann 2003. 85 Vgl. Kenkmann 2003, S.403. 86 Vgl. in diesem Zusammenhang Drewek 1994b, S.247. 87 Vgl. dazu die Ausführungen bei Kenkmann 2003, S.408. 88 Vgl. Schildt 1998a, S.337. 89 Drewek 1994b, S.248, Zitate ebda.

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wird dies an folgenden Entwicklungen: Im Rahmen der sogenannten Bildungsexpansion veränderten sich die schulischen Rahmenbedingungen in den 1960er Jahren bis in die 1970er Jahre hinein deutlich. Zwischen den Jahren 1960 und 1976 stieg die Gesamtzahl der Schülerinnen und Schüler stetig an, was einerseits an den starken Geburtenjahrgängen lag, andererseits aber auch am steigenden Wohlstand und an wachsender sozialer Sicherheit.90 Insbesondere der Anteil der Realschülerinnen/Realschüler und Gymnasiastinnen/Gymnasiasten nahm deutlich zu. Aus einer Emnid-Jugendstudie aus den Jahren 1953 und 1964 geht hervor, dass 1953 77% der befragten Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren eine Volksschulbildung/Hauptschulbildung hatten, 12% eine Mittelschule besuchten oder besucht hatten und 10% Oberschülerinnen und Oberschüler, Abiturientinnen und Abiturienten, Studentinnen und Studenten waren. Für das Jahr 1964 gibt es Veränderungen, in der die Tendenz einer Abnahme des Besuches der Volksschule zu Gunsten der Mittelschulen/Realschulen und der Gymnasien deutlich wird. 71% der Befragten gaben an, die Volksschule/Hauptschule besucht zu haben, 16% die Mittelschule, 13% besuchten ein Gymnasium, hatten Abitur oder waren bereits Studentinnen/Studenten. Diese Tendenz wird insbesondere im Verlauf der 1970er Jahre verstärkt, so dass in einer Befragung aus dem Jahr 1981 die jeweiligen Zahlen bei 45%, 29% bzw. 25% lagen.91 Mit dem kontinuierlichen Anstieg der Zahl der Schülerinnen und Schüler in weiterführenden Schulen veränderte sich die Bedeutung der Mittelschulen (Realschulen) und Gymnasien. »Der Realschule kam (…) mit zunehmendem Bildungsinteresse bisher bildungsferner Schichten eine ›Brückenfunktion‹ zu: Einerseits bei Eltern, die selbst keine über die Hauptschule hinausführende Schule besucht haben, denen im intergenerativen Aufstieg das Gymnasium zu fern und unbekannt war, anderseits für den Schüler als Ort der Vermittlung einer offenen Grundbildung, die nicht wie die Hauptschule trotz formal bestehender Übergangsmöglichkeiten nur als eingeschränkte Bildung erfahren wurde.«92

Es war aber vor allem das Gymnasium, das sich am auffälligsten veränderte. Von einer traditionellen Schule für die Eliten wandelte es sich während der Bildungsexpansion zu einem »Mittelschichts-Gymnasium«93. So attestierte der ›Deutsche 90 Vgl. dazu Schildt/Siegfried 2009, S.292; vgl. Kenkmann 2003, S.417 zu den Bildungsreformen in den 1960er Jahren. 91 Die Zahlen stammen aus den Emnid-Jugendstudien von 1953 und 1964, zitiert nach Zinnecker 1981, S.112f.; ähnliche Entwicklungen und prozentuale Verteilungen der Schülerinnen und Schüler für Nordrhein-Westfalen zeigt auch Drewek 1984, S.73 auf. 92 Furck 1998b, S.304. 93 Vgl. zur Entwicklung des Gymnasiums insbesondere zwischen 1945 und 1980 GassBolm 2005, S.413.

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Bildungsrat‹ im Jahr 1975, dass sich die Gymnasien »von einer Standesschule für das Bürgertum zu einer Aufstiegsschule auch für bisher bildungsferne Schichten«94 entwickelt hätten. Gleichzeitig zeichneten sich auch innerhalb der Gymnasien Reformen ab, die insbesondere die Lehrpläne, aber auch das Schüler-LehrerVerhältnis betrafen.95 Für die 1960er Jahre ist daher der massive Anstieg der Schülerzahlen an höheren Schulen und damit einhergehend die erhöhte Zahl an Abiturientinnen und Abiturienten sowie Studierenden bezeichnend. Mit der Bildungsexpansion wurde einerseits der soziale Aufstieg durch Bildung für immer mehr Kinder aus nichtakademischen Elternhäusern ermöglicht, andererseits verlängerte sich mit dem Besuch des Gymnasiums und der Entscheidung für ein Studium die Lebensphase Jugend.96 Es waren dabei insbesondere die jungen Mädchen der bürgerlichen und mittelständischen Familien, die von den Entwicklungen der 1960er Jahre profitierten. IV.2.2

Mädchenschulen und Geschlechterverhältnisse in den 1950er und 1960er Jahren

In den 1950er Jahren herrschte Einigkeit darüber, dass es Unterschiede in der Wesensart von Jungen und Mädchen gebe, die im Schulunterricht berücksichtigt werden müssten. Die Ablehnung von Koedukation aus den konservativen Kreisen, die darin eine sittliche und moralische Gefährdung sahen, reicht deutlich weiter zurück und beginnt spätestens mit der Durchsetzung der Unterrichtspflicht am Ende des 18. Jahrhunderts.97 In der Nachkriegszeit wurde insbesondere in konservativen Kreisen immer wieder die Frage diskutiert, ob die attestierten unterschiedlichen Geschlechtervoraussetzungen sowie die Unterschiede in den Geschlechterrollen, wonach Mädchen später die Rolle als Ehefrau und Mutter wahrnehmen sollten, im Lehrplan der Mädchengymnasien berücksichtigt werden sollten. Einige stellten gar die Forderung nach einem inhaltlich gesonderten Gymnasialwesen für Mädchen. Eine Differenzierung der Lehrpläne nach geschlechtsspezifischen Schulen blieb jedoch in der Nachkriegszeit aus, so dass die Mädchen auf den Mädchengymnasien und die Jungen auf den Jungengymnasien nach dem gleichen Lehrplan unterrichtet wurden. Lediglich der Handarbeitsunterricht stellte einen Unterschied dar. Trotz der Homogenität der Lehrpläne blieb es unumstritten, dass Jungen auf das Studium und die Berufstätigkeit vorbereitet werden sollten, während Mädchen nach der schulischen

94 Deutscher Bildungsrat, zitiert nach Furck 1998b, S.311. 95 Vgl. dazu Gass-Bolm 2005. 96 Vgl. in diesem Zusammenhang Herrlitz/Hopf/Titze/Cloer 2009, S.188. 97 Vgl. zur Geschichte der Koedukation Pfister 1988.

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Bildung insbesondere ihre Rolle als Ehefrau und Mutter ausfüllen sollten.98 Gleichzeitig war das Berechtigungssystem so konzipiert, dass der Erwerb gleicher Bildungsabschlüsse auch zu gleichen Übergangsberechtigungen führte, nämlich nach dem Abitur zum Besuch der Universität. Die ›Haltekraft‹ der gesellschaftlichen Normen und Werte war daher langfristig gesehen begrenzt, zumal diese auch nicht mehr unumstritten waren – wie im Kapitel über die Entwicklung der Familie ausgeführt worden ist. In den 1950er Jahren gingen zunächst Jungen häufiger an die Universität, während sich Mädchen überwiegend für eine Berufsausbildung entschieden. Die berufliche Ausbildung von Mädchen wurde als wichtig und als »Versicherung gegen Wechselfälle des Lebens« anerkannt, wobei die Relevanz der Berufsausbildung junger Mädchen nicht mit der Bedeutung der Qualifizierung männlicher Jugendliche gleichgesetzt wurde.99 Diese unterschiedlichen Lebensentwürfe für Jungen und Mädchen, die sich gesellschaftlich manifestiert hatten, bedingten die niedrigere Bildungsbeteiligung von Mädchen. Die Zahl der Abiturientinnen lag im Jahr 1950 bei 32,5%.100 Dabei war besonders auffällig, so Gass-Bolm (2005), dass Jungen am Gymnasium häufiger von der Untersekunda in die Obersekunda wechselten, während Mädchen häufiger nach der Untersekunda (also vor dem Eintritt in die Oberstufe) vom Gymnasium abgingen. Ausschlaggebend für den Abgang war bei den Mädchen seltener als bei den Jungen ein schulischer Misserfolg. Sie verließen das Gymnasium mehr oder weniger freiwillig, mit Blick auf ihre zukünftige Rolle als Ehefrau und Mutter.101 Besonders die katholische Kirche setzte in den 1950er und 1960er Jahren weiterhin auf eine »wesensgemäße Erziehung der Mädchen«102. Dagegen gab es auch Befürworter der Koedukation, hauptsächlich aus den Kreisen der SPD, die diese aus einem demokratischen Grundverständnis heraus forderten.103 Des Weiteren wurde die Koedukation mit Blick auf die bevorstehende Ehe auch als Möglichkeit gesehen, für Jungen und Mädchen bereits früh einen gemeinsamen Sozialisationsraum zu schaffen. Aber auch den Befürwortern in den 1950er Jahren ging es weniger um die Gleichbehandlung der Geschlechter als vielmehr um gesellschaftliche Bezugsnormen (Ehe, Familie, Demokratie). Insbesondere in den kleineren Städten war Koedukation aufgrund der fehlenden Schulen und der schlechteren finanziellen Lage weit verbreitet. In den Großstädten dagegen war die Trennung des Unterrichts nach Geschlechtern die Regel. 1950 wurden an 30,3% der Gymnasien sowohl Jungen als auch Mädchen unterrichtet, 42,9% der Gymnasien unterrichteten nur Jungen 98 Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Gass-Bolm 2005, S.144ff. 99 Vgl. Schildt 1998a, S.337, Zitat ebda. 100 Vgl. Gass-Bolm 2005, S.148. 101 Vgl. Gass-Bolm 2005, S.149. 102 Pfister 1988, S.33. 103 Vgl. Gass-Bolm 2005, S.151.

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und 26,8% nur Mädchen.104 In den 50er Jahren wurde die Koedukation zunächst in Berlin, Hamburg, Bremen und Hessen programmatisch eingeführt und schließlich unter Protest aus konservativen Kreisen in den 1960er Jahren bundesweit und in allen Schularten praktiziert.105 Mit den in den 1960er Jahren öffentlich geführten bildungspolitischen Diskussionen um Chancengleichheit rückte allmählich auch die Unterrepräsentanz der Mädchen an höheren Schulen als bildungspolitisches Thema in den Blick. Mädchen wurden neben katholischen Kindern und Landkindern als ›Begabungsreserven‹ entdeckt, die den Bedarf an höher qualifizierten Absolventen decken sollten.106 So wurde in den Debatten z. B. kritisiert, dass die Bereitschaft zur Unterstützung der Bildungsmobilität von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich war. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, in denen es selbstverständlich war, dass Landkinder, darunter auch Mädchen, mit Schulbussen in entfernt liegende Schulen gebracht wurden, war dies in Deutschland nicht überall gegeben. Zeitgenössische Bildungsexperten sahen zudem einen weiteren Faktor für fehlende Chancengleichheit in der Konfessionszugehörigkeit. In diesem Zusammenhang durchzog die These vom »katholischen Bildungsdefizit« die Diskussionen um die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems. Gründe für die Bildungsdefizite sah beispielsweise der Bildungsexperte Erlinghagen in dem »einseitigen Leitbild der traditionellen katholischen Mädchenbildung«, in dem höhere Mädchenbildung nicht selbstverständlich war.107 Mit der Bildungsexpansion nahm auch der Anteil an Mädchen an den Mittelschulen und Gymnasien zu, so dass in den 1970er Jahren eine deutliche Veränderung in der Bildungsbeteiligung von Mädchen und Jungen sichtbar wurde. Diese Entwicklung bedeutete jedoch, wie auch Pfister (1988) konstatiert, noch keine endgültige Abkehr von der Annahme von Wesensunterschieden von Männern und Frauen, wie am Beispiel der Richtlinien und Unterrichtspläne für die Volksschule in Nordrhein-Westfalen 1967 deutlich wird: »Erziehung und Unterricht nehmen auf Eigenart und Lebensaufgabe der Geschlechter gebührend Rücksicht. Das Mädchen ist nicht nur Kind, sondern auch Tochter und Schwester; es wird in Zukunft Mutter sein, oder es hat als berufstätige Frau sein Leben fraulich zu gestalten. Daher ist es auf seine wesenhaften weiblichen Anlagen, Kräfte und Aufgaben hin zu bilden«.108

104 Vgl. Gass-Bolm, S.151ff. 105 Vgl. Pfister 1988, S.34. 106 Vgl. Picht 1964, Dahrendorf 1965 und auch die Ausführungen bei Herrlitz/Hopf/ Titze/Cloer 2009, S.173. 107 Vgl. Erlinghagen 1965 zitiert nach Kenkmann 2003, S.410f., Zitate ebda. 108 Zitiert nach Pfister 1988, S.33.

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Dennoch zeigte sich in den Debatten der 1960er Jahre eine Sensibilisierung für Geschlechterfragen, die als Erklärungsmöglichkeiten von Ungleichheit und fehlender Chancengleichheit herangezogen wurden, so dass beispielsweise bereits in dieser Zeit die Doppelrolle von Frauen als Ehefrauen und Ernährerinnen als Teil der bildungspolitischen Diskussionen in den Blick von Kritikern rückte.109 Die befragten Frauen, deren Großteil das Abitur ab Mitte der 1960er Jahre erwarb, gehörten somit zu den jungen Frauen, die von der Bildungsexpansion und den einsetzenden Bildungsreformen profitierten.110 Einige von ihnen waren die ersten weiblichen Familienmitglieder, die das Abitur machten und sich schließlich für ein Studium entschieden. Gemeinsam haben sie zudem, dass sie alle – teilweise nur einige Jahre – eine Mädchenschule besuchten und somit eine geschlechtsspezifische Schulerziehung erfuhren.111 IV.2.3

Die Schülerbewegung ab Mitte der 1960er Jahre

Ein weiterer wichtiger Aspekt, der an dieser Stelle eine kurze Beschreibung verdient, ist die Schülerbewegung, die im Rahmen der Schulreformen ab Mitte der 1960er Jahre den schulischen Alltag der befragten Frauen mehr oder weniger beeinflusste. In der Forschung zur Schülerbewegung, die insgesamt sehr dünn ist, wird diese als Teil des gesamtgesellschaftlichen Aufbruchs und der Reformdiskussionen Ende der 60er Jahre gewertet. Die protestierenden Schülerinnen und Schüler werden allerdings nicht als wortführende Aktivistinnen und Aktivisten gesehen, sondern vielmehr als Kooperationspartner und Nachwuchs der studentischen Protestlerinnen und Protestler, welche die Politik an der Universität dann in deren Nachfolge insbesondere ab den 1970er Jahren bestimmten.112 Die Schülerbewegung wird im

109 Vgl. zu den Debatten um die Erwerbstätigkeit von Frauen in den 1960er Jahren Oertzen 2005; siehe dazu auch Kap. IV.1.5 zur Erwerbstätigkeit von Frauen. 110 Nur eine der befragten Frau erwirbt das Abitur Anfang der 1970er Jahre über den zweiten Bildungsweg. 111 Einige der Frauen besuchen ausschließlich eine oder aufgrund von Schulwechsel mehrere Mädchenschulen, während andere sowohl eine Mädchenschule als auch Gemeinschaftsschulen besuchen. 112 Vgl. Schildt 2003a. Der Stand der Forschung zur Schülerbewegung ist insgesamt verglichen zur Forschung zur Studentenbewegung unausgereift. Bereits Ende der 1960er Jahre wurde sie von der zeitgenössischen Publizistik aufgegriffen, blieb jedoch lange Zeit im Schatten der Studentenbewegung und der Forschung zu ›1968‹; zu Forschungsstand und -defiziten im Zusammenhang mit der Schülerbewegung; vgl. Gass-Bolm 2006, S.114 und auch Schildt 2003, S.229. Gass-Bolm stellt seine Analysen zur Schü-

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Folgenden insbesondere in Anlehnung an Gass-Bolm (2005) dargestellt, der sich in seiner Monographie zur Entwicklung des Gymnasiums zwischen 1945 und 1980 der Schülerbewegung und ihrer Analyse widmet. Bereits in den Anfängen der 1960er Jahre im Rahmen der Diskussionen um Demokratisierung und politische Bildung an den Schulen treten vereinzelt Jungfunktionäre aus parteigebundenen Jugendorganisationen auf, die sich in der Schülermitverwaltung (SMV) oder der überregionalen Organisation Politischer Arbeitskreis Oberschule (PAO) engagierten und Forderungen nach staatsbürgerlicher und politischer Bildung formulierten. Schon im Politischen Arbeitskreis Oberschule ließen sich Anfang der 1960er Jahre unter den Schülerinnen und Schülern linkssoziale und pazifistische Strömungen feststellen, die jedoch zu dieser Zeit kaum an Größe gewannen.113 Spätestens ab 1967 – parallel zur beginnenden Hochphase der Studentenbewegung – änderten sich die Debatten um die Schulen – zudem angestoßen durch die sich vollziehende Bildungsexpansion – von einer Notwendigkeit des quantitativen und qualitativen Ausbaus der Schulen hin zur Notwendigkeit einer tiefgreifenden inneren Schulreform, nämlich einer Demokratisierung der Bildungsinhalte und der Lehrer-Schüler-Beziehungen. Im selben Jahr kam es vereinzelt zur Gründung von unabhängigen sozialistischen Schülergruppen. An diesen beteiligten sich insbesondere Oberstufenschüler, die bereits über »Erfahrungen mit Jugendorganisationen der politischen Parteien verfügten«114. Die Studentenbewegung, insbesondere die Vertreter des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS), übte einen tiefgreifenden Einfluss auf die Gründung von Schülergruppen aus. Mitglieder des SDS gingen gezielt an die Schulen, verteilten hier Flugblätter und beteiligten sich an der Mobilisierung der Schülerinnen und Schüler.115 In einem Strategiepapier vom April 1967 erklärten SDS-Mitglieder, dass sich die oppositionelle Bewegung auf »die Jungen« zu stützen habe, um »die unpolitische Protesthaltung der Jugendlichen zu politisieren«.116 In Frankfurt am Main gründete sich im Februar des gleichen Jahres im Walter-Kolb-Studierendenheim das ›Aktionszentrum unabhängiger und sozialistischer Schüler‹ (AUSS), das zum Dachverband der unabhängigen sozialistischen lerbewegung in einen Zusammenhang langfristiger gesellschaftlicher Entwicklungen der ›langen 60er Jahre‹; vgl. Gass-Bolm 2006, S.132. 113 Vgl. dazu die Ausführungen bei Schildt 2003a, S.234. 114 Hüffel 1978, S.25; Hüffel bezieht sich hierbei auf ihre Untersuchung der Schülerbewegung an einem Gymnasium in Darmstadt. Sie stellt für die Anfangsphase eine enge Kooperation zwischen der in Darmstadt aktiven Gruppe ›Unabhängiger Sozialistischer Schülerbund‹ und den ›Jusos‹ heraus, die bereits 1967 zu einer gemeinsamen MarxSchulung zusammenkamen. 115 Vgl. Gass-Bolm 2005, S.266. 116 Vgl. Schildt/Siegfried 2009, S.281, Zitate ebda.

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Schülergruppen wurde. Dieser rief zu einem Schülerkongress und einer ersten Delegiertenkonferenz in Frankfurt auf. Über 800 Schülerinnen und Schüler besuchten im Jahr 1967 den Kongress, der vom SDS finanziert wurde und in einem Hörsaal der Frankfurter Universität stattfand.117 Zwischen Juni und Oktober 1967 stieg die Zahl der AUSS-Gruppen, die fast nur an Gymnasien existierten, auf das Doppelte an, so dass insgesamt 46 Gruppen mit ca. 2.000 Mitgliedern gezählt wurden.118 Die von der Studentenbewegung geäußerte Kritik am politischen System wurde auch von den Schülergruppen übernommen. So beteiligten sie sich gemeinsam mit den protestierenden Studierenden an größeren Protestaktionen wie beispielsweise gegen die Notstandsgesetze oder nahmen an den Ostermärschen teil. Zudem organisierten Schülerinnen und Schüler regionalspezifische Aktionen wie beispielsweise gegen die Fahrkartenerhöhung in Bremen und Bochum 1968. Einzelne Ereignisse oder politische Entscheidungen, die als ungerecht oder demokratiegefährdend bewertet wurden, gaben den Anlass für Demonstrationen oder Streiks. Die Proteste fanden jedoch nicht nur außerhalb, sondern insbesondere innerhalb der Schulen statt. Störungen des Lehrbetriebs sowie der Abiturfeiern fanden Ende der 1960er Jahre an vielen deutschen Schulen insbesondere in den größeren Groß- und Universitätsstädten statt. Mit provokativen Stellungnahmen in Schülerreden zu Fragen des Unterrichts und der Schule als Institution sowie kritischen Einwänden zur Struktur des Schulsystems und zu den innerschulischen Autoritätsverhältnissen versuchten Schülerinnen und Schüler der Oberstufen ihren Protest zu äußern und forderten die Abschaffung autoritärer Verhältnisse und die innere und äußere Demokratisierung der Schulen.119 Die Schülerinnen und Schüler verlangten insbesondere: »(…) die Einführung der Pressefreiheit für Schülerzeitungen; ein Mitsprache- und Informationsrecht der Schüler bei den Inhalten des Unterrichts, bei Zensuren und bei der Erstellung von Schulordnungen; die Aufhebung der Anwesenheitspflicht in der Oberstufe; das Recht auf die Teilnahme an Konferenzen; die Einführung von paritätischen aus Schülern und Lehrern (zum Teil auch Eltern) zusammengesetzten Gremien als Berufungsinstanzen in Konfliktfällen; ja sogar die Leitung der Schule durch ein paritätisch besetztes Gremium«120.

Im Vordergrund stand der Anspruch, vom ›Objekt‹ zum ›Subjekt‹ des alltäglichen Schulgeschehens zu werden, und somit in die Schulprozesse und -entscheidungen einbezogen zu werden. Gleichzeitig wurden Forderungen nach sexueller Aufklärung an den Schulen formuliert, die provokativ mit Flugblättern und Schülerzei117 Vgl. dazu die Ausführungen von Hüffel 1978, S.24 zur Schülerbewegung. 118 Vgl. Hüffel 1978, S.46ff. und auch Schildt 2003a, S.235ff. 119 Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Schildt 2003a, S.237 und GassBolm 2006, S.125ff. 120 Gass-Bolm 2005, S.267.

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tungsartikeln artikuliert wurden. Ähnlich wie in der Studentenbewegung entwickelten sich auch in der Schülerbewegung unterschiedliche politische Strömungen. Auffällig waren insbesondere zwei Richtungen: eine radikale und eine liberale.121 Die radikalen und marxistischen Gruppen gingen über die Formulierung einer Schulkritik zu einer gesamtgesellschaftlichen Kritik über und orientierten sich dabei am SDS. »Die radikalen Schülergruppen, im Zentrum das AUSS, übernahmen die marxistische Kapitalismuskritik des SDS. In der kapitalistischen Gesellschaft habe das Schulwesen die Funktion, Schüler für den Eintritt in den Produktions- und Konsumprozess vorzubereiten, indem sie zu angepassten und kritiklosen Menschen gemacht würden.«122

Die radikalen Schülerinnen und Schüler standen zwar aufgrund ihrer Vorgehensweisen und Radikalität insbesondere im Fokus der medialen Öffentlichkeit und initiierten die Schülerbewegung, »indem sie die Unruhen der Studentenbewegung auf die Schulen trugen«123, dennoch bildeten sie lediglich einen kleinen Teil der protestierenden Schülerinnen und Schüler. Neben den marxistischen radikalen Schülergruppen waren zugleich liberale Gruppen entstanden, die die angestrebte Demokratisierung an den Schulen ebenso in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang stellten, jedoch keine Umwälzung des Schulsystems anstrebten. Vielmehr forderten sie dessen reformatorische Weiterentwicklung sowie die Verwirklichung demokratischer Prinzipien wie Chancengleichheit und Mitbestimmungsrechte.124 Für beide Strömungen stand neben dem Abbau der autoritären Strukturen an den Schulen die Forderung nach Sexualaufklärung im Vordergrund. Während die Tabuisierung von Sexualität von den radikalen Gruppen als »Kapitalismuskritik« formuliert und als »Unterdrückung« und »Abrichtung für die kapitalistische Gesellschaft« verstanden wurde, fassten die liberalen Schülergruppen die fehlende sexuelle Aufklärung und ihre Ablehnung als »Eingriff in die Selbstbestimmung von Jugendlichen« auf.125 Ein breiter Teil der protestierenden Schülerinnen und Schüler blieb jedoch bei den Forderungen für die Demokratisierung der Schulen unorganisiert. Einige lehnten sogar die radikalen Forderungen und Aktionen der organisierten Schülervereinigungen, wie des AUSS, ab. Das AUSS löste sich ungefähr zur gleichen Zeit wie der SDS schließlich auf. Die bis dahin agierenden Schülergruppen wurden ab den 121 Vgl. in diesem Zusammenhang Gass-Bolm 2005, S.267ff. 122 Gass-Bolm 2005, S.270. 123 Gass-Bolm 2005, S.272. 124 Vgl. Gass-Bolm 2005, S.271f. 125 Vgl. Gass-Bolm 2005, S.270f., Zitate ebda.

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1970er Jahren von zentral organisierten kommunistischen Gruppen wie dem Kommunistischen Oberschülerverband, die von der Kommunistischen Partei Deutschland gesteuert und in sogenannten »Zellen« organisiert wurde, abgelöst.126 Diese konnten sich jedoch in den folgenden Jahren nicht durchsetzen und wurden ebenfalls von einem großen Teil der Schülerschaft abgelehnt. Auch die linksliberalen Strömungen, die Ende der 1960er Jahre den Blick auf Demokratisierung und Sexualaufklärung gerichtet hatten, verstummten.127 Es entstanden konservative politische Strömungen wie die Schüler-Union im Jahr 1972, denen ein großer Teil der politisch interessierten Schülerschaft angehörte und die sich nicht für gesamtgesellschaftliche Veränderungen aussprachen, sondern sich deutlich zum bestehenden Staat und zu dessen sozialer Ordnung bekannten. Aber auch sie forderten ähnlich wie die linken Strömungen die »Demokratisierung der Schulen, Chancengleichheit, Beteiligung von Schülern bei der Wahl des Direktors«128. Die Schülerbewegung hatte – ähnlich wie die Studentenbewegung – ihre Hochphase zwischen 1967 und 1969, wobei es regionale Unterschiede in den zeitlichen Abläufen der Protestaktionen, den Inhalten und der Intensität der Proteste gab.129 Sie muss jedoch in einen Zusammenhang langfristiger gesellschaftlicher Wandlungsprozesse gestellt werden. Nach und nach formulierten Schülerinnen und Schüler ihre Kritik an den bereits in Bewegung geratenen Schulen, fordern Demokratisierung und den Abbau von autoritären Strukturen, die schließlich in Form der Schülerbewegung in die Schulen getragen wird. 130 Die befragten Frauen, die in dieser Phase Oberschülerinnen in einer größeren Stadt oder Universitätsstadt waren, in der Schülerproteste stattfanden und eine Demokratisierung der Schulen gefordert wurde, erlebten einen politisierten Schulalltag und damit einhergehend Auseinandersetzungen zwischen Schülerinnen/Schüler und Lehrerinnen/Lehrer sowie Demonstrationen und Streiks. Auch der Kontakt zu politisierten Studierenden, insbesondere aus dem SDS, entstand möglicherweise bereits in dieser Zeit. Die Universität rückte in diesem Zusammenhang als ein politischer Raum ins Bewusstsein der jungen Frauen. Sie war ähnlich wie die Schulen nicht nur kritik- und reformwürdig und ein Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse, sondern auch ein Raum, innerhalb dessen politische Aktionen organisiert wurden und Schülerkongresse stattfanden. Dieser Sozialisationsrahmen ist nicht für

126 Vgl. in diesem Zusammenhang Schildt 2003a, S.249ff. und Gass-Bolm 2006, S.129, Zitat ebda. 127 Vgl. Gass-Bolm 2005, S.278f. 128 Gass-Bolm 2005, S.279. 129 Vgl. dazu die Ausführungen bei Schildt 2003a, S.251. 130 Vgl. Gass-Bolm 2006.

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alle befragten Frauen vorhanden, spielt aber für einen Teil von ihnen eine wichtige Rolle.

IV.3 P EER - GROUPS UND J UGENDORGANISATIONEN › LANGEN 60 ER J AHREN ‹

IN DEN

Die Phase, in der die befragten Frauen ihre späte Kindheit und Jugend verbringen und in der der Kontakt zu Gleichaltrigen – sowohl Einzelfreundschaften als auch Peer-groups – neben der Familie eine besondere sozialisatorische Bedeutung erhält, ist auf die Zeit ab Ende der 1950er und die 1960er Jahre zu datieren. Daher wird im Folgenden der Blick auf die jugendspezifischen Rahmenbedingungen der 1950er und 1960er Jahre gerichtet und dabei die Bedeutung von Jugendorganisationen und informellen Jugendgruppen für Jugendliche analysiert. IV.3.1

Jugendspezifische Rahmenbedingungen der 1950er und 1960er Jahre

Vor dem Hintergrund, dass die unmittelbare Nachkriegszeit von materieller Not und die erste Hälfte der 1950er Jahre aufgrund des Wiederaufbaus von materieller Zurückhaltung und Arbeitsintensität geprägt war, die die Jugendlichen ähnlich wie die Erwachsenen betrafen, erscheint insbesondere die ab Ende der 1950er Jahre einsetzenden modernen jugendkulturellen Veränderungen als tiefgreifende Zäsur.131 Diese jugendkulturellen Veränderungen sind wiederum einzubetten in den größeren gesellschaftlichen Wandlungsprozess der ›langen 60er Jahre‹, der die gesamte Bevölkerung betraf. Daher beinhalteten die einsetzenden Debatten um jugendliches Verhalten auch Diskussionen um geltende gesellschaftliche Normen und Werte und spiegelten »die Reflektion über Gefährdungen, Potentiale und Zukunftshoffnungen der ganzen Gesellschaft« wider.132 In der Forschung zu den ›langen 60er Jahren‹ wird ein Zusammenhang zwischen sozioökonomischen und kulturellen Veränderungen seit Ende der 1950er Jahre und der Politisierung der Jugend im Laufe der 1960er Jahre hergestellt. So konstatiert Siegfried (2003), dass

131 Zu den jugendkulturellen Veränderungen von der Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahren vgl. exemplarisch Krüger 1985, Zinnecker 1987, Maase 1992 und auch Schildt 1998a; zum Verhältnis von populärer Jugendkultur und politischer Opposition vgl. exemplarisch die Arbeiten von Siegfried 2003, 2006, 2008a und 2008b; vgl. dazu auch Hodenberg/Siegfried 2006, S.12f., die die Zeit zwischen 1967 und 1969 als Verdichtung der Transformationsprozesse in den ›langen 60er Jahren‹ beschreiben. 132 Vgl. Siegfried 2003, S.585, Zitat ebda.

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»sich schon am Beginn des Jahrzehnts ein massiver Politisierungsdruck feststellen [lässt], der primär aus einer kulturkritischen Interpretation der Konsumgesellschaft und ihrer Wirkung auf die nachwachsende Generation entstand. Parallel dazu und entlang der großen gesellschaftlichen Konfliktlinien wurden Elemente der neuen Jugendkulturen, die sich wesentlich über Musik definierten, zunehmend auch ›von unten‹ politisch aufgeladen«133.

Wie im Folgenden deutlich wird, lassen sich Politisierungstendenzen in jugendspezifischen Erfahrungsräumen für die 1960er Jahre aufzeigen. Inwiefern die neuen jugendkulturellen Möglichkeiten Einfluss auf die Politisierung der interviewten Frauen nehmen, wird über die Auswertung der Interviews in Kap. V.1.2 herausgearbeitet. Ab der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre entstanden mit der verbesserten materiellen Lebenssituation neue jugendspezifische Räume wie Tanzlokale, ›Milchbars‹ und Kinos, in denen Jugendliche zusammenkamen, wodurch Jugendliche als soziales Phänomen im gesellschaftlichen Alltag sichtbarer werden.134 War die regelmäßige Teilnahme an Freizeitaktivitäten bis dahin insbesondere der bürgerlichen Jugend vorbehalten, erhielten nun zunehmend alle Jugendlichen, unabhängig von der sozialen Herkunft, Teilhabemöglichkeiten. Es war insbesondere die für den Großteil der Jugendlichen zur Verfügung stehende freie Zeit, die mit dem freien Samstag, der Verlängerung der Urlaubstage sowie der längeren Ausbildungsphase ab Ende der 1950er Jahre, zunahm und Jugendlichen mehr individuelle und selbstbestimmte alltägliche Gestaltungsmöglichkeiten bot. Das Besondere an der zur Verfügung stehenden freien Zeit war, dass diese nicht wie noch einige Jahre zuvor – in der direkten Nachkriegszeit – durch Arbeitslosigkeit erzwungen waren.135 Die Jugendphase veränderte sich von einer »Zeit der Berufsausbildung und Berufsausübung« ab den 1960er Jahren zunehmend in eine »Zeit der Bildungslaufbahn«.136 Während die meisten Jugendlichen in den frühen 1960er Jahren mit ungefähr 15 Jahren in die Ausbildungs- und Arbeitswelt übergingen, veränderte sich dieses bereits einige Jahre später. Nicht nur die Phase an der Schule fiel länger aus, sondern auch das Studium bot den Jugendlichen und auch jungen Erwachsenen einen »biographischen Freiraum, der bis Ende Zwanzig andauern konnte und Experimen-

133 Siegfried 2003, S.584. Die Verbindung zwischen jugendkulturellen Entwicklungen sowie politischer Gegenbewegung ist bisher kaum ein Thema der Forschung geworden. Erst in den letzten Jahren sind neue Forschungsarbeiten entstanden, die dieses Verhältnis in den Blick nehmen; vgl. dazu exemplarisch Siegfried 2003 und Siegfried 2008b. 134 Vgl. Abelshauser 1987, S.63ff. 135 Vgl. Siegfried 2008b, S.38ff. 136 Vgl. Zinnecker 1987, S.173, Zitate ebda.

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te mit Lebensoptionen in vielfältiger Form ermöglichte«.137 In diesen Entwicklungen zeigen sich zudem die Auswirkungen der Höherqualifikation einer ganzen Alterskohorte. Im Laufe der ›langen 60er Jahre‹ zeichnete sich ein neues Leitbild des modernen Teenagers ab, das sich vom traditionellen Jungen- und Mädchenbild unterschied. Insbesondere in den Teenagerbroschüren sowie Film- und Musikzeitschriften – unter anderem der BRAVO – wurde ein Typ Teenager vermittelt, für den Kleidung, Musik, Film und Tanz eine zentrale Rolle spielen sollte. Die Jugend wurde von der Konsum- und Freizeitindustrie als neue und liquide Konsumentengruppe entdeckt.138 Die sich entwickelnde Jugendkultur in der ›Konsumgesellschaft‹ bot den Jugendlichen in ihren Peer-groups neue Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, aber auch individuelle und jugendspezifische Freiheiten, die insbesondere Jugendliche der Mittelschicht und der Arbeiterschaft in dieser Form bis dahin nicht erlebt hatten. Allerdings schürte sie auch neues Konfliktpotential, die durch die öffentlichen Debatten angetrieben wurden.139 Konservative zeitgenössische Beobachter befürchteten aufgrund der Beteiligung der Jugendlichen an den neuen Freizeitmöglichkeiten und Konsumgütern eine Abwendung von traditionellen Normen und Werten. Im Kontext des Kalten Krieges war die Rede vom »unengagierten und konsumverfallenen Jugendlichen«140. Die jugendkulturellen Entwicklungen wurden in konservativen Kreisen nicht als harmlose Veränderung des Erscheinungsbildes der Jugend – Kleidungsstil, Haarlänge, Musikrichtung und Tanz – interpretiert, sondern als Abkehr vom traditionellen Normen- und Wertesystem sowie als Sittenverfall.141 Die öffentlich geführten Diskussionen, in denen die konservativen Positionen zunächst eine dominante Rolle innehatten, bildeten jedoch nicht unbedingt die Meinung der Bevölkerung ab. Denn Untersuchungen zeigten, dass die ältere Generation trotz des öffentlich vermittelten Bildes des problematischen Jugendlichen eine seit den 1950er Jahren zunehmend positive Haltung gegenüber der jüngeren Generation einnahm. Auf die Frage, ob die Befragten einen vorteilhaften oder unvorteilhaften Eindruck von der jungen Generation hätten, gaben 1950 24%, 1960 44% und 1975 über 62% an, dass sie einen vorteilhaften Eindruck hätten.142 Divergenzen werden auch zwischen den öffentlichen Debatten und dem tatsächlichen Verhalten der Jugendlichen sichtbar. Obwohl in den Debatten um Jugendliche und ihre Einstellung gegenüber Normen und Werten der Gesellschaft der Ein137 Vgl. Siegfried 2008a, S.17, Zitat ebda. 138 Vgl. dazu die Ausführungen bei Krüger 1985 und auch bei Maase 1992. 139 Vgl. Schildt 2005, S.584. 140 Siegfried 2003b, S.587. 141 Vgl. in diesem Zusammenhang Schildt 2003b, S.34 und auch Schildt 2005, S.584. 142 Vgl. Noelle-Neumann 1981, S.53, zitiert nach Siegfried 2008a, S.47.

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druck vermittelt wurde, als ob die Jugend ab Ende der 1950er Jahre die konservative Lebensweise der Elterngeneration völlig ablehnte, zeigten diese in einigen Lebensbereichen deutliche Übereinstimmungen mit den Vorstellungen und Erwartungshaltungen ihrer Eltern. Zu einer Verwahrlosung der Sitten gaben die Jugendlichen nach Umfragen keinen Anlass. In einer Studie von 1962 beispielsweise, in der insgesamt 3.400 Jugendliche zwischen 16 und 24 Jahren befragt wurden, standen nur 30% einer solchen Erfahrung uneingeschränkt positiv gegenüber, 36% der befragten Jugendlichen gaben an, sie würden voreheliche Geschlechtsbeziehungen ablehnen, 22% würden es situationsabhängig entscheiden und 12% gaben keine Antwort. Der Anteil der jüngeren Mädchen, die eine voreheliche sexuelle Aktivität ablehnten, war besonders hoch und lag bei 43%.143 Dennoch stieg gleichzeitig auch die Zahl sogenannter Frühehen, die insbesondere aufgrund fehlender sexueller Aufklärung und den daraus resultierenden vorehelichen Schwangerschaften zustande kamen.144 IV.3.2

Jugendorganisationen und informelle Jugendgruppen

Die Freizeitgestaltung Jugendlicher war 1954 noch deutlich durch die Tendenz zur Häuslichkeit und Nähe zur Familie sowie Sportaktivitäten bestimmt. Aus einer Emnid-Befragung aus dem Jahr 1954 geht hervor, dass 35% der Jugendlichen in der Freizeit am liebsten »lesen«; 29% gaben an »praktischen Liebhabereien« nachzugehen (»häusliche Tätigkeiten und Gartenarbeit; Dressur des Schäferhundes/Brieftaubenzucht; Basteln; Modelle bauen«); 32% gaben an sich am liebsten sportlich zu betätigen und wandern zu gehen; 10% gaben »Erzählen, Unterhalten, Spielen« mit anderen Kindern an; nur 7% »Rundfunk, Fernsehen, Musikkonsum« und 6% »Kino«.145 Auch das Interesse an organisierten Jugendgruppen fiel eher gering aus. Zwischen 1953 und 1967 nahm dieses bis auf das Interesse für Sportverbände sogar deutlich ab. Der Anteil der jugendlichen Mitglieder in konfessionellen Verbänden sank in dieser Zeit von 12% auf 7%, in politischen Jugendverbänden von 12% auf 7% und in der Gewerkschaftsjugend von 4% auf 2%.146 Ähnliche Ergebnisse wurden auch in einer im Jahr 1964 im Auftrag des Bundesministeriums für Familie und Jugend durchgeführten Erhebung bei Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren festgestellt. Hier wurden sowohl Jugendorganisationen als auch

143 Vgl. Divo-Erhebung des Westdeutschen Rundfunks 1962, Tabelle 106 und 107 zitiert nach Wurzbacher 1968, S.25f.; vgl. in diesem Zusammenhang Silies 2010, S.51 zur Sexualität und ›Pille‹ in den 1950er und 1960er Jahren. 144 Vgl. Bundesministerium für Familie und Jugend 1968, S.26. 145 Vgl. Emnid-Studie 1954 zitiert nach Zinnecker 1987, S.167, Zitate ebda. 146 Vgl. dazu Mitterauer 1986, S.232f. und auch Baacke 2007, S.17.

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Vereine namentlich vorgegeben und die Mitgliedschaft erfragt. Insgesamt 13% gaben an, in einer Jugendorganisation aktiv zu sein, wobei 7% von ihnen entweder der ›Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend Deutschland‹ (4%) oder dem ›Bund der Deutschen Katholischen Jugend‹ (3%) angehörten. Jeweils 1% der Befragten waren Mitglied in der ›Gewerkschaftsjugend‹ oder der ›Deutschen Wanderjugend, Naturjugend, Alpenverein‹ und jeweils 1% waren Mitglied in den ›Deutschen Pfadfinder, Deutschen Pfadfinderinnen‹. Der Anteil der Jugendlichen in einer ‹Parteipolitischen Jugendorganisation‹, ›Jugend des Ostens, Deutsche Landjugend‹ oder ›Sozialistische Jugend Deutschland‹ lag jeweils bei unter 1%. Während die Zahl der Mitgliedschaften in Jugendorganisationen eher gering ausfiel, lag der Anteil der Jugendlichen, die Mitglied in einem Verein (darunter fielen Sportvereine, Musikvereine, Hobbyvereine, traditionelle Vereine, berufliche Vereine, sonstige Vereine) waren, bei 35%, wobei 23% dieser Befragten angaben, Mitglied in einem Sportverein zu sein; gefolgt von Musikvereinen mit 3%.147 In den Sportvereinen, so zeigen die Ergebnisse einer Studie des Westdeutschen Rundfunks vom DIVOInstitut aus dem Jahr 1962, fällt der Anteil der Mädchen im Vergleich zu den Jungen insgesamt auffällig niedriger aus.148 Die geringe Bereitschaft zu einer Mitgliedschaft in parteipolitischen Jugendorganisationen, wie aus der Erhebung zur Erfassung der Beteiligung Jugendlicher an organisierten Gruppen hervorgeht, bedeutete nicht, dass Jugendliche nicht politisch interessiert waren. Die Betrachtung einer Zeitreihenerhebung zwischen 1952 und 1983 des Jugendwerks der Deutschen Shell verdeutlicht, dass das politische Interesse der Jugendlichen zwischen den Jahren 1952 und 1973 deutlich anstieg. Dabei gab es nach Alter und Geschlecht deutliche Unterschiede. Männliche Jugendliche gaben im Vergleich zu weiblichen Jugendlichen doppelt so oft an, an Politik interessiert zu sein. Zudem waren es insbesondere die älteren Jugendlichen, die an politischen Themen interessiert waren, so dass eine Erhöhung des Politikinteresses mit steigendem Alter zu verzeichnen war.149 Neben den außerschulischen Jugendorganisationen und -vereinen traten insbesondere unorganisierte und somit informelle Jugendgruppen verstärkt in den Vordergrund, innerhalb derer sich die neuen jugendkulturellen Entwicklungen besonders deutlich abbildeten. Die Zugehörigkeit zu einer informellen Jugendgruppe nahm, wie die folgenden Zahlen verdeutlichen, ab Anfang der 1960er Jahre zu. Aus einer Befragung aus dem Jahr 1962 geht hervor, dass 16,2% der Befragten einer informellen Gruppe zugehörten. Die Zahl dieser stieg bis Anfang der 1980er Jahre um über 40%, so dass bei der gleichen Frage im Jahr 1982 56,9% angaben, Mitglied einer informellen Gruppen gewesen zu sein. Dabei ist der Anteil der Mädchen 147 Vgl. Emnid-Studie 1964, S.122 zitiert nach Wurzbacher 1968, S.10f. 148 Vgl. DIVO-Institut zitiert nach Wurzbacher 1968, S.10. 149 Vgl. Jugendwerk der Deutschen Shell 1985, S.369 zitiert nach Fend 1990, S.256.

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bis in die 1970er Jahre hinein geringer als der der Jungen.150 Aus einer EmnidErhebung aus dem Jahr 1964, die nach der Zugehörigkeit zu einer informellen Gruppe fragte, geht hervor, dass 25% der Befragten regelmäßig einem Kreis von jungen Leuten angehörten (ausgeschlossen waren Vereine und Verbände). Dabei wurde auch hier deutlich, dass insgesamt mehr männliche als weibliche Jugendliche einer informellen Gruppe angehörten. Dieses Bild sollte sich jedoch in den nächsten Jahren ändern. Bis 1975 hatte sich die Zahl Mädchen an die Zahl der Jungen deutlich angenähert und war schließlich in den 1980er Jahren gleichauf. Hieran wird deutlich, dass Peer-groups insbesondere für Mädchen und junge Frauen eine neue Form der jugendlichen Geselligkeit und des Austausches boten. Zudem waren es eher die jüngeren Befragten, nämlich die zwischen 15- und 18jährigen, die häufiger Teil einer informellen Gruppe waren.151 Nach Wurzbacher (1968) ist der Grund für eine Abwendung Jugendlicher von organisierten Jugendgruppen der Wunsch nach individueller und sozialer Spontaneität. »Für zahlreiche Jugendliche passen die [die organisierten Jugendgruppen] konstituierenden Ordnungen, Rechte und Pflichten, ihre Disziplinierung und ihre Öffentlichkeitscharakter nicht zu diesen immer dominanter werdenden Gegentendenzen starker Individuation und Privatheit. (…) Die partielle und weniger formale Bindung wird bevorzugt. (…) Man strebt ein Maximum an individueller und sozialer Spontaneität und ein Minimum an Organisation an.«152

Eine Zwischenform jugendlichen Gemeinschaftslebens zwischen traditionellem Jugendverein und informeller Gruppe stellte der sogenannte ›Club‹ dar. Dieser war insbesondere in den Großstädten aufzufinden und bot Jugendlichen eine breite Auswahl an Aktivitäten und Themen. Ab den späten 1950er Jahren entstanden in der Bundesrepublik unter anderem diverse Tanzclubs, Jazzclubs, Filmclubs, die im Vergleich zu traditionellen Jugendorganisationen eine gelockerte Form des jugendlichen Miteinanders boten und deutlich informellere Züge annahmen.153 In einer Erhebung von Strauß (o. D.) über »spontane zeitgenössische Jugendformen und Zusammenschlüsse Jugendlicher im freien Raum« heißt es: »Die Jugendlichen selbst nun begannen in den fünfziger Jahren langsam und gegen Ende recht häufig, ihre selbstgegründeten, freien Zusammenschlüsse mit Club zu bezeichnen und erfassten dabei auch den Lebensstil eines Clubs recht genau. Club nennt sich bei uns seither 150 Vgl. dazu Allerbeck/Hoag 1985, S.38. 151 Vgl. Emnid-Studie 1964, S.102f., zitiert nach Wurzbacher 1968, S.40f. 152 Wurzbacher 1968, S.60f. 153 Vgl. Mitterauer 1986, S.234ff.

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eine Gruppierung gern, wenn sie den allgemein beliebtesten Freizeitinteressen, dem Tanz, dem zwanglosen Beieinandersitzen, Gesellschaftsspielen, dem Diskutieren von Themen oder der Verehrung von Stars dient«154.

Auch Jugendzentren, die sich zunächst einmal in den ersten Nachkriegsjahren als ›Heime der offenen Tür‹ etabliert hatten, deren Träger die Kirche und Jugendverbände waren, stellten für Jugendliche einen Erfahrungsraum dar. Zunächst ging es hier aus der Perspektive der Erwachsenen vor allem darum, unorganisierten Jugendlichen ›jugendgemäße‹ und ›sinnvolle‹ Aktivitäten anzubieten, wie beispielsweise Lesungen, Diskussionen, Gesang, Wandern. Ausgeschlossen wurden explizit Tanzoder Filmabende. Insbesondere in kleinen Städten, in denen es außer einigen wenigen Gaststätten oder gelegentlichen Tanzveranstaltungen keine Jugendtreffpunkte gab, stellten die Jugendzentren die einzige Möglichkeit für Jugendliche dar, in unorganisierter Form mit anderen Jugendlichen zusammenzukommen.155 Im Laufe der 1960er Jahre traten verstärkt individuelle Interessen und der Wunsch nach autonomer Gestaltung in den Vordergrund. Das Streben nach Autonomie kam insbesondere in der Ablehnung der von den Erwachsenen vorgesehenen bildenden Aktivitäten sowie der selbstbestimmten Gestaltung der freien Zeit zum Ausdruck.156 Der Drang zu außerhäuslicher Betätigung und Freizeitaktivitäten ohne ›Kontrollorgane‹ äußerte sich in der Zunahme der Beteiligung an Tanzveranstaltungen und Kinoabenden. In einer Befragung aus dem Jahr 1965 gaben 22% der 14- und 16-Jährigen an ›sehr oft‹ ins Kino oder zum Tanzen zu gehen, 37% gaben an, dies ›öfters‹ zu tun.157 In einer weiteren Befragung gaben im Jahr 1969 53% der Befragten zwischen 16- und 29-Jährigen an ›immer wieder gern‹ tanzen zu gehen.158 Wie deutlich wird, schuf sich, unabhängig von der sozialen Herkunft, ein Großteil der Jugendlichen im Laufe der 1960er Jahre, angetrieben von den neuen jugendspezifischen Angeboten der Konsum- und Freizeitindustrie, immer mehr Räume, in denen die jungen Menschen unkontrolliert und informell zusammenkommen konnten. Siegfried (2003) verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass in den jugendspezifischen Räumen neben kulturelle Themen auch politische Themen Einzug hielten. Ab Mitte der 1960er Jahre werden Clubs und Vereine zu gegenkulturellen Orten und nehmen einen politischen Charakter an, wie am Beispiel des Club Voltaire in Frankfurt deutlich wird. Mit diesem Club wurde zunächst das Ziel verfolgt, 154 Strauß (o. D.), zitiert nach Wurzbacher 1968, S.62. 155 Vgl. zur Jugendkultur und zu jugendspezifischen Aktivitäten in der Nachkriegszeit Siegfried 2008a, S.233f. 156 In diesem Zusammenhang vgl. Mitterauer 1968, S.235f. und Siegfried 2008a, S.233f. zur Jugend und Jugendkultur in den 1960er Jahren. 157 Vgl. Blücher, zitiert nach Siegfried 2008b, S.88. 158 Vgl. Kmieciak 1976, Tabelle V, 14a zitiert nach Siegfried 2008b, S.88.

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Kultur und Politik miteinander zu verbinden und Jugendlichen einen Austausch zu ermöglichen. 1962 wurde dieser von Mitgliedern des SDS, der Gewerkschaftsjugend, der Naturfreundejugend und den Falken gegründet und als ein Ort für Schülerinnen/Schüler, Studentinnen/Studenten und junge Arbeiterinnen/Arbeiter bestimmt, an dem literarische und politische Gespräche stattfinden sollten. Angeboten wurden nicht nur politische Diskussionsveranstaltungen mit gesellschaftskritischen Wissenschaftlern wie Theodor W. Adorno, sondern auch politische Lesungen von beispielsweise DDR-Autorinnen und -Autoren, Filmabende und Tanzveranstaltungen. Zeitungen, Bücher und Schallplatten wurden Interessierten für den inhaltlichen Austausch zur Verfügung gestellt. Der Club Voltaire war der Ort, an dem politisch interessierte Jugendliche Grundlagen für intensive politische Debatten erhielten. Hier wurden Aktionen geplant und Jugendliche durch bereits aktive Mitglieder verschiedener Gruppen mobilisiert.159 Ab Mitte der 1960er Jahre entstehen von den Jugendlichen selbst initiierte und gestaltete Gegenkulturen und alternative Milieus. So stellten z. B. die sogenannten ›Gammler‹, die insbesondere durch ihren Kleidungsstil, ihre Haartracht, ihren Musikgeschmack und ihre politischen Einstellungen auffielen, eine Gegenkultur dar. Ihre Anhänger äußerten ihren Drang nach Individualismus, sexueller Freizügigkeit und Müßiggang.160 In ihrem Verhalten zeigte sich eine sich ausbreitende »Skepsis gegenüber Normen wie Disziplin, Gehorsam und Unterordnung«161. Für den Großteil der Jugendlichen war eine Beteiligung an dem Alltag der ›Gammler‹ nur partiell und zeitlich begrenzt möglich, so dass sich häufig sogenannte »Freizeitgammler« herausbildeten. So kamen Jugendliche insbesondere nach der Schule oder der Arbeit und häufig am Wochenende an den Versammlungsorten der ›Gammler‹ zusammen.162 Schließlich verdichteten sich zwischen 1967 und 1969 »sektoriale Proteste« der Schülerinnen und Schüler, der Lehrlinge und der Studierenden zu einer »umfassenden Gesellschaftskritik, so dass – verstärkt, gebündelt und atmosphärisch zugespitzt durch die Ausbreitung gegenkultureller Strömungen – der Eindruck einer explosiven ›Rebellion der Jugend‹« entstand.163 Die befragten Frauen erlebten im Jugendalter, das in die dynamischen ›langen 60er Jahren‹ fällt, diverse Möglichkeiten jugendlicher Freizeitgestaltungen, die der Elterngeneration in dem Ausmaß noch unbekannt war. Besonders stark vorangetrieben wurde die neue Jugendkultur durch den wirtschaftlichen Wohlstand, die wachsende Liquidität von Jugendlichen, die längere Ausbildungsphase und freie Zeit 159 Vgl. zur Organisation des Club Voltaire Siegfried 2008b, S.456f. 160 Vgl. Siegfried 2008b, S.399f. 161 Siegfried 2008a, S.62. 162 Vgl. Siegfried 2008b, S.402, Zitat ebda. 163 Vgl. Siegfried 2008b, S.20, Zitate ebda.

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sowie durch die zunehmenden Konsumangebote. Musikkonzerte, Kinos, Clubs, Vereine und Tanzveranstaltungen wurden zu Experimentierräumen der Jugendlichen, die hier autonom und informell zusammenkommen konnten. Traditionelle Normen und Ordnungen, die insbesondere in den organisierten und kontrollierten Jugendgruppen bestanden, wurden von Teilen der Jugendlichen im Laufe der 1960er Jahre abgelehnt, stattdessen gewannen informelle jugendliche Freundschaftsbeziehungen und Peer-groups eine wichtige Bedeutung. Insbesondere Mädchen und junge Frauen brachten sich, trotz der noch ausgeprägten Geschlechterungleichheiten, die in den 1960er Jahren vorherrschten, sowohl im öffentlichen als auch privaten Bereich in unterschiedlichen Gebieten des Alltags immer stärker ein. Neben dem Arbeits- und Bildungssektor wurde nun auch der Freizeitsektor zu einem außerhäuslichen Gestaltungs- und Artikulationsraum für Mädchen und junge Frauen.164

IV.4 U NIVERSITÄT IN DEN 1960 ER UND FRÜHEN 1970 ER J AHREN –H OCHSCHULREFORMEN , O RDINARIENUNIVERSITÄT UND S TUDENTENPROTESTE Gemeinsam haben alle untersuchten Frauen, dass sie zwischen 1965 und 1972 ein Studium an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt aufnahmen.165 Sie erlebten eine Universität, die im Zuge der Bildungsexpansion von quantitativen und qualitativen Umstrukturierungsmaßnahmen sowie Hochschulreformen betroffen war und deren Struktur und Selbstverwaltungsorganisation in die Kritik gerieten. Unter dem Stichwort ›Demokratisierung der Universität‹ wurde die Umstrukturierung der Universität zu einem wichtigen Ziel der Studentenbewegung, an der auch diese Frauen partizipierten. Im Folgenden werden die bildungspolitischen Debatten und Hochschulreformen seit 1945 nachgezeichnet. Im Anschluss erfolgt die Beschreibung der Struktur der Ordinarienuniversität sowie der Geschlechterverhältnisse innerhalb der Universität in den ›langen 60er Jahren‹. Das Kapitel schließt mit einer Beschreibung der Studentenbewegung und den Studienbedingungen Ende der 1960er Jahre. Hierdurch wird es möglich sein, die Rahmenbedingungen, unter

164 Vgl. zu der Familie und zu den Geschlechterverhältnissen die Beiträge von Niehuss 1998, Oertzen 2005 und Paulus 2005. 165 Drei der zehn befragten Frauen nehmen ihr Studium im Jahr 1965 auf, also deutlich vor der Hochphase der Studentenbewegung. Eine Befragte beginnt ihr Studium erst 1972, hält sich als nicht ordentliches Mitglied jedoch bereits in den Jahren zuvor an der Universität Frankfurt auf. Sechs der Interviewten nehmen ihr Studium in der Hochphase der studentischen Proteste auf, nämlich zwischen 1967 und 1969; vgl. Kap. I.4.

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denen die befragten Frauen ab Mitte der 1960er Jahre an der Universität Frankfurt studierten und sozialisiert wurden, zu erfassen. IV.4.1

Bildungspolitische Debatten und Hochschulreformen seit 1945

Die Diskussionen um einen quantitativen Ausbau und eine Neustrukturierung der Hochschulen, die sich über Jahrzehnte hinziehen sollten, hatten ihren Anfang bereits nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Bestrebungen zur Wiederaufnahme des Lehrbetriebs der Universitäten wurden bereits ab 1945 von bildungspolitischen Fragen zur inneren Organisation der Hochschulen begleitet, die in den bildungspolitischen und öffentlichen Debatten kontrovers diskutiert wurden. Im Vordergrund der Debatten standen Fragen zur Demokratisierung der Gesellschaft und nach der Bedeutung der Universität als Bildungsinstitution. Die Zulassung zu einem Studium erhielten in den ersten Nachkriegsjahren zunächst nur Personen, die nicht nationalsozialistisch belastet waren. In fast allen Studienfächern gab es aufgrund der zerstörten Gebäude und der zahlenmäßig verminderten Professorenschaft einen Numerus clausus, so dass die Anzahl der Immatrikulationen begrenzt war. Kriegsheimkehrer hatten zudem ein vorrangiges Recht auf einen Studienplatz, so dass weibliche Studierende, die in der Kriegszeit einen Großteil der Studierenden stellten, nun nur noch selten anzutreffen waren und zum Teil in der Nachkriegszeit jahrelang warten mussten, um ihr Studium fortsetzen zu können.166 Die hessischen Universitäten waren vom Zweiten Weltkrieg ebenso stark betroffen wie alle anderen deutschen Universitäten auch. In Frankfurt war ein großer Teil der Hochschulgebäude (67%) und fast ½ Millionen Bücher zerstört.167 Zudem war ein Teil des Lehrkörpers ausgeschieden oder im Rahmen der Entnazifizierungsmaßnahmen des Amtes enthoben worden. Es folgte die Besetzung und die Übernahme der Leitung des Landes durch amerikanische Truppen. Ein Wiederaufbau-Ausschuss sollte bereits im Jahr 1945 unter der Leitung des neu von den Besatzungsmächten gewählten Rektors Georg Hohmann den Wiederaufbau der Universitäten in Hessen vorbereiten. Am 1. Februar 1946 wurde die Frankfurter Universität als vollwertige Hochschule schließlich nach Verhandlungen mit den Besatzungsbehörden wiedereröffnet.168 Im Vergleich zu anderen westdeutschen Universitäten

166 Vgl. zu den Universitäten in der Nachkriegszeit und zum Frauenstudium seit 1945 Metz-Göckel/Roloff/Schlüter 1989, S.14. 167 Vgl. zu den Entwicklungen an der Universität Frankfurt am Main die statistischen Daten bei Flesch-Thebesius 1964, S.38. 168 Vgl. Flesch-Thebesius 1964, S.40; zur Wiedereröffnung der Universität Frankfurt und den ersten Hochschulreformzielen vgl. Hammerstein 2007.

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erholte sich die Universität Frankfurt von den Kriegseinwirkungen relativ schnell, was die Zahl der neueingeschriebenen Studierenden auch bestätigt. Zwischen 1948 und 1960 hatte sich die Zahl der Studierenden bereits mehr als verdoppelt und überschritt in den 1960er Jahren die Zehntausend. Mit der Zunahme der Studierenden stieg auch gleichzeitig der Bedarf an Lehrenden. Die Anzahl an Lehrkräften erhöhte sich zwar von 188 (1948) auf 514 (1961) und nahm im Laufe der 1960er Jahre weiter stetig zu, dennoch war damit das seit Jahren bestehende Missverhältnis zwischen Studierendenzahlen und Lehrenden nicht aufgehoben.169 Die Zunahme der Studierenden war nicht nur ein Phänomen in Frankfurt, sondern betraf andere Universitäten in einem ähnlichen Maße. Die Zahl der Immatrikulationen stieg bundesweit rapide an, so dass 1960 291.100, 1965 384.400, 1970 510.500 und im Jahr 1975 840.800 Studierende gezählt wurden.170 Angesichts der steigenden Zahl der eingeschriebenen Studierenden war es nicht verwunderlich, dass die Wiederaufbauphase von Diskussionen zum quantitativen Ausbau der Hochschulen begleitet wurde.171 Das Missverhältnis von Studierenden und Lehrenden hatte zudem die Lehre an der Universität deutlich verändert. Vorlesungen avancierten zu Massenveranstaltungen, Seminare, die als Kleingruppenveranstaltungen konzipiert waren, hatten die Teilnehmerzahlen von Vorlesungen.172 Die Ursache für den Anstieg der Studierendenzahlen und somit für die Notwendigkeit des Ausbaus der Universitäten wurde sowohl in den geburtenstarken Jahrgängen und der wachsenden Zahl der Abiturientinnen und Abiturienten gesehen, die auch für die nächsten Jahre explodierende Studierendenzahlen vermuten ließen, als auch in der »verstärkten Nachfrage nach weiterführender Bildung und der Hochschulreife«173, die durch einen zunehmenden wirtschaftlichen Wohlstand in den 1950er Jahren sowie dem Bedarf nach hochqualifizierten Arbeitskräften verstärkt wurde.174 Für viele Familien wurde aufgrund ihrer finanziell stabilen Lage eine höhere Bildung der Kinder erschwinglich. Insbesondere für Abiturientinnen und Abiturienten, die aus Nicht-Akademikerfamilien stammten, stellte das Studium die Möglichkeit dar, sozial aufzusteigen. Staatliche Maßnahmen, wie das von Bund und Ländern bereits 1955 eingeführte Studienförderungsprogramm, das ›Honnefer Modell‹, das ab 1957 an wissenschaftlichen

169 Vgl. Flesch-Thebesius 1964, S.43. 170 Vgl. dazu Oehler 1998, S.417. 171 Einen umfangreichen und differenzierten Überblick über Hochschulreformen und Bildungsdebatten zwischen 1957 und 1976 am Beispiel von Hessen und Bayern bietet die Monographie von Anne Rohstock 2010. 172 Vgl. Rohstock 2010, S.27. 173 Oehler 1998, S.414. 174 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Drewek 2006 und Schildt 1998a.

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Hochschulen existierte, sollten insbesondere Studierenden aus den einkommensschwächeren Bevölkerungsschichten das Studium ermöglichen.175 Verstärkt wurden die Debatten um die Notwendigkeit des Ausbaus der Universitäten durch die Formulierung der »Bildungskatastrophe« durch Georg Picht, die durch Ralf Dahrendorfs »Bildung ist Bürgerrecht« einen stärker politischen Charakter bekamen.176 Der wahrgenommene Fortschritt in Technik und Wissenschaft mache, so das Plädoyer der zeitgenössischen Beobachter, eine Anpassung des Bildungssystems sowie der Wissenschaft und Forschung an die neuen wirtschaftlichen und technischen Bedingungen dringlich.177 Gleichzeitig wurde Deutschland eine Bildungsrückständigkeit im internationalen Vergleich attestiert und die Notwendigkeit der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit sowie die Erhöhung der Akademikerzahlen gefordert.178 Mit dieser Kritik erhielten die bereits laufenden politischen Debatten seit Ende der 1950er Jahre erneut einen Anstoß. Bereits 1957 war von Bund und Ländern der Wissenschaftsrat als Gutachtergremium gegründet worden, der in den 1960er Jahren zunächst eine ›Empfehlung zum Ausbau der wissenschaftlichen Hochschulen‹ aussprach, in der 1.200 neue Ordinariate, Dauerstellen im Mittelbau und drei Universitätsgründungen vorgesehen waren.179 Die Empfehlung des Wissenschaftsrats zum personellen Ausbau der Hochschulen wurde in Hessen bis Mitte der 1960er Jahre umgesetzt und sogar überschritten. Insbesondere der Ausbau des akademischen Mittelbaus führte zu einer Veränderung der personellen Struktur der Universitäten.180 Harsch kritisiert wurde in diesem Rahmen die Schaffung neuer Parallellehrstühle. Ein Großteil der Professorenschaft lehnte diese empfohlene Regelung ab. Da die Berufung eines Lehrstuhlinhabers zumeist mit der Übernahme der Leitung eines Instituts zusammenhing, waren Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer nicht bereit, ihre Stellung an der Universität, somit auch die finanziellen Mittel, mit anderen Lehrstuhlinhabern zu teilen. Trotz ablehnender Haltung der Professorenschaft wurden im Laufe der 1960er Jahre sogenannte ›Speziallehrstühle‹ geschaffen. Als problematisch und verwirrend wurde dieser Umstand insbesondere von Studierenden erlebt, da es großenteils keine Absprachen der Lehrstühle untereinander hinsichtlich der Prüfungsinhalte und Prüfungsregelungen gab.181 175 Vgl. dazu die Ausführungen bei Oehler 1998, S.415. 176 Vgl. zu den Bildungsreformen der 1960er Jahre Kenkmann 2003; vgl. Picht 1964, Zitat ebda.; vgl. Dahrendorf 1965, Zitat ebda. 177 Vgl. Rohstock 2010, S.18. 178 Vgl. Kenkmann 2003. 179 Vgl. dazu Oehler 1998, S.412ff.; vgl. auch Lechner 2007, darin die Ausführungen zum Wissenschaftsrat. 180 Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen bei Rohstock 2010, S.77. 181 Vgl. dazu die Ausführungen bei Rohstock 2010, S.82.

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Mit der wachsenden Zahl der Studierenden an den Universitäten seit den 1960er Jahren wurden auch Reformansätze zur Verbesserung der Studienbedingungen sowie die Optimierung des Studienaufbaus und der Studieninhalte auf politischer wie universitärer Ebene diskutiert. Fakultätskommissionen der Westdeutschen Rektorenkonferenz und die Kultusministerien arbeiteten gemeinsam an der Erstellung von Rahmenprüfungsordnungen und Studienordnungen für die einzelnen Studiengänge. Im Vordergrund standen die Schaffung von Maßnahmen zur Stärkung der Transparenz der Studiengänge und Lehrinhalte sowie zur Straffung und Systematisierung von Prüfungsverfahren und Leistungsnachweisen, aber auch eine stärkere Hinwendung zu Grundlagen und Methoden innerhalb der einzelnen Fächer.182 Zudem wurde eine Studienzeitverkürzung diskutiert, die aufgrund der Überfüllung der Hochschulen und der verzeichneten erhöhten Verweildauer der Studierenden über die vorgesehene Studienzeit hinaus als notwendig erachtet wurde. Impulsgeber für die zur Debatte stehenden Reformansätze war insbesondere der hessische Kultusminister und Sozialdemokrat Ernst Schütte. Hessen, das als einziges Bundesland kein Studiengeld forderte, prognostizierte für die sich abzeichnende Studienzeitverlängerung enorme finanzielle Folgen, die es abzuwehren galt. So sollte durch die Einführung von Semesterhöchstzahlen für Studierende, die für das Studium länger als die vorgegebene Höchstzeit benötigen, die Studiengeldfreiheit aufgehoben werden.183 Zudem rückte, angeregt von Ernst Schütte in der ersten Hälfte der 1960er Jahre, die Überprüfung der Rahmenbedingungen und Lehrinhalte einzelner Studienfächer in den Vordergrund. Geltende Studien- und Prüfungsordnungen sollten überdacht und an die angestrebte Studienzeitverkürzung angepasst werden. Die Westdeutsche Rektorenkonferenz (WRK) und die Konferenz der Kultusminister (KMK) nahmen die von Schütte gemachten Vorschläge an und legten sie ihren Beschlüssen zugrunde. Darunter wurden beispielsweise folgende Maßnahmen vorgeschlagen: Einführung von Zwischenprüfungen für alle Fächer, Streichung der finanziellen Studierendenförderung nach der Höchststudiendauer, die Exmatrikulation Studierender, die die Höchststudiendauer überschreiten, eine Neuordnung der Studienpläne und Reduzierung der Studieninhalte, eine stärkere Führung der Studierenden durch das Studium durch verbesserte Studienberatung und rechtzeitige Information über Unterrichtsinhalte sowie Lektüreempfehlungen. Einige Universitäten reagierten entsprechend auf die Empfehlungen der WRK und KMK und begannen die Prüfungs- und Studienordnung zu überarbeiten. Dabei wurden Studierende, die bisher an den Universitäten kein Mitsprachrecht hatten, zu informellen Gesprächskreisen in einigen Fakultäten hinzugezogen, um in diesem Rahmen die Neuordnung des Studiums gemeinsam zu diskutieren.184 Studierende, 182 Vgl. zur Hochschulentwicklung ab 1945 Oehler 1998, S.430. 183 Vgl. zu den Hochschulreformen im Land Hessen Rohstock 2010, S.104. 184 Zu den geschilderten Reformmaßnahmen und -prozessen vgl. Rohstock 2010, S.109ff.

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aber auch Lehrende sahen insbesondere in der Begrenzung des Studiums durch eine Höchststudiendauer die wissenschaftliche Qualität des Studiums gefährdet. In Frankfurt sprach sich insbesondere die Philosophische Fakultät gegen eine befristete Immatrikulation aus und nahm diesbezüglich eine deutlich ablehnende Haltung ein. Spätestens mit der 1966 ausgesprochenen Empfehlung des Wissenschaftsrats zur Neuordnung des Studiums185, in der unter anderem das Studium in drei Bereiche (ein ›Normalstudium‹, das auf den Beruf vorbereitet und in der Zeit begrenzt ist, ein daran anschließendes Aufbaustudium für Forschungsinteressierte und ein Studium für bereits Berufstätige) gegliedert, Zwischenprüfungen eingeführt, das Studium gestrafft und eine Studienhöchstdauer (für das berufsvorbereitende Studium) von vier Jahren, also acht Semestern, initiiert werden sollten, spalteten sich die Interessen der Politik und der Universitäten; innerhalb der Universitäten insbesondere nach Fakultäten. In einer Flut von Publikationen erschienen Stellungnahmen unterschiedlicher Interessenvertreter und Einzelpersonen. Kritik erfuhr die Empfehlung des Wissenschaftsrats an der Frankfurter Universität besonders durch die Philosophische Fakultät.186 Im Jahr 1966 verabschiedete das Land Hessen ein Gesetz über die Hochschulen des Landes, über das die Reformansätze verankert wurden. Inhaltlich wurde dieses Gesetz bundesweit von einem Großteil der Professorinnen und Professoren kritisiert, die die bisherige professorale Selbstverwaltung und ihren Status in der Universität gefährdet sahen. Insbesondere drei Beschlüsse wurden abgelehnt: Die Amtszeitverlängerung des Rektors auf fünf Jahre, das Oktroyrecht des Kultusministeriums bei Berufungen mehr Mitbestimmungsrechte zu erhalten und nicht zuletzt die Mitbestimmung der Studentenschaft.187. Mit dem hessischen Hochschulgesetz wurde den Universitäten aufgetragen, neue Gremien wie den Rat der Nichtordinarien, den Rat der Nichthabilitierten, sowie satzungsgebende Organe zu schaffen, die Studierende in ihren neuen Rechtsstatus überzuleiten und zwei Pädagogische Hochschulen in die Universität Frankfurt zu integrieren. Mit Letzterem sollte das sechs185 Vgl. Oehler 1998, S.412ff. und auch Lechner 2007. Am 8. Juli 1964 war von der Wissenschaftlichen Kommission des Wissenschaftsrats ein Ausschuss für Fragen der Studienreform gegründet worden, der schließlich zwei Jahre später eine Empfehlung aussprach. Im Vordergrund stand hier die Einführung von gestuften Studiengängen. Nach einem Normalstudium, in dem Studierende stärker angeleitet werden sollten, sollte ein forschungsorientiertes Aufbausstudium erfolgen. Letztere Empfehlung erntete insbesondere aus den geisteswissenschaftlichen Fakultäten, die die Freiheit von Forschung und Lehre gefährdet sahen, Kritik; vgl. Lechner 2007, S.109ff. 186 Vgl. Rohstock 2010, S.113ff. Dabei ist zu erwähnen, dass die Studierenden zu diesem Zeitpunkt noch kein Mitspracherecht an den Entscheidungen der Universität und damit auch nicht bei der Gestaltung der Studien- und Prüfungsordnungen hatten. 187 Vgl. Rohstock 2010, S.135f.

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semestrige Grund-, Haupt- und Realschullehramt in die Abteilung für Erziehungswissenschaft (AfE) der Universität Frankfurt, die bis dahin nur für die Ausbildung von Gymnasiallehrerinnen und Gymnasiallehrer zuständig war, aufgenommen werden.188 Insbesondere diese Umstellung sollte spätestens im Wintersemester 1969 an der Universität Frankfurt zum ›Aktiven Streik‹ führen, in dem die Studierenden der AfE eine Erhöhung der Studiendauer des Grund-, Haupt- und Realschullehramts auf acht Semester forderten.189 In diesem Gesetz war somit auch erstmals die Mitbestimmung der Studierenden in der universitären Selbstverwaltung verankert, ohne jedoch genauere Verhältniszahlen vorzugeben.190 Eine besondere Herausforderung stellte die Erarbeitung von neuen Satzungen dar, über die die Reformen umgesetzt werden sollten. In Frankfurt waren im 1967 noch keine Entscheidungen zur neuen Gestaltung der Universität getroffen worden. Auch war bis dahin die Zusammensetzung der satzungsgebenden Organe nicht beschlossen. Die Studierenden forderten zunächst eine zwanzigprozentige Mitbestimmung, die nur kurze Zeit später auf die Forderung nach Drittelparität geändert wurde, wodurch Studentinnen/Studenten, Assistentinnen/Assistenten und Professorinnen/Professoren je die gleiche Anzahl an Stimmen erhalten sollten. Letztere Forderung brachte schließlich die Satzungsarbeiten in Frankfurt vollständig zum Erliegen.191 Die fehlende Bereitschaft zur Umsetzung der Beschlüsse wurde von kritischen Studierenden dann im Rahmen der Studentenbewegung als Bestätigung der herrschenden autoritären Verhältnisse und der Notwendigkeit der Demokratisierung der Hochschulen interpretiert, für die aktiv gekämpft werden müsse. Die steigenden Studierendenzahlen und die noch nicht genügend ausgebauten Universitäten wurden vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) im Jahr 1961 und vom Verband Deutscher Studentenschaft (VDS) im Jahr 1962 bereits in ihren Schriften kritisiert, dabei Probleme der Hochschulstruktur und Studienorganisation analysiert und Reformvorschläge formuliert.192 Die Studierenden, insbesondere der SDS, sahen in den bildungspolitischen Debatten und den Entwicklungen an den Hochschulen in der ersten Hälfte der 1960er Jahre eine Tendenz in Richtung einer autoritär-technokratischen Hochschulreform. Wie in der Denkschrift mit dem 188 Vgl. hierzu die Ausführungen bei Groppe 2008, S.129. 189 Vgl. dazu Zoller 1969. Die Kritik der Studierenden richtet sich somit nicht, wie so häufig in der Literatur angegeben, gegen eine Verkürzung der Studiendauer – denn diese wird von Ernst Schütte nicht formuliert und angestrebt. Die geltende Studiendauer soll nach Schütte beibehalten werden. Die Studierenden fordern vielmehr eine Anpassung der Studiendauer des Grund-, Haupt- und Realschullehramts an das gymnasiale Lehramtstudium und damit eine Erhöhung der Studiendauer um zwei Semester. 190 Vgl. Wienhaus 2011, S.17. 191 Vgl. Rohstock 2010, S.148ff. 192 Vgl. Bauß 1977, S.228ff.

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Titel ›Hochschule in der Demokratie‹193 aus dem Jahr 1961 deutlich wird, kritisierte der SDS bereits zu diesem Zeitpunkt die Organisation der Hochschulen und formulierte Vorschläge zur »Neugliederung der Universität und ihrer Fakultät« sowie Vorschläge zur »Gliederung des Studiums«.194 Auch der VDS (Verband Deutscher Studentenschaften) veröffentlichte kurze Zeit später das Dokument ›Studenten und die neue Universität‹.195 In diesem verwies der VDS darauf, dass die Studierenden nicht nur mit der »Überfüllung der Hochschulen« zu kämpfen hätten, sondern auch mit einer »unzulänglichen Organisation von Lehre und Forschung«196. Beide waren sich einig, dass ein Grund für die kritikwürdigen Hochschul- und Studienbedingungen das autoritäre Selbstverständnis der Ordinarienuniversitäten sei. So hieß es in der SDS-Hochschulschrift (1961/1965): »Die Oligarchie der Ordinarien bleibt in ihrer Vorherrschaft unangetastet. In den Instituten bestimmen allein die Direktoren. Die Assistentenschaft ist völlig von der Mitbestimmung ausgeschlossen. Das Stimmrecht von ein oder zwei Studenten, die noch dazu an keine Weisungen gebunden sind, bleibt ein rein formeller Akt, der die tatsächlichen Verhältnisse verschleiert und den Anschein einer echten Mitbestimmung der Studentenschaft hervorruft (…)«197.

Beide Denkschriften verwiesen bereits deutlich vor den Studentenprotesten ab Mitte der 1960er Jahre auf die Veränderungen und Reformen, die in den letzten Jahren an der Universität zu beobachten waren. Auch sie forderten Reformen an den Hochschulen, jedoch nun explizit solche, die die Universität von den attestierten hierarchieorientierten Strukturen befreien sollten. Obwohl den SDS und den VDS zu Beginn der 1960er Jahre ähnliche Intentionen bewegten, unterschied sie jedoch insbesondere in den nächsten Jahren ihr Ziel. Während der SDS seine Kritik an den universitären Strukturen als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Kritik sah,

193 Vgl. Sozialistischer Deutscher Studentenbund 1965. Im Mai 1965 erschien eine durchgesehene, in der Konzeption unveränderte Neuauflage der 1. Auflage aus dem Jahr 1961, womit der SDS auf die Dringlichkeit und weiterhin bestehende Aktualität der bereits vier Jahre zuvor formulierten Problematiken verwies; vgl. Sozialistischer Deutscher Studentenbund 1965; schließlich im selben Jahr erschien eine von SDSMitgliedern herausgegebene Monographie mit dem gleichen Titel, die sich jedoch als Weiterentwicklung der ersten Hochschulschrift des SDS verstand; vgl. Nitsch/Gerhardt/Offe/Preuß 1965. 194 Vgl. SDS-Hochschuldenkschrift 1965; S.54ff. und S.68ff., Zitate ebda. 195 Vgl. Verband Deutscher Studentenschaften 1962. 196 Verband Deutscher Studentenschaften 1962, im Vorwort. 197 SDS-Hochschuldenkschrift 1965, S.92, im Original hervorgehoben.

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die er insbesondere während der Hochphase der Studentenbewegung zum Ausdruck brachte, konzentrierte sich der VDS im Wesentlichen auf eine Hochschulkritik.198 Bevor auf die Studentenbewegung und die Kritik sowie die Forderungen der Studierenden eingegangen wird, erfolgt eine Beschreibung der Ordinarienuniversität, deren Struktur von vielen Studierenden als reformbedürftig und undemokratisch bewertet wurde sowie eine Beschreibung der Geschlechterverhältnisse an der Universität. IV.4.2

Ordinarienuniversität und Geschlechterverhältnisse

Bezeichnend für die bundesdeutschen Universitäten war bis in die 1960er Jahre die besondere Rolle der Ordinariate bei der Selbstverwaltung der Universität. An den sogenannten Ordinarienuniversitäten gab es neben den Professorinnen und Professoren keine andere Gruppe, die Mitbestimmungsrechte hatte.199 In einem historisch gewachsenen Selbstverständnis der Verbindung von Forschung und Lehre drückte sich auch eine »Autonomie der Hochschulen in der Gestaltung der Lehre im Rahmen der Studienordnung aus«200. So waren beispielsweise an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt die Organe der Selbstverwaltungen die Fakultäten, der Senat, der Rektor und das Konzil. Während die Fakultäten, deren Entscheidungsträger Lehrstuhlinhaber und Institutsleiter waren, über die Organisation der Lehre und Prüfungen entschieden, war der Senat zusammengesetzt aus Dekanen der einzelnen Fakultäten sowie gewählten Vertretern aus der Professorenschaft und für Fragen zur Grundordnung der Hochschule und der Koordination zwischen den Fakultäten verantwortlich. Der Rektor übte sein Amt als Vertreter der Hochschule aus, sowohl bei inneren Belangen als auch nach außen hin. Das Konzil war eine Art Versammlung der Lehrstuhlinhaber, das den Rektor wählte und das Organ der Professorenschaft darstellte.201 Es war die »Verbindung zwischen der Leitung eines Instituts und dem Sitz in der Fakultät«, der den ordentlichen Professorinnen und Professoren in der Ordinarienuniversität ihre Machtstellung sicherte.202 Die Ordinarienuniversitäten waren deutlich männerdominiert. Nicht nur, dass der Anteil der Studentinnen im Vergleich zu den männlichen Kommilitonen an der Universität gering ausfiel, auch die Ordinariate waren hauptsächlich von Männern besetzt. Unter den 1.284 ordentlichen Professoren war noch im Wintersemester

198 Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen bei Schmidtke 2003, S.209. 199 Vgl. dazu Groppe 2008, S.126. 200 Oehler 1998, S.420. 201 Vgl. zur Hochschulentwicklung nach 1945 Oehler 1998, S.114; vgl. in diesem Zusammenhang auch Groppe 2008, S.126. 202 Vgl. Keller 2000, S.50, Zitat ebda.

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1953/54 bundesweit keine Frau vertreten. Der Anteil der außerordentlichen Professorinnen lag in dieser Zeit bei 4,2 % und der Anteil der außerplanmäßigen Professorinnen bei 2,1%. Der Frauenanteil bei den Privatdozentinnen lag bei 3,6%, bei den Lehrbeauftragten, Lektorinnen und Gastdozentinnen bei 9,9% und bei den Assistentinnen bei 11%.203 Die Unterrepräsentanz von Frauen an bundesdeutschen Universitäten konnte, wie in der nachfolgend zitierten Untersuchung deutlich wird, auf einen aktiven Ausschluss der Frauen zurückgeführt werden. So erhielt Anger (1960) in seiner Umfrage, in der er sich im Kontext der bereits seit Ende der 1950er Jahre angelaufenen Debatten um Nachwuchsmangel in qualifizierten, insbesondere akademischen Berufen den »Problemen der deutschen Universität« widmete, auf die Frage, »ob es zuviel oder zuwenig Studentinnen« an der Universität gebe, folgende beispielhafte Antworten: »Interview Nr. 525 (o. Prof.): Frage 49: Das ist eine sehr schwierige Frage. Mich stören sie nicht. Es ist ganz gut so, wie es ist. Viele Mädchen kommen auch nicht bis ans Ende des Studiums oder heiraten gleich nach dem Examen, fallen also nicht so ins Gewicht (…) Interview Nr. 350 (Med.): Es gibt zu viele Mediziner, folglich gibt es auch zu viele Medizinerinnen. In letzter Zeit wird es ja schon besser. (…) Man könnte höchstens sagen: wenn jeder Student den Staat doch so viel Geld kostet, zumal bei der Studiengeldfreiheit hier, und die Studentinnen nachher doch heiraten, dann gibt es eigentlich doch zu viele (…) Interview Nr.515 (Jur.) Frage 49: … Was will sie als Juristin machen? Als Richterin wäre sie eine komische Figur. Ihr fehlt die Kraft, sich durchzusetzen. Aber es gibt auch Stellen in der Sozialverwaltung, wo sie am Platze ist«204.

Anger (1960) kommt in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, dass Studentinnen zwar geduldet, jedoch insgesamt als unfähig für eine wissenschaftliche Karriere bewertet werden. Auf die Frage, wie das Lehrpersonal gegenüber weiblichen Kolleginnen eingestellt sei, geben 79% der befragten ›Professoren‹ an, weiblichen Dozentinnen an der Universität nicht positiv gegenüberzustehen.205 Die Ergebnisse führt Anger auf eine konservativ-traditionelle Grundhaltung der Befragten zurück.206 Mit dem Anstieg der Gesamtimmatrikulationen ab den 1950er Jahren stieg auch der prozentuale Anteil der weiblichen Studierenden, wie die folgenden Zahlen aus 203 Zu den Zahlen vgl. die Ausführungen bei Keller 2000, S.49. 204 Anger 1960, S.464ff., darin die Interviewauszüge auf S.466. 205 Vgl. Anger 1960, S.488ff.; aus den formulierten Frage geht nicht hervor, ob nur Professoren oder auch Professorinnen befragt worden sind. Es ist jedoch aufgrund der Fragestellung anzunehmen, dass Anger Professoren befragte. 206 Vgl. Anger 1960, S.499.

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den Frankfurter Vorlesungsverzeichnissen der Johann Wolfgang Goethe-Universität verdeutlichen: Im SS 1952 waren von insgesamt 5.458 Studierenden 17,5%, im WS 1958 von 7.750 Studierenden 24,3%, im WS 1965 von insgesamt 14.805 Studierenden 31,3 %, im WS 1968 von 14.861 Studierenden 29% und im WS 1972 von 15.195 Studierenden 36,6 % weiblich.207 Die Pädagogischen Hochschulen, die für die Lehrerausbildung (Grund-, Haupt- und Realschullehramt) zuständig waren, wurden mehrheitlich bereits in den 1950er Jahren von Frauen besucht, so dass sie ca. 80% der Studierenden stellten.208 An den Universitäten waren Frauen bis in die 1970er Jahre insbesondere in den Geisteswissenschaftlichen Fakultäten vertreten, nicht zuletzt weil diese für die gymnasiale Lehramtsausbildung zuständig waren, für die sich insbesondere Frauen entschieden.209 Auch an der Universität Frankfurt war der Anteil der weiblichen Studentinnen in den 1960er Jahren an der Philosophischen Fakultät am größten, so dass im Wintersemester 1965/66 von 2.810 Studierenden 1.080 weiblich waren. Die Hochschule für Erziehung, die seit 1961 an der Universität Frankfurt angegliedert – jedoch nicht integriert – und für die GrundHaupt- und Realschullehramtsausbildung verantwortlich war, hatte im selben Jahr 1.727 eingeschriebene Studentinnen von insgesamt 2.627 Studierenden. Nach der Integration der beiden Pädagogischen Hochschulen (Hochschule für Erziehung in Frankfurt und in Gießen) in die Universität Frankfurt war es nun die in diesem Rahmen neu geschaffene Abteilung für Erziehungswissenschaft (AfE), an der die Lehramtsausbildung stattfand und die den größten Anteil weiblicher Studierenden besaß. 1968 waren hier 1.708 von 2.499 Studierenden weiblich, gefolgt von der Philosophischen Fakultät mit 1.258 Studentinnen von 3.227 Studierenden.210 Inwiefern sich die Veränderung der Studienbeteiligung von Frauen auf die sozialen und persönlichen Wahrnehmungen des eigenen Geschlechts, der Geschlechterverhältnisse und die damit eingehenden Handlungsmöglichkeiten auswirkten, wurde bisher insbesondere in der Frauenforschung der 1980er Jahre untersucht. Nach Sommerkorn (1981) können in der Zeit zwischen 1950 und 1970 zwei unterschiedliche Entwicklungsphasen herausgearbeitet werden.211 Für die zwei Jahrzehnte unterscheidet sie zwischen der Phase ›1950 bis Anfang 1960‹ und der Phase ›Mitte 1960 bis Anfang 1970‹. In der ersten Zeitphase, so Sommerkorn, gäbe es ein anderes Bewusstsein sowohl in der Wahrnehmung der eigenen Rolle in der Gesellschaft als auch in der Wahrnehmung der eigenen Rolle an der Hochschule. Dabei schätz207 Vgl. Vorlesungsverzeichnisse der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt. 208 Vgl. dazu Lundgreen/Scheunemann/Schwibbe 2008, S.79. 209 Vgl. zu Frauen an deutschen Hochschulen Bathe/Biermann/Hunfeld/Ruhne/Schlosser, 1989, S.17. 210 Vgl. Vorlesungsverzeichnisse der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt. 211 Vgl. Sommerkorn, 1981; Sommerkorn führt insgesamt drei Entwicklungsphasen auf, wobei die dritte Phase die Periode seit Mitte der 1970er Jahre bis in die Gegenwart ist.

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ten die in ihrer Untersuchung befragten Frauen in der ersten Zeitphase männliche Eigenschaften für die Bewältigung eines Studiums als wichtiger und hilfreicher ein als weibliche Eigenschaften, die sie als hemmend beschrieben. In der zweiten Phase ist, so Sommerkorn (1981), neben der erhöhten Präsenz von Frauen an den deutschen Universität Mitte der 1960er Jahre und 1970er Jahre ein sich wandelndes Bewusstsein der Studentinnen über ihre eigene Hochschulsituation und ihre Situation in der Gesellschaft erkennbar, so dass sie selbstbewusster ein Studium aufnehmen.212 Während Sommerkorn (1981) ein verändertes Bewusstsein im Zuge der Erhöhung des Frauenanteils an der Universität attestiert, weisen andere Untersuchungen darauf hin, dass aufgrund der steigenden Zahl studierender Frauen nicht auf eine zunehmende Akzeptanz von Frauen innerhalb der Universität zu schließen sei. Bock/Braszeit/Schmerl (1983) fassen mit Verweis auf eine Untersuchung von Beckmann/Richter/Moeller/Scheer aus dem Jahr 1972 Folgendes zusammen: »Viele Frauen beginnen ihr Studium hochmotiviert und ehrgeizig; die mit dem Studienanfang verbundene räumliche Trennung vom Elternhaus und damit die Möglichkeit eines eigenständigen Lebens wird als ›Befreiung‹ erlebt; im Verlauf des Studiums erleben sie jedoch häufig Frustrationen, insbesondere in konkurrenzorientierten Situationen mit Männern, wo sie Angst vor Erfolg entwickeln und deshalb lieber auf eine Selbstdarstellung verzichten«213.

Die Lehr- und Lernkultur der Universität bildete in den 1950er und auch noch in den 1960er Jahren konservative Geschlechterverhältnisse ab, in deren Rahmen die Reproduktion und Verfestigung einer Geschlechterordnung erkennbar wird. An der Universität erlebten die in der vorliegenden Untersuchung befragten Frauen tradierte Geschlechterhierarchien. In den Lehrveranstaltungen wurde Wissen vor allem von Männern produziert und vermittelt; sie waren Entscheidungsträger in den Wissenschaftsgremien sowie Lehrstuhlinhaber, dagegen übernahmen Frauen hauptsächlich die Dienstleistungs- und Zulieferarbeiten innerhalb der Universität, beispielsweise als Schreibkräfte214 Während der universitäre Alltag in den 1950er Jahren und auch noch in den 1960er Jahren von einem sehr konservativen Frauenbild sowie von einem teilweise vorhandenen Widerstand gegen das Frauenstudium und Frauen in der Wissenschaft geprägt war und sich kaum eine Frau mit offenen Protesten gegen die Universität als ›Männerdomäne‹ richtete, sollte sich dieses Bild in den darauffolgenden Jahren deutlich verändern.215 Das Ungleichgewicht der Geschlechter und der Ausschluss der Frauen und Studentinnen aus verschiedenen 212 Vgl. hierzu die Untersuchung bei Sommerkorn 1981. 213 Bock/Braszeit/Schmerl, 1983, S.18. 214 Vgl. dazu die Ausführungen bei Müller/Stein-Hilbers 1996, S.491.

215 Vgl. in diesem Zusammenhang Schulz 2002 und ihre Ausführungen zur Frauenbewegung zwischen 1968 und 1976.

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Bereichen der Hochschulen sollte spätestens mit dem Protest der SDS-Frauen im Kontext der Studentenbewegung und dem bekannten Tomatenwurf auf einer Delegiertenkonferenz des SDS im Jahr 1968 zu einem öffentlichen Thema werden.216 IV.4.3

Studentenbewegung und Studienbedingungen Ende der 1960er Jahre

An der Universität erlebten die befragten Frauen die Studentenproteste, an denen sie partizipierten. Für die Studentenbewegung, die ab Mitte der 1960er Jahre ihren Anfang nahm und deren Hochphase ungefähr zwischen 1967 und 1969/70 lag, hatte die Universität eine wichtige Bedeutung. Wie im Folgenden deutlich werden wird, war die Universität sowohl der Raum diverser hochschulpolitischer und gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen als auch Gegenstand der Kritik. Ab Mitte der 1960er Jahre wendeten sich politisierte Studierende im Rahmen der bereits laufenden hochschulpolitischen Diskussionen und Reformbestrebungen gegen die Organisation und Struktur der Universitäten. Sie forderten eine Umgestaltung geltender universitärer Ordnungen sowie die Demokratisierung der Universität. Einige radikale Studierende versuchten zudem über die Universität gesamtgesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Wird die Studentenbewegung in die ›langen 1960er Jahre‹ eingeordnet und damit die bereits seit Ende der 1950er Jahre laufenden politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Transformationsprozesse und insbesondere auch die gesellschaftskritischen Debatten mitberücksichtigt, kann die Studentenbewegung als Zuspitzung der bereits in Gang gekommenen hochschulpolitischen Entwicklungen und gesellschaftskritischen Debatten bewertet werden. Die Universität bildete, wie Rohstock (2010) konstatiert, »die Schnittstelle, an der sich allgemeine gesellschaftspolitische und genuin hochschulpolitische Forderungen der radikalen Studierenden in auffälliger Weise verquickten«217. Im Folgenden werden entlang des Verlaufs einiger Ereignisse sowohl die gesellschaftspolitischen als auch die hochschulpolitischen Anliegen der Studierenden sowie ihre Verknüpfungen miteinander nachgezeichnet. Wie bereits dargestellt, wurden die Hochschulreformen nicht nur aus Reihen der Wissenschaft und Politik als erforderlich erachtet, sondern längst – spätestens seit Anfang der 1960er Jahre – von studentischen Gruppen wie dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und dem Verband Deutscher Studentenschaften (VDS) gefordert, die die Bildungsdebatten, Empfehlungen und eingeleiteten Re-

216 Vgl. zu Frauen im SDS sowie dem Protest von Studentinnen Steffen 1998. 217 Rohstock 2010, S.155.

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formen nicht unkommentiert ließen.218 Insbesondere seit Mitte der 1960er Jahre mischten sich Studierende immer stärker in die bildungspolitischen Diskussionen um Reformen ein. Die massive Kritik, die in der Regel im Medium von Demonstrationen und Kundgebungen geäußert wurde, richtete sich einerseits gegen die Ordinarienuniversität, in der eine Mitbestimmung der Studierenden nicht vorgesehen und von Teilen der Professorenschaft offen abgelehnt wurde, und andererseits gegen die angestoßenen Reformen, in der eine Neuordnung des Studiums vorgesehen war, die von den Studierenden negativ besetzt als ›technokratische Hochschulreform‹ bezeichnet wurde. Studierende wendeten sich gegen einzelne Reformbestrebungen der Hochschulpolitik, wie die Studienzeitverkürzung, die sie als eine Degradierung der Universität zur Ausbildungs- und Forschungsinstitution der Privatwirtschaft bewerteten.219 Bereits 1965 demonstrierten unter dem Motto »Bildung sichert die Zukunft« über 3.000 Studierende in Frankfurt gegen einen wachsenden »Bildungsnotstand«.220 Auf dem Römerberg sprachen der AStA-Vorsitzende, der Rektor der Universität sowie einzelne Professoren über die Situation an den Universitäten. Zu diesem Zeitpunkt waren sie sich noch einig, dass sie sich gemeinsam für eine bessere Bildungspolitik einsetzen müssten.221 So bezog die Universität Frankfurt gemeinsam mit ihren Studierenden Stellung zu den Hochschulreformen sowie den politischen und öffentlichen Debatten seit Anfang der 1960er Jahre. Doch bereits kurze Zeit später positionierten sich die Studierenden mit ihren Forderungen und Aktionen gegen die Institution Universität und damit auch gegen ihre Leitung.222 Für einige Studierende – darunter die Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) –, aber auch einige gesellschaftskritische Professoren waren die Hochschulreformen und ihre diskutierten Maßnahmen Ausdruck einer kapitalistischen, autoritären und damit kritikwürdigen Gesellschaft. Insbesondere der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) spielte in der Studentenbewegung eine wichtige Rolle. Dieser war zunächst bis 1960 die Studentenorganisation der SPD und wurde nach innerparteilichen Streitigkeiten, in der der SDS die politische Neupositionierung der SPD (Godesberger Programm 1959) vehement ablehnte und der Mutterpartei die Loyalität verweigerte, durch einen

218 Vgl. dazu die Ausführungen in der SDS-Hochschuldenkschrift 1965 und in dem Dokument Verband Deutscher Studentenschaft 1962. 219 Vgl. in diesem Zusammenhang Schmidtke 2003, S.207. 220 Vgl. Flugblatt zur Kundgebung gegen den Bildungsnotstand zitiert nach Kraushaar 1998a, S.222, Zitate ebda. 221 Vgl. Kraushaar 1998a, S.222. 222 Vgl. dazu Kraushaar 1998a, in der Chronik der Ereignisse wird die Distanzierung der Studierendengruppen von der Universitätsleitung erkennbar.

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Unvereinbarkeitsbeschluss ausgeschlossen.223 Bis Mitte der 1960er Jahre blieb der SDS besonders von der alten Linken beeinflusst und orientierte sich insbesondere an sozialistischen Intellektuellen, wie unter anderem dem Marburger Professor Wolfgang Abendroth, der den SDS auch in den folgenden Jahren unterstützte.224 Schließlich ab Mitte der 1960er Jahre orientierte sich der SDS an den Debatten um eine neue linkspolitische Ausrichtung und rezipierte vor allem Texte der sich formierenden Neuen Linken. Mit dem Begriff ›New Left‹ prägte der Soziologe C. Wright Mills in den USA seit 1957 die linkspolitische Landschaft. Ein Teil des SDS verstand sich im Zuge dieser Neuorientierung als eine ›Plattform‹ der Neuen Linken. Über eine Gesellschaftsanalyse, bei dem sich der SDS sowohl an der amerikanischen und britischen ›New Left‹ orientierte als auch auf die Analysen der Frankfurter Schule stützte, versuchte dieser seinem Anspruch als Neue Linke gerecht zu werden.225 Es waren vor allem die ›Kritische Theorie‹ und die Analysen zu ›Autorität‹ der Frankfurter Schule, die auf besondere Weise auf die politisierten Studierenden, allen voran dem antiautoritären Flügel des SDS, wirkten. Die ›Kritische Theorie‹ knüpfte zunächst an die marxistische Philosophie an und widmete sich den Grundlagen des Marxismus und schließlich der Weiterentwicklung seiner Kategorien durch eine »Verbindung von Marxismus und Psychoanalyse«, eine »Wiederanknüpfung an die kritische Philosophie« und eine »Kopplung von Theorie und empirischer Sozialforschung«.226 Eine besondere Bedeutung für die Studentenbewegung bekam die über gesellschaftskritische Professoren theoretisch artikulierte Infragestellung der Rolle des Proletariats bei der Umgestaltung der Gesellschaft. Während diesem im klassischen Marxismus eine besondere Rolle zugesprochen wurde, wird ihm diese Rolle in den neueren Ansätzen aufgrund eines attestierten ›Verblendungszusammenhangs‹ abgesprochen. Die Arbeiterschaft sei mittlerweile soweit in die Gesellschaft integriert, dass sie nicht länger als Kritikerin der Gesellschaft mit revolutionärem Potential begriffen werden könnte.227 Die Neue Linke, damit auch die antiautoritären Studierenden, führte diese Annahme weiter fort und sah in den Intellektuellen und der Jugend zentrale Figuren für die Revolutionierung der Gesellschaft. Somit entwickelte sich im Zuge der Studentenbewegung ein antiautoritärer und radikaler Arm des SDS, der sich selbst als denjenigen bestimmte, der eine Umwälzung der Gesellschaft erreichen könnte. Die Revolution der Gesellschaft sollte dabei über die Universitäten initiiert werden. Die ›Kritische Theorie‹ 223 Vgl. zur Organisation und Struktur des Sozialistischen Deutschen Studentenbund Albrecht 1994, S.441f. 224 Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen bei Schmidtke 2003, S.46. 225 Vgl. dazu die Ausführungen bei Schmidtke 2003, S.49f. 226 Vgl. dazu die Ausführungen bei Gilcher-Holtey 1998b, S.169, Zitate ebda.; zur Frankfurter Schule vgl. Wiggershaus 1986. 227 Vgl. dazu Gilcher-Holtey 1998b, S.170.

