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German Pages 448 Year 2015
Christina von Braun, Dorothea Dornhof, Eva Johach (Hg.) Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften
| GenderCodes | Herausgegeben von Christina von Braun, Volker Hess und Inge Stephan | Band 9
2009-08-10 15-35-30 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02e9217812017102|(S.
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Christina von Braun, Dorothea Dornhof, Eva Johach (Hg.)
Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften Studien zum Verhältnis von Wissen und Geschlecht
2009-08-10 15-35-30 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02e9217812017102|(S.
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Eva Johach und Dorothea Dornhof, Berlin Satz: Petra Beck und Eva Johach, Berlin Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1145-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt Einleitung: Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften CHRISTINA VON BRAUN, DOROTHEA DORNHOF, EVA JOHACH
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WISSENSGESCHICHTE DES UNBEWUSSTEN Das Unbewusste zwischen Subversion und neurowissenschaftlichem Biedermeier MICHAEL HAGNER
27
Freuds Entdeckung des »dynamischen« Unbewussten im Kontext seiner Hysterieforschung GÜNTER GÖDDE
44
Der Kern des Unbewussten in Freuds Mikroskop. Apparatur und Vorverständnis in der Wissensgenese BETTINA BOCK VON WÜLFINGEN
62
Von überzeitlichen Strukturen träumen. Genialität in der chemischen Forschung des 19. Jahrhunderts UTE FRIETSCH
80
Die Ordnung der Psychotropika. Drogistische Forschungsreisen ins Unbewusste JEANNIE MOSER
98
DAS UNBEWUSSTE DER WISSENSORDNUNG Das Geschlecht des Unbewussten in der Wissensordnung CHRISTINA VON BRAUN Das Objekt und das Andere. Lacans Logik des Begehrens und die moderne Episteme ANNETTE BITSCH
119
137
Paradoxe Lust als das Unbewusste wissenschaftlicher Kränkungen CHRISTOPH F. E. HOLZHEY Das Unbewusste in der Psychiatrie. Negative Gegenübertragung bei der Diagnose der Persönlichkeitsstörungen TILO HELD Verbinden, Verknüpfen, Verstricken. Textile Metaphern in den Wissenschaften ELLEN HARLIZIUS-KLÜCK
157
173
196
DAS POLITISCHE UNBEWUSSTE Das Soziale ist das Irrationale JOSEPH VOGL
213
Herrschaft und Triebnatur. Staatspsychologie im Umfeld der Historischen Rechtsschule INGRID WURST
226
Lusthierarchie und soziale Ordnung. Das Unbewusste des männerbündischen (Kollektiv-)Subjekts CLAUDIA BRUNS
243
Weiblicher Urgrund des Sozialen. Zur Bio-Politik des Unbewussten in Ernst Bergmanns »Erkenntnisgeist und Muttergeist« (1932) EVA JOHACH
264
Ödipus Schwarz/Weiß . Der ›Rape-Lynching-Komplex‹ als soziale Pathologie GABRIELE DIETZE
281
Von U nach B oder: B(w) ist immer schon U(bw). Zur Medialität von Binärstrukturen SUSANNE LUMMERDING
301
DAS VISUELLE UNBEWUSSTE Die Wiederkehr der Bilder und imperiale Inszenierungen im Kontext neuer Kriege SILKE WENK
319
Eine andere Natur. Das Optisch-Unbewusste und die Ästhetik des Surrealismus KATHRIN PETERS
336
Der Parapsychologe und sein Medium im Experiment. Geschlecht und Medialität des Unbewussten DOROTHEA DORNHOF
354
Die Heide als weißer Raum: Deutschsein zwischen Erinnern und Vergessen in »Grün ist die Heide« (BRD 1951, R: Hans Deppe) MAJA FIGGE »It is the between that is tainted with strangeness«. Das unheimliche Geschlecht virtueller Wesen CLAUDE DRAUDE Ein träumender und traumatisierender Computer. Repräsentationen des Unbewussten in Donald Cammells Science-Fiction-Film »Demon Seed« (1977) JULIA BARBARA KÖHNE Autorinnen und Autoren
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395
414
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Einleitung: Das Unbew usste. Krisis und Kapital der Wissenschaften CHRISTINA VON BRAUN, DOROTHEA DORNHOF, EVA JOHACH
Das Unbewusste war schon oft Objekt der Wissenschaften – sei es, dass sich diese mit dem Instrumentarium der Psychologie, der Soziologie, der Neurologie oder auch kultur- und kunstwissenschaftlicher Methoden ihrem Forschungsgegenstand näherten. Es gibt ein geradezu theologisches Interesse am Unbewussten, denn das Unberechenbare und Allmächtige, das einst mit einer göttlichen Gewalt in Verbindung gebracht wurde, scheint heute vom Unbewussten besetzt zu sein. Das macht es offenbar so wichtig, die Gesetze zu kennen, nach denen das Unbewusste funktioniert; und jede Disziplin versucht auf ihre Weise, diese Gesetze zu ergründen. Bisher ist das Unbewusste jedoch selten unter dem Aspekt seiner Rolle für die Wissensproduktion und für die Wissensordnung betrachtet worden. Dabei erscheint es evident, dass das Unbewusste die conditio sine qua non des Bewusstseins bildet: Erstens verschafft die Abgrenzung gegen das Unbewusste dem Bewusstsein eine Selbstdefinition – mit der Folge, dass das Unbewusste immer wieder neu beschrieben wird, hat es doch immer eine andere, dem Betrachter angemessene Funktion zu erfüllen. Zweitens wird das Unbewusste aber auch zum Motor der Wissensproduktion: Gerade weil es eine Störung der Wissensordnung beinhaltet, gibt es dem Wissen immer neue Anstöße, durch die eine Anomalie in Normalität überführt werden soll. Das Unbewusste streut Sand ins Getriebe der Wissensordnung und zwingt diese, sich zu erneuern, altes Wissen ad acta zu legen und neues Wissen zu akkumulieren. Mit anderen Worten: Das Unbewusste ist zugleich Krisis wie Kapital der Wissenschaften. Dass das Unbewusste nicht nur Objekt der Forschung ist, sondern auch zum Subjekt der Wissensproduktion werden kann, das ist eine Erkenntnis, mit der sich die Wissenschaften bisher schwer tun. Doch mit der Entdeckungsgeschichte des Unbewussten stellte sich auch immer pointierter die Frage: Wel-
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chen Einfluss üben die Kräfte des Unbewussten auf die Wissensproduktion selbst aus? Als ständiger Begleiter des positiven Wissens hat das Unbewusste den Bereich des Sagbaren und Sichtbaren reguliert und neue Forschungsobjekte hervorgebracht. Mit der Erkenntnis, dass der Mensch als handelndes, fühlendes und denkendes Wesen zugleich Subjekt und Objekt des Wissens ist, traten unbewusste Szenarien auf den Plan, die in ihren Folgen für die Wissensproduktion unabweisbar sind. Denn die Entdeckung des Unbewussten und Imaginären als kreatives Potenzial geht sowohl mit Faszination und Ängsten als auch mit neuen Ordnungsbestrebungen einher. Fragt man nach dem ›Ort‹ des Unbewussten innerhalb der modernen Wissensordnung, so geht es wesentlich um die Frage, welches Krisenpotenzial dieses für Vernunft und Rationalität und damit für die Grundlagen der Wissenschaften bereit hält – und mittels welcher Strategien die Krise gebannt, abgewehrt oder überwunden werden kann. Das Unbewusste der Wissensordnung – hier verstanden als das, was durch die Logik der Wissenschaften als »Anderes« konstituiert wird – operiert über die Erzeugung eines kolonialen Metaphernfeldes und den Einsatz von Geschlechtercodes. Die dichotome Zuordnung von männlich/rational und weiblich/irrational war dabei sowohl für das abendländische Konzept von »Wissenschaft« per se als auch für die Etablierung zahlreicher wissenschaftlicher Disziplinen konstitutiv und brachte nicht zuletzt das hervor, was Claudia Honegger als »weibliche Sonderanthropologie« bezeichnet hat. Es wäre jedoch falsch, solche Dichotomien zu reproduzieren und damit ihre Funktionalität für das Wissenschaftssystem zu bestätigen. Sie hypostasieren einen Wissenschaftsrationalismus, der dem Selbstbild vieler Wissenschaften gar nicht (mehr) entspricht. Zwar tritt mit der Aufklärung ein Rationalitätsideal auf den Plan, das sich der Austreibung des Irrationalen verschreibt. Zugleich dämmert jedoch auch die Einsicht herauf, dass die Vernunft sich nicht denken kann, ohne sich mit ihrem »Anderen« zu konfrontieren. Die Faszination für Mythen, Träume, Geister und Monster gehört ebenso zur Epoche der Aufklärung wie die stets erneuerte Anstrengung, sich die Bedrohung durch Wahnsinn, Irrationalität und Triebe vom Leibe zu halten. In dieser Ambivalenz von Aneignung und Abstoßung vollzieht sich seit der Romantik eine dezidierte Aufwertung des »Unbewussten«, die sich in der Konzeption künstlerischer Produktivität und in der Poetik, aber auch in der physiologischen Theoriebildung niederschlug und das aufklärerische Rationalitätsideal der Wissenschaften zu unterminieren begann. Nicht erst mit Freud haben sich die Wissenschaften der Einsicht zu stellen, dass die Grenzen zwischen Vernunft und Wahnsinn (Halluzinationen, Phantasmen) und damit zwischen Normalität und Abweichung fließend sind. Da beide das konstitutive »Andere« des Erkenntnissubjekts verkörpern, besetzen das Unbewusste wie das symbolisch Weibliche einen strukturell
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homologen Ort innerhalb der Wissensordnung. Dieser Zusammenhang wird etwa erkennbar, wenn Freud dem Unbewussten eine Metaphorik des Dunklen und des Weiblichen zuordnete und sich selbst damit als Kolonisator inszenierte. Entsprechend dieser Doppelcodierung bedeutete diese dem Bewusstsein gegenläufige ›Kraft‹ sowohl Bedrohung als auch Faszination. Der Wissensdrang, mit dem sich Philosophen, Mediziner, Psychologen oder auch Parapsychologen den Prozessen des Unbewussten gewidmet haben, entsprang keineswegs nur seinem bedrohlichen Charakter, der Gefahr für eine absolut gesetzte Vernunft, sondern auch der Verheißung – versprach es doch Zugang zu göttlichen Sphären und zu ungeahnten Potenzialen der Kreativität; es erschien als Motor künstlerischer Produktion und ›Zeugungskraft‹. An dieser Doppelbödigkeit erweist sich der enge Zusammenhang zwischen Wissens- und Geschlechterordnung: Auf der einen Seite konnte das Argument, ›die Frau‹ sei vor allem durch das Unbewusste bestimmt, für den Ausschluss von Frauen aus den Hallen wissenschaftlicher Rationalität in Anschlag gebracht werden; zum andern aber lockte die symbolisch weibliche Codierung dieses unbekannten fremden Terrains, dem ›die Frau‹ zugleich in physiologischer wie metaphysischer Hinsicht ungleich näher zu stehen schien, Heerscharen von Forschern auf ungewisse Expeditionen in den »dunklen Kontinent«. Diesen Ambivalenzen entsprechend lassen sich – zumindest heuristisch – verschiedene Formen unterscheiden, wie jenes »Andere« im Prozess der Wissenschaften wirksam wird. Ähnlich wie das Weibliche als Katalysator für die künstlerische Einbildungskraft fungierte, tritt auch das »Andere« nicht nur als das in Erscheinung, was unterworfen und entmündigt werden muss. So haben sich viele neue Möglichkeiten entwickelt, mit diesem Anderen umzugehen: Ausgrenzung, Eingemeindung, Instrumentalisierung, Entschärfung, Entwendung, Abstraktion, Idealisierung, Anbetung … à suivre. Die vom Unbewussten geleitete Wissensproduktion entfaltet ihre Dynamik innerhalb des Wissens wie der Wissenschaften. Die Wissenschaften stellen den kanonisch erfassbaren, den klar umrissenen, kartierten und berechenbaren Bereich der Wissensordnung dar, während das Wissen auch all jene Felder umfasst, die ohne klare disziplinäre Umgrenzung auskommen und sich nicht auf ›rationale‹ Formen des Wissens beschränken. Im Sinne einer Wissensgeschichte richtet sich die Fragestellung dieses Sammelbandes nicht nur auf akademische Auseinandersetzungen um das Konzept des Unbewussten, sondern ebenso auf dessen ästhetische, visuelle und politische Repräsentationsformen. Ziel ist es also nicht, den Begriff des Unbewussten, jenes »Zentralmassiv der Psychoanalyse« (Buchholz/Gödde), in all seinen archäologischen Schichten zu untersuchen. Das Anliegen ist zugleich bescheidener und weitreichender: Es geht um das Unbewusste als epistemologisches Feld, auf dem sowohl in der Wissensgeschichte als auch in der modernen Wissens- und Geschlechterordnung eine komplexe und vielfältige Dynamik entfaltet wurde.
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Es ist davon auszugehen, dass die moderne Wissensordnung nicht nur auf die Abwehr, sondern ebenso auf die Produktivität des Unbewussten setzt: als neu entdeckte und ›erneuerbare Energie‹ der Wissensproduktion. Denn mit der Einsicht in die Funktionalität von Geschlechtercodierungen und projektiven (Be-)Setzungen des Fremden verdoppelt sich die moderne Problematik der Wissensgenerierung über das unbewusste Wissen. Das damit einhergehende Nachdenken über unreflektierte Vorannahmen, die sich in die Kategorien und Methoden der Disziplinen einschreiben, kann auch als Mehrwert betrachtet werden, der sich in neuen Forschungsfragen und Forschungsfeldern realisiert. Inzwischen blicken wir nicht nur auf eine lange Wissensgeschichte des Unbewussten, sondern auch auf eine von zahlreichen Krisen und Herausforderungen gekennzeichnete Auseinandersetzung der Wissenschaften mit ihrem eigenen Unbewussten zurück. Lange Prozesse des ›Durcharbeitens‹ ihrer eigenen Voraussetzungen und Ausschließungsprozeduren haben die Wissenschaften zu einem höheren Grad an Selbstreflexion geführt und die Selbstreflexion zu einem integralen Bestandteil humanwissenschaftlicher Forschung und Methodik gemacht. Vor dem Hintergrund vielfältiger Herausforderungen durch die Stimmen ›Anderer‹ und die Ausbreitung psychoanalytischer und dekonstruktiver Denkmuster führt die Selbstreflexion auch zur Frage, in welchem Maße die Konstitution eines »Anderen« für die Etablierung und Aufrechterhaltung der Ordnung der Wissenschaften konstitutiv ist. Denn die gewachsene Selbstreflexion geht mit der Einsicht in die Produktivität interdependenter geschlechtlicher Zuschreibungen einher. Diesen kommt insofern eine wichtige wissenschaftsfunktionale Bedeutung zu, als sie Grenzen etablieren: zwischen Vernunft und Irrationalität, legitimem und illegitimem Wissen oder sogenannten ›harten‹ und ›weichen‹ Wissenschaften. Als das »Andere der Vernunft« (Böhme/Böhme) geht das Unbewusste jedoch in solchen dichotomen Zuordnungen nicht auf, es lässt sich weder funktional einspannen noch instrumentalisieren, sondern tritt als eine Dynamik in Erscheinung, die solche Grenzziehungen und Dichotomien stets aufs Neue unterläuft. Auf der reflexiven Ebene zwingt es dazu, sich über den Konstruktcharakter jeglicher Dichotomien, Projektionen und Setzungen klar zu werden. In diesem Band gehen wir den Irritationen, aber auch den Verheißungen nach, die das Unbewusste in seinen verschiedenen Begriffen und Modellen in der modernen Wissensordnung ausgelöst hat. Nachgespürt wird den ›Krisen‹, die die Entdeckungsgeschichte des Unbewussten für die Wissenschaften vom Menschen bedeutete sowie den Strategien, mit denen es gelang, mit dem ›Pfund‹ des Unbewussten zu wuchern, es zum Kapital der Wissenschaften zu machen. Neben den Spuren des Unbewussten in der Wissensgeschichte und Wissensordnung werden die Auseinandersetzungen mit diesem vielschichtigen Konzept auch auf der Ebene des politischen Imaginären der Moderne und den technisch-medialen Praktiken der visuellen Kultur verfolgt. Unabhängig
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davon, ob in den Beiträgen der Begriff des Unbewussten mit Freud als das »Verdrängte« begriffen wird, eher an Lacans sprachtheoretische Überlegungen zur Subjektgenese anschließt oder vom Begriff des Imaginären her definiert wird – in jedem Fall richten sie ihr besonderes Augenmerk auf die Dynamiken, die sich im Spannungsfeld zwischen Wissensordnung, Geschlechterordnung und Unbewusstem abzeichnen. Obgleich die Frage nach den Geschlechtercodierungen nicht in allen Beiträgen im Zentrum steht, zeigt sich die Wissenskategorie Geschlecht doch als Kreuzungspunkt, an dem die Fäden immer wieder zusammenlaufen und sich verdichten.
I . W i s s e n s g e s c h i c h t e d e s U n b ew u s s t e n Der Begriff des »Unbewussten« besitzt eine vergleichsweise junge Begriffsgeschichte, die bis etwa 1800 zurückreicht. Bis dahin war lediglich das Adjektiv gebräuchlich und bezeichnete laut Grimm’schem Wörterbuch nicht mehr als den Gegensatz zu »bewusst«, also »unbekannt«, »ohne Wissen« und »ohne klare deutliche Vorstellung«. In der Naturphilosophie, etwa mit Schelling und Carus, tritt »das Unbewusste« als bedeutungsreiches Substantiv auf den Plan. Es kommt zu einer Umcodierung der christlichen Seele in eine »Psyche«, die gleichermaßen in Korrespondenz mit einer »Weltseele« steht und analog zur »Lebenskraft« für die Lebensvorgänge im Körper zuständig ist. Bevor es Freud mit dem »Verdrängten« identifiziert und aufs engste mit den verborgenen sexuellen Triebkräften, Wünschen und Fantasien assoziiert, überspannt das Konzept des Unbewussten eine enorme Bandbreite an Bedeutungen, die von den instinktiven und automatischen Körpervorgängen wie Verdauung und Blutzirkulation über Intuition und Instinkte bis in die Sphäre der absoluten Idee bzw. eines göttlichen Unbewussten hineinragen. Dies macht auch plausibel, warum das Wissen um das Unbewusste sich in steter Ambivalenz zwischen Bedrohung und Verheißung bewegt. Das Unbewusste steht für das Fremde im Eigenen, das gleichwohl als primitive ›Schicht‹ in allen vermeintlich höher entwickelten Organismen verortet und mit den Attributen von Kreativität und Vitalität ausgestattet wird. Ihren charakteristischen Ausdruck finden diese Ambivalenzen in den wiederkehrenden Motiven des Unbekannten, das als »dunkler Kontinent« oder als »psychische Urbevölkerung« (Sigmund Freud) das Ich bedroht; je mehr es sich dem Unbewussten ausliefert, desto weniger ist es »Herr im eigenen Hause«. Zugleich üben jene Gebiete auf der »Nachtseite« des Seelenlebens, die Reise in diese fremden und archaischen Gefilde, einen enormen Reiz aus. MICHAEL HAGNER verfolgt in seinem Beitrag »Das Unbewusste zwischen Subversion und neurowissenschaftlichem Biedermeier« den Prozess der Cerebralisierung des Unbewussten, seine Verlagerung in die psychischen Vorgänge des Gehirns. Nachgezeichnet werden dabei drei Stränge der Wissens-
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produktion: das neuropathologische, das evolutionäre und das philosophische Unbewusste. In allen Spielarten zeigt sich als Motiv die grundlegende Ambivalenz, die das Unbewusste sowohl mit kreativen als auch mit zerstörerischen, für die Vernunft bedrohlichen Dynamiken assoziiert. Gegenüber einem als ›Zentralregierung‹ metaphorisierten Bewusstsein besetzt das Unbewusste die Peripherie des Nervensystems, von wo aus es das bewusste Ich mit Wahnsinn bedroht. Eine charakteristische Allianz zwischen Hirnforschung und Genieästhetik erkennt das Unbewusste als Motor künstlerischer Produktion, als das Kapital des Genies – allerdings um den Preis, höchste Begabung an der fließenden Grenze zum Wahnsinn ansiedeln zu müssen. Mit dieser konflikt- und krisenvollen Situation haben sich die Hirnforscher im 20. Jahrhundert, wie Hagner zeigt, auf das Unspektakulärste arrangiert. Die Obsession verliert sich, und die unbewussten Prozesse des Gehirns werden einer energetischen und mechanischen Physiologie eingemeindet, in der es lediglich um eine Entlastung des Bewusstseins geht. GÜNTER GÖDDES Beitrag widmet sich einem klassischen Ort der Wissensproduktion über das Unbewusste: In seinem Aufsatz »Freuds Entdeckung des ›dynamischen‹ Unbewussten im Kontext seiner Hysterieforschung« beschäftigt er sich mit der Frage, wie sich die Anziehungskraft des weiblichen Begehrens mit der Faszination des Unbewussten verquickt hat. Dies wird an der Figur der weiblichen Hysterikerin idealtypisch deutlich. In der weiblichen Hysterie artikuliert sich eine sexuelle Dynamik, die von den dunkeln Regionen eines weiblichen Begehrens ausgeht. Das stellt den Analytiker vor die Aufgabe, zusammen mit einer Theorie des Unbewussten auch eine Theorie der Weiblichkeit zu entwickeln. Freud hat die hysterischen Symptome seiner Patientinnen ausschließlich auf sexuelle Ursachen zurückgeführt. Was in der Hysterie zum Ausbruch kommt, seien oftmals Restbestände einer normabweichenden, nicht-vaginalen, einer ›männlichen‹ Sexualität; und da der Erfolg der Therapie in der Herstellung einer ›normalen‹ Sexualempfindung gesehen wird, geht es hier auch immer um die Normalisierung der ›Krankheit Frau‹. Auch BETTINA BOCK VON WÜLFINGEN widmet sich dem Freudschen Konzept des Unbewussten, und ihr Text »Der Kern des Unbewussten in Freuds Mikroskop. Apparatur und Vorverständnis in der Wissensgenese« nähert sich diesem in doppelter Perspektive: als Gegenstand und Objekt der Forschung einerseits und als unbewusste Dynamik innerhalb der Theoriebildung andererseits. Vor dem Hintergrund von Freuds zellbiologischen Forschungen zeigt die Autorin, wie die vitalen Bilder von Zellen und Zellkernen als »Vorgesehenes« (Kaja Silverman) in Freuds Konzeption des »psychischen Apparats« einflossen. Es handelt sich gewissermaßen um ein Bildprogramm, das in der Modellbildung selbst eine Dynamik erzeugt, die über die Konkurrenz mechanischer und organischer Paradigmen hinausweist. Die Frage, wie das Unbewusste des Forschers an der Hervorbringung seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse beteiligt ist, beschäftigt auch UTE
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FRIETSCH in ihrem Beitrag »Von überzeitlichen Strukturen träumen. Genialität in der chemischen Forschung des 19. Jahrhunderts«. Sie zeigt am Beispiel des Chemikers August Kekulé, wie dieser ›im Traum‹ zu seiner bahnbrechenden Strukturformel des Benzols gelangte. Dass ihm die Formel im Halbschlaf als »Vision« zustieß, ist das prominente Zeugnis der Produktivität unbewusster Zustände: im Falle Kekulés lieferte ihm sein Unbewusstes ein lange gesuchtes synthetisches Bild, mit dem die empirisch gewonnenen Einzeltatsachen gewissermaßen ›schlagartig‹ Sinn bekamen. Kekulé hat diese Produktivkraft des Traums im Rahmen eines theoretischen Denkens zu rechtfertigen versucht. »Lernen wir träumen, meine Herren…!« – mit dieser bemerkenswerten Aufforderung zur Hingabe an das Unbewusste ist freilich zugleich der programmatische Appell verbunden, das in ›anderen Zuständen‹ gewonnene Wissen im Nachhinein mit nüchterner Rationalität zu durchdringen. Die Bewegung eines nachträglichen Einholens irrationaler Wissensspuren stellt sich in weit dramatischerer Weise auf einem Schauplatz, der im Zentrum von JEANNIE MOSERS Aufsatz »Die Ordnung der Psychotropika. Drogistische Forschungsreisen ins Unbewusste« steht. Die trips, die im Dienste der Forschung mit der sog. psychoaktiven Droge LSD unternommen werden, um das unbekannte Land des Unbewussten zu erkunden, werden nicht zufällig mit den Irrfahrten des Odysseus parallelisiert; wie im Fall der Sirenen ist es das symbolisch Weibliche, das den Forscher der Gefahr aussetzt, von diesen Forschungsreisen nicht mehr heimzukehren. Gegenläufig zur Krise eines IchVerlusts weckt die psychoaktive Droge aber auch das Versprechen, Psychotherapie von der sozialen Interaktion auf die Ebene chemischer Agenzien verlagern zu können. Indem die Dynamik des Unbewussten zunehmend auf chemische Vorgänge innerhalb des Gehirns zurückgeführt wird, avanciert es zum Ansatzpunkt für ein pharmazeutisches ›engineering‹, das die therapeutische Interaktion mehr und mehr ersetzen kann.
I I . D a s U n b ew us s t e d e r W i s s e n s o r d n u n g Der zweite Teil des Bandes beschäftigt sich mit der Frage nach dem Ort des Unbewussten in der modernen westlichen Wissensordnung. Der Etablierungsprozess der modernen Wissenschaften zeugt von der Inthronisierung einer wissenschaftlichen Vernunft, die sich über Ausschluss und Beherrschung des Fremden und (weiblich codierten) »Anderen« konstituiert. Zwar hat der durch die experimentellen Wissenschaften im 19. Jahrhundert fundierte Empirismus ein Nachdenken über das Wissen hervorgebracht, das Krisensymptomen auf der Spur war, doch die dichotome Zuordnung von männlich/rational und weiblich/irrational blieb dabei für die Etablierung moderner wissenschaftlicher Disziplinen konstitutiv. Zu fragen ist, wie Geschlechtscodierungen in diesen Dynamiken wirksam sind und welche Funktion sie etwa
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in der Architektur des wissenschaftlichen Feldes oder in der Herstellung und Destabilisierung des ›Kanons‹ haben. Mit dem objektivierenden entkörperlichten Blick der Naturwissenschaften trennt sich der Forscher (scheinbar) von seinem Gegenstand wie auch von seinem Körper und radikalisiert durch Polarisierungen und Hierarchisierungen eine das moderne Wissen durchziehende Reinigungsarbeit, in der sich das Abgespaltene der normierten und normierenden Zonen in Projektionen des Unbewussten seriell vermehrt. Diese Ordnung stiftende Reinigung und Grenzziehung, durch die legitimes von illegitimem Wissen geschieden wird, erzeugt Restbestände, Devianzen, ein okkultes und esoterisches Wissen, das als ›Wildwuchs‹ an den Rändern wuchert und sich als das »Unbewusste der Wissenschaften« betrachten lässt. Diesen Prozessen einer Neuordnung des Wissens seit dem 18. Jahrhundert sind sowohl die dynamisierende als auch destabilisierende Funktion des Unbewussten eingeschrieben. Gaston Bachelard hat die Genese der Wissenschaften als eine permanente Reinigungsarbeit bestimmt, bei der sich der »wissenschaftliche Geist« aus unbewussten Hemmungen, libidinösen Besetzungen und Verstrickungen in vorwissenschaftliche Denkmuster zu befreien hat. Das fortgesetzte Ringen mit »epistemologischen Hindernissen« (Bachelard) kann ebenso wie das »boundary work« (Thomas S. Gieryn) sowohl als Krisen- wie als Erneuerungsprozess des Wissens begriffen werden. In einer produktiven Wendung der von Bachelard adressierten Dynamik lassen sich unbewusste Prozesse – auch als das ungewusste oder stumme Wissen reflektiert – als unverzichtbare Ressource des Forschungsprozesses betrachten. So verdankt sich die Entdeckung neuer »epistemischer Dinge«, wie Hans-Jörg Rheinberger es formuliert hat, nicht so sehr der Rationalität eines Forschers als den Verschiebungen und Eigendynamiken innerhalb des von ihm eingerichteten »Experimentalsystems«. CHRISTINA VON BRAUN geht in ihrem Beitrag »Das Geschlecht des Unbewussten in der Wissensordnung« den Spuren und Codes des Unbewussten im natur- und geisteswissenschaftlichen Denken nach, über die sich ein männlich bewusstes Askese-Ideal und eine Verbindung von Weiblichkeit, Körper und Unbewusstem konfigurieren. Dass sich damit auch die Vorstellungen des männlichen Forschersubjekts und sein Verhältnis zum Objekt des Begehrens, der verwehrte Zugang von Frauen zur Universität und gleichzeitig der Einzug des Unbewussten in die Wissenschaft vollziehen, gehört zu den Paradoxien des historischen Prozesses. Mit der These, dass das Unbewusste der Kategorie Geschlecht zugrunde liegt, verweist sie dabei auf ein spezifisches Verhältnis von Logik und Wissenschaft, bei dem es sich um ein Phänomen der westlichen Gesellschaften handelt. ANNETTE BITSCH verfolgt in dem Beitrag »Das Objekt und das Andere. Lacans Logik des Begehrens und die moderne Episteme« im Werk von Lacan die Differenz im Begehren von Frau und Mann jenseits biologistischer Entitä-
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ten und fragt, welche Konsequenzen sich aus diesen Grenzziehungen und vor allem aus Lacans Privilegierung des weiblichen Begehrens für eine Relektüre der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte vom 18. bis ins 20. Jahrhundert generieren lassen. Dabei werden auf der Folie differenter Begehrensstrukturen Erkenntnistechniken und Repräsentationsmodi verdeutlicht, die sich historisch vom klassischen Zeitalter bis zur Intervention jenes »anderen Schauplatzes«, der Entdeckung des Unbewussten, vollziehen. Sie fokussiert ein hysterisches Begehren, verstanden als Position im kulturellen und wissenschaftlichen Diskurs, das sich nicht auf Objektivierung sondern auf die Adressierung eines Anderen richtet. CHRISTOPH HOLZHEY geht in »Paradoxe Lust als das Unbewusste wissenschaftlicher Kränkungen« den narzisstischen Dynamiken im Prozess der Wissenschaften nach. Seine Hypothese: Die moderne Hirnforschung habe die Freud’sche Kränkung, nicht »Herr im eigenen Haus« zu sein, radikalisiert. Für das »S/M-Theater der Wissenschaften« werden verschiedene Funktionen narzisstischer Kränkungen und deren Lustgewinn durch Unlust ausgemacht und somit auf Mechanismen verwiesen, mit denen wissenschaftliche Kränkungen des Ichs akzeptabel gemacht werden können. Steht die Willensfreiheit ebenso wie die Einheit oder Existenz eines Ich oder Selbst auf dem Spiel, so ist die ausgemachte paradoxe Lust als das Unbewusste wissenschaftlicher Kränkungen gleichermaßen Störung wie antreibende Kraft der Wissensproduktion. Der Psychiater und Psychoanalytiker TILO HELD stellt in seinem Beitrag »Das Unbewusste in der Psychiatrie. Negative Gegenübertragung bei der Diagnose der Persönlichkeitsstörungen« unbewusste Disqualifizierungen in der Produktion von Wissen über Patienten durch das Etikett ›Persönlichkeitsstörung‹ dar, die in der Medizin auf beiden Ebenen des diagnostischen Prozesses verdrängt worden sind: bei der allgemeinen Formulierung der diagnostischen Prinzipien als auch bei der Anwendung dieser Prinzipien durch den Diagnostiker. In seiner kritischen Reflexion zum gegenwärtigen Selbstverständnis der Psychiatrie wird deutlich, dass unbewusste Mechanismen scheinbar objektive Kriterien hervorbringen und Klassifizierungen von »Persönlichkeitsstörungen« den selbst gestellten Anforderungen an eine Kategorie im Rahmen eines medizinischen Diagnosesystems nicht genügen. Die durch unbewusste negative Gegenübertragung verdrängten Wissensinhalte können bei ihrer Bewusstwerdung die durch DSM definierte Wissensordnung gefährden. ELLEN HARLIZIUS-KLÜCK verhandelt in ihrem Beitrag »Verbinden, Verknüpfen, Verstricken. Textile Metaphern in den Wissenschaften« die Frage, warum in den Reflexionen zur Wissensproduktion so häufig auf die eher weiblich besetzten Kulturtechniken – Stricken, Knüpfen, Patchwork – zurückgegriffen wird, um den Transformationsvorgängen innerhalb der Wissenschaften Konsistenz zu verleihen. Zunächst sei darin der Wunsch nach Entdeckung der Formel des Universums zu erkennen, der sich in Metaphern des
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Webens und Gewebes artikuliert; darüber hinaus aber werde – so ihre These – in einer untergründigen Anstrengung neuerer Wissenschaftsforschung unbewusst weibliche Reproduktionsfähigkeit angeeignet und fortgeschrieben. Die Wissenschaftsforschung hat sich zwar intensiv mit dem Forschersubjekt, mit Experimentalsystemen und der Verknüpfung von Repräsentation und Objekt der Forschung auseinandergesetzt, war bisher jedoch blind gegenüber den Verstrickungen zwischen Wissens- und Geschlechterordnung, die sich in der Textilmetaphorik der Wissensproduktion artikulieren.
I I I . D a s p o l i t i s c h e U n b ew u s s t e Parallel zu einem neuen physiologischen Interesse für das Unbewusste wächst im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Einsicht, dass auch die soziale und politische Ordnung nicht auf Rationalität beruht, sondern dass es gerade irrationale und unbewusste Kräfte sind, die Sozialität konstituieren. Das Unbewusste gewinnt Autonomie gegenüber dem Bewusstsein und tritt diesem als eine eigengesetzliche Dynamik entweder antagonistisch oder komplementär gegenüber. Damit stellt sich die Frage, welche Bedeutung dem »Unbewussten« in der Konzeption des politischen Körpers zukommt bzw. zugestanden wird. Wie müssen in einem stabilen Sozialgebilde die unbewussten, vitalen, und explizit die geschlechtlichen Triebkräfte ›organisiert‹ sein? Mit den anthropologischen und physiologischen Grundlagen, die in die Staats- und Sozialtheorien seit dem 18. Jahrhundert Einzug finden, sollen auch die unbewussten Triebstrukturen für soziale Prozesse operationalisierbar gemacht werden. Dies wird umso relevanter, je mehr sich die Topographie des sozialen Körpers im »postrevolutionären Imaginären« (Ingrid Wurst) aus der Dichotomie von Haupt und Gliedern löst und in eine Vielfalt interagierender Kräfte verschiebt. Wie JOSEPH VOGL in »Das Soziale ist das Irrationale« zeigt, gewinnt im 18. Jahrhundert ein Wissen über Gesellschaft Gestalt, das das Soziale als einen autonomen, sich hinter dem Rücken der Akteure vollziehenden Prozess begreift. Irrationale Kräfte zur Basis des gesellschaftlichen Gefüges zu machen, gelingt in den Sozialtheorien des Liberalismus vor allem dadurch, dass sich »Leidenschaften« in »Interessen« transformieren, mit denen sich gleichsam nach den Gesetzen sozialer Mechanik ›rechnen‹ lässt. Aus Sicht liberaler Theoretiker bewerkstelligt es das Soziale selbst, die Laster der Einzelnen – mit Mandeville gesprochen – in der sozialen Interaktion zu einem kollektiven Guten zu summieren und so Sozialität auf Basis einer grundlegenden Asozialität des Menschen herzustellen. Erst in der Gestalt der »Masse« erscheint das Irrationale als Figur einer radikalen politischen Unvernunft, als pathologische Kraft, die das Gesellschaftssystem von innen heraus mit Dekomposition bedroht.
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An die Stelle des mechanischen Paradigmas tritt im 19. Jahrhundert die verstärkte Orientierung an Modellen des Organischen. Im Zuge dessen erhält der Staat selbst ein »Geschlechtsleben«, wie INGRID WURST in ihrem Beitrag »Herrschaft und Triebnatur. Staatspsychologie im Umfeld der Historischen Rechtsschule« zeigt. In den Staatslehren des 19. Jahrhunderts, hier demonstriert am Beispiel des Schweizer Staatsrechtlers Johann Caspar Bluntschli, übernimmt der männliche »Geschlechtstrieb« die (symbolische) Funktion einer gesellschaftlichen Produktivkraft. Wenn Bluntschli den Mann zum »Urbild des Staates« erklärt, bezieht er sich bezeichnenderweise nicht mehr auf ein geschlechtsneutrales Vernunftwesen, sondern auf ein mit Trieben ausgestattetes Geschlechtswesen. Insbesondere das »Recht« wird als Hervorbringung sexueller Kräfte gedeutet, die dem Staatswesen eine vitale Grundlage verleihen. Auch der Beitrag von CLAUDIA BRUNS, »Lusthierarchie und soziale Ordnung. Das Unbewusste des männerbündischen (Kollektiv-)Subjekts«, richtet sein Augenmerk auf die sexuellen Triebkräfte des sozialen Körpers. Zu Beginn des 20. Jahrhundert entwirft der Männerbundtheoretiker und FreudSchüler Hans Blüher eine Sozialtheorie, die als Alternativmodell zur heterosexuellen Ehe konzipiert ist und auf dem mann-männlichen Eros aufbaut. Unter Rückgriff auf antike Vorbilder und das Freud’sche Konzept der Sublimation entwickelt Blüher eine prekäre und vielfach angefeindete Lösung, um die vitalen und irrationalen Kräfte des sozialen Körpers zu bündeln und sexuelle Energie in soziale Bindungskraft zu transformieren. Weit problematischer erscheint die Integration sexueller Triebkräfte im Beitrag von EVA JOHACH, »Weiblicher Urgrund des Sozialen. Zur Bio-Politik des Unbewussten in Ernst Bergmanns ›Erkenntnisgeist und Muttergeist‹ (1932)«: Nicht das Weibliche, sondern gerade das Geschlechtswesen Mann bildet den permanenten Krisenherd des Sozialen. Während Blüher im männlichen Sexualtrieb eine genuin soziale Bindungskraft erkennt, betrachtet Bergmann ihn als eine durch und durch asoziale Energie, die lediglich durch ein Mehr an »Muttergeist« integriert werden kann. Entsprechend entwirft diese im Umfeld deutschreligiöser Strömungen entwickelte Sozialtheorie den Staat als einen mütterlichen »Schoß«, der die zerrüttenden Kräfte des Männlichen, Erkenntnisgeist und Sexualtrieb, in eine genealogische Einheit überführen soll. Mit ihrem Ziel der biopolitischen Reorganisation des Volkskörpers tritt Bergmanns »Soziosophie der Geschlechter« als Gegenprogramm zu Psychoanalyse und Sexualwissenschaften an, um einer ›perversen‹ Fehlleitung sexueller Triebkräfte entgegenzuwirken. Im Text von GABRIELE DIETZE, »Ödipus Schwarz/Weiss. Der ›RapeLynching-Komplex‹ als soziale Pathologie«, verschränkt sich die Sexualisierung des sozialen Körpers mit der Kategorie race. Sie widmet sich dem »politischen Unbewussten« der US-amerikanischen Gesellschaft nach dem Bürgerkrieg, in der es zu massiven Lynchmorden an männlichen Schwarzen kam,
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die sich oftmals am Vergewaltigungsvorwurf entzündeten. Auch hier tritt männlicher Trieb als soziale Gefahr auf, die sich im Phantasma der Vergewaltigung ›weißer‹ Frauen durch ›schwarze‹ Männer verdichtet. Während die weiße Frau als weibliche Andere das Medium des sozialen Tauschs darstellt, muss der schwarze Andere unter Todesdrohung aus dem sexuellen Tauschsystem ausgeschlossen werden. In diesen sexistisch-rassistischen Interdependenzen erkennt Dietze ein Muster, das sie als »Rape-Lynching-Komplex« bezeichnet. Indem das »Race-Sexualitätsdispositiv« psychische Strukturen mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen verbindet, stellt es eine flexible Struktur bereit, um weiße Suprematie zu stabilisieren. SUSANNE LUMMERDING untersucht in ihrem Beitrag »Von U nach B oder: B(w) ist immer schon U(bw). Zur Medialität von Binärstrukturen« die sprachlogischen Voraussetzungen der Herstellung von Identität, von Bedeutung und von Realität. Als Ausgangspunkt dient ihr ein »Pornoskandal« um das OnlineSpiel »Second Life«, bei dem die Kinderschänder ›hinter‹ den virtuellen Spielfiguren ausfindig gemacht werden sollten. Um die dabei wirksamen Kategorien der Störung und Störungsfreiheit in ihren Prämissen freizulegen, bringt die Autorin einen Begriff des Unbewussten ins Spiel, der mit Lacan auf der Ebene des Soziosymbolischen verortet wird und erlaubt, einen neuen Begriff des Politischen zu entwickeln. Die weiterführende Frage ihrer Analyse lautet, wie Bedingungen von Handlungsfähigkeit und Verantwortung neu zu denken sind, wenn sich die Kategorien des Politischen und Ethischen von der Legitimationsinstanz einer außersprachlichen Referenz und damit vom Begriff der Ordnung lösen.
I V. D a s v i s u e l l e U n b ew u s s t e Der letzte Teil widmet sich den Wechselwirkungen von Unbewusstem und Geschlecht auf der Ebene medialer Repräsentationen wissenschaftlichen Wissens und der visuellen Kultur. Das durch mediale Technologien veränderte Zusammenspiel von Wahrnehmung, Wissen und Geschlechtercodierung kommt in ästhetischen wie in wissenschaftlichen Repräsentationen zum Vorschein. Medien sind in ihren Visualisierungsstrategien stets unsichtbar und konstituieren das Wissen von Geschlecht ebenso wie sich gängige Geschlechtscodierungen in mediale Technologien einschreiben. Als Austragungsort der Interaktionen von Wissens- und Geschlechterordnungen sind mediale Räume der visuellen Kultur auch der »andere Schauplatz« und somit umkämpfte Orte der Bedeutungsproduktion, in denen unbewusste Prozesse wie Fantasien, Ängste und Begierden involviert sind. Das Unbewusste gilt insofern als »das Feld des Anderen«, als dieser Ort mit den Wünschen und dem Begehren des Anderen ausgefüllt ist, die verdrängt werden und eine eigenwillige Existenz in der Sprache und den Bildern führen. Auf diese Weise
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konfrontieren Medien mit unbewussten Ängsten und Fantasien; sie sind niemals sichere, Stabilität gewährende Orte, sondern Räume, in denen Unvorhergesehenes geschieht und produziert wird. Diese Dynamiken verändern nicht nur das, was das Forschersubjekt sieht, sondern auch die Formierung von Wissensgegenständen, die in die Darstellungsparameter des kulturellen Bildrepertoires eingehen. Erst die Anerkennung der Fremde in uns selbst führt dazu, unbewusste Formen des Begehrens und Genießens zu akzeptieren, statt sie auf andere Menschen oder sozialen Gruppen zu projizieren. Die Bildarchive der modernen Kultur und Wissenschaft sind auf besondere Weise in Fotografien, in Heimat- und ScienceFiction-Filmen oder auch im Design humanoider Roboter anwesend, in denen sie Spuren einer »Wiederkehr des Verdrängten« hinterlassen. In ihrer unheimlichen Anwesenheit geben sie Aufschluss über die unbewussten Dynamiken der Ausgrenzung, Aneignung und über das Begehren nach jenem »Anderen«, das westlichen Gesellschaften erst die Selbstkonstitution und die Stabilisierung ihrer heteronormativen Ordnung erlaubt. So kritisiert SILKE WENK in ihrem Beitrag »Die Wiederkehr der Bilder und imperiale Inszenierungen im Kontext neuer Kriege« das gegenwärtige okzidentale Gebot des Hinsehens und untersucht, wie in der gegenwärtigen globalen Zirkulation der Bilder die Sichtschranken überschritten und neu organisiert werden. Sie entfaltet die These, dass Bilder, die für die Liberalität westlicher Demokratien stehen, aus anderen Teilen der Welt »entstellt zur Kenntlichkeit« zurückkehren und dabei westliche Souveränität auf dem Feld des Visuellen in Frage stellen. Diese Rückkehr der Bilder wird konterkariert durch ihre ›Entschleierung‹ als Täuschungen sowie abjizierende, dehumanisierende Bilder, wie sie im Gefängnis von Abu Ghraib inszeniert wurden. In dieser Gegenwehr artikuliert sich der Wunsch nach maximaler Sichtbarkeit, einer maximalen Herrschaft über das Andere ebenso wie die konstitutive Bedeutung von heteronormativen Geschlechterverhältnissen und Homophobie für diese neue Welt- und Bilderordnung. Ausgehend von einer Relektüre von Walter Benjamins Konzept des »Optisch-Unbewussten« durch die Kunsthistorikern Rosalind Krauss liest KATHRIN PETERS in ihrem Beitrag »Eine andere Natur. Das OptischUnbewusste und die Ästhetik des Surrealismus« den Benjaminschen Text unter neuer Perspektive. Sie schlägt vor, die von Benjamin entwickelte Ästhetik des Neuen Sehens auf Sichtbarkeitsverhältnisse zu beziehen, die auf spezifische Weise mit dem Unbewussten und dem Geschlecht verwoben sind. Auf der Folie einer Ästhetik der Medialität verfolgt sie anhand konkreter Fotoarbeiten von László Moholy-Nagy, Karl Blossfeldt und Eugène Atget die Spur einer Verbindung zwischen Geschlechtlichkeit und der Denkfigur des Optisch-Unbewussten, die nicht auf ein Entbergen/Sichtbarmachen beruht, sondern stets neue Magien mittels Technik produziert. Damit wird die Grenze zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem als durchlässig und historisch kon-
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tingent dargestellt. Erst in dieser Verschränkung von Technischem und Künstlerischem ist eine Perspektive auf Geschlecht zu gewinnen, jenseits einer Repräsentationskritik des Weiblichen. DOROTHEA DORNHOF geht in »Der Parapsychologe und sein Medium im Experiment. Geschlecht und Medialität des Unbewussten« dem Medienereignis um die Traumtänzerin Magdeleine Guipet in München 1904 nach, deren in Trance ausgeführte Tanzdarstellungen als Manifestation des Unbewussten galten. Hypnose und Suggestion standen im Kontext physiologischer Experimentalkulturen und wurden ebenso in künstlerischen Praktiken inszeniert, in denen das Unbewusste der Frau nicht nur als ein hysterisches konstituiert, sondern auch der Körper des Mediums zum Untersuchungsgegenstand und Aufzeichnungsinstrument wurde. Die hysterischen Medien stehen in funktionalem Zusammenhang mit dem Medium als bildproduzierender Maschine und figurieren so den Schauplatz eines medientechnischen Unbewussten. MAJA FIGGE zeichnet in ihrem Beitrag »(Wieder-)Herstellung von Deutschsein zwischen Erinnern und Vergessen. Eine Revision von »Grün ist die Heide« (BRD 1951, R: Hans Deppe)« eine verborgene »unheimliche Dimension von Geschichte« nach. Am Beispiel des Kassenschlagers aus dem Jahre 1951/1952 betrachtet sie das Genre Heimatfilm als eine Folge von Wiederholungen und Aktualisierungen von Filmstoffen, Ästhetiken und technischen Neuerungen des Weimarer Kinos. Wie in diesen Rückgriffen auf das »historische Imaginäre« des deutschen Kinos (Thomas Elsässer) Deutschsein verhandelt wird und wie der Film zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, Sagbarem und Unsagbarem und vor allem zwischen (selektivem) Erinnern und Vergessen changiert, ist die spannende Frage, entlang der die präzise Analyse der Figuren- und Raumkonstellationen diesen Heimatfilm in völlig neuem Licht erscheinen lässt. In CLAUDE DRAUDES Beitrag »It is the between that is tainted with strangeness. Das unheimliche Geschlecht virtueller Wesen« steht die Verortung des Uncanny Valley Effects animierter Artefakte im Zentrum, denn hier – so stellt sie fest – verdichten sich Diskussionen um das Gelingen der Artefakte, um die Akzeptanz und Wirkung von anthropomorphen Robotern und Softwareagenten, Charakteren aus Computerspielen, Online-Avataren oder Filmfiguren im Knotenpunkt des Unheimlichen. Am Beispiel von anthropomorphen Interaktionsagenten zeigt sie, wie Faszination und Bedrohung weniger von der Überschreitung der Mensch-Maschine-Grenze als von derjenigen heteronormativer Geschlechtergrenzen ausgehen und wie sich diese beiden Transgressionen mit dem Unheimlichen überschneiden. JULIA BARBARA KÖHNE untersucht die vielschichtigen Dimensionen der Verschränkung von Medialem, Unbewusstem und Geschlecht in »Ein träumender und traumatisierender Computer. Repräsentationen des Unbewussten in Donald Cammells Science-Fiction-Film ›Demon Seed‹ (1977)«. In ihrer Analyse filmsprachlicher Strategien und symbolischer Codes der Figurenkon-
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stellation werden innerfilmische Blickregime und Sehsysteme sowie die kultur- und medizinhistorischen Wissensformen des filmischen Symbolsystems im Feld der Repräsentation von Zukunftswissen, Biotechnologie und (populär-)wissenschaftlichem Wissen verhandelt, die auf ein komplexes Geflecht von Wissens- und Visualisierungsformen des Unbewussten sowie die ihnen inhärenten Geschlechtercodes verweisen. Anhand der im Band versammelten Aufsätze werden einige Aspekte der vielschichtigen Beziehung von Wissen/Wissenschaft und Unbewusstem gezeigt: eine Beziehung, die von Anziehung und Abstoßung, Intimität und Fremde, Lust und Vermeidung gekennzeichnet ist. Kein Wunder, dass in diesem paradoxen Verhältnis Geschlechterbilder von so zentraler Bedeutung sind. Sie bilden die ›frei flottierende Währung‹ eines Kapitals, das immer wieder der Krise bedarf, um zu neuen Wertschöpfungen zu gelangen.
Wissensgeschichte des Unbewussten
Das Unbew usste zw ischen Subversion und neurow issenschaftlichem Biedermeier MICHAEL HAGNER
Es zählt zu den geflügelten Worten, dass Freud mit seiner Erkenntnis, wonach der Mensch nicht Herr im eigenen Haus sei, weil er vom Unbewussten regiert werde, der Menschheit die dritte anthropologische Kränkung nach Kopernikus und Darwin zugefügt habe. Doch diese Einschätzung, von Freud selbst in die Welt gesetzt, ist auch eine Reaktion auf jene Verstrickungen, die damit zusammenhängen, dass das Unbewusste in medizinischer Hinsicht als das Pathologische und in biologischer Hinsicht als das Primitive konzipiert wurde. Man könnte auch sagen, dass es sich im ersten Fall um das neuropathologische Unbewusste und im zweiten um das angeborene, evolutionäre Unbewusste handelt. Beide haben, wie Marcel Gauchet bereits vor etlichen Jahren festgestellt hat, in der Genealogie der Psychoanalyse eine wesentlich geringere Rolle gespielt als das philosophische Unbewusste, das vor allem mit dem Dreigestirn Schopenhauer, Hartmann und Nietzsche verbunden ist.1 So sauber, wie es Gauchet darstellt, sind diese Bereiche allerdings nicht voneinander getrennt. Als ob die Liaison zwischen neuropathologischem und evolutionärem Unbewussten nicht schon für sich genommen heikel genug wäre, kam es gegen Ende des Jahrhunderts zu einer Verwebung mit dem philosophischen Unbewussten, wodurch dieses zur Chiffre für eine vermeintlich degenerierende Zivilisation gemacht wurde, was vielleicht am deutlichsten in der neurologisch-ästhetischen Bewertung der damaligen Kunstproduktion zum Ausdruck kam. Die Rekonstruktion des cerebralen Unbewussten hat Gauchet am Beispiel der Reflexlehre vorgenommen, wie sie in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts von Marshall Hall und Johannes Müller entwickelt worden war, und argumentiert, dass das Unbewusste seitdem als Funktion des Ner-
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Marcel Gauchet: L’inconscient cérébral, Paris: Seuil 1992, S. 23.
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vensystems verstanden wurde; von den primitiven Reflexen bis hin zum Phänomen der Hypnose konnten somit verschiedenste Nerventätigkeiten als Belege für die Existenz eines Unbewussten herangezogen werden. Die Reflexlehre etablierte das Unbewusste als dynamisches Prinzip, das sich potenziell über das gesamte Nervensystem von der Peripherie bis zum Gehirn erstreckte. Das ist aber nur der eine Teil der Geschichte. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass im 19. Jahrhundert, ganz unabhängig von der Reflextheorie, auch eine spezifische cerebrale Verankerung des Unbewussten versucht worden ist, anhand deren sich die neuropathologischen und evolutionären Konstruktionen des Unbewussten schärfer in den Blick nehmen lassen. Was das 20. Jahrhundert betrifft, so müssen trotz oder vielleicht auch wegen Freud etwas andere Akzente gesetzt werden, als man es nach der vorangegangenen Etablierung des Unbewussten erwarten könnte. Es sei dahingestellt, ob die Hervorkehrung des Unbewussten tatsächlich die Geschichte einer anthropologischen Kränkung gewesen ist. Im Hinblick auf die Hirnforschung ist sie vor allen Dingen auch die Geschichte einer Vermeidung dieser Kränkung gewesen. Als wären der Begriff und die Sache durch die Psychoanalyse besetzt und damit der Neurologie enteignet worden, haben gerade diejenigen, die sich für die kognitiven Funktionen des Gehirns interessierten, einen Bogen um das Unbewusste gemacht. Seinen stärksten Ausdruck findet diese Abstinenz nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Gehirn mit einem Computer assoziiert wurde. Die Wahl dieser Metaphorik zeugt keineswegs nur von einer Abwehr der Freudschen Psychoanalyse, sondern vor allen Dingen von einer Vermeidung des neuropathologischen und des evolutionären Unbewussten. Indem sie das Gehirn analog zur Turing-Maschine als informations-und problemverarbeitende Entität modellierten, ignorierten informationstechnisch orientierte Neurologen die lange Tradition des Unbewussten. Die These, die ich in diesem Text vertreten möchte, läuft also darauf hinaus, dass sich das 19. Jahrhundert zuerst in großem Stil mit der Frage nach dem Unbewussten auseinandersetzte und diese Auseinandersetzung in engem Zusammenhang mit der Cerebralisierung des Menschen stand, während es im 20. Jahrhundert an der Tagesordnung war, das eine ohne das andere zu thematisieren. Erst in den letzten Jahren hat das Unbewusste innerhalb der Hirnforschung eine Renaissance erfahren, die allerdings ganz andere Schwerpunkte setzt als diejenigen, die im 19. Jahrhundert vorherrschend waren. Eine gängige These besagt, dass das Unbewusste, als es in der Zeit der Romantik in die Humanwissenschaften eintrat, als ein »wahres inneres Afrika« aufgefasst wurde, als ein großer, etwas unheimlicher Kontinent, den es nach und nach zu entdecken galt. Von der Hirnforschung aus betrachtet, lässt sich diese Annahme nicht halten. Vielmehr erscheint das Unbewusste hier gerade nicht als jener unwirtliche, schwer zu durchdringende Bezirk, in dem die letzten Geheimnisse der menschlichen Persönlichkeit aufzuspüren wären; es ist, gerade auch bei den romantischen Naturphilosophen, noch nicht jene
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Pathosformel, zu der es einige Jahrzehnte später werden sollte. Zunächst nämlich wird das Unbewusste wesentlich lakonischer auf die Bühne gebracht, und dies hängt mit der Neuorientierung der Hirnforschung um 1800 zusammen. Die alte Vorstellung vom Seelenorgan, das zwischen Körper und Seele vermittelt, wird ebenso irrelevant wie die dualistische anthropologische Einteilung in homme nature und homme moral. Die charakterliche Bildung des Menschen, ein Zentralstück des bürgerlichen Selbstbewusstseins und daraus resultierender Emanzipationsschritte, ist nicht allein eine Sache des Geistes. Eine persönliche Identität zu entwickeln, heißt für einen naturphilosophisch geprägten Arzt wie Johann Christian Reil, eine psychophysische Identität zu entwickeln, das sogenannte »Gemeingefühl«, das drei verschiedene Vorstellungsarten ermöglicht: die vom eigenen Körper, von der Welt und von sich selbst. In diesem Dreieck bilden sich der Charakter und die »Moralität des Menschen« aus. An diesem Punkt entwickelte sich eine breit angelegte psychophysische Erforschung des Nervensystems, die ihren Ausgangspunkt in der Frage hatte, wie sich Eigenschaften, Talente, Triebe und andere Phänomene ins Gehirn einschreiben ließen. Vereinfacht gesagt, gab es hier zwei Positionen. Die eine, mit dem Namen Franz Joseph Galls verbunden, ordnete jeder differenten Funktion ein bestimmtes Hirnorgan zu; die andere, mit dem erwähnten Reil beginnend, arbeitet mit der Theorie eines cerebralen Antagonismus. Was darunter zu verstehen ist, wird besonders deutlich in der Auseinandersetzung mit jenem Phänomen, das vor 1789 in Frankreich ganz erhebliches Aufsehen erregte und nach 1800 eine bemerkenswerte Renaissance in Preußen erlebte: dem animalischen Magnetismus. Dieser war von Franz Anton Mesmer auf eine materielle, analog zum Äther gedachte Kraft zurückgeführt worden, die im ganzen Weltall wirksam war und in dem Moment, da sie menschliche Körper affizierte, Phänomene wie Somnambulismus hervorrufen konnte. Für Mesmer handelte es sich also um eine physikalische Größe, die keinerlei Untersuchung des Körpers erforderte. Das änderte sich um 1800, und der animalische Magnetismus wurde zum Gegenstand einer psychophysischen Erforschung des Nervensystems. Die zentrale Frage lautete nun, ob solche Phänomene ein materielles Substrat im Körper besaßen. Gall beispielsweise postulierte ein Hirnorgan für Somnambulismus und lokalisierte es in der parieto-temporalen Region der Hirnrinde, in unmittelbarer Nachbarschaft der Organe für Poesie und Mimesis. Dies ist insofern bemerkenswert, als hier die räumliche auch eine funktionelle Nähe bedeutet und Phänomene des Unbewussten der sprachlichen bzw. körperlichen Ausdruckskraft angenähert werden. Das Unbewusste wird damit schöpferisch konnotiert und erhält einen performativen, keinesfalls einen pathologischen Anstrich. Anders bei Reil. Auf der Grundlage des naturphilosophischen Polaritätsgedankens entwickelt er das Konzept eines »Cerebral-Systems« und eines »Ganglien-Systems«, die zueinander in einem antagonistischen Verhält-
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nis stehen. Während das Cerebral-System das Äquivalent für Bewusstsein und Herrschaft des Willens darstellt und das Gehirn überhaupt als Sitz der Vernunft gilt,2 ist das Ganglien-System ein zweites, unabhängiges Nervensystem, das die »Hauptwerkstätte der Vegetation« darstellt. Bei niederen Tieren ohne Gehirn macht es das eigentliche Nervensystem aus, bei höheren Tieren und beim Menschen ist es dem Cerebral-System untergeordnet und mit diesem durch einen »Apparat der Halbleitung« verbunden. Dabei handelt es sich um bestimmte Verbindungsnerven, die bei normaler Funktion das harmonische Neben- und Miteinander der beiden Systeme garantieren. Beide sind Ausdruck einer organischen Kraft: das cerebrale ist die höhere Potenz des Ganglien-Systems, weswegen nur im ersteren Bewusstsein entsteht.3 Reils Konstrukt ist darauf angelegt, ein Modell des unbewussten Seelenlebens vorzustellen, anhand dessen psychiatrische und eben auch somnambulistische Phänomene physiologisch erklärt werden können. Wenn die Erregungen des Ganglien-Systems zum Gehirn durchschlagen, folgen »Sinne und Muskeln nicht mehr dem Zügel der Vernunft, sondern dem durchgebrochenen Strom der Erregbarkeiten, der nach nothwendigen Gesetzen der Leitung seine Wege sucht.«4 Hier wird ein ontologischer durch einen physiologischen Dualismus ersetzt, der zwar auf dem Konzept der Polarität basiert, aber doch nicht ohne eine hierarchische Zuordnung auskommt. Das Gehirn steht für Vernunft und Freiheit, während das Unbewusste das Reich der Notwendigkeit und der Automatismen verkörpert. Reils Vergleich wirkt 1807, ein Jahr nach dem Untergang des alten Preußen in der Schlacht von Jena außerordentlich drastisch: »Diese geflechtartige Formation ohne Centrum giebt Richtungslosigkeit, d. h. Leitung und Bestimmung des Handelns überhaupt, eine völlig republikanische Verfassung, in welcher kein einzelnes Glied sich zum Könige aufwerfen darf. Hingegen ist im Cerebral-System Königthum, der Thron unerschütterlich, durch innere Superiorität gesichert.«5
Trotz der Annahme des physiologischen Zusammenhangs beider Systeme – denn Reil beeilt sich, einen absoluten Gegensatz zwischen Leib und Seele, Denken und Empfindung zurückzuweisen – geht es hier um eine qualifizierende Trennung der Substrate für Bewusstsein und Unbewusstes, und hierin liegt eine gezielt gewählte Alternative zu Gall. Während dieser die Regionen der Vernunft in gleichberechtigter Nachbarschaft zu jenen des Somnambulismus und der Poesie lokalisiert, führt Reil einen physiologischen Antagonis2
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Johann Christian Reil: Ueber die Eigenschaften des Ganglien-Systems und sein Verhältnis zum Cerebral-Systeme, in: Archiv für die Physiologie 7 (1807), S. 189-254, hier S. 241. Ebd., S. 210. Ebd., S. 243. Ebd., S. 221-222.
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mus ein. Und indem er unbewusste Prozesse mit Krankheit, Raserei und Verbrechen assoziiert, gelingt es ihm aufs Neue, eine Hierarchie zwischen Bewusstsein und Unbewusstem herzustellen. Hierarchie und Antagonismus finden bei Reil ihren Ausdruck darin, dass er bellizistische Begriffe sucht, wenn es darum geht, dass der Automatismus die Vernunft überfällt. Zum GanglienSystem gehören »brutale Organe, [die] direkt auf das Gehirn ein[wirken]. Daher der Trieb der Rasenden zum Morden, Beissen und Zerstören [...].«6 Bereits hier ist der Mensch nicht mehr Herr im eigenen Hause, sondern permanent durch pathologische Entgleisung bedroht, in der das Unbewusste die Überhand über die Vernunft gewinnt. Wir haben es also mit zwei unterschiedlichen Bedeutungen oder Kulturen des Unbewussten zu tun, wonach es einmal – in der Organologie – mit Kreativität und einmal – in der romantischen Physiologie Reils – mit Destruktion assoziiert wird, und in dieser Spannung wird die Geschichte des Unbewussten fortgeschrieben. Dies zeigt sich eindrücklich bei Carl Gustav Carus, der den Begriff des Unbewussten erstmalig systematisch verwendet. Unbewusst wird hier zunächst einmal in einem morphologischen Sinne jene bildende Kraft genannt, die für die Gestaltung der Organismen zuständig ist. Anders ausgedrückt: Der Organismus und damit auch Schädel und Gehirn sind die Realisierung einer ursprünglichen Idee, wodurch Wachstum und Entwicklung zur teleologisch verstandenen Umsetzung eines vorgegebenen Programms werden. Beispielsweise lassen sich am Schädel die wesentlichen Charakterzüge eines Menschen erkennen, weil sie vorgebildet sind durch »unbewusstes Wirken der innersten Lebensidee.«7 Auf diese Weise hat Carus sowohl cranioskopische Genieverehrung als auch rassistische und stigmatisierende Inspektion von ethnischen und sogenannten Verbrecherschädeln betrieben. Der Punkt, auf den es hier ankommt, ist jedoch, dass Carus seine »Symbolik der menschlichen Gestalt« als Ausdruck des Unbewussten an die Hirnanatomie ankoppelt.8 1836 hatte Gustav Gabriel Valentin, ein Schüler des Physiologen Jan Evangelista PurkynƟ in Breslau, die Struktur des Nervensystems auf zwei Bestandteile zurückgeführt: auf Globuli oder Zellen und auf Fasern, die das gesamte Nervensystem durchziehen. Damit glaubte er den Urtypus gefunden zu
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Johann Christian Reil: Ueber die Centricität der Organismen, in: ders., Beyträge zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege, Bd. 2, Halle: Curt 1812, S. 186-248, hier S. 203f. Carl Gustav Carus: »Über die physische Constitution und Schädelbildung sowie über die letzte Krankheit Rumohr’s«, in: Heinrich Wilhelm Schulz: Karl Friedrich von Rumohr, sein Leben und seine Schriften, Leipzig: Brockhaus 1844, S. 87-94, hier S. 90. Carl Gustav Carus: Symbolik der menschlichen Gestalt. Ein Handbuch zur Menschenkenntnis, Leipzig: Brockhaus 1853.
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haben, der das Nervensystem aller Lebewesen ausmachte.9 Carus war begeistert, weil Valentin die Goetheschen Konzepte der Uridee und des Urtypus in die Welt des Mikroskopischen eingeführt hatte. Die Frage, ob Fasern und Zellen bei den verschiedenen Lebewesen auch unterschiedlich konfiguriert seien, beantwortete Carus mit der bemerkenswerten Feststellung, dass beim Gehirn im höchsten Entwicklungszustand die »innere Fasersubstanz des Hirns« immer ausgeprägter sei und durch zahllose Bögen miteinander verbunden werde.10 Das heißt: je komplexer die inneren Verknüpfungen, desto edler und funktionstüchtiger das Gehirn. »Je höher die Organisation steigt, um so freier [wird] der Geist von allen ursprünglichen Beziehungen«.11 Obwohl das gesamte Wirken der Uridee unbewusst verläuft, ermöglicht es über die Verschaltung der cerebralen Primitivfasern zumindest beim Menschen eine Disposition des Gehirns, die zu Freiheit und Selbstbewusstsein führt, bei einigen wenigen Menschen auch zu Kreativität und Genialität. Das wäre die höchste Entwicklung, während niedrigere Entwicklungsstufen bzw. »Rassen« – und Carus spricht in seinen peinlichen anthropologischen Zuordnungen von Nacht- und Dämmervölkern – durch ein Vorherrschen des (primitiven) Unbewussten charakterisiert sind. Das Unbewusste ist das Primitive, das cerebral weniger raffiniert und üppig Ausgestattete. Natürlich gibt es bei jedem Menschen einen großen Bereich des Seelenlebens, der unbewusst bleibt, ist der Gegensatz zwischen »einer Tagseite und einer Nachtseite in der Seele«12 vorhanden, doch nach Carus tendieren alle Menschen zu der einen oder anderen Seite: einerseits die scharfsinnigen, klar erkennenden Verstandesmenschen, die sich bei großer Produktivität zu Wissenschaftlern, bei Nichtvorhandensein von Produktivität zu »schlichten Geschäftsmenschen« eignen, andererseits die Träumer und Gefühlsmenschen, bei denen »unbewußtes Leben, Ahnen und ein instinktartiges Wollen« vorherrschen. Bei vorhandener Produktivität und Kreativität können sich diese Personen immerhin zu Schwärmern, Mystikern und Dichtern entwickeln.13 Aus solchen Bestandteilen haben sich in der Folgezeit cerebrale Genieästhetiken und neuroanatomische Theorien des Unbewussten zusammengesetzt. Für die eine Seite steht Schopenhauer, für die andere einige Wiener Hirnforscher, die zu Freuds unmittelbaren Lehrern bzw. Kollegen zählten. Bei Schopenhauer wird der Gegensatz ›Bewusst – Unbewusst‹ zum Gegensatz 9
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Gustav Gabriel Valentin: Über den Verlauf und die letzten Enden der Nerven. Nova Acta Physico-medica Academiae Caesareae Leopoldino-Carolinae Naturae Curiosorum 18, Teil 1, 1836, S. 51-240. Carl Gustav Carus: Vom gegenwärtigen Stande der wissenschaftlich begründeten Cranioscopie, Nürnberg: Cramer 1844, S. 22. Ebd., S. 26. Carl Gustav Carus: System der Physiologie, Theil 3, Leipzig, Dresden: Fleischer 1840, S. 481. Ebd., S. 488-489.