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als anleitende Theorie, so die Überzeugung, dürfte nicht weiter nur als Theorie diskutiert, sondern müsse in die Praxis überführt werden.228 Mit subversiven Aktionen sollten die autoritären Strukturen innerhalb der Universität zerschlagen und ein antiautoritäres Bewusstsein durch die Praxis erzeugt werden, durch das schließlich gesamtgesellschaftliche Veränderungen herbeigeführt werden sollten.229 Wie hier deutlich wird, ist es nicht verwunderlich, dass insbesondere die Universität Frankfurt, neben der Freien Universität Berlin, zu einer der Hochburgen der Studentenbewegung wurde.230 Hier lehrten die Vertreter der Frankfurter Schule, unter anderem Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas und vermittelten ihre Theorien und Gesellschaftskritiken bereits seit Jahren in Vorlesungen und Seminaren. Damit war es den Studierenden dieser Universität möglich, an den Lehrveranstaltungen dieser Professoren sowie an Diskussionen um eine Gesellschaftskritik teilzunehmen. Die Universität bot den Studierenden als Bildungsinstitution die Möglichkeit einer theoretischen Auseinandersetzung mit gesellschaftskritischen und politischen Themen. Dies wirkte auf viele Studierende – wie im Folgenden noch deutlich wird – politisierend. Die Kritik an den Hochschulbedingungen und den Hochschulreformen wurde in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre um innen- und außenpolitische Themen ergänzt. Seit Mitte der 1960er Jahre fand aufgrund der zahlreichen politischen Konfliktfelder eine Mobilisierung der Studierenden in fast allen größeren bundesdeutschen Städten statt, darunter insbesondere auch in Frankfurt. Als sogenannte Außerparlamentarischen Opposition (APO), die sich im Rahmen der großen Koalition seit 1966 und der wieder aktuell diskutierten Notstandsgesetzgebung231 gebildet hatte, beteiligten sich politische Studentengruppen wie der SDS gemeinsam mit Gewerkschaftsgruppen und der Ostermarschbewegung (Kampagne für Abrüstung, KfA) an diversen außeruniversitäre Protestaktionen.232 Im Vordergrund standen hierbei folgende Themen: Erstens die Verabschiedung der Notstandsgesetze; zweitens die Große Koalition, die die Verabschiedung der Notstandgesetze ermöglichte und zudem wegen fehlender Opposition als Gefährdung demokratischer Verhältnisse bewertet wurde; drittens eine befürchtete »Faschisierung des Staates auf legalem 228 Vgl. dazu Gilcher-Holtey 1998b, S.178f. 229 Vgl. Gilcher-Holtey 1998b, S.181 und auch Groppe 2011, S.144. 230 Vgl. dazu auch die Ausführungen bei Frei 2008, S.95. 231 Mit der Großen Koalition, die 1966 zustande kam und naturgemäß auch die Mehrheit im Bundestag besaß, gewannen die seit den 1950er Jahren diskutierten Notstandsgesetze wieder an Aktualität. Mit den Notstandsgesetzen sollten Regelungen verabschiedet werden, über die ermöglicht werden sollte, dass der Staat in Notsituationen seine Handlungsfähigkeit beibehalten könne, auch unter Aussetzung von in der Verfassung festgehaltenen Rechten, vgl. Schneider 1986. 232 Vgl. dazu Habermas 1969 und auch Richter 1998, S.36.

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Weg«, die mit einer Verabschiedung der Notstandsgesetze und der Großen Koalition in Zusammenhang gebracht wurde; viertens die Frage nach der Vergangenheit der Elterngeneration und der »politischen und personellen Kontinuitäten«; fünftens die Springer-Presse, die aufgrund der Form der Berichterstattung als antidemokratisch bewertet wurde; sechstens die Außenpolitik der Westmächte und die Imperialismuspolitik, die im Vietnamkrieg zum Ausdruck kamen.233 Somit folgten ab 1966 diverse Kundgebungen gegen den Springer-Verlag, die Notstandsgesetze und den Vietnamkrieg, die gemeinsam von Studentengruppen, aber auch Schülerinnen und Schülern in gemeinsamer Sache organisiert und durchgeführt wurden.234 Eine Zuspitzung der Auseinandersetzungen erfolgte bei der Anti-Schah-Demonstration im Jahr 1967, als der Student Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 erschossen wurde. Im Anschluss kam es zu teils heftigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Studierenden.235 Bereits zu diesem Zeitpunkt war innerhalb des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) eine Spaltung erkennbar. Auf einem SDSKongress in Hannover im Jahr 1967 vertrat der traditionalistische Flügel des SDS, für den der Marburger Politikprofessor Wolfgang Abendroth sprach, die Meinung, der Kampf gegen die Notstandgesetze sei über ein »Bündnis der Intelligenz und der Arbeiterbewegung« zu initiieren. Dagegen verfolgte der antiautoritäre Flügel des SDS unter Rudi Dutschke die Strategie, über die Gründung von ›Aktionszentren‹ innerhalb und außerhalb der Universitäten und durch Aktionen aufzuklären.236 Bereits hier wurde deutlich, dass insbesondere die Antiautoritären der Institution Universität im ›revolutionären Kampf‹ eine besondere Rolle zusprachen. Mit dem Tod von Benno Ohnesorg weiteten sich die studentischen Proteste gegen den Staat enorm aus. Dieses Ereignis mobilisierte viele Studierende, die sich bis dahin von den Aktionen der Studentengruppen distanziert verhalten hatten. Ein Jahr später stellte der Sternmarsch im Mai 1968 in die Hauptstadt Bonn einen Höhepunkt der Proteste außerhalb der Universität dar. Gemeinsam mit dem Kuratorium für ›Demokratie und Abrüstung‹ sowie dem Kuratorium ›Notstand der Demokratie‹ organisierten der Verband Deutscher Studentenschaften (VDS) und der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) als Teil der APO einen Demonstrationszug gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze mit 100.000 Teilnehmern.237 Als Mitglied des Aktionsausschusses gegen die Notstandsgesetze trat der SDS neben zehn weiteren Jugend- und Studentenverbänden, Professorinnen/Professoren 233 Vgl. Keller 2000, S.111, Zitate ebda.; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Chronik bei Wolfgang Kraushaar 1998a. 234 Vgl. dazu Kraushaar 1998a; zur Beteiligung von Schülerinnen und Schüler an Demonstrationen und insgesamt zur Schülerbewegung vgl. Gass-Bolm 2006. 235 Vgl. zu den Ereignissen der 1960er Jahre die Chronik von Kraushaar 1998a. 236 Vgl. Gilcher-Holtey 2001, S.66f., Zitat ebda. 237 Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Schildt/Siegfried 2009, S.280.

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und Assistentinnen/Assistenten der Frankfurter Universität bereits 1965 als Gegner der Notstandsgesetze auf. Im Mai 1966 organisierte der SDS den Kongress ›Vietnam – Analyse eines Exempels‹, an dem neben SDS-Mitgliedern unter anderem auch Wolfgang Abendroth, Jürgen Habermas und Herbert Marcuse als Referenten auftraten.238 Die gesellschaftskritischen Professoren waren im Verlauf der 1960er Jahre zu intellektuellen Leitfiguren der Studentengruppen geworden. Insbesondere die Mitglieder der Frankfurter Schule wurden – wie bereits im Zusammenhang mit dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund erläutert – einerseits aufgrund ihrer theoretischen Ansätze zu Impulsgebern der Proteste. Anderseits wurden deren Theorien von den politischen Studentengruppen im Laufe der Auseinandersetzungen als Legitimation ihrer Aktivitäten (und damit der Praxis) bewertet und herangezogen. So legte beispielsweise Herbert Marcuse – der zwar kein Professor an der Universität Frankfurt, aber Professor in den USA war, an studentischen Kundgebungen teilnahm und der Studentenbewegung positiv gegenüber stand – in seinem Aufsatz zu ›Repressive Toleranz‹ einen theoretischen Zusammenhang dar, der »die Bedeutung der Universität im Kampf gegen den ›autoritären Staat‹ fundierte«.239 Dabei betonte er, dass illegale Handlungen, auch Gewalt, als Mittel nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden dürften.240 Ein Großteil der gesellschaftskritischen Professoren, unter anderem Theodor W. Adorno, distanzierten sich jedoch von den Praktiken radikaler Studierender, insbesondere von den Mitglieder des SDS, wodurch sie selbst in Kreuzfeuer der Proteste gerieten.241 Wie sehr die Theorien der Frankfurter Schule auf die Studierenden Einfluss nahmen und von ihnen mit Faszination angenommen wurden, verdeutlichen beispielsweise die Teilnehmerzahlen in den Vorlesungen von Theodor W. Adorno, die Anfang der 1960er Jahre bei 100 Studierenden, Mitte des Jahrzehnts bei etwa 600 Studierenden und im Sommersemester 1969 in seiner letzten Vorlesung bei 1.000 Studierenden lagen.242 Die politischen Studentengruppen wie der SDS oder der VDS waren Initiatoren und Organisatoren verschiedener außeruniversitärer Aktionen, die sowohl innerhalb 238 Vgl. dazu die Darstellungen bei Kraushaar 1998a, S.232f. 239 Vgl. Groppe 2008, S.125, Zitat ebda. 240 Vgl. dazu die Ausführungen bei Marcuse 1968/2008, S.159ff. 241 So beispielsweise während seiner Vorlesung Einführung in dialektisches Denken am 22. April 1969, die von SDS Anhängern durch das bekannte ›Busenattentat‹ gestört wird. In einem Flugblatt heißt es »Adorno als Institution ist tot«. Adorno brach die Vorlesung auf unbestimmte Zeit ab. Solche Aktionen wiederum spalteten die politischen Studierenden, so dass sich beispielsweise der SHB in einem Flugblatt mit den Worten Destruktion oder Demokratisierung? Ist die ›Neue Radikalität‹ des SDS reaktionär? von den Aktionen des SDS distanzierte; vgl. zu diesem Zusammenhang Kraushaar 1998a, S.418, Zitat ebda. und im Original hervorgehoben. 242 Vgl. dazu Demirovic 1998, S.95.

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der Universität geplant wurden, als auch zum Teil hier ihre Umsetzung fanden. Die Universität wurde als Arena der Proteste gegen den Vietnamkrieg und die Notstandgesetze genutzt.243 Beispielsweise erfolgte ein »Go-in beim Notstandsplaner Carlo Schmid« am 20. November 1967, die »Belagerung des Ordinarienkonzils« und der Versuch der »Sprengung einer Senatssitzung«, über die »der SDS allgemeinpolitische Gehalte mit den organisationsbedürftigen Interessen der Studenten an ihrer sozialen Basis Hochschule zu vermitteln« versuchte.244 Einen Höhepunkt fand der Kampf um die Notstandsgesetze schließlich in einem Universitätsstreik, bei dem die Universität Frankfurt zur »Politischen Universität« werden sollte.245 Nach einer Vollversammlung beschlossen Studierende der Universität Frankfurt den Lehrbetrieb am 15. Mai 1968, d. h. am Tag der Lesung der Notstandsgesetze, lahmzulegen und die Zugänge zu den Gebäuden zu versperren. Mit dem Streik und dem Versuch der Initiierung einer »Politischen Universität« verfolgten sie das Ziel, »die Universität zu einem Aktionszentrum gegen die Notstandsgesetzgebung zu machen und den Arbeitern zu zeigen, wie eine ›Produktionsstätte‹, in diesem Fall die Universität, lahmgelegt werden könne«.246 Die Johann Wolfgang Goethe Universität wurde von den Studierenden in die ›Karl-Marx-Universität‹ umbenannt. Hier sollten in 24 Seminaren die Themen Gesellschaftsanalyse und Widerstand, Politisierung der Wissenschaft, Gewerkschaften und Schulen und nicht zuletzt Psychoanalyse und Politik erarbeitet werden.247 In dieser Aktion kommt die Rolle der Universität für diese streikenden Studierenden zum Ausdruck. Die Universität als staatliche Institution wird von ihnen nicht nur als Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse bewertet und die Lehrinhalte abgelehnt, sondern die Universität wird auch als der Ort verstanden, über den eine Umwälzung der Gesellschaft initiiert werden kann. Die Studierenden sollten hier über Schulungen, die sie selbst initiierten, ein politisches Bewusstsein erhalten und eine Gegenhaltung entwickeln. Über die Beschäftigung mit Gesellschaftsanalysen und den daraus abgeleiteten strategischen und praktischen Vorgehensweisen könnten dann schließlich, so die programmatische Idee, gesamtgesellschaftliche Veränderungen herbeigeführt werden. Somit erhielt die Universität, insbesondere für die radikalen Studierenden, eine besondere Bedeutung im ›revolutionären Kampf‹. Dass jedoch nicht alle Studierende diese Idee teilten und die Studentenschaft polarisiert war, äußerte sich in der ablehnenden Haltung einiger Studierenden. Nach teilweise gewalttätigen Aus-

243 Vgl. Schmidtke 2003, S.201ff. 244 Vgl. Claussen 1968, S.7, Zitate ebda. 245 Vgl. die Dokumentation von Claussen/Dermitzel 1968 zum »Versuch einer Politischen Universität in Frankfurt«, Zitat ebda. 246 Vgl. Kraushaar 1998a, S.325, Zitate ebda. 247 Vgl. Schmidtke 2003, S.238f.

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einandersetzungen zwischen Studierenden und Polizisten brechen die Streikenden ihr Vorhaben vorerst ab. Die Karl-Marx-Universität existierte nur zwei Tage.248 Nach dem Scheitern der Anti-Notstandsproteste und der Verabschiedung der Notstandsgesetze im Mai 1968 konzentrierten sich die Studentengruppen wieder verstärkt auf die Universitäten. Für die antiautoritären Studentengruppen wurden die Forderungen nach Reformen wie die nach paritätischer Mitbestimmung als Teil des Klassenkampfes und der »Überwindung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse« begriffen.249 Ein übergeordnetes Ziel war es, die Universität »als Sozialisationund Reproduktionsinstanz der bürgerlichen Gesellschaft«250 aufzuheben. Dafür schien es notwendig, dem herrschenden Wissenschaftsbetrieb eine Alternative entgegenzusetzen. Die ›Kritischen Universitäten‹ – wie die Karl-Marx-Universität – mit einer kritischen Wissenschaft in Anlehnung an die Theorien gesellschaftskritischer Professoren sollten durch die Studierenden selbst ins Leben gerufen werden. Die Ablehnung regulärer Veranstaltungen, die Anerkennung der Veranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren sowie die Gründung studentisch initiierter Lehrveranstaltungen waren einerseits der praktische Ausdruck der Kritik gegenüber den Universitäten, ihren Strukturen und Inhalten. Andererseits sollte aus einer solchen kritischen Universität heraus schließlich eine ›kritische Intelligenz‹ und eine ›politische Avantgarde‹ auf ihre Rolle und Funktion vorbereitet werden und die radikale Umgestaltung der Gesellschaft in Gang setzen.251 Dabei gehörten für die radikalen Studierenden die Unerfüllbarkeit der gestellten Forderungen gegenüber Staat und Hochschule zur Strategie. So sagte der Bundesvorsitzende des SDS Reimut Reiche: »Die Unerfüllbarkeit unserer Forderungen (…) soll die Studenten darauf aufmerksam machen, wie schlecht die Gesellschaft ist, in der sie leben«252. Insbesondere der antiautoritäre Zweig der Studentinnen und Studenten sah in sogenannten ›Subversiven Aktionen‹, die provozierend wirken sollten, die Möglichkeit, ihre Ziele durch ein aktives Zerbrechen der autoritären Strukturen, zu erreichen.253 Auch wenn einige radikale Studierende eine gesamtgesellschaftliche Revolution über die Universitäten anstrebten, war ein großer Teil der Studentenschaft stärker um die Hochschulreformen und die Demokratisierung der Universität bemüht. 248 Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Kraushaar 1998a, S.325 und auch von Schmidtke 2003, S.239. 249 Zum Zusammenhang von Studentenbewegung und Hochschulreformen vgl. Rohstock 2010, S.166, Zitat ebda. 250 Rohstock 2010, S.166. 251 Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Groppe 2011, S.144 und auch die Ausführungen von Gilcher-Holtey 2001, S.68. 252 Student 1967, ›Frankfurter Jungakademiker schonen ihre Polizei‹ zitiert nach Rohstock 2010, S.170. 253 Vgl. Gilcher-Holtey 1998b, S.181.

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Gleichzeitig gab es auch traditionelle marxistische Studentengruppen, die die antiautoritären Studentengruppen ablehnten und eine Umwälzung der Gesellschaft über die Arbeiterschaft erreichen wollten. Diese Differenzen spalteten schlussendlich die politisch aktiven Studierenden Ende der 1960er Jahre. In einer bundesweit durchgeführten Umfrage wird die Ablehnung des SDS durch einen Großteil der Studierenden erkennbar: 96% der befragten Studierenden befürworteten die Wichtigkeit tiefgreifender Hochschulreformen, wobei nur 10% mit dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund sympathisierten und nur 15% sich positiv für einen Umsturz der Gesellschaft aussprachen.254 Die Proteste und radikalen Aktionen gingen an der Masse der Studierenden, die sich keinen politischen Gruppen anschlossen, nicht einfach vorbei. Besonders in der Zeit zwischen 1967 und 1969 war auch ihr studentischer Alltag an der Universität Frankfurt von einer massiven hochschul- und gesellschaftspolitischen Kritik sowie gewalttätigen Auseinandersetzungen geprägt. Sit-ins, Teach-ins und Go-ins in überfüllten Hörsälen der Universität, Seminarkritik, Flugblätter, selbstorganisierte Diskussions- und Arbeitsgruppen und Störungen des Lehrbetriebs durch Streiks gehörten spätestens ab 1967 zum Studierendenalltag.255 Die Professorenschaft zeigte, bis auf Einzelne, kaum aktive Gegenwehr. Die meisten Professorinnen und Professoren waren bereit auf die Diskussionsforderungen der Studierenden einzugehen oder verließen den Saal, wenn ihnen die Störungen zu massiv wurden. Einige wenige bekannten sich sogar solidarisch gegenüber den protestierenden Studierenden.256 Im Dezember 1968 gab es an der Universität Frankfurt den längsten Streik, durch den Teile des universitären Betriebs gänzlich zum Erliegen kamen. Dieser Streik wird im Folgenden insbesondere an den Ausführungen und der Dokumentation der Ereignisse nach Zoller (1969) erläutert. Der ›Aktive Streik‹ polarisiert nach anfänglichen gemeinsamen Bestrebungen die politisierte Studentenschaft. Studierende der Abteilung für Erziehungswissenschaft (AfE) verabschiedeten 1968 einen Streikbeschluss, der sich ziemlich bald auch auf andere Fächer der Philosophischen Fakultät und der Fakultät für Wirtschaft- und Sozialwissenschaften ausbreitete. An dem Beschluss, der auf einer Vollversammlung erfolgte, waren rund 1.200 Studie254 Vgl. Schreiben der Gesellschaft für politische Reform e. V. vom 10.09.1968, das eine Umfrage des Instituts für angewandte Sozialwissenschaft Godesberg (Infas) unter 644 Studierenden an bundesdeutschen Universitäten beinhaltet, zitiert nach Rohstock 2010, S.247. 255 Vgl. zu den veränderten Lehr- und Lernformen an den Universitäten Groppe 2008, S.126; vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen in der Chronik von Kraushaar 1998a. 256 Vgl. dazu die Darstellungen der Ereignisse und Reaktionen der Protagonisten bei Kraushaar 1998a und auch die Ausführungen bei Rohstock 2010, S.199ff.

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rende der Abteilung für Erziehungswissenschaft beteiligt. Damit reagierten die Studierenden auf den Entschluss der Integration der Pädagogischen Hochschulen in die Universität Frankfurt und der Beibehaltung der unterschiedlichen Studiendauer der Lehramtsstudiengänge. Denn während das gymnasiale Lehramt achtsemestrig war, sollte das Grund-, Haupt- und Realschullehramt sechssemestrig bleiben. Die Studierenden forderten eine Angleichung der Studiengangdauer und damit acht Semester für alle Lehramtsstudiengänge. Die Forderung und Maßnahmen der AfEStudierenden lautete: »1. Unbefristeter Boykott aller bisherigen AfEVeranstaltungen; 2. Organisation von Gegenveranstaltungen in der AfE (Uni); 3. Solange unsere Minimalforderung der Grundwissenschaft – 8 Semester mindestens, – keine Kürzung der Grundwissenschaften, Verbesserung der zweiten Ausbildungsphase, – Gleichstellung aller Lehrer, nicht erfüllt sind, werden wir weitere Kampfmaßnahmen ergreifen«257. Kurze Zeit darauf zeigte sich eine Basisgruppe des Fachbereichs Soziologie mit den Forderungen der AfE-Studierenden solidarisch und rief nach einer Vollversammlung der Soziologie einen Streik aus.258 Sie erstellen für das Soziologische Seminar einen Satzungsentwurf, deren Annahme und Umsetzung über Aktionen wie Go-ins erzwungen werden sollte. In diesem Satzungsentwurf wurde die Forderung der Studierenden nach einer Umgestaltung des Studiums geäußert. Sie forderten ein ›Rätesystem‹, dessen Organe das Soziologische Seminar gestalten und organisieren sollte. So wurde ein »Seminar-Rat« verlangt, der aus der gleichen Zahl an Wissenschaftlichen Angestellten und Beamten (50%) einerseits und Studierenden (50%) andererseits zusammengesetzt sein sollte, der auf einberufenen oder monatlich tagenden Vollversammlungen Lehr- und Forschungspläne und das Seminar betreffende Fragen besprechen und verabschieden sollte. Veranstaltungen sollten zukünftig in dreierlei Weise stattfinden: Erstens in Form von »Projekt- und Arbeitsgruppen«, die ausschließlich von Studierenden geleitet werden sollten; zweitens Kurse, die die Grundlagen des Studiums vermitteln sollten; drittens »Seminare und Kolloquien«, die die Aufgabe haben sollten, die in den studentischen Arbeits- und Projektgruppen erarbeiteten Fragen in einzelnen Arbeiten, Sammelbänden oder Dissertationen umzusetzen. Der »Studentenrat« sollte schließlich unter anderem die »Projekt- und Arbeitsgruppen« koordinieren und ihre Finanzierung sicherstellen.259 Wie in diesem Satzungsentwurf deutlich wird, war angestrebt, dass die Universitäten in Zukunft insbesondere durch die Studierenden selbst gestaltet werden. Die Lehrenden sollten vor allem das Grundwissen vermitteln sowie die Studierenden bei der Publikation der selbsterarbeiteten Themen als ›Mentoren‹ unterstützen. Ähnliche Satzungsentwürfe werden auch von anderen Fächern entworfen, in der eine Umgestaltung der Inhalte und Organisation 257 Flugblatt der Studierenden (Dokument Nr. 253) zitiert nach Kraushaar 1998a, S.374. 258 Vgl. in diesem Zusammenhang die Dokumentation von Zoller 1969, S.52. 259 Vgl. Satzungsentwurf (6.12.68) zitiert nach Zoller 1969, S.60f.

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verlangt wurde. So hieß es in einem »Entwurf einer Satzung des Rosa-LuxemburgInstituts« der Politikwissenschaft an der sozialwissenschaftlichen Fakultät: »Die inhaltliche und organisatorische Umwälzung der Politologie erfordert, daß (durch die Satzung institutionalisiert) alle am Forschungs- und Wissenschaftsbetrieb Beteiligten diesen mitbestimmen, daß neue Arbeitsformen entwickelt werden, die einem demokratischen Wissenschaftsbetrieb adäquat sind und die das Konsumverhalten der Studenten in Vorlesungen und Seminaren überwinden sollen«260.

Hierfür sei des Weiteren ein interdisziplinärer Austausch der Fächer untereinander notwendig. Die Informationszentrale des AStA übernahm in dieser Streikphase die Aufgabe, über Basisgruppen und Arbeitsgruppen zu informieren und den Austausch zwischen ihnen zu erleichtern.261 Wie aus einem Informationsblatt des AStA hervorgeht, erarbeiteten studentisch gegründete Arbeitsgruppen der Mathematik, der Rechtswissenschaft, der VWL und BWL, der Anglistik, der Geschichtswissenschaft, der Pädagogik, der Romanistik, der Germanistik, der Politologie, der Philosophie, der Soziologie, der Philosophischen sowie Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, der Psychologie und nicht zuletzt der Abteilung für Erziehungswissenschaft neue um politische Dimensionen erweiterte Inhalte für Seminare aus.262 Es sollten »nichtautoritäre Lehr- und Lernformen entwickelt werden, die als Einübung in nichtautoritäre gesamtgesellschaftliche Handlungspraktiken verstanden«263 wurden. In diesem Rahmen entstanden »Arbeitsgruppenskizzen«264 und »Arbeitsgruppenvorschläge«265 zur Umgestaltung der einzelnen Studiengänge. Dabei wurde vom Streikkomitee folgendes Vorgehen expliziert: »Wir müssen uns unter allen Umständen davor hüten, selbst in den alten Seminarbetrieb zurückzufallen und die üblichen Effizienzkritierien zu reproduzieren, d. h. ein HabermasSeminar ohne Habermas, eine Oevermann-Übung ohne Oevermann etc. Es geht nicht darum, jetzt andere Seminare durchzuführen, sondern um die Erarbeitung von Projekten, wie unsere ›Seminare‹ denn überhaupt aussehen müssten, sollen sie unseren Bedürfnissen entsprechen«266.

260 Entwurf einer Satzung des Rosa-Luxemburg-Instituts zitiert nach Zoller 1969, S.247. 261 Vgl. Zoller 1969, S.137ff. 262 Vgl. Zoller 1969, S.137ff. 263 Groppe 2008, S.129f. 264 Zoller 1969, S.74f. 265 Zoller 1969, S.80f. 266 Schreiben »Für alle Arbeitskreise am Spartakus-Institut« (11.12.1968), zitiert nach Zoller 1969, S.90.

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In dieser längeren Streikphase, die jedoch ohne Erfolge blieb, zeichneten sich Differenzen in den politischen Zielen und Interessen der Studierenden ab, die zu erneuten Auseinandersetzungen führte. Insbesondere der SDS und sein Vorgehen erfuhren massive Kritik. So hieß es in einem Informationsblatt der Basisgruppe AfE: »Die Konsequenz ist: ›Soziologen raus‹, ›Wir brauchen den kapitalistischen CohnBendit und seine Soziologie nicht‹ (…)«267. Der Streik ging Ende Januar schließlich zu Ende. Jedoch verlor die Arbeit in Basis- und Arbeitsgruppen und in (marxistischen) Schulungen sowie die Durchführung von Teach-ins in den folgenden Jahren nicht an Bedeutung. Die Demokratisierung der Universität und die Schaffung einer gesellschaftskritischen Wissenschaft, über die die Studierenden ein kritisches und politisches Bewusstsein entwickeln sollten, war auch in den folgenden Semestern ein politisches Ziel vieler Studierender. Die herrschenden Differenzen innerhalb des SDS, die diesen in zwei Lager – die ›Antiautoritären‹ und die ›Traditionalisten‹ – spaltete, führten schließlich zur Auflösung des SDS im Jahr 1970. Danach brach eine neue politische Phase an, in der eine Ausdifferenzierung der politischen Gruppen erkennbar war. Während sich einige Studierende verstärkt in alternativen bereits existierenden Bewegungen engagierten, wie Kommunen-Experimente oder Kinderläden, in denen neue Lebensweisen erprobt wurden, konzentrierte sich ein anderer Teil der Studierenden auf die Arbeit in marxistischen kommunistischen Gruppierungen.268 Letztere bildeten die ›Rote Zellen‹, die marxistisch-leninistische Gruppen sowie unter anderem die Spartakus-Gruppen und führten den Kampf um die Revolution der Gesellschaft in einer marxistischen Tradition weiter. Diese Gruppen boten im Vergleich zu den bisherigen antiautoritären Gruppen »klare (autoritäre) Strukturen und Schulungen in marxistischer Theorie und die Möglichkeit des organisierten Klassenkampfs«269. 1971 wurden bundesweit 250 ultralinke Gruppen mit ungefähr 84.000 Mitgliedern gezählt, wovon sich 81.000 in 130 orthodoxen kommunistischen Organisationen beteiligten und an den Grundideen der Deutschen Kommunistischen Partei festhielten.270 Ab 1968 kam es im Kontext der Studentenbewegung zu Gründungen von Frauengruppen innerhalb der Universitäten. Einer der ersten Frauengruppen war der ›Aktionsrat zur Befreiung der Frau‹, der sich an der Freien Universität in Berlin gründete. Die ersten Frauen, die hier zusammenkamen, waren hauptsächlich Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes und Mütter. In eigenen Gruppen machten Frauen zunächst ihre persönliche Situation an der Universität und insbesondere die fehlende Kinderbetreuung, die – so die Frauen – ihre Handlungs267 Schreiben der Basisgruppe AfE (15.01.1969), zitiert nach Zoller 1969, S.209. 268 Vgl. dazu Baader 2008a und auch Baader/Herrmann 2011. 269 Groppe 2008, S.136. 270 Vgl. dazu die Daten bei Wehler 2008, S.317.

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möglichkeiten eingrenzte, zum Thema.271 Im gleichen Jahr artikulierten diese Frauen ihren Unmut gegenüber ihren männlichen Kommilitonen, insbesondere gegenüber dem SDS. Im Anschluss an die Rede von Helke Sander272 auf einer Delegiertenkonferenz des SDS im September 1968, in der sie im Namen der Aktionsrates ihre männlichen Kommilitonen öffentlich kritisierte, und nach der Reaktion der Männer, die auf die Kritikpunkte nicht eingehen wollten, erfolgten in den nachfolgenden Monaten sowohl weitere Proteste von Frauen als auch Gründungen mehrerer Frauengruppen (darunter auch die Gründung von Weiberräten) an bundesdeutschen Universitäten.273 Diese Studentinnen beschlossen in eigenen Gruppen die gesellschaftskritischen und politischen Themen unter Frauen fortzusetzen und eigene Aktionen zu planen. Auch innerhalb dieser Frauengruppen kam es jedoch – ähnlich wie in den geschlechtsheterogen Gruppen – zu Unstimmigkeiten hinsichtlich der Vorgehensweise und der Zielsetzung, so dass sich einige Frauengruppen ziemlich rasch wieder spalteten oder auflösten. Ein Teil der Frauengruppen verstand sich in einer Kontinuität zur Studentenbewegung als eine sozialistische und marxistische Gruppe. Für diese Frauen war die ›Befreiung der Frau‹ Teil des Klassenkampfs. Ein anderer Teil der Frauen stellte dagegen – insbesondere ab den 1970er Jahre – die praktische Arbeit mit und für Frauen in den Vordergrund ihrer Tätigkeiten. Letztere Vorgehensweise erstarkte besondere nach der Auflösung des SDS im Jahr 1970. Mit der bundesweiten Abtreibungskampagne gegen das Abtreibungsgesetz § 218 Strafgesetzbuch (StGB) fanden die Frauen schließlich ein gemeinsames Thema, das sie mobilisierte. Diese gemeinsame Kampagne, bei der viele Frauen, darunter Prominente, sich selbst bezichtigten, abgetrieben zu haben, wird in der Forschung häufig als der Beginn der Neuen Frauenbewegung bezeichnet.274 Die interviewten Frauen erlebten erstens eine Universität, die sich in einer Umbruchphase befand und deren Strukturen und deren Selbstverständnis als Ordinarienuniversität ab Mitte der 1960er Jahre in die Kritik geraten waren. Zweitens erlebten sie die Universität ab Mitte der 1960er Jahre als einen politisierten Raum, in271 Vgl. zur Gründung der ersten Frauengruppen und zu ihren Motiven die Ausführungen von Schulz 2002, S.79ff.; vgl. dazu auch die Ausführungen von Baader 2008b; vgl. auch die Einführung in den Forschungsgegenstand und die Beschreibung des Samples in dieser Arbeit Kap. I.1 und Kap. I.4.2. 272 Vgl. Sander 1968/1988. 273 Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen bei Anders 1988, S.11; zur Gründung von Frauengruppen, darunter denen in Frankfurt vgl. Frankfurter Frauen 1975. 274 Vgl. zu den Anfängen der Neuen Frauenbewegung die Chronologie bei Anders 1988, S.10ff.; vgl. zur Neuen Frauenbewegung Lenz 2004; vgl. zur Abtreibungskampagne Schulz 2002, S.143.

IV. A UFWACHSEN U . L EBEN

IN

F AMILIE, P EER - GROUP UND

ÖFFENTLICHEN I NSTITUTIONEN

| 157

nerhalb dessen innen- und außenpolitische Themen nicht nur diskutiert wurden, sondern innerhalb dessen auch Aktionen gegen den Staat und die politische Ordnung organisiert wurden. An der Universität hatten sie sowohl institutionalisierte als auch nicht-institutionalisierte – legale und illegale – Partizipationsmöglichkeiten.275 So konnten sie einerseits an politischen Entscheidungen der Universität teilhaben, indem sie sich innerhalb von anerkannten Studentengruppen und Hochschulparteien engagierten und an Hochschulwahlen sowie hochschulöffentlichen Diskussionsrunden teilnahmen. Andererseits erhielten sie mit dem Aufkommen der Proteste die Möglichkeit, Teil der nicht-institutionalisierten politischen Studentengruppen zu werden und an legalen und illegalen Aktionen wie Kundgebungen oder Streiks sowohl innerhalb als auch außerhalb der Universität zu partizipieren. Sie erlebten die Solidarität zwischen Studierenden unterschiedlicher Fachbereiche und Studentengruppen und gleichzeitig auch die Differenzen zwischen einzelnen Gruppierungen sowie deren Widersprüche in den jeweiligen Zielen und Aktionen. Des Weiteren gewährte ihnen die Universität als Bildungsinstitution Teilhabemöglichkeiten an den Lehrveranstaltungen kritischer Professoren, über die eine Politisierung über die formell angebotenen Lehrveranstaltungen möglich war. Hier erhielten sie einen theoretischen Zugang zu politisch-relevanten Themen, die sie in nichtinstitutionalisierten Diskussions- und Arbeitsgruppen vertiefen konnten. Alle befragten Frauen machten im Verlauf ihres Studiums Geschlecht zu einem Politikum. Im folgenden Kapitel wird es anhand der Auswertung der zehn Interviews darum gehen zu analysieren, wie und durch welche Erfahrungen dies geschah und welche Rolle dabei die Universität spielte.

275 Vgl. zu dem Begriff politische Partizipation Kap. III.3.1.

V. Politisierung in der voruniversitären und universitären Lebensphase

Im Vordergrund dieses Kapitels steht die Rekonstruktion von Politisierungsprozessen und ihre Typisierung anhand der Lebensgeschichten von zehn ehemaligen Studentinnen der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, für die Geschlecht zu einem Politikum wird und die im Kontext der Studentenbewegung und der neuen Frauenbewegung in geschlechtshomogenen Gruppen1 politisch aktiv werden. Unter Politisierungsprozessen werden, wie bereits im Kapitel III.2 dieser Arbeit erläutert, alle Prozesse verstanden, in denen sowohl politisch-relevante als auch explizit-politische Einstellungen vermittelt und angeeignet werden, die zu einer Sensibilisierung für (geschlechts-)politische Themen und schließlich zu politischen Handlungen führen können.2 Dabei ist hervorzuheben, dass Politisierungsprozesse nicht nur über die Auseinandersetzungen mit explizit-politischen Themen stattfinden, sondern auch subtile politische Bedingungen, in denen Erfahrungen gesammelt werden und die auf den ersten Blick nicht viel mit Politik zu tun haben, Einfluss auf Politisierungsprozesse nehmen können. Um dabei der Frage nach der Bedeutung der Universität als Sozialisationsinstanz und politischer Erfahrungsraum nachgehen zu können, innerhalb derer politisch-relevante und explizit-politische Handlungsorientierungen – sowohl allgemein als auch auf das Geschlecht bezogen – über Interaktionen entwickelt und 1

Das Sample dieser Arbeit setzt sich zusammen aus Mitgliedern des Frankfurter Weiberrats und aus Frauen, die im Frankfurter Frauenzentrum aktiv waren. Dadurch konnte sichergestellt werden, dass es sich bei den untersuchten Personen um Frauen handelt, für die Geschlecht zu einem Politikum wird, vgl. Kap. I.4.

2

Unter politischen Handlungen werden, wie bereits im theoretischen Teil dieser Arbeit erläutert, all die Handlungen verstanden, die gesamtgesellschaftlich oder in Institutionen kollektiv bindende Entscheidungen herbeiführen oder beeinflussen sollen; vgl. Luhmann 2000, S.253f.; vgl. dazu Kap. III.3.

160 | DAS POLITISIERTE G ESCHLECHT

verändert werden, werden zuerst politisch-relevante und explizit-politische Handlungsorientierungen der zehn ehemaligen Studentinnen der Universität Frankfurt in der voruniversitären Lebensphase und anschließend die Handlungsorientierungen, die in der universitären Lebensphase das (geschlechter-) politische Handeln dieser Frauen strukturierten, rekonstruiert. Unter ›universitärer Lebensphase‹ verstehe ich die Zeitphase, in der die interviewten Personen studieren oder sich an der Universität weiterqualifizieren; unter ›voruniversitärer Lebensphase‹ verstehe ich die Zeitphase von der Kindheit bis zum Beginn des Studiums. Es sei darauf hingewiesen, dass die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen Politisierung in einer voruniversitären Lebensphase und in einer universitären Lebensphase nicht bedeutet, dass Orientierungen in der einen oder anderen Lebensphase unabhängig voneinander betrachtet werden. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass im Übergang von der einen zur nächsten Lebensphase bereits entwickelte Handlungsorientierungen sowohl fortgesetzt als auch verändert werden können. Über diese Einteilung kann herausgearbeitet werden, mit welchen politisch-relevanten und explizit-politischen Orientierungen die befragten Personen an die Universität Frankfurt kommen, und welche Orientierungen erst an der Universität gezeigt bzw. welche bereits vorhandenen Orientierungen hier verändert werden. Insgesamt wird davon ausgegangen, dass auch solche Handlungsorientierungen, die zunächst nicht explizit geschlechtspolitisch sind, für die Entwicklung geschlechtspolitischer Sensibilisierung und einer entsprechenden geschlechtspolitischen Handlungspraxis in der universitären Lebensphase relevant werden können. Daher wird der Blick generell auf Politisierungsprozesse gerichtet und dabei insbesondere auf solche geachtet, die unmittelbar auf das Geschlecht bezogen sind. Alle zehn interviewten Personen beginnen nach der narrativen Erzählaufforderung der Interviewerin mit ihrer autobiographischen Erzählung der Lebensgeschichte, in der sie Erlebnisse und Erfahrungen aus ihrer Lebenswelt in der Kindheit, in der Jugend und im Erwachsenenalter schildern. Unter Berücksichtigung dieser chronologischen Erzählungen werden bei der Frage nach der Politisierung dieser Frauen zunächst die (geschlechts-)politisch-relevanten und explizit (geschlechts-)politischen fallübergreifenden Orientierungen herausgearbeitet, die die Frauen in Interaktion mit den Sozialisationsinstanzen Familie, Schule, Peer-group und Jugendorganisationen in der voruniversitären Lebensphase zeigen. Anschließend wird in einem weiteren Schritt nach der Politisierung in der universitären Lebensphase gefragt und dabei entsprechende typische (geschlechts-)politisch-relevante und explizit (geschlechts-)politische Orientierungen herausgearbeitet, die das Handeln der Frauen an der Universität strukturieren. Innerhalb der Institution Universität erhalten Gruppen (wie z. B. eine Arbeitsgruppe, die Professorenschaft, der Frankfurt Weiberrat) und Einzelpersonen (wie z. B. Freund/in, Tutor/in, Professor/in) für die untersuchten Frauen eine besondere Bedeutung und beeinflussen die Herausbildung oder Veränderung von (geschlechts-)politisch-relevanten

V. P OLITISIERUNG IN DER

VORUNIVERSITÄREN UND UNIVERSITÄREN

L EBENSPHASE | 161

und explizit (geschlechts-)politischen Orientierungen. Gleichzeitig finden die Frauen eine Universität vor, innerhalb derer spätestens Ende der 1960er Jahre politische Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Akteuren stattfinden. Die an der Universität gezeigten politisch-relevanten und explizit-politischen Orientierungen werden einerseits aus der voruniversitären Lebensphase in die Universität hineingetragen, so dass hier Relationen zwischen den Dimensionen von Politisierung in der voruniversitären Lebensphase und der universitären Lebensphase erkennbar werden. Andererseits werden an der Universität politisch-relevante und explizitpolitische Orientierungen neu entwickelt und im Laufe der universitären Lebensphase weiterentwickelt, so dass auch Relationen zwischen den Dimensionen von Politisierung in der universitären Lebensphase deutlich werden.

V.1

G ENESE VON P OLITISIERUNG IN DER VORUNIVERSITÄREN L EBENSPHASE

Sowohl bei der formulierenden Interpretation der einzelnen Fälle als auch bei der reflektierenden komparativen Analyse der Interviews wurden für die voruniversitäre Lebensphase zwei Erfahrungszusammenhänge sichtbar, die fallübergreifend in allen herangezogenen Fällen zu finden waren. Diese stellen zunächst das Gemeinsame der Fälle dar, über die eine Differenzierung von Typen möglich wurde. Erstens war für die Erzählabschnitte, in denen über die voruniversitäre Lebensphase berichtet wurde, auffällig, dass alle Interviewten ausführlich über familiäre und zum Teil außerfamiliäre Beziehungen zu älteren Personen wie Eltern, Erziehungsberechtigte, Großeltern und anderen Verwandten berichteten. Auch die Beziehungen zu nichtverwandten Personen, die aber für die Interviewten generationsübergreifende Bezugspersonen darstellten, fanden in den Interviews Erwähnung.3 Auf der Basis des ersten gemeinsamen Erfahrungszusammenhanges konnten für die voruniversitäre Lebensphase zunächst fallübergreifend zwei Typen abstrahiert werden. Beide Typen stellen kontrastierende Ausprägungen der Typik ›Politisierung über intergenerationelle Beziehungen‹ (Kap. V.1.1) dar. Des Weiteren wurde in den narrativen Interviews ein zweiter Erfahrungszusammenhang deutlich. Vielfach gab es fallübergreifend Erzählpassagen, in denen ausführlich über Erfahrungen mit Einzelfreundschaften, altersgleichen Jugendgruppen, Schule und Jugendorganisationen berichtet wurde. Unter Berücksichtigung

3

Im weiteren Verlauf dieser Auswertung wird in den Überschriften einheitlich der Begriff ›Bezugspersonen‹ verwendet, womit Eltern, Erziehungsberechtigte sowie verwandte und nicht verwandte generationsübergreifende Bezugspersonen gemeint sind. Im Text wird jedoch zwischen den einzelnen Personen und Personengruppen unterschieden.

162 | DAS POLITISIERTE G ESCHLECHT

dieses Erfahrungsrahmens ließen sich über die komparative Analyse und die reflektierende Interpretation der Interviews vier Typen herausgearbeitet. Diese vier Typen stellen kontrastierende Ausprägungen der Typik ›Politisierung durch jugendspezifische Aktivitäten in Organisationen und Kollektiven‹ (Kap. V.1.2) dar. Somit konnte für die Frage nach der Genese von Politisierung in der voruniversitären Lebensphase eine zweidimensionale Typenbildung (siehe Abbildung 2) abstrahiert werden, die im Folgenden vorgestellt wird.

Untertypus

Typus

Typik

Anerkennung der erlebten politischrelevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen

Anerkennung der explizit formulierten Erwartungen der Bezugspersonen

Politisierung über intergenerationelle Kontinuität

Anerkennung der erlebten explizitpolitischen Einstellungen der Bezugspersonen

Distanzierung zur erlebten politischrelevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen

Politisierung über intergenerationelle Beziehungen

Distanzierung zu explizit formulierten Erwartungen der Bezugspersonen

Politisierung über intergenerationelle Distanzierung

Distanzierung zu den erlebten explizit-politischen Einstellungen der Bezugspersonen

Suche nach Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit in Institutionen und Kollektiven nach Ausgrenzungserfahrungen

Genese von Politisierung in der voruniversitären Lebensphase

Suche nach eigener Lebensweise über die Ausrichtung an Organisationen und Kollektiven nach intergenerationeller Distanzierung

Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten

Politisierung durch jugendspezifische Aktivitäten in Organisationen und Kollektiven

Kontinuität intergenerationell erlebter politischer Aktivitäten in jugendspezifischen Organisationen

V. P OLITISIERUNG IN DER VORUNIVERSITÄREN UND UNIVERSITÄREN

L EBENSPHASE | 163

Abbildung 2: Zweidimensionale Typenbildung ›Genese von Politisierung in der voruniversitären Lebensphase‹

164 | DAS POLITISIERTE G ESCHLECHT

V.1.1

Politisierung über intergenerationelle Beziehungen

Die komparative Analyse der Interviewabschnitte, in der über die Erfahrungen mit intergenerationellen Bezugspersonen berichtet wurde, ergab zwei kontrastierende Orientierungen, die zu zwei Typen, ›Politisierung über intergenerationelle Kontinuität‹ (Kap. V.1.1.1) und ›Politisierung über intergenerationelle Distanzierung‹ (Kap. V.1.1.2), abstrahiert werden konnten. Im Rahmen des familiären Alltags in der Kindheits- und Jugendphase und im Austausch mit verwandten und nicht verwandten generationsübergreifenden Bezugspersonen werden die interviewten Frauen mit der Alltagspraxis, den explizit formulierten Erwartungen sowie den politischen Einstellungen der Bezugspersonen konfrontiert, die jeweils entweder anerkannt werden oder zu denen eine distanzierte Haltung eingenommen wird. Daher können für die im Kontrast zueinander stehenden Typen wiederum jeweils drei Untertypen unterschieden werden (vgl. dazu Abbildung 2). Diese Handlungsorientierungen können insgesamt als politisch-relevant bezeichnet werden, da sie zunächst nicht zu explizit-politischen Handlungen führen, jedoch zu einem späteren Zeitpunkt und in einem anderen Kontext politisches Handeln strukturieren können. Insgesamt war besonders auffällig, dass die im Kontrast zueinander stehenden Typen zum Teil über die gleichen Fälle abstrahiert werden konnten, was darauf hinweist, dass bereits in der voruniversitären Lebensphase Orientierungen verändert werden. Im Folgenden wird die Ausprägung des ersten Typus, ›Politisierung über intergenerationelle Beziehungen‹, und die jeweiligen weiteren Differenzierungen vorgestellt. V.1.1.1

Politisierung über intergenerationelle Kontinuität

Die Fälle, über die der erste Typus herausgearbeitet werden konnte, zeigten eine intergenerationelle Kontinuität auf, damit einhergehend eine Anerkennung der im familiären Alltag erlebten Praktiken und Einstellungen der Bezugspersonen. Diese Anerkennung erfolgte hinsichtlich erlebter politisch-relevanter, aber auch explizitpolitischer Alltagspraktiken und Einstellungen der Bezugspersonen. Die sich hier dokumentierende intergenerationelle Kontinuität wird nicht nur in der Kindheit erkennbar, wo eine Identifikation mit den Eltern ›normal‹ ist, sondern auch im Jugendalter. Hierbei kann zwischen drei Untertypen differenziert werden: Das Typische des ersten Untertypus ist die Anerkennung4 der erlebten politisch-

4

Anerkennung wird hier im Sinne von Akzeptanz verstanden. Bei einigen wenigen Fällen deutet sich weitergehend eine Übernahme der erlebten Alltagspraxis, der explizit formulierten Erwartungen und der explizit-politischen Einstellungen an. Da eine Übernahme

V. P OLITISIERUNG IN DER

VORUNIVERSITÄREN UND UNIVERSITÄREN

L EBENSPHASE | 165

relevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen, die nicht explizit-politisch konnotiert ist. Im familiären Alltag werden zweitens Erwartungen explizit an die Erziehenden herangetragen, die – und das ist das Typische der Fälle, die den zweiten Untertypus konstituieren – von ihnen anerkannt werden. Dem dritten Untertypus gehören die Fälle an, in denen die politische Grundüberzeugung der Bezugspersonen, die direkt an die Zöglinge herangetragen wird, anerkannt werden. Diese drei Untertypen werden im Folgenden fallübergreifend abstrahiert. Schließlich erfolgt eine Zusammenfassung des gesamten ersten Typus. Anerkennung der erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen Die komparative Analyse der Interviews ergab für die Interviews mit Frau Esser, Frau Früh und Frau Behrens im Rahmen intergenerationeller Beziehungen in der voruniversitären Lebensphase eine gemeinsame Orientierung, über die der erste Untertypus ›Anerkennung der erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen‹ abstrahiert werden kann. In der Darstellung der familiären Lebensverhältnisse beschreibt Frau Esser, die 1945 geboren wird, eine traditionelle Rollenverteilung, in der der Vater die Rolle des Alleinverdieners und die Mutter die Rolle der Hausfrau einnimmt. In einem immanenten Nachfrageteil des Interviews, in dem nach den familiären Verhältnissen gefragt wird, erzählt Frau Esser von der beruflichen Ausbildung der Mutter und kommt darüber zu den Geschlechterverhältnissen und der Aufgabenverteilung in der Familie, die sie im Familienalltag erlebt. Wie anhand der nächsten Interviewpassagen deutlich werden wird, erkennt Frau Esser die erlebte Arbeitsteilung und Rollenvorstellung der Eltern im familiären Alltag an (Z:442-454): Esser: Äh meine Mutter war (.) äh und hat das dann auch später wieder aufgenommen (.) äh war (.) so=ne Bürofachfrau, also so Kontoristin //mmh// hatte das äh aufgeben (2) müssen, wie sie es immer beschrieben hat, also sie hat es nicht gerne getan, wie sie äh heiratete //mmh// und meinen Bruder in die Welt gesetzt hatte (.) äh und ihre Schwieger(.)mutter, °der Vater starb ja schon sehr schnell° damit in den Haus äh mit in das Haus aufgenommen hatte und dann: musste sie Hausfrau sein (.) äh dass f:and sie nicht besonders schön. Also sie hat das nicht sie hat das nicht spüren lassen irgendwie aber als meine meine (.) äh meine jüngere Schwester so von uns dreien die Jüngste als die dann in die Schule ging, das war dann natürlich auch schon ne ganz schöne lange Zeit also insgesamt wahrscheinlich (2) fünfzehn oder sechzehn Jahre

dieser nicht explizit erkennbar ist, wird im Folgenden lediglich an den entsprechenden Stellen darauf hingewiesen.

166 | DAS POLITISIERTE G ESCHLECHT

//mmh// da: hat sie dann auch so(.)fort die Gelegenheit benutzt auch gegen den Widerstand meines Vaters und hatte hier eine Halbtagsstelle (.) angenommen.

Frau Essers Mutter gibt ihre Berufstätigkeit nach der Heirat und der Schwangerschaft auf, damit sie sich um das erste Kind und die Schwiegermutter, die mit in das Haus einzieht, kümmern kann. Sie fügt sich einer konventionellen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, indem sie nach der Geburt des Kindes auf die Berufstätigkeit verzichtet. Frau Esser nimmt zwar eine Unzufriedenheit der Mutter mit der eigenen Rolle wahr, erfährt jedoch keinen offenen Protest der Mutter. Den Beruf des Vaters und seine Stellung innerhalb der Familie beschreibt Frau Esser in einem anderen Abschnitt (Z:544-562, siehe Untertypus ›Anerkennung der explizit formulierten Erwartungen‹ in diesem Kapitel). Erst als das dritte und jüngste Kind eingeschult wird, beginnt Frau Essers Mutter erneut zu arbeiten, trotz geäußerter Einwände des Vaters5. Frau Essers Mutter nimmt jedoch eine halbe Stelle an, um weiterhin auch ihren Pflichten als Mutter nachkommen zu können. Insgesamt wird in der Schilderung von Frau Esser deutlich, dass sie in einem Haushalt aufwächst, in der eine traditionelle Arbeitsaufteilung gegeben ist. Ihre Mutter beschreibt sie als Person, die sich zunächst rollenkonform verhält, später aber gegen den Protest des Vaters zumindest halbtags wieder in die Berufstätigkeit einsteigt; d. h. sie fügt sich nur teilweise der konventionellen Aufgabenteilung nach Geschlechtern. In einem nächsten Abschnitt beschreibt Frau Esser ergänzend zu den alltäglichen Tätigkeiten der Mutter die Rolle des Vaters in der Familie (Z:497-509): Esser: Und mein Vater (.) war halt was den Haushalt anlangte, da war der ähm jetzt den inneren Haushalt, das war alles überhaupt nicht seine Sache. Aber es war so ganz klassisch, dass er für das ganze Haus sozusagen verantwortlich war. Also meine Eltern wohnten und meine Mutter heute noch, heute in eigenen Häuschen in einer Siedlung (.) und äh das war halt eine Never-ending-story was da alles zu machen und zu tun und zu reparieren und Garten (.) ähm, das fand ich (.) ä:h f:and ich immer eigentlich ne (2) also eine klassische, aber durchaus auch irgendwie eine gerechte Aufteilung //mmh// ja. Also mein Vater konnte im Haushalt nicht ernsthaft irgendetwas machen. Kochen oder so schon mal ganz und gar nicht (.) äh aber ich 5

Diese Form der Einteilung von Berufsphasen und Hausfrauenphase, das »Drei-PhasenModell«, ist eine für die spätere Nachkriegszeit häufig angestrebte und öffentlich wie politisch anerkannte Form der Vereinbarkeit von Hausarbeit und der Berufstätigkeit. Nach einer ersten Phase der Berufsausbildung und -tätigkeit erfolgt eine zweite Phase, in der die Frau für die Erziehung und den Haushalt zuständig ist. Erst wenn die Kinder das Elternhaus verlassen haben, erfolgt die dritte Phase, der Wiedereinstieg in die Berufstätigkeit. Von Frau Essers Mutter wird die dritte Phase abgekürzt, so dass sie früher als vom Vater erwünscht wieder in die Berufstätigkeit einsteigt; vgl. Niehuss 1998, S.329.

V. P OLITISIERUNG IN DER

VORUNIVERSITÄREN UND UNIVERSITÄREN

L EBENSPHASE | 167

meine alles, was zu machen war ne von Reparaturen und alles, dass wurde, hatte, hat er alles gemacht, insofern hatte ich nicht den Eindruck, (.) dass der sich vor irgendetwas drückt, ne.

Zwischen Frau Essers Eltern existiert eine deutliche geschlechtsspezifische Arbeitsaufteilung. Ihr Vater übernimmt die Rolle des Hausherrn und ist demnach nicht an allen Haushaltstätigkeiten beteiligt, sondern kümmert sich vor allem um Reparaturen und den Garten. Somit erlebt Frau Esser in ihrem Elternhaus eine »klassische« (Z:504) Rollen- und Arbeitsteilung6, die sie in den jungen Jahren nicht infrage stellt. Diese Aufgabenverteilung erlebt Frau Esser als »gerechte Aufteilung« (Z:505) und begründet dies aus heutiger Perspektive mit dem Argument, dass jeder das tat, was er am besten konnte. Frau Esser hat zu diesem Zeitpunkt noch keine Sensibilität für Geschlechterfragen entwickelt und zweifelt die traditionelle geschlechtsspezifische Rollenverteilung, die später auch Thema der geschlechterbezogenen Diskussionen in den Frauengruppen sein wird, nicht an. Die Aufgabenteilung wird von ihr sogar als nützlich und notwendig bewertet, um alltägliche Arbeiten besser zu bewältigen. Sie erkennt die in diesem Rahmen erlebte Alltagspraxis der Eltern an. Dass sie jedoch mit dieser Aufteilung der Arbeitsbereiche nicht in allen Fällen, sondern anscheinend nur intergenerationell in Bezug auf ihre Eltern übereinstimmt, machen die diesbezüglich herrschenden Konflikte mit ihrem Bruder deutlich, die sie im nächsten Abschnitt beschreibt (Z:511-524): Esser: meinem Bruder hab ich das übel genommen, denn der hat natürlich auch nicht groß also jetzt äh (.) große Hausreparaturen gemacht ((Lachen)). Der hat ja so gut wie gar nichts gemacht (.) das fand ich dann schon ne ziemlich forsche (.) äh Haltung und der ist sechs Jahre älter als ich (.) und hat dann halt eben schon immer so seine seine halbstarken Ausflüge gemacht und äh war halt m:eistens irgendwie in der Weltgeschichte draußen u:nd hat sich nicht weiter drum geschert wies da zu Hause aussieht. °Und meine Mutter° (.) eben immer noch das Essen aufgehoben halt abends @wenn er spät nach Hause kam@. Das fand ich das also diese Seite das fand ich ziemlich äh ziemlich äh unfair, und sehr (4) ja irgendwie das irgendwie so grobklotzig ja, so richtig grobklotzig //ja// (4) da gabs auch da gabs auch Streitigkeiten die jetzt nicht so sehr ähm (2) jetzt unbedingt mit dieser mit diesen Hausarbeitsgeschichten zu tun hat aber ich fand äh:: mein Bruder da einfach zu (.) unsensibel und zu: äh (.) zu grob.

Während Frau Esser mit der im Elternhaus erlebten Arbeitsteilung ihrer Eltern konform geht und diese als erforderlich und gleichzeitig auch als gerecht anerkennt, erzeugt das Verhalten des sechs Jahre älteren Bruders, der selten zu Hause ist und daher kaum häusliche Aufgaben übernimmt, großen Zorn in ihr. Frau Esser nimmt 6

Die Beurteilung der Rollenverteilung als ›klassisch‹ geschieht aus heutiger Perspektive.

168 | DAS POLITISIERTE G ESCHLECHT

diese Verweigerung des Bruders, sich an den Aufgaben im Haushalt zu beteiligen oder gar, ähnlich wie der Vater, Reparaturaufgaben zu übernehmen, zum Anlass, sich gegen ihn zu positionieren. Diese Aufteilung bewertet sie als »unfair« und ihren Bruder als »unsensible«, »grobklotzige« Person (Z:520f.). Das Verhältnis zum Bruder ist durch häufige Streitigkeiten geprägt. Die Kritik gegenüber dem Bruder kommt nicht nur aufgrund seiner Zurückhaltung hinsichtlich Haushaltstätigkeiten zustande, sondern auch wegen seines Verhaltens gegenüber der Mutter, die sich weiterhin um den Sohn kümmert. In der geäußerten Kritik gegenüber dem Bruder ist noch keine Kritik gegenüber Geschlechterverhältnissen in der Familie oder gar eine Gesamtkritik erkennbar. Geschlecht sowie Geschlechterungleichheiten sind für die junge Frau Esser zu diesem Zeitpunkt noch keine politischen Themen. Die Kritik, die sie äußert, ist personenbezogen und richtet sich lediglich gegen den Bruder. Dass sie die Arbeitsteilung nach Geschlechtern nicht anzweifelt, zeigt sich darin, dass sie zufrieden gewesen wäre, wenn ihr Bruder einzelne Tätigkeiten übernommen hätte, die auch ihr Vater tätigte, wie ›Hausreparaturen‹ (Z:513). Es dokumentiert sich hier, dass die junge Frau Esser die Alltagspraxis der Eltern anerkennt und die erlebte Arbeitseinteilung nach Geschlecht nicht infrage stellt oder gar ein Aufbrechen der Strukturen fordert. In dem Interview mit Frau Esser dokumentiert sich für die voruniversitäre Lebensphase zugleich die Anerkennung erlebter Alltagspraxis weiterer, nicht-verwandter Bezugspersonen, nämlich die der Familie ihrer Schulfreundin (Z: 59-75): Esser: Öhm ich hab dann im zweiten oder dritten Jahr dort an diesem Gymnasium eine Freundin (.) ö:h gewonnen=gefunden, die kam auch erst später in diese Klasse die kam aus einem Internat (.) und hatte den gleichen Fahrweg mit dem Bus und das war dann so=ne (.) äh Freundschaft die dauerte bis in äh Anfänge unsrer (.) äh unsrer gemeinsamen Studienzeit dann (.) Und der äh die die die Freundin war insofern auch sehr sehr wichtig für mein (.) für meine (2) Bildungsweg die stammt aus einer Familie wo der Vater (.) äh e:in so ein ein selbstgemachter Unternehmer (2) war also ein Fabrikant (.) der (.) Mühlen, Zerkleinerungsmühlen herstellte also so=n richtiger selbstgemachter (.) ä:h Fabrikant dann und Kleinunternehmer in diesem im Umkreis dieses dieser dieses Ortes da (.) und die äh (.) ihre Stiefmutter die war vergleichsweise jung, es war seine ich weiß=nicht= was dritte Frau oder so (.) und die hat sich sehr um uns gekümmert (.) also die hat sich das sehr zur Aufgabe gemacht diese ihre (.) Teenager-Stieftochter äh halt eben auch zu unterstützen und sie hat also in diesem Haushalt beziehungsweise mit dieser Frau, (.) hab ich dann sehr viel so bildungsbürgerliche (2) ä:hm Unterstützung bekommen.

Nach zwei bis drei Jahren am Gymnasium freundet sich die junge Frau Esser mit einem Mädchen aus ihrer Klasse an, mit der sie ihren Schulweg teilt. Sie hebt die

V. P OLITISIERUNG IN DER

VORUNIVERSITÄREN UND UNIVERSITÄREN

L EBENSPHASE | 169

berufliche Bildung der Eltern ihrer Freundin hervor und betont, dass der Vater der Freundin ein wohlhabender Unternehmer ist. In dieser Familie herrscht, ähnlich wie in ihrer eigenen Familie, eine Arbeitsteilung, in der der Vater für den äußeren Bereich und den Unterhalt der Familie verantwortlich ist und die Stiefmutter für die Erziehung des Kindes. Dennoch erlebt sie in dieser Familie eine Alltagspraxis, die sich von der bisher erlebten Alltagspraxis der eigenen Familie unterscheidet. Diese löst Begeisterung und das Bestreben nach Übernahme der Lebensweise der Eltern der Freundin aus. Ihre Bestrebungen werden, besonders von der Stiefmutter der Freundin, insofern anerkannt, als dass Frau Esser von dieser Familie einerseits aufgenommen und zudem unterstützt wird. Aus heutiger Perspektive bewertet sie diese Unterstützung als »bildungsbürgerliche Unterstützung« (Z:75). Die Anerkennung der Alltagspraxis dieser Familie, insbesondere der Mutter, hält über die voruniversitäre Lebensphase an und wird zunächst in die universitäre Lebensphase hineingetragen. Bei der Studienfachwahl orientiert sich Frau Esser an der Mutter der Freundin und ihrem eingeschlagenen beruflichen Weg (Z:129-133): Esser: Und angefangen hab ich dann erst mal in (.) M-Stadt zu studieren, weil ich auch äh angeturnt von dieser Stiefmutter äh meiner Freundin die Journalistin war bevor sie da hingeheiratet hat.

Insgesamt wird deutlich, dass Frau Esser in der voruniversitären Lebensphase Unterschiede in den Wertevorstellungen und Bildungsbestrebungen ihre Herkunftsfamilie und der Familie ihrer Freundin wahrnimmt. Sie entscheidet sich, den erlebten Alltag der Familie der Freundin zum Vorbild zu nehmen. Im weiteren Verlauf des Interviews wird bei Frau Esser ein Orientierungswandel deutlich, der sich in der intergenerationellen Distanzierung zu den Eltern äußert. Auch in dem Interview mit Frau Früh wird die Anerkennung der erlebten Alltagspraxis der Eltern in der voruniversitären Lebensphase deutlich, die im Folgenden rekonstruiert wird (Z:6-17): Früh: Ich bin 1950 in C.-Stadt geboren, das heißt in Mitteldeutschland //ja//. Mein Vater war dort Studentenpfarrer. //ja// Ich habe drei ältere Geschwister, die noch im Krieg geboren sind, als Flüchtlinge sozusagen, dann auch (2) erstmal in die Schweiz gingen, wo meine Mutter herkommt, die ist Schweizerin und ähm die sind dann in nach Mitteldeutschland gekommen nach dem Krieg. (2) //mmh// Mein Vater war früher Baptistenprediger gewesen und (.) hat die EnKriegsende genutzt, um in die lutherische Kirche zu wechseln. //ja// Hat dann eben seine Existenz in (3) äh: in C.-Stadt aufgebaut, wo es sehr=sehr viele ausländische Studenten immer gab, aus Afrika, aus Asien (2) ähm später ungarische Flüchtling und=so=weiter=das hat

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mich dann schon auch sehr geprägt diese (.) //mmh// Weltoffenheit, dieses sehr kleinen Ortes, ((lacht)) //ja// ähm (2) die eben über meinen Vater auch in die Familie reinkam.

Frau Früh wird 1950 in C.-Stadt als jüngstes von vier Kindern geboren. Ihr Vater ist vor ihrer Geburt zunächst Baptistenprediger, wechselt Ende des Krieges zur lutherischen Kirche und ist danach als Studentenpfarrer tätig. Über die Tätigkeiten des Vaters, der mit ausländischen Studierenden und Flüchtlingen arbeitet, sammelt Frau Früh in ihrer Kindheit Kenntnisse über andere Kulturen und erlebt zugleich das soziale Engagement ihres Vaters, was sie für sich persönlich – aus heutiger Sicht – als prägend bezeichnet. In diesem Zusammenhang bewertet sie ihre Lebenswelt und auch ihre Familie als weltoffen. Sie hebt in diesem Abschnitt die Tätigkeiten des Vaters hervor, die ihr insgesamt imponieren. Die Interessen der Eltern werden nicht nur im beruflichen Bereich ausgelebt, sondern auch in den familiären privaten Raum hineingetragen, so dass sie den familiären Alltag mitbestimmen. Frau Früh wird bereits in jungen Jahren mit sozialen Themen konfrontiert und erlebt über den Vater Toleranz und Offenheit für andere Kulturen. In diesem Abschnitt wird deutlich, dass Frau Früh die erlebte berufliche Alltagspraxis des Vaters, die Einfluss auf den Familienalltag nimmt, nicht anzweifelt, sondern ihr mit Neugier und Interesse begegnet und diese anerkennt. Ähnlich wie Frau Esser erlebt Frau Früh innerhalb des Familienalltags eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die sich zwar nicht explizit in einer traditionellen Geschlechterrollenverteilung äußert, jedoch die Zurückstellung einiger Interessen der Mutter erfordert. Frau Früh beschreibt in ihrer Eingangserzählung einen Teil des beruflichen Werdegangs ihrer Mutter, worüber sich die Anerkennung der erlebten Alltagspraxis der Eltern – hier hinsichtlich geschlechtsspezifischer Rollenund Aufgabenteilung – rekonstruieren lässt (Z:36-51): Früh: Und ähm in den 30er Jahren (.) ähm ä::: war ihrerseits ähm:: eine promovierte Juristin sie hat (.) ungefähr neunzehnhundertse- sechsunddreißig=siebenunddreißig (.) in B.-Stadt (Schweiz) promoviert //mmh// (.) ähm (.) beide Eltern hatten Eltern die (.) sozusagen ähm Emanzipation der Frau wichtig (.) fanden //mmh// also (.) in dem Sinne war das ein Konsens (2) über die Generationen, sozusagen schon von den Großeltern her die ich gar nicht mehr kennenlernte weil sie früh gestorben sind //mmh// aber oder (.) weil ich so (.) spät geboren bin=wie mans nimmt (2) und äh meine Eltern=ä:=das Frauenemanzipation eine sehr=sehr wichtiges Thema is //ja// (2). Meine Mutter war Pfarrfrau und ähm konnte als solche nicht berufstätig sein //mmh// und das hat sie immer sehr sehr (2) ä: gekränkt eigentlich //ja// also das war mindestens meine Empfindung (2) und ähm sie hätte sie=ä:: hätte sich auch gerne als Politikerin (.) ähm engagiert aber (.) da kam für sie eigentlich nur die Sozialdemokratie in Frage (.) und sie sagte als Pfarrfrau konnte sie nicht für die Sozialdemokratie ähm für SPD kandidieren //mmh//. Ähm (3) das hat sie auch gekränkt.

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Frau Früh expliziert in diesem Abschnitt zunächst, dass sowohl ihre Mutter, die promovierte Juristin und somit Akademikerin ist, als auch ihr Vater am Thema »Frauenemanzipation« (Z:44) interessiert waren, und führt auf, dass es hinsichtlich dieses Themas »Konsens über die Generationen« (Z:40) gab. Somit weist sie auf eine gesellschaftspolitische Traditionslinie innerhalb der Familie hin, was sie hier jedoch zunächst nicht weiter erläutert. Inwiefern die Beschäftigung mit Frauenthemen den Alltag der Familie bestimmt, wird hier nicht weiter expliziert. Frau Frühs Mutter stellt ihre eigenen beruflichen Wünsche zurück, um an der Seite ihres Mannes, der Pfarrer ist, als Pfarrfrau tätig zu sein. In der Familie herrschen somit konventionelle Geschlechterverhältnisse, die sich über die Arbeitsteilung in der Alltagspraxis festmachen lassen. Die Unzufriedenheit, die die Mutter dabei empfindet, bleibt Frau Früh nicht verborgen. Auch das politische Engagement der Mutter ist aufgrund der Orientierung an der Berufstätigkeit ihres Mannes nur eingeschränkt möglich. Die junge Frau Früh erkennt in dieser Lebensphase keinen Widerspruch im Handeln der Mutter oder eine Ungleichheit in der Arbeitsteilung der Eltern. Zwar erkennt sie insgesamt die Unzufriedenheit der Mutter, hinterfragt die Entscheidungen jedoch nicht. Es dokumentiert sich hier, dass die junge Frau Früh den Familienentwurf, der sich in der familiären Alltagspraxis zeigt und in dem Bildungsbestrebungen, soziales Engagement und eine konventionelle Arbeitsaufteilung bedeutsam sind, anerkennt. Es werden keine Zweifel an oder Distanzierungen von den alltäglichen Tätigkeiten – auch nicht gegenüber den Entscheidungen der Mutter – geäußert. Auch Frau Behrens, die 1949 geboren wird, berichtet zu Beginn ihrer Eingangserzählung über die Familienverhältnisse in ihren ersten Kinderjahren und stellt hierbei zwei Umzüge, die sie als junges Mädchen miterlebte und die sie aufgrund der Berufstätigkeit der Mutter vornehmen mussten, in den Vordergrund ihrer Erzählung (Z:4-21): Behrens: Also ich bin 1949 geboren und zwar in Niedersachsen in einem kleinen Dorf. Und äh bin bei meiner Mutter und meiner Großmutter aufgewachsen, weil mein Vater sehr früh: sich eine eigene Wohnung gesucht hat aus beruflichen Gründen (.) und ähm insofern wars in gewisser Weise ein Glücksfall, weil meine Mutter dann ja auch berufstätig war, dass die Großmutter im gleichen Haushalt gelebt hat und ich dann sozusagen da eine in Anführungszeichen Ersatzmutter hatte. (.) Wir sind dann umgezogen ähm (2) 1952 nach B1-Stadt, weil meine Mutter da eine feste Stelle bekommen hat (.) und meine Eltern haben sich dann getrennt, also mein Vater ist dann in Niedersachsen geblieben. Und äh ich habe also bis 1958 in B1-Stadt gewohnt, bin dann da erst mal zur Grundschule gegangen, gerne muss ich sagen, das war eine sehr schöne Schule. Und dann hat meine Mutter die Stelle gewechselt und wir sind nach D.Stadt gezogen, auch weil sie da ein Haus gekauft hat. Und ähm denn, das war für m- weder

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für meine Großmutter noch für mich erst mal zunächst äh ein wunderbarer Wechsel, den meine Mutter immer in Aussicht gestellt hat, aufgrund des eigenen Hauses, sondern schon auch -ne ziemliche Umstellung. Ähm ich war nicht ganz glücklich muss ich sagen, also auch mit der Grundschule nicht. Das war eine katholische Schule.

In diesem Abschnitt wird deutlich, dass Frau Behrens familiärer Alltag vor allem von der Berufstätigkeit der Mutter geprägt ist. 7 Sie wächst nach der Trennung der Eltern ab dem dritten Lebensjahr bei ihrer Mutter und Großmutter auf. Den Grund für die Trennung der Eltern bringt Frau Behrens in einen Zusammenhang mit der Berufstätigkeit der Eltern, wobei sie dieses nicht näher expliziert. Ihr Vater ist, wie aus anderen Passagen hervorgeht, Journalist und ihre Mutter Sekretärin. Dass der Alltag der Familie durch die berufliche Orientierung der Mutter sowie ihrer Abwesenheit geprägt ist und um diese herum organisiert wird, drückt sich in den Umzügen und der Wahrnehmung der Großmutter als »Ersatzmutter« (Z:10) aus. Denn als ihre Mutter eine feste Anstellung erhält, zieht Frau Behrens gemeinsam mit ihr und der Großmutter nach B.-Stadt, während ihr Vater in der anderen Stadt bleibt. 1958 steht ein weiterer Umzug an. Frau Behrens Mutter wechselt ihre Stelle, so dass die Familie nach D.-Stadt zieht. Diesen Umzug, der mit einem Einzug in ein Haus verbunden ist und von der Mutter als positiv kommuniziert wird, empfindet Frau Behrens als negativ. Ihre Großmutter erlebt sie ebenfalls unzufrieden mit der neuen Situation. Während sie vor allem den letzten Umzug als »ziemliche Umstellung« (Z:19f.) erfährt und nach dem Wechsel auf eine neue Schule Probleme mit der Eingewöhnung hat, stellt sie die Berufstätigkeit der Mutter nicht infrage. Obwohl sie in der Berufstätigkeit ihrer Eltern den Grund für die Trennung und für die damit verbundenen Umzüge und Schwierigkeiten sieht, erkennt sie die erlebte familiäre Alltagspraxis, die später insbesondere aufgrund der Abwesenheit des Vaters durch die Berufstätigkeit der Mutter bestimmt wird, an. Im folgenden Abschnitt dokumentiert sich, dass Frau Behrens nicht nur die erlebte Alltagspraxis, die durch die Berufstätigkeit der Mutter bestimmt wird, anerkennt, sondern diese auch für sich übernehmen möchte (Z:397-400): 7

Die öffentlichen und politischen Debatten um die Berufstätigkeit von Frauen sind in den 1950er und 1960er Jahren in der BRD noch sehr ambivalent. Einerseits ist die Berufstätigkeit von Frauen aufgrund der wirtschaftlichen Prosperitätsphase erwünscht, andererseits sind die Diskussionen jener Zeit vor allem noch von der Befürchtung des Verfalls von Familien, dem Problem der sogenannten »Schlüsselkinder« und der Angst vor dem Rückgang der Fertilität geprägt. Während die Berufstätigkeit alleinerziehender Mütter noch geduldet wird, setzt sich für die verheiratete Frau und Mutter das Drei-PhasenModell durch. Ein Überblick über zeitgeschichtliche öffentliche und politische Diskussionen zur Berufstätigkeit von Frauen findet sich bei Oertzen 1999, Niehuss 1998 und auch im Kap. IV.1 dieser Arbeit.

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Behrens: Und was vielleicht auch, ähm was was mich mit geprägt hat, ist das meine Mutter ja immer gearbeitet hat. Also für mich war schon auch klar ähm, dass ich auch arbeite //mhh//, was ähm, also, dass ich einen Beruf ergreife //mhh// und dass ich dann in diesem Beruf arbeite, ja.

Zusammenfassend dokumentiert sich in den Schilderungen von Frau Behrens, dass sie die Berufstätigkeit ihrer Mutter als mögliche Form und zentralen Aspekt der Alltagsgestaltung erlebt, die sie anerkennt und übernehmen möchte. Anerkennung der explizit formulierten Erwartungen der Bezugspersonen In den Erzählpassagen der Interviews, in denen der familiäre Alltag geschildert wird, konnte über die komparative Analyse eine weitere fallübergreifende Orientierung rekonstruiert werden, in der sich die Anerkennung explizit formulierter Erwartungen der Bezugspersonen dokumentiert. Über die Fälle Frau Esser, Frau Kielen, Frau Clement und Frau Schaal konnte der Typus ›Anerkennung der explizit formulierten Erwartungen der Bezugspersonen‹ abstrahiert werden. Frau Esser, die 1945 geboren wird, beginnt ihre Eingangserzählung mit der Beschreibung ihres Bildungshintergrunds und der Berufsorientierung ihrer Eltern und kommt darüber schließlich zur Schilderung ihrer eigenen Schulbildung. Ihre Erzählung enthält viele Hintergrundkonstruktionen, durch die die im familiären Alltag an sie herangetragenen Erwartungen ihrer Eltern hinsichtlich Bildung deutlich werden (Z:5-26): Esser: Dann ähm fange ich wohl mal so an, also ich komme aus einem Elternhaus in dem es keine akademischen Traditionen gibt. Meine Eltern ä:h hatten beide (.) äh nur eine kurze Schulausbildung. Meine Mutter, also die damalige Volksschule Grundschule, ist Jahrgang 1919 und hat gerade ihren neunzigsten Geburtstag gefeiert. Und äh mein Vater ist noch zehn Jahre älter, also Jahrgang neun (2) inzwischen natürlich schon tot und der hatte so eine Schulbildung, das nannte sich damals Rektoratsschule, ich nehme mal an, das war so eine Art Mittelschule. Die hat er so bis fünfzehn, glaub ich, gemacht und ist dann in einen Betrieb eingetreten, (.) äh in dem er sich zum Elektroingenieur äh entwickelt hat und aus dem er dann auch mit fünfundsechzig wieder rausgegangen ist ((lachen)). Also auch ein beruflicher Werdegang, den man heute überhaupt nicht mehr (.) ä:h, nicht mehr äh durchleben kann. Und m:eine Eltern waren beide und insbesondere vor=allen=Dingen meine Mutter war se:hr daran interessiert, dass wir Geschwister, (.) wir sind zu dritt, (.) ähm auf jeden Fall eine Schulbildung machen können //mmh//. Sie hat das immer sehr bedauert, dass sie das nicht (.) hat machen können und äh hat das sehr gefördert. Und drumherum, wie gesagt, gab es eigentlich also weder bei Großeltern noch bei Tanten oder so was in der näheren Umgebung, äh gab es keine

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(2) höhere Schulbildung, nicht geschweige denn irgendeine akademische Ausbildung. Aber ich w:urde und wir alle drei, also ich habe ja eine jüngere Schwester und einen älteren Bruder, wir alle drei wurden ohne jegliche Unterscheidung da drin: unterstützt Schule zu besuchen //mmh// und das auch durchzuziehen.

Frau Esser macht in diesem Interviewausschnitt zunächst deutlich, dass sie aus einem nicht-akademischen Elternhaus stammt und verweist damit auf ihre Bildungsherkunft. Ihre Mutter besucht die Volksschule, ihr Vater die Mittelschule – demnach eine Realschule –, die er schließlich mit fünfzehn Jahren beendet, um eine Lehre zu beginnen. Während auf den beruflichen Werdegang der Mutter zunächst nicht weiter eingegangen wird, erwähnt sie, dass ihr Vater in einem Betrieb tätig war, wo er sich weiterbildete und bis zum 65. Lebensjahr blieb. Über die Darstellung der einfachen beruflichen Entwicklung ihres Vaters – vom Lehrling zum »Elektroingenieur« (Z:13) – macht sie deutlich, dass zwar kein akademischer Hintergrund vorhanden war, jedoch berufliche Aufstiegsambitionen gegeben waren. Über die Aufzählung der Bildungsgrade näherer Verwandter verweist sie auf das Fehlen eines bildungsbürgerlichen Hintergrunds und das Fehlen von »akademischen Traditionen« (Z:6), auch über die enge Herkunftsfamilie hinaus. Die Aufstiegsambitionen der Eltern werden innerhalb der Familie an die Kinder weitergetragen. Frau Esser und ihre Geschwister erfahren eine explizite schulische Förderung, insbesondere über die Mutter. Den Grund für diese Förderung sieht sie selbstinterpretierend darin, dass den Eltern selbst der Zugang zur höheren Bildung verwehrt geblieben ist, dieser den eigenen Kindern jedoch ermöglicht werden soll. Aufgrund der gleichwertigen Förderung aller Geschwister erfährt Frau Esser hinsichtlich der eigenen Schulausbildung keine auf das Geschlecht bezogene Diskriminierung. Die Geschlechterverhältnisse – an dieser Stelle zunächst in Bezug auf Bildungsmöglichkeiten – erlebt Frau Esser als unproblematisch, bewertet diese sogar positiv. Sie stellt die Bildungserwartung der Eltern nicht infrage, sondern erkennt sie an. In einem weiteren Abschnitt (Z:28-31) beschreibt sie ihren »Bildungsweg« als »geradeaus« (Z:29). Sie besucht die Volksschule, geht danach zunächst an die Mittelschule (Realschule) und wechselt schließlich auf ein Gymnasium in einem benachbarten Ort. An dem Verlauf ihres Schulbesuches wird erkennbar, dass Frau Essers Bildungsweg nicht unmittelbar mit dem Besuch eines Gymnasiums einhergeht. Frau Esser übernimmt die an sie vermittelten Aufstiegsambitionen sowie die Interessen der Eltern und wechselt auf ein Gymnasium (Z:42), auch wenn sie dafür einen weiten Anreiseweg hat. Ähnlich wie Frau Esser erkennt auch Frau Kielen, die 1948 geboren wird, in der voruniversitären Lebensphase die explizit formulierte Erwartung ihrer Eltern an. Dieses dokumentiert sich in den folgenden Abschnitten. Nach einer immanenten

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Nachfrage der Interviewerin beginnt Frau Kielen über ihre Jugend und ihr Elternhaus zu berichten (Z:625-641): Kielen: Also ich hab schon gesagt, ich komm aus einem sozialdemokratischen Elternhaus //ja//. Ein sozialdemokratisches Elternhaus heißt natürlich, dass sie ungeheuer bildungsbeflissen waren, ja. Also wir hatten alles Mögliche nicht, wir hatten auch wirklich wenig Geld, //mmh// ja lange Zeit. Zum Teil sogar sehr wenig Geld und ähm also wir waren nicht gerade arm, aber aber wie gesagt Bildungsorientierung ganz stark, ne also das wenn //mmh// Geld ausgegeben wurde, dann dafür. Das bedeutete zum Beispiel, also ich hab gesagt ich war die Jüngste, dass irgendwie ich aufs Gymnasium ging, das war irgendwie klar, dass ich Abitur mache //mmh// und das war irgendwie auch klar, dass ich studieren konnte. Mein Bruder mein ältester Bruder hat auch studiert, //mmh// aber das ist, der hat das sehr stark selber gemacht. Aber ich bei mir war irgendwie klar ich mach so diesen geraden Weg ja und ich studiere später mal. (2) Und meine Eltern haben mein Studium nicht finanziert, aber es war trotzdem, also wir haben nur einen Teil und dann war ich ja auch schon sehr früh verheiratet, aber ähm es war irgendwie klar, da gibts so eine Aspiration ja, dass das ist //mmh// und dass das auch für Mädchen und dass das überhaupt kein Thema ist.

Frau Kielen führt in der Beschreibung der familiären Verhältnisse, ähnlich wie bereits in ihrer Eingangserzählung, sowohl die politische Orientierung, als auch die Bildungsorientierung ihrer Eltern auf. Sie beschreibt sie als »sozialdemokratisch« (Z:626) und »bildungsbeflissen« (Z:627). In diesen Ausrichtungen sieht sie den Grund für die Selbstverständlichkeit, mit der ihr eine höhere Bildung – Besuch des Gymnasiums und ein Studium – ermöglicht wurde. Das Studium wird ihr nur teilweise finanziert, was sie in einen Zusammenhang mit ihrer frühen Heirat bringt und was für sie somit gleichzeitig eine finanzielle Unabhängigkeit bedeutet. In diesem Abschnitt hebt sie besonders hervor, dass ihre Eltern hinsichtlich ihrer Bildungsförderung keine geschlechtsspezifischen Differenzierungen vornahmen, sondern die Unterstützung allen Kindern gleichermaßen galt. Im familiären Alltag erlebt Frau Kielen somit Geschlecht als unproblematische Kategorie. Die besondere Ausprägung der Bildungsbestrebung der Eltern zeigt sich für sie, aus heutiger Perspektive, in der stetigen Förderung der Kinder und dies trotz der finanziellen Lage der Familie, die sie rückblickend als bescheiden bewertet. Frau Kielen erfährt im familiären Alltag Bildung als einen wichtigen Bestandteil des Alltags. Die diesbezüglich formulierten Erwartungen werden an Frau Kielen herangetragen und von ihr anerkannt und im Schulalltag umgesetzt. Während ihr Bruder seinen Weg selber organisiert und unabhängig von den Eltern beschreitet, orientiert sich Frau Kielen an der erlebten Alltagspraxis der Eltern und die hier erlebten Bildungsbestrebungen, »es war irgendwie klar, da gibt's so eine Aspiration« (Z:639).

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Die Anerkennung der Erwartungen dokumentiert sich in ihrem schulischen Alltag. Wie sie diesen erlebt, beschreibt sie im nächsten Abschnitt (Z:641-654): Kielen: Und das ist etwas, was ich auch ab in der Schulzeit natürlich irgendwie durchgesetzt hab, ich war (.) äh irgendwie ich weiß nicht wie so ganz genau, aber es war irgendwie immer klar, dass mich Politik interessiert, dass mich intellektuelle Sachen interessieren, dass ich irgendwie, ich hatte keine Bild von mir, wie das mal weiter geht, aber es war immer klar, mich interessieren bestimmte Dinge. (.) //mmh// Und das hat sich auch in der Schule durchgesetzt, ich war gar keine besonders gute Schülerin und es gab bestimmte Fächer, die mich interessiert haben, es war Geschichte, das war Deutsch na, //mmh// weil da dachte man na irgendwie -ne und na ja so Sozialkunde, das bisschen was es davon gab damals //mmh//. Also es waren immer bestimmte, während andere Sachen haben mich eben einfach nicht interessiert und Sprachen haben mich auch bis na im gewissen Sinne gut. (.) Ähm das ist der eine Teil es gab so eine relativ geradlinige intellektuelle Erwartung an mich, auch eine von mir selber, aber auch von meinen Eltern her.

Obwohl sie in der Schulzeit noch keine Vorstellungen davon hat, was sie zukünftig machen möchte, interessiert sie sich für bestimmte Themen und Schulfächer. Ihre Neugier und ihre Interessen gelten vorrangig politischen, historischen und anderen sozialwissenschaftlichen Themenbereichen, »es war Geschichte, das war Deutsch (…) na ja so Sozialkunde« (Z:648f.) Frau Kielen orientiert sich im schulischen Bereich an den Erwartungen der Eltern, entwickelt hier jedoch auch bereits ein Interesse für sozialwissenschaftliche und politische Themen. Aus heutiger Perspektive erkennt sie selbstinterpretierend eine »geradlinige intellektuelle Erwartung« (Z:653), die sich in der erlebten Alltagspraxis der Eltern äußert und die sie anerkennt. Auch Frau Clement erkennt in der voruniversitären Lebensphase die über die familiäre Alltagspraxis an sie explizit formulierten Erwartungen an. Die Alltagspraxis wird aufgrund des fehlenden Vaters von der Mutter organisiert. Frau Clement wird als uneheliches Kind eines Besatzungsoffiziers im Jahr 1946 geboren und wächst ohne Vater auf (Z:4-11). Ihre Mutter hat keinen akademischen Bildungshintergrund, arbeitet zunächst als Telefonistin und später als Büroangestellte. Frau Clement verbringt ihre Kindheit und Jugend bei ihrer Mutter, aber auch bei ihrer Großmutter, bei zwei Onkeln und in diversen Kinderheimen. Trotz dieser sehr unterschiedlichen Lebensstationen ist die junge Frau bemüht, die Verbindung zur Mutter zu halten. Die erlebte familiäre Alltagspraxis ist sowohl von den Unterbrechungen als auch von einem schwierigen Verhältnis zur Mutter geprägt. Die im familiären Alltag an Frau Clement herangetragenen explizit formulierten Erwartun-

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gen werden von ihr anerkannt und nicht infrage gestellt. Dies dokumentiert sich im folgenden Abschnitt (Z:19-34): Clement: Und dann war ich auf einem privaten Gymnasium, aber als externe Schülerin, das war ein Internat, ein Jungeninternat und ganz bei uns in der Nähe und dort konnte ich zu Mittag essen und die Hausaufgaben machen und so weiter //mhh//. Und ähm, da bin ich dann aber auf Drängen meiner Mutter abgegangen, mit der Versetzung in die Unterprima, also eineinhalb Jahre, weil dann kam das Kurzschuljahr eineinhalb Jahre (.) äh vor dem Abitur //mhh//, was ich gerne gemacht hätte, weil ich hätte gerne Medizin studiert und wäre Kinderärztin geworden, das war so mein Herzenswunsch, ob ich das geschafft hätte, ist dahin gestellt, aber das war erst mal so mein Wunsch //mhh// und ähm dann (.) äh ich war sehr ein, ein braves, wohlerzogenes Kind @(.)@ //mhh// und äh hab auch all das gemacht, was meine Mutter mir dann so äh vorgetragen hat und äh als Bestes für mich empfand und das war dann der Besuch der Berlitz-School, wo ich so ein Schmalspur Dolmetscher machte in Englisch, Französisch und äh in der Korrespondenz dazu und äh danach bin ich, auch wieder eingefädelt von meiner Mutter, bei der Fluggesellschaft A gelandet.

Frau Clement besucht als externe Schülerin ein privates Gymnasium/Internat und möchte hier das Abitur machen. Auf Drängen der Mutter verlässt sie jedoch mit der Mittleren Reife und eineinhalb Jahre vor dem Abitur die Schule. Dieser Abbruch widerspricht ihrer eigenen Vorstellung der Zukunftsgestaltung, da sie ihren Berufswunsch nur mit der Hochschulreife umsetzen kann. Dies löst in Frau Clement Unzufriedenheit aus, was sich jedoch nicht in Protest äußert. Frau Clement erkennt die Erwartungen der Mutter an und verlässt die Schule. Sie besucht eine Sprachschule und absolviert eine Dolmetscherausbildung. Dass sie bis heute mit dieser Entscheidung unzufrieden ist, drückt sie in der Herabwertung der Lehre mit der Bezeichnung »Schmalspur Dolmetscher« (Z:31f.) aus. Obwohl sie mit der Entscheidung ihrer Mutter nicht übereinstimmt, stellt sie diese nicht infrage, sondern nimmt sie an und setzt sie entsprechend um. Hier zeigt sich kein Aufbegehren oder gar rebellisches Verhalten. Vielmehr bezeichnet sie sich aus heutiger Perspektive in einem gewissen ironischen Unterton als »braves, wohlerzogenes Kind« (Z:28f.), das den Wünschen der Mutter entsprach. Hierbei deutet sie auch – aus heutiger Sicht – auf eine gewisse jugendliche Naivität und Hilflosigkeit hin. Interessant ist, dass sie nicht nur hinsichtlich der schulischen Bildung die Forderungen und Erwartungen der Mutter annimmt, sondern auch in Bezug auf ihre berufliche Weiterbildung. Auch hier fügt sie sich dem Wunsch der Mutter und beginnt in der voruniversitären Lebensphase bei einer Fluggesellschaft zu arbeiten, die die Mutter für sie aussucht. Insgesamt dokumentiert sich hier eine Anerkennung der explizit formulierten Erwartungen, die trotz eigener, differenter Vorstellungen umgesetzt werden.

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Auch bei Frau Schaal dokumentiert sich die Anerkennung der explizit formulierten Erwartungen in der erlebten familiären Alltagspraxis. In diesem Fall handelt es sich um die Anerkennung der Vorstellungen des Vaters hinsichtlich beruflicher Entwicklungen, die an Frau Schaal herangetragen werden. Die Eingangserzählung von Frau Schaal war insgesamt relativ kurz. Sie beginnt diese mit einem Überblick über ihren Lebenslauf und beschreibt dabei die familiären Lebensverhältnisse bis zur Aufnahme der Mitgliedschaft im SDS (Sozialistischen Deutschen Studentenbund) (Z:4-26)8: Schaal: Ähm von Anfang an, ((lachen)) //so wie sie möchten ja// (.) Also ich bin äh (2) irgendwo in der Nähe in einem kleinen Dorf bei K.-Stadt geboren, aber meine Kindheit habe ich in D.Stadt verbracht, da bin ich auch zur Schule gegangen und ich wollte ursprünglich Journalistin werden. //mmh// Und mein Vater fand, dass ich dann besser erst zu einer Zeitung gehen soll, um dort also ein Volontariat zu machen. Er fand das also nicht sinnvoll, dass ich dafür studieren sollte und äh (2) dann äh hatte ich schon in einer Zeitung auch angefangen und war aber @gleichzeitig schwanger@ und dann ähm haben wir also geheiratet .Und (.) dann gings mir immer sehr schlecht in der Redaktion, also so körperlich (.) und dann bin ich dann da ausgeschieden und dann ist eben mein Sohn geboren worden. Und wir sind, wir haben im westdeutschen Ballungsgebiet gewohnt und damals gab es im westdeutschen Ballungsgebiet noch keine Universität (.) und mein Mann war Journalist und wir waren sehr arm. Das muss ich auch dazu sagen ((lachen)) und äh ich wollte dann eben damals dann doch studieren, also das war dann eigentlich mein fester Plan. (.) Und äh (.) dann sind wir 1965, hat mein Mann sich entschieden, also der war dann Redakteur gewesen bei einer Zeitung im Ruhrgebiet und der hat sich entschieden, aber sich sozusagen also freier Journalist in Frankfurt niederzulassen und (2) da bin ich dann auf der Stelle hingegangen und hab mich immatrikuliert und habe Soziologie belegt, obwohl ich eigentlich gar nicht wusste was das war. Mein Vater hatte auch wieder gesagt, wenn ich schon studieren wollte um Journalistin zu werden, dann aber nicht Publizistik oder so etwas, sondern dann sollte ich lieber Soziologie studieren, mehr wusst-, mehr war mir nicht bekannt ((lachen)).

Frau Schaal wird 1940 in einem Dorf in der Nähe von K.-Stadt geboren und wächst in D.-Stadt auf. Ohne die familiären Lebensverhältnisse und ihren Schulbesuch zu explizieren, geht sie zur Darstellung ihrer beruflichen Vorstellungen über und erinnert sich, dass sie zunächst den Wunsch hatte, Journalistin zu werden. Wie sie diesen Wunsch entwickelt, bleibt ebenso unklar. Dass sie die in der erlebten Alltagspraxis der Eltern explizit formulierten Erwartungen anerkennt, dokumentiert 8

Eine Besonderheit, die Frau Schaal von den anderen interviewten Frauen hervorhebt, ist ihre frühe Schwangerschaft, die eine außergewöhnliche Situation darstellt. Inwiefern sich die Schwangerschaft auf ihre Orientierung auswirkt, bleibt an dieser Stelle jedoch unklar.

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sich in der Anerkennung und Umsetzung der väterlichen Ratschläge. Sie nimmt auf den Rat des Vaters eine Volontariatsstelle bei einer Zeitung an und beginnt zunächst kein Studium. Seine berufsbezogenen Erwartungen an die Tochter, die sich nicht wie bei Frau Clement in der Vorgabe eines Berufes, sondern in der Unterstützung bei der Suche nach einem angemessenen Ausbildungsweg zur Erreichung des Berufwunsches äußern, werden von Frau Schaal angenommen und umgesetzt. Doch bereits während ihrer Abiturphase wird Frau Schaal ungeplant schwanger und gibt ihre Stelle schließlich auf. Sie zieht mit ihrem Mann zusammen, der als Journalist und Redakteur bei einer Zeitung arbeitet. Detaillierte Beschreibungen der einzelnen Entwicklungen bleiben in dieser Eingangserzählung aus. Auffällig ist, dass nur die Informationen mitgeteilt werden, die Frau Schaal zur Darstellung dieser Lebensetappe als wichtig erachtet, so z. B. die finanzielle Lage der jungen Familie. Die bewertet Frau Schaal in dieser Zeit als sehr schlecht. Im Anschluss an eine berufliche Umorientierung ihres Mannes im Jahr 1965 beschließen sie gemeinsam nach Frankfurt zu ziehen. Im gleichen Jahr beginnt Frau Schaal ihr Studium der Soziologie an der Universität Frankfurt. Deutlich wird, dass Frau Schaal an ihrem Berufswunsch festhält und nun nach einem neuen Weg sucht, diesen Wunsch umzusetzen. Auch bei dieser Entscheidung orientiert sie sich erneut an den Erwartungen des Vaters. Seine Idee, Soziologie zu studieren, wird von Frau Schaal angenommen und umgesetzt (Z:23ff.). Zugleich ist erkennbar, dass Frau Schaal keine eigene Vorstellung davon hat, welche notwendigen Qualifikationen sie für den Beruf als Journalistin benötigt. Interessant dabei ist, dass sie sich nicht an der Vorstellung ihres Mannes, der bereits Journalist ist, orientiert, sondern explizit den Vater um Rat bittet, obwohl hier bereits auch eine räumliche Distanz und eine finanzielle Unabhängigkeit gegeben sind. Die explizit an sie gerichteten Erwartungen werden von Frau Schaal anerkannt. Anerkennung der erlebten explizit-politischen Einstellungen der Bezugspersonen In diesem Abschnitt wird der Typus ›Anerkennung der erlebten explizit-politischen Einstellungen9 der Bezugspersonen‹ anhand der Fälle Frau Esser, Frau Früh und Frau Behrens rekonstruiert. Wie sich in den vorliegenden Erzählabschnitten doku9

Unter der Kategorie ›politische Einstellung‹ werden in der vorliegenden Arbeit sowohl politisches Wissen und praktische politische Kenntnisse als auch die politische Gesinnung verstanden, die sich in der Alltagspraxis widerspiegeln. Werden die politischen Einstellungen im familiären Kontext erlebt, so kann es – wie hier aufzuzeigen sein wird – zu einer Anerkennung der erlebten politischen Einstellungen kommen, aber auch – wie noch im weiteren Verlauf der Auswertung aufzuzeigen sein wird – zur Distanzierung zu den politischen Grundeinstellungen der Bezugspersonen (siehe Typus ›Distanzierung zur erlebten explizit-politischen Einstellung der Bezugspersonen‹).

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mentiert, erkennen alle drei Frauen die erlebten politischen Einstellungen der Eltern/Erziehungsberechtigten, die sie im familiären Alltag erfahren, an. Frau Esser erwähnt erst im immanenten Nachfrageteil das politische Engagement ihrer Eltern, nämlich als sie aufgefordert wird, noch etwas ausführlicher über ihre Kindheit und Jugend zu berichten (Z:543-561): Esser: Aber mein Vater, //ja// das will ich noch dazu sagen das ist auch ganz wichtig, sehr sehr wichtig (2) ähm, mein Vater äh war äh Kommunalpolitiker (2) von also praktisch äh (.) der der der ersten Stunde sch=schon (.) ähm (2) für die CDU äh so=sozusagen der den Sozialflügel der CDU (.) ähm (.) war also im Gemeinderat und ähm meine ganze Kindheit ist von diesen, von diesen ähm Wörtern gefüllt, die ich erst mal beim Essen fielen die immer und ich verstand natürlich irgendwie nur Bahnhof aber das waren so (2) waren so phonetische (.) äh Wörter, die immer wieder kamen Haupt- und Finanzausschuss zum Beispiel oder (2) ähm Besatzungsgeschädigte //ja// oder so Zeug ja, das, das klang äh in meinen Kinderohren, das waren immer irgendwie ganz wichtige Sachen ich wusste natürlich gar nicht, was das ist, aber (2) langsam wu=wuchs ich da hinein und das war (.) ja das waren so die Aktivitäten meines Vaters, der war halt (2) äh praktisch die ganze Woche über (.) Sitzung, Sitzung das war auch immer das Zauberwort ja der Vater geht diese mu- hat heute wieder Sitzung. Und das betraf ähm also mindestens drei Abende äh beziehungsweise Nächte in der Woche (.) also (.) die Freude, dass er nach Hause kam war immer sehr kurz, erstens hat er dann sofort irgendwas äh im Garten oder beziehungsweise auf dem Acker gemacht (.) und äh dann war Essen und dann ist der Vater in die Sitzung.

Wie sich in diesem Abschnitt dokumentiert, kommt Frau Esser aus einem politisch aktiven Haushalt. Die Alltagspraxis der Eltern ist durch politische Themen und Aktivitäten geprägt. Ihr Vater war Kommunalpolitiker der CDU und mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Gemeinderat aktiv. In der Kindheit erlebt Frau Esser ihn als einen aktiven Politiker. Sie erinnert sich dabei vor allem an die Abwesenheit, aber auch an die Strukturiertheit des Vaters, der einen auf seine politische Aktivität konzentrierten Tagesablauf hatte, so dass Frau Esser nicht viel Zeit mit ihm verbringen konnte. Das Stichwort »Sitzungen« (Z:557) steht für Abwesenheit des Vaters, die Frau Essers Alltag und die Beziehung zu ihrem Vater prägen. Auch wenn sie im Grunde nicht versteht, welche Bedeutung die politischen Begriffe haben, die zu Hause benutzt werden, registriert sie jedoch in einer kindlichen Wahrnehmung, dass diese, ähnlich wie die Aktivität des Vaters, immer wieder an »Sitzungen« (Z:557) teilzunehmen, eine wichtige Bedeutung haben. Frau Esser macht also bereits in jungen Jahren erste Erfahrungen mit Politik, jedoch nicht aus Eigeninteresse an spezifischen politischen Themen, sondern vielmehr über die für sie noch unbestimmbaren politischen Aktivitäten des Vaters, was sich lediglich

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zunächst in der Abwesenheit des Vaters mehrmals in der Woche äußert. Im Vordergrund ihrer kindlichen Wahrnehmung stehen demnach nicht die konkreten politischen Inhalte, mit denen sich der Vater beschäftigt, sondern die Tatsache, dass sie kaum Zeit mit ihrem Vater verbringen kann und ihre »Freude, dass er nach Hause kam (…) immer sehr kurz« (Z:559f.) war. Sie erlebt im familiären Kontext einen Alltag, der durch politische Tätigkeiten, entsprechende politische Begriffe sowie die Abwesenheit des Vaters aufgrund seiner politischen Aktivität gekennzeichnet ist. Wie sehr Frau Essers Kindheit von den Nachkriegsfolgen des Zweiten Weltkriegs und somit auch von einem historisch politischen Thema überschattet ist, dokumentiert sich im folgenden Abschnitt (Z:563-578): Esser: das Haus meiner Eltern wurde äh beschlagnahmt (.) und die Besatzungsgeschädigten das war dann eben eine Gruppe derer, die sich da zusammengetan haben, diese ganze Siedlung in der dieses Haus steht (.) äh wurde von den Amerikanern besetzt //mmh// (.) dieses schon im letzten im letzten Kriegsjahr dann also nach Krieg nach Fünfundvierzig (2). Und äh meine Eltern mussten dann da raus mit inzwischen dann zwei (.) Kindern. Also ich bin dort noch geboren. Wir si- wir alle drei Kinder sind in diesem Haus äh geboren direkt (2) me- mein Bruder als Erster wie es frisch gebaut war neununddreißig, ich dann Ende fünfundvierzig (.) äh und meine Schwester wurde wieder darin geboren, als sich meine Eltern dann nach über neun Jahren da wieder einziehen konnten //mmh// (.). Und das war so=ne Begleitmusik äh in meiner Kindheit, dass dort wo wir wohnten (.) äh das eigentlich eben nicht das Eigentliche war, ja. Also vor allen Dingen für meinen Vater war das immer (2) eine ganz: äh aufreibende Situation. Wir wohnten dann in seinem Erbengemeinschaftshaus (.) mit (2) drei mindesten drei Etagen und noch einem Hinterhaus.