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zwischen Intellekt und »Wille«, und zwar in einer Weise, die immer auch die körperliche Objektivierung einbezieht. Schopenhauer versteht den Willen keineswegs als eine Kategorie des Subjekts, sondern als alles durchwaltende vitale Energie. Der Wille ist das Unbewusste. Was sein Verhältnis zum Intellekt betrifft, so ist Schopenhauers Charakterisierung nicht ganz konsistent. Erstens »gehört das Gehirn und dessen Funktion, also der Intellekt, mittelbar und sekundär zur Erscheinung des Willens«. Indem der Wille zur Erkenntnis strebt, bedient er sich des Cerebralsystems, so wie er sich der Genitalien zur Zeugung oder des Magens zur Verdauung versichert.14 Der Intellekt ist nicht mehr als ein Werkzeug, während »der Wille allein das Innere und Eigene des Menschen ist«.15 Die Objektivierung des Willens im gesamten Organismus impliziert auch, dass dem Gehirn keinerlei Sonderstellung, geschweige denn Autonomie zukommt. Es müsste sich demgemäß den untergeordneten Platz mit anderen Organen teilen. Diese Konsequenz ist Schopenhauer jedoch nicht bereit zu ziehen. Er konstruiert nämlich zweitens einen Gegensatz zwischen Willen und Intellekt, der letzterem eine gewisse Unabhängigkeit zugesteht. Die nahezu titanische Aufgabe, die sich dem menschlichen Intellekt stellt, richtet sich darauf, wie er der Herrschaft des »Willens« entkommen kann. Auf der einen Seite steht »der gewöhnliche Mensch, diese Fabrikwaare der Natur, wie sie solche täglich zu Tausenden hervorbringt«.16 Sein Zugang zur äußeren Welt ist dadurch bestimmt, dass er stets auf den Willen bezogen ist, das heißt, dass der Wille sich der intellektuellen Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit, Phantasie und Anschauung bedient. Der gemeine Mensch wird also völlig durch den »Willen« gesteuert, ohne diesem mit seinem Intellekt beizukommen oder ihn in poetische Produktion umsetzen zu können. Hier artikuliert sich – ähnlich wie bei Carus – eine Geringschätzung gegenüber den Entwicklungen der modernen Industriegesellschaft, die sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich abzeichnen. Zu offensichtlich ist der Verweis auf die Massenproduktion der Fabrik, als dass es sich hier bloß um eine abstrakte, von der Geschichte losgelöste Diagnose handeln könnte. Auf der anderen Seite steht der ungewöhnliche Mensch, der sich, entgegen seiner eigentlichen Bestimmung, vom Willen lossagen kann. Indem er sich von den Zwängen des organischen Lebens, der Triebe und Gefühle frei macht, wird er reiner Intellekt, ein Hirntier gewissermaßen, das die Herrschaftsverhältnisse umkehrt und den Willen dominiert. Genau diese seltene und widernatürliche Erscheinung ist für Schopenhauer das Genie, dessen Fähigkeit darin besteht, »sich in die Anschauung zu verlieren, und die Erkenntniß, welche ursprünglich nur zum Dienste des Willens da ist, diesem Dienste
14 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. 2 Bde., in: ders., Sämtliche Werke, hg. von Paul Deussen, München: Piper 1911, Bd. 2, S. 293. 15 Ebd., S. 259. 16 Ebd., S. 220.
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zu entziehen, d. h. sein Interesse, sein Wollen, seine Zwecke, ganz aus den Augen zu lassen, sonach seiner Persönlichkeit sich auf eine Zeit völlig zu entäußern, um als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge, übrig zu bleiben«.17 Auch wenn sich diese kontemplative Haltung bei Schopenhauer letztlich in »Nichts« auflöst, »das letzte Ziel hinter aller Tugend und Heiligkeit«, so hat der Exzess des genialen Intellekts doch seinen Preis, der in einer verstärkten Affinität des Genies zum Wahnsinn besteht.18 Dieser Punkt ist prekär. Natürlich ist die Beziehung zwischen Genie und Wahnsinn seit der Antike ein durchgängiger Topos, doch seit dem späten 18. Jahrhundert hatten zumindest die naturalistischen Theorien des Genies versucht, dessen Gegensatz zum Wahnsinn am Gehirn festzumachen. Dass Schopenhauer sich darüber hinwegsetzt, zeigt sich daran, dass er dem Genie einen abnormen »Überschuß der Gehirnthätigkeit« zuspricht.19 Umso erstaunlicher, dass Schopenhauer in seiner Beschreibung des genialen Gehirns auf die möglichen Affinitäten zum Gehirn der Wahnsinnigen verzichtet. Ein genietaugliches Gehirn muss groß, breit und hoch gebaut sein, über ein hohes Gewicht und eine feine Textur verfügen – alles Eigenschaften, über die das Gehirn eines Wahnsinnigen nach damaliger Vorstellung nicht verfügt. Auf der physiologischen Seite folgt Schopenhauer der Ansicht Reils, dass das animalische Leben des Gehirns vom organischen Leben strikt getrennt sein muss, damit der Wille sich nicht im Cerebralsystem ausbreiten kann.20 Auch wenn Schopenhauers Thesen zum Verhältnis von Genie, Wahnsinn und Unbewusstem im Weiteren eher umgedreht werden sollten, war damit doch die Büchse der Pandora geöffnet, der fortan immer neue Elemente der Pathologisierung und Stigmatisierung entströmten: Übererregbarkeit und mindere Erregbarkeit des Nervensystems, Bahnung und Hemmung der Nervenimpulse, bewusstes und unbewusstes Hirnleben, Assoziationen zwischen verschiedenen Gehirnzentren sowie die Prägbarkeit des Gehirns, das waren die Begriffe, mit denen das Nervenkostüm des Fin de siècle gestrickt wurde. Diese Ausbreitung des Pathologischen in alle erdenklichen Lebensbereiche hinein ist einer der fragwürdigsten Teile der Erfolgsgeschichte der wissenschaftlichen Medizin. In seiner berüchtigten Schmähschrift »Entartung« hat Max Nordau das Profil des Psychiaters folgendermaßen umrissen: »Rückenmarkschnitte in Chromsäure härten und mit neutrophiler Lösung färben ist ganz verdienstlich, aber damit sollte die Thätigkeit eines Professors der Irrenheilkunde nicht erschöpft sein. [...] Er spreche zur Masse der Gebildeten, die weder Aerzte noch Rechtskundige sind! [...] Er zeige ihnen die Geistesstörung der entarte17 18 19 20
Ebd., S. 218f. Ebd., S. 487. Ebd., S. 429. Ebd., S. 447f.
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ten Künstler und Schriftsteller und belehre sie darüber, daß die Modewerke geschriebene und gemalte Delirien sind.«21
Deutlicher ist der Entartungsbegriff mit all seinen psychiatrisch-anthropologischen Ätiologien, Diagnosen und Therapievorschlägen wohl kaum zu einem kulturkritischen Instrument geformt worden.22 Nordaus Ausbrüche gegen das Fin de siècle haben sich in weniger ungestümer Form etabliert und sind zu einer festen Größe psychopathologischer Kulturkritik geworden. Seit der Wende zum 20. Jahrhundert haben Nervenärzte immer wieder einen Zusammenhang zwischen Hirnkonstellation, Geisteskrankheit, Degeneration und den avanciertesten Entwicklungen der künstlerischen und philosophischen Moderne konstruiert und dabei die Pathographie, ein bis dahin eher marginales Genre, das Leben und Werk bedeutender Persönlichkeiten mit der Lupe neurologisch-psychiatrischen Sachverstandes durchstreift, ziemlich populär gemacht. Der nachhaltige Versuch von Psychiatrie und Hirnforschung, ihre kulturellen Ambitionen zu kanalisieren, ist ohne die Mobilisierung des Begriffs des Unbewussten kaum denkbar. Dreh- und Angelpunkt dieser Entwicklung ist der Turiner Psychiater Cesare Lombroso, Nordaus Hauptgewährsmann, dem er auch die Entartung gewidmet hatte. Beide wollten die Psychopathologie zum wichtigsten Instrument der Zeitkritik erheben, doch es gab auch einige Unterschiede zwischen den beiden Hauptvertretern der Entartungsthese um 1900. Trotz der Verklammerung von Genie und Wahnsinn forderte Lombroso keinerlei Maßnahmen für oder gegen degenerierte Genies. Im Gegensatz zu Nordau ging er davon aus, dass sie individuell zum Untergang verurteilt seien und gleichzeitig mit ihren Werken zum Fortschritt der Menschheit beitrügen.23 Wenn der eine mit Verachtung auf die vermeintlich degenerierten Künstler blickte, so tat es der andere mit Mitleid: Das Junktim zwischen Kreativität und Entartung ist unausweichlich, und das Genie verklärt sich zu einer traurigen Gestalt, die ihrem Untergang entgegensieht.24 Mit unermüdlicher Sammelleidenschaft suchte sich Lombroso Belege für seine Behauptungen zusammen. Zuerst beschränkte er sich auf die verstorbenen Heroen der Geistes- und Wissen21 Max Nordau: Entartung, 2 Bde., 3. Aufl., Berlin: Duncker 1896, Bd. 2, S. 557. 22 Zu Nordaus Entartung und seiner psychopathologischen Kulturkritik siehe Christoph Schulte: Psychopathologie des Fin de Siècle. Der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau, Frankfurt/Main: Fischer 1997, vor allem S. 201-252. 23 Siehe Nordaus Abgrenzung von Lombroso in diesem Punkt und seine scharfe Unterscheidung zwischen echten, gesunden Genies und scheinbaren, verderblichen Genies (M. Nordau: Entartung, Bd. 1, S. 45-46). Lombroso distanziert sich wiederum vorsichtig von Nordaus extremen Positionen, versichert ihn aber gleichzeitig seiner ganzen Sympathie (Cesare Lombroso: Entartung und Genie. Neue Studien, Leipzig: Wiegand 1894, S. 29-30). 24 Cesare Lombroso: Genie und Irrsinn in ihren Beziehungen zum Gesetz, zur Kritik und zur Geschichte, Leipzig: Reclam 1887, S. 338-340.
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schaftsgeschichte, später nahm er quasi jeden neuen Stern, den er am europäischen Kulturhimmel entdeckte, in den Club der Entarteten auf. Die abschließende Aufgabe bestand dann lediglich darin, die vielfältigen Charakteristika des Genies in einem einzigen Krankheitsbild zusammenzuführen, das etwas spezifischer war als eine bloße »Degenerationspsychose aus der Gruppe des moralischen Irreseins«. Lombroso brauchte nicht lange zu suchen, um die »Familie der Epilepsien« als geeigneten Kandidaten festzumachen, da sie gleich mehrere neurologische und kulturelle Kriterien erfüllte.25 Der Kernpunkt seiner Analogisierung ist schließlich »die Aehnlichkeit des epileptischen Anfalles mit dem Eintritt der Inspiration, das heisst, die Aehnlichkeit des unbewussten Handelns, welches hier schaffend, dort in Form von Konvulsionen auftritt«.26 Was im Gehirn als lokale Reizung beginnt und sich unkontrolliert zu einem Anfall ausbreitet, ist beim Genie der Funke der Inspiration, der zu einer schöpferischen Entladung führt. Mit dieser Engführung schließt sich der Kreis zur emphatischen Vorstellung vom Genie als rauschhafter Ausnahmeerscheinung. Die berühmteste und einflussreichste medizinische Genietheorie des Fin de siècle ist damit letztlich dadurch charakterisiert, dass sie das ehemals Überirdische und Unerklärliche einfach in den Hirnapparat einspeist und es als neuropathologische Entartung wieder herauslässt. Es kommt hier darauf an, dass Lombroso trotz aller Pathologisierungen das Unbewusste für eine Theorie der Kreativität und Produktivität in Anschlag bringt, wie hoch auch immer der Preis dafür sein mag. Dafür konnte er sich durchaus auf einen Strang der Cerebralisierung des Unbewussten berufen. Aber auch den zweiten Strang, wonach das Unbewusste das Pathologische bzw. das Primitive ist, nahm Lombroso in seinem bedenkenlosen Eklektizismus mit auf. Er bildete also eine Synthese aus evolutionärem, neurologischem und philosophischem Unbewussten. Lombroso war kein zimperlicher und schon gar kein kritisch abwägender Naturhistoriker des Unbewussten, aber gerade aus diesem Grunde hat er dessen beunruhigendes und zugleich faszinierendes Potenzial, wie es im 19. Jahrhundert aufgebaut worden war, in seiner ganzen Spannungsgeladenheit vorgeführt. Das Unbewusste als aus der Tiefe der biologischen Zeit kommendes Schicksal, das sich in einem pathologischen Gehirn verkörpert und dabei die unabdingbare Voraussetzung für Kreativität ist – das war der Einsatz, für oder gegen den es sich zu entscheiden galt. Für die einen wurde die Herrschaft des Unbewussten über das Bewusstsein immer unzweifelhafter, andere widersetzten sich jenem synthetischen Verständnis des Unbewussten und versuchten es – ähnlich wie das Reil zu Beginn des Jahrhunderts getan hatte – zu isolieren, und zwar als eine biologische Vorstufe, die ihren Ort im Gehirn hatte, durch die ontogenetische Ent25 Cesare Lombroso: Der geniale Mensch, Hamburg: Actien-Gesellschaft 1890, S. 411-419; C. Lombroso: Entartung und Genie, S. 279-293. 26 C. Lombroso: Der geniale Mensch, S. 412.
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wicklung des Gehirns jedoch überwunden und weitgehend ausgeschaltet wurde. Dies zeigt sich beispielsweise in Theodor Meynerts anatomischer Assoziationslehre, die darauf basiert, dass er zwei Typen von Nervenfasern in der Hirnrinde unterschied: die später so genannten Projektionsfasern (Verbindung von tiefer gelegenen Hirnteilen mit dem Cortex) und die Assoziationsfasern (Verbindung der Cortex-Areale untereinander). Die Verschränkung der Assoziationsfasern im Cortex nahm Meynert als Bestätigung für deren herausgehobene Position im Gehirn. Die komplexe Verschaltung der Assoziationsfasern untereinander führt – ähnlich wie bereits Carus spekuliert hatte – zur höchsten geistigen Entwicklungsstufe des Menschen: »Das Ich ist ein unüberschaubarer Coordinationsact der im Gehirn zu Wege gekommenen Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühlsimpulse im Rückblick, in der Gegenwart, ja in ihrer zukünftigen Coordination, dessen Unüberschaulichkeit sich in der Erscheinung der Freiheit ausspricht.«27 Voraussetzung für die cerebrale Entwicklung zu einer reifen Persönlichkeit sind die begrenzten, zumeist automatischen Mechanismen beim Säugling, dem sogenannten »primären Ich«. Das primäre Ich ist hilflos, in Abwehrreflexen auf die Integrität des Leibes beschränkt, fähig zur Empfindung von Hunger, Körperschmerz, Wärme und Bewegungsfreude. Es ist ein Leben im Unbewussten. Mit der fortlaufenden Gehirntätigkeit und neuronalen Reifung entsteht allmählich das sekundäre Ich. Sein Entwicklungsweg beginnt mit der Empfindung der Außenwelt und gipfelt in dem Gefühl für andere Menschen und Verantwortungsbewusstsein für Gesellschaft und Staat. Die Entwicklung zu einer reifen Persönlichkeit ist so etwas wie eine Kultivierung des Gehirns. Die Assoziationskomplexe in der Hirnrinde machen also das zivilisierte, sekundäre Ich aus, während die unteren, entwicklungsgeschichtlich älteren und primitiveren Hirnteile für das primäre Ich stehen. Geistes- bzw. Gehirnkrankheit sind entweder Ausdruck der Tatsache, dass sich das sekundäre Ich nicht oder nur unzureichend entwickelt hat, also ein Stehenbleiben irgendwo in der Entwicklung markiert; oder der Cortex kann seine Kontrollfunktion nicht mehr wahrnehmen und die subcorticalen Funktionen werden übermächtig, was fatale Folgen hat: »In den subcorticalen Organen liegt der rein persönliche, der parasitische Factor des Gehirnlebens, der im Rahmen der socialen Gesittung zum Bösen wird.«28 Die Vorstellung eines Zusammenhangs zwischen der Dominanz primitiver Hirnanteile und sozialer Destruktivität als Fluchtpunkt einer Theorie des Bösen zieht sich, wie wir gesehen haben, durch das 19. Jahrhundert. Reil war von einem antagonistischen Verhältnis zwischen Cerebralsystem und Gan-
27 Theodor Meynert: »Gehirn und Gesittung« [1888], in: ders., Sammlung von populärwissenschaftlichen Vorträgen über den Bau und die Leistungen des Gehirns, Wien/Leipzig: Braumüller 1892, S. 139-179, hier S. 174. 28 Ebd., S. 178.
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gliensystem ausgegangen, Carus sprach von Tag und Nacht, Schopenhauer von Intellekt und Willen. Je mehr sich die Hirnforschung ausdifferenzierte, desto vielfältiger gestalteten sich die polarisierenden Begriffspaare für die Denkfigur jener cerebralen Hierarchie. Der Diskurs formte sich um Kategorien wie bewusst–unbewusst, zweckmäßig–automatisch, gesund–krank, Vernunft–Unvernunft oder Zivilisation–Wildheit, die alle als anthropologische Grundkonstanten herhalten mussten. Im Mittelpunkt stand die symbolische Kontaminierung des Cortex als Garant für die Ausprägung und Einhaltung zivilisatorischer Eigenschaften. So wie das gesittete Individuum Kontrolle über seine Triebe und geheimen Wünsche ausübte, so sollte der Cortex eine Hemmungsfunktion gegenüber den niederen Hirnabschnitten einnehmen. Es kam also darauf an, sich dieser niederen Aktivitäten so gut es geht zu entledigen bzw. sie in Schach zu halten. Die bürgerliche Tugend von Fleiß, Übung und Sorgfalt findet sich bei Meynert und etlichen anderen Hirnforschern des Fin de siècle wieder in Gestalt einer neurophysiologischen Theorie der zunehmenden Verschaltung der Assoziationssysteme. Der Staat bildet sich durch Gesetze, politische Führung und effektive Institutionen zu einem starken und stabilen Gebilde aus, das Individuum formt sich zu einer starken Persönlichkeit, indem es sein Assoziationssystem pflegt. Meynert war als Leiter der Psychiatrischen Klinik der Universität Wien bekanntlich für kurze Zeit der Vorgesetzte Freuds und diesem auch durchaus zugetan. Beispielsweise unterstützte er den Antrag des jungen Freud auf ein Stipendium, das es diesem ermöglichte, nach Paris und Nancy zu Charcot und Bernheim zu reisen und sich dort mit der Hypnose vertraut zu machen. Doch nach seiner Rückkehr aus Frankreich kam es zum Bruch zwischen den beiden. Freud interessierte sich für das Willenlose und Unbewusste der Hypnotisierten und erhoffte sich davon einen Schlüssel zum Verständnis des Seelenlebens.29 Für Meynert war ein solches Vorgehen wissenschaftlich und moralisch unvorstellbar. Eine Beschäftigung mit dem Unbewussten mochte die primitivsten Schichten des Menschen freilegen, führte jedoch niemals zu einem umfassenden Verständnis seiner Persönlichkeit. Der sittliche Auftrag der Hirnforschung bestand für einen bürgerlichen Gelehrten wie Meynert darin, die Entwicklung zu einer gesitteten Persönlichkeit zu fördern, und das implizierte einen gezielten Ausschluss des Unbewussten. Nun hat Freud nie einen Hehl daraus gemacht, dass er das Unbewusste mit dem Niederen, dem Krankhaften assoziierte, und darin zeigt er sich als typischer Mediziner des 19. Jahrhunderts. Doch im Gegensatz zu Meynert war er der Ansicht, dass eine forcierte Beschäftigung mit dem Unbewussten den Schlüssel zur menschlichen Psyche darstellt. Für Meynert hätte Freuds analytische Theorie des Unbewussten zweifellos eine Kränkung bedeutet, wenn er sie denn noch erlebt 29 Siehe dazu Andreas Mayer: Mikroskopie der Psyche. Die Anfänge der Psychoanalyse im Hypnose-Labor, Göttingen: Wallstein 2002, S. 138-140, 146-153.
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hätte (er starb 1892); aber nicht deshalb, so meine Annahme, weil sie von der Hirnforschung abwich, sondern weil sie das Unbewusste als gewichtigen Bestandteil des Psychischen ansah und damit gleichberechtigt neben oder sogar vor das Bewusstsein stellte. In »Das ich und das Es« von 1923 wirft Freud den »philosophisch Gebildeten« vor, dass sie vom Unbewussten nichts wissen wollten, weil ihnen »die Idee eines Psychischen, das nicht auch bewusst ist« unfassbar bleibe.30 Der Grund hierfür liege vor allem darin, dass sie sich mit Phänomenen wie Hypnose und Traum nie beschäftigt hätten. Diesen Vorwurf hätte Freud mehr als 30 Jahre früher gegen seinen ehemaligen Vorgesetzten richten können, aber genau zu der Zeit gab es durchaus eine kurze medizinische Euphorie für die Hypnose. Gerade anatomisch orientierte Psychiater wie August Forel oder Oskar Vogt versprachen sich von einer Durchleuchtung des Unbewussten Aufschluss über die Mechanismen des Seelenlebens, und auch Freud segelte unter dieser Flagge. Doch während dieser ab 1900 seine Theorie des Unbewussten vorlegte und in der Folgezeit Schritt um Schritt ausbaute, zogen sich die Hirnforscher aus diesem Geschäft zurück, was seinen Grund nicht zuletzt darin gehabt haben dürfte, dass die Eugenik mit ihrer Idee vom Neuen Menschen auf eine Höherzüchtung des Gehirns zielte, bei der das Unbewusste in erster Linie ein Störfaktor gewesen wäre.31 Dies ist jedoch nur ein Aspekt einer viel umfassenderen Entwicklung innerhalb der Hirnforschung, die das Unbewusste als epistemischen Gegenstand mehr oder weniger fallengelassen hat. Diese These sei abschließend mit einigen Hinweisen erläutert. In der Hirnforschung des 20. Jahrhunderts gibt es, sehr vereinfacht gesagt, zwei prinzipielle Ansätze: einen bottom-up-Ansatz, der mit der Funktion einer einzelnen Nervenzelle beginnt und von dort aus die Mechanismen des gesamten Nervensystems untersucht, wie es etwa in der Neuronenlehre, der Reflexologie und in der Informationstheorie des Nervensystems geschehen ist; und einen top-down-Ansatz, der von der Gesamtfunktion des Gehirns ausgeht und spezifische Phänomene in diesen größeren Kontext einordnet. Diese Richtung ist unter dem Stichwort Holismus bekannt geworden. So sehr sich diese beiden großen Strömungen der Hirnforschung auch voneinander unterscheiden, beide haben das Unbewusste gemieden, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts recht einflussreiche holistische Hirntheorie von Kurt Goldstein packt Freud an seinen szientistischen Wurzeln, die aus der mechanistischen und energetischen Physiologie des 19. Jahrhunderts stammen. Goldstein leugnet keineswegs die Existenz des
30 Sigmund Freud: Das Ich und das Es, Leipzig, Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1923, S. 10. 31 Das trifft zumindest auf Forel und Vogt zu. Siehe Michel Hagner: Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung, Göttingen: Wallstein 2004, S. 235-248.
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Unbewussten, wendet aber kritisch gegen Freud ein, dass es im Bereich der Triebe, Spannungen, Staus und Entladungen angesiedelt sei und dementsprechend nach recht simplen Prinzipien funktioniere, die gerade nicht zum Verständnis der höheren Hirnfunktionen beitragen können. Analog dazu beklagt Goldstein, dass das Bewusstsein bei Freud zu einer Art Aufpasser degradiert wird, der dafür sorgt, dass das »Unbewusste nicht in unberechtigter Weise hervorbricht«. Das Problem liegt darin, dass Freuds Theorie ausgegangen sei »von den Erscheinungen am Kranken, von [...] Erscheinungen, die eben der Form nach denen entsprechen, die wir als Reflexe, als Teile charakterisiert haben«.32 Von den Teilen aus führt jedoch ebensowenig ein Weg zum Ganzen, wie von der Analyse des Pathologischen aus ein Weg zum Verständnis des menschlichen Organismus weist. Umgekehrt erschließt sich das Kranke dadurch, dass die natürliche Interaktion des Organismus mit der Umwelt außer Kraft gesetzt ist, und entsprechend kann sich das Unbewusste überhaupt nur entfalten, weil der Mensch ein Bewusstsein entwickelt hat. Ähnlich wie einige Hirnforscher des 19. Jahrhunderts sieht Goldstein Produktivität und Kreativität, sittliches Handeln und Kultur als direkte Wirkung des Bewusstseins an, und vor diesem Hintergrund wird das Unbewusste zur vernachlässigbaren Größe. Wenn überhaupt, so verficht Goldstein ein philosophisches Unbewusstes, das aber seine produktive Wirkung immer nur durch das Bewusstsein hindurch entfalten kann. Das Unbewusste verschwindet also nicht aus der holistischen Hirnforschung, doch es wird bestritten, dass von hier aus das menschliche Wesen zu verstehen sei. Mit der besonderen Hervorhebung des Bewusstseins erhält der Mensch bei Goldstein wieder eine Sonderstellung, die sich am ehesten als Protest gegen eine Anthropologie lesen lässt, die sich am Unbewussten, an Trieben, Reflexen, Automatismen und evolutionären Vorformen orientiert. Dass dabei Psychoanalyse, neoromantische Seelenlehre, Reflexologie und Sozialdarwinismus in ein und demselben Boot auftauchen, mag aus heutiger Sicht frappieren, aus holistischer Sicht haben sie alle am falschen Gegenstand angesetzt. Anders liegt die Sache in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der Epoche der Kybernetik. Deren Verhältnis zur Psychoanalyse war keineswegs ganz einheitlich. Norbert Wiener beispielsweise fand in »Cybernetics« freundliche Worte für die Techniken der Psychoanalyse, versteckte Gedanken ins Bewusstsein zu ziehen.33 Doch obwohl mit Lawrence S. Kubie ein Psychoanalytiker aktiver Teilnehmer der Macy-Konferenzen war, begegneten die meisten Kybernetiker dem Unbewussten mit Skepsis oder wussten nichts damit anzufangen, und das ist angesichts ihrer theoretischen Herangehensweise
32 Kurt Goldstein: Der Aufbau des Organismus, Den Haag: Nijhoff 1934, S. 218, 217. 33 Norbert Wiener: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1968, S. 185.
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an das Nervensystem auch plausibel.34 Die Kybernetik handelt bekanntlich weder von Materie noch von Energie, sondern von Information, die in einem bestimmten System prozessiert wird. Es ist gleichgültig, ob es sich dabei um ein Gehirn, einen digitalen Rechner oder irgendeine andere Maschine mit entsprechenden Fähigkeiten handelt. Folgerichtig interessierten sich die kybernetischen Neurophysiologen einzig und allein für die Frage, wie das Gehirn Information verarbeitet. In ihrem klassischen Aufsatz von 1943 legten McCulloch und Pitts dafür die Grundlage, indem sie argumentierten, dass die Vorgänge im Nervensystem als logische Operationen zu kennzeichnen seien, bei denen der Aktivitätszustand einer einzelnen Nervenzelle mit einem simplen psychischen Akt korrespondiert, als ob sie wie eine Flip-Flop-Schaltung an- oder ausgeschaltet ist.35 Diese Triangulation von Logik, digitalen Schaltungen und Nervensystem hat mehrere axiomatische Voraussetzungen: erstens den Alles-oder-Nichts-Charakter nervöser Entladungen; zweitens die Summation von Impulsen in Nervenzellen und drittens die Existenz von erregungshemmenden Neuronen, die entsprechende Impulse aussenden. Diese drei Eigenschaften entsprechen nach McCulloch und Pitts denjenigen der Logik, nämlich die Summation den Und-Verbindungen, das Alles-oder-Nichts Prinzip den Oder-Verbindungen und die hemmenden Neuronen der Negation. Derselbe McCulloch veröffentlichte einige Jahre später eine gehässige Polemik gegen Freud, die er unter den maliziösen Titel »The Past of a Delusion« stellte. Dieser Text ist wenig mehr als ein mit Unterstellungen, Verdrehungen und faktischen Irrtümern gespicktes Pamphlet gegen die Freud’sche Theorie. Bemerkenswert ist er nur insofern, als er die Idee des Unbewussten auf die idealistische Philosophie eines Schopenhauer oder Hartmann zurückführt und Freud vorwirft, das Unbewusste bloß ungebührlich aufgebläht und ihm damit eine Popularität verschafft zu haben, die es nie vorher oder nachher hatte.36 In McCullochs neurokybernetischer Decodierung kognitiver Prozesse jedenfalls hatte das Unbewusste keinerlei Bedeutung, und die meisten Neurophysiologen verfuhren kaum anders. Der (vorläufige) Endpunkt dieser Entwicklung wurde mit John Eccles erreicht, dem überzeugten Dualisten, der gemeinsam mit Karl Popper das letzte große Buch zur Hirnforschung des 20. Jahrhunderts geschrieben hat: »The Self and its Brain«. Darin kommt das Unbewusste schlechterdings nicht vor.37 34 Siehe die recht frostige Diskussion auf der Macy-Konferenz von 1951 nach dem Vortrag von Lawrence S. Kuby: »Communication Between Sane and Insane«, in: Cybernetics – Kybernetik. The Macy Conferences 1946-1953, hg. von Claus Pias, Zürich, Berlin: diaphanes 2003, S. 416-445. 35 Warren S. McCulloch/Walter Pitts: »A logical calculus of the ideas immanent in nervous activity«, in: Bulletin of Mathematical Biophysics 5 (1943), S. 115-133. 36 Warren S. McCulloch [1953]: »The Past of a Delusion«, in: ders., Embodiments of Mind, Cambridge/MA: MIT Press 1965, S. 276-306, hier S. 294. 37 John Eccles/Karl Popper: The Self and its Brain, Berlin u.a.: Springer 1977.
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Vor der Jahrtausendwende konnte man den Eindruck gewinnen, dass das Unbewusste erfolgreich aus der Hirnforschung verdrängt worden ist, aber das sollte sich als Irrtum herausstellen. In den letzten Jahren ist es zu einer verblüffenden Renaissance des Unbewussten gekommen. Wie ist das zu erklären? Wie kommt beispielsweise der Neurobiologe Eric Kandel dazu, das prozedurale Gedächtnis, das uns zu Fertigkeiten und Gewohnheiten verhilft, ohne dass wir dessen gewahr werden, mit dem Unbewussten Freuds kurzzuschließen? Sieht man etwas genauer hin, so bezieht sich Kandel gerade nicht auf jenes unruhige, dynamische Unbewusste, das von Konflikten, Trieben und Abwehrmechanismen beherrscht ist, sondern auf das für Freud gar nicht so zentrale Unbewusste, das dem Bewusstsein niemals zugänglich wird, auch wenn es nicht verdrängt ist.38 Kandel setzt große Hoffnungen auf die Verbindung von Neurobiologie und Psychoanalyse, aber er tut es um den Preis, dass das Unbewusste ein vollständig domestiziertes, harmloses Ding ist, das all seinen Schrecken, seine provokative Seite vollständig verloren hat. Indem Kandel ein Freudsches Unbewusstes ohne Verdrängung, Widerstand oder Sublimierung beschwört, taucht unweigerlich die Frage auf, um was für eine Art von Psychoanalyse es sich hier eigentlich handelt. In ganz anderer Weise wird das Unbewusste bei Benjamin Libet ins Spiel gebracht. Libet ist durch ein Experiment berühmt geworden, in dem Versuchspersonen angehalten wurden, einen Knopf zu betätigen, sobald sie den Wunsch oder Drang dazu verspürten. Gleichzeitig wurden sie gebeten, mittels einer vor ihnen postierten Uhr den Zeitpunkt des empfundenen Entschlusses mitzuteilen. Zwischen diesem bewussten Zeitpunkt und dem mittels EEG gemessenen Bereitschaftspotenzial lagen ca. 500 Millisekunden. In der Frage, wie es zu dieser Differenz kommt, konzentriert sich nicht weniger als das Problem der menschlichen Willensfreiheit. Libet hat allerdings nicht die Konsequenz gezogen, die von manchen gegenwärtigen Hirnforschern vertreten wird, nämlich diese in Frage zu stellen. Ihm zufolge wird in diesem Zeitraum die unbewusst angebahnte Handlungsvorbereitung mit dem bereits vorhandenen neuronalen Aktionsmuster abgeglichen, das sich aufgrund unserer individuellen Biographie so und nicht anders zusammengesetzt hat. Damit stellt die Latenz, wenn man so will, einen internen Mechanismus dar, der unsere Bezugnahme zur äußeren Welt regelt. Aus diesem Grund sind wir den zahllosen sinnlichen Eindrücken nicht schutzlos ausgeliefert und haben die Möglichkeit zur instantanen Veränderung oder Unterdrückung einer Handlung. Dass diese Prozesse nicht alle in unserem Bewusstsein ablaufen, hält Libet für eine sinnvolle Einrichtung, weil es der Entlastung dient. Die unbewussten Vorgänge haben gewissermaßen eine Filterfunktion, damit das Bewusstsein geschont wird, entweder um einen unangenehmen Sinneseindruck zu unterdrücken 38 Eric Kandel: Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 132.
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(und damit lehnt er sich eng an Freud an), oder um für womöglich wichtigere Aufgaben genügend Kapazitäten frei zu haben. Das Bewusstsein ist dadurch charakterisiert, dass ein bestimmter neuronaler Zustand die Schwelle von 500 Millisekunden überschreiten muss. Alles darunter bleibt unbewusst. Das Denken beginnt notwendigerweise im Unbewussten, aber das ist kein Nachteil, denn die zeitliche Latenz bietet überhaupt erst die Möglichkeit zur bewussten Intervention, Modifikation oder zum Abbruch eines Gedankens oder einer Handlung.39 In beiden Fällen also, bei Kandel und bei Libet, hat das Unbewusste seinen Schrecken und auch sein Schillerndes verloren. Es ist nicht mehr jenes neuropathologische Unbewusste, das sich durch unkontrollierte Raserei auszeichnet. Es ist auch nicht jenes evolutionäre Unbewusste, das Ausdruck des Primitiven ist und den Menschen mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert. Es ist nicht das philosophische Unbewusste, das bei Schopenhauer zu recht deprimierenden Konsequenzen geführt hat. Und schon gar nicht ist es das dynamisch-energetische Unbewusste Freuds, das durch Triebe, Konflikte und Verdrängung geprägt ist. Das Unbewusste hat in der heutigen Hirnforschung nichts Subversives und Gefährliches mehr, geht zuverlässig und geräuschlos seiner Arbeit nach, ist ein unverzichtbarer, geradezu sympathischer Bestandteil unseres Menschseins und hat sein biologisches Unbedenklichkeits- und Brauchbarkeitszertifikat trotz aller Diskussionen um die Willensfreiheit erhalten. Mit einem Wort, wir sind im frühen 21. Jahrhundert im neurowissenschaftlichen Biedermeier angelangt, in dem es vor allem darauf ankommt, angesichts der Risiken und Unwägbarkeiten der globalisierten Welt die Ordnung des Gehirns zu bewahren.
39 Benjamin Libet: Mind Time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005.
Freuds Entdeckung des »dynamischen« Unbew uss te n im Kontext seiner H ysterieforschung GÜNTER GÖDDE
»Wir machen aber von dem Länderreichtum des Ich viel zu kleine oder enge Messungen, wenn wir das ungeheure Reich des Unbewussten, dieses wahre innere Afrika auslassen«.1 Der Vergleich des Unbewussten mit jenem fremdartigen, dunklen und heißen Kontinent namens Afrika, dessen Erforschung noch heute abenteuerlich und lebensbedrohlich anmutet, stammt nicht von Freud selbst, sondern aus Jean Pauls 1827 erschienenem Roman »Selina«. Aber es war gewiss kein Zufall, dass Freud in der Nähe jenes Bildes blieb, als er das Unbewusste mit einer »psychischen Urbevölkerung«2 und das weibliche Geschlechtslebens mit einem »dark continent«3 verglich. Die mit diesen Metaphern verbundenen Konnotationen weit, unermesslich, dunkel, unergründlich und heiß lassen das Unbewusste als Gegensatz zur Enge, Umgrenztheit, Helligkeit, Zugänglichkeit und Kälte des Bewusstseins hervortreten. Für diese erste Genealogie des Unbewussten bei Freud, in der mit Hilfe eines substantivischen Begriffs eine neue Anthropologie anvisiert wird, kamen insbesondere drei Vorläuferbegriffe in Betracht: die »Lebenskraft« im Sinne des romantisch-vitalen Unbewussten von Medicus, Hufeland, Reil u.a., der »Wille« als Wille zum Leben oder Wille zur Macht im Sinne eines triebhaft-irrationalen Unbewussten bei Schelling, Schopenhauer und Nietzsche und das »Unbewusste« im teils biologischen, teils psychologischen und teils 1 2
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Zitiert nach Ludger Lütkehaus (Hg.): »Dieses wahre innere Afrika«. Texte zur Entdeckung des Unbewussten vor Freud, Frankfurt/Main: Fischer 1989, S. 77. Sigmund Freud: »Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung«, in: ders., Gesammelte Werke [im Folgenden: GW] Bd. X, Frankfurt/Main: Fischer 2005, S. 43-113, hier S. 94. Sigmund Freud: »Die Frage der Laienanalyse«, in: ders., GW Bd. XIV, S. 207286, hier S. 241.
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metaphysisch-teleologischen Sinne von Carl Gustav Carus oder Eduard von Hartmann.4 Diese Vorläuferkonzepte weisen mehr oder weniger große Überschneidungen mit dem »Unbewussten« bzw. dem »Es« im Sinne Freuds auf, sind aber keineswegs mit ihm identisch. Freud hat diese übergeordnete theoretische Ebene als Metapsychologie des Unbewussten bezeichnet und dabei zwei topische Modelle unterschieden: das Modell vom Bewussten, Vorbewussten und Unbewussten, das er in der »Traumdeutung« (1900) eingeführt, und das spätere Modell von Es, Ich und Über-Ich, das er in der Schrift »Das Ich und das Es« (1923) präsentiert hat. Obwohl die Metapsychologie als wissenschaftliche Theorie gerade zur Überwindung der Metaphysik dienen sollte, lässt sich zeigen, dass sie in der philosophischen Tradition verwurzelt ist, genauer gesagt: in der Dialektik von Aufklärung und Romantik, Idealismus und Materialismus, Vitalismus und Mechanizismus sowie vor allem in der Philosophie des triebhaft-irrationalen Willens im Sinne Schopenhauers und Nietzsches.5 Eine zweite Genealogie des Unbewussten bei Freud lässt sich auf die Klinische Psychologie beziehen. Sprachlich gesehen wird hier das Adjektiv »unbewusst« in Zusammensetzungen wie unbewusste Vorstellungen, Phantasien, Erinnerungen, Gefühle, Absichten, Motive, Konflikte, Handlungen, Prozesse u.a. verwandt: Auch hier gibt es eine weitläufige Tradition, die Henry Ellenberger unter dem Oberbegriff der »Dynamischen Psychiatrie« zu integrieren versucht hat. Während des ganzen 19. Jahrhunderts habe »ein abgerundetes System dynamischer Psychiatrie« existiert, das sich der Hypnose als Zugang zum Unbewussten bediente, sich mit neurotischen und psychotischen Krankheitsphänomenen beschäftigte und von deren Psychogenese überzeugt war, mit Modellvorstellungen von einer Dualität der Seele mit einem bewussten und einem unbewussten Ich operierte und spezifische psychotherapeutische Verfahren anwandte.6 Ellenberger wandte sich dagegen, dass die Dynamische Psychiatrie vor Freud nur »vorwissenschaftlich«, nur ein »Vorspiel« zur Entdeckung des Unbewussten in der eigentlich psychoanalytischen Phase gewesen sei. Statt eines epistemologischen »Bruchs«, den man als alleiniges Verdienst Freud zugeschrieben hat, geht er von einer »evolutionären Entwicklung« aus, die ihre Wurzeln in der antiken Heilkunst hat und dann im 18. und 19. Jahrhundert vom Mesmerismus über den Hypnotismus Charcots und Bernheims zu den Systemen von Janet, Freud, Adler, Jung und ihren Nachfolgern geführt habe. Mit dieser Sicht nimmt er eine Gegenposition zur FreudHagiographik ein, die vor allem mit dem Namen Ernest Jones verbunden ist. 4 5 6
Vgl. Günter Gödde: Traditionslinien des »Unbewussten«. Schopenhauer – Nietzsche – Freud, 2. Aufl., Gießen: Psychosozial-Verlag 2009. Vgl. Michael Buchholz/Günter Gödde: Macht und Dynamik des Unbewussten, Das Unbewusste, Bd. 1, Gießen: Psychosozial-Verlag 2005. Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewussten, Zürich: Diogenes 1985.
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Man kann ihm allerdings entgegenhalten, dass er seinerseits in einem wissenschaftshistorischen Muster befangen blieb, indem er den »kollektiven und teleologischen Prozess einer schrittweisen Evolution« unterstellte.7 Sowohl Ellenbergers als auch Jones’ Freud-Deutungen enthalten also historische Konstruktionen, sind »große Erzählungen« im Sinne Lyotards, und deshalb bewegt man sich hier in einem emotional hoch besetzten Spannungsfeld pro und contra Freud. In diesem Kontext möchte ich der Frage nachgehen, wie sich Freud und seine beiden Mentoren und Wegbereiter Charcot und Breuer dem Unbewussten angenähert haben und wo sie an ihre Grenzen gestoßen sind. Dabei bewege ich mich zunächst im Rahmen des damaligen Diskurses über Hysterie, orientiere mich an Fallbeispielen weiblicher Patientinnen und gehe am Ende auf die Frage nach dem Einfluss und der Wirkungsmacht von Geschlechterbildern ein.
1 . C h a r c o ts An n ä h e r u n g a n d a s U n b ew u s s t e und ihre Grenzen Als Freud 1873 mit dem Medizinstudium begann, wollte er »Forscher im Fach Biologie« werden.8 Als 20-Jähriger trat er in Ernst Brückes physiologisches Laboratorium ein und widmete sich dort histologischen Forschungen an niederen Fischen und Flusskrebsen. Seinen ursprünglichen Wunsch, eine Universitätskarriere als Forscher zu machen, gab er mit Rücksicht auf seine schlechte materielle Lage, die es ihm nicht erlaubt hätte, eine Ehe mit Martha Bernays einzugehen, auf. Daher absolvierte er eine dreijährige ärztliche Ausbildung am Wiener Allgemeinen Krankenhaus und spezialisierte sich auf das Fach Neuropathologie. Im August 1885 schloss er als 29-Jähriger seine klinische Ausbildung und kurz danach seine Habilitation ab. Im Winter 1885/86 verbrachte Freud einen viermonatigen Studienaufenthalt bei dem Neurologen Charcot an der Salpêtrière. Er war damals noch ein typischer Organmediziner, dessen Herz für die Labormedizin schlug, der sich aber auch mit der Krankenhausmedizin hinreichend vertraut gemacht hatte, um den professionellen Anforderungen an einen ärztlichen Therapeuten gewachsen zu sein. Der Studienaufenthalt bei Charcot erwies sich dann aber als eine berufliche und wissenschaftliche Zäsur: als Ausgangspunkt für seine Hinwendung zur Psychotherapie und zur Erforschung des Unbewussten. 7 8
Andreas Mayer: Mikroskopie der Psyche. Die Anfänge der Psychoanalyse im Hypnose-Labor, Göttingen: Wallstein 2002, S. 11. Siegfried Bernfeld: »Freuds wissenschaftliche Anfänge«, in: ders./Suzanne Cassirer Bernfeld: Bausteine der Freud-Biographik, eingeleitet, herausgegeben und übersetzt von Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1981, S. 112147, hier S. 113.
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Nach seiner Rückkehr aus Paris eröffnete Freud eine neurologische Privatpraxis und sah sich nun täglich vor die Aufgabe gestellt, nervöse Erkrankungen zu therapieren. In seinem Behandlungszimmer hing später eine Reproduktion des Ölgemäldes von André Brouillet, das Charcot bei einer seiner Falldemonstrationen vor einem großen Auditorium zeigt. Dargestellt ist ein hypnotisches Experiment mit einer hysterischen Patientin. Das Medium der Hypnose war Blanche Wittmann. Auf dem Gemälde sieht man, wie sie in einen somnambulen Zustand, das Endstadium des »grand hypnotisme«, versetzt wird. In einem Ohnmachtsanfall nach hinten sinkend, wird sie von einem Oberarzt Charcots und zwei Krankenschwestern aufgefangen. Das etwa 30 Personen umfassende Auditorium besteht sonst nur aus Männern, die in ihren dunklen Anzügen feierlich gekleidet wirken.9 Freuds älteste Tochter Mathilde, die schon als Kind von dem Bild fasziniert war, fragte ihren Vater oft, was der Frau fehle, und bekam immer die gleiche Antwort: »Zu fest geschnürt«, und die Moral war, wie töricht es sei, dies zu tun. »Der Blick, den er auf das Bild warf, gab mir, sogar als Kind, den Eindruck, dass es angenehme und wichtige Erinnerungen in ihm erweckte und ihm viel bedeutete«.10 Blanche Wittmann, die aus einer psychisch schwer belasteten Unterschichtsfamilie stammte, hatte im Alter von zwölf Jahren erstmals Ohnmachtsanfälle erlitten. Drei Jahre später begann sie als Näherin zu arbeiten und machte zu dieser Zeit ihre ersten sexuellen Erfahrungen. Nachdem sie wegen ihrer Anfälle ihre Arbeit verloren hatte, kam sie mit 15 Jahren in die Salpêtrière. Bei den hypnotischen Experimenten Charcots avancierte sie bald zu einer berühmten Versuchsperson und wurde sogar als »Königin der Hysterikerinnen« tituliert. Blanche wurde häufig vorgeführt, gezeichnet und photographiert und ist – ähnlich wie Augustine, eine andere Lieblingspatientin Charcots und spätere Kultfigur der Surrealisten – auch auf vielen Bildern in der »Iconographie photographique de la Salpêtrière« zu sehen.11 Nach Charcots Tod wurde sie Labortechnikerin und schließlich Röntgenschwester im radiologischen Laboratorium der Salpêtrière. Die Geschichte ihrer zweiten Lebenshälfte verarbeitet Per Olov Enquist in seinem 2005 erschienenen Roman »Das Buch von Blanche und Marie«; gemeint sind Blanche Wittmann und Marie Curie. Der Fall der Blanche Wittmann wurde in der Salpêtrière als gewöhnlicher Fall einer neurologischen und hereditären Erkrankung betrachtet und keines9
Vgl. dazu genauer Günter Gödde: »Charcots neurologische Hysterietheorie. Vom Aufstieg und Niedergang eines wissenschaftlichen Paradigmas«, in: Luzifer-Amor 7/14 (1994), S. 7-53, hier S. 7ff. 10 Zitiert nach Ernest Jones: Das Leben und Werk von Sigmund Freud, Bd. 1, Bern: Huber 1960, S. 251. Vgl. Günter Gödde: Mathilde Freud. Die älteste Tochter Sigmund Freuds in Briefen und Selbstzeugnissen, Gießen: Psychosozial-Verlag 2003, S. 36ff. 11 Vgl. Georges Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, München: Fink 1997.
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wegs als psychologischer Fall erschlossen. Dennoch wirft er ein Licht auf Charcots Annäherung an das Unbewusste. Ein Jahr nach Blanche Wittmanns Aufnahme in die Salpêtrière kam Charcot im Rahmen seiner Hysterie-Forschung auf den Einfall, hysterieähnliche Lähmungen, wie sie nach Unfalltraumen zu beobachten waren, mittels Hypnose künstlich hervorzurufen. Als ihm dies gelungen war, entschloss er sich zu weiteren Experimenten und gelangte dabei zu der Annahme, dass es in der Hypnose drei aufeinanderfolgende Stadien gebe: die Lethargie (Schlaffheit), die Katalepsie (Gliederstarre) und den Somnambulismus (Schlafzustand). Blanche Wittmann war es, die gerade diese drei Stadien der Hypnose von allen Versuchspersonen am formvollendetsten demonstrieren konnte.12 Wie Freud später konstatierte, wurde gerade in den Erscheinungen des Hypnotismus die Existenz unbewusster seelischer Vorgänge, »zuerst leibhaft, handgreiflich und Gegenstand des Experiments«.13 Wenn hysterische Symptome in der Hypnose künstlich hervorgerufen und wieder rückgängig gemacht werden konnten, musste man annehmen, dass sie der Suggestibilität unterliegen. Bei ihnen gelang der Nachweis, dass sie – in den Worten Freuds – »Erfolge von Vorstellungen seien, die in Momenten besonderer Disposition das Gehirn des Kranken beherrscht haben«.14 Für Charcot hätte es eigentlich nahegelegen, diese Vorstellungsdynamik als psychische zu verstehen und dementsprechend weiter nachzuforschen, wie die der Hysterie zugrundeliegenden Vorstellungen beschaffen sind und wie sie entstanden waren. Woran mag es gelegen haben, dass er sich auf ein solches psychologisches Terrain nicht einließ? Ein maßgeblicher Grund war sicherlich, dass Charcot sowohl die hypnotischen Erscheinungen als auch die Symptome der Hysterie auf eine wie auch immer geartete physiologische Veränderung des Nervensystems zurückführte. Er war zutiefst davon überzeugt, dass es sich bei der Hysterie um eine funktionelle Nervenkrankheit handle. Auch seine ätiologische Annahme, dass die Hysterie hereditären Ursprungs sei – damals spielte das Konzept der Degeneration eine große Rolle –, sprach gegen die Relevanz psychologischer Wirkfaktoren. Es gebe zwar »Gelegenheitsursachen« – auch psychologische; sie seien aber allenfalls »agents provocateurs«, die eine erblich bedingte Disposition zur Auslösung bringen konnten, mehr aber nicht. Charcot war, wie Freud schrieb, »ein visuel, ein Seher. […] Er pflegte sich die Dinge, die er nicht kannte, immer von neuem anzusehen, Tag für Tag den Eindruck zu verstärken, bis ihm dann plötzlich das Verständnis derselben aufging«.15 Dabei orientierte er sich an einem semiologischen Beschreibungs12 Vgl. Elaine Showalter: Hystorien. Hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien, Berlin: Berlin Verlag 1997, S. 56. 13 Sigmund Freud: »Kurzer Abriß der Psychoanalyse«, in: ders., GW Bd. XIII, S. 405-427, hier S. 407. 14 Sigmund Freud: »Charcot†«, in: ders., GW Bd. I, S. 21-35, hier S. 34. 15 Ebd., S. 22f.
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schema, das den Bestand einer Krankheitseinheit mit spezifischer Ätiologie sowie spezifischem Verlauf und Ergebnis voraussetzt. Da diese Entität als eine besondere Gruppe von klinischen Zeichen betrachtet wird, gründet das Wissen über den Patienten »in der Tätigkeit des Sehens, und die Beobachtungen über sein Aussehen und Verhalten sollen zur Konstruktion eines klinischen ›Bildes‹ führen«.16 Charcot glaubte, dass mit dem ihm zur Verfügung stehenden Arsenal empirischer Methoden eine »endgültige« Aufklärung des Rätsels Hysterie möglich geworden sei. Seine Sicht der Hysterie war vom Konstrukt des Krankheitsbildes geprägt, während der Lebensgeschichte kaum Bedeutung beigemessen wurde. Es gibt Belege dafür, dass die von den Patientinnen erzählten Geschichten in der Salpêtrière kaum Gehör fanden. So wurden bei einer 1992 veröffentlichten Recherche »lange wortgetreue Transkriptionen der Äußerungen von Patientinnen während hysterischen Anfällen« entdeckt, die »äußerst genaue und oft schreckliche Anspielungen auf frühere Traumen« enthielten, aber weder diagnostisch noch therapeutisch verwertet worden waren.17 Allem Anschein nach billigte man den Narrationen der überwiegend aus der Unterschicht stammenden Klinikpatienten fast keinen, den an ihren Körpern sichtbaren Krankheitssymptomen aber einen umso größeren Wahrheitsgehalt zu. In den Worten von Elisabeth Bronfen: »Charcot ging es nicht um die intime Geschichte, die dem pathologischen Fall zugrunde lag, sondern vielmehr um die Oberflächenform, die figurative Möglichkeit, einen spezifischen Fall zu einem klinischen Tableau zu verallgemeinern.«18 Im Jahre 1888 soll Blanche Wittmann sich Jules Janet, dem Bruder Pierre Janets, mit ihren persönlichen Nöten anvertraut und ihm mitgeteilt haben, dass es verborgen unter der kranken »Blanche I« noch eine viel ausgeglichenere »Blanche II« gebe.19 Diese zweite Persönlichkeit in ihr »habe auch immer alles bemerkt, was bei den vielen Demonstrationen vor sich gegangen sei, wenn ›Blanche I‹ die ›drei Stadien der Hysterie‹ ausagiert habe und, wie man annahm, bewusstlos gewesen sei«.20
16 Stephanie Kiceluk: »Der Patient als Zeichen und als Erzählung: Krankheitsbilder, Lebensgeschichten und die erste psychodynamische Fallgeschichte«, in: Hans-Martin Lohmann (Hg.), Hundert Jahre Psychoanalyse. Bausteine und Materialien zu ihrer Geschichte, Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse 1996, S. 61-109, hier S. 63. 17 Daphne de Marneffe: »Looking and listening: the construction of clinical knowledge in Charcot and Freud«, in: Signs 17 (1992), S. 71-111, hier S. 71. 18 Elisabeth Bronfen: Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne, Berlin: Verlag Volk & Welt 1998, S. 284. 19 Jules Janet: »L’hystérie et l’hypnotisme, d’après la théorie de la double personnalité«, in: Revue Scientifique (Revue Rose), 3e série, Bd. 15, 1988, S. 616-623, hier S. 616ff. 20 H.F. Ellenberger: Entdeckung des Unbewussten, S. 157.
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Eine derart einseitige Ausrichtung auf das äußerlich Sichtbare reduzierte die Patientinnen der Salpêtrière »auf einen Körper ohne Subjektivität«.21 Aber selbst die körperlich sichtbaren Erscheinungen wurden nur selektiv wahrgenommen. In besonderem Maße galt dies für die Wahrnehmung sexueller Phänomene. So charakterisierte Charcot das erotische Moment in den hysterischen Anfällen als »attitudes passionelles«, als »amouröses Flehen«, »Verzückung« und »Ekstase«, betonte aber, dass es sich dabei nur um psychische Wunschvorstellungen, nicht aber um geschlechtliche Begierden handle. Eine sexuelle Pathogenese der Hysterie lehnte er konsequent ab, um sie gleichsam unter vorgehaltener Hand dann doch einzuräumen.22 Freud hat miterlebt, wie Charcot in einem Gespräch über eine Patientin plötzlich äußerte: »Mais dans des cas pareils c’est toujours la chose génitale, toujours … toujours … toujours. Und dabei kreuzte er die Hände vor dem Schoß und hüpfte mit der ihm eigenen Lebhaftigkeit mehrmals auf und nieder«.23 Was bei Charcot eine öffentlich nicht ausgesprochene Hintergrundannahme blieb, hat Freud explizit angesprochen. Ein hysterischer Anfall sei »eine ins Motorische übersetzte, pantomimisch dargestellte Phantasie sexuellen Inhalts« und damit ein »Äquivalent für den Geschlechtsverkehr«.24 Ein anderer Widerspruch ergab sich daraus, dass Charcot von einer hereditären Grundursache der Hysterie ausging, die bei Männern und Frauen gleich sei. Bei genauerer Betrachtung zeigte sich aber, dass sich in seinen Schriften implizite Vorstellungen von männlicher und weiblicher Natur mit seinen vermeintlich objektiven Beobachtungen der Patienten vermischten: »Im Klartext erkrankten Frauen seinen Schriften zufolge aufgrund ihres verletzlichen emotionalen Wesens und ihrer Unfähigkeit, ihre Gefühle zu kontrollieren, während Männer erkrankten, weil sie zu viel arbeiteten, tranken oder kopulierten. Hysterische Frauen litten unter einem Überschuss an ›weiblichen‹ Verhaltensweisen, hysterische Männer an einem Überschuss ›männlicher‹ Verhaltensweisen«.25
Festhalten lässt sich, dass Charcots Forschungsprojekt durchaus Ansatzpunkte für ein Vordringen zu unbewussten psychischen Prozessen geboten hätte, wenn ihm nicht ein medizinisches Denkmodell mit einer hereditären Ätiologie, ein semiologisches Beschreibungsschema und implizite geschlechtsspezi21 S. Kiceluk: Der Patient als Zeichen, S. 76. 22 Vgl. Regina Schaps: Hysterie und Weiblichkeit. Wissenschaftsmythen über die Frau, Frankfurt/Main, New York: Campus 1992, S. 57ff. 23 S. Freud: Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, S. 51. 24 Sigmund Freud: »Allgemeines über den hysterischen Anfall«, in: ders., GW Bd. VII, S. 235-240, hier S. 236ff. 25 Marc Micale: »Charcot and the Idea of Hysteria in the Male: Gender, Mental Science and Medical Diagnosis in Late Nineteenth-Century France«, in: Medical History 34 (1990), S. 363-411, hier S. 406, zitiert nach E. Bronfen: Das verknotete Subjekt, S. 277.
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fische Vorstellungen den Blick verstellt hätten; wenn er nicht an dem positivistischen Traum festgehalten hätte, dass mit seinen empirischen Methoden eine endgültige Aufklärung des Rätsels Hysterie möglich sei, und wenn der suggestive Einfluss des »ärztlichen Blicks« auf die zum Objekt degradierten Patientinnen, ja auf die Produktion der Krankheitssymptome, seiner Selbstreflexion zugänglich gewesen wäre.
2 . B r e u e r s An n ä h e r u n g a n d a s U n b ew u s s t e und ihre Grenzen In seinem Nachruf auf Charcot stellte Freud dessen Hereditätskonzept grundlegend in Frage. Erst dessen Mitarbeiter Pierre Janet habe »ein tieferes Eindringen in die besonderen psychischen Vorgänge bei der Hysterie« versucht. Bei genauerer Betrachtung habe sich allerdings gezeigt, dass Janet die von ihm erkannte Abfolge von Trauma, »unbewussten fixen Ideen« und »Bewusstseinsspaltung« nur auf die Entstehung der »Zufallssymptome« bezog. Die eigentlichen Symptome der Hysterie seien Ausdruck einer konstitutionell bedingten »Einengung des Bewusstseinsfeldes«. Dagegen wandten Freud und Breuer ein, dass sich Janets Auffassung »wesentlich in dem eingehenden Studium jener schwachsinnigen Hysterischen gebildet hat, die im Spitale oder Versorgungshause sind, weil sie ihrer Krankheit und ihrer dadurch bedingten geistigen Schwäche halber sich im Leben nicht halten können«. Unter den von ihnen in der Privatpraxis behandelten Frauen hätten sich dagegen »die geistig klarsten, willensstärksten, charaktervollsten und kritischsten Menschen gefunden«.26 Josef Breuer, der Mentor und langjährige Mitarbeiter Freuds, behandelte in den Jahren 1880 bis 1882 den Fall Anna O. (Bertha Pappenheim), der nach Freuds Einschätzung »der erste durchsichtig gemachte Fall von Hysterie« war.27 Das Augenfälligste an diesem Fall waren zwei gänzlich verschiedene Bewusstseinszustände: »der primäre, in welchem Patientin psychisch ganz normal war, und der ›zweite Zustand‹, den wir wohl mit dem Traume vergleichen können, entsprechend seinem Reichtum an Phantasmen, Halluzinationen, den großen Lücken der Erinnerung, der Hemmungs- und Kontrolllosigkeit der Einfälle«.28 Wie Breuer annahm, lag der Ursprung der späteren »Bewusstseinsspaltung« in Annas Neigung zu Tagträumen. Sie hatte sich seit den Jugendjahren in eine Phantasiewelt geflüchtet, um einen Ersatz für ihr 26 Josef Breuer: »Theoretisches«, in: Josef Breuer/Sigmund Freud, Studien über Hysterie, GW Nachtragsband, S. 244-310, hier S. 291f. 27 Sigmund Freud: »Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene«, Vortrag, gehalten im Wiener Medizinischen Klub am 11.1.1893, GW Nachtragsband, S. 183-195, hier S. 185f. 28 Josef Breuer: »Beobachtung I. Frl. Anna O.«, in: Josef Breuer/Sigmund Freud, Studien über Hysterie, GW Nachtragsband, S. 221-243, hier S. 242.
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sonst so monotones Leben zu finden. Daraus entwickelte sich in einem längeren Stadium, in dem sie sich in der Pflege für ihren schwerkranken Vater kräftemäßig verausgabte, eine Angsthalluzination. Rätselhaft wie die Bewusstseinsspaltung war die Buntheit und Mannigfaltigkeit der aufgetretenen Symptome. Als die Patientin mit der Behandlung begann, litt sie an einem intensiven Husten. Bald folgten Sprechhemmungen bis zum Mutismus, Sehstörungen sowie eine Kontraktur und Anästhesie des rechten Armes, die sich auf das rechte und linke Bein und schließlich auch auf den linken Arm ausdehnte. Die erste Entdeckung eines psychischen Mechanismus gelang Breuer, als er erriet, dass Annas Mutismus mit einer Kränkung durch den Vater in Zusammenhang stand. Als er sie dazu brachte, ihm von dem Kränkungserlebnis zu erzählen, fiel die Sprechhemmung weg. Es war dann eher zufällig, dass Breuer sie bei seinen ärztlichen Besuchen mehrfach in einer Art Autohypnose antraf und beobachtete, dass sie sich in diesen »Absencen« jeweils intensiv mit einem bestimmten, offenbar sehr privaten Thema beschäftigte. Dies machte er sich therapeutisch zunutze, indem er ihr gezielt Stichworte gab, die sie zur Offenlegung ihrer geheimen Gedanken veranlassten. Das Aussprechen war stets mit einer spürbaren Erleichterung verbunden. Die Patientin bezeichnete die therapeutische Prozedur als »talking cure« oder »chimney sweeping«. Einmal erzählte sie voller Ekel, dass ihre Schwierigkeiten beim Hinunterschlucken von Wasser begonnen hatten, als sie sah, wie der kleine Hund ihrer Gouvernante Wasser aus einem Glas trank: Nachdem sie ihren »stecken gebliebenen Ärger« zum Ausdruck gebracht hatte, trank sie ungehemmt eine große Menge Wasser und erwachte aus der Hypnose mit dem Glas an den Lippen; damit war die Störung »für immer verschwunden«.29 So öffnete sich unter der Decke der äußerlich sichtbaren Symptome ein intimer Bereich von Kränkungen, Ängsten und Liebessehnsüchten. Sein eigenes Verdienst sah Breuer darin, dass er »in aufmerksamer treuer Beobachtung ausdauerte und nicht durch vorgefasste Meinungen die einfache Auffassung des wichtigen Geschehens störte«.30 Tatsächlich zeigt sein ursprünglicher Krankenbericht, wie er sich in einer Art »phänomenologischer« Haltung – d.h. relativ frei von theoretischen Vormeinungen, die den Blick auf »die Sache selbst« verstellt hätten – dem Mitteilungsstrom der Patientin überließ, ohne ihn in vorgegebene Bahnen zu lenken. In seinem ursprünglichen Krankenbericht von 1882 hatte Breuer notiert: »Sexuelles Element ist erstaunlich unterentwickelt; ich habe in den massenhaften Hallucinationen auch nicht einmal dasselbe vertreten gefunden. Jedenfalls ist sie noch nie verliebt gewesen, soweit nicht ihr Verhältnis zum Vater 29 Ebd., S. 233. 30 Zitiert nach Erwin H. Ackerknecht: »Josef Breuer über seinen Anteil an der Psychoanalyse«, in: Gesnerus 14 (1957), S. 169-171, hier S. 171.
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dieses ersetzt hat oder vielmehr damit ersetzt war«.31 Als diese Falldarstellung später in den »Studien über Hysterie« veröffentlicht wurde, fehlte allerdings dieser auf eine Verliebtheit in den Vater hindeutende Satz, und von Annas Übertragungsliebe zum Therapeuten, die bekanntlich zum vorzeitigen Abbruch der Behandlung führte, war erst recht nicht die Rede. Breuers Zugang zum Unbewussten kontrastiert stark mit demjenigen Charcots: Breuer war nicht semiologisch, sondern narratologisch, nicht am Sichtbaren und Räumlichen, sondern am Sagbaren und Zeitlichen orientiert. Er interessierte sich wesentlich mehr für die Lebensgeschichte, die Erzählungen und Phantasien der Patientin als für ihr Krankheitsbild und verteidigte sie gegen den Verdacht, ihre Erzählungen seien lediglich eine »willkürliche Construction«. Im Unterschied zu Charcots Patientinnen musste sie sich nicht den ärztlichen Anweisungen und dem vorab festgelegten medizinischdiagnostischen Schema fügen, sondern konnte sich im Schonraum einer »medizinalisierten Intimität« mit ihrer Subjektivität in Szene setzen und erhielt das Recht, in freier Themenwahl ihr Leiden selbst darzustellen.32 Breuer hat selbst nur den einen Fall von Hysterie behandelt. Er überwies Freud aber eine Reihe von Fällen, die er als Hysterie diagnostizierte und bei denen er von psychotherapeutischer Arbeit viel erwartete. In gemeinsamer Diskussion suchten sie die gewonnenen Erfahrungen theoretisch zu erfassen und publizierten 1895 die »Studien über Hysterie«. Ihre gemeinsame Grundannahme war, dass die meisten Symptome von Hysterie auf psychische Traumen und die mangelnde »Abreaktion« der traumatisch bedingten Affekte wie Angst, Scham, Ekel, Trauer u.a. zurückzuführen seien. Wenn es nicht zu einer »Katharsis« durch ein entlastendes Gespräch, eine Gefühlsentladung wie Klagen und Weinen oder eine Rachehandlung komme, bleibe »das psychische Trauma respektive die Erinnerung an dasselbe, nach Art eines Fremdkörpers« wirksam.33 Je nach den Bedingungen, die eine solche kathartische Affektabfuhr verhindert haben, unterscheiden Breuer und Freud zwischen Hypnoid- und Abwehrhysterie. Die Beschreibung der Hypnoidhysterie war am Fall der Anna O. orientiert und stammte von Breuer. Bei diesem Hysterie-Typus sei eine affektiv befreiende Reaktion auf ein Trauma deshalb nicht möglich, weil die pathogenen Vorstellungen in lähmenden Affekten wie in fortdauernder Angst oder in psychischen Zuständen, wie im halbhypnotischen Dämmerzustande des Wachträumens oder in Autohypnosen entstanden sind.34 31 Josef Breuer: »Krankengeschichte Bertha Pappenheim« [1882], in: Albrecht Hirschmüller, Physiologie und Psychoanalyse im Leben und Werk Josef Breuers, Bern: Hans Huber 1978, S. 348-362, hier S. 349. 32 Vgl. Alfred Lorenzer: Intimität und soziales Leid. Archäologie der Psychoanalyse, Frankfurt/Main: Fischer 1984, S. 118. 33 S. Freud: Studien über Hysterie, GW Bd. I, S. 75-312, hier S. 85. 34 Ebd., S. 89f.
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Gerade an diesem Hypnoid-Konzept, an dem Breuer so viel gelegen war, lässt sich eine Begrenztheit seiner Annäherung an das Unbewusste deutlich machen, denn das Unbewusste, das sich in Hypnoidzuständen entwickelt, kommt nur in sehr speziellen pathologischen Fällen vor und hat damit für die meisten Patienten keine Relevanz; zudem erlaubt es dem Beobachter eine maximale Distanz zu seinem Beobachtungsgegenstand, und impliziert, so der Einwand Freuds, »eine sozusagen noch physiologische Theorie«: Breuer wollte die seelische Spaltung der Hysterischen »durch das Nichtkommunizieren verschiedener seelischer Zustände« erklären.35
3 . F r e u d s ps yc h o d yn a m i s c h e K o n z e p t i o n d e r H ys t e r i e – We i c h e n s t e l l u n g z u s e i n e r K l i n i s c h e n P s yc h o l o g i e d e s U n b ew u s s t e n Im Vergleich zu Breuers Hypnoid-Konzept eröffnete Freuds Konzept der Abwehrhysterie deutlich erweiterte Zugänge zur Dynamik des Unbewussten. Die mangelnde Reaktion auf ein psychisches Trauma erklärte er sich aus Problemen, »die der Kranke vergessen wollte, die er darum absichtlich aus seinem bewussten Denken verdrängte, hemmte und unterdrückte«.36 Der Fall Elisabeth v. R. kann als ein in seiner Grundstruktur durchsichtig gemachter Fall einer solchen Abwehrhysterie betrachtet werden.37 Diese Patientin litt seit zwei Jahren an starken Schmerzen in den Beinen und war dadurch im Gehen und Stehen behindert. Als jüngste von drei Schwestern hatte sie sich sehr zum Vater hingezogen gefühlt, dem sie »einen Sohn und Freund« ersetzte. Der Vater prophezeite ihr schon früh, dass sie es wegen ihres kecken und rechthaberischen Wesens nicht leicht haben werde, einen Mann zu gewinnen. Aufgrund dieser starken Bindung war sie in der Adoleszenz sehr erschüttert, als der Vater plötzlich schwer erkrankte und nach zweijähriger intensiver Pflege starb. In diesem Stadium war die »aus banalen seelischen Erschütterungen bestehende Krankengeschichte« für Freud enttäuschend, da sie wenig erklärte. Um in »tiefere Schichten der Erinnerung« vorzudringen, drückte er suggestiv mit der Hand an ihre Stirn und forderte sie auf, ihm zu sagen, welche Bilder und Erinnerungen in ihr auftauchten. Die Patientin erinnerte sich jetzt an einen Tanzabend, an dem ein junger Mann sie aus einer Gesellschaft nach Hause begleitete, an die Gespräche mit ihm und an die Empfindungen, mit denen sie dann nach Hause zurückkehrte. Sie hatte sich spontan verliebt und Phantasien von einer glücklichen Ehe hingegeben. Am nächsten Tag traten die Gehstörun35 S. Freud, Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, S. 48. 36 S. Freud, Studien über Hysterie, S. 89. 37 Sigmund Freud: »Fräulein Elisabeth v. R.«, in: ders., Studien über Hysterie, GW Bd. I, S. 196-251.
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gen erstmals auf, hielten allerdings nicht lange an. Mit Rücksicht auf den Vater hatte sie damals auf ihre Neigungen zu dem jungen Mann verzichtet. Nach dem Tode ihres Vaters lebte Elisabeth mit ihrer Mutter und einer Schwester zusammen, die ein zweites Kind erwartete. Einmal unternahm sie mit dem Ehemann der Schwester einen längeren Spaziergang, auf dem sie sich mit allem, was er sagte, im Einklang fand. Nach der Rückkehr traten wieder heftige Schmerzen in den Beinen auf. Wenige Tage später machte sie allein einen Spaziergang zu einer herrlichen Aussichtsstelle. Ihre Einsamkeit war ihr schmerzlich bewusst, und sie sehnte sich nach einer ähnlichen Verbindung wie zwischen Schwester und Schwager. Die nach diesem Ausflug auftretenden Schmerzen verstärkten sich am Abend desselben Tages und blieben seither chronisch. Von jetzt ab war sie die ›Kranke‹ in der Familie. In der weiteren therapeutischen Arbeit gelang es Freud, eine wichtige Erinnerung freizulegen: Die Schwester war kurze Zeit später unerwartet gestorben. Am Totenbett der Schwester war bei Elisabeth plötzlich der Gedanke aufgetaucht, dass der Schwager jetzt frei sei und sie seine Frau werden könne. Für einen Augenblick war ihr die eigene Verliebtheit bewusst geworden, aber sie hatte die aufkommenden Liebeswünsche sogleich wieder beiseitegeschoben. Auf diesem Weg erkannte Freud einen Zusammenhang zwischen Elisabeths unerfülltem Liebesleben und dem Auftreten der Schmerzen in den Beinen. Anhand dieses Initialbeispiels einer Abwehrhysterie ließen sich vier ätiologische Faktoren in einen theoretischen Zusammenhang bringen: ein psychisches Trauma als Veranlassung, das Ausbleiben einer adäquaten affektiven Reaktion auf das Trauma, auch als fehlende Abreaktion bzw. »kathartische Entladung« bezeichnet, die »Verdrängung« mit dem Ich unvereinbarer Vorstellungen – hier der Zuneigung erst zu ihrem Jugendfreund, dann der zu ihrem Schwager – als entscheidender Krankheitsfaktor, und die »Konversion« als Umwandlung seelischer Schmerzen ins Körperliche. Bemerkenswert ist, dass die Falldarstellung eine dreiteilige Struktur besitzt, wobei dieselbe Geschichte in drei Anläufen mit immer neuen Einzelheiten und unter Überwindung von Widerständen erzählt wird, bis es am Ende zur Aufklärung der psychodynamischen Zusammenhänge kommt.38 Wie Freud später betonte, habe ihn das Studium der pathogenen Verdrängungen gezwungen, den Begriff des Unbewussten ernst zu nehmen.39 Das Verdrängte wurde in der Folge als dynamisch Unbewusstes bezeichnet. Am Ende der »Studien über Hysterie« findet sich der Hinweis, dass die Fälle Anna O. und Elisabeth v. R. noch nicht unter dem Aspekt der Sexualneurose erforscht worden seien.40 Aber Freud deutete an, dass er von der
38 Vgl. S. Kiceluk, Der Patient als Zeichen, S. 100ff. 39 Sigmund Freud: »Selbstdarstellung«, GW Bd. XIV, S. 31-96, hier S. 56. 40 Sigmund Freud: »Zur Psychotherapie der Hysterie«, in: ders., Studien über Hysterie, GW Bd. I, S. 252-312, hier S. 257f.
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Aufklärung der Hysterien als Sexualneurosen viel erwarte. Schon aus logischen Gründen lag es nahe, die Frage aufzuwerfen, was denn abgewehrt und verdrängt wird, und aus welchen Motiven dies geschieht. Es waren dann unmittelbare klinische Erfahrungen, die Freud zu der Annahme führten, dass »nicht beliebige Affekterregungen hinter den Erscheinungen der Neurose wirksam waren, sondern regelmäßig solche sexueller Natur«.41 Im weiteren gelangte er zu der Auffassung, dass die Sexualität »notwendige Bedingung« jeder Neurose sei, und 1896 glaubte er mit der sogenannten Verführungshypothese die »spezifische Ursache« der Hysterie erkannt zu haben: Es handle sich dabei stets um ein frühes Kindheitstrauma, dessen Inhalt in wirklicher Irritation der Genitalien bestehe. Traumatisch wirke jedoch nicht die frühkindliche Erfahrung als solche, sondern ihre Wiederbelebung als unbewusste Erinnerung, nachdem die Betroffene die sexuelle Reife erlangt habe. Die spezifische Ursache der Hysterie sei in einer aktuell wirksamen, aber unbewussten Vorstellung passiv erlebter Verführung zu sehen. Freud erklärte, in sämtlichen 18 Fällen von Hysterie, die er behandelt habe, sei er zur Kenntnis solcher Erlebnisse im Kindesalter gelangt.42 Kein Zweifel, der positivistische Traum Charcots, das Rätsel der Hysterie ein für alle Mal gelöst zu haben, war hier wieder zum Leben erwacht. Im Vorgefühl des sicheren Sieges schrieb Freud: »Wenn wir die Ausdauer haben, mit der Analyse bis in die frühe Kindheit vorzudringen, so weit zurück nur das Erinnerungsvermögen eines Menschen reichen kann, so veranlassen wir in allen Fällen den Kranken zur Reproduktion von Erlebnissen, die infolge ihrer Besonderheiten sowie ihrer Beziehungen zu den späteren Krankheitssymptomen als die gesuchte Ätiologie der Neurose betrachtet werden müssen«.43 Bereits ein Jahr später gab er allerdings die Verführungshypothese mit der Begründung auf, dass es »im Unbewussten ein Realitätszeichen nicht mehr gibt, so dass man die Wahrheit und die mit Affekt besetzte Fiktion nicht unterscheiden kann«. Kurzum: »Ich glaube an meine Neurotica nicht mehr«.44 Mit der Aufgabe der Verführungstheorie setzte bei Freud eine Denkentwicklung ein, die zur Ausarbeitung der verschiedenen Konzepte der Triebtheorie – insbesondere derjenigen der »infantilen Sexualität« und der »psychosexuellen Entwicklungsphasen« – und damit zu einer Wende »von der Ereignisdiagnose zur Erlebnisanalyse« führte.45 Vom Blickwinkel der neu konzipierten Triebtheorie aus erscheint die Verführungshypothese in einem 41 S. Freud: Selbstdarstellung, S. 48. 42 Sigmund Freud: »Zur Ätiologie der Hysterie«, GW Bd. I, S. 425-459, hier S. 444. 43 Ebd., S. 438. 44 Sigmund Freud: Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904. Ungekürzte Ausgabe, hg. von J.M. Masson, Bearbeitung der deutschen Fassung von M. Schröter, Frankfurt/Main: Fischer 1986, S. 283f.; Brief vom 21.9.1897. 45 A. Lorenzer: Intimität und soziales Leid, S. 199ff.
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anderen Licht: Wenn die Kinder schon in den ersten Lebensjahren von sexuellen Wünschen erfüllt und getrieben sind, so muss es auch Konstellationen geben, in denen sie eine Verführung allein in der Phantasie inszenieren. Ein sexueller Missbrauch in der frühen Kindheit wird demnach nur als mögliche und häufig vorkommende, nicht aber als notwendige und spezifische Ursache der Hysterie betrachtet. Die durch die Triebtheorie modifizierte Hysterietheorie lässt sich an der Therapiedarstellung der Patientin Dora (Ida Bauer) verdeutlichen. Als die 18jährige Patientin im Herbst 1899 die psychoanalytische Behandlung begann, litt sie unter periodischen Anfällen von Atemnot und nervösem Husten, der zeitweise zu völliger Stimmlosigkeit führte. Besonders beunruhigt waren die Eltern durch einen zufällig entdeckten Brief, in dem Dora von ihnen Abschied nahm, weil ihr das Leben unerträglich sei. Bald darauf kam es nach einem Wortwechsel mit dem Vater zu einem Anfall von Bewusstlosigkeit. Auffällig war, dass Dora in ihrer Krise an fast nichts anderes als die Person des Vaters denken konnte. Vor allem konnte sie ihm nicht verzeihen, dass er sich einer anderen Frau liebevoll zugewandt hatte. Nach Freuds Einschätzung handelte sie wie eine eifersüchtige Frau nach der Devise »Sie oder ich«. Daher lag der Schluss nahe, dass »ihre Neigung in höherem Maße dem Vater zugeneigt war, als sie wusste oder gern zugegeben hätte«. Doras Liebesverlangen betrachtete Freud als »Auffrischung infantiler Empfindungskeime« unter dem Druck eines belastenden Konflikts.46 Im Unterschied zu Anna O. und Elisabeth v. R. verkörpert Dora eine rebellische junge Frau, die sich nicht dem »Gesetz des Vaters« – und des väterlichen Therapeuten Freud – unterwirft. Aber beide Typen von Hysterikerinnen erscheinen als zwei Seiten einer Medaille: »Die Hysterikerin leidet unter den rebellischen sexuellen Wünschen, die sie zurückweist, da sie mit ihren moralischen Ideen unvereinbar sind.«47 Der Fall Dora kann als erste psychoanalytische Falldarstellung im engeren Sinne betrachtet werden.48 Einerseits betonte Freud nun, dass »die Verursachung der hysterischen Erkrankungen in den Intimitäten des psychosexuellen Lebens der Kranken gefunden wird, und dass die hysterischen Symptome der Ausdruck ihrer geheimsten verdrängten Wünsche sind«.49 Andererseits operierte er in dieser Falldarstellung in auffallender Häufigkeit, nämlich an
46 Sigmund Freud: »Bruchstück einer Hysterie-Analyse«, GW Bd. V, S. 161-286, hier S. 216. 47 Lisa Appignanesi/John Forrester, John: Die Frauen Sigmund Freuds, München, Leipzig: List Verlag 1994, S. 549. 48 Vgl. Vera King: Die Urszene der Psychoanalyse. Adoleszenz und Geschlechterspannung im Fall Dora, Frankfurt/Main: Verlag Internationale Psychoanalyse 1995. 49 S. Freud: Bruchstück einer Hysterie-Analyse, S. 164.
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mehr als zehn Stellen (!), mit den Kategorien des Unbewussten, der unbewussten Vorstellungen, Gedankenzüge und Regungen.50 Erst wenige Jahre zuvor war das Unbewusste in der »Traumdeutung« (1900) als psychoanalytischer Zentralbegriff eingeführt worden. Das Konzept wird vom Pathologischen abgelöst und in einer ihm eigenen Logizität betrachtet. »Das vermeintlich Irrationale und scheinbar Sinnlose psychischer Produktionen erweist sich nicht länger als Privileg des kranken Menschen, vielmehr als berechtigter Teil der conditio humana«.51
4 . F r e u d s Vo r a n n a h m e n ü b e r die weibliche Natur als Hindernis für die Erforschung des »dark continent« Freuds Erforschung der Hysterie, die sich für seine Genealogie des Unbewussten als grundlegend erwies, war keineswegs nur eine Geschichte des wissenschaftlichen »Fortschritts«. Sie brachte auch Rückschrittliches ins Spiel. Gerade weil die Hysterie eine »Frauenkrankheit« par excellence ist, offenbarte sie im Hinblick auf die Geschlechterfrage Schattenseiten, die bei aller Wertschätzung für die Entdeckungen Freuds nicht verleugnet werden dürfen.52 In Briefen an seine Braut Martha Bernays hatte Freud Hypothesen über die weibliche Natur und die Unterschiede zwischen Mann und Frau formuliert, die bereits erkennen lassen, dass sein naturwissenschaftlich geprägtes Objektivitätsideal klischeehafte Geschlechtszuschreibungen keineswegs ausschloss.53 Einen wichtigen Ausgangspunkt für seine Weiblichkeitstheorie bildete dann sein Brief vom 14. November 1897 an Wilhelm Fließ: »Der Hauptunterschied zwischen beiden Geschlechtern stellt sich aber um die Zeit der Pubertät her, wo eine nicht neurotische Sexualabneigung das Mädchen, Libido den Mann erfasst. Um diese Zeit geht nämlich beim Weib eine weitere Sexualzone (ganz oder teilweise) unter, die beim Mann bestehen bleibt. Ich meine die männliche Genitalzone, die Region der Klitoris, in der sich während der Kindheit die sexuelle Empfindlichkeit auch des Weibes konzentriert zeigt.«54 In den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (1905) griff Freud die These, dass die leitende erogene Zone des Mädchens an der Klitoris gelegen 50 Ebd., S. 200, 206, 209, 215, 219, 240, 247, 249, 250, 276. 51 Hans-Martin Lohmann: »Freud und seine Epoche. Die intellektuelle Biographie«, in: Hans-Martin Lohmann/Joachim Pfeiffer (Hg.), Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar: Metzler 2006, S. 49-76, hier S. 58f. 52 Vgl. Christina von Braun: Nicht ich: Logik, Lüge. Libido, 4. Aufl., Frankfurt/Main: Verlag Neue Kritik 1994, S. 9ff. 53 Sigmund Freud: Brautbriefe. Briefe an Martha Bernays aus den Jahren 18821886, hg. von Ernst L. Freud, Frankfurt/Main: Fischer 1988; z.B. Brief vom 15.11.1883, S. 63ff. 54 S. Freud, Briefe an Wilhelm Fließ, S. 303f.
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und der des Jungen am Penis homolog sei, wieder auf: »Die Pubertät, welche dem Knaben jenen großen Vorstoß der Libido bringt, kennzeichnet sich für das Mädchen durch eine neuerliche Verdrängungswelle, von der gerade die Klitorissexualität betroffen wird. Es ist ein Stück männlichen Sexuallebens, was dabei der Verdrängung verfällt.«55 Er ging aber jetzt noch einen Schritt weiter zu der Annahme, dass es in der weiblichen Entwicklung zwei Orgasmusarten, den klitoralen und den vaginalen, gebe und dass bei der erwachsenen Frau der vaginale die verlangte Norm sei. »In diesem Wechsel der leitenden erogenen Zone sowie in dem Verdrängungsschub der Pubertät, der gleichsam die infantile Männlichkeit beiseite schafft, liegen die Hauptbedingungen für die Bevorzugung des Weibes zur Neurose, insbesondere zur Hysterie. Diese Bedingungen hängen also mit dem Wesen der Weiblichkeit innigst zusammen.«56 Hierin kann man die Anfänge einer Konzeption sehen, mit der Freud die Frau »aus der Sexualität verbannte«.57 In seinen theoretischen Überlegungen zur weiblichen Sexualität zeigte sich Freud nun darüber besorgt, dass die Phase der Entwicklung zur reifen Sexualität für das Mädchen besonders gefährlich sei, wenn sie noch keine »seelischen Dämme« (wie Scham, Ekel, Moral) gegen »sexuelle Ausschreitungen« entwickelt habe.58 Wie wir aus Freuds Briefen wissen, spielten solche Befürchtungen auch im Verhältnis zu seinen Töchtern Mathilde59 und Anna60 eine Rolle. Die frühe sexuelle »Verführung« eines jungen Mädchens könnte dieses in ihrer »polymorph perversen Anlage« fixieren. Prädestiniert für eine solche »Verführung« sei allerdings die Frau des Proletariats, da sie »nicht die starke Identifikation mit dem Moralsystem der ökonomisch und sozial herrschenden Klasse entwickelt habe«.61
55 Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, GW Bd. V, S. 33-145, hier S. 122. 56 Ebd., S. 123. 57 C. von Braun: Nicht ich: Logik, Lüge, Libido, S. 68. 58 Ebd., S. 92. 59 Vgl. Günter Gödde: »›Am liebsten möcht ich mit Papa arbeiten, aber der kann mich nicht brauchen‹ – Mathilde Freud im Spiegel ihrer Jugendbriefe an Eugen Pachmayr (1903–1910)«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 57 (2003), S. 444-460. 60 Sigmund Freud/Anna Freud: Briefwechsel 1904-1938, hg. von Ingeborg MeyerPalmedo, Frankfurt/Main: Fischer 2006. Vgl. Günter Gödde: »›Du … hast mehr geistige Interessen und wirst Dich wahrscheinlich mit einer rein weiblichen Tätigkeit nicht zufrieden geben‹. Zum Erscheinen des Briefwechsels zwischen Sigmund und Anna Freud«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 60 (2006), S. 1054-1060. 61 Sander L. Gilman: »Das männliche Stereotyp von der weiblichen Sexualität im Wiener Fin de Siècle«, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 14 (1982), S. 236-263, hier S. 255. Vgl. Franziska Lamott: Die vermessene Frau. Hysterien um 1900, München: Fink 2001, S. 87ff.
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In der weiteren Erforschung der Hysterie suchte Freud nachzuweisen, dass bei den Hysterikerinnen ödipale Phantasien dominieren, die mit einer Verleugnung des eigenen Geschlechts einhergehen. Damit wandte er sich aber mehr und mehr, wie Regina Schaps konstatiert, »von der Erforschung der Hysterie als eines geschlechtsspezifischen kulturellen Deutungsmusters ab, um demgegenüber eine Theorie des Weiblichen auszuarbeiten, die sich am gelungenen ›Normaltypus‹ weiblicher Identitätsbildung orientierte«. In der Weiterentwicklung seiner Theorie des Unbewussten hat er – wiederum in positivistischer Manier – »den Anspruch auf die Neukonstruktion eines allgemeinen, d.h. geschlechtsunspezifischen Menschenbildes erhoben«. Seine Begriffsbestimmung des Weiblichen erfolgte »durchgängig im Rahmen der Vorherrschaft eines männlichen Identitätsmodells«. Dies war ein wesentlicher Grund, Freuds Erforschung des Unbewussten vornehmlich in ihren Anfängen zu betrachten, da »die dort zum Ausdruck kommende Weiblichkeitsproblematik in der endgültigen Form der Freudschen Theorie nachträglich wieder verschüttet worden ist«.62 Freuds Theorie der Weiblichkeit zeigt sich in mehrfacher Hinsicht durch Ambivalenzen geprägt. In ihr mischen sich Projektionen über das weibliche Geschlecht und seine Sexualität mit klassenspezifischen Aspekten. Die Metapher des »dunklen« weiblichen Kontinents kann für das Wissenwollen und damit die produktive Rolle der Verschaltung von Unbewusstem und Weiblichkeit stehen. Die Abwertung des Weiblichen kommt ins Spiel, als es über einen organischen »Defekt«, den fehlenden Penis, die »Tatsache der Kastration« bestimmt wird.63 Freuds Weiblichkeitstheorie ist ein prototypisches Beispiel dafür, dass ein »sozialer Befund« somatisch gedeutet und in ein Schema organischer Minderwertigkeit eingebaut wird. Die hier dargestellte wissenstheoretische Verschiebung kann als »Einlagerung von Geschlechtlichkeit in die Wissensgeschichte und Wissenstheorie« umschrieben werden: »Die neue Wissensordnung ›entdeckt‹ nicht nur die Überlegenheit des männlichen Geschlechtstriebs, sie stellt auch […] ausdrücklich den Zusammenhang zwischen Geschlechtstrieb und geistiger Aktivität her und pocht damit auch auf seine Rolle für die Weiterentwicklung des Wissens«.64 Andererseits kann man darauf verweisen, dass Freud mit seiner entsexualisierenden Bestimmung der Weiblichkeit »reale ›Niederschläge‹ der weiblichen Sexualentwicklung zum Sprechen gebracht« hat.65 62 R. Schaps: Hysterie und Weiblichkeit, S. 146ff. 63 Sigmund Freud: »Über die weibliche Sexualität«, GW Bd. XIV, S. 517–537, hier S. 522ff.. 64 Christina von Braun/Inge Stephan: »Einführung«, in: dies. (Hg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2005, S. 745, hier S. 16f. Vgl. C. von Braun: Nicht ich: Logik , Lüge. Libido, S. 62ff. 65 Renate Schlesier: Konstruktionen der Weiblichkeit bei Sigmund Freud. Zum Problem von Entmythologisierung und Remythologisierung in der psychoanaly-
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Festhalten möchte ich zum Abschluss, dass der Paradigmenwechsel von einer neurologischen zu einer psychodynamischen Theorie der Hysterie und der Psychoneurosen in erster Linie Freud zu verdanken ist.66 Eröffnete ihm die Erforschung der Hysterie den ersten Zugang zum Unbewussten, so haben seine Patientinnen, von denen hier nur einige wenige einbezogen werden konnten, maßgeblich zur Wende von der im 19. Jahrhundert vorherrschenden Bewusstseinspsychologie zum Primat des psychisch Unbewussten beigetragen.
tischen Theorie, Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt 1981, S. 39. Vgl. Karin Flaake: »Feminismus/Gender Studies«, in: H.-M. Lohmann/J. Pfeiffer (Hg.): Freud-Handbuch, S. 383-395. 66 Vgl. G. Gödde: Charcots neurologische Hysterietheorie, S. 35ff.; Günter Gödde: [Freuds] »Hysterie-Studien«, in: H.-M. Lohmann/J. Pfeiffer (Hg.): FreudHandbuch, S. 84-93.
Der Kern des Unbew ussten in Freuds Mikroskop. Ap paratur und Vorverständnis in der Wissensgenese BETTINA BOCK VON WÜLFINGEN
Dieser Beitrag behandelt das Wechselverhältnis zwischen dem ›Unbewussten der Natur‹ und der ›Natur des Unbewussten‹. In dieser Gegenüberstellung treffen sich zwei Entwicklungslinien, die in der Auseinandersetzung mit dem ›Anderen‹ im ›Selbst‹ im 19. Jahrhundert auftreten: die Philosophie und Psychologie des Unbewussten und die biologische Vererbungstheorie. Im Folgenden wird ausgeführt, wie die biologische Auffassung der Zelle ihre Spuren auch in der Freudschen Theorie des Unbewussten hinterlassen hat. Scheinbar in einer doppelten Bewegung flossen um die Wende zum 20. Jahrhundert Vorverständnisse und Vor-Gesehenes1 in die Theorie des Unbewussten ein, einerseits theoretisch-konzeptionell und andererseits als Erkenntniselemente der früheren empirischen Forschungsarbeit Freuds am Mikroskop. Freuds Sprechen vom Unbewussten als »Kern unseres Wesens« nehme ich dabei beim Wort, indem ich eine Erkenntnistheorie des Visuellen auf Freuds psychoanalytisch-konzeptionelles Werk anwende. Hierzu wird zunächst die Mikroskopie als instrumenteller Rahmen und Leitmotiv der Lebensforschung des 19. Jahrhunderts eingeführt und gezeigt, wie sich entlang der Mikroskopie die Debatte um die Funktionen von Zellkern und Zellplasma entspannen: Über das Phänomen der Zeugung bzw. Befruchtung verbindet sich in diesem auch geschlechtlich verhandelten Dualismus von Kern und Plasma die Entwicklung des einzelnen Organismus (Ontogenese) mit der Evolution (Phylogenese). Um diese Zeit ab etwa 1880 verschiebt sich in der Erforschung der Zeugung
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Den Begriff kreiert Kaja Silvermann als deutsche Übersetzung von Lacans »donner-à-voir« in »Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse«. Kaja Silverman: »Dem Blickregime begegnen«, in: Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick: Kritik der visuellen Kultur, Berlin: ID-Verlag 1997, S. 41-64.
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die Fragestellung vom Problem der Fortpflanzung zu jenem der Vererbung: Gesucht wird die Verortung des zellulären Gedächtnisses für die Anordnung von Organellen, Organen sowie der besonderen Eigenschaften von Arten und Individuen. Der zweite Teil des Aufsatzes befasst sich mit der bisherigen Wahrnehmung von Freuds Werk als primär vom Metaphernfeld der Dampfmaschine geprägt. Im Anschluss daran rufe ich im Gegensatz dazu Freuds im 20. Jahrhundert kaum je zitierte zellbiologische Arbeiten in Erinnerung, um sie im letzten Teil in Bezug zu seinem frühen topographischen Modell des Unbewussten zu setzen.
1. Mikroskopie im 19. Jahrhundert In wissenschaftsgeschichtlichen Darstellungen heißt es meist, so z.B. bei François Jacob,2 Philipp Sarasin3 oder Georges Canguilhem,4 das 19. Jahrhundert sei – naturwissenschaftlich gesehen – das Jahrhundert der paradigmatisch durchgesetzten Physiologie und der Thermodynamik. So wird auch die Vererbungstheorie (mit der später der Zellkern ins Zentrum der Studien vom Leben rückt) von vielen als von der Leitmetaphorik der Maschine geprägt verstanden, so etwa von den Historikerinnen und Historikern der Biologie Ernst Mayr,5 Evelyn Fox Keller,6 François Jacob7 oder Lily Kay.8 Die Geschichte der Vererbungskonzepte verläuft demnach grob umrissen vom Uhrwerk über die Dampfmaschine zum Computer, von den Disziplinen der Mechanik über die Thermodynamik zur Kybernetik. Doch kommen die physiologischen experimentellen Methoden des 19. Jahrhunderts, nicht an die Heredität, die Elemente der Vererbung heran, und das räumt auch Jacob ein.9 Diese Aufgabe stellt sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die noch junge Disziplin der Zellbiologie oder Zytologie, deren Bedeutung für Theorien der Bewahrung und Weitergabe von Wesensmerkmalen, also sowohl für die Vererbungsforschung wie für die sich zugleich entwickelnde Theorie vom Unbewussten bislang unterschätzt wurde. Damals noch im ungelösten Wett2 3 4 5 6 7 8 9
François Jacob: Die Logik des Lebenden. Eine Geschichte der Vererbung, Frankfurt/Main: Fischer 2002. Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001. Georges Canguilhem: Das Normale und das Pathologische, München: Carl Hanser 1974. Ernst Mayr: Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, Berlin: Springer 1984. Evelyn Fox Keller: Das Jahrhundert des Gens, Frankfurt/Main: Campus 2001. F. Jacob: Die Logik des Lebendigen. Lily Kay: Who wrote the book of life? A history of the genetic code, Stanford: Stanford University Press 2000. F. Jacob: Die Logik des Lebendigen.
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streit zwischen Organik und Maschinismus, verdankte sich diese Wissenschaft vor allem weitreichenden Verbesserungen und Innovationen der Mikroskopiertechnik ab der Jahrhundertmitte.10 In Deutschland, Großbritannien und Frankreich wetteifern die Mikroskophersteller mit unterschiedlichen Linsen und Emulsionen, das ausgehende 19. Jahrhundert schließlich sieht die Welt durch das Mikroskop. Mit steigendem Auflösungsvermögen entfaltet sich zugleich die Vererbungstheorie an den Befruchtungsvorgängen. Die Evolutionstheorie, so Jacob,11 sah Mitte des 19. Jahrhunderts in der Reproduktion sowohl den Mechanismus für die Fortdauer der organischen Strukturen als auch für ihre Variation. Die Zelltheorie lokalisierte diesen Mechanismus in der Zelle und in erster Linie in der weiblichen Eizelle. Der Physiologe Claude Bernard beschrieb die »Erinnerung« als eine dem Ei innewohnende »Kraft der Vererbung«, einen diesem eigenen und doch schon »vorausgegangenen Zustand«, der einen »ursprünglichen Anstoß« zur weiteren Entwicklung gebe.12 Die Art dieses Gedächtnisses unterscheidet sich jedoch kaum, wie Jacob feststellt, von dem, was bereits im 18. Jahrhundert vorgeschlagen wurde: »Darwin und Haeckel lassen wie Maupertius aus dem Gedächtnis eine Eigenschaft der den Organismus aufbauenden Teilchen werden. Für Haeckel existieren in den Zellen Partikeln oder ›Plastiden‹, die spezifische Bewegungen ausführen; mit einem Gedächtnis versehen, behalten sie über Generationen hinweg die charakteristische Bewegung bei, in der sich ihre Aktivität äußert«.13
Noch 1875/76, wenige Jahre vor den Arbeiten Freuds, auf die sich die folgenden Seiten beziehen werden, wird der Befund Oscar Hertwigs, dass man nach einer Befruchtung einen zunächst doppelten, dann einfachen Kern erkenne,14 der wohl nur aus der Verschmelzung des weiblichen Kerns mit jenem (zunächst nicht beobachteten) eines Spermiums stammen könne, von den Zytologen Eduard Strasburger15 und van Beneden16 noch bestritten.17 Ihnen zufol10 John Farley: Gametes and spores: Ideas about sexual reproduction 1750-1914, Baltimore: John Hopkins University Press 1982. 11 F. Jacob: Die Logik des Lebendigen. 12 Claude Bernard: La science expérimentale, Paris: Baillière 1878, S. 133. 13 F. Jacob: Die Logik des Lebendigen, S. 208. 14 Oscar Hertwig: »Beiträge zur Kenntnis der Bildung, Befruchtung und Theilung des tierischen Eies«, in: Morphologisches Jahrbuch 1 (1875), S. 347-434. 15 Eduard Strasburger: Über Zellbildung und Zellteilung, Jena: Hermann Dabis 1875. 16 Edouard Van Beneden: »Contributions à l’histoire de la vésicule germinative et du premier noyau embryonnaire«, in: Bulletins de l’Académie royale des sciences, des lettres et des beaux-arts de Belgique 41 (1876), S. 79. 17 J. Farley: Gametes and spores; Frederick B. Churchill: »From heredity theory to Vererbung: the transmission problem 1850-1915«, in: Isis 78/3 (1987), S. 337364.
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ge war der Kern im befruchteten Ei eine (weibliche) Neuformation. Mit der Lokalisation dieses zellulären Gedächtnisses für die Formgebung des Organismischen im Ei war dieses also, wie schon im 18. Jahrhundert, eher weiblich konnotiert.18 Erst mit der Verwendung neuer Färbemethoden Ende des 20. Jahrhunderts geht diese Aufgabe auf das Chromatin des Zellkerns über und wird somit – wie man dann glaubte eindeutig19 – gleichermaßen in Eizelle und Spermium verortet.20
2. Kern-Plasma-Dualismus als P s yc h e - K ö r p e r - G e g e n s a t z Entsprechend der um sich greifenden Faszination am Mikroskopisch-Zellulären, die sich Anfang der 1880er mit der Vererbungs- und Entwicklungstheorie verflocht, lassen sich zahlreiche das menschliche Leben betreffende Phänomene als in zellulären Verhältnissen und Selbstverhältnissen gefasst finden. Dabei wird häufig Kern und Plasma bzw. Soma unterschieden. Als wesentlicher Verhaltensausdruck des Menschen wird insbesondere das Psychische in dieser Zeit in Begrifflichkeiten des Kerns gefasst. Temporäre Verhaltensweisen werden dabei als Wesenseigenschaften festgelegt.21 So entwickelte fernab jeder naturwissenschaftlichen Ausbildung auch der Jurist Karl Heinrich Ulrichs,22 der erstmals versuchte mit der Biologisierung von Homosexualität ihrer Verfolgung entgegenzuarbeiten, seit den 1860er Jahren als einer der ersten ein Konzept vielfältiger Seelenkerne: So gäbe es Körper-, Geschlechts-, Sexualitäts- und Gemütskerne, die verschiedentlich kombiniert zu einer großen Varietät menschlicher Wesenheiten führten. Diese Anima-These ging ein in die durch den Nervenarzt Carl Westphal (18331890) geprägte Konstruktion der »conträren Sexualempfindung« und weiter in Richard von Krafft-Ebings (1840-1902) maßgebliche Arbeiten zur Sexualpsychiatrie.23
18 F. Jacob: Die Logik des Lebendigen, S. 72ff.; Lazzaro Spallanzani: Expériences pour servir à l’histoire de la generation, Genf: Paul Barde 1785. 19 Denn spätestens nach dem Human Genome Project um die Jahrtausendwende wurde deutlich, dass das Zellplasma eine herausragende Rolle in der Vererbung spielt, die seither wieder stärker in den Fokus der Forschung rückt. 20 F. Jacob: Die Logik des Lebendigen, S. 226ff. 21 Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999. 22 Karl-Heinrich Ulrichs: »Inclusa«, in: ders., Forschungen über das Rätsel der mannmännlichen Liebe [1898], 2. Ausgabe, hg. von Magnus Hirschfeld, Leipzig 1864. 23 Vgl. Rainer Herrn: »On the history of Biological Theories of Homosexuality«, in: Journal of Homosexuality 28/1,2 (1995), S. 31-56.
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Auch die eher somatisch orientierte Psychoanalyse und -therapie ließ sich von der Zelltheorie inspirieren: Georg Groddeck, der Freud zur Theorie des Es anregte24 und als Begründer der Psychosomatik gilt, argumentierte für seine Theorien um die Jahrhundertwende mit dem Verhältnis von Kern und Plasma in einer Verschränkung von Metapher und direkter Entlehnung aus der zellbiologischen Forschung. In »Die Entdeckung der Psychosomatik«25 hieß es, es »sollte sich jeder merken, dass der menschliche Körper in allen seinen Teilen aus kleinen Lebewesen besteht [...]. Die Zellen sind mannigfach gestaltete, mikroskopisch kleine Körperchen, denen allen gemeinsam ein paar Dinge sind, ein Zellenleib, das Protoplasma und ein Zellenkern«.26 Beim Menschen hätten wir es »immer mit einer großen Masse von Lebewesen, nicht etwa mit einem einheitlichen Organ zu tun. [...] Lange Reihen entsagungsvoller Arbeit haben es jetzt ermöglicht, das selbstständige Leben der Zellen, getrennt von dem Zusammenhang mit dem Menschen, im Experiment deutlich zu machen«.27 Weiter führt auch er wie Ulrichs ein mehr-geschlechtliches Konzept aus, ähnlich wie es auch in der psychoanalytischen Identitätsdeutung Otto Weiningers,28 nämlich in dessen Werk »Geschlecht und Charakter« zu finden ist, und das Groddeck anhand der mikroskopischen Untersuchungen der Zytologie diskutiert: »Das Dritte was man unbedingt im Gedächtnis behalten muss, wenn man sich mit dem Menschen, dem gesunden oder kranken, beschäftigen will, ist die Tatsache, dass die beiden Geschlechter, Mann und Weib nicht so scharf voneinander getrennt sind, wie es der Anschein vortäuscht, dass vielmehr jede einzelne Persönlichkeit in sich männliche und weibliche Bestandteile unvermischt trägt. [...] Man vergegenwärtige sich den Vorgang der Befruchtung: Der Kopf des Samentierchens, der Kern der männlichen Zelle, dringt in das Ei ein, und nun beginnt ein seltsamer Figurentanz im inneren des befruchteten Eis, den allenfalls zu verstehn jahrzehntelange Arbeit der Forscher gebraucht hat; es teilt sich der weibliche Eikern und der männliche Samenkern, je eine männliche Hälfte lagert sich neben eine weibliche, jedoch ohne ineinander überzufliessen, sich zu vermischen. Weibliches und Männliches bleibt immer getrennt, das ganze Menschenleben hindurch, denn nun entwickelt sich aus dieser Zelle mit den zwei Mannweibkernen der sogenannte Mensch, der Zellleib spaltet sich zwischen den beiden Kernen, die sich wieder teilen und so fort und fort,
24 Sigmund Freud: »Das Ich und das Es« [1923], in: Studienausgabe Bd. 3, Frankfurt/Main: Fischer 2000, S. 273-330, hier S. 292. 25 Georg Groddeck: Die Natur heilt. Die Entdeckung der Psychosomatik [1913], Neuauflage Frankfurt/Main: Ullstein 1990. 26 G. Groddeck: Die Natur heilt, S. 7. 27 Ebd. 28 Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, Wien: Wilhelm Braumüller 1903.
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jedoch stets so, dass in jeder Zelle weibliche und männliche Kernteile unvermischt liegen«.29
Auch Wilhelm Reich, der als einer von wenigen bereits als Student von der psychoanalytischen Vereinigung aufgenommen worden war, beschäftigte sich mit der Mikroskopie von Zellen, allerdings einzelligen Organismen, und zog daraus Schlussfolgerungen auf psychische Affekte auch beim Menschen. So versetzte er beispielsweise Amöben elektrische Stromstöße und betrachtete die kontraktile oder expansive Reaktion ihres (Proto-)Plasmas. Dabei fand er heraus, dass das Protoplasma von Amöben unter Elektroschock kontrahiert, was mit körperlicher Angstreaktion gleichzusetzen sei, während es sich bei sogenannten ›lustvollen Reizen‹ ausdehne.30 Aus diesen Einzeller-Experimenten soll er schließlich seine Körperpsychotherapie generiert haben.31 Worum es im Folgenden gehen soll, ist Freuds Versuch, die Psychoanalyse durch naturwissenschaftliche Anleihen zu stärken. In bisheriger Lesart seines Werks wird vor allem der energetische Aspekt, also Thermodynamik und Maschinismus unterstrichen. Dieser Lesart soll im übernächsten Abschnitt Freuds bisher wenig rezipierter zellbiologischer Forschungshorizont in den Auseinandersetzungen um Kern und Plasma ab den 1880ern entgegengesetzt werden. Mit dessen Anwendung erfährt und erklärt das psychoanalytische Programm im topographischen Modell des Unbewussten eine Festschreibung von Wesenseigenschaften.
3 . F r e u d : M a s c h i n i s t , E l e k t r i k e r o d e r Z yt o l o g e ? Dass Freud sich zellbiologischer Metaphern bedient, könnte man für trivial halten, wären nicht jedwede organischen Anteile in seinem Werk in der Forschungsliteratur durch die Dominanz des Maschinenhaften überlagert. Nach gängiger aktueller Lesart der Freud Theorie Freuds widerstand dieser zeitgemäßen organizistischen Anwandlungen seiner Kollegen, wie sie oben beschrieben wurden. Wann immer von seiner heuristischen Modellierung die Rede ist, gilt das Interesse der mechanistischen Maschine. Der Wissenschaftshistoriker Henning Schmidgen findet die Dampfmaschine mit ihren thermodynamisch regulierten Energieumsetzungen nicht nur bei Freud, sondern auch später bei Deleuze, Guattari und Lacan.32 Lacans Interpretation von 29 G. Groddeck: Die Natur heilt, S. 9. 30 Wilhelm Reich: Experimentelle Ergebnisse über die elektrische Funktion von Sexualität und Angst, Kopenhagen: Verlag für Sexualpolitik 1937. 31 Vgl. Fritz Erik Hoevels: Wilhelm Reichs Beitrag zur Psychoanalyse, Freiburg/Breisgau: Ahriman 2001. 32 Henning Schmidgen: Das Unbewusste der Maschinen. Konzeptionen des Psychischen bei Guattari, Deleuze und Lacan, München: Fink 1997.
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Freuds Werk kann als beispielhaft für diese Lesart angesehen werden, wonach Freud von den Innovationen der ihn umgebenden Dampfmaschinenwelt inspiriert gewesen sei und sich den Naturwissenschaften ausschließlich über die Physik, keinesfalls aber im eigentlichen Sinne über das Organismische auf direktem Wege näherte. Tatsächlich erinnert Lacan selbst im »Seminar« an die lange Geistestradition des Mechanischen im Selbstbezug, wonach wir spätestens mit Descartes eine Trennung zwischen »Körper haben und Körper sein« machten. Handle es sich bei Descartes noch um den Körper als Uhrwerk,33 so habe später Freud den Körper als Dampfmaschine behandelt. In einer maßgeblichen erkenntnistheoretischen Wendung führt Lacan aus: »Bei Freud ist die Rede von etwas, von dem bei Hegel nicht die Rede ist, das ist die Energie. [...] Zwischen Hegel und Freud liegt die Heraufkunft einer Welt der Maschine. [...] Man mußte Maschinen haben, um zu bemerken, daß man sie [die Sklaven, BvW] ernähren mußte. [...] Und ferner hat man bemerkt, etwas, woran man nie zuvor gedacht hatte, daß die Lebewesen sich ganz von selbst unterhalten, anders gesagt, daß sie Homöostase darstellen. Von da an beginnen Sie34 die moderne Biologie aufsprießen zu sehen, für die es kennzeichnend ist, daß sie niemals einen Begriff intervenieren läßt, der das Leben betrifft. Das vitalistische Denken ist der Biologie fremd [...].«35
Dies habe ihr Begründer Bichat zum Ausdruck gebracht. Freud habe »sein ganzes Werk hindurch [...] den Akzent auf die energetische Funktion gesetzt. [...] Er stellt fest, daß das Gehirn eine Maschine zum Träumen ist. Von daher die vollkommene Revolution und der Übergang zur Traumdeutung«36. Wann immer Lacan bei Freud etwas Zelluläres findet, wird es, wie von vielen Freud-Exegeten vor und nach ihm, stets in das Modell der thermodynamischen Maschine eingeordnet. Was Lacan an dieser Stelle ausführt, ist die Bedeutung des zeitgenössischen Alltags für die Horizonte dessen, was denkbar ist (»woran man nie zuvor gedacht hatte«37). So betont er in dieser Darstellung die Relevanz des Erlebens der Dampfmaschine für die Idee der Energieumwandlung und deren Verwendung bei Freud. Wenn auch nicht begrifflich explizit, macht er damit eine materialistische Erkenntnistheorie stark, die auf den Einfluss der Alltagserfahrung auch auf das wissenschaftliche Denken hinweist. Diese Denkbewegung, wonach auch moderne wissenschaftliche Erkenntnis nicht anders als erfahrungsweltlich inspiriert zu denken ist, lässt sich im 19. Jahrhundert beim Begründer 33 Jacques Lacan: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Freiburg/Breisgau: Walter Verlag 1980, S. 97. 34 Lacan spricht hier sein Seminarpublikum an. 35 J. Lacan, Das Ich in der Theorie Freuds, S. 97. 36 Ebd., S. 100. 37 Ebd.
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der »Geisteswissenschaften« Wilhelm Dilthey38 ebenso finden wie, speziell auf die Naturwissenschaften bezogen, beim Physiker Hermann von Helmholtz.39 Auch in der neueren Forschungsliteratur zu Freud ist diese Privilegierung des Maschinellen zu finden. So erkennt der Psychotherapeut und FreudExperte Günter Gödde in seinem Buch »Macht und Dynamik des Unbewußten«40 bei Freud eine maschinistisch-materialistische Linie in Descartes’scher Tradition. Richtungsweisend sei Freud die Physiologengruppe um Hermann von Helmholtz gewesen, zu der auch Freuds Lehrer Ernst Brücke gehörte: »Sie suchten nach einem materiellen Träger seelischer Prozesse«.41 Dabei bleibt, anders als bei Lacan, offen, woraus sich die Ideen dessen, was als Träger solcher Prozesse in Frage kommt, speisen. In den Darstellungen von Lacan und Gödde wird eine Dopplung der Bedeutung dessen plausibel, was eine materialistische Erkenntnistheorie wie jene Freuds sein kann: Was auch immer als Metapher des Unbewussten verwendet wird, wird zu einer ontologisierenden Metapher. Man könnte es als ein »boundary object« bezeichnen,42 das zwischen kulturellem Hintergrund des Autors und dem Feld des Bezugsobjekts changiert. Dabei bleibt kontinuierlich undeutlich, ob der Begriff so gemeint ist, wie er im Herkunftskontext gebraucht wird, oder ob der neue Begriff für die physische Grundlage psychischer Vorgänge, wie sie in den wissenschaftlichen Ausführungen des Autors, hier Freuds, verwendet werden, nichts weiter als eine Metapher darstellt. Auf diese Ambivalenz in Freuds topographischem Modell des Unbewussten zwischen »Phantastischem«43 und Ontologischem weist auch Cornelius Borck in seinem Vergleich der frühen histologischen und späteren psychologischen Zeichnungen Freuds hin (s.u.). 38 Wilhelm Dilthey: »Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlung zur Grundlegung der Geisteswissenschaften« [1894], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. 39 Hermann von Helmholtz: »The Facts of Perception« [1878], in: Richard M. Warren/Roslyn Warren (Hg.), Helmholtz on Perception, New York: Wiley 1968, S. 207-238. 40 Günter Gödde: »Freuds ›Entdeckung‹ des Unbewußten und die Wandlungen in seiner Auffassung«, in: Michael B. Buchholz/ Günter Gödde (Hg.), Macht und Dynamik des Unbewußten, Gießen: Psychosozial-Verlag 2005, Bd. 1, S. 325360. 41 Ebd., S. 336. 42 Die Welten, zwischen denen das »boundary object« in diesem Fall vermittelt, sind jene scheinbar unvermittelbaren des Ontologischen und des Semiotischen. Vgl. Susan L. Star/James R. Griesemer: »Institutional Ecology, ›Translations‹ and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley's Museum of Vertebrate Zoology, 1907-39«, in: Social Studies of Science 19 (1989), S. 387420. 43 Cornelius Borck: »Visualizing Nerve Cells and Psychical Mechanisms – the Rethoric of Freud’s Illustrations«, in: Giselher Guttmann/Inge Scholz-Strasser (Hg.): Freud and the Neurosciences. From Brain Research to the Unconscious, Wien: Österreichische Akademie der Wissenschaften 1998, S. 57-86, hier S. 80.
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Freuds ganzes Bemühen richtete sich darauf, keine vitalistische Philosophie zu befördern oder in ihrem Sinne verstanden zu werden. Zudem war er sich, so Gödde, darüber im Klaren, dass auch seine Forschung nicht unbeeinflusst von Vorverständnissen sein könnte, indem er seine eigene Erkenntnistheorie in dem viel zitierten Satz umriss: »Schon bei der Beschreibung kann man es nicht vermeiden, gewisse abstrakte Ideen auf das Material anzuwenden, die man irgendwoher, gewiß nicht aus der neuen Erfahrung allein herbeiholt«.44 Woher sind also Freuds theoretische Ideen und Konzepte entlehnt? Das genannte Freud-Zitat nimmt Gödde in seiner Untersuchung der Genealogie der Freudschen Denklinien zum Anlass, Freuds Arbeit auf dessen Vorverständnisse hin zu untersuchen. Dabei konzentriert er sich auf die Abhängigkeit der Theorien Freuds von der philosophischen Tradition. Der dabei hervorgehobene Bezug Freuds auf das kontemporäre Modell der Dampfmaschine ist ohne Zweifel erhellend und weiterführend. Die direktere, aus seiner eigenen Arbeit gespeiste (visuelle) Erfahrungswelt Freuds bleibt dabei allerdings außen vor und somit bestimmte, biologiegeschichtlich herausragende Aspekte seiner Arbeit unbeleuchtet. Mit einem stärker disziplinenüberschreitenden Blick lässt sich Freud, dessen biographische Hintergründe über geisteswissenschaftliche Einflüsse ja, wie vielfach angeführt wird, weit hinausgehen, auch ganz anders betrachten. Dass es Parallelen gibt zwischen der Arbeitsweise des Histologen Freud und dem späteren Analytiker des Unbewussten, hat Cornelius Borck im historischen Vergleich sämtlicher von Freud angefertigter Schema-Zeichnungen seiner Konzepte zu psychischen Vorgängen gezeigt: Dabei geht es nicht um den bereits geleisteten Nachweis, dass Freud eine neurologische Basis für die psychiatrische Theorien suchte, sondern um den »internal and conceptual link« zwischen den Zeichnungen aus beiden Arbeitsphasen, die »explicit and hidden connections of the anatomy of the brain«45 aufweisen. So sei bezeichnend für Freuds Erkenntnisweise, dass er Bilder zur einerseits präzisen Wiedergabe des Gesehenen nutzt und zugleich funktional-descriptiv abstrahiert. Dabei zeigt Borck, wie Freud eine Lokalisierung des Unbewussten zunächst ablehnt, auf dieser Grundlage jedoch zugleich das topographische Modell in Zeichnungen der Gehirnform entsprechend anordnet. Borck führt dabei vor allem aus, wie Freud Zeichnungen analytisch wie auch deskriptiv nutzt. Dies stützt die folgenden Ausführungen zum Phänomen des Kerns: Wie mit den Begriffen der Metapher und des »boundary object« zuvor beschrieben, übt die Überschneidung des Analytischen und Deskriptiven in der schematischen Umriss-Zeichnung des Gehirns einen diffus ontologisierenden Effekt aus: Es bleibt offen, ob die Gehirnform in den schematischen Skizzen Zufall ist oder bereits eine eindeutige Verortbarkeit des Unbewussten markieren soll. 44 Sigmund Freud: »Triebe und Triebschicksale«, in: Studienausgabe Bd. 3, Frankfurt/Main: Fischer 2000, S. 75-102, hier S. 81. 45 C. Borck: Visualizing Nerve Cells, S. 58.
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Die genauere Frage im Folgenden ist keine zur Verortung des Unbewussten oder zu Skizzen als Erkenntniswerkzeugen. Vielmehr geht es darum, aufzuzeigen, wie Freuds rein laborpraktische Vorverständnisse und gesehene Bilder (die allerdings, wie eingangs geschildert, mit den genannten zeitgenössischen philosophischen und alltagsweltlichen Betrachtungen in untrennbarem Wechselverhältnis zu sehen sind) seine weitere Arbeit und Ideenwelt prägten. Denn gerade in der »Traumdeutung« von 1900, auf die sich Lacan schwerpunktmäßig in seiner Maschinenanalyse im »Seminar Buch II« bezieht, positioniert Freud organisches Material der Zelltheorie ganz zentral, indem er dem neuen Konzept des Unbewussten, mit dem er das autonome Ich zerrüttet, den Titel »Kern unseres Wesens« gibt. So ließe sich in konsequenter Reflexionsschleife der jeweiligen Erfahrungseinflüsse auf die Wissenschaft andeuten, dass der alleinige Fokus auf die Maschinenanleihen mehr über die Zeit und Erfahrungswelten Lacans, Derridas oder Schmidgens sagt denn über Freuds Werk selbst. Eine detaillierte Studie von Frank Sulloway, in der dieser Freuds Konzepte als Entlehnungen der Biologie versteht, versucht vor allem nachzuweisen, dass das neurologische Verständnis von nicht-bewusst ausgeübten Handlungen bereits als biologisches Wissen zur Verfügung stand. Vor allem von Haeckel habe Freud weitreichende entwicklungsbiologische Konzepte verarbeitet. Diese allerdings seien kaum zu trennen von den umfassenden (natur-)philosophischen Verschiebungen Ende des 19. Jahrhunderts, auf die Gödde hingewiesen hat (s.o.). Was im Folgenden im Gegensatz dazu dargelegt werden soll, ist die augenscheinliche Herkunft von Freuds ›An-Sichten‹ des Unbewussten aus seinen eigenen vorgängigen An-Sichten zellulären Materials. Dabei lassen sich die bereits weiter oben beschriebenen erkenntnistheoretischen Ausführungen zur Rolle alltäglicher Praxis in wissenschaftlicher Theoriebildung um erkenntnistheoretische Aspekte des Visuellen ergänzen: Sowohl mit Rheinbergers Begriff des Experimentalsystems46 als auch Karen Barads Auslegung von Niels Bohr47 wird der oder die Forschende oder Experimentierende zum notwendigen Bestandteil des eigenen Experiments (und somit des Resultats). Welche zentrale Rolle dabei der Blick spielt, diskutiert schon Helmholtz,48 indem er eine dem Angelernten vorgängige, neutral den Gegenstand abbildende wissenschaftliche Sehwahrnehmung ablehnt, sondern darauf hinweist, dass dem Wahrnehmen Erfahrung vorausgeht und auch wissenschaftliches ›Erkennen‹ trainiert wird. Ähnlich wird eine notwendig erfahrungsgeleitete Erkenntnisweise durch den materialistischen Philoso46 Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Göttingen: Wallstein 2001. 47 Karen Barad: »Posthumanist performativity: Toward an understanding of how matter comes to matter«, in: Corinna Bath/Bettina Bock von Wülfingen/ Angelika Saupe/Jutta Weber (Hg.), Materialität denken. Studien zur technologischen Verkörperung, Bielefeld: transcript 2005. 48 H. von Helmholtz: The Facts of Perception.
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phen Marx W. Wartowski49 modelliert: Dabei wird ein kontinuierliches Wechselspiel zwischen Alltagspraxis, vielfältiger Kommunikation als ›action‹ und Beobachtung bzw. ›perception‹ dargestellt. Bei Kaja Silvermann findet zudem Lacans Konzept des »donner-à-voir« (aus »Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse«) Anwendung, das sie für die Theorie der Fotografie als das »Vor-Gesehene« übersetzt. Damit beschreibt sie diejenigen Darstellungsparameter, »die sich fast unvermeidlich aufdrängen« und die aus einem begrenzten »kulturellen Bildrepertoire« stammten.50 Dies soll für den vorliegenden Kontext als Hinweis darauf verwendet werden, dass wie in der Suche nach Gegenständen in der Fotografie auch beim Blick durch das Mikroskop sich nur begrenzte Möglichkeiten des Sehens anbieten.
4. Freuds Zellbiologie Bevor Freud 1895/96 Charcot in Paris besuchte und damit den Einstieg in die therapeutische Praxis fand, habe er, wie es oft unspezifisch heißt, neurologisch gearbeitet. Genauer: Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Freud neun Jahre lang zellbiologisch-histologisch geforscht und dabei maßgebliche Beiträge zur damals noch jungen Zytologie (Zellbiologie) geleistet.51 Seine Forschungen auf diesem Gebiet waren immerhin so avanciert, dass sie die des Zoologen und Mikroskopikers Thomas Huxley52 an Detailgenauigkeit übertrafen.53 Schlüsselergebnisse seiner histologisch-zellbiologischen Forschung legte er 1882 in einem Sitzungsbericht der Wiener Akademie der Wissenschaften vor, in dem es sowohl um das bis dahin umstrittene, später so bezeichnete und verifizierte Zytoskelett als auch um bis dahin unbekannte Bewegungen innerhalb des Zellkerns geht. Zur Frage dessen, was im Zytoplasma zu finden sei, gab es zu seiner Zeit drei unterschiedliche Konzepte, die sämtlich auf verschiedenen mikroskopischen Beobachtungen bzw. auf den Deutungen dessen beruhten, was in der Mikroskopie heute wie damals als Verdichtungen bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um weniger lichtdurchlässige Zonen im Untersuchungsobjekt,54 49 Marx W. Wartowski: »Perception, representation, and the forms of action: Towards an historical epistemology« [1973], in: ders., Models. Representation and the scientific understanding, Dordrecht: D. Reidel 1979, S. 188-210. 50 K. Silverman: Dem Blickregime begegnen, S. 58. 51 Lazaros C Triarhou/Manuel Del Cerro: »The histologist Sigmund Freud and the biology of intracellular motility«, in: Biology of the Cell 61 (1987), S. 111-114. 52 Thomas H. Huxley: The Crayfish: An introduction to the study of zoology, London: Kegan Paul 1879. 53 Sigmund Freud: Über den Bau der Nervenfasern und Nervenzellen beim Flusskrebs. Sitzungsberichte der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Classe der Kaiserlichen Adademie der Wissenschaften Wien 85 (1882), S. 9-46. 54 Vgl. z.B. Franz Leydig: Lehrbuch der Histologie des Menschen und der Thiere, Gent: Meidinger 1857; Heinrich Ernst Ziegler: Lehrbuch der vergleichenden
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die wahlweise als Granula, Alveolen oder Fibrillen gedeutet wurden. Entsprechend konkurrierten die sogenannte Granulartherie, die alveolare Theorie und die Fibrillentheorie. Wie stets, wenn bei Verbesserungen des Auflösungsvermögens neue Gegenstände unter dem Mikroskop auftauchten,55 stand nun zur Debatte, ob es sich bei dem jeweils Gesehenen um Granula oder Stränge handelte und welche Beschreibungen womöglich durch Fehler im Material, Fehler der Präparation oder der Interpretation zurückzuführen seien bzw. welche AnSicht und Bezeichnung das natürlich Vorgegebene korrekt wiedergebe. Eines der beliebtesten Objekte für die Mikroskopie tierischer Zellen war derzeit der Flusskrebs, Astacus fluviatilis, denn dieser ist bereits ohne vorherige Präparation quasi durchsichtig. An diesem Objekt lassen sich die Unterschiede zwischen dem Gesehenen bzw. Interpretierten und dann entsprechend Gezeichneten verdeutlichen.
Abb. 1: Flusskrebs. Aus: Thomas H. Huxley, The Crayfish: An introduction to the study of zoology, London: Kegan Paul 1879, dort Abb. 12.
Abb. 2: Nervenzelle eines Ganglions im Flusskrebs nach Huxley. Aus: Th. Huxley, The Crayfish, dort Abb. 24. Entwicklungsgeschichte der niederen Wirbeltiere in systematischer Reihenfolge und mit Berücksichtigung der experimentellen Embryologie, Jena: Fischer 1902. 55 Vgl. Jutta Schickore: »›Through thousands of errors we reach the truth‹ – but how? On the epistemic roles of error in scientific practice«, in: Studies in the History and Philosophy of Science 36 (2005), S. 539-556.
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Wie der Abbildung der Nervenzelle des Flusskrebses (Abb. 2) zu entnehmen ist, sah Huxley eher Granula in der Ganglienzelle. Im oberen Bild ist eine Schraffur zu sehen, die damit leicht im Widerspruch steht und die eine unentschlossene Andeutung von Fibrillen, also von Zytoskelett, darstellen könnte. Freud zeichnet kurze Zeit später unter Verwendung seines HartnackMikroskops ebenfalls eine Ganglienzelle des Flusskrebses, womit er die Fibrillen- bzw. spätere Zytoskelett-Theorie etabliert (Abb. 3).
Abb. 3: Nervenzelle eines Ganglions im Flusskrebs nach Freud. Aus: S. Freud, Über den Bau der Nervenfasern und Nervenzellen beim Flusskrebs, dort Abb. 1. In seiner Beschreibung sprach er statt von Fibrillen von »Kanälen« und »Röhren«. In Bezug auf das Kern-Plasma-Verhältnis ging er davon aus, dass Plasma jenes wäre, was röhrenartig die Energieströme leitet.56 Dieses Vorverständnis mag ihm verholfen haben, statt wie Huxley Granula zu sehen, dort Röhren zu entdecken, wo er Röhren für seine Ströme wähnte. Der Zellkern seinerseits, so befindet Freud Anfang der 1880er Jahre, sei inkonsistent und variabel und erfahre im Zeitverlauf innere Verschiebungen, wie in Abb. 4 zu sehen ist. In beiden Bildern (Abb. 4) ist derselbe Zellkern gezeichnet, auf der linken Seite zu Zeitpunkt 0 und rechts daneben zum Zeitpunkt +5, also fünf Minuten später. In beiden Zeichnungen sind zwei runde Entitäten zu sehen, die später Nucleoli genannt werden. Die Zellbiologie geht heute davon aus, dass darin Mitochondrien produziert werden. Die stäbchenförmigen Einheiten in den Zeichnungen werden später in der Biologie Microtubuli genannt, und es wird
56 S. Freud: Über den Bau der Nervenfasern und Nervenzellen beim Flusskrebs.
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von ihnen heißen, dass sie zelluläres Material hin- und herbewegen.57 Derartige Begriffe finden sich in Freuds Ausführung nicht, sondern stattdessen die Beschreibung der Verdichtungen und die ausführliche Darstellung der Bewegungen im Kern, die er als »Verschiebungen« bezeichnet.58
Abb. 4: Verschiebungen im Zellkern. Aus: S. Freud, Über den Bau der Nervenfasern und Nervenzellen beim Flusskrebs, dort Abb. 4.
5 . D e r K e r n u n s e r e s We s e n s i n d e r » Tr a u m d e u t u n g « Mit der »Traumdeutung« legt Freud 1899 (vordatiert auf 1900) sein erstes psychoanalytisches Modell vor, dem 1895 im »Entwurf einer wissenschaftlichen Psychologie« bereits ein eher neurophysiologischer Versuch vorausgegangen war. Das neue Modell bestand in einer Unterscheidung dreier topographischer, also räumlich geordneter Systeme, nämlich dem Bewussten, dem Unbewussten und dem nun davon zu unterscheidenden Vorbewussten. Im Wesentlichen geht es in der »Traumdeutung« um die Verdrängungstheorie, um eine strikte Trennung des Bewussten vom Unbewussten, das bereits in der »Urverdrängung« im, wie Lacan anführt, ontologisch zu verstehenden »Primärprozess«, den »Kern« bildet.59 Der Körper, das Somatische oder Soma (wie auch in der Zelltheorie das den Zellkern umgebende Plasma genannt wird) – im Sinne des »Entwurfs einer Psychologie«60 als auch im Sinne der
57 Bruce Alberts et al.: Molecular biology of the cell, New York: Garland Publishing 1995. 58 S. Freud: Über den Bau der Nervenfasern und Nervenzellen beim Flusskrebs. 59 Sigmund Freud: Die Traumdeutung [1900], Frankfurt/Main: Fischer 1991; J. Lacan: Das Ich in der Theorie Freuds, S. 59. 60 Sigmund Freud: »Entwurf einer wissenschaftlichen Psychologie« [1895], in: Aus den Anfängen der Psychoanalyse 1887-1902, Frankfurt/Main: Fischer 1962, S. 297-384.
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späteren Triebtheorie61 – blieb bei Freud außen vor. Dagegen schreibt Freud in der »Traumdeutung« dem Unbewussten als dem »Kern unseres Wesens« umso speziellere Funktionsweisen zu, wie insbesondere eine »Verdichtungs-« und »Verschiebungsarbeit«, die eben nur auf das Psychische bezogen ist und damit auch nur im Kern, nicht im Soma stattfindet. Das Unbewusste, das nur unter besonderer Aktivierung als individuelles Gedächtnis aktiv wahrnehmbar ist und damit auch das Ich, ist also kein fixierter Kern, sondern in ständiger Bewegung, eher ein ständig neuer, geradezu mechanisch bewegter Prozess. Diese Beschreibungen von Freuds früher, zeitlich direkt an seine histologische Mikroskopierarbeit anschließende Theorie des Unbewußten, sind allgemein bekannt, wurden aber bisher nicht in ihrer Überschneidung mit seinen jahrelangen und für die damalige Cytologie bahnbrechenden Ansichten über den Aufbau und die inneren Prozesse der Zelle betrachtet. Ohnehin wird das topologische Modell als – dann vielleicht weniger ernst zu nehmender – Vorläufer des Struktur- oder Instanzenmodells gewertet. Erst in den 1920er Jahren verwirft Freud dieses räumliche Modell und ersetzt es mit dem psychischen Apparat des Es, Ich und Über-Ich. Dabei nimmt allerdings das Es nun die Stellung des Kerns im topographischen Modell ein, denn es wird darin das Ererbte betont, die ins Leben mitgebrachten Triebe betont. Freud spricht nun von »ererbten psychischen Bildungen« und »Triebkräften«, die den »Kern des Unbewussten« ausmachen.62 Später, 1917, stellt Freud den ›Kern des Unbewussten‹ und das ›Unbewusste der Natur‹ (hier: das Chromatin im Zellkern am Ende des 19. Jahrhunderts) explizit in einen Zusammenhang, und zwar in der Rede von den – insgesamt drei – Kränkungen: »Zwei große Kränkungen ihrer naiven Eigenliebe hat die Menschheit im Laufe der Zeiten von der Wissenschaft erdulden müssen. Die erste, als sie erfuhr, daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalles ist [...]. Sie knüpft sich für uns an den Namen Kopernikus [...]. Die zweite dann, als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte, ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur verwies. Diese Umwertung hat sich in unseren Tagen unter dem Einfluss von Ch. Darwin, Wallace und ihren Vorgängern nicht ohne das heftigste Sträuben der Zeitgenossen vollzogen. Die dritte und empfindlichste Kränkung aber soll die menschliche Grössensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vorgeht«.63
61 S. Freud: Triebe und Triebschicksale. 62 Sigmund Freud: Das Unbewußte [1915], in: Studienausgabe, Bd. 3, Frankfurt/ Main: Fischer 2000, S. 125-162. 63 Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1917], Franfurt/Main: Fischer 1977, S. 226.
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Damit weist Freud nicht nur jede Kritik an dem Konzept des Unbewussten als psychisches Problem der Kritiker ab, sondern macht sich selbst zugleich zum Darwin der Identitätsentwicklung. Letzten Endes wären die Darwin’sche und die Freud’sche Kränkung eins. Es stellt sich zuletzt die Frage, inwieweit tatsächlich der Kern unseres Wesens bei Freud identisch ist mit dem mikroskopisch erkennbaren Zellkern, also der Kern mehr wäre als nur, wie in Lacans Vorlesung zu Freud, eine generelle ontologische Metapher für das Neuronale: Gödde weist darauf hin, dass Freud an verschiedenen Stellen das Unbewusste geradezu mit dem Vegetativen gleichsetze, indem er zwischen Handlungen unterschied, die durch das Gehirn gelenkt werden, und »Lebensprocessen«, die von den untergeordneten Knoten und Ganglien des Nervensystems ausgingen.64 Damit sei »der Unterschied des Bewußten und Unbewußten, und mit ihm der des Willkürlichen und Unwillkürlichen in den Bewegungen des Leibes vollkommen erklärt«.65 Mit dem Kern wäre also das Nervensystem bezeichnet, wird jedoch mit Blick auf das Genetische und die einzelne Zelle zur Kippfigur:66 Die Unklarheit und das kontinuierliche Changieren des Bildes vom Kern bezieht sich auf mehrere Fragen zugleich: Handelt es sich um ein ontogenetisches (das Unbewusste im Individuum) oder phylogenetisches Unbewusstes (der menschlichen Spezies)?67 Geht es um ein in biographischen Prozessen Erworbenes oder handelt es sich um das (bei Freud triebhafte) Ererbte oder um eine mögliche Interaktion von beiden? Gödde beschreibt Freuds Mechanizismus – wenn auch ohne jeden Bezug auf dessen mikroskopische und zelltheoretische Arbeiten – als »biogenetisch/evolutionär«, Freuds »gesamter dynamisch-genetischer Kern der psychoanalytischen Theorie« sei von dieser Sichtweise geprägt.68 Diese allerdings finde sich erst in den späteren Werken, den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« von 1905 und »Zur Einführung in den Narzissmus« von 1914. Hierüber hinausgehend verweist die vorliegende epistemologische Ausführung darauf, dass man von einer direkten Überleitung von Freuds zellbiologischen Studien zum Ideenspektrum 64 G. Gödde: Freuds ›Entdeckung‹ des Unbewußten und die Wandlungen in seiner Auffassung, S. 45f. 65 Ebd., S. 46. 66 Heike Hülzer-Vogt: Kippfigur Metapher – metaphernbedingte Kommunikationskonflikte in Gesprächen. Ein Beitrag zur empirischen Kommunikationsforschung, Münster: Nodus Publikationen 1991. Hülzer-Vogt beschreibt damit besondere, mehrdeutige sprachliche Situationen. So würden insbesondere Metaphern in ihrer mehrfachen Bedeutung in der Wahrnehmung »umkippen« von einem Zustand in den anderen, etwa wie beim Betrachten eines Reliefs, das man auch als Imprimierung sehen kann. 67 So heißt es denn auch bei Gödde, es ginge bei Freud mit der triebtheoretischen eine onto- und phylogenetische Fundierung des Unbewussten einher. G. Gödde: Freuds ›Entdeckung‹ des Unbewußten und die Wandlungen in seiner Auffassung, S. 341. 68 Ebd. Ähnlich schon Frank Sulloway: Freud. Biologist of the mind. Beyond the psychoanalytic legend, New York: Basic Books 1979.