Das Haus ihrer Eltern wird im letzten Kriegsjahr von den Amerikanern beschlagnahmt. Mit dem erzwungenen Auszug aus dem Eigenheim beginnt ein neunjähriger Kampf der Eltern um das Haus. Die alternative Wohnsituation der Familie wird vor allem vom Vater nicht akzeptiert. Die politische Aktivität wird von ihm als Möglichkeit gesehen, sich gegen die erfahrene Ungerechtigkeit aufzulehnen. Auffällig ist die Langwierigkeit dieses Kampfes, welcher schließlich gewonnen wird, so dass die Familie nach fast einem Jahrzehnt wieder in das Haus einzieht, wo das dritte und jüngste Kind schließlich geboren wird. Frau Esser beschreibt diese Auseinandersetzung der Eltern mit den entsprechenden Behörden als »Begleitmusik« (Z:574) in ihren Kinderjahren und weist somit darauf hin, dass sie über die Eltern bereits sehr früh mit den Themen Verlust und Engagement in Berührung kommt, auch wenn sie noch gar nicht detailliert verstehen kann, was passiert. Das politische Engagement der Eltern kann von der jungen Frau Esser noch nicht als politisches Thema identifiziert werden. Sie bekommt lediglich vermittelt, dass der Wohnort,

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wo sie lebt, »nicht das Eigentliche« (Z:574f.) ist. Dennoch verstärkt sich hier die Annahme, dass Frau Esser bereits in ihrer Kindheit und über einen langen Zeitraum Erfahrungen mit politischen Themen macht. Die Alltagspraxis der Eltern ist in dieser Phase deutlich politisch geprägt. Dies wird auch im nächsten Erzählabschnitt deutlich. Nicht nur die Eltern sind politisch engagiert, sondern auch andere Familienmitglieder, mit denen sie in einem Mehrfamilienhaus zusammenlebt (Z:592-614): Esser: Und über diese Zeit (2) das ist durchaus für mich (.) ne sehr sehr wichtige (.) Zeit (.) gewesen (.) äh (.) die (.) ähm also diese Verwandtschaft in diesem Haus (2) war ähm wie so eine (.) wie so ein ein=eine ein Kuchenlage von verschiedenen politischen Haltungen auch //mmh// (2). Ähm also mein Vater war (.) ein CDU aktiver CDU-Gemeindepolitiker //ja//, dann gab es einen Onkel, der war (3) w:enn irgendwie was so bisschen was so SPD nahe, aber das war irgendwie so war nicht so politisch besonders ähm ausgeprägt, aber der arbeitete, was natürlich in dieser Konstellation ganz viel bedeutete, er arbeitete bei den Amerikanern (2) //mmh// ja //mmh// und ein Onkel, der gleichzeitig, was heißt gleichzeitig, der Grundschullehrer war ganz knochiger, knackiger Typ (.) er war Kommunist und war auch im Gemeinderat (.) äh solange die KPD damals noch nicht verboten war (2) und so hab ich (.) also sozusagen von Kindesbeinen auf (2) ähm erlebt, nicht nur gelernt, sondern erlebt (.) wie man mit äh Leuten ganz verschiedener (.) politischer (.) ausgesprochener Haltung oder Meinung (.) äh dennoch ganz eng zusammen wohnt //mmh// und auch also zusammenlebt und sich auch versteht (.) //ja//. Und mein Vater hat vor allen Dingen immer diesem KPD-Onkel gegenüber immer so (.) wenn wir später dann, ich hab mich ja dann auch ganz und gar nach links entwickelt (.) äh das gehörte dann aber eben dann auch offenbar mit dazu, dass mein Vater mich da nie (.) ähm also konfrontiert hat im Sinne von das geht jetzt aber zu weit (2) äh, sondern er hatte immer so=ne, redete zum Beispiel eben diesem Onkel gegenüber sehr=sehr=sehr ((macht den Vater nach)) obwohl er Kommunist war (.) //ja// äh ist er doch einfach ein prima Kerl und hat immer die richtigen Sachen gesagt.

Die Wohnverhältnisse sind insofern für Frau Essers Politisierung wichtig, als dass sie schon sehr früh die unterschiedlichen politischen Einstellungen ihrer Verwandten wahrnimmt. Während ihr Vater CDU-Gemeindepolitiker ist, ist einer ihrer Onkel Mitglied bei der SPD und arbeitet sogar für die Amerikaner und somit für das Siegerland, das für den Verlust des Eigenheims der Familie verantwortlich gemacht wurde. Ein anderer Onkel wiederum, den sie als »Kommunist« (Z:603) bezeichnet, hat eine linkssozialistische Politikorientierung und ist ebenso im Gemeinderat aktiv. Frau Esser erlebt in diesem »Erbengemeinschaftshaus« (Z:578) eine Gruppe von Menschen mit sehr unterschiedlichen und in Teilen auseinandergehenden politischen Meinungen, die sich trotz dieser politischen Differenzen verstehen und miteinander leben. Die einzelnen politischen Grundeinstellungen, die sie erlebt, werden von Frau Esser nicht hinterfragt. Vielmehr findet sie es interes-

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sant, die politischen Debatten zu verfolgen, und nimmt bereits als Kind beobachtend an den Diskussionen teil. Sie hebt aus heutiger Perspektive hervor, dass sie die Toleranz gegenüber anderen Meinungen nicht nur lernte, sondern auch im Alltag erlebte. In diesem Zusammenhang hebt sie besonders ihren Vater hervor, der ihr seine Toleranz indirekt vermittelte, indem er den anderen Familienmitgliedern trotz differenter Einstellungen und Gesinnungen im Alltag offen begegnete. Die Anerkennung der politischen Einstellung, die sie in der Alltagspraxis des Vaters erlebt, löst bei Frau Esser noch kein eigenes politisches Handeln aus, das über Zuhören und Fragenstellen hinausgeht. In der voruniversitären Lebensphase hinterfragt sie Entscheidungen und Einstellungen des Vaters nicht. Vielmehr entwickelt sie ein Interesse und eine Sensibilität für politische Themen der Familie. In einer Eigeninterpretation bewertet sie diese Erfahrung aus heutiger Sicht als wichtig für ihre eigene Orientierung, denn Frau Esser entwickelt sich, wie sie sagt, »ganz und gar nach links« (Z:610). Auch im Fall von Frau Früh dokumentiert sich die Anerkennung erlebter explizitpolitischer Einstellungen der Bezugspersonen. Im nachfolgenden Erzählabschnitt beschreibt Frau Früh die in der familiären Alltagspraxis erlebte politische Einstellung sowie das soziale Engagement ihrer Eltern (Z:28-37): Früh: Die waren sehr aktiv in der Studentenbewegung (2). Meine Eltern waren sehr interessiert an allem (.) linken Gedankengut sagen wir mal. Meine Mutter hat (.) ähm (4) meine Mutter hat äh staatsbürgerliche Lehrgänge für Frauen im Rahmen der Kirche //mmh// organisiert wo es ihr drum ging, dass Frauen (.) ähm ein eigene politische Überzeugung entwickeln sollen und nicht immer nur wählen sollen, was die Männer sagen //mmh// das war sozusagen die Idee dahinter=sie war ähm als junge Frau (2) schon in Kontakt gewesen mit der Frauenbewegung=einer linken Frauenbewegung in Schweden //mmh// (2) und ähm in den 30er Jahren (.) ähm ä::: war ihrerseits ähm:: eine promovierte Juristin.

In diesem Abschnitt ordnet Frau Früh zunächst die politische Grundhaltung der Eltern, die Interesse am »linken Gedankengut« (Z:29) hatten, in einer aus heutiger Perspektive linke politische Richtung ein und beschreibt im weiteren Verlauf ihrer Erzählung den beruflichen Werdegang sowie die Aktivitäten ihrer Mutter. Sie führt das politische Engagement der Mutter, »staatsbürgerliche Lehrgänge für Frauen« (Z:30f.) zu organisieren und somit politische Aufklärungsarbeit für Frauen zu leisten, auf den Kontakt zur »linken Frauenbewegung« (Z:35) in Schweden zurück und zieht zudem eine Verbindung zwischen politischem Engagement und Bildungsgrad der Mutter – ihre Mutter ist »eine promovierte Juristin« (Z:37). Frau Frühs Herkunftsfamilie kann sowohl als politisiert als auch als bildungsbürgerlich bezeichnet werden. Die emanzipatorischen Ideen werden in Lehrgängen von ihrer Mutter an

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andere Frauen weitergeben. Somit ist sie bemüht, Frauen politisch aufzuklären. Wie hier deutlich wird, ist die erlebte Alltagspraxis der Eltern von dem politischen Engagement der Mutter geprägt. Ob Frau Früh innerhalb der eigenen Familie über die Aktivitäten und Diskussionen ihrer Eltern deren politische Grundeinstellung übernimmt, bleibt an dieser Stelle unklar. Jedoch erlebt sie im Alltag die politische Gesinnung der Eltern sowie die politische Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifischen Themen. Die Gesinnung und die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Themen, darunter Frauenthemen, werden von Frau Früh anerkannt. Eigene politische Handlungen bleiben an dieser Stelle zunächst jedoch aus. Wie noch sichtbar werden wird, werden die hier anerkannten politischen Einstellungen zu einem späteren Zeitpunkt in der voruniversitären Lebensphase und unter anderen Bedingungen übernommen, so dass eigene konkrete politische Handlungen folgen (siehe Typus ›Kontinuität intergenerationell erlebter politischer Aktivitäten in jugendspezifischen Organisationen‹, Kap. V.1.2.4). Bereits in ihrer Eingangserzählung führt Frau Behrens, die 1949 geboren wird, die wahrgenommene politische Orientierung ihrer Mutter auf. Sie erinnert sich in diesem Zusammenhang an die Studentenproteste, die sie als Schülerin erlebte, beschreibt dabei eigene Empfindungen und begründet ihre Handlungen. In dem folgenden Abschnitt wird deutlich, dass auch Frau Behrens familiärer Alltag in Teilen politisch war und sie die politische Einstellung der Mutter über alltägliche Gespräche erlebt. Die hier erlebten explizit-politischen Einstellungen werden anerkannt (Z:43-55): Behrens: Und man hat schon, das muss ich auch dazu sagen, man hat auch schon mitgekriegt, also Ostermarschbewegung oder auch die Anfänge der Studentenbewegung. Und das hab ich damals sehr interessiert verfolgt, also da bei uns im Hause, meine Mutter war SPD Anhängerin, auch viel diskutiert worden ist und eigentlich äh: Politik in der Diskussion //mmh// immer -ne Rolle gespielt hat, ja. (.) Und äh ich weiß, dass ich ähm (.) damals also auch diese Prügelszenen dann gesehen habe //mmh// im Fernseher, in den Nachrichten, sehr empört war (.). Aber mich damals ähm weil auch das nicht unbedingt so -ne Atmosphäre in der Klasse war oder so, nicht getraut hab irgendwie dann selber zum Beispiel zum Ostermarsch zu gehen, °oder so°. Also so=ne Tradition gabs nicht. Also es gab sagen=wir=mal -n Interesse (.), aber ähm nicht unbedingt eins was sich direkt irgendwie in Handeln umgesetzt hat. (2) Na=ja und dann war die große Frage, was macht man nach dem Abitur.

Frau Behrens Mutter ist Mitglied der SPD. Hierüber finden politische Themen und darunter auch die ›1968‹er-Proteste bereits in der voruniversitären Lebensphase Einzug in den Lebensalltag von Frau Behrens. Diese werden gemeinsam mit der Mutter über Gespräche und Diskussionen regelmäßig vertieft. Die junge Frau Beh-

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rens bekommt zudem über die Medien die Demonstrationen und Osterunruhen der Protestierenden mit, die sie als Anfangsphase der Studentenbewegung einordnet. Obwohl sie an den Geschehnissen interessiert ist, diese also nachvollziehen kann, zudem gleichzeitig empört über die Brutalität der Polizei ist, kommt eine Teilnahme an den Protesten für sie nicht infrage. Es finden politische Diskussionen mit der Mutter statt, die jedoch nicht zu konkreten politischen Aktivitäten, wie die Partizipation an Demonstrationen, führen. Frau Behrens erkennt die erlebte politische Einstellung der Mutter gegenüber politischen Aktivitäten an und nimmt nicht an Demonstration teil, was in der Aussage »Also so 'ne Tradition gab's nicht« (Z:52f.) deutlich wird. Interessant ist hierbei insbesondere, dass sie als weiteren Grund für die fehlende Teilnahme das mangelnde Engagement ihrer Mitschülerinnen benennt. Politische Aktivität ist für Frau Behrens in dieser Zeit nur im Kollektiv, entweder mit der Mutter oder ihren Mitschülerinnen denkbar. Im Vergleich zu Frau Esser und Frau Früh, deren familiärer Alltag deutlich durch Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen politischen Themen und Engagements der Eltern politisch geprägt ist, bleibt unklar, ob Frau Behrens auch schon vor den Protesten ›1968‹ einen vergleichbaren politischen Alltag erlebte. Über die Anerkennung der explizitpolitischen Einstellung der Mutter finden zwar Diskussionen Einzug in den Alltag der Familie, wodurch sie eine Sensibilität für bestimmte politische Themen entwickelt, eine aktive politische Beteiligung an den ›1968‹er-Protesten bleibt, wie sie selbstinterpretierend deutet, aufgrund der fehlenden »Tradition« (Z:52) in dieser Lebensphase aus. Zusammenfassung des Typus – ›Politisierung über intergenerationelle Kontinuität‹ Das Gemeinsame und Typische der Fälle, die diesem Typus zugeordnet werden können, ist eine intergenerationelle Kontinuität über die Anerkennung der erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis, der explizit formulierten Erwartungen und der explizit-politischen Einstellungen der Bezugspersonen im familiären Alltag. In Interaktion mit den Bezugspersonen setzen sich die Frauen mit politisch-relevanten und explizit-politischen Themen auseinander, die sie im familiären Alltag erleben oder die an sie herangetragen werden. Über die Auseinandersetzung und die anschließende Anerkennung der Alltagspraxis der explizit formulierten Erwartungen und der explizit-politischen Einstellungen entwickeln die diesem Typus zugehörigen Frauen eine Sensibilität für politisch-relevante und explizit-politische Themen, die an dieser Stelle in einigen Fällen bereits auf das Geschlecht bezogen sind (wie beispielsweise geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Familie, Doppelrolle als Hausfrau und Berufstätige sowie emanzipatorische Aufklärungsarbeit für Frauen). Explizit-politische Handlungen bleiben bei den Fällen, die diesem Typus zugehören, im Rahmen dieser Orientierungen zunächst aus. Es ließen sich drei Untertypen abstrahieren, die im Folgenden zusammenfassend rekapituliert werden.

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›Anerkennung der erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen‹ Dieser Untertypus zeichnet sich dadurch aus, dass in den Fällen die erlebte politisch-relevante Alltagspraxis der Bezugspersonen in der voruniversitären Lebensphase anerkannt wird. Diese Anerkennung erfolgt in Bezug auf die Themenbereiche Bildung, Erwerbstätigkeit und geschlechtsspezifische Rollen- und Arbeitsteilung. So werden die Frauen im familiären Alltag direkt oder indirekt mit den Bildungspraktiken, der Berufstätigkeit wie auch der geschlechtsspezifischen Rollen- und Arbeitsaufteilung im Haushalt und im Beruf der Eltern/Erziehungsberechtigten/ Bezugspersonen konfrontiert. Die diesbezüglich von der älteren Generation gezeigten Vorstellungen, die im Familienalltag praktisch umgesetzt werden, werden von den Frauen im Kindes- und Jugendalter nicht infrage gestellt, sondern anerkannt. Die Auseinandersetzung mit der erlebten Alltagspraxis und ihre Anerkennung kann als politisch-relevant bezeichnet werden, auch wenn hierbei noch keine explizitpolitischen Handlungen sichtbar werden. Wie noch deutlich werden wird, gibt es in einigen Fälle, über die dieser Typus abstrahiert werden konnte, im weiteren Verlauf der voruniversitären Lebensphase und unter anderen Bedingungen Dissensen mit der erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen. Anhand dieser Fälle kann eine Orientierungsveränderung aufgezeigt werden. ›Anerkennung der explizit formulierten Erwartungen der Bezugspersonen‹ Das Typische der diesen Typus konstituierenden Fälle ist eine Anerkennung der explizit formulierten Erwartungen der Bezugspersonen. Bei der Auswertung wurde deutlich, dass einige Frauen die an sie explizit herangetragenen Bildungserwartungen sowie die berufsbezogenen Erwartungen der Bezugspersonen anerkennen und zunächst nicht infrage stellen. Dabei wird die Erwartung einerseits als Hilfestellung und elterliche Anleitung positiv erfahren und andererseits aber auch als Zwang wahrgenommen. Die diesen Typus konstituierenden Fälle weisen die Gemeinsamkeit auf, dass die Frauen jeweils die explizit formulierten Erwartungen annehmen und umsetzen, auch wenn diese möglicherweise nicht den subjektiven Interessen entsprechen. Die in der Auseinandersetzung gemachten Erfahrungen und gezeigten Verhaltensweisen, die mit der Anerkennung der explizit formulierten Erwartungen einhergehen, können als politisch-relevant bezeichnet werden, weil sie nicht unmittelbar politische Handlungen strukturieren, jedoch Einfluss auf späteres politisches Handeln nehmen können. Auch bei diesem Untertypus ist anzumerken, dass diese Orientierung nicht in allen Fällen dauerhaft aufrechterhalten wird. Bereits in der voruniversitären Lebensphase können bestimmte veränderte Bedingungen dazu führen, dass eine Distanzierung zu den explizit formulierten Erwartungen der Bezugspersonen entwickelt wird. Diese anschließende Orientierung kann dann politisches Handeln der Frauen strukturieren.

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›Anerkennung der erlebten explizit-politischen Einstellung der Bezugspersonen‹ Das Typische des dritten Untertypus ist die Anerkennung der politischen Einstellung der Bezugspersonen, die sie im familiären Alltag erleben. Gemeinsam haben die Fälle, die diesen Typus konstituieren, dass die Frauen jeweils innerhalb des familiären Alltags mit den politischen Einstellungen und den politischen Aktivitäten der Eltern in unterschiedlicher Form konfrontiert werden. In den einzelnen Fällen wurden Unterschiede hinsichtlich der politischen Aktivitätsform (z.B. Parteizugehörigkeit, Engagement in sozialen Bereichen, Zugehörigkeit zu öffentlichen Gremien), der politischen Gesinnung (politische Inhalte) sowie der Intensität politischer Aktivität der Bezugspersonen deutlich. Gemeinsam haben die diesem Typus zugehörigen Fälle jedoch, dass sie in einem politischen Haushalt aufwachsen und die im familiären Alltag erlebten politischen Einstellungen anerkennen. Diese Frauen entwickeln über die intergenerationelle Interaktion eine Sensibilität für explizitpolitische Themen, die jedoch an dieser Stelle innerhalb des familiären Alltags noch zu keinen politischen Handlungen führen. Wie für die diesem Typus zugehörigen Fälle noch deutlich werden wird, setzen die Frauen unter anderen Bedingungen und in Interaktion mit jugendspezifischen Bezugsgruppen und Organisationen die im Familienalltag erlebte politische Aktivität der Eltern zu einem späteren Zeitpunkt fort (siehe Typus ›Kontinuität intergenerationell erlebter politischer Aktivitäten in jugendspezifischen Organisationen‹). Hier wird eine Verbindung zwischen den Typen unterschiedlicher Typiken (Erfahrungsdimensionen) deutlich. V.1.1.2

Politisierung über intergenerationelle Distanzierung

Die im ersten Typus dieser Typik aufgezeigte intergenerationelle Kontinuität mit den erlebten politisch-relevanten und explizit-politischen Einstellungen und Praktiken der Bezugspersonen wird – wie anhand von vier Fällen aufgezeigt werden kann, die bereits den ersten Typus konstituierten – in der voruniversitären Lebensphase nicht dauerhaft aufrecht erhalten. Im Kontext unterschiedlicher Ereignisse und Erfahrungen erfolgte auf eine intergenerationelle Kontinuität insbesondere im Jugendalter eine intergenerationelle Distanzierung, so dass bereits im Kontext intergenerationeller Beziehungen Orientierungswandlungen in der voruniversitären Lebensphase deutlich wurden. In insgesamt sechs Interviews ließ sich eine solche Distanzierung zum Elternhaus aufgrund divergierender Vorstellungen hinsichtlich der politisch-relevanten Alltagspraxis, der explizit formulierten Erwartungen und der erlebten explizit-politischen Einstellungen der Bezugspersonen aufzeigen. Diese drei Untertypen werden im Folgenden fallübergreifend abstrahiert, worauf schließlich eine Zusammenfassung des Typus und der Untertypen erfolgt.

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Im nächsten Abschnitt wird zunächst anhand ausgewählter Erzählpassagen aus drei Interviews der Untertypus ›Distanzierung zur erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen‹ herausgearbeitet. Distanzierung zur erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen Die komparative Analyse der Textpassagen, in denen über intergenerationelle Beziehungen in der voruniversitären Lebensphase erzählt wurde, ergab für die Fälle Frau Esser, Frau Kielen, Frau Schaal eine gemeinsame Orientierung, die hier im Untertypus ›Distanzierung zur erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen‹ festgehalten wird. Das Typische dieser Fälle ist eine Distanzierung zur erlebten Alltagspraxis der Eltern. Diese Fälle konstituieren auch den Typus ›Politisierung über intergenerationelle Kontinuität‹, so dass mit der Herausarbeitung dieses Untertypus und auch eine erste Orientierungsveränderung herausgearbeitet wird. Zunächst wird der Untertypus über die Schilderungen von Frau Esser unter Berücksichtigung bereits herausgearbeitete Orientierungen rekonstruiert. Mit dem Schulwechsel auf ein Gymnasium in einer benachbarten Stadt wird Frau Esser zu einer »Fahrschülerin« (Z:43) und verliert dadurch den Kontakt zu ihren bisherigen Schulfreundinnen. Auf dem Gymnasium hat Frau Esser zunächst Schwierigkeiten, sich mit der neuen Situation und Umgebung zurechtzufinden und diese anzuerkennen. Schließlich lernt sie ein Mädchen kennen, mit der sie ihren Schulweg gemeinsam bestreiten kann. Hieraus entstehen einerseits eine längere Freundschaft und andererseits der Kontakt zur Familie der Freundin. In dieser Familie erlebt sie einen ihr bis dahin fremden Familienalltag, den sie anerkennt und an dem sie sich in dieser Lebensphase orientiert (siehe bereits herausgearbeiteten Untertypus ›Anerkennung der erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen‹). Die Mutter der Freundin wird zu einem Vorbild, so dass sich Frau Esser sogar bei der Wahl des Berufes nach dem Abitur an ihr orientiert (Z:128-131). Über die Anerkennung der erlebten Alltagspraxis der Familie ihrer Freundin, insbesondere der Stiefmutter der Freundin, distanziert sie sich von der erlebten Alltagspraxis der eigenen Eltern. Im folgenden Abschnitt beschreibt und bewertet sie die Reaktion ihrer Eltern auf ihr Interesse an der Alltagspraxis der anderen Familie und die damit einhergehende Distanzierung zur eigenen Familie (Z:80-91): Esser: Und ich kann eigentlich auch meine Eltern und insbesondere meine Mutter noch immer im Nachhinein äh für ihre Toleranz bewundern (.) mit der sie das so (3), na sagen wir mal ertragen hat, //mmh// dass ich da doch sehr, ich war sehr häufig dort in dieser Familie (.) und äh hab da immer (.) so diese Standards dann auch heftig äh vertreten, das find ich ist das Nor-

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malste von der Welt ((lachen)). Aber sie hat mir, also sie haben mir halt eben doch auch wirklich Angebote gemacht (.) und ich f:ühlte mich nicht nicht äh, ähm (2), wie soll ich sagen, ich fühlte mich nicht ausgegrenzt oder so=was, weil eben diese Freundin von mir äh ja eben auch nicht die leibliche Tochter war und dadurch war so=ne Haltung von (.) also bewusster was dafür zu tun ja, von dieser Stiefmutter ähm (.) die war so spürbar und insofern (.) ähm haben wir das sozusagen gemeinsam dann erlebt.

Frau Esser erinnert sich, wie ihre Eltern die häufige Abwesenheit ihrer Tochter und das Hineintragen der Erfahrungen in die eigene Familie tolerieren und »ertragen« (Z:83). Die andere Familie wird für Frau Esser dadurch attraktiv, weil sie insbesondere von der Stiefmutter der Freundin »Angebote« (Z:86) erhält, die ihr in ihrer eigenen Familie nicht dargeboten werden. In welchen konkreten Bereichen eine Förderung stattfindet, bleibt hier unklar. Es wird deutlich, dass sie Differenzen in ihren eigenen Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten in beiden Familien sieht. An dieser Stelle werden die Bildungsambitionen von Frau Esser offensichtlich. Obwohl sie auch schon von ihren Eltern, die an eine gute schulische Ausbildung ihrer Tochter sehr interessiert sind (Z:5-26), eine Förderung erhält, erscheinen ihr die Angeboten der Familie ihrer Freundin attraktiver. Die Beziehung zwischen Frau Esser und der Stiefmutter ihrer Freundin erhält zudem eine emotionale Intensität, da das junge Mädchen Zuspruch bekommt und als Teil der Familie anerkannt wird. Den Grund für diese Gleichbehandlung sieht sie selbstinterpretierend darin, dass ihre Freundin auch nicht das leibliche Kind dieser Frau war. Insgesamt zeigt sich, dass sich Frau Esser von der eigenen Familie distanziert und in der anderen Familie eine Alltagspraxis erlebt, die emotionale Begeisterung auslöst sowie den Wunsch, Teil dieser Familie zu werden. Die Distanzierung zur Alltagspraxis der eigenen Eltern entwickelt sie jedoch nicht nur über die Anerkennung der erlebten Alltagspraxis der Familie ihrer Freundin, sondern auch über die Wahrnehmung unterschiedlicher intellektueller Entwicklungen und der fehlenden Unterstützung im schulischen Bereich. Dies beschreibt sie im folgenden Abschnitt (Z:102-120): Esser: Und ich war dann so dieses Sandwichkind //mmh// in der Mitte (.) äh wo ((äfft nach)) ach bei der geht das alles so ((

)) gar nicht drum zu kümmern, die macht das alles ganz alleine

((lacht)). Was äh:m halt auch nur zum Teil stimmte nicht. Ich hatte dann einfach das Gefühl (.) äh ich konnte (.) das auch mit meinen Eltern nicht mehr besprechen, was ich da eigentlich erlebt habe in der Schule, sie kannten es nicht (.) und sie hatten eigentlich immer so=ne Haltung, insbesondere meine Mutter, mein Vater war da (.) etwas distanzierter, aber auch so auch unterstützend (.) ähm, meine Mutter hatte immer so die, so=ne Haltung wenn es Konflikte gab hat sie immer gesagt: ((imitiert nach)): Wenn du schon auf so eine Schule gehst, dann verhalte dich auch endlich entsprechend ja. (.) Also wenn ich schlechte Kopfnoten hatte

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oder einen Eintrag im Klassenbuch und so, das hat sie immer sehr aufgebracht, so als müsste ich mir das dann immer auch mit äh gutem Betragen (.) ne (.) äh honorieren (2) ((schnalzt)). Das hat sich dann aber so (.) also das bedeutete dann, dass ich einfach ähm mit den Eltern darüber wirklich nicht, in -nem Austausch sein konnte und (2) also das, was das emotional bedeutet diesen Weg zu gehen und sich dann auch so, eigentlich auch vom Elternhaus immer weiter zu entfernen (2) das war (2) das fand ich schon -ne ziemlich schwierige (.) Zeit.

Im Laufe der Schulzeit ergeben sich für Frau Esser Schwierigkeiten im Umgang mit ihren Eltern. Frau Esser absolvierte das Gymnasium im Vergleich zu ihrem Bruder, wie sie sagt, »komplikationslos« (Z:98). Dieser Umstand und die Tatsache, dass sie das mittlere Kind in der Familie ist, bewertet sie als Grund für die Unbesorgtheit ihrer Eltern. Einerseits bestärkt sie die Annahme der Eltern, dass sie alleine zurechtkommt, andererseits wird aber auch deutlich, dass sie sich von ihren Eltern im schulischen Bereich mehr Unterstützung wünscht, die sie jedoch nur begrenzt erhält. Es werden Bildungserwartungen an sie herangetragen, aktive Unterstützung und Verständnis für schulische Probleme bleiben jedoch aus und werden nicht als notwendig erachtet – »ach bei der geht das alles so« (Z:103f.). Als Grund für die Teilnahmslosigkeit ihrer Eltern benennt Frau Esser die Unwissenheit der Eltern, die keine höhere Schule besucht haben – »sie kannten es nicht« (Z:107f.). Über die Wahrnehmung eines fehlenden Verständnisses der Eltern und deren geringen Beteiligung an ihrem Schulalltag distanziert sich Frau Esser von ihnen und lässt sie nicht an ihren Problemen und Erfahrungen in der Schule teilhaben. Die Distanzierung zur erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Eltern geht im Fall von Frau Esser einerseits mit der Anerkennung der Familie ihrer besten Freundin einher, in der sie neue Erfahrungen macht und Handlungsmöglichkeiten und Unterstützung erfährt, die ihr in ihrer eigenen Familie verwehrt bleiben. Darüber nimmt sie andererseits verstärkt Unterschiede in der Erwartungshaltung der Eltern und ihren eigenen Erwartungen gegenüber den Eltern wahr, was ihre Distanzierung verstärkt. Auch in dem folgenden Erzählabschnitt aus dem Interview mit Frau Kielen dokumentiert sich eine Distanzierung zur politisch-relevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen. Frau Kielen nimmt Unterschiede in den Alltagspraktiken ihrer Eltern und denen ihrer Klassenkameradinnen wahr, die sie selbstinterpretierend aus heutiger Perspektive auf die unterschiedliche soziale Herkunft zurückführt. Über die Wahrnehmung dieser Unterschiede beginnt sie sich von der erlebten Alltagspraxis ihrer Eltern zu distanzieren (Z:655-664): Kielen: Ein anderer Punkt war, war ja das wir wie gesagt keine bürgerliche Familie waren und das gab natürlich auch entsprechende Erfahrungen von, also die ich gemacht habe mehr noch als meine Brüder, weil ich natürlich in einem bürgerlichen Kontext im Gymnasium war, K.-Stadt

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Mädchenschule ja. //mmh// Die Mädchen mit denen ich zu tun hatte, waren dann eben die Arzttochter und die Rechtsanwaltstochter und so weiter und so weiter und so weiter, mit den entsprechenden Biographien und Hintergründen. Das hatte ich alles nicht. Also ich war schon auch eine Außenseiterin im gewissen, //mmh// nicht gerade eine Außenseiterin, aber es gab wenige wie ich. Also ich fühlte mich irgendwie auch (.) ja ein Stück weit eine Außenseiterin.

Am Mädchengymnasium in K.-Stadt nimmt Frau Kielen Differenzen zwischen ihrer Familie und den Familien ihrer Schulkameradinnen wahr. In diesem Zusammenhang betont sie rückblickend, dass sie aus einer nicht-bürgerlichen Familie stammte, jedoch in einem »bürgerlichen Kontext« (Z:658), nämlich auf einem Mädchengymnasium, sozialisiert wird. Die Unterschiede zwischen ihrer Familie und der Familien ihrer Mitschülerinnen zeichnen sich für Frau Kielen, aus heutiger Perspektive interpretierend, insbesondere in den beruflichen Qualifikationen und den Tätigkeiten der Eltern ihrer Mitschülerinnen ab, die im Vergleich zu ihren eigenen Eltern »entsprechende Biographien und Hintergründe« (Z:661) aufwiesen. Da sie nicht über einen ähnlichen familiären Hintergrund verfügt, bewertet sie sich selbst rückblickend als »Außenseiterin« (Z:663), revidiert diesen Begriff dann aber und gibt sich mit der Aussage »es gab wenige wie ich« (Z:663) einen besonderen Status. Wie auch in anderen Passagen deutlich wird, stammt sie nicht aus einem Akademikerhaushalt, erlebt aber starke Bildungsambitionen ihrer Eltern, die an der höheren Bildung ihrer Tochter interessiert sind (Z:625-641). Frau Kielen, die Ende der 1950er Jahre das Gymnasium besucht, ist eine Bildungsaufsteigerin.10 Differenzen in der sozialen Herkunft erlebt sie auch während eines Auslandaufenthaltes. Hier lebt sie bei einer Familie, deren Alltagspraxis von der ihrer eigenen Familie abermals abweicht – »als ich nach Amerika ging (…) lebte ich in einer stinkreichen reaktionären Familie« (Z:687). Hier lässt sie sich auf die neuen Möglichkeiten, die ihr angeboten werden, ein – »ich hab da angefangen Tennis zu spielen, also das gehörte in meiner Familie sozusagen absolut nicht dazu« (Z:690). Nach ihrer Rückkehr aus den USA lernt Frau Kielen mit 17 Jahren ihren zukünftigen Ehemann kennen, den sie kurze Zeit später heiratet. Dieses Ereignis beschreibt sie im folgenden Abschnitt (Z:47-55): Kielen: Ich hab dann relativ früh meinen ähm Mann kennengelernt, nämlich schon mit, ich war ein Jahr in Amerika muss man sagen als Austauschschülerin mit siebzehn (.) und um den Dreh eigentlich als ich zurück kam, war ich dann schon mit dem Mann befreundet nämlich mit dem Herrn K. mit dem, den ich dann später auch geheiratet hab, das heißt ich habe sehr früh geheiratet, was meine Eltern auch nicht so gut fanden, //mmh// aber was mir damals irgendwie gut

10 Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. IV.2.

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getan hat, also ich war dann sozusagen aufgehoben, äh //mmh// beziehungsmäßig und musste mich da nicht auf dem freien Markt //mmh// äh durchschlagen, und so //((lachen))//.

Frau Kielen entscheidet sich mit der frühen Heirat für eine konventionelle und bürgerliche Lebensweise und distanziert sich darüber von den Vorstellungen ihrer Eltern, die eine frühe Heirat ablehnen. Ihre Entscheidung zur Heirat trifft die junge Frau Kielen in einer Lebensphase, die durch ambivalente Vorstellungen von Möglichkeiten und Grenzen eigener erfahrener und beobachteter Alltagspraxis – sowohl die ihrer eigenen Eltern als auch die ihrer bürgerlichen Mitschülerinnen und der »stinkreichen reaktionären« (Z:686) amerikanischen Gastfamilie – geprägt ist. Aus heutiger Perspektive rechtfertigt Frau Kielen ihre Entscheidung, indem sie darauf hinweist, dass sie durch die Heirat »aufgehoben« (Z:54) war und somit gleichzeitig ihre Suche nach einem geeigneten Partner ein Ende hatte.11 Auf die Aufforderung, Frau Schaal möge etwas über ihre Kindheit erzählen, und auf die darauf folgende spezifischen Frage, ob sie Geschwister hatte, beschreibt sie kurz die Familienverhältnisse und bewertet diese. Im folgenden Abschnitt wird eine Distanzierung zur Alltagspraxis der Eltern deutlich, die auf das Erleben von schwierigen innerfamiliären Beziehungen zurückzuführen ist, so dass auch über diesen Fall der Untertypus ›Distanzierung zur erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen‹ abstrahiert werden kann (Z:190-195): Schaal: Nein nein, also (2) Gott mein Vater der kam neunundvierzig erst aus der Kriegsgefangenschaft zurück //ja// und dann sind wir nach D-Stadt gegangen, weil er dort seine alte Arbeitsstelle hatte (.) und ähm meine Mutter war Hausfrau und (3) ich bin da aufs Gymnasium gegangen und meine Eltern haben eine ziemlich unglückliche Ehe geführt und ich hab mich deshalb eben umso intensiver mit meinen Klassenkameradinnen beschäftigt.

Frau Schaal verneint die Frage nach Geschwistern und kommt darüber zur Darstellung der familiären Verhältnisse, die vom Krieg gezeichnet sind. Frau Schaal wird 1940 und somit in den Kriegsjahren geboren. Bei Kriegsende ist sie gerade einmal fünf Jahre alt. Die Lebensjahre fünf bis neun verbringt sie ohne Vater. Die herrschenden Lebensverhältnisse verändern sich für Frau Schaal, als ihr Vater 1949 aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt. Zu diesem Zeitpunkt ist sie neun Jahre alt. Danach versucht die Familie zur Normalität zurückzukehren. Sie ziehen in die Stadt zurück, in der Frau Schaal geboren wurde, damit der Vater seine alte Arbeitsstelle 11 Frau Kielens Entscheidung, früh zu heiraten, ist Anfang der 1960er Jahre nichts Ungewöhnliches. Die sogenannte ›Frühehen‹ stellten in dieser Zeit für junge Frauen häufig die einzige Möglichkeit dar, aus dem Elternhaus herauszutreten; vgl. Kap. IV.1.

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wieder aufnehmen kann. Ihre Mutter ist nicht berufstätig, so dass in der Familie eine traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung herrscht. Die Ehe der Eltern erlebt Frau Schaal als krisenhaft und »unglücklich« (Z:194), ohne jedoch Konfliktpunkte und Auseinandersetzungen der Eltern zu explizieren. Sie distanziert sich in dieser Zeit von ihrem Elternhaus und intensiviert den Kontakt zu ihren Klassenkameradinnen – »und ich habe mich deshalb ebenso umso intensiver mit meinen Klassenkameradinnen beschäftigt« (Z:194f.). Während sich Frau Esser und Frau Kielen aufgrund der Erfahrungen, die sie in anderen Familien machen, von der eigenen Herkunftsfamilie und ihren Praktiken zu distanzieren beginnen, ist es im Fall von Frau Schaal die als schwierig erlebte Beziehung der Eltern, die zu einer Distanzierung führt. Distanzierung zu explizit formulierten Erwartungen der Bezugspersonen In den Interviews mit Frau Kasten, Frau Neuer und auch Frau Schaal dokumentierte sich im Jugendalter eine gemeinsame Orientierung, die fallübergreifend im Untertypus ›Distanzierung zu explizit formulierten Erwartungen der Bezugspersonen‹ zusammengefasst werden kann. Die von den Bezugspersonen explizit an die Fälle herangetragenen Erwartungen werden von den Frauen abgelehnt. Nach der Aufforderung, Frau Kasten möge mehr über ihre Familie berichten, beschreibt sie, wie im folgenden Abschnitt deutlich wird, die erlebten Geschlechterverhältnisse innerhalb ihrer Familie und den Bildungshintergrund ihrer Eltern (Z:279-300): Kasten: Mmh also Geschwister //oder Eltern// hab ich ja schon gesagt //ja// eine Schwester und zwei: Brü:der. //ja// Der Älteste ist (.) äh mein Bruder und der Jüngste ist ein Bruder. (2) Ähm (2) eigentlich war das selbstverständlich, dass man Abitur machte das ist aber dann wenn man so will schon -ne Frage (.) äh ja des Bildungsbürgertum //mmh// das sorgte auch dafür, dass auch die Töchter Abitur haben. Mit dem Studium, meine Mutter hatte nicht studiert, was sie immer sehr bedauerte. (.) Es lag am Krieg aber irgendwie war das in ihrer Familie //mmh// (.) auch nicht u:nbedingt so angelegt, sie sollte lieber (.) Literaturkreise machen oder (.) //mmh// so: auf der Ebene. (4) Mein Vater hatte vier Kinder das war ihm glaub ich zum Teil zu viel, (.) weil er die alle zahlen musste (.) also es gab kein BAföG damals oder er verdiente mehr als das BAföG (.) //mmh// als das BAföG gezahlt wurde. (.) Ähm und er wollte, ich bin die Dritte, (.) er hatte die Vorstellung, die Jungs müssen Abitur machen, weil sie -ne Familie ernähren müssen, (.) meine Schwester die damals: ähm (2) nicht so:: (.) wie soll man sagen äh (.) eher zurückhaltend war: und nicht so ein:: äh (.) nicht so viel: ähm: Freunde hatte oder so was, da dachte die muss auf da weiß man nich, ob sie heiratet //mmh// die muss auf jeden Fall -nen Beruf haben. Bei mir meinte er ich brauch nicht -nen Beruf haben, sondern äh (.) das

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könnte er sich vielleicht ersparen. //mmh//(.) Aber als ich dann (.) doch das dezidiert wollte, hat er mir dann auch äh keinen Stein ins Weg //mmh// gelegt, (.) aber ich musste es halt (.) in gewisser Hinsicht durchsetzen, aber (.) nicht mit so ganz furchtbar viel Willen, das nicht.

Frau Kasten, die 1948 geboren wird, erfährt es als »selbstverständlich« (Z:280), das Abitur zu machen, und stellt diese Möglichkeit selbstinterpretierend in einen Zusammenhang mit ihrer bildungsbürgerlichen Herkunft. Den Zugang zur Universität muss sie sich jedoch erkämpfen. Frau Kasten erlebt in ihrer Familie eine geschlechtsspezifische Rollen- und Arbeitsteilung, die sie auf eine längere familiäre Traditionslinie zurückführt. Obwohl sie das Abitur machen darf und hierbei auch gefördert wird, ist der Besuch einer Universität nicht selbstverständlich und wird vom Vater zunächst abgelehnt. Frau Kasten soll über eine Eheschließung ihren Platz in der Gesellschaft bekommen. Eine berufliche Qualifizierung wird vom Vater als eine Lösung für Frauen bewertet, die er auf dem ›Heiratsmarkt‹ als wenig chancenreich einschätzt, weshalb er ihrer Schwester, die er solchermaßen einschätzt, erlaubt, einen Beruf zu erlernen. Hierbei wird deutlich, dass die Bildungserwartungen der Eltern, vor allem die des Vaters, mit einem traditionellen Geschlechterrollenbild verbunden sind. Dies spiegelt sich auch in der Berufsbiographie der Eltern wider, die kurz geschildert wird. Frau Kasten beschreibt in diesem Abschnitt, dass auch ihre Mutter nicht studieren durfte, was »sie immer sehr bedauerte« (Z:283). Zwei Gründe werden aus heutiger Perspektive aufgeführt: Einerseits nennt sie den Krieg und verweist somit auf gesamtgesellschaftliche Bedingungen, die ihrer Mutter den Zugang zu einer institutionsgebundenen höheren Bildung über die Universität verwehrten. Andererseits nennt sie die geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen jener Zeit, die über die Familie und bestehende traditionelle Überzeugungen vermittelt wurden. Frau Kastens Mutter nimmt nach ihrer Schulzeit anstelle einer institutionsgebundenen akademischen Bildung an Literaturkreisen teil und erfährt über diese eine allgemeine Weiterbildung. Frau Kastens Vater übernimmt in der Familie eine nach außen hin repräsentative Rolle. Die Ablehnung der geäußerten Bildungsbestrebungen des Vaters nimmt Frau Kasten nicht an, sondern setzt die Aufnahme eines Studiums gegenüber den Eltern durch. Damit lehnt sie die an sie formulierten Erwartungen der Eltern ab. Zwar relativiert sie aus heutiger Perspektive die Auseinandersetzung mit ihrem Vater, doch gleichzeitig wird auch deutlich, dass sie die Aufnahme eines Studiums erkämpfen musste. Die Abwehr der Eltern erfährt sie nicht als radikal, so dass diese Meinungsdifferenz zu keinem Bruch mit dem Elternhaus führt. Die vorherrschende konventionelle Arbeitsaufteilung innerhalb der Familie wird auch im folgenden Abschnitt deutlich. Die Ablehnung dieser Verhältnisse äußert sich nicht nur im Verhalten gegenüber dem Vater, sondern auch gegenüber ihrem jüngeren Bruder (Z:309-313):

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Kasten: Ja dann war ei:gentlich immer selbstverständlich, dass die: Frau:en mehr in der Küche halfen, (.) was zu heftigen Konflikten mit meinem kleinen Bruder führte, (.) der erzählt noch hö:chstdra:matisch, dass ich ihn an den Haaren in die Küche geschleift: hätte, (.) blutend hat er dann abwaschen müssen. //mmh// @Das waren Geschichten@.

Die erlebte traditionelle geschlechtsspezifische Rollen- und Arbeitsteilung lehnt Frau Kasten personenbezogen ab. Während sie diese bei den Eltern nicht infrage stellt, führen die Wahrnehmung von Differenzen in der familiären Arbeitsteilung nach Geschlechtern jedoch zu einem Protestverhalten, das sie gegenüber ihrem Bruder äußert. Es kommt sogar zu Handgreiflichkeiten, in Folge derer der Bruder von ihr gezwungen wird, den Abwasch zu tätigen. Frau Kasten lehnt sich somit nicht nur gegen den Vater auf und ›erkämpft‹ sich den Zugang zur Universität, sondern sie geht sogar noch einen Schritt weiter und lehnt die Verhaltensweise ihres Bruders, der die Rollen- und Arbeitsteilung der Eltern praktiziert, ab. Auch über die Schilderungen von Frau Neuer, die 1940 geboren wird, lässt sich der Untertypus ›Distanzierung zu explizit formulierten Erwartungen der Bezugspersonen‹ herausarbeiten. Frau Neuer wächst auf einem landwirtschaftlichen Hof auf, den die Eltern gemeinsam betreiben. Auffällig in ihrer Eingangserzählung ist, dass sie in der Erzählung den Fokus auf eine Beschreibung von Konflikten zwischen ihr und ihren Eltern legt und dabei den Versuch unternimmt, das Verhalten der Eltern aus heutiger Perspektive zu interpretieren und zu begründen. Die beschriebenen Konflikte betreffen die in der familiären Alltagspraxis an sie herangetragenen Erwartungen in Bezug auf Bildung sowie geschlechtsspezifischer Rollen- und Arbeitsteilung. In diesem Fall wird zudem – ähnlich wie auch bei Frau Kasten – deutlich, dass die Bildungsbestrebungen der Eltern, insbesondere des Vaters, eng mit einem Geschlechterrollenbild verbunden sind, das sich in der Alltagspraxis der Familie widerspiegelt. Frau Neuer beginnt ihre Eingangserzählung mit einer Beschreibung der Lebensverhältnisse, in die sie hineingeboren wird, und geht dann über zur Beschreibung der Konflikte zwischen ihr und ihren Eltern, die sich aufgrund differenter Bildungserwartungen und geschlechtsspezifischen Rollen- und Arbeitsteilungen entwickeln. Die Gründe für die Entscheidungen und für das Handeln der Eltern sieht Frau Neuer rückblickend zum einen in den gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen jener Zeit und zum anderen in der traditionellen Lebensweise der Eltern (Z:3-13): Neuer: Die ganze Lebensgeschichte @(.)@. Na gut, also ich bin 1940 geboren auf einem Bauernhof, hatte (.) vier Geschwister, also wir waren zu fünft. Ich habe sehr darum gekämpft, die höhere

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Schule besuchen zu dürfen, weil ich die Erste aus meiner ganzen Familie, also aus der Großfamilie //ja// war, die eine höhere Schule (.) besuchen wollte. (.) Ähm, es war halt damals noch alles sehr traditionell, also meine Eltern, besonders mein Vater ist davon ausgegangen, dass ich heirate und (.) äh deshalb auch keine bessere Schulbildung brauche. Ich habe es durchgekämpft, also es war richtig ein Kampf. Mein Vater hat sogar gesagt äh, er hofft, dass ich durch die Prüfung falle, dort musste man noch eine Prüf- eine Aufnahmeprüfung machen. Das war dann das Mädchengymnasium in D-Stadt (Mitteldeutschland).

Frau Neuer wächst auf dem elterlichen Bauernhof gemeinsam mit vier Geschwistern auf. Die familiären Lebensverhältnisse und ihre Erinnerung an Kindheit und Jugend sind geprägt von einem »Kampf« (Z:10) zwischen ihr und ihren Eltern, in dem es zunächst um den Besuch des Gymnasiums und um eine höhere Bildung geht. Frau Neuer ist die Erste in der Familie, die das Abitur anstrebt und große Bildungsambitionen zeigt, die jedoch vom Vater abgelehnt werden. Aus heutiger Perspektive führt sie das Unverständnis ihrer Eltern auf die fehlende Bildung ihrer gesamten Familie zurück, wobei sie auch ihre Großeltern darin einschließt, um auf eine familiäre Traditionslinie aufmerksam zu machen. Des Weiteren sieht sie einen Grund für die Ablehnung des Schulbesuchs im traditionellen Geschlechterrollenverständnis ihrer Eltern. Vor allem ihr Vater vertritt die Meinung, dass eine höhere Bildung für verheiratete Frauen überflüssig sei, und sieht in diesem Zusammenhang vor, dass Frau Neuer früh, nach Erreichen der Mittleren Reife, heiraten soll (Z:7ff.). Wie sehr ihr Vater von einem Besuch des Gymnasiums abgeneigt ist, verdeutlicht sie mit der Darstellung der Reaktion des Vaters auf ihr Vorhaben, an der Aufnahmeprüfung des Gymnasiums teilzunehmen. Frau Neuer erlebt im Jugendalter die geschlechtsspezifischen Rollenmuster, die von ihren Eltern gelebt und auch an sie herangetragen werden, als Hindernis für die Umsetzung eigener Interessen und Lebensziele. Sie entscheidet sich, aktiv gegen die Wünsche der Eltern zu agieren und ihre eigenen Ziele durchzusetzen. Sie bemüht sich aktiv um die Aufnahme an einem Gymnasium und distanziert sich von den explizit an sie herangetragenen Erwartungen ihrer Eltern. Woraus sich Frau Neuers Wunsch entwickelt und welche Motive sie bewegen, bleibt an dieser Stelle unklar. Durch ihr Verhalten verliert sie den Rückhalt und die emotionale Zuwendung ihres Vaters. Im weiteren Verlauf des Interviews schildert Frau Neuer, wie im Folgenden deutlich wird, die Probleme, die sich für sie innerhalb der Familie ergeben, detaillierter. Mit der Entscheidung, ins Ausland zu gehen, findet Frau Neuer dann schließlich die Möglichkeit, die Distanz zum familiären Alltag und zu den hier formulierten Erwartungen der Eltern über eine räumliche Entfernung zu verstärken (Z:20-42):

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Neuer: Ähm, also das hat, es bedeutet, ich war dann auch immer sehr (.) also das war im Grunde, war die Schule und dann war der Hof und der Hof war immer noch der Mittelpunkt unser aller Leben. Also ich hab in=musste dann mit der mittleren Reife abgehen. (.) Ähm, weil (.) ja also es hatte sich, ich war dann sechszehn und da hatte sich schon ein Bewerber ähm (.) vorgestellt, der hatte einen großen, schönen großen Hof, ich wollte aber nicht, ich war außer-, aber auf jeden Fall haben meine Eltern dann entschieden, ich muss eine landwirtschaftliche Lehre machen, denn wenn man einen Bauern heiratet und dann wieder Leute, also Frauen ausbilden will für den Beruf, dann muss man Meisterhausfrau sein und deshalb habe ich eine landwirtschaftliche Lehre gemacht in B-Stadt (bei D-Stadt) auf einem Rittergut. (2) Also ich war bei der Gutsfamilie und es war ziemlich schlimm, //hmm// weil es war äh ich habe nichts gelernt, also was ich nicht schon vorher auch konnte. Es war wie gesagt das erste Lehrjahr, ich habe dann versucht wieder auf die Schule zurückzugehen (.) und hatte eine Freundin damals, die hat mir auch geholfen und die Direktorin hat sogar gesagt, ja ich könnte zurückkommen, ich hatte relativ gute Leistungen, ich war nicht besonders gut, aber (2). So und dann hat mein Vater das aber verhindert (.) und dann war ich den Sommer zu Hause, (.) weil mein Bruder beim Bund war, also beim Militär und dann war ich mehr oder weniger ziemlich perspektivlos und dann bin ich nach England als Au-pair-Mädchen. Habe da Englisch gelernt. Dann bin ich als Au-pair-Mädchen nach Frank- nach Paris, hab französisch gelernt //hmm//, das war damals eine Möglichkeit für junge Frauen oder junge Mädchen rauszukommen.

Frau Neuers Kindheit und Jugend ist von den Folgen des Krieges geprägt, die für sie vor allem mit einer Arbeitsbeteiligung am Hof der Eltern verbunden sind. Ihre Eltern sind Landwirte und beziehen ihre Kinder, ohne geschlechtsspezifische Unterschiede zu machen, in die Arbeit am Hof mit ein. Damit tritt die Schule für sie zunächst in den Hintergrund ihres Alltags und ihre Schulaufgaben werden oft vernachlässigt. Der Hof und die alltägliche Arbeit bestimmten somit auch die familiäre Alltagspraxis und das Interesse der Eltern. Frau Neuer verlässt die Schule auf Wunsch der Eltern mit der Mittleren Reife. Sie soll bereits mit sechzehn Jahren einen Bauern mit einem großen Hof zum Ehemann nehmen. Frau Neuer lehnt die Heirat jedoch ab. Alternativ zur Heirat soll Frau Neuer nun eine »landwirtschaftliche Lehre« (Z:29) machen, um nach einer späteren Heirat ihren eigenen Hof gut leiten und andere Frauen für die Arbeit auf dem Hof ausbilden zu können. Die verweigerte Eheschließung wird von den Eltern lediglich als Aufschub einer Heirat bewertet. Frau Neuers Eltern haben eine klare Vorstellung davon, wie die Zukunft ihrer Tochter aussehen soll, und tragen ihre Erwartungshaltung an Frau Neuer heran, die diese zunächst nur teilweise befolgt. Über die Ablehnung des Schulabbruchs und ihrem Versuch, die Schule erneut aufzunehmen sowie der Verweigerung der vorgesehenen Heirat, distanziert sie sich von den Erwartungen der Eltern. Auch die Lehre, die sie auf Wunsch der Eltern als Alternative zur Heirat beginnt, bricht sie nach einem Lehrjahr ab. Sie entschließt sich wieder zur Schule zu gehen und be-

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kommt bei ihrem Vorhaben Unterstützung von einer Freundin und der Direktorin der Schule. Interessant ist, dass sie nicht nur eine Vorstellung davon hat, was sie machen könnte, sondern dass sie diese Vorstellung auch konkret umsetzen möchte und entsprechend handelt. Der Vater jedoch verhindert die Aufnahme, so dass Frau Neuer den Sommer über wieder auf dem elterlichen Hof verbringen muss und hier die Tätigkeiten des abwesenden älteren Bruders übernimmt. Frau Neuer ergreift schließlich die Möglichkeit, als Au-pair-Mädchen nach England und anschließend nach Frankreich zu gehen, so dass sie ungefähr zwei Jahre im Ausland lebt. Den Aufenthalt im Ausland bewertet sie als Möglichkeit »rauszukommen« (Z:42). Die Tätigkeit als Au-pair-Mädchen ist mit den traditionellen Vorstellungen der Eltern vereinbar, wie sie später noch im exmanenten Nachfrageteil des Interviews beantwortet (Z:400-414). Die Eltern, insbesondere der Vater, sehen in der Tätigkeit, als Au-pair-Mädchen im Ausland zu arbeiten, eine Vorbereitung auf die ehelichen Pflichten und begrüßen ihr Vorhaben. Frau Neuers Distanzierung äußert sich in der voruniversitären Lebensphase in vier Handlungen, in denen sie sich entgegen den Erwartungen der Eltern positioniert: Erstens im Versuch, die Schule trotz Einwände der Eltern fortzusetzen; zweitens in der Ablehnung des vorgeschlagenen Heiratbewerbers; drittens im Abbruch einer landwirtschaftlichen Lehre; und viertens in der Entscheidung, Deutschland für zwei Jahre zu verlassen, um damit bewusst eine räumliche Distanz zum elterlichen Hof herzustellen. Frau Neuer begibt sich, wie noch deutlich werden wird, im Verlauf ihrer voruniversitären Lebensphase auf die Suche nach einer eigenen Lebensweise, wobei sie jugendspezifische Räume und Kollektive nutzt, an denen sie sich orientiert (siehe Typus ›Suche nach eigener Lebensweise über die Ausrichtung an Organisationen und Kollektiven‹, Kap. V.1.2.2). In den Schilderungen von Frau Schaal dokumentiert sich ebenfalls die ›Distanzierung zu den explizit formulierten Erwartungen der Bezugspersonen‹, die jedoch im Vergleich zu den Fällen Frau Kasten und Frau Neuer ereignisbezogen ist und mit der frühen Schwangerschaft von Frau Schaal einhergeht. Im folgenden Abschnitt beschreibt Frau Schaal die Umstände, unter denen sie sich von den väterlichen Erwartungen distanziert (Z:203-214): Schaal: Und ähm (.) naja und dann hab ich eben mit, das war dann in der (3) der letzten Klasse, (2) hab ich dann und also schon irgendwie -n Jahr davor hab ich also meinen ersten Mann irgendwie kennengelernt und äh das wurde dann auch -ne heftige Liebesbeziehung. Und (.) äh ja also mein Sohn ist, glaub ich, in der gleichen Nacht gezeugt, wie ich das Abitur gemacht habe //mmh// ((lacht)). Ja gut und dann äh hatte mein Vater, (2) damals war man ja erst volljährig mit einundzwanzig //mmh// und ich war erst neunzehn und dann hatte mein Vater gesagt, also er verbietet, dass ich heirate (2). Dann musst ich zum Vormundschaftsgericht

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gehen und dann haben die geprüft, ob mein Mann und ich würdig und reif wären, also nun zu heiraten und dann wurde das befunden und //mmh// dann dürft: dürfte ich heiraten.

Frau Schaal lernt in ihrer voruniversitären Lebensphase ihren zukünftigen Mann kennen. Die Beziehung zu ihm beschreibt sie als eine »heftige Liebesbeziehung« (Z:206). Kurz vor dem Abitur wird sie schwanger und entscheidet sich den Vater ihres Kindes zu heiraten. Ihr Vater verbietet der noch nicht volljährigen Tochter die Heirat.12 Es entsteht ein Konflikt zwischen Frau Schaal und ihrem Vater, da die Entscheidung über eine von ihr angestrebte Heirat juristisch dem Vater obliegt. Frau Schaal fügt sich nicht den Erwartungen des Vaters, sondern wendet sich an das Vormundschaftsgericht, das der Heirat nach Prüfung schließlich zustimmt. Es wird deutlich, dass Frau Schaal sich bereits im Jugendalter von den Erwartungen der Eltern distanziert. Sie hat eigene Vorstellungen von ihrem Leben, die nicht mit denen der Eltern übereinstimmen. Sie lehnt sich gegen die Erwartungen der Eltern auf und erkämpft sich die Erlaubnis zur Heirat, indem sie sich an eine juristische Instanz wendet. Die Distanzierung geschieht im Fall von Frau Schaal aufgrund der Schwangerschaft ereignisbezogen und geht mit einer Distanzierung zur Alltagspraxis der Eltern einher (siehe Untertypus ›Distanzierung zur erlebten politischrelevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen‹). Distanzierung zu den erlebten explizit-politischen Einstellungen der Bezugspersonen Die komparative Analyse ergab in den Fällen Frau Kielen und Frau Jahnsen eine gemeinsame Orientierung, die im Untertypus ›Distanzierung zu den erlebten politischen Einstellung der Bezugspersonen‹ rekonstruiert wird. Das gemeinsame Typische dieser Fälle ist, dass sich beide Frauen in der voruniversitären Lebensphase von den in der familiären Alltagspraxis erlebten politischen Einstellungen der Eltern distanzieren. Frau Kielen beginnt ihre Eingangserzählung mit einer kurzen Vorstellung der Geschwisterkonstellation, danach folgt eine Beschreibung der politischen Grundeinstellung der Eltern, die sie schließlich für ihren politischen Werdegang selbstinterpretierend bewertet (Z:8-14): Kielen: Also ich bin äh aufgewachsen mit zwei älteren Brüdern, das ist vielleicht nicht ganz unwichtig, in einem politischen Haushalt, meine Eltern sind alte Sozialdemokraten und äh das hat so ein bisschen auch die Richtung vorgegeben, in der ich mich dann weiterentwickelt habe, also 12 Erst im Jahr 1973 wird die Volljährigkeit auf das 18. Lebensjahr heruntergestuft. Bis dahin war eine Person erst volljährig, wenn sie das 21. Lebensjahr erreicht hatte.

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politische Fragen waren immer in unserer Familie sehr wichtig und äh sinds bei mir eigentlich bis heute geblieben. Also da gibts so eine lange Kontinuität eigentlich.

Frau Kielen wächst mit zwei älteren Brüdern in einem »politischen Haushalt« (Z:10) auf und begründet dies mit einer expliziten politischen Gesinnung ihrer Eltern, die sie als »alte Sozialdemokraten« (Z:10) bezeichnet. Die Tatsache, dass sie zwei ältere Brüder hat, bewertet sie neben der politischen Einstellung der Eltern als wichtig, ohne dies jedoch weiter zu erläutern. In ihrer Theorie zum eigenen Selbst bewertet sie die familiäre Alltagspraxis als wichtig für die Genese ihrer eigenen politischen Orientierung. Sie stellt aus heutiger Perspektive fest, dass ihre heutige politische Orientierung Ähnlichkeiten zu der ihrer Eltern aufweist, wonach eine dauerhafte intergenerationelle Kontinuität der politischen Einstellung der Eltern zu vermuten wäre. Umso interessanter erscheint es, dass Frau Kielen sich in der Jugendphase von ihrem Elternhaus distanziert. Wie im nächsten Abschnitt deutlich wird, sind die Eltern von Frau Kielen beide berufstätig, wobei besonders hervorzuheben ist, dass es hier eine Verknüpfung zwischen politischer Gesinnung und Berufstätigkeit gibt (Z:26-38): Kielen: Meine Mutter war immer berufstätig, war sozusagen Kindergärtnerin von Beruf gewesen und dann aber für die SPD im Rat in der in K-Stadt gewesen, im Rat der Stadt. (.) Mein Vater war Parteisekretär bei der SPD und ist später dann, als er angeschlagen war, ein bisschen in die (.) in die Verwaltung gegangen insgesamt dann, //mmh// Landesverwaltung. Ja (.) sowas muss was wollen wir (2). Ja ich habe dann mich von meinem sozialdemokratischen Elternhaus in der Pubertät natürlich schon doch auch distanziert, das ist dann immer schwieriger, wenn man sich distanzieren muss von einem eher progressivem Elternhaus ja was macht man, ((lachen)) //mmh ja// ((lachen)) ich bin so ein bisschen nach rechts gegangen, also was jetzt in diesem klassischen äh Schema macht, ja. //mmh// Also ich bin zum Beispiel dann geraten in äh über die Schule in so ein Jugenf: Jugenf: Jugendbund der Wandervogel.

Frau Kielens Eltern sind explizit politisch aktiv und dies sogar formell und in parteigebundener Form. Während ihre Mutter sich nach einer Berufstätigkeit als Kindergärtnerin für eine Tätigkeit in der Politik entscheidet, ist ihr Vater Berufspolitiker und bekleidet ein wichtiges Amt, bis er aufgrund von gesundheitlichen Beschwerden in die Verwaltung wechselt. Politik ist somit ein selbstverständlicher Teil der Alltagspraxis der Eltern. Frau Kielen distanziert sich im Jugendalter von den politischen Einstellungen der Eltern und bewertet in einer Eigeninterpretation ihre politische Positionierung einerseits als selbstverständliche und natürliche Folge einer »sozialdemokratischen« (Z:32) Sozialisation im Elternhaus und andererseits als Folge der jugendspezifischen Entwicklungsphase. In dieser Altersphase positioniert sich die junge Frau Kielen politisch »rechts« (Z:35) und erläutert dies mit der

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Aktivität bei dem »Jugendbund der Wandervogel« (Z:37f.). Insgesamt wird in diesem Abschnitt einerseits deutlich, dass Frau Kielen bereits sehr früh über ihre Eltern politisch sozialisiert wird und Politik sowie politische Aktivitäten als einen selbstverständlichen Bestandteil ihres Alltags erlebt. Andererseits distanziert sie sich über die Entscheidung, Mitglied in einer von ihr ausgewählten Jugendorganisation zu werden, bewusst von der politischen Gesinnung der Eltern. In diesem Erzählabschnitt deutet sich zudem die noch herauszuarbeitende Orientierung ›Kontinuität intergenerationell erlebter politischer Aktivitäten in jugendspezifischen Organisationen‹ an (siehe Kap. V.1.2.4). Auch über die Darstellungen von Frau Jahnsen kann der Typus ›Distanzierung zu den erlebten politischen Einstellungen der Eltern‹ herausgearbeitet werden. Diese Orientierung entwickelt sie in der Jugendphase und in der Auseinandersetzung mit Fragen zur deutschen Vergangenheit, dabei insbesondere im Zusammenhang mit der Frage nach der Beteiligung der Elterngeneration an den Verbrechen im Nationalsozialismus. Im nächsten Abschnitt beschreibt Frau Jahnsen diesbezüglich ihre Wahrnehmungen sowohl im familiären als auch im schulischen Kontext und hebt interpretierend hervor, dass sie in der Nachkriegszeit keine explizite offene Auseinandersetzung oder gar Aufklärung über den Nationalsozialismus erlebte (Z:58-72): Jahnsen: Ähm es gab halt dieses für unsere Generation, ich bin neunundvierzig geboren, für unsere Generation typisches Schweigen, was die Vergangenheit anbelangt. Äh und das Schweigen, deswegen habe ich das mit den Nazis:: erzählt, mit den Nazilehrer erzählt, das Schweigen gabs ja eben sowohl in der Schule als auch äh zu Hause. In der Schule erinnere ich mich nicht, ich glaube wir haben systematisch immer die Nazizeit übersprungen //mhm// (3) also auch in dem Gymnasium nachher, wir haben dann angefangen nach fünfundvierzig, habe ich noch ein Abitur über in Politik gemacht, oder damals hieß das, ich weiß gar nicht mehr, wie das hieß (2). Äh ja so (.) und in meinem Elternhaus wurde wie gesagt auch geschwiegen gleichzeitig, weil das ja so ein bisschen auch ihr Fokus ist, gleichzeitig gab es so auch vor allen Dingen durch meinen Vater initiiert schon auch immer Auseinandersetzungen immer die politischen aktuellen Geschehnissen //mhm//, ja, mein Elternhaus war natürlich politisch konservativ, also CDU und ist das auch geblieben und das hat dann auch später, als ich größer wurde, viele heiße Auseinandersetzungen //hmm// speziell mit meinem Vater gegeben.

Frau Jahnsen ordnet sich selbstinterpretierend einer »Generation« (Z:58) zu, die das Verschweigen des Nationalsozialismus sowohl in der Familie als auch in der Schule erlebt hat. Politische Themen finden, initiiert vom Vater, vor allem in Form von Diskussionen über aktuelle politische Themen Einzug in den familiären Alltag. Eine Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit wird jedoch in den Diskussionen ausgespart. In diesem Zusammenhang bezeichnet sie die politische

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Einstellung ihre Eltern als »natürlich politisch konservativ« (Z:70) und bezieht das Verschweigen der Vergangenheit auf die politische Gesinnung und die parteipolitische Mitgliedschaft der Eltern in der CDU. In der Kindheit bleibt eine Infragestellung des elterlichen Verhaltens oder der aktiv herbeigeführten Konfrontation der Eltern oder Lehrer zunächst aus. Mit der Wahrnehmung der Proteste der Schüler und Studierenden Ende der 1960er Jahre distanziert sich auch Frau Jahnsen schließlich als Oberschülerin von der erlebten politischen Einstellung der Eltern, indem sie diese kritisiert und ihre Eltern zur Rede stellt (Z:90-94):

Jahnsen: Und die Auseinandersetzungen mit meinem Vater, also speziell mit meinem Vater, auch mit meiner Mutter, immer über den Nationalsozialismus, der fing auch im Gymnasium an //mhm//. Also es waren immer diese Klagen von uns (.) warum sprecht ihr nicht, was habt ihr da gemacht und wir wussten nichts über diese Sachen, es ist alles wie aus so einem Bilderbuch gesprungen.

Frau Jahnsens voruniversitäre Lebensphase ist kurz vor dem Übergang an die Universität von den Schüler- und Studentenprotesten geprägt – »diese ganzen politischen Auseinandersetzungen fingen ja schon in der letzten Klasse Abitur an //hmm//. Da gab es dann (…) auch Schülerdemos« (Z:82ff.). Die bis dahin erlebte »konservative« (Z:70) politische Einstellung der Eltern, die über die Vergangenheit schwiegen, wird in diesem Kontext zu einem Politikum. Frau Jahnsen distanziert sich über »die Auseinandersetzungen mit [dem] Vater (…) auch mit [der] Mutter (…) über den Nationalsozialismus« (Z:90f.) von der bis dahin erlebten politischen Einstellung der Eltern. Zusammenfassung des Typus – ›Politisierung über intergenerationelle Distanzierung‹ Das Typische der Fälle, die diesen Typus konstituieren, ist eine intergenerationelle Distanzierung zur erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis, der explizit formulierten Erwartungen und der explizit-politischen Einstellungen der Bezugspersonen. Im familiären Alltag werden die Frauen, über deren Schilderungen dieser Typus abstrahiert werden kann, mit politisch-relevanten und explizit-politischen Praktiken und Einstellungen konfrontiert. Im Gegensatz zum ersten Typus dieser Typik werden diese infrage gestellt. Diese Orientierung kann im Anschluss an eine zuvor gezeigte intergenerationelle Anerkennung erfolgen. Somit konstituieren diesen Typus auch solche Fälle, die bereits den Typus ›Politisierung über intergenerationelle Kontinuität‹ bestimmten. Ein solcher Orientierungswandel ist bei vier von sechs Fällen, die diesen Typus bilden, erkennbar. Die Distanzierung äußert sich sowohl im Einnehmen einer ablehnenden Haltung als auch in einem Handeln, das

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den Vorstellungen der Bezugspersonen widerspricht, bis hin zur Äußerung von Protestverhalten. Diese Frauen haben gemeinsam, dass sie einerseits über die Auseinandersetzung mit den Bezugspersonen eine Sensibilität für politisch-relevante und explizit-politische Themen entwickeln, andererseits auch über die Entwicklung einer distanzierten Haltung politisch-relevantes Verhalten zeigen. ›Distanzierung zur erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen‹ Alle drei Fälle, die diesen Untertypus konstituieren, gehörten im Vorfeld auch dem Typus ›Politisierung über intergenerationelle Kontinuität‹ an. In der Schilderung der Fälle wird deutlich, dass sich zwei der Frauen im Verlauf der voruniversitären Lebensphase von der erlebten und bis dahin anerkannten Alltagspraxis der Eltern distanzieren, weil sie Divergenzen zwischen der politisch-relevanten Alltagspraxis ihrer Eltern und ihren eigenen Vorstellungen einer angemessenen Alltagspraxis erkennen (Divergenzen hinsichtlich Bildungsbestrebungen und entsprechenden Bildungspraktiken). In einem Fall wird die Distanzierung aufgrund veränderter familiärer Lebensverhältnisse entwickelt, so dass der Familienalltag insgesamt abgelehnt und gemieden wird. Die Distanzierung zur elterlichen Alltagspraxis ist insofern politisch-relevant, als dass die Frauen im familiären Kontext und in Auseinandersetzung mit den Vorstellungen und Praktiken der Bezugspersonen eine distanzierte Haltung oder gar Gegenposition entwickeln. Insgesamt wird hier über die Interviewausschnitte dieser drei Frauen ein Orientierungswandel im familiären Kontext und in Interaktion mit älteren Bezugspersonen deutlich. Alle Frauen haben gemeinsam, dass sie sich im weiteren Verlauf ihrer voruniversitären Lebensphase in Abgrenzung zu den Bezugspersonen auf die Suche nach einer eigenen Lebensweise begeben (siehe Typus ›Suche nach einer eigenen Lebensweise über die Orientierung an Organisationen und Kollektiven nach intergenerationeller Distanzierung‹). ›Distanzierung zu explizit formulierten Erwartungen der Bezugspersonen‹ Der zweite Untertypus zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Frauen in diesen Fällen von den explizit formulierten Erwartungen der Bezugspersonen distanzieren. Die an sie formulierten Erwartungen, die die Bereiche Bildung, Beruf sowie geschlechtsspezifische Rollen- und Arbeitsteilung betreffen, werden von den Frauen abgelehnt. In einem Fall wird die Distanzierung aufgrund veränderter eigener Lebensumstände entwickelt. Die ausgesprochenen Erwartungen der Bezugspersonen entsprechen nicht den eigenen Vorstellungen der Lebensgestaltung und werden vehement abgelehnt. Zwei Frauen erleben innerhalb des Familienalltags Praktiken, die mit einem traditionellen Geschlechterrollenbild einhergehen und auch die elterlichen Erwartungshaltung hinsichtlich Bildung und Beruf prägen. Diese werden nicht nur von den eigenen Bezugspersonen praktiziert, sondern zugleich an die

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Frauen herangetragen und von diesen abgelehnt. In der Erzählung von zwei Frauen wird hier bereits eine Sensibilität für das Thema Geschlecht deutlich. Das Gemeinsame dieses Typus ist, dass ein Protestverhalten gezeigt wird und dass eigene Interessen sowie der eigene Standpunkt bereits in der voruniversitären Lebensphase durchgesetzt werden. Diese Orientierung kann als politisch-relevant bezeichnet werden. ›Distanzierung zu den erlebten explizit-politischen Einstellungen der Bezugspersonen‹ Das Typische der zwei Fälle, über die der dritte Untertypus abstrahiert werden kann, ist die Distanzierung zu den erlebten explizit-politischen Einstellungen der Bezugspersonen. Dass bei der Ausbildung dieser Orientierung die gesellschaftspolitischen Kontexte eine Bedeutung erhalten, wird in den Schilderungen eines Falles deutlich. Die Distanzierung zur politischen Einstellung der Eltern wird in diesem Fall im Kontext der Schüler- und Studentenproteste entwickelt. Die erlebte öffentlich geäußerte Kritik wird an die Eltern weitergetragen. Im zweiten Fall erfolgt eine bewusste Distanzierung von der politischen Gesinnung der Eltern durch den Eintritt in eine Jugendorganisation, deren politische Ausrichtung der elterlichen Gesinnung entgegensteht. Hier dokumentiert sich ein Orientierungswandel, der außerhalb der Familie angestoßen wird. In beiden Fällen besteht die Gemeinsamkeit, dass die Distanzierung zu den erlebten explizit-politischen Einstellungen der Bezugspersonen über konkrete politische Handlungen, hier über verbale Konfrontation und politische Aktivitäten in einer Jugendorganisation, erfolgt. Somit wird hier bereits eine Verknüpfung zur nächsten Typik ›Politisierung durch jugendspezifische Aktivitäten in Organisationen und Kollektiven‹ erkennbar. Über welche Orientierungen diese Frauen zu politischen Aktivitäten in jugendspezifischen Organisationen und Kollektiven gelangen, wird in der nächsten Typik ›Politisierung durch jugendspezifische Aktivitäten in Organisationen und Kollektiven‹ rekonstruiert. V.1.2

Politisierung durch jugendspezifische Aktivitäten in Organisationen und Kollektiven

Neben der Familie als Erziehungs- und Sozialisationsinstanz beeinflussen auch jugendspezifische Organisationen und Kollektive die Genese von Politisierung. Hierbei bekommen vor allem, wie im Folgenden deutlich werden wird, die Sozialisationsinstanzen Schule und Peer-group eine besondere Rolle zugeschrieben. Aber auch über Vereinsaktivitäten und die Beteiligung in jugendspezifischen Arbeitsgruppen findet eine Auseinandersetzung mit politisch-relevanten und explizitpolitischen Themen statt, die zu einer Sensibilisierung für politische Fragen führen

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kann. In Interaktion mit Lehrern, Mitschülern, Freundinnen und Freunden werden neue politisch-relevante und explizit-politische Orientierungen gezeigt und bereits vorhandene politisch-relevante und explizit-politische Orientierung verändert. Anhand der Schilderungen der vorliegenden Fälle konnten im Rahmen dieser Typik vier Typen abstrahiert werden. Die Zugehörigkeit zu den ersten beiden Typen ›Suche nach Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit in Organisationen und Kollektiven nach Ausgrenzungserfahrungen‹ (Kap. V.1.2.1) und ›Suche nach eigener Lebensweise über die Ausrichtung an Organisationen und Kollektiven nach intergenerationeller Distanzierung‹ (Kap. V.1.2.2) kann, wie noch herausgearbeitet werden wird, als politisch-relevant bezeichnet werden, da hier an dieser Stelle noch kein explizit-politisches Handeln gezeigt wird. Über die diese beiden Typen konstituierenden Fälle werden Orientierungen erkennbar, die zu einem späteren Zeitpunkt und unter anderen Bedingungen fortgesetzt oder so verändert werden, dass sie zu explizit-politischen Handlungen führen. In den Schilderungen von fünf Fällen werden zwei weitere hier typisierte Handlungsorientierungen erkennbar, die bereits in der voruniversitären Lebensphase explizit-politische Handlungen im Rahmen jugendspezifischer Organisationen und Kollektiven strukturieren – ›Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten‹ (Kap. V.1.2.3) und ›Kontinuität intergenerationell erlebter politischer Aktivitäten in jugendspezifischen Organisationen‹ (Kap. V.1.2.4). Wie deutlich werden wird, zeigen fünf der befragten Frauen, somit die Hälfte der Interviewten, bereits in der voruniversitären Lebensphase explizit politische Handlungen. V.1.2.1

Suche nach Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit in Organisationen und Kollektiven nach Ausgrenzungserfahrungen

In der komparativen Analyse der Interviews war in den Fällen Frau Behrens und Frau Clement ein gemeinsamer Orientierungsrahmen erkennbar, der im Folgenden anhand entsprechender Erzählabschnitte im Typus ›Suche nach Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit in Organisationen und Kollektiven nach Ausgrenzungserfahrungen‹ rekonstruiert wird. Auffällig in beiden Fällen war eine gemeinsame Erfahrung. Sowohl Frau Behrens als auch Frau Clemens machen in der Kindheits- und Jugendphase die Erfahrung der Ausgrenzung. Während Frau Behrens diese im schulischen Kontext und innerhalb der jugendspezifischen Freizeitaktivität erfährt, macht Frau Clement diese Erfahrung sowohl im familiären Bereich als auch innerhalb der Schule. Die von Frau Behrens zu Beginn der Eingangserzählung geschilderten Zusammenhänge, anhand derer bereits der Untertypus ›Anerkennung der erlebten politischrelevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen‹ (Kap. V.1.1.1) herausgearbeitet

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werden konnte, sind für die Rekonstruktion dieser Orientierung wichtig und werden daher erneut herangezogen. Frau Behrens beginnt ihre Eingangserzählung mit der Beschreibung der familiären Lebensverhältnisse und konzentriert sich dabei insbesondere auf die Schilderung der Trennung der Eltern, der Berufstätigkeit der alleinerziehenden Mutter sowie den damit verbundenen Wohnortswechsel. Als ihre Mutter erneut die Arbeitsstelle wechselt, zieht Frau Behrens gemeinsam mit ihr und ihrer Großmutter nach D-Stadt. Wie sie den Umzug und die Umstellung erlebt, beschreibt sie im folgenden Abschnitt (Z:15-25): Behrens: Und dann hat meine Mutter die Stelle gewechselt und wir sind nach D-Stadt gezogen, auch weil sie da ein Haus gekauft hat. Und ähm denn, das war für m- weder für meine Großmutter noch für mich erst mal zunächst äh ein wunderbarer Wechsel, den meine Mutter immer in Aussicht gestellt hat, aufgrund des eigenen Hauses, sondern schon auch -ne ziemliche Umstellung. Ähm ich war nicht ganz glücklich muss ich sagen, also auch mit der Grundschule nicht. Das war eine katholische Schule. Das war damals ja noch sehr getrennt und Evangelische wie ich wurden zum Teil auch etwas gejagt //mmh// und das gehört auch zu meinen ersten, wie soll ich sagen negativen Eindrücken, dass man also aufgrund seiner Religions@zugehörigkeit@ //mmh// dann niedergemacht wird.

Der Umzug, der mit einem Einzug in ein Haus verbunden ist, wird von der Mutter als positiv angepriesen, jedoch von Frau Behrens anders erfahren. So ist sie in der neuen Stadt zunächst unglücklich und begründet dies hauptsächlich mit dem Schulwechsel und den damit verbundenen Erfahrungen. Frau Behrens besucht in DStadt eine katholische Grundschule. Hier macht sie erstmals die Erfahrung von Ausgrenzung aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit. Frau Behrens ist evangelisch, während in der Schule, die sie besucht, nach katholischer Lehre erzogen wird. Sie erinnert sich, dass dieser Unterschied sie zu einer Außenseiterin macht, so dass sie von anderen Personen »etwas gejagt« (Z:22) und »niedergemacht« (Z:25) wird. Diese Erfahrung bewertet sie aus heutiger Perspektive als Reaktion der Zeit und verweist auf die Normalität von Konfessionsschulen, in denen die Religionszugehörigkeit ausschlaggebend für Integration ist. Erst als sie auf die weiterführende Schule wechselt, endet auch die Ausgrenzung. Insgesamt wird hier deutlich, dass Frau Behrens bereits sehr früh, nämlich im Grundschulalter, Erfahrungen von Ausgrenzung macht, die institutionell konstituiert und durch die Mitglieder der Schule initiiert werden. Über welche Personen die Ausgrenzung erfahren wird, wird von Frau Behrens nicht weiter expliziert. Die Erfahrung von Ausgrenzung hört jedoch mit dem Wechsel der Schule nicht gänzlich auf. Am Gymnasium macht sie diese Erfahrung erneut. Dieses Mal erlebt Frau Behrens ihre Vaterlosigkeit, die aufgrund der Scheidung der Eltern zustande

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kommt, als ein Differenzmerkmal, wodurch sie sich selbst einen besonderen Status zuschreibt, der sie von den Mitschülern ihrer Klasse unterscheidet. In einem immanenten Nachfrageteil des Interviews wird Frau Behrens gefragt, ob ihr noch etwas zu den familiären Lebensverhältnisse und der Lebensphase Kindheit und Jugend einfalle. Frau Behrens setzt das Interview wie folgt fort (Z:387-395): Behrens: Ähm, naja das war damals schon was Besonderes. Also, oder hat man vielleicht selber als Kind so empfunden. Äh, weil ja durch die Scheidung meiner Eltern hatte meine Mutter ja das Sorgerecht und also bei allen Klasseneinträgen. (.) Also es gab ja immer die Klassenbücher, dann war also immer die Frage nach dem Erziehungsberechtigten und dann wurde bei allen glaube ich mehr oder weniger immer der Vater und ich hab dann immer die Mutter genannt. Also man war selber ähm ich glaube nicht, dass ich das von den Gefühlen her, als ähm(.) wie soll ich sagen, also als fehlend irgendwie, ja. Aber von außen wurde einem so eine besondere Rolle schon durchaus zugeschrieben, ja.

Nach der Scheidung ihrer Eltern erhält die Mutter das Sorgerecht für die junge Frau Behrens. Dass es eine Differenz zwischen ihr und ihren Mitschülern gibt, wird ihr im schulischen Alltag und durch Klassenbucheintragungen immer wieder präsent. So wird sie im schulischen Alltag immer wieder dazu aufgefordert, ihren besonderen Status, den sie aufgrund des fehlenden Vaters hat, in der Klasse zu kommunizieren. Im Anschluss an die Erfahrungen von Ausgrenzung im schulischen Kontext sucht Frau Behrens in jugendspezifischen Organisationen und Kollektiven nach Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit, wie in den folgenden Abschnitten deutlich wird. Nachdem der Besuch der Grundschule von Frau Behrens als problematisch erlebt und bewertet wird, fühlt sie sich nach dem Wechsel auf die weiterführende Schule zunächst wohler – »das fand ich eigentlich auch eine schöne Sache, muss ich gestehen. Also ich bin auch, abgesehen von der Zeit der Pubertät, aber ich glaube, das geht dann allen so, eigentlich ganz gerne in die Schule gegangen« (Z:3336). Auf die immanente Nachfrage, wie sie ihre Schulzeit erlebte und an was sie sich erinnert, nimmt sie zunächst Bezug auf ihre schulischen Leistungen und Interessen und geht dann über zur Bewertung der Monoedukation am Gymnasium. Frau Behrens besucht in D-Stadt ein Mädchengymnasium, was sie insgesamt im Vergleich zu den Erfahrungen an der Grundschule als positiv bewertet. Im Folgenden schildert sie ihre Erfahrungen auf dem Gymnasium (Z:436-455):

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Behrens: Diese ähm (.) also Mädchenschule hat ja Vor- und Nachteile, ne. Also das ist so -ne Gemeinschaft, die erst mal nicht durch die Konkurrenz mit den Jungen geprägt ist. Aber andererseits natürlich auch ähm (3) ja, wie soll ich sagen, also es muss immer -n Konsens hergestellt werden //mhh//. @(.)@ Und äh also, sagen wir mal, auch sich abseits zu stellen oder was anders zu machen ähm (.) ist schwierig, schwieriger glaube ich, als in einer gemischten Klasse //mhh//. Also das ist mir noch in Erinnerung, ja, das ich oft das ähm das Gefühl hatte, manches interessiert mich in dieser Gemeinschaft einfach nicht, ja //mhh//, aber man muss, man muss es ein Stück weit mitmachen, bevor man zu sehr auffällt, ja (2). Also da ein Gleichgewicht, also gerade so in der Pubertät zu finden(2), weil, da war ich sehr still, ich hab viel gelesen, das kam nicht so gut an. Also viele hatten dann schon erste Freunde, damit hatte ich erst mal nichts zu tun, war da eher etwas misstrauisch. Und ähm, also so dieses, ähm nicht als Blaustrumpf in Anführungszeichen zu gelten, (.) da musste ich schon irgendwie dann bei manchen Sachen mitmachen, wo ich heute sagen würde, würde ich heute nicht machen. Also das, daran kann ich mich auch noch gut erinnern. Das hörte dann so mit fünfzehn naja sechzehn, ungefähr fünfzehn sechzehn auf, als wir so -ne eigene Clique hatten, die sich dann wiederum natürlich dann auch von den anderen abgesetzt hat //mhh//. Ja und dann sozusagen ihren eigenen Kreis gepflegt hat.

Frau Behrens erlebt und bewertet aus heutiger Perspektive die Monoedukation auf dem Mädchengymnasium sowohl als vorteilhaft als auch als mit Schwierigkeiten behaftet. Einerseits beschreibt sie diese als gemeinschaftsfördernd, da hier keine »Konkurrenz mit den Jungen« (Z:438f.) stattfinden kann. Andererseits erlebt sie diese Gemeinschaft insofern als problematisch, als dass über die herrschende Gemeinschaftlichkeit gleichzeitig ein Druck zur Aufrechterhaltung dieser Gemeinschaft erzeugt wird, in der individuelle Interessen keinen Raum zur Entfaltung erhalten. In diesem Rahmen erinnert sie sich, dass sie oft die Interessen ihrer Mitschülerinnen nicht teilen konnte, sich jedoch an dieser Gemeinschaft ausrichtete und eigene Interessen, die bei ihren Mitschülerinnen »nicht so gut« (Z:448) ankamen, verwarf. Sie nimmt an Aktionen und Aktivitäten teil, um nicht die Anerkennung in der Gruppe zu verlieren und als »Blaustrumpf (…) zu gelten« (Z:450). In ihrem Verhalten zeichnet sich die Befürchtung ab, erneut, ähnlich wie bereits in der Grundschule, in eine Außenseiterposition zu geraten und von ihren Mitschülerinnen ausgegrenzt zu werden. Auf dem Mädchengymnasium stehen somit die Aufrechterhaltung von Anerkennung sowie die Teilhabe an der Gemeinschaftlichkeit im Vordergrund. Sie erinnert sich, dass das Streben nach Anerkennung bis zum 15. oder 16. Lebensjahr von ihr aufrechterhalten wird. Danach bewegt sich Frau Behrens in kleineren Jugendgruppen, womit, wie sie selbst interpretiert, die Suche nach intensiver Anerkennung nicht mehr stattfindet. Werden weitere Passagen aus dem Interview mit Frau Behrens betrachtet, so zeigt sich die oben beschriebene Verhaltensweise von Frau Behrens auch über die Institution Schule hinaus. Auch im Rahmen

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von Freizeitaktivitäten, in denen jugendspezifische Gruppenaktivitäten stattfinden, wird die Suche nach Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit deutlich. Auf die Frage, ob Frau Behrens in Vereinen aktiv war und wie sie ihre Freizeit erlebte, beschreibt sie Folgendes (Z:459-467): Behrens: Oh, ich bin einmal mitgefahren @(.)@ mit der Konfirmandengruppe, das war auch, also man hat da ja die Konfirmation gehabt und dann gab es da so -ne Art Jugend- naja Club (.) und eine Jugendfreizeit, aber das war eben genau auch dieser, dieser Druck, äh, permanent mit den anderen zusammen sein zu müssen //mhh//. Das fand ich furchtbar, muss ich gestehen. Also so zwischendurch hätte ich mich gerne mal zurückgezogen, hätten ein bisschen was gelesen, oder so was, aber das ging einfach nicht //mhh//. Und, äh, das hat dann auch nicht, also ich bin dann da auch weiterhin hin, aber das war nicht irgendwie so was, wo ich meine Identität irgendwie rausgezogen hätte.

In diesem Rahmen erinnert sich Frau Behrens an ihre »Konfirmandengruppe« (Z:460) und die Jugendfreizeitgruppe in einem Jugendclub, an der sie teilnimmt. Auch hier macht sie eine ähnliche Erfahrung wie bereits mit ihren Mitschülerinnen auf dem Gymnasium. Die Gemeinschaft und die damit verbundene Gemeinschaftlichkeit beschreibt sie als »Druck« (Z:463). Sie fühlt sich verpflichtet, an den Aktivitäten der Gruppen teilzunehmen, um so nicht aufzufallen oder gar ausgegrenzt zu werden. Obwohl sie sich lieber zurückziehen und ihren eigenen Interessen nachgehen möchte, passt sie sich an und beteiligt sich an den Aktivitäten der Gruppe. Die Option, die Gruppe zu verlassen und den Club nicht mehr zu besuchen, schließt sie aus, womit deutlich wird, dass Frau Behrens diese Form der Gemeinschaft nicht aufgeben möchte. Auch hier dokumentiert sich die Suche nach Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit in Organisationen und Kollektiven nach Ausgrenzungserfahrungen. Auch anhand der Schilderungen von Frau Clement kann der Typus ›Suche nach Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit in jugendspezifischen Organisationen und Kollektiven nach Ausgrenzungserfahrungen‹ rekonstruiert werden. Sie beginnt ihre Eingangserzählung mit der Schilderung der familiären Lebensverhältnisse, wobei sie unmittelbar auf ihre Vaterlosigkeit sowie die Abwesenheit der Mutter bereits im frühen Kindsalter zu sprechen kommt. In diesem Zusammenhang bezeichnet sie sich als »Unglückskind« (Z:5), womit sie auf die ungeplante Schwangerschaft der Mutter hinweist sowie auf die damit einhergehenden unglücklichen Umstände und Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend, die sie im Laufe des Interviews noch vertiefen wird. Der folgende Abschnitt umfasst den Beginn der Eingangserzählung, in der sie die familiären Verhältnisse beschreibt (Z:4-11):

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Clement: Oh, mmh, also, geboren bin ich neunzehnhundertsechsundvierzig //mmh//, in Oberbayern und war ein Unglückskind irgendwie. Äh meine Mutter war ledig, also war nicht verheiratet und mein Vater war amerikanischer ähm Offizier, Besatzungsoffizier und der auch schon verheiratet war und Kinder hatte, also ich hab ihn auch nicht kennengelernt, leider auch nicht gefunden dann später. Und äh bin dann, war dort in einem Kinderheim und während meine Mutter nach W-Stadt ging, um dort eine Stelle und eine Wohnung zu suchen und meine Großmutter zu suchen und als sie die gefunden hatte, dann hat sie mich geholt.

Frau Clements frühe Kindheit ist deutlich von der Nachkriegszeit geprägt. Frau Clement wird 1946 in Oberbayern als uneheliches Kind geboren. Bereits in der Kindheit macht sie die Erfahrung von Ausgrenzung durch ihre Eltern. Der leibliche Vater ist ein bereits verheirateter, amerikanischer Besatzungsoffizier, den Frau Clement nie kennengelernt hat. Sie verbringt die erste Zeit nach der Geburt im Kinderheim, bis sie gemeinsam mit der Mutter zur Großmutter zieht. Wie viel Zeit Frau Clement in einem Kinderheim verbringt, wird nicht expliziert. Auf die immanente Erzählaufforderung, Frau Clement möge noch mehr über ihre Kindheit und die Familienverhältnisse erzählen, schildert sie Folgendes (Z:242255): Clement: Ach, nicht so furchtbar viel Gutes, ja. Also (4), wie gesagt ich war, als meine Großmutter äh gefunden war, wurden ich aus dem Heim geholt und die Großmutter wurde vier Jahr, äh sechsundfünfzig Jahre alt und ich wurde vier, als sie starb //mhh//. (2) Und dann wurde ich bei dem einen Onkel geparkt und dann bei dem anderen Onkel geparkt und das war beides (.) mit unschönen Erlebnissen verbunden und (.) dann wurden irgendwelche Kindermädchen gefunden, die dann (.) weiß nicht wie auch immer dazu beitrugen, dass ich mal von der (.) drei Meter hohen Mauer fiel und Schlüsselbeinbruch hatte. Und das nächste Mal vom Geländer gezogen wurde und Gehirnerschütterung hatte und dann kam aber die Schulzeit und der Hort und da war ich dann bei den englischen Fräuleins untergebracht und die waren ganz wunderbar (.). Das war -ne, einer meiner schönen Erinnerungen (3) an diese patenten Nonnen //mhh//. Und dann kam das Gymnasium, was nicht schön war. Ja und die Kindheit und die Beziehung zu meiner Mutter war nie gut (2), leider bis zum Schluss nicht.

Frau Clement erfährt eine Ablehnung durch die eigenen Eltern. Der Vater verlässt die junge Familie und die Mutter gibt Frau Clement als Kleinkind immer wieder an verschiedene verwandte und nichtverwandte Personen ab. Frau Clement äußert, dass sie keine guten Erinnerungen an ihre Kindheit hat. In diesem Rahmen zählt sie verschiedene Wohnstationen auf, die zum Teil mit »unschönen Erlebnissen« (Z:246) verbunden sind. Frau Clement erfährt in dieser Zeit körperliche Gewalt. Erst mit der Schulzeit verändert sich dieser Zustand. Sie besucht ein Kinderhort bei

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den »englischen Fräuleins«13 (Z:251), woran sie schöne Erinnerungen hat. Hier erhält sie Zuneigung und Fürsorge. Somit wird lediglich eine Station von ihr als positiv wahrgenommen und auch aus heutiger Perspektive so bewertet. Den Besuch des Gymnasiums im Anschluss erlebt sie wiederum als »nicht schön« (Z:254), was sie im weiteren Verlauf des Interviews noch explizieren wird. Ihre Kindheit ist vor allem von wechselnden Bezugspersonen und der Abwesenheit der Eltern sowie Gewalterfahrungen geprägt. Wie Frau Clement die Schule erlebt und in welcher Form sie hier Ausgrenzungserfahrungen macht, beschreibt sie im folgenden Abschnitt (Z:296-312): Clement: Und auf dem Gymnasium hatte ich ähm in der auf der Schule A natürlich keine Freundinnen, weil das waren Diplomatentöchter und Töchter von Ärzten und halt höhere Töchter. Und da hatte ich und es gab nur noch ein Zwillingspärchen, die waren auch vaterlos, aber da war der Vater natürlich heldenhaft im Krieg gestorben und das //mhh// war was, um die wurde sich halt gekümmert, //mhh// ganz rührselig und ich fiel da einfach raus, also es war, es war eine furchtbare Erfahrung. Also es war wirklich furchtbar (2). Und die sechs in Handarbeit bekam ich, weil ich den Putzlumpen, den wir mit Kreuzstich und Stilstich und diesen ganzen Stichen besticken mussten, den hatte ich zu Hause vergessen und hab ihn ein Tag später abgebracht, abgegeben ne. Und da bekam ich eine sechs, also es war ziemlich offensichtlich ja, ich war da nicht erwünscht, ne. Und (2) und entsprechend war ich auch nicht gut ne, weil ich hab das gespürt sicher und aber ich hatte überall Dreier und Vierer, keine Zweier und Einser, außer in den Kopfnoten, ja @(.)@. Und ähm (.) konnte die Sechs nicht ausgleichen. Ich wäre da auch nicht geblieben, glaube ich, also ne::. Ich war so unglücklich dort //mhh//.

Die Erfahrungen auf dem Gymnasium sind geprägt von Einsamkeit und Ausgrenzung. An der weiterführenden Schule hat Frau Clement keinen freundschaftlichen Kontakt zu anderen Kindern, was sie aus heutiger Perspektive auf ihre soziale Herkunft – nicht aus einem Akademikerhaushalt zu stammen – und ihren Status als uneheliches Kind zurückführt. Sie stellt ihre erfahrene Ausgrenzung nicht infrage und bewertet diese aus heutiger Perspektive als persönliches Schicksal – »auf dem Gymnasium hatte ich (…) natürlich keine Freundinnen« (Z:297). Lediglich bei den Zwillingen ihrer Klasse sieht Frau Clement aufgrund des fehlenden Vaters schicksalhafte Parallelen. Diese werden jedoch anders behandelt, da der Vater dieser Kinder im Krieg gefallen war. So führt Frau Clement die Differenz im Umgang, aus heutiger Perspektive, auf deren Status als Kriegsgeschädigte zurück. Die wahrgenommene Ausgrenzung aus der Klassengemeinschaft, die sich in den fehlenden Freundschaften widerspiegelt, setzt sich im Schüler-Lehrer Verhältnis weiter fort. 13 Die »englischen Fräuleins« waren ein Frauenorden, die sich der christlichen Mädchenbildung widmeten.

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Frau Clement muss die Schule verlassen, nachdem sie die Note sechs für eine nicht rechtzeitig abgegebene Aufgabe bekommt. Sie erlebt die Reaktion ihrer Lehrerin als Ablehnung und Ausgrenzung – »ich war da nicht erwünscht« (Z:307). Die Erlebnisse bewertet sie insgesamt als »furchtbare Erfahrung« (Z:303) und sich selbst als »unglücklich« (Z:312). Insgesamt wird hier deutlich, dass Frau Clement nicht nur über die eigene Familie Ablehnung und Ausgrenzung erfährt, sondern auch auf dem Gymnasium. Nachdem Frau Clement das Gymnasium verlassen muss, wechselt sie auf eine private Schule. Hier hat sie anfänglich Schwierigkeiten, sich an die Schulbedingungen, Räumlichkeiten und die Personenzusammensetzung zu erinnern, beschreibt diese dann aber und revidiert ihre falschen Annahmen (Z:321-327): Clement: Aber das eine war, naja ist ja auch egal. Auf alle Fälle (.) in dem Internat, wo ich auch immer zu Mittag gegessen habe, also die Schule war ein bisschen weiter weg //mhh//, da lief ich morgens zur Schule, mittags zurück (.) zum Essen. Dieses Internat war im Haus untergebracht, das war so eine alte, große Villa und äh mit einer normalen Küche und es war von einem Ehepaar äh (.) gegründet worden auch die Privatschule, sehr geschäftstüchtig (.) und auch in guter Absicht, gibts es heute noch diese Schule.

Frau Clement besucht nach dem Abgang vom Gymnasium mit elf Jahren als externe Schülerin ein privates Internat, das von einem dort lebenden Ehepaar geleitet wird. Die Leitung der Schule bewertet sie, aus heutiger Perspektive, als »geschäftstüchtig« (Z:326) und die Schule »in guter Absicht« (Z:326f.) leitend. Die Schule wird, wie auch in weiteren Erzählabschnitten erkennbar, von ihr als ein besonderer Ort erlebt. Aufgrund der Räumlichkeiten und der dauerhaften Anwesenheit der Schulleiter mit ihren Kleinkindern erfährt sie die Schule nicht nur als Lerninstitution. Wie im nächsten Abschnitt deutlich wird, gestatten ihr die Schulleiter anderen privaten Familienleben regelmäßig teilzunehmen. Frau Clement verbringt jede freie Zeit, die sie zur Verfügung hat, in diesem Haus und damit bei dieser Familie (Z:337-347): Clement: Ja und ich ähm hab also dann immer, wenn ich da zum Mittagessen ging und ich durfte auch Abend essen dort nach der Aufgabenüberwachung. Da hab ich dann meine Liebe für dieses kleinste Baby da entdeckt und hab mich um dieses Kind gekümmert und äh (2) und hab das also mittags wenn ich kam erst mal gefüttert und dann gewickelt und abends auch wieder gefüttert und gewickelt und gebadet und ins Bett gemacht und dann gab es ja auch in der Küche immer viel zu tun für die Internatsschüler. Das Essen zubereiten, zu spülen, den Tisch zu decken, abzuräumen ja und irgendwann habe ich da ungefähr jeden Tag fünf, sechs Stunden gearbeitet. Es ging ganz schnell, für nichts fürs Essen und für ein Taschengeld von zwan-

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zig Mark, weil das wollte (.) meine Mutter wollte mir kein Taschengeld mehr geben, weil sie ja Schulgeld zahlte.

Über den Schulbesuch hinaus, darf Frau Clement bei der Familie sowohl zu Mittag als auch zu Abend essen. Auch die Zeit dazwischen verbringt sie zur Erledigung ihrer Schulaufgaben im Internat und übernimmt einfache Haushaltstätigkeiten und kümmert sich um das jüngste Kind der Familie, zu dem sie eine Nähe aufbaut. Im Internat erlebt Frau Clement nach vorheriger Ablehnung und Ausgrenzung nun Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit. Obwohl sie lediglich als externe Schülerin im Internat aufgenommen wird, wird ihr die Teilhabe an der Alltagspraxis der Familie gewährt, für die sie gleichzeitig Aufgaben verrichtet. Die emotionale Anerkennung in Form von »Liebe« (Z:339) erfährt sie vor allem über den Kontakt zum Säugling. Über eine emotionale enge Verbindung zu den anderen Familienmitgliedern wird nicht berichtet, so dass vielmehr der Eindruck einer neutralen Beziehung entsteht, die auf ein Arbeitsverhältnis hinausläuft. Über den zeitintensiven und engen Kontakt zu dieser Familie wird deutlich, dass Frau Clement sehr bemüht ist, diese Verbindung aktiv aufrecht zu erhalten. Gleichzeitig dokumentiert sich dadurch die Suche nach Anerkennung. In einem weiteren Abschnitt beschreibt sie die Ablehnung der eigenen Familie und ihre Bemühungen nach Anerkennung in der anderen Familie (Z:356-361): Clement: Ja aber gut es war auch, ich hatte das Gefühl, ich werde gebraucht und das macht einen Sinn irgendwie und zu Hause war ja nie jemand //mhh// ja, da war ich immer alleine und (.) ja und da konnte ich sogar am Sonntag hin, denn auch samstags und sonntags mussten die Tische gedeckt werden und abgedeckt werden und so weiter ne und das Baby versorgt und spazieren gegangen werden und so, ja so //mhh//. Das jetzt zur Kindheit.