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im »Entwurf einer wissenschaftlichen Psychologie« von 1895 bzw. zur »Traumdeutung« von 1900 sprechen kann und in diese Entwicklung eine nicht einmal im übertragenen Sinn genetisch-evolutive Vererbungsbiologie eingeschrieben sehen kann. Die versuchte Distanz zwischen Freud und anderen Analytikern, die zelltheoretische Anleihen machten, schmilzt damit zusammen auf den alleinigen Unterschied, dass er sich mit dem Kern, nicht aber mit dem Plasma bzw. Soma, mit dem Körperlichen beschäftigte. Bei sonstiger Übereinstimmung genügt diese seine Auslassung, um dem Verdacht des allzu ganzheitlichen Organizismus und damit der Unwissenschaftlichkeit zu entgehen.
6. Das Kern-Plasma-Dilemma in Revision Die Diskussion der Kernmetapher und ihres im Wortsinne genetischen Zusammenhangs rückt mehrere Aspekte von aktueller wissenschaftstheoretischer Relevanz in den Vordergrund: Die Analyse der histologischen Visualisierungspraxen im Kontext des Unbewussten (die mit den historischen philosophischen Anleihen im Wechselverhältnis zu sehen sind) zeigt, dass im Unbewussten der frühen Psychoanalyse die zeitgemäße Diskussion des KernPlasma-Verhältnisses der Zellbiologie und die mit der Idee der Vererbung einhergehende Fixierung von Handlungsweisen als Wesenseigenschaften eine zentrale Rolle spielen. Nachdem Freud lange Zeit unter jenen war, die die Theorie vertraten, die Vererbung finde über das Plasma – und nicht über den Zellkern – statt, schlug er sich noch als Zelltheoretiker später jedoch auf die Seite der Nukleisten.69 So glaubte man die Vererbungsfrage mit dem Finden des Chromatins im Zellkern Ende des 19. Jahrhunderts abgeschlossen zu haben. Durch Freuds Einführung der Kern-Vererbungstheorie in das ferne Feld der Psychoanalyse hatte Freud teil an der Verdrängung des Plasmas als Informationsträger und Agent in der Vererbung und Entwicklung. Die heutige Postgenomik allerdings rückt dieses wieder in den Vordergrund, nachdem das reine ›Ablesen‹ des genetischen Codes (u.a. im Human Genome Project) gezeigt hat, dass die alleinige Kern-Vererbungstheorie nicht trägt.70 Im Kontrast zu genetischen Theorien Ende 19. bis noch ins 20. Jahrhundert, die unilateral Wirkungen vom Genom auf die zellulären und überzellulären Prozesse annahmen, ist Freuds Zellkern, wie im Sinne der Postgenomik, in einen epigenetischen, wenn nicht (in damaligen Termini) lamarckistischen Prozess einge69 L. C. Triarhou/M. Del Cerro: »The histologist Sigmund Freud and the biology of intracellular motility«, in: Biology of the Cell (1987), S. 111-114. 70 National Institute of Child Health and Human Development: »Reproductive genetics and epigenetics‹ Environmental Health Perspectives«, in: Announcements of the National Institute of Child Health and Human Development (NICHD) 114/8 (2006), S. 490.
DER KERN DES UNBEWUSSTEN IN FREUDS MIKROSKOP | 79
bunden, der während der Ontogenese Erfahrenes in den unbewussten Kern ziehen kann, von wo aus das Unbewusste wirkt. Allerdings, die Verwendung des ebenso heuristischen wie scheinbar ontologischen Bildes des einen Kerns bei Freud (auch wenn dieser flexibel gestaltet ist) geht auf Kosten der im 19. Jahrhundert noch offenen Möglichkeit von Mehrkernigkeit. Diese galt, so etwa bei den Zeitgenossen Groddeck oder Ulrichs, dementsprechend auch für die sexuelle Präferenz und ermöglichte eine Gleichzeitigkeit verschiedener Geschlechter und Sexualitäten in einem. Wie die Psychologin und Soziologin Ilka Quindeau feststellt, lehnt Freud die Metapher eines – wohl ererbten – Kerns für die sexuelle Präferenz in Bezug auf Männer ab, reproduziert sie aber, wenn es um Frauen geht.71 Insofern behält Freud in Hinsicht auf die sexuelle Identität ein Konzept bei, wonach, wie eingangs beschrieben, das Weibliche im 19. Jahrhundert im Ei-Kern als unbewusstes Gedächtnis lokalisiert wird und die überindividuelle Kontinuität wahrt, während das Männliche in gesellschaftlicher Rückkoppelung flexibel bleibt. Ein zweiter Aspekt, der durch Beleuchtung der zellbiologischen Anteile in Freuds früher psychoanalytischer Konzeption aufscheint, ist modelltheoretischer Art: Die Beschreibung des Kerns unseres Wesens ist in den frühen, oben angeführten Texten Teil der Darstellung der Maschine des psychischen Apparats (wie sie von Lacan, Schmidgen und anderen ja keineswegs fälschlicherweise angeführt wird). In dieser (thermodynamischen) Maschine findet sich nun also wie hier ausgeführt der Kern des Unbewussten als organischer Bestandteil. Das erscheint zunächst als Widerspruch: Kann sich also Freud zwischen diesen Metaphernfeldern nicht entscheiden? Dieser scheinbare Widerspruch zwischen Organik und Maschinismus löst sich aber sofort auf, wenn das System Bewusst/Vorbewusst oder auch Ich/Über-Ich in Freuds Sinne als kulturalisiert verstanden und damit in Gegensatz zum organischvorkulturellen Kern des Unbewussten gedacht wird, wie es für einen biomedizinisch vorgebildeten Freud naheliegen muss.
71 Ilka Quindeau: »Melancholie und Geschlecht. Psychoanalytische Anmerkungen zur Theorie von Judith Butler«, in: Zeitschrift für Sexualforschung 17 (2004), S. 1-10.
Von überze itlic he n Strukture n trä ume n. Genialität in der chemischen Forschung des 19. Jahrhunderts UTE FRIETSCH
Im Jahr 1903 wurde vor dem Chemischen Institut der Universität Bonn posthum ein Denkmal für Friedrich August Kekulé von Stradonitz (1829-1896) errichtet. Das Standbild des deutschen Chemikers wurde mit zwei ägyptischen Sphinxen kombiniert. Mit diesem Ensemble sollte Kekulé für seine Aufklärung der Struktur des Benzols geehrt werden. Der Bildhauer Hans Everding hatte eine drei Meter hohe Statue Kekulés geschaffen. In das Mittelpostament ihres Sockels ließ er ein Bronzerelief ein, das eine weibliche Allegorie der Wissenschaft zeigt, die zwei männlichen Arbeitern den Benzolring überreicht. Die Statue umgab er mit einer 11,5 Meter langen Balustrade, die von Sechsecken – als weiteren Symbolen für den Benzolring – durchbrochen ist und in zwei Eckpfeiler ausläuft: Auf ihnen ruhen die Sphinxe.1 Kekulé zufolge war seine Aufklärung der Struktur des Benzols von Eingebungen motiviert, die er als Traum, als Hypothese, als Spekulation und als »richtiges« oder »naturwissenschaftliches Sehen«2 erläuterte. Kekulé gilt als der »große Baumeister der organischen Chemie«3 und als »Philosoph in der Chemie«.4 Das erste Epitheton erfasst sein Interesse an Modellen, das zweite kündet von seinen spekulativen Leistungen auf dem Gebiet der Theorie. Ke1 2
3
4
Zur Beschreibung des Denkmals vgl. Richard Anschütz: August Kekulé, Bd 1: Leben und Wirken, Berlin: Verlag Chemie 1929, S. 650-653. August Kekulé: »Die Principien des höheren Unterrichts und die Reform der Gymnasien«, in: Richard Anschütz, August Kekulé, Bd. 2: Abhandlungen, Berichte, Kritiken, Artikel, Reden, Berlin: Verlag Chemie 1929, 917-937, hier S. 929. Richard Kuhn: »Geleitwort«, in: Robert Wizinger-Aust et al. (Hg.), Kekulé und seine Benzolformel. Vier Vorträge, Weinheim/Bergstraße: Verlag Chemie 1966, S. 5. R. Anschütz: August Kekulé, Bd 1, S.11.
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Abb. 1: Kekulé-Denkmal vor dem Chemischen Institut der Universität Bonn. Aus: R. Anschütz, August Kekulé, Bd. 1, ohne Seitenzahl.
Abb. 2: Relief am Kekulé-Denkmal in Bonn. Aus: R. Anschütz, August Kekulé, Bd. 1, ohne Seitenzahl. kulés Arbeit wird heute, insbesondere in der Psychologie, gerne als Beispiel für Kreativität zitiert.5 Wie kam es aber dazu, dass er im gründerzeitlichen Bonn, von rätselhaften Sphinxen umgeben, gar als moderner Ödipus erscheinen konnte? Im Folgenden werden Kekulés Aussagen über die Funktion der Spekulation für den Prozess wissenschaftlicher Hypothesenbildung aus ihrem wissensgeschichtlichen Kontext rekonstruiert.
5
Vgl. exemplarisch: Albert Rothenberg: »Creative Homospatial and Janusian Processes in Kekulé’s Discovery of the Structure of the Benzene Molecule«, in: John H. Wotiz (Hg.), The Kekulé Riddle. A Challenge for Chemists and Psychologists, Vienna (Illinois): Cache River Press 1993, S. 285-310.
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Das Benzolfest Die erste Festveranstaltung zu Kekulés Ehren, das später so genannte Benzolfest, fand am 11. März 1890 im Berliner Rathaus statt.6 Sie wurde von der Deutschen Chemischen Gesellschaft ausgerichtet. Kekulé hatte seine Entdeckung der Ringstruktur des Benzols 25 Jahre zuvor, am 27. Januar 1865, im »Bulletin de la Société Chimique de Paris« bekanntgegeben: Benzol war Kekulé zufolge eine sechsgliedrige Kohlenwasserstoffverbindung mit drei Doppelbindungen. Die sechs Kohlenstoffatome waren ringförmig verbunden.7 Die Chemie war eine junge Disziplin. Noch in den 1840er Jahren, als Kekulé in Gießen zunächst das Studium der Architektur aufnahm, galt sie als »brotlos«.8 Kekulés Grundlagenforschung initiierte allerdings einen Aufschwung der Farbstoffindustrie: Mit seiner weitgehenden Aufklärung der Struktur des Benzols trug der theoretische Chemiker wesentlich dazu bei, dass dieser Ausgangsstoff für chemische Produkte in großen Mengen industriell hergestellt werden konnte.9 Ein wesentlicher Impuls zu seiner Ehrung kam dementsprechend von der chemischen Industrie. Die Veranstaltung hatte wissenschaftlichen Charakter,10 wenngleich neben den Wissenschaftlern sowie Abgesandten der chemischen Industrie auch eine außer-akademische Öffentlichkeit präsent war: Im Bericht über die Feier werden u.a. politische Würdenträger sowie »Damen« erwähnt;11 die Damen saßen auf speziellen Plätzen und waren vom anschließenden Bankett, als einem »Herren-Festmahl«, ausgeschlossen.12 Frauen waren zu dieser Zeit im Deutschen Reich noch nicht berechtigt, Chemie zu studieren – im Unterschied etwa zur Schweiz. Der Jubilar richtete sich in seiner Ansprache an die »Her6
Gustav Schultz: »Bericht über die Feier der Deutschen Chemischen Gesellschaft zu Ehren August Kekulés«, in: Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft 23/1 (1890), S. 1265-1312. 7 August Kekulé: »Sur la constitution des substances aromatiques«, in: Bulletin de la Société Chimique de Paris 3 (1865), S. 98-111. 8 Robert Wizinger-Aust: »August Kekulé, Leben und Werk. Erkenntnisse und Probleme um eine chemische Vision«, in: R. Wizinger-Aust: Kekulé und seine Benzolformel, S. 7-32, hier S. 8. 9 Vgl. Carl Wurster: »Die heutige Bedeutung der Benzolchemie«, in: R. Wizinger-Aust, Kekulé und seine Benzolformel, S. 79-93. 10 Am Tag zuvor hatte Kekulé bereits einen Vortrag gehalten, in dem er der Deutschen Chemischen Gesellschaft seine Entdeckung der Konstitution des Pyridins bekannt gab, vgl. R. Anschütz: August Kekulé, Bd. 2, S. 768-769. Siehe aber auch Schiemenz, der den 60-jährigen Kekulé als »scientific fossil« und das »Benzolfest« als retrospektive »public relations«-Veranstaltung charakterisiert: Günter P. Schiemenz: »A heretical look at the Benzolfest«, in: The British Journal for the History of Science 26 (1993), S. 195-205. 11 Vgl. G. Schultz: Bericht über die Feier, S. 1266. Schiemenz gibt weiteren Aufschluss über einige der Festteilnehmer, vgl. G.P. Schiemenz: A heretical look. 12 Vgl. Susanna Rudofsky: »The Benzolfest«, in: J.H. Wotiz: The Kekulé Riddle, S. 9-20, hier S. 12ff.
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ren Fachgenossen«.13 Mit dem Gestus der Bescheidenheit erläuterte der Sechzigjährige, die Benzoltheorie sei nicht wie ein Meteor am Himmel erschienen. Er habe die Geschichte der Entwicklung der Chemie mit Liebhaberei studiert und könne versichern, dass sich keine andere Wissenschaft so stetig entwickelt habe. Alle früheren Theorien seien in den späteren Bau aufgenommen worden und auch seine eigenen Ansichten aus denen der Vorgänger erwachsen. Von absoluter Neuheit könne keine Rede sein.14 Genialität hingegen wies der Jubilar nicht von sich. Kekulé zitierte Ansichten, denen zufolge das »Genie« in Sprüngen denke und die »Wahrheit« erkenne, ohne den »Beweis« zu kennen. Er wandte zwar ein, der wachende Geist denke nicht in Sprüngen;15 dies jedoch, um sogleich »durch höchst indiscrete Mittheilungen aus meinem geistigen Leben« offenzulegen, dass er selbst eher träumend als wachend zu einzelnen seiner Gedanken gekommen sei.16
I n d i s k r e t e M i t t e i l u n g e n 1 : D i e At o m k e t t e Kekulés »indiscrete Mittheilungen« wurden legendär. Der Chemiker gab eine ziemlich komplexe Erläuterung für die Genese seiner wissenschaftlichen Entdeckungen: Seine obsessive Frage nach der Art, wie sich Atome verbinden, sein wissenschaftsgeschichtliches Studium und seine Übermüdung sollten sich im Wachtraum zu einer Hypothese gefügt haben. Kekulé schilderte dies sehr plastisch, indem er seinem Auditorium zwei konkrete Situationen vor Augen führte. Er erinnerte sich zunächst an seine Zeit als Privatassistent, 1854-1855 in London: »Während meines Aufenthaltes in London wohnte ich längere Zeit in Clapham road in der Nähe des Common. Die Abende aber verbrachte ich vielfach bei meinem Freund Hugo Müller in Islington, dem entgegengesetzten Ende der Riesenstadt. Wir sprachen da von mancherlei, am meisten aber von unserer lieben Chemie. An einem schönen Sommertage fuhr ich wieder einmal mit dem letzten Omnibus durch die zu dieser Zeit öden Strassen der sonst so belebten Weltstadt; ›outside‹, auf dem Dach des Omnibus, wie immer. Ich versank in Träumereien. Da gaukelten vor meinen Augen die Atome. Ich hatte sie immer in Bewegung gesehen, jene kleinen Wesen, aber es war mir nie gelungen, die Art ihrer Bewegung zu erlauschen. Heute sah ich, wie vielfach zwei kleinere sich zu Pärchen zusammenfügten; wie grössere zwei kleine umfassten, noch grössere drei und selbst vier der kleinen festhielten, und wie sich Alles in wirbelndem Reigen drehte. Ich sah, wie grössere eine Reihe bildeten und nur an den Enden der Kette noch kleinere mitschleppten. Ich sah, was Altmeister Kopp, mein hochverehrter Lehrer und Freund, in seiner ›Molecularwelt‹ uns in
13 14 15 16
G. Schultz: Bericht über die Feier, S. 1303. Ebd., S. 1304f. Ebd., S. 1305. Ebd., S. 1306.
84 | UTE FRIETSCH so reizender Weise schildert; aber ich sah es lange vor ihm. Der Ruf des Conducteurs: ›Clapham road‹ erweckte mich aus meinen Träumereien, aber ich verbrachte einen Theil der Nacht, um wenigstens Skizzen jener Traumgebilde zu Papier zu bringen. So entstand die Structurtheorie.«17
Die Strukturtheorie entstand Kekulés Auskunft zufolge aus Skizzen von Traumgebilden, aufgezeichnet des Nachts nach einem abendlichen, freundschaftlichen Fachgespräch und durchlebt während einer Fahrt auf dem Dach eines Omnibusses, im Freien, durch die nächtlichen Straßen Londons. Kekulé bezeichnete Atome als »kleine Wesen« und betonte, er habe sie immer in Bewegung gesehen. Was er seiner Schilderung zufolge in dem Londoner Traum erstmals sah, war die Art ihrer Verbindung. Je nach ihrer Größe fügten sie sich wirbelnd zu Paaren, drehten sich im Reigen oder bildeten ganze Reihen.
Kopps »Molecular-Welt« und der Vorrang des Zuerst-Gesehen-Habens Kekulé betonte dabei en passant, dass er die Atome solcherart schon lange vor seinem Kollegen und einstigen Lehrer, dem deutschen Chemiker und Chemiehistoriker Hermann Franz Moritz Kopp (1817-1892) gesehen habe.18 Kopp hatte Atome 1882 in besagter Veröffentlichung »Aus der MolecularWelt« auf über hundert Druckseiten als kleine Wesen in einem Aerarium beschrieben, die miteinander Bindungen eingingen; die Bindungen veranschaulichte er als Hände.19 Dieses Grundmuster variierte er, indem er die Atome mal als Affen,20 mal als Mädchen21 oder »Dämchen«22 etc. bezeichnete sowie die Verbindung der Moleküle als politischen23 oder sexuellen »VereinigungsAct«24 von »Fräulein« und »Männlein«25. Kopps zeitgemäß als »Kampf um’s Dasein«26 charakterisierte Schilderung erging sich in vielfältigen Anspielungen auf Prostitution und endete mit Ausführungen zu Atomverbindungen als 17 Ebd., S. 1306. 18 Kekulé hatte während seines Chemiestudiums in Gießen 1849-1851 insbesondere Vorlesungen bei Justus von Liebig gehört; bei Kopp besuchte er Vorlesungen in Kristallographie, Mineralogie und Stöchiometrie; vgl. Wolfgang Göbel: Friedrich August Kekulé. Mit 12 Abbildungen. Biographien hervorragender Naturwissenschaftler, Techniker und Mediziner, Bd. 72, Leipzig: Teubner Verlagsgesellschaft 1984, S. 18. 19 Hermann Kopp: Aus der Molecular-Welt. Zweiter Abdruck, Heidelberg: Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung 1882. 20 Ebd., S. 6. 21 Ebd., S. 7. 22 Ebd., S. 43. 23 Ebd., S. 39. 24 Ebd., S. 15. 25 Ebd., S. 93. 26 Ebd., S. 102.
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einer »Wirthschaft [...] in stetem Wechsel der Partner«.27 Kopp hatte diese Schrift 1876 verfasst und sie 1882 zunächst nach dem Manuskript drucken lassen, um sie einem befreundeten Chemiker (Robert Wilhelm Bunsen) zum Geburtstag zu schenken.28 Der Autor wollte »gemeinverständlich«29 sein, er orientierte sich nach eigener Auskunft an der sprachlichen Überlegenheit der Geisteswissenschaften30 und verneigte sich selbstverständlich vor Goethes »Wahlverwandtschaften«31. Auf diese Weise behandelte er einige Ergebnisse der Forschungen zu Atomverbindungen, die er selbst sowie Kekulé und eine Reihe weiterer Chemiker im 19. Jahrhundert geleistet hatten.32 Insofern es Kekulé um eine Markierung des eigenen Vorrangs der Entdeckerschaft ging, war die Nennung von »Altmeister Kopp« irreführend. Kopps Schrift könnte ihm lediglich in Hinblick auf den leutseligen Stil ein Vorbild gewesen sein. In naturwissenschaftlicher Hinsicht wäre ein anderer Name am Platz gewesen: Archibald Scott Couper (1831-1892). Der schottische Chemiker hatte in den 1850er Jahren wie Kekulé die Verkettung und Vierwertigkeit des Kohlenstoffs postuliert.33 Er wurde von Kekulé an dieser Stelle nicht genannt. Indem Kekulé in seiner Schilderung den Ort London nannte, datierte er seinen Traum implizit auf das Jahr 1854-1855. Demnach hatte Kekulé sein Modell der Struktur der Kohlenstoffverbindungen zwar erst 1858 veröffentlicht,34 hatte jedoch bereits drei bis vier Jahre zuvor erkannt, dass sich ihre Mannigfaltigkeit durch die Fähigkeit des Kohlenstoffs, Ein- und Mehrfachbindungen (verzweigte und unverzweigte Ketten) mit sich selbst und anderen Atomen zu bilden, erklären lässt. In seiner Veröffentlichung hatte Kekulé noch genauere Aussagen gemacht: Das Kohlenstoffatom war konstant vierwertig, konnte also vier weitere Atome binden.35
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33 34
35
Ebd., S. 104. Vgl. ebd., S. III-VIII. Ebd., S. 16. Vgl. ebd., S. 75. Kekulé thematisierte ebenfalls mehrfach die Konkurrenz der »realen Wissenschaften« mit den Geisteswissenschaften; vgl. A. Kekulé: Die Principien des höheren Unterrichts, in: R. Anschütz: August Kekulé, Bd. 2, S. 919-921, 929-934. Kopp spielt auch auf Konflikte zwischen alternden und jungen Chemikern an, vgl. H. Kopp: Molecular-Welt, S. 46. Ebd., S. 52. Zu Kopp vgl. Viktor A. Kritzmann: »Kopp, Hermann Fritz Moritz«, in: Dieter Hoffmann et al., Lexikon der bedeutenden Naturwissenschaftler in drei Bänden, Bd. 2, München: Spektrum akademischer Verlag 2004, S. 335-336. Vgl. Klaus Hafner: August Kekulé – Dem Baumeister der Chemie zum 150. Geburtstag, Darmstadt: Justus von Liebig Verlag 1980, S. 63. Vgl. August Kekulé: Über die Konstitution und die Metamorphosen der chemischen Verbindungen und über die chemische Natur des Kohlenstoffs, hg. von A. Ladenburg, Leipzig: Verlag von Wilhelm Engelmann 1904. Mit »Metamorphosen« bezeichnete Kekulé chemische Reaktionen, so W. Göbel: Kekulé, S. 33. Zu dieser Übersetzung des ersten Wachtraums von Kekulé vgl.: R. WizingerAust: Kekulé, Leben und Werk, S. 13; K. Hafner: August Kekulé – dem Baumeister, S. 61-63.
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Kekulés »indiskrete Mitteilung« seiner »Träumereien« dürfte für seine Kollegen nicht ganz überraschend gewesen sein: Kekulé hatte sich bereits 1878 in einer Rede anlässlich des Antritts des Rektorats der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn für spekulative Forschung »auch in den sogenannten exacten Wissenschaften« ausgesprochen.36 Das Wesen der Materie entziehe sich jedem direkten Studium und müsse daher auf dem Weg der Hypothesen erschlossen werden. Diese Hypothesen seien dann logisch, mittels Rechnungen, zu entwickeln und mit den der Beobachtung zugänglichen Erscheinungen zu vergleichen.37 Der Chemiker Adolph Wilhelm Hermann Kolbe (1818-1884), dessen polemische (zum Teil nationalistische) Ausfälle gegen angeblichen Mystizismus,38 »leeres Formspiel«, »leichtfertige Hypothesen« und »unwissenschaftliche Spielereien«39 unter Chemikern gefürchtet waren, hatte ihm daraufhin einen »Mangel an Logik« unterstellt.40 Was Kekulé als Ziel der Chemie ausgebe, sei nicht »exact[e] Naturforschung«, sondern »eine Missgeburt crasser Naturphilosophie«.41 Er gebe »chemisch[e] Träume« zum Besten.42 Kekulé wandte diese Abstempelung zum Träumer in seiner Festrede offensiv ins Positive.
Indiskrete Mitteilungen 2: Der Benzolring Kekulé fuhr in seiner Berliner Rede ohne Unterbrechung fort, indem er seine Zuhörerschaft von den nächtlichen Straßen Londons in ein dunkles Arbeitszimmer im gleichermaßen nächtlichen Gent versetzte. 1858 hatte er an der belgischen Staatsuniversität seinen ersten Lehrstuhl als Ordentlicher Professor für anorganische und organische Chemie angetreten. In seiner Genter Zeit wollte er einen weiteren Wachtraum durchlebt haben. Kekulé erinnerte sich:
36 August Kekulé: Die wissenschaftlichen Ziele und Leistungen der Chemie. Rede gehalten beim Antritt des Rektorats der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität am 18. October 1877, Bonn: Verlag von Max Cohen & Sohn 1878, S. 27. Kekulé war 1867 nach Bonn berufen worden. 37 Ebd., S. 26-27. 38 Vgl. C.A. Russell: »Kekulé and Frankland«, in: J.H. Wotiz: The Kekulé Riddle, S. 82-84, 89-90, 92. 39 Vgl. Jean-Baptiste Gillis: Kekulé te Gent (1858-1867). De Geschiedenis van de Benoeming van August Kekulé te Gent en de oprichting van het eerste onderrichtslaboratorium voor scheikunde in Belgie. Suivi d’un résumé en langue française, Brussel: Paleis Der Academiën 1959, S. 74-75, hier S. 82f. 40 Hermann Kolbe: »Kritik der Rectoratsrede von August Kekulé«, in: Journal für praktische Chemie 125 (1878), S. 139-156, hier S. 139. 41 Ebd., S. 140. 42 Ebd., S. 151.
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»Ähnlich ging es mit der Benzoltheorie. Während meines Aufenthaltes in Gent in Belgien bewohnte ich elegante Junggesellenzimmer in der Hauptstrasse. Mein Arbeitszimmer aber lag nach einer engen Seitengasse und hatte während des Tages kein Licht. Für den Chemiker, der die Tagesstunden im Laboratorium verbringt, war dies kein Nachtheil. Da sass ich und schrieb an meinem Lehrbuch; aber es ging nicht recht; mein Geist war bei anderen Dingen. Ich drehte den Stuhl nach dem Kamin und versank in Halbschlaf. Wieder gaukelten die Atome vor meinen Augen. Kleinere Gruppen hielten sich diesmal bescheiden im Hintergrund. Mein geistiges Auge, durch wiederholte Gesichte ähnlicher Art geschärft, unterschied jetzt grössere Gebilde von mannigfacher Gestaltung. Lange Reihen, vielfach dichter zusammengefügt; Alles in Bewegung, schlangenartig sich windend und drehend. Und siehe, was war das? Eine der Schlangen erfasste den eigenen Schwanz und höhnisch wirbelte das Gebilde vor meinen Augen. Wie durch einen Blitzstrahl erwachte ich; auch diesmal verbrachte ich den Rest der Nacht um die Consequenzen der Hypothese auszuarbeiten. Lernen wir träumen, meine Herren, dann finden wir vielleicht die Wahrheit [...] – aber hüten wir uns, unsere Träume zu veröffentlichen, ehe sie durch den wachenden Verstand geprüft worden sind.«43
Der Chemiker war demnach über der Arbeit an seinem »Lehrbuch der Organischen Chemie oder der Chemie der Kohlenstoffverbindungen«44 an seinem Schreibtisch in Halbschlaf versunken. Er träumte eine »Hypothese«, als deren »Konsequenzen« er später die Benzoltheorie »ausarbeitete«: Die Atome bewegten sich schlangenförmig. Eine der Schlangen oder Ketten verband sich zu einem Ring. Das ließ ihn gleichsam elektrisiert aus dem Halbschlaf schnellen. Kekulés Traum war durchaus motiviert von dem Tagesgeschehen seiner Arbeit. Sein Lehrbuch hatte explorativen und nicht rekapitulierenden Charakter: Kekulé wollte mit ihm die organische Chemie seiner Zeit systematisieren. Er stützte sich dabei ausdrücklich auf die Typentheorie des französischen Chemikers Charles Gerhardt (1816-1856), der organische Verbindungen von anorganischen Grundtypen ableitete,45 und interpretierte Typen als atomare Bindungsmöglichkeiten. Zu dem Zweck der Erkundung dieser Bindungen führte er mit seinen Mitarbeitern gezielt Experimente durch. Für das Benzol, eine Kohlenstoff-Wasserstoff-Verbindung, die 1825 von dem englischen Physiker und Chemiker Michael Faraday (1791-1867) isoliert worden war, interessierte er sich dabei besonders, weil es seiner Theorie der konstanten Bindung zu widersprechen schien: Das Benzolmolekül besaß nach Kekulés Auffassung sechs Kohlenstoffatome, die unter allen Umständen vierwertig waren, sowie sechs konstant einwertige Wasserstoffatome. Es hätte daher keine stabi43 A. Kekulé, zitiert nach: G. Schultz, Bericht über die Feier, S. 1306-1307. 44 August Kekulé: Lehrbuch der Organischen Chemie oder der Chemie der Kohlenstoffverbindungen. Fortgesetzt unter Mitwirkung von R. Anschütz et al., 4 Bde., Erlangen et al.: Verlag von Ferdinand Enke 1859-1887. 45 Zu Gerhardt vgl. Wolfgang Göbel: »Gerhardt, Charles Fréderic«, in: D. Hoffmann: Lexikon der bedeutenden Naturwissenschaftler, Bd. 2, S. 95-96.
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le Kette bilden dürfen, denn es schienen ihm acht Wasserstoffatome zu fehlen, um gesättigt zu sein. Dennoch ging es kaum Additionsreaktionen ein. Als völlig unverständlich musste ihm erscheinen, dass es in Substitutionsreaktionen nur ein und nicht drei Substitutionsprodukte ergab.46 Das Traumbild zeigte die Lösung: Die offene Reihe oder Kette47 schloss sich Kekulé – offenbar deutlicher als in dem früheren Bild des Reigens – zu einem Ring.48 Die Kohlenstoffatome gingen ihre Bindungen sowohl mit den Wasserstoffatomen wie auch untereinander: im Ring ein. Das Benzol ergab daher selbstverständlich nur ein Substitutionsprodukt. Gleichgültig, an welches Kohlenstoffatom der Substituent geheftet wurde, entstand immer das gleiche Gebilde.49
Loschmidts kreisförmige Darstellung des Benzols In der Forschung ist unumstritten, dass Kekulé 1861-1862 das Benzol als Ring sah. Fraglich ist allerdings, wo er es so sah. Im Jahr 1861, als Kekulé mit Benzol experimentierte und eigener Aussage zufolge ins Träumen geriet, erschien die Monographie »Chemische Studien« des österreichischen Physikers und Chemikers Joseph Loschmidt (1821-1895). In dieser Schrift ist das Benzol kreisförmig dargestellt. Kekulé kannte sie, bezeichnete die Darstellungen jedoch 1862 in einem Brief abfällig als »Confusions-« – anstatt Konstitutions- – »formeln«.50 In seiner Publikation von 1865, die als Urkunde der Entdeckung des Benzolrings gilt, nannte er den Namen Loschmidt in einer Fußnote und grenzte sich aufs Neue allgemein von dessen Darstellungen ab. Möglicherweise war Kekulé auf Loschmidts Arbeit durch eine kurze Rezension Kopps, 1861 in Liebigs »Jahresbericht der Chemie«, aufmerksam geworden.51 Der Hinweis auf »Altmeister Kopp« in seiner Traumschilderung 1890 könnte insofern als verdeckter und verschobener Hinweis auf Loschmidt zu verstehen sein. Strukturell betrachtet ist ein Ring nichts anderes als ein Kreis. Loschmidts Kreissymbol für das Benzolmolekül muss Kekulé daher
46 Vgl. R. Wizinger-Aust: Kekulé, Leben und Werk, S. 16. 47 In seiner Rektoratsrede 1878 erklärte Kekulé, was er unter einer Kette verstand: Die einzelnen Atome eines Moleküls stünden nicht alle mit allen oder alle mit einem in Verbindung, sondern jedes hafte an einem oder an wenigen Nachbaratomen: »so wie in der Kette Glied an Glied sich reiht«, vgl. A. Kekulé: Die wissenschaftlichen Leistungen der Chemie, S. 19. 48 Anlässlich seiner Entdeckung des Pyridins wies Kekulé auf den Unterschied hin, der seiner Auffassung zufolge zwischen Kette und Ring bestand: Ein Ring habe gleichartige, eine Kette hingegen ungleichartige Glieder, vgl. R. Anschütz: August Kekulé, Bd. 2, S. 768-769. 49 Zu dieser Übersetzung von Kekulés zweitem Traumbild vgl. R. Wizinger-Aust: Kekulé, Leben und Werk, S. 17. 50 Vgl. Christian R. Noe and Alfred Bader: »Josef Loschmidt«, in: J.H. Wotiz: The Kekulé Riddle, S. 221-245, hier S. 223, 240. 51 Ebd., S. 222.
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ebenso beeindruckt haben, wie er es für sein Traumbild der Schlange und des Rings beanspruchte. Der belgische Wissenschaftshistoriker Gillis nimmt dementsprechend einen Einfluss auf das »Unterbewußtsein« Kekulés an.52 Diesen Einfluss hat Kekulé, so weit bekannt, nie zur Sprache gebracht. Diese Entnennung der Leistung Loschmidts durch Kekulé wird heute in der Forschung kritisch betrachtet.53 Gillis datiert Kekulés Genter Wachtraum auf den Winter 1861/62.54 Er zitiert außerdem einen Brief Kekulés vom 19.11.1860, der als eine Referenz für dessen Traumschilderung von 1890 dienen kann. Kekulé schreibt hier: »Noch toller aber wie im Laboratorium geht es in meinem Kopfe zu. Da spukt eben viel Diffusion und Moleculargrösse, vermischt mit einigem Volum und mit spec. Wärme. Die höhere Moleculartheorie will sich aber bei all dem Schwindel nicht vollständig abrunden. Man muss das Ding noch etwas gären lassen. Bei all dem kommt es mir aber denn doch so vor, als müsst sich ein Gebild gestalten. Wenn ich nur nicht vorher todt gehe vor Langweilerei des sonstigen Lebens und wenn ich nicht einschlafe, was hier auch nicht gerade unmöglich ist.«55
Mittels theoretischer Überlegungen zu Gerhardts Typentheorie, experimenteller Überprüfung seiner Träumereien sowie vermutlich der Aussage Loschmidts kam Kekulé in seiner Publikation 1865 zu selbstständigen Ergebnissen. Sie waren insofern unabhängig von Loschmidt, als dieser die Typentheorie ablehnte. Kekulé beschrieb das Benzolmolekül als sechsgliedrige Kohlenwasserstoffverbindung mit drei Doppelbindungen. Später modifizierte er den Ring zu einem regelmäßigen Sechseck. Wizinger-Aust zufolge leistet Kekulés Bild so viel, dass es eher als Abbild des Benzolmoleküls zu betrachten ist, denn als konventionelles Symbol.56
52 Jean-Baptiste Gillis: »Leben und Wirken von Kekulé in Gent«, in: R. WizingerAust: Kekulé und seine Benzolformel, S. 33-54, hier S. 42. 53 Vgl. C.R. Noe and A. Bader: »Josef Loschmidt«, in: J.H. Wotiz: The Kekulé Riddle, S. 221-245. Weniger klar scheinen Prioritätsstreitigkeiten in Hinblick auf weitere Kollegen. Sie werden detailliert und kontrovers diskutiert von: John Hedley Brooke: »Doing Down the Frenchies: How Much Credit Should Kekulé Have Given?«, in: J.H. Wotiz: The Kekulé Riddle, S. 59-76; Colin A. Russell: »Kekulé and Frankland: A Psychological Puzzle?«, in: ebd., S. 77-101; Günter P. Schiemenz: »Where Did Kekulé Find ›His‹ Benzene Formula?«, in: ebd., S. 103-122; W.H. Brock: »Henry Armstrong at the Sign of the Hexagon«, in: ebd., S. 123138. Überzogen und ungerechtfertigt erscheinen mir die Vorwürfe des Nationalismus und des generellen wissenschaftlichen Fehlverhaltens, die in dem zentralen Beitrag des Bandes gegen Kekulé erhoben werden: John H. Wotiz/Susanna Rudofsky: »Herr Professor Doktor Kekulé: Why dreams?«, in: ebd., S. 247-275. 54 Vgl. J.-B. Gillis: Leben und Wirken von Kekulé in Gent, in: R. Wizinger-Aust: Kekulé und seine Benzolformel, S. 41. 55 Vgl. J.-B. Gillis: Kekulé te Gent, S. 74f. 56 Ebd., S. 23.
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Zwei Schlangen Die Geschichte der Entdeckung des Benzolrings wurde in der Folge der Feier der Deutschen Chemischen Gesellschaft weiter ausgestaltet. Kekulés langjähriger Mitarbeiter und spätere Biograph Richard Anschütz vertrat die Auffassung, ein Fingerring in Ouroboros-Form habe Kekulé zu seiner Anwendung des Ringsymbols auf den Kohlenstoff inspiriert. Anschütz erzählte folgende Geschichte: Im Jahr 1847 habe der Gymnasiast Kekulé im Nachbarhaus einen Brand beobachtet, bei dem eine Gräfin zu Tode kam. 1850 wurde in diesem Fall ein Indizienprozess geführt, bei dem nicht allein der Chemie-Student Kekulé als Zeuge gehört, sondern auch der deutsche Chemiker Justus von Liebig (1803-1873) als Sachverständiger hinzugezogen wurde. Zu klären war, ob der Tod der Gräfin ohne Fremdeinwirkung durch »menschliche Selbstverbrennung« erfolgt sein konnte, wie die Volksmeinung und einige Mediziner wollten. Liebig verneinte dies. Der Schuldige wurde mit Hilfe chemischen Sachverstands gefasst: Ein tatverdächtiger Bediensteter der Gräfin hatte einen Ring zu verkaufen versucht, der angeblich seit 1805 im Besitz seiner Familie war. Der Ring bestand aus einer Schlange aus Gold und einer Schlange aus Platin. Der Graf insistierte, dieser Ring habe seit 1823 seiner Frau gehört. Damit war der Bedienstete als Täter überführt, denn Platin konnte erst seit 1819 genügend rein dargestellt werden, um zu Schmuck verarbeitet zu werden. Die Gräfin war von ihm beraubt und getötet worden.57 Auch dieser Prozess muss Kekulé beeindruckt haben. Anschütz kommentiert, er habe der »schaffenden Phantasie« Kekulés später »die Arbeit unbewußt erleichtert«.58 Angesichts der Frage nach dem Einfluss, den Loschmidts Darstellung auf Kekulé gehabt haben könnte, erscheint diese Stilisierung eines Schlüsselerlebnisses allerdings als Verweis auf einen Nebenschauplatz.
Der Ouroboros Selbiges gilt für die Schilderung von Kekulés Freund Bohuslav Ráyman (1852-1910), Professor für Organische Chemie in Prag. Ráyman berichtete seinen Studenten von der Abbildung eines Ouroboros auf einer Apothekentür, die Kekulé im Vorfeld der Entdeckung beschäftigt habe.59 Dieses altägyptische Schlangen-Symbol, das tatsächlich aus nur einer Schlange besteht, war an einer Apothekentür gut platziert, denn der Ouroboros war im ersten oder 57 R. Anschütz: Kekulé, Bd. 1, S. 18. 58 Ebd. 59 Vgl. Bernhard Dietrich Haage: »Ouroboros – und kein Ende«, in: Josef Domes et al. (Hg.), Licht der Natur. Medizin in Fachliteratur und Dichtung. Festschrift für Gundolf Keil zum 60. Geburtstag, Göppingen: Kümmerle 1994, S. 149-169, hier S. 161.
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zweiten Jahrhundert u.Z. als Symbol der prima materia in die Alchemie eingegangen.60 Im 19. Jahrhundert erschienen zahlreiche Editionen alchemischer Texte, die Abbildungen des Ouroboros zeigen, beispielsweise Pierre Eugène Marcellin Berthelots »Les origines de l’alchimie«. Auf dieser Einführung in die Quellen der hellenistischen Alchemie prangt er in roter Farbe, mit der Erläuterung »Unité de la matière« versehen. Kekulé, der sich als »Amateurhistoriker« bezeichnete, wird dieses Symbol aus der (Vor-)Geschichte seiner Disziplin bekannt gewesen sein. Er zielte vermutlich darauf, dass sein Auditorium die Schlange aus seinem Traum mit dem Ouroboros identifizierte. Eine höhnische Schlange musste von seinem Publikum als Tier-Symbol und nicht als bloße Schlangenform verstanden werden.61 Indem Kekulé auf den Ouroboros nur anspielte, anstatt das alchemische Symbol zu benennen, lud er dazu ein, seinen Ring zu psychologisieren und als überzeitliches Bild zu interpretieren: Angesichts der vermeintlich überraschenden Wiedererkennungseffekte trat die Leistung von Kekulés Kollegen gänzlich in den Hintergrund.
Abb. 3: Berthelot, Marcellin: Les origines de l’alchimie, Paris: Georges Steinheil 1885, Frontispiz. 60 Als alchemisches Symbol ist der Ouroboros erstmals auf griechischen Papyri sowie auf einer Zeichnung mit der Überschrift Chrysopoeia (Goldmacherkunst) der Kleopatra überliefert, vgl. Marcellin Berthelot [1889]: Introduction à l’Etude de la Chimie des Anciens et du Moyen Age, Reprint: Bruxelles: Culture et Civilisation 1966, S. 132-137. 61 Vgl. Heinz L. Kretzenbacher: »Geschlossene Ketten und wirbelnde Schlangen – Die metaphorische Darstellung der Benzolformel«, in: Peter Janich/Nikolaos Psarros (Hg.), Die Sprache der Chemie. 2. Erlenmeyer-Kolloquium zur Philosophie der Chemie, Würzburg: Königshausen & Neumann 1996, S. 187-196. Kretzenbacher geht davon aus, Kekulé habe bloß die Form einer Schlange, eine »queue«, keine »snake« im Sinn gehabt.
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Baumeister und Philosoph Der atomare Aufbau von Molekülen hatte bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts als nicht erkennbar gegolten.62 Dann wurde das Konzept der chemischen Verbindung von Atomen kreiert. Es wurde allerdings zunächst indirekt über die Existenz von Molekülen erschlossen und galt weiterhin als reine Theorie, die sich nicht visualisieren lasse. Erst in den 1860er Jahren begannen einzelne Chemiker, an seiner Visualisierung zu arbeiten. Kekulé stellte erstmals 1867 auf der Frankfurter Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte Holzmodelle von Atomen vor.63 Sie waren durch Ösen und Messinghaken entsprechend der jeweiligen Wertigkeit der Atome verbunden. Gillis interpretiert Kekulés graphische Darstellungen chemischer Formeln als »Projektionen dieser Modelle in die Papierebene«.64 Dies entspricht einer Selbstaussage: Kekulé betonte 1892 in einer Rede vor seinen Schülern, seine Strukturchemie sei keine »paperchemistry«, sondern »eine lebendige, räumliche Vorstellung der Atomgruppierung«, die »nur der Architect« habe geben können.65 Er hat demnach seine Strukturformeln aus seinen Modellen abgeleitet. Kekulés Modelle hatten keinen Traumcharakter. Sie hatten allerdings einen anderen, erkenntnistheoretischen ›Haken‹: Sie implizierten die Existenz von Atomen und damit, in Anbetracht des intendierten Hypothesencharakters, ein Zuviel an Realität. Die räumliche Darstellung von Atomen wurde in den 1860er Jahren als naiv realistisch in Frage gestellt.66 Kekulé, der 1867 zu dieser Problematik Stellung bezog, sah sich durch die Einwände veranlasst, die 62 W. Göbel: Kekulé, S. 76. 63 Auch hier stellt sich die Frage nach dem Vorrang: Görs zufolge machte der spätere Begründer der Deutschen Chemischen Gesellschaft, August Wilhelm Hofmann, seine dreidimensionalen Schablonen der Typentheorie einige Jahre früher öffentlich als Kekulé, nämlich 1862 im Rahmen eines Friday Evening Meetings der Londoner Royal Institution; vgl. Britta Görs: »Vom imaginären Atom zum räumlichen Gebilde: Der pragmatische Umgang mit dem chemischen Atomismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts«, in: Anke Jobmann/Bernd Spindler (Hg.), Tagungsdokumentation »Theorien über Theorien über Theorien«, Institut für Wissenschafts- und Technikforschung, Universität Bielefeld, IWT-Paper Nr. 24 (1999), S. 37-43 [URL: http: //www.uni-bielefeld.de/iwt/gk/ publikationen/IWTpaper24.pdf (zuletzt aufgerufen am 20.2.2009)], hier S. 3840. Gillis zufolge geht allerdings bereits aus dem ersten Band von Kekulés Lehrbuch (1859) hervor, dass Kekulé mit Holzmodellen arbeitete, vgl. J.-B. Gillis: Leben und Wirken von Kekulé in Gent, in: R. Wizinger-Aust: Kekulé und seine Benzolformel, S. 37; sowie J.-B. Gillis: Kekulé te Gent, S. 80-81. 64 J.-B. Gillis: Leben und Wirken von Kekulé in Gent, in: R. Wizinger-Aust: Kekulé und seine Benzolformel, S. 37. 65 August Kekulé: »Rede von August Kekulé, gehalten bei der [...] von seinen Schülern veranstalteten Feier seiner 25jährigen Lehrtätigkeit [...] 1892«, in: R. Anschütz: August Kekulé, Bd. 2, S. 947-952, hier S. 951. 66 Vgl. B. Görs: Vom imaginären Atom, S. 37-43.
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Abb. 4: Kekulés räumliches Modell des Benzolrings von 1866. Aus: K. Hafner, August Kekulé – dem Baumeister, S. 84. Frage, ob Atome existieren oder nicht, als metaphysisch zurückzuweisen.67 In diesem Kontext verwendete er den Begriff »chemical philosophy« zur Charakterisierung seiner Arbeit.68 Er verstand darunter eine neue hypothetische Theorie der Atome, die experimentelle Ergebnisse erklären sollte.69 Die Krux von zu romantischen Träumen einerseits und zu realen Modellen andererseits verweist demnach auf eine chemie-spezifische Problematik des 19. Jahrhunderts. Sowohl in den Arbeiten Kekulés wie in den Einwänden, die ihm gemacht wurden, kristallisierte sich ein neues Problem- und Methodenbewusstsein heraus: Chemische Darstellungen mussten sich erst als konventionell etablieren. Aussagen über die räumliche Anordnung von Atomen konnten daher als vor-wissenschaftlich missverstanden werden. Ein Zugang zur Struktur von Molekülen, wie er heute mittels Elektronen- oder Röntgenbeugung sowie Mikrowellenspektren selbstverständlich ist, war Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht vorstellbar.70
67 R. Anschütz: August Kekulé, Bd. 2, S. 364-370. 68 Kekulé übernahm diesen Begriff von dem britischen Chemiker und Physiker John Dalton (1766-1844). 69 Vgl. R. Anschütz: August Kekulé, Bd. 2, S. 364; Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 141-146. 70 Vgl. Werner Kutzelnigg: Einführung in die theoretische Chemie, Bd. 2: Die chemische Bindung, Weinheim, New York: Verlag Chemie 1978, S. 1.
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U n b ew u s s t e D e n k h e m m u n g e n u n d einfache Lösungen Chemikern heute erscheint die Konzeption des Benzols als Ring als eine »einfache Lösung«, so schreibt jedenfalls der Chemiker und Chemiehistoriker Wizinger-Aust.71 Für Kekulé und die Chemiker seiner Zeit sei sie allerdings keineswegs nahe liegend gewesen. Wizinger-Aust erläutert, sie sei »dem Bewußtsein der Chemiker jener Epoche entzogen« gewesen: Der Kreis sei das Symbol für das Unteilbare und damit für das Atom; eine »unbewußte Denkhemmung« habe daher erst durchbrochen werden müssen, um chemische Verbindungen durch einen Ring zu symbolisieren.72 Diese Einschätzung entspricht der Charakterisierung chemischer Analogien, die der Wissenschaftsphilosoph Gaston Bachelard gegeben hat: Bachelard zufolge sind Erfahrungen, die das Attribut chemisch verdienen, nie unmittelbar.73 Chemische Analogien seien immer bereits rektifiziert, da die Fragestellungen der Chemie immer indirekt seien.74 Die Analogie in der Chemie breche mit der physischen Beobachtung.75 Es gehe ihr um Konstruktion, um die Bedingungen der Zusammensetzung von Substanzen und nicht um scheinbare Ähnlichkeiten.76 Erste Analogien müssten daher in der Chemie zu Ideen der Konstitution von Substanzen umgearbeitet werden, um brauchbar zu sein.77 Diese Einschätzung lässt sich auf Kekulé in verstärktem Maß anwenden. Kekulés Arbeit als Theoretiker bestand ganz zentral darin, die chemische Terminologie zu klären. Er bemühte sich, Grundbegriffe, die uneinheitlich verwendet wurden, klar zu unterscheiden: so etwa Atom, Molekül und Äquivalent. Kekulé hat selbst maßgeblich daran mitgewirkt, dass sich die Unterscheidung des Atoms als einer chemisch unteilbaren Einheit vom Molekül als einer Verbindung von Atomen allgemein durchsetzte.78 Zu diesem Zweck beteiligte er sich unter anderem an der Organisation des ersten internationalen Chemikerkongresses, der 1860 in Karlsruhe stattfand und sich fast ausschließlich der Sprachregelung widmete.79 Einen Kreis oder Ring zu verwenden, um die Konstitution des Benzol-Moleküls darzustellen, dürfte ihm daher spontan besonders zuwider gewesen sein. 71 R. Wizinger-Aust: Kekulé, Leben und Werk, S. 20. 72 Ebd. 73 Gaston Bachelard: Le Pluralisme cohérent de la Chimie moderne, Paris: Librairie Philosophique J. Vrin 1932, S. 26. 74 Ebd., S. 30-31. 75 Ebd., S. 36. 76 Ebd., S. 38. 77 Ebd., S. 39. 78 Vgl. A. Kekulé: Die wissenschaftlichen Ziele und Leistungen. 79 Vgl. dazu Kekulés Entwurf seiner Kongress-Rede, in: R. Anschütz: August Kekulé, Bd. 1, S. 689-691.
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Animistischer Realismus Die Veranschaulichung des Benzols durch einen Ring ist in keinem Fall als erste Anschauung zu interpretieren: Sie macht erst Sinn, wenn ein Konzept von chemischer Verbindung kreiert ist. Dass Kekulés Kohlenstoffkette und sein Benzolring sich durchzusetzen begannen, wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts jedoch gerade daran deutlich, dass ihre Darstellung nun ins grob Realistische gewendet wurde: Bereits 1886, also noch vier Jahre vor Kekulés Traumschilderung, kam es anlässlich eines Bierabends der Deutschen Chemischen Gesellschaft im Rahmen der 59. Tagung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte in Berlin zu einer Persiflage. Die Teilnehmer erhielten ein Imitat ihrer Verbandszeitschrift, betitelt als »Berichte der durstigen chemischen Gesellschaft«, das unter anderem Karikaturen der Kohlenstoffverbindung und des Benzolrings enthält: Beide werden mittels Äffchen dargestellt, die sich, je nach einfacher oder Doppelbindung bei Pfoten und Schwänzen greifen. Zu diesem Einfall ist der Karikaturist mit ziemlicher Sicherheit durch Kopps »Molecular-Welt« (1882) verleitet worden.
Abb. 5 und 6: Karikaturen des Kohlenstoffatoms und des Benzolrings. Aus: F.W. Findig [Otto Nikolaus Witt]: »Zur Constitution des Benzols«, in: Berichte der Durstigen Chemischen Gesellschaft. Unerhörter Jahrgang No. 20, Berlin: R. Friedländer und Sohn 1886, S. 3536. 1888 auf der 61. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Köln wurde diese Übersetzung noch etwas weiter getrieben: Unter der Ägide August Wilhelm Hofmanns trat ein Atom-Ballett auf, »in welchem die einzelnen Damen als Vertreterinnen der chemischen Symbole in passend gewählten Kleidungen in verschiedenen Stellungen deren Verbindungen veranschaulich-
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ten«.80 Die Tänzerinnen kamen unter anderem als Benzol auf die Bühne. Welche Kleidungen und Körperstellungen zu ihm passten, ist nicht überliefert.
Kekulé als Ägypter Kekulés Konzepte rissen seine Zeitgenossen offensichtlich zu Träumen hin. In seinem Festvortrag 1890 trug er nur noch dazu bei, dass seine Bilder als ägyptisch und damit als vermeintlich überzeitliche, geniale Eingebungen stabilisiert wurden. Nach Kekulés Tod wurde seine Festrede von der Deutschen Chemischen Gesellschaft dann implizit auf Ödipus’ Lösung des Rätsels der Sphinx bezogen. Die Ergänzung der Kekulé-Statue durch zwei Sphinxe wird in den »Berichten der Deutschen Chemischen Gesellschaft« von 1904 wie folgt begründet: Kekulé habe die »Hyroglyphenschrift der alten Typentheorie« durch die »Volkssprache der Structurformel« ersetzt.81 Kekulés Auffassung der Bindung von Atomen ermöglichte es ihm, für viele einfachere organische Stoffe sogenannte rationelle Formeln aufzustellen. Seine Kollegen analogisierten diese Leistung mit der Ablösung der Hieroglyphen durch das griechische Alphabet, die in Ägypten im 3. Jahrhundert mit Einführung des Christentums erfolgte. Kekulé sollte demnach einen Paradigmenwechsel vom Ausmaß der Akzeptanz eines neuen Schriftsystems herbeigeführt haben. Diese Beschreibung ist völlig zutreffend, wenn sie auf das Gebiet der Chemie beschränkt wird. Dass Kekulé, indem er durch seine Darstellungen die industrielle Synthese von Kohlenwasserstoffverbindungen erleichterte, das Rätsel der Sphinx gelöst haben sollte, wirkt hingegen überzogen: Aber eine weitergehende Analogisierung Kekulés mit dem unglücklichen Ödipus dürften die Stifter dieser Mythe ohnehin nicht im Sinn gehabt haben.
Menschen im Kontext Kekulés Postulat des Benzolrings von 1865 wird bis heute in manchen Lehrbüchern als »geniale Idee« und »Vision«, die ihm im »Traum« gekommen sei, sowohl verklärt wie vereinfacht.82 Eine solche Heroisierung zu kritisieren,
80 »61. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in Köln. Das ChemikerFest am 20. September 1888«, in: Chemiker-Zeitung 12 (1888), S. 1296-1297, hier S. 1296. 81 Eberhard Rimbach: Das Kekulé-Denkmal in Bonn und Die Feier seiner Enthüllung am 9. Juni 1903. Sonder-Abdruck aus den Berichten der Deutschen Chemischen Gesellschaft, Jg. 36, Berlin: Verlag Chemie 1904, S. 15. 82 Vgl. exemplarisch: Günter Baars/Hans Rudolf Christen: Allgemeine Chemie. Theorie und Praxis, Oberentfelden: Sauerländer 1995, S. 88; Robert T. Morrison/Robert N. Boyd: Lehrbuch der Organischen Chemie, Weinheim: Verlag Chemie 1986, S. 650-651.
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erübrigt sich heute jedoch beinahe, denn die Mehrzahl der Lehrbücher der Chemie kommt mittlerweile mit einem Sachregister aus: als Einträge im Index finden sich dann etwa »Kekulé-Struktur« oder »Kekulé-Formel«, nicht aber die Person Kekulé. Dem entsprechend werden die jeweiligen Materien behandelt, ohne auf wissenschaftsgeschichtliche Zusammenhänge und gesellschaftliche Kontexte hinzuweisen. Die Heldengeschichtsschreibung der Vergangenheit war demnach im Fach Chemie ein Platzhalter für wissenschaftsgeschichtliche Reflexion, der heute hinfällig geworden ist. Die moderne Chemie hat sich zugleich – entschiedener als andere Naturwissenschaften, etwa als die Physik – von den Geisteswissenschaften bzw. der Philosophie gelöst.83 Bensaude-Vincent und Stengers betonen in ihrer »Histoire de la chimie« den Nachteil dieser Entwicklung für Chemikerinnen und Chemiker: deren Frustration angesichts des Charakters ihrer Arbeit als Zuarbeit für Industrie, Physik und Biologie. Die Autorinnen konstatieren, es sei heute Aufgabe der Wissenschaftsgeschichte, Chemie erneut als Abenteuer zu aktivieren. Dazu sei die Geschichte der Chemie als etwas zu verstehen, was die Chemie nicht einfach besitze, sondern worin sie selbst noch im Werden sei.84 Für eine solche Dynamisierung und Temporalisierung des Wissens wäre es offensichtlich unabdingbar, Wissen(schaft)sgeschichte in die naturwissenschaftlichen Fachkulturen selbst einzubinden. Damit sich diese Forderung umsetzen lässt, müsste es aber zunächst attraktiv werden, auch in Fächern wie der Chemie wieder von Menschen zu handeln – und dies auf veränderte, nämlich wissenschaftssoziologisch geschulte Weise: von Menschen im Kontext.
Abb. 7-9: Briefmarken der Bundesrepublik Deutschland und Belgiens zur 100-Jahrfeier der Benzolformel sowie zum 70. Todestag Kekulé von Stradonitz’ (1966); Briefmarke der DDR (1979); Quelle: http://www.merian.fr.bw.schule.de/Bobeth/chemie/organik/benzol2.htm. 83 Vgl. Jürgen Mittelstraß: »Chemie und Geisteswissenschaften. Eine Einleitung«, in: Jürgen Mittelstraß/Günter Stock (Hg.), Chemie und Geisteswissenschaften. Versuch einer Annäherung, Berlin: Akademie Verlag 1992, S. 9-13, hier S. 10. 84 Bernadette Bensaude-Vincent/Isabelle Stengers: Histoire de la chimie, Paris: Éditions La Découverte 1993, S. 5-15, 319-333.
Die Ordnung de r Ps yc hotropika. Drogistische Forschungsreisen ins Unbew usste JEANNIE MOSER
Te r r a i n c o g n i ta Zeitgleich zu den ersten Expeditionen ins Weltall, mitten im Wettlauf von USA und Sowjetunion um die erste Landung auf dem Mond heißt es: »We are indeed fortunate to be explorers of inner space and the first voyagers who can make planned and often predictable trips into areas where time and space seem to have no bearing.«1 Mit der Hilfe von Drogen begeben sich selbsternannte Psychonauten auf Reisen in die unfassbaren Weiten des menschlichen Bewusstseins und unternehmen Fahrten in den Weltraum der Seele. »Der Ausdruck ist gut gewählt«, bemerkt der als Vater und Entdecker von LSD gefeierte Chemiker Albert Hofmann im Kommentar zu einem Selbstversuchsbericht des Orientalisten Rudolf Gelpke, »weil der Innenraum der Seele genauso unendlich und geheimnisvoll ist wie der äußere Weltraum und weil die Kosmonauten des äußeren wie des inneren Weltraums nicht dort verbleiben können, sondern auf die Erde, ins Alltagsbewußtsein zurückkehren müssen.«2 Wenn die Forschung psychotrope Substanzen in den Blick nimmt, Substanzen, die in kognitive Abläufe, in Stimmungen und Wahrnehmungsprozesse eingreifen, diese modifizieren und grundlegend neu strukturieren, so tauchen weitere Objekte des Wissens auf: das Bewusstsein und – besonders in der frühen LSD-Forschung der 19650/60er Jahre – das Unbewusste. Gelten Erscheinungen und Erfahrungen, die man bei LSD-Experimenten beobachtet, analog 1
2
Betty Eisner: »The Influence of LSD on Unconscious Activity«, in: Hallucinogenic Drugs and their Psychotherapeutic Use, London: H.K. Lewis 1963, S.140145, hier S. 141. Albert Hofmann: LSD – Mein Sorgenkind. Die Entdeckung einer »Wunderdroge«, München: dtv 2002, S. 87.
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zu Träumen als »Manifestationen tiefliegender Bereiche des Unbewussten«,3 wie es Stanislav Grof – ein Mitbegründer der psychedelischen Therapie – veranschlagt, versprechen Drogen direkten Zugang zu diesen rätselhaften, verborgenen Bereichen. »Controlled journeys are made possible into the psyche; into the individual or personal unconscious; into the racial and collective unconscious; even into cosmic levels«,4 annonciert enthusiastisch Betty Eisner – eine Pionierin der psycholoytischen Therapie. Und sie ist nur eine von vielen Protagonisten der psychiatrischen Drogenforschung, die nahezu inflationär Figuren und Narrative der Reise zur Beschreibung dieses Zugangs bemüht. In der Wissenskultur der Drogen wird der Rausch zum Forschungstrip in unbekanntes Terrain. Drogen scheinen Einblick zu gewähren in das unergründliche Universum der menschlichen Psyche, scheinen unmittelbaren Zutritt zu ihm zu verschaffen. Letztlich verheißen sie aber auch die Erschließung, die Beherrschung und Domestizierung, die epistemologische Kolonisation dieses schwerlich betretbaren, berüchtigt obskuren Gebiets. Wieder auf dem Boden der nüchternen Tatsachen nämlich, zurück in besagtem Alltagsbewusstsein, werden die auf dem trip durch den künstlichen Ausnahmezustand von Informanten gesammelten Materialien und Fundstücke analysiert, die Daten ausgewertet, wird das gesamte epistemische Gut in die bestehende Ordnung des Wissens eingetragen – und letztere nicht selten rekonfiguriert. Denn die Bewusstseinsforschung, die auf Psychotropika zurückgreift, versucht sich nicht selten an einer neuen konzeptuellen Fassung, an einer neuen Beschreibung, Dokumentation und angereicherten Kartographie der terra incognita des Unbewussten. »Observations on Possible Order within the Unconscious« oder »Topographie des Unbewußten« lauten mithin Titel von Publikationen, die von der therapeutischen Arbeit mit Psychotropika wie LSD und Psilocybin, mit Meskalin oder Ritalin und von den damit verbundenen Expeditionen in die kaum zu ergründenden Regionen des Bewusstseins, der Erforschung der »unvermessenen Grenzen der menschlichen Psyche«5 erzählen. Die Reise ist die zentrale Figur der Erkenntnisproduktion, und Drogen sind hierfür wichtigstes Transportmittel. Wie schon aus dem Begriff psychotrop erkennbar wird, der sich aus den griechischen Worten ȥȣȤȒ (psyché) und IJȡȩʌȠȢ (tropos) zusammensetzt, verändern sie die Psyche nicht nur, indem sie 3 4
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Stanislav Grof: Topographie des Unbewußten. LSD im Dienst der tiefenpsychologischen Forschung, Stuttgart: Klett-Cotta 1983, S. 14. B. Eisner: The Influence of LSD, S. 141. Eisner ist eine der wenigen Forscherinnen im von Männern dominierten Feld der Drogenforschung und musste hart um ihre Sichtbarkeit kämpfen. Auffallend ist, dass sie Kollegen und deren Ergebnisse berücksichtigt, diese hingegen Eisner kaum erwähnen und allenfalls auf ihren Kollegen Sidney Cohen Bezug nehmen. Stanislav Grof: Kosmos und Psyche. An den Grenzen menschlichen Bewußtseins, Frankfurt/Main: Fischer 2002, S. 11.
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sie wenden, sondern Drogen geben zugleich eine Richtung vor, bewegen im Sinne von IJȡȑʌİȞ (trepein) auf die Psyche zu und rücken sie näher heran. Nach einer metaphorischen Logik operierend,6 setzen sie über – von einem Bereich in den anderen – und stiften neue Allianzen. Die Droge als chemische Übersetzerin und Transporteurin überblendet sich dabei mit einer Semantik des Weiblichen. Wie die Regionen, in die sie entführt, figuriert sie als ein Wesen, das lockt und fasziniert. Das Verhältnis zwischen ihr und den Reisenden wird oftmals als eines der erotischen Anziehung beschrieben, wobei in das Narrativ der leidenschaftlichen Hingabe ein Moment der Gefahr eingebettet ist, der Attraktion nicht standhalten zu können. »Ich bin neugierig, wie Niopo auf unsereins wirken würde«, schreibt etwa Hofmann im Herbst 1955 an Ernst Jünger, mit dem er zuvor einen LSDVersuch unternommen hatte, über ein stimulierendes Rauschmittel aus dem Orinoco-Gebiet, das er zu untersuchen vorhat. Sollte eine »Sitzung« mit der Droge zustande kommen, von der er gelesen hatte, dass sie den Otomacos
Abb. 1: Die in der weiblichen Schönheit verborgene Gefahr – Zeichnung aus einer psychodynamischen Sitzung mit LSD. Aus: S. Grof, Topographie des Unbewußten, S. 69.7 6
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Vgl. Jacques Derrida: »Der ›Entzug‹ der Metapher«, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Die paradoxe Metapher, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 197-234. Derrida spannt die Frage nach einer Trope, nämlich der Metapher, in ein semantisches Feld von metaphorikos ein, das weniger vom Ersetzen als vielmehr vom Transport und Transfer, vom Übertragen, Übersetzen, Fahren und Befördern, vom Zug, Bezug und reziproken Beziehen geprägt ist. Das Bild eines zwangsneurotischen Patienten spiegelt nach Grof dessen Vorstellung von der weiblichen Rolle wider: »Schönheit als ein wesentliches Merkmal
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vollkommen den Verstand geraubt und sie in wilder Raserei in den Kampf ziehen gelassen habe, »dann dürften wir keinesfalls unsere Frauen fortschicken wie bei jener Vorfrühlingsträumerei [gemeint ist der LSD-Einstieg vom Februar 1951], damit sie uns gegebenenfalls festbinden könnten«.8 Hofmann beabsichtigt sich einer raffinierten List des Odysseus zu bedienen, jenem antiken Seefahrer und Abenteuerhelden, der sich auf Rat der Kirke am Mast seines Schiffes festbinden ließ, um nicht vom Gesang der Sirenen verführt und von ihnen in den Tod gelockt zu werden. Dass es spezieller Vorkehrungen für den drogistischen trip und womöglich einer altbewährten List bedarf, zeugt von einer die Forschungsreisenden immerfort begleitenden Angst, die Kontrolle gegenüber den reizenden, weiblich codierten Psychotropika, diesen in den Körper eindringenden, penetrierenden Wesen, die ein Eigenleben zu entwickeln und die Dynamiken des Unbewussten freizusetzen vermögen, zu verlieren.
E i n F o r s c h u n g s g e g e n s ta n d a u f Wa n d e r s c h a ft Den Reisen mit LSD in die terra incognita des Unbewussten geht die Reise von LSD im Sinne eines Forschungsgegenstands durch verschiedene institutionelle und epistemische Milieus voran. Einmal auf Wanderschaft in den verschiedenen Forschungskontexten, verändert sich die Substanz.9 Entsprechend den unterschiedlichen epistemischen Ausgangslagen, von denen aus die Reisen in die menschliche Psyche unternommen werden, ihren Vorannahmen und Zielvorgaben, ihren technischen und methodischen Bedingungen, erfährt die Droge mannigfache semantische Aufladung, Funktionsbestimmung und Codierung. Die Fragen, unter denen LSD anvisiert, sowie die Interessen der experimentellen Arrangements, in die es eingebettet wird, sind zahlreich. Ihren Ausgangspunkt nimmt die Reise von LSD mit einem Experimentalsystem,10 das in der chemisch-pharmazeutischen Abteilung der Sandoz AG in Basel eingerichtet worden war, um Zusammensetzung, Eigenarten und mögliche Verwertbarkeit des Mutterkorns, einem giftigen Getreideparasiten, zu untersuchen. Schon 1938 synthetisierte Hofmann – eigentlich in der Erwarder Weiblichkeit wird durch eine Rose symbolisiert. Scharfe Dornen mit herabtropfendem Blut und verschiedenen gefährlichen Tieren – wie Skorpion, Schlange und Tausendfüßler – im Perianthium enthüllen die in dieser Schönheit verborgene Gefahr.« (S. Grof: Topographie des Unbewußten, S. 69). 8 A. Hofmann: LSD – Mein Sorgenkind, S. 161f. 9 Vgl. Mieke Bal: Travelling Concepts in the Humanities. A Rough Guide, Toronto: University of Toronto Press 2002. 10 Vgl. Hans-Jörg Rheinberger: Experiment. Differenz. Schrift. Zur Geschichte epistemischer Dinge, Marburg/Lahn: Basilisken-Presse 1992; in: ders., Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Zur Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen: Wallstein 2001.
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tung ein Kreislauf- und Atmungsstimulans herzustellen – jenen LysergsäureAbkömmling, der unter dem Namen LSD berühmt werden sollte. Die ersten Versuchsreihen bei Sandoz zeigten jedoch keine nennenswerten Ergebnisse, weitere Prüfungen wurden unterlassen und die Droge drohte in Vergessenheit zu geraten. Von einer »seltsamen Ahnung« motiviert, beschloss Hofmann aber, sich noch einmal an die Synthese eines Mutterkorn-Derivats zu machen. So widerfuhr dem Forschungsprozess im Frühjahr 1943 eine beachtliche Konjunktur: Ohne dass es Hofmann merkte, gelangte eine Spur der Substanz in seinen Körper. Die Arbeit im Laboratorium musste er, von einer »merkwürdigen Unruhe, verbunden mit einem leichten Schwindelgefühl befallen«, unterbrechen.11 Um seine Vermutung, die Absonderlichkeiten rührten von der Chemikalie her, zu verifizieren – oder wie es Hofmann in seinem 1979 erstmals erschienenen Buch »LSD – Mein Sorgenkind. Die Entdeckung einer ›Wunderdroge‹« formuliert: um dieser »Sache auf den Grund zu gehen« –, entschloss er sich am darauffolgenden Montag, den 19. April, zum Selbstversuch. Gewaltig überdosiert, verursachte die Substanz eine »intensive Störung des normalen Weltbildes« und dessen »tiefgreifende Umwandlung und Erschütterung«. Hofmann erlebte die Droge unzähmbar eigendynamisch und in einer dramatisch »erschreckenden Dämonie«. Die vertrauten Gegenstände nahmen »groteske, meist bedrohliche Formen« an, und die »Auflösung [seines] Ich« schien so unaufhaltbar, dass der Forscher gequält wurde von einer »furchtbaren Angst«, wahnsinnig zu werden oder gar zu sterben.12 Ein paar Stunden später jedoch klangen die Symptome ab und wichen phantastischen und höchst genussvollen Erlebnissen. Nachdem Hofmann in aller Drastik die Wirkungen der MutterkornVerbindung »am eigen Leib – richtiger gesagt, am eigenen Geist« erfahren und festgestellt hatte, auf eine außergewöhnliche Substanz gestoßen zu sein, die ihre Wirkungen »vor allem im Bereich der höheren und höchsten psychischen und geistigen Funktionen« entfaltet,13 wanderte die Substanz über einen Steg familiärer Bande in den damals noch recht jungen Forschungsraum der experimentellen Psychiatrie. Es ist der Sohn von Arthur Stoll, der zum Zeitpunkt der ›Entdeckung‹ von LSD Leiter der Naturstoff-Abteilung und Vorgesetzter Hofmanns gewesen war, der die Substanz in der Züricher Universitätsklinik einführte. Werner Stoll, seines Zeichens psychiatrischer Arzt, unternahm die erste systematische Untersuchung der Effekte jener in winzigen Mengen hoch potenten Chemikalie auf die menschliche Psyche und publizier-
11 Vgl. A. Hofmann: LSD – Mein Sorgenkind, S. 13-27. 12 Ebd., S. 27-34, 54. 13 Ebd., S. 13, 34f.
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te seine Ergebnisse im Jahre 1947.14 Er testete die an sich farb-, geruchs- und geschmacksneutrale, halb synthetische Substanz, die ein ähnliches Wirkungsbild wie Meskalin aufwies, sich aber in der erforderlichen Dosis gravierend von ihm unterschied. Sich selbst, weiteren fünfzehn gesunden Versuchspersonen sowie sechs Schizophrenie-Patienten verabreichte er die von ihm als Phantastikum bezeichnete Droge. Im Anschluss verglich er die gewonnenen Daten.15 Stolls Ergebnisse legten eine strukturelle bhnlichkeit von Rausch- und wahnhaftem Zustand nahe, wie sie sich bereits in Kraepelins Beschreibung des Rausches als »Irresein im Kleinen« findet.16 Besonders zu beeindrucken schien Stoll die Möglichkeit, diesen Ausnahmezustand des Denkens und Wahrnehmens abseits der Norm durch eine chemisch-stoffliche Intervention vorsätzlich auslösen zu können. Von der Idee geleitet, durch eine künstliche Überreizung und Verschärfung der Sinne mittels Psychotropika allgemeine Phänomene der Psychopathologie aufzuschließen, stellte er in einem Vortrag heraus: »Man kann das LSD als Spurenstoff bezeichnen, der Psychosen vom akuten exogenen Typ erzeugt.«17 Der Umstand, dass mit nur einigen Hunderttausendstel eines Gramms die Psyche über einen gewissen Zeitraum tiefgreifend zu verändern war, sorgte für große Beachtung und Stolls Schluss, dass der »experimentellen Psychiatrie weite Möglichkeiten«18 eröffnet werden würden, schien höchst verlockend. Behauptet Hofmann in »LSD – Mein Sorgenkind«, er sei sich schon unmittelbar nach seinem Selbstversuch 1943, der als bicycle ride und erster (Horror-)trip in die Geschichte eingehen würde, sofort bewusst gewesen, »daß der neue Wirkstoff LSD mit derartigen Eigenschaften in der Pharmakologie, in der Neurologie und ganz besonders in der Psychiatrie von Nutzen sein müsse und das Interesse der Fachgelehrten wecken werde«,19 sollte sich diese nachträgliche, aus der Rückschau (re-)kon14 Werner Stoll: »Lysergsäure-diäthylamid, ein Phantastikum aus der Mutterkorngruppe«, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 60 (1947), S. 279-323. 15 Ab 1920 injiziert Kurt Beringer das aus den pulverisierten Kakteenköpfen isolierte Meskalin sich selbst und einer Reihe von Kollegen und Studenten an der Universitätsklinik in Heidelberg. Der Rausch war Beringer ein Mittel, um pathologische Bewusstseinszustände zu untersuchen. 16 Vgl. Hanscarl Leuner: Die experimentelle Psychose. Ihre Psychopharmakologie, Phänomenologie und Dynamik in Beziehung zur Person, Berlin, Göttingen, Heidelberg: Springer 1962, S. 3-6. 17 Werner Stoll: »Psychische Wirkung eines Mutterkornstoffes in ungewöhnlich schwacher Dosierung«, in: Schweizer Medizinische Wochenschrift 79 (1949), S. 110. Der Psychiater Jacques-Joseph Moreau warf diese Idee auf, als er Mitte des 19. Jahrhunderts mit Haschisch experimentierte; Ernst Joël und Fritz Fränkel mit ihrer Haschisch- und Kurt Beringer mit seiner Meskalin-Forschung verfolgten sie weiter. 18 Ebd. 19 A. Hofmann: LSD – Mein Sorgenkind, S. 33.
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struierte Vermutung bestätigen. Die von Sandoz unter dem Medikamentennamen Delysid freigiebig zur Verfügung gestellte Droge wurde eifrig weitergereicht und empfohlen. Über Max Rinkel gelangte die psychotrope Substanz 1949 in die USA.20 Waren zunächst nur einige wenige Forscher mit der Untersuchung von LSD befasst, verbreitete es sich von nun an in rasantem Tempo. Von Harvard aus durchlief die Droge diverse Forschungseinrichtungen bis an die kalifornische Westküste und wieder zurück nach Europa. Die LSD-Forschung – in den USA mit in Bewegung gebracht und vorangetrieben durch großzügige finanzielle Unterstützung seitens der CIA, die an chemischen Substanzen als Wahrheitsseren, psychotoxischen Kampfstoffen oder Mitteln für Gehirnwäschen interessiert war – explodierte.21 Verzeichnet das Sandoz-Archiv zwischen 1943 und 1950 gerade nur elf Publikationen zu LSD, sind es in den folgenden zehn Jahren bereits mehr als tausend. Die Ankunft von LSD im Wissensraum der Psychiatrie versetzte die Forschung wahrlich in einen Rausch. Erprobt wurden zunächst Therapieformen, bei denen die Substanz der Verkürzung eines psychotischen Krankheitsverlaufes durch die Provokation von Schüben und der Induktion von Höhepunkten zuarbeiten sollte. Anfänglich ging man von der Prämisse aus, dass es mit LSD zu einer Intensivierung und Mobilisierung von manifesten und latenten psychopathologischen Symptomen käme. Durch den drogistischen Schock wurde die »Unterbrechung des (akuten oder chronischen) psychotischen Prozesses angestrebt«.22 Man glaubte zudem, die Droge sei ein Schlüssel zum Verständnis der Schizophrenie. Die LSD-Sitzungen wurden als »kurze, ungefährliche und befristete Aufenthalte in der Welt des Schizophrenen«23 gepriesen. Auf diese Weise dienten sie einer Art Empathie-Schulung bei der Ausbildung von Psychiatrie-Fachkräften. Aus jenen Aufenthalten ergaben sich aber auch neue Hypothesen. Vermutet wurde, die Schizophrenie würde sich biochemisch, nämlich als Selbstintoxikation des Körpers, der in der Folge
20 Vgl. Max Rinkel: »Experimentally Induced Psychoses in Man«, in: H.A. Abramson (Hg.), Neuropharmacology. Transactions of the 2nd Conference, New York: J. Macy Foundation 1956, S. 235-258. 21 Das CIA-Projekt BLUEBIRD, 1951 in ARTICHOKE unbenannt, war anfangs dem Einsatz von Meskalin gewidmet, beschäftigte sich dann aber verstärkt mit LSD. 1953 startete die Operation MK-ULTRA, ein groß angelegtes, geheimes Forschungsprojekt zu Möglichkeiten der mind-control. Letztlich waren die Drogen für die CIA-Ideen aber unbrauchbar. Vgl. Sadie Plant: Writing on Drugs, London: Faber 1999; Martin Lee/Bruce Shlain: Acid Dreams. The Complete Social History of LSD, New York: Grove 1992. 22 Vgl. F. Jost.: »Zur therapeutischen Verwendung des LSD XXV in der klinischen Praxis der Psychiatrie«, Sonderabdruck aus: Klinische Wochenschrift 69 (1957), S. 2, 10, 12. 23 Stanislav Grof: LSD-Psychotherapie, Stuttgart: Klett-Cotta 1983, S. 23.
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eines Stoffwechselirrtums eine LSD-ähnliche Substanz produziere, erklären lassen.24 Insgesamt verband sich mit dem Einsatz von LSD ein markanter Schub der Verwissenschaftlichung psychiatrischer Forschung. Denn man meinte, mit dieser Substanz temporäre Psychosen erzeugen, weitgehend kontrollieren und damit modellieren zu können. Mit LSD, das man als Serotonin-Antagonist in vitro verstand,25 ließen sich die Untersuchungsgegenstände der Psychiatrie scheinbar mühelos und systematisch im Laboratorium reproduzieren. Im Zusammenspiel wiederum mit anderen Wissenskulturen wie der Pharmakologie, der Biochemie und Physiologie, der Neurologie oder Verhaltensforschung, die bislang getrennt und oft auch in Konkurrenz untereinander operierten, entstand schließlich sogar eine neue Disziplin: die Psychopharmakologie.26 Der Grundstein moderner Psychopharmaka-Therapie, das erste Neuroleptikum Chlorpromazin ›heilte‹ nämlich die qua LSD induzierten Modell-Psychosen.27 Um Psychotropika bildeten sich schnell interdisziplinäre Kontaktzonen. Das primäre Experimentalsystem expandierte, mit Rheinberger gesprochen rhizomierte es und schloss sich mit anderen zusammen. Psychiatrische brzte und Klinikpersonal wie Krankenschwestern und Pfleger, Pharmakologen und Neurologen mit ihren Labor-Assistenten ebenso wie Theologen, Philosophen und Künstler, Anwälte, Politiker, Soldaten und CIA-Agenten, Professoren und Studenten unterschiedlicher Fachrichtungen nahmen sowohl als Beobachter wie auch als Versuchspersonen an Drogentests teil. Oscar Janiger beispielsweise unternahm an der University of California zwischen 1954 und 1962 Experimente mit mehr als 900 Freiwilligen, deren Motivation von simpler Neugier bis hin zur Suche nach mystischer Erleuchtung reichte. Unter ihnen waren so namhafte Probanden wie Anais Nin oder Aldous Huxley, denen er seine creativity pill gab und sie über ihre Erfahrungen Protokoll führen ließ. Janigers Idee der drogistischen Kreativitätssteigerung korrespondierte mit einer bsthetik, die den Ursprung künstlerischer Schöpferkraft auf das Unbewusste zurückführte und diejenigen romantisierte, deren Verhalten und
24 Vgl. S. Grof: Topographie, S. 36. Der Psychiater Humphry Osmond arbeitete in London mit psychotropen Substanzen. Aufgrund der bhnlichkeit der molekularen Struktur von Meskalin und Adrenalin formulierte er 1952 erstmals die These, dass biochemische Stoffe für die Entstehung von Schizophrenie verantwortlich sein könnten. 25 Vgl. Oscar Janiger: »The Use of Hallucinogenic Agents«, in: The California Clinican 8 (1959), S. 251-259, hier S. 251. 26 Vgl. David Healy: The Creation of Psychopharmacology, Cambridge, London: Harvard Univ. Press 2002. 27 Im Begleitprospekt der LSD-Dragées und -Ampullen von Sandoz ist es als Antidot aufgeführt: »Durch die Injektion von 50mg Chlorpromazin können durch Delysid hervorgerufene Rauschzustände rasch beseitigt werden.« (A. Hofmann: LSD – Mein Sorgenkind, S. 55.)
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Wahrnehmung sich vermeintlich an der Logik des Unbewussten orientierten – wie ›vormoderne‹ Gesellschaften, Kinder und Wahnsinnige.28 In den 1950er Jahren bildeten sich also mehrere Felder der LSD-Forschung heraus – wobei es etliche personelle wie epistemologische Überschneidungen gab. Allen diesen Feldern ist gemein, dass in ihnen Drogen ihre Systemstelle wechseln. Sie sind nicht mehr nur epistemische Dinge, denen das Erkenntnisinteresse gilt, sondern sie figurieren ebenso als hilfreiche Forschungsinstrumente. »LSD and related agents«, schwärmt Eisner, »appear to be research tools far beyond present-day conception – even the conception of those of us who have been working with them for years.«29 Die chemisch handelnden Agenzien werden somit zu technologischen Objekten.30 Sie erweisen ihren Dienst, wenn es gilt, Modell-Psychosen experimentell zu erzeugen. Sie finden Verwendung entweder als ästhetische, diagnostische, manipulative oder aber therapeutische Hilfsmittel. Insofern sie dem Studium biochemischer Wechselspiele, die psychischen Vorgängen zugrundeliegen,31 assistieren oder – mit Janiger gesprochen – ein noch nie dagewesenes Instrument sind, um etwas über das Bewusstsein zu erfahren und über seine Abläufe und Funktionen zu lernen,32 sind sie schließlich als epistemologische Werkzeuge von Nutzen. Denn sie bestimmen Forschungsverläufe mit und helfen neues Wissen und Modelle hervorzubringen.
Vo n d e r P s yc h o m i m e s e z u r P s yc h o l ys e Im Feld der psychiatrischen Drogenforschung dominierte zunächst der Grundgedanke einer durch LSD generierbaren Modell-Psychose. Er artikulierte sich in der Charakterisierung von LSD als psychotomimetische – eine Psychose nachahmende oder simulierende – Droge. Diese Idee ließ sich jedoch nicht in Einklang mit den Erfahrungen und Erlebnissen der Versuchspersonen bringen, die weitaus vielfältiger als das Erfahrungsspektrum von Psychotikern waren. Theorie und experimentell erzeugte Daten aus der Praxis kollidierten miteinander. Die vom psychotomimetischen Diskurs aus organisierte Ordnung des Wissens verlangte eine Korrektur. Die Frage, die das Forschungsfeld maßgeblich neu gestaltete, war, wie gerade die Unterschiede in der Reaktion der Versuchspersonen bei gleicher 28 Vgl. Steven Novak: »LSD before Leary. Sidney Cohen’s Critique of 1950s Psychedelic Drug Research«, in: Isis 88 (1997), S. 87-110, hier S. 98. 29 B. Eisner: The Influence of LSD, S. 141. 30 Zum Begriffspaar epistemisches Ding und technologisches Objekt vgl. H.-J. Rheinberger: Experiment. Differenz. Schrift; ders.: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. 31 Vgl. A. Hofmann: LSD – Mein Sorgenkind, S. 40. 32 Vgl. O. Janiger: The Use of Hallucinogenic Agents, S. 258.
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Droge und Dosis zu bewerten seien. »Individual reactions to mescaline and [LSD] have been our principal concern during the past several years«,33 berichtet beispielsweise Eisner im Jahre 1961 auf einer Versammlung der Royal Medico-Psychological Association in London. Als brztin am neuropsychiatrischen Krankenhaus in Los Angeles hatte sie 1957 gemeinsam mit Sidney Cohen und in Anlehnung an Janiger psychotrope Substanzen zu ihren Forschungsgegenständen und -instrumenten gemacht. Sie benutzte sie jedoch nicht als Pharmaka, die per se über heilende Wirkung verfügten. Sondern sie suchte nach Möglichkeiten ihrer Integration als Behelfs- und Ergänzungsmittel bei Therapien leichter Persönlichkeitsstörungen (wie Alkoholismus), die sie – in Anlehnung an Freud – durch traumatische, tief im Unbewussten unterirdisch vergrabene Erfahrungen verursacht sah. An einem Los Angeles beinahe gegenüberliegenden Punkt der Erdkugel, am psychiatrischen Universitätskrankenhaus in Prag, sammelte Grof zur selben Zeit wie Eisner detaillierte Aufzeichnungen aus vielen Hunderten LSDSitzungen.34 Er hatte LSD über Georg Rubíþek 1955 kennengelernt und 1956 unter dessen Beobachtung seine erste eigene LSD-Sitzung absolviert. Nach mehreren Jahren der Forschung mit Patienten und Versuchspersonen, die alle »genügend Mut und Vertrauen [aufbrachten], um wiederholt Reisen in das Unbekannte zu unternehmen« und ihre »Erfahrungen aus dem faszinierenden Grenzlande« mitzuteilen, war auch ihm immer stärker aufgefallen, dass die drogistischen Reaktionen kein gleichförmiges Muster ergaben.35 Die Diversität der individuellen Resonanzen und der Variantenreichtum der LSD-Erfahrungen wie auch der Grad der Empfindlichkeit oder Resistenz standen, so Grof, nicht in Abhängigkeit zu »Variablen konstitutioneller, biologischer oder stoffwechselbedingter Natur«.36 Dies führte ihn zu dem Schluss, dass jenes Muster nicht in der Droge, sondern in der Psychostruktur der jeweiligen Probanden zu suchen sei. Auf diese Weise ließen sich die vielen Unterschiede erklären – und zwar als Widerspiegelungen grundlegender Persönlichkeitsmerkmale.37 Demnach drücke der Inhalt der drogistischen Sitzung »in verdichteter, symbolischer Dramatisierung«38 psychophysiologische, emotionale, intellektuelle, weltanschauliche und spirituelle Probleme aus. LSD bewirke »nicht eine unspezifische ›toxische Psychose‹«, sondern sei vielmehr »ein
33 Betty Eisner: »Observations on Possible Order within the Unconscious«, in: P.B. Bradley/P. Denker/C. Radouco-Thomas (Hg.), Neuro-Psychopharmacology, Amsterdam, New York: Elsevier 1959, S. 438-441, hier S. 438f. 34 Vgl. S. Grof: Topographie, S. 11. 35 Vgl. ebd., S. 21, 37. 36 Ebd., S. 49. 37 Vgl. ebd., S. 37. 38 Ebd., S. 237.
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mächtiger Katalysator der psychischen Prozesse, die das unbewußte Material aus verschiedenen Tiefenschichten der Persönlichkeit aktivieren«.39 Stehen Wissen und seine Artikulation, also Begriffsarbeit, Namensgebung und Erkenntnisproduktion in engem und sich wechselseitig konstituierendem Zusammenhang, schlugen sich derartige Folgerungen in neuen Bezeichnungen und Klassifizierungen der verwendeten Drogen nieder. 1957 führte Humphry Osmond den Terminus »Psychedelika« ein. Ihm schien die Bezeichnung »psychotomimetisch« zu eng gefasst und mit pathologischen Assoziationen zu stark kontaminiert. Auf einem Treffen der New Yorker Academy of Sciences erläuterte er seinen neutraleren Begriff: Drogen wie Meskalin oder LSD seien – abgeleitet von den griechischen Worten ȥȣȤȒ (psyché) und įȒȜȠȢ (délos) – mind manifesting, das Bewusstsein offenbarende, aufschließende und enthüllende Substanzen. »Drogen dieser Kategorie«, kommentiert Mark Butler Osmonds Neologismus, »produzieren keinen vorhersagbaren Ablauf von Ereignissen, sondern bringen zum Vorschein, was im Unbewußten latent vorhanden ist«.40 Ronald Sandison, ein Psychotherapeut und Anhänger C.G. Jungs, hatte im Jahre 1952 von einem Besuch der Sandoz-Laboratorien 100 Ampullen LSD nach England mitgebracht. Er wiederum lancierte den Terminus psycholytisch, den erstmals Hanscarl Leuner erwogen hatte: »[The] total experience of the unconscious, brought about the power of LSD to loosen the psyche, has led to a feeling that the hallucinogenic drugs should be renamed the psycholytic drugs.«41 Im Unterschied zur Figur der psychedelischen Droge, artikuliert der Begriff »psycholytisch« – mit seiner Wortwurzel ȜȪıİȚȞ (-lysein) – die Freisetzung unbewussten Materials und die Idee eines Entbindungsvorganges psychischer Spannungen und der Auflösung seelischer Konflikte. Bemerkenswert sind diese figurativen Wendungen insofern, als sich an ihnen eine Fokusverschiebung ablesen lässt. Die beobachteten Wirkungsweisen und Reaktionen nämlich werden nicht an die eingesetzten Psychotropika, sondern an die jeweilige psychische Disposition der Probanden zurückgebunden. Das subjektive Selbst gerät noch mehr in den Blick. Die Typologie eines durch eine bestimmte psychotrope Substanz verursachten Rauschzustandes, der strukturell dem pathologischen gleichgesetzt wird, verliert epistemische Anziehungskraft. Stattdessen sind die Überlegungen einer phänomenologischen Beschreibung des Bewusstseins gewidmet – zunächst des einzelnen, 39 Ebd., S. 39f. 40 Mark Butler: »LSD’s Trip«, in: furthur. Aspekte der Bewegungslehre 1 (2003), S. 20-30, hier S. 24. 41 Ronald Sandison: »Certainity and Uncertainity in the LSD-Treatment of Psychoneurosis«, in: Hallucinogenic Drugs and their Psychotherapeutic Use, London: H.K. Lewis 1963, S. 33-36, hier S. 34. Vgl. auch Betty Eisner: »Set, Setting, and Matrix«, in: Journal of Psychoactive Drugs 29 (1997), S. 213-216, hier S. 213.
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dann des menschlichen generell. Über den erkenntnistheoretischen Zwischenschritt der individuellen Reaktion, die auf eine einzigartige Persönlichkeitsstruktur verweist, gelangen die Forscher zu grundsätzlichen Mutmaßungen über Kräftespiel und Struktur des Bewusstseins im Allgemeinen. So betont Eisner: »Probably the most fascinating aspect of close association with psycholytic drugs, and particularly LSD, is the almost miraculous way in which human dynamics are laid bare and levels of consciousness become available to scrutiny.«42 Jetzt erst werden die LSD-Sitzungen explizit zu Reisen in ein bislang hermetisch abgeriegelt scheinendes Unbewusstes. Mit dieser Substanz könnten, so etwa Sandison, »the mind’s natural barriers between the external ego and the unconscious«,43 niedergerissen und tiefere Areale des Unbewussten begeh- und erfahrbar werden.44 Grof zufolge könne sich die Droge sogar als die von Freud gesuchte via regia erweisen und jedem Individuum Einblicke in das eigene Unbewusste ermöglichen.45 Sie dient dann der »Sichtbarmachung entlegener Bewußtseinsstrukturen, die das Erlebnis des Rausches zu einer Begegnung mit den Geheimnissen [des] eigenen Ich werden läßt«.46 Dabei verweist die neue Terminologie darauf, dass dieses Ich, mit dem es im Rausch zur Konfrontation kommt, nicht notwendigerweise ›krank‹ sein muss – auch wenn das Wissen in der klinischen Praxis zu therapeutischen Zwecken genutzt wird. Aber durch die »Verschiebung eines Elements – von einem o zu einem e – ist aus psychodelisch (psychotomimetisch) psychedelisch geworden.«47 Die Idee der Modell-Psychose weicht der eines Modells der Psyche. Das Erkenntnisinteresse gilt von nun an einer Strukturanalyse des Unbewussten und seinen Dynamiken, die sich universalisieren und auf weit mehr als nur einen bestimmten Probanden ausdehnen lässt. »A number of interesting and infinitely varied phenomena have been observed with such frequency that one might wonder if there were a systematic structure in the unconscious beyond that previously hypothesized. A certain consistency was observed sufficiently to warrant closer scrutiny«48 – lautet entsprechend das Fazit eines ›Reiseberichts‹ Eisners aus dem Jahre 1959. Zwei Jahre später präsentiert sie in London ihre Vermutungen über den Einfluss von LSD auf 42 B. Eisner: The Influence of LSD, S. 141. 43 R. Sandison: Certainity and Uncertainity, S. 34. 44 Vgl. Sidney Cohen/Betty Eisner: »Psychotherapy with Lysergic Acid Diethylamide«, in: Journal of Nervous and Mental Disease 127 (1958), S. 528-539, hier S. 530. 45 Vgl. S. Grof: Topographie, S. 238. 46 Alexander Kupfer: Die künstlichen Paradiese. Rausch und Realität seit der Romantik, Stuttgart: Metzler 1996, S. 11. Kupfer erarbeitet dieses individualistische Interesse als eine moderne Entwicklung, die ihren Ausgang in der subjektivistischen Wende der Romantik genommen hat. 47 M. Butler: LSD’s Trip, S. 24. 48 B. Eisner: Observations on Possible Order, S. 438f.
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die unbewusste Aktivität und hebt auch dort hervor: »Our observations indicate an enormous order in the unconscious and its multifaceted levels; these levels seem to be available in what appears an orderly fashion.«49
K a r t e n u n d To p o g r a p h i e n d e s U n b ew u s s t e n Drogen wirken sich nicht nur auf die Psyche, sondern auch auf die Theoriebildung tropisch aus. Insofern im Zusammenhang mit PsychotropikaVersuchen Modelle der menschlichen Psyche und Theorien einer dem Unbewussten inhärenten Ordnung entwickelt werden, sind sie epistemologische tools von erheblichem Gewicht.50 Den berauschten und den Rausch beobachtenden Forschungsreisenden geben sich Territorien des Unbewussten zu erkennen, deren Aufbau, Zusammensetzung und Beschaffenheit sie erkunden, um universale Regeln ableiten und eine allgemeine Beschreibung ihrer Eigenschaften und Wirkprinzipien anfertigen zu können. Das, was sie vor- bzw. erfinden, artikuliert sich vorwiegend in geographischen und geologischen Figuren. So könne man, schreibt Grof, die langsam fortschreitende Erschließung mehrerer Ebenen des Unbewussten mit dem Vorgang der Chemoexkavation – der Ausschachtung – vergleichen, »einer skrupulösen archäologischen Arbeit, bei der nacheinander Schicht um Schicht freigelegt und die Wechselbeziehungen der verschiedenen Schichten studiert werden«.51 bhnlich konstatiert Eisner, Freud sei – auch wenn seine Annahmen modifiziert werden könnten – als »cartographer of the personal unconscious«52 unumstritten. Und sie trägt sogleich in seine Karte neue Gebiete ein: »We have, for the sake of communication, and with temerity and perhaps some levity, assigned names to some of the most frequently-appearing places: Cosmic Rejection or Limbo; Chaos; the Black or Schizophrenic Belt; the Desert; the Ice Country. In addition to these are the two which have occupied man's attention since the birth of self consciousness: Heaven and Hell.«53
In Eisners Entwurf teilt sich das Unbewusste in drei main areas oder levels, wobei deren drogistischer Durchgang fließend ist und nicht schrittweise erfolgen kann. Ein Ring symbolisch eingekleideten Affekts hält sie zusammen.
49 B. Eisner: The Influence of LSD, S. 141. 50 Grof setzt ihre Bedeutung mit der des Mikroskops oder des Fernrohrs gleich, da mit ihnen sonst unsichtbare Phänomene ans Licht gebracht und der wissenschaftlichen Untersuchung zugänglich gemacht werden könnten. Vgl. S. Grof: Topographie, S. 53. 51 S. Grof: LSD-Therapie, S. 154. 52 B. Eisner: The Influence of LSD, S. 142. 53 Ebd., S. 141.
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Eisner erwägt, ein Aspekt der Ebenen sei eine Matrix, »consisting of the symbolic, the irrational, and the primitive. From this area materialize the strange apparitions which come to us via dreams, myths, fairy tales, and painters such as Hieronymus Bosch«.54 Sie vergleicht sie mit Jungs »archetypischen Urbildern« sowie mit einer von Freuds Funktionsweisen des psychischen Apparats, die der Traum besonders deutlich macht: mit dem »Primärvorgang«, der topisch gesehen das System »Unbewusst« kennzeichnet.55 Die erste Ebene des mittels Psychotropika gangbaren Unbewussten umfasst nun die individuelle Lebensgeschichte und -situation.56 Entferntliegende Ereignisse werden unmittelbar und wiedererlebbar, jedoch nicht in chronologischer Folge. Besonders schmerzhafte Erinnerungen, die inmitten von Bildern mit hoher emotionaler Ladung eingekreist liegen, sind die Orientierungs- und Anziehungspunkte der mentalen Bewegungsmanöver. Nach und nach werden verdrängte Bewusstseinsinhalte aufgedeckt, abreagiert und an die Oberfläche gebracht. Die zweite Ebene wiederum hat eine solche Ausdehnung, dass sie die Welt inkludiert: »Here individuals visit countries such as Egypt, Palestine, Aztec Mexico.«57 Nicht an eine spezifische Zeit oder Kultur gebunden, werden Probleme auf dieser Ebene, vergleichbar mit Jungs kollektivem Unbewussten, als universelle erfahren. Die dritte Ebene schließlich nennt Eisner die kosmische: »Here the opposites are transcended; here the individual may come to an extraordinary experience of order, truth, beauty, love or any combination of these; here he is able to accept himself without condition«.58 Auch Grofs Topographie des Unbewussten, die, wie er sagt, nach Abstreifen der Zwangsjacken alter theoretischer Bezugssysteme hervorgegangen sei, zeichnet sich im Wesentlichen durch die Hinzufügung von Erfahrungsebenen und -typen aus, die entsprechende Bereiche des Unbewussten abgrenzen. Auf der ersten, oberflächlichsten und am leichtesten zugänglichen Ebene kommt es zu abstrakten ästhetischen Erfahrungen, die vornehmlich eine veränderte sinnliche Wahrnehmung betreffen. Die drogistische Wanderung führt zur nächstgelegenen Schicht, die traumatische bzw. lustvolle Ereignisse aus verschiedenen Lebensperioden birgt und auf der psychodynamische Erfahrungen gemacht werden. Zutage treten sogenannte COEX-Systeme – Systeme kondensierten und verdichteten Erlebens –, die sich um Kernerfahrungen bilden, die wiederum jegliche neue Wahrnehmung und Erfahrung strukturieren und diktieren. Sie stellen »Prototypen, eine Matrix für die Aufzeichnung späterer
54 B. Eisner: Observations on Possible Order, S. 440. 55 Vgl. Jean Laplanche/Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973, S. 396f. 56 Vgl. B. Eisner: Observations on Possible Order, S. 439. 57 Ebd., S. 440. 58 Ebd.
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Ereignisse ähnlicher Art in den Gedächtnisbanken«59 dar und manifestieren sich auf der zweiten Schicht. Der Brennpunkt der dritten Schicht wiederum sind perinatale Erfahrungen, die in existenzieller Ausprägung durchlebt werden. Elemente dieser am offensichtlichsten mit dem Weiblichen in Verbindung gebrachten Schicht treten in typischen Grundmatrizes bzw. Erfahrungsmustern auf, die Grof mit den Phasen des Geburtsvorgangs parallelisiert: die intrauterine Existenz wird als kosmische Einheit, das Einsetzen des Geburtsvorgangs als universale Verschlingung, uterine Kontraktionen als höllischer Einschluss, das Vorangetriebenwerden durch den Geburtskanal als existenzieller Kampf und letztlich die Geburt als Tod und Wiedergeburt erfahren.60 Die Matrizen sind Organisationsprinzipien sowohl für die COEX-Systeme als auch für transpersonale Erfahrungen, die schließlich auf der vierten und letzten Schicht des Unbewussten liegen. Solche sind persönlichkeitsübergreifend und ereignen sich erst, nachdem das Material der psychodynamischen und perinatalen Ebene durchgearbeitet und integriert wurde. Insofern es auf dieser Schicht zu Präkognition, Hellsehen, zu Zeitreisen, Ich-Transzendenz und Identifikation mit anderen Personen, Pflanzen oder anorganischer Materie kommt, und mit transpersonalen embryonale und fötale, phylogenetische, kollektive oder rassische gemeint sind, übersteigen die Erfahrungen weit den Horizont der ›objektiven Realität‹. Das Bezugssystem beider Forscher sind Theorie, Methode und Begriffsregister der Psychoanalyse. Eisner übernimmt Elemente von Freud, Jung und Adler – deren Ansätze sie in ihrem Modell zu versöhnen sucht, denn sie seien »three men of gigantic, independent, but related insights and their theories should be fused«.61 Die Manifestationen der von Grof definierten letzten beiden tiefsten Schichten wiederum liegen zwar außerhalb der Reichweite freudianischer Grundkonzeptionen, seine psychodynamischen Erfahrungen aber stimmen weitgehend mit ihnen überein. Und es heißt, auf der zweiten Ebene könne man sich mit psychischen Problemen wie dem Ödipus- und Elektrakomplex, der Kastrationsangst oder dem Penisneid auseinandersetzen, sie durcharbeiten und auflösen.62 In gewisser Weise kommt es sogar zu einem Selbstanschluss der klassischen Psychoanalyse an die psychiatrische Drogenforschung, im Zuge dessen sie schließlich ihren wissenschaftlichen Beleg ex post erhält. Die Beobachtungen aus den LSD-Sitzungen nämlich könnten Grof zufolge
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S. Grof: Topographie, S. 89. Vgl. ebd., S. 123. B. Eisner: The Influence of LSD, S. 142. Vgl. S. Grof: Topographie, S. 66f.
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»als Laboratoriumsbeweis der Grundprämissen Freuds betrachtet werden. Die psychosexuelle Dynamik und die fundamentalen Konflikte der menschlichen Psyche, wie sie Freud dargestellt hat, manifestieren sich in ungewohnter Klarheit […] selbst in Sitzungen naiver Versuchspersonen, die nie analysiert wurden, keine psychoanalytischen Bücher gelesen haben und auch sonst weder direkter noch indirekter Beeinflussung dieser Art ausgesetzt waren«.63
Das Unbewusste gibt sich Grof also autoexplikativ als das zu erkennen, als was es Freud entworfen hat. Und die Psychotropika verleihen seiner Theorie nachträglich Evidenz. Gleichzeitig mit der Berufung auf die Psychoanalyse geht mit der Drogenforschung aber auch ihre Umgestaltung einher. Eine markante bnderung ist die Addition von besagten Erfahrungstypen und zusätzlichen Schichten des Unbewussten. Zum zweiten suchen Forscher wie Eisner und Grof den therapeutischen Prozess erheblich abzukürzen und ihn chemisch zu beschleunigen: »where Freud had used talk therapy to explore the unconscious, other psychiatrists tried to enter [it] by injecting their patients with drugs«.64 Abgesehen von der Inanspruchnahme eines Hilfsmittels – wie sie die klassische Psychoanalyse in jeglicher Form ablehnt –,65 erhält das Freud’sche Modell mit diesem Schritt sein stoffliches Fundament. Da der drogistische Ansatz davon ausgeht, dass Prozesse im System des Unbewussten dynamisiert werden und verdrängte, immaterielle Bewusstseinsinhalte und -elemente durch die Zufuhr einer Substanz, die auf neuronale Hirnstrukturen wirkt, aus den Tiefen des Unbewussten schneller zu bergen wären, werden stoffliche und nicht-stoffliche Erklärungen psychischer Prozesse in einem Modell integriert. Psychische und physische Funktionen sind nach Grof beispielsweise chemisch gleichermaßen zu beeinflussen und die drogenunterstützte Therapie eine Technik, direkt auf die Tiefenschichten der Seele einzuwirken, sie zu verschieben, ihre Wechselbeziehungen zu modifizieren und damit die Persönlichkeitsstruktur zu verändern. Insofern schon für die Schizophrenie eine biochemische Ursache angenommen und auf psychische Störungen wie Zwangsneurosen stofflich geantwortet wurde, trägt die psychiatrische Drogenforschung, die selbst unbewusste Prozesse materiell fundiert, mit zur Entwicklung eines neurozentrischen Beschreibungssystems bei, das inzwischen bereits als Aufklärung 2.0 die naturalistische Rede über das Subjekt dominiert.66 Die drogistische Verlaufsmanipulation pathologischer Prozesse, die
63 Ebd., S. 66. 64 S. Novak: LSD before Leary, S. 95. 65 Grof und Eisner befürworten neben Drogen auch noch andere Hilfsmittel wie Musik oder Körperkontakt. 66 Vgl. zum Schlagwort Aufklärung 2.0, das Erkenntnisse über körperliche Grundlagen menschlichen Handelns und Denkens zusammenfasst, die zu einer Wende des Menschenbilds geführt haben: »Aufklärung 2.0. Ein Gespräch mit Thomas
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steuernde Intervention in psychische Dynamiken und die Restrukturierung des Unbewussten qua Stoff beginnen eine Praxis zu werden.
O r d n e n d e P s yc h o t r o p i k a Die Reise ist zentrale Erkenntnisfigur. Darüber hinaus bestimmt sie den Modus der Konfrontation mit den dunklen Bereichen, mit der terra incognita des Unbewussten als eine, in die ein Rückzug eingearbeitet ist. Psychotropika schicken auf eine Wanderung durch die Kellerräume und Schächte des Unbewussten, in denen aber nicht für immer verharrt werden darf. Die Versuchspersonen – die Forscher selbst, ihre Patienten und all die Freiwilligen – begeben sich nur für die begrenzte Zeit des Rausches in eine weiblich codierte Welt des chaotischen Fließens, des Formverlusts und der Subjektauflösung. Und nur kurzfristig ist der Ausflug in eine Welt gedacht, in der die biologische Ordnung der Geschlechter und deren Gesetzmäßigkeiten zur Aufhebung kommen. »Ich hatte das sehr intensive Gefühl«, berichtet etwa ein klinischer Psychologe und Therapeut über eine Lehrsitzung mit LSD, »daß ich mit einem der fundamentalsten kosmischen Prozesse Berührung hatte, daß aber da ein Problem bestand, weil ich ein Mann war, der niemals im biologischen Sinne gebären konnte, daß ich irgendwie den Zyklus unterbrach. Dann verschwand das, und ich erlebte einen alten femininen Archetypus in mir selbst, den der gebärenden Mutter«.67 Geschlechtliche Transformation oder absolute Geschlechtslosigkeit ebenso wie Depersonalisation und Lockerung der gewöhnlichen Ich-Grenzen, Aufgabe jeglicher kategorialen Zugehörigkeit, Deterritorialisierung, Multidimensionalität, Transzendenz von zeitlicher Ordnung, Regression in frühkindliche Stadien bis hin in den Mutterschoß, in lebensgeschichtliche Phasen vor der Individuation, embryonale Ureinheit, mütterliche Synergie und Symbiose, Derealisation, planetarisches Bewusstseinsempfinden, Heiligkeit, Aggression, Todeskampf, Himmel wie auch Hölle, vorsymbolische Präsenz, Außersprachlichkeit, Identifikation oder Verschmelzen mit Pflanzen und Tieren, primitive und archaische Erfahrungsformen, Märchenhaftigkeit, Begegnungen mit spiri-
Metzinger«, in: heureka! 4 (2008), S. 22-23. Gegenwärtig versucht z.B. Mark Solms Freuds Konzeptionen auf den Boden der Hirnforschung zu stellen, die Beschreibungssysteme von Psychoanalyse und kognitiven Neurowissenschaften miteinander zu verbinden und die Psyche als deren gemeinsamen Untersuchungsgegenstand zu beleuchten. Vgl. Mark Solms: »Totgesagte leben länger. Interview mit dem britischen Neuropsychologen über das Comeback der Psychoanalyse im Gewand der Hirnforschung«, in: Gehirn & Geist 1-2 (2006), S. 50-53. 67 Vgl. S. Grof: Topographie, S. 158. Der Bericht wurde von Grof anonymisiert und ist Teil des Materials, auf dem seine Topographie des Unbewussten basiert.
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tuellen Wesenheiten sowie Bewohnern anderer Universen, Inkarnation, vordiskursives Einssein mit der Natur oder mystische Erleuchtung ... – all das soll zwar erlebt werden, verstetigen sollen sich diese Zustände jedoch keinesfalls. Der psychotropische hat ein temporärer Sonderfall zu bleiben.
Abb. 2: Tiefe Regression, die Unlust beim Stillen und die »schlechte Mutter« – Zeichnung aus einer psychodynamischen Sitzung mit LSD. Aus: S. Grof, Topographie des Unbewußten, S. 83.68 Das Narrativ der Reise garantiert, dass dem Imperativ zur Rückfahrt in den ›Normalzustand‹ gefolgt und die ›andere‹ Welt auch wieder verlassen wird. Viel Mühe wird darauf verwendet, Kontroll- und Hilfstechniken zu entwickeln, um die Psychodynamiken steuern und aus dem drogeninduzierten Ausnahmezustand wieder austreten zu können. Die Gestaltung des settings beispielsweise und intensive Vor- und Nachbereitung der trips unterstützen nicht nur die Freisetzung und Manifestation möglichst viel unbewussten Materials, sondern beugen ebenso den sogenannten flashbacks und dem ›Hängenbleiben‹ vor. Ausgewiesen durch Eigenerfahrung, sollen Therapeuten und andere kundige Reiseführer die Wanderung in die entlegenen Bereiche des Unbewussten begleiten, anleiten und kontrollieren. Als Hüter der symbolischen Ordnung tragen sie nämlich die Verantwortung, den Weg aus dem Chaos zu weisen und die sich willkürlich ausbreitenden angst- und abscheubesetzten, die schmerz- wie auch genuss- oder lustvollen Psychodynamiken nicht Überhand nehmen zu lassen, sie zu kanalisieren und zu organisieren. Sie sind es, die mit den Reisenden das aus dem Wissensspeicher des Unbewussten geho68 Grof interpretiert das Bild folgendermaßen: »Eine tiefe Regression in die frühe Kindheit, mit dem Wiedererleben von Bedrängnis und Unlusterfahrungen beim Stillen. Ein symbolisches Bild der ›schlechten Mutter‹.« (S. Grof: Topographie des Unbewußten, S. 83)
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bene Material interpretieren und die »kunstvolle Struktur und Symbolsprache«69 der drogistischen Erscheinungen so entziffern, wie es Freud mit den Träumen getan hat, um sie schließlich in Selbstkenntnis zu übersetzen. Auf dem Feld des Unbewussten soll man sich nicht verlieren, sondern zu sich selbst zurückfinden – geheilt oder aber um eine essentielle Erfahrung reicher. Das Narrativ der Reise markiert neben dem Ziel den Ausgangspunkt und den Ort der Rückkehr: das Hofmann’sche Alltagsbewusstsein und normale Weltbild – oder aber die szientifisch legitimierte Ordnung des Wissens.70 Indem das psychotropische Denken als alogisches und vorsymbolisches, frei assoziierendes und traumhaft bildliches beschrieben und die Ordnung des Rausches als fremde, unkalkulierbaren Dynamiken unterliegende charakterisiert wird, stabilisiert sich der Raum der Nüchternheit als ihr Gegenteil: als eigene, gesunde, männlich codierte, der Logik der Ratio folgende Ordnung, als ›Normalzustand‹. Experimentell induzierte Störung und Regelbruch dienen seiner Reinstallation. Auch wenn die das Unbewusste überhöhende Maxime »Life – or the deep unconscious – knows better than we do«71 im Umlauf bleibt, muss dieses Wissen in eine objektive, systematische und vermeintlich stabile Ordnung des Wissens transformier- und integrierbar sein. Die Rede von der Reise ist somit auch eine Operation der Grenzziehung zwischen diesen beiden Ordnungen und sie sichert ihre Differenz. Den trip zu einem sinnvollen Erlebnis zu machen, wird letztlich nur denjenigen Psychonauten zugetraut, die diese Grenze kennen und anerkennen.
69 Vgl. S. Grof: Topographie, S. 40, 65, 238. 70 Aufgrund der Ununterscheidbarkeit von ›wissenschaftlichem‹ und ›nichtwissenschaftlichem‹ Gebrauch wurden Studien und Projekte mit LSD verboten; die Sandoz AG stellte ihre LSD- und Psilocybin-Lieferungen 1966 ein. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass LSD gerade über etablierte Universitäten wie Harvard, das MIT oder Stanford in die Subkultur einwanderte und zu seiner massenhaften Verbreitung führte, die schließlich das Aus für die gesamte institutionelle LSD-Forschung bedeutete. 71 B. Eisner: Set, Setting, and Matrix, S. 214.
Das Unbewusste der Wissensordnung
Das Gesc hlecht des Unbew uss te n in der Wissensordnung CHRISTINA VON BRAUN
Als Anfang des 20. Jahrhunderts Preußen die Tore der alma mater für Frauen öffnete, war dieser Entscheidung eine heftige Debatte in der Wissenschaftswelt vorausgegangen. Nahezu jeder äußerte sich zu diesem ›gefährlichen Experiment‹, darunter auch die angesehensten Wissenschaftler ihrer Zeit. Die wenigsten sahen einen Vorteil in der Neuerung. Eine der wenigen Ausnahmen bildete der Theologe (!) Hermann von Soden: Wenn die angebliche »Hauptaufgabe der Frau« so wenig tief in ihrer Natur begründet sei, so schrieb er, »daß sie durch wissenschaftliches Studium und öffentliche Berufsthätigkeit den Sinn dafür verlieren könnte, so wäre es nur doppelt eine Gewalttätigkeit, wollte man sie auf die Aufgabe beschränken«.1 Die meisten anderen betrachteten das Frauenstudium als schlicht ›widernatürlich‹. Ihre Aussagen sind festgehalten in dem berühmten Kompendium von Arthur Kirchoff »Die Akademische Frau«.2 Heute besteht – in Berlin wie anderswo – die Hälfte aller Studierenden aus Frauen. Die akademische Frau ist keine Ausnahme mehr: in den praktizierenden Berufen der brztinnen und Richterinnen sowieso nicht. Aber auch in der Forschung selbst gibt es zunehmend Frauen, wenn sie sich auch weiterhin erstaunlicher Vorurteile erwehren müssen. Warum rief und ruft die akademische Tätigkeit von Frauen einen solchen Widerstand hervor, dass die Natur selbst als Argument ins Spiel gebracht werden muss? Die erste Antwort lautet, dass eine akademische – und finanziell unabhängige – Frau nicht mehr in demselben Maße für Aufgaben der Sozialfürsorge zur Verfügung steht, die die Gemeinschaft ihr zugewiesen hat. 1
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Prof. Dr. theol. Freiherr von Soden, in: Arthur Kirchhoff (Hg.), Die Akademische Frau. Gutachten hervorragender Universitätsprofessoren, Frauenlehrer und Schriftsteller über die Befähigung der Frau zum wissenschaftlichen Studium und Berufe, Berlin: Hugo Steinitz Verlag 1897, S. 13. Vgl. ebd.
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Aber es gibt auch einen Grund, der mit der Wissensordnung selbst zusammenhängt: Die Argumente der Gegner des Frauenstudiums bezogen sich zwar immer auf die Schäden, die der weibliche Körper nehmen könne. Gemeint war aber eigentlich der Schaden, den die Wissenschaft erleiden würde. Auf die Vorstellung einer ›Verunreinigung‹ der Wissenschaft durch Frauen stößt man auch heute noch häufig, obgleich niemand mehr ernsthaft an deren wissenschaftlichen Qualifikation noch an der Vereinbarkeit der Forschung mit der weiblichen ›Natur‹ zweifelt. Dennoch bleibt – unterschwellig, unausgesprochen – noch immer ein haut goût. Solche Erfahrungen macht fast jede Akademikerin während ihrer Laufbahn, vor allem dann, wenn sie gleichzeitig der Frage nachzugehen versucht, warum Frauen eigentlich so lange aus der Akademie ausgeschlossen blieben. Diese Frage bleibt auch hundert Jahre nach dem Beginn des Frauenstudiums aktuell. Sie lautet: Was zeichnet eine Wissensordnung aus, in der die ›Natur‹ der Frau als unvereinbar mit der ›Natur‹ der Wissenschaft gilt?
Der Männliche und der weibliche Geist b e i W i l h e l m v o n H u m b o l dt Eine mögliche Antwort auf diese Frage ergibt sich bei einer genaueren Betrachtung der Überlegungen des Mannes, der den Grundstein für die Universitätsstruktur der Moderne legte: Wilhelm von Humboldt, der im Jahr 1810 – also ziemlich genau hundert Jahre vor dem Beginn des Frauenstudiums in Preußen – das Modell der Berliner Universität schuf, nach dem auch zahlreiche andere Universitäten in Deutschland, Europa und den USA eingerichtet wurden. Humboldt machte sich nicht nur Gedanken über die modernen Bildungs- und Forschungsreinrichtungen, sondern auch über das Verhältnis der Geschlechter. Seine Gedanken zur Wissensordnung wie zur Geschlechterordnung werden selten miteinander in Verbindung gebracht. Doch bei näherem Hinsehen erkennt man, dass die Geschlechterfrage einen integralen Bestandteil von Humboldts akademischem Entwurf darstellt. Jede Zeugung, so schrieb Humboldt, ist »eine Verbindung zweier verschiedener ungleichartiger Principien, die man, da die einen mehr thätig, die anderen mehr leidend sind, die zeugenden […] und die empfangenden nennt.«3 Diesem Prinzip sei nicht nur die »Fortdauer der Gattungen in der Körperwelt anvertraut« worden, es gelte auch für alle kulturellen Schöpfungen. »Auch die reinste und geistigste Empfindung geht auf demselben Wege
3
Wilhelm von Humboldt: »Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur«, zuerst erschienen in Schillers Horen 2 (1795), S. 99132, in: ders., Werke, hg. von Albert Leitzmann, Bd. 1 (1785-1795), Berlin: B. Behr’s Verlag 1903, S. 311-334, hier S. 316.
DAS GESCHLECHT DES UNBEWUSSTEN IN DER WISSENSORDNUNG | 121
hervor, und selbst der Gedanke, dieser feinste und letzte Sprössling der Sinnlichkeit, verläugnet diesen Ursprung nicht.«4 Humboldt verstand, entsprechend Jahrhunderte langen Traditionen, unter dem zeugenden Element das männliche, unter dem empfangenden das weibliche Prinzip. Das männliche Prinzip sei »mehr aufklärend«, das weibliche »mehr rührend«: »Das eine gewährt mehr Licht, das andere mehr Wärme.«5 Der elektrische Strom war noch nicht erfunden, aber die Aufklärung – das Zeitalter der Lumières – verkündete schon die neue Helligkeit: Man unterschied zwischen dem Dunkel der Vergangenheit, das die Theologie über das Wissen gelegt hatte, und dem neuen Licht, das das aufgeklärte Wissen versprach. Humboldt sexualisierte diesen Unterschied: Er nahm eine Aufspaltung der Wissensordnung in einen ›männlichen‹ und einen ›weiblichen‹ Geist vor: Wurde der erste dem Bewusstsein zugeordnet, so repräsentierte der zweite das Unbewusste: Das ›Dunkle‹, das ›Wärme‹ spendet, wurde mit Weiblichkeit gleichgesetzt und diente in dieser Abgrenzung wiederum der Definition des ›aufklärenden‹ Bewusstseins. Weil Humboldt seine schöne Dichotomie auch in der ›Natur‹, d.h. dem Körper der Geschlechter verankert wissen wollte, erkannte er sie im »Geschlechtsbau« wieder: Beim weiblichen Körper habe sich die Natur »mit unverkennbarer Sorgfalt alle Theile, die das Geschlecht, oder nicht bezeichnen, in Eine Form gegossen, und die Schönheit sogar davon abhängig gemacht«. Beim männlichen Körper hingegen habe sie sich »eine größere Sorglosigkeit erlaubt«; sie gestatte ihr »mehr Unabhängigkeit von dem, was nur dem Geschlecht angehört«, und sei zufrieden, diese »nur angedeutet zu haben«.6 Damit schuf Humboldt eine Definition von Weiblichkeit, die diese – wie das Unbewusste – dem Geschlecht zuordnet, während er andererseits eine Definition von ›Männlichkeit‹ lieferte, die soviel wie Körperlosigkeit besagt: »Wo die Männlichkeit herrscht, ist das Vermögen: Kraft des Lebens, bis zur Dürftigkeit von Stoff entblößt.«7 Mit seiner Beschreibung von Männlichkeit lieferte Humboldt nicht nur eine neue Definition von Bewusstsein, sondern auch eine ziemlich präzise Definition des idealen wissenschaftlichen Körpers, wie er gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Norm werden sollte: In der modernen Wissenschaft hat der Wissenschaftler, bevor er das Labor betritt, seine Befindlichkeiten, seinen Körper und seine Triebe an der Garderobe abzugeben. Vor allem sein Geschlecht muss er, wie Humboldt schreibt, »der Menschheit zum Opfer bringen«.8 Man könnte sagen, dass der moderne wissenschaftliche Körper in dieser Hinsicht die Erbschaft des zölibatären Mönchs angetreten hat – nur mit
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Ebd. Ebd., S. 327. Ebd., S. 342f. Ebd. Ebd., S. 344.
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dem kleinen Unterschied, dass der moderne Wissenschaftler immerhin am Ende des Tages das Kloster verlassen darf. Aussagen wie die von Humboldt über Weiblichkeit als Gefühl und Männlichkeit als Geistigkeit waren natürlich nicht neu. Neu war jedoch seine positive Bewertung des Gefühls und die Übertragung dieser Dichotomie auf die Wissensordnung. An sich scheut die Wissenschaft das Gefühl und das Unbewusste wie der Teufel das Weihwasser. Das galt schon immer, aber erst recht seit der Aufklärung – gerade weil diese mit dem Unbewussten zu liebäugeln begonnen hatte. Man übte sich im Gespräch mit den Toten und ließ die Tische rücken. Daran hatten auch die Humboldts ihren Anteil, wie Goethe im »Faust« ironisch mitteilt: In der Walpurgisnacht heißt es über die ›Geister‹, die noch immer ihr Unwesen treiben: »Ihr seid noch immer da! nein, das ist unerhört. / Verschwindet doch! Wir haben ja aufgeklärt! – / Das Teufelspack, es fragt nach keiner Regel. / Wir sind so klug, und dennoch spukts in Tegel.« (In Tegel befindet sich das Schloss der Humboldts.) Der Zeitgeist begeisterte sich für Hypnose und Magnetismus und verstand es sogar, das schöne theologische Konzept der Seele in die Psychologie zu überführen – mit dem Umweg über eine (weiblich gedachte) ›Schöne Seele‹. Indem das Unbewusste feminisiert wurde, ließ sich jedoch elegant zwischen Esoterik und Wissenschaft unterscheiden. Da den Frauen der Zugang zur Universität verwehrt war, bot es sich an, das, was die neue – helle – Wissenschaft verunreinigte, als ›weiblichen Geist‹ zu qualifizieren. So konnte man zwar weiterhin mit dem Unbewussten spielen und liebäugeln, aber es blieb außen vor den Toren der ›reinen Wissenschaft‹. Das Wort ›rein‹, ich erinnere, leitet sich ab von mhd. hreni: abgetrennt, gesiebt. Weil die Frauen in die akademische Hochburg nicht hineindurften, konnte man auf diese Weise das Wissenschaftssystem rein halten: rein von der Befleckung durch das Unbewusste. Dennoch war es aus der Wissensproduktion nicht ganz ausgeschlossen: Über die Konstellation des symbiotischen Paares – ein christliches Konzept, das um 1800 (also zur Zeit Humboldts) in die Idee der ›Liebesehe‹ überging – blieb es dem kanonischen Wissen erhalten und war jederzeit verfügbar. Auf der anderen Seite bedurfte die Wissenschaft aber auch des Unbewussten. Die Abspaltung des Unbewussten aus der kanonischen Wissensordnung barg ein großes Problem: Neue Fragen und Erkenntnisse kommen oft zufällig und ungewollt daher – so als hätten sie nur auf den Moment gewartet, wo der Wissenschaftler gerade nicht aufpasst. Ein Großteil wissenschaftlicher Entdeckungen – auch in den Naturwissenschaften – verdankt sich dem Zufall, der Eingebung, der Assoziation. Deshalb versuchte Freud hundert Jahre nach Humboldt, das Unbewusste zu einem legitimen Bestandteil der Wissenschaft zu machen. Er maß dem Unbewussten eine wichtige Funktion nicht nur für künstlerische Schöpfungen, sondern auch für »feine und schwierige intellek-
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tuelle Arbeit, die sonst angestrengtes Nachdenken erfordert«, bei.9 Freud wollte das Unbewusste in der Wissensordnung verankert sehen und forderte »die Berechtigung, ein unbewusstes Seelisches anzunehmen und mit dieser Annahme wissenschaftlich zu arbeiten«.10 Zu seiner Zeit stieß er mit dieser Forderung auf heftige Widerstände, doch auf lange Sicht setzten sich seine Vorstellungen durch. Die modernen Kognitionswissenschaften, die heute einen Teil von Freuds Annahmen über das Unbewusste – etwa die Verdrängung – in der Hirntätigkeit bestätigt finden, konstatieren, dass wir (in informationstechnischen Einheiten gerechnet) pro Sekunde 10 bis 40 bits verarbeiten können, während die unbewusst arbeitenden Sinnesorgane 10 bis 100 Millionen bewältigen. Es wird also auch ›wissenschaftlich‹ anerkannt, dass das Unbewusste ein wichtiger Motor bei der Entstehung neuen Wissens und insofern unverzichtbar für die Wissenschaft ist.
D i e pa r a d o x e R o l l e d e s U n b ew u s s t e n f ü r d i e W i s s e n s c h a ft Wenn die Wissenschaft dem Unbewussten aber so viele Anstöße verdankt – warum schreckt sie dann eigentlich davor zurück? Weil das Unbewusste, laut Freud, nicht den ›logischen‹ Denkgesetzen folgt: Weder stoße es sich am Widerspruch noch habe es ein Gespür für die Notwendigkeiten der Chronologie: »Die Vorgänge des Systems Ubw sind zeitlos, d.h. sie sind nicht zeitlich geordnet, werden durch die verlaufende Zeit nicht abgeändert, haben überhaupt keine Beziehung zur Zeit.«11 Auch »gelten die logischen Denkgesetze nicht, vor allem nicht der Satz des Widerspruchs. Gegensätzliche Regungen bestehen nebeneinander, ohne einander aufzuheben oder sich voneinander abzuziehen.«12 Diese Charakteristika des Unbewussten, so sagte er weiter, warten noch ihrer »Würdigung im philosophischen Denken«.13 Aus allen diesen Gründen versetze das Unbewusste den Wissenschaftler – und mit ihm die Wissensordnung – in die Situation, »nicht Herr im eigenen Haus« zu sein. Es ist also die Logik selbst, die diese paradoxe Situation hervorbringt, dass die Wissensordnung, obgleich sie auf das Unbewusste angewiesen ist, sich dieses zugleich vom Leibe halten muss. Auf die Frage, wie die moderne Wissens-
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Sigmund Freud: Das Ich und das Es, in: ders., Gesammelte Werke [im Folgenden GW] Bd. XIII, Frankfurt/Main: Fischer 2005, S. 237-289, hier S. 254. Kerstin Palm: Existenzweisen des Lebens. Fragmente einer Kulturgeschichte des biologischen Lebensbegriffs 1750-2000. Habilitationsschrift im Fach Kulturwissenschaft, Humboldt Universität zu Berlin (Typoskript), S. 193. Sigmund Freud: »Das Unbewusste«, in: ders., GW, Bd. 10, S. 286. Sigmund Freud: »Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, in: ders., GW Bd. XV, S. 80. Ebd.
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ordnung mit diesem double bind umgeht, wird gleich zurückzukommen sein. Zunächst sei jedoch konstatiert, dass es sich bei diesem seltsamen Verhältnis von Logik und Wissenschaft um ein Phänomen der westlichen Gesellschaft handelt. In seinem Buch »Gesellschaft als imaginäre Institution« beschreibt der französische Soziologe und Psychoanalytiker Cornelius Castoriadis die westliche Vorstellung von Wissen als Phantasma einer »Mathematisierbarkeit der Welt«. Der große Wissensschub der Neuzeit, so sagt er, stelle nicht eine Errungenschaft der Technik (etwa des Buchdrucks) dar, vielmehr sei das Phantasma dieser vorausgegangen: »Die aufeinanderfolgenden Umwälzungen, die sich im ›rationalen Wissen‹ aller bekannten Gesellschaften finden lassen, setzen stets einen grundlegenden Wandel des gesamten imaginären Weltbildes (und der Vorstellungen vom Wesen und Ziel des Wissens selbst) voraus. Die letzte dieser Umwälzungen, die vor einigen Jahrhunderten im Abendland stattfand, hat jene eigentümliche imaginäre Vorstellung geschaffen, derzufolge alles Seiende ›rational‹ (und insbesondere mathematisierbar) ist, nach der der Raum des möglichen Wissens von Rechts wegen vollständig ausgeschöpft werden kann und wonach das Ziel des Wissens in der Beherrschung und Aneignung der Natur liegt.«14 Die Logik der Wissensordnung besteht also darin, die physische Wirklichkeit in Zahlen zu erfassen, zu kartographieren und berechenbar zu machen. Diese Definition von Logik wurde bestimmend für das westliche Konzept von Wissenschaft, und sie geht zugleich konform mit unseren Vorstellungen von ›Bewusstsein‹: Was die Zahlen nicht erfassen können, wird dem Unbewussten zugeordnet. Dieses wird wiederum als ein ›Geheimnis‹ gedacht, das auf seine ›Ent-Schleierung‹ wartet. Denn auch Freud hatte mit seinem Kampf für die wissenschaftliche Anerkennung des Unbewussten kein anderes Anliegen als dies: das Unbewusste in die Region des Bewusstseins zu überführen, mithin erfass- und kartographierbar zu machen.
D i e w e s t l i c h e W i s s e n s o r d n u n g i m Ve r g l e i c h m i t d e r d e s O r i e n ts Dass es sich bei diesem Verhältnis von Logik und Wissenschaft nicht um ein universelles Phänomen, sondern um eine Erscheinung der westlichen Wissensordnung handelt, will ich durch einen kurzen Vergleich mit der Wissensordnung im Islam darstellen. In dem 1931 in Oxford publizierten Sammelband »The Legacy of Islam« heißt es in einem Kapitel über Astronomie und Mathematik: »Wir dürfen nicht erwarten, bei den Arabern demselben mächtigen Genie zu begegnen, derselben Begabung zur wissenschaftlichen Phanta14 Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 454.
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sie, demselben ›Enthusiasmus‹, derselben Originalität des Denkens wie bei den Griechen. Die Araber sind in erster Linie Schüler der Griechen, ihre Naturwissenschaft ist eine Fortsetzung der griechischen Naturwissenschaft.«15 Tatsache ist freilich, dass gerade die Mathematik im arabischen Raum hoch entwickelt war; das galt nicht nur für die Rechenkünste, sondern auch für die mathematische Reflexion, wie etwa an der Geschichte der Null zu erkennen ist. Sie war in Zentralindien entwickelt worden und wurde schon um 700 u.Z. von arabischen Kaufleuten. Die Null war sowohl den Römern als auch den Griechen unbekannt, und auch im christlichen Europa gab es – vor allem vonseiten der Kirche – bis ins 14. Jahrhundert erbitterten Widerstand gegen diese Zahl, die auf das Nichts und eine Abwesenheit von Zeichen verwies. »An jeder Stelle innerhalb einer hinduistischen Ziffer verkündet die Präsenz der Null eine bestimmte Abwesenheit, nämlich die Abwesenheit der Zeichen 1,2 … 9 an dieser Stelle. Die Null ist daher ein Zeichen über Zeichen, ein Metazeichen, dessen Bedeutung als Name in der Art und Weise begründet ist, wie es die Abwesenheit der Namen 1,2 … 9 anzeigt.«16
Islamische Herrscher gründeten im Laufe des 7. und 8. Jahrhunderts in den von ihnen eroberten Gebieten um das Mittelmeer (bgypten, Marokko, Tunesien, Spanien, Sizilien, Teile von Byzanz) sowie im mittleren und nahen Osten (Syrien, Mesopotamien, Persien, Indien) die ersten Schulen und Universitäten gründeten. Viele Jahrhunderte, bevor die ersten christlichen Universitäten entstanden, widmete man sich im Orient der Bewahrung, Rezeption und Erweiterung nicht nur griechischer und römischer, sondern auch ägyptischer, syrischer und persischer Wissensschätze, die im nördlichen Europa unter der Herrschaft der christlichen Kirche weitgehend dem ›Vergessen‹ anheim gefallen waren. Es gab eine hoch entwickelte Technik mit hydraulischen Systemen, es gab den beweglichen Kompass und eine genaue Kenntnis der Erdkugel. Während der Heilige Bernhard von Clairvaux seinen Klosterbrüdern in Malaria-Gebieten noch empfahl zu beten, statt sich mit Medikamenten zu versorgen, wurden im arabischen Raum schon komplizierte chirurgische Operationen durchgeführt. Man kannte das Nervensystem, und lange vor Harvey hatte der syrisch/persische Arzt, Rechtsgelehrte und Theologe Ibn al-Nafis den Blutkreislauf entdeckt. Durch Sektionen an menschlichen und tierischen Körpern bewies al-Nafis die Existenz des Lungenkreislaufs und widerlegte damit die bis dahin geltenden Theorien von Galen und Avicenna, die von ge-
15 Thomas Walker Arnold/Alfred Guillaume (Hg.): The Legacy of Islam, Oxford: Clarendon Press 1931. Zitiert nach: William Montgomery Watt, Der Einfluß des Islam auf das europäische Mittelalter, Berlin: Wagenbach, S. 49. 16 Brian Rotman: Die Null und das Nichts. Eine Semiotik des Nullpunkts, übersetzt von Petra Sonnenfeld, Berlin: Kadmos 2000, S. 38.