Ihre Tätigkeiten bei der Familie nehmen dahingehend zu, als dass sie auch an den Wochenenden Arbeit verrichtet und die Betreuung des Kleinkindes übernimmt. Ihre zeitintensiven Tätigkeiten mit einer geringen Entlohnung von 20 DM pro Woche stellen für Frau Clement keine Belastung dar. Im Gegenteil, sie erhält hier das Gefühl »gebraucht« (Z:356) zu werden, womit ihre Tätigkeiten und der Arbeitsaufwand einen »Sinn« (Z:357) erhalten. Während sie in der eigenen Familie und auf dem Gymnasium abgelehnt und ausgegrenzt wird, findet sie im Internat über ihre Tätigkeiten, die sie für die Internatsleitung verrichtet, einen Platz in der Familiengemeinschaft und gleichzeitig Anerkennung. Während Frau Behrens im Vergleich zu Frau Clement gewisse Handlungen unterlässt und eigene Interessen unterdrückt, um Anerkennung zu erhalten und Teil der Gemeinschaft zu werden, übernimmt Frau Clement Tätigkeiten im Internat, um von der Familie anerkannt zu werden.

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Zusammenfassung des Typus ›Suche nach Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit in Organisationen und Kollektiven nach Ausgrenzungserfahrungen‹ Das Typische der Fälle, die diesen Typus konstituieren, ist, dass sich die Frauen in Organisationen und in Kollektiven auf die Suche nach Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit begeben. Diese Suche erfolgt im Anschluss an Ausgrenzungserfahrungen im Kindes- und Jugendalter. In den vorliegenden Fällen werden diese in der eigenen Herkunftsfamilie und im schulischen Kontext aufgrund der sozialen Lage der Herkunftsfamilie und der Religionszugehörigkeit erfahren.14 Die Frauen begeben sich nach den Ausgrenzungserfahrungen im Rahmen anderer Organisationen (Schule) und Kollektive (Peer-group, Klassengemeinschaft) auf die Suche nach Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit. Die Orientierung der Kategorie ›Suche nach Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit in Organisationen und Kollektiven nach Ausgrenzungserfahrungen‹ drückt sich in einem Fall in den Anknüpfungsversuchen an den Alltag einer anderen Familie aus. Über die Erledigung von Aufgaben wird Anerkennung angestrebt und die Teilhabe an der Familiengemeinschaft erreicht. In einem anderen Fall äußert sich die Suche nach Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit in der Teilnahme an kollektiven jugendspezifischen Freizeitaktivitäten. Dabei werden eigene Interessen zurückgestellt, aus Angst vor erneuter Exklusion. Die Zugehörigkeit zu diesem Typus ist insofern politisch-relevant, als dass die Orientierung zu einem späteren Zeitpunkt und unter anderen Bedingungen zu politischen Handlungen führen kann. Wie später noch dargestellt wird, gibt es Relationen zwischen diesem Typus und der letzten typisierten Ausprägung der ›Entwicklung einer geschlechtsspezifischen Perspektive im Anschluss an eine allgemeine Politisierung‹ (siehe Kap. V.2.3). V.1.2.2

Suche nach eigener Lebensweise über die Ausrichtung an Organisationen und Kollektiven nach intergenerationeller Distanzierung

Über die komparative Analyse der vorliegenden Fälle wurde eine weitere fallübergreifende Orientierung deutlich, die zu dem Typus ›Suche nach eigener Lebensweise über die Ausrichtung an Organisationen und Kollektiven nach intergenerationeller Distanzierung‹ abstrahiert werden konnte. Diese Orientierung ist in den Fällen erkennbar, die bereits dem Typus ›Politisierung über intergenerationelle Distanzierung‹ zugeordnet werden konnten. Die Suche nach einer eigenen Lebensweise geht somit sowohl mit einer Distanzierung zur erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis, als auch mit einer Distanzierung zu explizit formulierten Erwartungen der Be14 Geschlecht wird von beiden Frauen an dieser Stelle nicht als Diskriminierungsmerkmal erfahren.

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zugspersonen einher (siehe Kap. V.1.1.2). Diese Orientierung ist als politischrelevant zu bezeichnen, weil sie an dieser Stelle noch zu keinen explizit-politischen Handlungen führt. Sie wird in den Schilderungen der Fälle Frau Esser, Frau Schaal, Frau Kielen und Frau Neuer deutlich.15 Im Anschluss an eine intergenerationelle Distanzierung richten sich diese vier Frauen in der voruniversitären Lebensphase an einer oder mehreren gleichaltrigen Personen in jugendspezifischen Organisationen, wie Schule oder Jugendvereine, aus und begeben sich auf die Suche nach einer eigenen Lebensweise. Diese Suche äußert sich in der Ausformung eigener Interessen und Vorstellungen bis hin zur Schaffung einer eigenen Alltagspraxis jenseits der bisher erfahrenen und vermittelten Alltagspraxis der Herkunftsfamilie. Die Frauen zeigen in unterschiedlichen Kontexten Handlungen gegenüber den Bezugspersonen, in der ihre Ablehnung deutlich wird. In der voruniversitären Lebensphase entwickelt die junge Frau Esser nach dem Schulwechsel auf das Gymnasium eine enge freundschaftliche Beziehung zu einer Schulfreundin, was sie im Verlauf ihrer Erzählung genauer erläutert. Im folgenden Abschnitt lässt sich über ihre Erinnerungen an die Schulzeit und über erfahrene innerfamiliäre Konflikte rekonstruieren, dass sich Frau Esser, orientiert an dieser Schulfreundin, auf die Suche nach einer eigenen Lebensweise begibt. Die Freundin wird für sie zur primären Bezugsperson. Gemeinsam schließen sie gewöhnliche jugendspezifische Aktivitäten aus und suchen nach Aktivitäten, die sie von anderen Jugendlichen abgrenzen und über die sie ihre exklusive Zweierfreundschaft aufrechterhalten können. Die Suche geht im Fall Frau Esser mit einer Distanzierung zur erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Eltern einher, die bereits in Kapitel V.1.1.2 rekonstruiert wurde, jedoch auch in diesen Erzählabschnitten erneut deutlich wird. Sie distanziert sich von familiären Normen wie dem sonntäglichen Kirchenbesuch und verfolgt mit ihrer Freundin eigene Interessen. Im folgenden Abschnitt beschreibt Frau Esser die Distanzierung zu den Eltern und die Freundschaft zur Schulfreundin (Z:116-124): Esser: Also das bedeutete dann, dass ich einfach ähm mit den Eltern darüber wirklich nicht, in -nem Austausch sein konnte und (2) also das, was das emotional bedeutet diesen Weg zu gehen und sich dann auch so, eigentlich auch vom Elternhaus immer weiter zu entfernen (2) das war (2) das fand ich schon -ne ziemlich schwierige (.) Zeit (2) und äh das hat, das wurde so ein bisschen gestützt und äh aufgefangen eben durch diese Freundschaft, weil (.) wir beide uns doch 15 Nur bei Frau Kasten und Frau Jahnsen blieb eine solche Orientierung aus, obwohl sie zuvor dem Typus ›Politisierung über intergenerationelle Distanzierung‹ zugeordnet werden konnten.

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auch immer so als dann so, als die so zweier Freundinnenpaar //mmh// (.) äh unterstützt haben und in unserer Einzigartigkeit ((lacht)) bestärkt und bestätigt haben ja.

Frau Esser erinnert sich, dass sie hinsichtlich ihrer schulischen Erfahrungen nicht im Austausch mit ihren Eltern stand und sich in der gymnasialen Zeit immer mehr von diesen entfernte, was sie aus heutiger Perspektive als »schwierige (.) Zeit« (Z.120) bewertet. Unterstützung erfährt Frau Esser vor allem von einer Schulfreundin, mit der sie gemeinsame Interessen entwickelt und sich austauschen kann. Über diese Freundschaft kann sie die Distanzierung zu den Eltern kompensieren. Bedeutungszuwachs bekommt diese Freundschaft durch den Status der Exklusivität, den sie ihrer Freundschaft selbst zuschreiben und worüber sie sich gleichzeitig von anderen Jugendlichen abgrenzen. Die Diskrepanz zwischen ihrer sozialen Herkunft und der im Jugendalter neu entwickelten Vorstellung einer eigenen Lebensweise – orientiert an der erlebten Alltagspraxis der Familie ihrer Freundin sowie außerfamiliären Organisationen, hier das Gymnasium – über die sich die Suche nach einer eigenen Lebensweise dokumentiert, wird im folgenden Abschnitt deutlich (Z:703-719): Esser: Das kann ich mir so im Nachhinein kann ich mir das lebhaft vorstellen, das ging so nach beiden Seiten also meine Eltern oder meine Familie konnte nicht mehr nachvollziehen, was ich da eigentlich in dieser Schule erlebe (.) und umgekehrt hab ich (2) äh ich habe meine Eltern (2) äh auch irgendwie immer gegen diese Schule sozusagen verteidigt innerlich (.) ähm ich dachte immer ähm (.) dass ist ja hier jetzt ein ganzes äh (.)Bildungsniveau und ein Bildungsumfeld was immer mit Ansprüchen und mit Normen und mit Standards arbeitet, die nicht die meiner Eltern sind //ja// (2). Und dagegen hab ich die sozusagen innerlich immer verteidigt (

) eigenes, ja //mmh// und wollte nicht äh irgendwie gelten lassen, dass die unter

dieses Raster, äh jetzt irgendwie als weniger gebildet oder so was fallen //ja// (.) Das so war so=ne eine (.) ähm so=ne innere Loyalität (2) das kann ich mich auch gut erinnern an so Formulierungen die mich aufgebracht haben, das ich gar nicht formulieren konnte was mich daran (.) äh ich hätte es vor allen Dingen ja auch nicht vorbringen getraut. Wenn ein Lehrer gesagt hat, das ist irgendwie ungezogen oder so was, ja, dann dachte ich mir, was bildet der sich eigentlich ein, ja, wie kann der, das ist doch ein Urteil über meine Eltern.

Der Distanzierungsprozess zur ihrer Herkunftsfamilie stellt für Frau Esser ein Dilemma dar, was sich in ihren Handlungen und ihrer emotionalen Unsicherheit widerspiegelt und sich gleichzeitig im Fehlen eines endgültigen Bruchs zum Elternhaus ausdrückt. Einerseits bemerkt sie aufgrund des nicht vorhandenen Verständnisses der Eltern über ihren Schulalltag sowie der Wahrnehmung ihres außerfamiliären Umfeld (Familie der Freundin und das Gymnasium), dass die Alltagspraxis der Eltern und der damit einhergehende Familienentwurf von ihren eigenen Vorstellun-

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gen einer für sie angemessenen Lebensweise stark abweichen. Andererseits ist die emotionale Verbindung zu ihrer Familie so groß, dass sie beginnt, ihre Eltern in der Schule, wie sie sagt, »innerlich« (Z:712) zu verteidigen. In diesem Zusammenhang führt sie gleichzeitig persönliche ›Defizite‹ im schulischen Bereich auf ihre soziale Herkunft zurück. Insgesamt wird deutlich, dass Frau Esser sich in der Jugendphase von ihren Eltern distanziert, jedoch weiterhin, insbesondere auf einer emotionalen Ebene, an ihnen festhält. Dass im Jugendalter und mit der Distanzierung zu den Eltern, Aktivitäten mit ihrer besten Freundin an Bedeutung gewinnen, dokumentiert sich auch in den folgenden Passagen. Auf die Frage der Interviewerin, welchen Aktivitäten sie während der Schulzeit und in ihrer Jugend nachgeht, erzählt Frau Esser Folgendes (Z:728743): Esser: Ich hab ähm mit der Freundin ähm mitgemacht. Also Turnen und so was, das hab ich überhaupt nicht gemocht. Ich hab jede Gelegenheit genutzt ähm mit dem berühmten Entschuldigungsheftchen ähm mich davon zu dispensieren, (.) ich habs gehasst, ich habs richtig gehasst. Ich meine wenn man es gemacht hat, dann war ja alles gut und schön aber (.) das irgendwie immer so eingequetscht in den Unterricht, dann aus den Klamotten, am schlimmsten war=n immer die Winterschwimmunterricht, ja //ja// uhaha (.) aus diesem Zeug aussteigen und dann alles wieder reinzwängen und dann das @kratzige Zeug@ (.) und diese Chlorwasserveranstaltung, das das hat mir überhaupt keinen Spaß gemacht. Also das war das war überhaupt nicht äh mein Ding. @Aber dann@, es gab ähm eine Philosophiearbeitsgruppe zum Beispiel, die hab ich auf jeden Fall mitgemacht und fand im Sommer sogar schon um sieben Uhr statt, morgens. (.) Und äh, wir waren äh (2) warn ich glaube in dem einen Schuljahr oder Schulhalbjahr waren wir nur wir zwei, @also meine Freundin und ich@ und dieser Lehrer.

Die Aktivitäten in der Schulzeit unternimmt Frau Esser am liebsten mit ihrer Freundin. Während sie sportliche Pflichtveranstaltungen ablehnt, interessiert sich Frau Esser gemeinsam mit ihrer Freundin für eine Philosophiearbeitsgruppe, die außerhalb der regulären Unterrichtsstunden beginnt. Sowohl über die Ablehnung des Sportunterrichts als auch über die Teilnahme an der Philosophiearbeitsgruppe, in der Frau Esser und ihre Freundin im Sommer sogar die einzigen Teilnehmer sind, können sie die Exklusivität ihrer Freundschaft, in Abgrenzung zu den Eltern und anderen Jugendgruppen, aufrecht erhalten. Gemeinsam mit der Freundin werden Aktivitäten gesucht und betrieben, die sie von anderen Jugendlichen unterscheiden. Darüber hinaus wird in der voruniversitären Lebensphase bereits ein Interesse für intellektuelle Themen deutlich, das jedoch nicht weiter expliziert wird. Gemeinsam mit ihrer Freundin begibt sich Frau Esser einhergehend mit der Distanzierung zur erlebten Alltagspraxis der Eltern auf die Suche nach einer eigenen

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Lebensweise. Dieses dokumentiert sich im Austritt aus der Kirche, als Frau Esser 14 Jahre alt ist (Z:749-768): Esser: Ähm, ich bin sozusagen mit vierzehn (.) äh sozusagen (.) aus der Kirche ausgetreten, ja. (.) Äh, also meine Familie ist bis heute aktiv katholisch, (.) gehen alle, meine Schwester auch nicht, aber mein Bruder sogar auch, gehen regelmäßig in die Kirche (.) und das haben die damals natürlich erst recht getan und das war das war=n ziemlich harter Schritt, aber ich (.) war mir das:: (.) irgendwie intellektuell schuldig, dass ich dann irgendwann mal ge-, na es war nicht irgendwann, das war eine große (.) große (.) Auseinandersetzung und eben auch gemeinsam mit dieser Freundin und unsere ganzen philosophischen Diskussionen, die wir hatten und was wir gelesen haben (.) eigentlich sehr sehr gründlich, und dann hab ich (.) meine Mutter vor allen Dingen und die war ziemlich getroffen davon, gesagt, ich geh jetzt nicht mehr in die Kirche. (2) Und das war hart, das war für beide Seiten sehr hart, ich war ja, also vierzehn war ich und ich hab ja noch bis zum Ende der Schule (.) äh zu Hause gewohnt und das war äh immer wieder jeden Sonntag (.) gab es viele Gelegenheiten (.) äh heftige Spitzen gegen mich loszulassen (.) und wenn die heilige Familie aus ihrem heiligen Gottesdienst zurück kam haben sie mir dann gleich mal=n paar nicht gerade sehr Nächstenliebe, Stiche versetzt @(.)@. Und ich äh ich musste das halt irgendwie (.) äh (2) aushalten //mmh//. Ich fand das richtig so und konsequent //mmh//. Aber es war schon eine Übung in (.) äh (.) also mich da zu behaupten.

Wie sich hier dokumentiert, distanziert sich Frau Esser von ihrer Familie und den Erwartungen der Eltern, in dem sie aus der Kirche austritt. Diese Entscheidung führt zu großen familiären Konflikten, vor allem mit ihrer Mutter. Frau Esser begründet ihren Austritt aus heutiger Perspektive mit einer intellektuellen Entwicklung, die sie in ihrer Jugend, insbesondere im Rahmen der Philosophiearbeitsgruppe und den philosophischen Diskussionen gemeinsam mit ihrer Freundin und dem Religionslehrer, erfährt. Der Philosophieunterricht verstärkt somit, neben der Aufrechterhaltung der Exklusivität der Freundschaft, ihre Suche nach einer eigenen Lebensweise und geht gleichzeitig mit einer Distanzierung zu den elterlichen Erwartungen einher. Trotz der Konflikte mit der Familie nimmt Frau Esser eine unbeirrte Haltung ein und ist daran interessiert, ihren eigenen Willen und ihre Interessen, die sie gemeinsam mit ihrer Freundin entwickelt hat, gegenüber ihren Eltern durchzusetzen. Insgesamt wird hier deutlich, dass sich Frau Esser in der Jugendphase, orientiert an der exklusiven Freundschaft sowie den Erfahrungen in der Philosophiearbeitsgruppe, auf die Suche nach einer eigenen Lebensweise begibt, die gleichzeitig mit einer Distanzierung zu der erlebten familiären Alltagspraxis einhergeht.

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Auch in dem folgenden Erzählabschnitt aus dem Interview mit Frau Schaal wird der Typus ›Suche nach eigener Lebensweise über die Ausrichtung an Organisationen und Kollektiven nach intergenerationeller Distanzierung‹ deutlich. Die Distanzierung zu den Eltern beginnt bei Frau Schaal mit dem Erleben des schlechten Beziehungsverhältnisses der Eltern zueinander, das Frau Schaal als belastend erfährt. Darüber begibt sich Frau Schaal im Jugendalter auf die Suche nach einer eigenen Lebensweise. Dies dokumentiert sich im folgenden Abschnitt (Z:193-202): Schaal: Und meine Eltern haben eine ziemlich unglückliche Ehe geführt und ich hab mich deshalb eben umso intensiver mit meinen Klassenkameradinnen beschäftigt //mmh// also so quasi wenn man so will meine (2) soziale Welt war eben eher in meiner Klasse, deshalb war ich auch immer totunglücklich, wenn ich nicht in die Schule gehen konnte, nicht etwa, weil ich eben so eifrig gewesen wäre, aber weil ich das Klima in der Klasse halt so geschätzt habe //ja//. Und dann hatte ich auch -ne Freundin, (.) wo, da hab ich mich dann auch mit deren Eltern so befreundet, dass ich die auch besucht hab, wenn die Freundin gar nicht da war, also ich hab immer versucht so=n bisschen versucht aus diesem Elternhaus rauszukommen.

Frau Schaal verbringt viel Zeit mit ihren Klassenkameradinnen und definiert ihre Schulklasse rückblickend als ihre »soziale Welt« (Z:196). Die Institution Schule und die in ihr versammelten Jugendlichen werden für sie zu einem Ort, an dem sie sich gut aufgehoben fühlt, sich austauschen und vor den Auseinandersetzungen ihrer Eltern fliehen kann. Im Rahmen der Distanzierung zu den Eltern erhält neben der Institution Schule, auch eine gute Freundin, aber insbesondere deren Familie sowie die familiären Räumlichkeiten, eine besondere Bedeutung für Frau Schaal. Wie sich hier dokumentiert, sucht sie aktiv Orte auf, an denen sie sich wohlfühlt und an denen sie mit den Konflikten innerhalb der Familie nicht konfrontiert wird. Somit sind der Besuch der Schule als jugendspezifischer Ort und die Freundschaft zu einer Gleichaltrigen für Frau Schaal Gelegenheiten, die von ihr gewünschte Distanz zu den Eltern aufrecht zu erhalten und zugleich eigene Interessen und Einstellungen jenseits der erlebten Alltagspraxis der Eltern zu entwickeln. Über die Distanzierung zur eigenen Familie, die im Fall von Frau Kielen mit einer Differenzwahrnehmung zwischen der erfahrenen Alltagspraxis ihrer Eltern und der Alltagspraxis der Familien ihrer Mitschülerinnen sowie einer amerikanischen Gastfamilie einhergeht (siehe Typus ›Distanzierung zur erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen‹, Kap.V.1.1.2), begibt sich auch Frau Kielen auf die Suche nach einer eigenen Lebensweise. Dies dokumentiert sich in den folgenden Erzählpassagen (Z:685-698):

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Kielen: Also ich hab ja dann in als ich nach Amerika ging, das hab ich auch irgendwie völlig alleine mir organisiert, da war ich in einer stinkreichen reaktionären Familie anders kann man es gar nicht sagen und ich habe mir da alles drauf geschafft, was man Zivilisationstechniken brauchte in der besseren Gesellschaft, ja also wie man Hummer isst und dies und das und so, ich hab da angefangen Tennis zu spielen, also das gehörte in meiner Familie sozusagen absolut nicht dazu //ja// und ähm ich hab es nie ganz gelernt. Also das muss man dazu sagen. (.) Aber es war klar was ich da mache ja, //mmh// also ich schaffe mir diese Sachen drauf und die beeindrucken mich dann nicht mehr, als ich kennengelernt hatte, was das ist und was das bedeutet. Also ich muss da nicht irgendwie hinterher sein, also ich muss nicht den Aufsteiger machen wirklich, sondern ich habe das kennengelernt und gesagt okay, kann ich, brauch ich nicht //mmh// oder brauch ich nicht unbedingt oder brauch ich nur, wenn ich es wirklich brauche.

Frau Kielen verbringt eine Phase ihrer Schulzeit in den USA und betont in diesem Zusammenhang, dass sie sich ihre Reise selbständig organisierte, womit sie auf eine Entscheidungs- und Organisationsautonomie hinweist. In den USA lebt sie in einer »stinkreichen« (Z:687) Familie und erlebt hier einen familiären Alltag, den sie auch bereits in der Schule bei ihren Klassenkameradinnen beobachtete (Z:655-665). In der amerikanischen Familie kann Frau Kielen die bereits in der Schulzeit wahrgenommene andere Form der Alltagspraxis, die sich in dieser Familie insbesondere in den Umgangsformen und den für sie außergewöhnlichen Freizeitaktivitäten äußert, kennenlernen und diese auch temporär umsetzen. In einer Eigeninterpretation hebt sie hervor, dass es nicht ihr Ziel war, die Lebensweise dieser Familie zu übernehmen, sondern dass sie über diese Erfahrungen neue Möglichkeiten kennenlernte. Die Lebensweise der amerikanischen Familie wird zwar zum Teil angenommen, bestimmte Verhaltensweisen jedoch wieder verworfen und infrage gestellt. Damit macht sie zugleich deutlich, dass auch die Lebensweise dieser amerikanischen Familie nicht gänzlich von ihr anerkannt wird. Im Vergleich zu den anderen Schilderungen sucht Frau Kielen nicht im Austausch mit anderen Jugendlichen in Organisationen nach einer eigenen Lebensweise. Sie orientiert sich an einer anderen Familie, dieses jedoch im Rahmen eines schulischen Austausches. Mit ihrer frühen Heirat (siehe Z:47-53; Typus ›Distanzierung zur erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen‹), so Frau Kielen, hat ihre Suche nach »Nähe«, »Sicherheit und Bestätigung« (Z:746-748) ein Ende. In Distanz zu der Alltagspraxis ihrer Eltern kann sie so eine eigene Lebensweise führen. Die über die Heirat entwickelte Alltagspraxis trägt Frau Kielen weiterführend in die universitäre Lebensphase hinein. Diese Lebenspraxis wird von ihr dann, wie noch deutlich werden wird, als Studentin infrage gestellt (siehe Kap. V.2.1.4). Auch Frau Neuer begibt sich in der voruniversitären Lebensphase auf die Suche nach einer eigenen Lebensweise, wobei sie sich dabei an ihrer Peer-group ausrich-

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tet. Mit der Distanzierung zur Alltagspraxis ihrer Eltern erhalten jugendliche Kollektive eine besondere Bedeutung für Frau Neuer. Auf die Aufforderung der Interviewerin, Frau Neuer mögen etwas über ihre Freundschaften in der voruniversitären Lebensphase erzählen, erinnert sie sich, dass sie vor allem zunächst Mädchenfreundschaften hatte und im Jugendalter schließlich auch Freundschaften zu Jungen pflegte. Über ihre Beziehung zu Gleichaltrigen schafft sich Frau Neuer eine Gegenwelt zu dem elterlichem Haus und Hof, in der sie eigene Interessen verfolgen kann, Unterstützung erhält und eine ganz andere Rolle in der Gruppe einnimmt, als ihr in der eigenen Familie zugesprochen wird (Z:322-347): Neuer: Meine Freundschaften (.) also ich hatte in der Volksschule eine Freundin, wir haben zusammen im Chor gesungen, im Kinder gemischten Chor. (2) Und also -ne richtige, wie man halt eine Freundin hat, ja. Und dann hatte ich, ich hatte immer und dann am Gymnasium hatte, hatte ich auch -ne Freundin. Das war eigentlich (2) also bevor ich angefangen hab mich für Männer zu interessieren, hatte ich sehr intensive Frauen- ähm Mädchenfreundschaften. So mit allem Herzschmerz und Briefchen schreiben und sich abholen und aber auch Enttäuschungen. Ich durfte niemanden zum Geburtstag einladen und ich wollte ich habe im Januar Geburtstag und wollte immer so gerne mit dem Pferdeschlitten @meine Freundin aus der Stadt abholen@, das ist aber alles nicht gelungen oder mehr also, und wir haben Theater gespielt, also wir hatten ja dann im Sommer wenig Zeit, dann haben wir abends immer nur sehr spät, äh ja haben immer Schlagball gespielt. Im Winter hatten wir schon mehr Zeit //mhm// ja da durften wir schon mehr spielen und da haben wir dann (.)auf dem Hof waren ja nach dem Krieg sehr viele Kinder, wir hatten Flüchtlingskinder und Evakuierte, wir waren, ich glaube damals ein halbes ja ein Dutzend Kinder alles ja. Und wir waren dann so richtig auch so in einer, ich war auch immer so ein bisschen -ne Gang-Leaderin und, also wird man heute sagen, damals gabs den Ausdruck noch nicht und dann haben wir, haben wir (.) alles Mögliche veranstaltet, Wettbewerbe und (.) wir haben uns mit den Jungs aber auch geschlagen, sind Schlittschuhe gelaufen, also es war eigentlich (.) aber also so Schulfreundinnen waren Mädchen //mhm// ausgesprochen waren Mädchenfreundschaften //hmm//. Ja und die eine wollte mir ja dann auch so, wollte mir unbedingt helfen, dass ich wieder in ihre Klasse zurückkommen.

In diesem Erzählabschnitt wird deutlich, dass Frau Neuer in der Schulzeit viele einzelne Freundschaften hat und einer jugendspezifischen Gruppe, die sich aus Nachbars- und Flüchtlingskindern zusammensetzt, angehört. Ihre Kindheit ist von der Arbeit auf dem elterlichen Hof und den schwierigen Nachkriegsbedingungen geprägt. Die Eltern fördern ihre jugendspezifischen Interessen nicht, so dass die Jugendgruppe etwas Besonderes für Frau Neuer darstellt. Über diese Jugendgruppe kann sie eigene Interessen verfolgen, aber auch eine andere Rolle als in der Familie einnehmen, die ihr von den anderen Jugendlichen zugesprochen wird. Während sie von den Eltern immer wieder zur Arbeitspflicht aufgerufen wird und dabei ihre

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Wünsche nicht beachtet beziehungsweise sogar gezielt unterdrückt werden, weil sie nicht den elterlichen Erwartungen entsprechen, übernimmt sie in ihrer Gruppe sogar eine Führungsrolle. Sie bezeichnet sich selbst rückblickend als »Gang-Leaderin« (Z:340). Frau Neuer orientiert sich in der Jugendphase an jugendlichen Kollektiven, die eine Gegenwelt zu familiären Lebens- und Arbeitswelt darstellen. Sie distanziert sich von der erlebten Alltagspraxis der Eltern und von den darüber hinaus explizit formulierten Erwartungen und begibt sich gleichzeitig auf die Suche nach einer eigenen Lebensweise. Die Freundschaften und die Aktivitäten mit anderen Jugendlichen nutzt sie, um der Arbeit auf dem elterlichen Hof, dem autoritären Erziehungsstil und der Aufsicht zu entkommen. Die vollzogene Distanzierung zur Alltagspraxis der Eltern und der Beginn der Suche nach einer eigenen Lebensweise dokumentieren sich, wie bereits in Kapitel V.1.1.2 herausgearbeitet, in der Nichteinhaltung elterlicher explizit formulierter Erwartungen sowie der Entscheidung, den elterlichen Hof schließlich zu verlassen und als Au-pair-Mädchen ins Ausland zu gehen. Im Ausland dokumentiert sich die Fortsetzung der Suche nach einer eigenen Lebensweise, indem sie erneut eine Tätigkeit und die damit verknüpfte Form der Lebensweise ablehnt (Z:355-360): Neuer: Ja und dann (2) ja und dann bin ich als Au-pair-Mädchen, das war nicht so, also in England war ich erst in einem Mädchenpensionat, das habe ich nicht ausgehalten. Das war es waren alles lauter reiche Mädchen //mhm// in so einem englischen Internat und ich sollte für die kochen und sollte sie bedienen und die Betten machen und so und da bin ich weggerannt.

Frau Neuer geht nach dem Abgang von der Schule für ein halbes Jahr als Au-pairMädchen nach England. Hier lebt sie zunächst in einem Mädchenpensionat/internat und bekommt die Aufgabe im Haushalt mitzuhelfen. Die ihr aufgetragenen Tätigkeiten, innerhalb derer sie für »reiche Mädchen (…) kochen und (…) die [sie] (…) bedienen« (Z:358f.) soll, entsprechen nicht ihren Vorstellungen einer optimalen Lebensweise, so dass sie diese Tätigkeit nicht weiter ausführen möchte und beschließt die Institution zu verlassen. In diesem Internat erlebt Frau Neuer eine elitäre Lebenswelt, an der sie jedoch aufgrund ihrer Au-pair-Tätigkeit nicht teilhaben kann. Obwohl sie im Internat lebt, nicht viel älter als die Schülerinnen ist und die Regeln des Internats auch für sie gelten (sie darf das Internat nicht ohne Weiteres verlassen), gehört sie lediglich zum Hauspersonal. Diese erlebte Differenz zwischen ihr und den anderen Mädchen stimmt sie unzufrieden. Die ihr über ihre Tätigkeit als Au-pair-Mädchen auferlegte Alltagspraxis lehnt die junge Frau Neuer ab, ähnlich wie sie bereits auf dem elterlichen Hof die für sie vorgesehene und explizit erwartete Lebensweise ablehnte. Sie entscheidet sich das Internat zu verlassen (Z:371-382):

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Neuer: Und dann bin ich irgendwann, die haben natürlich auch aufgepasst und dann bin ich aber irgendwann, wir sind ja da in die Schule gegangen, also in die Sprachschule, um Englisch zu lernen und da habe ich -ne Norwegerin kennengelernt und sie hat gesagt, also bei mir nebenan da ist ein nettes Ehepaar Mr. und Mrs. (Name), die suchen eine (.) äh suchen auch ein //hmm// Au-pair-Mädchen (.) und äh dann bin ich mit dem Gemüsehändler, der hinten im Hinterhof, bin ich äh kleines Köfferchen, bin ich in den Wagen und der hat mich da rausgeschmuggelt //hmm//. Und dann bin ich zu Mr. und Mrs. (Name) und die waren sehr nett, der war Barrister, äh das ist ein so ein Staatsanwalt in äh //hmm// also das Rechtssystem in England ist ja anders. Sie war Malerin, war immer nicht da und sie hatte zwei Kinder, also es waren zwei Jungs da und mit den Jungs bin ich gut zurechtgekommen.

Ihre Suche nach einer neuen Bleibe, in der sie eine andere Lebensweise anstrebt, wird von Frau Neuer erneut – ähnlich wie der Plan als Au-pair-Mädchen auszureisen – aktiv geplant. Eine Bekannte empfiehlt ihr eine Gastfamilie, die auf der Suche nach einem Au-pair-Mädchen ist. Mit Hilfe des Gemüsehändlers, der das Internat beliefert, flieht sie und zieht zu einer neuen Gastfamilie. In dieser Familie fühlt sich Frau Neuer wohler und erlebt eine Alltagspraxis, die sich deutlich von der erlebten Alltagspraxis der eigenen Familie und dem Leben und Arbeiten im Internat unterscheidet.16 Nach ihrer Rückkehr zieht Frau Neuer in eine Stadt, die vom elterlichen Hof weit entfernt liegt und erhält so auch weiterhin eine gewisse räumliche Distanz zur Familie aufrecht. Hier nutzt sie die erlernten Sprachen – Englisch und Französisch – und macht eine Dolmetscherausbildung. Danach bewirbt sie sich als Stewardess und beginnt für eine große Fluggesellschaft zu arbeiten (Z:42-56). Schließlich lernt Frau Neuer ihren zukünftigen Ehemann kennen, den sie kurze Zeit später heiratet, wie sie im folgenden Abschnitt erläutert (Z:56-61): Neuer: Und da habe ich dann in P-Stadt meinen Mann kennengelernt (3) und mich dann relativ schnell entschieden, weil das war damals die Frauen, also die Frau und Karriere war damals immer doch noch über Heirat //hmm//. (.) Ja, also alle meine Freundinnen es war so, wir waren so gepolt //hmm//, ja also einen Mann zu finden, einen netten Mann zu finden, der beruflich auch eine Perspektive hatte.

16 Bevor Frau Neuer nach Deutschland zurückkehrt, zieht sie zudem nach Frankreich, wo sie erneut als Au-pair-Mädchen in einer Gastfamilie lebt und arbeitet. Auch hier erlebt sie einen Familienalltag, der sich von der der eigenen Herkunftsfamilie unterscheidet (Z:385390).

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Ihre frühe Heirat begründet sie aus heutiger Perspektive damit, dass es in dieser Zeit üblich war früh zu heiraten. Die junge Frau Neuer richtet sich an ihren Freundinnen aus und erkennt in der Heirat eines beruflich erfolgreichen Ehemannes die Möglichkeit, einerseits finanziell abgesichert eine eigene Karriere machen zu können, andererseits die angestrebte bürgerliche Lebensweise, die sie bisher gesucht hat, zu stabilisieren. Zusammenfassung des Typus – ›Suche nach eigener Lebensweise über die Ausrichtung an Organisationen und Kollektiven nach intergenerationeller Distanzierung‹ Die diesen Typus konstituierenden Fälle haben die Gemeinsamkeit, dass sich die Frauen nach einer intergenerationellen Distanzierung über die Orientierung an Organisationen und Kollektiven auf die Suche nach einer eigenen Lebensweise begeben. Damit gehören alle Fälle, die diesem Typus zugeordnet werden können, auch dem bereits herausgearbeiteten Typus ›Politisierung über intergenerationelle Distanzierung‹ (Kap. V.1.1.2) an. Innerhalb jugendspezifischer Organisationen und in Kollektiven werden, in Distanz zu den erlebten elterlichen Alltagspraktiken und explizit-formulierten Erwartungen, eigene Interessen, Vorstellungen und Wertehaltungen entwickelt, ausprobiert oder auch erneut verworfen. Bei der Suche nach einer eigenen Lebensweise erhalten einzelne Personen wie eine Freundin, aber auch Kollektive wie die Peer-group oder aber auch andere Familien sowie Organisationen wie die Schule eine besondere Bedeutung. Hier setzen sich die Frauen in den Fällen, die diesen Typus konstituieren, mit politisch-relevanten Themen (beispielsweise Bildung, Philosophie, Beruf) auseinander und erlernen politisch-relevante Fertigkeiten (beispielweise die Leitung einer »Gang«). Drei der Fälle entscheiden sich bereits in der voruniversitären Lebensphase für eine konventionelle Lebensweise und heiraten. Die Zugehörigkeit zu diesem Typus kann als politisch-relevant bezeichnet werden. Denn wie noch deutlich werden wird, wird die angestrebte oder bereits entwickelte Lebensweise in der universitären Lebensphase im Kontext der Studentenbewegung und im Austausch mit politisch aktiven Studierenden infrage gestellt (siehe Kap. V.2.1.4). V.1.2.3

Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten

Über die Schilderungen von drei Fällen wird im Folgenden der dritte Typus abstrahiert. In den Schilderungen der Fälle Frau Jahnsen, Frau Weser und Frau Clement wurde eine fallübergreifende Orientierung erkennbar, die zum Typus ›Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten‹ in der voruniversitären Lebensphase abstrahiert wird. Diese Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten geht mit einem Interesse für politische Themen einerseits sowie einer Neugier für beobachtete politische Aktionen andererseits einher. In der Schule und in einem Fall am Arbeitsplatz

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zeigen die drei Frauen in der voruniversitären Lebensphase explizit-politische Handlungen. Daher kann diese Orientierung als explizit-politisch bezeichnet werden. In ihrer Eingangserzählung erinnert sich Frau Jahnsen an ihre Schulzeit und in diesem Zusammenhang daran, dass das Thema Nationalsozialismus in der Schule, wie sie attestiert, »systematisch (…) übersprungen« (Z:62f.) wurde. Aus heutiger Perspektive ordnet sie sich einer »Generation« (Z:58) zu, die das »typische Schweigen« erlebte (Z:58) (siehe Typus ›Distanzierung zu den erlebten politischen Einstellungen der Bezugspersonen‹, Kap. V.1.1.2). Das Aussparen der deutschen Vergangenheit wird für sie gegen Ende der Schulzeit zu einem Politikum. Im Folgenden erinnert sie sich an das letzte Jahr vor dem Abitur, das bereits von den Studenten und Schülerprotesten ›1968‹ geprägt war (Z:82-89): Jahnsen: Und diese ganzen politischen Auseinandersetzungen fingen ja schon in der letzten Klasse Abitur an //hmm//. Da gab es dann auch Auseinandersetzungen auf irgendeine (2), es gab ja auch Schülerdemos, und wo man dann hinging, obwohl unsere Lehrerin uns das verboten hat. Ich bin aber auch nicht hingegangen, einige sind hingegangen, ich war glaube, einige zwei oder so sind hingegangen und irgendwie schwere Sanktionen für angedroht bekommen. //hmm// Hmm das war dann Benno Ohnesorg, genau als dann Benno Ohnesorg war, jedenfalls fing es so, sage ich mal, so -ne Politisierung fing ein Stück weit schon in der Schule an.

Wie sich hier dokumentiert, zeigt Frau Jahnsen in der Schule eine Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten, die sie im Kontext der Schüler- und Studentenproteste wahrnimmt. Ihre politische Aktivität begrenzt sich in der Schulzeit zunächst auf die Teilnahme an Diskussionen in der Schule. Eine Beteiligung an den Schülerdemonstrationen findet nicht statt, da sie die angekündigten »Sanktionen« (Z:87) der Lehrerin fürchtet. Während Frau Jahnsen, die 1968 das Abitur macht (Z:73), zuvor ihre »Nazilehrer« (Z:60ff.) nicht infrage stellt und keinerlei Kritik äußert, nimmt sie gegen Ende ihrer Schulzeit als Teil eines protestierenden Kollektivs, nämlich der Schülerbewegung, eine kritische Position ein. Die bis dahin erlebte politische Einstellung der Eltern, die einen bestimmten Teil der Vergangenheit tabuisiert, wird in diesem Zusammenhang ebenfalls kritisiert. Sie erinnert sich, dass sie als Schülerin mit ihren Eltern stritt und ihnen Vorwürfe machte, dass sie nicht über den Nationalsozialismus sprachen. Die Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten an der Schule geht in ihrem Fall mit einer Distanzierung zu der erlebten politischen Einstellung ihrer Eltern einher (siehe Typus ›Politisierung über intergenerationelle Distanzierung‹, Kap. V.1.1.2). Insgesamt wird bei diesem Fall deutlich, dass eine besondere Sensibilisierung für politische Themen erst in der Oberstufe

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und auch im Zusammenhang mit den Schüler- und Studentenprotesten entwickelt wird. Auch über die Schilderungen von Frau Clement kann der Typus ›Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten‹ abstrahiert werden. Frau Clement hebt sich insofern von den anderen befragten Personen ab, als dass sie erst auf dem zweiten Bildungsweg zum Abitur kommt und entsprechend vor dem Beginn des Studiums einer Berufstätigkeit nachgeht. Die Studentenbewegung wird von Frau Clement bereits vor dem Eintritt in die Universität wahrgenommen. Wie sie die Demonstrationen ›1968‹ erlebt, beschreibt sie im folgenden Abschnitt (Z:41-49): Clement: Äh (2) da hab ich mich dann auch, da wohnten wir noch in W-Stadt und äh da fing ich an neugierig zu werden, nicht zuletzt, weil meine Vorgesetzte äh immer wenn diese Demonstrationen vorbeizogen, an dem Schaufenster, dann sehr grob äh (.) und wütend von sich gab, die gehörten alle ins Arbeitslager und so, also so dieser Tenor. Und ich mochte sie nicht @(.)@ und //mhh// da wollte ich dann wissen, was da passiert und hab angefangen die Zeitung zu lesen, hab mir immer einen Spiegel gekauft und nichts verstanden. Hab dann den Duden dazu und den Spiegel immer im Zug gelesen und versucht diese Sprache zu verstehen, weil bei uns gab es keine äh keine Bücher oder irgendwie gute journalistische Zeitungen.

Wie hier deutlich wird, hat Frau Clement in der voruniversitären Lebensphase keinen intergenerationellen Austausch mit politischen Themen erlebt, »bei uns gab es keine äh keine Bücher oder irgendwie gute journalistische Zeitungen« (Z:48f.). Erst mit der unmittelbaren Wahrnehmung der Proteste und der geäußerten Kritik ihrer Vorgesetzen kommt es zu einer selbstinitiierten Auseinandersetzung mit den beobachteten Protesten, indem sie sich über Zeitschriften und Zeitungen informiert. Damit zeigt Frau Clement eine gewisse Neugier und Offenheit für unbekannte politische Themen, die sie zu einer ersten Auseinandersetzung mit aktuellen politischen Themen bewegen. Jedoch führt diese theoretische Auseinandersetzung mit den Protesten zunächst zu keiner politischen Aktivität. Wie Frau Clement schließlich in der voruniversitären Lebensphase zu einer studentischen politischen Gruppe findet und an deren politischen Veranstaltungen teilnimmt, beschreibt sie in der folgenden Erzählpassage (Z.59-68): Clement: Und äh, und da waren auch äh Kolleginnen, die eine war gewerkschaftlich organisiert, die war im Betriebsrat ja und äh da war -ne andere Kollegin, mit der ich bis heute eng befreundet bin, die war verlobt damals mit einem äh jungen Mann, der im SDS war //mhh//. Und der verkehrte auch äh im Club Voltaire, war so -ne kleine linke Kneipe, die es heute noch gibt //mhh//. Wo sich ATTAC heute trifft und und noch paar Versprenkelte von uns, aus unserer

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Generation manchmal //mhh//, um ein Glas Wein zu trinken nach einem Kinobesuch. Und dann (2) äh dort äh dort ging meine Freundin mit ihrem Freund dann auch ab und zu hin und die hatten da einen festen Freundeskreis auch alles überwiegend junge Männer aus dem SDS und äh ja da ging ich dann mal mit.

Frau Clement freundet sich in der studentenbewegten Zeit mit einer Kollegin und ihrem Freund an, die beide politisch engagiert sind. Über diese entsteht der Kontakt zu den Mitgliedern des SDS (Sozialistischen Deutschen Studentenbund), an deren Veranstaltungen sie teilnimmt, obwohl sie selbst noch keine Studentin ist. Wie sie im weiteren Verlauf des Interviews beschreibt, hat sie bei diesen Veranstaltungen zunächst Probleme die Inhalte der Diskussionen nachzuvollziehen, »die Sprache verstand ich immer noch nicht so fließend ja @(.)@ geschweige denn, dass ich sie hätte sprechen können« (Z:75ff.). Es ist somit viel mehr die Atmosphäre und die Gemeinschaftlichkeit dieser politischen Veranstaltungen, die sie interessant findet und denen sie mit einer Offenheit begegnet. Angeregt von ihren neuen Freunden und den gemeinsamen Interessen entschließt sich Frau Clement das Abitur nachzuholen (Z:116-126): Clement: Und hab mich dann aber entschlossen auch (.), weil ich dieses Thema Gesellschaft auch so spannend fand für mich und so sinnvoll und ich hatte nun aufgrund meiner Freiflüge genug von der Welt gesehen, also ich wollte, hatte keine Lust mehr auf Hilton-Hotels in //mhh//, wo die Menschen vor der auf der Straße sterben, während ich drinnen meinen, meinen Pfirsich mit Messer und Gabel aß und das war irgendwie nicht mehr, wie gesagt ich hatte genug gesehen und keine Lust mehr äh und dann hab ich gedacht, ich will versuchen das Abitur nachzumachen und ähm (.) hab mich dann da auch angemeldet und hab das extern gemacht und auch Hilfe bekommen aus den studentischen Kreisen, //mhh// in denen ich da war. Äh die schon studiert waren oder fertig waren, ob Lehramt oder was auch immer.

Mit dem Entschluss, das Abitur nachzuholen, kündigt sie ihre Stelle bei der Fluggesellschaft und entscheidet sich gegen eine Lebensweise, die ihr zu diesem Zeitpunkt unpolitisch und unangemessen erscheint – »ich wollte, keine Lust mehr auf HiltonHotels, in //mhh//, wo die Menschen vor der auf der Straße sterben« (Z:119). Hier dokumentiert sich, dass sich über ihre Offenheit für bis dahin unbekannte politische Themen und Aktivitäten ihre Vorstellung von einer angemessenen Lebensweise bereits in der voruniversitären Lebensphase ändert. Bei ihrem Vorhaben, das Abitur nachzuholen, erhält sie Unterstützung von ihren studentischen Freunden. Das Abitur eröffnet Frau Clement gleichzeitig den Zugang zur erlebten politischen Lebensweise ihrer Freunde, der sie bis dahin nicht angehören kann, da sie nicht studiert.

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Auch anhand der Schilderungen des Falles Frau Weser lässt sich der Typus ›Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten‹ rekonstruieren. Aufgrund nicht ausreichender Leistungen muss Frau Weser die Schule verlassen und wechselt auf ein Internat. Wie sich hier im Folgenden dokumentiert, zeigt sie im Internat eine Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten, die jedoch nicht, wie in den Fällen Frau Jahnsen und Frau Clement, in einem Zusammenhang mit den Schüler- oder Studentenprotesten stehen. Den Schulwechsel und die Erfahrungen, die sie im Internat sammelt, beschreibt und bewertet Frau Weser im folgenden Abschnitt (Z:27-37): Weser: Naja und das war die Chance und da hab ich mich ein Jahr sozusagen mal angestrengt und dann, ansonsten hab ich da im Wesentlichen geredet und ähm und= einfach, ich war da im Parlament //mmh//war für mich ungeheuer wichtig also ich hab immer schon viel geredet aber da hab ich, sozusagen (.) ähm (.) argumentieren gelernt //mmh// kann man sagen (2). Und ein anderes Selbstbewusstsein gekriegt als vorher und also das war -ne richtige Befreiung dieses Internat //mmh// ((hustet)). Und da habe ich auch Theater gespielt und (.) ja dann mache ich da das Abitur, sozusagen leider, weil ich gerne da geblieben wäre, einerseits besteht mans natürlich gern, andererseits wäre ich da gerne geblieben, //mmh// weil=s einfach ungeheuer spannend war.

Auch wenn ihre Bewertung aus heutiger Perspektive geschieht, ist hier erkennbar, dass sie den Wechsel auf das Internat trotz der Distanz zum Elternhaus insgesamt als positiv und als »Chance« (Z:28) erlebt. Im Internat engagiert sie sich neben den regulären Unterrichtseinheiten im Parlament der Schule, wo sie, wie sie hervorhebt, vor allem redet und das »Argumentieren« (Z:32) lernt. Gleichzeitig ist sie im Schultheater aktiv und kann hier diese Fertigkeiten weiter ausbauen. Wie deutlich wird, entwickelt Frau Weser im Rahmen des Internatsbesuches ein besonderes Interesse für Rhetorik. Über dieses Interesse für ›Reden halten‹, das sie sowohl beim Theaterspielen als auch im Schülerparlament umsetzen kann, zeigt Frau Weser eine Offenheit für formelle politische Aktivitätsmöglichkeiten der Schule. Dabei ist erkennbar, dass Frau Wesers Beteiligung im Schülerparlament und somit ihre politische Aktivität in der voruniversitären Lebensphase zunächst nicht an subjektiven politischen Interessen, die sie mitbringt oder hier entwickelt, geknüpft ist, sondern vielmehr an das Interesse für das Erlernen rhetorischer Mittel und ihrer Umsetzung vor Publikum. Sie erlernt in der Schule politisches Wissen und Können, was sie später, wie noch deutlich werden wird, fortsetzt.

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Zusammenfassung des Typus – ›Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten‹ Gemeinsam haben alle drei Fälle, über die sich dieser Typus konstituiert, dass die Frauen in der voruniversitären Lebensphase über Organisationen und Kollektive politische Aktivitätsmöglichkeiten erhalten, denen sie mit Offenheit begegnen und an denen sie aus Interesse, Empathie und Neugier teilnehmen. Die Form der politischen Aktivitäten erfolgt in allen Fällen sehr unterschiedlich. In zwei Fällen wird die Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten im Kontext der Schüler- und Studentenproteste entwickelt und Aktivitätsmöglichkeiten wahrgenommen. Während in diesem Rahmen die Frau in einem Fall die geäußerte Kritik der Protestbewegung innerhalb der Schule erlebt und diese anschließend gezielt gegenüber den Lehrern und den eigenen Eltern äußert und somit Diskussionen provoziert, erlebt die Frau im anderen Fall die geäußerte Kritik über Medien und Freunde, die sie zu politischen Studentenveranstaltungen begleitet. In einem dritten Fall werden institutionell eingeräumte politische an der Schule wahrgenommen, die jedoch nicht explizit in einem Zusammenhang mit den Schüler- und Studentenprotesten stehen. Gemeinsam haben die Fälle, dass die Frauen Aktivitätsmöglichkeiten wahrnehmen, denen sie mit einer Offenheit begegnen. Die von den Frauen dieser Fälle gezeigte Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten ist explizit-politisch, da diese Frauen explizit politische Handlungen zeigen. V.1.2.4

Kontinuität intergenerationell erlebter politischer Aktivitäten in jugendspezifischen Organisationen

Über die Schilderungen von zwei vorliegenden Fällen konnte der Typus ›Kontinuität intergenerationell erlebter politischer Aktivitäten in jugendspezifischen Organisationen‹ abstrahiert werden. Dieser zeigt sich in den Fällen Frau Früh und Frau Kielen. Eine intergenerationelle Kontinuität politischer Aktivitäten zeigt sich bei diesen beiden Frauen im Rahmen jugendspezifischer Organisationen, in einem Fall im schulischen Kontext und in dem anderen Fall in einem politischen Jugendverein. Dabei ist hervorzuheben, dass die Kontinuität intergenerationell erlebter politischer Aktivitäten nicht bedeutet, dass die politische Einstellung oder Gesinnung, die mit der erlebten Aktivität der Bezugspersonen einhergeht, ebenfalls anerkannt wird. Wie noch aufzuzeigen ist, wird über die Schilderungen eines Falles – Frau Kielen – eine bewusste Ablehnung der politischen Gesinnung deutlich. Doch zunächst wird dieser Typus an den Schilderungen von Frau Früh abstrahiert. Frau Frühs politische Aktivitäten in der voruniversitären Lebensphase beginnen in einer Zeit, die bereits schüler- und studentenbewegt ist. Das Abitur macht sie im Jahr 1969. Im Vergleich zu Frau Esser und Frau Behrens, die die politische Einstel-

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lung ihrer Eltern anerkennen (Kap. V.1.1.1), jedoch noch kein politisches Handeln zeigen, geht Frau Früh noch einen Schritt weiter. In ihrer voruniversitären Lebensphase setzt sie als Schülerin die intergenerationell erlebten politischen Aktivitäten der Eltern innerhalb der Schule fort. Im Rahmen ihrer Eingangserzählung beschreibt Frau Früh zunächst die Bedingungen des Aufwachsens sowie die berufliche Tätigkeit ihrer Eltern und kommt dann zur Beschreibung ihres politischen Engagements in der Schule im Rahmen der Schüler- und Studentenproteste (Z:19-28): Früh: Ich hab dann mit meinen Eltern äh kurz in C2-Stadt und später in H-Stadt (.) meine Jugend verbracht. (2) Dort begann die Schülerbewegung ähm im Rahmen der Studentenbewegung der APO (.) muss man erst mal sagen (2) ähm und in diesem Kontext habe ich mich schon ein bisschen engagiert, das heißt ich war Schulsprecherin und war dann Delegierte in den verschiedenen (.) Schulsprechergremien, wo Demonstrationen vorbereitet wurden //ja// und=so=weiter (.) ähm (3). Eine Schwester ist nach England gegangen und war dort ihrerseits Pfarrfrau aber die beiden anderen Geschwister, meine eine Schwester war in ähm H-Stadt und ein Bruder in B-Stadt //mmh//. Die waren sehr aktiv in der Studentenbewegung (2).

Mit einem Umzug aus C-Stadt in die benachbarte Stadt H. beginnt für Frau Früh die studentenbewegte Zeit. Sie beteiligt sich maßgeblich und nicht nur als einfache Teilnehmerin an der Schülerbewegung. In ihrer Erzählung reduziert sie aus heutiger Perspektive den Grad ihrer Aktivitäten mit dem Hinweis »ein bisschen engagiert« (Z:23) gewesen zu sein, was jedoch den geschilderten Aktivitäten widerspricht. Sie ist sowohl Schulsprecherin, als auch Delegierte in verschiedenen Schulsprechergremien, innerhalb derer sie gemeinsam mit anderen Schülern Schülerdemonstrationen organisiert. Damit zeigt sich hier sowohl ein explizit politisches Interesse als auch ein bestehendes politisches Wissen, das Frau Früh in die Institution Schule hineinträgt. Hier erlebt sie Bedingungen, in denen sie die erlebte politische Aktivität der Eltern in eigenen Handlungen fortsetzen kann. Das politische Interesse an der Protestbewegung wird nicht nur von ihr getragen, sondern auch von einem Teil ihrer Geschwister. Während eine ältere Schwester sich an der beruflichen Tätigkeit der Eltern orientiert und Pfarrfrau wird, engagieren sich die anderen beiden älteren Geschwister in der Studentenbewegung in zwei Großstädten, die deutlich von der Studentenbewegung geprägt sind. Dies dokumentiert, dass das Interesse für Politik und politische Aktivitäten in Frau Frühs Familie von fast allen Familienmitgliedern geteilt wird. Die innerhalb der familiären Alltagspraxis erlernten politischen Kenntnisse und übernommenen Einstellungen werden in die Institution Schule hineingetragen und hier fortgesetzt. Frau Frühs Beteiligung an den Schüler- und Studentenprotesten finden jedoch nicht nur im schulischen Raum und in Form von Schülerdemonstrationen statt. Als

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Schülerin nimmt sie auch an studentischen Veranstaltungen teil, in denen sie als Schülerin die Universität als Ort politischer Aktivitäten erlebt. Im Folgenden erzählt sie von den Eindrücken, die sie auf einer SDS-Veranstaltung sammelt (Z:7080): Früh: Ich habe ähm (3) mal=es gab dann auch einen SDS in H-Stadt da bin ich mal hingegangen und erinnere, dass da ein sehr charismatischer Studentenführer sozusagen=war, der sich wie Lenin kleidete und (.) gab //mmh// und hinter ihm eine ziemlich erwachsene (.) Frau die m::: so=n sehr selbstständigen Eindruck machte //mmh// aber in dem Sinne da keine Wortführerin war //mmh// und dann waren da ganz viele Jungs und ä: hinter manchen Jungs noch -n Mädel, aber es war sozusagen eine Männerversammlung. //ja// Und ich fühlte mich da überhaupt nicht wohl, ich bin dann nicht wieder hingegangen, weil ich dachte irgendwie (.) da gehöre ich nicht hin ich hatte auch keinen Freund mit dem ich dann da hingehen hätte können und alleine als Mädel //mmh// irgendwie war das nicht mein Ort.

Frau Früh besucht in H-Stadt eine SDS Veranstaltung und beschreibt in dieser Passage ihre Eindrücke, indem sie sowohl Personen als auch die wahrgenommene ungleiche Geschlechterverteilung thematisiert. Dabei erinnert sie sich an einen Studentenführer, der aufgrund seines Auftretens und Kleidungsstils charismatisch auf sie wirkte und an eine Frau hinter ihm, die sie als selbständig und erwachsen erlebte. Gleichzeitig beobachtet sie eine gewisse Zurückhaltung der Frauen, die ihrer Wahrnehmung nach im Hintergrund blieben und den Männern das Wort überlassen.17 Sie beschreibt rückblickend ein quantitatives Ungleichgewicht der Geschlechterverteilung und damit eine Dominanz der männlichen Mitglieder im SDS. Ihr gefühltes Unbehagen führt dazu, dass sie sich gegen eine weitere aktive Teilnahme an den studentischen Versammlungen des SDS entscheidet, obwohl sie selbst bereits eine aktive und federführende Protestlerin der Schülerbewegung ist. Insgesamt dokumentiert sich hier, dass Frau Früh zu diesem Zeitpunkt bereits durch ihre politische Sozialisation im Elternhaus18 und ihre Aktivität in der Schule über politische Kenntnisse verfügt, die zur Partizipation an der Veranstaltung des SDS bewegen. Trotz dieser beschriebenen Wahrnehmungen ist Geschlecht zu diesem Zeitpunkt für Frau Früh noch kein Politikum, das entsprechende geschlechtspolitische Handlungen erfordert. Dieses wird im weiteren Verlauf des Interviews noch 17 Diese Bewertung ist möglicherweise von späteren Erfahrungen überlagert. 18 Frau Früh erlebt in ihrer Familie Diskussionen zu Frauenthemen und zum Geschlecht. Ihre Mutter engagiert sich im Rahmen politischer Lehrgänge für die politische Aufklärung von Frauen (siehe Untertypus ›Anerkennung erlebter explizit-politischer Einstellung der Bezugspersonen‹ des Typus ›Politisierung über intergenerationelle Kontinuität‹, Kap. V.1.1.1).

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deutlicher. Denn erst in der universitären Lebensphase und mit der Entscheidung Teil einer geschlechtshomogenen Gruppe zu werden, wird für Frau Früh Geschlecht explizit zu einem politischen Thema. Ähnlich wie im Interview mit Frau Früh dokumentiert sich innerhalb eines Erzählabschnitts des Interviews mit Frau Kielen die Kontinuität intergenerationell erlebter politischer Aktivitäten in einer jugendspezifischen Institution. Im Vergleich zu Frau Früh werden jedoch von Frau Kielen die politischen Einstellungen der Eltern nicht anerkannt. Frau Kielen distanziert sich deutlich von der politischen Gesinnung der Eltern (siehe Untertypus ›Distanzierung zu den erlebten politischen Einstellung der Bezugspersonen‹ des Typus ›Politisierung über intergenerationelle Distanzierung‹, Kap. 1.1.2). Dennoch, und das ist das Gemeinsame der beiden Fälle, erlebt Frau Kielen in der voruniversitären Lebensphase die politische Aktivität ihrer Eltern und zeigt ein Interesse für politische Themen und politische Aktivitäten, so dass sie einem politischen Jugendverein beitritt. Somit wird die intergenerationell erlebte politische Aktivität der Eltern bereits in der voruniversitären Lebensphase fortgesetzt. Im Folgenden beschreibt sie ihren Eintritt in einen politischen Jugendverein (Z:36-46): Kielen: Also ich bin zum Beispiel dann geraten in äh über die Schule in so ein Jugenf: Jugenf: Jugendbund der Wandervogel was eigentlich //mmh// so ein bisschen so also aus so alten Jugendbewegungen kommt, aber immer so ein kleinen also in Norddeutschland, wo ich damals gewohnt hab, also in K-Stadt bin ich zur Schule gegangen in L-Stadt und in K-Stadt, ähm was so ein bisschen rechtslastig, also es hatte so Teile drin, die waren so ein bisschen, meine Eltern fanden das ganz furchtbar, die hätten natürlich lieber gehabt, dass ich zu den Falken ging, das wollte ich aber nicht, eben aus dieser Konstellation heraus und bin da so ein bisschen reingerutscht und das hat mich dann aber, das hat sich wieder geändert, als ich angefangen habe zu studieren, ja richtig.

In der Jugendphase positioniert sich die junge Frau Kielen, wie hier selbstinterpretierend beschreibt, politisch »rechts« (Z:41), indem sie Mitglied im Jugendbund »Wandervogel« wird. Das Engagement in einer politischen Vereinigung wird von den Eltern insgesamt nicht infrage gestellt, sondern vielmehr die politische Richtung kritisiert, für die sich Frau Kielen entscheidet. So sind sie mit ihrem Engagement im Jugendbund »Wandervogel« zwar nicht zufrieden, verbieten ihr diese jedoch nicht. Insgesamt wird in diesem Abschnitt deutlich, dass Frau Kielen bereits sehr früh über ihre Eltern politisch sozialisiert wird und somit ein Verständnis für politische Themen und politische Partizipation entwickelt, so dass sie, wie selbstverständlich im Jugendbund »Wandervogel« aktiv wird. Gleichzeitig zeigt sich hier eine Kontinuität der politischen Aktivitäten der Eltern, wobei im Gegensatz zu dem

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Fall Frau Früh bewusst eine Distanz zur Gesinnung der Eltern hergestellt wird, indem sie sich für eine politische Gruppe entscheidet, die nicht den elterlichen Vorstellungen entspricht. Mit Beginn ihres Studiums kommt es dann erneut zu einer Veränderung in der politischen Orientierung von Frau Kielen, worauf sie hier selbstinterpretierend hindeutet – »das hat sich wieder geändert« (Z:45). Die Orientierungsveränderung wird im Fall von Frau Kielen in der universitären Lebensphase erkennbar (siehe Typus ›Diskontinuität zur eigenen bereits entwickelten oder angestrebten Lebensweise‹). Zusammenfassung des Typus ›Kontinuität intergenerationell erlebter politischer Aktivitäten in jugendspezifischen Organisationen‹ In den Schilderungen der beiden Fällen, über die dieser Typus abstrahiert werden konnte, wird eine Fortsetzung der im familiären Alltag erlebten politischen Aktivitäten der Bezugspersonen in Organisationen (Schule und Jugendverein) deutlich, jedoch mit einem Unterschied: Während sich eine der interviewten Frauen in der Jugendphase von der politischen Gesinnung der Eltern distanziert und in einer Jugendorganisation aktiv wird, deren politische Gesinnung der elterlichen Gesinnung entgegensteht (siehe Untertypus ›Distanzierung zu den erlebten explizitpolitischen Einstellung der Bezugspersonen‹ des Typus ›Politisierung über intergenerationelle Distanzierung‹, Kap. V.1.1.2), erkennt eine andere Interviewte die politische Gesinnung der Eltern an und setzt diese im Rahmen der Schüler- und Studentenproteste um (siehe Untertypus ›Anerkennung der erlebten explizitpolitischen Einstellungen der Bezugspersonen‹ des Typus ›Politisierung über intergenerationelle Kontinuität‹, Kap. V.1.1.1). Trotz dieses Unterschiedes haben beide Frauen die Gemeinsamkeit, dass sie die erlebten politischen Aktivitäten der Eltern, die sie im familiären Alltag erleben und mit denen sie im Jugendalter konfrontiert werden, fortsetzen und selbst politische Handlungen zeigen. Aufgrund der konkreten politischen Handlungen kann diese Orientierung als explizit-politisch bezeichnet werden. An den Schilderungen der Fälle wird zudem die Bedeutung der Schüler- und Studentenbewegung für die Politisierung deutlich. Denn während die politischen Handlungen der einen Interviewten zeitlich vor der Studentenbewegung liegen, erlebt die andere Interviewte die Protestbewegung ab Mitte der 1960er Jahre und setzt in der Schülerbewegung die erlebten Aktivitäten der Eltern fort. Politische Handlungen erfolgten nicht unbedingt erst im Kontext der Studentenproteste, sondern auch schon davor.

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V.2

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Alle interviewten Frauen machen in Interaktion mit unterschiedlichen Sozialisationsinstanzen – Familie, Schule, Peer-groups und Jugendorganisationen – politischrelevante Erfahrungen und zeigen politisch-relevante Handlungsorientierungen. In fünf von zehn Fällen – bei Frau Früh, Frau Kielen, Frau Jahnsen, Frau Weser und Frau Clement – werden in der voruniversitären Lebensphase und im Austausch mit den Sozialisationsinstanzen sogar bereits explizit-politische Orientierungen gezeigt, die das politische Handeln dieser Frauen strukturieren. Somit kommt die Hälfte der befragten Frauen mit explizit-politischen Erfahrungen an die Universität. Mit dem Übergang an die Universität tragen die Frauen die entwickelten politisch-relevanten und explizit-politischen Orientierungen in die Institution Universität hinein. Hier erhalten sie sowohl Teilhabemöglichkeiten an hochschulpolitischen Entscheidungen, die durch die Universität institutionell eingeräumt werden, als auch darüber hinaus die Möglichkeit, sich den studentischen informellen Aktivitäten anzuschließen, über die kollektiv bindende Entscheidungen herbeigeführt oder beeinflusst werden sollen, mithin Politik gemacht werden soll. Im Austausch mit den an der Universität versammelten Akteurinnen und Akteuren (unter anderem Professorinnen/Professoren, Assistentinnen/Assistenten, Kommilitoninnen/Kommilitonen) erkennen und bewerten sie ihre politischen Handlungsmöglichkeiten. In diesem Rahmen werden bereits vorhandene politisch-relevante und explizitpolitische Handlungsorientierungen infrage gestellt und verändert sowie neue explizit-politische Handlungsorientierungen gezeigt. Bei der Auswertung der Interviews zeichneten sich für die universitäre Lebensphase drei Erfahrungszusammenhänge ab, die von den Frauen fokussiert thematisiert wurden: Erstens thematisierten sie ihren eigenen studentischen Alltag und berichteten über ihre allgemeinen Erfahrungen als Studentin sowie über Aktivitäten im studentischen Alltag. Hierbei beschrieben sie alle Erfahrungen, die sie innerhalb und außerhalb der Universität als Studentinnen machten, somit ihre Wohnsituation, den Verlauf ihres Studiums, ihre Interessen und Aktivitäten als Studentinnen sowie ihre freundschaftlichen und partnerschaftlichen Beziehungen zu anderen Personen. Zweitens gab es Erzählpassagen, in denen die Frauen ausschließlich über Erfahrungen berichteten, die sie im Rahmen der formellen und informellen (Lehr-)Veranstaltungen der Universität machten.19 In diesem Rahmen beschrieben sie ihre

19 Mit formellen Veranstaltungen an der Universität sind diejenigen gemeint, die durch die Universität institutionell eingeräumt werden, wogegen mit informellen Veranstaltungen all die Veranstaltungen gemeint sind, die eigeninitiativ durch Studierende Ende der 1960er Jahre an der Universität Frankfurt organisiert werden.

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Erfahrungen in den Seminaren und Vorlesungen, eigene Studienziele und -interessen, ihre Erfahrungen mit Leistungsanforderungen regulärer Lehrveranstaltungen sowie den Kontakt zu den Kommilitoninnen/Kommilitonen und Professorinnen/Professoren während der formellen und informellen Veranstaltungen. Auch wenn die beschriebenen Erfahrungen mit formellen und informellen (Lehr)Veranstaltungen im Studium prinzipiell als Teil des studentischen Alltags gelten könnten, wurden sie gesondert als ein Erfahrungsraum (Erfahrungsdimension) beschrieben. In den Interviews war diesbezüglich nämlich besonders auffällig, dass die befragten Frauen die Erfahrungen in institutionalisierten (z. B. Seminare, Tutorien) und nicht-institutionalisierten (z. B. studentisch initiierte Arbeitsgruppen, Diskussionsrunden) Veranstaltungen innerhalb der Universität besonders dicht und ausführlich beschrieben. Drittens erzählten alle interviewten Frauen über ihre Mitgliedschaft in geschlechtshomogenen Gruppen, darunter den Eintritt in den Frankfurter Weiberrat und/oder in das Frankfurter Frauenzentrum und erläuterten dabei ihre Erfahrungen, die sie vor, während und nach dem Eintritt machten. Diese gemeinsame Erfahrung war zugleich ein Auswahlkriterium des Samples.20 Wie im Folgenden deutlich werden wird, konnte über diese drei unterschiedlichen Erfahrungszusammenhänge in der universitären Lebensphase, unter Berücksichtigung der bereits entwickelten Orientierungen aus der voruniversitären Lebensphase, eine dreidimensionale Typenbildung herausgearbeitet werden. Erstens kann aufgezeigt werden, welche typischen politisch-relevanten und explizitpolitischen Orientierungen die Frauen im studentischen Alltag im Kontext der Studentenbewegung zeigen (Typik ›Politisierung im studentischen Alltag im Kontext der Studentenproteste‹, Kap. V.2.1). Diesbezüglich ließen sich über die Schilderungen der Frauen vier kontrastierende Typen abstrahieren. Zweitens wird nach der Bedeutung von (Lehr-)Veranstaltungen für Politisierungsprozesse gefragt. Diesbezüglich ließen sich über die Beschreibung von Erfahrungen und Handlungen in Auseinandersetzung mit formellen und informellen Veranstaltungen an der Universität drei kontrastierende Typen abstrahieren (Typik ›Politisierung im Studium über die Auseinandersetzung mit formellen und informellen Veranstaltungen an der Universität‹, Kap. V.2.2). Darüber hinaus wurde drittens nach Orientierungen gefragt, die zu geschlechtspolitischen Aktivitäten in einer geschlechtshomogenen Gruppe führten (Typik ›Entwicklung einer geschlechtsspezifischen Perspektive im Anschluss an eine allgemeine Politisierung‹, Kap. V.2.3). In diesem Rahmen wurden über die Schilderungen der Frauen vier kontrastierende Typen abstrahiert. Im Folgenden wird diese dreidimensionale Typenbildung (siehe Abbildung 3) vorgestellt.

20 Vgl. dazu Kap. I.4.

Typus

Typik

Ausrichten an bereits politisierte Bezugspersonen

Offenheit für politische Aktionen beim Übergang an die Universität

Kontinuität voruniversitärer politischer Aktivitäten an der Universität

Diskontinuität zur eigenen bereits entwickelten oder angestrebten Lebensweise

Politisierung im studentischen Alltag im Kontext der Studentenproteste

Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen Anerkennung der Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren

Anerkennung informeller, studentisch initiierter Arbeitsgruppen zur Erweiterung des Studiums

Politisierung im Studium über die Auseinandersetzung mit formellen und informellen Veranstaltungen an der Universität

Politisierung in der universitären Lebensphase

Offenheit für die theoretische Auseinandersetzung mit geschlechterpolitisch relevanten Themen im Studium

Kontinuität und Erweiterung bisheriger politischer Interessen und Aktivitäten in geschlechtshomogenen Gruppen

Distanzierung von einer geschlechtsheterogenen Gruppe

Entwicklung einer geschlechterspezifischen Perspektive im Anschluss an eine allgemeine Politisierung

Suche nach Gemeinschaftlichkeit

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Abbildung 3: Dreidimensionale Typenbildung ›Politisierung in der universitären Lebensphase‹

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V.2.1

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Politisierung im studentischen Alltag im Kontext der Studentenproteste

Über die Auswertung der Interviewabschnitte, in der die interviewten Frauen über ihren studentischen Alltag erzählten, wurden vier Orientierungsrahmen erkennbar, die zu vier Typen abstrahiert wurden, die kontrastierende Ausprägungen der Typik ›Politisierung im studentischen Alltag im Kontext der Studentenbewegung‹ darstellen: Erstens ›Ausrichtung an bereits politisierten Bezugspersonen‹ (Kap. V.2.1.1), zweitens ›Offenheit für politische Aktionen beim Übergang an die Universität‹ (Kap. V.2.1.2), drittens ›Kontinuität voruniversitärer politischer Aktivitäten an der Universität‹ (Kap. V.2.1.3) und viertens ›Diskontinuität zur eigenen bereits entwickelten oder angestrebten Lebensweise‹ (Kap. V.2.1.4). Die Frauen, über deren Berichte die ersten beiden Typen abstrahiert werden können, erleben mit dem Beginn des Studiums zwischen 1967 und 1968 die Hochphase der Studentenbewegung und damit eine Universität, die von studentischen Protesten geprägt ist. In der voruniversitären Lebensphase beteiligen sich diese Frauen nicht an der Schüler- und Studentenbewegung und zeigen bis auf einen Fall keine explizit-politischen Handlungen.21 Wie im Folgenden herausgearbeitet wird, entwickeln diese Frauen an der Universität und im Kontext der Studentenbewegung explizit-politische Orientierungen, die ihre politischen Handlungen strukturieren. Die Frauen, über deren Schilderungen der dritte Typus abstrahiert werden kann, erleben vor dem Beginn des Studiums politische Partizipationsmöglichkeiten und zeigen bereits in der voruniversitären Lebensphase politische Handlungen – zwei im Kontext der Schüler- und Studentenbewegung und eine im Rahmen institutionell eingeräumter politischer Teilhabemöglichkeiten an der Schule –,die sie alle an der Universität fortsetzen. So werden bei der Herausarbeitung dieses Typus Relationen zu zwei explizit-politischen Ausprägungen der Typik ›Politisierung durch jugendspezifische Aktivitäten in Organisationen und Kollektiven‹ (Kap. V.1.2.3 und Kap. V.1.2.4) erkennbar. Der vierte Typus dieser Typik konnte nur anhand der Schilderungen der Fälle abstrahiert werden, deren Studienaufnahme deutlich vor der Hochphase der Studentenbewegung liegt, in allen Fällen im Jahr 1965. Bei der Herausarbeitung des letzten Typus werden Relationen zu politisch-relevanten Orientierungen aus der voruniversitären Lebensphase deutlich, die zunächst zu keinen politischen Handlungen führen.

21 In den Schilderungen eines Falles werden politische Handlungen erkennbar, die jedoch nicht explizit in einem Zusammenhang mit der Schüler- und Studentenbewegung stehen, sondern an der Schule institutionell eingeräumt sind.

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Wie im Folgenden deutlich wird, entwickeln die befragten Frauen im Kontext der Studentenbewegung einen politischen studentischen Alltag. Dieser kommt darin zum Ausdruck, dass im Laufe des Studiums alltägliche Tätigkeiten, die die befragten Frauen als Studentinnen alleine oder im Kollektiv innerhalb und außerhalb der Universität verrichten, politisch ausgerichtet werden, d. h. kollektiv bindende Entscheidungen herbeiführen oder beeinflussen sollen. V.2.1.1

Ausrichten an bereits politisierten Bezugspersonen

In den Schilderungen der Fälle, über die der Typus ›Ausrichten an bereits politisierten Bezugspersonen‹ abstrahiert werden kann, ist erkennbar, dass sich diese Frauen zu Beginn des Studiums im studentischen Alltag an den studentischen Alltagspraktiken bereits politisierter Bezugspersonen, die sie aus ihrer voruniversitären Lebensphase kennen, ausrichten. Das Studium beginnen die Frauen der diesen Typus konstituierenden Fälle – Frau Behrens und Frau Weser – in der Hochphase der Studentenbewegung. Die Atmosphäre an der Universität ist, wie im Folgenden deutlich werden wird, insofern politisch, als dass die Frauen hier Aktionen diverser politischer Gruppierungen und politische Veranstaltungen erleben. Über bereits bekannte Personen (in den vorliegenden beiden Fällen sind es ehemalige Schulkameradinnen) entsteht der Kontakt zu Mitgliedern politischer Gruppen, worauf explizit-politische Handlungen an der Universität erfolgen. Der studentische Alltag dieser Frauen wird über die Intensivierung ihrer politischen Aktivitäten im Laufe der universitären Lebensphase, wie im Folgenden deutlich werden wird, politisch. Frau Behrens beginnt ihr Studium im Herbstsemester 1967/68 zunächst in B2-Stadt, deutlich in der Hochphase der Studentenbewegung. Bereits als Schülerin erlebt sie die Schüler- und Studentenproteste. Obwohl sie diese medial mitverfolgt und über staatliche Reaktion »empört« (Z:50) ist, schließt sie eine aktive Beteiligung an den Protesten aufgrund fehlender familiärer »Tradition« (Z:53) aus (Untertypus ›Anerkennung der erlebten explizit-politischen Einstellungen der Bezugspersonen‹, Kap. V.1.1.1). In diesem Rahmen entwickelt Frau Behrens bereits als Schülerin eine gewisse Sensibilität für politische Themen, die jedoch noch zu keinem politischen Handeln führen. Den Schritt an die Universität macht Frau Behrens gemeinsam mit Mitschülerinnen und Mitschüler und bezieht mit einer Schulfreundin eine Wohnung in B2Stadt. Dass sie sich alsbald an deren politischen Praktiken ausrichtet, dokumentiert sich in den folgenden Erzählabschnitten. Frau Behrens beschreibt den Übergang an die Universität wie folgt (Z:80-87):

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Behrens: Und dann sind wir mit ein paar Leuten aus der Klasse sind wir nach B2-Stadt gegangen. Ich glaube zu viert oder zu fünft. (2) Und auch da war es nicht einfach äh, also Wohn- Wohnungen zu bekommen. Und ich hab dann mit der einen Freundin, mit der ich auch enger da aus der Klasse befreundet war, haben wir bei einem (.) glaub pensionierten Eisenbahner, haben wir dann eine äh Studentenbude, wie man so schön sagt, //mmh// gekriegt. Und sind dann also im zum Herbstsemester 67/68 //mmh// sind wir dann da umgezogen.

Frau Behrens hat beim Übergang an die Universität mehrere ihr bekannte, gleichaltrige Übergangsbegleiter, an denen sie sich im studentischen Alltag ausrichtet und erste universitäre Herausforderungen kollektiv bewältigen kann. Gemeinsam mit einer Schulfreundin gründet sie im Herbst 1967/68 mit dem Beginn ihres Studiums eine Wohngemeinschaft. Dass diese Freundin eine besondere Bedeutung bei der Politisierung im studentischen Alltag erhält, dokumentiert sich in den folgenden Abschnitten. An der Universität – zunächst noch nicht an der Universität Frankfurt, sondern in B2-Stadt – entsteht über ihre Freundin kurz nach Beginn des Studiums der Kontakt zur politischen Studentengruppe HSU22. Diesen Kontakt beschreibt Frau Behrens im nächsten Abschnitt (Z:99-106): Behrens: Und ähm (2) damals gab es äh: den SDS an der (.) B2-Stadter Uni, aber es gab auch die HSU. Und zu der habe ich, also über die Freundin, die dann aber irgendwann äh auch ein eigenes Zimmer wollte, das heißt die hat mich dann mitgezogen in so ein Studentenwohnheim. Und darüber, über Kontakte, also eher zur HSU, so dass ich dann da auch mitgearbeitet habe. Und die HSU galt als Links, aber eher als so=ne Art Durchlauferhitzer für den SDS. Also, wenn man nicht unbedingt in den SDS wollte, dann ging man in die HSU.

Frau Behrens politische Sozialisation vollzieht sich in Interaktion mit der bereits politisierten Freundin sowie anderen Kommilitoninnen und Kommilitonen. In der ersten Phase an der Universität entsteht, »über die Freundin« (Z:100f.) der Kontakt zur politischen Studentenorganisation HSU, deren Mitglied Frau Behrens wird. Wie die Freundin den Kontakt zur HSU herstellte, bleibt hier unklar, jedoch scheint sie bereits politisch aktiv zu sein und beeinflusst Frau Behrens Handeln. Dass sich Frau Behrens im Alltag an ihrer Freundin ausrichtet, dokumentiert sich darin, dass sie von der Freundin in das Studentenwohnheim »mitgezogen« (Z:102) wird und die 22 Die Humanistische Studentenunion (HSU) wird 1960er Jahren als parteiunabhängige Studentengruppe gegründet. Die HSU war die studentische Gruppe der Bürgerrechtsvereinigung Humanistische Union und existierte an mehreren bundesdeutschen Hochschulen. Ein zentrales Ziel der Humanistischen Union war die Trennung von Staat und Kirche.

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Entscheidungen der Freundin, die gemeinsame Wohnung aufzugeben, annimmt. Der Wohnungswechsel wird von der Freundin initiiert, wie in einem späteren Teil des Interviews deutlich wird – »dann ist sie sehr, sehr schnell und sehr effektiv auf die Suche gegangen und hat uns dann, erst sich und dann mich auch ganz schnell in so -nem Studentenwohnheim untergebracht« (Z:539f.). Obwohl Frau Behrens an der Universität auch andere studentische Gruppen wahrnimmt, darunter den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), entscheidet sie sich für die HSU. Es dokumentiert sich hier, dass es weniger die politischen Inhalte und eigenen Interessen sind, die sie zu einer Mitgliedschaft in einer politischen Studentengruppe bewegen, als vielmehr die Ausrichtung an ihrer Freundin – »also über die Freundin (…) die hat mich dann mitgezogen in so ein Studentenwohnheim. Und darüber, über Kontakte, also eher zu HSU« (Z:100ff.). Mit dem Umzug in ein Studentenwohnheim wird nicht nur eine größere Nähe zur Studentenschaft hergestellt, sondern auch zu einer Gruppe politischer Studenten. In einem Nachfrageteil des Interviews beschreibt Frau Behrens die neue Wohnsituation im Studentenwohnheim wie folgt (Z:541-544): Behrens: Und das war ziemlich ähm (2) wie soll ich sagen, mönchisch @(.)@. Naja, also das waren diese Achtquadrameter-Zimmer, ne //mhh// @(.)@. Die Üblichen //mhh//. Und, äh (.) mit der Küche dann auf dem Flur und ich weiß, (2) mmh ich sag jetzt mal, das waren hundert, hundertfünfzig Linke, die sich alle untereinander kannten.

Das von der Freundin ausgewählte Studentenwohnheim ist ein politischer Sozialisationsraum. Hier knüpft Frau Behrens nicht nur Kontakt zu den Mitgliedern der HSU, sondern auch zu anderen politischen Studierenden, die sie als »Linke« (Z:545) bezeichnet. Insgesamt dokumentiert sich hier, dass die Gestaltung ihres studentischen Alltags, aber auch der erste Kontakt zu einer politischen Gruppe sowie die ersten politischen Aktivitäten in einer politischen Gruppe über die Ausrichtung an den Entscheidungen und Handlungen einer aus der voruniversitären Lebensphase bekannten Bezugsperson zustande kommt. Frau Behrens macht dann an der Universität in der Interaktion mit politisierten Kommilitoninnen und Kommilitonen Erfahrungen, über die schließlich selbst politisch sozialisiert wird. Dass Frau Behrens bereits in B2-Stadt politisiert ist, dokumentiert sich in ihrer Entscheidung, die Universität zu wechseln, um ihre politischen Aktivitäten in der Studentenbewegung zu intensivieren. Gemeinsam mit anderen Mitgliedern der HSU zieht Frau Behrens nach Frankfurt am Main (Z:126-133): Behrens: Aber ich fand, fand es halt, B2-Stadt, das waren achttausend Studierende und sagen=wir=mal hundertfünfzig Linke unter denen ich mich damals aufgehalten habe, das heißt irgendwann

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war es ziemlich begrenzt //mmh//. Und ich habe dann mit der einen Freundin auch diskutiert, ob man nicht lieber nach Frankfurt geht. Und sie durfte nicht und ich hab mich dann einer HSU Gruppe, die nach Frankfurt gegangen ist, angeschlossen und bin dann (3) äh zum Sommersemester 1969 bin ich nach Frankfurt gegangen.

Aus dem anfänglichen ›Mitgezogen-werden‹ entwickelt sich eine aktive Beteiligung an den Protesten der Studentenbewegung. Frau Behrens stellt die Möglichkeit, an der Universität politisch zu partizipieren, in den Vordergrund ihres studentischen Alltags, was sie schließlich dazu bewegt gemeinsam mit anderen Mitgliedern der HSU im Kollektiv die Universität zu wechseln. Auch diesen Schritt geht Frau Behrens nicht alleine, sondern hat hier gleichgesinnte Übergangsbegleiter. Frau Behrens Universitätswechsel geht mit dem Wunsch einher, sich intensiver politisch zu engagieren, was sie in B2-Stadt aufgrund wahrgenommener eingeschränkter Partizipationsmöglichkeiten nicht kann – »irgendwann war es ziemlich begrenzt« (Z:129). Die Universität wird von Frau Behrens schon längst nicht mehr nur als Bildungsinstitution verstanden, sondern vielmehr als politischer Raum, in dem sie politischen Aktivitäten nachgehen kann. Wie sich hier dokumentiert, ist ihr Alltag bereits soweit politisiert, dass nahezu ausschließlich politische Tätigkeiten in den Vordergrund ihres studentischen Alltags gestellt werden. Auf die Nachfrage der Interviewerin, wie es in Frankfurt weiterging, beschreibt Frau Behrens Folgendes (Z:558-566): Behrens: Naja, ich war ja, das war so -ne ganze Gruppe. Und die hatten ein Haus hier. Und da bin ich zuerst mal mit untergekrochen //mhh//. Ähm, wobei das dann schwierig wurde, weil sagen wir mal weniger Zimmer vorhanden waren, als Bewohner //mhh// so dass dann, also ich glaube, ich dann auch erst mal in einem Zimmer und aber dann auch nachher in dem Gemeinschaftszimmer, wo ich dann quasi meine Matratze immer @beiseite geräumt habe@ gewohnt habe. Und habe dann über so einen Arbeitskreis der Juristen (3) zwei Leute kennengelernt und mit den bin ich dann, ich glaub ab Herbst in -ne Wohngemeinschaft zusammengezogen.

In Frankfurt setzt Frau Behrens ihre politische Lebensweise ausgerichtet an bereits politisierten Bezugspersonen fort. Gemeinsam mit anderen HSU-Mitgliedern bezieht Frau Behrens ein Haus und lebt in einer studentischen Wohngemeinschaft. Die Gestaltung ihres studentischen Alltags ist in dieser Zeit eng mit ihrer Zugehörigkeit zu einer politischen Gruppe und die über diese stattfindenden politischen und sozialen Aktivitäten – was sie später mit »das wie so eine Art ähm privat organisierte Sozialarbeit« (Z:636) umschreibt – verknüpft. Die beengte sowie sporadische Wohnsituation wird von ihr nicht infrage gestellt. Diese wird erst verändert, als sie die Möglichkeit erhält, mit zwei weiteren politisch engagierten Personen in eine Wohngemeinschaft zu ziehen – »der eine war in der AK der andere war in der

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Mao- äh der eine äh unten drunter in der ähm bei den Trotzkisten«(Z:795). Somit schafft sie für sich auch im weiteren Verlauf des Studiums eine Wohnsituation in einem politischen Umfeld. Auch über die Schilderungen von Frau Weser kann der Typus ›Ausrichtung an bereits politisierten Bezugspersonen‹ abstrahiert werden. Über eine Freundin aus der Schulzeit, an deren freundschaftlichen Anweisungen und Praktiken sich Frau Weser in ihrem studentischen Alltag ausrichtet, wird der Kontakt zu politischen Gruppen hergestellt, womit gleichzeitig ihre politischen Aktivitäten im Kontext der Studentenbewegung beginnen. Im Vergleich zu Frau Behrens, die in der voruniversitären Lebensphase keine explizit-politischen Handlungen zeigt, wird bei Frau Weser in der voruniversitären Lebensphase eine ›Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten‹ deutlich. Als Schülerin nimmt sie an institutionell eingeräumten politischen Aktivitäten teil und ist Mitglied des Schülerparlaments (Typus ›Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten‹, Kap. V.1.2.3). Ihre politische Aktivität findet in der Schulzeit jedoch nicht explizit im Kontext der Schüler- oder Studentenbewegung statt. Im Vergleich zu Frau Behrens bringt Frau Weser somit explizitpolitische Erfahrungen an die Universität mit. Mit dem Beginn des Studiums in M.-Stadt engagiert sich Frau Weser zunächst nicht politisch. Im folgenden Abschnitt beschreibt sie ihre ersten Eindrücke an der Universität in M.-Stadt (Z:37-45): Weser: Dann gut, dann studiere ich in M-Stadt, //mmh// weil mein Bruder da schon ist, ähm komme mit dem ganzen Betrieb da eigentlich nicht so recht zurecht in der Soziologie, das=war=ein=sehr=netter=Professor, aber ähm das war mir alles irgendwie zu groß und also ich bin da etwas verloren gegangen ((räuspert sich)). Und dann sagte meine Internatsfreundin, sagte zu mir, (.) die war in Frankfurt, Mensch komm nach Frankfurt (.) //mmh//, das tat ich. Und das war dann, ((räuspert sich)) ich habe gerade vorhin nachgeguckt, weil ich es nicht mehr genau wusste, im Sommersemester achtundsechzig studiere ich dann hier.

Frau Weser beginnt ihr Studium zunächst in M.-Stadt und richtet sich bei der Wahl des Studienortes an ihrem Bruder aus. Eine explizite Erklärung für diese Entscheidung und für die Ausrichtung am Bruder wird nicht gegeben. In der ersten Phase des Studiums ist sie zunächst mit den universitären Strukturen überfordert und findet keinen Anschluss an den universitären Betrieb. Obwohl sie mit den Strukturen unzufrieden ist, »mir war irgendwie alles zu groß und also ich bin da etwas verloren gegangen« (Z:40f.), zeigt sie in M.-Stadt kein Protestverhalten und engagiert sich nicht in studentischen politischen Gruppen. Erst auf die Empfehlung einer Freundin, die bereits an der Universität Frankfurt studiert, trifft sie die Entscheidung, die Universität zu wechseln. Im Vergleich zu Frau Behrens ist der Wechsel

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im Fall von Frau Weser nicht politisch motiviert. Wie im weiteren Verlauf des Interviews erkennbar wird, ist die Freundin von Frau Weser, an der sie sich ausrichtet, ähnlich wie die Bezugspersonen von Frau Behrens auch, im Rahmen der Studentenbewegung bereits politisch aktiv. Im Sommersemester 1968, in der Hochphase der Studentenbewegung, beginnt Frau Weser ihr Lehramtsstudium in der Abteilung für Erziehungswissenschaft (AfE) an der Universität Frankfurt. Somit setzt sie ihr Studium in Frankfurt in einer Zeit fort, in der der Alltag an der Universität bereits von politischen Protesten diverser studentischer Gruppen geprägt ist. Dass ihr studentischer Alltag an der Universität Frankfurt durch die Ausrichtung an den Empfehlungen der politisch aktiven Freundin alsbald auch politisch wird, dokumentiert sich im folgenden Abschnitt. Hier beschreibt sie, wie sie die erste Zeit an der Universität Frankfurt erlebt (Z:5359): Weser: Und da gabs in Frankfurt noch die Abteilung für Erziehungswissenschaften die ist angeschlossen an die Uni, //mmh// da war ich dann. Und dann waren das eben die turbulenten Zeiten und die Freundin aus dem Internat wurde dann später ähm eine SDS Vorsitzende //mmh// und ähm mit der bin ich immer mit und hab mir die Diskussionen angehört, so in der Kneipe und so, hab nicht sehr viel verstanden, aber es war halt ungeheuer spannend, also ich hab halt im Wesentlichen zugehört.

Frau Wesers Freundin ist in Frankfurt bereits politisch aktiv und sogar kurze Zeit später Vorsitzende des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS). Frau Weser begleitet sie zu einer studentischen politischen Veranstaltung, die in einem informellen Rahmen, in einer »Kneipe« (Z:58), stattfindet und ist von der Atmosphäre, die sie vorfindet, begeistert. Ähnlich wie bereits anhand der Schilderungen von Frau Behrens herausgearbeitet, wird auch Frau Wesers Motivation, an politischen Veranstaltungen von Studierenden teilzunehmen, nicht aus der eigenen Kritik und der Übereinstimmung mit den politischen Inhalten entwickelt – »hab nicht sehr viel verstanden, aber es war halt ungeheuer spannend« (Z:58f.). Während sie in M.Stadt zunächst auf sich gestellt ist, kann sie hier Teil eines Kollektivs mit gemeinsamen Interessen werden. Die Form ihrer Partizipation ändert sich bereits einige Monate später. Nachdem sie zunächst an informellen Informationsveranstaltungen politischer Studierenden als Zuhörerin teilnimmt, beteiligt sie sich bereits im Wintersemester 1968/69 am ›Aktiven Streik‹ der Abteilung für Erziehungswissenschaft (AfE) (59-68): Weser: Ähm dann gab es so ein, den wilden Streik, an der AfE. (2) Ähm die Abteilung für Erziehungs-wissenschaften hat für andere Studien und andere Schulbedingungen gestreikt und das

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war der sogenannte große Streik in Frankfurt. //mmh// Und das kam den (.) äh aufgeklärten SDS-Genossen genau recht, die haben sich dann da (.) sozusagen drangehängt und dann ging das ja das ganze Jahr sowieso los ((hustet)), die Reihenfolge weiß ich immer nicht, weil ich da keine äh kein Bewusstsein von Zahlen und //mmh// was war vorher nachher. Und ich war in der (.) das hatte man damals Basisgruppen //mmh// Basisgruppe AfE hieß das, Abteilung für Erziehungswissenschaften.

Gemeinsam mit anderen Studierenden der Abteilung für Erziehungswissenschaft und »SDS-Genossen« (Z:63) beteiligt sich Frau Weser als Mitglied der studentisch gegründeten Basisgruppe AfE an den Protesten und Aktionen, wobei sie hier hinzufügt, dass sie sich sowohl an die Reihenfolge der Ereignisse als auch an die Zeitspannen schlecht erinnern kann.23 Insgesamt dokumentiert sich hier, dass Frau Weser bereits einige Monate nach Aufnahme des Studiums an der Universität Frankfurt an studentischen Versammlungen teilnimmt, sich am Streik beteiligt und zunächst in einer geschlechtsheterogenen Basisgruppe aktiv wird. Des Weiteren ist sie in diesem Rahmen nicht mehr nur eine stille Teilnehmerin, sondern übernimmt sogar eine besondere Rolle, indem sie während einer Veranstaltung eine Rede hält (Z:72-74):

23 Im Rahmen der Hochschulreformen wurden zwei Pädagogische Hochschulen in Hessen in die Universität Frankfurt integriert. Mit dieser Integration war die Frankfurter Universität, die bisher nur für das gymnasiale Lehramt verantwortlich gewesen war, nun auch für das Grund-, Haupt- und Realschullehramt zuständig. Mit dem Streik forderten die Studierenden, die Studiendauer des Grund-, Haupt- und Realschullehramt, das auf sechs Semester ausgelegt war, auf acht Semester zu erhöhen. Andere Fachbereiche der Universität Frankfurt, insbesondere die der Geisteswissenschaften, solidarisierten sich mit den protestierenden AfE-Studierenden. In diesem Rahmen besetzte der SDS im Januar 1968 das Soziologische Seminar, das außerhalb des Campus am Institut für Sozialforschung angesiedelt war. Nach Eskalationen und dem Polizeieinsatz im Institut für Sozialforschung wurde der Streik Ende Januar 1969 beendet. Einige Basisgruppen wendeten sich vom SDS und seinen als radikal bewerteten Methoden ab. In den nächsten Monaten führten einige Fachschaften und ihre Basisgruppen die Arbeit fort und konzentrierten sich dabei insbesondere auf die Arbeit gegen den »Polizeiterror in den Universitäten« (Basisgruppe AfE 3.Februar 1969, Basisgruppe Psychologie 31. Januar 1969), »Gegen Disziplinarverfahren, gegen Notstandsverfassung und Vorbeugehaft, für die Selbstorganisation unseres Studiums« (Juristische Fachschaft 3. Februar); vgl. in diesem Zusammenhang Zoller 1969, S.268 und S.272, Zitate ebda.; vgl. dazu auch Kap. IV.4.3 dieser Arbeit.

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Weser: Und da hab ich über die Abteilung für Erziehungswissenschaften gesprochen und das war halt damals also sensationell, da als Studentin da öffentlich und als Frau eben öffentlich zu sprechen.

Dass die bereits politisierte Freundin auch weiterhin während ihrer Aktivitäten die Rolle einer Ratgeberin übernimmt, an der sie sich ausrichtet, dokumentiert sich im weiteren Verlauf ihrer Erzählung. Denn auch die Entscheidung, im Frankfurter Weiberrat aktiv zu werden, erfolgt in Ausrichtung an ihrer Freundin, die ihr diesen anstelle des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds empfiehlt: »die sagte mir, pass mal auf ( ) ich glaube der SDS das ist nicht so richtig was für dich, geh doch mal in den Weiberrat« (Z:76f.). Insgesamt dokumentiert sich hier, dass Frau Weser im studentischen Alltag an der Universität Frankfurt politische Partizipationsmöglichkeiten wahrnimmt und, ausgerichtet an einer bereits politisierten Freundin, politischen Aktivitäten nachgeht. Zusammenfassung des Typus – ›Ausrichtung an bereits politisierten Bezugspersonen‹ Das Typische in den Schilderungen der Fälle, über die dieser Typus abstrahiert werden konnte, ist die Ausrichtung der Frauen an ihnen bereits bekannten politisierten Bezugsperson, über die ihr studentischer Alltag an der Universität politisch wird. In zwei Fällen wurde eine solche Orientierung sichtbar. Für diese Frauen sind die Bezugspersonen sowohl Ratgeber als auch Unterstützer bei den Herausforderungen mit der neuen Rolle als Studentin, so dass sie sich an diesen ausrichten. Zudem wird der erste Kontakt zu politischen Gruppen an der Universität über diese Bezugspersonen aufgenommen und des Weiteren erste politische Aktivitäten im Kontext der Studentenbewegung an der Universität gezeigt. Beide Frauen nehmen an den politischen Veranstaltungen und Aktivitäten politischer Gruppen innerhalb und außerhalb der Universität teil. Hierbei ist auffällig, dass keine eigenen Inhalte oder Kritikpunkte als Motiv für die Beteiligung formuliert werden. Die Beteiligung an den politischen Aktivitäten erfolgt zunächst in Ausrichtung an politisierten Bezugspersonen, wobei diese im weiteren Verlauf der universitären Lebensphase durch andere Bezugspersonen oder Kollektive ersetzt werden können. Im Laufe der universitären Lebensphase und über die politische Partizipation an den Aktivitäten politischer Gruppen wird der studentische Alltag dieser Frauen politisch.

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V.2.1.2

Offenheit für politische Aktionen beim Übergang an die Universität

Die komparative Analyse der Interviews ergab einen weiteren fallübergreifenden Orientierungsrahmen über den der Typus ›Offenheit für politische Aktionen beim Übergang an die Universität‹ abstrahiert werden konnte. Zwei der vorliegenden Fällen – Frau Kasten und Frau Neuer – konstituieren diesen Typus. Beide Frauen erleben bereits in der voruniversitären Lebensphase die Schüler- und Studentenbewegung, nehmen jedoch als Schülerinnen an keinen explizit-politischen Aktivitäten teil. Erst beim Übergang an die Universität, in einer studentenbewegten Zeit, zeigen sie eine Offenheit für politische Aktionen, die schließlich zu politischen Handlungen an der Universität führen. Frau Kasten beginnt ihr Studium 1968, mitten in der Hochphase der Studentenbewegung. In ihrer voruniversitären Lebensphase zeigt sie keine explizit-politischen Handlungen. Sie kommt jedoch, wie im Folgenden deutlich werden wird, mit Kenntnissen über die Studentenbewegung an die Universität in B.-Stadt. Auf die Bitte, den Übergang an die Universität zu schildern, sowie auf die Frage, ob sie sich noch an ihren ersten Tag erinnere, erzählt sie Folgendes (Z:365-371): Kasten: Das weiß ich nicht. Es war aufregend, aber es war auch nicht=äh ich war ja in- hab ja in BStadt Abitur gemacht //mmh//. Ich meine irgendwie waren die anderen Schulfreundinnen auch irgendwo, also das war aufregend, aber es war nicht so, dass man Angst hatte oder sonst=wie sonst so. (2) Ja es war spannend, endlich ist man auch Student //mmh// man konnte sich irgendwie (.) gucken ob man=wohin man sich wandte und ob man bei der Studentenbewegung sich äh irgendwie engagierte.

Den Wechsel von der Schule an die Universität beschreibt Frau Kasten als »spannend« (Z:369) und mit den Worten »endlich ist man auch Student« (Z:369). Wie sich hier dokumentiert, verbindet sie mit dem Statuswechsel von einer Schülerin zur Studentin die Möglichkeiten, neue Erfahrungen zu machen, wobei sie diese hier zunächst nicht genau explizieren kann – »man kann irgendwie gucken ob man=wohin man sich wandte« (Z:370). Damit wird die Universität von ihr nicht nur als Bildungsort verstanden, sondern auch als ein Ort, an dem politische Aktivitäten stattfinden. Den wahrgenommenen Partizipationsmöglichkeiten an der Studentenbewegung steht sie offen gegenüber, wobei sie keine weiteren Vorstellungen hat, in welcher Form ein Engagement für sie infrage kommt – »bei der Studentenbewegung sich äh irgendwie zu engagieren« (Z:370f.). Weiterhin weist der Ausdruck »irgendwie« (Z:370) auch daraufhin, dass Frau Kastens Intention, an der Studentenbewegung teilzunehmen, mit keiner persönlichen Erfahrung oder ausfor-

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mulierten Kritik, wie z. B. Unzufriedenheit mit den universitären Strukturen, einhergeht. Es ist vielmehr ihre Offenheit für die als Schülerin wahrgenommenen politischen Aktionen, die sie beim Übergang an die Universität mitbringt und die schließlich ihr politisches Handeln strukturieren. Auf die Aufforderung, Frau Kasten möge erzählen, was sie studierte und wie sie die erste Zeit an der Universität erlebte, erzählt Frau Kasten Folgendes (Z:374-385): Kasten: Ja=ja das war okay. Ich wollte eigentlich Theaterwissenschaft studieren //ja// das wollten sie nicht, //ja// weil sie meinen das ist -ne brotlose Kunst //mmh// und dann hab ich gesagt dann studiere ich äh Germanistik Politik und Tschechisch //mmh// weil in der tschechischen Sprache damals mit Havel, //mmh// äh gabs unheimlich viel Theaterstücke die auch in Deutschland übersetzt wurden und ich //ja// glaub dann kann ich das im Original lesen //achso// und das warn so=n bisschen so absurdes Theater, was mir auch gefiel. //ja ja// Aber irgendwie kam es dann nicht dazu, weil ich dann mehr Politik machte, als zu studieren. //mmh// Ich hab sehr wenig studiert, wenn man=s wirklich, //mmh// also mehr hab ich gelernt in der Politik, also in der praktischen Politik und in den Arbeitsgruppen und den Diskussionen, als an der Universität selber (3).