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trennten Arterien- und Venenkreisläufen ausgingen.17 (Man geht heute davon aus, dass Harvey die Erkenntnisse al-Nafis bekannt waren; sie waren schon 1547, also lange vor Harveys ›Entdeckung‹ ins Lateinische übersetzt worden.18) Der Hauptunterschied zwischen der islamischen und der westlichen Wissensordnung besteht im Verhältnis von Religion und Wissensproduktion. Unter muslimischer Herrschaft traten religiöse Glaubensgrundsätze und die rationale wissenschaftliche Erklärung der Welt nicht in Widerspruch zueinander, wie dies im christlichen Europa bis zum Beginn der Neuzeit der Fall war. Die im Orient praktizierte Wissenschaft sah sich nicht dem Beweis von Glaubensinhalten verpflichtet. Vielmehr suchte man – oft gemeinsam mit Andersgläubigen – nach rationalen Erklärungen für die beobachtbaren Phänomene der Umwelt, die empirisch erforscht wurden. Die christliche Wissensordnung hingegen forderte einen Zugriff auf eine (zu verändernde) Realität – und genau dieser Zugriff funktionierte nur über das Phantasma einer ›Mathematisierbarkeit der Welt‹, das schon lange vor der Renaissance angelegt war, vor allem in der Scholastik, die Glauben und Vernunft zu vereinbaren versuchte. Es heißt heute, der Okzident habe den Orient wissenschaftlich überflügelt, weil sich letzterer den technischen Neuerungen der Moderne – insbesondere Buchdruck und mechanischer Uhr – verweigert habe. Als Grund für diese Verweigerung wird die Macht der Religion im Islam angeführt: Sie sei ein Hindernis für den Fortschritt und Grund für die »Versiegelte Zeit«: So der Titel eines Buchs von Dan Diner zu diesem Thema.19 Gegen diese Erklärung lässt sich anführen, dass die wissenschaftlichen Errungenschaften des Islam in einer Hochzeit islamischer Gläubigkeit gemacht wurden. Vor allem ist aber einzuwenden, dass sich viele Innovationen der christlichen Gesellschaft keineswegs der Überwindung des sakralen Denkens verdankten, sondern gerade aus ihm hervorgingen. Das christliche Phantasma einer Unterwerfung der Natur unter das Gesetz der ›reinen Logik‹ schuf die Prämissen, auf denen die beachtliche Wissensproduktion der Neuzeit aufbaut. Der Buchdruck, Instrument schlechthin des wissenschaftlichen Aufbruchs in der Neuzeit, entstand, weil es ein theologisches Bedürfnis nach diesem Werkzeug gab: Gegen Ende des Mittelalters waren viele Klöster zu Vervielfältigungsanstalten für Handschriften geworden, und der Bedarf stieg ständig. Das, was wir heute als den Beginn der wissenschaftlichen Moderne betrachten, ist Produkt eines bestimmten religiösen Denkens – und dieses Denken war schon geprägt vom 16 Bernard Lewis: What Went Wrong? The Clash Between Islam and Modernity in the Middle East, New York: Harpercollins 2003, S.79. 17 Vgl. dazu ausführlicher Christina von Braun/Bettina Mathes: Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen, Berlin: Aufbau-Verlag 2007, S. 236f. 18 Dan Diner: Die versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt, Berlin: Propyläen-Verlag 2005.
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Trieb nach einer ›Mathematisierbarkeit der Welt‹, die die Welt den Gesetzen der Logik zu unterwerfen bemüht war. Ich möchte an zwei Beispielen – der Räderwerkuhr und den technischen Sehgeräten – den Einfluss der Theologie auf den westlichen Erfindungsgeist der Moderne darstellen. Das christliche Mittelalter hat bekanntlich nicht viele technische Innovationen hervorgebracht. Eine Ausnahme bilden der Kalender und die Räderwerkuhr, die beide mit dem Bedürfnis nach einer Einschreibung der Zahl in die Natur zu tun haben. Die Räderwerkuhr wurde zuerst in den Klöstern eingeführt, weil die Klosterordnung der Mönche mit ihren fünf oder sieben, auch nächtlichen Gebeten nach einer geregelten, ganzjährig konstant bleibenden Zeit verlangte.20 Von den Klöstern ausgehend, begann die mechanische Uhr das Dorfleben zu beherrschen; später wanderte sie in die Städte, dann in die einzelnen Wohnhäuser, bis sie sich schließlich, am Körper getragen, dem Zeitgefühl des Einzelnen einschrieb. »Diese Möglichkeit eines weitverbreiteten privaten Gebrauchs wurde zur Basis für Zeitdisziplin, im Gegensatz zu Zeitgehorsam. Man kann […] öffentliche Uhren benutzen, um Menschen für den einen oder anderen Zweck zusammenzurufen. Aber das ist keine Pünktlichkeit. Pünktlichkeit kommt von innen, nicht von außen. Die mechanische Uhr ermöglichte, wie man das auch immer beurteilen mag, eine Zivilisation, die sich der Vergänglichkeit der Zeit bewußt und damit auch produktiv und performativ war.«21
Durch immer kleiner werdende Uhren wurde die Synchronschaltung großer Bevölkerungsgruppen eingeleitet und entstanden neue, industrielle Arbeitsbedingungen.22 Ohne die Räderwerkuhr ist der Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts nicht vorstellbar, und Lewis Mumford hat deshalb zu Recht geschrieben, dass die Schlüsseltechnik des Industriezeitalters nicht die Dampfmaschine, sondern die Uhr war.23 Eben diese Einschreibung der Zahl in den Körper unterscheidet die westliche Wissensordnung von der Wissensordnung anderer Kulturen – und erprobt wurde dieses Instrument zunächst im Kloster mit seinem Ideal der Askese und industria, dem Fleiß. Wie sehr die westliche Wissensordnung ein Produkt christlicher Lehren ist, lässt sich auch am Beispiel der westlichen Erfindung der Sehtechniken zeigen, die für unser heutiges wissenschaftliches Denken von zentraler Bedeutung sind. Sowohl die jüdische als auch die islamische Religion gehen von einem verborgenen Gott aus, der nicht abgebildet werden darf – er bleibt mit19 David S. Landes: Revolution in Time. Clocks and the Making of the Modern World, Cambridge, London: Belknap Press 1983. 20 Ebd., S. 7. 21 Ebd., S. 69. 22 Lewis Mumford: Technics and Civilization, New York: Harcourt, Brace & Co. 1934.
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hin verschleiert. Der Gläubige kann nicht unmittelbar mit ihm in Kontakt treten. Moses wie Mohammed verschleiern sich das Haupt, bevor sie das Wort Gottes empfangen. Als Enthüllungsreligion folgt das Christentum einer anderen Logik. Das griechische Wort für Offenbarung heißt apokalypsis, wörtlich ›Entschleierung‹ und ist zusammengesetzt aus kalypta, was so viel wie ›schleierartiger Umhang‹ bedeutet, und dem Präfix apo (= weg, entfernt). Auch der lateinische Begriff revelatio versteht die Offenbarung als einen symbolischen Akt der Entschleierung (velum = Schleier, Vorhang). Der Gedanke der Entschleierung besagt, die Wahrheit Christi, d. h. das Geheimnis Gottes, unverhüllt sehen und begreifen zu können. Im Gegensatz zu den beiden anderen Religionen des Buches ist die christliche Religion eine Religion der Enthüllung. Dieser christliche Topos der revelatio – als Zugang zur Wahrheit und zum Geheimnis – sollte bestimmend werden für die westliche Wissenschaft: Auf der Suche nach der wissenschaftlichen ›Wahrheit‹ entwickelte das Abendland eine Fülle von Sehgeräten und Sehtechniken – Fernrohr, Mikroskop, camera obscura und später die Photographie –, die neue ›Ent-deckungen‹ ermöglichten, und diesen wurde erst dann wissenschaftlicher Wert und Wahrheitsgehalt beigemessen, wenn es gelang, sie sichtbar zu machen. Da viele Vorgänge – etwa in der Neurologie – nicht sichtbar sind, kamen schließlich die bildgebenden Verfahren dazu, die eine Sichtbarkeit vortäuschen, die das Geschehen eigentlich nicht hat.
Geschlecht und Wissensproduktion Dieser Topos der Sichtbarkeit führt uns zurück zur Geschlechterfrage und der Frage nach dem Grund für den Ausschluss von Frauen aus der akademischen Wissensproduktion. Dank der neuen Sehgeräte wurden unbekannte Welten penetriert und ›dunkle Kontinente‹ ans Licht gebracht: Unabhängig davon, ob es sich um den menschlichen Körper, die Natur oder um fremde Kontinente handelte, das Objekt des Wissens wurde zumeist als ein weiblicher Körper imaginiert, der durch die Wissenschaft ›defloriert‹ und enthüllt werden sollte. Solche Sexualphantasien hatten schon die Inquisition begleitet, als Askese durch Schaulust kompensiert wurde – und sie prägte nach der Renaissance das wissenschaftliche Denken. Carolyn Merchant hat dies am Beispiel von Francis Bacon gezeigt, dem Autor der Wissenschaftsutopie »Nova Atlantis«. In einer Schrift von 1623 schreibt er, es gelte, in die Natur mit den Mitteln der ›Inquisition‹ einzudringen und sie »zu verhören«.24 Der moderne Mensch dürfe vor diesen »verschlossenen Orten« nicht zurückschrecken.25 Eine »durch 23 Ebd. 24 Francis Bacon, zitiert nach Carolyn Merchant: Der Tod der Natur. Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft, München: Beck 1987, S. 179.
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die Kunst mechanischer Hilfsmittel gereizte und gefangene Natur« offenbare sich eher, »als wenn sie sich frey überlassen bleibt«.26 Unter der Folter wird nur eine Wahrheit zu Tage gefördert: die des Folterers – und Bacons ›Wahrheit‹ bestand eben nicht in den Gesetzen der Natur, sondern in deren ›Verbesserung‹. In »Nova Atlantis« hat er das deutlich gemacht. Was die wissenschaftliche Renaissance anstrebte, war eine Veränderung der Natur, und diese war nur möglich, wenn die Welt ›mathematisierbar‹ wurde. In Bacons Wissensordnung hatten die Geschlechterbilder die Funktion, einen dunklen Kontinent zu umreißen, den es zu durchdringen und zu ent-hüllen galt, und dieser Impetus sollte in den folgenden Jahrhunderten über die Wissensproduktion bestimmen. Man kann den spezifischen Wissensimpetus auch an der allmählichen Entkleidung des weiblichen Körpers im öffentlichen Raum verfolgen. Der Prozess beginnt in der Renaissance mit den Phantasien einer Penetration des weiblichen Körpers durch die Augen. Er setzt sich fort in den Anatomiedarstellungen des 17. und 18. Jahrhunderts und führt um 1800 zur Vorstellung einer freiwilligen ›Entschleierung‹ der Natur vor den Augen der Wissenschaft: In der Eingangshalle der Pariser Ecole de Médecine ist eine schöne Marmorstatue zu sehen: Sie zeigt eine Frau, die schamvoll ihre Brüste entblößt. Darunter steht: »La Nature se dévoile devant la science«.27 Solche Frauengestalten – wie auch die ›schönen weiblichen Leichen‹ aus anatomischen Darstellungen des 19. Jahrhunderts – werden zur Repräsentationsgestalt einer Unwissenheit, die zugleich hocherotisch besetzt wird: als Penetrationsangebot für die Augen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts – genauer: mit der Entstehung der Photographie – wird der Vorgang der Enthüllung nicht mehr allegorisch gedacht, sondern von der realen Entkleidung des weiblichen Körpers begleitet: Der Photoapparat (den bald jeder beherrschen konnte) repräsentiert den Blick, der nicht erwidert werden kann – und diesem Blick wird nicht nur penetrierende, sondern auch zeugende Macht zugewiesen. Im 20. Jahrhundert werden die technischen Sehgeräte mit dem Bikini und anderen Minimalkleidungsstücken, die mehr zeigen als verdecken, diese zeugende Macht der Sehgeräte unter Beweis stellen. Die Entkleidung des weiblichen Körpers wird von vielen Frauen als Zeichen weiblicher Emanzipation und Freiheit verstanden. Doch in Wirklichkeit dient die Ent-hüllung des weiblichen Körpers einer Inszenierung der Macht des Blicks und seines bewaffneten Auges. Die Phantasie der Ent-Schleierung birgt allerdings ein Problem für die Wissensordnung und Wissensproduktion: Sobald jeder dunkle Kontinent defloriert und ent-deckt ist, fehlt dem Forscherdrang ein geeignetes Objekt der
25 Ebd. 26 Vgl. Ludmilla Jordanova: Sexual Visions. Images of Gender in Science and Medicine between the Eighteenth and Twentieth Centuries, Madison, Wis.: University of Wisconsin Press 1989.
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Forschung. Die Wissensproduktion läuft Gefahr aufzuhören, weil es keine Geheimnisse mehr gibt, die auf ihre Enthüllung warten. Diese Gefahr musste abgewendet werden. Es lohnt sich, Freuds Theorien zur Weiblichkeit einmal unter der Perspektive des Bedürfnisses nach Verhüllung der Weiblichkeit zu lesen. Er schreibt: »Über das Rätsel der Weiblichkeit haben die Menschen zu allen Zeiten gegrübelt. [...] Auch Sie werden sich von diesem Grübeln nicht ausgeschlossen haben, insofern sie Männer sind; von den Frauen unter Ihnen erwartet man es nicht, sie sind selbst das Rätsel.«28 Da der weibliche Körper aber nur dann als Rätsel funktionieren kann, solange er unent-deckt bleibt, erfindet Freud die weiblichen Kulturtechniken der Scham: Das Liebesleben des Weibes, so Freud, sei »zum Teil infolge der Kulturverkümmerung, zum anderen Teil durch die konventionelle Verschwiegenheit und Unaufrichtigkeit der Frauen in ein noch undurchdringliches Dunkel gehüllt.«29 Grund für diese Scham, so Freud, sei die Kastration: »Der Scham, die als eine exquisit weibliche Eigenschaft gilt, aber weit mehr konventionell ist, als man denken sollte, schreiben wir die ursprüngliche Absicht zu, den Defekt des Genitals zu verdecken.« Deshalb hätten Frauen, die »zu den Techniken und Erfindungen der Kulturgeschichte wenig Beiträge geleistet haben«, vielleicht doch eine Technik erfunden: »die des Flechtens und Webens«.30 Freud verdeutlicht, dass mit dem »Defekt des Genitals« auch die geistige Kastration gemeint ist: Wo er geistiger Tätigkeit von Frauen begegnet, analysiert er diese als: »Wunsch, den ersehnten Penis endlich doch zu bekommen«.31 Humboldt hatte das Weibliche von der Aufklärung abgespalten, um das Unbewusste außerhalb der Ordnung zu halten und zugleich zu erhalten. Freud integriert das Unbewusste in die Wissensordnung, doch mit seinen Weiblichkeitstheorien sorgt er dafür, dass die Frauen selbst außen vor bleiben. Er spaltet die Frauen von der Erkenntnis ab. Auf diese Weise bleibt das ›Rätsel‹ bewahrt. Mit anderen Worten: Die westliche Wissensordnung bedarf sowohl der Enthüllung als auch der Verhüllung, um den Forscherdrang nach einer ›Mathematisierbarkeit der Welt‹ zu befriedigen – und für beides muss der weibliche Körper herhalten. (Man sieht, die verschleierte Muslima kommt für das Problem der modernen Wissensproduktion wie gerufen: Hätte es sie nicht schon gegeben, sie hätte erfunden werden müssen, damit dem westlichen Wissensdrang der Stoff nicht ausgeht).
27 Sigmund Freud: »Die Weiblichkeit«, in: GW Bd. XV, S. 119-145, hier S. 120. 28 Sigmund Freud: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, in: GW Bd. V, S. 27145, hier S. 50. 29 S. Freud: Die Weiblichkeit, S. 142. 30 Ebd., S. 134.
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D a s U n b ew u s s t e a l s M o t o r d e r W i s s e n s p r o d u k t i o n Die doppelte Funktionalisierung des weiblichen Körpers hängt damit zusammen, dass die westliche Wissensproduktion einerseits des Unbewussten bedarf, dieses andererseits aber auch ausschließen muss. Dieses Paradox ist zugleich auch einer der Motoren der westlichen Wissensproduktion. Jan Assmann charakterisiert den westlichen Kanon als einen ›hypoleptischen Diskurs‹ (von hypólepsis, griech. ›anknüpfend‹).32 Ein Text (oder eine Erkenntnis) schließt an einen vorangegangenen kanonischen Text an und erneuert oder ›aktualisiert‹ diesen durch einen neuen Kanon. An sich erhebt der Kanon, ein festgelegter Text mit Instanzcharakter, Anspruch auf Endgültigkeit und Universalität. Doch er kann sich weiterbewegen, indem jeder Kanon wiederum in Frage gestellt – wir würden heute sagen: ›dekonstruiert‹ – wird. So entsteht ein ›fließender‹ oder sich fortschreibender Kanon. Dazu bedarf es eines Vorgangs der ›kreativen Zerstörung‹: Der Begriff stammt vom Wirtschaftstheoretiker J.A. Schumpeter, der ihn wiederum von Nietzsche übernahm. Es bedarf eines ›Problems‹, einer Häresie, die laut Assmann wiederum eine »Kultur des Widerspruchs« hervorbringt.33 Anders ausgedrückt: Um sich zu etablieren, bedarf jede neue Norm zunächst einer Anomalie. Diese muss jedoch von der Wissenschaft hergestellt werden: als Anomalie oder ›Störung‹. Geht es beim Kanon »um Ordnung, Reinheit und Harmonie, um den Ausschluss von Zufall und unkontrollierter Abweichung«,34 so kann es ohne Abweichung notwendigerweise keinen Kanon geben. Das heißt, die Wissensproduktion muss selbst für das Unkontrollierte sorgen, damit sie weiter produktiv sein kann. So wie Reinheit nie positiv, sondern immer nur in Abgrenzung gegen das Unreine definiert werden kann, bedarf auch der Kanon einer Häresie, gegen die er sich abgrenzt. Die ›Mathematisierbarkeit der Welt‹ schreitet also nur voran, solange es Faktoren gibt, die nicht zu kartographieren sind. Historisch wurde dieses paradoxe Problem zumeist durch das hysterische Symptom gelöst. Die Hysterie ist das älteste und rätselhafteste Krankheitsbild der westlichen Medizin, das nicht nur die Medizin, sondern auch die Theologie, die Philosophie, die Literatur und Kunst – kurz die gesamte Wissenschaft interessierte. Ein solches interdisziplinäres Interesse ist selten und ein Hinweis darauf, dass mit diesem Krankheitsbild die Wissensordnung selbst gemeint war. Die Symptome der Hysterie – Lähmungen, Erblindungen, Sprachverlust – waren zahllos, und allen war gemeinsam, dass sie keine organische Ursache hatten und ebenso schlagartig auftauchen wie verschwinden konnten: ein geradezu programmatisches ›Rätsel‹ und zudem immer wieder erneuerbar.
31 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: Beck 1992, S. 282ff. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 109.
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Jedes Mal, wenn die westliche Gesellschaft vor einem Innovationsschub stand, schlugen die Erklärungsmuster für die Symptome des hysterischen Körpers eine neue Richtung ein, an deren Ende sich der nächste ›dunkle Kontinent‹ abzeichnete. Diese unerklärliche ›Frauenkrankheit‹ mit ihren Symptomen ohne organische Ursachen bildete die ideale Projektionsfläche, um neue Denkmuster und Kulturtechniken zu erproben. Doch um 1900 – und zwar zeitgleich mit dem ›gefährlichen Experiment‹ des Frauenstudiums – geschah etwas Unerwartetes: Das ›Rätsel‹ der Hysterie verschwand schlagartig aus den psychiatrischen Krankenhäusern der westlichen Welt. Niemand hatte für dieses Phänomen eine plausible Erklärung. Es liegt aus vielen Gründen nahe, eine Verbindung zwischen der Zulassung der Frauen zur Universität und der Entlassung der Hysterikerinnen aus den Krankenhäusern zu sehen. Der Beweis für einen direkten kausalen Zusammenhang mag schwer zu erbringen sein, doch dass die Gleichzeitigkeit der beiden Phänomene nicht zufällig ist, zeigen die Berichte von Patientinnen wie Anna O. Für diese ersten Patientinnen der Psychoanalyse war die Bildungsfrage zentral – und zugleich waren sie allesamt Hysterikerinnen, die der neuen Heilmethode und der kartographischen Vermessung des Unbewussten den Weg wiesen. Die Entstehung der Psychoanalyse, die im hysterischen Symptom eine ›Sprache‹ erkannte und diese Sprache in Worte und in das Bewusstsein zu überführen versuchte, verdankt sich den Hinweisen der Patientinnen, die mit ihren Symptomen ihren Körper ›sprechen‹ ließen. Freud hätte zwar gern das Unbewusste in die Wissensproduktion integriert, ohne die Frauen dabei zu haben. Aber eben das erwies sich als unmöglich. Wollte man das Unbewusste in die Wissenschaft integrieren, so blieb der Wissensordnung nichts anderes übrig als auch die Frauen aufzunehmen. Das war das Ende einer ›Reinheit‹ der Wissenschaft: Mit dem Frauenstudium wanderte auch das Unbewusste in die Universitäten ein. Der weibliche Körper als programmatisches ›Problem‹ bildete nicht mehr das Abgespaltene der Wissensordnung, sondern wurde zu einem integralen Bestandteil der Wissensproduktion. Genau das war es, was dieses ›Experiment‹ vor hundert Jahren so gefährlich erscheinen ließ.
D i e F o l g e n d e s › g e f ä h r l i c h e n E x p e r i m e n ts ‹ Was ist aus diesem Experiment geworden? Eine der Folgen ist zweifellos eine größere Selbstreflexion der Wissenschaft. Diese geht nicht nur von den Frauen aus, sondern hängt mit ihrer Präsenz zusammen sowie der Frage, die sich allen stellen muss, die Wissenschaft betreiben. Die Frage lautet: Auf welchen Prämissen basiert eine Wissensordnung, die sich solange kluger Köpfe erwehrt hat, nur weil sie auf einem Frauenkörper steckten? Die Geschlechterforschung selbst hat sich sehr bald dieser Frage zugewandt, die Wissenschaftstheorie und -geschichte wurde zu einem wichtigen Fokus der Gender
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Studies. Das hatte Rückwirkungen auf die Wissenschaftstheorie. Der Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn hat schon 1985 die »Gender and Science«Debatten als den wichtigsten Paradigmenwechsel in der modernen Wissenschaftstheorie bezeichnet.35 Eine weitere Folge der Einwanderung des Unbewussten in die Universität bestand in der Entstehung neuer Fächer wie der Kunstgeschichte oder der Soziologie. Vieler dieser neuen Fächer strebten zwar bald ihre Kanonisierung an, indem sie sich das Prinzip der ›Mathematisierbarkeit der Welt‹ zu Eigen machten – so ist etwa die Statistik zum Nadelöhr des Studiums der Soziologie geworden. Aber das ändert nichts daran, dass neue Fächer oft ihre Entstehung den Impulsen verdankten, die vom Unbewussten und der Beschäftigung mit dem Unbewussten ausgingen. In der Soziologie ist Georg Simmel dafür ein beredtes Beispiel. Die Selbstreflexion der Wissenschaft führte wiederum zu einem Wandel des Verhältnisses zwischen den verschiedenen Disziplinen: Die Grenzen begannen zu bröckeln, weil jede Reflexion über ein Fach zugleich den Blick auf die Strukturen und Kanones anderer Fächer verändert. Diese Reflexion erwies sich als produktiv für die Wissenschaft. Neue Forschung, so konstatiert Jürgen Mittelstraß in seinem Plädoyer für die Transdisziplinarität, findet nie im Zentrum der Disziplinen, immer nur am Rande statt.36 Dasselbe hat auch der französische Sozialwissenschaftler Pierre Bourdieu nachgewiesen. Frauen haben an solchen Entwicklungen wichtigen Anteil gehabt, egal ob sie ihre Rolle als Störfaktor freiwillig oder unfreiwillig gespielt haben. Die Geschlechterforschung als ›Reflexionsfach‹ hatte zur Folge, dass sich das Feld der Geschlechterforschung immer mehr erweiterte. Zunächst richtete die Frauenforschung ihren Blick auf die soziale und historische Rolle von Frauen, sie versuchte Namen vor dem Vergessen zu retten. Dann interessierte sie sich zunehmend für die symbolische Funktion von Weiblichkeit – etwa im Nationalismus, im Rassismus oder in der Memorialkultur. Aus diesem Interesse ging wiederum eine Forschung hervor, in der die symbolischen Rollen beider Geschlechter untersucht wurden, bevor sich – von den Gender Studies ausgehend – weitere Felder symbolischer Zuordnungen erschlossen: die Männerstudien, die queer studies, die Inter- und Transsexualitätsforschung, die Verknüpfungen von Gender mit Klasse, Rasse. Geschlechterforschung verband sich mit whiteness studies, disability studies und anderen Forschungsrichtungen – heute zusammengefasst unter den Begriffen diversity studies oder ›Intersektionalität‹. Das heißt, aus den Gender Studies wurde die Erforschung der ›Anomalie‹, über die wiederum die Norm reflektiert werden konn34 Barbara Orland/Elvira Scheich (Hg.): Das Geschlecht der Natur. Feministische Beiträge zur Geschichte und Theorie der Naturwissenschaften. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995. 36 Jürgen Mittelstraß: »Die Geisteswissenschaften im System der Wissenschaft«, in: Wolfgang Frühwald et al.: Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 15-44, bes. S. 42ff.
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te. Jede dieser Anomalien und jede dieser Normen werden heute mit einem Begriffs- und Forschungswerkzeug untersucht, das weitgehend in der Geschlechterforschung erarbeitet wurde – und einer der gemeinsamen Nenner dieser Werkzeuge besteht darin, dass das Unbewusste als Störung und als Motor der Wissensproduktion verstanden wird. Auf der anderen Seite gibt es aber auch neue Dichotomien. Das zeigt sich an einem jüngeren Phänomen: Je mehr die Emanzipation (oder Gleichstellung) von Frauen in der Akademie voranschritt, desto mehr ›vermännlichten‹ sich die Natur- und ›feminisierten‹ sich die Geisteswissenschaften: in der öffentlichen Wahrnehmung. (In vielen naturwissenschaftlichen Fächern wie der Biologie gibt es heute eine hohen Anteil an Frauen. Dennoch werden die Naturwissenschaften als ›männlich‹ wahrgenommen.) Die Parallelität dieser beiden Entwicklungen wird besonders deutlich in den skandinavischen Ländern, die in der Gleichstellung die fortschrittlichste Gesetzgebung und zugleich in den akademischen Fächern die deutlichste Geschlechterdichotomie vorzuweisen haben. Dass es sich bei dieser ›geschlechtlichen‹ Aufteilung der Fächer nicht etwa um geschlechterspezifische Begabungen oder Interessen, sondern um eine symbolische Zuordnung handelt, kann man daran erkennen, dass sich bei der Zulassung von Frauen zur Universität um 1900 die Medizin und die naturwissenschaftlichen Fächer als erste für Frauen öffneten, während die Geisteswissenschaften – etwa die Philosophie oder die Geschichte – am längsten zögerten, Studentinnen zuzulassen. Wenige Jahrzehnte später ist es genau umgekehrt. Ein ähnlicher Wandel vollzog sich in den 1960er Jahren mit der Informatik. Als das Fach an einigen Universitäten eingerichtet wurde, gab es zunächst wenige Frauen. Ab Anfang der 1980er Jahre begann der Anteil rasch zu wachsen, um den für ein Ingenieurstudium ungewöhnlich hohen Frauenanteil von über 20 Prozent zu erreichen, bevor er gegen Ende der 1980er Jahre wieder sank. Empirische Untersuchungen zu diesem Phänomen haben gezeigt, dass sich solche Schwankungen weder mit einer erworbenen oder angeborenen technizistischen Defizienz von Frauen erklären lassen noch mit unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen der Geschlechter.37 Das Phänomen hat vielmehr mit symbolischen Zuweisungen an die Fächer und die Geschlechter zu tun. Die Verweiblichung der Geisteswissenschaften und die Vermännlichung der Naturwissenschaften sind umso bemerkenswerter als in der westlichen Dichotomie von Geist und Natur die Natur traditionell der Weiblichkeit und die Kultur oder Geistigkeit der Männlichkeit zugewiesen wurde. Die Umkehrung der disziplinären Geschlechterdichotomie wurde erst denkbar, seitdem die Natur dem Gesetz der Wissenschaft unterworfen wurde – und dieses Gesetz impliziert vornehmlich die Anwendung von Zahlen auf Stoffe. Zugleich 35 Heidi Schelhowe: »Informatik«, in: Christina von Braun/Inge Stephan (Hg.), Gender Studien. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 207-216.
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verlagert sich die alte Dichotomie in eine neue geschlechtliche Codierung innerhalb der Wissensordnung selbst: Statt der alten Geschlechterordnung, die das Weibliche als Verkörperung des Unbewussten abspaltete und aus der Wissenschaft verwies, findet nun eine solche Spaltung innerhalb der Wissenschaft statt. Die Geisteswissenschaften werden zu den Disziplinen ernannt, in denen sich das Unbewusste tummeln darf. Das heißt, die Wissensproduktion bedarf des Unbewussten. Um es abzuspalten und dennoch verfügbar zu haben, wird es bestimmten Disziplinen zugeordnet. Die Geschlechterforschung ist einer unter vielen Hinweisen darauf, dass sich die Wissensordnung in den letzten hundert Jahren durch die Präsenz von Frauen verändert hat. Zugleich eröffnet heute kein anderes Gebiet so viele Möglichkeiten, eine Brücke zwischen geisteswissenschaftlicher Reflexion und naturwissenschaftlicher Forschung zu schlagen wie dieses. In den Gender Studies haben wir es sowohl mit Biologie und materiellen Körpern als auch mit kulturellen Konstruktionen zu tun – und gerade hier lässt sich zeigen, wie tief sich Kultur mit ihren symbolischen Codierungen in die materielle und biologische Wirklichkeit einschreibt. Die Naturwissenschaften haben in den letzten Jahrzehnten Erstaunliches geleistet und kaum fassbare Fortschritte gebracht. Das gilt besonders für die so genannten ›Lebenswissenschaften‹. Ebenso erstaunlich und unfassbar ist aber auch die Tatsache, wie wenig nach den Ursprüngen und Triebkräften dieser Forschung gefragt wird, die heute einen Bereich beherrschen, der solange der Theologie vorbehalten blieb: die Definition von Leben. Vergessen wird, dass die Verlagerung dieser Definitionsmacht von der Theologie zur naturwissenschaftlichen Forschung erst möglich wurde, nachdem sich die Sexualität von der Reproduktion getrennt und den Weg für eine Fortpflanzung im Labor freigegeben hatte. Das heißt, die Lebenswissenschaften verdanken ihren Ursprung der Tatsache, dass die Natur im Labor ›berechenbar‹ – vor allem der Unberechenbarkeit der Sexualität und damit des Unbewussten entzogen – wurde. Der Begriff des Lebens, so hat Kerstin Palm in ihrer Habilitationsschrift nachgewiesen, hat in den letzen zweihundert Jahren viele Definitionen erfahren.38 Heute wird vor allem die Fortpflanzung als der wichtigste Schlüssel begriffen, um das Rätsel des ›Lebens‹ zu erfassen. Mit der Mathematisierbarkeit der Fortpflanzung scheint also auch dieses letzte Rätsel ent-hüllt. Aber lässt sich das Unbewusste wirklich so leicht austricksen? In den USA wird inzwischen ein Prozent aller Kinder durch in vitro-Fertilisation gezeugt. Das Resultat sei besser kalkulierbar als bei der traditionellen Zeugungsart, sagen die Eltern. Bei dieser Argumentation ist davon auszugehen, dass die künstliche Befruchtung bald zum Standard der menschlichen Fortpflanzung wird. Zum Standard werden dann auch Eizellen- oder Samenspenden von Männern und Frauen, mit deren ›überlegenem‹ genetischen ›Mate38 Palm: Existenzweisen des Lebens.
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rial‹ intentionale Eltern ihre Ansprüche an eine verbesserte Reproduktion umzusetzen hoffen. Alle Samenspender und Eizellenspenderinnen durchlaufen genaue screenings, bevor ihr Erbmaterial auf dem Markt angeboten wird, und die Eltern zahlen hohe Preise, um mit Hilfe dieser ›Spender‹ dem ›Roulette‹ der Natur zu entgehen. Es ist evident, dass mit dieser Entwicklung völlig neue Definitionen von Elternschaft und Geschlecht anstehen. Man kann zu den Neuerungen der Reproduktionsmedizin stehen wie man will: Unbestreitbar ist, dass sie tief greifende Veränderungen mit sich bringt und dass sich das Würfelspiel nun auf eine andere Ebene verlagert. Eine Reflexion zu diesen Veränderungen findet heute vor allem in der Geschlechterforschung statt. Der Geschlechterforschung mag das Unbewusste – der dunkle Kontinent – des Wissens und der Wissensordnung zugewiesen worden sei. Eben das prädestiniert sie aber auch, über die unbewussten Triebkräfte und Folgen der modernen wissenschaftlichen Forschung nachzudenken und diese bewusst zu machen. Hundert Jahre nach der Öffnung der Universität für Frauen wird klar: Das wirklich ›gefährliche Experiment‹ war nicht das Frauenstudium, sondern die Phantasie, der modernen Wissensproduktion ohne die analytische Kategorie Geschlecht gewachsen zu sein.
Das Objekt und das Andere. Lacans Logik des Begehrens und die moderne Episteme ANNETTE BITSCH
Unter Aufbietung einer höchst eigenen, höchst komplexen Logik und Mathematik sowie im Verlauf einer Serie von Expeditionen zu Aristoteles und Augustinus, in die Doxologie, die Mystik und die höfische Liebe verfolgt Lacan im »Seminar XX« die zwei unterschiedlichen und zum Teil unvereinbaren Vektoren des weiblichen und des männlichen Begehrens. Es soll in diesem Aufsatz nicht darum gehen, dieser Mathematik des Begehrens auf den Grund zu gehen und diese innerhalb des Lacan’schen Kosmos an Formeln, Codes und Operatoren systematisch zu erschließen. Vielmehr soll die Differenz im Begehren von Frau und Mann – wobei Frau und Mann für Lacan nicht biologische Entitäten, sondern kulturell, historisch und diskursiv bedingte Zuschreibungen indizieren1 – an dieser Stelle nur in ihren Grundzügen extrapoliert werden, um dann in Folge den Fokus auf die Sichtweisen zu legen, die sich mittels einer solchen Grenzziehung und insbesondere einer solchen Privilegierung des Begehrens der Frau für eine Relektüre der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte vom 18. bis ins 20. Jahrhundert generieren lassen. Das männliche Subjekt, das Lacan hier nicht zufällig in seiner klassischen Funktion, nämlich als den Herrn, paradieren lässt, ist in seinem Begehren reduziert auf die phantasmatische Beziehung zum anderen, klein a.2 Es ist und bleibt, mit anderen Worten, dem Objekt und, noch präziser, dem egomorphen Objekt verhaftet, sofern jede Beziehung zum Objekt immer auch den relationalen Bezug der narzisstischen Identifizierung impliziert. Während das männ-
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Vgl. Jacques Lacan: Das Seminar XX. Encore (1973-1974), hg. von Norbert Haas und Hans-Joachim Metzger, Weinheim, Berlin: Quadriga 1986, S. 37, 39, 79. Vgl. auch Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991 und Judith Butler: Körper von Gewicht. Gender Studies. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997. Vgl. J. Lacan: Seminar XX, S. 68f., 87.
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liche Begehren beschränkt ist auf die Beziehung S/ a, also die über die narzisstische Identifizierung laufende imaginäre Beziehung zur Objektursache klein a, vermag die Frau eine Verbindung aufzubauen zum Anderen oder genauer: zum Signifikanten des Anderen: S/ A.3 Aufgrund ihres Zugangs zu einem »supplementären Genießen«4 – dem Genießen des Signifikanten, der »nicht die Bedeutung des Wortes, sondern sein rätselhaftes und prekäres Sein«5 chiffriert – vermag die Frau das tragödien- und katastrophenunterlagerte Geschehen im Spiegel-Stadion oder »intellektuellen Bestiarium«6 zu transzendieren auf Anderes hin. Aber »das Andere ist nicht einfach dieser Ort, wo die Wahrheit lallt. Es verdient, das zu repräsentieren, womit die Frau zutiefst Verhältnis hat«.7 Diese Aussage flackert, wenn mann sich eine Vorstellung oder gar Definition vom Anderen erbeuten will, zwischen Beleidigung und Zugangsverweigerung und lässt dennoch keine Ruhe. Und an keiner Stelle seiner zahlreichen Bemerkungen zu diesem »vorgeschichtlichen, unvergeßlichen Anderen, den niemand später jemals wieder erreichen wird«,8 bringt Lacan klare Definition und logokratisches Gewicht in diese Bewegung der Unruhe, sondern lässt sie vielmehr nur eskalieren und am Ende umschlagen in reine Angst, also in genau das, was der akademische Diskurs »nicht wahrhaben« will, jene Angst, »die vom Andern (mit großem A) ausgeht dadurch, daß es nicht ein bhnliches ist«.9 Aber der akademische Diskurs hat seine Anxiolytika und seine Maßnahmen zur Evakuierung oder Domestizierung des Anderen.10 Und so nehmen die Tagungen und Symposien und, wenn auch nicht zwangsläufig mit vergleichbarem Schwung, die Wissensproduktionen von der Schiller-Forschung bis zur modernen Gastrologie ohne Störung ihren Lauf. Und die Teilnehmer des 125. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie im ICC Berlin setzen ihre Konversation in den Abendstunden, forsch und fortschrittsoptimistisch, über Kalbsherz auf Feigensalat und St. Peters-Fisch in Olivenkruste mit Pulporagout fort. Aber manchmal gehen die 3 4 5
Vgl. ebd., S. 88. Ebd., S. 80. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974, S. 370. 6 Jacques Lacan: Schriften II, hg. von Norbert Haas und Hans-Joachim Metzger. Weinheim, Berlin: Quadriga 1991, S. 215. 7 J. Lacan: Seminar XX, S. 88. 8 Jacques Lacan: Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse (1959-1960), hg. von Norbert Haas und Hans-Joachim Metzger, Weinheim, Berlin: Quadriga 1996, S. 68. 9 Jacques Lacan: Schriften I, hg. von Norbert Haas und Hans-Joachim Metzger, Weinheim, Berlin: Quadriga 1991, S. 206. Vgl. J. Lacan: Schriften II, S. 9. 10 Und zu den ersten und vorherrschenden »Maßnahmen« zählt hier sicher die für den akademischen Diskurs symptomatische Zwangsneurose. Vgl. J. Lacan: Schriften I, S. 140, 160 sowie J. Lacan: Schriften II, S. 186. Vgl. auch Annette Bitsch: Diskrete Gespenster. Die Genealogie des Unbewussten aus der Medientheorie und Philosophie der Zeit. Bielefeld: transcript 2009, S. 91-93.
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Anxiolytika aus, oder es bräuchte stärkere Medikamente, Maßnahmen verfangen nicht, es kommt zu massiven Störungen und Interferenzen im Äther.11 Und ebenso wenig erklingt die Geschichte der DNA mit dem Halali vernunftgeleiteter Fortschrittslinearität, sondern erzählt vielmehr von den nicht selten beängstigenden und verstörenden Konfrontationen mit »epistemischen Dingen«.12 Aber an diesem Punkt, an diesem End-Punkt sind wir noch lang nicht angelangt. Vielmehr soll es in Folge darum gehen, mittels einer kleinen Reise durch die Wissenschaftsgeschichte von der klassischen in die moderne episteme (um hier der Foucault’schen Einteilung zu folgen) dorthin zu gelangen. Exakt wird es darum gehen, die zwei unterschiedlichen Vektoren des Begehrens – das auf die Objektbeziehung reduzierte Begehren des Mannes und das über das Objekt hinaus auf das Andere bezogene Begehren der Frau – in dieser Geschichte der Wissenschaft seit Descartes agieren zu sehen. Es wird, mit anderen Worten, um die jeweilige Beziehung von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt sowie die jeweilige Begegnung mit dem Anderen im Fall des weiblichen bzw. männlichen Begehrens gehen. Das Subjekt der modernen Wissenschaft – in diesem Punkt ist Lacan beharrlich, überempfindlich, nachdrücklich – emergiert mit Descartes, er wiederholt es immer wieder,13 und dies steht nicht ohne Bezug zu seiner Priorisierung des weiblichen Begehrens im Seminar XX. Aber zunächst: Was genau ist das, was da mit Descartes emergiert? Es ist, nach Michel Foucault, die durch die dichotomische Trennung von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt, res cogitans und res extensa bestimmte episteme der Klassik, deren ontologische und erkenntnistheoretische Matrizen durch ein Zeichenmodell vorgegeben werden: durch das Modell von Port-Royal, das Modell der Repräsentation – nach Lacans Differenzierung des männlichen und des weiblichen Be11 Vgl. hierzu z. B. Wolfgang Hagens Relektüre der Radio- und Elektrizitätsgeschichte auf ihre massiven psychotischen und spiritistischen Grundimpulse hin. Wolfgang Hagen: Das Radio: Theorie und Geschichte des Hörfunks Deutschland – USA, München: Fink 2005, S. 1-65, 72, 144-175; vgl. auch ders: »Der Okkultismus der Avantgarde um 1900«, in: Sigrid Schade et al. (Hg.), Konfigurationen: Zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 338-357; sowie Wolfgang Hagen: Radio Schreber. Der moderne Spiritismus und die elektrischen Medien, Weimar: VDG 2001. 12 Vgl. Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006.; vgl. auch Michael Hagner/Hans-Jörg Rheinberger/Bettina WahrigSchmidt: »Objekte, Differenzen, Konjunkturen«, in: Michael Hagner/Hans-Jörg Rheinberger (Hg.), Experimentalsysteme im historischen Kontext, Berlin: Akademie Verlag 1994, S. 7-21. 13 Vgl. z.B. J. Lacan: Schriften I, S. 41f.; J. Lacan: Schriften II, S. 209; Jacques Lacan: Das Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (1963-1964), hg. von Norbert Haas und Hans-Joachim Metzger, Weinheim, Berlin: Quadriga 1987, S. 50f., 233f., 238f.
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gehrens ein massiv durch den männlichen Blick bzw. durch den männlichen Zwang zur Objektivierung beherrschtes Denk- und Weltzeitalter. Foucaults archäologische Rekonstruktion der klassischen episteme lässt sich mit Jacques Derridas Dekonstruktion des Logozentrismus in der »Grammatologie« und mit Lacans Untersuchung zum Betriebsgeheimnis der cartesischen (Bild-) Welt im Kontext der Theorie des Blicks korrelieren.14 Das klassische Repräsentationsmodell nimmt seinen Ausgangspunkt bei einer Dualität von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt: Ein solides und unveränderliches Erkenntnissubjekt beobachtet und beschreibt, kurzum: objektiviert seinen wissenschaftlichen Gegenstand – S/ a, völlig klar, unwidersprüchlich und komplikationslos dem Schema des männlichen Begehrens folgend. Das Bewusstsein, res cogitans, objektiviert seinen Erkenntnisgegenstand, das Requisit der res extensa, das heißt, aus dem analytischen Blickwinkel von Lacan und Foucault: Es ersetzt den realen, als solchen unergründbaren, unsagbaren und unvorstellbaren Gegenstand durch seine eigene Vorstellung von diesem Gegenstand, so wie der Mann die reale Frau durch ein seinem eigenen Triebschicksal entsprechend zugerichtetes imaginäres Objekt klein a substituiert. Die apriorische Voraussetzung dieser Erkenntnistechnik ist das Modell der Repräsentation. Alle potenziellen Gegenstände der Erkenntnis müssen, um überhaupt erst zu solchen zu avancieren, dem binären Zeichenmodell des klassischen Logozentrismus unterstellt werden, nämlich einer durch das Signifikat dominierten untrennbaren Verknüpfung von Signifikant und Signifikat. In der repräsentationslogischen Epoche geht die Benennung der Dinge der Welt vonstatten, indem die reale Welt durch ein von der Bedeutung und vom Bewusstsein administriertes Zeichensystem gefiltert wird. Alles, was durch diesen Filter fällt, wird fortan nicht mehr zur Welt gehören; was nicht benennbar und vorstellbar ist, ist fortan nicht mehr existent. Die klassische episteme ist konstituiert durch eine völlige Transparenz des Zeichensystems auf die Welt hin. Lacan nimmt diesen Sachverhalt auf und beschreibt sein Funktionsprinzip wie folgt:15 Das klassische – männliche – Subjekt imperialisiert die Welt in der Vorstellung: Nur das, wovon es eine Vorstellung und einen diese Vorstellung abbildenden Namen hat, hat eine ontologische Berechtigung, alles andere wird ausgeblendet, eskamotiert. Die reale Frau wird, eingezogen in die Maschinerie eines männlichen Omnipotenzphantasmas, konvertiert und stilisiert zum Objekt a als einer vom Mann kontrollierbaren Vorstellung. Ein solches Funktionsprinzip der Welterzeugung supponiert allerdings eine perfekte Verkennung der apriorischen, unbe14 Vgl. M. Foucault: Ordnung der Dinge, Kap. 7, 8 und 9; J. Lacan: Seminar XI, Kap. 6, 7, 8 und 9; vgl. auch Bernhard Siegert: Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500-1900, Berlin: Brinkmann & Bose 2003, S. 305-368; vgl. auch Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 9-130. 15 Vgl. J. Lacan: Seminar XI, S. 83ff.
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wussten Mechanismen. Das klassische Cogito ist erstens blind gegenüber dem Bruch, der fundamentalen Unterschiedenheit zwischen der Existenz des realen Gegenstands (dem Weiblichen) und der Existenz dieses Gegenstands als einer durch einen Signifikanten fixierten imaginären Bedeutung im begrenzten Radius seines Bewusstseins (der Frau als Objekt klein a).16 Die klassische Repräsentation stellt sich so als eine Ontologisierung dar – ein Akt der Seinsstiftung, der das Reale zugunsten einer in der Vorstellung re-präsentierbaren Realität elidiert. Die klassische episteme ist, das hat sich nun aufgeschlossen, klar durch das männliche Begehren dominiert, und die beiden entscheidenden Indizien dieser Dominanz sollen hier noch einmal mit Christina von Braun rekapituliert werden. Als ein entscheidender Faktor, als ein Stützpfeiler des klassischen Repräsentationsmodells gleichermaßen, hatte sich die strenge und dichotomische Trennung zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt herausgestellt, die ihrerseits in einer langen Tradition steht, nämlich der alten abendländischen Dichotomie, in der »dem männlichen Körper die Rolle zugewiesen [wurde], Symbolträger des Geistes zu sein, während der weibliche Körper zum Symbolträger der Natur, der Körperlichkeit erklärt wurde«.17 Als zweites Indiz für das Monopol des männlichen Begehrens in der klassischen Wissenschaft hatte sich die Wut zur Ontologisierung, zur Objektivierung oder, so geraten wir in noch heißere Nähe, zum Vor-Augen-Stellen erwiesen. Es existiert ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen den Sinnen und Medien des Visuellen – das tableau, in dem die Dinge nach Identitäten und Unterschieden klassifiziert werden, hypostasiert für Foucault das Wesen wissenschaftlicher Aktion in der episteme der Repräsentation,18 das cartesische Cogito in Lacans Blicktheorie wird durch die Zentralperspektive instruiert19 – und der ineins unterwerfenden und zurichtenden, petrifizierenden und arrangierenden Geste des Zum-Objekt-Machens. »[…] Durch die Zentralperspektive entstand eine neue Art des Sehens, das Sehen mit Macht über den anderen gleichsetzte. […] Es gab also ein Subjekt des Sehens und ein Objekt der Betrachtung, und während das Subjekt als männlich gedacht wurde, galt das Objekt der Betrachtung als weiblich – egal, ob es sich um den weiblichen Körper, die Natur oder die Erde handelte. […] Solche Sehweisen hatten Rückwirkungen auf die sozialen Rollen der Geschlechter: Frauen wurden von den Kunstakademien ausgeschlossen, und es galt als gesicherte Erkenntnis, daß eine Frau den Anblick eines geöffneten Leibs im anatomischen Theater nicht ertragen könne.«20 16 17 18 19 20
Vgl. J. Lacan: Schriften II, S. 22. Christina von Braun: »Frauen im Spiegel der Medien«, Expo: 11.10.2000, S. 6. M. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 101-113. J. Lacan: Seminar XI, S. 91ff. C. von Braun: Frauen im Spiegel der Medien, S. 6.
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Es wurde oben bereits angesprochen: Eine der Grundvoraussetzungen, dass dieser machtvolle und imperiale Mechanismus eines männlichen Begehrens, seines Zeichens große epochale Wissenschaft, sich ins Werk setzen und das Weibliche mit einer derartigen Gewalt ausschließen, um nicht zu sagen: mortifizieren und statt dessen in ein Erkenntnisobjekt konvertieren konnte, dessen das männliche Subjekt der Erfahrung sich bemächtigen und das es usurpieren konnte, liegt in der völligen Ausstreichung der apriorischen oder unbewussten männlichen Begehrensstrukturen aus dem Radius des Bewusstseins des Mannes von Wissenschaft. Eine psychoanalytische Rekonstruktion solcher unbewusster Strukturen à la Lacan, »eine Reintegration [der Geschichte des Subjekt der Wissenschaft, A.B.] bis zu den äußersten Wahrnehmungsgrenzen, und das heißt bis in eine Dimension, die weit die individuellen Grenzen übersteigt«,21 hingegen hätte dem triebstarken Salonlöwen einen empfindlichen Schlag versetzt, sofern nämlich – und hier gewinnen Lacans insistierende Verweise auf die Urszene, in der Descartes das wissenschaftliche Subjekt des Abendlands auf seinen Kurs brachte, all ihren Sinn – eine hysterische Szene, die Anrufung eines Anderen, ein Akt des weiblichen Begehrens kat exochen am Grund und Anfang all dieses weltmännischen Professionalismus stand. Erinnern wir uns: cogito ergo sum, das Prinzip des methodischen Zweifels – Descartes zufolge kann man, wenn man denkt, an allem, an allen Objekten des Denkens, an der gesamten Wirklichkeit oder Erscheinungswelt zweifeln, nur an einem nicht, am Ich denke, denn das ist, selbst wenn alles Trug ist, gewiss.22 Noch aus dem Zweifel heraus lässt sich ein unerschütterlicher Punkt der Gewißheit situieren – das Cogito, jener eine und unkörperliche Punkt, unverzichtbares Modul eines männlichen Begehrens, das die Dinge und die Frauen objektiviert, also in der Vorstellung ersetzt und zu Objekten klein a dressiert. Aber all das ist schon Katamnese, all das bereits sedierte und rationalisierte Nachsaison einer Krisis, eines Traumas, das am Anfang stand und das der Mann allein niemals hätte bewältigen können. Zweifel. Aber Zweifel ist viel zu beiläufig, zu affektleer, zu nüchtern konnotiert, Zweifel bagatellisiert zu sehr jene traumatisch und als Nahen von Wahnsinn und Depersonalisation erfahrene Täuschungsgewalt der Sinne, die Descartes erfuhr und erlitt. Inmitten einer Welt und gefangen in einem Körper, die mehr und mehr zu entgleiten drohten in ein Geheul von Chimären und einen makabren Tanz von Symptomen, inmitten eines an die Erfahrung des corps morcelé, die Verheerung des Realen oder des Realen als Verheerung rührenden Schocks blieb Descartes nur ein klassischer Akt des weiblichen Begehrens, den Lacan im 21 Jacques Lacan: Das Seminar I. Freuds technische Schriften (1953-1954), hg. von. Norbert Haas und Hans-Joachim Metzger, Weinheim, Berlin: Quadriga 1990, S. 20. 22 Vgl. René Descartes: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung, übers. und hg. von Lüder Gäbe, Hamburg: Meiner 1997.
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Diskurs der Hysterie formalisiert – die Anrufung eines Anderen, die Anrufung Gottes. In einem Moment, in dem res extensa sich als pathogenes Katastrophengebiet zu entziehen drohte, in dem Descartes in einem Spuk von Symptomen und Unzuverlässigkeiten unterzugehen drohte, hat er eine Übertragungsleistung vom großen Anderen eingefordert, um sich Selbstgewissheit und Selbsttransparenz wenigstens an einem einzigen entkörperten Punkt rückbestätigen zu lassen, um sich versichern zu lassen, dass wenigstens ein Punkt keine Beschädigung erfahren hat: die Vernunft, die geistige Integrität, das Denken, das Cogito.23 Mit und seit Descartes ist das Subjekt der Wissenschaft, auch wenn es von Halluzinationen, Trugbildern und Täuschungen en masse verfolgt wird, nicht psychotisch. Denn: Gott als Garant der wissenschaftlichen Erkenntnis clare et distincte ist da. Aber wo ist er eigentlich? – er ist zugleich da, nämlich verborgen als unsichtbares Steuerungsmoment der punktförmigen res cogitans, und nicht da, nämlich in den res extensa. Denn aus den res extensa hat Descartes seinen Gott evakuiert und ihm damit jene grundlegende symbolische Basis, sich medial in der Zentralperspektive realisierend, eingeräumt, von der aus res cogitans die res extensa, Körper und Dinge inklusive, mit dem Anspruch auf wissenschaftliche Wahrheit objektivieren, repräsentieren, vermessen, berechnen und behandeln kann.24 Mit anderen Worten: so sehr jene erste und ur-szenenhafte Totalstörung zu Beginn der großen, glanzvollen Laufbahn des wissenschaftlichen Subjekts des Abendlands, jener primordiale Moment der Verfinsterung und Atemnot, in dem alle klaren Vorstellungen und alle eindeutigen Namen im Realen zu implodieren drohten, eine hysterische Advokation, den Akt eines weiblichen Begehrens erforderten, so sehr und so rasch musste dieser Akt innerhalb der Wissensgeschichte auch wieder vergessen, verdrängt werden, mussten seine Spuren beseitigt werden – auf dass das männliche Begehren, wie oben beschrieben, das Weibliche, das Reale, res extensa inklusive, in der Vorstellung kolonialisieren, identifizieren, inspizieren, benennen und magazinieren konnte. Dann, ab Mitte des 19. Jahrhunderts, erfährt diese durch das Begehren eines Mannes, der Admiral und auch Gärtner hätte sein können, regierte wissenschaftliche bra eine empfindliche Verstörung. Weniger empfindsam, unzarter gesprochen: der für diese Tradition konstitutiven Zweiseiten-Harmonie eines einheitlichen statischen Bewusstseins, das einem statischen, einheitlichen und sichtbaren Objekt gegenübersteht, wird ein tödlicher Schlag versetzt. Sie wird auf irreparable Weise zerstört und desintegriert. In der episte23 Vgl. hierzu auch Jacques Derrida: »Cogito und die Geschichte des Wahnsinns«, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976, S. 53101; vgl. auch Astrid Deuber-Mankowsky: »Tanzende Striche – Lacan zur Geste«, unveröffentlichter Vortrag. 24 Zu dem Coup, mit dem Descartes sich Gottes abwesender Präsenz in der Welt versichert vgl. J. Lacan: Seminar XI, S. 236ff.
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me des 20. Jahrhunderts, mit Foucault: der episteme des Menschen, kommt es zu einem fundamentalen Bruch in Bezug auf die klassischen Konzeptionen des Verhältnisses zwischen dem wissenschaftlichen Subjekt und seinem Erkenntnisobjekt bzw. der Natur, der sich mit Katherine Hayles als das Auftauchen des »Posthumanen« beschreiben ließe.25 Um 1900 entzündet sich das, was damals noch als endogenes Tentakel nach Descartes hatte greifen wollen, nun innerhalb der Realität. Das »Angstobjekt par excellence«26 kassiert die souveräne Mathematik männlichen Forscherbegehrens und überfegt, alte Subjekt-Objekt-Dichotomien höhnisch diffamierend, die Welt der Wissenschaft.27 Zwischen 1850 und 1900 ereignet sich der Paradigmenwechsel, der die Wissenschaften der Jahrhundertwende erzittern lässt und der zur Kollabion der klassischen Dichotomie von Subjekt und Objekt, res cogitans und res extensa, führt. Der Gegenstand verdunkelt sich, er dissoziiert, er entzieht sich – eine zu Zeiten der Klassik sichtbare, vorstellbare und klassifizierbare Natur verschwindet, und stattdessen grassiert die Ungestalt, das Unsichtbare, das Unförmige, das Reale, was wiederum eine Traumatisierung und Verstörung des Subjekts hervorruft. An die Stelle der bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vorstellbaren Natur tritt ein Bereich der absoluten Unerfahrbarkeit oder Unberechenbarkeit, den Lacan als das Reale benannt hat, und der die unterschiedlichsten Wissenschaftsbereiche wie ein pathogener Tsunami erfasst. Die Mathematik: euklidische Gärten, pythagoräische Harmonien, anschauliche Linien werden liquidiert in Dirichlet’schen Monsterfunktionen, Lambert’schen Kettenbrüchen, Argand’schen Ungleichungen, Riemann’schen Krümmungen und mutagenen Wurzelgebilden28. Die Naturgeschichte: die ohne Bildstörung und medienapriorischen Grauen Star sichtbaren Ingredienzen einer idyllischen Flora und zutraulichen Fauna verlieren sich in uneinholbaren physiologischen und biologischen Prozessen, in jener Tiefe des Lebens, die Foucault als »wilde Ontologie« bezeichnet hat«.29 Die Physik: ein ganzer klassischer Sternen25 Vgl. auch Jonathan Crary: »1900: Die Neuerfindung der Synthese«, in: ders., Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt/Main 2002, S. 225-283. 26 Jacques Lacan: Das Seminar II. Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse (1954-1955), hg. von Norbert Haas und Hans-Joachim Metzger, Weinheim, Berlin: Quadriga 1991, S. 210. 27 Zu diesem Zusammenbruch vgl. auch von Christina von Braun: Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, Zürich-München: Pendo 2001, S. 21-23. 28 Vgl. Herbert Mehrtens: Moderne Sprache Mathematik. Eine Geschichte des Streits um die Grundlagen der Disziplin und des Subjekts formaler Systeme, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 84-107, 142-164; Klaus Volkert: Die Krise der Anschauung. Eine Studie zu formalen und heuristischen Verfahren in der Mathematik seit 1850, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986; Joseph Vogl: Über das Zaudern, Zürich-Berlin: diaphanes 2007, S. 89-93 und B. Siegert: Passage, S. 305-330. 29 Vgl. M. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 340.
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himmel versinkt, eine ganze klassische Mechanik geht unter in der Gestaltlosigkeit, Unberührbarkeit, Unnahbarkeit von elektromagnetischen Resonanzen, Ultraviolett-Katastrophen, schwarzen Strahlungen und unsichtbaren Strahlungen, die die Geigerzähler und nicht zuletzt die Physiker, wie Wolfgang Hagen gezeigt hat, psychotisieren.30 Und noch etwas bringt eine erste Zuckung, ein Blinzeln, eine Meldung, unheilschwanger, verführerisch, unheimlich, zur Entladung, noch eine Offenbarung Anderer Art, die jedes männliche Begehren, sicher und souverän mit den von ihm präsidierten Objekten rangierend, in mittleren Graden erschüttert hätte. Was sich hier jedoch als unbewusst konfrontiert, ist ein Phänomen, das sich mit dem klassischen Repräsentationsmodell nicht mehr fassen lässt und in dieser Unfassbarkeit das Denkformat der Repräsentation selbst mit irreversiblen Effekten durchkreuzt. Es ist ein Phänomen, das sich nicht länger als ein herkömmliches wissenschaftliches Objekt beschreiben und klassifizieren lässt und damit wiederum das wissenschaftliche Subjekt selber gefährlich destabilisiert. Es ist ein phänomenologisches Phänomen im Sinne Heideggers, ein solches, für das Verdunklung und Verbergung konstitutiv sind,31 es ist das Auftauchen eines Subjektiven im Realen.32 Freuds Erfahrung ist eine Erfahrung des Realen. Stand Freuds früher »Entwurf einer Psychologie« von 1885 noch unterm Kommando von Charcots hartem Materialismus – jede psychologische Behauptung muss physiologisch-experimentell nachgewiesen werden –, so durchzittern bereits die im selben Jahr zusammen mit Breuer publizierten »Studien über Hysterie« Spuren von Verstörung. Alles deutet für Freud darauf hin, dass bei der Hysterie, die Freud hier gewollt rätselhaft als eine Krankheit durch Vorstellung bezeichnet, eine psychische Verletzung physische Störungen hervorbringt und nicht umgekehrt. Das führt Freud in eine Aporie, die mit den Voraussetzungen des Materialismus nicht lösbar ist. Die Krise lässt sich zeichentheoretisch reformulieren: Sind hysterische Symptome als Zeichen im Sinne einer materialistischen oder auch ontologischrepräsentativischen Theorie zu nehmen? Repräsentieren Symptome das Sein, sei es im philosophischen, sei es im materialistischen Sinne? In diesem Fall müssten sie auf ein Signifikat oder einen materialistischen Referenten zu beziehen sein, und genau das sind sie nicht. Symptome sind Signifikanten ohne Signifikat oder Referent. Die aporetische Erfahrung aus den Tagen der Hysterie-Forschung holt Freud Jahre später ein. Etwas wiederholt sich, abermals 30 Vgl. Wolfgang Hagen: »Technische Medien und Experimente der Physik. Skizzen zu einer medialen Genealogie der Elektrizität«, in: Rudolf Maresch u.a. (Hg.), Kommunikation, Medien, Macht, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 133-173, hier S. 157ff. Vgl. W. Hagen: Okkultismus der Avantgarde und W. Hagen: Radio Schreber. 31 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer 1993. S. 35ff. 32 Vgl. Jacques Lacan: Das Seminar III. Die Psychosen (1955-1956), Wien: Turia + Kant 1990, S. 247f.
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wird er von Verwirrung und Irritation ergriffen, diesmal stärker, unausweichlicher: abermals erblickt Freud das »Jenseits der Bedeutung«.33 Er erblickt das neurotische Symptom, den Wiederholungszwang, reine signifikante Struktur, unerklärlich und anankastisch unerlöst vom Schlag der Bedeutung. Ein Zwang, der weder Ankunft noch Bedeutung, der vielmehr nur die reine und radikal bedeutungslose Rekursion ad infinitum will: Eine iterative Struktur ohne fixierbare Substanz subvertiert alle Zeichensysteme der Repräsentation und bewegt Freud zur Unterstellung eines Unbewussten, nach Lacan ineins ein Akt der Barmherzigkeit und eine Transzendierung des männlichen Vektors.34 Wilde Ontologien, Neurasthenien und Nervenzusammenbrüche, Ultraviolett-Katastrophen, psychotische Geigerzähler, Große Bögen und Großer Spuk, wechselstromgetaktete Zitterpartien, phänomenologische Phänomene, Synkopen, Triller und Tremolo, Panik bis zum Kammerflimmern, frühe Zuckungen, böses Blinzeln, erstickte Schreie, Gebrochenheiten, das Signalrot der Paranoia, gemischt mit den Nano-Nuancen sich ausbreitender Verstörung und den Dämmerlichtfarben des Untergangs eines vergangenen Weltzeitalters männlichen Begehrens. Und noch diese Dämmerlichtfarben tingieren die Nachsaison des Schreckens, als langsam Deeskalation, Beruhigung, Verdrängung, Rekonvaleszenz eintritt. Neue Methoden der Formalisierung und neue Medien der Messung und Visualisierung kompensieren den nichtsdestoweniger irreparablen und irreversiblen Verlust des Objekts. Und aber so wenig wie dies neue, mittels medialer oder logisierender Maßnahmen generierte Objekt noch auf so sicherem Fundament ruhen kann wie das alte, durch das Repräsentationsmodell abgestützte Objekt der klassischen episteme, so sehr findet sich auf der anderen Seite auch das Erfahrungssubjekt in seinem torgefährlich aufs Objekt gehenden Mannesbegehren empfindlich gestört und dereguliert. Das als Alleinherrscher seiner selbst und der gesamten Welt, res cogitans und res extensa, paradierende Subjekt der Klassik wird, einerseits massiv entgeistert und entmächtigt angesichts der hungrigen Strahlungen und signalroten Monsterfunktionen, andererseits getrieben von den unversiegbaren Restreserven seines Herren-Symptoms, auf seltsamste Art verwandelt. Das von Gott zur Administration der Welt via Vernervung seines männlichen Begehrens im Objektbereich res extensa autorisierte Cogito wechselt seinen Aggregatzustand und wird zu einer »empirisch-transzendentalen Dublette«35 bzw. zu dem epistemischen Konstrukt »Mensch«, das als endliches, empirisches Subjekt zugleich prätendiert, unendlicher Grund seiner selbst zu sein, und das sich in dieser paradoxalen Gestalt an den Grund der Wissenschaften vom Menschen im 19. Jahrhundert setzt. 33 J. Lacan: Seminar II, S. 240. 34 Vgl. J. Lacan: Seminar XX, S. 104. 35 Vgl. M. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 384.
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In der durch die aporetische Figur der empirisch-transzendentalen Dublette integrierten episteme des Menschen werden Sprache, Leben und Arbeit zu transzendentalen Bedingungen, die eine Selbsterkenntnis des Menschen erst ermöglichen sollen, wobei – und hierin vollzieht sich die Paradoxie – eben diese transzendentalen Bedingungen ausschließlich durch Rückkopplung mit rein empirischen Beobachtungen und Erfahrungen positiviert werden können.36 Foucault diagnostiziert in dieser Grundstruktur des »Menschen«, der sich selbst promoviert zum begründeten Begründer, zum objektivierten Subjekt, zum unterworfenen Souverän, einen maßlosen Rückfall hinter die Kant’sche Erfahrung. Als Erfahrungssubjekt der Philologie, der Biologie und der politischen Ökonomie – derjenigen Disziplinen, die die im Zentrum der klassischen episteme stehenden Wissenschaften der Allgemeinen Grammatik, der Naturgeschichte und der Analyse der Reichtümer im 19. Jahrhundert dispensiert haben – bringt die empirisch-transzendentale Dublette ihr männliches, durch den Objektbezug konstituiertes und auf diesen reduziertes wissenschaftliches Begehren zur Entfaltung. Wobei, wie bereits angedeutet, dies Begehren so wie das von ihm erzeugte Objekt zu einer nurmehr angekränkelten, ephemeren und gemessen an der Klassik wenig grandseigneural abschlussreichen Affäre verflucht sein wird. Stand am Beginn der klassischen episteme ein wenngleich kurz darauf verdrängtes Begehren einer Frau – die cartesische Obsekration jenes Anderen, jenes Gottes, der die Approbation zur Requirierung der beiden männlichen Begehrensobjekte schlechthin: die Frau und die Weltherrschaft ja erst rückübertragen musste –, so wird dieser Andere und zugleich damit das Begehren des Anderen, das Begehren der Frau vom »Menschen« radikal verweigert und verworfen.37 Es wird nun, wie in der Psychose, nie eine Begegnung mit dem Anderen, nie ein weibliches Begehren gegeben haben, sondern nur einen spiegelbildlichen Kurzschluss zwischen dem a priori und dem a posteriori, in dem der »Mensch« sich selbst, spiegelbildlich eben, als für beide Bereiche zuständig deklariert. Im Gegensatz zur Epoche der klassischen Wissenschaft, die immerhin mit einem Akt des von Lacan als weiblich bezeichneten Begehrens ihren Anlauf nahm, sofern ein Bezug auf ein Anderes, auf Gott, von Descartes ausgehend etabliert wurde. Auch wenn dieser Gott in Folge dann sauber aus dem wissenschaftlichen Zuständigkeitsbereich des Cogito, den res extensa, exmittiert wurde, auf dass das männliche 36 Vgl. M. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 384-388, 396-410, 418-425. 37 Zur psychotischen Verwerfung vgl. J. Lacan: Seminar III, S. 15-17, 66ff., 110ff., 192ff; vgl. J. Lacan: Schriften II, S. 61-118; vgl. Sigmund Freud: GW Bd. XIII, hg. von A. Freud, E. Bibring, W. Hoffer, E. Kris und O. Isakower, London, Frankfurt/Main: Fischer 1999, S. 361-368; vgl. auch S. Freud, GW Bd. XIII, S. 385-292; Thomas Macho: »Zeichen aus der Dunkelheit. Notizen zu einer Theorie der Psychose«, in: Rudolf Heinz/Dietmar Kamper/Ulrich Sonnemann (Hg.), Wahnwelten im Zusammenstoß. Die Psychose als Spiegel der Zeit, Berlin: Akademie Verlag 1993. S. 223-240.