Frau Kasten hat zunächst den Wunsch Theaterwissenschaft zu studieren, was jedoch von ihren Eltern abgelehnt wird, »das wollten sie nicht« (Z:375).24 Sie entscheidet sich für die Studienfächer Germanistik, Tschechisch und Politikwissenschaft. Über die ersten beiden Fächer glaubt sie gute Alternativen gefunden zu haben, über die sie eine inhaltliche Nähe zu ihrem eigentlichen Wunschstudiengang schaffen kann. Warum sie Politikwissenschaft wählt, bleibt hier zunächst unausgesprochen. Dennoch wird deutlich, dass sie sich zunächst für eine formale Auseinandersetzung mit Politik an der Universität entscheidet, womit sich eine Offenheit für politische Themen dokumentiert. Ihr Wunsch zu studieren geht mit keinem Berufswunsch einher, sondern vielmehr mit dem Wunsch, bereits entwickeltes Interesse zu vertiefen. Im zweiten Teil dieser Erzählpassage (ab Z:381) wird deutlich, dass Frau Kastens Bestrebungen, an den formalen Lehrangeboten teilzunehmen, in den Hintergrund rücken. Während sich in dieser sehr knappen Schilderung andeutet, dass das Engagement in der Studentenbewegung vor dem Studium lediglich eine Option war (369ff.), die mit den Schulfreundinnen besprochen wurde, kommt es an 24 Interessanterweise lehnt Frau Kasten diese formulierte elterliche Erwartung nicht ab, wie sie es im Jugendalter hinsichtlich anderer Erwartungen getan hat (siehe Untertypus ›Distanzierung zu explizit formulierten Erwartungen der Bezugspersonen‹, Kap.1.1.2). Darüber wird deutlich, dass es sich bei der Distanzierung zum Elternhaus um keinen Bruch handelte, sondern eine Nähe zum Elternhaus auch beim Übergang an die Universität aufrechterhalten wird.

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der Universität zu einem politischen Engagement, das nicht mehr »irgendwie« (371) angestrebt ist, sondern definiert ist. Frau Kasten bewegt sich, wie sie sagt, hauptsächlich in der »praktischen Politik« und nimmt an »Arbeitsgruppen und (…) Diskussionen« (Z:384) teil. Insgesamt dokumentiert sich in diesem Erzählabschnitt, dass Frau Kasten den an der Universität erlebten politischen Veranstaltungen im Kontext der Studentenbewegung mit großer Offenheit begegnet, wodurch ihr eigentlicher Wunsch nach Vertiefung ihrer Interessen am Theater verblasst und Politik und politisches Engagement in den Vordergrund ihres studentischen Alltags, auch außerhalb der Universität, rücken. Auch über die Schilderungen von Frau Neuer kann der Typus ›Offenheit für politische Aktionen beim Übergang an die Universität‹ abstrahiert werden. Frau Neuers Entscheidung, das Abitur nachzuholen und ein Studium aufzunehmen, gehen einher mit einem Schicksalsschlag (Z:56ff.). Frau Neuers Ehemann, mit dem sie gemeinsam im Ausland lebte, verstirbt bei einem Unfall, worauf es zu einem langen Gerichtsprozess kommt. Nach Beendigung des Gerichtsprozesses beschließt sie nach Deutschland zurückzukehren. Vor dem Beginn des Studiums »'67, '68« (Z:83) zeigt Frau Neuer keinerlei explizit politische Handlungen. Im Vergleich zu Frau Kasten, die unmittelbar nach dem Abitur an die Universität geht, es kaum erwarten kann auch Studentin zu sein und eine Offenheit für politische Aktivitäten mitbringt, wird bei Frau Neuer ihre Offenheit für politische Aktionen erst an der Universität erkennbar. Im folgenden Abschnitt beschreibt Frau Neuer den Beginn ihres Studiums der Rechtswissenschaft sowie ihre politischen Aktivitäten im Kontext der Studentenbewegung an der Universität Frankfurt (Z:81-94): Neuer: Dann habe ich mich, habe ich entschieden, dass ich mich auch mehr um meinen Sohn kümmern möchte und habe dann angefangen externes Abitur zu machen //hmm// mit dem Geld und dann angefangen Jura zu studieren. Und das war '67, '68 und dann bin ich halt hier in die Studentenbewegung gekommen und war in dem RK (.), nennt sich Revolutionärer Kampf, war die Gruppe von ((benennt zwei Namen)) (.) u:nd (.) ähm ah ich hatte eine wunderschöne Wohnung mit meinem Sohn in der, in der hier in dem Viertel X, das ist ein relativ gutes Viertel. Aber irgendwie hat mich diese Studentenbewegung doch sehr angezogen, vor allen Dingen der Vietnamkrieg, also ich bin dann mit auf die Straße gegangen und wir haben ja zuerst immer gegen die Amerikaner, also gegen die, was da in Vietnam passierte. (.) Ähm (.) u:nd (.) ja dann habe ich also auch (.) was man halt, was wir damals gemacht haben, wir haben Schulungen gemacht, wir haben Sit-ins gemacht, wir haben (.) äh die (.) juristischen, wir haben also die Vorlesung gesprengt.

Auch Frau Neuer beginnt, ähnlich wie Frau Kasten, ihr Studium in der Hochphase der Studentenbewegung im Jahr 1967. In ihrer kurzen Darstellung der ersten Zeit an

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der Universität und ihrer politischen Aktivitäten in der Studentenbewegung führt sie auf, dass sie nach ihrer Rückkehr zunächst gemeinsam mit ihrem Sohn in einem »relativ gute(n) Viertel« (Z:87) in Frankfurt lebt.25 Ihre Wohnverhältnisse sind somit zunächst unpolitisch. An der Universität Frankfurt erlebt sie die Studentenproteste und fühlt sich, wie sie rückblickend beschreibt, »irgendwie von der Studentenbewegung doch sehr angezogen« (Z:88), so dass sie alsbald ihren studentischen Alltag politisch ausrichtet. Welche Themen sie bewegen an den Protesten mitzumachen, bleibt an dieser Stelle unausgesprochen. Sie erlebt jedoch Partizipationsmöglichkeiten und zeigt zu Beginn ihres Studiums eine Offenheit für politische Aktionen der protestierenden Studentinnen und Studenten und wird Mitglied in der Gruppe ›Revolutionärer Kampf‹ (RK-Gruppe)26. Ihre politischen Aktivitäten bei den Protesten und Demonstrationen richten sich zunächst gegen den Vietnamkrieg. Gleichzeitig nimmt sie im studentischen Kollektiv an den universitätsinternen informellen Aktionen und Veranstaltungen teil – »wir haben Sit-Ins gemacht (…) Vorlesungen gesprengt« (Z:93f.). Wie sich hier dokumentiert, wird Frau Neuer mit dem Beginn des Studiums Teil politisch aktiver Studentengruppen und engagiert sich an diversen Aktionen. In einem Nachfrageteil des Interviews beschreibt sie beispielhaft einige Aktionen – »wir hatten unser:unsere Versammlung unsere Teach-ins (.) und (.) Selbstorganisation (…) wir haben viel demonstriert natürlich ja //ja// ja. Und ich bin halt auch ein paar Mal (2), bei Häuserbesetzungen war ich (…) aber nicht unbedingt (.) äh so militant. Aber ich hab mal die Scheibe eingeschlagen« (Z:617-624). In ihrem Versuch, einen Überblick über ihre politischen Tätigkeiten während des Studiums zu geben, wird deutlich, dass diese auch über den Raum der Universität hinausgehen und sowohl in informeller als auch illegaler Form stattfinden. Dass Frau Neuers studentischer Alltag politisch geprägt ist und auch die Wohnsituation in ein politisches Umfeld verlagert wird, dokumentiert sich in folgendem kurzen Erzählabschnitt (Z:107-112):

25 Beim Übergang an die Universität ist Frau Neuer ist zu diesem Zeitpunkt bereits ungefähr 28 Jahre alt, hat einen Sohn und ist alleinerziehend. 26 Unter dem Namen ›Revolutionärer Kampf‹ (RK-Gruppe oder auch K-Gruppe genannt) wurden informelle politische Gruppen zusammengefasst, die sich insbesondere gegen Ende der Hochphase der Studentenbewegung gründeten. Ziel der RK-Gruppen, deren Mitglieder aus sozialistischen Studenten bestanden, war eine Revolution durch das Proletariat. Über Betriebsgruppen, bestehend aus Studierenden und Fabrikmitarbeiterinnen und -mitarbeiter, u. a. der Opel-Werke, sollte eine Revolution und Umgestaltung der Gesellschaft erreicht werden; vgl. dazu die Ausführungen bei Keller 1999, S.247ff.

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Neuer: Und (.) ja also und dann äh, (2) haben wir Flugblätter verteilt bei Opel, die ganzen Geschichten kennen sie sicher alle //hmm//, (.) in eine Wohngemeinschaft gezogen mit meinem Sohn (.) ähm, dann hab ich mich auch wieder, (.) ich war dann vier, fünf Jahre später wieder angefreundet mit, also hatte ich einen Freund, der war auch Jurastudent, wir haben zusammen studiert. Der war aber auch in dem RK.

Im Laufe ihres Studiums nimmt Frau Neuer Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre an verschiedenen politischen Aktionen teil, die sich auch über den universitären Raum hinaus erstrecken. Zudem zieht sie gemeinsam mit ihrem Sohn in eine Wohngemeinschaft und gibt somit ihre eigene Wohnung auf.27 Dass es sich bei der Wohngemeinschaft auch um eine politische Gruppe handelt, wird einige Zeilen später deutlich. Im Rahmen der bundesdeutschen Fahndungsaktion (Codename »Winterreise«) (Z:137) im Jahr 1974 gegen die Rote Armee Fraktion (RAF) gerät auch die Wohngemeinschaft, in der Frau Neuer mit ihrem Sohn lebt, unter Verdacht, Teil der RAF zu sein (Z:136ff.). Diese Erfahrung bewegt Frau Neuer, die Wohngemeinschaft zu verlassen. Auch Frau Neuers Freund, mit dem sie fünf Jahre nach dem Tod ihres Ehemanns eine Beziehung eingeht, ist in der politischen Gruppe ›Revolutionärer Kampf‹ aktiv. In dieser kurzen Schilderung dokumentiert sich, dass der studentische Alltag von Frau Neuer politisch wird. Sie engagiert sich nicht nur in studentisch organisierten Aktivitäten innerhalb und außerhalb der Universität, sondern entwickelt im Rahmen ihrer politischen Partizipation einen politischen Lebensalltag. Sowohl Frau Kasten, die bereits zuvor die Schüler- und Studentenbewegung erlebte, jedoch nicht daran partizipierte, als auch Frau Neuer, die bei der Rückkehr nach Deutschland zunächst keine politischen Ambitionen hat, an irgendwelchen Protesten teilzunehmen, entsteht mit dem Beginn des Studiums eine Offenheit für die wahrgenommen politische Aktionen, über die sie schließlich im Kontext der Studentenbewegung zu eigenen politischen Handlungen kommen. Zusammenfassung des Typus – ›Offenheit für politische Aktionen beim Übergang an die Universität‹ Das Typische für die Frauen, über deren Erzählungen dieser Typus abstrahiert werden konnte, ist die Offenheit für politische Aktionen, die sie beim Übergang beziehungsweise mit dem Beginn des Studiums an der Universität Frankfurt zeigen. Die Frauen der diesen Typus konstituierenden Fälle beginnen ihr Studium in einer 27 Frau Neuer hat nach der Rückkehr nach Deutschland zunächst keine Probleme, das Studium zu finanzieren. Nach dem Tod ihres Ehemanns erhält sie eine Abfindung, die sie zunächst finanziell gut situiert. Der Umzug in eine Wohngemeinschaft wird somit möglicherweise aufgrund der Nähe zu politischen Studenten initiiert.

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bereits studentenbewegten Zeit. Den politischen Aktionen, die an der Universität längst im Gange sind, begegnen sie mit einer gewissen Neugier und Offenheit. Die Universität wird von beiden Frauen als politischer Handlungsraum verstanden, in dem sie die Möglichkeit zur politischen Aktivität erkennen. Die Frauen partizipieren an den informellen Aktionen politischer Studentinnen und Studenten und werden Teil eines studentischen und protestierenden Kollektivs. Dabei haben diese Frauen die Gemeinsamkeit, dass sie keine persönlichen Themen oder Kritiken als Motive für die Beteiligung an den Protesten innerhalb und außerhalb der Universität nennen. Vielmehr begegnen sie den formulierten Kritiken und Aktionen der protestierenden Kommilitoninnen und Kommilitonen mit einer Offenheit und solidarisieren sich mit diesen. Auffällig ist, dass der studentische Alltag – nicht nur an der Universität, sondern auch im privaten Bereich – im Laufe des Studiums über eine Intensivierung ihrer politischen Aktivitäten und der Fortsetzung politischer Themen über die Universität hinaus politisch wird. V.2.1.3

Kontinuität voruniversitärer politischer Aktivitäten an der Universität

Unter Berücksichtigung bereits gezeigter explizit-politischer Orientierungen aus der voruniversitären Lebensphase war über die Schilderungen von drei Fällen ein gemeinsamer dritter Orientierungsrahmen erkennbar, worüber der Typus ›Kontinuität voruniversitärer politischer Aktivitäten an der Universität‹ abstrahiert werden konnte. Über die Schilderungen der drei Fälle – Frau Jahnsen, Frau Weser und Frau Früh – konnten bereits die beiden Typen ›Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten‹ (Kap. V.1.2.3) und ›Kontinuität intergenerationell erlebter politischer Aktivitäten in jugendspezifischen Organisationen‹ (Kap. V.1.2.4) hergeleitet werden. Das Gemeinsame dieser beiden Orientierungstypen aus der voruniversitären Lebensphase ist, dass sie explizit-politisch sind. Daher lässt sich festhalten, dass diese Frauen bereits in ihrer voruniversitären Lebensphase explizit-politische Handlungen zeigen und mit explizit-politischen Erfahrungen an eine Universität kommen. Während Frau Jahnsen und Frau Früh vor dem Beginn des Studiums im Kontext der Schülerund Studentenbewegung politische Erfahrungen sammelten, fanden die voruniversitären politischen Aktivitäten von Frau Weser nicht im Kontext der Schüler- und Studentenbewegung statt. Alle Fälle, die diesen Typus konstituieren, haben die Gemeinsamkeit, dass die Frauen ihre politischen Erfahrungen und Kenntnisse in eine bereits studentenbewegte Universität hineinbringen und diese hier fortsetzen. In diesem Rahmen wird der studentische Alltag dieser Frauen politisch. Die politischen Aktivitäten von Frau Jahnsen finden in der voruniversitären Lebensphase zunächst in Form von Diskussionen über die deutsche Vergangenheit statt, in deren Zusammenhang sie nach der Beteiligung der älteren Generation an

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den Verbrechen des Nationalsozialismus fragt. Dabei konfrontiert sie gemeinsam mit Mitschülerinnen ihre Lehrer, aber auch ihre eigenen Eltern und distanziert sich von deren politischen Einstellung (siehe Untertypus ›Distanzierung zu den erlebten politischen Einstellungen der Bezugspersonen‹, Kap. V.1.1.2). Nach dem Übergang an die Universität setzt sie ihre politische Aktivität fort, wobei hier andere Themen ihr politisches Handeln strukturieren. Während sie vormals mit Eltern und Lehrern diskutiert, erlebt sie an der Universität nicht nur neue politische Partizipationsmöglichkeiten, sondern auch neue politische Themen. Wie in den folgenden zwei Erzählabschnitten deutlich wird, nimmt sie sowohl an studentischen Protestaktionen als auch an formellen politisch-relevanten Veranstaltungen der Universität teil und wird schließlich Mitglied einer politischen Gruppe. Mit dem Beginn des Studiums erlebt sie die Universität als einen Ort politischer Auseinandersetzungen, an denen sie sich beteiligt (Z:73-83): Jahnsen: Abitur habe ich 1968 gemacht. Das heißt ich bin (.) gehöre zu der Generation, als ich angefangen habe zu studieren, hab dann natürlich auch @Soziologie@ studiert //hmm// äh war (.) da fingen wir an mit einem Streik, Aktiver Streik, das war meine erste Erfahrung an der Universität und wir hatten damals auch nicht solche Sachen wie heute, wie ich sie schön finde, weil ich sehe es bei meinem Patenkind, dass sie erst mal eine Woche Einführung haben, wo sie mit der Universität vertraut gemacht wurden, sondern wir sind dann gleich ins Habermas, Adorno Seminar gegangen, natürlich kein Wort verstanden, von dem allen //mhm//. Naja und dann sind wir gleich in den Aktiven Streik gegangen und diese ganzen politischen Auseinandersetzungen fingen ja schon in der letzten Klasse Abitur an.

Frau Jahnsen beginnt ihr Studium in der Hochphase der Studentenbewegung im Jahr 1968. Bereits in der voruniversitären Lebensphase – »diese ganzen politischen Auseinandersetzungen fingen ja schon in der letzten Klasse Abitur an« (Z:82f.) – hat Frau Jahnsen politische Kenntnisse erworben, so dass sie mit dem Beginn des Studiums wie selbstverständlich an den Aktionen politischer Studierender teilnimmt. Sie beginnt ein Soziologiestudium und entscheidet sich somit für eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen.28 28 Die Darstellung, dass sie »natürlich« (Z:74) Soziologie studierte, ist womöglich von späteren Erfahrungen überlagert. Gleichzeitig deutet sich hier aber auch mit der Entscheidung für ein Soziologiestudium 1968 an, dass Frau Jahnsen bereits politische Interessen entwickelt hat. Die Soziologie war in der Hochphase der Studentenbewegung aufgrund der gesellschaftskritischen Themen, die insbesondere von den Mitglieder der Frankfurter Schule vermittelt wurden, ein politischer Studiengang, u. a gab es hier die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus und Faschismusdiskussionen (vgl. dazu die Vorlesungsverzeichnisse der Frankfurter Universität).

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Nach dem Eintritt in die Universität beteiligt sich Frau Jahnsen unmittelbar am ›Aktiven Streik‹ der Abteilung für Erziehungswissenschaft (AfE), an dem sich auch Studierende anderer Fachbereiche, darunter auch Studierende der Soziologie, solidarisch beteiligten. In diesem Rahmen protestieren Studierende gegen die vermeintliche Kürzung des Lehramtsstudiums von acht auf sechs Semestern und für ein kritisches Studium.29 Teile des universitären Lehrbetriebs werden in diesem Rahmen massiv gestört. Im Fall von Frau Jahnsen, die die Beteiligung am ›Aktiven Streik‹ als ihre »erste Erfahrung an der Universität« (Z:76) bezeichnet, wird deutlich, dass sie unmittelbar mit der Aufnahme des Studiums erneut politische Handlungen zeigt, bevor eine theoretische und formelle Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen über das Studium stattfinden kann. Dabei erlebt sie die Universität als Ort politischer Auseinandersetzungen. Politische Aktivitäten stellt sie in den Vordergrund ihres studentischen Alltags, ohne hier eigene politische Interessen und Themen zu explizieren. Die Teilnahme an regulären Veranstaltungen im Rahmen des Studiums verdeutlicht ebenso eine politische Ausrichtung, denn sie nimmt an den Vorlesungen gesellschaftskritischer Professoren teil – »Habermas, Adorno« (Z:80) –, obwohl sie zunächst »kein Wort« (Z:80) versteht. Die Veranstaltungen der Mitglieder der Frankfurter Schule sind zu dieser Zeit längst keine reinen Lehrveranstaltungen mehr, sondern politische Arenen, die von angeheizten Diskussionen und Vorlesungsstörungen geprägt sind. Insgesamt dokumentiert sich, dass Frau Jahnsen bestrebt ist, die in der voruniversitären Lebensphase entwickelten Interessen für gesellschaftspolitische Themen an der Universität und im Rahmen eines formellen Studiums zu erweitern. Einige Zeilen später erzählt sie, wie sie an der Universität, im Anschluss an die Beteiligung am ›Aktiven Streik‹ und einer formellen und theoretischen Auseinandersetzung mit gesellschaftskritischen Themen, Mitglied einer marxistischen Gruppe wird. Dieses formuliert sie im nächsten Erzählabschnitt (Z:124-132): Jahnsen: Was habe ich im Studium denn noch alles gemacht, also dann hab ich ja vor allen Dingen meine Auseinandersetzung, ich (.) doch ich war auch mal in einen dieser schrecklichen marxistischen Gruppen (2). Genau da war ich auch mal, aber da gabs -ne Soziologie- (2), das muss ich jetzt, das weiß ich nicht mehr, wie das hieß. Also die einzelnen ähm Fachbereiche haben dann auch so Soziologie äh Marxismuskurse oder ich weiß nicht mehr, das war kein Gleichzeitig waren ein Großteil der Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) Studierende der Soziologie; vgl. dazu Bude/Kohli 1989 für die Universität Berlin und für die Universität Frankfurt vgl. Kraushaar 1998b. In Kraushaars Dokumentation der Ereignisse und Auseinandersetzungen in Frankfurt wird die Verbindung zwischen Soziologiestudium und den Protestaktionen an der Universität Frankfurt erkennbar. 29 Vgl. Kontextbeschreibung zur Universität Kap. IV.4.

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Kurs. Äh das haben wir uns, meine Freundin und ich, uns auch natürlich irgendwann eines Tages rein also beworben. Da musste man sich für bewerben.

Nachdem Frau Jahnsen den Beginn ihres Studiums erläutert hat, versucht sie sich an weitere Aktivitäten während des Studiums zu erinnern und schildert schließlich, wie sie zur Mitgliedschaft in einer politischen Gruppe kommt. Gemeinsam mit einer Freundin bewirbt sie sich um die Aufnahme in eine marxistische Gruppe, die über den Fachbereich Soziologie organisiert wird.30 Mit der Mitgliedschaft in einer studentischen politischen Gruppe wird eine Intensivierung ihrer politischen Aktivitäten erkennbar. Sie wählt nun eine andere Form der politischen Partizipation an der Studentenbewegung, nämlich die formelle Mitgliedschaft in einer politischen Studentengruppe, während sie zuvor am ›Aktiven Streik, bei dem Großteile des Lehrbetriebs der Philosophischen Fakultät gestört wurden, teilnimmt und Vorlesungen gesellschaftskritischer Professoren besucht. Frau Jahnsen konzentriert sich im studentischen Alltag hauptsächlich auf politische Themen. Sie nimmt mit Beginn des Studiums an studentischen politischen Aktionen teil und zeigt somit explizitpolitische Handlungen an der Universität. In ihren Schilderungen wird insgesamt eine Kontinuität politischer Aktivitäten von der voruniversitären zur universitären Lebensphase deutlich. Diese Aktivitäten werden nach dem Übergang an die Universität intensiviert und führen schließlich zunächst zu einer Mitgliedschaft in einer geschlechtsheterogenen, politischen, studentischen Gruppe. Auch über die Schilderungen von Frau Weser kann der Typus ›Kontinuität voruniversitärer Aktivitäten an der Universität‹ herausgearbeitet werden. Im Internat hat Frau Weser ein großes Interesse für das Theaterspielen und ›Reden halten‹ entwickelt. Sie entscheidet sich in der voruniversitären Lebensphase für ein Engagement im Schülerparlament. Denn hier erhält sie die Möglichkeit, ihr Interesse, Reden vor Publikum zu halten und das Argumentieren zu erlernen, aktiv umzusetzen (siehe Z:28-37 und Typus ›Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten‹, Kap. V.1.2.3). Ein Interesse an politischen Inhalten wird in ihren Schilderungen zunächst nicht expliziert. Im Vergleich zu Frau Jahnsen – und wie noch aufzuzeigen ist auch zu Frau Früh –, deren politische Aktivitäten in der voruniversitären Lebensphase in 30 Während der Studentenbewegung gründen sich sowohl antiautoritäre Studentengruppen als auch traditionelle marxistische Gruppen, die sich insbesondere in ihren theoretischen Grundrahmen unterschieden. Während die antiautoritären Gruppen insbesondere dafür kämpften autoritäre Strukturen aufzuheben (was ihnen innerhalb der Gruppe nicht gelang, so auch eine Kritik der SDS-Frauen), hatten die marxistischen Gruppen ganz klare hierarchische und autoritäre Strukturen. Die Aufnahme in eine marxistische Studentengruppe war zum Teil, wie auch Frau Jahnsen beschreibt, an Aufnahmebedingungen geknüpft, die erfüllt sein mussten; vgl. dazu Kap. IV.4.3.

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einem Zusammenhang mit der Schüler- und Studentenbewegung stehen, ist dies bei Frau Weser nicht explizit der Fall. Unmittelbar nach dem Übergang an die Universität engagiert sich Frau Weser zunächst nicht politisch, was sich jedoch im Verlauf des Studiums und spätestens mit dem Wechsel des Studienortes ändert. Über die Ausrichtung an einer ihr bekannten und bereits politisierten Bezugsperson beteiligt sich Frau Weser an politischen Aktivitäten an der Universität (siehe Typus ›Ausrichten an bekannten bereits politisierten Bezugspersonen‹, Kap. V.2.1.1). Doch Frau Weser wird im studentischen Alltag nicht nur über die Ausrichtung an einer ihr bekannten und bereits politisierten Bezugsperson politisch, sondern auch über die Kontinuität politischer Aktivitäten (hier die Aktivitätsform – ›Reden halten‹ im Schülerparlament) an der Universität. Nach dem Wechsel der Universität von M.-Stadt nach Frankfurt setzt sie 1968 ihr Lehramtsstudium an der Abteilung für Erziehungswissenschaft (AfE) fort. Hier beteiligt sie sich unmittelbar nach dem Beginn des Studiums im Winter desselben Jahres am ›Aktiven Streik‹ der Abteilung für Erziehungswissenschaft und wird Mitglied der »Basisgruppe AfE« (Z:68). Über ihre Beteiligung am ›Aktiven Streik‹ erzählt sie im folgenden Abschnitt (Z:66-74): Weser: Und ich war in der, das nannte man damals Basisgruppen //mmh// Basisgruppe AfE hieß das, Abteilung für Erziehungswissenschaften. Und da war ich, da war, da gabs mehrere Frauen drin aber ich war die einzige die öffentlich reden konnte so //mmh//. Die anderen waren äh Männer und wir haben dann mal -nen Report abgegeben äh auf auf -ner großen Universammlung (.) im größten Hörsaal sechs. Ähm ((räuspern)) und da hab ich über die Abteilung für Erziehungswissenschaften gesprochen und das war halt damals also sensationell, da als Studentin da öffentlich und als Frau eben öffentlich zu sprechen.

In ihrer Darstellung hebt sie hervor, dass sie unter den Frauen »die einzige [war] die öffentlich reden konnte« (Z:69). Diese erlernte Fähigkeit aus der voruniversitären Lebensphase unterscheidet sie, wie sie rückblickend interpretiert, von ihren Kommilitoninnen und stellte sie auf eine Ebene mit den männlichen Kommilitonen, die ebenso Reden hielten. Geschlecht ist für Frau Weser in diesem Zusammenhang noch kein Politikum. Auch wenn sie geschlechtsspezifische Differenzen hinsichtlich Aktivitätsmöglichkeiten und Aktivitätsformen wahrnimmt, werden sie an dieser Stelle nicht infrage gestellt. Sie erinnert sich an eine politische Rede, die sie gemeinsam mit ihren männlichen Kommilitonen im »größten Hörsaal« (Z:71) hielt. Diesen Auftritt bewertet sie aus heutiger Perspektive als »sensationell« (Z:73), was sie auf die Tatsache zurückführt, dass sie als Frau eine Rede hielt. Insgesamt wird in diesem Erzählabschnitt deutlich, dass die im Internat entwickelte Begeisterung für das Sprechen und Auftreten vor Publikum, was sie bereits im Schülerparlament umsetzen konnte, nun in einem viel größeren Rahmen und mit viel größerer Intensi-

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tät an der Universität fortgesetzt und weiterentwickelt wird. Somit wird die Universität als ein Ort wahrgenommen, an dem sie die Möglichkeit erhält, zunächst nicht explizit-politischen Interessen, die jedoch ihr politisches Handeln strukturieren, weiterhin nachzugehen. Frau Weser stellt im Laufe ihres Studiums an der Universität politische Aktivitäten, bei denen sie die erlernte Rhetorik einsetzen kann, in den Vordergrund ihres studentischen Alltags. Dieses beschreibt sie in den folgenden Erzählabschnitten (ab Z:269-274): Weser: Und ähm all das, was uns so bewegt hat, was so (2) ähm (.) Kern unserer Politik war, das haben wir dann, ähm also es gab auch Demonstrationen, aber, also wir haben Straßentheater gemacht //mhm//. Und hier in Frankfurt war das so, dass an einem Brunnen da in der Innenstadt, da blieben dann wirklich zweihundert Leute stehen. Also das kann man sich heut natürlich nicht mehr vorstellen, ist auch -ne andere Zeit.

Frau Weser entscheidet sich gemeinsam mit anderen Studierenden für die Aktionsform ›politisches Straßentheater‹, bei der sie »all das, was (…) [sie] so bewegt hat (…) Kern (…) [ihrer] Politik« (Z:269) an die Öffentlichkeit bringen. Während sie zuvor im institutionellen Rahmen politisch partizipiert, zunächst in der Schule, dann über ›Reden halten‹ in hochschulöffentlichen Veranstaltungen, entscheidet sie sich schließlich für informelle Theaterauftritte in der Frankfurter Innenstadt. Gleichzeitig wird sie Teil einer politischen Gruppe, die eine neue Form des Protestes ausübt, indem sie sich nicht nur auf theoretischer Ebene über Diskussionen mit politischen Themen auseinandersetzt oder in radikaler Weise in Form von Besetzungen oder Streiks ihre Kritik äußert, sondern Theaterspielen zum Instrument politischen Protests macht. Hier kann Frau Weser ihre politischen Interessen, die sie an der Universität entwickelt, mit ihrem Interesse für Rhetorik verknüpfen. Diese Form der politischen Aktivität, die innerhalb und außerhalb der Universität stattfindet, füllt einen großen Teil ihres studentischen Alltags, so dass ihr Studium darüber in den Hintergrund gerät (Z:308-311): Weser: Und äh dann hab ich aber währenddessen, musste ja noch irgendwas getan werden, weil ich meiner Mutter beweisen wollte, dass ich ordentlich alles hinter mich bringe. Und dann habe ich mit Pausen, mit Theaterspielpausen sozusagen, danach hab ich dann das Referendariat gemacht, also das erste Staatsexamen ordentlich und dann das Referendariat. Da waren aber schon ein paar Jahre ins Land gegangen, nach dem Studium, das war schon derartig verschult wieder, dass ich die Welt nicht erkannte. Da hab ich mich eigentlich nur noch geärgert, ziemlich viel Ärger gekriegt auch ((lacht)).

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Frau Weser konzentriert sich im weiteren Verlauf ihres Studiums auf das Theaterspielen, so dass sie die anschließende Referendariatsausbildung, die sie nach dem ersten Staatsexamen absolvieren muss, nicht unmittelbar beginnt. Ihr studentischer Alltag ist stark von politischen Themen und Aktionen geprägt. Erst als »schon ein paar Jahre ins Land gegangen« (308f.) sind, und die Hochphase der Studentenbewegung vorüber ist, entscheidet sie sich, das Studium ordentlich fortzusetzen. Dass sie auch weiterhin eine (emotionale) Nähe zur Herkunftsfamilie, hier insbesondere zur Mutter, aufrechterhält, dokumentiert sich darin, dass sie das Studium wieder aufnimmt, um ihrer »Mutter (zu) beweisen« (Z:305), dass sie das Studium schaffen kann. In den Schilderungen von Frau Früh wird ebenso der gemeinsame Orientierungsrahmen erkennbar, über den der Typus ›Kontinuität voruniversitärer politischer Aktivitäten an der Universität‹ abstrahiert werden kann. Bereits in der voruniversitären Lebensphase hat Frau Früh über ihre Familie, insbesondere über ihre politischen Eltern, politische Kenntnisse erworben, die sie einerseits anerkennt (siehe Untertypus ›Anerkennung erlebter explizit-politischer Einstellung der Bezugspersonen‹, Kap. V.1.1.1) und die sie innerhalb der Schule andererseits in politischen Aktivitäten fortführt und umsetzt (siehe Typus ›Kontinuität intergenerationell erlebter politischer Aktivitäten in jugendspezifischen Organisationen‹, Kap. V.1.2.4). Mit dem Beginn des Studiums im Jahr 1969 – in der Hochphase der Studentenbewegung – setzt sie die Bereitschaft zu politischen Aktivitäten fort und intensiviert diese, so dass ihr studentischer Alltag, wie anhand der nächsten Erzählabschnitte deutlich werden wird, politisch wird. Den Übergang an die Universität beschreibt Frau Früh im folgenden Abschnitt (Z:99-161): Früh: Neunundsechzig war ich dann ähm mit der Schule fertig //ja// im Sommer neunundsechzig und ging, überlegte dann wo ich hingehe und Berlin wäre sozusagen die erste Adresse gewesen, da war mein Bruder aber schon, dann //mmh// wollt ich da nicht hin //mmh//. Hamburg wäre die nächste Adresse gewesen, da war meine Schwester, da wollt ich dann auch nicht hin. München kam überhaupt nicht in Frage als Großstadt, weil München war irgendwie konservativ und bäh (.) //ja//. Und ähm Köln kannte ich noch nicht und ähm war auch kein Begriff sozusagen in der Studentenbewegung jetzt irgendwie (.) und dann war ganz klar Frankfurt eine strahlende Adresse.

In diesem Abschnitt dokumentiert sich, dass Frau Früh bereits in der voruniversitären Lebensphase so viel politisches Wissen erworben hat und über den Verlauf der Studentenbewegung informiert ist, so dass sie die Wahl des Studienortes von angenommenen universitären Partizipationsmöglichkeiten an der Studentenbewegung abhängig macht. In der Entscheidung, in einer großen und studentenbewegten Stadt

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zu studieren, drückt sich der Wunsch aus, ihre bisherigen politischen Aktivitäten, die sie im Kontext der Schülerbewegung zeigte, fortzusetzen. Zudem macht sie die Studienortwahl von den Studienorten ihrer Geschwister abhängig und schließt Berlin und Hamburg kategorisch aus. In der distanzierten Haltung gegenüber den Geschwistern äußert sich der Wunsch nach Selbstbestimmung. Interessanterweise werden auch Städte wie München, in der ebenfalls zu dieser Zeit massive studentische Auseinandersetzungen stattfinden, ausgeschlossen. Denn sie möchte in keiner »konservativ(en)« (Z:105) Stadt studieren. Hierin äußert sich eine liberale und konservative Strukturen ablehnende Haltung, die sie bereits in der voruniversitären Lebensphase erworben hat. Sie entscheidet sich für die Universität Frankfurt. Den Weg an die Universität Frankfurt geht Frau Früh alleine, nimmt vor Ort jedoch die Hilfe eines Freundes ihrer Schwester an, der ihr für die ersten Tage in Frankfurt verschiedene Unterkünfte organisiert (Z:116-126). In der folgenden Erzählpassage beschreibt Frau Früh ein Schlüsselerlebnis, das sie kurz nach der Aufnahme des Studiums in einem Studentenheimzimmer eines bereits politisch aktiven Assistenten, das sie übergangsweise bewohnen darf, hat (Z:132-137): Früh: Und ich hab dann in diesem Studentenheimzimmer (.) ähm Wittfogel ähm Geschichte des Kapitalismus oder so ähnlich //mmh// gelesen. Und (.) da hatte ich das Gefühl (.) ä:hm mir fallen die Schuppen von den Augen, plötzlich gibt alles einen Sinn (2) plötzlich äh weiß ich wie die Welt funktioniert //mmh// und vorher habe ich wie unter einer Dunstglocke gelebt, obwohl ich eigentlich politisch sehr viele Vorträge gehört hatte.

Das Studentenzimmer, das Frau Früh bewohnen darf, ist ein politischer Raum. Die hier vorhandenen politisch-relevanten Materialien werden von Frau Früh genutzt und haben einen politisierenden Einfluss. Gleichzeitig wird in diesem Abschnitt deutlich, dass Frau Früh bereits zu Beginn des Studiums nicht nur politisch gehandelt hat, sondern auch so viele theoretische politische Kenntnisse erworben hat, so dass sie nicht nur »Wittfogel (…) Geschichte des Kapitalismus« liest, sondern diesen Text reflexiv auf ihre bis dahin wahrgenommene »Welt« (Z:135) beziehen kann. Somit erlebt sie in ihrem studentischen Alltag, in nicht-institutionellem Rahmen, Möglichkeiten, ihr politisches Wissen zu erweitern. Dass sie bestrebt ist, ihre politischen Aktivitäten aus der voruniversitären Lebensphase fortzusetzen und zu intensivieren, dokumentiert sich in weiteren Erzählabschnitten. Als Frau Früh mit dem Studium beginnt, steht der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) kurz vor seiner Auflösung – »[ich] musste zu meinem Entsetzen und Bedauern feststellen dass der SDS in den ich ja eintreten wollte nicht mehr existierte (…) irgendwie hatte er sich aufgelöst, aber es gab noch SDS Versammlungen (…) jedenfalls ich erinnere noch dass ich da auch zugeguckt habe« (Z:381ff.). Hier wird deutlich, dass Frau Früh mit dem Beginn des Studiums Mitglied des SDS werden möchte, dies

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jedoch nur für eine kurze Zeit sein kann. Sie nimmt an einigen SDSVeranstaltungen, wie sich hier dokumentiert, erneut nur als Zuhörerin teil, ähnlich wie sie es auch schon in der voruniversitären Lebensphase in H.-Stadt getan hatte – »es gab dann auch einen SDS in H.-Stadt da bin ich mal hingegangen (…) einfach aus Neugier auf die Zuschauertribüne« (Z:70ff.). Mit der Wahrnehmung der Auflösung des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds begibt sich Frau Früh aktiv auf die Suche nach einer alternativen Möglichkeit, politisch aktiv zu werden. Sie wird Mitglied in der politischen Studentengruppe »Rote Zelle Jura« (Z:408) – »das war sozusagen mein erstes Standbein« (Z:410). Dass Frau Früh intensiv bemüht ist, während des Studiums an politischen Aktionen innerhalb und außerhalb der Universität teilzunehmen, wodurch auch ihr studentischer Alltag politisch wird, dokumentiert sich in den nächsten Erzählabschnitten (Z:740-751): Früh: Na=ja also (2) ähm Frankfurt hab ich als Stadt (.) ganz wenig wahrgenommen. Ich war nie in irgendeinem Museum oder //mmh// (.) ich bin auch sonst in der Stadt sehr wenig rumgelaufen. Mein Leben bewegte sich (.) zwischen Westend und Uni, das heißt in einem Umkreis //ja// von einem Kilometer //ja// (2) ((atmet tief)). Und da war alles was für mich wichtig war (.) //mmh//. Die Stadt als Stadt hab ich im Grunde gar nicht zur Kenntnis genommen (2) //ja//. Und äh Shoppen war ja auch nicht mein Ding, hatte ja eigentlich das Geld nicht, also so irgendwie in dem Sinne war ich dann auch nicht in den Einkaufszentren //mmh// oder so (.) //mmh//. Das war für mich (.) alles völlig wurscht //mmh//. Ähm natürlich gab es mindestens eine große Demo //mmh// und dadurch bin ich auch durch Frankfurt gelaufen durch verschiedene Teile von Frankfurt ((lacht)).

Es dokumentiert sich an dieser Stelle, dass Frau Frühs Alltag bereits soweit politisch ist, als dass sie kein Interesse an unpolitische Aktivitäten, wie »Museum(s)«Besuche oder »Shoppen« (Z:740ff.), hat. Diese werden explizit abgelehnt. Ihre Aktivitäten finden vor allem im Raum Universität und in dem Stadtviertel statt, in dem sie lebt. Die Stadt Frankfurt wird lediglich im Rahmen der studentischen Demonstrationen erlebt – »Natürlich gab es mindestens eine große Demo //mmh// und dadurch bin ich auch durch Frankfurt gelaufen« (Z:748). Frau Frühs Aktivitäten als Studentin sind somit größtenteils explizit-politisch ausgerichtet, so dass auch ihr studentischer Alltag von Beginn an politisch ist.

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Zusammenfassung des Typus – ›Kontinuität voruniversitärer politischer Aktivitäten an der Universität‹ Die diesen Typus konstituierenden Fälle haben alle die Gemeinsamkeit, dass die Frauen bereits in der voruniversitären Lebensphase explizit-politische Erfahrung sammeln und politisch partizipieren. Über die Schilderungen dieser drei Fälle konnten daher bereits der Typus ›Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten‹ (Kap. V.1.2.3) oder der Typus ›Kontinuität intergenerationell erlebter politischer Aktivitäten in jugendspezifischen Organisationen‹ (Kap. V.1.2.4) abstrahiert werden. Während zwei der Frauen als Schülerinnen ihre politischen Erfahrungen in informeller und formeller Form im Kontext der Schüler- und Studentenbewegung machen, sammelt eine der drei Frauen ihre politischen Vorerfahrungen in institutionell eingeräumter Form, die nicht explizit in einem Zusammenhang mit den Schüler- und Studentenprotesten steht. Das Studium beginnen alle drei Frauen in einer studentenbewegten Zeit zwischen 1968 und 1969. Dabei sind sie bestrebt, ihre politischen Aktivitäten – zwei von ihnen unmittelbar nach Aufnahme des Studiums und eine erst kurze Zeit später – an der Universität fortzusetzen, so dass in den Schilderungen eine Kontinuitäten voruniversitärer Aktivitäten erkennbar wird und somit auch einen Verbindung zwischen Erfahrungen der voruniversitären Lebensphase und der universitären Lebensphase. An der Universität können sie ihr bereits erworbenes, politisches Wissen sowie ihre praktischen Kenntnisse nun im Kontext der Studentenbewegung verwenden. Im Laufe des Studiums wird das theoretische Wissen erweitert und in diesem Zusammenhang die politischen Aktivitäten soweit intensiviert, dass diese Frauen einen politischen studentischen Alltag entwickeln. Als unpolitisch bewertete Tätigkeiten wie ein reguläres Studium oder Freizeitaktivitäten werden von den Frauen soweit wie möglich gezielt ausgelassen. V.2.1.4

Diskontinuität zur eigenen bereits entwickelten oder angestrebten Lebensweise

Die komparative Analyse ergab bei der Auswertung der Erzählpassagen, in denen die interviewten Frauen ausführlich über ihren studentischen Alltag berichteten, in drei Fällen einen weiteren gemeinsamen Orientierungsrahmen, der zum Typus ›Distanzierung zur eigenen bereits entwickelten oder angestrebten Lebensweise‹ abstrahiert werden kann. Der Typus wird im Folgenden über die Schilderungen der Fälle Frau Esser, Frau Kielen und Frau Schaal erarbeitet. Gemeinsam haben diese drei Frauen, dass sie ihr Studium noch vor der Hochphase der Studentenbewegung

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beginnen, nämlich im Jahr 1965.31 Für die voruniversitäre Lebensphase konnten über die Schilderungen dieser drei Frauen zwei politisch-relevante Orientierungsrahmen, nämlich der Untertypus ›Distanzierung zur erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen‹ (Kap. V.1.1.2) sowie der Typus ›Suche nach eigener Lebensweise über die Ausrichtung an Organisationen und Kollektiven nach intergenerationeller Distanzierung‹ (Kap. V.1.2.2) abstrahiert werden. Diese Frauen haben die Gemeinsamkeit, dass sie sich in der voruniversitären Lebensphase von der erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Eltern distanzieren und sich im Kontext jugendspezifischer Organisationen und Kollektive auf die Suche nach einer eigenen Lebensweise in Distanz zu den Bezugspersonen begeben. An der Universität sind diese drei Frauen zunächst bestrebt, die in der voruniversitären Lebensphase bereits entwickelte oder angestrebte Lebensweise fortzusetzen. Im Laufe ihres Studiums stellen sie ihre entwickelte oder angestrebte Lebensweise jedoch infrage und distanzieren sich schließlich von ihr. Die Diskontinuität zur entwickelten oder angestrebten Lebensweise geht in allen drei Fällen mit einer Partizipation an politischen Protestaktionen an der Universität einher. Frau Esser, über deren Schilderungen dieser Typus abstrahiert werden kann, richtet sich in der universitären Lebensphase erstens an der angestrebten bürgerlichen und konventionellen Lebensweise der Familie ihrer Freundin aus – hierbei insbesondere der Stiefmutter der Freundin. Zweitens hält sie ihre exklusive Freundschaft zur Freundin, mit der sie bereits in der voruniversitären Lebensphase ihren Alltag gestaltete, auch zunächst an der Universität aufrecht. Wie bereits herausgearbeitet, wird die Bewunderung für die Stiefmutter der Freundin in der voruniversitären Lebensphase entwickelt, so dass sie deren Alltagspraxis anerkennt (siehe Untertypus ›Anerkennung der erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen‹, Kap. V.1.1.1). Gleichzeitig distanziert sie sich von der politisch-relevanten Alltagspraxis ihrer eigenen Eltern (siehe Untertypus ›Distanzierung zur erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen‹, Kap. V.1.1.2). Die Mutter ihrer Freundin wird für Frau Esser zum Vorbild, so dass sie sich nach dem Abitur entscheidet, Literaturwissenschaft zu studieren, um wie die Mutter ihrer Freundin Journalistin zu werden (Z:129ff.). Im folgenden Abschnitt beschreibt Frau Esser den Beginn ihres Studiums in M.-Stadt (Z:129-148): Esser: Angefangen hab ich dann erst mal in (.) M-Stadt zu studieren, //mmh// weil ich auch äh angeturnt von dieser Stiefmutter äh meiner Freundin die Journalistin war, bevor sie da hin geheiratet hat. Ich wollte irgendwie Journalistin werden und so was Kulturelles (.) und so. Und hab 31 Zwei der Frauen beginnen ihr Studium in Frankfurt am Main. Eine der Frauen wechselt zum dritten Semester an die Universität Frankfurt.

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äh zunächst mal Literaturwissenschaften (.) studiert //mmh// und ja und das in M-Stadt, dann, das war einfach schlicht Germanistik so. Und dann hab ich (.) äh schon auch gleich im ersten Semester, ich wusste nicht ganz genau was das ist, ich hatte so=n Abiturkalender (.) wo ich so geblättert habe, was kann man denn @eigentlich alles studieren@ äh (.) hab ich also Soziologie und Politikwissenschaft äh das hab ich mir auch angeguckt, das klang ganz gescheit (.) und hab das dann auch belegt (2). Und fand dann aber auch ganz schnell, dass das wirklich genau das ist, was mich interessierte (2) und umgekehrt die Literaturwissenschaft, dass fand ich (2) zum Gotterbarmen schrecklich, mir vorzustellen, dass ich da jetzt die ganze Zeit sitzen müsste, wie in der Schule also wie in der Oberstufe, (.) dass da Leute zusammen sitzen und irgendwelche klugen Sätze zu einem Text (.) ablassen, der doch selber schon klug genug ist, als das man jetzt noch ihn nach allen Himmelrichtungen drehen und wenden müsste. Also das fand ich, das fand ich überhaupt nicht, überhaupt nicht spannend //mmh//. Und hab- das dann noch zu Ende gemacht das Semester und hab- mich dann aber voll und ganz auf Politik //mmh// und also Soziologie und Politik konzentriert.

In ihrer Beschreibung der ersten Phase an der Universität wird deutlich, dass Frau Esser kaum etwas über die Inhalte ihres Studiengangs Literaturwissenschaft weiß und sich mit dem Beruf der Journalistin ebenso wenig auseinandergesetzt hat. Sie möchte »irgendwie Journalistin werden und so was Kulturelles« (Z:131f.) studieren und orientiert sich hauptsächlich an der Stiefmutter der Freundin. Es ist weniger der Beruf der Journalistin, als vielmehr die Lebensweise der Stiefmutter, die als erstrebenswert bewertet wird und die sie für sich übernehmen möchte. Dass die Stiefmutter der Freundin mit der Heirat ihre Berufstätigkeit aufgegeben hat, um sich um den Haushalt und die Erziehung der Stieftochter zu kümmern, wird von Frau Esser nicht infrage gestellt. Es wird deutlich, dass Geschlecht und Geschlechterverhältnisse für sie beim Übergang an die Universität noch kein Politikum darstellen. Erst an der Universität setzt sie sich mit den Inhalten der angebotenen Studienfächer auseinander. Sie entscheidet sich unter Berücksichtigung eigener Interessen für eine formelle Auseinandersetzung mit Politik sowie sozialen und gesellschaftspolitischen Themen. Im zweiten Semester an der Universität beginnt Frau Esser schließlich mit dem Studium Soziologie und Politikwissenschaft, worin sie später auch ihren Abschluss in Frankfurt macht. Frau Esser erlebt an der Universität und mit dem Wechsel des Studiengangs zur Soziologie eine politische Fachkultur, die sie zunächst über die Diskussionen ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen wahrnimmt und der sie mit Neugier begegnet. Wie sie die Atmosphäre an der Universität und insbesondere die Anfänge ihres Soziologiestudiums erlebt, beschreibt sie im folgenden Abschnitt (Z:152-161): Esser: Sechsundsechzig, siebenundsechzig (2) fünfundsechzig hab ich glaub ich angefangen, ja fünfundsechzig angefangen ja und es war (.) in M-Stadt wurde dann gerade so ein (3) ein (2)

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ein Institut gegründet für Soziologie //mmh// und auch ein Diplomstudiengang eingerichtet. Also es war alles noch -ne ganz überschaubare (.) Gruppe von (.) Menschen. Sehr aktive Studierende, die da sehr (.) sich vor allen Dingen auch äh höchst politisch verstanden, das war (.) das war dort eine (.) äh also die Soziologie war fast identisch mit einer ganz aktiven SDS Gruppe //mmh// (2). Und äh die habe ich dann auch so ein bisschen kennengelernt. Ich kam noch so im Kostüm und engem Rock und hohen Schuhen und ähm hab dann immer diese brandscharfen Analysen von denen gehört.

1966/67 wechselt Frau Esser ihr Studienfach und beginnt in M.-Stadt mit dem Studium der Soziologie. Hier erlebt sie ihre Soziologiekommilitoninnen und kommilitonen als »höchst politisch« (Z:157) und vergleicht sie mit einer aktiven SDS-Gruppe. In einer Hintergrundkonstruktion führt sie auf, dass der Diplomstudiengang Soziologie erst gemeinsam mit einer Institutsgründung in M.-Stadt neu entstanden war und deshalb die Zahl der Studierenden klein ausfiel, womit sie die Beschreibung der Jahrgangsgröße als »überschaubare Gruppe« (Z:156) begründet. Damit erlebt Frau Esser Studienbedingungen, die für diese Zeit, aufgrund der steigenden Zahl der Studierenden an den bundesdeutschen Hochschulen, eher ungewöhnlich waren.32 Politische Themen sind für Frau Esser nicht neu, da sie bereits in ihrer voruniversitären Lebensphase in familiären Kontexten mit unterschiedlichen politischen Themen konfrontiert wird, die sie anerkennt (Untertypus ›Anerkennung erlebter politischer Einstellungen der Bezugspersonen‹, Kap. V.1.1.1). Somit bringt sie ein Grundverständnis für intellektuelle und politische Themen mit an die Universität. Explizit-politische Handlungen bleiben in der voruniversitären Lebensphase jedoch zunächst aus. Im Rahmen des Lehrbetriebs sowie der studentischen Veranstaltungen wird Frau Esser schließlich mit ihren politisch engagierten Kommilitoninnen und Kommilitonen konfrontiert, deren »Analysen« (Z:161) sie hört. Die Universität in M.-Stadt wird von Frau Esser, vor allem aufgrund des Studiengangs Soziologie, als ein Ort politischen und intellektuellen Austausches wahrgenommen. Dass die politischen Themen und Diskussionen an der Universität zu diesem Zeitpunkt noch keinen einschneidenden Einfluss auf ihre Lebensweise haben, wird in der Beschreibung ihrer Kleidung, die sie an der Universität trägt, deutlich. Sie besucht die Universität und die Veranstaltungen »noch so im Kostüm und engem Rock und hohen Schuhen« (Z:160).33 Ob ihr Kleidungsstil so viel anders ist als der ihrer Kommilitoninnen, bleibt unausgesprochen. Die angestrebte konventionelle Lebensweise, die hier in der Kleidung zum Ausdruck kommt, wird beim Übergang an die Universität zunächst weiter aufrechterhalten und nicht infrage gestellt. 32 Vgl. hierzu Kap. IV.4 zu den universitären Rahmenbedingungen in den 1960er Jahren. 33 Das »noch« (Z:160) deutet an, dass der Verweis auf das »Kostüm« (Z:160) eine Überlagerung aus der späteren Erfahrung (Erzählzeit) ist. Damit verweist sie auf eine Veränderungen des Kleidungsstils.

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Auch in der nächsten Passage wird deutlich, dass sie bestrebt ist, ihre voruniversitären Alltagspraktiken an der Universität zunächst aufrecht zu erhalten. Ihre alltäglichen Tätigkeiten, die in der Jugendphase ausschließlich mit ihrer Freundin zusammen unternommen werden – mit der sie sich gemeinsam auf die Suche nach einer eigenen Lebensweise begibt (siehe Typus ›Suche nach eigener Lebensweise über die Ausrichtung an Organisationen und Kollektiven nach intergenerationeller Distanzierung‹, Kap. V.1.2.2) –, werden an der Universität auch weiterhin in dieser exklusiven Zweierkonstellation fortgesetzt. Ihr Studium beginnt Frau Esser gemeinsam mit ihrer Schulfreundin. Wie sie die erste Zeit an der Universität erlebt, beschreibt sie im folgenden Abschnitt (Z:170-176): Esser: Ja dieser Schritt dahin, der war (.) den hab ich noch eben erst mal nach M-Stadt hin, den hab ich noch mit meiner Freundin gemacht (2). Das war auch sehr wichtig, dass wir so irgendwie da so gegenseitige äh (.) Unterstützungen hatten. Ich war mir dann aber auch schon sehr sicher (2) also, dass ich diese Richtung und diese politische Richtung, diese kritische Richtung, dass mir das (.) sehr sehr äh entsprach und sehr entgegen kam.

Der Schritt an die Universität wird gemeinsam mit ihrer Freundin vollzogen. Frau Essers Freundin ist somit eine Wegbegleiterin, mit der sie gemeinsam die ersten Herausforderungen an der Universität bewältigen kann. Aus heutiger Perspektive bewertet sie diese Gemeinschaft als »wichtig« (Z:172), da sie sich so gegenseitig unterstützen konnten. An der Universität entwickeln beide Frauen jedoch unterschiedliche Interessen, die sich nicht nur in den unterschiedlichen Studienfächern ausdrücken, sondern auch in der Vorstellung von einer angemessenen Lebensweise äußern. Frau Esser deutet an dieser Stelle selbstinterpretierend bereits an, dass sie sich als bald für eine »politische Richtung (…) kritische Richtung« (Z:175) interessiert, die von der Freundin nicht geteilt wird. Die hier von ihr explizit angedeutete Orientierungsveränderung wird im weiteren Verlauf ihrer Schilderungen erkennbar. Frau Esser distanziert sich von der angestrebten konventionellen Lebensweise, die sie bis dahin anstrebt, und entwickelt im Kontext der Studentenproteste an der Universität sowie im Austausch mit ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen den Wunsch nach einer politisierten Lebensweise, in der politische Themen und Aktivitäten im Vordergrund ihres Alltags stehen. Ihre persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensweise wird in den folgenden zwei Abschnitten deutlich. Zunächst beschreibt Frau Esser die wahrgenommene Lebensweise ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen (Z:162-170): Esser: Äh ich war aber dann immer wieder sehr überrascht, wenn ich bei denen zuhause war, das war alles so bürgerlich oder wie ich aus meinem (.) Parallelhaus dann fand, eigentlich spieß-

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bürgerlich ((lacht)). @Ich konnte gar nicht begreifen@ (2) wie Leute so kluge Köpfe und dann doch irgendwie so ein (2) °ja ein so ein so ein so° ein unattraktives Alltagsleben da hatten (.) die genauen Zusammenhänge kannte ich ja noch nicht. Also, dass das alles auch so Kreuz- und Querverbindungen waren, ich meinte jetzt erst mal so (.) von der Wohnweise und so. Da war ich einfach mit meinen hohen Ansprüchen dann doch etwas erstaunt ((lacht)).

Im Verlauf ihres Studiums und der Begegnungen mit ihren politischen Kommilitoninnen und Kommilitonen nimmt Frau Esser deren Lebensweise wahr und ist erstaunt darüber. Sie erlebt und bewertet sie als »spießbürgerlich« (Z:164). Diese Wahrnehmung deutet darauf hin, dass sie aufgrund der erlebten und als politisch und intellektuell bewerteten Diskussionen an der Universität eine andere Lebensweise erwartet hat. Bis zu diesem Zeitpunkt hat sie sie einen Widerspruch zwischen einer bürgerlichen Lebensweise und einer intellektuellen Haltung vermutet. Hier dokumentiert sich eine Distanzierung zur bisher auch selbst angestrebten konventionellen Lebensweise, die sie aus ihrem »Parallelhaus« (Z:164) kennt. Aus heutiger Perspektive erklärt sie ihre Verwunderung damit, dass sie zu diesem Zeitpunkt die »Kreuz- und Querverbindungen« (Z:168) noch nicht durchschaut hatte, wobei sie dies nicht näher expliziert. An der Universität beginnt Frau Esser schließlich ihre bislang angestrebte Lebensweise infrage zu stellen. Die Annahme der Unvereinbarkeit von konventioneller und bürgerlicher Lebensweise einerseits und politisch-intellektueller Haltung andererseits drückt sich in der Veränderung der Beziehung zur Freundin aus. Die Freundschaft zur Freundin verliert an der Universität nicht nur ihre Exklusivität, sondern wird aufgrund divergierender Vorstellungen einer angemessenen Lebensweise beendet (Z:176-194): Esser: Die Freundschaft mit meiner Freundin, das ging schon noch einige Zeit auch sogar noch ein paar Jahre weiter, aber (.) wir haben uns dann doch sehr weit auseinander entwickelt. Sie hat nämlich dann dort Volkswirtschaft studiert (2) so mit der Richtung praktisch irgendwie die äh die Firma ihres Vaters so im Hintergrund, nicht (.) dass sie die irgendwie übernehmen wollte oder so aber (.) es war dann doch (.) äh sehr nah an ihrer Familie und an deren sozialer Situation, //mmh// während ich dann halt eben ja Marxismus (.) äh und kritische Theorie studierte. Das hat uns jetzt intellektuell zunächst mal nicht (.) auseinandergebracht, da haben wir auch, konnten wir auch gut drüber diskutieren (2) aber die Lebensweise hat sich dann doch äh auseinander dividiert. Sie lernte dann auch schon im ersten oder spätestens im zweiten Semester ihren späteren Mann (.) kennen, //mmh// den sie bis zum ihren eigenen Tod, sie ist vor zwei Jahren gerade gestorben //mmh// ähm auch hatte. Und das war vor allen Dingen für die Freundschaft dann doch das ((lacht)) das war ein schwerwiegender Einschnitt ja (2) das so die Enge und diese Selbstverständlichkeit mit der man so vieles zusammen gemacht hat und auch fühlte, (.) aber so das Intellektuelle hat mir, da fühlte ich mich dann richtig, richtig gut ange-

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sprochen (2) und (.) das ging ja in der Zeit also erst mal (2) also die Menschen, die mich angesprochen haben, also die Soziologie.

In diesem Abschnitt wird deutlich, dass sie mit der Freundin zunächst eine Gemeinschaft des Erlebens pflegt, die nicht nur durch gemeinsame Unternehmungen, sondern auch durch intellektuelle Gespräche geprägt ist. Diese Freundschaft wird auch trotz der unterschiedlichen Studiengänge aufrechterhalten und über einen geistigen Austausch weitergeführt. Die Brüche in der exklusiven Gemeinschaft ergeben sich aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen der Lebensweisen, wie sie durch die frühe Partnerschaft der Freundin beeinflusst werden. Während Frau Esser sich im Verlauf des Studiums von dem Elternhaus der Freundin löst, bewahrt ihre Freundin eine Nähe zu ihren Eltern. Hier deutet sich an, dass sich über die Entwicklung einer politischen und intellektuellen Haltung Frau Essers Vorstellung von einer angemessenen und erstrebenswerten Lebensweise wandelt. Die zuvor über die Ausrichtung an der Lebensweise der Familie ihrer Freundin angestrebte bürgerliche Lebensweise wird als unvereinbar mit ihren politischen Interessen und ihrem intellektuellem Studium an der Universität bewertet. Auch über die Schilderungen von Frau Kielen kann der Typus ›Diskontinuität zur eigenen bereits entwickelten oder angestrebten Lebensweise‹ herausgearbeitet werden. Frau Kielen kommt im Vergleich zu den anderen beiden Fällen, die diesen Typus konstituieren, mit explizit-politischen Handlungserfahrungen an die Universität. Über die Alltagspraktiken ihrer Herkunftsfamilie erlebt sie die politische Einstellung sowie Aktivitäten ihrer Eltern. Diese übernimmt sie und vertritt sie auch in jugendspezifischen Organisationen in Distanzierung zur erfahrenen politischen Gesinnung der Eltern (siehe Untertypus ›Distanzierung zu den erlebten politischen Einstellungen der Bezugspersonen, Kap. V.1.1.2 und Typus ›Kontinuität intergenerationell erlebter politischer Aktivitäten in jugendspezifischen Organisationen‹, Kap. V.1.2.4). Die politische Aktivität in der Jugendorganisation beendet Frau Kielen schon, bevor sie mit dem Studium beginnt – »Also mit dem Studium war das irgendwie also schon vorher irgendwie war das passé« (Z:46f.). In der voruniversitären Lebensphase, kurz vor dem Übergang an die Universität, heiratet Frau Kielen ihren griechischen Freund, der kurze Zeit später nach Griechenland fliegt und von dort aufgrund des abzuleistenden Wehrdienstes zunächst nicht wieder ausreisen darf. In der Heirat wird die Möglichkeit gesehen, eine eigene Lebensweise, selbstbestimmt und in Distanzierung zu den Eltern, entwickeln zu können (siehe Untertypus ›Distanzierung zur erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen‹, Kap. V.1.1.2), womit gleichzeitig die Suche nach einer eigenen Lebensweise beendet wird (siehe Typus ›Suche nach eigener Lebensweise über die Ausrichtung an Organisationen und Kollektiven nach intergenerationeller Distanzierung‹, Kap.V.1.2.2).

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In den ersten Semestern an der Universität lehnt Frau Kielen die wahrgenommene studentische Lebensweise ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen explizit ab und ist bemüht, ihre in der voruniversitären Lebensphase entwickelte Lebensweise als verheiratete Frau, auch in Abwesenheit ihres Ehemannes, aufrecht zu erhalten (Z:859-865): Kielen: Na ja also ich hab ja schon gesagt, dass durch meine private Situation, ich mich da auch bisschen fremd fühlte, weil das waren eben, ich hatte irgendwie schon so Erwachsenenprobleme ja also //mmh// wie gesagt, ich war verheiratet schon früh, ja also und ähm mit einundzwanzig hab ich geheiratet, also bevor der ja nach Griechenland ging, stand Heirat an ja. Deshalb war ich dann verheiratet und die waren natürlich alle nicht verheiratet das war, da war ich auch schon ein bisschen wieder draußen.

Auf die Nachfrage, wie Frau Kielen ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen an der Universität erlebt, beschreibt sie in diesem Abschnitt Schwierigkeiten, die sich bei ihr im studentischen Alltag aufgrund einer wahrgenommenen Doppelrolle ergeben. Sie ist Studentin und gleichzeitig auch Ehefrau. Diesbezüglich fühlt sie sich an der Universität »fremd« (Z:860). Denn sie erlebt Unterschiede zwischen ihrer eigenen Lebensweise und der Lebensweise ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen. Während ihr Alltag von »Erwachsenenproblemen« (Z:861) geprägt ist, die sie nicht weiter expliziert, verzeichnet sie diese bei anderen aufgrund des »[N]ichtverheiratet«-Seins (Z:864), nicht. Mit dem Status Ehefrau verbindet sie ein bestimmtes Rollenverständnis, das sie auch als Studentin an der Universität aufrechterhalten möchte. Welche Aufgaben und Pflichten sie damit verbindet, führt sie in diesem Abschnitt nicht weiter aus. Die wahrgenommenen Handlungsmöglichkeiten als Studentin, die sie bei den anderen Studierenden erlebt, sind aus ihrer Perspektive nicht mit ihrer Rolle als Ehefrau vereinbar – »da war ich auch schon ein bisschen wieder draußen« (Z:864f.). Sie weist die beobachtete Lebensweise ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen, die über die Mitgliedschaft an der Universität sowie über den Status ›Studentin‹ legitimiert ist und somit auch für sie gelten könnte, ab. Es dokumentiert sich hier, dass sie bestrebt ist, ihre in der voruniversitären Lebensphase angestrebte und entwickelte Lebensweise fortzusetzen. Im weiteren Verlauf des Interviews beschreibt sie die universitären Rahmenbedingungen, die sie mit dem Beginn des Studiums an der Universität Frankfurt erlebt, und verweist anschließend auf die wahrgenommenen veränderten Studien- und Lebensbedingungen im Kontext der Studentenbewegung (Z:878-886): Kielen: Das kam eigentlich alles dann erst achtundsechzig, neunundsechzig, dann aber mit Macht. Aber als ich anfing zu studieren fünfundsechzig, sechsundsechzig, da war gar nichts, da gabs

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keine Kneipen, in denen sich Studenten, es gab das (

) an der Bockenheimer Wade, diese

eine ja. Das war aber auch schon ein bisschen, wo man nicht alleine also Frau (2) alleine hingehen konnte man da nicht //mmh//. Also es gab keinen sozialen Zusammenhang, ganz wenig vielleicht für eine kleine Gruppe, aber zu der gehörte ich dann auch irgendwie nicht //mmh//. Von daher war da sehr viel Fremdheit und Distanz //mmh//. Und ich hatte so ein paar Leute klar, mit denen ich erst mal so mein Vordiplom machen wollte.

Die ersten Semester an der Universität sind von einer wahrgenommenen »Fremdheit und Distanz« (Z:885) zwischen ihr und ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen geprägt, wobei Frau Kielen dieses eigeninterpretativ auf den Zeitgeist und die herrschenden Studien- und Lebensbedingungen vor der Studentenbewegung zurückführt. Sie beginnt ihr Studium 1965/66, deutlich vor der Hochphase der Studentenbewegung, und, wie sie rückblickend aus heutiger Perspektive beschreibt, in einer Zeit, in der es »keinen sozialen Zusammenhang« (Z:882f.) zwischen den Studierenden gab.34 Sie nimmt nur wenige Räume wahr, in denen Studierende zusammenkommen können. Diese stehen zudem vor allem den männlichen Studierenden zur Verfügung und werden von Frauen und somit auch von ihr nicht genutzt. In diesen Erzählabschnitten dokumentiert sich einerseits, dass die wahrgenommenen Geschlechterverhältnisse für Frau Kielen zu Beginn des Studiums noch kein Politikum darstellen. Sowohl die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern im studentischen Alltag – hier die informelle Regelung der Zugangsberechtigung für Kneipenbesuche – als auch ihre angenommene konventionelle Rolle als Ehefrau, die ihre Handlungsmöglichkeiten an der Universität eingrenzen, werden nicht infrage gestellt. Andererseits wird deutlich, dass die Universität von Frau Kielen zu Beginn ihres Studiums und vor der Hochphase der Studentenbewegung nur als Bildungsort verstanden und über dieses Verständnis die Zusammenkunft mit anderen Studierenden nur mit dem Ziel des gemeinsamen Lernens als legitim bewertet wird. Andere gemeinsame Aktivitäten werden explizit abgelehnt. Dass Frau Kielen sich alsbald in einem Dilemma befinden wird, deutet sich hier bereits an. Einerseits entscheidet sie sich mit der frühen Heirat für eine konventionelle Lebensweise und ist sehr bedacht, die mit dem Status Ehefrau verbundene Rolle einzuhalten und das sogar trotz Abwesenheit des Ehemanns. Gleichzeitig ist sie jedoch auch Studentin und nimmt über ihre Mitstudierenden im Raum der Universität andere Lebensweisen wahr, die sie zunächst ablehnt. Im Verlauf ihres Studiums und im Kontext der Studentenbewegung verändert Frau Kielen ihre bisherige Orientierung. Sie erlebt im universitären Alltag alternative Lebensmöglichkeiten auch jenseits der Ehe, die sie bis dahin für sich ausge34 Sie deutet an dieser Stelle rückblickend und interpretierend auf bevorstehende Veränderungen hin. Somit ist das Erzählte an dieser Stelle überlagert von ihren späteren Erfahrungen.

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schlossen hatte. Sie stellt, wie im Folgenden deutlich wird, ihre bis dahin kontinuierlich fortgesetzte Lebensweise und die damit einhergehende angenommene Rolle als Ehefrau infrage. Dieser Orientierungswechsel stellt einen radikalen Bruch zur bereits entwickelten Lebensweise dar. An der Universität nimmt Frau Kielen im Verlauf ihres Studiums veränderte Rahmenbedingungen wahr, die sie im folgenden Abschnitt beschreibt (Z:893-912)35: Kielen: Ja dann achtundsechzig, neunundsechzig, da saßen dann plötzlich alle irgendwie auf der Straße oder vor dem //mmh// ( ), also ich mein, da stellten sich, da kann ich mich auch noch erinnern, genau da stellten sich dann plötzlich auch Nähen her, dass du mit Leuten redetest, die du gar nicht kanntest, was früher unter Studenten nicht üblich war ja //mmh//. Die saßen ja da noch im Anzug zum Teil rum, also das war, die sahen ja auch ganz anders aus ((lacht)) wirklich. Ja und also das waren irgendwie äh (2) ja ganz (.) viel vagere und distanziertere Umgangsformen. Und das änderte sich wirklich erst mit der Studentenbewegung, //mmh// dann aber wirklich mit Macht, weil das natürlich auch eine Entdeckung war ja diese Verbindung plötzlich oder die Produktivität ja sich irgendwie jetzt auszutauschen oder zusammenzutun oder gemeinsam was zu machen oder also auch so ganz handfeste Sachen zu machen, wie Flugblätter abziehen oder das sind ja alles Sachen die Beziehungen stiften, wo du dich triffst oder hinterhergehst und so ja. //mmh// Und das gabs vorher alles gar nicht //mmh// ne, //mmh// da gabs, da ging man Studieren, ging in sein Seminar und dann ging man wieder irgendwo hin. Jeder wohnte irgendwo, es gab keine Wohngemeinschaften nichts, also keine Orte an denen man sich irgendwie zusammenfinden konnte, das war wirklich eine sehr //mmh// distanzierte Veranstaltung das Studium, fünfundsechzig, sechsundsechzig, siebensechzig ja. Und dann ging das erst los.

Frau Kielen bewertet die Studentenbewegung aus heutiger Perspektive als einen Einschnitt, der die bestehenden Lebens- und die Studienbedingungen beeinflusste und radikal veränderte. Sie erlebt im Rahmen der Studentenbewegung neue Umgangs- und Verhaltensformen, neue Kleidungsstile und auch neue Lebensweisen der Kommilitoninnen und Kommilitonen. Zudem beschreibt sie neue Aktivitäten und Handlungsoptionen, die sich für sie und andere Studierende mit dem veränderten studentischen Alltag ergeben. So wird die Hochphase der Studentenbewegung von ihr als eine kulturelle Umbruchsphase erlebt, in der sie im studentischen Kollektiv ihre bisherige konventionelle Lebensweise infrage stellt. Während die Universität von Frau Kielen zuvor als reiner Bildungsort verstanden wurde – »da ging man studieren, ging in sein Seminar und dann ging man wieder irgendwohin« 35 Dieser Abschnitt, in der sie ihre Eindrücke über die Studien- und Alltagsbedingungen an der Universität beschreibt sind überlagert von späteren Erfahrungen und eine Interpretation aus heutiger Perspektive.

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(Z:907f.) – in dem »distanzierte Umgangsformen« (Z:901) zwischen den Studierenden herrschten, und wo sie (mit Ausnahme ihrer Lerngruppe) daher kaum Kontakt zu anderen Studierenden aufnahm, (Z:885f.), deutet sich hier zunächst implizit an, dass sich mit der Studentenbewegung ihre Bestrebung, die zuvor angestrebte und bereits entwickelte Lebensweise an der Universität fortzuführen, verändert. Bereits zu Beginn des Interviews verweist Frau Kielen auf eine Diskontinuität in ihrer angestrebten und entwickelten Lebensweise, die erst vor dem Hintergrund des zuletzt dargestellten Erzählabschnittes (Z:893-912) nachvollziehbar wird. 1968 reist Frau Kielen zu ihrem Ehemann nach Griechenland, der dort seinen Wehrdienst absolvieren muss und auch erst nach Beendigung des Dienstes wieder ausreisen darf. Frau Kielen bleibt einige Monate in Griechenland und unterbricht ihr Studium (Z:885ff.). Nach der gemeinsamen Rückkehr nach Deutschland stellt Frau Kielen die bisherige Lebensweise infrage. Sie beansprucht die beobachtete alternative Lebensweise auch für sich und überredet ihren Ehemann zum gemeinsamen Einzug in eine Wohngemeinschaft (Z:126-132): Kielen: Gut als der dann wieder zurückkam (2), das war dann die Verabredung, ziehen wir in eine Wohngemeinschaft //mmh// mit (Name) war eine der ja@ //ja// also mit (Name) und äh meinem Bruder noch. Also wir waren drei Paare, zogen dann zusammen nach einigem Hin und Her äh in Frankfurt in eine Wohngemeinschaft //mmh// und da tobte dann der Bär, das muss man wirklich sagen, also diese Paare sind, bis auf meinen Bruder, alle auseinandergegangen.

Es wird deutlich, dass sich Frau Kielen von der zuvor als angemessen bewerteten Lebensweise, die über die Ehe bestimmt war, im Kontext der Studentenbewegung distanziert. Während ihres Aufenthaltes in Griechenland handelt sie mit ihren Mann aus, dass sie nach der gemeinsamen Rückkehr nach Deutschland gemeinsam in eine Wohngemeinschaft ziehen. Ihre Vorstellung wird nicht unmittelbar zustimmend von ihrem Ehemann angenommen, so dass sie erst »nach einigem Hin und Her« (Z:130) zusammen mit zwei anderen Paaren in eine Wohngemeinschaft ziehen. In einer weiteren Passage beschreibt sie, wie sie ihren Ehemann bei dieser Aushandlung »unter Druck« (Z:143) setzt. Es dokumentiert sich hier, dass ihre vormaligen Bestrebungen, monogam zu leben (Z:860ff.), aufgebrochen werden. Dass hierbei nicht nur die Wohnweise infrage gestellt wird, sondern auch die Beziehung zu ihrem Ehemann, deutet sich hier implizit an. Denn das Leben in der Wohngemeinschaft beschreibt sie als lebendig – »da tobte dann der Bär« (Z:131), so dass bis auf ein Paar, »alle auseinander gegangen« (Z:132) sind. Die Orientierungsveränderung wird über die Wahl einer alternativen Lebensweise, die in Distanz zur bisherigen Lebensweise gewählt wird, deutlich. Während Frau Kielen zu Beginn des Studiums kaum Kontakt zu anderen Studierenden pflegt und ihre bereits entwickelte Lebensweise aus der voruniversitären Lebensphase an der Universität fortsetzen möchte,

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distanziert sie sich, aufgrund neuer Handlungsmöglichkeiten und Erfahrungen, die sie im Kontext der Studentenbewegung sammelt, von ihrer bisherigen Lebensweise. Schließlich trennen sich Frau Kielen und ihr Mann. In den Schilderungen von Frau Schaal wird ebenso der gemeinsame fallübergreifende Orientierungsrahmen erkennbar, der den Typus ›Distanzierung zur eigenen bereits entwickelten oder angestrebten Lebensweise‹ konstituiert. Frau Schaal zeigt ähnlich wie Frau Esser und Frau Kielen in der voruniversitären Lebensphase eine intergenerationelle Distanzierung (siehe Untertypen ›Distanzierung zur erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen‹ sowie ›Distanzierung zu explizit formulierten Erwartungen der Bezugspersonen‹, Kap. V.1.1.2) und macht sich im Jugendalter auf die Suche nach einer eigenen Lebensweise in Distanz zu den Eltern (siehe Typus ›Suche nach eigener Lebensweise über die Ausrichtung an Organisationen und Kollektiven nach intergenerationeller Distanzierung‹, Kap. V.1.2.2). Im Vergleich zu Frau Kielen heiratet Frau Schaal bereits in der voruniversitären Lebensphase aufgrund einer ungeplanten Schwangerschaft. Im Jahr 1965 nimmt Frau Schaal ihr Studium der Soziologie an der Universität Frankfurt auf. Zu dieser Zeit hat sie bereits einen ungefähr fünfjährigen Sohn und lebt in einer monogamen Ehe. In der Eingangserzählung beschreibt Frau Schaal den Beginn ihres Studiums (Z:26-35): Schaal: Na gut und dann habe ich angefangen Soziologie zu studieren und das war neunzehnhundertfünfundsechzig (.) und äh (2) dann bin ich (.) der damalige SDS war eigentlich, ja die Heimat der ganzen Soziologen, also ich mein da waren auch noch ein paar andere drin, aber die Mehrheit der SDS Mitglieder waren Soziologen. Und so bin ich ganz äh also quasi von selbst in diese Kreise //mmh// gekommen und hab dann noch irgendwie Seminare mit denen mitgemacht und dann gabs dann also auch äh (.) etliche Genossen, die natürlich sich bemüßigt fühlten mich sozusagen //mmh// in die Schlechtigkeit der Welt und den Sozialismus als Gegenwelt einzuführen. Na kurz und gut, also ich bin dann auch Mitglied im SDS geworden.

Frau Schaal beginnt ihr Studium der Soziologie, zunächst unwissend, welche Inhalte sie hier erwarten – »habe Soziologie belegt, obwohl ich eigentlich gar nicht wusste, was das war« (Z:22). Bei der Wahl des Studiengangs nimmt sie den Rat ihres Vaters an, der ihr diesen Studiengang empfiehlt (siehe Untertypus ›Anerkennung der explizit formulierten Erwartungen der Bezugspersonen‹, Kap. V.1.1.1). Mit dem Beginn des Studiums knüpft Frau Schaal Kontakt zu Mitgliedern des SDS und beschreibt diese Verbindung rückblickend als zwangsläufige Folge ihres Studiengangs Soziologie. Frau Schaal, die bisher keine explizit-politischen Handlungen zeigte, erkennt an der Universität nicht nur die politische Einstellung ihrer aktiven Kommilitoninnen und Kommilitonen an, sondern wird selbst Mitglied im Sozialis-

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tischen Deutschen Studentenbund (SDS). Über ihre Mitgliedschaft und ihr politisches Engagement verändert sich im Laufe ihres Studiums, wie im Folgenden deutlich werden wird, ihre Einstellung gegenüber der von ihr bis dahin angestrebten und entwickelten Lebensweise. Auf die Aufforderung, sie möge ausführlicher über die Zeit an der Universität sowie den Kontakt zu anderen Studierenden erzählen, erinnert sie sich an Folgendes (Z:294-303): Schaal: Für mich war die Uni eigentlich -ne ganz neue Welt und ich war auch ganz glücklich und das war auch glaub ich der Grund, (2) warum dann auch meine Ehe auseinandergegangen ist. Mein Mann hatte nämlich nicht studiert (.) und der hatte aber darunter doch auch irgendwie gelitten //ja//. Und ich Blödmann hab das aber auch irgendwie nicht richtig gemerkt, sondern ähm //mmh// also (.) protzte da=rum mit meinen neuen //mmh// Erkenntnissen und so und (2) er fand die dann alle blöd //ja// ne und ja und das hat dann doch, also auch dann gabs natürlich auch mal eine außereheliche Affäre //mmh// meinerseits, seinerseits dann auch, na ja. Und das war ja eben auch damals (.) also die Zeit wo das irgendwie (.) angesagt war, ja.

In diesem Abschnitt wird deutlich, dass die Universität von Frau Schaal als ein Erfahrungs- und Handlungsraum erlebt wird, in der sie neue Erfahrungen macht und zu »neuen Erkenntnissen« (Z:299) kommt. Sie erlebt die Universität als »eine ganz neue Welt« (Z:294), in der sie »glücklich« (Z:295) ist. Hier zeigen sich Parallelen zu den Erfahrungen, die sie bereits in der voruniversitären Lebensphase macht. Auch die Institution Schule erlebte sie vor dem Hintergrund der schwierigen Beziehung ihrer Eltern, von denen sie sich zu distanzieren beginnt, als ein Ort, an dem sie ihren eigenen Interessen, jenseits der familiären Lebenswelt, nachgehen kann (siehe Typus ›Suche nach eigener Lebensweise über die Ausrichtung an Organisationen und Kollektiven nach intergenerationeller Distanzierung‹, Kap. V.1.2.2). Die neuen Erfahrungen und Erkenntnisse, die sie mit dem Beginn des Studiums an der Universität sammelt, führen zu einem Bruch zwischen ihr und ihrem Ehemann. Aus heutiger Perspektive erklärt sie diesen Bruch mit der Distanz ihres Mannes zur Universität, der nicht studierte. Während sie zu anderen Studierenden eine Gemeinschaft des Erlebens aufbaut, geht im Laufe ihres Studiums die aufgebaute Gemeinschaft zu ihrem Ehemann verloren. Über die Zugehörigkeit zu einem studentischen politischen Kollektiv distanziert sie sich von der bisherigen Lebensweise und den mit einer Heirat verbundenen Normen. In diesem Rahmen stellt sie ihre monogame Partnerschaft, für die sie sich mit der frühen Heirat entschieden hatte, infrage und hat an der Universität »außereheliche Affäre(n)« (Z:301). Aus heutiger Perspektive führt Frau Schaal interpretierend den Bruch zur zuvor angestrebten und entwickelten Lebensweise sowie ihre neu entwickelten Interessen auf den Zeitgeist zurück – »die Zeit wo das irgendwie (.) angesagt war« (Z:302f.), wobei sie diesen Geist einige Zeilen weiter mit »diese ganze Zeit der

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Studentenbewegung« (Z:307) konkretisiert. Die Distanzierung zur bisherigen Lebensweise wird im Fall von Frau Schaal im Kontext der Studentenbewegung und über die Mitgliedschaft in einer politischen Gruppe, dem SDS, an der Universität entwickelt. Die Universität wird von ihr als ein Ort erfahren, an dem sie bisher unbekannte Handlungsmöglichkeiten wahrnimmt und neue Erfahrungen macht. Die Distanzierung zur bisherigen Lebensweise manifestiert sich während des Studiums, so dass Frau Schaal und ihr Ehemann sich 1972 trennen. Zusammenfassung des Typus – ›Diskontinuität zur eigenen bereits entwickelten oder angestrebten Lebensweise‹ Wie sich anhand der diesen Typus konstituierenden Fälle dokumentierte, distanzieren sich einige der befragten Frauen in ihrer universitären Lebensphase von ihrer bereits entwickelten oder angestrebten Lebensweise. Während zwei der Frauen sich in der voruniversitären Lebensphase für eine konventionelle Lebensweise über eine frühe Heirat entscheiden, pflegt eine der Frauen eine exklusive Freundschaft zu einer Freundin, an deren Familienmitglieder (insbesondere der Stiefmutter der Freundin) sie sich hinsichtlich der Alltagspraktiken ausrichtet. Der Zeitpunkt der Aufnahme des Studiums liegt bei diesen Fällen noch vor der Hochphase der Studentenbewegung im Jahr 1965. In den Schilderungen der Frauen wird deutlich, dass sie zu Beginn des Studiums noch bestrebt sind, die bereits entwickelte oder angestrebte Lebensweise fortzusetzen. Im Kontext der Studentenbewegung werden von ihnen Veränderungen wahrgenommen, die sie im studentischen Alltag ihrer Mitstudierenden beobachten. In diesem Zusammenhang erkennen sie an der Universität neue Handlungsmöglichkeiten und machen neue Erfahrungen. Darüber stellen sie ihre bisher anstrebte und entwickelte Lebensweise infrage und zeigen diesbezüglich eine Diskontinuität. In allen drei Fällen kommt es zu einem Bruch zwischen den Frauen und ihren Wegbegleitern, so dass sie die Beziehung zu ihren Partnern bzw. zu der exklusiven Freundin beenden. Die Bereitschaft zur Distanzierung geht während des Studiums an der Universität mit einer theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit alternativen Lebensentwürfen einher. Diese finden in allen Fällen im Austausch mit bereits politisierten Mitstudierenden statt.

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V.2.2

Politisierung im Studium über die Auseinandersetzung mit formellen und informellen Veranstaltungen an der Universität

Im Folgenden werden über die Schilderungen der interviewten Frauen drei kontrastierende Typen abstrahiert, die verschiedene Ausprägungen der Typik ›Politisierung im Studium über die Auseinandersetzung mit formellen und informellen Veranstaltungen an der Universität‹ darstellen. Gemeinsam haben alle interviewten Frauen, dass sie ausführlich über ihre Erfahrungen mit den formellen und informellen Veranstaltungen vor, während und nach der Hochphase der Studentenbewegung an der Universität berichteten. Bei den beschriebenen Veranstaltungen handelt es sich sowohl um institutionell angebotene Lehrveranstaltungen wie Vorlesungen, Seminare und Tutorien als auch um studentisch organisierte, institutionell eingeräumte Veranstaltungen wie beispielsweise Vollversammlungen sowie um nicht-institutionelle Lehrveranstaltungen wie studentische Lern- und Arbeitsgruppen und Diskussionsrunden, die von den Frauen selbst oder anderen Studierenden initiiert werden. Bereits bei der Sortierung der Interviews nach Ober- und Unterthemen war erkennbar, dass die beschriebenen Auseinandersetzungen mit den formellen und informellen Veranstaltungen an der Universität in einem Zusammenhang mit Forderungen nach strukturellen und inhaltlichen Reformen des Wissenschaftsbetriebs stehen. In den Schilderungen der Frauen wurden sowohl eine Unzufriedenheit mit den bestehenden Studienbedingungen und Studieninhalten als auch die Forderungen nach Neuorganisation einzelner Fachbereiche erkennbar. Über die in den Interviews beschriebenen Auseinandersetzungen mit den formellen und informellen Veranstaltungen an der Universität werden drei kontrastierende Orientierungsrahmen deutlich, über die insgesamt drei entsprechende Typen abstrahiert werden können. In den Schilderungen einiger Frauen wird erstens eine Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen deutlich. Von diesen Frauen werden dann schließlich alternative, institutionell eingeräumte Veranstaltungen besucht. Dabei ist die Ablehnung insofern partiell und temporär, als dass die Veranstaltungen, die zum Erreichen eines Hochschulabschlusses als notwendig bewertet werden, entweder weiterhin besucht werden und/oder das Studium zu einem späteren Zeitpunkt regulär fortgesetzt wird (Typus ›Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen‹, Kap. V.2.2.1). In den Schilderungen anderer Fälle wird zweitens eine Anerkennung der Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren erkennbar. Deren Veranstaltungen werden von den Frauen als »links«, »politisch«, »intellektuell« und »reformiert« wahrgenommen und die Professorinnen/Professoren oder Assistentinnen/Assistenten positiv bewertet (Typus ›Anerkennung der Lehrveranstaltungen gesell-

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schaftskritischer Professoren‹, Kap. V.2.2.2). Drittens war in den Schilderungen erkennbar, dass einige Frauen ihre im Kontext der Studentenbewegung hervorgebrachten politischen Interessen und Kenntnisse in selbstbestimmten, informellen, studentischen Arbeitsgruppen weiterentwickeln und darüber ihr Studium erweitern möchten (Typus ›Anerkennung informeller, studentisch initiierter Arbeitsgruppen zur Erweiterung des Studiums‹, Kap. V.2.2.3). Die Orientierungsrahmen, die sich im Rahmen der Auseinandersetzung mit den formellen und informellen Veranstaltungen an der Universität zeigen, können als explizit-politisch bezeichnet werden, da sie das politische Handeln dieser Frauen an der Universität strukturieren. Die diese drei Typen konstituierende Fälle sind gekennzeichnet durch das Bestreben der Frauen, ein selbstbestimmtes politisches Studium mit politischen Inhalten umzusetzen. Dabei weisen sie eine Nonkonformität mit der geltenden institutionellen Ordnung der Universität auf, indem sie nur einen bestimmten Teil dieser geltenden Ordnung anerkennen, andere Teile aktiv ablehnen oder selbst neue Lernräume initiieren. V.2.2.1

Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen

In einigen der Interviews zeichnet sich in Erzählpassagen, in denen über Erfahrungen mit den wahrgenommenen Lehrveranstaltungen an der Universität berichtet wurde, ein Orientierungsrahmen ab, der fallübergreifend bei insgesamt sechs der interviewten Frauen – Frau Kielen, Frau Neuer, Frau Behrens, Frau Kasten, Frau Früh und Frau Esser – erkennbar war. Über diese gemeinsame Orientierung konstituiert sich der erste Typus ›Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen‹. Die in den Schilderungen der Frauen sichtbare Orientierung steht sowohl in einem Zusammenhang mit einer Unzufriedenheit mit den Studienbedingungen an der Universität als auch mit der Wahrnehmung einer politischen Mobilisierung von Kommilitoninnen und Kommilitonen im Kontext der Studentenbewegung, an der sie partizipieren möchten. Es ist hervorzuheben, dass die Universität als Bildungsraum von diesen Frauen nicht generell abgelehnt wird. Alle Frauen sind bestrebt, ihr Studium trotz politischer Aktivitäten fortzusetzen, jedoch nicht mehr in dem vorgegebenen institutionellen Rahmen. Dieser erste Typus kann über die Schilderungen von Frau Kielen abstrahiert werden. Frau Kielen beginnt ihr Studium bereits 1965, deutlich vor der Hochphase der Studentenbewegung. In der ersten einleitenden Erzählphase berichtet sie vor allem über ihre Erlebnisse in der voruniversitären Lebensphase und kommt darüber schließlich zur Beschreibung ihrer Alltagserfahrungen als Studentin vor und wäh-

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rend der Studentenbewegung an der Universität Frankfurt. In der Eingangserzählung schneidet sie ihre Erfahrungen mit den formellen und informellen Lehrveranstaltungen an der Universität lediglich kurz an. Erst im Nachfrageteil des Interviews beschreibt sie diese und schildert Folgendes (Z:762-770): Kielen: Als ich dann kam, ich bin natürlich auch in diese Großvorlesung, das muss man sich mal, es ist grauenhaft wirklich, der Hörsaal sechs, der größte Hörsaal den die Universität hatte für ein Proseminar von Adorno, //mmh// Proseminar ja, das heißt du solltest im ersten, zweiten Semester vor sechshundert Leuten dein Proseminarreferat halten, //mmh// eine ganz grauenhafte Vorstellung. Ich habe das natürlich nie gemacht, ich habe mich darum gedrückt, also ich fand das wirklich extrem entfremdend. Ich habe kaum was verstanden am Anfang //mmh//. Ich fand diese Arbeit, diese Art der Studienorganisation fand ich grauenhaft.

Die Universität wird von Frau Kielen zu Beginn ihres Studiums 1965 rückblickend als »extrem entfremdend« (Z:768) bewertet. Ihre negativen Eindrücke als junge Studentin führt sie auf die Studienbedingungen an der Universität zurück. Um ihre Unzufriedenheit mit den Bedingungen an der Universität zu erläutern, beschreibt sie die Größe des Proseminars von Theodor W. Adorno, die sie als Massenveranstaltung erlebt. Gleichzeitig verweist sie darauf, dass sie zu Beginn des Studiums Schwierigkeiten hatte, die Inhalte der Lehrveranstaltungen nachzuvollziehen. Die Ablehnung der vorgefundenen »Studienorganisation« (Z:770) äußert sich darin, dass sie beschließt die Leistungen in den größeren Seminaren nicht zu erbringen – »ich habe mich darum gedrückt« (Z:767). Dass das Studium trotz der ersten Schwierigkeiten an der Universität von ihr nicht abgelehnt wird, sondern sie bemüht ist, es ordentlich fortzusetzen, drückt sich in ihrer Entscheidung aus, alternative Veranstaltungen zu besuchen (Z:776-780): Kielen: Was hab ich gemacht, ich bin in die WiSo, zu den WiSo-Soziologen //mmh// gegangen und dort in die Seminare rein //ja//. Die waren -n bisschen kleiner -n bisschen menschlicher -n bisschen äh vertrauter //ja// und hab da die ersten Seminare gemacht, aus lauter Widerstand. Ja ja, das war kein Problem, //ok// man konnte das oder das machen.

Wie hier deutlich wird, lehnt Frau Kielen die über die Philosophische Fakultät angebotenen soziologischen Lehrveranstaltungen ab und besucht dafür die Soziologieseminare der Fakultät für Wirtschaft und Sozialwissenschaften36, in denen sie

36 Die Soziologie war in dieser Zeit sowohl in der Philosophischen Fakultät als auch der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften angesiedelt. Fakultätsübergreifende

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ihre ersten Leistungen regulär erbringt. Diese Veranstaltungen beschreibt sie als »kleiner (…) menschlicher (…) vertrauter« (Z:777f.). Ihre Ablehnung regulär angebotener Veranstaltungen ist somit 1965 partiell. Denn sie lehnt nur die Lehrveranstaltungen ab, deren Lehrbedingungen sie als problematisch erlebt. Es dokumentiert sich hier, dass Frau Kielen zwar einen Teil der erlebten Studienbedingungen ablehnt, jedoch zu Beginn des Studiums noch kein offensives Protestverhalten zeigt. Trotz des Wechsels ist Frau Kielen, wie im folgenden Abschnitt deutlich wird, auch weiterhin mit den Studienbedingungen unzufrieden – »ich fühlte mich ja auch nicht aufgehoben in diesem Studium« (Z:920). Im Kontext der Studentenbewegung und der geäußerten Kritik aktiver Studierender gegenüber den Studienbedingungen macht Frau Kielen schließlich die Erfahrung, dass auch andere unzufrieden mit dem Studium sind. (Z:918-928): Kielen: Achtundsechzig war natürlich dann da war sozusagen die Entdeckung und irgendwo hat es mir emotional entsprochen, weil ich fühlte mich ja auch nicht aufgehoben in diesem Studium und plötzlich gab es Erklärungen dafür, warum das irgendwie //mmh// Mist war (.) ja //mmh// und warum das so nicht geht und äh so. Klar die Erklärungen stimmten nicht immer, aber man konnte sie heranziehen, um die eigene Unzufriedenheit und auch irgendwie das eigene Unglück im gewissen Sinne auch, als ich fühlte mich auch sehr alleine da im Studium, dieses Unglück auch irgendwie zu erklären und zu //mmh// ähm das von einem selber so ein bisschen wegzunehmen und zu sagen ja, das hat auch was mit dieser Studienorganisation zu tun.

Im Rahmen der Studentenproteste und der öffentlich geäußerten Kritik der Studierenden erhält Frau Kielen schließlich »Erklärungen« (Z:922) hinsichtlich ihrer bis dahin empfundenen Unzufriedenheit mit dem Studium. Über diese Erkenntnis distanziert sie sich von einem bis dahin angenommenen persönlichen Defizit. Sie führt ihr »Unglück« (Z:925) zunehmend auf die geltenden Studienbedingungen der Universität zurück, die sie zwar bereits infrage gestellt hat, wogegen sie jedoch noch kein aktives Protestverhalten zeigte. Insgesamt dokumentiert sich hier Frau Kielens Unzufriedenheit mit den geltenden Studienbedingungen, die jedoch erst ab dem Zeitpunkt als institutionelles Problem wahrgenommen werden, als auch andere Studierende ihre Unzufriedenheit in Form von Protest äußern. Frau Kielen erlebt im Laufe des Studiums die politische Mobilisierung ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen und wird Teil eines protestierenden Studentenkollektivs. Gemeinsam mit anderen Studierenden lehnt sie aktiv einen Teil der geltenden universitären Ordnung ab und protestiert dagegen. Beweggründe ihrer Seminarbesuche eines Faches wurden von der Universität eingeräumt, so dass die Studierenden Seminare beider Fakultäten besuchen konnten.

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politischen Handlungen sind also einerseits die subjektive Unzufriedenheit mit den Studienbedingungen und andererseits das Erleben der politischen Mobilisierung ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen. Wie sie im Folgenden beschreibt, ändert sich mit der Partizipation an den Studentenprotesten ihr Umgang mit den regulären Lehrveranstaltungen der Universität (Z:955-961): Kielen: Also da war ja -ne ganze Phase dazwischen, wo das wirkliche studentische und politische //mmh// Leben gewissermaßen nicht in den Lehrveranstaltungen stattfand, sondern da machte man Go-in ja //mmh// oder sprengte die Prüfung oder was weiß ich, (.) aber man studierte nicht regulär, //mmh// sondern man studierte, wenn man so will selbstorganisiert, also das was uns wichtig war und interessiert hat. Wir haben da in der Tat sehr viel gelernt, aber es war natürlich kein regulärer Studienbetrieb.

In diesem Abschnitt dokumentiert sich eine Orientierungsveränderung. Zu Beginn des Studiums werden die Lehrveranstaltungen aufgrund der Unzufriedenheit mit den Studienbedingungen partiell abgelehnt und lediglich in einem universitär eingeräumten Rahmen Alternativen gesucht, um das Studium ordentlich weiterführen zu können. Im Kontext der Studentenbewegung an der Universität und der im studentischen Kollektiv geäußerten Kritik, der sich Frau Kielen anschließt, kommt es schließlich zu einer umfassenden Ablehnung der regulären Lehrveranstaltungen. Diese äußert sich nicht nur in der Ablehnung formeller Lehrveranstaltungen, sondern auch in ihrer Störung und Sprengung – »da machte man Go-in ja //mmh// ja oder sprengte die Prüfung« (Z:957f.). Mit der Beteiligung an den Studentenprotesten stellt Frau Kielen alternative, studentisch initiierte Lerngruppen in den Vordergrund ihres Studienalltags. Gemeinsam mit anderen protestierenden Studierenden erarbeitet sie sich ausgesuchte Studieninhalte »selbstorganisiert« (Z:959). In einem weiteren Nachfrageteil erinnert sich Frau Kielen, dass sie zwar (gemeinsam mit anderen Studierenden) den Großteil der regulären Lehrveranstaltungen ablehnt und nicht besucht, jedoch kurz vor Beendigung des Studiums zum Erreichen des Abschlusses erneut an regulären Veranstaltungen teilnimmt (Z:965974). Kielen: Also es gab natürlich schon, ich kann mich erinnern, das war aber auch schon fast vor dem Diplom eigentlich, //ja// ich kann mich erinnern, dass ich da in dieser Oevermannveranstaltung, das war so -n Forschungsseminar, was an Forschungsprozesse angeschlossen war, das war auch spannend und da haben wir auch, das war regulärer Studienbetrieb, gewissermaßen wieder, ja (2) aber davor war eben ganz lange, das man irgendwie eigene Themen gefunden hat, andere Leute sich dazu gesucht hat oder es gab Angebote von Leuten die schon ein biss-

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chen älter waren und da ging man hin und nicht in die regulären Lehrveranstaltungen, also es waren selbstorganisierte Gruppen.

Die Ablehnung der regulär angebotenen Veranstaltungen der Universität erfolgt nicht nur partiell, sondern auch zeitlich begrenzt. Gegen Ende des Studiums besucht Frau Kielen erneut regulär angebotene Veranstaltungen, die sie inhaltlich interessieren. Hier erwähnt sie das Seminar von Ulrich Oevermann, das sie rückblickend als »spannend« (Z:969) bezeichnet. Dieses Seminar hebt sich insofern von anderen regulären Veranstaltungen ab, als dass es ein »Forschungsseminar« (Z:967) ist und die Studierenden durch den Dozenten angeleitet eigene Projekte bearbeiten können. Somit erlebt Frau Kielen gegen Ende des Studiums regulär angebotene Seminare, die sie aus Interesse besucht. Insgesamt wird deutlich, dass sich Frau Kielen im Verlauf ihres Studiums von den regulären Veranstaltungen der Universität distanziert und diese aktiv ablehnt. Hierbei kritisiert sie vor allem die geltenden Studienbedingungen und initiiert gemeinsam mit anderen Studierenden alternative Veranstaltungen. Das Studium an sich wird jedoch nicht abgelehnt. Denn Frau Kielen und ihre protestierenden Kommilitoninnen und Kommilitonen organisieren ihre eigenen Veranstaltungen, die für sie Alternativen zu den regulären Lehrveranstaltungen darstellen. Am Ende ihres Studiums erlebt sie schließlich eine veränderte Lehrkultur innerhalb der Soziologie in den Seminaren von Oevermann.37 Erst mit den ›reformierten‹ Lehrangeboten gegen Ende des Studiums nimmt sie erneut an regulären Veranstaltungen teil und macht schließlich ihren Abschluss in Soziologie. Frau Neuer beginnt ihr Studium 1967, zwei Jahre später als Frau Kielen und somit in einer bereits ›studentenbewegten‹ Zeit. Unmittelbar nach dem Beginn des Studiums öffnet sich Frau Neuer für politische Aktionen und schließt sich der studenti37 Bis 1966 oblag die Soziologenausbildung der Philosophischen Fakultät und wurde erst mit der gemeinsamen soziologischen Diplomprüfungsordnung zusätzlich der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften übertragen. Im Rahmen der hessischen Hochschulreformen wurde 1971 diese doppelte Verteilung der soziologischen Seminare auf zwei Fakultäten beendet, indem der Fachbereich für Gesellschaftswissenschaft gegründet wurde. Frau Kielen erlebt im Laufe ihres Studiums eine veränderte Lehrkultur. Während zu Beginn ihres Studiums vor allem Vorlesungen angeboten werden, die überfüllt sind und in denen Professoren Wissen frontal vermitteln, erlebt sie im Rahmen der Hochschulreformen und Neustrukturierung des Studiengangs nun ein verändertes Verständnis der soziologischen Lehre und soziologischen Praxis an der Universität Frankfurt. In den soziologischen Seminaren werden kleine Arbeitsgruppen gebildet, in denen die Studierenden ihre eigenen Forschungsvorschläge einbringen können; vgl. dazu die Ausführungen bei Herrschaft 2010, S.238.

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schen Gruppe ›Revolutionärer Kampf‹ (RK-Gruppe) an (siehe Typus ›Offenheit für politische Aktionen beim Übergang an die Universität‹, Kap. V.2.1.2). Gleichzeitig mit der Teilnahme an Protestaktionen der RK-Gruppe – »also ich bin dann auf die Straße gegangen und wir haben ja zuerst immer gegen die Amerikaner, also gegen die, was da in Vietnam passierte, [demonstriert]« (Z:89f.) – beteiligt sich Frau Neuer, ähnlich wie Frau Kielen, an den studentischen Protesten gegen die geltenden Studienbedingungen der Universität. Ihre Erfahrungen mit den regulären Lehrveranstaltungen an der Universität sowie ihre Beteiligung an den studentischen Protesten beschreibt Frau Neuer im folgenden Abschnitt (Z:91-103): Neuer: Ähm (.) und (.) ja dann habe ich also auch (.) was man halt, was wir damals gemacht haben, wir haben Schulungen gemacht, wir haben Sit-ins gemacht, wir haben (.) die (.) juristischen, wir haben also die Vorlesung gesprengt, ich war auch ziemlich enttäuscht von dem Studium, wir hatten einen Juraprofessor, der hat (.) uns also (.) im ersten Semester, ich weiß nicht, ob, wie weit Sie Jura kennen, Schadensersatzrecht, da hat er ein Beispiel gebracht ähm (2). Also eine schwangere Frau geht über die Straße, wird angefahren, verliert ihr Kind, muss der Autofahrer den Schaden wiedergutmachen, also so auf dem Niveau @(.)@ //hmm//. Und es gab ganz wenig Frauen damals, also es war noch so, die Bibliothekarin, am Lehrstuhl, die hat uns Mädchen oder Studentinnen total ignoriert, hat uns nie Bücher gegeben, nein das ist für den Assessor so und so, das ist für den Assessor so und so.

Auch Frau Neuer schließt sich, ähnlich wie Frau Kielen, protestierenden Studierenden an und wird Teil eines protestierenden Kollektivs. Gemeinsam mit anderen Studierenden sprengt sie reguläre Lehrveranstaltungen der juristischen Fakultät und beteiligt sich an »Sit-ins« (Z:93). Vom Studium ist Frau Neuer bereits kurz nach Beginn »ziemlich enttäuscht« (Z:95). Sie beschreibt zwei Situationen, um ihre Unzufriedenheit zu erläutern. In einer Vorlesung empört sich Frau Neuer über die Erläuterungen eines Professors zu einem juristischen Sachverhalt. Des Weiteren erinnert sie sich, dass sie an der Universität über das Verhalten einer Bibliothekarin geschlechtsspezifische Benachteiligung und hierarchische Strukturen wahrnimmt, in der Studierende, insbesondere Studentinnen, benachteiligt behandelt werden. Insgesamt dokumentiert sich hier, dass Frau Neuer mit Teilen der Lehrkultur und den Studienbedingungen unzufrieden ist und darüber Teile der regulären Veranstaltungen aktiv kritisiert. Ihre Ablehnung äußert sich in der Beteiligung an den Vorlesungsstörungen sowie der Organisation eigener »Schulungen« (92). Zu diesem Zeitpunkt ist Geschlecht jedoch noch kein Politikum, so dass ihr Handeln nicht explizit über eine entwickelte geschlechtsspezifische Perspektive strukturiert wird.38 38 Gleichzeitig deutet sich hier eine Sensibilität für Geschlechterthemen ab, was möglicherweise aber auch eine Überlagerung späterer Erfahrungen sein kann.

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In einem Nachfrageteil des Interviews, in dem sie gebeten wird, von ihrem Studium zu erzählen, kommt Frau Neuer erneut zur Beschreibung alternativer studentischer Veranstaltungen und erzählt Folgendes (Z:602-605): Neuer: Aber (.) äh wir haben ja diese Teach-ins gehabt und dann haben wir Arbeitsgruppen gebildet //hmm//. Und so haben wir uns auch aufs Examen vorbereitet. Wir waren eine Gruppe von sechs (.) Studenten, Studentinnen, wobei nur die Frauen dabei geblieben sind.

In diesem kurzen Erzählabschnitt dokumentiert sich, dass Frau Neuer mit ihrem Studium vor allem »Teach-ins« (Z:602) sowie studentisch gegründete Arbeitsgruppen verbindet, die eine Alternative zu den abgelehnten regulären Lehrveranstaltungen darstellen. Hier bereitet sie sich gemeinsam mit anderen protestierenden Studierenden auf das Examen vor. Sie lehnen zwar gemeinsam die formellen Veranstaltungen der Universität und somit einen Teil der universitären Ordnung ab, aber nicht das Studium an sich. Wie sich hier dokumentiert, werden alternative Lehrund Lernmöglichkeiten geschaffen, um die Anforderungen des Studiums zu bewältigen und die Prüfungen zu bestehen. Die Universität und ihre Regeln werden somit nur partiell abgelehnt. Einige Zeilen später, nachdem sie den Werdegang der Mitglieder dieser Gruppe beschrieben hat (Z:605-615), erläutert sie, wie die Prüfungen vorbereitet wurden (Z:616-618): Neuer: Und wir haben uns (.) mit Skripten auf das Examen vorbereitet //hmm//. Also wir haben an der Uni (2) wir hatten unsere Versammlung, unsere Teach-ins (.) und (2) Selbstorganisation.

Für die Vorbereitung der Prüfungen werden Unterlagen zu den einzelnen regulären Lehrveranstaltungen herangezogen, die Seminare jedoch nicht besucht. Auch hier dokumentiert sich, ähnlich wie in den Schilderungen von Frau Kielen, eine partielle Ablehnung der regulär angebotenen Lehrveranstaltungen. Während die unmittelbaren Lehrbedingungen und gleichzeitig ein Teil des Lehrpersonals abgelehnt werden, werden die Studieninhalte und der angestrebte universitäre Abschluss anerkannt, so dass sie bestrebt ist, ihr Examen ordentlich zu erbringen. Insgesamt wird deutlich, dass Frau Neuer ein Studium an sich nicht ablehnt. Es sind die Studienbedingungen und institutionell angebotenen Lehrveranstaltungen, die sie – ähnlich wie Frau Kielen – als unangemessen und sogar benachteiligend erfährt, wie sie es am Beispiel der Bibliothekarin erläutert. Gleichzeitig erlebt sie die Universität Ende der 1960er Jahre als einen politisierten Raum. Hier trifft sie auf Studierende, die politisch aktiv sind und im Kollektiv die universitäre Ordnung ablehnen und alternative Veranstaltungen gründen und anbieten. Frau Neuer wird Teil eines solchen studentischen Kollektivs und setzt ihr Studium selbstorganisiert fort.

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Auch über die Schilderungen von Frau Behrens kann der Typus ›Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen‹ abstrahiert werden. Frau Behrens beginnt ihr Jura-Studium im Herbstsemester 1967/68 in B2-Stadt. Bereits zu Beginn der ersten Erzählphase beschreibt Frau Behrens ihre Erfahrungen an der Universität und in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzungen mit den formellen und informellen Veranstaltungen (Z:87-103): Behrens: Und obwohl das Jurastudium also in einer neuen Universität war, war es nicht unbedingt so, dass es ähm (.) wie soll ich sagen besonders offen oder modern konzipiert war. Das kann man nicht sagen, sondern eigentlich, vielleicht schon im Vorgriff auf weitere Entwicklungen, ziemlich verschult. Und ähm (.) das hat es nicht, wie soll ich sagen, nicht besonders interessant gemacht, ich muss also gestehen, dass mein anfänglicher Enthusiasmus ziemlich schnell @(.)@ gestorben ist. Und es war ja auch die Zeit, also ich war eher beim AStA oder in welchen Arbeitsgruppen oder halt auch sagen=wir=mal in neben den offiziellen Seminaren herlaufenden Arbeitsgruppen, auch innerhalb des Studiums mich aufgehalten habe, als ausgerechnet bei Vorlesungen, die dann für vierhundert, fünfhundert Leute waren //mmh//. Äh oder auch Seminaren, die dann dreißig vierzig Leute hatten. (.) Und ähm (2) damals gab es den SDS an der (.) B2-Stadter Uni, aber es gab auch die HSU. Und zu der habe ich, also über die Freundin, die dann aber irgendwann auch ein eigenes Zimmer wollte, das heißt die hat mich dann mitgezogen in so ein Studentenwohnheim. Und darüber, über Kontakte, also eher zur HSU, so dass ich dann da auch mitgearbeitet habe.

Den Anfang ihres Studiums erlebt Frau Behrens zunächst als Enttäuschung, so dass ihr »anfänglicher Enthusiasmus ziemlich schnell« (Z:93) verfliegt. Aus heutiger Perspektive und mit dem Hinweis auf spätere Erfahrungen weist sie darauf hin, dass die Unzufriedenheit mit der Universität auf die Studienstrukturen zurückzuführen war. Die Universität wird aus heutiger Perspektive als »verschult« (Z:91) beschrieben. Auch Frau Behrens ist, ähnlich wie Frau Kielen und Frau Neuer, mit den Studienbedingungen, die sie an der Universität erlebt, unzufrieden. Bereits zu Beginn des Studiums distanziert auch sie sich von den regulären Lehrveranstaltungen der Universität und entwickelt ein Interesse für studentisch organisierte Veranstaltungen der AStA und für andere Arbeitsgruppen, an denen sie teilnimmt (Z:94f.) und die sie anstelle der regulär angebotenen Veranstaltungen besucht. In diesem Rahmen wird sie sogar Mitglied einer politischen Studentengruppe, der Humanistischen Studentenunion (HSU). Auch anhand der Schilderungen von Frau Behrens wird deutlich, dass das reguläre Studium zunächst in den Hintergrund rückt, während politische Aktivitäten in den Vordergrund ihres studentischen Alltags treten.

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Dennoch möchte auch Frau Behrens trotz der Ablehnung formeller Lehrveranstaltungen ihr Studium ordentlich absolvieren und strebt das Examen an. Die Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen bedeutet somit, ähnlich wie in den Fällen Frau Kielen und Frau Neuer, keine Ablehnung des gesamten Studiums und der universitären Satzungen. Die Universität wird von ihr weiterhin als Bildungsraum verstanden, in dem sie einen Studienabschluss anstrebt. Im weiteren Verlauf des Interviews erzählt Frau Behrens, dass ihre Schwierigkeiten mit dem Leistungserwerb im Laufe des Studiums so groß werden, dass sie ihr Jura-Studium schließlich nach dem ersten Staatsexamen abbricht und den Studiengang wechselt (Z:149ff. und Z:194ff.). Im Rahmen des Studiengangs Pädagogik erlebt sie schließlich Studienbedingungen sowie Lehrinhalte, die sie interessant findet und anerkennt, so dass sie ihr Studium im weiteren Verlauf regulär beendet (Z:603ff.). Damit lehnt auch Frau Behrens formelle Lehrveranstaltungen lediglich partiell und temporär ab. Frau Kasten beginnt ihr Studium in einer bereits ›studentenbewegten‹ Zeit, im Jahr 1968, und zeigt an der Universität eine Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten (siehe Typus ›Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten beim Übergang an die Universität‹, Kap. V.2.1.2). Sie beteiligt sich unmittelbar nach Beginn des Studiums an studentischen Protesten. Während in den Schilderungen der ersten drei Fälle die Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen aus einer Unzufriedenheit mit den wahrgenommenen Lehr- und Lernbedingungen erfolgt, rückt für Frau Kasten ihr reguläres Studium, und darüber auch die formell angebotenen Lehrveranstaltungen der Universität aufgrund der intensiven Beteiligung an den studentischen Protesten in den Hintergrund. Im Nachfrageteil des Interviews antwortet Frau Kasten auf die Frage, ob sie viel Zeit an der Universität verbrachte und wie ihr Alltag an der Universität aussah, Folgendes (Z:498-506): Kasten: Also ich weiß es nicht die Uni hat mich nicht so richtig (.) viel beschäftigt. Als es drum ging ein Examen zu machen musst ich das //ja// und das ging aber auch schnell wie ich eben schon sagte also so, aber es gehörte natürlich alles zur Uni dazu dieses Leben. Also die äh großen Versammlungen fanden in der Uni statt //mmh// oder auf dem Platz vor der Uni traf man sich zu jeder Demonstration oder sonst, //mmh// also das war schon es war alles, es war wie soll man sagen, Universität war eben nicht auf die Professoren und die Universitätsräumlichkeiten beschränkt, sondern es war //mmh// es war eine Form zu lernen //mmh// die unheimlich viel mit einschloss (.) für uns damals.

Wie sich hier dokumentiert, lehnt Frau Kasten das reguläre Studium an der Universität kurz nach dem Beginn für eine gewisse Zeit ab – »die Uni hat mich nicht so richtig (.) viel beschäftigt« (Z:498). Dass sie zunächst mit »Uni« (Z:498) ihr regulä-

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res Studium meint, wird in den darauffolgenden Zeilen erkennbar. Während sie einen Teil der universitären Veranstaltungen, nämlich die regulären Lehrveranstaltungen ablehnt, nimmt sie an studentisch organisierten, alternativen und politisch informellen Veranstaltungen innerhalb und außerhalb der Universität teil und verweist darauf, dass die »Universität (…) eben nicht auf die Professoren und die Universitätsräumlichkeiten beschränkt« (Z:504f) war. Sie partizipiert an politischen Aktionen wie »Versammlungen« (Z:501) und »Demonstrationen« (Z:503) und erlebt diese als einen Teil der Universität. Die Universität wird von ihr als ein politischer Raum erfahren, innerhalb dessen sie ihr Interesse für politische Aktivitäten mit einem politischen Studium verbinden kann. Dass die Ablehnung der formellen Lehrveranstaltungen nur temporär stattfindet, dokumentiert sich in der Wiederaufnahme eines regulären Studiums, »als es drum ging Examen zu machen« (Z:499). Insgesamt ist erkennbar, dass für Frau Kasten, unmittelbar nach der Aufnahme des Studiums in einer ›studentenbewegten‹ Zeit, die Teilnahme am regulären Lehrbetrieb in den Hintergrund rückt und sie an alternativen studentischen Veranstaltungen teilnimmt. Sie erlebt somit die Universität als einen Raum, in dem es über die regulären Veranstaltungen hinaus Bildungsmöglichkeiten gibt. Diese alternativen Veranstaltungen werden von ihr als politische Lernforen verstanden, über die sie ihr Studium zu einem politisierten Studium machen kann, das sowohl inhaltlich politisch konnotiert als auch mit praktischen politischen Tätigkeiten verbunden ist. Diese sind wiederum nicht nur nicht-institutionell, sondern zum Teil sogar illegal und damit institutionell nicht erwünscht. Im Vergleich zu Frau Kielen und Frau Neuer lehnt Frau Kasten, ähnlich wie Frau Behrens, die regulären Lehrveranstaltungen nicht aufgrund von Unzufriedenheit mit den universitären Lehrbedingungen ab, sondern wegen ihres Interesses für politische Aktivitäten und des unmittelbaren Anschlusses an bereits protestierende Studierende. Sie erlebt die Universität somit auch als einen Raum, in dem politisierte Kollektive handeln. Auch sie wird Teil eines studentischen und protestierenden Kollektivs. Die Ablehnung regulärer Veranstaltungen erfolgt, ähnlich wie auch in den Schilderungen der anderen Fälle, lediglich für eine gewisse Zeitphase. Wie im Folgenden deutlich wird, besucht sie am Ende ihres Studiums regulär angebotene Seminare, die sie zum Bestehen des Examens benötigt (Z:449). Gleichzeitig nimmt sie an studentisch gegründeten, informellen Lernveranstaltungen und Lerngruppen teil, um verpasste Studieninhalte vorzubereiten und so die regulären Prüfungen zu bestehen (Z:449-456): Kasten: Also ich fand, also es hat für mich nicht so -ne Rolle gespielt, ich hab die Seminare gemacht und dann hat man sich irgendwann=mal kurz vor=m Schein oder irgendwo da vor=m Examen hat man sich in so kleinen Gruppen zusammengesetzt und //mmh// hat dann was man nicht

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gemacht hat in der Universitätszeit, das hat man dann zusammen noch mal vorbereitet. In den Skiurlaub zusammen gefahren und hat dann gebüffelt //mmh// oder so. Aber das war ähm sozusagen, wir konnten damit umgehen, wir hatten unsere Wege, wie man dann immer noch ein gutes Examen hinlegt.

Wie sich hier dokumentiert, tritt zwar das Studium über die Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und die Fokussierung politischer Aktivitäten zunächst in den Hintergrund, verliert jedoch nicht vollständig die Bedeutung. Frau Kasten strebt ein Examen an und erkennt gegen Ende des Studiums die für notwendig erachteten Seminare, Studieninhalte sowie die geltende Prüfungsordnung an. Gleichzeitig verweist sie darauf, dass die studentischen Gruppen, in denen sie sich bewegt, eine Gemeinschaft des Erlebens darstellen, die über den universitären Raum hinaus gepflegt wird. So werden im weiteren Verlauf des Studiums in diesem studentischen Kollektiv nicht mehr nur explizit-politische Aktivitäten gemeinsam geplant und durchgeführt, sondern auch Freizeitaktivitäten, die nicht unmittelbar politisch sind. In den Schilderungen von Frau Esser wird ebenfalls der gemeinsame Orientierungsrahmen erkennbar, über den der Typus ›Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen‹ abstrahiert werden kann. Frau Esser beginnt ihr Studium der Soziologie zunächst in M.-Stadt und wechselt nach einigen Semestern an die Universität Frankfurt. Bereits in M.Stadt besucht sie Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren, die sie anerkennt und über die sie der kritischen Wissenschaftstradition der Frankfurter Schule begegnet. In den folgenden Abschnitten beschreibt Frau Esser ihre erste Zeit an der Frankfurter Universität und erinnert sich in diesem Zusammenhang an ihre Beteiligung an einem studentisch initiierten Streik an der Universität Frankfurt (Z:293-304): Esser: Ich kam zum, ich weiß es nicht mehr, zum Dritten oder nach dem Dritten dorthin und dann gab es in Frankfurt ja ein Vordiplom, //mmh// das ich ganz bewusst angesteuert habe. Damit ich irgendwie so=n Halt habe, damit ich irgendwie weiß was ich, ja wie geht das, was hab ich jetzt bis jetzt gemacht und (.) und dieses Vordiplom fiel dann schon in diese äh studentenbewegte Zeit //mmh//. Also wir haben=s oder ich und viele andere haben diese Prüfung dann auch verschoben, weil wir dann eben noch gestreikt haben ((lacht)). Aber vor allen Dingen haben wir eben sehr intensive eigene Arbeitsgruppen gebildet //mmh// und das war für mich sehr entscheidend für mein für meine Studienzeit, eigentlich die ganze Zeit (.) für Frankfurt, diese selbstgeschaffenen und auch sehr sehr ernst genommenen eigenen Arbeitsgruppen.

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Frau Esser ist nach dem Wechsel an die Universität Frankfurt weiterhin bestrebt, ihr Studium ordentlich fortzusetzen und möchte zunächst ihr Vordiplom machen. Wie sich hier dokumentiert, lehnt Frau Esser zunächst die geltenden institutionellen Regeln und Strukturen der Universität nicht ab. Die Universität als Bildungsraum wird von ihr anerkannt. In Frankfurt befindet sich Frau Esser jedoch alsbald mitten in der Protestbewegung und schließt sich ihren protestierenden Mitstudierenden an, wodurch das reguläre Studium und damit auch formelle Lehrveranstaltungen für sie zunächst in den Hintergrund rücken. Die angestrebte Vordiplomprüfung wird von Frau Esser jedoch nicht völlig abgelehnt, sondern lediglich verschoben, so dass sie die Prüfungen zu einem späteren Zeitpunkt erbringt. Die Ablehnung der regulären Lehrveranstaltungen erfolgt somit im Fall von Frau Esser temporär. In dieser Zeit schließt sie sich im Raum der Universität streikenden studentischen Gruppen an und wird Teil eines protestierenden, studentischen Kollektivs. Dass dabei das Studium nicht komplett an Bedeutung verliert, sondern ein politisches und gesellschaftskritisches Studium angestrebt wird, deutet sich in der Teilnahme und der Gründung alternativer, studentisch initiierter Veranstaltungen an. Die Arbeitsgruppen stellen für Frau Esser Alternativen zu den formalen Bildungsangeboten der Universität dar und werden für politische Diskussionen und für die selbstbestimmte Aufbereitung von Lerninhalten genutzt. Auch über die Schilderungen von Frau Früh kann der Typus ›Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen‹ abstrahiert werden. Im Rahmen ihres Jurastudiums, das Frau Früh 1969 beginnt, erlebt sie ein Pilotprojekt – das ›Wiethölter-Projekt‹. In diesem Projekt wird ein Teil der juristischen Lehrveranstaltungen an der Frankfurter Universität sozialwissenschaftlich ausgerichtet, während der andere Teil der Lehrveranstaltungen weiterhin in konventioneller Form, nämlich in Form reiner Wissensvermittlung, gelehrt wird.39 Frau Früh erkennt die im Rahmen des Projekts veränderten und regulär angebotenen Veranstaltungen an, die von gesellschaftskritischen Professoren initiiert sind. Sie engagiert sich in einer »politischen Gruppe« (Z:241), die sich für die Reformierung des gesamten Studiengangs Jura einsetzt, wie deutlich werden 39 Im Jahr 1968 veröffentlicht Rudolf Wiethölter unter Mitarbeit von Erhard Denninger und Rudolf Bernhardt ein Werk mit dem Titel ›Rechtswissenschaft‹. Hier verweisen sie auf die Notwendigkeit einer kritischen Rechtswissenschaft und in diesem Zusammenhang darauf, dass es notwendig sei, die Rechtswissenschaft zu reformieren und in Teilen mit kritischen gesellschaftstheoretischen Modellen zu verbinden. In einem Pilotprojekt, dem sich ein Teil der Professoren der Rechtswissenschaft anschließen, sollen die Vorlesungen und Übungen sozialwissenschaftlicher ausgerichtet werden. In diesem Rahmen ändern sie auch Teile der Lehr- und Lernformen und bieten kleine Seminare an; vgl. dazu Wiethölter/Denninger/Bernhardt 1968.

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wird, auch mit aktivem Protest (Z:230ff.). Im folgenden Abschnitt beschreibt Frau Früh ihren Umgang mit den regulären Lehrveranstaltungen, die nicht Teil des Pilotprojektes waren und in der konventionelle Lehr- und Prüfungsbedingungen herrschten (Z:300-315): Früh: Im Strafrecht mussten wir irgendwie ähm normal studieren eigentlich, //mmh// das passte uns überhaupt nicht ((lacht)), weil da gab=s keinen Strafrechtler der so richtig in dem Projekt mitgemacht hat und äh dann haben wir das irgendwie durchgesetzt, weil es war ja Studentenbewegung überall Streiks und so. Und äh also da (.) hat die politische Gruppe sozusagen durchgesetzt, dass wir auch im Strafrecht so (.) jedenfalls keine Klausuren schreiben mussten, //ja// weil diese sechs Scheine mussten eigentlich als Klausuren abgeliefert werden und wir haben uns geweigert Klausuren zu schreiben (2). Und ä:hm ich weiß nicht, ob wir dann doch eine Klausur beim Strafrecht machen mussten oder wie jedenfalls gab es da (.) natürlich auch die große Kritik an den Benotungen. Also Benotungen waren vollkommen (.) äh unter Verdacht (.) ungerecht und unsachlich zu sein (.) und ähm (3) es gab jedenfalls dann eine Situation, wo dieser Professor Kohl (.) unsere Arbeiten benotet hat und einige haben eine Fünf gekriegt (.) und dann haben wir ein Go-in gemacht bei Professor Kohl und haben rumgeschrien so geht das nicht und alle müssen bestanden haben.

Insgesamt wird hier deutlich, dass Frau Frühs Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen bereits in einer Zeit und in einem Rahmen stattfinden, in der sie an der Universität schon partiell veränderte Lehr- und Lernstrukturen erlebt, die sie anerkennt. Frau Früh wird Teil einer »politische(n) Gruppe« (Z:305), die sich im Rahmen des Projektes gründet und lehnt gemeinsam mit diesen Studierenden die in den Lehrveranstaltungen gelten Prüfungsmodalitäten der Professoren, die sich den Reformbestrebungen des ›Wiethölter-Projekts‹ nicht anschließen, ab. Die Kritik gilt den Benotungen, die von Teilen der Studierenden als »ungerecht und unsachlich« (Z:311f.) bewertet werden. In diesem Zusammenhang wird das Studium an sich, ähnlich wie bei den anderen Frauen, über deren Schilderungen dieser Typus abstrahiert werden konnte, nicht abgelehnt, ebenso auch nicht die Universität als Bildungsraum. Mit der Ablehnung der als reformbedürftig bewerteten regulären Lehrveranstaltungen werden vielmehr gemeinsam mit anderen Studierenden weitere und umfassendere Studienreformen gefordert.

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Zusammenfassung des Typus – ›Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen‹ Die diesen Typus konstituierenden Fälle haben die Gemeinsamkeit, dass die Frauen für eine gewisse Zeit einen Teil der regulär angebotenen Lehrveranstaltungen an der Universität, solche die sie als reformbedürftig oder unpolitisch wahrnehmen, ablehnen, zum Teil sogar durch aktiven Protest. In einigen Fällen geht der Ablehnung regulärer Veranstaltungen eine Unzufriedenheit mit den geltenden und erlebten Lehr- und Lernbedingungen voraus. In allen Schilderungen wird deutlich, dass die Frauen eine politische Mobilisierung ihrer Mitstudierenden an der Universität wahrnehmen, an der auch sie partizipieren. Sie werden somit Teil eines politischen, studentischen Kollektivs. Dabei lehnen sie nicht nur reguläre Lehrveranstaltungen ab, sondern besuchen alternative Veranstaltungen, insbesondere studentisch initiierte Veranstaltungen und, in einem Fall, als politisch und reformiert bewertete formelle Lehrveranstaltungen. Im Raum der Universität werden ihnen somit sowohl institutionelle als auch nicht-institutionelle Alternativen offeriert, die einerseits formell durch lehrende Hochschulmitglieder (Professoren) angeboten und andererseits informell durch eingeschriebene Studierende initiiert werden. Über die partielle und temporäre Ablehnung von Lehrveranstaltungen und der Teilnahme an alternativen Veranstaltungen machen diese Frauen ihr Studium zu einem Politikum und verlangen Veränderungen der Lehr- und Lernbedingungen sowie der Lehrinhalte. Dabei rückt für diese Frauen das reguläre Studium zwar für eine gewisse Zeit in den Hintergrund, wird jedoch nicht vollständig abgelehnt. Denn alle Frauen, über die dieser Typus abstrahiert werden konnte, streben einen Studienabschluss an. Damit wird deutlich, dass die Universität für diese Frauen auch weiterhin einen Bildungsraum darstellt, in dem sie einen Studienabschluss anstreben. Nach einer zeitlich begrenzten Ablehnungsphase erkennen einige der Frauen erneut reguläre Lehrveranstaltungen an, die nicht unmittelbar politisch oder reformiert sind, um einen Studienabschluss zu erreichen. V.2.2.2

Anerkennung der Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren

In den Schilderungen einiger Fälle wurde ein weiterer fallübergreifender Orientierungsrahmen deutlich, der zu einem zweiten Typus ›Anerkennung der Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren‹ abstrahiert werden konnte. In den Fällen, die diesen Typus konstituieren, dokumentiert sich eine Anerkennung der Lehrveranstaltungen, die von gesellschaftskritischen Professoren und deren Assistentinnen und Assistenten geleitet werden. Gemeint sind hier Lehrende der Universität, die sich im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit unter anderem mit

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sozialistischen und marxistischen Theorien beschäftigten und hierzu verschiedene Vorlesungen und Seminare anbieten. Dieser Typus wird im Folgenden anhand der Schilderung der Fälle Frau Esser, Frau Kasten, Frau Jahnsen und Frau Früh herausgearbeitet.40 Es ist anzumerken, dass einige der Frauen, über deren Erzählungen dieser Typus abstrahiert werden kann, bereits auch schon den Typus ›Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen‹ (Kap. V.2.2.1) konstituierten. Diese Frauen zeigen somit sowohl eine partielle und temporäre Ablehnung der als unkritisch bewerteten regulären Lehrveranstaltungen als auch eine Anerkennung der Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren. Denn sie lehnen, wie im Folgenden herausgearbeitet wird, über eine bestimmte Zeitphase nur die Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren nicht ab. Frau Esser beginnt ihr Studium zunächst an der Universität in M.-Stadt im Jahr 1965, entscheidet sich kurz darauf für einen Studiengangwechsel41 und beginnt Soziologie und Politikwissenschaft zu studieren. An der Universität schließt sie sich politisch aktiven Studierenden der Soziologie an und besucht studentisch organisierte politische Veranstaltungen. Mit der Beteiligung an den Aktivitäten ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen im Kontext der Studentenbewegung lehnt Frau Esser einen Teil der regulären Veranstaltungen ab. Es werden nur die Veranstaltungen besucht, die sie als progressiv-intellektuell und politisch bewertet (siehe Typus ›Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen‹, Kap. V.2.2.1). Dabei wird in ihrem Fall eine kritische und reflektierende Herangehensweise an die Studentenbewegung deutlich, die sich darin ausdrückt, dass sie bemüht ist, ihren formalen Studienablauf mit politischen Aktivitäten zu verbinden. Gleichzeitig strebt sie damit eine Über40 Drei dieser Frauen studieren unter anderem Soziologie und eine der Frauen Jura. Die Soziologiestudentinnen erleben die Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren, insbesondere bei den Vertretern der Frankfurter Schule, als regulären Teil ihres Studiums. Innerhalb des Faches Jura finden diese Lehrveranstaltungen in Form eines Pilotprojektes des gesellschaftskritischen Professors Wiethölter statt und sind noch nicht fest integrierter Bestandteil des juristischen Lehrcurriculums. In den Seminaren der Vertreter der Frankfurter Schule und in den Seminaren im Kontext des ›Wiethölter-Projekts‹ werden nicht nur gesellschaftskritische Konzepte diskutiert und vorgestellt. Insbesondere ab Ende der 1960er bieten diese Professoren im Rahmen ihrer Lehrveranstaltungen auch die Möglichkeit zur politischen Diskussion; vgl. dazu die Ausführungen bei Kraushaar 1998b. 41 Frau Esser beginnt mit dem Studiengang Literaturwissenschaft/Germanistik, wechselt jedoch nach kurzer Zeit zur Soziologie und Politikwissenschaft; vgl. dazu ihre Schilderungen ab Z:131ff.

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führung der politischen Theorie in die Praxis an. Ihr Studium wird politisch ausgerichtet. Wie sich im Folgenden dokumentiert, erhalten in diesem Zusammenhang die Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren eine besondere Bedeutung. Wie sie die Lehrveranstaltungen dieser Professoren erlebt, beschreibt sie im folgenden Abschnitt (Z:192-201): Esser: Aber so das Intellektuelle hat mir, da fühlte ich mich dann richtig, richtig gut angesprochen (2) und (.) das ging ja in der Zeit, also erst mal (2) also die Menschen, die mich angesprochen haben, also die Soziologie. Die war damals mit (2) äh Werner Hofmann und äh, jetzt weiß ich gar nicht mehr den Vornamen, mit Maus besetzt. (2) zwei sehr verschiedene (2) Menschen (2) und der Maus auf jeden Fall auch in einer (.) also Tradition der kritischen Theorie //mmh//. Vor allen Dingen eben auch Assistenten, waren in der Zeit auch sehr sehr wichtig (.) die so die die Grundseminare gemacht haben (2) und für die Politik war das Wolfgang Abendroth //mmh// und der hat mich wirklich sehr sehr sehr beeindruckt.

Bereits in M.-Stadt besucht Frau Esser die Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren. Im Fach Soziologie sind es die Veranstaltungen der Professoren Heinz Maus und Werner Hofmann und im Fach Politikwissenschaft die Veranstaltungen von Wolfgang Abendroth. Mit dem Besuch dieser Veranstaltungen geht eine Anerkennung der hier gelehrten und zur Diskussion gestellten linkspolitischen Themen einher.42 Für Frau Esser ist es die »kritische Theorie« (Z:197f.), die sowohl ihre Professoren als auch die an den Lehrstühlen arbeitenden »Assistenten« (Z:198) miteinander verbindet. Bei der Beschreibung der Lehrveranstaltungen, die sie besucht, hebt Frau Esser insbesondere die intellektuelle Dimension der Veranstaltungen hervor. Somit sind es weniger die praktischen Auseinandersetzungen im Kontext der Studentenbewegung, die sie als ansprechend bewertet, als vielmehr die wissenschaftlich kritischen und politisch reflektierenden Auseinandersetzungen mit Politik und Gesellschaft, die ihr in den Veranstaltungen der gesellschaftskritischen Professoren imponieren. Hier wird eine intellektuelle Herangehensweise an die Studentenbewegung deutlich. Im Raum der Universität erhält sie institutionell eingeräumt die Möglichkeit, ihr Studium inhaltlich politisch auszurichten und dann die Inhalte eigeninitiativ in die Praxis zu übertragen. 42 Die Professoren Werner Hofmann und Heinz Maus waren Vertreter einer marxistisch angeregten Soziologie, engagierten sich unter anderem in den 1960er Jahren gegen die Notstandsgesetzgebung und waren diesbezüglich Herausgeber des Bandes ›Notstandsordnung und Gesellschaft 1967‹. Beide Professoren können in eine politische Linie mit dem Politologen und Rechtswissenschaftler Wolfgang Abendroth gestellt werden, der ebenso eine gesellschaftskritische Wissenschaft, insbesondere in Anlehnung an den Marxismus betrieb; vgl. in diesem Zusammenhang Behrmann 2000, S.333.

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Im Anschluss an ihre ersten inhaltlichen Auseinandersetzungen mit der Kritischen Theorie während ihres Studiums in M.-Stadt entschließt sie sich die Universität zu wechseln. Frau Esser möchte nach Frankfurt gehen, in die Stadt, in der die Vertreter der Kritischen Theorie lehren. Im folgenden Abschnitt beschreibt Frau Esser, wie sie zu dieser Entscheidung kommt (Z:244-256): Esser: Vor allen Dingen wurde ich ja immer bei den Vorlesungen und bei den Seminaren wurde ich ja immer wieder auf die Kritische Theorie und auf die Frankfurter hingewiesen. Und dann hab ich mir gedacht was mach ich dann eigentlich hier, dann geh ich doch also dahin, wo es herkommt, ja ((lacht)) //mmh//. Und ja, dann hab ich nach drei Semestern bin ich dann nach Frankfurt gewechselt (.) und ich glaube, das war dann (2) müsste siebenundsechzig spätestens gewesen sein (2). Und das war ja dann wirklich so der Beginn der, unmittelbar der Beginn der Studentenbewegung. Von M-Stadt aus hatte ich noch (.) die eine riesengroße Vietnamdemonstration mitgemacht (.) äh bei der Marcuse da auch gesprochen hat und so weiter (.), aber dann kam ich wirklich, dann kam ich so nach Frankfurt und war (.) ja irgendwie mittendrin.

Bereits zu Beginn ihres Studiums in M.-Stadt erlebt Frau Esser die Möglichkeit der Verknüpfung von kritischer Wissenschaft und politischer Protestbewegung, als sie an politischen Aktionen teilnimmt, bei denen gesellschaftskritische Professoren sprechen, hier Herbert Marcuse. Nach drei Semestern an der Universität in M.-Stadt wechselt Frau Esser im Jahr 1967 an die Frankfurter Universität, mit dem Ziel an den Lehrveranstaltungen der hier vertretenen gesellschaftskritischen Professoren der Frankfurter Schule teilzunehmen. Somit ist der Wechsel an die Universität Frankfurt mit dem Wunsch der Intensivierung und der Erweiterung der theoretischen Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen verbunden. Die Universität Frankfurt ist in dieser Zeit bereits ›studentenbewegt‹, so dass sich Frau Esser bald schon, wie sie sagt, »mittendrin« (Z:256) fühlt. Insgesamt dokumentiert sich hier, dass für Frau Esser die wissenschaftlich kritische und politische Dimension der Studentenbewegung im Fokus steht und ihr politisches Handeln bestimmt. Die Universität wird somit als ein Raum begriffen, in dem sie über einen Teil der regulär angeboten Veranstaltungen, ihre politische Aktivität sowohl auf der theoretischen als auch auf der praktischen Ebene erweitern kann. Auf die Nachfrage, wie sie die ersten Tage an der Universität Frankfurt erlebte, schildert Frau Esser ihre Eindrücke. Während sie an der Universität in M.-Stadt noch Schwierigkeiten mit der Studienorganisation hatte, kann sie beim Übergang an die Universität Frankfurt ihre bisher erlernten Kenntnisse im Umgang mit dem Studium einsetzen und findet sich hier schnell zurecht (ab Z:891). In Frankfurt strebt sie zunächst ein Vordiplom an und macht dieses unter anderem bei gesellschaftskritischen Professoren – »und dies, da hab ich dann eine Prüfung bei Adorno

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gemacht und (…) Politik bei Fetscher« (Z:883ff.).43 Darüber hinaus erinnert sich Frau Esser an die Lehr- und Lernbedingungen an der Universität Frankfurt und beschreibt und bewertet diese wie folgt (Z:904-910): Esser: Ne und vor allen Dingen (.) war ich äh sehr (2) angetan, dann halt eben auch von dem was (3) was die Seminare waren und was gelehrt wurde, das da war ich, das hat mir sehr sehr gefallen (2) //mmh//. Und das waren wirklich auch ganz (2) intensive, ein intensives Studieren //mmh// (3). Lektüre Diskussionen und auch die, auch die Referate damals ja, das waren ja richtige Ausarbeitungen (2) die wir da dann gemeinsam gemacht haben.

In diesem Abschnitt wird deutlich, dass Frau Esser an der Universität Frankfurt über die Lehrinhalte der besuchten gesellschaftskritischen Veranstaltungen hinaus auch von den Lehrformen begeistert ist. Frau Esser erlebt im Laufe ihres Studiums an der Universität eine Lehr- und Lernkultur, in der neben einer Vermittlung von Wissen über Vorlesungen der Professoren auch eine selbstbestimmte und kritische Auseinandersetzung mit den Lehrinhalten, beispielsweise in Form von Diskussionen, eingeräumt wird. Insgesamt dokumentiert sich hier, dass Frau Esser ihr politisches und gesellschaftskritisches Studium, in dem sie gezielt Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren und Assistentinnen/Assistenten besucht, in den Vordergrund ihres studentischen Alltags stellt. Diese Veranstaltungen werden ordentlich besucht und die geforderten Leistungen erbracht. Dass Frau Esser die

43 Beide Professoren lehrten an der Universität Frankfurt und können als gesellschaftskritische Professoren bezeichnet werden, die über ihre Publikationen und ihre Veranstaltungen unmittelbaren Einfluss auf die Studentenproteste nahmen; vgl. hierzu Kraushaar 1998a/b; zu Theodor W. Adorno und der Frankfurter Schule vgl. ausführlich Wiggershaus 1986. In den Seminaren dieser Professoren, die Teil des Studiums der Soziologie waren, setzten sich die Studierenden mit gesellschaftskritischen Fragen auseinander. Insbesondere für den antiautoritären Flügel (u. a. des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds) der Studentenbewegung wird die Kritische Theorie als Wegbereiter für die Praxis bewertet; vgl. Herrschaft 2010 und Gilcher-Holtey 1998b. Auch Professor Iring Fetscher, der den Forschungsschwerpunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit als Politikwissenschaftler in den 1960er Jahren auf den Marxismus gelegt hatte, kann als ein gesellschaftskritischer Professor bezeichnet werden. In seinen Politikseminaren und -vorlesungen erlebten Studierende eine formelle Auseinandersetzung mit politischen Themen, die jedoch deutlich gesellschaftskritisch waren und in der Tradition des Marxismus standen. Zu seinen bekanntesten Schriften zählen unter anderem ›Von Marx zur Sowjetideologie‹, erschienen 1957 und das dreibändige Handbuch ›Der Marxismus‹, erschienen in den Jahren 1963 bis 1968.

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VORUNIVERSITÄREN UND UNIVERSITÄREN

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Lehrinhalte und die Lehrformen in den besuchten Veranstaltungen positiv erlebt, dokumentiert sich auch in der folgenden Erzählpassage (Z:1065-1072): Esser: Kritisieren und Kritisieren lernen //ja//, das haben wir da gelernt ja, was das heißt wirklich eine Kritik zu formulieren (2) und die gesellschaftlichen Verhältnisse (.) auf ihre (.) Möglichkeiten hin zu überprüfen und nicht nur zu beschreiben, was ist (2), sondern eben auch die historische Dimension, wie etwas geworden ist und dass es mehrere Wege gibt, //mmh// wie etwas sein kann und dass man analysieren muss, wie ist es, warum ist das so geworden und warum gab es nicht eine andere Möglichkeit.

Frau Esser hebt in ihrer Beschreibung der vermittelten und gelernten Inhalte, die sie in den Lehrveranstaltungen erlebt, vor allem hervor, dass sie hier die Formulierung von Kritiken und das Hinterfragen gesellschaftlicher Verhältnisse erlernt. In diesen gesellschaftskritischen Veranstaltungen, die sie anerkennt, entwickelt und intensiviert sie ihr politisches Wissen zunächst auf wissenschaftlicher und theoretischer Ebene weiter. Doch das Studium und die Veranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren werden für Frau Esser zudem zu Arenen gesellschaftskritischer Auseinandersetzungen. Frau Esser nutzt die ausgewählten formell angebotenen, als politisch bewerteten Lehrveranstaltungen der Universität nicht nur zur Erweiterung ihrer theoretischen Kenntnisse. Wie insgesamt deutlich wird, wird sie über deren Besuch und die Anerkennung der gesellschaftskritischen Inhalte im Laufe des Studiums politisiert und nimmt eine spezifische politische Grundeinstellung an. Auch der nächste Fall konstituiert den Typus ›Anerkennung der Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren‹. Frau Kasten beginnt ihr Studium zunächst in B.-Stadt im Herbstsemester 1967/68. Unmittelbar nach dem Eintritt in die Universität beteiligt sie sich über diverse Aktionen an der Studentenbewegung (Typus ›Offenheit für politische Aktionen beim Übergang an die Universität‹, Kap. V.2.1.2). An der Universität in B.-Stadt konzentriert sie sich vor allem auf politische Aktivitäten und lehnt einen großen Teil der regulären Lehrveranstaltungen ab. Sie besucht lediglich solche, die sie zum Bestehen ihrer Prüfungen benötigt (siehe Typus ›Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternative Veranstaltungen‹, Kap. V.2.2.1). Nach einigen Semestern wechselt sie die Universität und ist zunächst ein Semester in M.-Stadt, was sie nicht weiter kommentiert, und wechselt schließlich 1971, nach der Hochphase der Studentenbewegung, an die Universität Frankfurt. Beim Übergang an die Universität Frankfurt erhalten Lehrveranstaltungen, in diesem Zusammenhang hauptsächlich die Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren, erneut eine Bedeutung. Diese werden, wie in den folgenden Erzählabschnitten deutlich wird, von Frau

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Kasten anerkannt und besucht. Auf die Nachfrage, wie sie den Wechsel an die Universität Frankfurt erlebte, erzählt Frau Kasten Folgendes (Z:391-397): Kasten: Das muss gewesen sein einundsiebzig, //mmh// ja. Ähm na ja Frankfurt war so ein Zentrum der Studentenbewegung //mmh//. Als ich ankam war zwar Marcuse in Amerika, Adorno tot und Habermas, gut den gabs noch und Horkheimer gab es glaub ich (2) in der Uni also laut Programm laut Vorlesungsverzeichnis gab er noch ein Seminar, aber de facto war er gar nicht mehr da. Ähm aber das war so der Grund warum ich da hin gegangen bin, aber es blieb ja die ganze Atmosphäre //mmh// und die ganzen Diskussionen.

Frau Kasten wechselt die Universität mit dem Wissen, dass die Universität Frankfurt ein »Zentrum der Studentenbewegung« (Z:392) ist und gleichzeitig mit dem Wunsch, an den hier weiterhin stattfindenden »Diskussionen« (Z:397) teilzunehmen zu können. Es sind insbesondere die gesellschaftskritischen Professoren, die ihren Wechsel veranlassen, obwohl ein Teil der bekannten Vertreter bereits 1971 nicht mehr in Frankfurt lehrt. Es zeigen sich Parallelen zu dem Fall Frau Esser, die ebenfalls wegen der gesellschaftskritischen Professoren nach Frankfurt wechselt. Beide Frauen sehen eine Verbindung zwischen den Protesten der Studierenden und der in Frankfurt vertretenen gesellschaftskritischen Professoren der Frankfurter Schule, somit die Verbindung von Theorie und Praxis an der Universität. Doch während es bei Frau Esser insbesondere die Inhalte der Lehrveranstaltungen sind, die sie bereits in der Hochphase der Studentenbewegung nach Frankfurt ziehen, ist es im Fall von Frau Kasten die erhoffte politische Atmosphäre, die sie zu einem Wechsel bewegt. Während in B.-Stadt ihre politischen Aktivitäten hauptsächlich außerhalb des Studiums stattfinden und sie hierbei einen Großteil der regulären Lehrveranstaltungen ablehnt, möchte Frau Kasten nach der Hochphase der Studentenbewegung nun ihr Studium ausgerichtet an den Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren fortsetzen. Auf die Nachfrage, wie sie das Verhältnis zwischen den Professoren und Studierenden in Frankfurt erlebte, erzählt Frau Kasten Folgendes (Z:443-449): Kasten: Die Professoren waren alle oder waren viele oder wenigstens bei denen bei denen ich Examen gemacht habe, waren sehr freundlich, (.) ja es war so=ne Ebene von Strenge war eigentlich weniger, die freuten sich wenn man das gut machte und wollten nicht irgendwie einen kleiner machen oder reinlegen oder so=was //ja//. Und viele waren da auch irgendwie links oder links liberal oder irgendwie=so=was, wenigstens bei denen ich war, //mmh// gab ja auch andere.

Frau Kasten ist mit den Professoren, deren Veranstaltungen sie besucht, zufrieden und erinnert sich, dass sie diese als »sehr freundlich« (Z:444) erlebte. Diese Freund-

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VORUNIVERSITÄREN UND UNIVERSITÄREN

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lichkeit und fehlende Strenge führt sie aus heutiger Perspektive auf die politische Ausrichtung der Veranstaltungen zurück sowie auf die politische Gesinnung der Lehrenden, die sie als »links oder links liberal« (Z:447f.) einschätzt. Wie sich hier dokumentiert, besucht Frau Kasten vor allem Lehrveranstaltungen von Professoren, die sie als politisch linksorientiert wahrnimmt. Andere Veranstaltungen, die ihr nicht politisch genug erscheinen, werden dagegen nicht besucht – » (…) wenigstens bei denen ich war, //mmh// gab ja auch andere« (Z:448f.). Die Äußerung »wollten nicht irgendwie einen kleiner machen oder reinlegen« impliziert, dass Frau Kasten zuvor andere Erfahrungen gemacht hat oder zumindest von anderen möglichen Verhaltensweisen der Lehrenden ausgeht. Insgesamt wird hier die Anerkennung der Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren deutlich. Ihr Studium rückt über den Besuch der Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren in Frankfurt erneut in den Vordergrund und wird ähnlich wie im Fall von Frau Esser mit gesellschaftspolitischen Themen besetzt. Auch sie schafft an der Universität über die hier institutionell offerierten Lehrangebote gesellschaftskritischer Professoren eine Verbindung zwischen theoretischer und praktischer Auseinandersetzung mit politischen Themen. Dass Frau Kasten lediglich die regulären Veranstaltungen anerkennt, in denen gesellschaftskritische Themen diskutiert werden, dokumentiert sich im Folgenden (Z:512-520): Kasten: Also zu einigen Seminaren sind viele hin und ich auch, weil wir das interessant fanden, da wo es langweilig war, hat man halt irgendwie gesehen, dass man das irgendwie so gerade hinkriegt //ja//. Oder aber, so das was man in der Politik machte und in den Universitäten, das wurde ja unterrichtet, Geschichte der russischen Revolution und so weiter, das ist auch das, was wir zum Teil in der Politik womit wir uns beschäftigten //mmh// (2). Ein Professor war Trotzkist und (.) hatte dann auch immer (.) vertrat, also da wurde dann so=n bisschen das diskutiert, was wir auch in den kleinen Gruppen wo ich da drin war, diskutierten.

Insgesamt bestätigt sich hier, dass Frau Kasten ein politisches Studium anstrebt und daher gezielt diejenigen regulären Veranstaltungen anerkennt und besucht, die sie gemeinsam mit Kommilitoninnen und Kommilitonen als politisch interessant und politisch relevant wahrnimmt, wie beispielsweise die »Geschichte der russischen Revolution« (Z:516). Gleichzeitig erhält sie in diesen Veranstaltungen sogar die Möglichkeit die in studentischen Gruppen diskutierten Themen auch in einem formalen Rahmen mit Lehrenden zu besprechen und zu vertiefen. Insgesamt dokumentiert sich in den Schilderungen von Frau Kasten eine Orientierungsveränderung. Während sie in B.-Stadt vor allem die politischen Aktivitäten in den Vordergrund ihres studentischen Alltags stellt, ist sie mit dem Wechsel an die Universität Frankfurt bemüht, ihr Studium, welches sie bisher vernachlässigte, über den Besuch der Veranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren politisch

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und kritisch auszurichten. Dabei erlebt sie die universitären Strukturen und die Lehr- und Lernbedingungen an der Universität insofern als günstig, als dass sie hier hauptsächlich von ihr anerkannte Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren besuchen kann. Gleichzeitig ermöglichen ihr die bestehenden Rahmenbedingungen, ihre Aktivität in informellen politischen Gruppen mit einem politisch ausgerichteten Studium zu verknüpfen. Eine Auseinandersetzung mit politischen Themen findet nicht mehr nur auf einer praktischen Ebene innerhalb studentischer Gruppen statt, sondern nun auch auf theoretischer Ebene, über institutionell angebotene Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren. So erlebt sie die Universität als einen Raum, in dem sie die politische Praxis mit einer politischen und kritischen Theorie verbinden kann. Auch über die Schilderungen von Frau Jahnsen kann der Typus ›Anerkennung der Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren‹ abstrahiert werden. Frau Jahnsen, die bereits in der voruniversitären Lebensphase die Studentenbewegung erlebte und in diesem Rahmen politische Handlungen zeigte (siehe Typus ›Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten‹, Kap. V.1.2.3), setzt ihre Aktivitäten mit dem Beginn des Studiums fort (siehe Typus ›Kontinuität voruniversitärer politischer Aktivitäten an der Universität‹, Kap. V.2.1.3). An der Universität besucht sie unmittelbar nach dem Beginn ihres Soziologiestudiums die Lehrveranstaltungen der Professoren Jürgen Habermas und Theodor W. Adorno und beteiligt sich am ›Aktiven Streik‹44 – »wir sind gleich ins Habermas, Adorno Seminar gegangen, natürlich kein Wort verstanden (…) und dann sind wir gleich in den Aktiven Streik gegangen« (Z:79-82). Sie bringt somit beim Übergang an die Universität sowohl Wissen über die Studentenbewegung als auch praktische politische Erfahrungen mit, so dass sie geradewegs in die Veranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren geht und an politischen Aktivitäten an der Universität teilnehmen möchte. Dass Frau Jahnsen im weiteren Verlauf ihres Soziologiestudiums hauptsächlich Veranstaltungen besucht, die sie als politisch bewertet, dokumentiert sich in den nächsten beiden Abschnitten. Auf die Nachfrage, warum sie sich für ein Soziologiestudium entscheidet, antwortet Frau Jahnsen Folgendes (Z:549-557): Jahnsen: Student, Soziologie, das war die Wissenschaft der Studentenrevolte (2). Das fand ich eben, ich wollte wie gesagt Psychologie studieren, //mhm// wäre dann nur W.-Stadt möglich gewesen //ach ja//. Und dann war das irgendwie interessant. Das war, wir hatten den Adorno hier, wir hatten den Habermas hier, das waren ja alles auch (

) also der Adorno //mhm// hat in

Philosophie unterrichtet. Also das versprach spannend zu werden, Aufklärung über Gesellschaft, wie verändert man Gesellschaft, Gesellschaftsveränderung, Verstehen von Gesell44 Vgl. zum ›Aktiven Streik‹ die Erläuterungen in Kap. IV.4.3.

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schaft, //mhm// das hat mich natürlich auch sehr stark interessiert und so bin ich da reingerutscht mehr oder weniger.

Frau Jahnsen hat zunächst den Wunsch, Psychologie zu studieren. Da sie jedoch nur einen Studienplatz in W.-Stadt angeboten bekommt, die sie als Studienort ablehnt (Z:99f.), entscheidet sie sich für ein anderes Fach. Ähnlich wie Frau Esser und Frau Kasten erkennt auch sie eine Verbindungsmöglichkeit der Veranstaltungen der gesellschaftskritischen Professoren, die in der Soziologie lehren, mit ihren Aktivitäten im Rahmen der Protestaktionen. Mit dem Studium der Soziologie bei den Vertretern der Frankfurter Schule glaubt sie über eine theoretische Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen »Gesellschaftsveränderung, Verstehen von Gesellschaft« (Z:555f.) ihre politischen Interessen vertiefen zu können, sowie Antworten auf die Fragen und Kritikpunkte der Studentenproteste zu bekommen – »das versprach spannend zu werden, Aufklärung über Gesellschaft« (Z:554f.). Die Wahl für ein Soziologiestudium ist in ihrem Fall somit eng mit den bereits entwickelten politischen Interessen und Aktivitäten verbunden. Die Universität ist für sie der Ort, an dem sie die theoretische Fundierung und Legitimation für ihre politischen Handlungen erhalten kann. Auch der Fall Frau Früh konstituiert den Typus ›Anerkennung der Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren‹. Frau Früh beginnt ihr Studium im Jahr 1969 an der Universität Frankfurt und somit gegen Ende der Hochphase der Studentenbewegung. Bereits in der voruniversitären Lebensphase ist sie insofern politisch aktiv, als dass sie die intergenerationell erlebten politischen Aktivitäten fortsetzt und sich in der Schülerbewegung engagiert (siehe Typus ›Kontinuität intergenerationell erlebter politischer Aktivitäten in jugendspezifischen Organisationen‹, Kap. V.1.2.4). Mit dem Beginn des Studiums werden daraufhin ihre voruniversitären politischen Aktivitäten an der Universität weitergeführt und intensiviert (Typus ›Kontinuität voruniversitärer politischer Aktivitäten an der Universität‹, Kap. V.2.1.3). Frau Früh entscheidet sich für das Studienfach Jura und erlebt kurz nach der Aufnahme des Studiums das sogenannte »Wiethölter-Projekt« (Z:222), das Ende der 1960er Jahre an der Universität Frankfurt als Pilotprojekt unter anderem von den Professoren Rudolf Wiethölter und Erhard Denninger eingeführt wird. In diesem Kontext erlebt sie einen Teil ihrer Lehrveranstaltungen sozialwissenschaftlich ausgerichtet – »im Sinne einer sozialwissenschaftlichen Grundbildung (.) einer sozialwissenschaftlichen Herangehensweise an den juristischen Stoff« (Z:225). Im folgenden Abschnitt beschreibt Frau Früh, wie sie das »Wiethölter-Projekt« (Z:222) an der Universität Frankfurt erlebte (Z:226-249):

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Früh: Und da gab es zwei Profs, das war der Zivilrechtler Wiethölter und (.) der öffentlichrechtliche Denninger, die das gemeinsam gemacht haben //mmh// und als Modellprojekt durchgesetzt haben, (.) das lief glaub ich zwei Semester und dann ist das wieder eingeschlafen ((trinkt)). Aber als ich kam, war das gerade der große (2) Renner //mmh// so, das war da (.) die große Besonderheit (.) und war natürlich ein riesiger Glücksfall für mich, (.) weil das war die Antwort auf die Studentenbewegung //mmh//. Und das heißt entsprechend waren lauter SDS=ler unsere Tutoren, es gab überhaupt Tutoren, das gab=s ja früher glaub ich //mmh// gar=nicht=so und das heißt auch Studium in Kleingruppen //mmh// und (2) sozialwissenschaftlich ausgerichtet, das heißt die SDS=ler haben da gemacht was sie wollten (.) //mmh// ähm schien mir jedenfalls so. Und das was wir wollten (.) //mmh// also was die Studierenden //mmh// wollten. Ich nehme an das ein großer Teil der Studierenden eigentlich ziemlich normal studiert hat in der Zeit @aber@ //ja// @aber@ in diesem ersten Semester hat sich

eine

sogenannte

politische

Gruppe

gebildet,

die

ähm

(.)

bestand

aus

ich=hab=keine=Ahnung wie vielen (.) vielleicht fünfzig Leuten //ja// die eben dieses Wiethölter-Projekt für sich genutzt haben und gesagt haben, ja genauso wollen wir es haben //mmh// und wir sind politisch denkende Menschen und wir //mmh// wollen eben auch Jura sozialwissenschaftlich politisch studieren //ja// und uns da auch engagieren. Und (.) die anderen Studierenden habe ich überhaupt nicht wahrgenommen, das war mir vollkommen egal wie die studieren und wer die sind und was die machen.

Frau Früh bewertet die Veranstaltungen, die im Rahmen des ›Wiethölter-Projekts‹ stattfinden, rückblickend als »Glücksfall« (Z:232) und als »Antwort auf die Studentenbewegung« (Z:232f.). Sie erkennt in der Initiierung dieses Pilotprojektes ein Ergebnis der Forderungen und Proteste der Studierenden. Über diese Interpretation hinaus wird an dieser Textstelle deutlich, dass Frau Früh an der Universität Frankfurt gesellschaftskritische Professoren innerhalb der Rechtswissenschaft erlebt, die nicht nur Studienreformen theoretisch fordern, sondern die auch eine veränderte Lehr- und Lernkultur innerhalb der Rechtswissenschaft bereits initiieren. Sie erkennt die Reformbestrebungen der gesellschaftskritischen Professoren an und besucht ihre Lehrveranstaltungen. Hinzu kommen Tutorien und die Arbeit in studentischen Gruppen. Im Rahmen dieses Pilotprojektes engagiert sich Frau Früh in einer »politischen Gruppe« (Z:241), die sich für die Reformierung des gesamten Studiengangs einsetzt (Z:230ff.). Innerhalb dieser Gruppe stellt sie gemeinsam im Kollektiv die veralteten Strukturen der Universität sowie das Curriculum und die Lehrformen der Professoren infrage. Die Anerkennung der Veranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren und die Forderung nach Reformen gehen im Fall von Frau Früh so weit, dass sie die Veranstaltungen der Lehrenden, die an dem Projekt nicht teilnehmen, aktiv ablehnt. Daher konnte über die Erzählungen von Frau Früh auch bereits die erste Ausprägung dieser Typik abstrahiert werden (Typus ›Partielle

V. P OLITISIERUNG IN DER

VORUNIVERSITÄREN UND UNIVERSITÄREN

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und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen‹, Kap. V.2.2.1). Insgesamt dokumentiert sich in den Schilderungen von Frau Früh der Wunsch, ihre bereits vor dem Studium und im Rahmen der Schüler- und Studentenbewegung politischen Interessen und Kenntnisse durch ein kritisches Studium zu intensivieren. Ähnlich wie in den Schilderungen der anderen interviewten Frauen, die diesen Typus konstituieren, ist auch Frau Früh bestrebt ihre praktischen politischen Aktivitäten mit einem theoretischen und politischen Studium zu verbinden. An der Universität, die sich im Umbruch befindet, erlebt sie über die regulär angebotenen Veranstaltungen einiger gesellschaftskritischer Professoren veränderte Lehr- und Lernbedingungen, die sie anerkennt und die mit ihrer politischen Grundüberzeugung vereinbar sind. Somit ist die Universität auch für sie der Ort, an dem sie ihr theoretisches Studium um politische Dimensionen erweitern und gleichzeitig die gesellschaftskritische Theorie mit einer politischen Praxis verbinden kann. Zusammenfassung des Typus – ›Anerkennung der Lehrveranstaltung gesellschaftskritischer Professoren‹ Die diesen Typus konstituierenden Fälle haben alle die Gemeinsamkeit, dass sie an der Universität und im Rahmen ihres Studiums die Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren (und auch Assistentinnen/Assistenten) anerkennen. Diese anerkannten Seminare und Vorlesungen werden von den Frauen als »intellektuell«, »politisch«, »links« oder »reformiert« erlebt und die Lehrenden als Vermittler von gesellschaftskritischem Wissen wahrgenommen und daher gezielt besucht. Die Anerkennung dieser Lehrveranstaltungen geht gleichzeitig mit einer politischen Positionierung einher. Das Studium an der Universität wird von diesen Frauen als eine Arena kritischer und intellektueller Auseinandersetzungen begriffen, über die sie ihr reguläres Studium zu einem politisch ausgerichteten Studium machen möchten. Sie erkennen zudem die Möglichkeit der Verknüpfung ihrer praktischen politischen Aktivitäten mit einem kritischen und reflexiven Studium. Die Universität wird somit als der Raum verstanden, in dem sie nicht nur politisch handeln können, sondern in dem sie über institutionell eingeräumte Veranstaltungen die theoretischen Grundlagen für die praktischen Aktivitäten erhalten können. Dabei geht die Anerkennung der Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren in manchen Fällen mit der expliziten Ablehnung anderer, regulärer Lehrveranstaltungen und mit dem Besuch alternativer studentisch initiierter Veranstaltungen einher, so dass einige dieser Frauen auch bereits den ersten Typus dieser Typik konstituieren.

300 | DAS POLITISIERTE G ESCHLECHT

V.2.2.3

Anerkennung informeller, studentisch initiierter Arbeitsgruppen zur Erweiterung des Studiums

In den Schilderungen einiger Fälle zeichnete sich ein dritter Orientierungsrahmen ab, der in den Interviews mit Frau Esser, Frau Jahnsen, Frau Kielen und Frau Kasten erkennbar wird. Alle vier Frauen berichten im Rahmen ihrer Darstellungen der Auseinandersetzungen mit formellen und informellen Veranstaltungen an der Universität, wie sie über die Teilnahme an informellen, studentisch initiierten Arbeitsgruppen an der Universität eine Erweiterung ihres Studiums anstreben. Diese Orientierung geht bei einigen Frauen mit der partiellen und temporären Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen einher, so dass über die Schilderungen dieser Fälle bereits der Typus ›Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen‹ (Kap. V.2.2.1) abstrahiert werden konnte. Alle Frauen stellen autonome und zum Teil von ihnen selbst gegründete Arbeitsgruppen in den Vordergrund ihres studentischen Alltags an der Universität. Über diesen gemeinsamen Orientierungsrahmen lässt sich ein dritter Typus ›Anerkennung informeller, studentisch initiierter Arbeitsgruppen zur Erweiterung des Studiums‹ abstrahieren. Dieser dritte Typus wird im Folgenden zunächst über die Schilderungen von Frau Esser herausgearbeitet. Der Fall Frau Esser konstituiert sowohl den Typus ›Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltung und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen‹ (Kap. V.2.2.1) als auch den Typus ›Anerkennung der Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren‹ (Kap. V.2.2.2). Frau Esser, die mit dem Beginn des Studiums bestrebt ist, ein reguläres Studium zu absolvieren, schließt sich im Kontext der Studentenproteste an der Universität Frankfurt einer Gruppe streikender Studierender an und lehnt reguläre Lehrveranstaltungen partiell und temporär ab. Dass dabei ihr Studium keinesfalls an Bedeutung verliert, sondern deutlich im Vordergrund ihres studentischen Alltags steht, wird insbesondere über die Anerkennung der Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren, die sie besucht, deutlich. Im Verlauf des Interviews kommt Frau Esser über die Darstellung ihrer Beteiligung an den Studentenprotesten sowie der partiellen und temporären Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen zur Schilderung ihrer Beteiligung an der Besetzung des Soziologischen Seminars und des Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt während des ›Aktiven Streiks‹45 (Z:306-318):

45 Zum Inhalt und Verlauf des ›Aktiven Streiks‹ vgl. die Ausführungen in Kap. IV.4.1 dieser Arbeit.

V. P OLITISIERUNG IN DER

VORUNIVERSITÄREN UND UNIVERSITÄREN

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Esser: Wir haben das Soziologische Seminar besetzt, um dann eben dort unsere eigenen Arbeitsgruppen zu machen. Seminare also in eigener Regie fortzusetzen (.)und eine wichtige auch in den nachträglichen Geschichtsschreibungen sehr hoch gehängte (.) Aktion war die Besetzung des Instituts für Sozialforschung //mmh// bei der ich auch dabei war und die so in der Konsequenz, wir hatten dieses Seminar besetzt, das war damals in so=ner alten Villa (.) wie so viele solche (.)Universitätsinstitute halt in solchen alten Westendvillen untergebracht waren, bevor dann da später dieser Turm gebaut wurde //mmh//. Und das Institut für Sozialforschung, war immer ein und ist ja bis heute ein eigenständiges Institut (.)hatte aber eben auch mal Lehrveranstaltungen //mmh// und hatte eben auch Seminarräume (.) und die haben wir uns damals dann eben auch noch dazu genommen weil wir die @Räume brauchten@.

Frau Esser bestreikt und besetzt im Rahmen des ›Aktiven Streiks‹ im Wintersemester 1968 gemeinsam mit anderen protestierenden Studierenden das Soziologische Seminar und im Januar 1969 das Institut für Sozialforschung, somit die Institute, an denen sie selbst studiert. Diese werden mit dem Ziel besetzt, sie »in eigener Regie« (Z:308) in studentischen Arbeitsgruppen fortzusetzen. Mit dieser Aktion lehnt sie gleichzeitig die geltende universitäre Ordnung ab und versucht gemeinsam mit anderen Studierenden ein kritisches und politisches Studium jenseits regulärer Lehrveranstaltungen durch selbstgegründete Arbeitsgruppen zu initiieren. Des Weiteren wird hier erneut eine Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen deutlich, nun jedoch auch die Ablehnung von Veranstaltungen der gesellschaftskritischen Professoren der Frankfurter Schule, die sie zuvor anerkannt hat46 (siehe Typus ›Anerkennung der Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren‹, Kap. V.2.2.2). Das reguläre Studium wird zwar von ihr in dieser Phase insgesamt abgelehnt, das Studieren an sich verliert jedoch nicht seine Bedeutung. Die Universität wird von Frau Esser auch weiterhin als Bildungsinstitution verstanden. Auch im folgenden Abschnitt dokumentiert sich die Bestrebung über informelle, studentisch initiierte Arbeitsgruppen das Studium über die regulären Veranstaltungen hinaus zu erweitern. Auf die Nachfrage, ob sie sich mit Kommilitoninnen und Kommilitonen in Arbeitsgruppen traf, antwortet Frau Esser Folgendes (Z:10791090):

46 Die Theorien, die von den gesellschaftskritischen Professoren gelehrt werden, bilden die theoretische Grundlage der antiautoritären Gruppe, über die sie ihre politische Praxis organisieren und insbesondere legitimieren. Diese Praxis, in der auch Gewalt als legitim bewertet wird, wird von einem Großteil der gesellschaftskritischen Professoren jedoch abgelehnt. Auf die Distanzierung dieser Professoren reagieren einige Studierende in ähnlicher Weise distanzierend, vgl. Gilcher-Holtey 1998b; vgl. dazu auch die Kontextbeschreibung Kap. IV.4.1.

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Esser: In der Zeit, also in der Zeit des Streiks waren es ja, das ging bestimmt ein, zwei Semester, war das ja sozusagen anstatt (.), also wir haben (.) die eigenen Veranstaltungen gemacht //der Aktive Streik// ja, ja (3) und äh (2). Für die Vorlesungen selber dann (2) das waren dann sich da dann zusammen zu tun, das waren dann jeweils entweder für Referate oder dann eben da zum Beispiel für das Vordiplom, oder wir haben auch -ne Arbeitsgruppe (2) gemacht, die sich mit Erkenntnistheorie beschäftigt hat (.) das ging so von (.) Habermas äh Erkenntnis und Interesse aus, also solche hermeneutischen Traditionen da dann etwas dann gemeinsam zu lesen, das hatte mit Seminar eigentlich gar nichts weiter zu tun, sondern na (.) wir haben ähm eben eigene (2) was Eigenes erarbeiten.

Die informellen, studentisch initiierten Arbeitsgruppen haben für Frau Esser unterschiedliche Funktionen. In der Streikphase werden, wie bereits über die vorangegangene Passage beschrieben, eigene alternative Veranstaltungen in Form von Arbeitsgruppen initiiert, um das Studium politisch und kritisch auszurichten. Des Weiteren werden die studentischen Gruppen in der Zeit, in der Frau Esser reguläre Lehrveranstaltungen partiell und temporär besucht, auch genutzt, um den Leistungsanforderungen nachzukommen sowie Prüfungen vorzubereiten – »jeweils entweder für die Referate oder dann eben da zum Beispiel für das Vordiplom« (Z:1084f.). Gleichzeitig nimmt sie an studentischen Arbeitsgruppen teil, um die Inhalte der regulären Veranstaltungen – hier die Veranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren – zu vertiefen. In einer Arbeitsgruppe setzt sich Frau Esser gemeinsam mit anderen Studierenden mit Habermas Schrift »Erkenntnis und Interesse« auseinander.47 Auch hier dokumentiert sich erneut, dass Frau Esser eine theore47 In seinem Buch ›Erkenntnis und Interesse‹ (Habermas 1968), das die Thesen seiner Frankfurter Antrittsvorlesung vom Sommer 1965 wiederaufnimmt und im April 1968 erscheint, versucht Habermas eine Erneuerung der Erkenntnistheorie in kritischer Absetzung vom Positivismus. Im Kontext des sogenannten Positivismusstreit der deutschen Soziologie, der zwischen Vertretern des Kritischen Rationalismus (Karl R. Popper, Hans Albert) und Vertretern der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule (Theodor W. Adorno, J. Habermas) über die Rolle von Methoden und Werturteilen in den Sozialwissenschaften ausgetragen wurde, betont Habermas gegen die Vorstellung einer ›reinen Theorie‹ die wirkende Rolle erkenntnisleitender Interessen auch in der Wissenschaft. Er unterscheidet dabei das auf ›Verfügungswissen‹ zielende ›instrumentale‹ Interesse der empirisch-analytischen, das praktisch-kommunikative Interesse der historisch-hermeneutischen und das emanzipatorische Erkenntnisinteresse einer kritischen Wissenschaft, für die Habermas das Beispiel der Psychoanalyse wählt. Letzteres Selbstverständnis einer auf Emanzipation, Mündigkeit und Freiheit von naturwüchsigem Zwang gerichteten Wissenschaft prägte das Wissenschaftsverständnis der ›68‹er-Zeit in außerordentlichem Maße.

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tische und reflexive Herangehensweise an die Studentenbewegung hat. Sie zeigt nicht nur ein politisches Verhalten, indem sie sich am ›Aktiven Streik‹ beteiligt und in diesem Rahmen Institutsräume besetzt, sondern auch indem sie ein kritisches und politisiertes Studium anstrebt und dies über das regulär angebotene Studium hinaus. Sie nutzt zunächst die Veranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren und schließlich informelle, studentisch initiierte Arbeitsgruppen zur Erweiterung ihres theoretischen Studiums. Innerhalb der studentischen Arbeitsgruppen werden die theoretischen Inhalte mit der politischen Praxis verknüpft, so dass die Besetzung des Instituts für Sozialforschung erfolgt. Damit werden die gesellschaftskritischen Professoren, die bis dahin die theoretischen Grundlagen vermittelten, selbst zu Kritisierten. Auch über die Schilderungen von Frau Kielen kann der Typus ›Anerkennung informeller, studentisch initiierter Arbeitsgruppen zur Erweiterung des Studiums‹ abstrahiert werden. Frau Kielen, die ihr Studium bereits 1965 beginnt und zunächst Schwierigkeiten mit den Studienbedingungen an der Universität Frankfurt hat, beteiligt sich mit dem Aufkommen der Studentenbewegung an den Protesten ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen und lehnt gemeinsam mit ihnen die regulären Lehrveranstaltungen der Universität ab (siehe Typus ›Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen‹, Kap.V.2.2.1). Wie im Folgenden deutlich wird, erlebt sie bereits in diesem Rahmen studentisch initiierte Arbeitsgruppen, die sie anerkennt und an denen sie sich beteiligt. Auf die Nachfrage, wie sie die Studentenproteste an der Universität erlebte, bewertet Frau Kielen zunächst rückblickend das Studium in der Protestphase und kommt schließlich darüber zur Schilderung ihrer Beteiligung an studentischen Arbeitsgruppen (Z:948-955): Kielen: Und dann haben wir ja irgendwie danach also die Uni spielte dann auch lange Zeit wirklich nur eine sehr marginale Rolle, wir haben ja unser Lernprozesse selber organisiert dann. //mmh// Also wir haben das gemacht was uns interessiert hat und das waren allenfalls dann irgendwie solche studentischen Arbeitsgruppen oder irgendwie vielleicht noch mit -nem Tutor der bezahlt wurde, aber in diese regulären Studienseminare, also sind wir dann auch ganz lange gar nicht mehr gegangen.

Gemeinsam mit anderen bereits politischen Studierenden lehnt Frau Kielen reguläre Lehrveranstaltungen der Universität temporär ab. In diesem Zusammenhang werden informelle, studentisch initiierte Arbeitsgruppen gegründet und eigene Seminare organisiert. Dass es ihr und ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen um eine Erweiterung des Studiums geht und zwar unabhängig von den regulären Lehrveran-

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staltungen, drückt sich darin aus, dass sie Tutorinnen und Tutoren hinzuziehen, die ihnen die als relevant bewerteten Inhalte vermitteln. Diese werden sogar für ihre Lehre bezahlt. Somit wird das Studium gezielt nach eigenen Interessen organisiert, ohne dass die die Universität als Bildungsraum ihre Bedeutung verliert. Ähnlich wie im Fall von Frau Esser drückt sich hier eine theoretische und reflektierende Herangehensweise an die Studentenbewegung aus. Denn Frau Kielen nimmt nicht nur an den praktischen politischen Aktionen ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen teil, sondern strebt zudem ein kritisches und politisches Studium in Abgrenzung zum regulären Studienverlauf an, das sie mit der Praxis verknüpfen kann. Auch über die Schilderung von Frau Jahnsen kann der Typus ›Anerkennung informeller, studentisch initiierter Arbeitsgruppen zur Erweiterung des Studiums‹ abstrahiert werden. Frau Jahnsen beginnt ihr Studium in der Hochphase der Studentenbewegung. Beim Beginn ihres Studiums im Jahr 1968 bringt sie politische Erfahrungen mit an die Universität und beteiligt sich im selben Jahr am ›Aktiven Streik‹ (siehe Typus ›Kontinuität voruniversitärer politischer Aktivitäten an der Universität‹, Kap. V.2.1.3). An der Universität besucht sie die Veranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren, die sie anerkennt und über die sie ihr Studium kritisch und politisch ausrichtet (siehe Typus ›Anerkennung Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren‹, Kap. V.2.2.2). Im folgenden Abschnitt beschreibt Frau Jahnsen ihre Aktivitäten in den informellen, studentisch initiierten Arbeitsgruppen, die sie als weitere Möglichkeit sieht, ihr Studium kritisch auszurichten (Z:594-598): Jahnsen: Also gelernt oder so haben wir in diesen AGs, die ja //hmm// meistens oder wir haben dann eben auch in der Wohngemeinschaft, ich hatte dann zum Beispiel ein Kant, hatten wir bei uns, ein Philosophiezirkel, haben wir da aufgemacht //hmm/ natürlich Marxismus und so, dass war so, das haben wir dann eben noch neben der Uni auch noch gemacht.

In diesem kurzen Abschnitt dokumentiert sich, dass Frau Jahnsen die studentischen Arbeitsgruppen als Lernforen versteht, deren Treffen nicht nur innerhalb der Universität, sondern auch über diese hinaus im privaten studentischen Bereich – »in der Wohngemeinschaft« (Z:595) – stattfinden. In diesen Arbeitsgruppen werden unterschiedliche philosophische und gesellschaftskritische Texte gelesen. Diese »Philosophierzirkel« (Z:597), wie Frau Jahnsen die Arbeitsgruppen nennt, werden als Ergänzung zu den Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren begriffen – »das haben wir dann eben noch neben der Uni auch noch gemacht« (Z:598). So dienen die informellen, studentisch initiierten Arbeitsgruppen für Frau Jahnsen zur Erweiterung ihres Studiums und zur Herstellung eines angestrebten kritischen Studiums.

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Auch über die Schilderungen von Frau Kasten kann der Typus ›Anerkennung informeller, studentisch initiierter Arbeitsgruppen zur Erweiterung des Studiums‹ abstrahiert werden. Im Nachfrageteil des Interviews beschreibt Frau Kasten den Übergang an die Universität sowie die Gründe für die Wahl ihrer Studienfächer Germanistik, Politik und Tschechisch (ab Z:355). In diesen Beschreibungen dokumentierte sich, dass Frau Kasten zunächst bestrebt ist, ein ordentliches Studium zu absolvieren. Beim Übergang an die Universität verlieren jedoch das gesamte Studium und damit auch reguläre Lehrveranstaltungen für eine gewisse Zeit ihre Bedeutung. Frau Kasten lehnt temporär reguläre Lehrveranstaltungen ab (siehe Typus ›Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen‹, Kap. V.2.2.1). In einem kurzen Erzählabschnitt dokumentiert sich, wie Frau Kasten schließlich über die Anerkennung und Teilnahme an informellen, studentisch initiierten Veranstaltungen bestrebt ist, das bis dahin abgelehnte reguläre Studium zu erweitern. In Abgrenzung zu den regulären Lehrveranstaltungen strebt auch sie schließlich ein kritisches und politisches Studium an (Z:380-384): Kasten: Aber irgendwie kam es dann nicht dazu, weil ich dann mehr Politik machte, als zu studieren. Ich hab sehr wenig studiert, wenn man=s wirklich, //mmh// also mehr hab ich gelernt in der Politik, also in der praktischen Politik und in den Arbeitsgruppen und den Diskussionen, als an der Universität selber.

Ihre Aktivitäten in der »praktischen Politik und in den Arbeitsgruppen und den Diskussionen« (Z:382f.) werden von ihr aus heutiger Perspektive als eine alternative Bildungsmöglichkeit bewertet, so dass sie angibt, zwar »wenig studiert« (Z:382) zu haben, dafür jedoch in den informellen Gruppen »gelernt« (Z:383) zu haben. Hier dokumentiert sich, dass für Frau Kasten mit der Ablehnung der regulären Veranstaltungen das Studieren im Sinne einer Erweiterung des Wissens nicht an Bedeutung verliert. Im Gegenteil, sie erkennt in der Teilnahme an Aktionen und im Mitwirken in der »Politik« (Z:383) die Möglichkeit, politisches Wissen zu erwerben und ihre politischen Interessen zu verfolgen. Mit der Ablehnung regulärer Veranstaltungen erfolgt die Teilnahme an alternativen studentisch initiierten Veranstaltungen. Die Zusammenkunft in den Gruppen sowie die studentischen Versammlungen werden als praktische Lernforen erfahren, die eine Alternative zu den regulären Lehrveranstaltungen darstellten. Auch in ihrer Darstellung dokumentiert sich die Bestrebung, ihre politischen Aktivitäten mit einem kritischen und politischen Studium zu verbinden.

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Zusammenfassung des Typus – ›Anerkennung informeller, studentisch initiierter Arbeitsgruppen zur Erweiterung des Studiums‹ Das Typische in den Schilderungen dieser Fälle ist, dass sie alle an informellen, studentisch initiierten Arbeitsgruppen, zum Teil sogar selbst organisiert, teilnehmen, um über diese ihr Studium zu erweitern. Anhand der Schilderungen in drei Fällen wird dabei deutlich, dass dieser Orientierung eine partielle und temporäre Ablehnung regulärer Veranstaltungen vorausgeht (siehe Typus ›Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen‹, Kap. V.2.2.1). Gemeinsam haben alle Frauen, dass sie über die Teilnahme an den informellen, studentisch initiierten Arbeitsgruppen eine Erweiterung ihres Studiums um politische Dimensionen anstreben. Dabei wird deutlich, dass das Studium für diese Frauen, auch bei partieller und temporärer Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen, nicht an Bedeutung verliert. Die Universität wird von diesen Frauen auch weiterhin als ein Bildungsraum verstanden, obwohl sie den Großteil der universitären Regeln ablehnen. Ein kritisches Studium soll über ein politisches Selbststudium in eigenen, selbstbestimmten, informellen Gruppen erreicht werden, in denen sie die als interessant, politisch und intellektuell bewerteten Themen, zum Teil solche, die in regulären Lehrveranstaltungen bereits thematisiert wurden, diskutieren und vertiefen. Somit treffen die Frauen im Raum der Universität auf studentische Kollektive mit den gleichen Interessen und Zielen, nämlich eine Umgehung der institutionellen Regeln und die Initiierung eigener Regeln sowie ihre Umsetzung. Alle Frauen streben ein kritisches und selbstbestimmtes Studium an. Sie zeigen eine theorieorientierte Herangehensweise an die Studentenbewegung, indem sie politische Aktivitäten mit einem politischen und kritischen Studium verbinden möchten. Die erlernte Theorie soll nicht nur in die Praxis überführt werden, sondern ist gleichzeitig die Legitimation für politische (auch illegale) Handlungen. V.2.3

Entwicklung einer geschlechtsspezifischen Perspektive im Anschluss an eine allgemeine Politisierung

Die interviewten Frauen haben die Gemeinsamkeit, dass sie im Anschluss an ihre allgemeine Politisierung eine geschlechtsspezifische Perspektive auf politische Themen entwickeln und Teil einer geschlechtshomogenen Gruppe bzw. mehrerer geschlechtshomogener Gruppen werden, darunter – in allen Fällen – Mitglied im Frankfurter Weiberrat und/oder im Frankfurter Frauenzentrum.48 Diese Mitglied-

48 Bis auf einen Fall entsteht der Anschluss an eine geschlechtshomogene politische Gruppe in der universitären Lebensphase. In einem Fall wird das Studium erst nach der Mitglied-

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schaft war, mit Blick auf die Fragestellung dieser Untersuchung, eine Voraussetzung dafür, dass die Frauen als Interviewpartnerinnen ausgewählt wurden. In den Interviews schilderten alle interviewten Frauen ihre Erfahrungen vor und während ihrer Mitgliedschaft in den geschlechtshomogenen Gruppen. Wie im Folgenden deutlich herausgearbeitet wird, gibt es teilweise Kontinuitätslinien in Bezug auf die politische Sozialisation. So haben politisch-relevante und explizit-politische Erfahrungen, die vor dem Eintritt in eine geschlechtshomogene Gruppe – insbesondere innerhalb der Universität – gemacht werden, einen Einfluss auf die Herausbildung einer geschlechtsspezifischen Perspektive und auf die Partizipation in einer geschlechtshomogenen Gruppe. Die fallübergreifenden Typen dieser Typik werden daher unter Berücksichtigung der bereits rekonstruierten typisierten Orientierungsrahmen abstrahiert. Wie im Folgenden deutlich wird, kann eine geschlechtsspezifische Perspektive einerseits vor der Mitgliedschaft in einer geschlechtshomogenen Gruppe entwickelt und in diese hineingetragen werden und hier ihre praktische Umsetzung finden (siehe die ersten drei Typen dieser Typik) oder andererseits erst in einer geschlechtshomogenen Gruppe über den Austausch mit politisch aktiven Frauen ausgebildet werden (siehe Typus vier dieser Typik). Insgesamt können vier fallübergreifende Typen abstrahiert werden, die kontrastierende Ausprägungen der Typik ›Entwicklung einer geschlechtsspezifischen Perspektive im Anschluss an eine allgemeine Politisierung‹ darstellen. In den Schilderungen einiger Frauen wird erstens deutlich, dass sie über die Auseinandersetzung mit den formellen und informellen Veranstaltungen und Studieninhalten während des Studiums eine geschlechtsspezifische politische Perspektive entwickeln und schließlich zu Aktivitäten in einer Frauengruppe kommen (siehe Typus ›Offenheit für die theoretische Auseinandersetzung mit geschlechtspolitisch relevanten Themen im Studium‹, Kap. V.2.3.1). Zweitens geht es einigen Frauen zunächst hauptsächlich um die Fortsetzung ihrer politischen Aktivität, die sie bereits im Kontext der Studentenproteste in geschlechtsheterogenen Gruppen zeigten. Dabei wird die Aktivität in geschlechtshomogenen Gruppen als Möglichkeit gesehen, die eigenen politischen Aktivitäten nun innerhalb einer geschlechtshomogenen Gemeinschaft um geschlechtsspezifische Dimensionen zu erweitern. Denn Geschlecht wird für diese Frauen als politisches Thema erkannt, das im Rahmen einer Gesellschaftskritik sowohl theoretisch als auch praktisch erarbeitet werden muss. Damit rückt für diese Frauen das Thema Geschlecht in den Vordergrund ihres politischen Alltags (siehe Typus ›Kontinuität und Erweiterung bisheriger politischer Aktivitäten in geschlechtshomogenen Gruppen‹, Kap. V.2.3.2). Drittens dokumentiert sich in den schaft in einer geschlechtshomogenen Gruppe im Jahr 1972 aufgenommen, deutlich nach der Hochphase der Studentenbewegung. Der Kontakt zu politisch aktiven Studierenden und die Teilnahme an studentischen Veranstaltungen erfolgt jedoch bereits vor der Aufnahme des Studiums, vgl. dazu auch Kap. I.4.

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Schilderungen der Frauen, dass einige von ihnen in ihren jeweiligen geschlechtsheterogenen politischen Studentengruppen an der Universität eine auf das Geschlecht bezogene Ungleichheit wahrnehmen, die sie dazu bewegt, sich von ihnen abzuwenden und in einer geschlechtshomogenen Gruppe aktiv zu werden (siehe Typus ›Distanzierung von einer geschlechtsheterogenen Gruppe‹, Kap. V.2.3.3). Viertens war erkennbar, dass einige der interviewten Frauen über ihre Suche nach einer Gemeinschaft, in der sie Anerkennung erhalten, zur Partizipation in geschlechtshomogenen Gruppen kommen. Hier werden sie als Teil der Gruppe akzeptiert und erleben eine geschlechtsspezifische Solidarität, die sie aufrechterhalten möchten. Diese Frauen entwickeln erst innerhalb der geschlechtshomogenen Gruppe eine politische Perspektive auf das Thema Geschlecht und machen dieses Thema dann über entsprechende Aktionen zu einem Politikum (siehe Typus ›Suche nach Gemeinschaftlichkeit‹, Kap. V.2.3.4). Wie im Folgenden herausgearbeitet wird, erfahren die Frauen die Universität einerseits als Bildungsraum, in dem sie über die Auseinandersetzung mit institutionell eingeräumten Bildungsangeboten eine Sensibilisierung für geschlechtsspezifische Themen entwickeln. Andererseits erfahren sie die Universität als politischen Raum, in dem sie ihre Perspektive auf politisch-relevante Themen verändern. Hier erleben sie diverse politische Gruppen, die politische Handlungsmöglichkeiten auch jenseits institutioneller Regeln anbieten. Über die Teilhabe an nicht-institutionalisierten Bildungsangeboten der Studierenden – wie Arbeits- und Diskussionsgruppen – und die Teilnahme an politischen Aktionen werden diese Frauen für das Thema Geschlecht als Politikum sensibilisiert. An der Universität erhalten sie schließlich die Möglichkeit, im Kollektiv geschlechtsspezifische Aktivitäten zu organisieren und an bereits informell initiierten geschlechtspolitischen Aktivitäten teilzunehmen. V.2.3.1

Offenheit für die theoretische Auseinandersetzung mit geschlechtspolitisch relevanten Themen im Studium

In den Schilderungen von zwei Fällen war hinsichtlich der Frage nach kontrastierenden Ausprägungen der Typik ›Entwicklung einer geschlechtsspezifischen Perspektive im Anschluss an eine allgemeine Politisierung‹ der erste fallübergreifende Orientierungsrahmen erkennbar, über der der Typus ›Offenheit für die theoretische Auseinandersetzung mit geschlechtspolitisch relevanten Themen im Studium‹ abstrahiert werden kann. Beide Frauen zeigten bereits politische Handlungen, die jedoch bis dahin nicht explizit auf das Geschlecht als politisches Thema bezogen waren. Frau Esser und Frau Kielen beginnen ihr Studium bereits vor der Hochphase der Studentenbewegung im Jahr 1965. Als Studentinnen werden sie Teil eines protestierenden Kollektivs und entwickeln einen politischen studentischen Alltag. Beide Frauen stellen in der Hochphase der Studentenbewegung ihre bislang ange-

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strebte und entwickelte Lebensweise infrage, so dass in beiden Fällen ein Bruch zu Bezugspersonen erkennbar wird (Typus ›Diskontinuität zur eigenen bereits entwickelten oder angestrebten Lebensweise‹, Kap. V.2.1.4). Darüber hinaus haben beide Frauen die Gemeinsamkeit, dass sie über die Auseinandersetzung mit den an der Universität angebotenen formellen und informellen Veranstaltungen politische Handlungen zeigen und dabei bestrebt sind, ihr Studium politisch und kritisch auszurichten. So wird in beiden Interviews sowohl eine partielle und temporäre Ablehnung der an der Universität regulär angebotenen Lehrveranstaltungen, die als unpolitisch bewertet werden, erkennbar als auch eine Anerkennung informeller, studentisch initiierter Arbeitsgruppen, die das reguläre Studium erweitern sollen (siehe Typus ›Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen‹, Kap. V.2.2.1 und Typus ›Anerkennung informeller, studentisch initiierter Arbeitsgruppen zur Erweiterung des Studiums‹, Kap. V.2.2.3). Während des Studiums und im Kontext ihrer Partizipation an der Studentenbewegung zeigen beide Frauen eine Offenheit für geschlechtspolitisch relevante Themen und setzen sich auf theoretischer Ebene mit geschlechtspolitisch relevanten Themen auseinander. Über diese inhaltlichen Auseinandersetzungen entwickeln beide Frauen eine geschlechtsspezifische Perspektive, zeigen geschlechtspolitisch relevante Handlungen und werden Mitglied in einer Frauengruppe, durch die sie Geschlecht öffentlich zu einem politischen Thema machen. Frau Esser zeigt während des Studiums eine kritische und reflektierte Herangehensweise an die Studentenbewegung und strebt ein politisch und kritisch ausgerichtetes Studium an. Dabei erkennt sie im Studium die Verknüpfungsmöglichkeiten von theoretischen Auseinandersetzungen in regulären und studentisch initiierten Lehrveranstaltungen mit praktischen politischen Aktivitäten. Sie zeigt eine Offenheit für die theoretische Auseinandersetzung mit geschlechtspolitisch relevanten Themen und beschäftigt sich in ihrer Abschlussarbeit schließlich sogar mit dem Thema Geschlecht und Sozialisation. Wie sie zu dem Thema ihrer Diplomarbeit kommt, beschreibt sie im folgenden Abschnitt (Z:349-372): Esser: Und die sechziger Jahre waren ganz stark von sozialisationstheoretischen Diskussionen geprägt, sehr viel aus US=amerikanischer Forschung (.)und das war ein Strang den Habermas sehr stark vertreten und verbreitet hat. Es gab damals eine jahrelang als Manuskript nur existierende Vorlesung zur Sozialisation (2) die äh hochspannend und großfrequentiert natürlich in=nem riesen riesen Hörsaal war (.) aber auch mit wirklich sehr engagierten Diskussionen und Beiträgen auch von den Leuten, von den Teilnehmenden. Und das hat auch meine weitere Arbeit dann (.) also ich hab mich damit sehr stark beschäftigt mit den Sozialisationstheorien (.) und habe dann auch gemeinsam mit einer (.) Studienfreundin meine Diplomarbeit in

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diesem Gebiet geschrieben, also das haben wir damals dann auch angefangen, das wir gemeinsame Diplomarbeiten geschrieben haben. Wir haben sie zu zweit gemacht //mmh// und da ging es eben um Sozialisationstheorien und die (.) Männer und Frauen Unterscheidung, der hochkomplizierte Titel wenn ich das noch zusammenkriege heißt (3) der Identifikationsbegriff in den Theorien des Geschlechtsrollenerwerbs //mmh// so war das ((lacht)). Ja und dann eben so verschiedene theoretische Ansätze zu, aber das heißt wir haben das wirklich dann auch diese eigenen Interesse die (.)Geschlechterperspektive würde man heute sagen, also da in dem Fall wir haben dann doch deutlich die genaue Untersuchung von (2) Frauensituation //mmh// das war wurde dann doch sehr stark zum Thema von einzelnen Arbeitsgruppen und aber eben auch angestoßen durch ein Verständnis von kritischer Analyse kritischer Theorie.

Frau Esser besucht während ihres Studiums eine Vorlesung zu dem Thema Sozialisation und erkennt die Inhalte dieser Vorlesung, die in der Tradition der Frankfurter Schule gelehrt werden, an (vgl. dazu auch Typus ›Anerkennung der Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren‹, Kap. V.2.2.2). Von den Inhalten der Vorlesung, den Diskussionen und den Beiträgen ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen inspiriert, entscheidet sie sich gemeinsam mit einer Freundin ihre Abschlussarbeit über Sozialisation und Geschlecht zu schreiben. Über eine rein theoretische Ebene hinaus wird der Blick auch konkret auf die »Frauensituation« (Z:369) gerichtet. Hier dokumentiert sich, dass Frau Esser am Ende des Studiums eine Offenheit für die theoretische Auseinandersetzung mit geschlechtspolitisch relevanten Themen zeigt. Diese theoretische Auseinandersetzung führt Frau Esser zudem in studentischen Arbeitsgruppen fort. An der Universität, die Frau Esser als Bildungsraum anerkennt und deren institutionell angebotenen Lehrveranstaltungen sie besucht, kommt es zu einer intensiven Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifischen Themen und gleichzeitig zu einer Sensibilisierung für das Thema Geschlecht. Frau Esser erkennt während ihres Studiums nicht nur die Lehrinhalte und Themen gesellschaftskritischer Professoren (siehe Typus ›Anerkennung der Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren‹, Kap. V.2.2.2) an, sondern sieht in den Theorien dieser Professoren die Verbindung zu den Interessen und geschlechtsbezogenen Themen von Studentinnen. Dieses dokumentiert sich im folgenden Abschnitt (Z:383-395): Esser: Marcuse hat sich ja sehr stark auch in diese Diskussion eingeschaltet und äh auch den Frauen sehr viel zugetraut, was ihre Fähigkeit zu Umwälzung und sozialen Bewegung und kritische Potenziale darzustellen, das waren natürlich auch sehr sehr spannende Anknüpfungspunkte //ja//. Aber in dieser Zeit waren dann eigentlich auch die Diskussionen schon (.) ähm (.) na in dieser Zeit da muss ich genauer sagen also wir haben neunundsechzig Ende neunundsechzig im Dezember oder am Ende des Jahres neunundsechzig haben wir den äh Frankfurter Frauenrat gegründet und das war in der Abfolge war das sozusagen der zweite Weiberrat, es gab

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einen schon achtundsechzig der innerhalb des SDS gegründet worden war (.) der aber nicht lange als solcher dann bestehen geblieben ist und einige von den Frauen die dort mitgemacht haben, haben dann auch in dieser nächsten Initiative mitgemacht, die vor allen Dingen äh (.) äh sehr viel breiter war.

Insgesamt wird hier deutlich, dass Frau Esser während ihres Studiums über ihre Ausrichtung an der Lehre gesellschaftskritischer Professoren und ihr Bestreben nach einem politischen Studium nicht nur eine intellektuelle Herangehensweise an die Studentenbewegung allgemein zeigt, sondern über diese intellektuelle und theoretische Herangehensweise auch zu geschlechtspolitischen Themen findet, welche sie in geschlechtshomogenen Gruppen fortsetzen kann. In diesem Abschnitt erinnert sie sich an die Beiträge des gesellschaftskritischen Professors Herbert Marcuse, der in der Hochphase der Studentenbewegung als Gastprofessor Vorlesungen und Vorträge in Frankfurt hielt.49 Sie erinnert sich an »spannende Anknüpfungspunkte« (Z:386) zwischen seinen theoretischen Überlegungen und ihren eigenen geschlechtspolitischen Aktivitäten im zweiten Frankfurter Weiberrat, deren Mitglied sie 1969 wird. Die Universität ist für Frau Esser einerseits der Raum, innerhalb dessen sie über die hier angebotenen institutionellen Veranstaltungen, die sie anerkennt und besucht, einen theoretischen Zugang zu geschlechtspolitisch relevanten Themen erhält. Andererseits ist die Universität gleichzeitig auch der Raum, in dem sie in nicht-institutionalisierten Kollektiven neue Handlungsmöglichkeiten erlebt und die Theorie in die Praxis überführen kann.

49 Herbert Marcuse war einer der Leitfiguren für die antiautoritäre Strömung der Studentenbewegung, dessen Texte als Wegweiser und theoretische Grundlage für den Protest genutzt wurden. Während unter anderem Theodor W. Adorno und Max Horkheimer sich im Laufe der Proteste der Studierenden an der Universität von den kritischen Studierenden distanzierten, war es insbesondere Marcuse, der den Studierenden ab Mitte der 1960er Jahre mit seinen Vorträgen und Schriften wie ›Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus‹ (1964) und ›Triebkultur und Gesellschaft‹ (1967), beeinflusste. Insbesondere Letztere hatte eine große Wirkung auf Teile der Studierenden und ihren studentischen Alltag. Denn hier ging es nicht nur um eine Analyse der Industriegesellschaft aus marxistischer Sicht, sondern auch um Forderungen nach sexueller Revolution. Darüber hinaus war sein Aufsatz über die ›Repressive Toleranz‹ in den studentischen Kreisen viel gelesen und diente für die Protestler als Legitimation ihrer Aktionen. Hier verweist er auf die Notwendigkeit der Veränderung der Gesellschaft und gibt sowohl den »Randgruppen« als revolutionäre Subjekte als auch den Universitäten im Kampf gegen Unterdrückung und staatliche Autorität eine besondere Bedeutung; vgl. dazu die Ausführungen bei Herrschaft 2010.

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Auch über die Schilderungen von Frau Kielen kann der Typus ›Offenheit für die theoretische Auseinandersetzung mit geschlechtspolitisch relevanten Themen‹ abstrahiert werden. Frau Kielen beginnt ihr Studium im Jahr 1965, somit vor der Hochphase der Studentenbewegung. Zunächst ist sie bestrebt, ihre bereits entwickelte Lebensweise an der Universität aufrechtzuerhalten, stellt diese jedoch, ähnlich wie Frau Esser, mit der Wahrnehmung der studentischen Proteste, die schließlich zur Teilnahme an ihnen führt, infrage, so dass es zu einem Bruch mit der bisherigen Lebensweise kommt (siehe Typus ›Kontinuität intergenerationell erlebter politischer Aktivitäten in jugendspezifischen Organisationen‹, Kap. V.1.2.4). Gleichzeitig rückt das reguläre Studium für Frau Kielen zunächst partiell und temporär in den Hintergrund. Sie geht für einige Monate ins Ausland und lehnt nach ihrer Rückkehr im Kontext ihrer Partizipation an den Protesten reguläre Lehrveranstaltungen ab (siehe Typus ›Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen‹, Kap. V.2.2.1). Das Studium verliert jedoch nicht gänzlich an Bedeutung, denn Frau Kielen strebt, ähnlich wie Frau Esser, ein kritisches und politisches Studium an, welches sie über die Teilnahme an studentischen Arbeitsgruppen realisieren möchte (Typus ›Anerkennung informeller, studentisch initiierter Arbeitsgruppen zur Erweiterung des Studiums‹, Kap. V.2.2.3). Frau Kielen setzt sich während ihres Studiums mit geschlechtspolitisch relevanten Texten gesellschaftskritischer Professoren – »Fromm (…) Marcuse« (Z:112) – auseinander und zeigt an der Universität eine Offenheit für die theoretische Auseinandersetzung mit geschlechtspolitisch relevanten Themen. Im Vergleich zu Frau Esser, bei der sich ebenso ein theoretisches und intellektuelles Interesse an dem Thema Geschlecht dokumentiert, stellt Frau Kielen bei der theoretischen Auseinandersetzung mit geschlechtspolitisch relevanten Themen einen Bezug zur eigenen Lebenssituation her. Dieses dokumentiert sich in den folgenden beiden Abschnitten (Z:103-120 und Z:169-175): Kielen: Also kurz und gut mein Mann war dann wieder in Deutschland, dazwischen aber wie gesagt war die Studentenbewegung und ich war in der Situation, dass ich irgendwie (.) äh (.) also in Frankfurt das mitgemacht habe, //mmh// aber -n bisschen alleine war, weil ich eben immer so=n bisschen hin und her gerissen war zwischen Griechenland und Deutschland, gleichzeitig aber sich für mich irgendwie die Welt da=durchaus auf den Kopf stellte, durch die Studentenbewegung. Und ich werde nie vergessen, das hab ich schon -n paarmal erzählt, ich werde nie vergessen @wie ich in der Bibliothek des Instituts für Sozialforschung saß und irgendwie gelesen hab@ ich weiß es war Fromm oder (.) Marcuse über die Familie, ja //ja// diese alten Zeitschriftenartikel //ja// und es mir wie Schuppen von den Augen fiel ja, das meine Frühehe vielleicht doch nicht so ganz richtig war ja. Also ich habe sozusagen unmittelbar @ja also heute kann ich das eh etwas witzig sagen, aber ich habe unmittelbar seit die=doch schon

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etwas älteren Theorien zur Familie, zur bürgerlichen Familie und zum Verhältnis zwischen den Geschlechtern@ auf meine unmittelbare Situation bezogen und hab das Gefühl gehabt, das muss irgendwie alles ganz anders werden.