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Begehren allein in der Welt schalten und walten konnte, zeichnet sich der »Mensch« dadurch aus, dass jeder Akt weiblichen Begehrens, das heißt jede Bezugnahme auf das Unbewusste als eine irreduzible, nicht-assimilierbare und nicht-objektivierbare Alterität ab initio deaktiviert und unterdrückt wird. Im Kapitel »Das Cogito und das Ungedachte« in der »Ordnung der Dinge« legt Foucault die für die Moderne konstitutive und in der Annihilierung der Kant’schen Erfahrung – und das heißt nicht zuletzt: Annihilierung des Dings an sich als einer jeder Erfahrung gegenüber unverfügbaren und uneinholbaren Andersheit – begründete Antinomie ausführlich dar.38 Die moderne Psychologie maßt sich an, das Unbewusste einfach als Negativ des Bewusstseins abbilden zu können, das heißt sie unternimmt den unmöglichen Versuch, die Kant’sche Erfahrung vermittels der Konstruktion der empirischtranszendentalen Dublette namens Mensch unterlaufen zu können. Das sich im Menschen personifizierende Vergessen der unmöglichen Kongruenz des Empirischen und des Transzendentalen reflektiert sich Foucault zufolge in entsprechender Weise in der prekären Beziehung zwischen dem Cogito und dem Ungedachten. Einerseits verkennt der Mensch im Zuge seiner Bewegung zum Transzendentalen in dem, was ihn überwältigt und exundiert, sein eigenes Sein, andererseits profitiert er, um es psychoanalytisch zu formulieren, von Deckerinnerungen, mit Foucault: von den Möglichkeiten der empirischen Erfahrbarkeit der Seinsweisen von Leben, Arbeit und Sprache innerhalb der individuellen Erfahrung des Todes, des Verlangens und der Zeitlichkeit der Sprache. Diese letzteren empirischen Erfahrungen illudieren die Möglichkeit einer Rekonstruktion dessen, was wirklich war, dessen, was sich irreduzibel entzogen hat. Genau hier sieht Foucault den Rückfall hinter die Kant’sche Anerkennung des Faktums, dass die apriorische Synthese der Vernunft einen Hiatus zwischen Ding an sich und Erkenntnisobjekt involviert. Das für die Moderne symptomatische Denken dagegen adressiert mehr und mehr das Unbekannte in einem noch nicht Freud’schen Sinne, es adressiert ein Unbewusstes, das als Bewusstsein mit negativem Vorzeichen oder auch als Ursprung des Bewusstseins selber verkannt wird. Foucault dekonstruiert hierin den unmöglichen Versuch, das Andere im Zeichen den Gleichen oder Eigenen zu imperialisieren. Das »Nichtbekannte« wird reduktionistisch gedacht als das, von dem dennoch niemand anders als der »Mensch« höchstpersönlich »unaufhörlich zur Erkenntnis seiner selbst aufgerufen« wird.39 Der »Mensch« in der episteme der Moderne beansprucht, mit Foucault, die Repräsentation selbst zu repräsentieren, und mehr noch: das Andere – das männliche Begeh-
38 Vgl. M. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 389-395. 39 Ebd., S. 390.
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ren insistiert auch nach der Detonation um 1900 in der Wissenschaft – auf ein im Imaginären okkupierbares Objekt zu reduzieren.40 Wenn auch aus einem anderen Blickwinkel und mit anderen Zugriffsweisen durchgeführt, so hebt Lacans Kritik an einem vulgären und irrtümlichen Verständnis des Verhältnisses zwischen Bewusstsein und Unbewusstem doch auf denselben Punkt ab wie Foucaults Dekonstruktion. Lacan rekurriert auf die Freud’sche Unterscheidung von Bewusstsein und Unbewusstem und überträgt diese auf seine eigene Differenzierung des Subjekts der Aussage (moi) vom Subjekt des Aussagens (je), um im Anschluss und ganz im Sinne der Foucault’schen Kritik zu betonen, dass das moi als Subjekt der Aussage niemals in direkter, symmetrischer Beziehung zum je, dem Subjekt des Aussagens, steht. Dieses letztere je, Subjekt des Aussagens, Subjekt des unbewussten Begehrens, sagt sich niemals als solches, das heißt direkt und unverschlüsselt aus, sondern erscheint stets nur in entstellter, überdeterminierter und verschlüsselter Form als Subjekt der Aussage, als moi oder Ich denke, Ich sage, Ich meine etc.41 Damit widerlegt Lacan zugleich ein gängiges Vorurteil, das schon Freud angefochten hatte – die Reduktion des psychischen Apparats auf ein dichotomisches Bauprinzip, auf eine Symmetrie- oder bquivalenzbeziehung. Ausführlich weist Lacan im Seminar II nach, dass das Verhältnis zwischen Unbewusstem und Bewusstsein durch eine fundamentale Dissymmetrie gekennzeichnet ist. Das Unbewusste ist alles andere als ein Bewusstsein mit umgekehrtem Vorzeichen, es ist nicht einfach die Inversion, die Kehrseite des Bewussten, die als solche durch einfache umkehrende Abbildung aufzudecken wäre.42 Das Ego oder Cogito kann sich nicht selbst erschließen oder reflektieren aus dem einfachen Grund, weil es nicht räumlich, sondern zeitlich-syntaktisch vom Unbewussten separiert ist.43 Je, Subjekt des Aussagens, und moi, Subjekt der Aussage, indizieren nur unterschiedliche zeitliche Momente der rekursiven Prozedur oder seienden Wiederholung namens Begehren. Im Übergang zur Ebene des Bewusstseins wird je umcodiert in moi.44 Das Objekt des männlichen Begehrens, so wie es sich im identifikatorischen Bezug auf das männliche Cogito konstituiert, wird relativiert, sofern beide aus dieser Perspektive nurmehr imaginäre Objekte darstellen, die im Unbewussten verschlüsselt und generiert und dann auf die Bewusstseinsebene projiziert werden. Streng muss formuliert werden, dass es überhaupt keine Objekte bzw. Signifikate gibt, sondern nur übercodierte Signifikanten – »das 40 Natürlich muss in diesem Kontext auch der grundsätzlich verschiedene apriorische Gedankenkreis in Rechnung gestellt werden, der die klassische episteme von der Moderne trennt. Vgl. hierzu M. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 390f. 41 Zu Lacans Unterscheidung des Subjekts des Aussagens (je) vom Subjekt der Aussage (moi) vgl. J. Lacan: Schriften II, S. 173f. 42 J. Lacan: Seminar II, S. 79ff. 43 Vgl. ebd. S. 70. 44 Vgl. J. Lacan: Seminar III, S. 15.
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Signifikat ist nichts als ein Signifikant«45 –, deren präzedente Codierungsgeschichte aber, mit Kant, apriorisch ist, das heißt niemals im Bereich des Bewusstseins erscheint. Die voraufgegangenen Passagen haben gezeigt, dass der hier im Text als Detonation um 1900‹ mitgeführte Paradigmenwechsel im Allgemeinen und die erste Entdeckung des Unbewussten im Besonderen das klassische Verhältnis zwischen dem Erkenntnissubjekt und dem Erkenntnisobjekt, das, will man die anfänglich eingeführte Lacan’sche Unterscheidung hier applizieren, vom männlichen Begehren vektorisiert wird, radikal und unrettbar dekomponiert. Auch die empirisch-transzendentale Dublette, auch der Mensch als letzter Rehabilitationsversuch eines männlichen Forscherbegehrens, sollte sich, wie Foucault dann gezeigt hat, nicht nur als ab initio aporetische und störanfällige, sondern darüber hinaus als kurzlebige, saisonale Konstruktion erweisen. Sobald das Unbewusste, das hat Lacans Darlegung des operativen und nicht dichotomischen oder auch nur symmetrischen Verhältnisses zwischen Bewusstsein und Unbewusstem gezeigt, in den Radius der jeweils vom wissenschaftlichen Subjekt angefahrenen Fragen gerät, muss das alte Schema der Objektivierung notwendig versagen, mehr noch: in Aporien, Paradoxien und Verkennungen führen, sofern das Unbewusste ja gerade jenes selbst unverwaltbare und unmöglich objektivierbare Andere ist, das alle bewussten Denk- und Identifizierungsprozesse determiniert. Anders und epigrammatisch gesprochen: die Mathematik des männlichen Begehrens kann im Blick auf das Unbewusste nicht mehr greifen, weil das Unbewusste unter anderem auch diese Mathem-atik selbst prozessiert. Um an diesem Punkt eine Bilanz zu ziehen: Das bis zum Ende der episteme des Menschen in der Wissenschaft dominierende männliche Begehren, durch den reduktionistischen Objektbezug konstituiert, muss einen massiven Machtverlust registrieren und abdanken angesichts einer radikal neuen wissenschaftlichen Konfiguration, die sich nicht nur durch den Entzug bzw. die Relativierung des eidetischen Objekts, sondern überdies – denn dies folgt aus der Entdeckung des Unbewussten – durch die Intervention eines »anderen Schauplatzes«,46 eines »Anderswo, dessen wir uns nicht bewußt sind«47 auszeichnet, das seinerseits alle Beziehungen zwischen Subjekten und Objekten der Erkenntnis (fern-)bestimmt und (fern-)steuert, mehr noch: erzeugt und programmiert. Die Konsequenzen, die diese neue Konfiguration für die Geschichte der Anthropologie, Philosophie und Wissenschaft im Allgemeinen hat, sind vielleicht bis heute noch gar nicht absehbar. Und dieser Aufsatz kann nicht mehr und nicht weniger, als einigen sicheren Vermutungen nachspüren – von denen eine wäre, dass das wissenschaftliche Begehren, das von dieser 45 Ebd., S. 65. 46 J. Lacan: Schriften I, S. 220; J. Lacan: Schriften II, S. 45, 125, 173. 47 J. Lacan: Seminar VII, S. 177.
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neuen Konfiguration auf den Plan gerufen wird, nur ein weibliches, ein sich im Verhältnis zum Anderen artikulierendes Begehren sein kann – sowie ein paar Scheidewege, Entwicklungen, aber auch Rückfälle, und vielleicht Desiderate bezüglich der Wissenschaftsgeschichte nach 1900 registrieren. Gehen wir zunächst noch einmal auf den »anderen Schauplatz«, ein »Anderswo, […] [das] allen gegenwärtig und jedem verschlossen ist, an dem Freud entdeckt hat, daß, ohne daß man dran denkt und also ohne daß irgendeiner denken kann, er könne besser daran denken als ein anderer, es denkt«48 – eine andere Zeit. Die Zeit des Seins. Das Sein als Zeit. Wenn auch sein Stil höchst privat, privatisiert erscheint, so steht Heidegger den Theoretikern des Unbewussten, Freud und Lacan, in gewisser Hinsicht überhaupt nicht fern. Auch bei Heidegger komponiert sich das Feld einer Wissenschaft – die Philosophie als Wissenschaft vom Sein einbegriffen – zunächst scheinbar einfach nach Subjekt und Objekt, aber die Schwierigkeiten setzen unmittelbar darauf ein, wenn er die subjektiven Tätigkeiten des Untersuchens und Erforschens als ein Suchen und Fragen beschreibt, um so das jeweilige Objekt als das Gefragte, das Erfragte und das Befragte bestimmen zu können und folgende Erkenntnis zu formulieren: »Jedes Suchen hat sein vorgängiges Geleit aus dem Gesuchten her.«49 Kann eine positivistische Einzelwissenschaft es sich halbwegs ungestraft erlauben, die in dieser Aussage Heideggers implizierte Tatsache zu vernachlässigen, so dürfen Wissenschaften wie Anthropologie oder Ontologie die Augen nicht davor verschließen, dass das Gesuchte kein äußeres, vom Subjekt unterschiedenes Objekt ist, sondern dass vielmehr das Gesuchte das Subjekt selbst ist. Das Objekt ist das Subjekt der Frage, des Suchens. Hierin wiederholt sich etwas, nämlich die Freud’sche Erfahrung, die Lacan in ihren philosophiehistorischen Kontexten wieder aufsucht. Was Heidegger für die Ontologie anmahnt, die für diese wissenschaftliche Disziplin mehr als andere lagegerechte Anerkennung der unmöglichen Trennung von Subjekt und Objekt, der unmöglichen Objektivierbarkeit des Seins, entspricht genau der Erfahrung, mit der Freud bei der Entdeckung des Unbewussten konfrontiert wird: das Scheitern der cartesischen Schlussfolgerung, die Diskordanz von Ich denke und Denken, die Übernahme des Anderen Schauplatzes als jenes seienden Seins, das sich sein Seiend-Sein nicht mehr vorstellen kann. Heidegger durchläuft eine Art Freud’sche Erfahrung zweiter Art, wenn er die Aporien einer Wissenschaft und Philosophie entdeckt, Aporien, deren Grund in der Verkennung der Tatsache liegen, dass das Objekt des Fragens zugleich das Subjekt des Fragens ist.50 Heideggers Bestimmung des Gefragten als das, was notwendig zu jedem Fragen als Fragen nach gehört, impliziert zum einen (wie Hegel es antizipierte) eine operative Interferenz und Vernet48 J. Lacan: Schriften I, S. 80f. 49 M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 5. 50 Vgl. ebd., S. 9f. Vgl. auch S. Freud, GW XI, S. 44, 94.
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zung von Subjekt und Objekt, die zugleich und unvermeidbar die klassische Subjekt-Objekt-Dualität dekomponiert. Zum anderen aber unterläuft das Fragen das Gefragte selbst: Objekt der Frage ist schließlich das Fragen nach, die subjektive zeitliche Operation des Fragens selbst, und daraus resultiert die Unmöglichkeit, das Objekt der Frage länger im Sinne eines vorstellbaren, fest-stellbaren, substantifizierbaren Gegenstands zu isolieren. Als Operation des Fragens fällt das Gefragte in die Unvorstellbarkeit und in eine Abwesenheit, die nicht einfach das Gegenteil von Anwesenheit ist, sondern Moment der Frage selbst, Moment des Denkens im Freud’schen Sinne – ein postcartesisches Denken, das sich nicht länger selbst als denkend vorstellen und so seiner selbst versichern kann, ein Denken, das von der Repräsentation seines eigenen Ich denke wie von der Repräsentation aller anderen gedachten Objekte irreduzibel getrennt ist.51 Nochmals wird es an dieser Stelle evident: Mit der Intervention des Anderen als einer mit imaginär-phantasmatischen Mitteln nicht mehr zu bemächtigenden und zu bewältigenden Andersheit, mit der Intervention eines das Bewusstsein bestimmenden und unterlaufenden Unbewussten oder eines Anderen Seins wird dem männlichen Begehren, das sich nur über die Beziehung S/ a hält und verankert, jede Möglichkeitsbedingung der wissenschaftlichen Welteroberung entzogen. Um es noch schärfer und pointierter zu formulieren: an dieser Stelle vermag nur ein weibliches Begehren – S/ A – auf der Spur zu bleiben. Das Heidegger’sche Sein als Zeit lässt sich wie das Unbewusste nicht externalisieren, vielmehr ist es unser Sein, wir sind es, wir »korpsifizieren« diese Zeit, dieses Sein, dieses Reale. Wir sind das Sein noch in dem Moment, in dem wir über das Sein, das Reale, die Wahrheit, das Begehren sprechen – wodurch jedes Sprechen bis zu einem gewissen Grad unmöglich und zum Scheitern, zum wiederholten Anlauf verflucht ist. Vielleicht ist es da, vielleicht ist da eine andere, eine weitere Möglichkeit, es zu sagen, es zu amplifizieren, was die Dissidenz im Begehren des Mannes und der Frau betrifft: Während dieses Scheitern an der ganzen Wahrheit, am fraglosen Objekt, wie eine Mortifikation auf den Mann zurückschnellt und instantan einer sich als Stockung im Wissensprozess manifestierenden Verdrängung unterliegt, wird das Begehren der Frau durch diese Unmöglichkeit der ganzen Wahrheit gerade stimuliert. Die letzte Formulierung: ein Begehren, das von der Unmöglichkeit der ganzen Wahrheit, vom Faktum einer irreduziblen Spaltung und Diskordanz zwischen dem Symbolischem und dem Realem produktive Funktion macht, um den Bestand des Wissens zu erweitern, zu restituieren, zu amplifizieren, gibt im Grunde bereits eine sehr präzise Definition des hysterischen
51 Vgl. Martin Heidegger: Was heißt Denken? Stuttgart: Reclam 1992, S. 6, 9f., 15, 61. Vgl. M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 42.
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Diskurses.52 Der hysterische Diskurs nobilitiert innerhalb von Lacans Schema der vier Diskurse den/die wahre(n) Wissenschaftler/in, den/die er vom kleinen verstaubten Mann der Universität im senffarbenen Pullunder abgrenzt, als ruhmvollsten Hysteriker lässt er Hegel paradieren.53 Aus all dem erschließt sich bereits, dass er sich von der Hysterie als dem Privilegiensyndrom von konvulsivischen Charcot-Zuckerchen mit Ballerina-Chignon weitestmöglich distanziert. Nichtsdestoweniger erweist sich das hysterische Begehren – und im Hinblick auf die einleitenden Bemerkungen hinsichtlich Mann und Frau, verstanden als Positionen im kulturellen und hier speziell wissenschaftlichen Diskurs und nicht als biologische Geschlechtereinteilung ist dies nur konsequent – als ein unzweideutig weibliches Begehren, sofern es nicht auf Objektivierung, sondern auf Adressierung eines Anderen geht, das Lacan als RelaisStation (mit dem Akzent auf Station) des vom hysterischen Begehren erzeugten und zugleich permanent erweiterten, exakter: permanent im Blick auf seine präzedenten Stationen dialektisierten Wissens beschreibt. Aber nicht nur Hegel, auch Kant, Heidegger und die Wissenschaftler auf der Mission Impossible der »epistemischen Dinge« – sie alle waren weit entfernt, mehr noch, hätten es als Sakrileg empfunden, das Ding als ausgemachte 52 Im hysterischen Diskurs operiert das gespaltene Subjekt S/, die operationalisierte Diskordanz des Symbolischen und des Realen, am Ort des Agenten. Von hier aus generiert das Subjekt das für die Hysterie symptomatische Phantasma, das, und aus dieser phantasmatischen Verkennung ergibt sich die Mehrlust der Hysterika, darauf hinausläuft, dass die Hysterika selbst im geheimen initiiert und nobilitiert ist durch den Besitz der ganzen sphingoiden, hochverschlüsselten und preziösen Wahrheit, durch den Besitz der Lade des Seins, kurzum: den Besitz des Phallus. In der Tiefe ihres pythischen Wesens mutmaßt die Hysterika eine unsägliche Wahrheit – dass sie es selber ist, sie ist der Phallus, und als auratischer Köder wiegt sie sich einem Anderen zu, der allein erst in Form des Produzenten ihre glorreiche Wahrheit chevilliert. Obwohl das Begehren der Hysterika ein unmögliches ist, sofern sie gerade nicht durch die Wahrheit, sondern vielmehr als ein gespaltenes Subjekt durch deren Inexistenz, durch den Verlust des Phallus, konstituiert ist, stellt sie doch für einen Wissenschaftsdiskurs à la Lacan ein Desiderat und, in der Tat, ein Wesen zwischen Pythia und Kontingenzoperator dar, sofern sie im Gegensatz zum objektreduzierten Herrn produktive und schöpferische Funktion von diesem ihrem unmöglichen Begehren macht. Vgl. Jacques Lacan: Le Séminaire, Livre XVII. L’envers de la psychanalyse (19691970). Paris: Seuil 1991. S. 31-42 und S. 61; Jacques Lacan: Radiophonie, Télevision, hg. von Norbert Haas und Hans-Joachim Metzger, Weinheim, Berlin: Quadriga 1988, S. 41, 47; J. Lacan: Schriften I, S. 94, 211-218; J. Lacan: Seminar XX, S. 110. Vgl. auch Annette Bitsch: Always Crashing into the Same Car. Jacques Lacans Mathematik des Unbewußten. [Medien i] Bd. 7, hg. von Claus Pias, Joseph Vogl und Lorentz Engell, Weimar: VDG 2001, Kap. 14. 53 Vgl. J. Lacan: Radiophonie, S. 39; J. Lacan: Schriften II, S. 167; vgl. auch Slavoy Zizek: Der erhabenste aller Hysteriker: Lacans Rückkehr zu Hegel, Wien 1991; Antonello Sciacchitano: Wissenschaft als Hysterie: das Subjekt der Wissenschaft von Descartes bis Freud und die Frage nach dem Unendlichen, Wien: Turia & Kant 2002.
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Sache zu verbuchen und in Folge auf den Bahnen eines mittlerweile allen Schwungs und aller Elastik verlustig gegangenen männlichen Begehrens einfach zu objektivieren, zu inventarisieren, zu katalogisieren, zu archivieren etc. etc. Hegels spekulativer Prozess, Kants »Kritik der reinen Vernunft« und Heideggers Fundamentalontologie – so unterschiedlich ihre jeweiligen Ausgangspunkte und Methoden auch sein mochten, so treffen sie sich doch in dem einen Punkt, dass sie alle, weit entfernt, ein fertiges, objektivierbares gedanklich-philosophisches Gebäude zu präsidieren, unterwegs waren auf einer durch ein hysterisches Begehren motivierten Spur, auf einer Expedition, auf einer Wanderung, die, um die Orientierung, die Rückkopplung, die Integration nicht zu verlieren, in Abständen Botschaften an ein Anderes brauchten – Wissenschaft in operando und kein zum Herrenwissen kondensiertes und von Subalternen in Senffarben administrierbares Wissen in Konserven. Womit einerseits der akademische Diskurs, die Alternative zum Hysteriediskurs im Bereich der Akademie, in seinen Grundlinien skizziert54 und andererseits über das weitere Schicksal der empirisch-transzendentalen Dublette alles gesagt wäre. Um zum Abschluss zu kommen. Dieser Text wäre vollkommen missverstanden, wollte man ihn als Aufruf verstehen, das männliche, am Objekt orientierte und auf das Objekt beschränkte wissenschaftliche Begehren zugunsten des weiblichen wissenschaftlichen Begehrens, zugunsten des hysterischen Diskurses inklusive seines Bezugs auf das Andere völlig zu suspendieren. Ein solches Unterfangen wäre schon aus dem Grund sinnwidrig und überflüssig, als nicht alle wissenschaftlichen Felder notwendig durch ein solches Verhältnis zum Anderen überhaupt profitieren müssen. Alpenveilchen und Magnolien sind wissenschaftliche Objekte der Botanik; Schadstoffe in Müll und Abwässern machen Objekte für eine Wissenschaft namens Abfalltechnik. Gynäkologen untersuchen Eisprünge und Aborte; Sozialwissenschaftler finden ihre Objekte zum Beispiel bei den Rockefellers, von Fuerstenbergs und Kieselstein-Cords. Es ließen sich viele weitere Beispiele aufzählen, bei denen die Frage alle Rechtfertigung fände, ob es denn Sinn mache, wenn hier jene Spaltung des Seins, von der die Hysterie zwecks Transzendierung des Wissens auf eine höhere Potenzebene Funktion macht, tatsächlich aktiviert würde. Es ist nicht so, dass alle Objekte auf all den Plantagen empirisch-positivistischer Einzelwissenschaften gemäht werden müssten, nicht so, dass all das männliche Begehren, auch wenn abgesehen von statistischer Berechnung der Cholesterinwerte beim übermäßigen Verzehr von Kalbsherzen keine großen epistemogenen Effekte sich entzünden, kassiert werden müsste. Alarmierend
54 Genauer vgl. Jacques Lacan: Le Séminaire Livre XVII. L’envers de la psychanalyse (1969-1970), hg. von Jacques-Alain Miller, Paris: Seuil 1991, S. 32-35; J. Lacan: Radiophonie, S. 38, 47; J. Lacan: Seminar XX, S. 85; vgl. auch A. Bitsch: Always Crashing, Kap. 14.
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und beunruhigend wird die Sache erst dann, wenn der hier zu Werke gehende Mediziner seinen empirischen Objektbereich, das heißt mit Lacan: die imaginäre Realität, mit dem Realen, oder mit Kant: den von der vorgängigen apriorischen Vernunftsynthese konfigurierten Bereich a posteriori mit dem Ding an sich, dem »noumenon im negativen Verstande«,55 verwechselt. Beunruhigend erst dann, wenn die Gynäkologen zu Gynäkokraten aufwachsen und wenn über den gerösteten Entenherzen mit Tannenspitzen und dem Knurrhahn auf Estragonschaum auf dem After Dinner des 123. Otologen-Kongresses im Schloss Bühlerhöhe nicht nur Prof. Bärlauch über Minor Tranquilizer bei Ohrensausen, sondern Moi la vérité je parle über das Sesam des Seins zu deklamieren sich anmaßt. »Jedenfalls rechne ich mit ihrem Wohlwollen, wenn ich es für ausgemacht halte, daß die Bedingungen einer Wissenschaft nicht im Empirismus liegen können.«56 Und ebenso höflich, ebenso sachlich lässt sich hinzufügen: alles, was den Bereich reiner Triebstärke in der Beziehung zum Objekt übersteigt – und was als solches ja letztendlich im perversen Begehren kulminiert, dessen Machtphantasien sich wiederum gut in den wissenschaftspolitischen Betrieb investieren lassen –, postuliert ein Verhältnis zum Anderen, eine weibliche Begehrensstruktur. Eine solche liegt als basale Struktur auch dem Diskurs der Analyse zugrunde, den Lacan in Opposition zum Diskurs des Herrn setzt und den er aus dem Diskurs der Hysterie ableitet.57 Auch er soll an dieser Stelle nur genannt, nicht akribisch in seinen einzelnen Funktionen und Operationen erläutert werden. Genannt oder besser noch und zum Abschluss dieses Textes – aufgerufen werden in der Rolle, die Lacan ihm innerhalb der Wissenschaftstheorie, Philosophie und Anthropologie, speziell nach der Detonation um 1900 beimisst. Der Diskurs der Analyse, wissenschaftsphilosophisch angewendet, geht davon aus, dass die Washeit, das imaginäre Objekt, der Erkenntnisgegenstand einer jeweiligen Wissenschaft, nicht essenzialisiert und als per se existierend präsupponiert werden darf, sondern im Gegenteil auf seine subjektiven Konstitutionsbedingungen hin rekonstruiert werden, im Hinblick auf die ihm vorgängige Dassheit, im Hinblick auf seine signifikante Genese hin befragt werden muss. Lacan projektiert eine Wissenschaft, die nicht einfach im Stil akademischen Generalmanagements ihr jeweiliges Objekt, dessen Wahrheit und Wirklichkeit, usurpiert, sondern sich selbst auf die Rechnung und aufs Spiel setzt, eine Wissenschaft also, die neben ihrer notwendig am Objekt arbeitenden wissenschaftlichen Tätigkeit ihr eigenes Subjekt-Sein als ein begehrendes, sprechendes, objekterzeugendes Sein vergegenwärtigt. Dazu aber wird es einen Bezug auf Anderes brauchen. Das wird der Mann mit der
55 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, Bd. III und IV, B307. 56 J. Lacan: Schriften II, S. 168. 57 Vgl. J. Lacan: Seminar XVII, S. 11-22.
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»langen, höchst universitären Unterhose«58 nicht alleine bewerkstelligen. »Die Gestalten der Geschichte sind ja seit geraumer Zeit nicht gerade ermutigend. Seiner Natur nach ist der Mann nicht dazu beschaffen, das Gewicht des höchsten aller Signifikanten allein zu tragen. Und die Stelle, die er einnimmt, indem er sie bekleidet, kann zum Symbol des Schwachsinns werden.«59
58 J. Lacan: Seminar VII, S. 353. 59 J. Lacan: Schriften I, S. 38.
Pa ra doxe Lust als das Unbew usste w issensc haftlicher Krä nk unge n CHRISTOPH F. E. HOLZHEY
Die Hirnforschung hat sich in den letzten Jahren durch zahlreiche Kontroversen der breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht. Mit ihrer Forderung nach einem neuen Menschenbild schickt sie sich an, wie schon wiederholt beobachtet worden ist, der Menschheit eine weitere Kränkung hinzuzufügen, d.h. Freuds psychologische Kränkung vor knapp 100 Jahren weiterzuführen und nochmals zu radikalisieren. Wenn das Unbewusste Freuds dem Ich die Herrschaft im eigenen Haus streitig machte, so steht nun die Willensfreiheit völlig zur Disposition, ebenso wie die Einheit oder auch nur Existenz eines Ichs oder Selbst.1 Auf die Einzelheiten der neurobiologischen Thesen möchte ich im Folgenden gar nicht näher eingehen. Im Vordergrund soll vielmehr eine paradoxe Mobilisierung des Affektiven für die Rezeption neuer wissenschaftlicher Paradigmen stehen. Denn was sich in den Debatten um die Hirnforschung andeutet, ist eine eigentümliche Verknüpfung von Kränkung und Akzeptanzerwartung. Während Freud in der narzisstischen Kränkung durch die Psychoanalyse noch ein Hindernis für die Annahme seiner Theorien sah, scheinen sich Neurowissenschaftler mitunter gerade durch Hervorhebung kränkender Elemente ihres neuen Menschenbildes Erfolg zu versprechen. Für diese verwunderlich anmutende Strategie der Kränkung ist Freuds Geschichte der modernen Wissenschaft als kumulierende Abfolge von narzisstischen Kränkungen emblematisch.2 Die Art und Weise, wie er erzählt, dass nach der Kopernikanischen und Darwinschen Revolution nun die Psy-
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Vgl. Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004 und Thomas Metzinger: Being No One: The Self-Model Theory of Subjectivity, Cambridge: MIT Press 2003. Sigmund Freud: Gesammelte Werke [im Folgenden: GW] Bd. XII, Frankfurt/ Main: Fischer 2005, S. 6ff.
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choanalyse der Menschheit eine dritte schwere Kränkung zufügt, belegt und erhellt, wie in der Moderne langsam die Auffassung aufkam, dass »harte Wissenschaft« sich auch dadurch auszeichnet, dass sie unliebsame Menschenbilder hervorbringt. Während allzu gefällige Menschen- und Weltbilder – ausgehend etwa von einem Vertrauen in eine grundlegende Einheit des Guten, Wahren und Schönen – unter einem Illusionsverdacht stehen, genießen narzisstisch verletzende Ansätze einen Plausibilitätsvorschuss. Sicherlich kann eine Theorie ihre Richtigkeit nicht dadurch begründen, dass sie kränkt und Widerstände hervorruft. Gerhard Vollmer verweist zu Recht auf die »wissenschaftstheoretische Problematik, daß Freud jedes Gegenargument unterlaufen kann, indem er es als unbewußte Abwehr gegen seine Theorie erklärt«, und betont: »Ablehnung beweist [...] überhaupt nichts«.3 Zugleich verdeutlicht aber sein Aufsatz »Die vierte bis siebte Kränkung des Menschen«, der zuletzt die gegenwärtige Kränkung durch die Hirnforschung voraussagt, nicht nur die anhaltende Attraktivität und Bedeutung des Freudschen Deutungsmusters, welches Rezipienten »ganz unauffällig zu der Überzeugung [führt], wer sich gegen Freuds Theorie wehre, der tue das gar nicht aus sachlichen Gründen, sondern aus verletzter Eitelkeit«.4 Bei aller Kritik schreibt er es mit seiner Aufstellung von jeweils vierten Kränkungen letztlich auch fort. Gleiches lässt sich auch beispielsweise von Peter Sloterdijks Aufsatz »Kränkung durch Maschinen« sagen, der einen regelrechten Kränkungswettbewerb be- und fortschreibt. Er will eine kritische Lektüre von Freuds »Legende von den drei Kränkungen«5 leisten, merkt aber zugleich an, dass »die hardcore-Phase der Ernüchterungsgeschichte erst jenseits der dritten Kränkung beginnt« und Freudianer heute neben Vertretern der Neurowissenschaften »wie eine Schola von schönen Seelen« wirken.6 Der Lacanianer Slavoj Žižek nimmt die Herausforderung an und hält dagegen: »Die Freudsche Dezentrierung wird keineswegs von der späteren Dezentrierung durch die Neurowissenschaften überholt, sie ist vielmehr weitaus beunruhigender und radikaler als diese.«7 Offenbar ist ein Ansatz desto besser, je radikaler er kränkt – alles andere ist als Kompromiss und Zugeständnis an behagliche Traditionen zurückzuweisen. Diese Auffassung ist so geläufig, dass sie gar nicht mehr auffällt, obgleich sie doch zu denken geben sollte: Beruht der Vorzug von radikalen Kränkungen ausschließlich auf kognitiven Kriterien etwa der Widerspruchs3 4 5
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Gerhard Vollmer: »Die vierte bis siebte Kränkung des Menschen«, in: Aufklärung und Kritik 1/1 (1994), S. 81-92, hier S. 83. Ebd. Peter Sloterdijk: »Kränkungen durch Maschinen. Zur Epochenbedeutung der neuesten Medizintechnologie«, in: ders., Nicht gerettet. Versuche über Heidegger, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 338-66, hier S. 340. Ebd., S. 343. Slavoj Žižek: Parallaxe, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 147.
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freiheit und inneren Konsistenz? Zeugt er von starken, aufklärerischen Fortschrittsannahmen, wonach überlieferte Illusionen mit zunehmender Radikalität aufgedeckt werden? Oder geht es eher um eine affektiv-ästhetische Beurteilung, um eine Abneigung gegenüber befriedigenden Erklärungen und um eine vielleicht spezifisch moderne, paradoxe Form von intellektueller, ästhetischer oder auch existenzieller Lust an radikaler Kränkung? Inwiefern findet schließlich eine Interferenz von diesen wissenschaftlich-kognitiven und ästhetischen Dimensionen statt, etwa eine Produktion von Bedeutungs- und Wahrheitseffekten durch schmerzhafte Thesen? Derartigen Fragen möchte ich im Folgenden für den Fall der Freudschen Kränkungsgeschichte nachgehen. Wenn wissenschaftlicher Fortschritt immer weitere narzisstische Wunden zufügt, dann scheint es, als könne er nur aus Masochismus angestrebt und akzeptiert werden. Wenn diese Diagnose angesichts der traditionellen Konnotationen von Masochismus als sexueller Perversion und/oder Ausdruck von Weiblichkeit befremdlich erscheint, dann ist dies insofern beabsichtigt, als sie ein Gegengewicht zur geläufigeren Auffassung bilden soll, dass in der Wissenschaft schmerzhafte Erkenntnisse mit »männlichem« Heroismus oder Stoizismus zu ertragen sind.8 Ohne die abwertenden Konnotationen fortzuschreiben, soll die Masochismusdiagnose damit zunächst das Problem akzentuieren, wie die Produktion und Akzeptanz schmerzhafter Erkenntnisse möglich ist und verstanden werden kann. Zugleich legt sie aber schon eine Erklärung nahe, dass es nämlich durchaus um einen Lustgewinn geht, der aber eng an schmerzhafte Empfindungen geknüpft ist. Auch wenn Masochismus nicht als ausgrenzende Zuschreibung verwendet wird, scheint dieser Erklärungsansatz Teil des Verdachtsdiskurs zu sein, der für die Psychoanalyse charakteristisch ist. Denn in Anschluss an Marx und Nietzsche ist es insbesondere bei Freud zu lesen, dass das spezifisch moderne Misstrauen gegenüber wunscherfüllenden Erkenntnissen systematisch in Erscheinung tritt. Die Kehrseite dieses Verdachtsblicks ist aber gerade, dass schmerzhafte Erkenntnisse glaubwürdiger erscheinen. Wenn der Nachweis von Motivationsstrukturen potenzielle Schwachstellen eines Gedankengebäudes aufzeigt, deuten Widerstände auf Stärken, auch wenn sie streng genommen nichts beweisen: Sie legen nahe, dass die Thesen, gegen die sie sich richten, nicht durch Wunscherfüllung motiviert und somit keine Illusionen im Sinne Freuds sind.9 Indem ich nun die Möglichkeit unbewusster Lust in Be8
9
Eine Tendenz zur heroischen Selbststilisierung wird bei Freud gerne beobachtet (z.B. P. Sloterdijk: Kränkungen, S. 342), spricht aber genauso wenig wie Zweifel an der historischen Richtigkeit seiner Kränkungsgeschichte gegen sein Deutungsschema, sondern belegt vielmehr dessen Verbreitung. Freud ist dabei durchaus differenziert und hebt hervor, dass sich das »Interesse der Psychoanalyse für die nicht psychologischen Wissenschaften« darauf beschränkt, »die schwachen Punkte des Systems« anzuzeigen, während deren
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tracht ziehe und nach der Lust auch in schmerzhaften Einsichten frage, weite ich den psychoanalytischen Verdachtsblick aus. Dies ist in mancher Hinsicht radikaler und treibt die Verdachtsschraube um eine Umdrehung weiter, unterläuft aber zugleich die soeben evozierte Radikalitätslogik. Denn wenn auch schmerzhafte Kränkungen des Lustgewinns verdächtigt werden, gerät die ganze Verdachtslogik ins Wanken und fällt in sich zusammen. Was nun vielmehr suspekt erscheint, ist die Strategie, Lust und Unlust für die Bewertung der kognitiven Haltbarkeit von Erkenntnissen und Thesen zu instrumentalisieren. Mein Ausgangspunkt ist die Schrift »Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse«, wo Freud auf der Grundlage seiner Libidotheorie erklärt, »daß der allgemeine Narzißmus, die Eigenliebe der Menschheit, bis jetzt drei schwere Kränkungen von seiten der wissenschaftlichen Forschung erfahren hat«.10 Der Mensch verliere zunehmend seine privilegierte Rolle und die damit verbundenen Herrschaftsansprüche: erst innerhalb des Universums, dann innerhalb des Tierreichs. Mit ihren Erkenntnissen zur Sexualität und zum Unbewussten treffe die Psychoanalyse »am empfindlichsten«, da diese der Behauptung gleich kommen, »daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus«. Freud folgert sogleich: »Kein Wunder daher, daß das Ich der Psychoanalyse [...] hartnäckig den Glauben verweigert«.11 Diese Erklärung für Freuds Frage nach der schwierigen Akzeptanz der Psychoanalyse ist in vielerlei Hinsicht plausibel; das Problem ist nur, dass sie zu viel erklärt. Denn mit der Erklärung der Widerstände wird es innerhalb von Freuds Rahmen schwer verständlich, wie die Kränkungen je angenommen werden können und ja zum Teil auch schon sind. Ein schlichter Verweis auf Realität und Wahrheit ist jedenfalls unzureichend, wie auch in der kurzen Schrift am Ende deutlich wird. Freud zufolge lenkt die Psychoanalyse nämlich gerade deshalb Abneigung und Widerstände auf sich, weil sie die »beiden dem Narzißmus so peinlichen Sätze von der psychischen Bedeutung der Sexualität und von der Unbewußtheit des Seelenlebens nicht abstrakt behauptet, sondern an einem Material erweist, welches jeden einzelnen persönlich angeht
Überprüfung einer systeminternen Kritik obliegt, »denn, wie begreiflich, schließt die psychologische Determinierung einer Lehre ihre wissenschaftliche Korrektheit keineswegs aus« (S. Freud: GW Bd. VIII, S. 407). Er berücksichtigt sogar die Möglichkeit, dass Illusionen – in seinem Sinne eines von Wunscherfüllung motivierten Glaubens und nicht unbedingt Irrtum – auch sein eigenes Denken bestimmen (S. Freud: GW Bd. XIV, S. 374ff.). Dies verbindet ihn, wie Astrid Deuber-Mankowsky jüngst hervorhob, mit dem Projekt der Selbstkritik der Vernunft, aber auch mit der Einsicht in den »positiven Schaden« der Illusion bei Kant (dies.: Praktiken der Illusion: Kant, Nietzsche, Cohen, Benjamin bis Donna J. Haraway, Berlin: Vorwerk 8 2007). 10 S. Freud: GW Bd. XII, S. 6f. 11 Ebd., S. 11.
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und seine Stellungnahme zu diesen Problemen erzwingt«.12 In seinem Eifer, Widerstände gegen seine Theorie zu erklären, lässt Freud so die Akzeptanz der Psychoanalyse unverständlich masochistisch erscheinen. Natürlich hat auch bei Freud die Realität eine Bedeutung für die Psyche, aber diese entfaltet sich konstruktivistisch anhand der Lust/Unlust-Unterscheidung. So hängt etwa die Unterscheidung von Selbst und Umwelt von der Möglichkeit ab, sich schmerzhaften Reizen durch Muskelaktion zu entziehen, und es bedeutet »die Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip keine Absetzung des Lustprinzips, sondern nur eine Sicherung desselben«.13 Das Realitätsprinzip bildet ein Modell, das Masochismusdiagnosen schnell zusammenfallen lässt. Schmerz und Unlust werden nicht um ihrer selbst willen verfolgt, sondern zur Sicherung einer späteren, dauerhaften, jedenfalls als höher angenommenen Lust. Man könnte auch sagen, dass das vermeintliche Lust-Schmerz-Paradox durch Temporalisierung und Hierarchisierung aufgelöst wird. Eine direkte Anwendung dieses Modells auf den vorliegenden Fall von narzisstischen Kränkungen stößt jedoch unter anderem auf die Schwierigkeit, dass sich Sexualtriebe generell, und zwar selbst wenn sie sich auf Objekte in der äußeren Realität beziehen, lange dem Realitätsprinzip entziehen. Einen konkreteren Erklärungsansatz für die Akzeptanz narzisstischer Kränkungen liefert der Text, indem er sich auf die Therapie beruft. Nachdem er zunächst den gewöhnlichen Zustand beschreibt, in dem sich das Ich souverän fühlt, geht er zu »gewissen Krankheiten« über, in denen sich das Ich unbehaglich fühlt und auf Grenzen seiner Macht stößt. Während die Betroffenen dies nicht als Widerspruch zum narzisstischen Selbstbild interpretieren, gibt der Text dem betroffenen Ich in einer anderthalb Seiten langen Rede Aufklärung: »Es ist nichts Fremdes in dich gefahren; ein Teil von deinem eigenen Seelenleben hat sich deiner Kenntnis und der Herrschaft deines Willens entzogen. […] Die Schuld, muß ich sagen, liegt an dir selbst. Du hast deine Kraft überschätzt […]. Der ganze Vorgang wird aber nur durch den einen Umstand möglich, daß du dich auch in einem anderen wichtigen Punkte im Irrtum befindest. Du vertraust darauf, daß du alles erfährst, was in deiner Seele vorgeht, wenn es nur wichtig genug ist, weil dein Bewußtsein es dir dann meldet.«14
Die Rede schließt mit dem Rat: »Geh in dich, in deine Tiefen und lerne dich erst kennen, dann wirst du verstehen, warum du krank werden mußt, und vielleicht vermeiden, krank zu werden«.15 Dies liest sich wie ein Teil eines Therapiegesprächs, jedenfalls ist die Rede zunächst an eine kranke Person 12 13 14 15
Ebd., S. 12. S. Freud: GW Bd. VIII, S. 235f. S. Freud: GW Bd. XII, S. 10. Ebd., S. 11.
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adressiert. In diesem Fall ist es durchaus verständlich, wie die Kränkung angenommen werden kann, auch wenn zugleich mit Widerständen zu rechnen ist. Tatsächlich behandelt Freud in seiner ersten Vorlesungsreihe Widerstände gegen die Psychoanalyse aus der Perspektive nicht des Narzissmus, sondern der Therapie. Er beruft sich dabei auf eine Analogie mit der Chirurgie, um Leidenserhöhung als Gegenargument zu entkräften: »Niemand denkt mehr daran, [dem Chirurgen] die unvermeidlichen Beschwerden der Untersuchung [...] zur Last zu legen, wenn diese nur ihre Absicht erreicht, und der Kranke durch die zeitweilige Verschlimmerung seines Zustandes eine endgültige Hebung desselben erwirbt«.16 Analog dem Realitätsprinzip wird die Einwilligung in Leiden durch Temporalisierung und Hierarchisierung hinreichend erklärt. Freuds Aufsatz adressiert jedoch nur vorübergehend Kranke. In seiner langen Ansprache können sich durch das persistente »du« alle Leser/innen angesprochen fühlen und irgendwann vollzieht sich auch der Wechsel zu einem gesunden Ich. Denn nur diesem kann man sinnvoll sagen: »lerne dich erst kennen, dann wirst du verstehen, warum du krank werden mußt, und vielleicht vermeiden, krank zu werden«. Dies ist auch vielleicht der Kern der Freudschen Kränkung: die Infragestellung der Unterscheidung zwischen gesund und krank mit der Behauptung, dass alle ohne Therapie notwendig krank werden und somit gewissermaßen schon krank sind. Mit dieser Zumutung ist der Widerstand gegen die Psychoanalyse tatsächlich »kein Wunder«. Denn bei denen, die sich gesund fühlen, fehlt der Leidensdruck, der sich erst durch Annahme von Freuds Kränkung einstellt.17 Hinzu kommt, dass als Besserung bestenfalls die Wiederherstellung des ungekränkten Zustandes in Aussicht gestellt wird. Letzteres wäre allerdings bemerkenswert genug. Wenn das sich souverän fühlende Ich durch therapeutische Selbsterkenntnis »vielleicht vermeiden« kann, krank zu werden, bliebe es offenbar gerade in dem Sinne gesund, dass es nicht beginnt, auf Grenzen seiner Macht zu stoßen. Dies hieße, Freuds narzisstische Kränkung wäre gar nicht so radikal, wie er es erscheinen lässt. Anders als die Kopernikanische und Darwinsche Kränkung wäre sie nur temporär, Voraussetzung für eine endgültige Hebung des ursprünglichen Zustandes, der zwar nicht schmerzhaft ist, aber auf einem Irrtum beruht. Es ginge also 16 S. Freud: GW Bd. VIII, S. 56f. In »Wege der psychoanalytischen Therapie« schreibt Freud auch von der Gefahr, dass während der Therapie mit dem Leiden auch die zur Heilung drängende Kraft nachlässt. Er schließt daraus: »Wir müssen, so grausam es klingt, dafür sorgen, daß das Leiden des Kranken in irgendeinem wirksamen Maße kein vorzeitiges Ende finde« (GW Bd. XII, S. 188). 17 Vgl. »Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung«, wo Freud das Problem hervorhebt, dass man bei den »angeblich Gesunden« nicht wie bei den Kranken über »Pressionsmittel verfügte, um sie ihre Widerstände einsehen und überwinden zu lassen« (GW Bd. X, S. 62).
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darum, ein irrtümliches Gefühl der Souveränität durch reale Selbstsouveränität zu ersetzen, das Ich dadurch vor künftiger Krankheit zu schützen und es – erstmals – zum Herren in seinem eigenen Haus zu machen. Diesem Ansatz, die Akzeptanz der narzisstischen Kränkung über die Aussicht auf einen erfolgreichen, gerechtfertigten Narzissmus zu erklären, lässt sich eine Reihe psychoanalytischer Strömungen besonders im Umkreis der Ich-Psychologie zuordnen. Er bildet mit mancherlei Variationen und Modifikationen auch die Grundlage der kulturgeschichtlichen und -philosophischen Reflexionen im schon erwähnten Aufsatz von Peter Sloterdijk. Innerhalb einer »spekulative[n] Erweiterung des Konzepts Immunität« konzipiert dieser Kränkung zwar zunächst als »invasive«, »nicht abwehrbare Information«, welche den Organismus vom Nachteil, er selbst zu sein, »überzeugt«.18 In den weiteren Ausführungen scheint aber auch durch, dass Kränkungen nicht aufgrund ihres Wahrheitsgehalts unabwehrbar sind, sondern weil sie an ein Versprechen geknüpft sind: »Es liegt auf der Hand, daß die moderne Aufklärungs- und Kränkungspublizistik psycho-ökonomisch ein Ding der Unmöglichkeit wäre, wenn sie nicht ein suggestives Analog-Modell der Bewußtseinsreifung für sich in Anspruch nehmen könnte. Sie wirbt für weitere Aufklärung mit dem Versprechen, alle Kränkungen seien nur Impfungen mit der Wahrheit, die uns nach krisenhaften Primärreaktionen regenerierte Immunkräfte und reifere Hochgefühle zur Verfügung stellen«.19
Auf den ersten Blick bildet die Impfung ein attraktives Modell, um die allgemeine Akzeptanz narzisstischer Kränkungen zu erklären, hat sie sich doch seit ihren Anfängen im 18. Jahrhundert als Praxis, die auch an Gesunden vorgenommen wird, gut etabliert. Dieser Erklärungsansatz ist auch aus lustökonomischer Perspektive plausibel, wobei zu betonen ist, dass damit narzisstische Kränkungen als eine vorübergehende Störung relativiert werden. Allerdings gehört »Impfung mit der Wahrheit« zu den bestechenden Sloterdijkschen Formulierungen, die inhaltlich bestenfalls unbestimmt bleiben. Einerseits erklärt sie die Freudsche Kränkung zu einer wirksamen Wahrheit und impliziert zugleich, dass sie eine Wahrheitsimmunität als Ergebnis hat. Andererseits wird schon mit den versprochenen »reiferen Hochgefühlen« das Impfparadigma verlassen, da das Ich dabei nicht lediglich in seiner bestehenden Form gestärkt, sondern verändert wird. Tatsächlich stellt Sloterdijk auch die Hypothese auf, dass alle Kulturgeschichte die »Geschichte der Umformatierung von Narzißmen ist«.20 Das Modell ist hier weniger die Impfung als das historisch wenig später auftretende Paradigma der Bildung. Auch hier ist die
18 P. Sloterdijk: Kränkungen, S. 339. 19 Ebd., S. 347. 20 Ebd., S. 346.
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Kränkung nur temporär, doch anstatt dem ursprünglichen Narzissmus durch Therapie zur Wirklichkeit zu verhelfen, wird ihm ein Ersatz geboten, der sogar höhere Lust gewähren soll. Schlussendlich führt Sloterdijk alle wissenschaftlichen Kränkungen auf die »Gleichung von Mensch und Maschine«21 zurück und erklärt deren Möglichkeit und Macht mit einer narzisstischen Umformatierung, nämlich dem Stolz, Maschinen bauen zu können und damit »aus der metaphysischen Gefangenschaft auszubrechen, in der sich Menschen als Geschöpfe Gottes empfinden müssen«22. Die Genugtuung über diesen Stolz verpufft aber schnell, beziehungsweise sie verteilt sich ungleich und bleibt nur wenigen vorbehalten. Letztlich ist es auch eine andere Narzissmusform, auf die Sloterdijks Augenmerk immer wieder fällt, nämlich ein Narzissmus, der den Vorteil einzelner Individuen betrifft – insbesondere derer, die Kränkungen produzieren und publizieren – und zu kränkenden Rivalitätsbeziehungen der Anerkennung führt. Bezogen auf Freud spricht er von einer latent sadistischen Struktur, da »der Produzent der Kränkung eine privilegierte Chance [hat], den narzißtischen Nachteil, den er veröffentlicht, durch einen Gewinn an Publikationsnarzißmus zu kompensieren, so daß der Publizierer sich ipso facto regeneriert, während alle Risiken sich beim Konsumenten der Kränkung sammeln«.23 Die narzisstische Kompensation erklärt hier das Vorantreiben von Kränkungen, lässt aber deren Konsum oder Akzeptanz unerklärt als masochistisches Komplement des Kränkungssadismus. Zwar spricht Sloterdijk später tatsächlich vom »sadomasochistischen Theater des eskalierenden Maschinenbaus«, aber sein Erklärungsmuster bleibt narzisstisch-sadistisch. Dieses SM-Theater funktioniere nur, solange es durch den »Puffer« der modernen Bildungsidee gelingt, »die jeweils passiven Mehrheiten davon zu überzeugen, daß sie eine Chance haben, sich selbst den Könnenssadismus der offensiven Minderheiten anzueignen und somit zu Mitgewinnern [...] zu werden«.24 So sind wir nach einer doppelten Umformatierung wieder bei einer lediglich temporären Kränkung eines auf Souveränität bedachten Ichs, die nur akzeptiert wird, weil man hofft, ihre Ursache beseitigen zu können. Vorübergehend findet sich bei Sloterdijk allerdings auch ein anderer Ansatz, der bei aller Hervorhebung des Kognitiven auch auf eine paradoxe Luststruktur verweist, die sich als masochistisch bezeichnen lässt. Dem »kognitiven Impfzwang« könne man letztlich nur mit dem »traumatologischen Cogito« widerstehen, d.h. mit dem paradoxen Existenzbeweis: »Ich werde gekränkt, also bin ich«, bzw. mit der Pascal entlehnten Auffassung vom Menschen als
21 22 23 24
Ebd., S. 353. Ebd., S. 355. Ebd., S. 345ff. Ebd., S. 358.
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»eine Wunde, doch [als] eine Wunde, die sich selber weiß«.25 Darin deute sich ein Konzept von Menschenwürde »jenseits des erfolgreichen Narzißmus in seinen Zyklen von Verletzung und Wiederherstellung« an. Mit diesem Weg, sich dem Impfzwang durch Affirmation der Kränkung zu widersetzen, unterbricht Sloterdijk sein kulturgeschichtliches Paradigma der Narzissmusumformatierungen. Indem er noch von einem »Stolz ohne Stolz als letzte[n] Horizont der Menschenwürde«26 spricht, betont er das logische Paradox dieser Option, lässt aber zugleich erahnen, dass die Abgrenzung von narzisstischer Lust höchst prekär ist und es bei dieser Bejahung von Kränkung letztlich weniger um ein kognitives als um ein Lustparadox geht. Dies möchte ich auch für die Psychoanalyse von Jacques Lacan behaupten, die mit ihrer Ausrichtung auf einen wesentlichen Mangel, den es nicht durch immer neue imaginäre Formationen zu füllen, sondern als leerer Kern des menschlichen Subjekts anzuerkennen gilt, gut mit Sloterdijks traumatologischem Cogito vereinbar ist. Bei Lacan, der sich bekanntlich als Vorbote für eine Rückkehr zu Freud ernennt, stellt sich die Problematik von Freuds Kränkungssaufsatz in zugespitzter Form, da er die kränkenden Einsichten nicht nur vom allgemeinen Publikum, sondern von der psychoanalytischen Bewegung selbst abgewiesen sieht. Aus seiner Kritik an der Ich-Psychologie wird insbesondere deutlich, dass er die bisher skizzierten Ansätze, die Akzeptanz der Kränkung durch Aussicht auf reale Ichherrschaft und/oder neue Narzissmen zu erklären, als Verleugnung Freudscher Wahrheiten verwerfen würde. Für ihn ist Freuds Ausspruch: »Wo Es war, soll Ich werden« nicht im Sinne der Ich-Psychologie zu interpretieren, dass sich das Ich durch Eroberung des Es ausweiten soll. Derartige Versuche, das narzisstische Ich zu stärken, blieben imaginären Spiegelbeziehungen verhaftet, die genau zu den bei Sloterdijk beschriebenen aggressiven Rivalitätsstrukturen und stetigen Frustrationszyklen führen würden.27 Stattdessen soll das Zentrum des Subjekts hin zum Es verschoben werden, damit das Subjekt von diesem Ort aus spricht und »ich« sagt. Indem Lacan das Unbewusste als sprachlich strukturiert, als Diskurs des Anderen, konzipiert, verschärft er Freuds Kränkung noch einmal: Er gibt nicht nur dem Ich keine Hoffnung auf (Rück-)Gewinnung von Macht im eigenen Haus, sondern erklärt das Haus selbst als fremdbestimmt. Dies zu erkennen, kommt einer symbolischen Kastration gleich. Diese Kränkung geht alle ohne Rücksicht auf ihr Geschlecht an, was allerdings nicht bedeutet, dass eine Verleugnung der Kränkung nicht zugleich einer Verleugnung der sexuellen Differenz gleichkommt. Denn die abstrakte Struktur der sexuellen Diffe-
25 Ebd., S. 351ff. 26 Ebd., S. 352. 27 Siehe etwa Jacques Lacan: »L’aggressivité en psychanalyse«, in: ders., Écrits. Paris: Seuil 1966, S. 101-124.
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renz ist bei Lacan Folge eines durch das Symbolische bedingten Scheiterns und wesentlichen Mangels im Subjekt.28 Entsprechend verschärft sich auch das Problem, wie die Kränkung akzeptiert werden kann. Sicherlich beruft sich auch Lacan auf die Praxis der Therapie, doch sie als Mittel zum »success« oder als Forderung nach »happiness« zu betrachten, ist genau, was er der Ichpsychologie als »Verleugnung der Psychoanalyse« vorwirft.29 Stattdessen wirft Lacan seinen Zuhörern das Wort Wahrheit ins Gesicht – ein Wort, das, wie er bemerkt, schon fast als verrufen gilt. Ich beziehe mich auf seinen Vortrag »La chose freudienne«, den es sich im vorliegenden Zusammenhang näher zu lesen lohnen würde. Denn er beginnt gleich damit, die Freudsche Entdeckung mit der Kopernikanischen Revolution zu verknüpfen, und erklärt, dass es ihm darum geht, »Rückhalt zu finden in der Antithese der Phase, die seit Freuds Tod in der Psychoanalytischen Bewegung durchlaufen wurde, um [...] wieder in Kraft zu setzen, worauf [die Psychoanalyse] immer beruhte, sogar in ihrer Verirrung, nämlich den Hauptsinn, den Freud allein durch seine Präsenz bewahrte«.30 Mit diesem Gedanken eines selbst in antithetischen Phasen erhalten bleibenden Sinnes, bereitet Lacan seine Thesen vor, dass Wahrheit Macht in uns hat, bis in unser »Fleisch und Blut«,31 dass sie spricht32, oder vielmehr, dass sie das Ding ist, das spricht. »Ça parle«, es spricht und zwar im Unbewussten, verstanden nicht als Reservoir von Libido und Trieben, sondern als Diskurs des Anderen. Die Allgegenwart der symbolischen Funktion für den Menschen betonend, proklamiert Lacan eine Revision des Kausalitätsprozesses, wonach der Einfall der Wahrheit als Ursache erscheint: Worum es gehe, »[c]’est faire rentrer [...] l’incidence de la vérité comme cause et imposer une révision du procès de la causalité«.33 Eine derartige Kausalität der Wahrheit im Unbewussten bietet einen Ansatz zur Erklärung der Unabwehrbarkeit auch schmerzhafter Erkenntnisse, die trotz Widerstände des Ichs fortbestehen – auch etwa während Phasen der ichpsychologischen Antithese. Im Schwierigkeitsaufsatz deutet Freud diesen Ansatz rhetorisch an, indem er ein Muster der langfristigen Akzeptanz von Kränkungen aufstellt. Beruft sich Freud in anderen Texten, etwa in seiner drei Jahre zuvor erschienenen »Geschichte der psychoanalytischen Bewegung«,
28 Vgl. Jacques Lacan: Encore. 1972-1973. Le Séminaire de Jacques Lacan XX, hg. von Jacques-Alain Miller, Paris: Seuil 1975 und Joan Copjec: »Sex and the Euthanasia of Reason«, in: dies., Read My Desire: Lacan against the Historicists Cambridge: MIT P 1994. 29 Jacques Lacan: Das Freudsche Ding oder der Sinn einer Rückkehr zu Freud in der Psychoanalyse, Wien: Turia & Kant 2005, S. 36. 30 Ebd., S. 13. 31 Ebd., S. 16. 32 Ebd., S. 23. 33 Jacques Lacan: Écrits 1, Paris: Seuil 1966, S. 225.
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schlicht auf eine in der Wissenschaftsgeschichte immer wieder zu beobachtende Macht der Zeit,34 so ist hier auffällig, wie Freud für jede der drei Kränkungen betont, dass es erfolglose Vorgänger gab. Insbesondere beansprucht er für seine Kränkung keine Originalität, sondern hebt die Priorität von Philosophen besonders hervor. Freud scheint damit auszudrücken, dass man sich der symbolischen Ordnung unterwerfen muss und neue Entdeckungen erst gewissermaßen im Untergrund agieren müssen, bevor ein Zweiter ihre allgemeine Anerkennung erfolgreich durchsetzen kann. Nun erregt das Wort »Wahrheit« aber tatsächlich Verdacht. Es lässt fragen, ob bei aller Absage an Glücksversprechen und bei aller Betonung einer kränkenden Anthropologie des Mangels, der symbolischen Kastration und der notwendigen Unterwerfung unter eine immer schon vorgängige symbolische Ordnung nicht doch eine Form von narzisstischer Lust bei Lacans Ansatz im Spiel ist. Bei der Anwendung auf Freuds Konzession an Vorgänger lässt sich immerhin die narzisstische Befriedigung feststellen, wenigstens irgendwann einmal »zu Ehren« zu kommen,35 was eine Form von Unsterblichkeit darstellt, welche sowohl symbolische Kastration erfordert als auch die behauptete Kausalität der Wahrheit. Lacan würde sicherlich den Faktor Lust bestreiten und betonen, dass die Strukturen, um die es ihm geht, wie etwa die Macht der Wahrheit und des Symbolischen, jenseits des Lustprinzips anzusiedeln sind. In der Tat ist Freuds Text mit diesem Titel samt des darin postulierten Wiederholungszwangs und Todestriebes für Lacan zentral, denn hier geht es Lacan zufolge um Freuds Grundfrage, wie das System des Signifikanten Gewalt über das menschliche Tier haben kann, das damit nichts anzufangen weiß und kein Heilmittel dagegen hat.36 In »Jenseits des Lustprinzip« geht Freud in wiederholten Anläufen seiner dualistischen Intuition nach, dass das psychische Geschehen nicht allein durch das Lustprinzip bestimmt sein kann. Das Realitätsprinzip scheidet als Jenseits wie schon erwähnt aus, da es letztlich der Sicherung des Lustprinzips dient, genauso aber das Wiederholen von schmerzhaften Situationen, sofern es mit dem Bestreben, dadurch Kontrolle wieder zu gewinnen, erklärt werden kann. Stabiler ist schon die Interpretation, dass das Jenseits die Bedingung für die Möglichkeit der Wirksamkeit des Lustprinzips und somit ein transzendentales Prinzip darstellt. Demnach würden etwa traumatische Erregungen nicht wiederholt werden, um Lust zu gewinnen. Sie würden vielmehr jenseits von Lust und Schmerz wiederholt werden, bis sie »gebunden« werden, wonach erst sie
34 Vgl. S. Freud: GW Bd. X, S. 62. 35 Ebd., S. 60. In diesem Text betrachtet Freud sich noch selbst »als notwendigerweise verunglückten Vorläufer«. 36 Jacques Lacan: Les psychoses (1955-1956). Le Séminaire de Jacques Lacan III, hg. von Jacques-Alain Miller, Paris: Seuil 1981, S. 275f.
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dem Lustprinzip unterstehen.37 So könnte man sich auch die Wirkung von Kränkungen und die Verankerung im Realen vorstellen.38 Die epistemologische Schwierigkeit, einen derartigen, gewissermaßen transzendentalen Prozess von masochistischer Lust abzugrenzen, wird schon dadurch deutlich, dass Freud zumindest zeitweise den Todestrieb auch mit einem primären Masochismus verknüpft. Lacan dagegen verwirft dieses Konzept in seiner Analyse von »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«. In seiner Lektüre geht es in »Jenseits des Lustprinzips« – insbesondere beim Fort-Da-Spiel, das Freud an seinem Neffen beobachtet und auf Trennungserfahrungen bezieht – um den Eintritt des Subjekts in die Sprache, deren Symbole Abwesenheit bedingen und sich als »Mord der Sache[n]« darstellen, und letztlich um den Tod, welcher allem vorausgeht: »Wenn wir im Subjekt an das heranreichen wollen, was vor den seriellen Spielen des Sprechens da war und was für die Geburt von Symbolen von größter Bedeutung ist, so finden wir es im Tode, aus dem seine Existenz allen Sinn gewinnt, den sie besitzt.«39 Der Tod im Subjekt, nicht die Aussicht auf Lust erscheint bei Lacan als der Grund, auf dem alle weiteren Erklärungen aufbauen. Insbesondere ist es »nicht mehr nötig«, wie Lacan zuvor schon schrieb, »auf den veralteten Begriff des ursprünglichen Masochismus zu rekurrieren, um den Sinn der Wiederholungsspiele zu begreifen, in denen die Subjektivität die Beherrschung ihrer Verlassenheit [déreliction] und die Geburt des Symbols hervorbringt«.40 Zugleich zeichnet sich aber auch eine besondere Form von Sinn und Leben ab, welche durch die Sprache, die geschichtliche Funktion des Subjekts und deren tödliche Grenze ermöglicht wird, und damit den vermeintlichen Masochismus durch Erklärung seiner Motivation auflöst. So schreibt Lacan 37 Freud erwägt als »Aufgabe der höheren Schichten des seelischen Apparates, die im Primärvorgang anlangende Erregung der Triebe zu binden […]; erst nach erfolgter Bindung könnte sich die Herrschaft des Lustprinzips (und seiner Modifikation zum Realitätsprinzip) ungehemmt durchsetzen. Bis dahin aber würde die andere Aufgabe des Seelenapparates, die Erregung zu bewältigen oder zu binden, voranstehen, zwar nicht im Gegensatz zum Lustprinzip, aber unabhängig von ihm und zum Teil ohne Rücksicht auf dieses« (Freud: GW Bd. XIII, S. 36). Den Gedankengang abstrahierend erläutert Deleuze, dass zwar »das Lustprinzip (ohne Ausnahme) das seelische Leben im Es [bestimmt]«, es aber einer anderen Art von Prinzip, einem Prinzip zweiten Grades bedarf, »das die notwendige Unterordnung des Bereichs unter ein empirisches Prinzip erklärt. Dieses Prinzip zweiten Grades nennt man transzendental« Gilles Deleuze: »Sacher-Masoch und der Masochismus«, in: Leopold von Sacher-Masoch, Venus im Pelz, Frankfurt/Main: Insel 1980, S. 163-281, hier S. 259. 38 Vgl. Jacques Lacan: Les quatres concepts fondamentaux de la psychanalyse [1964]. Le Séminaire de Jacques Lacan XI, hg. von Jacques-Alain Miller, Paris: Seuil 1973, bes. Kap. 5. 39 Jacques Lacan: Schriften I, Weinheim: Quadriga 1996, S. 167. 40 Ebd., S. 165, Übersetzung modifiziert.