Im ersten Teil dieses Abschnittes beschreibt Frau Kielen, wie sich durch die Studentenbewegung und ihre politische Partizipation an dieser, ihre »Welt da=durchaus auf den Kopf stellt« (Z:109). Während des Studiums und im Kontext der Studentenbewegung zeigt Frau Kielen eine Offenheit für die theoretische Auseinandersetzung mit geschlechtspolitisch relevanten Texten. Dass diese Texte eine größere Bedeutung für sie haben und nicht nur als Möglichkeit der Wissenserweiterung verstanden werden, dokumentiert sich darin, dass sie die Inhalte der gelesenen Texte – hier die »Theorie zur Familie zur bürgerlichen Familie und zum Verhältnis von Geschlechtern« – auf ihre »unmittelbare Situation« (Z:117f.) als verheiratete Frau bezieht. In diesem Rahmen stellt sie ihre bisherige Lebensweise nicht nur theoretisch infrage, sondern verändert diese (siehe Typus ›Diskontinuität zur eigenen bereits entwickelten oder angestrebten Lebensweise‹, Kap. V.2.1.4). Sie ziehen gemeinsam mit zwei befreundeten Paaren in eine Wohngemeinschaft, die sich jedoch bald wieder aufgrund von Streitigkeiten auflöst (Z:126ff.). Nach der Trennung von ihrem Mann zieht sie in eine Frauenwohngemeinschaft. Zu dieser Zeit ist sie bereits Mitglied in einer Frauengruppe, dem Frankfurter Weiberrat. Diese Zusammenhänge beschreibt Frau Kielen im folgenden Abschnitt (Z:169-183): Kielen: Und dann habe ich in einer Frauenwohngemeinschaft gewohnt mit (.) (Name) eine der von denen //ja// ja also (.) aus dieser Paarkonstellation sozusagen. Das flog so richtig, es explodierte richtig, anders kann man es nicht sagen und ich bin dann in eine Frauen-WG gezogen (2). Und das war gewissermaßen dann die Hochzeit, also vorher war ich schon im (.) also ich war ursprünglich mal in diesem zweiten Weiberrat //mmh// als das alles so anfing und äh bin dann aber zum Beispiel von diesem Weiberrat weggegangen in eine trotzkistische Gruppe, //mmh// weil ich das Gefühl hatte ähm da findet jetzt also die wirkliche Politik statt und irgendwie und ich wollte mit Lehrlingen arbeiten und überhaupt ja, also ich bin da sozusagen nochmal zurückgegangen, wenn man so will, //mmh// also auf meiner feministischen Entwicklungslinie, //mmh// ja nochmal -nen Schritt zurückgegangen und hab gemacht so Lehrlingsarbeit und bin dann in so=ne trotzkistischen Gruppe, wir haben dann Flugblätter verteilt vor den Betrieben und so weiter.

Über welche Motive Frau Kielen zur Mitgliedschaft kommt, wird nicht expliziert. Es wird jedoch deutlich, dass diese in einer Zeit erfolgt, in der Frau Kielen sich einerseits theoretisch mit Themen wie Familie und Geschlecht auseinandersetzt und andererseits diese explizit auf ihre eigene Lebenssituation bezieht, die sie anschließend verändert. Die Mitgliedschaft im Frankfurter Weiberrat wird jedoch unterbro-

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chen, als Frau Kielen entscheidet in einer trotzkistischen Gruppe50 aktiv zu werden. Damit distanziert sie sich temporär von den geschlechtspolitischen Tätigkeiten und Diskussionen der Frauen, die ihr nicht politisch genug erscheinen. In der trotzkistischen Gruppe arbeitet sie mit Lehrlingen und geht in die Betriebe.51 Selbstinterpretierend bezeichnet Frau Kielen dieses Vorgehen als Rückschritt in ihrer »feministischen (…) Entwicklung« (Z:180f.). Erst gegen Ende des Studiums treten geschlechtspolitische Fragen gezielt in den Vordergrund ihres studentischen Alltags, worüber sie schließlich erneut zu den Frauen des Frankfurter Weiberrats findet, die mittlerweile das Frankfurter Frauenzentrum initiiert haben (Z:198-204): Kielen: Also kurz und gut damit war das für mich erledigt ja und dann bin ich sozusagen in das, damals dann auch Weiberrat und Frauenzentrum //mmh// gegangen, wir haben dann im Frauenzentrum erst so eine Art Koalition gebildet, also ich noch als Vertreterin dieser trotzkistischen Gruppe und Frauenpolitik und dann waren wir da aber weg (2) und das Frauenzentrum war dann irgendwie auch -ne völlig neue Form der Organisation, auch gegenüber dem alten Weiberrat.

Als »Vertreterin der trotzkistischen Gruppen und Frauenpolitik« (Z:201) stellt Frau Kielen den Kontakt zum Frankfurter Frauenzentrum her, das Anfang der 1970er Jahre unter anderem von Mitgliedern des Frankfurter Weiberrats gegründet wird. Trotz des Ausstiegs aus dem Frankfurter Weiberrat werden geschlechtsspezifische Themen auch in der trotzkistischen Gruppe fortgesetzt, so dass sie sich in dieser 50 Ende der 1960er Jahre gab es unterschiedliche Studentengruppen, deren politische Ziele und Aktionen sich voneinander unterschieden. Auf der einen Seite gab es die antiautoritären Gruppen, aus deren Kreis die ersten Frauengruppen entstanden. In der Anfangsphase der Frauengruppen ging es insbesondere um die Abschaffung autoritärer Strukturen, die zu einer Benachteiligung von Frauen führten; vgl. Frankfurter Frauen 1975; vgl. Anders 1988. Andererseits gab es auch Studentengruppen, die am Marxismus orientiert ihre Ziele und Aktionen formulierten; vgl. Keller 2000. Die trotzkistischen Gruppen können als ein Flügel der marxistischen Gruppen bezeichnet werden. Im traditionellen Marxismus wird das Proletariat als revolutionäres Subjekt verstanden, über das gesamtgesellschaftliche Veränderungen initiiert werden können. 51 Einige Studentengruppen, darunter auch die trotzkistische Gruppe, verlagerten ihre Arbeit aus der Universität heraus auf die Arbeit in Betrieben. Dabei galt es die Kritik an den unterdrückenden gesellschaftlichen Strukturen an die Arbeiter weiterzugeben und diese aufzuklären. Im Vergleich zu den antiautoritären Studentengruppen, die in Anlehnung an die Theorien der Frankfurter Schule die ›intellektuelle Elite‹ an den Universitäten als das revolutionäre Subjekt verstanden, war dieses in den traditionellen marxistischen Gruppen die Arbeiterschaft.

V. P OLITISIERUNG IN DER

VORUNIVERSITÄREN UND UNIVERSITÄREN

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geschlechtsheterogenen Gruppe mit »Frauenpolitik« (Z:201) auseinandersetzt. Nach ihren anfänglichen Kooperationsbestrebungen als Vertreterin der trotzkistischen Gruppen entscheidet sie sich dann jedoch, im Frauenzentrum aktiv zu werden, in der sie neue und ansprechende Partizipationsmöglichkeiten erlebt.52 Insgesamt wird in diesen Schilderungen von Frau Kielen deutlich, dass sie über die theoretische Auseinandersetzung mit geschlechtspolitischen Themen und eine Infragestellung ihrer persönlichen Lebenssituation, angestoßen durch die Studentenbewegung und ihr angestrebtes politisches Studium, zum Frankfurter Weiberrat findet. Aus der anfänglichen theoretischen Auseinandersetzung mit den Themen Familie und Geschlecht im Rahmen ihres Studiums zieht sie eine Verbindung zur eigenen Lebenssituation. Während Frau Esser, die ebenfalls eine Offenheit für die theoretische Auseinandersetzung mit geschlechtspolitischen Themen im Studium zeigt, im Weiberrat bleibt und hier die Möglichkeit sieht, ihr theoretisches Interesse für geschlechtspolitische Themen in einer geschlechtshomogenen Gruppe weiterzuentwickeln, wendet sich Frau Kielen temporär vom Frankfurter Weiberrat ab, dessen Zielsetzungen und Aktionen sie als zu unpolitisch bewertet. Hierin wird deutlich, dass Geschlecht für sie zwar zu einem Politikum wird, sie jedoch die Zielsetzungen und Aktionen im Weiberrat als nicht angemessen bewertet. Die Kritik am Geschlecht ist für sie mit einer gesamtgesellschaftlichen Kritik aus der Sicht des Marxismus verbunden. Gesamtgesellschaftliche Veränderungen können aber im Sinne des Marxismus nur über die Arbeiterschaft initiiert werden. Dennoch hält Frau Kielen in der geschlechtsheterogenen Gruppe, in der sie sich engagiert, weiterhin eine geschlechtspolitische Perspektive aufrecht und beschäftigt sich hier mit dem Themen Frauen und Politik. Schließlich führt sie ihre Arbeit erneut in geschlechtshomogenen Gruppen fort und engagiert sich im Frankfurter Frauenzentrum, in dem insbesondere gemeinsam mit Frauen für Frauen gearbeitet wird. Ähnlich wie Frau Esser setzt sich auch Frau Kielen gegen Ende des Studiums auf einer wissenschaftlichen Ebene mit dem Thema Geschlecht auseinander, indem sie wie Frau Esser in ihrer Diplomarbeit Fragen zur »geschlechtsspezifische(n) Sozialisation« (Z:304) thematisiert und untersucht. Dies beschreibt sie im folgenden Abschnitt (Z:302-307): Kielen: Aber zum Beispiel (Name) und ich haben zusammen die Diplomarbeit geschrieben und wir haben dann beim Oevermann über geschlechtsspezifische Sozialisation //mmh// ja, also da war die ersten Möglichkeit, dass man die Politik irgendwie auch mit den wissenschaftlichen //mmh// (.) Angeboten koordinieren konnte oder da auch -ne Verbindung ziehen konnte.

52 Vgl. hierzu die Ausführungen zum Frankfurter Weiberrat und dem Frankfurter Frauenzentrum Kap. I.

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Frau Kielen intensiviert ihre theoretische und intellektuelle Auseinandersetzung mit geschlechtspolitisch relevanten Themen schließlich gegen Ende des Studiums. Sie erkennt eine Verbindungsmöglichkeit zwischen formellen Studieninhalten und ihren eigenen Interessen, denen sie innerhalb der aktiven »Politik« (Z:305) als Mitglied im Frankfurter Weiberrat, als Vertreterin der Frauenpolitik in der trotzkistischen Gruppe sowie schließlich als Mitglied des Frauenzentrums nachgeht. Ähnlich wie Frau Esser richtet auch Frau Kielen ihr Studium an der Universität politisch und kritisch aus. Zusammenfassung des Typus ›Offenheit für die theoretische Auseinandersetzung mit geschlechtspolitisch relevanten Themen im Studium‹ Das Typische der beiden Fälle, über die der Typus ›Offenheit für die theoretische Auseinandersetzung mit geschlechtspolitisch relevanten Themen im Studium‹ abstrahiert werden konnte, ist, dass beide Frauen an der Universität in formellen Lehrveranstaltungen oder während eigener Recherchen im Studium geschlechtspolitisch relevanten Themen begegnen. Hierbei zeigen sie eine Offenheit für die theoretische Auseinandersetzung mit diesen Themen, über die sie schließlich eine geschlechtsspezifische politische Perspektive entwickeln, sowie zu Aktivitäten in einer geschlechtshomogenen Gruppe finden. Während dieses in einem Fall auf einer rein theoretischen und reflexiven Ebene geschieht und die Aktivitäten als eine Kontinuität der intellektuellen Auseinandersetzungen gefasst werden können, wird im zweiten Fall der persönliche Bezug zur eigenen Lebenssituation hergestellt und die bisherige Lebensweise infrage gestellt. In diesem Fall findet über die politische Auseinandersetzung mit dem Thema Geschlecht eine Bewusstseinsveränderung über die eigene private Situation statt. Beide Frauen haben die Gemeinsamkeit, dass sie schließlich ihre geschlechtsspezifische Perspektive auf Politik im Rahmen wissenschaftlicher Arbeiten theoretisch intensivieren. Somit ist die Universität für beide Frauen der Ort, an dem sie über die institutionell angebotenen Bildungsmöglichkeiten Geschlecht als ein politisches Thema erfassen. Gleichzeitig haben sie innerhalb der Universität die Möglichkeit, ihre theoretischen Grundlagen in geschlechtshomogenen Gruppen zu diskutieren und diese schließlich in die Praxis zu überführen und umzusetzen.

V. P OLITISIERUNG IN DER

V.2.3.2

VORUNIVERSITÄREN UND UNIVERSITÄREN

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Kontinuität und Erweiterung bisheriger politischer Aktivitäten in geschlechtshomogenen Gruppen

Der Typus ›Kontinuität und Erweiterung bisheriger politischer Aktivitäten in geschlechtshomogenen Gruppen‹ konnte über die Schilderungen von Frau Jahnsen, Frau Früh, Frau Weser und Frau Kasten abstrahiert werden. Drei der Frauen beteiligten sich bereits in der voruniversitären Lebensphase an politischen Aktionen. Frau Jahnsen und Frau Weser zeigen eine Offenheit für wahrgenommene politische Aktivitätsmöglichkeiten im Rahmen jugendspezifischer Organisationen und nehmen an Aktionen ihrer politischen Kommilitoninnen und Kommilitonen teil (siehe Typus ›Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten‹, Kap. V.1.2.3). Frau Früh setzt die intergenerationell erlebte politische Aktivität, die sie im Elternhaus erfährt, im Jugendalter fort und engagiert sich in der Schülerbewegung (siehe Typus ›Kontinuität intergenerationell erlebter politischer Aktivitäten in jugendspezifischen Organisationen‹, Kap. V.1.2.4). Das Studium beginnen diese drei Frauen in der Hochphase der Studentenbewegung zwischen 1967 und 1969. An der Universität setzen sie ihre politischen Aktivitäten im Kontext der studentischen Proteste fort und werden Teil einer geschlechtsheterogenen politischen Studentengruppe (siehe Typus ›Kontinuität voruniversitärer politischer Aktivitäten an der Universität‹, Kap. V.2.1.3). Nur Frau Kasten zeigt in der voruniversitären Lebensphase kein explizit politisches Handeln. Beim Übergang an die Universität, in einer ›studentenbewegten‹ Zeit im Jahr 1968, begegnet sie jedoch den politischen Aktionen ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen mit großer Offenheit, so dass sie unmittelbar mit der Aufnahme eines Studiums aktiv an der Studentenbewegung partizipiert (siehe Typus ›Offenheit für politische Aktionen beim Übergang an die Universität‹, Kap. V.2.1.2). An der Universität nehmen diese Frauen schließlich geschlechtshomogene politische Frauengruppen wahr und entscheiden sich, an den politischen Diskussionen und Aktionen der Frauen teilzunehmen.53 Hierbei sind die Interviewten bestrebt, ihre politischen Interessen und Aktivitäten, die sie bereits im Rahmen der Studentenbewegung in geschlechtsheterogenen Gruppen zeigten, nun innerhalb einer geschlechtshomogenen Gruppe fortzusetzen. Somit geht die Entscheidung, Mitglied einer Frauengruppe zu werden, nicht mit einer Distanzierung von den bisherigen politischen Aktivitäten oder einer expliziten Ablehnung bisheriger geschlechtsheterogener politischer Gruppen einher. Die aufkommende geschlechtspolitische Perspektive auf die diskutierten Themen erleben die Frauen als Möglichkeit, ihre eigenen politischen Interessen und Aktivitäten aus einer geschlechtsspezifischen Per53 Die Partizipation an einer geschlechtshomogenen Gruppe erfolgt nicht immer unmittelbar nach deren Wahrnehmung. Wie noch deutlich werden wird, entscheiden sich Frau Jahnsen und Frau Früh zunächst für die Partizipation an geschlechtsheterogenen Gruppen.

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spektive heraus zu erweitern. Sie werden Teil einer geschlechtshomogenen Gruppe und machen schließlich gemeinsam mit anderen Frauen Geschlecht öffentlich zu einem politischen Thema. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass bei der Rekonstruktion dieses Orientierungsrahmens auf Erzählpassagen zurückgegriffen wird, über die bereits Typen der Typik ›Politisierung im studentischen Alltag im Kontext der Studentenproteste‹ (Kap. V.2.1) und der Typik ›Politisierung im Studium über die Auseinandersetzung mit formellen und informellen Veranstaltungen an der Universität‹ (Kap. V.2.2) herausgearbeitet werden konnten. Dieses war notwendig, um die Kontinuität politischer Partizipation sowie deren Erweiterung um geschlechtspolitische Dimensionen aufzeigen zu können. Über die Schilderungen von Frau Jahnsen kann der Typus ›Kontinuität und Erweiterung bisheriger politischer Aktivitäten in geschlechtshomogenen Gruppen‹ abstrahiert werden. Frau Jahnsen, die bereits in der voruniversitären Lebensphase politisch aktiv wurde und eine Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten zeigte, setzt diese an der Universität fort (siehe Typus ›Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten‹, Kap. V.1.2.3). Sowohl ihr studentischer Alltag als auch das Studium werden politisch ausgerichtet. Im Studium erkennt sie vor allem die Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren an und nutzt informelle studentisch initiierte Arbeitsgruppen, um ihr Studium politisch auszurichten (siehe Typus ›Anerkennung der Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren‹, Kap. V.2.2.2 und Typus ›Anerkennung informeller, studentisch initiierter Arbeitsgruppen zur Erweiterung des Studiums‹, Kap. V.2.2.3). An der Universität in Frankfurt erlebt sie das Aufkommen einer geschlechtsspezifischen Perspektive auf die politischen Themen der Studentenbewegung sowie die Gründung von Frauengruppen. Frau Jahnsen wird jedoch zunächst in keiner geschlechtshomogenen Gruppe aktiv. Vielmehr entscheidet sie sich erst einmal für eine marxistische geschlechtsheterogene Gruppe, für die sie sich gemeinsam mit einer Freundin bewirbt (Z:130ff.) und in die sie aufgenommen wird. Dies beschreibt sie im folgenden Abschnitt (Z:126148)54: Jahnsen: Was habe ich im Studium denn noch alles gemacht, also dann hab ich ja vor allen Dingen meine Auseinandersetzung, ich (.) doch ich war auch mal in einen dieser schrecklichen marxistischen Gruppen (2). Genau da war ich auch mal, aber da gabs -ne Soziologie- (2), das 54 Die Zeilen 126 bis 132 wurden bereits für die Abstrahierung des Typus ›Kontinuität voruniversitärer politischer Aktivitäten an der Universität‹ Kap. V.2.1.3 hinzugezogen; über diesen Abschnitt und die darauffolgenden Zeilen kann zugleich auch dieser Typus abstrahiert werden.

V. P OLITISIERUNG IN DER

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muss ich jetzt, das weiß ich nicht mehr, wie das hieß. Also die einzelnen ähm Fachbereiche haben dann auch so Soziologie äh Marxismuskurse oder ich weiß nicht mehr, das war kein Kurs. Äh das haben wir uns, meine Freundin und ich, uns auch natürlich irgendwann eines Tages rein also beworben. Da musste man sich für bewerben. Wenn ich ihnen das alles heute erzähle, wenn wir da, manchmal sprechen wir auch drüber was das im Grund genommen für eine sexistische Scheiße war, wenn ich das mal sagen darf. Die Jungs haben dann natürlich immer da das Sagen gehabt, das war ja in der Studentenbewegung genau das gleiche, also in Hierarchie waren die Männer immer oben und haben alles bestimmt und ich bin nicht in den Frauen in den Weiberrat damals gegangen, das war ja eine Reaktion auf diese männliche Dominanz, (.) auch deshalb nicht weil ich eigentlich keinen Kontakt zu diesen Frauen so hatte. Äh und bin halt in diesen soziologischen Marxismusdingsda reingegangen und so und ich weiß noch dass sie, von wegen Aufnahmeprüfung, die haben, die Jungs haben sich dann die Frauen angeguckt, die Mädels die da ankamen und dann gesagt na die ist auch gut und die sieht auch gut aus und so //mhm// und so ist das ( ) gelaufen ne. //mhm// Okay ich war ja auch mit einem dieser Macs dann befreundet selbstverständlich, wie sich das dann auch gehört. Ja (.) so aber das Studium hab ich irgendwie ich weiß wir haben das mit viel Aktivitäten und sehr sehr politisiert auch betrieben.

Frau Jahnsen erinnert sich im Rahmen der Schilderungen ihrer politischen Aktivitäten an der Universität, dass sie nicht im Frankfurter Weiberrat aktiv wird. Sie entscheidet sich gemeinsam mit einer Freundin für eine soziologische, marxistische Studentengruppe, die vom Fachbereich Soziologie innerhalb der Universität initiiert wird. Aus heutiger Perspektive verweist sie in diesem Abschnitt auf die Geschlechterungleichheit, die Dominanz ihrer männlichen Kommilitonen sowie die Herabstufung der weiblichen Mitglieder und bewertet die Gründung des Frankfurter Weiberrats als »eine Reaktion auf diese männliche Dominanz« (Z:139). Trotz dieser Überlagerungen aus heutiger Perspektive wird auch deutlich, dass sich Frau Jahnsen um eine Mitgliedschaft in einer marxistischen Gruppe bewirbt und bemüht ist, in diese Gruppe aufgenommen zu werden. Es dokumentiert sich hier, dass Frau Jahnsen als Studentin die Aufnahmebedingungen und die Strukturen innerhalb dieser Gruppe zunächst nicht infrage stellt. Gemeinsam mit ihrer Freundin wird sie Mitglied. Trotz der Wahrnehmung von Frauengruppen konzentriert sich Frau Jahnsen auf die politischen Aktivitäten in ihrer geschlechtsheterogenen Gruppe. Geschlecht ist somit zunächst kein Politikum und eine politische Aktivität in einer geschlechtshomogenen Gruppe nicht notwendig. Nach einigen Semestern unterbricht Frau Jahnsen ihr Studium an der Universität Frankfurt und setzt dieses für einige Zeit in B.-Stadt fort, was neben Frankfurt eines der Zentren der Studentenbewegung war. Auch hier richtet sie ihr Studium und ihren studentischen Alltag politisch aus und setzt somit ihre politische Aktivität fort (Z:192-196):

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Jahnsen: Und das war auch noch mal für mich interessant da hab ich mich allerdings noch mal viel stärker auf Studium wieder konzentriert und privat hatte ich dann relativ schnell Kontakte da zu diesen verschiedenen politischen Gruppierungen über meinen alten Freund, also den aus B-Stadt den alten Freund.

Das Studium rückt für Frau Jahnsen in B.-Stadt stärker in den Vordergrund. Gleichzeitig engagiert sie sich auch weiterhin in »verschiedenen politischen Gruppierungen« (Z:194) und knüpft Kontakte zu politischen Studierenden. Um welche Gruppen es sich hierbei handelt und welche politischen Ziele sie hier verfolgt, bleibt unausgesprochen. Es wird jedoch deutlich, dass sie bestrebt ist, ihre politischen Aktivitäten auch an dieser Universität fortzusetzen. Erst nach ihrer Rückkehr nach Frankfurt, gegen Ende ihres Studiums, wird Frau Jahnsen Teil einer geschlechtshomogenen Gruppe. Dieses beschreibt sie im Folgenden (Z:216-220): Jahnsen: Dann hab ich mein Diplom gemacht ja, ja und dann fing es aber schon an das wir in Bockenheim während meines Diploms hatten wir so eine Frauengruppe aufgebaut, ach Gott dann sind wir immer auf dem auch immer auf diese, da gabs doch am 30. Mai ist das oder am 30. April, Walpurgisnacht //mhm// also so was haben wir dann organisiert.

Gemeinsam mit anderen Frauen organisiert sie Veranstaltungen für Frauen – »am 30. April, Walpurgisnacht //mhm// also so was haben dann organisiert« (Z:219f.).55 Welche Intentionen sie bewegen, sich an der Organisation dieser Veranstaltungen für Frauen zu beteiligen, bleibt hier zunächst unklar. Deutlich wird jedoch, dass sie nach ihrer Rückkehr Kontakt zu Frauen aufnimmt, mit denen sie gemeinsam im Kollektiv handelt. Einige Zeilen weiter beschreibt Frau Jahnsen, wie sie zurück in Frankfurt nicht nur einer Frauengruppe beitritt und Veranstaltungen für Frauen mitorganisiert, sondern dass sie auch in eine Frauenwohngemeinschaft zieht. Wie sie diese Wohngemeinschaft erlebt und welchen geschlechtspolitischen Aktivitäten sie nachgeht, beschreibt sie in den folgenden Passagen (Z:225-237): Jahnsen: Als ich von B-Stadt kam bin ich wieder in eine Frauenwohngemeinschaft gezogen, //ja// da waren wir aber schon eine erwachsene Wohngemeinschaft, wo sie alle schon gearbeitet haben

55 In den 1970er Jahren wurde der 30. April zu einem Demonstrationstag für Frauen. An diesem Tag machten Frauen zum Teil als Hexen verkleidet durch öffentlichen Protest auf die historische und gegenwärtige Unterdrückung von Frauen aufmerksam. Mit der Hexenverkleidung erinnerten sie an die Hexenverbrennung.

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und waren da auch nur noch zu dritt //mhm// und das war in der Markgrafenstraße und wir hießen die Markgräfinnen //mhm// und dann gab es eine weitere Wohngemeinschaft in der Sophienstraße und die hießen die Kalten Sophies. Und die Kalten Sophies und die Markgräfinnen ich weiß nicht wenn sie mit (Name), ob sie da, mit ihr gesprochen haben, also die Markgräfinnen und die Kalten Sophies die haben zusammen auch eine Gruppe gehabt zum Diskutieren und die Kalten Sophies die waren schon viel weiter, wir waren noch so ein bisschen mehr marx- versuchten immer noch das Marxistische da rein zu kriegen und die Kalten Sophies waren schon so stärker auf dieser äh feministischen Anerkennung von Hausarbeit.

Aus B.-Stadt zurück zieht Frau Jahnsen in eine Frauenwohngemeinschaft mit zwei bereits berufstätigen und politisch aktiven Frauen. Die Wohngemeinschaft wird von Frau Jahnsen nicht nur als eine Lebensgemeinschaft verstanden, sondern auch als ein politisches Forum, in dem sie zunächst ihre politischen Diskussionen, orientiert am Marxismus, in einer geschlechtshomogenen Gruppe fortsetzen kann. Gemeinsam mit ihrer Frauengruppe diskutiert sie marxistische Theorien. Gleichzeitig knüpft sie gemeinsam mit ihrer Wohngemeinschaft den Kontakt zu einer anderen Frauenwohngemeinschaft, die ihre politische Arbeit aus einer anderen Perspektive organisiert und mit der sie einen intellektuellen Austausch beginnen. In diesem Zusammenhang begegnet sie einer politischen Ausrichtung, die nicht mehr nur die marxistischen Theorien der Studentenbewegung in den Blick nimmt, sondern bereits weiterführend auf die konkreten Problemlagen der Frauen blickt – »wir waren noch so ein bisschen mehr marx- versuchten immer noch das Marxistische da rein zu kriegen und die Kalten Sophies waren schon so stärker auf diesem feministischen Anerkennung von Hausarbeit« (Z:234f.). In dieser Passage wird deutlich, dass Frau Jahnsen zunächst bestrebt ist, an den marxistischen Ideen und Inhalten festzuhalten. Gleichzeitig engagiert sie sich in einer geschlechtshomogenen Gruppe und blickt somit bereits aus einer geschlechtsspezifischen Perspektive heraus auf politische Themen. Wie im folgenden Abschnitt deutlich wird, beschließt Frau Jahnsen schließlich gemeinsam mit den Frauen aus ihrer Gruppe ein eigenes Frauenzentrum zu gründen, um so ihre bis dahin theoretisch ausgerichtete Arbeit zu erweitern. Dieses beschreibt sie in den beiden folgenden Abschnitten (Z:253-256 und Z:277-290): Jahnsen: Und wir haben diese Gruppe, aus dieser Gruppe ist dann die Idee entstanden noch ein zweites, wir hatten ja in Frankfurt schon ein Frauenzentrum //mhm//, zu gründen. Und das haben wir dann auch gemacht und da war ich halt auch sehr sehr aktiv. Jahnsen: Und neben dieser Tätigkeit, also Tätigkeit, das waren alles riesen Auseinandersetzungen in diesem Frauenzentrum, da haben wir unsere Wochenenden verbracht und Abende

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@verbracht@ //mhm//. Und da hatten wir immer auch schon deswegen, da kam doch schon noch der Marxismus durch, immer die Idee, dass wir die haben immer gesagt, die Hausfrauen mit der Schadetüte. Schade war hier so ein Laden wie (Supermarkt) heute //mhm// und die wollten wir erreichen, die haben wir natürlich nicht erreicht, weil schlussendlich kamen da in diesem Frauenzentrum doch auch eher Gebildete und Akademikerinnen hin. Das Einzige was wir wirklich hingekriegt haben, ist, das finde ich heute auch noch irrsinnig, was wir das gemacht haben, ähm wir haben natürlich Selbsterfahrungsgruppen angeboten, was damals eine der Politformen zur Politisierung äh oder zur (2) Entwicklung vom politischen Bewusstsein //mhm// also Frauenbewusstsein war. Und da haben wir Selbsterfahrungsgruppen angeboten für ältere Frauen.

Frau Jahnsen engagiert sich intensiv in einem Frauenzentrum, das sie gemeinsam mit anderen Frauen eröffnet. Dabei erinnert sie sich, dass sie auch hier ausgerichtet am Marxismus diskutierten und entsprechende Aktionen planten, wie sie es am Beispiel der »Hausfrauen mit der Schadetüte« (Z:281f.) erläutert.56 Ihre Arbeit im Frauenzentrum geht über die in der Frauenwohngemeinschaft geführten Diskussionen hinaus, so dass sie hier nun direkt mit ›betroffenen Frauen‹ – »Hausfrauen« (Z:281) und »ältere(n) Frauen« (Z:290) – zusammenarbeiten. In den Schilderungen von Frau Jahnsen wird insgesamt deutlich, dass sie zunächst bestrebt ist, ihre am Marxismus orientierten Aktivitäten und theoretischen Auseinandersetzungen auch innerhalb der geschlechtshomogenen Gruppe fortzusetzen. Mit ihren Aktivitäten rückt der theoretische Anteil in den Hintergrund und sie entscheidet sie sich für die praktische Arbeit mit Frauen und führt diese in organisierter Form im Frauenzentrum fort. Sie beteiligt sich an Aufklärungskampagnen für Frauen, organisiert »Selbsterfahrungsgruppen« (Z:290) und macht spätestens mit dieser praktischen Arbeit im Frauenzentrum Geschlecht zu einem Politikum. Auch über die Schilderungen von Frau Früh kann der Typus ›Kontinuität und Erweiterung bisheriger politischer Aktivitäten in geschlechtshomogenen Gruppen‹ abstrahiert werden. Frau Früh engagiert sich während der Schüler- und Studenten56 Die Frauen richten sich in ihrer Arbeit hier unter anderem an Hausfrauen, die sie auf ihre Lage als Frau und ihre Unterdrückung in der Gesellschaft aufmerksam machen möchten, während die Arbeit im Frankfurter Weiberrat insbesondere von Studentinnen geprägt ist und theoretische Inhalte im Vordergrund stehen. In den Beschreibungen über den Frankfurter Weiberrat wird darauf hingewiesen, dass auch Nicht-Studentinnen an den Treffen teilnehmen. Diese hätten jedoch oftmals Probleme gehabt, die theoretischen Inhalte nachzuvollziehen, vgl. Frankfurter Frauen 1975. Das Frauenzentrum öffnen seine Türen gezielt für alle Frauen. Mütter, Hausfrauen, Berufstätige und Studentinnen sollten hier gemeinsam verschiedene Themen diskutieren und Probleme aktiv und gemeinsam bewältigen; vgl. Frankfurter Frauen 1975.

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bewegung in verschiedenen geschlechtsheterogenen Arbeits- und Diskussionsgruppen und nimmt an Streiks und Besetzungen teil, sowohl in der voruniversitären Lebensphase als auch in der universitären Lebensphase (siehe Typus ›Kontinuität intergenerationell erlebter politischer Aktivitäten in jugendspezifischen Organisationen‹, Kap. V.1.2.4 und Typus ›Kontinuität voruniversitärer politischer Aktivitäten an der Universität‹, Kap. V.2.1.3). Bereits als Schülerin erlebt sie im Rahmen einer politischen Veranstaltung des SDS in H.-Stadt den Protest einiger SDS-Frauen. Wie sie die Aktion der Frauen wahrnimmt, erläuterte sie im folgenden Abschnitt (Z:8199): Früh: Dann war in H-Stadt die Delegiertenkonferenz des SDS //mmh// (.) und da bin ich hingegangen einfach aus Neugier auf die Zuschauertribüne und (2) dann (.) hab ich da so zugeguckt und zugehört und es war eher so die Stimmung die ich aufgenommen habe //mmh//. Dann plötzlich geht die Tür auf und eine Horde wilder Frauen kommt rein, ergreift das Mikrophon schreit was rein und gleichzeitig wurden überall Flugblätter (.)von den Balustraden runtergeschmissen. Das war ein ganz toller Auftritt, das war das (.) sogenannte berühmte Schwänzeflugblatt //mmh// (.) und (.) ja ich war irgendwie ganz angetan, toll irgendwie und aber ich hatte noch kaum richtig begriffen, was los ist, da waren die Frauen schon wieder draußen. //mmh// Und ich hatte den Eindruck, die hatten Angst (.) wirklich aufzutreten //mmh// also wirklich denen die Meinung zu sagen und sich durchzusetzen, das war mein Eindruck damals. Die Frauen hatten das vorher abgesprochen, das sie nicht länger bleiben aber eben (.) das war eben auch so, dass sie den Eindruck hatten sie können da nicht (.) sozusagen wirklich in eine ernstzunehmende Diskussion eintreten und das habe ich als Angst interpretiert //ja//. Ja das war meine erste Begegnung mit dem SDS-Weiberrat ((lacht)) neunundsechzig war ich dann mit der Schule fertig.

Frau Früh besucht als Schülerin in H.-Stadt eine Delegiertenkonferenz des SDS. Als Motiv nennt sie »Neugier« (Z:82) und das Interesse, die »Stimmung« (Z:84) aufzunehmen. Wie bereits anhand anderer Interviewpassagen herausgearbeitet wurde, wird hier erneut deutlich, dass Frau Früh in ihrer voruniversitären Lebensphase über ihr familiäres Umfeld und ihr Engagement in der Schülerbewegung schon soweit politisiert ist, dass sie nicht nur ein Interesse an den Ereignissen entwickelt hat, sondern auch ein politisches Bewusstsein, was sie dazu bewegt, an einer politischen Veranstaltung der Studierenden teilzunehmen (siehe Typus ›Kontinuität intergenerationell erlebter politischer Interessen und Aktivitäten in jugendspezifischen Organisationen‹, Kap. V.1.2.4). In dieser Veranstaltung erlebt sie die berühmte ›Schwänzeflugblattaktion‹ der Sozialistischen Frauen Frankfurt57, einen 57 Der ›Frankfurter Weiberrat‹ nannte sich in der ersten politischen Phase zunächst ›Sozialistische Frauen Frankfurt‹. Im November 1968 verteilten Frauen auf einer SDS-

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der ersten öffentlichen Proteste der Frankfurter Studentinnen gegen ihre männlichen SDS-Genossen. Mit dieser Aktion erlebt sie neue Züge der Studentenproteste. Denn nun werden die protestierenden männlichen Studenten zum Gegenstand des Protestes gemacht. Überrascht ist sie über die zeitliche Kürze des Protestes und die fehlende Diskussionsaufforderung, was sie aus heutiger Perspektive als »Angst« (Z:97) der protestierenden Frauen interpretiert. Frau Früh hat zwar zu diesem Zeitpunkt bereits ein Verständnis für die politischen Anliegen und Themen der Studentenproteste entwickelt, das sie in die Lage versetzt, die Anliegen der Veranstaltungen nachzuvollziehen, das Thema Geschlecht und die Abschaffung von Ungleichheiten ist jedoch zu diesem Zeitpunkt für sie noch kein Politikum. Daher ist sie in der universitären Lebensphase bestrebt, ihre politischen Aktivitäten, denen sie bereits in der Schülerbewegung in geschlechtsheterogenen Gruppen nachgegangen war, fortzusetzen. Sowohl ihr studentischer Alltag als auch ihr Studium werden politisch ausgerichtet (siehe Typus ›Kontinuität voruniversitärer politischer Aktivitäten an der Universität‹, Kap. V.2.1.3, Typus ›Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen‹, Kap. V.2.2.1 und Typus ›Anerkennung der Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren‹, Kap. V.2.2.2). In welcher Form sie an der Universität politisch aktiv wird und wie sie schließlich zur Aktivität in einer geschlechtshomogenen Gruppe, dem Frankfurter Weiberrat, kommt, schildert sie in der nächsten Erzählpassage (Z:400-420): Früh: Ähm (.) ja und denn gab es ähm äh sozusagen Informationsveranstaltungen im Studierendenhaus (.) das damals natürlich Studentenhaus hieß (.) und ähm (3) wo sozusagen ältere Semester den Anfängern //mmh// Hilfestellung gegeben haben, wie sie sich organisieren können, wenns keinen SDS mehr gibt, wo man eintreten kann (2). Und (.) im Grunde haben die gesagt organisiert euch selbst und es gibt an jedem Fachbereich Gruppen und=so=weiter //mmh// und dadurch entstand auch die politische Gruppe die ich //mmh// genannt hatte (.) später hieß die dann Rote Zelle Jura, so wie an den anderen Fachbereichen dann auch=überall hießen sie dann Rote Zellen (2). Und (.) das war sozusagen mein erstes Standbein. Und dann erfuhr ich dass es einen Weiberrat gibt das war im Januar 1970. //ja// Äh und das dieser Weiberrat sich im Club Voltaire trifft (2) und da jeden Donnerstagabend Plenum ist, wo man hingehen kann. Delegiertenkonferenz in Frankfurt ein Flugblatt mit dem Titel ›Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen‹. Diese Provokation erfolgte, nachdem bereits Frauen des ›Aktionsrats zur Befreiung der Frauen‹, darunter Helke Sander, die die berühmte Rede auf der vorherigen Delegiertenkonferenz hielt, ihren Unmut gegenüber den männlichen Kommilitonen geäußert hatten. Zu dieser Zeit kommt es verstärkt zu Gründungen autonomer Frauengruppen, darunter auch den Weiberräten; vgl. Frankfurter Frauen 1975.

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//mmh// Dann bin ich zu so -nem Plenum gegangen und habe (.) dort gesagt gekriegt ja (.) ihr könnt alle mitmachen, aber ihr müsst Schulungsgruppen bilden. Es gibt hier sozusagen nix wo ihr einfach teilnehmen könnt, sondern //ja// organisiert euch selbst. Was im Grunde eine ganz ähnlich Aufforderung wie auch im Studierendenhaus war //mmh// und (.) dann waren da genug Frauen mit denen ich dann (.) mich selbst organisieren konnte sozusagen.

Zu Beginn ihres Studiums 1969 besucht Frau Früh »Informationsveranstaltungen« (Z:401), in denen sie sich über Möglichkeiten zu politischen Aktivitäten erkundigt. Gleich hier wird deutlich, dass Frau Früh bereits soweit politisiert ist, dass sie an der Universität ihre Aktivitäten fortsetzen und intensivieren möchte. Zur Erinnerung: Frau Früh beginnt 1969 mit ihrem Jurastudium und erhält während des Studiums die Möglichkeit, an einem Reformprojekt innerhalb der Rechtswissenschaft – dem »Wiethölter-Projekt« (Z:243) – teilzunehmen, über das das Studium sozialwissenschaftlich ausgerichtet werden soll. In diesem Zusammenhang wird sie Mitglied einer politischen Gruppe – »Rote Zelle Jura« (Z:408). Diese Gruppe unterstützt das Projekt vehement und lehnt die konventionellen Lehrveranstaltungen offensiv mit Protest ab. Zu diesem Zeitpunkt weiß sie zwar um die Existenz von Frauengruppen, wird jedoch zunächst in einer geschlechtsheterogenen politischen Gruppe aktiv. Geschlecht ist zu diesem Zeitpunkt für sie noch kein Politikum. Schließlich erfährt sie im Kontext ihrer politischen Aktivitäten an der Universität von den konkreten Treffen der Frauen des Frankfurter Weiberrats im Club Voltaire58 – einem der bekanntesten politischen Clubs in Frankfurt am Main – und nimmt an den Veranstaltungen dieser Frauengruppe teil. Der erste Besuch eines Treffens des Frankfurter Weiberrats erfolgt mit der Intention, ihre politischen Aktivitäten nun unter Frauen fortzusetzen. Dieses dokumentiert sich auch im nächsten Erzählabschnitt (Z:453474): Früh: Und der zweite Weiberrat hat sich dann selbst definiert als eigenständige Bewegung. Also als etwas was (.) nicht nur eine vorläufige Gruppe ist, sondern wo eine Frau sich sozusagen auf Dauer (2) engagieren kann (4) ja, wo wir aber trotzdem, das war den meisten Frauen im Weiberrat sehr wichtig (2) ja also ein Teil der linken Bewegung sind, das heißt auch erst mal die linke Theorie //ja// uns erarbeiten müssen und dann sozusagen noch die Frauenemanzipationstheorie draufzusatteln, (.) die es noch gar nicht gab. Mmh (3) und meine Freundin (Name) kam ja aus Amerika und hatte von da sozusagen alle möglichen Texte (.) aus der dortigen feministischen Bewegung (.) //mmh// und hatte -nen bisschen weiteren Horizont und war sich dadurch auch klarer darüber, dass die Frauenbewegung wirklich eine eigene Bewegung ist und //ja// (.) einen eigenen Ansatz hat //ja// und von eigenen Erfahrungen ausgehen muss und 58 Vgl. Ausführungen zu politischen Jugendorganisationen und -clubs im Rahmen der Kontextbeschreibung in Kap. IV.3.2.

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nicht von der sozialistischen Theorie (2). Und wir haben ja unentwegt miteinander gesprochen und äh waren dann sozusagen eine Fraktion (.) //mmh// im Weiberrat, die gesagt haben vergesst also, dieser=Sozialismus ist hier nicht das Entscheidende, sondern wirklich die (.) die Lebenserfahrung als Frau, //ja// und die Lebenssituation als Frau, und das ist etwas (.) nochmal ein anderer Aspekt und wir müssen (.) wir können nicht von der linken Theorie ausgehen, wenn wir etwas erreichen wollen, wir müssen von unseren eigenen Erfahrungen ausgehen, wir müssen Selbsterfahrungsgruppen machen.

Frau Früh erlebt und bewertet den Frankfurt Weiberrat aus heutiger Perspektive als eine politische Gruppe, die anders als andere politische Gruppen keine »vorläufige Gruppe« (Z:455) war und ihren Mitgliedern die Möglichkeit bot, sich dauerhaft und selbstinitiativ zu engagieren. Hier kann auch sie zunächst unter Frauen ihre Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Themen in der Tradition »der linken Theorie« (Z:472) als »Teil der linken Bewegung« (Z:457f.) fortsetzen und diese aus einer geschlechtsspezifischen Perspektive heraus weiterentwickeln. Im Frankfurter Weiberrat gründet sie dann mit einer Freundin, die zuvor in den USA lebte und die Frauenbewegung dort miterlebte, eine politische »Fraktion« (Z:468), die sich von den sozialistischen Grundideen zu lösen beginnt und die die »Lebenserfahrung (…) die Lebenssituation als Frau« (Z:470.) in den Vordergrund ihrer Arbeit im stellt. Das Thema Geschlecht rückt über diese erweiterte politische Perspektive für Frau Früh in den Vordergrund ihres politischen Handelns. Gleichzeitig verweist diese Entwicklung auch auf eine Abwendung von der Studentenbewegung. Sie beteiligt sich praktisch an diversen Aktionen des Frankfurter Weiberrats – organisiert »Schulungsgruppen« (Z:528), nimmt an der »Abtreibungskampagne« (Z:578) teil und initiiert mit anderen Frauen »Selbsterfahrungsgruppen« (Z:625). Insgesamt wird deutlich, dass Frau Früh über ihre politischen Aktivitäten, die sie bereits in der voruniversitären Lebensphase zeigt und die sie an der Universität fortsetzen und intensivieren möchte, schließlich zu Aktivitäten in einer geschlechtshomogenen Gruppe findet. Auch über die Schilderungen von Frau Weser kann dieser Typus abstrahiert werden. Frau Weser zeigt, ähnlich wie Frau Jahnsen und Frau Früh, in der voruniversitären Lebensphase politische Handlungen. Sie engagiert sich im Schülerparlament ihrer Schule und kommt mit Erfahrungen politischer Partizipation an die Universität (siehe Typus ›Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten‹, Kap. V.1.2.3). Hier nimmt sie, ausgerichtet an einer bereits politisierten Bezugsperson, an Versammlungen politischer Gruppen teil, engagiert sich in der »AfE-Basisgruppe« (Z:82) im ›Aktiven Streik‹ und entwickelt über ihre Aktivitäten einen politischen studentischen Alltag (siehe Typus ›Ausrichten an bereits politisierten Bezugspersonen‹, Kap. V.2.1.1). Gleichzeitig setzt sie ihre politischen Aktivitäten und ihr erlerntes politisches Können aus der voruniversitären Lebensphase an der Universität fort

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(Typus ›Kontinuität voruniversitärer politischer Aktivitäten an der Universität‹, Kap. V.2.1.3). Ob sie zu Beginn ihres Studiums bereits geschlechtshomogene Gruppen wahrgenommen hat, geht aus ihren Schilderungen nicht hervor. Wie sie schließlich zur Mitgliedschaft im Frankfurter Weiberrat kommt, beschreibt sie im folgenden Abschnitt (Z:72-81)59: Weser: Und da hab ich über die Abteilung für Erziehungswissenschaften gesprochen und das war halt damals also sensationell, da als Studentin da öffentlich und als Frau eben öffentlich zu sprechen. Ja dann ging das seinen Gang dann kommt der Weiberrat, und meine Freundin (Name) ((lacht)) irgendwie süß, die sagte mir, pass mal auf (Name) ich glaub, der SDS das ist nicht so richtig was für dich, geh doch mal in den Weiberrat. Hab ich auch gemacht, das war der erste Weiberrat, egal=das=kann=man=abkürzen. Das waren unendlich kluge etwas ältere Frauen, //mmh// die ja nun wahnsinnig schlaue Literaturlisten lasen, da hab ich zwar so=n bisschen mitgelesen, aber es überstieg mich doch bei weitem und das war halt unglaublich theoretisch.

Frau Weser nimmt am ›Aktiven Streik‹ der Abteilung für Erziehungswissenschaft (AfE) teil. Sie hält sich hier nicht im Hintergrund auf, sondern wird als Rednerin aktiv, so dass sie ihr erlerntes Können aus der voruniversitären Lebensphase fortsetzen kann. Sie erhält von ihrer bereits politisierten Freundin, die den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) als für sie nicht geeignet bewertet, den Vorschlag, in einer politischen Frauengruppe, dem Frankfurter Weiberrat, aktiv zu werden, welchen sie auch befolgt (siehe Typus ›Ausrichten an bereits politisierten Bezugspersonen‹, Kap. V.2.1.1). Es ist nicht eine thematische Auseinandersetzung mit Geschlecht im Rahmen des Studiums oder die Kritik an den geschlechtsheterogenen politischen Gruppen, die sie zu einer Aktivität in einer geschlechtshomogenen Gruppe bewegen, sondern vielmehr die Möglichkeit, ihre politischen Aktivitäten in einer für sie geeigneten Gruppe fortzusetzen. Im ersten Frankfurter Weiberrat60 hat sie Schwierigkeiten, die thematisierten Inhalte und die theoretischen Überlegungen nachzuvollziehen. Im Vergleich zu ihren bisherigen politischen Aktivitäten, die deutlich durch eine praktische Beteiligung an Streiks und Versammlungen geprägt waren, geht es im ersten Frankfurter Weiberrat um eine theoretische und intellektuelle Auseinandersetzung mit politischen Themen aus einer geschlechtsspezifischen Perspektive heraus. Der erste Weiberrat löst sich bereits Ende 1968 59 Die Zeilen 72 bis 74 wurden bereits für die Abstrahierung des Typus ›Kontinuität voruniversitärer politischer Aktivitäten an der Universität‹ herangezogen und sind gleichzeitig für die Abstrahierung dieses Typus notwendig, da hierüber die Kontinuität politischer Aktivitäten aufgezeigt werden kann. 60 Vgl. zur Struktur und Entwicklung des Frankfurter Weiberrats Kap. I, insbesondere Abschnitt I.4.2.

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auf, so dass Frau Wesers Partizipation an diesem Weiberrat von kurzer Dauer ist. Trotz der Auflösung des ersten Frankfurter Weiberrats hält sie eine geschlechtsspezifische Perspektive auf politische Themen weiterhin aufrecht, so dass sie gemeinsam mit anderen Frauen beschließt, den zweiten Frankfurter Weiberrat zu gründen, aus dem dann schließlich auch das Frankfurter Frauenzentrum hervorgeht. Wie sie zur Gründung des zweiten Frankfurter Weiberrats kommt und welche Aktivitäten sie hier verfolgt, beschreibt Frau Weser im folgenden Abschnitt (Z:85-102): Weser: Und dann kommt der sogenannte zweite Weiberrat und da bin ich dann dabei, das ist dann (Name) genau und das hat die Ihnen wahrscheinlich alles auch schon erzählt, wir saßen dann im Schwimmbad an -nem Baggersee //mhm// und haben uns überlegt was machen wir, also dann (2) ein Frauenzentrum und dann haben wir eben überlegt, wo können wir Räume herkriegen und wie finanzieren wir das. Und dann waren wir zu siebt und haben überlegt wie viel müssen wir, wie viel muss jede zahlen damit wir die Miete zahlen können. Und das haben wir dann geschafft und dann haben wir das gemietet so ging das früher (2). Und also da wurde niemals überlegt, kann man das finanzieren oder wo kriegt man Gelder her, das war ne völlig also mit der Idee wäre nie was passiert, da bin ich sicher //mhm//. Na ja und dann ging das mit dem Zentrum los und dann hat man sich da getroffen (3) ja so sieben bis fünfzehn Frauen, das wurden dann so langsam mehr aus der Uni. Und dann hat man praktisch immer die (.) ja die gesellschaftliche Lage der Frauen besprochen und dann kam aus Amerika (4) gab es dann Selbsterfahrungsgruppen //mmh// consciousness-raising und das haben wir dann übernommen mit den Regeln und das war eigentlich meine wichtigste Erfahrung.

Nach der Auflösung des ersten Frankfurter Weiberrats ist Frau Weser an der Initiierung des zweiten Frankfurter Weiberrats im Jahr 1970 beteiligt. Frau Wesers Alltag ist zu diesem Zeitpunkt bereits soweit politisiert, dass die Grenzen zwischen Freizeitaktivitäten und politischen Aktivitäten verwischen. Ihr Gründungstreffen findet in einem Schwimmbad statt (Z:87f.). Geschlecht ist für Frau Weser längst zum Politikum geworden, so dass sie eine geschlechtsspezifische Perspektive auf Themen entwickelt hat. Gemeinsam mit anderen Frauen organisiert sie schließlich Räumlichkeiten für die Frauentreffen, worauf sie mit ihrer politischen Arbeit im »Zentrum« (Z:96) – dem Frankfurter Frauenzentrum – beginnt.61 In den Schilde61 Frau Wesers Darstellungen enthalten keine genauere zeitliche Differenzierung, so dass der Eindruck entsteht, als ob zwischen der Auflösung des ersten Frankfurter Weiberrats, der Gründung des zweiten Frankfurter Weiberrats und des Frankfurter Frauenzentrums eine kurze zeitliche Distanz liege. Zwischen der Gründung des ersten Weiberrats und der Entstehung des Frauenzentrums liegen jedoch fünf Jahre (1968 und 1973). Zur Entstehung und Auflösung des ersten und zweiten Frankfurter Weiberrats sowie zur Gründung des Frankfurter Frauenzentrums vgl. Kap. I.4.

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rungen von Frau Weser wird ihre Bestrebung, ihre politischen Aktivitäten kontinuierlich fortzusetzen, erkennbar. Im Frankfurter Frauenzentrum kann sie schließlich ihre politischen Aktivitäten um eine stärker praktische Dimension in der Zusammenarbeit mit Frauen erweitern. Ähnlich wie bereits aus den Schilderungen der beiden anderen Frauen herausgearbeitet, beteiligt auch sie sich an Aufklärungskampagnen für Frauen und den »Selbsterfahrungsgruppen« (Z:100) und macht mit ihrer Arbeit im Frauenzentrum Geschlecht zu einem Politikum. In Frau Wesers Schilderungen werden auch Kontinuitäten hinsichtlich der Partizipationsform erkennbar. Sie bringt ihr politisches Können, vor Publikum zu sprechen und Reden zu halten, nicht nur im Rahmen ihrer politischen Aktivitäten während des AfE-Streiks ein, sondern nutzt dieses Können auch, um gemeinsam mit den Weiberratsfrauen Geschlecht in der Öffentlichkeit zu thematisieren. Dies beschreibt sie im folgenden Abschnitt (Z:262-273): Weser: Und (2) ja dann (4) genau dann habe ich währenddessen, also gründet sich, das gründete sich nicht, sondern man schwätzte drüber und machte so eher. Wir hatten dann eine Theatergruppe, eine Frauentheatergruppe, //mhm// die im Weiberrat war und alles was aktuell war, alle neuen Erkenntnisse zum Abtreibungsparagraphen (2) die also, dass es andere unblutigere Methoden der Abtreibung gibt, als hier bekannt, nämlich in Holland //mhm//, die sind ja erst durch die Frauenbewegung veröffentlicht worden. Und all das, was uns so bewegt hat, was so (2) Kern unserer Politik war, das haben wir dann also es=es gab auch Demonstrationen aber, also wir haben Straßentheater gemacht. Und hier in Frankfurt war das so, dass an einem Brunnen da in der Innenstadt, da blieben da wirklich zweihundert Leute stehen.

Gemeinsam mit Frauen des Frankfurter Weiberrats gründet Frau Weser eine »Frauentheatergruppe« (Z:265), in der sie gemeinsam geschlechtsspezifische Fragen – »all das, was uns so bewegt hat« (Z:269f.) – in Form von Polittheater öffentlich thematisieren. Diese Form der politischen Aktivität bewertet Frau Weser als eine weitere Möglichkeit, neben »Demonstrationen« (Z:271), eine breite Öffentlichkeit zu erreichen. Ihre Theaterstücke spielen die Frauen in der Frankfurter Innenstadt und erreichen ein großes Publikum. Die Form der politischen Partizipation, nämlich als Sprecherin aufzutreten, wird von Frau Weser auch in diesem Zusammenhang fortgesetzt und innerhalb der geschlechtshomogenen Gruppen um eine geschlechtsspezifische Perspektive erweitert. Sie nutzt diese Form der Aktivität, um nun auf die Geschlechterproblematik aufmerksam zu machen. Auch über die folgenden Erzählabschnitte aus dem Interview mit Frau Kasten kann der Typus ›Kontinuität und Erweiterung bisheriger politischer Aktivitäten in geschlechtshomogenen Gruppen‹ abstrahiert werden. Im Gegensatz zu den anderen drei Fällen, die diesen Typus konstituieren, zeigt Frau Kasten in ihrer voruniversitä-

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ren Lebensphase keine politischen Handlungen. Beim Übergang an die Universität im Jahr 1968 ist sie jedoch an den politischen Aktivitäten ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen interessiert und wird selbst politisch aktiv (siehe Typus ›Offenheit für politische Aktionen beim Übergang an die Universität‹, Kap. V.2.1.2). An der Universität entwickelt sie einen politischen studentischen Alltag und richtet ihr Studium politisch aus. Sie beteiligt sich an studentisch initiierten Diskussions- und Arbeitsgruppen und lehnt reguläre und als unpolitisch bewertete Lernveranstaltungen temporär ab. Die Veranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren werden dagegen anerkannt und besucht.62 Wie sie schließlich zur Mitgliedschaft im Frankfurter Weiberrat kommt, beschreibt sie in der folgenden Erzählpassage (Z:113-122): Kasten: Wo waren wir jetzt (3). Na=ja=gut, da gibt es halt diese verschiedensten Aktionen. Ich war in beiden, ich war in einer trotzkistischen Gruppe und ich war aber gleichzeitig im Weiberrat. Und bei der trotzkistischen Gruppe, da waren auch Frauen, da hatten wir auch -ne kleine Frauengruppe gebildet und die (.) Männer hatten uns eigentlich beauftragt den Weiberrat zu unter, in die SAG also in die trotzkistische Gruppe //mmh// zu holen und letztendlich lief es darauf hinaus, dass diese ganze Frauengruppe aus der SAG in den Weiberrat ging //okay// oder fast alle. (.) Ja gut dann gab es die verschiedensten Kampagnen, also wie fing das an, ich glaube da haben wir erst mal Flugblätter verteilt vor den Betrieben, gleicher Lohn für gleiche Arbeit.

Bereits zu Beginn des Interviews erzählt Frau Kasten von ihren politischen Aktivitäten an der Universität. Sie tritt zunächst einer trotzkistischen Gruppe, der SAG (Sozialistische Arbeitergemeinschaft) bei, innerhalb derer sie alsbald gemeinsam mit den weiblichen Mitgliedern eine »kleine Frauengruppe« (Z:116) gründet. Frau Kasten entwickelt somit bereits während ihrer Aktivität in einer trotzkistischen, geschlechtsheterogenen Gruppe gemeinsam mit anderen Frauen eine geschlechtsspezifische Perspektive auf politische Themen, wendet sich jedoch nicht von der geschlechtsheterogenen Gruppe ab. Der Kontakt zum Frankfurter Weiberrat wird zunächst mit der Absicht hergestellt, die Frauen des Frankfurter Weiberrats in »die SAG also in die trotzkistische Gruppe //mmh// zu holen« (Z:118). Doch dann beschließt sie, gemeinsam mit anderen Frauen der SAG Frauengruppe, in den Frankfurter Weiberrat zu gehen und setzt hier ihre Aktivitäten, in Abgrenzung zur SAG, fort. Hier beteiligt sie sich zunächst an Aktionen, die in einer sozialistischen und

62 Über die Schilderungen von Frau Kasten konnten alle drei Typen der Typik › Politisierung im Studium über die Auseinandersetzung mit formellen und informellen Veranstaltungen an der Universität‹ abstrahiert werden; siehe Kap. V.2.2.1, Kap. V.2.2.2 und Kap. V.2.3.

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marxistischen Tradition stehen und ist bestrebt ihre politischen Interessen und Aktivitäten ausschließlich unter Frauen fortzusetzen. Einige Zeilen zuvor beschreibt Frau Kasten ihre Gründe, warum sie in den Frankfurter Weiberrat geht. Auch hier wird der Wunsch nach Kontinuität der politischen Aktivitäten erkennbar (Z:77-86): Kasten: Und so und dann wurden schon die ersten Fragen gestellt. Und dann hat sich das aber ich weiß gar nicht warum ich war nicht dabei (.) aufgelöst und in Frankfurt kam eine Neugründung dann (.) zustande. Da bin ich dann hin, weil das im Grunde alle meine Fragen auch tangierte. Das war zwar auf der einen Seite war das, gings um politische Theorie und Arbeitsgruppen, weiß der Kuckuck Marxismus=Leninismus und=so=weiter=und=sofort. Aber auch da schon unter dem Aspekt was hat Engels zur Frauenfrage gesagt und (.) so (.)aber halt auch sehr stark die Frage Frau (2) Frausein in dieser Zeit des Umbruchs.

Ihre Teilnahme begründet Frau Kasten damit, dass hier ihre Fragen, mit denen sie sich bereits beschäftigt hat, diskutiert werden. Frau Kasten, die ihr Studium 1968 beginnt und unmittelbar nach Beginn des Studiums eine Offenheit für politische Aktivitäten zeigt und an politischen Aktionen partizipiert, kann nun in dieser geschlechtshomogenen Gruppe ihr Interesse an der »politische(n) Theorie« und ihre Aktivitäten in »Arbeitsgruppen« (Z:82) fortsetzen. Dies wird auch in der Aufzählung der Themen und Tätigkeiten deutlich, die in einer sozialistischen und marxistischen Tradition stehen. Gleichzeitig kann sie ihre Interessen und Aktivitäten ausbauen, indem sie die politischen Themen aus einer geschlechtsspezifischen Perspektive heraus betrachtet und zudem geschlechtsrelevante Texte – »was hat Engels zur Frauenfrage gesagt« (Z:83) heranzieht. Während zuvor vor allem Interessen und Aktivitäten gezeigt werden, die in einer sozialistischen und marxistischen Tradition stehen, wird der Fokus im Verlauf ihrer Mitgliedschaft im Weiberrat – ähnlich wie in den anderen drei Fällen – auf die Arbeit mit Frauen gelegt. Hierbei richtet sie ihren Blick nicht nur auf andere Frauen, sondern in der Selbsterfahrungsgruppe auch auf die eigene Person. Dieses beschreibt sie im folgenden Abschnitt (Z:92-96): Kasten: Ja also, der Weiberrat war da schon etwas wo man (.) also viele von uns glaub ich (.) meinten ihre Fragestellungen da in irgendeiner Weise (.) thematisieren zu können //ja//. Dann wurde ja auch, haben wir uns ja auch in Arbeitsgruppen aufgeteilt, dann ging es um self-consciousness oder Bewusstseinserweiterung und (.) diese Geschichten.

In den gesamten Schilderungen von Frau Kasten dokumentiert sich, dass sie über die Bestrebung, ihre Interessen und Aktivitäten weiterhin zu verfolgen bzw. fortzusetzen, eine geschlechtsspezifische Perspektive auf ihre politischen Themen entwi-

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ckelt sowie Mitglied in einer geschlechtshomogenen Gruppe wird. Darüber kommt es schließlich zu einer Erweiterung ihrer politischen Interessen und Aktivitäten. Auch sie macht Geschlecht zu einem politischen Thema. Zusammenfassung des Typus ›Kontinuität und Erweiterung bisheriger politischer Aktivitäten in geschlechtshomogenen Gruppen‹ Gemeinsam haben die diesen Typus konstituierenden vier Fälle, dass die Frauen an der Universität bestrebt sind, ihre politischen Interessen an der Schüler- und Studentenbewegung, die bei drei der Frauen bereits zu politischen Handlungen in der voruniversitären Lebensphase geführt hatte, an der Universität weiterzuverfolgen und mit entsprechenden Handlungen zu verknüpfen. In der ersten Hälfte des Studiums werden alle Frauen zunächst in geschlechtsheterogenen studentischen Gruppen aktiv, entwickeln einen politischen Alltag und streben ein politisch ausgerichtetes Studium an. Zwei der Frauen nehmen das Aufkommen geschlechtshomogener Gruppen und in diesem Zusammenhang den Protest der Frauen wahr, schließen sich diesen jedoch nicht unmittelbar an, sondern setzen ihre Aktivitäten zunächst in geschlechtsheterogenen Gruppen fort.63 An der Universität entscheiden sie sich dann schließlich für die Mitgliedschaft in einer Frauengruppe und nehmen an den Versammlungen und Aktionen politisierter Frauen teil. Von allen wird die Mitgliedschaft in einer Frauengruppe als Möglichkeit erlebt, die bisherige politische Aktivität nun aus einer geschlechtsspezifischen Perspektive unter Frauen fortzusetzen. Im Austausch mit anderen politischen Frauen erweitern sie schließlich ihre Arbeit, die bis dahin an den Themen und Vorgehensweisen der Studentenbewegung ausgerichtet war, indem sie sich intensiv mit den Themen Frausein und Ungleichheit auseinandersetzen. Sie stellen einen subjektiven Bezug zur eigenen Person her und beteiligen sich an den Selbsterfahrungsgruppen. In den Frauengruppen machen sie Geschlecht zu einem öffentlichen und politischen Thema. Schließlich gehen alle Frauen zu einer stärker praktisch ausgerichteten Arbeit mit Frauen im Frankfurter Frauenzentrum über.

63 Im einen Fall werden der Protest sowie die Zusammenkunft von Frauen bereits in der voruniversitären Lebensphase im Kontext der Studentenbewegung erlebt, in dem anderen Fall erst an der Universität.

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Distanzierung von einer geschlechtsheterogenen Gruppe

Die beiden Fälle – Frau Schaal und Frau Neuer –, über deren Schilderungen der zweite Typus ›Distanzierung von einer geschlechtsheterogenen Gruppe‹ abstrahiert werden konnte, haben die Gemeinsamkeit, dass beide Frauen zunächst in geschlechtsheterogenen politischen Gruppen an der Universität aktiv waren und einen studentischen politischen Alltag entwickelten. Frau Schaal beginnt ihr Studium bereits 1965, deutlich vor der Hochphase der Studentenbewegung, wird Mitglied im SDS und distanziert sich im Laufe des Studiums im Kontext ihrer Partizipation an der Studentenbewegung von ihrer bereits entwickelten Lebensweise (siehe Typus ›Diskontinuität zur eigenen bereits entwickelten oder angestrebten Lebensweise‹, Kap. V.2.1.4). Frau Neuer dagegen beginnt ihr Studium in der Hochphase der Studentenbewegung und zeigt unmittelbar beim Übergang an die Universität eine Offenheit für politische Aktionen und wird Mitglied in einer RK-Gruppe (siehe Typus ›Offenheit für politische Aktionen beim Übergang an die Universität‹, Kap. V.2.1.2). Im Rahmen ihrer politischen Aktivitäten an der Universität nehmen beide Frauen in ihren jeweiligen politischen Gruppen eine auf das Geschlecht bezogene Ungleichheit wahr, die sie dazu bewegt, in einer geschlechtshomogenen Gruppe aktiv zu werden. Dieser Typus wird zunächst über die Schilderungen von Frau Schaal abstrahiert. Im folgenden Abschnitt beschreibt sie, wie sie zu dem Entschluss kommt, gemeinsam mit anderen Frauen des SDS den Frankfurter Weiberrat64 zu gründen und schildert in diesem Zusammenhang auch ihre politischen Aktivitäten in einer weiteren Frauengruppe (Z:60-78): Schaal: Also (2) dieser Weiberrat eben wurde dann auch gegründet, weil wir Frauen aus dem SDS schon irgendwann mal fanden, dass wir da doch irgendwie ein bisschen zu kurz kamen //ja//, dass die Männer immer nur, also der damalige SDS Vorsitzende hieß (Name) //ja// und (Name) war ein Schwabe und immer wenn es was gab, damals noch diese Vervielfältigungsmaschinen, wo man so drehen musste. Also immer wenn es was zu vervielfältigen gab, sagte (Name), das könne die Mädle machen. Das weiß ich noch ganz genau und also gut ich war dann auch im sogenannten Gruppenvorstand und das wesentliche Amt war eben Flugblätter zu vervielfältigen und derlei nützliche Tätigkeiten zu tun. Na gut und irgendwie fanden wir wohl, (2) dass das doch alles ein bisschen kläglich wäre und dann haben wir uns, genau in dieser meiner Küche, haben wir uns getroffen, ich weiß gar nicht mehr wie, also es waren nicht so furchtbar viele Frauen (.)und haben also diesen Weiberrat gegründet ja (.). Ich bin 64 Hierbei handelt es sich um den ersten Frankfurter Weiberrat, der im Jahr 1968 gegründet wurde.

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aber ich bin da auch irgendwie dann gab es noch -ne andere Gründung das waren eher so (.) da bin ich auch irgendwie reingekommen, also das waren mehr so (3) Verlegerfrauen und irgendwie so, also schon etwas ältere Frauen die verheiratet waren und auch Kinder hatten //mmh// und die sich aber auch irgendwie also (.) sozusagen gegen alles Mögliche wandten.

Wie bereits an anderer Stelle herausgearbeitet, knüpft Frau Schaal mit der Aufnahme ihres Soziologiestudiums Kontakt zu politischen Kommilitoninnen und Kommilitonen, die im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) aktiv sind. Sie schließt sich ihnen an und wird selbst Mitglied im SDS (Z:26ff.). Während ihrer Aktivitäten im SDS nimmt sie eine Ungleichheit hinsichtlich der Aufgabenverteilung wahr. In diesem Zusammenhang empört sie sich, aus heutiger Perspektive, vor allem über den Vorsitzenden des SDS, der diese ungleiche Aufgabenverteilung zwischen den Geschlechtern förderte. Wie jedoch in diesem Abschnitt deutlich wird, distanziert sie sich nicht unmittelbar von den an sie herangetragenen Aufgaben. Gemeinsam mit anderen Frauen arbeitet Frau Schaal an den Vervielfältigungsmaschinen und ist hier sogar im »Gruppenvorstand« (Z:68). Doch schließlich werden die wahrgenommenen Geschlechterungleichheiten von ihr und einigen anderen Frauen – »es waren nicht so furchtbar viele Frauen« (Z:72) – als Problem identifiziert und der SDS infrage gestellt. Frau Schaal distanziert sich somit aufgrund der Wahrnehmung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten von der geschlechtsheterogenen Gruppe und ist bestrebt, die politischen Themen in einer eigenen Frauengruppe aus einer geschlechtsspezifischen Perspektive heraus weiterzuverfolgen. Somit wird mit der Wahrnehmung einer ungleichen geschlechtsspezifischen Arbeitsverteilung, die sie ablehnt, und der Entscheidung, ihre politischen Aktivitäten in einer geschlechtshomogenen Gruppe fortzusetzen, Geschlecht für Frau Schaal zu einem Politikum. Gleichzeitig wird sie in einer weiteren Frauengruppe aktiv, die nicht ausschließlich studentisch initiiert ist. Hier knüpft sie Kontakt zu Frauen, die in einer ähnlichen Lebenssituation sind, nämlich verheiratet und mit Kindern. Wie im Folgenden jedoch deutlich wird, ist ihr Engagement im Frankfurter Weiberrat und bei den »Verlegerfrauen« (Z:76) zeitlich begrenzt. Warum sie diesen nach einiger Zeit verlässt, beschreibt sie im folgenden Abschnitt (Z:79-90): Schaal: Und dann kam ich in so=n Zwiespalt, also ich war ja für die Studentinnen, die sahen dann in mir da, also ich hatte -n Kind, das war gar nicht üblich, ich war also verheiratet, //mmh// da passte ich eigentlich auch nicht so richtig und bei den, bei den Gattinnen da, die Verlegergattinnen oder was, //ja// da war ich Studentin, da passte ich auch nicht so richtig hin. Also insofern hab ich in beiden Gruppen nicht so richtig und außerdem ging mir eigentlich dann auch das in dem Weiberrat ziemlich bald doch auf die Nerven, weil (3) die es etablierte sich dann doch so auch so etwas ja wie so=ne Art Führungs- also so Oberfrauen //ja// und so etwas also (.) es war ja eigentlich dann nicht anders als bei den Männern und dann warfen sie sich

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gegenseitig vor, dass sie sich da irgendwelche Männer ausgespannt hatten und so. Also das war eigentlich (.)ich fand es dann after all unbefriedigend.

Frau Schaal engagiert sich in zwei Frauengruppen, deren Mitglieder sich in unterschiedlichen Lebenssituationen befinden. Während sich im ersten Frankfurter Weiberrat hauptsächlich Studentinnen zusammenfinden, treffen sich bei den Verlegerfrauen verheiratete Frauen mit Kindern. Frau Schaal engagiert sich zunächst in beiden Gruppen, befindet sich jedoch alsbald in einem »Zwiespalt« (Z:79), da sie sich keiner der beiden Gruppen ganz zugehörig fühlt. Gleichzeitig erkennt sie im Frankfurter Weiberrat ähnliche hierarchische Strukturen und Streitigkeiten, wie sie sie bereits im SDS wahrgenommen hatte. Insgesamt wird deutlich, dass Frau Schaal über die Ablehnung autoritärer Strukturen und die Wahrnehmung von Ungleichheiten hinsichtlich der eingeräumten Teilhabemöglichkeiten innerhalb des SDS zu politischen Aktivitäten in einer geschlechtshomogenen Gruppe kommt. Mit der Gründung einer Frauengruppe sieht sie zunächst die Möglichkeit der Überwindung von Ungleichheiten, die ihr jedoch auch in den Frauengruppen begegnen. Die Bestrebungen nach politischem Engagement in autoritätsfreien Strukturen führen sie schließlich wieder zurück zu einer politischen geschlechtsheterogenen Gruppe, die in der Tradition des SDS agierte (Z:112-115): Schaal: Und ich hab mich dann, mit einer ja mit so=ner Art Abweichlergruppe irgendwie also hab ich mich da eher zusammengetan, die waren zwar auch SDS aber (.) die hatten eben im Sinn also diese Art von Autoritätsstrukturen da ((räuspern)) zumindest aufzubrechen.

Insgesamt wird deutlich, dass Frau Schaal eine geschlechtsspezifische Perspektive auf Themen entwickelt, weil sie geschlechtsspezifische Ungleichheiten in den politischen Partizipationsmöglichkeiten des SDS wahrnimmt. In einer Frauengruppe zu agieren, erfolgt in ihrem Fall somit über eine Kritik an den Strukturen, den Organisationsformen sowie an einzelnen Mitgliedern des SDS und geht mit einer Distanzierung zu ihnen einher. Doch auch bei den Frauen im Frankfurter Weiberrat erlebt sie Ungleichheiten, die sie dazu bewegen, ihn zu verlassen und in einer Gruppe aktiv zu werden, die gegen autoritäre Strukturen vorgeht. Auch Frau Neuer beschreibt im Interview die Wahrnehmung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten, die sie dazu bewegen, ihre politischen Aktivitäten in einer geschlechtshomogenen Gruppe fortzusetzen. Frau Neuer beginnt ihr Studium 1967, somit in der Hochphase der Studentenproteste, und ist zu dieser Zeit bereits Ende zwanzig, verwitwet und hat ein Kind. Unmittelbar nach dem Beginn des Studiums zeigt sie eine Offenheit für politische Aktivitäten und wird Teil einer RK-Gruppe (Revolutionärer Kampf). In diesem Zusammenhang entwickelt sie einen politischen

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studentischen Alltag (siehe Typus ›Offenheit für politische Aktionen beim Übergang an die Universität‹, Kap. V.2.1.2). Auch das Studium wird politisch ausgerichtet, so dass sie im Kontext der Studentenproteste an der Universität reguläre Lehrveranstaltungen temporär und partiell ablehnt und stattdessen alternative Veranstaltungen besucht (siehe Typus ›Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen‹, Kap. V.2.2.1). Wie sie schließlich zur politischen Aktivität in einer geschlechtshomogenen Gruppe kommt, beschreibt sie im folgenden Abschnitt (Z:112-119): Neuer: Ja und dann haben wir aber irgendwie gemerkt, dass doch auch diese studentische (.) Gruppe (.) oder politische Gruppe, wie immer sie man nennt, doch auch sehr männerdominiert waren und irgendwann haben wir uns dann als Frauen zusammengetan und haben gesagt, wir machen unsere eigene Geschichte //hmm//. Also das kann man auch so an äußeren Sachen festmachen (.) ähm (2) also die sexuelle Befreiung und so, die gingen halt schon auch auf Kosten von den Frauen. Das haben wir schon ziemlich schnell mitgekriegt.

Frau Neuer nimmt gemeinsam mit anderen Frauen innerhalb ihrer politischen studentischen Gruppe, in der sie agiert, eine geschlechtsspezifische Ungleichheit war und führt diese auf die Dominanz der Männer innerhalb der Gruppe zurück. Die Zusammenkunft in einer geschlechtshomogenen Gruppe wird als Möglichkeit gesehen, unabhängig von den männlichen Kommilitonen politisch aktiv zu werden.65 Gleichzeitig führt sie auch ihre politischen Aktivitäten in geschlechtsheterogenen Gruppen fort. Denn erst 1974 entscheidet sie sich gegen eine Fortsetzung ihrer politischen Aktivität in autonomen Gruppen, als ihr die Radikalität der Aktionen bewusst wird und sie zeitgleich verdächtigt wird, an illegalen Aktionen der RAF teilgenommen zu haben. Durch diese Erfahrung beeinflusst, entscheidet sie, ihre politische Aktivität ausschließlich auf die Arbeit mit Frauen auszurichten. Diese beschreibt sie im folgenden Abschnitt (Z:146-158): Neuer: Und dann haben die mich stundenlang befragt und was, was ist diese Adresse und das, es war alles total harmloses Zeug, hatte alles mit der RAF gar nichts zu tun //hmm//. (.) Aber das war halt dann im Moment, das war dann der Moment ja, wo ich gedacht hab, jetzt wird es doch ein bisschen und dann hab ich mich sehr konzentriert auf meine, also auf meine Frauenarbeit. Wir haben dann die Frauenzentren gegründet (.) wir haben von dem einen Frauenzentrum aus 65 Frau Neuer benennt hier keinen Gruppennamen. Aufgrund ihrer weiteren Schilderungen, in der sie über ihre politischen Aktivitäten in der RK-Gruppe berichtet, kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei dieser ersten Frauengruppe um eine RK-Frauengruppe handelt.

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gab es Busse nach ähm (.) nach Holland, weil die Abtreibung war ja damals noch, die Abtreibungsgesetzgebung war ja damals noch nicht durch. Da hab ich auch nicht mit so großer Freude gemacht, aber ich fand es schon auch notwendig, dass es gemacht wurde. (2) Und ja wir haben dann unsere Gruppen gehabt unser consciousness raising.

In den Erzählabschnitten von Frau Neuer wird einerseits deutlich, dass sie zwar Teil einer geschlechtshomogenen Gruppe wird und durch diese Gruppe eine geschlechtsspezifische Perspektive auf politische Themen entwickelt. Im Verlauf ihres Studiums kehrt Frau Neuer jedoch zur Aktivität in linkspolitischen Gruppen zurück. Wie hier deutlich wird, nimmt sie an verschiedenen Aktionen teil, die nicht explizit geschlechtspolitisch sind. Was sie genau im Einzelnen macht, wird hier nicht erläutert. Mit der Radikalisierung ihrer politischen Gruppe und der Fahndungsaktion »Winterreise« (Z:137) im Jahr 1974 distanziert sich Frau Neuer von dieser und entscheidet, sich auf die Arbeit mit Frauen zu konzentrieren. Hierbei wird deutlich, dass Frau Neuer bereits eine politische geschlechtsspezifische Perspektive entwickelt hat, die zwar dann nicht durchgehend verfolgt wird und nicht im Mittelpunkt ihrer politischen Aktivitäten steht, zu der sie jedoch wieder zurückkehrt. Frau Neuer beteiligt sich schließlich an der Organisation eines Frankfurter Frauenzentrums und engagiert sich hier in diversen politischen Aktionen der Frauen, wie den Abtreibungsfahrten nach Holland oder der Gründung von Selbsterfahrungsgruppen. Insgesamt dokumentiert sich in den Schilderungen von Frau Neuer die Entwicklung einer geschlechtsspezifischen Perspektive, die zwischenzeitlich in den Hintergrund tritt und schließlich über die Distanzierung zur ihrer politischen Gruppe, in der sie aktiv war, erneut in den Vordergrund rückt. Hier macht Frau Neuer schließlich gemeinsam mit anderen Frauen Geschlecht gezielt zu einem Politikum. Zusammenfassung des Typus ›Distanzierung von einer geschlechtsheterogenen Gruppe‹ Im Vergleich zu den Fällen, über die die anderen Typen dieser Typik abstrahiert werden konnten, treten diese beiden Frauen im Anschluss an eine Mitgliedschaft in einer geschlechtsheterogenen Gruppe, von der sie sich distanzieren, in eine geschlechtshomogene Gruppe ein. Innerhalb der geschlechtsheterogenen Gruppe nehmen sie eine geschlechtsspezifische Ungleichheit in den Partizipationsmöglichkeiten wahr, die sie gemeinsam mit anderen Frauen zur Gründung oder zum Eintritt in geschlechtshomogene Gruppen veranlasst. Sie erkennen einen Widerspruch zwischen den politischen Forderungen und Theorien und dem diskriminierenden Verhalten ihrer männlichen Kommilitonen, die im Raum der Universität agieren. Beide Frauen stellen die Struktur und Organisationsform sowie die von den politischen geschlechtsheterogenen Gruppen formulierten informellen Regeln und die entsprechenden Handlungen infrage. Die Infragestellung der bisherigen theoreti-

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schen und praktischen Arbeit dieser Gruppen geht mit einer Sensibilisierung für Geschlecht als politisches Thema einher. Sie suchen und initiieren alternative Möglichkeiten zur politischen Partizipation. In beiden Fällen wird eine geschlechtsspezifische Perspektive entwickelt, die Aktivität in einer geschlechtshomogenen Gruppe jedoch nicht dauerhaft aufrechterhalten. Während sich eine Frau von der selbst mitinitiierten Frauengruppe explizit abwendet, tritt die andere Frau, die im Laufe des Studiums erneut an geschlechtsheterogenen Gruppen partizipiert, zu einem späteren Zeitpunkt wieder einer geschlechtshomogenen Gruppe bei. V.2.3.4

Suche nach Gemeinschaftlichkeit

In den Schilderungen von zwei Fällen wurde ein weiterer fallübergreifender Orientierungsrahmen deutlich. Über diesen kann der Typus ›Suche nach Gemeinschaftlichkeit‹ abstrahiert werden. Gemeinsam haben beide Frauen, dass sie sich bereits in der voruniversitären Lebensphase auf die Suche nach Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit begeben. Diese Suche erfolgt im Anschluss an Ausgrenzungserfahrungen im Kindes- und Jugendalter, die sie in der eigenen Herkunftsfamilie und im schulischen Kontext erfahren.66 Bereits in dieser Lebensphase begeben sich die Frauen in Organisationen (Schule) und Kollektiven (Peer-group, Klassengemeinschaft) auf die Suche nach Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit (siehe Typus ›Suche nach Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit in Organisationen und Kollektiven nach Ausgrenzungserfahrungen‹, Kap. V.1.2.1). An der Universität richten sich beide Frauen schließlich an bereits bekannten und politisierten Bezugspersonen aus. Über diese kommen sie zur Aktivität in geschlechtsheterogenen politischen Gruppen und nehmen an politischen Veranstaltungen teil (siehe Typus ›Ausrichtung an bereits politisierten Bezugspersonen‹, Kap. V.2.1.1). Frau Behrens und Frau Clement erleben innerhalb ihrer geschlechtshomogenen Gruppen eine Gemeinschaftlichkeit, die sie nicht nur rückblickend als positiv bewerten, sondern die sowohl die Aufrechterhaltung der Mitgliedschaft als auch die Distanzierung zur politischen Frauengruppe beeinflusst. Während im Fall von Frau Clement bereits bei der Entscheidung, Teil einer geschlechtshomogenen politischen Gruppe zu werden, die Suche nach Gemeinschaftlichkeit erkennbar wird, kann dies im Fall von Frau Behrens erst während der Mitgliedschaft in einer geschlechtshomogenen Gruppe aufgezeigt werden. Es ist der Wunsch nach Gemeinschaft, Anerkennung und Solidarität, der beide Frauen an ihre jeweiligen geschlechtshomogenen Gruppen bindet bzw. eine erlebte fehlende Gemeinschaftlichkeit, die sie zu einem Wechsel der politischen Frauengruppen bewegt. Eigene geschlechtsspezifische Kritikpunkte oder politische Inhalte werden, wie noch deutlich werden wird, 66 Geschlecht wird von beiden Frauen an dieser Stelle nicht als Diskriminierungsmerkmal erfahren.

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von beiden Frauen nicht formuliert. Innerhalb der politischen Frauengruppen entwickeln auch sie schließlich eine geschlechtsspezifische Perspektive und machen mit ihren Aktivitäten Geschlecht zu einem Politikum. Das Besondere an Frau Clement ist, dass sie im Vergleich zu den anderen interviewten Frauen bereits in der voruniversitären Lebensphase zu einer geschlechtshomogenen Gruppe findet und erst im Jahr 1972 mit dem Studium an der Universität Frankfurt beginnt. Bei allen anderen Frauen – somit auch bei Frau Behrens – beginnen die ersten geschlechtspolitischen Handlungen und die Mitgliedschaft in einer geschlechtshomogenen Gruppe in der universitären Lebensphase.67 Dieser Typus ›Suche nach Gemeinschaftlichkeit‹ wird zunächst anhand der Schilderungen von Frau Clement abstrahiert. Sie macht ihre ersten politischen Erfahrungen in der voruniversitären Lebensphase im Kontext der Schüler- und Studentenproteste.68 Diesen begegnet Frau Clement mit Offenheit. Sie knüpft Kontakt zu aktiven Studierenden und nimmt an politischen Aktivitäten sowie studentisch organisierten Veranstaltungen politischer Gruppen teil (siehe Typus ›Offenheit für politische Aktivitätsmöglichkeiten‹, Kap. V.1.2.3). Dadurch kommt schließlich auch der Kontakt zu den Mitgliedern des Frankfurter Weiberrats zustande, wie sie im Folgenden beschreibt (Z:65-80): Clement: Und dann (2) äh dort gingen meine Freundin mit ihrem Freund dann auch ab und zu hin und die hatten da einen festen Freundeskreis auch alles überwiegend junge Männer aus dem SDS und ja da ging ich dann mal mit und las irgendwann an dem am Eingang war so ein Flugblatt so -ne Ankündigung praktisch, dass oder ich hab es in der Zeitung gelesen, das weiß ich jetzt nicht mehr so genau, aber dass sich die Frauen aus der Studentenbewegung treffen, um (.) um den Weiberrat zu gründen //mhh//. Ich weiß nicht, ob die den Namen vorher schon hatten oder ob der erst an dem Termin der konstituierenden Sitzung gefunden wurde, also aber ja und das fand ich ganz spannend, weil ich mich doch sehr ähm unsicher fühlte auch unter diesen ganzen studierten Männern und die Sprache verstand ich immer noch nicht so fließend ja @(.)@, geschweige denn, dass ich sie hätte sprechen können und von den politischen 67 Vgl. dazu die Ausführungen zum Sample dieser Untersuchung in Kap. I.4. Wie auch im Folgenden deutlich werden wird, haben die Universität als Raum für politische Auseinandersetzungen sowie politische Studierende eine wichtige Bedeutung für die geschlechtsspezifische Politisierung. Frau Clement nimmt auch als nicht-ordentliches Mitglied der Universität an (politischen) Veranstaltungen der Studierenden teil. Erst nachdem sie das Abitur nachgeholt hat, beginnt auch sie ein Studium an der Universität Frankfurt. 68 Frau Clement, die die Schule auf Drängen der Mutter vor dem Abitur abbricht, ist zu diesem Zeitpunkt berufstätig und arbeitet für eine Fluggesellschaft.

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Geschehnissen auch nur, ich hatte schon viel begriffen ja, über meine //mhh// regelmäßige Zeitungslektüre, aber eben doch vieles auch nicht, ne. Und ähm und dachte ja unter Frauen würde ich mich sicherer fühlen.

Frau Clement wird von ihren bereits politisch aktiven Freunden zu einer Veranstaltung des SDS mitgenommen. Im Rahmen dieses Veranstaltungsbesuches erfährt Frau Clement zufällig von einer Versammlungsankündigung einer geschlechtshomogenen Gruppe, die sich zu einer »konstituierenden Sitzung« (Z:73) treffen möchte. Frau Clement entscheidet, an der Veranstaltung dieser Frauen teilzunehmen, und glaubt, sich »unter Frauen (…) sicherer fühlen« (Z:79f.) zu können als in der Versammlung des SDS, die sie »unsicher« (Z:75) stimmt. Wie hier deutlich wird, sind es einerseits die fehlenden theoretischen und politischen Kenntnisse als NichtStudentin, andererseits die Zugehörigkeit zum anderen Geschlecht – unter »diesen ganzen studierten Männern« (Z:75) – die ihr das Gefühl vermitteln, nicht dazuzugehören. Geschlecht erlebt sie als ein Merkmal, das zwar zu einem Gemeinschaftsgefühl beitragen, aber genauso auch Ausschluss bedeutet kann. Sie entscheidet sich, an dem Treffen der Frauen teilzunehmen, mit dem Interesse, Teil der Frauengemeinschaft zu werden. Frau Clement besucht die ersten Sitzungen des zweiten Frankfurter Weiberrats und beschreibt im nächsten Abschnitt des Interviews die Atmosphäre und ihre ersten Eindrücke (Z:85-97): Clement: Und die (.) und das weiß ich noch, ich saß am, am Rand waren so Bänkchen, in der Mitte ein Tisch und da saß, waren aber schon alle Stühle drum=rum besetzt und da saß dann die (Name) und die (Name) und die (2) äh eine Dritte und ach na ja die alle. Und dann noch ein paar mehr und am Rand waren so Bänke und da setzte ich mich dann hin und fand es ganz toll, dass niemand von mir jetzt Notiz nahm, ja //mhh//. Also meine (.) eher Fasching diese @Bauernkostümierung@ ja (3) war da irgendwie kein Thema. Das fand ich total toll und ich blieb und auch wenn ich wirklich kaum was verstand ja //mhh// worum es da ging, aber es war klar diese Frauen wollten sich treffen, um gemeinsam politisch zu arbeiten //mhh//. Um Schulungsgruppen zu bilden, das war glaube ich schon bei der konstituierenden Sitzung klar oder in einer der nächsten Sitzungen, die dann anberaumt wurden //mhh// also regelmäßige Treffen, Plenartreffen und (2) die dann im Kolb- wie hieß es denn Kolbe nee also nicht ja Kolbheim, im Kolbheim stattfand //mhh//. Und ähm ja also und da bin ich dabei geblieben //mhh// und zwar jahrelang und (.) hab an den Schulungsgruppe mit der (Name) zusammen und wo wir Marx und Engels gelesen haben und (.) später dann auch (2) irgendwie äh Lohn für Hausarbeit //mhh// oder die Ursprünge der Familie und all diese Lektüre. Und (.) da hab ich unglaublich viel gelernt und auch diese Solidarität empfunden unter Frauen, die damals wirklich auch wenigstens von mir nicht wahrgenommen Konkurrenz, wo -ne Konkurrenz war, war wirklich war -ne gute Atmosphäre.

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Frau Clement nimmt in dieser Veranstaltung zunächst eine Beobachterposition ein und setzt sich an den Rand des Raumes, wo sie den anderen Frauen trotz ihrer, wie sie sagt »Fasching (…) @Bauerkostümierung@« (Z:90f.), nicht auffällt.69 Wie hier deutlich wird, ist sie auch in dieser Gruppe zunächst unsicher und hat die Befürchtung, sich erneut nicht zugehörig zu fühlen. Dass sie nicht auffällt und das Geschehen zunächst beobachten kann, bewertet sie rückblickend als positiv – »fand es ganz toll, dass niemand von mir Notiz nahm« (Z:89f.). Obwohl sie auch hier die Inhalte und Diskussionspunkte nicht ganz nachvollziehen kann, entscheidet sie sich, an den weiteren Veranstaltungen der Frauen teilzunehmen. Wie sich hier dokumentiert, sind es somit nicht die für sie unverständlichen politischen Inhalte und Kritiken der Frauen, die sie veranlassen, auch weiterhin an den Treffen teilzunehmen. Es ist vielmehr die Möglichkeit, gemeinsam mit diesen Frauen politisch aktiv und somit Teil der politischen Gemeinschaft zu werden – »es war klar diese Frauen wollten sich treffen, um gemeinsam politisch zu arbeiten« (Z:93f.). Nach ihrer ersten zögerlichen Beteiligung an den Veranstaltungen dieser Frauen folgt schließlich eine jahrelange Partizipation am Frankfurter Weiberrat und schließlich eine Fortsetzung der Aktivitäten im Frankfurter Frauenzentrum. Hier kann sie einerseits das fehlende politische und vor allem theoretische Wissen aufarbeiten – »da habe ich unglaublich viel gelernt« (Z:103) – was sie zuvor als persönliches Defizit wahrgenommen hatte. Andererseits erlebt sie zudem eine starke »Solidarität (…) unter Frauen« (Z:104) sowie Akzeptanz, die ihr entgegengebracht wird. Nicht einzelne politische Aktionen oder Diskussionen stehen im Vordergrund ihrer Beschreibung, sondern vielmehr die gute Atmosphäre innerhalb der Gruppe sowie die neuen Möglichkeiten, die sich ihr durch die Mitgliedschaft in der geschlechtshomogenen Gruppe eröffnen. Angeregt von den studierenden Frauen entscheidet sich Frau Clement, das Abitur an einem Abendgymnasium nachzuholen. Für die Vorbereitung der Prüfung erhält sie von ihren bereits studierenden Freunden Unterstützung und erlebt somit ihren studentischen Freundeskreis nicht nur als politische, sondern auch als solidarische Gemeinschaft (Z:123-127): Clement: Dann hab ich gedacht, ich will versuchen das Abitur nachzumachen und (.) hab mich dann da auch angemeldet und hab das extern gemacht und auch Hilfe bekommen aus den studentischen Kreisen, //mhh// in denen ich da war. Äh die schon studiert waren oder fertig waren, ob Lehramt oder was auch immer //mhh// ne, da konnte ich dann (.) Hilfe bekommen für dieses Begabtenabitur. 69 Einige Zeilen zuvor (Z:80-84) beschreibt Frau Clement, dass sie nach ihrer Arbeitsschicht zu dem ersten Treffen des Frankfurter Weiberrats geht und dabei ihre Arbeitsuniform – »hohe(n) Schuhe(n) (…) Perlenkettchen (…) und Haarteil« (Z:83) – trägt. Frau Clement arbeitet für eine Fluggesellschaft.

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Frau Clement, die die Schule auf Drängen der Mutter beendet, beschließt das Abitur nachzuholen, um ein Studium aufnehmen zu können. Im ersten Versuch besteht Frau Clement nicht, wiederholt die Prüfung aber und schafft das Abitur schließlich doch. Im Jahr 1972, deutlich nach der Hochphase der Studentenbewegung, nimmt Frau Clement ein Studium an der Universität Frankfurt auf. Ihre Aktivität im Frankfurter Weiberrat setzt Frau Clement weiter fort und beschließt kurz vor Beginn des Studiums, mit anderen politischen Frauen in eine Wohngemeinschaft zu ziehen. Wie sie zur ersten und schließlich zur zweiten Wohngemeinschaft kommt und wie sie diese erlebt, beschreibt sie im folgenden Abschnitt (Z:142-160): Clement: So (.) und parallel dazu oder war=s schon nachdem ich das erste Mal verpatzt hatte, bin ich dann in -ne Frauenwohngemeinschaft gezogen und mit zwei Frauen aus dem Weiberrat //mhh// und das war aber nicht so lang eineinhalb Jahre nur und (2) weiß gar nicht, warum das nicht mehr weiter, ich weiß es nicht mehr, ach ja doch, weil die eine Frau wollte ihre psychologische Praxis in der Wohnung aufmachen und dann //mhh// sind wir zwei raus und zwar bin ich dann 1972 hier reingezogen. //mhh// Im Juli 1972 mit drei Frauen aus dem Weiberrat //mhh//. Und (.)nee, das stimmt gar nicht, eine war in der DKP //mhh// @(.)@. Und, aber das macht nichts, wir hatten tolle Diskussionen, es war eine tolle Zeit, wir haben fast vier Jahre hier zusammengewohnt in dieser Wohnung. Jedes Zimmer hatte eine andere Farbe. Eins war lila, eins war grün //mhh//, eins war und die Türen auch jede anders //mhh// und äh es war einfach -ne wunderbare Zeit, es war also für mich vor allen Dingen war es eigentlich -ne wie so eine zweite Sozialisation ja //mhh// (.). Und wenn ich meine erste ja, weil zu Hause hatte ich so nicht in dem Sinne Erziehung, weil ich ja nie jemand gesehen hab //mhh//. Ich war immer allein //mhh// und oder in Institutionen untergebracht und (.) weil meine Großmutter früh gestorben war, ja und (.) dann der Weiberrat (.) ja das ging die ganze Zeit so weiter und dann bis (2) bis irgendwie der Entschluss gefasst wurde, Frauenzentren zu gründen.

Frau Clement wird nicht nur aktiv im Frankfurter Weiberrat, sondern beschließt zudem, mit einigen Frauen des Frankfurter Weiberrats in eine Wohngemeinschaft zu ziehen und stellt damit eine Verbindung zwischen ihren politischen Aktivitäten im Weiberrat und ihrem privaten Lebensbereich her. Innerhalb der Wohngemeinschaft kann sie sowohl ihre politischen »Diskussionen« (Z:151) fortführen als auch die Gemeinschaftlichkeit im privaten Bereich erleben und auf diesen übertragen. Als sich die erste Wohngemeinschaft auflöst, zieht sie mit drei anderen politischen Frauen aus dem Frankfurter Weiberrat und der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) erneut in eine Wohngemeinschaft. Diese Lebensphase bewertet Frau Clement aus heutiger Perspektive als positiv und »ne wunderbare Zeit« (Z:154). Vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung in der voruniversitären Lebensphase, in der sie Ausgrenzungserfahrungen machte und nach Anerkennung und Gemeinschaftlich-

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keit suchte, erlebt sie nun die Frauenwohngemeinschaft als Ort der Gemeinschaft. Geschlecht wird von Frau Clement als ein Merkmal erfahren, dass soziale Zusammengehörigkeit und Verbundenheit schafft. Auch über die Schilderungen von Frau Behrens kann der Typus ›Suche nach Gemeinschaftlichkeit‹ abstrahiert werden. Im Vergleich zu Frau Clement, die bereits in der voruniversitären Lebensphase Mitglied einer geschlechtshomogenen Gruppe wird und eine geschlechtsspezifische Perspektive entwickelt, wird Frau Behrens erst in der universitären Lebensphase und im Anschluss an ihre Partizipation an einer geschlechtsheterogenen Gruppe Mitglied einer geschlechtshomogenen Gruppe. Frau Behrens, die ihr Jurastudium im Herbstsemester 67/68 in B2-Stadt beginnt, richtet sich zunächst an einer bereits politisierten Bezugsperson aus und kommt darüber zur Mitgliedschaft in einer politischen Studentengruppe. Als Teil dieser Gruppe engagiert sie sich an diversen politischen Aktivitäten und entscheidet sich schließlich gemeinsam mit anderen Studierenden an die Universität Frankfurt zu wechseln (siehe Typus ›Ausrichten an bereits politisierten Bezugspersonen‹, Kap. V.2.2.1). Erst hier wird sie Mitglied einer politischen geschlechtshomogenen Gruppe. Wie sie den Wechsel nach Frankfurt im Jahr 1969 erlebt und wie der Kontakt zu den politischen Frauen des ersten und des zweiten Frankfurter Weiberrats zustande kommt, beschreibt sie in den folgenden Abschnitten (Z:132-142 und Z:146-149): Behrens: Zum Sommersemester 1969 bin ich nach Frankfurt gegangen //mmh// (3). Und (2) hatte am Anfang ziemliche Schwierigkeiten da wieder in das Studium reinzukommen, weil, das war natürlich anders aufgebaut. Aber es gab hier Bestrebungen so eine Art Reformstudiengang zu entwerfen. Und in diesem zu diesem Kreis bin ich dann zugestoßen und das fand ich natürlich schon auch sehr interessant. Das war sozusagen das eine und das andere war eben auch zu sehen, inwieweit ich Anschluss an den Weiberrat kriege. Also das war so, dass hatte man gehört und man hatte gehört //mmh// das gibt es in Frankfurt (.) und ähm (2) der erste Versuch ging dann schief, kann=ich=sagen, da war ich glaube ich auf einer, auf einem Treffen und die sind dann aber auseinander gegangen.

Nach dem Wechsel hat Frau Behrens an der Universität Frankfurt zwei Anliegen, die sie verfolgt. Erstens möchte sie ihr Studium in Frankfurt ordentlich fortsetzen. Hier stößt sie jedoch aufgrund der unterschiedlichen Studienstrukturen auf Probleme. Gleichzeitig erlebt sie hier »eine Art Reformstudiengang«, dessen Vertretern und Anhängern sie sich anschließt.70 Frau Behrens zweites Anliegen ist es, »An70 Frau Behrens spricht vom ›Wiethölter Projekt‹, einem Reformprojekt, das unter anderem von Professor Wiethölter initiiert wird, um das Studium der Rechtswissenschaft sozialwissenschaftlicher und politischer auszurichten, siehe auch die Kontextbeschreibung Ka-

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schluss an den Weiberrat« (Z:139) zu bekommen. Wie genau sie zu dieser Entscheidung kommt, bleibt hier unklar. Ebenso wird auch nicht deutlich, wie sie von der Existenz des Frankfurter Weiberrats erfährt. So sagt sie an dieser Stelle, »das hatte man gehört und man hatte gehört //mmh// das gibt es in Frankfurt« (Z:139f.). In einem späteren Erzählabschnitt erwähnt sie, dass sie sich beim AStA über den Frankfurter Weiberrat informierte – »und ich das also kaum das ich in Frankfurt angekommen bin dann einfach zum AStA marschiert bin und gefragt ich wüsste gerne wo die sich treffen (…) dann hat mir irgendjemand eine Adresse gegeben« (Z:689ff.). Wie deutlich wird, kommt die Entscheidung, an dem Treffen des Weiberrats teilzunehmen, gezielt zustande. Frau Behrens besucht eine Sitzung des ersten Frankfurter Weiberrats, erlebt hier jedoch nur Streitigkeiten und schließlich die Auflösung.71 Einige Zeit später nimmt sie an der konstituierenden Sitzung des Zweiten Frankfurter Weiberrats teil, wie sie im Folgenden kurz erzählt (Z:146149): Behrens: Wie ich dann in den zweiten reingekommen bin, weiß ich nicht mehr über wen, aber auf jeden Fall, weiß ich dass es ein Treffen gegeben hat, wo also das Wiederauferstehen @(.)@ organisiert wurde und da war ich auch dabei. Ich glaube das war im ersten Stock beim Club Voltaire.

In diesem kurzen Abschnitt wird deutlich, dass ihre Bestrebung, in einer geschlechtshomogenen Gruppe aktiv zu werden, auch nach der Auflösung des ersten Weiberrats bestehen bleibt, so dass sie unmittelbar nach dem Gründungsaufruf des Zweiten Weiberrats an der Gründungsitzung teilnimmt. Dieses führt Frau Behrens zunächst nicht weiter fort, sondern wechselt das Thema und beschreibt ihre Schwierigkeiten mit dem Studium und ihre Überlegungen, das Studium zu wechseln (Z:149-165). Im Nachfrageteil des Interviews wird sie gebeten, etwas über ihre Zeit im Weiberrat zu erzählen und erinnert sich an Folgendes (Z:712-718): Behrens: Woran erinnere ich mich an die ersten Selbsterfahrungsgruppen //mhh// und die fand ich toll das weiß ich noch, weil das glaube ich für mich auch so -ne Erfahrung war, dass ich nicht alleine bin, sondern dass es ganz vielen so geht wie mir, ja, die nicht unbedingt jetzt aus pitel IV dieser Arbeit. Wie bereits herausgearbeitet, erkennt sie diese Reformbestrebungen an und richtet ihr eigenes Studium politisch aus. Dabei werden Seminare, die als unpolitisch bewertet werden, abgelehnt (siehe Typus ›Partielle und temporäre Ablehnung regulärer Lehrveranstaltungen und Teilnahme an alternativen Veranstaltungen‹, Kap. V.2.2.1). 71 Vgl. hierzu die Ausführungen zum Frankfurter Weiberrat in Kap. I, insbesondere I.4.2.

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waren, zu heiraten oder äh weiß ich den Traum von Haus, Mann, zwei Kinder oder irgendwie so=was im Kopf hatten. Und ich kann mich, da kann ich mich wirklich gut dran erinnern, an diese Erleichterung, //mhh// die mich da erfasst hat.

Frau Behrens hebt an dieser Stelle vor allem die von ihr positiv erlebten Selbsterfahrungsgruppen hervor, an denen sie gemeinsam mit den Frauen des Weiberrats teilnimmt. Hier macht sie die Erfahrung von Gemeinschaftlichkeit. Denn sie begegnet Frauen, die eine ähnliche Vorstellung von der Gestaltung ihres Lebens, in Abgrenzung von einer konventionellen Lebensweise, haben. Dass sie über den Austausch mit den politisch aktiven Frauen eine Erleichterung erlebt, verdeutlicht, dass Frau Behrens hinsichtlich ihrer Lebensweise, in der sie ein politisches Studium anstrebt und einen politischen Alltag entwickelt hat, verunsichert ist. Frau Behrens bleibt jedoch nicht im Frankfurter Weiberrat. Im Rahmen der Ausdifferenzierung verschiedener politischer Lager im Frankfurter Weiberrat und der dadurch entstandenen Streitigkeiten entwickelt sie eine Unzufriedenheit. Wie im Folgenden deutlich wird, kann sie sich keinem der beiden Lager, die sie beschreibt, zuordnen und distanziert sich vom Frankfurter Weiberrat (Z:166-169): Behrens: Also ich bin dann in diesem zweiten Weiberrat gewesen und befand mich eigentlich, sagen=wir=mal so=ne Entwicklung in zwei verschiedene Richtungen, eine eher sozialistische und eine eher frauenbewegte, eher in der Mitte.

Frau Behrens hat Schwierigkeiten, sich den im Frankfurter Weiberrat entstandenen politischen Lagern zu zuordnen und sieht sich aus heutiger Perspektive »eher in der Mitte« (Z:169), ohne diese Positionierung weiter zu erläutern. Auch im Nachfrageteil des Interviews wiederholt sie dies und beschreibt die Uneinigkeit der einzelnen Mitgliedergruppen des Frankfurter Weiberrats – »aber ich kann mich auch erinnern, an diese (…) vielen Plenar, die mit viel Diskussion darum vergingen, was man überhaupt macht« (Z:718ff.). Die Gemeinschaftlichkeit, die Frau Behrens innerhalb der Selbsterfahrungsgruppen auf der persönlichen Ebene erlebt, kommt auf der organisatorischen Ebene nicht zustande, so dass sich Frau Behrens vom Frankfurter Weiberrat distanziert. Wie im folgenden Abschnitt jedoch deutlich wird, ist die Abkehr vom Frankfurter Weiberrat nicht mit einer Distanzierung von der Partizipation an einer geschlechtshomogenen Gruppe verbunden. Ihre entwickelte geschlechtsspezifische Perspektive auf politische Themen möchte sie aufrechterhalten. Frau Behrens entscheidet sich, einer RK-Frauengruppe beizutreten (Z:813820):

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Behrens: Na ja das war die Freundin wie gesagt eine derjenigen mit den ich da irgendwie dieses Examen vorbereitet habe //mhm// und die hat wir haben dann anschließend an das Examen Urlaub gemacht zusammen und die hat da also wie die RK Frauengruppe agiert und was sie macht und weiterhin sehr lobenden oder glühenden Farben geschildert und das fand ich alles sehr viel interessanter und die Gemeinschaft, da hat sie eben gesagt, dann komm doch zu uns //mhm// und dann bin ich eben nicht in den Weiberrat gegangen, sondern bin in die RK Frauengruppe gegangen.

Auch bei dieser Entscheidung nimmt sie den Rat einer Freundin an (siehe Typus ›Ausrichten an bereits politisierten Bezugspersonen‹, Kap. V.2.1.1). Wie deutlich wird, sind es nicht die eigenen (geschlechts-)politischen Kritikpunkte, die den Wechsel veranlassen, sondern vielmehr der Wunsch, in einer intakten und solidarischen Frauengruppe aktiv zu werden. Da ihre Freundin die RK-Gruppe in »lobenden und glühenden Farben« (Z:817) beschreibt, entschließt sie sich, den Frankfurter Weiberrat zu verlassen, um erneut Teil einer »Gemeinschaft« (Z:818) zu werden. Insgesamt dokumentiert sich in den Schilderungen von Frau Behrens, dass sie innerhalb der geschlechtshomogenen Gruppen – zunächst im Frankfurter Weiberrat, dann schließlich in der RK-Frauengruppe – auf der Suche nach Gemeinschaftlichkeit ist. Im Frankfurter Weiberrat erlebt sie diese im Rahmen der Selbsterfahrungsgruppen. Als es jedoch zu Diskrepanzen hinsichtlich der politischen Vorgehensweise im Frankfurter Weiberrat kommt und die Solidarität und die Gemeinschaftlichkeit zwischen den Frauen sich auflösen, distanziert sich Frau Behrens vom Frankfurter Weiberrat. In der RK-Frauengruppe erhofft sie sich, ihre politischen Aktivitäten in einer Gemeinschaft fortsetzen zu können. Frau Behrens bleibt einige Zeit in der RK-Frauengruppe aktiv, zieht mit »zwei Frauen des Weiberrats« (Z:836) in eine Wohngemeinschaft, womit sie, ähnlich wie auch Frau Clement, die erlebte Gemeinschaftlichkeit in der Gruppe auf den privaten Bereich übertragen kann. Gleichzeitig wird hier deutlich, dass der Kontakt zum Weiberrat und seinen Mitgliedern nicht ganz unterbrochen wird. Schließlich wechselt sie erneut die politische Gruppe und wird ab 1973 in der Frankfurter »Nordendgruppe« (Z:838) aktiv, in der sie sich auf die soziale Arbeit konzentriert. Zusammenfassung des Typus ›Suche nach Gemeinschaftlichkeit‹ Das Gemeinsame der beiden Fälle, über die der Typus ›Suche nach Gemeinschaftlichkeit‹ abstrahiert werden konnte, ist, dass sich beide Frauen auf der Suche nach Gemeinschaftlichkeit befinden. Diese Suche beginnt bereits in der voruniversitären Lebensphase und wird an der Universität fortgesetzt, so dass hier Relationen zwischen Typen verschiedener Typiken (Erfahrungszusammenhänge) erkennbar werden. Die Aktivität in einer geschlechtshomogenen Gruppe, in der sie eine geschlechtsspezifische Perspektive entwickeln und in der sie Geschlecht gemeinsam

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mit anderen Frauen zu einem Politikum machen, sehen beide Frauen als Möglichkeit, Teil eines solidarischen Kollektivs, einer Gemeinschaft zu werden. Die Universität erfahren sie als den Raum, innerhalb dessen sich Kollektive gründen und in der mit gleichen Interessen und Zielsetzungen agiert wird. Geschlecht wird von den Frauen dieses Typus als ein Merkmal erlebt, das Verbindungen schafft und Gemeinsinn fördert. So wird über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe eine ›Gruppenidentität‹ aufgebaut. In einem Fall wird die Suche nach Gemeinschaftlichkeit bereits mit der Entscheidung, Mitglied einer Frauengruppe zu werden, erkennbar. In dem anderen Fall dokumentiert sich diese Suche erst in der Phase, in der die Frau bereits Mitglied einer Gruppe ist. Innerhalb der geschlechtshomogenen Gruppen entwickeln beiden Frauen eine geschlechtsspezifische Perspektive und nehmen gemeinsam mit den politischen Frauen an Aktivitäten teil, über die sie Geschlecht zu einem Politikum machen.

VI. Die Universität als Ort der Politisierung? Ein Beitrag zur historischen Sozialisationsforschung

In der vorliegenden Untersuchung wurde nach der politischen Sozialisation von Frauen gefragt, die in den 1960er Jahren an der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt studierten und Mitglied im Frankfurter Weiberrat und/oder im Frankfurter Frauenzentrum waren. Alle interviewten Frauen zeigen im engeren oder weiteren Kontext der Studentenbewegung politische Handlungen (explizite Mitgliedschaften in studentischen Organisationen, Zustimmung zu vielen studentischen Positionen oder gelegentliche aktive oder auch nur passive Partizipation an studentischen Protesten) und werden Mitglied in einer geschlechtshomogenen politischen Gruppe. Mit ihren politischen Aktivitäten sowohl innerhalb als auch außerhalb der Universität gestalten sie die Studentenbewegung und die Entstehung der Neuen Frauenbewegung mit. Für alle interviewten Frauen wird Geschlecht zu einem Politikum. Folgende zwei Fragen wurden dieser Arbeit zugrunde gelegt: Erstens, wie kommt es biographisch dazu, dass sich einige Studentinnen an der Universität im Rahmen der Studentenproteste in Frauengruppen – dem Frankfurter Weiberrat und dem Frankfurter Frauenzentrum – zusammenschlossen, politischen Aktivitäten nachgingen und mit ihren Aktivitäten das Thema Geschlecht und die Geschlechterverhältnisse zu einem Politikum machten? Zweitens und daran anschließend, welche Bedeutung hat die Universität als Ort politischer Sozialisation für diese Frauen? Im Sinne einer sozial- und kulturgeschichtlich integrierten Sozialisationsforschung wurden erstens über zehn biographisch-narrative Interviews1 mit ehemaligen Studentinnen, die Mitglied im Frankfurter Weiberrat und/oder im Frankfurter Frauenzentrum waren, Handlungsorientierungen herausgearbeitet, die das politische und geschlechtspolitische Handeln dieser Frauen strukturierten. Die Handlungsori-

1

Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. II.1.

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entierungen können als Ergebnisse von Politisierungsprozessen2 gefasst werden, die sich in Interaktion mit den Sozialisationsinstanzen Familie, Schule, Peer-group, Jugendorganisationen und Universität vollziehen. Mithilfe der Dokumentarischen Methode3 wurde eine mehrdimensionale Typenbildung abstrahiert (Kap. V). Da die Interviewten jedoch nur über die für sie zentralen Aspekte ihrer Lebenswelt Auskunft gaben und somit nur Teile der jeweiligen Lebenswelt über die Interviews erfassbar waren, wurde ein weiterer Schritt vollzogen. Über eine Kontextbeschreibung/-analyse wurde zweitens die Lebenswelt dieser Frauen mit Rückgriff auf Ergebnisse zeithistorischer Forschung und unter Berücksichtigung des Erzählten aus den Interviews beschrieben. Eine Beschreibung der Sozialisationsinstanzen Familie, Peer-group, Jugendorganisation, Schule und Universität in ihren historischen Entwicklungen gibt jenseits subjektiver Erinnerungen Auskunft darüber, unter welchen Rahmenbedingungen Erfahrungen gemacht und Orientierungen entwickelt werden (Kap. IV). Dabei sollte im Sinne einer historischen Sozialisationsforschung deutlich werden, wie im Zusammenhang der Sozialisationsinstanzen und der in ihnen stattfindenden Interaktionen die Handlungsorientierungen entstehen und verändert werden. Als ein Ergebnis der Untersuchung lassen sich aus der Auswertung der Interviews zunächst folgende vier Thesen für die Bedeutung der Universität als politischen Sozialisationsort und für den generellen Verlauf der Politisierung der befragten Frauen formulieren: 1. Neben der Universität als Ort politischer Sozialisation sind auch das primäre Sozialisationsmilieu der Familie, aber auch die Schule, die Aktivitäten in und Verbindungen zu einer Peer-group oder Einzelpersonen sowie die Mitgliedschaft in Jugendorganisationen wichtige Einflussfaktoren für die politische Sozialisation der Frauen. Hier machen sie politisch-relevante und explizitpolitische Erfahrungen, die sie in die Universität hineintragen. Diese voruniversitären Erfahrungen beeinflussen die politische Partizipation an der Universität im Kontext der Studentenbewegung und schließlich die Entwicklung einer geschlechtsspezifischen Perspektive, über die sie Geschlecht zu einem Politikum machen. 2. Die Universität wird im Kontext der Studentenbewegung von den Frauen als ein politischer Ort verstanden, an dem sie politisch handeln, also kollektiv bindende 2

Zur Erinnerung: Unter Politisierungsprozessen werden alle Prozesse verstanden, in denen sowohl politisch-relevante als auch explizit-politische Einstellungen vermittelt und angeeignet werden, die zu einer Sensibilisierung für (geschlechts-)politische Themen und schließlich zu politischen Handlungen führen; vgl. dazu ausführlich Kap. III.2.

3

Vgl. dazu Kap. II.2.

VI. DIE U NIVERSITÄT

ALS

ORT

DER

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Entscheidungen herbeiführen und beeinflussen können.4 Die Frauen nehmen sowohl an den institutionell eingeräumten politischen Partizipationsmöglichkeiten der Universität als auch an den nicht-institutionellen Partizipationsmöglichkeiten im Kontext der Studentenproteste teil und dies sowohl in geschlechtsheterogenen Gruppen als auch in geschlechtshomogenen Gruppen. 3. An der Universität werden im Kontext der Studentenbewegung Teile der formellen Regeln sowie der institutionellen Erwartungen, die an die Studentinnen herangetragen werden, von diesen infrage gestellt und abgelehnt. Sie formulieren im studentischen Kollektiv, zunächst in geschlechtsheterogenen Gruppen, eigene Ziele und stellen informelle Regeln auf. Diese Gruppen, ihre Ziele und Regeln werden wiederum von einigen Studentinnen infrage gestellt und in diesem Rahmen eigene geschlechtshomogene Gruppen gegründet. 4. Erst nach einer allgemeinen Politisierung und Partizipation an geschlechtsheterogenen Gruppen entwickeln die Frauen eine geschlechtsspezifische Perspektive auf politische Themen und werden Mitglied in einer geschlechtshomogenen Gruppe. Die von den Frauen gemachten Sozialisationserfahrungen, sowohl vor dem Beginn des Studiums, im Austausch mit den Sozialisationsinstanzen Familie, Peer-group, Schule und Jugendorganisationen, als auch im studentischen Alltag und in Auseinandersetzung mit Lehrveranstaltungen an der Universität – beispielsweise in Vorlesungen, Arbeits- und Diskussionsgruppen, studentischen Wohngemeinschaften und geschlechtsheterogenen politischen Gruppen –, beeinflussen die Entwicklung einer geschlechtsspezifischen Perspektive auf politische Themen und die Mitgliedschaft in einer geschlechtshomogenen Gruppe. Damit erweitert und differenziert die vorliegende qualitative Studie Forschungsthesen zur Neuen Frauenbewegung und zur Studentenbewegung, da hier zehn Fälle bezüglich der Genese von Handlungsorientierungen betrachtet bzw. über die Fälle Typen abstrahiert werden konnten. Annahmen der Forschung über die Bedeutung von Sozialisationsinstanzen konnten durch die gewählte Methode in dieser qualitativen Studie überprüft werden und weiterführende Forschungsergebnisse und -thesen zur historischen Sozialisation in den 1960er Jahren im Kontext von Studenten- und Frauenbewegung sowie der Universitätsgeschichte entwickelt werden. Im Folgenden werden die Ergebnisse der mehrdimensionalen Typenbildung (Kap. V) vorgestellt und an entsprechenden Stellen mit den Ergebnissen der Kontextbeschreibung und -analyse (Kap. IV) verknüpft. Darüber wird es möglich, Aussagen über die Bedeutung der Universität als Sozialisationsinstanz und Sozialisationsraum für die untersuchten Frauen zu machen. Die Gesamtergebnisse werden 4

Unter politischen Handlungen werden all die Handlungen gefasst, die kollektiv bindende Entscheidungen gesamt-gesellschaftlich oder in bestimmten Institutionen herbeiführen oder beeinflussen sollen; vgl. Luhmann 2000, S.253ff. sowie Kap. III.2.

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schließlich vor dem Hintergrund der bestehenden Forschung zur Sozialisation in den 1950er und 1960er Jahren, zur Universitätsgeschichte und zur Neuen Frauenbewegung gewichtet und in einige neue Forschungsfragen überführt. Abschließend wird der Gewinn der Dokumentarischen Methode für die zeithistorische Bildungsgeschichte diskutiert.

VI.1 V ORUNIVERSITÄRE P OLITISIERUNG UND K ONTINUITÄTEN VON P OLITISIERUNG IN DER UNIVERSITÄREN L EBENSPHASE In der Auswertung der Interviews wurde der Blick einerseits auf die voruniversitäre Lebensphase gerichtet und andererseits auf die universitäre Lebensphase der Interviewten. So ließ sich sowohl herausarbeiten, welche (geschlechts-)politischrelevanten und explizit-(geschlechts-)politischen Orientierungen in der voruniversitären Lebensphase gezeigt wurden (Kap. V.1), als auch welche (geschlechts-)politisch-relevanten und explizit-(geschlechts-)politischen Orientierungen erst an der Universität und im Austausch mit den hier versammelten Akteurinnen und Akteuren gezeigt und gegebenenfalls verändert wurden (Kap. V.2). Die Auswertung der Interviews und die Typenbildung ergaben, dass die Sozialisationsinstanzen Familie, Peer-group, Schule und Jugendorganisationen eine wichtige Bedeutung für die Politisierung der Interviewten hatten. Diese boten für die Entwicklung von politisch-relevanten und explizit-politischen Orientierungen entsprechende Rahmenbedingungen. Für die Interviewten stellten einerseits die Familien5 und andererseits nicht verwandte intergenerationelle Bezugspersonen (beispielsweise Lehrer oder Nachbarn), eine gleichaltrige Einzelperson oder eine Gruppe Gleichaltriger, denen sie in jugendspezifischen Organisationen (beispielsweise Schule oder Jugendvereine) begegneten, wichtige Kommunikationskreise dar, innerhalb derer sie mit politisch-relevanten sowie explizit-politischen Themen konfrontiert wurden. Bei der Frage nach Politisierungsprozessen in der voruniversitären Lebensphase waren zwei Formen von Handlungsorientierungen erkennbar: Erstens solche Handlungsorientierungen, die explizit-politisch waren, d. h. in einem explizit politischen Zusammenhang gezeigt wurden und das politische Handeln der Frauen strukturierten. Zweitens ließen sich Politisierungsprozesse auch über solche handlungsleitenden Orientierungen aufzeigen, die zunächst politisch-relevant waren, d. h. auf den

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Für die Interviewten war es nicht immer die eigene Herkunftsfamilie, innerhalb derer Politisierungsprozesse stattfanden, sondern sie vollzogen sich auch in anderen Familien, wie beispielsweise in der Familie einer Freundin.

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ersten Blick nicht in einem Zusammenhang mit explizit-politischen Themen gezeigt wurden und nicht unmittelbar zu politischen Handlungen führten. Diese trugen jedoch zur Sensibilisierung für politisch-relevante Themen bei, so dass sie das politische Verhalten und Handlungen der Frauen zu einem späteren Zeitpunkt und im Austausch mit anderen Sozialisationsinstanzen beeinflussten. In Abschnitt V.1.1 ›Politisierung über intergenerationelle Beziehungen‹ (Typik 1) und Abschnitt V.1.2 ›Politisierung durch jugendspezifische Aktivitäten in Organisationen und Kollektive‹ (Typik 2) ließen sich solche explizit-politischen und politisch-relevanten Orientierungen für die voruniversitäre Lebensphase herausarbeiten. Diese beiden Formen von Politisierung, die in der Forschung ›latente‹ und ›manifeste‹ politische Sozialisation genannt werden6, sollen im Folgenden an den herausgearbeiteten Typen der beiden vorgenannten Typiken unter Berücksichtigung von Relationen zwischen diesen beiden Typiken vorgestellt werden. Dabei lassen sich zudem Relationen zwischen der Politisierung in der voruniversitären Lebensphase und der universitären Lebensphase aufzeigen, auf die an den entsprechenden Stellen hingewiesen wird. Manifeste politische Sozialisation Im Rahmen der manifesten politischen Sozialisation werden in der Interaktion mit den Eltern/Erziehungsberechtigten/Bezugspersonen politische Einstellungen im familiären Alltag7 an die Interviewten gezielt oder ungeplant vermittelt und von den Interviewten anerkannt oder infrage gestellt (Abschnitt V.1.1.1 und Abschnitt V.1.1.2, Typik 1)8. Die Interviewten werden alle zwischen 1940 und 1950 geboren und verbringen ihre Kindheit und Teile ihrer Jugend in der noch von den Auswirkungen des Kriegs gekennzeichneten Nachkriegszeit. Der familiäre Alltag in der Nachkriegszeit gestaltet sich zunächst unter anderem aufgrund der massiven Zerstörungen der Wohnhäuser, der Arbeitslosigkeit und der vermissten Familienangehörigen als äußert schwierig. Diese Typen erfahren im familiären Alltag die explizitpolitische Auseinandersetzung ihrer Eltern und anderer Bezugspersonen mit den für 6

Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen bei Claußen/Wasmund 1982, Claußen/Geißler 1996 und Hopf/Hopf 1997; siehe dazu auch die Ausführung im theoretischen Teil dieser Arbeit in Kap. III.2.

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Wie in den Interviews deutlich wurde, handelt es nicht immer um die eigene Herkunftsfamilie.

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Bei der Abstrahierung der Typen ›Politisierung über intergenerationelle Kontinuität‹ und ›Politisierung über intergenerationelle Distanzierung‹ konnten jeweils für jeden Typus drei Untertypen herausgearbeitet werden, so unter anderem die beiden hier relevanten Untertypen ›Anerkennung der erlebten explizit-politischen Einstellung der Bezugspersonen‹ und ›Distanzierung zu den erlebten explizit-politischen Einstellungen der Bezugspersonen‹.

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die Nachkriegszeit und die 1950er und 1960er Jahre typischen Themen wie beispielsweise Flüchtlingspolitik, Entnazifizierung, Alliiertenpolitik, Enteignungen von Eigenheim und Ländereien, Ost-West-Konflikte, später soziale Ungleichheit und Proteste gegen innen- und außenpolitische Konfliktfelder wie Vietnamkrieg oder Notstandsgesetze.9 Die Frauen, deren Schilderungen diese beiden Untertypen10 konstituieren, entwickeln in diesem Rahmen – ob sie nun die Einstellung der intergenerationellen Bezugspersonen anerkennen oder nicht – eine Sensibilität für explizit-politische Themen, an die sie in Interaktionen mit den Bezugspersonen herangeführt werden. Die hier anerkannten oder infrage gestellten politischen Aktivitäten der Bezugspersonen führen jedoch erst in einem anderen voruniversitären Erfahrungszusammenhang – außerhalb der Familie – zu politischen Handlungen. Diese Frauen sind bereits über die politische Interaktion mit den intergenerationellen Bezugspersonen im familiären Alltag soweit politisch sozialisiert und sensibilisiert worden, dass sie im Jugendalter gezielt und explizit politisch handeln. Dabei zeigen sie sowohl Handlungen, über die sie sich von der politischen Grundhaltung der Bezugspersonen distanzieren, als auch solche, die zeigen, dass deren politische Grundhaltung übernommen wurde (Abschnitt V.1.2.4, Typik 2). Innerhalb von jugendspezifischen Organisationen erleben die Frauen sowohl institutionell eingeräumte politische Partizipationsmöglichkeiten als auch solche, die nicht institutionalisiert sind.11 Während in politischen Jugendorganisationen institutionell eingeräumte politische Partizipationsmöglichkeiten Teil des Konzeptes sind, ermöglicht die Schule als Bildungsinstitution verschiedene Formen der politischen Partizipation, sowohl institutioneller als auch nicht-institutioneller Art. Für einige der interviewten Frauen sind die Interaktionen innerhalb jugendspezifischer Organisationen und mit gleichaltrigen Kollektiven ausschlaggebende Faktoren für eine Sensibilisierung für politische Themen. Diese Frauen erleben in einem erhöhten Maß politische Partizipationsmöglichkeiten innerhalb, aber auch außerhalb dieser Organisationen, die sie dazu veranlassen, an bereits laufenden politischen Aktivitäten von Gleichaltrigen teilzunehmen. Sie zeigen eine Offenheit für die politischen Aktivitätsmöglichkeiten, die sie im Austausch mit den Sozialisationsinstanzen erleben (Abschnitt V.1.2.3, Typik 2). Mitte der 1960er Jahren wurden die Schulen insbesondere in den Großstädten zu Orten, an denen massive Schülerproteste stattfanden. Hier erlebten Schülerinnen und Schüler verstärkt nicht-institutionell angebotene Partizipationsmöglichkeiten wie beispielsweise die Organisation von 9

Vgl. dazu Kap. IV zur Kontextbeschreibung und -analyse.

10 Untertypus ›Anerkennung der erlebten explizit-politischen Einstellung der Bezugspersonen‹ und Untertypus ›Distanzierung zu den erlebten explizit-politischen Einstellungen der Bezugspersonen‹ 11 Vgl. dazu Erläuterungen zu dem Begriff ›politische Partizipation‹ sowie zu den unterschiedlichen Partizipationsmöglichkeiten Kap. III.3.1.

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Streiks, den Entwurf von Plakaten sowie die Teilnahme an Demonstrationen innerhalb und außerhalb der Schulen. Die Schülerinnen und Schüler äußerten Kritik gegenüber den Strukturen der Schulen und forderten deren Demokratisierung. So lassen sich für die Schülerbewegung Parallelen zu den Forderungen der Studentenbewegung aufzeigen. Ein Teil der Schülerinnen und Schüler kooperierte mit politisch aktiven Studierenden an den Universitäten. Sie engagierten sich gemeinsam mit Studierenden auch bei außerschulischen Aktionen gegen die Notstandsgesetze oder nahmen an den Ostermärschen teil.12 Die Schulen waren somit ab Mitte der 1960er Jahre Orte, an denen politische Sozialisation nicht nur über gezielte politische Bildung durch Lehrplan und Curriculum oder durch die Teilhabe an institutionell eingeräumten Schülergremien stattfand, sondern hauptsächlich in nichtinstitutioneller Form über die Interaktion mit verschiedenen bereits politisierten Personen erfolgte. Über diese entwickelten Schülerinnen und Schüler eigene politische Überzeugungen und Handlungsdispositionen. Wie die Auswertung der Interviews verdeutlicht, nimmt ein Teil der Frauen an der Schülerbewegung teil und wird in deren Kontext manifest politisiert. Latente politische Sozialisation Die latente politische Sozialisation im familiären Alltag und im Austausch mit intergenerationellen Bezugspersonen vollzieht sich vor dem Hintergrund politischrelevanter Einflüsse, die sich auf das spätere politische Verhalten auswirken. So können beispielsweise das Erziehungsverhalten der Eltern, Verhaltensregeln im familiären Alltag, Bildungserwartungen oder Erwartungen hinsichtlich der Einhaltung konventioneller geschlechtsspezifischer Rollen einen Einfluss auf das politische Verhalten ausüben. Die im familiären Alltag erlebten Alltagspraktiken sowie die explizit formulierten Erwartungen der intergenerationellen Bezugspersonen können anerkannt oder abgelehnt werden (vgl. Abschnitt V.1.1.1 und Abschnitt V.1.1.2, Typik 1)13. Die Familienverhältnisse in den 1950er und 1960er Jahren gestalteten sich zwar je nach soziökonomischen Lebensbedingungen unterschiedlich, dennoch kann festgehalten werden, dass es in diesen Jahren ein öffentlich und politisch propagiertes Familienideal gab, das eine konservative Vorstellung von Funktionen und Aufgaben innerhalb der Familie beinhaltete. Während die Ehefrau für den Haushalt zuständig sein sollte, sorgten die Ehemänner für die Sicherung des Unterhalts der Familie durch die Berufstätigkeit. Die gesellschaftlich-mediale Ver12 Vgl. dazu Abschnitt IV.4.3 der Kontextbeschreibung/-analyse. 13 Hier der Untertypus ›Anerkennung der erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen‹, der Untertypus ›Anerkennung der explizit formulierten Erwartungen der Bezugspersonen‹, der Untertypus ›Distanzierung zur erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen‹ sowie der Untertypus ›Distanzierung zu explizit formulierten Erwartungen der Bezugspersonen‹.

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breitung und sogar gesetzliche Verankerung (§ 1356 und § 1360 GleichberG) dieses Idealbildes der westdeutschen Kleinfamilie führte dazu, dass abweichendes Rollenverhalten gesellschaftlich nicht toleriert wurde.14 Veränderungen hinsichtlich der Rollenzuschreibungen gab es ab den 1960er Jahren. Diese äußerten sich in der gesellschaftlichen Einstellung zur Berufstätigkeit von Frauen sowie zur höheren Bildung für Mädchen, deren Platz bis dahin hauptsächlich in der Ehe gesehen wurde. Insbesondere Mädchen aus der mittleren Schicht, denen bis dahin das Abitur und damit die Berechtigung für ein Studium aus gesellschaftlichen und familiären Gründen häufig verwehrt geblieben war, profitierten von der Bildungsexpansion der 1960er Jahre als soziale Aufsteiger.15 Eine Auseinandersetzung mit dem Thema Geschlecht findet bei einem Teil der befragten Frauen in der voruniversitären Lebensphase zunächst innerfamiliär statt, indem die geschlechtsspezifische Rollen- und Arbeitsteilung als Norm im Familienalltag erlebt werden. In der Auswertung der Interviews konnte herausgearbeitet werden, dass dieser Teil der Frauen die in der familiären Alltagspraxis erlebten Geschlechterrollen sowie die explizit formulierten Erwartungen hinsichtlich der Rollen- und Arbeitsteilung ablehnen (Abschnitt V.1.2, Typik 1)16. Trotz einer solchen Distanzierung wird Geschlecht innerhalb der Familie noch zu keinem explizitpolitischen Thema, so dass keine auf das Geschlecht bezogenen politischen Handlungen gezeigt werden. Dennoch ist die Distanzierung zu den intergenerationellen Bezugspersonen politisch-relevant. Nach einer intergenerationellen Distanzierung erhalten dann nämlich jugendspezifische Organisationen und Kollektive eine besondere Bedeutung. Peer-groups und Einzelfreundschaften entstehen häufig im Umfeld von jugendspezifischen Organisationen und bieten entgegen der in der Familie erfahrenen hierarchisch geordneten Beziehungsstruktur aufgrund des Generationsunterschiedes zunächst gleichberechtigte Handlungsmöglichkeiten.17 In Distanz zu den Alltagspraktiken und explizit-formulierten Erwartungen und auf der Suche nach einer eigenen Lebensweise werden innerhalb der Schule, in Jugendvereinen sowie in Peer-groups und im Austausch mit den jeweiligen Mitgliedern eigene Interessen, Vorstellungen und Werthaltungen entwickelt, ausprobiert oder auch erneut verworfen (Abschnitt V.1.2.2, Typik 2). Ende der 1950er und in den 1960er Jahren, somit in der Zeitphase, in der die interviewten Frauen ihre Jugend verbrachten, nahmen die Präsenz sowie der Einfluss informeller Jugendgruppen zu. Jugendlichen wurden viel mehr Freiräume zugesprochen als in den Jahren zuvor. Der 14 Vgl. Kap. IV.1.3 über die Kontextbeschreibung/-analyse. 15 Vgl. Abschnitt IV.2.1 und IV.2.2 der Kontextbeschreibung/-analyse. 16 Vgl. hierzu den Untertypus ›Distanzierung zur erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Bezugspersonen‹ sowie den Untertypus ›Distanzierung zu explizit formulierten Erwartungen der Bezugspersonen‹. 17 Vgl. Hurrelmann 2005, S.128.

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wirtschaftliche Wohlstand erhöhte die ökonomische Liquidität von Jugendlichen, so dass sie verstärkt als eigenständige Konsumenten begriffen wurden. Der eingeführte freie Samstag erhöhte zudem für die große Zahl bereits arbeitender Jugendlicher die frei zur Verfügung stehende Zeit. Die Jugendlichen, insbesondere die Mädchen, erhielten in den noch konservativen 1960er Jahren außerhäusliche Gestaltungs- und Artikulationsräume. Trotz dieser Aufbrüche in den dynamischen 1960er Jahren war die Gesellschaft jedoch hinsichtlich ihrer Werte und Normen weiterhin konservativ. Es herrschte ein medial und politisch propagiertes konservatives Familienideal vor, das von der Gesellschaft allgemein anerkannt wurde. Außereheliche Beziehungen und sexuelle Betätigungen wurden gesellschaftlich nicht toleriert. Dies verdeutlichte sich insbesondere in der erhöhten Zahl der Eheschließungen in den 1950er und 1960er Jahren, dem ›golden age of marriage‹. Insbesondere die Zahl der minderjährigen Mädchen, die eine Frühehe eingingen, stieg in dieser Zeit.18 Einige der interviewten Frauen entwickeln vor diesem Hintergrund bereits in jungen Jahren eigene Lebensweisen oder streben eine solche an. Die Suche nach einer eigenen Lebensweise kann insofern politisch-relevant werden, als dass die in diesem Rahmen entwickelten und angestrebten Lebensweisen im Kontext der Studentenbewegung und im Austausch mit politisch aktiven Studierenden infrage gestellt oder aber gegebenenfalls auch bestätigt werden können. Hier zeigen sich bei den betroffenen Frauen Veränderungen im Übergang zur universitären Lebensphase. Wie in Kapitel V.2 herausgearbeitet wurde, wird an der Universität die bisher gelebte oder angestrebte Lebensweise von einigen Frauen im Kontext der Studentenbewegung infrage gestellt (Abschnitt V.2.1.4, Typik 3). Die Universität ist für diesen Typus der Ort gravierender Lebensveränderungen. Des Weiteren ließ sich herausarbeiten, dass insbesondere die Erfahrung von Ausgrenzung, die einige Frauen innerhalb der Familie, der Peer-group, der Schule oder anderen jugendspezifischen Organisationen machen, politisch-relevant werden kann. Diese Frauen begeben sich zunächst innerhalb jugendspezifischer Räume auf die Suche nach Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit. Die Suche wird so intensiv betrieben, dass eigene Interessen und Bedürfnisse in den Hintergrund rücken (Abschnitt V.1.2.1, Typik 2). Die Suche nach Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit wird in der universitären Lebensphase fortgesetzt und führt schließlich an der Universität zur Mitgliedschaft in einer geschlechtshomogenen Gruppe (Abschnitt, V.2.3.4, Typik 5). Somit ließen sich über diesen Typus Relationen zwischen Politisierungsprozessen in der voruniversitären und universitären Lebensphase aufzeigen. Wie hier deutlich wird, haben die Sozialisationsinstanzen, mit denen die untersuchten Frauen in ihrer voruniversitären Lebensphase in Interaktion stehen, eine wichtige Bedeutung für die Entwicklung einer Sensibilität sowohl für allgemein politische 18 Vgl. Abschnitt IV.1.4 der Kontextbeschreibung/-analyse.

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als auch für geschlechtspolitische Themen, die jedoch nur bei einigen Frauen zu explizit politischen Handlungen führen. Die Unterscheidung zwischen einerseits latenter Sozialisation und politisch-relevanten Handlungsorientierungen sowie andererseits manifester Sozialisation und explizit-politischen Handlungsorientierungen war hilfreich, um auch solche sozialisatorischen Einflussfaktoren analysieren zu können, die zunächst zu einer Sensibilisierung für (geschlechts-)politische Themen führten, jedoch nicht unmittelbar zu politischen Aktivitäten. Insgesamt zeigte genau die Hälfe der befragten Frauen bereits in der voruniversitären Lebensphase explizit-politische Handlungen. Inwiefern auch die politischrelevanten Erfahrungen, die innerhalb der Familie, der Schule, der Peer-groups und jugendspezifischen Organisationen gemacht wurden, das politische Handeln an der Universität beeinflussen und welche Bedeutung die Universität als Sozialisationsinstanz und politischer Sozialisationsraum dann für alle befragten Frauen hat, wird im Folgenden zusammenfassend dargestellt.

VI.2 P OLITISIERUNG

AN DER U NIVERSITÄT ALS INTERAKTIVER P ROZESS IM K ONTEXT DER S TUDENTENBEWEGUNG

Wie in den vorausgegangen Erläuterungen deutlich wurde, machen die interviewten Frauen in der voruniversitären Lebensphase in der Interaktion mit den Sozialisationsinstanzen ihrer Lebenswelt politisch-relevante und explizit-politische Erfahrungen. Sie entwickeln eine Sensibilität für politische Themen, die bei fünf der interviewten Frauen bereits in der voruniversitären Lebensphase zu politischen Handlungen geführt hat. Aus den Schilderungen dieser fünf interviewten Frauen ließen sich zwei Typen abstrahieren (siehe Abschnitt V.1.2.3 und Abschnitt V.1.2.4, Typik 2), an denen exemplarisch aufgezeigt werden kann, dass die Universität nicht allein der Ort ist, an dem politische Orientierungen entwickelt und politische Handlungen gezeigt werden. Diese Frauen zeigen bereits Ende der 1950er Jahre und schließlich in den 1960er Jahre politische Handlungen sowohl in institutionalisierter als auch nicht-institutionalisierter Form. Es ist hervorzuheben, dass die individuellen, politisch-relevanten Grunddispositionen, mit denen die interviewten Frauen an die Universität kommen, das Ergebnis vorangegangener latenter und manifester politischer Sozialisation in der Familie, Peer-group, Schule etc. von der Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre sind. Diese bereits erworbenen Dispositionen stellen zugleich den Anfangspunkt für die politische Sozialisation an der Universität dar. Beim Übergang an die Universität tragen die Frauen ihre entwickelten politisch-relevanten und explizit-politischen Orientierungen sowie ihre Erfahrungen mit politischen Handlungen in die Universität hin-

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ein. Es ist für die befragten Frauen somit nicht die Universität allein, die auf einmal wie aus dem Nichts ein politisches Handlungsfeld bietet und sie politisiert, sondern die Universität ist – noch näher zu bestimmender – Teil eines politisch-relevanten oder explizit-politischen Kontinuums der Politisierung. Im zweiten Teil der Auswertung der Interviews (Kap. V.2) wurden anschließend Politisierungsprozesse in der universitären Lebensphase herausgearbeitet, um darüber Aussagen über die Bedeutung der Universität für die befragten Frauen machen zu können. Die Auswertung der Interviews ergab, dass die Frauen innerhalb der Universität im Austausch mit den an der Universität versammelten Akteurinnen und Akteuren (insbesondere ihren Studentinnen/Studenten, Assistentinnen/Assistenten und Professorinnen/Professoren) und in Auseinandersetzung mit den vorgefundenen universitären Rahmenstrukturen der Universität und den Studienbedingungen, die sie insbesondere über den Besuch von Lehrveranstaltungen erfahren, (geschlechts-)politische Handlungsorientierungen entwickelten. Diese strukturierten ihr allgemein-politisches und schließlich auch ihr geschlechtspolitisches Handeln an der Universität. Ab Mitte der 1960er Jahre sind die Rahmenbedingungen an der Universität – wie bereits in der Kontextbeschreibung und -analyse dieser Untersuchung (Kap. IV) erarbeitet wurde – politisch aufgeheizt. Die interviewten Frauen, die zwischen 1965 und 197219 ihr Studium an der Universität beginnen, kommen an eine Universität, an der politische Debatten geführt werden und massive Proteste stattfinden. Insbesondere sechs von ihnen beginnen ihr Studium in der Hochphase der Studentenbewegung zwischen 1967 und 1969/70. Die Universität Frankfurt am Main befand sich seit den 1950er Jahren im Rahmen der Bildungsexpansion sowie der laufenden Hochschulreformen in einer Umbruchsphase. Studentische Hochschulgruppen äußerten bereits seit Anfang der 1960er Jahre ihre Kritik gegenüber den Strukturen der Universität sowie ihrem Selbstverständnis als Ordinarienuniversität. Die interviewten Frauen erleben in ihrem studentischen Alltag im Kontext der Studentenbewegung sowohl die hochschulpolitischen Debatten um die Umstrukturierungsmaßnahmen als auch die massiven Proteste studentischer Hochschulgruppen, die diese Umstrukturierungsmaßnahmen nicht unkommentiert ließen und eigene Forderungen stellten. Die Proteste an den Universitäten richteten sich jedoch nicht nur gegen die Universität und ihre Struktur, sondern bezogen sich auch auf die innen- und außen19 Neun der Frauen nehmen ihr Studium zwischen 1965 und 1969 auf. Davon beginnen drei Frauen ihr Studium im Jahr 1965, somit vor der Hochphase der Studentenbewegung (1967-1969/70). Nur eine der Frauen beginnt ihr Studium erst im Jahr 1972, somit deutlich nach der Hochphase der Studentenbewegung. Diese beteiligt sich jedoch bereits in den Jahren vor der Aufnahme des Studiums an den studentischen Aktionen. Die Universität stellt für sie bereits vor ihrer ordentlichen Mitgliedschaft im Jahr 1972 einen Ort dar, an dem sie sich aufhält.

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politischen Konfliktthemen wie beispielsweise Notstandsgesetze und Vietnamkrieg. Somit waren die Universitäten ab Mitte der 1960er Jahre Orte, an denen sowohl gesellschafts- als auch hochschulpolitische Diskussionen geführt wurden und an denen Proteste in Form von Demonstrationen, Provokationen, Sit-ins, Go-ins und Streiks geplant und umgesetzt wurden. Die Universität war somit der Ort, der den interviewten Frauen nicht nur institutionalisierte Partizipationsmöglichkeiten bot, sondern darüber hinaus – im Vergleich zu den Jahren zuvor in einem erhöhten Maß – nicht-institutionalisierte, studentisch initiierte Partizipationsmöglichkeiten, die legal, aber auch illegal sein konnten.20 Wie anhand der Typenbildung dieser Untersuchung deutlich wird, beteiligen sich alle interviewten Frauen an den Protesten. Sie werden Teil eines studentischen protestierenden Kollektivs. Gemeinsam mit Kommilitoninnen und Kommilitonen organisieren sie politische Aktionen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Universitäten. Für einige Frauen erhalten insbesondere die gleichaltrigen Bezugspersonen an der Universität eine wichtige Bedeutung bei der Herausbildung einer explizit-politischen Orientierung. Diese Frauen erleben ihre Bezugspersonen als Ratgeber und Unterstützer im studentischen Alltag, beispielsweise bei der Suche nach einer Unterkunft oder bei der Organisation des Studiums. Dabei sind die Bezugspersonen bereits soweit politisiert, dass sie politischen Aktivitäten nachgehen. Die diesen Typus konstituierenden Frauen richten sich an diesen Bezugspersonen aus und kommen so zu ihren ersten politischen Aktivitäten innerhalb der Universität im Kontext der Studentenbewegung. Dabei wird ihr Alltag im Laufe des Studiums politisch, so dass politische Aktionen schließlich in den Mittelpunkt des Studiums gestellt werden (Abschnitt V.2.1.1, Typik 3). Einige der Frauen, die in der voruniversitären Lebensphase keinerlei explizitpolitischen Aktivitäten nachgehen, zeigen nach dem Übergang an die Universität in der Hochphase der Studentenbewegung eine Offenheit für die bereits laufenden Protestaktionen sowie für Themen und Anliegen ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen an der Universität. An der Universität werden sie unmittelbar nach dem Beginn des Studiums Teil eines studentischen Kollektivs und nehmen an den nichtinstitutionalisierten Partizipationsformen, die ihnen an der Universität angeboten werden, teil. In diesem Rahmen stellen sie – ähnlich wie der vorangegangene Typus – im Laufe ihres Studiums politische Themen und Aktivitäten in den Mittelpunkt alltäglicher Tätigkeiten. Für diese Frauen ist die Universität der Ort, an dem sie zum ersten Mal explizit-politische Handlungen zeigen. Aber auch hier gehen politisch-relevante Sozialisationserfahrungen voraus (Abschnitt V.2.1.2, Typik 3). Während somit ein Teil der befragten Frauen erst an der Universität erste explizit-politische Handlungen zeigt, kommt, wie bereits in Kapitel VI.1 beschrieben wurde, ein Teil der Frauen mit explizit-politischen Erfahrungen und Handlungsori20 Vgl. zu dem Begriff der ›politischen Partizipation‹ Kap. III.3.1.

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entierungen, die ihre politischen Handlungen in jugendspezifischen Organisationen und Kollektiven strukturiert haben, an die Universität. Für diese Frauen ist die Universität somit nicht der Ort, an dem erstmalig politische Handlungen gezeigt werden. Ihre politischen Handlungen stehen einerseits in einem expliziten Zusammenhang mit der Schüler- und Studentenbewegung, die bereits seit 1965 in Gang gesetzt war und andererseits in einem Zusammenhang mit institutionell eingeräumten Partizipationsformen an jugendspezifischen Organisationen. Diese Frauen kommen dann in der Hochphase der Studentenbewegung zwischen 1968 und 1969 an die Universität. Die Universität stellt für sie den Ort dar, an dem sie bereits erworbene Handlungsdispositionen einbringen können. Hier erleben sie eine Vielzahl an Partizipationsmöglichkeiten und werden Teil eines studentischen politischen Kollektivs. Sie beteiligen sich gezielt an studentischen Aktionen, bringen hier ihre bisherigen politischen theoretischen und praktischen Kenntnisse ein und setzen die bereits in der voruniversitären Lebensphase gezeigten Handlungen fort (Abschnitt V.2.1.3, Typik 3). Für einige Frauen, nämlich diejenigen, die ihr Studium bereits vor der Hochphase der Studentenbewegung im Jahr 1965 begonnen haben und insbesondere in der voruniversitären Lebensphase auf der Suche nach einer eigenen Lebensweise gewesen sind (Abschnitt V.1.2.2, Typik 2), wird die Universität der Ort, an dem sie ihre eigene bisher entwickelte oder angestrebte Lebensweise infrage stellen (Abschnitt V.2.1.4, Typik 3). Diese Frauen erleben an der Universität und in Interaktion mit ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen im Kontext der Studentenbewegung alternative Lebensformen, die ihnen bis dahin entweder unbekannt gewesen sind oder unangemessen erschienen. Diese alternativen Lebensformen stellen einen Kontrast zur bisherigen angestrebten oder gelebten Lebensweise dar. Die Frauen setzen sich an der Universität sowohl auf einer theoretischen als auch praktischen Ebene mit Lebensentwürfen und möglichen Lebensformen auseinander. Für diesen Typus ist die Universität im Kontext der Studentenbewegung der Ort, an dem sie ihre bisherige Lebensführung einschneidend verändern. Wie bereits in der Kontextbeschreibung und -analyse dieser Arbeit (Kap. IV) erläutert, war ein übergeordnetes Ziel der studentischen Hochschulgruppen zunächst die Demokratisierung der Universität. Das innerhalb der Ordinarienuniversität nicht vorgesehene Mitspracherecht der Studierenden an den hochschulpolitischen Entscheidungen der Universität war bereits seit Anfang der 1960er Jahren Teil der Forderungen studentischer Gruppen. Zwar wurden in den universitären Selbstverwaltungsgremien studentische Vertreter hinzugezogen, diese hatten jedoch kein Stimmrecht. Auch die Studienbedingungen, die sich mit der Zunahme der Studierendenzahlen im Rahmen der Bildungsexpansion in den 1960er Jahren veränderten, sowie die Reformüberlegungen und -maßnahmen zur Neustrukturierung der Universitäten im Rahmen der Hochschulreformen wurden von studentischen Hoch-

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schulgruppen infrage gestellt. Mit diesen Kritiken und ihrer Forderung nach einer Demokratisierung der Universität, die sie massiv in Form von Protesten äußerten, stellten Studierende die Verfassung der Ordinarienuniversität infrage.21 Einige radikale Studierende, insbesondere Mitglieder des antiautoritären Flügels des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS), fordern darüber hinaus eine gesellschaftskritische Reform der Wissenschaft, über die Studierende ein kritisches Bewusstsein erlangen sollten, wodurch schließlich über die Universität gesamtgesellschaftliche Veränderungen initiiert werden sollten.22 Für die Initiierung eines Umbruchs in der Gesellschaft wurde eine Gesellschaftstheorie benötigt, die aus der Universität heraus in die Praxis überführt werden sollte. Somit war die Universität für diese Studierenden der Ort, an dem sie – insbesondere orientiert an den Vertretern der Frankfurter Schule – Zugang zur Theorie erhielten und aus ihrer Sicht Teil der ›kritischen und gesellschaftsverändernden Intelligenz‹ sein konnten.23 In diesem Zusammenhang konnte herausgearbeitet werden, dass die an der Universität institutionell angebotenen Lehrveranstaltungen eine wichtige Bedeutung für die Politisierung der interviewten Frauen hatten. Wie in Kapitel IV.4 deutlich wird, erfahren die Interviewten die Universität als eine Bildungsinstitution, über die sie nicht nur eine formale akademische Ausbildung erhalten, sondern darüber hinaus den Zugang zu gesellschaftskritischen Theorien. Für einige der befragten Frauen haben insbesondere die Lehrveranstaltungen gesellschaftskritischer Professoren eine besondere Bedeutung. Diese Professoren und ihre Lehrveranstaltungen werden von ihnen anerkannt und mit dem Ziel besucht, politische und soziale Theorien kennenzulernen und zu verstehen, um über diese ihre politische Praxis zu planen (Abschnitt V.2.2.2, Typik 4). Diese Professoren sind Leitfiguren und Ideengeber, über die die Studentinnen ihre praktischen politischen Handlungen legitimieren können. Die Universität ist für die Frauen der Ort, der ihnen in einem regulären Rahmen Teilhabemöglichkeiten an den Lehrveranstaltungen der gesellschaftskritischen Professoren und somit den Zugang zur politischen Theorie ermöglicht. Der Alltag dieser Studentinnen ist vor allem von einem immer wieder rotierenden Zirkel aus Theorie und Praxis geprägt. Die Praxis erfolgte für sie aus der Theorie, die ihnen zunächst insbesondere in den anerkannten Seminaren und Vorlesungen vermittelt wird. Die Praxis und ihre Probleme werden dann wiederum theoretisch reflektiert. Im Rahmen der Studentenbewegung erkennen einige der Studentinnen Widersprüche und Unvereinbarkeiten zwischen den institutionellen Erwartungen und Zielen auf der einen Seite und den eigenen individuellen oder im Kollektiv formu21 Vgl. Abschnitt IV.4.3 Kontextbeschreibung/-analyse. 22 Vgl. dazu die Ausführungen bei Groppe 2008 und Herrmann 2011; vgl. dazu exemplarisch Claussen/Dermitzel 1968 und auch Klein 1968. 23 Vgl. dazu Abschnitt IV.4.3 Kontextbeschreibung/-analyse.

VI. DIE U NIVERSITÄT

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lierten Interessen auf der anderen Seite. Im Kontext der Studentenbewegung werden von einigen interviewten Frauen ein Großteil der Lehrveranstaltungen, insbesondere solche, die als unpolitisch, unkritisch und reformbedürftig bewertet werden, temporär abgelehnt und dafür alternative Veranstaltungen besucht (Abschnitt V.2.2.1, Typik 4). Die Ablehnung regulärer Veranstaltungen verdeutlicht eine Unzufriedenheit und eine Nonkonformität mit den geltenden universitären Regeln sowie den Verhaltens- bzw. Rollenerwartungen und geht mit einer Forderung nach inhaltlicher Neuorganisation des Studiums einher. Diese Studentinnen bleiben der Universität aber nicht fern, sondern besuchen zunächst alternative Veranstaltungen wie Versammlungen und studentisch initiierte Diskussionsrunden. Dieser Typus lehnt die institutionelle Ordnung der Universität und die an sie herangetragene Rollenerwartung nur zeitlich begrenzt ab. Nach einer Ablehnungsphase – die in der Hochphase der Studentenbewegung liegt – erkennen sie erneut reguläre Lehrveranstaltungen an, die nicht unmittelbar politisch oder reformiert sind, um einen Studienabschluss zu erreichen. Die Universität verliert ihre Bedeutung als Bildungsinstitution nicht. Sie ist für diese Frauen der Ort, an dem für einen bestimmten Zeitraum offensiv die institutionell vorgegebenen Rollen und die damit verbundenen Rollenerwartungen aktiv abgelehnt und Regelsysteme infrage gestellt werden. In der Auseinandersetzung mit den formellen und informellen Veranstaltungen der Universität stellen einige Frauen im studentischen Kollektiv eigene informelle Regeln auf und organisieren das Studium selbstbestimmt (Abschnitt V.2.2.3, Typik 4). Mit der Organisation eigener Lehrveranstaltungen und Arbeitsgruppen äußern sie ihre Kritik gegenüber den institutionell angebotenen Lehrveranstaltungen, die sie als unkritisch und unpolitisch bewerten. Gleichzeitig unterlaufen sie die institutionellen Regeln und die an sie formulierten Rollenerwartungen. In eigenen Arbeitsgruppen widmen sie sich auf theoretischer Ebene den als politisch-relevant und gesellschaftskritisch bewerteten Themen, welche teilweise bereits in regulären Seminaren angeboten werden. Diese werden jedoch in eigenen Gruppen aufgearbeitet und ihre Bedeutung für die Praxis diskutiert. Auch für diese Frauen bleibt die Universität trotz der Ablehnung der formellen Ordnung ein Bildungsraum, an dem sie gezielt ihr politisches und gesellschaftskritisches Bewusstsein über die Erarbeitung politischer und sozialer Theorien erweitern möchten. Dies ist für die Frauen nicht über die regulären Veranstaltungen möglich, sondern muss im studentischen Kollektiv erarbeitet werden. Das reguläre Studium rückt für sie in den Hintergrund, das Studium als generelle, forschend-lernende Tätigkeit verliert jedoch nicht seine Bedeutung. Sowohl im studentischen Alltag als auch in Auseinandersetzung mit den formellen und informellen Veranstaltungen der Universität handeln alle interviewten Frauen zunächst in geschlechtsheterogenen Gruppen politisch. Schließlich werden sie Mitglied einer geschlechtshomogenen Gruppe, entwickeln eine geschlechtsspezifi-

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sche Perspektive auf Themen und machen Geschlecht zu einem Politikum. Festzuhalten bleibt, dass alle Frauen bereits vor der Entwicklung einer geschlechtsspezifischen Perspektive politische Handlungen zeigen, die in einigen Fällen sogar bereits in der voruniversitären Lebensphase erfolgt sind.

VI.3 U NIVERSITÄT

ALS O RT DER E NTWICKLUNG EINES GESCHLECHTSPOLITISCHEN B EWUSSTSEINS

Die Entwicklung einer geschlechtspolitischen Perspektive und die politische Partizipation in einer geschlechtshomogenen Gruppe erfolgen bei allen Frauen im Anschluss an eine allgemeine Politisierung. Die von den Frauen gemachten Sozialisationserfahrungen sowohl vor dem Beginn des Studiums (im Austausch mit den Sozialisationsinstanzen Familie, Peer-group, Schule und Jugendorganisation) als auch im studentischen Alltag und in Auseinandersetzung mit den Lehrveranstaltungen an der Universität (beispielsweise in Vorlesungen, Arbeits- und Diskussionsgruppen, studentischen Wohngemeinschaften und geschlechtsheterogenen politischen Gruppen) beeinflussen die Entwicklung einer geschlechtsspezifischen Perspektive auf politische Themen. Wie in Kapitel VI.1 bereits vorgestellt, wird in der voruniversitären Lebensphase von einigen Frauen das eigene Geschlecht bereits als Kategorie wahrgenommen, die die Handlungsmöglichkeiten im Alltag beeinflusst. Zu diesem Zeitpunkt wird jedoch Geschlecht für keine der Frauen zu einem Politikum. Explizite geschlechtspolitische Handlungen erfolgen bei allen Frauen erst an der Universität. Über die Auswertung der Interviews konnten vier unterschiedliche Handlungsorientierungen herausgearbeitet werden, die die Frauen zur geschlechtspolitischen Partizipation bewegten. Zunächst wurden zwei Handlungsorientierungen erkennbar, die Kontinuitäten zu den an der Universität oder schon davor entwickelten politischen Handlungsorientierungen darstellen (Abschnitt V.2.3.1 und Abschnitt V.2.3.2, Typik 5). Im Rahmen des theorieorientierten Studiums in regulär angebotenen Lehrveranstaltungen sowie bei eigenen Recherchen an der Universität begegnen einige Frauen nun explizit geschlechtspolitisch relevanten Themen. Die zunächst theoretische Auseinandersetzung mit diesen Themen führt zu einer Infragestellung der gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse und der geltenden geschlechtsspezifischen Rollenmuster, die sie sowohl innerhalb der Universität erleben als auch im privaten Bereich. Die Universität als Bildungsraum ermöglicht diesen Frauen den Zugang zu einer theoretischen und reflexiven Auseinandersetzung mit dem Thema Geschlecht. Im Anschluss an eine Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifischen Themen und die Herausbildung einer geschlechtsspezifischen Perspektive auf bestimmte Themen erfolgt die Mitgliedschaft in einer ge-

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schlechtshomogenen Gruppe. Hier können sie mit anderen Frauen gemeinsam die theoretischen Grundlagen diskutieren und in die Praxis überführen (Abschnitt V.2.3.1, Typik 5). Die Kontinuität wurde auch bei den Schilderungen der Frauen deutlich, die in der Mitgliedschaft in einer geschlechtshomogenen Gruppe zunächst die Möglichkeit sehen, ihre bisherigen politischen Aktivitäten an der Universität fortzusetzen und in einer geschlechtshomogenen Gruppe zu verstärken (Abschnitt V.2.3.2, Typik 5). Die Frauengruppe, der sie sich anschließen, wird von ihnen dann als ein Kollektiv erlebt, in dem sie gemeinsam die bislang von ihnen diskutierten und anerkannten Theorien weiter erarbeiten sowie die politische Praxis fortsetzen können. Somit tragen sie ihre politischen Kenntnisse über Theorien und Praxis in die Frauengruppen hinein. Solche Aktivitäten werden von diesen Frauen schließlich um eine geschlechtsspezifische Perspektive erweitert und Geschlecht gemeinsam zu einem Politikum gemacht. Während diese Frauen somit Kontinuitätsbestrebungen aufzeigen und ihre bisherigen Aktivitäten in Frauengruppen fortsetzen und erweitern möchten, konnte auch herausgearbeitet werden, dass einige Frauen sich dezidiert von den bisherigen geschlechtsheterogenen Gruppen und den hier erfahrenen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern distanzieren und es somit zu Diskontinuitäten in den explizitpolitischen Handlungsorientierungen an der Universität kommt. Sie erleben einen Widerspruch zwischen den angestrebten ideologischen Zielen und den Handlungen der männlichen Kommilitonen. Diese Frauen stellen die Regeln der politischen geschlechtsheterogenen Gruppe infrage. In der Folge gründen sie eigene geschlechtshomogene Gruppen oder werden in einer bereits bestehenden Frauengruppe aktiv (Abschnitt V.2.3.3, Typik 5). Sie erleben die Universität als den Ort, an dem sie die Möglichkeit haben, im Austausch mit anderen Frauen eine neue Perspektive auf politische Themen zu entwickeln. Die Frauen nutzen die Universität – ähnlich wie auch die männlichen Kommilitonen in der Studentenbewegung – als Plattform und Organisationsbasis, jedoch in vehementer theoretischer und praktischer Abgrenzung zur Studentenbewegung, die die Frauen als geschlechtspolitisch ›unsensibel‹ und ›ideologisch verbohrt‹ erleben. Des Weiteren konnte aufgezeigt werden, dass eine Partizipation an einer geschlechtshomogenen Gruppe bei einigen Frauen aufgrund der Suche nach Gemeinschaftlichkeit und Anerkennung erfolgt. Dabei beginnt die Suche bereits in der voruniversitären Lebensphase und wird an der Universität fortgesetzt. Als Mitglieder einer Frauengruppe sind diese Frauen schließlich Teil eines solidarischen Kollektivs und können gemeinsam mit anderen Frauen handeln. Geschlecht wird von ihnen als ein Merkmal erfahren, das Solidarität und Gemeinschaftlichkeit erzeugt, was sie in dieser Form in der geschlechtsheterogenen Gruppe nicht erfahren haben. Die Universität erfahren diese Frauen als ein Ort, an dem sie die Möglichkeit erhalten, Teil eines Kollektivs mit gleichen Zielen und Interessen zu werden (Abschnitt V.2.3.4, Typik 5).

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Auch wenn einige Frauen bereits in der voruniversitären Phase eine Sensibilität für Geschlecht als gesellschaftliche und politische Kategorie entwickeln, die ihnen sowohl Handlungsmöglichkeiten einräumt als auch versperrt, zeigen sie erst an der Universität geschlechtspolitische Handlungen. In diesem Raum und in Interaktion mit verschiedenen Akteurinnen und Akteuren sowie Akteursgruppen beiderlei Geschlechts entwickeln alle Frauen eine geschlechtspolitische Perspektive auf politische Themen und machen Geschlecht zu einem Politikum. Gleichzeitig ist deutlich, dass die Universität diesen Stellenwert für die interviewten Frauen nicht erreicht, indem sie als Institution singuläre politische Handlungsspielräume anbietet, sondern weil sie auf explizit-politische oder politisch-relevante Sozialisationserfahrungen ›aufsetzt‹ und dann eine Politisierung durch ihre institutionelle Verfasstheit ermöglicht. So bietet die Universität gegenüber der Schule ein weitaus höheres Potenzial, sich als Akteursgruppe selbst zu organisieren, da das Zeitmanagement an der Universität den Studierenden selbst obliegt. Gleichzeitig schafft diese Selbstorganisation und die Ablehnung institutioneller Regeln im Kontext der Entwicklungen in den späten 1960er Jahren sichtbare Kollektive, z. T. ›massenhafte‹ Bewegungen und Versammlungen, und bei den Frauen ein Bewusstsein, Teil einer wichtigen politischen Bewegung, zunächst der Studentenbewegung, zu sein.24 Ihr Engagement in geschlechtshomogenen Gruppen setzt diese Entwicklungen an der Universität ebenso voraus, wie die davor liegenden politisch-relevanten oder explizitpolitischen Handlungsorientierungen der Frauen.

VI.4 W EITERFÜHRENDE F ORSCHUNGSFRAGEN Die vorliegende Untersuchung versteht sich als eine sozial- und kulturgeschichtlich integrierte, ›dichte‹ Sozialisationsforschung. In dieser Arbeit wurde dabei sozialisationstheoretisch von Interaktionsprozessen zwischen Individuen und ihrer sozialen Umwelt ausgegangen, die in einer dialektischen Beziehung zueinander stehen. Strukturen und Handeln bedingen sich gegenseitig, Handeln reproduziert und verändert Strukturen und Institutionen; diese sind wiederum Sozialisationsinstanzen, die Handeln und Orientierungen der Individuen beeinflussen (siehe Erläuterungen in Kap. II und Kap. III.1). Die Grundfigur des Sozialisationsgeschehens ist die Interaktion zwischen Individuen, die wiederum eingebunden ist in Sozialisationserfahrungen der Interaktionspartner, die u. a. in sozialen Milieus oder in öffentlichen Institutionen gemacht werden.

24 Vgl. Groppe 2008, S.131. Zur Funktion der Universität für die Studentenbewegung vgl. Groppe 2008, S.123ff.

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Die historische Sozialisationsforschung hat seit längerem eine solche Integration sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektiven vorgenommen.25 Im Rahmen einer zunächst konzeptionell ausgerichteten Diskussion ging es dabei, wie es Herrmann (1991) definitorisch fasst, grundlegend um die Analyse der »geschichtlichgesellschaftliche[n] Genese (…) von Bewußtseins-, Erlebnis- und Handlungsstrukturen« einzelner Akteurinnen und Akteure oder Akteursgruppen.26 In diesem Zusammenhang sollte »sozialer und kultureller Wandel in seiner Vermittlung durch individuelle und kollektive Identitätsbildungsprozesse und zugleich durch Vergesellschaftungsprozesse verstehbar werden«27. Diese zunächst noch stärker sozialhistorische Sicht wurde im Zuge bildungshistorischer Biographieforschung und disziplinspezifisch geführter Debatten um Grenzen und Möglichkeiten von kultur- und sozialgeschichtlichen Zugängen sukzessive erweitert und schließlich in historischen Sozialisationsstudien zusammengeführt, die implizit oder explizit eine Integration beider Zugänge vornahmen.28 Historische Sozialisationsforschung dieser Provenienz bedeutet sowohl die einzelnen Sozialisationsinstanzen (Familie, Peer-group, Schule, jugendspezifische Organisationen und Universität) und ihre sozialisatorischen Einflüsse – unter Berücksichtigung der historischen Rahmenbedingungen – zu betrachten, als auch die Akteurinnen und Akteure, die in Interaktion mit den Sozialisationsinstanzen Handlungsorientierungen zeigen und ihre Persönlichkeit entwickeln, in den Blick zu nehmen. Dies ermöglicht es, einerseits Strukturen und Institutionen als interaktive Sozialisationsräume zu fassen, andererseits die Individuen, die im Kontext gegebener Strukturen und Institutionen ihre Identität entwickeln, als aktiv Handelnde und Gestaltende zu analysieren. Die Untersuchungsergebnisse der vorliegenden Arbeit werden im Folgenden in ihren Erträgen erstens in die Forschung zu Sozialisation in den 1950er und 1960er Jahren und zweitens in die Forschung zur Geschichte der Neuen Frauenbewegung eingeordnet; drittens werden diese in die Forschung zur Geschichte der Universität in den 1960er Jahren und zur Studentenbewegung ›1968‹ nach der oben vorgenommenen Auswertung zur Rolle und Bedeutung der Universität für die befragten Frauen noch einmal insofern eingeordnet, als die zentralen Forschungsdesiderate und -perspektiven, die sich aus den Analyseergebnissen ergeben, benannt werden. Zunächst einmal bestätigt die vorliegende Studie für die interviewten Frauen die These von den ›dynamischen Zeiten‹ der ›langen 1960er Jahre‹.29 In ihren Politisierungsprozessen gibt es keine scharfen Brüche, die dann die sogenannte ›68er‹-Zeit 25 Vgl. dazu die Ausführungen im einführenden Abschnitt in Kap. II. 26 Herrmann 1991a, S.88. 27 Herrmann 1991b, S.237. 28 Vgl. Groppe 2004, S.21f. 29 Vgl. Schildt/Siegfried/Lammers 2003 und die Ausführungen in Kap.I.2.

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als Neuanfang oder gar als ›zweite, innere Gründung der Bundesrepublik‹ erscheinen lassen.30 Vielmehr sind Politisierungsprozesse bei den Frauen zu erkennen, die – mit unterschiedlichen Akzentsetzungen – in Kindheit und Jugend beginnen und dann die ›dynamischen Zeiten‹ der langen 1960er Jahre und die entstehenden Freiräume für Jugendliche konstruktiv aufnehmen. Über Abgrenzungen zu oder Identifikationen mit erwachsenen Bezugspersonen und durch Integration in informelle oder organisierte Jugendgruppen konkretisieren sich dann die Politisierungsprozesse, werden z. T. schon manifest und intensivieren sich schließlich an der Universität deutlich bzw. werden erst hier in manifest politische Handlungen überführt. Sozialisationsforschung zu den 1950er und 1960er Jahren bedeutet die Analyse von Sozialisationsprozessen innerhalb von Institutionen (z. B. Familie, Schule und Universität), informellen Bedingungsgefügen (z. B. Peer-group) und lebensweltlichen Zusammenhängen (Sozialstruktur, politisches System, ökonomische Entwicklungen usw.). Über eine Analyse der Struktur und Funktion der jeweiligen Institutionen und informellen Gruppierungen sowie ihren Veränderungen in den 1950er und 1960er Jahren können die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen sich Sozialisationsprozesse vollziehen, aufgezeigt werden. Darüber hinaus kann – durch die in dieser Arbeit gewählte Methode – veranschaulicht werden, wie Rahmenbedingungen individuell verarbeitet und interpretiert werden und zu Handlungsorientierungen führen, die wiederum im Rahmen von Interaktionen auf die Institutionen, Strukturen und informellen Gruppierungen einwirken. Die herausgearbeiteten Politisierungsprozesse der interviewten Frauen gaben daher auch Auskunft darüber, wie Strukturen, Institutionen, Normen und Werte der 1950er und 1960er Jahre von ihnen erlebt wurden. Für die Kindheit und Jugend der Frauen in der direkten Nachkriegszeit, den 1950er Jahren und den frühen 1960er Jahren, zeigte sich eine starke Orientierung an zwei Instanzen: an älteren Bezugspersonen und schließlich an formellen und informellen Jugendgruppen. Dies bestätigt zunächst Forschungsergebnisse, die die starke Bedeutung der familiären Zugehörigkeit in der publizistischen und politischen Öffentlichkeit, aber auch für die Einstellung der Bevölkerung, insbesondere in der Nachkriegszeit und nach den Erfahrungen der diktatorisch-kontrollierenden Öffnung der Familien im Nationalsozialismus, beschreiben.31 Die (bildungs-) historische Forschung verweist aber auch auf innerfamiliäre Generationskonflikte, 30 Vgl. die entsprechende Interpretation in dem Sammelband von Albrecht/Behrmann/Bock/Homann/Tenbruck 2000 mit dem Haupttitel ›Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik‹, die sich aber vornehmlich auf die Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule und in diesem Zusammenhang auch auf die Protestbewegung bezieht. 31 Vgl. Gebhardt/Wischermann 2007, S.10f. zur Familie seit 1933; vgl. zur Familie in der Nachkriegszeit und insbesondere in den 1950er Jahren Niehuss 1998 und Peuckert 2008.

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beschreibt diese jedoch überwiegend als ›männliche Konflikte‹ zwischen Vätern und Söhnen.32 Konflikte zwischen Müttern und Töchtern oder zwischen Vätern und Töchtern sind bislang noch nicht Thema der Forschung. Im Fall der interviewten Frauen wird dabei ersichtlich, dass die hohe Bedeutung intergenerationeller Beziehungen in ihren Auswirkungen sehr unterschiedlich ist. Intergenerationelle Beziehungen können im Sozialisationsprozess zur Übernahme vorgelebter politischer Praxen führen oder aber auch zur klaren Distanzierung von den explizit-politischen oder politisch-relevanten Alltagspraxen der älteren Generation. Sie sind bei den interviewten Frauen deutlich in beide Richtungen differenziert und geben Anlass, diesem Aspekt der Sozialisation in den 1950er Jahren in der Forschung weiter nachzugehen und die Bedeutung von Familie und älteren Bezugspersonen für die Sozialisation der in den 1940er und 1950er Jahren geborenen Alterskohorte, z. B. für Politisierungsprozesse, genauer zu untersuchen, insbesondere auch in geschlechtsspezifischer Perspektive. Auch die seit einigen Jahren zunehmende Kriegskinderforschung33 hat diesen Aspekt – die intergenerationellen Beziehungen in der Nachkriegszeit – noch nicht in ihre Analysen einbezogen. Es konnte dann herausgearbeitet werden, dass insbesondere die dynamischen ›langen 1960er Jahre‹, die in der zeithistorischen Forschung als Transformationsphase begriffen werden, einen Einfluss auf die Politisierung der interviewten Frauen, zunächst in ihrem Jugendalter, hatten. Insbesondere die neuen jugendkulturellen Möglichkeiten, die sich ab Ende der 1950er Jahre abzeichnen, aber auch die Bildungsexpansion, von der vor allem Mädchen aus ländlichen Gebieten und Angestelltenfamilien profitierten, sowie Veränderungen der innerfamiliären Arbeitsteilung durch die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen waren Faktoren, die das politische Verhalten und eine Sensibilisierung für geschlechtspolitische Themen der Frauen bedingten. Dass jugendspezifische Aktivitäten in Organisationen und Kollektiven für die Zeit ab Ende der 1950er Jahre ein sich kollektivierendes, d. h. immer größere Teile der Alterskohorte umfassendes soziales Phänomen sind, hat die (bildungs-)historische Forschung vielfach herausgearbeitet. 34 Kaum erschlossen ist jedoch, wie dieses Phänomen sozialisatorisch erfahren und verarbeitet sowie handelnd praktiziert wurde.35 Über die Interviews konnten die Motive der Frauen, sich jugendspezifischen Organisationen und Kollektiven anzunähern, erklärt werden. Vorerfahrungen bzw. vorausgehende Handlungsorientierungen der Frauen konnten 32 Vgl. in diesem Zusammenhang Reulecke 2003 und Schulz/Radebold/Reulecke 2004. 33 Vgl. hierzu exemplarisch Stambolis/Jakob 2006; Ennulat 2008; Seegers/Reulecke 2009. 34 Vgl. dazu zeitgenössische Erhebungen wie beispielsweise bei Wurzbacher 1968; vgl. dazu auch Schildt 1998a und Siegfried 2008b; vgl. hierzu auch Kap. IV.3.2 dieser Arbeit. 35 Vgl. dazu z. B. die Forschung über die Halbstarken oder die existenzialistischen Schüler bei Zinnecker 1987; vgl. dazu auch Krüger 1985, S.146ff., Siegfried 2003 und Siegfried 2008b, S.27.

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in ihrer Bedeutung für die aktive Suche nach einer Peer-group und in ihrer Bedeutung für das Handeln in der Peer-group dargestellt werden. Die Forschung hat dagegen bislang überwiegend Phänomene der neuen Jugendkultur – Halbstarkenkrawalle, neue jugendspezifische Medien (BRAVO), Gammler, Orte wie Milchbars und Clubs – untersucht. Die Perspektive der Jugendlichen selbst kommt aufgrund der Quellenlage gar nicht oder nur in der gebrochenen Wahrnehmung durch Öffentlichkeit und Erwachsene bzw. über mediale Verlautbarungen von Jugendlichen oder in vereinzelten autobiographischen Quellen zur Sprache.36 Noch stärker gilt dies für die weiblichen Jugendlichen der Zeit. Da in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren ›die Jugendlichen‹ überwiegend als ›männliche Jugendliche‹ wahrgenommen wurden, gibt es fast keine Forschung über die weibliche Jugend und insgesamt keine über die Sozialisationsprozesse in Peer-groups. Bedeutsam im Hinblick auf die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit ist, dass die Jugendorganisationen und -kollektive nicht nur – wie in der Forschung vielfach betont – ein neues, öffentlich wahrgenommenes soziales Phänomen sind, sondern von den interviewten Frauen auch als bedeutsame Sozialisations- und auch Politisierungsinstanz erfahren werden. Gleiches gilt auch für die Schule. Sie ist für die interviewten Frauen nicht primär der Ort autoritärer Generationsverhältnisse, sondern geprägt durch sich verändernde Lehrer-Schüler-Verhältnisse, durch Klassengemeinschaften und politisch-relevante sowie explizit-politische Interaktionserfahrungen, u. a. in der Schülerbewegung. Dabei setzen einige Frauen ihre im Elternhaus erworbenen politischen Orientierungen fort, andere entwickeln politische Haltungen und Handlungen erst in den Jugendkollektiven innerhalb und außerhalb der Schule. Für die (bildungs-)historische Forschung zu Jugend und Schule in den 1960er Jahren ergeben sich dadurch neue Forschungsfragen: Wie stellt sich der Sozialisationszusammenhang von Elternhaus, Schule und Jugendorganisation/-kollektiv in individuellen Biographien dar? Welche Rolle spielt die Schülerbewegung im Kontext der sozialisatorischen Erfahrungen in den Familien und Peer-groups und umgekehrt? Die vorliegende Arbeit versteht sich auch als ein Beitrag zur Geschichte der Frauenbewegung. Wie bereits im Kapitel zum Forschungsstand herausgearbeitet wurde, gibt es bisher nur wenige Analysen, die die geschlechtsspezifische Perspektive von ›1968‹ bearbeiten. Forschungsarbeiten, die nach der Beteiligung von Studentinnen an ›1968‹ und nach der Bedeutung von ›1968‹ für Studentinnen fragen, konzentrieren sich aber vor allem auf die Bedeutung von ›1968‹ für die Entstehung der Neuen Frauenbewegung ab den frühen 1970er Jahren.37 Eine Betrachtung der Protagonistinnen und ihrer Lebensgeschichten erfolgt dabei insbesondere über biographische 36 Vgl. exemplarisch Maase 1992, Kurme 2006, Baacke 2007 und Siegfried 2008b. 37 Vgl. dazu exemplarisch die Arbeiten von Anders 1988, Schmidt-Harzbach 1988, NaveHerz 1993 und Schulz 2002; vgl. dazu auch die Ausführungen in Kap. I.2.

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Interviews oder autobiographische Stellungnahmen, die jedoch überwiegend die Rekonstruktion der Beteiligung an der Neuen Frauenbewegung fokussieren. Eine Analyse von Lebensgeschichten sowie individuellen und kollektiven Erfahrungen und der Entwicklung von Einstellungen und Handlungspraktiken der Frauen, die sie zur Aktivität in der Studentenbewegung und schließlich zur Herausbildung einer geschlechtsspezifischen Perspektive bewegen, liegt bislang nicht vor. Zwar wird in der Forschungsliteratur die Nähe der Neuen Frauenbewegung zur Studentenbewegung nicht negiert und auf die Bedeutung der Universität hingewiesen, an der sich die ersten geschlechtshomogenen Gruppen, wie der ›Aktionsrat zur Befreiung der Frau‹ und die ersten ›Weiberräte‹ gründeten, eine Analyse der vorhergehenden und begleitenden Erfahrungen, Motive und Rollen der Frauen an der Universität bleiben jedoch ebenfalls aus. Wie in dieser Untersuchung herausgearbeitet werden konnte, haben die Frauen unterschiedliche Motive, die sie zur Partizipation an einer geschlechtshomogenen Gruppe bewegen. Es ist, wie an diesen zehn Fällen erkennbar wird, nicht nur die so häufig in der Literatur zur Studentenbewegung aufgezeichnete Ungleichbehandlung und die im Anschluss daran formulierte Emanzipationsforderung, die die Frauen zu einer Mitgliedschaft in einer Frauengruppe bewegen. Wie deutlich wurde, sind die Motive vielfältiger und stehen nicht nur in einem Zusammenhang mit den an der Universität gemachten Erfahrungen. Dennoch hat, wie in dieser Untersuchung auch deutlich wurde, die Universität eine besondere Bedeutung für die Herausbildung einer geschlechtspolitischen Perspektive. Sie bietet als Erfahrungs- und Handlungsraum diesen Studentinnen sowohl institutionalisierte als auch in einem erhöhten Maß nicht-institutionalisierte Partizipationsmöglichkeiten, die sie annehmen. Hierbei konnten an der Universität sowohl kontinuierliche als auch diskontinuierliche Verläufe herausgearbeitet werden. An dieser Stelle könnte beispielsweise weiterführend erforscht werden, welche Erfahrungen dann innerhalb der unterschiedlichen Frauengruppen in den 1970er Jahren gemacht werden und wie diese die Lebensweise der Frauen weiter beeinflussten, so beispielsweise hinsichtlich der beruflichen oder partnerschaftlichfamiliären Orientierung. Da die Bedeutung der Universität als Ort der (geschlechtsspezifischen) Politisierung in diesem Kapitel bereits ausführlich dargestellt worden ist, werden im Folgenden speziell Forschungsfragen und -perspektiven entwickelt, die sich aus den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit ableiten lassen. Wie in der Arbeit deutlich wird, können Bedeutung und Verlauf der Studentenbewegung an den bundesdeutschen Universitäten und die Motive und Handlungsorientierungen der in ihnen (in der Universität und im Rahmen der Studentenbewegung) handelnden Akteurinnen und Akteure erst dann verstanden werden, wenn nicht nur die strukturellen Bedingungen der Universitäten und die Handlungen der studentischen Akteurinnen und Akteure innerhalb der Universität erfasst, sondern darüber hinaus deren Kindheits-

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und Jugenderfahrungen herangezogen werden. So können die in der Forschung zu ›1968‹ bislang ungeprüften Thesen über Gründe und Motive von politischen Akteurinnen und Akteuren, wie z. B. die Folgende – »die rebellischsten stammen überwiegend aus privilegierten Familien. (…). Ein Jugendlicher fühlt sich dann am stärksten zu Protestbewegung hingezogen, wenn er in Familien mit ›progressivem‹ Erziehungsstil aufwuchs«38 – durch die Auswertungsergebnisse der Interviews differenziert werden. Wie im Forschungsstand dieser Untersuchung aufgezeigt wurde, hat sich die Forschung zu ›1968‹ und der Studentenbewegung in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert. Insbesondere die Untersuchungen seit den 1990er Jahren widmen sich einer systematischen Analyse von ›1968‹ als Gegenstand der Geschichtswissenschaft.39 Damit einhergehend werden ›1968‹ und die Studentenbewegung – welche der öffentlichkeitswirksamste Teil von ›1968‹ war – als Bestandteil dynamischer Entwicklungen begriffen und in den Kontext der ›langen 1960er Jahre‹, d. h. in eine längere Transformationsphase, eingebettet. Über diese Vorgehensweise verliert ›1968‹ sein Alleinstellungsmerkmal als Ereignis und historische Zäsur. Gleichzeitig können dadurch kulturelle, politische, ökonomische und soziale Entwicklungs- und Veränderungsprozesse bei der Analyse der Entstehung und dem Verlauf der Proteste sowie bei der Analyse der Akteurinnen und Akteuren mit berücksichtigt werden.40 Bislang gibt es aber nur wenige Arbeiten, die sich aus dieser Forschungsperspektive heraus den ›Orten‹ von ›1968‹ – insbesondere den Universitäten – widmen, obwohl den Universitäten in der Literatur zu ›1968‹ einhellig eine wichtige Bedeutung zugesprochen wird.41 So ist auch das Verhältnis von ›1968‹ und den ›langen 60er Jahren‹ bisher für die Universitäten kaum erforscht worden.42 Vereinzelt gibt es Forschungsbeiträge, die nach dem Verhältnis der Studentenproteste innerhalb der Universität und der hochschulpolitischen Entwicklung in den ›langen 1960er Jahren‹ fragen oder Studentengruppen ab Ende der 1950er Jahre betrachten. In diesem Zusammenhang sei noch einmal exemplarisch auf die Untersuchungen von Anne Rohstock und Boris Spix verwiesen.43 38 Erwin Scheuch zitiert nach Arnold/Kroeber-Keneth/Lüscher 1970, S.19. Diese These, die bereits von Habermas (1969, S.34 und S.192f.) zeitgenössisch formuliert wird, wird bis in die Gegenwart tradiert; vgl. exemplarisch Langguth 2001, S.98f. und Wehler 2008, S.315. 39 Vgl. Gilcher-Holtey 1998. 40 Vgl. in diesem Zusammenhang exemplarisch Hodenberg/Siegfried 2006, Schildt/Siegfried 2006; Siegfried 2008a. 41 Vgl. dazu die Ausführungen im Forschungsstand dieser Arbeit Kap. I.2. 42 Vgl. dazu Groppe 2011. 43 Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. I.2.

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In der Forschung der letzten Jahre zur Universität und ›1968‹ ist man sich einig, dass die Universität bereits seit den Anfängen der 1960er Jahren aufgrund der Hochschulreformen von politischen Diskussionen und Kritik seitens der Studierenden geprägt war. Ab Mitte der 1960er Jahre nehmen dann schließlich die politischen Debatten zu und werden um konkrete politischen Aktionen der Studierenden erweitert.44 Was jedoch insgesamt fehlt – und das weit über die Universität in den 1960er Jahren hinaus – ist eine auf die Universität bezogene Sozialisationsforschung. Es gibt keine Untersuchungen, die die Universität als Sozialisationsraum analysieren und hierbei nach der Wechselbeziehung von Strukturen der Universität und den Protagonistinnen als Handelnde fragen. Zunächst wurde in der Auswertung der Interviews deutlich, dass die Universität nicht die einzige, aber eine sehr bedeutsame Sozialisations- und Politisierungsinstanz für die befragten Frauen ist. Gleichzeitig wurde aber deutlich, dass die Politisierung in der Universität über sehr unterschiedliche Instanzen (Lehrveranstaltungen, Auseinandersetzungen mit Rahmenbedingungen, Teilnahme an informellen Studien- und Protestgruppen etc.) verlief. Für die interviewten Frauen war es nicht die Studentenbewegung allein, die politisierte. Die Universität ist zudem nicht für alle befragten Frauen der Ort, an dem sie eine erste Sensibilität für politische Themen entwickeln. Für einen Teil der befragten Frauen ist die Universität der Ort, an dem sie ihre politischen Aktivitäten, die sie in der voruniversitären Lebensphase begonnen haben, fortsetzen können. Hier werden bereits erworbene politische Kenntnisse und politische Handlungsdispositionen eingebracht und weiterentwickelt. Doch gleichzeitig ist die Universität für alle Frauen der Ort, an dem sie eine geschlechtspolitische Perspektive entwickeln und dementsprechend handeln. Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang vor allem nach der Lehrorganisation, den Lehrinhalten und der räumlichen Verfasstheit der Universität. Wenn man Sozialisation als interaktionistisches, dialektisches Geschehen begreift, das zugleich in Institutionen und Strukturen verläuft, so müssen als dessen Bedingungsgefüge z. B. Lehr- und Wissensinhalte ebenso einbezogen werden wie Artefakte: Architektur, Raumausstattungen, Bücher und wissenschaftliche Bestseller etc. Für eine umfassende historische Sozialisationsforschung sind dies unverzichtbare Informationen. Auch die Wissenschaftsgeschichte könnte in diesem Zusammenhang noch stärker als Aspekt der Sozialisationsforschung betrachtet werden. Zu fragen ist vor diesem Hintergrund aber auch nach Generationsverhältnissen an der Universität. Professoren und Studierende brachten unterschiedliche Sozialisationserfahrungen an die Universität mit, die ihre Handlungsorientierungen strukturierten und die sich im Sozialisationsraum gegenseitig beeinflussten.45

44 Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. IV.4.3. 45 Vgl. Groppe 2011.

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VI.5 M ÖGLICHKEITEN

UND G RENZEN ZEITHISTORISCHER S OZIALISATIONSFORSCHUNG – D IE D OKUMENTARISCHE M ETHODE ALS I NSTRUMENT HISTORISCHER S OZIALISATIONSFORSCHUNG

›Die Universität ist der entscheidende Ort für ›1968‹, denn ›1968‹ ist vor allem eine Studentenbewegung, die einen großen Teil einer Alterskohorte von Jungakademikerinnen und -akademikern politisch geprägt hat.‹ Wenn man die Forschung zur Universität in den 1960er Jahren und zu ›1968‹ mit diesem Satz zugespitzt zusammenfasst,46 stellt sich die Frage, warum dies nicht bereits zu einer Vielzahl sozialisationshistorischer Studien zu ›1968‹ an den Universitäten geführt hat. Die Antwort liegt in einer Quellenproblematik. Universitätsarchive enthalten i. d. R. nur Dokumente, die im Rahmen der universitären Selbstverwaltung, der Prüfungen und der Universitätsgeschichte als offizielle Dokumente von Bedeutung sind. Sitzungsprotokolle der Gremien oder Ausschüsse an den Universitäten sind nur in ihren wichtigsten Beständen (Senat, Fakultät) dort aufzufinden. Flugblätter, Vortragsankündigungen, Rundschreiben, offizielle und inoffizielle Stellungnahmen zu Ereignissen und Reformen fehlen zumeist.47 Daher ist es für die Universitätsgeschichte – nicht nur für diejenige zu den 1960er Jahren – äußerst mühsam, allein den institutionellen, organisatorischen und alltagsgeschichtlichen Rahmen des Sozialisationsgeschehens zu rekonstruieren. Noch schwieriger stellt es sich dar, wenn die Seite der Akteurinnen und Akteure, ihre Persönlichkeitsentwicklung im Rahmen der Universität, analysiert werden soll. Hier fehlen historische Quellen oftmals ganz. Die Forschung ist dann verwiesen auf Nachlässe der Professoren oder auf biographische Zufallsfunde. Die Quellenlage bleibt dabei zwangsläufig lückenhaft. Sozialisationsprozesse an der Universität können vor diesem Hintergrund bislang nur aspekthaft über Briefe und Tagebücher, Erinnerungen und Autobiographien erschlossen werden. Heinz-Elmar Tenorth hat für die Alltagsgeschichte der Schule festgehalten: »Trotz einiger beispielhafter Studien über die Pädagogisierung und Professionalisierung der Lehrerarbeit in Deutschland (...) ist der historische Schulalltag noch weitgehend unaufgehellt, eher in kritischen Zuschreibungen als in quellenkritischen Untersuchungen gegenwärtig.«48 Im selben Sinne kann für die historisch-universitäre Sozialisationsforschung formuliert werden: Auch diese ist ›weitgehend unaufgehellt, eher in kritischen Zuschreibungen als in quellenkritischen Untersuchungen gegenwärtig‹. Sichtbar wird dies z. B. in der Studierendengeschichte am Beispiel der Burschenschaften, die zwar auch sozialisationshistori-

46 Vgl. dazu Kap. I.2. 47 Vgl. zu den Quellen Kraushaar 1998b; Rohstock 2010; Hammerstein 2012. 48 Tenorth 2010, S.145.

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sche Ergebnisse erbracht hat,49 aber doch überwiegend eine Vereins- und Organisationsgeschichte geblieben ist, nicht zuletzt mangels anderer Quellen. Die zeithistorische Forschung besitzt hier einen unschätzbaren Vorteil: Sie kann ihre Quellen selbst erzeugen. In der sozialhistorischen Forschung waren Interviews als Quelle dabei lange Zeit umstritten, nicht zuletzt, weil sie hier überwiegend im Sinne der ›oral history‹ als Dokumente faktischer Geschehensabläufe begriffen wurden. Als Quellen wurden Befragungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen daher häufig nur ergänzend zu schriftlich vorliegenden Quellen herangezogen, um Informationen über Strukturen und Institutionen zu erhalten. Partiell wurden sie jedoch auch genutzt, um Aussagen über Einstellungen und Erfahrungen von Personen innerhalb von Institutionen machen zu können, jedoch ohne dazu sozialwissenschaftliche Erhebungs- und Auswertungsmethoden heranzuziehen, d. h. ohne die Ergebnisse zu validieren. Die an zeithistorischen Entwicklungen interessierte ›oral history‹ unterliegt dann zu Recht einer vehementen Kritik, wenn sie nicht nur als ein Zugang zu mündlichem biographischem Datenmaterial verstanden wird, sondern den Anspruch erhebt, eine Methode zu sein, über die der Zugang zu vergangenen Erfahrungen und Einstellungen hergestellt werden kann. ›Oral history‹ als Erhebungs- und Auswertungsmethode, wie sie von einigen Forscherinnen und Forschern gefasst wird, bietet kein methodologisch und methodisch fundiertes Konzept zur Analyse von Interviews, so dass insbesondere die Problematiken von Erzählungen und Erinnerungen keine Berücksichtigung finden.50 Autobiographische Zeugnisse sind aber, wie oben ausgeführt, unverzichtbar für eine historische Sozialisationsforschung, auch für eine zeithistorische Erforschung politischer Sozialisationsprozesse.51 Sie geben Aufschluss über die Erfahrungen und Einstellungen von Individuen sowie über die Erfahrungsräume, in denen diese gemacht werden. Wie in dieser Arbeit deutlich geworden ist, sind für zeithistorische Arbeiten insbesondere Interviews geeignete Quellen, über die der Zugang zur Gedankenwelt historischer Subjekte hergestellt werden kann. Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ermöglichen es, die historischen Akteurinnen und Akteure und ihre Erfahrungen, die sie in ihren jeweiligen historischen Kontexten machen, sowie ihre Handlungspraktiken und ihre Selbst- und Weltdeutungen und deren Genese dicht zu beschreiben und für entsprechende Analysen zugänglich zu machen. Dafür ist es notwendig, sowohl eine geeignete Erhebungsmethode als auch eine differenzierte, methodologisch und methodisch gut abgesicherte Auswer49 Vgl. hierzu exemplarisch die Beiträge von Hardtwig 1992, Levsen 2007 und Dowe 2007. 50 Vgl. Niethammer 1985 und Vorländer 1990; vgl. dazu die Ausführungen von Stöckle 1990, S.131ff. zum praktischen Umgang mit ›oral history‹, der hauptsächlich die Vorgehensweisen beschreibt, ohne auf mögliche Problematiken hinzuweisen. 51 Vgl. Kleinau 2004, S.290.

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tungsmethode heranzuziehen, über die nicht nur der Zugang zu gegenwärtigen Einstellungen ermöglicht wird, sondern vor allem zu den impliziten Wissensbeständen und den handlungsstrukturierenden Orientierungen der Akteurinnen und Akteure, die in der Vergangenheit liegen. Die Dokumentarische Methode52, die dazu in dieser Untersuchung herangezogen wurde, ist eine Interviewauswertungsmethode, die für die zeithistorische Sozialisationsforschung hervorragend geeignet ist, jedoch bis jetzt dazu überraschenderweise nicht herangezogen worden ist. Wie in Kapitel II.2 dieser Arbeit ausführlich erläutert, zielt die Dokumentarische Methode auf die Rekonstruktion von Handlungs- und Lebensorientierungen und stützt sich bei der Interpretation der Interviews auf die erzähltheoretischen Grundlagen von Fritz Schütze (1986).53 Die Textsortentrennung nach Schütze ist geeignet, um das in der Vergangenheit liegende implizite Wissen und die Handlungsorientierungen von Akteurinnen und Akteuren zu erfassen und einer Analyse zugänglich zu machen. Im Vergleich zu anderen Auswertungsmethoden, die auch an narrative Interviews anschließen, wie beispielsweise die Objektive Hermeneutik z. B. bei Rosenthal (2011) oder die Narrationsstrukturanalyse z. B. bei Schütze (1983), setzt bei der Dokumentarischen Methode zudem die komparative Analyse der Verläufe der Fälle bereits sehr früh ein und beginnt schon mit dem ersten Interpretationsschritt. Die Interpretation des einen Falles kann durch die Hinzunahme eines zweiten oder dritten Falles untermauert werden. Damit können zugleich neue Vergleichshorizonte eröffnet werden. Das komparative Vorgehen trägt dabei zur Validität der Untersuchung bei.54 Des Weiteren wird bei der Dokumentarischen Methode eine mehrdimensionale Typologie angestrebt, über die kollektiv erfahrene strukturelle Bedingungen (Erfahrungsräume), unter denen Handlungsorientierungen entwickelt werden, erfasst werden können. Unter welchen Rahmenbedingungen kollektive Erfahrungsräume wiederum entstehen, kann dann – in einem ergänzenden Schritt zur Dokumentarischen Methode – über die Beschreibung und -analyse der Lebenswelt erfasst werden, so wie es in dieser Untersuchung vorgenommen wurde. Um die dieser Arbeit zugrunde liegende Fragestellung beantworten zu können, wurden daher im Sinne einer »dichten Beschreibung« nach Geertz (1983) die strukturellen Rahmenbedingungen (Kap. IV), in denen sich Persönlichkeiten entwickeln, so genau und differenziert wie möglich beschrieben und interpretiert. Über eine solch dichte Beschreibung der Rahmenbedingungen, d. h. der Kontexte, in denen Verhaltensweisen, Sinndeutungen und Handlungen erfolgen, war es dann möglich, mithilfe der Dokumentarischen Methode die Interaktionsprozesse und die Entstehung von Handlungsorientierungen historischer Individuen in ihren jeweiligen 52 Vgl. Nohl 2006a und Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2007a. 53 Vgl. Nohl 2006a. 54 Vgl. dazu Kap. II dieser Arbeit.

VI. DIE U NIVERSITÄT

ALS

ORT

DER

P OLITISIERUNG? | 377

Bedingungsgefügen zu verstehen. Die zeithistorische Sozialisationsforschung besitzt somit mit der Dokumentarischen Methode ein ausgezeichnetes Instrument zur qualitativen Erforschung von Sozialisationsprozessen. Sie kann immer da eingesetzt werden, wo Zeitzeuginnen und Zeitzeugen noch befragt werden können, wo es nicht um Ereignisschilderungen im Sinne vermeintlicher historischer Faktizität geht, sondern wo es darum geht, die zeithistorischen Akteurinnen und Akteure selbst in ihren Handlungsorientierungen zu begreifen.

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: »Inhalte politischer Sozialisation« Abbildung 2: Zweidimensionale Typenbildung ›Genese von Politisierung in der voruniversitären Lebensphase‹ Abbildung 3: Dreidimensionale Typenbildung ›Politisierung in der universitären Lebensphase‹

77 163 236

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400 | DAS POLITISIERTE G ESCHLECHT

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Anhang

E DITORISCHE N OTIZ : Die Hervorhebungen in Zitaten entsprechen – soweit nicht anders angegeben – den Hervorhebungen der Autorinnen und Autoren im Original; sie werden durch Kursivdruck wiedergegeben. Auslassungen oder Ergänzungen in Zitaten durch die Verfasserin werden durch (...) oder [Text] gekennzeichnet. Auslassungen im Original sind als solche gekennzeichnet. Spezialbegriffe, Namen von Organisationen etc., Überschriften von Publikationen und uneigentliche Rede werden in einfache Anführungszeichen gesetzt, wörtliche Zitate in doppelte Anführungszeichen. In dieser Arbeit werden sowohl Männer als auch Frauen sprachlich berücksichtigt und entsprechend sowohl feminine als auch maskuline Formen benutzt (Studentin/Student). Ausgenommen hiervon sind Kollektivbegriffe, die in ihrer semantischen Tradition nicht zwischen maskulin und feminin unterscheiden (Studentenbewegung).

T RANSKRIPTIONSREGELN : (.) (2) °nee° . , vielleinei::n haben=wir (doch) ( ) (Name)

Pause bis zu einer Sekunde Anzahl der Sekunden, die eine Pause dauert leise gesprochen stark sinkende Intonation schwach steigende Intonation Abbruch eines Wortes Dehnungen in einander übergehend gesprochene Wörter Unsicherheit bei der Transkription unverständliche Äußerung Anonymisierung eines genannten Namens

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((lacht)) @nein@ @(.)@ //mmh//

parasprachliche Ereignisse lachend gesprochen kurzes auflachen Hörersignal der Interviewerin

ANONYMISIERTE N AMEN DER I NTERVIEWPARTNERINNEN : Frau Behrens Frau Clement Frau Esser Frau Früh Frau Jahnsen Frau Kasten Frau Kielen Frau Neuer Frau Schaal Frau Weser

ZEHN

Histoire Michael Hochgeschwender, Bernhard Löffler (Hg.) Religion, Moral und liberaler Markt Politische Ökonomie und Ethikdebatten vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2011, 312 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1840-2

Bernd Hüppauf Was ist Krieg? Zur Grundlegung einer Kulturgeschichte des Kriegs Juli 2013, ca. 180 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2180-8

Martin Knoll Die Natur der menschlichen Welt Siedlung, Territorium und Umwelt in der historisch-topografischen Literatur der Frühen Neuzeit Mai 2013, 464 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2356-7

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3) ANZ2410.p 331929819798

Histoire Oliver Kühschelm, Franz X. Eder, Hannes Siegrist (Hg.) Konsum und Nation Zur Geschichte nationalisierender Inszenierungen in der Produktkommunikation 2012, 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1954-6

Ute Rösler Die Titanic und die Deutschen Mediale Repräsentation und gesellschaftliche Wirkung eines Mythos August 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2324-6

Sarah Zalfen, Sven Oliver Müller (Hg.) Besatzungsmacht Musik Zur Musik- und Emotionsgeschichte im Zeitalter der Weltkriege (1914-1949) 2012, 336 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1912-6

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3) ANZ2410.p 331929819798

Histoire Steffen Bender Virtuelles Erinnern Kriege des 20. Jahrhunderts in Computerspielen 2012, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2186-0

Lars Bluma, Karsten Uhl (Hg.) Kontrollierte Arbeit – disziplinierte Körper? Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Industriearbeit im 19. und 20. Jahrhundert 2012, 434 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1834-1

Thomas M. Bohn, Victor Shadurski (Hg.) Ein weißer Fleck in Europa ... Die Imagination der Belarus als Kontaktzone zwischen Ost und West (unter Mitarbeit von Albert Weber) 2011, 270 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1897-6

Marina Hilber Institutionalisierte Geburt Eine Mikrogeschichte des Gebärhauses 2012, 362 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2035-1

Nora Hilgert Unterhaltung, aber sicher! Populäre Repräsentationen von Recht und Ordnung in den Fernsehkrimis »Stahlnetz« und »Blaulicht«, 1958/59-1968 August 2013, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2228-7

Alexandra Klei, Katrin Stoll, Annika Wienert (Hg.) Die Transformation der Lager Annäherungen an die Orte nationalsozialistischer Verbrechen 2011, 318 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1179-3

Michael März Linker Protest nach dem Deutschen Herbst Eine Geschichte des linken Spektrums im Schatten des ›starken Staates‹, 1977-1979 2012, 420 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2014-6

Patrick Ostermann, Claudia Müller, Karl-Siegbert Rehberg (Hg.) Der Grenzraum als Erinnerungsort Über den Wandel zu einer postnationalen Erinnerungskultur in Europa 2012, 266 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2066-5

Carola S. Rudnick Die andere Hälfte der Erinnerung Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989 2011, 770 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1773-3

Stefanie Samida (Hg.) Inszenierte Wissenschaft Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert 2011, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1637-8

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