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im gleichen Kontext etwas enigmatisch: »Die Vermittlung des Todes ist in jeder Beziehung zu erkennen, in der der Mensch zum Leben seiner Geschichte gelangt. / Dieses Leben allein überdauert und ist wahrhaftig, denn es wird, ohne sich zu verlieren, in einer ununterbrochenen Tradition von Subjekt zu Subjekt übermittelt«.41 Bei aller Betonung von kränkenden Wahrheiten scheinen hier Antworten auf die großen Fragen nach dem Sinn und Zweck des Lebens hervor, die Freud in seiner letzten Vorlesung »Über eine Weltanschauung« als müßig verwarf, sich auf jene Strebungen beschränkend, »die sich der Wirklichkeit zuwenden, um, soweit es möglich ist, Wünsche und Bedürfnisse in ihr zu befriedigen«.42 Vielleicht verspricht Lacan keine Antworten, aber er spielt einem »metaphysischen Bedürfnis« zu und macht deutlich, dass, wer die psychologische Kränkung verleugnet, den höchsten Sinn verfehlen wird. Nebenbei hebt Lacan mit seiner sprachphilosophischen Bestimmung der Freudschen Anthropologie, wonach der Mensch das Subjekt sei, das durch die Sprache ergriffen und gequält wird,43 auch die zwei ersten Kränkungen auf, indem er den Menschen ins Zentrum eines vom Tierreich radikal abgetrennten sprachlichen Universums setzt. Auch hier ließe sich also von einer Narzissmusumformatierung sprechen, die allerdings im Gegensatz zu dem, was Sloterdijk vom Stolz, Maschinen bauen zu können, sagt, einer metaphysischen Gefangenschaft verhaftet bleibt oder vielmehr in sie zurückführt. Fragt man nach einer Erklärung für die proto-masochistische Akzeptanz narzisstischer Kränkungen, so scheint man immer wieder auf eine kompensierende narzisstische Lust zu stoßen, die vielleicht nur in Aussicht gestellt wird, damit aber auch schon in der Gegenwart in Antizipation genossen werden kann. Die große Mehrheit von Masochismustheorien folgt diesem Muster, was aber vielleicht weniger etwas mit irgendeinem mysteriösen Wesen von Masochismus zu tun hat als mit der Fragestellung selbst und dem, was man als plausible Erklärung zulässt. Denn es spricht vieles dafür, dass Erklärung in der Freudschen Psychoanalyse letztlich immer die plausible Rückführung auf bekannte Lustformen bedeutet. Das Erklärungsmuster des Narzissmus bildet so ein geschlossenes System, gegen das sich nicht von innen argumentieren lässt, das man nur völlig verlassen kann. Das Buch »Anti-Ödipus« von Gilles Deleuze und Felix Guattari versucht genau dies mit der Persona des Schizophrenen. Wie Deleuze und Guattari selbst hervorheben, kommen sie bei ihrer Schizoanalyse immer wieder auf die gleiche Frage zurück: »woran leidet der Schizo, er, dessen Leiden so unsäglich sind? Leidet er am Prozeß als solchem oder an dessen Unterbrechungen, wenn man ihn in der Familie auf der Erde von Ödipus neurotisiert; [...] Möglich, daß es nur eine Krankheit gibt, die
41 Ebd., S. 166. 42 S. Freud: GW Bd. XV, S. 172. 43 Vgl. J. Lacan: Psychoses, S. 276.
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Neurose.«44 An Stelle von »Ödipus« und »Neurose« könnte hier mit gutem Recht auch »Narzissmus« stehen, so dass sich vom Schizo sagen ließe, dass er die narzisstische Kränkung radikal akzeptiert hat, außer dass sie sich ihm gar nicht als Kränkung darstellt, sondern als Befreiung vom narzisstischen Zwang, der für seine unsäglichen Leiden verantwortlich ist. Deleuze und Guattari stehen Lacan hinsichtlich der verwendeten Modelle und Theorien mitunter erstaunlich nah, unterscheiden sich aber in der Bewertung zugleich radikal von ihm und nehmen weder (narzisstische) Lust noch den Tod, sondern eher eine paradoxe und chaotische Mobilität und Produktivität des (organlosen) Lebens als Erklärungshorizont und -grund.45 Gegen den Sog narzisstischer Erklärungen wendet sich auch Leo Bersanis »The Freudian Body«, dessen literarisch-ästhetische Freudlektüre eine aller geschlossenen Theoriebildung widerstrebende masochistische Sexualität als grundlegend setzt. Bersani hebt hervor, dass sich in Freuds Texten neben dem offenbaren Hauptargument, das immer eine normalisierende, teleologische – man könnte auch sagen: narzisstische – Tendenz hat, ein anderes Argument findet, das ihm entgegenläuft, es sabotiert und dadurch erst hervorbringt, was er die psychoanalytische Wahrheit zu nennen riskiert.46 So feiert Bersani ein gewisses Scheitern in Freuds Denken, das insbesondere im »Jenseits des Lustprinzips« keine merklichen Fortschritte macht, sondern die vorgebrachten Thesen immer wieder unterminiert, sobald sie Form gewinnen.47 Im Hinblick auf die vorhergehende Diskussion sei besonders erwähnt, dass auch der Dualismus von Leben und Tod bzw. von Lebens- und Todestrieben fragil bleibt und beständig durchquert wird.48 Für Bersani sind die Momente des theoretischen Kollapses untrennbar von der psychoanalytischen Wahrheit. Die Wahrheit einer Theorie des Begehrens könne nicht von rücksichtslos selbstzerstörerischen Zügen in der Artikulation der Theorie losgelöst werden. Die Psychoanalyse kann gewissermaßen ihre Wahrheit nur performativ-ästhetisch artikulieren, indem sie sich selbst beständig kränkt. Geschlossen, kohärent formuliert, würde sie sich dagegen in einen performativen Selbstwiderspruch verwi44 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974, S. 412. 45 Vgl. die Vorstellung von »Körpern ohne Organe« besonders in »Anti-Ödipus« oder die einer »vie inorganique des choses« (Gilles Deleuze/Félix Guattari: Qu’est-ce que la philosophie?, Paris: Editions de Minuit 2005, S. 200). Vgl. auch Leslie Dema: »›Inorganic, Yet Alive‹: How Can Deleuze and Guattari Deal With the Accusation of Vitalism?«, in: rhizomes 15 (2007), www. rhizomes.net/issue15/dema.html (zuletzt aufgerufen am 14.9.2008). 46 Leo Bersani: The Freudian Body: Psychoanalysis and Art, New York: Columbia UP 1986, S. 10. 47 Ebd., S. 56. 48 Ebd., S. 62f. Vgl. auch den »seltsamen Chiasmus« in Freuds Oppositionen, besonders hervorgehoben in: Jean Laplanche: Life and Death in Psychoanalysis, Baltimore, Maryland: Johns Hopkins UP 1976, S. 124.
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ckeln. Auch hier ist also von einer unbequemen Wahrheit die Rede, aber von einer ganz anderen als bei Lacan, nämlich von einer Konzeption von Sexualität als inhärent masochistisch, als lustvoll-unlustvolle Spannung bei Erschütterungen des Selbst. Für die Akzeptanz der narzisstischen Kränkung ist diese Wahrheit allerdings sekundär gegenüber der Freisetzung einer paradoxen Form der Lust, die durch das narzisstische Ich verdrängt wird. So erklärt Bersani in seiner weiter gehenden Sublimationstheorie die Replikation dieser paradoxen Lust als den Kern des bsthetischen, der insbesondere auch in Freuds wissenschaftlichen Texten zum Ausdruck komme und deren Wahrheit transportiere.49 Paradoxa können aber auf vielfältige Art und Weise entfaltet werden. Während Freud wissenschaftlichen Fortschritt mit narzisstischen Kränkungen engführt und Widerstände dagegen so gut erklärt, dass dessen allgemeine Akzeptanz unverständlich wird, habe ich versucht drei Ansätze zu skizzieren, um die Akzeptanz der Kränkung durch das Unbewusste zu erklären. Eine Möglichkeit war, dass die Kränkung nur temporär ist und wahre Souveränität versprochen wird, eine andere, dass der gekränkte Narzissmus durch einen anderen ersetzt wird, etwa einen Publikations- oder Könnensnarzissmus oder aber durch die Befriedigung eines metaphysischen Bedürfnisses. In einem dritten Ansatz wird die narzisstische Kränkung angenommen, weil Narzissmus Leiden erzeugt und die radikale Zerstörung und/oder Erschütterung des Narzissmus andere Formen der Lust freisetzt. Mein Punkt ist nicht, zwischen diesen Optionen zu entscheiden, insbesondere auch nicht die letzte zu bevorzugen. Denn auch sie beruft sich auf eine emphatische Wahrheit, um eine bestimmte Organisation von Lust über andere Lustformen, die sich in den anderen Ansätzen manifestieren, zu privilegieren. Worum es mir vielmehr geht, ist der Zusammenhang zwischen dem Privilegieren einer bestimmten Lustorganisation und Wahrheitsbehauptungen, d.h. um Wahrheitseffekte, die durch paradoxe Lust und deren Verdrängung produziert werden. Wenn die verschiedenen Erklärungsansätze die Masochismusdiagnose jeweils voreilig erscheinen ließen, so deuten sie zusammen genommen, so meine These, doch auf ein grundlegendes Lustparadox; oder vielmehr auf ein Phänomen, bei dem Lust und Unlust so eng miteinander verknüpft sind, dass es durch Anwendung der Lust-Unlust-Unterscheidung zu einem strengen Paradox kommt. So gesehen liegt die Vielfalt der Erklärungsansätze daran, dass dieses Paradox durch Temporalisierung und Hierarchisierung verschiedenartig entfaltet werden kann. Ein solches Entfalten erscheint notwendig, soll es nicht zu einem Verharren in Unentschiedenheit kommen, bedeutet aber auch, dass das Grundparadox zumindest partiell verdrängt werden muss. Durch die Verdrängung von paradoxer Lust gewinnt die jeweils privilegierte 49 Siehe L. Bersani: Freudian Body, S. 107ff.
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Lustorganisation erst an Form und Gestalt; was gewissermaßen übrig bleibt – der Negativabdruck, dessen Lust durch Verdrängung neutralisiert wird –, erscheint, so möchte ich postulieren, als objektive Wahrheit. Durch die verdrängte Lust gewinnt diese Wahrheit an Emphase und kann, trotzdem sie kränkt, akzeptiert werden. So könnte die psychologische Kränkung letztlich als tiefe Verstrickung von Lust und Schmerz spezifiziert werden, welche auf verschiedene Weise, aber immer nur partiell organisiert werden kann, daher keine eindeutige Definition von Gesundheit im Sinne von Symptom- und Schmerzfreiheit erlaubt und in diesem Sinne tatsächlich alle krank sein lässt. Ihre Anerkennung kommt vielleicht einer symbolischen Kastration und der Anerkennung der Lacanschen sexuellen Differenz gleich. Aber die inhärente Lust-SchmerzVerstrickung ist weniger Mangel als Überfluss. Sie stellt die Bedingung der Möglichkeit dafür dar, dass es verschiedene Wege der Akzeptanz gibt, was Therapie und Kultur gleichermaßen vor die Aufgabe stellt, eine Ethik zu wählen.
Das Unbew usste in der Ps ychiatrie. Negative Gegenübertragung bei der Diagnose der Persönlichkeitsstörungen TILO HELD
1. Methodisches und Klärung der Begriffe Die vorliegende Arbeit betritt insofern »feindliches Gelände«, als sie auf dem ureigensten Gebiet der Psychiatrie mit psychoanalytischen Begriffen operiert – ein nach der heute herrschenden Meinung illegitimes Vorgehen. Die Annahme unbewusster Motive, die mit den von mir verwendeten Begriffen verbunden ist, gilt als schwer oder gar nicht zu beweisende, also haltlose Unterstellung. Demgegenüber hoffe ich zeigen zu können, dass die Seltsamkeiten und Inkonsistenzen im Bereich der Diagnostik der Persönlichkeitsstörungen durch keinen anderen Ansatz überzeugender erklärt werden können. »Gegenübertragung«, als Pendant des zentralen psychoanalytischen Begriffs »Übertragung«, entstammt der von Sigmund Freud zuerst formulierten Theorie der psychoanalytischen Behandlung. Übertragung »bezeichnet in der Psychoanalyse den Vorgang, wodurch die unbewussten Wünsche an bestimmten Objekten im Rahmen eines bestimmten Beziehungstypus, der sich mit den Objekten ergeben hat, aktualisiert werden. Dies ist in höchstem Maße im Rahmen der analytischen Beziehung der Fall. Es handelt sich dabei um die Wiederholung infantiler Vorbilder, die mit einem besonderen Gefühl von Aktualität erlebt werden.«1 Gegenübertragung bezeichnet demgegenüber die »Gesamtheit der unbewussten Reaktionen des Analytikers auf die Person des Analysanden und ganz besonders auf dessen Übertragung«.2 In einem durch die Praxis legitimierten Erweiterungsschritt spricht die Freud’sche Psycho-
1 2
Jean Laplanche/Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, S. 550. Ebd., S. 164.
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analyse von Übertragung und Gegenübertragung auch bei den antizipierten Projektionen auf den künftigen Analytiker/Patienten. Die von Freud verwendeten Kriterien zur Erkennung der Übertragung sind »Unangemessenheit, Widerstand und Wiederholung des Vergangenen«.3 Sowohl »Übertragung« als auch »Gegenübertragung« sind in anderen Bereichen und Wissenschaften als Begriffsinstrumente eingesetzt worden, so von Michael Balint für den Bereich der Allgemeinmedizin,4 von Georges Devereux für den Bereich der Sozialwissenschaften.5 Sind Übertragung und Gegenübertragung Teil des »gemeinsamen Grundes«, der die unterschiedlichen psychoanalytischen Schulen verbindet, so partizipieren diese Begriffe wiederum an der breiteren Einführung des Subjekts in die Methode der Forschung, wie Viktor von Weizsäcker sie 1935 für die Humanwissenschaften und die Medizin postuliert hat. Meine These für die vorliegende Arbeit lautet: Die Diagnose »Persönlichkeitsstörung« dient (auch) der schnellen und einfachen Disqualifizierung eines Menschen. Anlass der Diagnosestellung ist meist ein Beziehungsproblem. Dieser Sachverhalt widerspricht der Ethik der Medizin und ist somit innerhalb der Medizin nicht bewusstseinsfähig (= verdrängt, = unbewusst). Entsprechend fehlen Hinweise auf diese Tatsache völlig in den offiziellen psychiatrischen Lehrbüchern und Fachzeitschriften. Somit lässt sich diese Arbeit auch verstehen als eine kritische Reflexion über das heutige Selbstverständnis der Psychiatrie. Obwohl die systematische Klassifikation nach DSM IV und ICD 10 auch heute noch Gegenstand ausführlicher Debatten ist,6 findet sich eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff »Persönlichkeitsstörung« lediglich in dem Lehrbuch des Psychologen Peter Fiedler,7 der damit freilich innerhalb seines Berufsstandes ebenfalls keine Mehrheitsmeinung vertritt. Die »offizielle« These ließe sich so formulieren: Die Diagnose Persönlichkeitsstörung dient der zuverlässigen Klassifikation psychopathologischer Auffälligkeiten, die zu einem soliden Korpus an Forschungsergebnissen und zu einer adäquaten Therapie führen soll. Nicht anders als in der Psychoanalyse selbst ist die »Beweisführung« für das Vorhandensein »unbewusster Reaktionen« bei unserem Thema nicht 3
4 5 6
7
Jean Schimek: »The construction of the transference: The relativity of the ›Here and Now‹ and the ›There and Then‹«, in: Psychoanalysis and contemporary thought 6 (1983), S. 435-456. Michael Balint: The Doctor, his Patient and the Illness, New York: International Universities Press 1957. Georges Devereux: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, München: Hanser 1973. Nancy Andreasen: »The evolving concept of schizophrenia: From Kraepelin to the present and future«, in: Schizophrenia Research 28/2-3 (1997), S.105-109; Wolfgang G. Jilek: Emil Kraepelin and comparative sociocultural psychiatry, in: European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience 245/4-5 (1995), S. 231-238. Peter Fiedler: Persönlichkeitsstörungen, Weinheim, Basel: Beltz PVU 2007.
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direkt möglich, sondern indirekt über die »Abkömmlinge« des Unbewussten (beim Individuum Träume, Fehlleistungen, Verkennungen und, im Rahmen der Übertragung, die inappropriateness). Bei der Transposition des Konzepts des Unbewussten in die Welt der Psychiatrie werden uns Abweichungen vom selbstdefinierten medizinischen Modell der Persönlichkeitsstörung Hinweise für solche »inappropriateness« sein, und wir werden in ihnen dann Belege für unsere These sehen, wenn die Abweichungen nicht ungerichtet sind, sondern genau in die Richtung der Disqualifikation ohne medizinischen Nutzen zeigen. Wenn die medizinische Definition der Persönlichkeitsstörung durchaus Hürden gegen ihren Missbrauch aufbaut, so würde auch das Abbauen und Einreißen dieser Hürden im Sinne unserer These als Beleg für die Wirksamkeit des Disqualifizierungseffektes zu werten sein. Von der Hauptthese abgeleitet ist unsere Behauptung, dass die negative Gegenübertragung sich auf beiden Ebenen des diagnostischen Prozesses manifestiert: bei der allgemeinen Formulierung der diagnostischen Prinzipien (z.B. DSM) und bei der Anwendung dieser Prinzipien durch den Diagnostiker. Wenn dieser Nachweis gelänge, wäre er ein weiterer Beleg für die Ubiquität und die Durchdringungskraft des unbewussten Disqualifizierungsbedürfnisses sowie seine Prädominanz über die Fragen des medizinischen Nutzens.
2 . D e r P a r a d i g m e nw e c h s e l vo n 1 9 8 0 2.1 Vor 1980 Vieles spricht für die Annahme, dass in westlichen Gesellschaften historisch unterschiedliche Konzepte für die Ursachen abweichenden Verhaltens entwickelt wurden. Dabei finden sich, unter den im Individuum lokalisierten – d.h. in unserer Terminologie psychischen Ursachen – regelmäßig zwei Typen von Konzepten: das Krankheitsmodell, mit dem ein Entzug persönlicher Verantwortung für den Zustand erfolgt, und ein Modell, das unterhalb der Krankheitsschwelle langdauernde Verhaltensabweichungen als persönlichkeitsgebunden beschreibt und mit körperlichen Abweichungen korreliert. Berühmtestes Beispiel ist Hippokrates’/Galen’s Einteilung der Temperamente (und ihrer Extremvarianten) entsprechend angenommener Veränderungen der Körpersäfte Blut und Galle: Choleriker, Melancholiker, Phlegmatiker und Sanguiniker. Auch der peripatetische Philosoph Theophrastos beschreibt »Charaktere«, die modernen Klassifikationssystemen ähneln, und auch dort ist von Abweichungen von der Norm, aber nicht von »Krankheit« die Rede.8
8
Richard Adlington: A Book of Characters (by Theophrastus), London: George Routledge 1925.
176 | TILO HELD »Ähnliche Unterscheidungen werden in asiatischen, arabischen und keltischen Kulturen getroffen, und nahezu immer wird hervorgehoben, dass die Persönlichkeitscharakteristika, die solche Menschen von anderen unterscheiden, unangenehme sind. So kommt unweigerlich ein Element gesellschaftlichen Urteilens in das Basiskonzept. Die zweite Annahme ist, dass die Träger solcher Kennzeichen für sie verantwortlich 9 sind und die Folgen des damit verbundenen Verhaltens tragen müssen.«
Im 19. Jahrhundert zeugen Begriffsbildungen wie »manie sans délire«10 oder »moral insanity«11 von der Bemühung, eine Kategorie zu definieren, die innerhalb der Psychiatrie, aber getrennt von den großen psychischen Krankheiten angesiedelt war. Den größten, auch internationalen Einfluss auf die Begriffsbildung im 20. Jahrhundert hatte Kurt Schneider (damals Köln), der 1923 die Monographie »Die psychopathischen Persönlichkeiten« veröffentlichte.12 Aus der Gruppe der »abnormen Persönlichkeiten« (d.h. alle, die nach »oben« oder nach »unten« sich aus der statistischen Durchschnittsnorm abhoben, so auch die Künstler) hob Schneider die psychopathischen Persönlichkeiten heraus, »solche abnorme Persönlichkeiten, die unter ihrer Abnormität leiden, oder unter deren Abnormität die Gesellschaft leidet«.13 Die Kritik dieser Begriffsbildung ist nicht unser zentrales Thema, es sollte nur schon angemerkt werden, dass individuelles und gesellschaftliches Leiden höchst unterschiedliche Phänomene mit sehr distinkten Folgen sind, die sich schwerlich alternativ »verrechnen« lassen. Auch ist es gerade das meist fehlende individuelle Leiden (die IchSyntonie), was Persönlichkeitsstörungen von ähnlichen psychischen Störungen (den Neurosen) unterscheidet. Auf der Grundlage einer »Realtypologie« (den Prägnanztypen der klinischen Erfahrung) definierte Schneider zehn Psychopathentypen die auch als Kapitelüberschriften die Struktur seines Buches bilden: • Die Hyperthymischen • Die Depressiven • Die Selbstunsicheren • Die Fanatischen • Die Stimmungslabilen • Die Geltungsbedürftigen • Die Gemütlosen • Die Willenlosen 9 10 11 12 13
Peter Casey/Patricia Tyrer/Brian Ferguson: »Personality disorder in Perspective«, in: British Journal of Psychiatry 159 (1991), S. 463-471, hier S. 463. Philippe Pinel: A Treatise on Insanity [1801], New York: Hafner 1962. James Prichard: A Treatise on Insanity and Other Diseases Affecting the Mind, Philadelphia: Harwell, Barrington & Harwell 1837. Kurt Schneider: Die psychopathischen Persönlichkeiten, Leipzig, Wien: Franz Deuticke 1923. Ebd., S. 16.
DAS UNBEWUSSTE IN DER PSYCHIATRIE | 177
• •
Die Asthenischen Die Explosiblen
Jeder Typus wird ausführlich beschrieben, zuweilen, wie bei den Fanatischen, auch Untertypen: die matten und die expansiven. Ein Beispiel: »Was den Unterschied der Geschlechter betrifft, so ist zu bemerken, dass diese Gruppen, und zwar sowohl die der expansiven wie die der matten Fanatiker, anscheinend vorwiegend von Männern gebildet werden. Immerhin finden sich namentlich unter den nicht unmittelbar persönlichen Expansiven auch Frauen: man denke an gewisse Führerinnen der Frauenbewegung.14 Hier treten unverhüllt Gender-Codierungen zutage, denen wir später nur noch in sorgfältiger wissenschaftlicher Verkleidung begegnen werden. Überhaupt zeichnet diese Schriften vor 1980 eine große Lesbarkeit und Kritisierbarkeit aus – im starken Gegensatz zu der konsensuellen, entindividualisierten psychiatrischen Wissenschaftsliteratur nach 1980. Kurt Schneider und vor ihm Karl Jaspers wussten, welche Tücken (für den Diagnostizierten) die Diagnose mit sich bringt: »Menschlich aber bedeutet die klassifikatorische Feststellung des Wesens eines Menschen eine Erledigung, die bei näherer Besinnung beleidigend ist und die 15 Kommunikation abbricht.« »Man schildere möglichst lebendig und ohne ›Fachausdrücke‹, was für ein Mensch das ist, um den es sich handelt, gegebenenfalls auch, in welchen Konflikten er steht. Gelegentlich kann man hinterher sagen: ›wenn man will, kann man hier von einer psychopathischen Persönlichkeit reden‹. Es ist in der Tat zumindest oft nur so: wenn man will.«16
Klarer lässt es sich nicht ausdrücken, dass die Diagnose oft alles andere als zwingend ist und dem Bedürfnis des Diagnostizierenden entspringt. Wie stark es sich bei den Benennungen um Zuschreibungen handelt, statt der behaupteten Beschreibung von psychopathologischen »Entitäten«, belegt am besten die folgende Liste:17
14 Vgl. ebd., S. 61. 15 Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, Berlin: Springer 1913, S. 365f. 16 Kurt Schneider: Klinische Psychopathologie, 8. Aufl., Stuttgart: Georg Thieme 1967, S. 39. 17 Thomas Bronisch/Viola Habermeyer/Sabine C. Herpertz: Persönlichkeitsstörungen, in: Hans Jürgen Möller/Hans-Peter Kapfhammer (Hg.), Psychiatrie und Psychotherapie, Heidelberg: Springer Medizin Verlag 2008, S. 1031-1093, hier S. 1034.
178 | TILO HELD
Tabelle 1: Heute nicht mehr verwendete Bezeichnungen für »Psychopathen« und die Gründe für die Abkehr von ihnen Haltlose, insbesondere sexuell Haltlose, auch sog. geborene Prostituierte
Größere Akzeptanz sexueller Promiskuität
Willenlose
Aufgabe des Konzepts des »Willens« in der Psychiatrie
Dienstverweigerer
Zum Teil auch bei den Willenlosen und Haltlosen subsumiert; politische Berechtigung zur Wehrdienstverweigerung
Fanatische (politisch, religiös)
Größere Toleranz für politisches und religiöses Außenseitertum; weniger Sanktionen gegen Außenseiter
Arbeitsscheue; Gemeinschaftsunfähige; Landstreicher
Leichtere Rückkehrmöglichkeiten für »Aussteiger« in die bürgerliche Gesellschaft; erweitertes Sozialversicherungssystem; Verwendung anderer Diagnosen (z.B. Alkoholismus)
Querulanten
Leichtere Akzeptanz von Rechtsansprüchen durch Versicherungen und Sozialsystem; Verwendung anderer Diagnosen (z.B. paranoid)
Infantile Persönlichkeit
Infantilität als Teil des kulturellen Lebens (z.B. Zeitschriften, Fernsehen, Disco-Kultur, Lolitatyp)
Da auch die Schneider’schen Bezeichnungen allesamt nicht mehr gelten, lässt sich eigentlich nur schlussfolgern: Der Stigmatisierungsgrad der Bezeichnungen von Persönlichkeitsgestörten ist so groß, dass nach einer gewissen Zeit die Etiketten komplett ausgetauscht werden müssen – ähnlich wie die großen psychiatrischen Kliniken in regelmäßigen Abständen ihren Namen und ihre Adresse ändern, weil die bisherigen im Volksmund allzu belastend geworden waren. So bleibt, einen Gedanken jenen Tausenden von Menschen zu widmen, die durch diese Klassifikation zu einem pejorativen Adjektiv reduziert wurden, wo sie doch von einem medizinischen Fach, der Psychiatrie, Besseres erwarten konnten.
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2.2 Das DSM III von 1980 Das Diagnostische und Statistische Manual der Amerikanischen Psychiatervereinigung in seiner 3. Auflage von 198018 hat in seinem Anspruch, aber noch mehr in seinen realen Auswirkungen den Charakter eines revolutionären Paradigmenwechsels in der psychiatrischen Diagnostik. Eine so profunde, sich universell manifestierende Neuerung, die zudem zeitlich überdauert hat, ist nur denkbar, wenn sie versprechen kann, fundamentale Probleme der früheren Situation zu lösen. Im Einzelnen waren dies: • Die fehlende Reliabilität (definiert als Grad der Übereinstimmung unterschiedlicher Untersucher) der schulenbezogenen Diagnostik. Von Personen und Regionen abhängig bildeten sich diagnostische Traditionen aus, mit nur losem Bezug zu anderen Traditionen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit gelangten bei ein und demselben Patienten verschiedene Untersucher zu unterschiedlichen Diagnosen. • Die divergierenden ätiologischen Grundannahmen. Da seinerzeit wie heute zur Verursachung psychischer Krankheiten deutlich unterschiedene Vorstellungen herrschten, entwickelten sich diagnostische Formulierungen, die möglichst gut zu den eigenen Grundannahmen passten, zu denen der anderen Schulen aber inkompatibel waren. • Die gefühlte Bedrohung durch die »Antipsychiatrie«. Die radikale Kritik der antipsychiatrischen Bewegung in den 70er Jahren führte zu einem starken Bedürfnis nach Selbstvergewisserung der psychiatrischen Disziplin. Diese wurde in einer starken Betonung der Psychiatrie als medizinische Wissenschaft und in einer möglichst großen Annäherung an die Methoden anderer Medizinzweige gesehen. • Die »Überwindung« der Psychoanalyse. Die Psychoanalyse hatte in den 40er bis 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts in den USA eine führende Position als individuelle Heilmethode und als Grundlagenwissenschaft der Psychiatrie. Mit der Entwicklung differenzierter verhaltenstherapeutischer Methoden und dem Aufschwung des neurowissenschaftlichen Verständnisses psychischer Störungen war das Konzept der Psychoanalyse als wichtigste Grundlagenwissenschaft der Psychiatrie nicht mehr zeitgemäß. • Die Problematik des psychiatrischen Krankheitsbegriffs. Selbst wenn man für Entitäten wie Schizophrenie und schwere Depression den Krankheitsbegriff legitimerweise verwenden kann, sind doch viele Zustände Gegenstand psychiatrischer Behandlung, die sich nicht als Krankheit definieren lassen. Es bedurfte somit eines übergreifenden Begriffs, der widerspruchsfrei die unterschiedlichen Zustände umfasst. Es wurde der Begriff »Störung« (disorder) gewählt. 18 American-Psychiatric-Association: Diagnostic and Statistical Manual 3rd edition (DSM III), Washington DC: American Psychiatric Association 1980.
180 | TILO HELD
Abweichend von allen früheren Klassifikationssystemen wurden »Achsen« definiert, d.h. unterschiedliche gesundheitsrelevante Dimensionen, die möglichst bei jedem Patienten ausgefüllt (codiert) werden sollen. Für unser Thema wichtig ist, dass auf Achse I die Klinischen Syndrome codiert werden (Depression, Schizophrenie etc.) und auf Achse II die Persönlichkeitszüge bzw. Persönlichkeitsstörungen. Praktisch bedeutet das, dass eine Art Aufforderung an den Psychiater ergeht, bei jedem seiner Patienten auffällige Persönlichkeitszüge oder eine Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren. Dass diese Aufforderung nicht ungehört verhallt ist, beweist die Tatsache, dass die Hälfte aller psychiatrischen Patienten die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung erhalten.19 Da wir im Folgenden nur die Auswirkungen des DSM auf die Diagnose der Persönlichkeitsstörungen betrachten, sei erwähnt, dass bei den übrigen Diagnosen (auf Achse I) die erhofften Verbesserungen tatsächlich weitgehend eingetreten sind und insofern dort keine fundamentale Kritik anzubringen ist. Wie definiert DSM III die Persönlichkeitszüge und die Persönlichkeitsstörungen? »Persönlichkeitszüge sind langbestehende Muster der Wahrnehmung, der Beziehung und des Denkens über die Umwelt und über sich selbst. Sie treten in einem breiten Feld wichtiger sozialer und persönlicher Kontexte auf. Nur wenn diese Persönlichkeitszüge unflexibel und unangepasst (maladaptive) sind und bedeutsame Behinderungen im sozialen oder beruflichen Bereich mit sich bringen oder subjektives Leiden erzeugen, stellen sie Persönlichkeitsstörungen dar. Die Anzeichen von Persönlichkeitsstörungen finden sich im Allgemeinen in der Adoleszenz oder früher, sie bestehen fort im gesamten Erwachsenenalter, nehmen aber oft im mittleren und fortgeschrittenen Alter an Intensität ab.«20
Ausgehend von dieser allgemeinen Definition beschreibt DSM III zwölf Persönlichkeitsstörungen: • Paranoide Persönlichkeitsstörung • Schizoide Persönlichkeitsstörung • Schizotypische Persönlichkeitsstörung21
Cluster A
• • • •
Cluster B
Antisoziale Persönlichkeitsstörung Borderline-Persönlichkeitsstörung Histrionische Persönlichkeitsstörung Narzisstische Persönlichkeitsstörung
19 Mark Zimmermann/Diane Young: »The Frequency of Personality Disorders in Psychiatric Patients«, in: Psychiatric clinics of North America 31 (2008), S. 405-420. 20 Ebd., S. 304. 21 Vgl. ebd., S. 305.
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• • • •
Selbstunsichere Persönlichkeitsstörung Dependente Persönlichkeitsstörung Zwanghafte Persönlichkeitsstörung Passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung
Cluster C
• Nicht näher bezeichnete Persönlichkeitsstörung22 Aufgrund angenommener »innerer Verwandtschaft« wurden drei Gruppen gebildet, später auch Cluster genannt: Cluster A (»sonderbar, exzentrisch«), Cluster B (»dramatisch, emotional«), Cluster C (»ängstlich oder furchtsam«). Die Einteilung wird als »kategorial« bezeichnet, d.h. nach Anwendung der diagnostischen Kriterien hat ein Patient die Persönlichkeitsstörung oder er hat sie nicht. Dies ist eine Sichtweise, die die Persönlichkeitsstörungen dem traditionellen medizinischen Krankheitsmodell annähern soll, in dem man auch eine Krankheit »hat« oder »nicht hat«. Dem stehen freilich auch in der Medizin »dimensionale« Modelle gegenüber, die einen kontinuierlichen Übergang von »normal« zu »pathologisch« kennen. Geläufigstes Beispiel ist der Bluthochdruck, bei dem per Konvention festgelegt wurde, dass Werte über RR 140/90 als pathologisch zu werten sind. Was ist 1980 passiert? In Bezug auf die Persönlichkeitsstörungen ergab sich eine ganz neue Situation, die etwa wie folgt beschrieben werden kann: Herausgelöst aus dem Gedankengebäude eines Kurt Schneider, der wie oben gesehen kluge Vorbehalte zur Anwendung seiner Typenlehre formuliert hatte, haben die Persönlichkeitsstörungsdiagnosen eine ganz neue Dignität erhalten. Entsprechend dem Geltungsanspruch des DSM waren sie auf der ganzen Welt gültig, sie waren von ähnlicher diagnostischer Neutralität wie die Diagnose einer Blinddarmentzündung, sie charakterisierten den Betroffenen lebenslang, sie waren ohne Ansehen des Geschlechts, der kulturellen Einbettung und überhaupt jeden Kontextes des Betroffenen zu erheben, und es sollte auf keinen Fall vergessen werden, eine Persönlichkeitsstörungsdiagnose zu stellen. Auch bei der »Entkontextualisierung« der diagnostischen Kriterien folgt DSM dem allgemeinen Trend der Medizin: viele Krankheiten werden heute aufgrund eines einzigen Laborwerts diagnostiziert. Allerdings zeigen gerade aktuelle Beispiele, wie nützlich eine Rekontextualisierung, z.B. unter GenderGesichtspunkten, der Herz-Kreislauf-Erkrankungen sein kann. Wie viel mehr in der Psychiatrie: »Persönlichkeit« ist kein Laborparameter, und bei der Bewertung einer Persönlichkeit im diagnostischen Prozess scheint eine Rekontextualisierung unerlässlich. Konvergierend weisen die Literatur und die klinische Erfahrung aber darauf hin, dass diese weitgehend unterbleibt. Es ist wohl kein Zufall, dass die reduktionistischen Bedingungen des DSM ideale Voraussetzungen für quantitative Forschung boten, die ein vitales 22 Vgl. ebd., S. 305.
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Interesse an einer reduzierten Zahl der zu berücksichtigenden Variablen hat. Wenig überraschend ist denn auch seit 1980 der Forschungs-Output über Persönlichkeitsstörungen exponentiell angestiegen, zahlreiche Fachzeitschriften und Lehrbücher sind nur diesem Thema gewidmet. DSM ist nicht nur eine Anleitung zum Diagnostizieren. Es ist ein umfassendes Forschungsprogramm, das aufzeigt, worüber geforscht, und worüber nicht geforscht werden kann. Die kritischen Kommentare zum Diskriminierungspotenzial der Persönlichkeitsstörungsdiagnosen von Karl Jaspers und Kurt Schneider sind ebenso verschwunden wie die Lehren aus unerträglich gewordenen Diagnosen. Oder, in unserer Terminologie, sie sind verdrängt. Das heißt, nicht bewusstseinsfähig, da eine Bewusstwerdung die durch das DSM definierte Wissensordnung gefährden würde. Welche Motive die Formulierung der diagnostischen Kriterien als eines »Krankheitsbildes« steuerten, welche Motive den einzelnen Diagnostiker bei der Stellung der Diagnose bewegen, ist seit 1980 innerhalb der Psychiatrie kein Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung mehr. Diese potenziellen Wissensinhalte enthalten das, was ich die unbewusste Gegenübertragung nenne.
3. Gender Allein das Geburtsjahr 1980 des DSM III zeigt, dass die implizite Annahme, bei der Diagnose Persönlichkeitsstörung spiele das Geschlecht keine Rolle, in den USA auf heftigen Widerspruch stoßen musste. Formuliert wurde der Widerspruch unter dem Vorwurf des »gender bias« (bias = verzerrte Wahrnehmung). »Bias« ist dabei ein rein deskriptiver Begriff, der die Motivlage des Beurteilenden außer Betracht lässt. Zu Unrecht, wie ich meine, weshalb ich am Begriff der (unbewussten) Gegenübertragung festhalte. Im Wesentlichen werden zwei Arten von »Bias« beschrieben: • Kriterien-Bias: die zur Diagnose anzuwendenden Kriterien sind für Männer und Frauen unterschiedlich aussagekräftig und anwendbar. Nur wenige konsistente Befunde konnten zu dieser Hypothese gefunden werden, so dass sie kaum noch eine Rolle spielt. • Erhebungs-Bias: bei der Anwendung der Kriterien werden Geschlechtsstereotype des Untersuchers/der Untersucherin bzw. des UntersuchungsFragebogens relevant. Hierzu ergab sich, dass das Geschlecht des Beurteilers/der Beurteilerin eine größere Rolle spielte als das PatientInnenGeschlecht, wobei das »Bias« durch Abweichen von den vorgegebenen Kriterien zustande kam.23 Kliniker diagnostizieren – bei gleichen Symp-
23 Roger K. Blashfield/Michael Herkov: »Investigating clinician adherence to diagnosis by criteria: a replication of Morey and Ochoa (1989)«, in: Journal of Personality Disorders 10 (1996), S. 219-228.
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tomen – leichter histrionische Persönlichkeitsstörungen bei Frauen und leichter antisoziale Persönlichkeitsstörungen bei Männern.24 Die Unterscheidung von Kriterien-Bias und Erhebungs-Bias stellt die zwei Stufen dar, auf denen wir der negativen Gegenübertragung immer wieder begegnen: die Definition der diagnostischen Regeln und die Besonderheiten der Anwendung (oder Nichtanwendung) dieser Regeln durch den Diagnostiker: »zwei-stufige Gegenübertragung«. Die oben erwähnten Forschungsarbeiten bewegen sich allesamt innerhalb des von DSM III definierten Begriffsrahmens, was erklären dürfte, dass im Wesentlichen quantitative Befunde erhoben wurden, nach der Art: welche Persönlichkeitsstörung kommt bei Frauen häufiger vor als bei Männern? Offenbar herrschte lange Zeit die Meinung vor, das Ergebnis bias-freier Klassifikation müsse eine gleiche Häufigkeit der Persönlichkeitsstörungsdiagnosen bei beiden Geschlechtern sein. Um dies zu erreichen, hatte das Redaktionskomitee des DSM sogar vorgeschlagen, die Kriterien z.B. bei der histrionischen Persönlichkeitsstörung so zu verändern,25 dass am Ende gleich viele Männer wie Frauen die Diagnose bekämen. Dabei zeigt ein Blick in die übrige Psychiatrie, dass Ungleichheiten der Diagnosenhäufigkeit bei Frauen und Männern eher die Regel als die Ausnahme sind: Anorexie, Depression, Suizidversuche und Medikamentenabhängigkeit häufiger bei Frauen, Alkoholismus, Suizide, psychische Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter häufiger beim männlichen Geschlecht. Welches wäre also die bias-freie Häufigkeit von Persönlichkeitsstörungen bei Frauen? Alle ForscherInnen mussten eingestehen, dass sie diese »wahre« Häufigkeit nicht kennen und dass insofern die Bias-Behauptung auf schwachen Füßen steht. Einen möglichen Ausweg weisen Lynam und Widiger.26 Sie gehen aus von dem in der Psychologie intensiv erforschten Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit, das ausschließlich an gesunden StudienteilnehmerInnen erprobt wurde und somit dem hier relevanten Bias-Verdacht gegenüber »Persönlichkeitsgestörten« nicht unterliegt. Studien mit dem FünfFaktoren-Modell bei über 20 000 TeilnehmerInnen in 26 unter-schiedlichen kulturellen Kontexten haben konsistente Geschlechtsunterschiede ergeben 24 Howard Garb: »Race bias, social class bias and gender bias in clinical judgment«, in: Clinical Psychology – Science and Practice 4 (1997), S. 99-120. 25 Die »histrionische Persönlichkeitsstörung«, Nachfolgerin der »hysterischen Persönlichkeitsstörung« des DSM II, soll die Merkmale der dramatischen Selbstdarstellung, der oberflächlichen Affektivität und des »unangemessen Verführerischen« bezeichnen, ohne die negativen Konnotationen der Hysterie. Aber – keine Umbenennung beseitigt das Diskriminierungspotenzial der Persönlichkeitsstörungs-Diagnosen. 26 Donald Lynam/Thomas A. Widiger: »Using a general model of personality to understand sex differences in the personality disorders«, in: Journal of Personality Disorders 21 (2007), S. 583-602.
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(z.B. höhere Scores für Frauen bei »Neurotizismus«, höhere Scores für Männer bei »Antagonismus«). Aufgrund der geschlechtsdifferenzierten Ausprägung der Einzelwerte der »Persönlichkeitsfacetten« wurde geschätzt, wie die Häufigkeiten bei den Persönlichkeitsstörungen »wahrscheinlich sein würden«, verglichen damit, wie sie nach den epidemiologischen Studien tatsächlich gefunden worden waren. Größere Abweichungen wären ein Indikator für Geschlechtsbias. Diese wurden nicht gefunden. Erwartete Geschlechtsverteilung und gefundene Geschlechtsverteilung stimmten weitgehend überein – mit der bemerkenswerten Ausnahme der histrionischen Persönlichkeitsstörung, die bei Frauen deutlich häufiger diagnostiziert wird, als nach ihrem »Persönlichkeitsprofil« zu erwarten wäre. Nach dieser nicht sehr reichen Ausbeute einer Suche nach GeschlechtsBias: heißt dies, dass Frauen von der Diagnose einer Persönlichkeitsstörung nichts zu befürchten hätten? Keineswegs. Es wäre nicht wirklich beruhigend, von ihr »nur« die Nachteile zu erleiden, die Männer auch erleiden. Im Übrigen, und dies ist wohl wichtiger: der von DSM vorgegebene Forschungsansatz, mit seinen kontextfrei erhobenen Daten, scheint ungeeignet, um Fragen der Geschlechtergerechtigkeit profunder zu diskutieren. »Gender« ohne »Culture« lässt keine tiefergehenden Analysen zu.
4. Culture Amerikanische Kritiker des DSM III behaupten, in der Vorbereitungsphase hätten Universitätspsychiater der Ostküste und des Mittleren Westens die Charakteristika ihrer Patienten in den Universitäts-Departments zusammengetragen und im DSM für universell erklärt. Tatsache ist, dass schon damals die USA-Bevölkerung zu 1/4 aus ethnischen und kulturellen Minderheiten bestand, heute ist es 1/3. Die fehlende Erwähnung, geschweige denn Berücksichtigung dieser Tatsache war ein eklatantes Manko des DSM III, das seiner weltweiten Verbreitung freilich keinen Abbruch tat. Immerhin bildete sich ein Komitee von Spezialisten der anthropologischen Psychiatrie und der Sozialpsychiatrie, das Vorschläge für deutliche Verbesserungen der 4. Auflage erarbeitete. Berücksichtigt wurden in DSM IV, dass den Störungsbildern Bemerkungen über »besondere kulturelle, Alters- oder Geschlechtsmerkmale« hinzugefügt wurden. Und der allgemeinen Definition der Persönlichkeitsstörung wurde folgende Formulierung gegeben: »Ein überdauerndes Muster von innerem Verhalten, das merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweicht...«.27 Nicht berücksichtigt wurde, dass die Kriterien selber kulturab27 American-Psychiatric-Association: Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen – Textrevision – DSM-IV-TR, dt. Bearbeitung von Hen-
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hängig sind, wie selbstverständlich auch das DSM als solches. Eine Selbstreflexion wurde auch insofern ausgeschlossen, als die Existenz von kulturabhängigen Syndromen der westlichen Kultur implizit geleugnet wurde. Das Angebot des DSM-Komitees, ein Glossar kulturabhängiger Syndrome (Amok, ataque de nervios etc.) in das Buch aufzunehmen, führte zu der Erstellung einer Liste, in der die Anorexie und die »multiple Persönlichkeitsstörung« als Beispiele von kulturabhängigen Syndromen aufgeführt wurden, die nur im Westen oder stark vom Westen beeinflussten Gesellschaften vorkommen. Beide wurden nicht in den Text übernommen, so dass das Glossar jetzt den Charakter eines exotischen Raritätenkabinetts hat. Tab. 2: Klinische Dimensionen kultureller Psychiatrie, angewandt auf die Persönlichkeitsstörungen (Alarcon 2005) Kulturelle Gruppen
Erklärungsmodell
Pathogenese
Diagnostik
Therapie/ Versorgung
Vorbeugungsangebot
»Caucasian«, weiß
Individualistisches Verhalten, »Arroganz«
Medien/ Internet/ Fernsehen Fragmentation der Familien, zeitgenössische Symbole
Strikte Anwendung der bestehenden Klassifikation
Vertrauen auf sich selbst, Gruppenaktivitäten, Internet
Konventionell
Familie, Religiosität, volkstüml. Heiler Rollenmodelle
Kulturelle Kompetenz, Dolmetscher Ortskenntnis
Cluster B
»Hispanic/ Latino«
Affektive Ausdrucksstärke, elterliche Autorität, Stolz, Abschottung des Privaten
Migration/ Akkulturation, Hürden zur Kultur des Gastgeberlandes
Kulturelle Formulierung Cluster B und C
»African American«
Misstrauen, Argwohn, aggressive Selbstaffirmation
Alleinerziehende Mütter, Gefängnispopulation, kriminalisiertes Verhalten
Kulturel- Politische le Formu- Präsenz lierung Cluster A
Kulturelle Kompetenz, gleiche Ethnizität
ning Saß/Hans Ulrich Wittchen/Michael Zaudig/Isabel Houben: Göttingen, Bern, Toronto, Seattle: Hogrefe 2000, S. 711.
186 | TILO HELD »Asian American«
Passivität/ Abhängigkeit Soziale Hierarchien
Hürden zur Kultur des Gastgeberlandes Geringe Kommunikation
Kulturelle Formulierung Cluster C
»Soziozentrismus«, Rollenmodelle Famil. Unterstützung Gruppenziele
Kulturelle Kompetenz, Anpassung an unterschiedl. Ethnizitäten
»Native American/ Pacific Islanders«
Melancholisch Passiv/ aggressiv
Jugendgangs Entfremdung Alkohol und Drogen
Kulturelle Formulierung Cluster A und B
Spiritualität, volkstüml. Heiler, Gemeinschaftsgefühl, Geschichte
Kulturelle Kompetenz, Mangel an Ortskräften
Ein gelungenes Beispiel, wie die Berücksichtigung kultureller Faktoren bei den Persönlichkeitsstörungen in den verschiedenen Komponenten der USamerikanischen Gesellschaft aussehen könnte, hat Alarcon28 geliefert, dessen Bezeichnungen selbstverständlich nicht frei sind von eigenen ethnozentrischen Vorstellungen. Das Gegenbeispiel für diese kultursensible Vorgehensweise ist eine Arbeitsgruppe, die nach strikten DSM III-Kriterien ohne kulturelle Vorsichtsmaßnahmen die Häufigkeit psychischer Störungen bei Kindern in Puerto Rico untersuchte und zu dem Befund gelangte, 50% von ihnen seien psychisch krank.29 Die fehlende Berücksichtigung kultureller Kontexte im DSM führt, bei Jugendlichen wie bei Erwachsenen, zu einer »Überdiagnostizierung« von Psychopathologie, was in keiner Weise durch einen medizinischen Nutzen aufgewogen werden könnte. Oder, im Sinne unserer früheren Formulierung, das Abbauen der Hürden zu einer Diagnose wie der Persönlichkeitsstörung führt zu ihrem inflationären Gebrauch und damit zur Verbreitung ihrer schädlichen Wirkungen. Eine besonders aufschlussreiche Studie zur kulturabhängigen Diagnose von Persönlichkeitsstörungen (im forensischen Bereich) wurde von Mikton und Grounds30 publiziert. Sie belegt nämlich, dass in einem multiethnischen Kontext (britische forensische Psychiatrie) die stärker stigmabelastete Gruppe 28 Renato D. Alarcon: »Cross-Cultural Issues«, in: J.M. Oldham/D.S. Bender (Hg.), Textbook of Personality Disorders, Washington DC: The American Psychiatric Publishing 2005, S. 561-578, hier S. 565. 29 Hector R. Bird et al.: »Estimates of prevalence of childhood maladjustment in a community survey in Puerto Rico«, in: Archives of General Psychiatry 45 (1988), S. 1120-1126. 30 Christopher Mikton/Adrian Grounds: »Cross-cultural clinical judgment bias in personality disorder diagnosis by forensic psychiatrists in the UK: a casevignette study«, in: Journal of Personality Disorders 21 (2007), S. 400-417.
DAS UNBEWUSSTE IN DER PSYCHIATRIE | 187
(afro-karibische Männer) gegenüber der Gruppe weißer Männer weniger häufig die Diagnose Antisoziale Persönlichkeitsstörung erhält, während die Minderheit der »nicht-weißen« Psychiater die Diagnose häufiger an »nichtweiße« Probanden vergibt. Die Erklärung dürfte sein, dass diese Diagnose in England die Pforte für spezialisierte Therapieangebote öffnet, insofern ein Privileg bezeichnet, das so bevorzugt der »weißen Gruppe« zugute kommt. Dass britische Psychiater sich durchaus der ökonomischen Konsequenzen ihrer Diagnosen bewusst sind, belegt die schon zitierte Arbeit von Tyrer et al.,31 die die verbreitete Ansicht britischer Psychiater wiedergibt, Persönlichkeitsstörungen seien keine psychischen Erkrankungen und sollten somit nicht zu Behandlungen aus Mitteln des National Health Service führen. Die »kulturfreie« Definition psychischer Störungen im DSM, insbesondere der Persönlichkeitsstörungen, hat zu weltweiten Bemühungen geführt, die großen Diagnosesysteme kultursensibler und mit lokalen und regionalen Bedingungen kompatibler zu machen. Es ist aber sehr fraglich, ob die Frucht dieser Bemühungen »bei den Betroffenen ankommt«. Weltweit wird nämlich beobachtet, dass bei den Anwendern der Systeme, den jungen Psychiatern, eine kontextfreie Betrachtung einiger weniger Symptome ihrer Patienten als Erleichterung, ja sogar als »Verbesserung« der diagnostischen und therapeutischen Arbeit betrachtet wird. Soweit nur die Wirkung der verabreichten Medikamente beurteilt wird, mag dies auch stimmen. Die Annahme, »Persönlichkeitsstörung« sei eine kontextfrei zu definierende, überall auf der Welt »sich selbst erklärende« medizinische Entität, muss generell in Zweifel gezogen werden. Vieles spricht dafür, dass im Gegenteil diese Form der Konzeptualisierung ein Spezifikum der heutigen westlichen Überzeugungen ist. Auch zu der geschichtlichen Tradition ist keine Kontinuität gegeben. »Jede proto-medizinische und Persönlichkeitstheorie in den großen Traditionen der verschiedenen Kulturen war Teil eines Erklärungssystems für allgemeine medizinische Probleme. Die Tradition lieferte keine soziale Rechtfertigung zur Diskreditierung von Personen, ebenso wenig wie ihre Essgewohnheiten oder körperliche Bewegungsmuster sie diskreditiert hätten... Im Gegensatz zu anderen medizinischen Traditionen führt DSM zur direkten Pathologisierung von Personen mit bestimmten Verhaltensweisen.«32
Die Kulturgebundenheit des Persönlichkeitsstörungsbegriffs hält Fabrega für so ausschlaggebend, dass er vorschlägt, diesen Begriff nur in jenen westlichen 31 Peter Tyrer/Patricia Casey/Brian Ferguson: »Personality disorder in Perspective«, in: British Journal of Psychiatry 159 (1991), S. 463-471. 32 Horacio Fabrega: »Personality disorders as medical entities: a cultural interpretation«, in: Journal of personality disorders 8/2 (1994), S. 149-167, hier S. 153. (Hervorhebungen T.H.)
188 | TILO HELD
Ländern zu benutzen, die die mit ihm verbundenen Grundannahmen teilen. Wohlgemerkt, eine Lösung für die im Westen lebenden Rezipienten dieser »Danaer-Diagnose« wäre das nicht.
5 . D i e P e r s ö n l i c h k e i ts s t ö r u n g s - D i a g n o s e i m D S M : was beweist die interne Inkonsistenz? Auf den ersten Blick gibt DSM das Bild einer bemerkenswerten Kohärenz. Es definiert bei den Persönlichkeitsstörungen, so scheint es, klare Krankheitseinheiten, für die klare diagnostische Regeln mit hoher Validität und Reliabilität gelten, was zu klaren, gut erforschbaren Patientenkollektiven führt, und auf der Ebene des Individuums zu klaren therapeutischen Empfehlungen. Leider stimmt kaum eine dieser Annahmen. Zur Validität: große Zweifel sind bei der Frage angebracht, ob »Persönlichkeitsstörungen« eine Existenz jenseits dessen haben, was die Fragebögen definieren. Die einzige Ausnahme dürfte die Borderline-Persönlichkeitsstörung sein, für deren Validität eine Reihe unabhängiger Befunde vorliegen. Auch sonst hat diese Diagnose einen Sonderstatus. Sie wird kaum als diskriminierend empfunden, viele »Betroffene« nutzen sie als Selbstdiagnose, es gibt erprobte Therapieverfahren. Überhaupt erhebt sich die Frage, ob das Borderline-Syndrom nicht zutreffender auf Achse I zusammen mit den anderen klinischen Syndromen einzuordnen wäre. Eine Ausnahme zu unserer Disqualifizierungsthese wäre wohl auch bei den antisozialen Persönlichkeitsstörungen zu machen, weil der Anlass zur Diagnosestellung meist nicht ein Beziehungsproblem, sondern eine vom Betroffenen begangene Straftat ist, bei der es legitim ist, zu untersuchen, ob sie im Kontext einer behandelbaren psychischen Störung begangen wurde. Im Übrigen aber herrscht große Konfusion. Eine lege artis vorgenommene psychiatrische Untersuchung fördert nicht, wie zu erwarten, eine Persönlichkeitsstörungsdiagnose zutage, sondern deren zwei bis drei. Im Umkehrschluss ist schon argumentiert worden, dass immer dann, wenn nur eine Persönlichkeitsstörungsdiagnose gefunden wurde, falsch untersucht wurde. In der klinischen Praxis ist aber dies die Regel: eine Persönlichkeitsstörungsdiagnose (bei 50% der klinisch-psychiatrischen Patienten). Die bei Weitem häufigste Persönlichkeitsstörungsdiagnose ist übrigens: »nicht näher bezeichnete Persönlichkeitsstörung« (in 70% aller Fälle).33
33 Roel Verheul/Anna Bartak/Thomas A. Widiger: »Prevalence and construct validity of personality disorder not otherwise specified (PDNOS)«, in: Journal of Personality Disorders 21 (2007), S. 359-370.
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Was macht sie so beliebt? Sicher nicht ihre Konstruktvalidität (diese ist quasi inexistent). Sicher auch nicht ihr therapeutischer Nutzen für den Patienten. Dieser ist inexistent, da es keine Therapieempfehlung für diese Diagnose gibt. Bleibt nur die Annahme, dass es die deutlich abgesenkte Schwelle für die Diagnosestellung ist (es sind keine Kriterien zu erfüllen). Dafür, dass überhaupt die Diagnose gestellt wird, sehe ich keinen anderen, jedenfalls keinen besseren Grund als den der diskriminierenden Klassifizierung. Hier also ein klassisches Beispiel für die negative Gegenübertragung auf der Stufe 2. Wenn die Frage der Validität der Entitäten »Persönlichkeitsstörungen« eine so heikle ist: wie steht es dann um die Validität der darauf aufbauenden empirischen Forschung? Sie kann nicht besser als die der benutzten Diagnosen sein. Somit schwebt über dem riesigen Korpus an Forschung über die Persönlichkeitsstörungen ein noch größeres Fragezeichen: die Zweifel an ihrer Validität. Zur Reliabilität: Erhöhte Reliabilität war das Banner, das zum Markenzeichen des gesamten Unternehmens »DSM III« werden sollte. Es sollte sicher sein, dass zwei unabhängige Untersucher bei ein und demselben Patienten dieselbe Diagnose stellen. Ist dies bei den Persönlichkeitsstörungen erfüllt? Kaum. Wird dieselbe diagnostische Interviewvorlage von beiden Interviewern benutzt, ist die Übereinstimmung akzeptabel. Schon bei unterschiedlichen Interviewvorlagen gibt es kaum noch Übereinstimmung – so als könnten die Konstrukteure der Vorlage nicht genau wissen, was erfragt werden soll. Und: wie soll es bei sich überlappenden Pseudo-Entitäten zu übereinstimmenden Urteilen kommen? Kurz, die Reliabilität, anders als von DSM versprochen, ist unzureichend. Unklarheit, worauf sich Persönlichkeitsstörungen beziehen: Es bleibt unklar, ob Persönlichkeitsstörungen Spielarten des Normalen oder Spielarten des Krankhaften sind. Es ist ebenfalls nicht klar, ob die Antwort für jede Persönlichkeitsstörung dieselbe sein kann. Ein wachsender Anteil der Psychiater neigt der vor allem von Psychologen entwickelten dimensionalen Charakterisierung zu: Persönlichkeitsstörungen als Extremvarianten der weiter oben beschriebenen fünf Persönlichkeitsdimensionen mit ihren Unterfacetten. Dies wäre gewiss das Ende der Einfachheit: Fortan ließe sich kein Patient mehr mit einem (pejorativen) Adjektiv beschreiben. Und: es gäbe keinen plausiblen Grund, die ebenfalls erhobenen Stärken der Persönlichkeit so komplett zu verschweigen wie bisher. Im Sinne der von uns formulierten Kritik kann es nur wünschenswert sein, wenn Persönlichkeitsstörungs-Diagnosen nicht mehr »schnell und einfach« zu stellen sind. Begreiflicherweise regt sich Widerspruch: ein solches Modell sei nicht praktikabel, und seine Ergebnisse seien von Arzt zu Arzt schwer kommunizierbar. Selbst Devereux hat seinerzeit solche Modelle vorwegnehmend abgelehnt: es gehe beim psychiatrischen
190 | TILO HELD
Diagnostizieren nicht um »non-normal«, sondern um »oui-fou«, das heißt nicht um die statistische Abweichung, sondern um die Übereinstimmung mit einer gesellschaftlich definierten Norm des »Verrückten«, des »Psychopathen« etc. »Diese Feststellungen rauben den Versuchen, das Problem der Normalität oder Anormalität nach statistischen oder kulturrelativistischen Gesichtspunkten zu entscheiden, jegliche wissenschaftliche Bedeutung.«34 Das DSM-Komitee wird sich in naher Zukunft entscheiden, ob es bei den Persönlichkeitsstörungen das wenig diskriminierungstaugliche, von der Normalpsychologie abgeleitete dimensionale Modell dem jetzigen kategorialen der »Als-ob-Krankheiten« vorzieht. Nach meiner These dürfte das Thema »Diskriminierung« bei den umfangreichen Diskussionen zur Vorbereitung der fünften Auflage des DSM keine Rolle spielen. Dem ist in der Tat so. Aber es gibt auch Persönlichkeitsstörungen, die sich mit guten Gründen in die Nähe von Krankheiten stellen lassen: die schizotypische Persönlichkeitsstörung, die in den Familien Schizophrener gehäuft vorkommt und mit der Schizophrenie eine genetische Verwandtschaft haben dürfte, und die Borderline-Störung, die häufig als Folge frühkindlicher Traumata auftritt und mit Depressionen und Essstörungen gemeinsam vorkommt. Für eine Homogenität der nosologischen Kategorie »Persönlichkeitsstörung« spricht auch dies nicht. Zeitliche Konstanz: Persönlichkeitsstörungen sollen zeitlich überdauernd und somit bei einem betroffenen Individuum konstant nachweisbar sein. Sie sollten sich damit grundsätzlich unterscheiden von den eher als episodisch gedachten klinischen Syndromen der Achse I. Auch dies ist bei empirischer Betrachtung unzutreffend.35 Zwei Jahre nach Diagnosestellung sind bei 40% der diagnostizierten Patienten die zur Diagnose notwendigen Kriterien nicht mehr nachweisbar. Die nähere Betrachtung zeigt Folgendes: zeitlich recht konstant sind die Persönlichkeitszüge, die dann im Zusammenwirken mit Umweltfaktoren (wie Beziehungskrisen) rekurrierend jene Verhaltensweisen produzieren, die als Persönlichkeitsstörung diagnostiziert werden. Peter Fiedler nennt dies die »Personperspektivierung eines Interaktionsproblems«.36 Nicht das Interaktionsproblem, nicht die Verhaltensauffälligkeiten sind zeitlich überdauernd, sondern lediglich der disponierende Persönlichkeitsstil. Diese Frage stellt sich in der gesamten heutigen Medizin: wie bezeichnen wir die Zustände, bei denen durch therapeutische Maßnahmen (meist medi34 Georges Devereux: Essais d’ethnopsychiatrie générale, Paris: Gallimard 1970, S. 307. 35 Carlos Grilo/Thomas H. McGlashan: »Course and Outcome of Personality Disorders«, in: John M. Oldham/Donna S. Bender (Hg.), Textbook of Personality Disorders, Washington DC: The American Psychiatric Publishing 2005, S. 103118. 36 P. Fiedler: Persönlichkeitsstörungen, S. 2ff.
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kamentöser Art) die Krankheitssymptome (und damit die Krankheit) in die Latenz gedrängt wurden und die Krankheit somit nur virtuell vorhanden ist? Die Frage, ob sie krank sind oder nicht, empfinden die meisten Patienten nicht als trivial, wie sehr erst die »Persönlichkeitsgestörten«, die wegen zuweilen wiederkehrender »Zuspitzungen« ihres Verhaltens lebenslang ein diagnostisches Stigma tragen sollen. Fassen wir die Befunde dieses Kapitels zusammen: den selbst gestellten Anforderungen an eine Kategorie im Rahmen eines medizinischen Diagnosesystems genügen die Persönlichkeitsstörungen nicht. In der im DSM III definierten Form besitzen sie keine ausreichende Validität. Der Preis für diese Fehlentwicklung ist sehr hoch. Der Erkenntnisgewinn durch die Eingemeindung in die medizinischen Kriterienkataloge war gering. Der Erkenntnisverlust, durch die Amputation all des realen und potenziellen Wissens, das im Zusammenhang mit Nachbardisziplinen zu »Interaktionsproblemen bei bestimmten Persönlichkeitsstilen« gewonnen wurde und noch zu gewinnen wäre, ist immens. Somit beantwortet sich auch die Titelfrage dieses Kapitels: die Inkonsistenz beweist, dass die »Verortung« des mit »Persönlichkeitsstörung« beschriebenen Phänomens misslungen ist. Misslungen wäre – im Sinne unserer These – auch der Versuch, mit einer gigantischen Medikalisierung im DSM III die in der Vergangenheit festgestellten Diskriminierungswirkungen der Diagnose aufzuheben. In Wahrheit sind sie weiterhin vorhanden, aber das Bewusstsein ihrer Präsenz wurde verdrängt.
6 . N e g a t i ve G e g e n ü b e r t r a g u n g – einige direkte Belege Beim Individuum sind Verdrängungen selten vollständig. Die abgewehrten Inhalte treten immer wieder einmal unverhüllt zutage. So auch bei unserem Thema: vereinzelt finden sich noch Psychiater, meist psychoanalytischer Provenienz, die über negative Gegenübertragungsphänomene gegenüber Persönlichkeitsgestörten berichten: am deutlichsten Lewis und Appleby »Personality disorder: The Patients Psychiatrists Dislike«.37 Eine Gruppe von Psychiatern wurde gebeten, unterschiedliche Fallgeschichten zu lesen und Einstellungen sowie Behandlungsvorschläge auf Skalen mit »semantischem Differenzial« einzutragen. Fälle mit Persönlichkeitsstörung wurden als schwierig angesehen, als weniger zuwendungswürdig als andere. »They were denied the benefits of being regarded as ill, they were denied the privilege of being regarded
37 Glyn Lewis/Louis Appleby: »Personality disorder: The Patients Psychiatrists Dislike«, in: British Journal of Psychiatry 153 (1988), S. 44 - 49.
192 | TILO HELD
as normal«.38 Persönlichkeitsgestörte seien manipulativ, aufmerksamkeitssüchtig, lästig, und für ihre Handlungen selbst verantwortlich. Die Autoren schließen mit dem Vorschlag, das Konzept Persönlichkeitsstörung ganz aufzugeben – eine Forderung, die sie in späteren Arbeiten nicht mehr erhoben haben. Weniger radikal ist der Vorschlag – klassisch in der psychoanalytischen Psychiatrie –, die Gegenübertragungsreaktionen des Diagnostikers und Therapeuten zu erkennen, um den therapeutischen Prozess zu lenken. Betan et al. befragten Therapeuten nach den Reaktionen auf ihre Patienten mit (narzisstischen) Persönlichkeitsstörungen. Der Grad der Zustimmung zu den einzelnen Aussagen ergibt sich aus folgender Tabelle:39 Tab. 3: Gegenübertragungsgefühle bei der Behandlung narzisstisch Persönlichkeitsgestörter (Die genannten Zahlen sind »Ladefaktoren« bei der Faktorenanalyse) Die folgenden Aussagen geben meine Gefühle am besten wieder: (Größte Übereinstimmung des Probanden mit den vorgegebenen Antworten): Ich fühle mich gelangweilt in Sitzungen mit ihm/ihr
1,63
Ich fühle mich benutzt oder manipuliert von ihm/ihr
1,42
Ich verliere die Geduld mit ihm/ihr
1,38
Ich fühle mich von ihm/ihr schlecht behandelt
1,29
Ich fühle mich ärgerlich bei der Arbeit mit ihm/ihr
1,24
Die folgenden Aussagen geben meine Gefühle am wenigsten wieder: (Geringste Übereinstimmung des Probanden mit den vorgegebenen Antworten) Ich mag ihn/sie sehr
-0,32
Ich habe Mitgefühl mit ihm/ihr
-0,42
Ich bin sehr zuversichtlich über die Fortschritte, die er/sie in der Therapie machen wird
-0,47
Ich freue mich auf Sitzungen mit ihm/ihr
-0,47
Er/sie ist eine(r) meiner liebsten Patient(inn)en
-0,52
38 Ebd., S. 48. 39 Ephi Betan/Amy Heim/Carolyn Z. Conklin/Drew Westen: »Countertransference Phenomena and Personality Pathology in Clinical Practice: an Empirical Investigation«, in: American Journal of Psychiatry 162 (2005), S. 890-898.
DAS UNBEWUSSTE IN DER PSYCHIATRIE | 193
Dass diese negativen Gegenübertragungsgefühle direkte Auswirkungen auf den Behandlungserfolg haben, zeigt die Studie von Rossberg et al.:40 der positive oder negative Behandlungserfolg korrelierte eng mit dem Ausmaß positiver oder negativer Gegenübertragungsgefühle der Therapeuten. Klinische Erfahrung mit der Psychotherapie Persönlichkeitsgestörter legt allerdings den Schluss nahe, dass diese Diagnose in jedem Fall ein Behandlungshindernis darstellt. Die Behandlung beginnt nämlich mit der Invalidierung des Agens, von dem zu Recht der therapeutische Fortschritt erwartet wird: der Persönlichkeit des Patienten. Wie soll eine starke positive Übertragung des Patienten, als Motor der Verbesserung vor allem in der ersten Zeit, sich einstellen gegenüber jemandem, der ihm/ihr soeben per Diagnose eine solche Verletzung seines/ihres Selbstwertgefühls zugefügt hat? Die pragmatische Konsequenz ist meist, dass Psychotherapeuten gegenüber ihren PatientInnen die Persönlichkeitsstörungsdiagnose nicht verwenden. Eine neue Kategorie: Diagnosen im Giftschrank? Die Skepsis vieler Therapeuten (vor allem, aber nicht nur in den USA) bezieht sich noch auf einen weiteren Aspekt: es ist sehr schwer, Krankenversicherungen von der Notwendigkeit der Kostenübernahme für die Psychotherapie Persönlichkeitsgestörter zu überzeugen. Diese werden (letztlich zu Unrecht) als zu aufwendig und zu wenig erfolgversprechend beurteilt – was dazu führt, dass die Therapeuten eher die Diagnose eines Achse-I-Syndroms wie Depression nutzen. Dies dürfte ein deutliches Beispiel sein, wie Therapeuten den diskriminierenden Charakter der Diagnose erkennen und mit den Mitteln umschiffen, die das DSM nicht vorsieht – eine positive Gegenübertragung als Reaktion auf die wahrgenommene Diskriminierung ihrer Patienten.
7 . Hür den f ür d ie D ia gno se Pers ön lic hke itss tör un g? Wie beschrieben, ist innerhalb des bestehenden diagnostischen Systems und angesichts der völligen Verdrängung des Diskriminierungsproblems eine grundlegende Verbesserung schwer vorstellbar. Da aber ein Großteil des Schadens auf der 2. Stufe, der Anwendung diagnostischer Regeln entsteht, läge eine Art Schadensbegrenzung in der Anhebung der Hürden für die Vergabe der Diagnose Persönlichkeitsstörung (es sollte nicht mehr möglich sein, jedem dritten Patienten die sinnlose und schädliche Diagnose »nicht näher bezeichnete Persönlichkeitsstörung« zu applizieren). Peter Fiedler hat versucht, solche restriktiven Regeln zu formulieren:41
40 Jan Ivar Rossberg/Sigmund Karterud/Geir Pedersen/Svein Friis: »An empirical study of countertransference reactions toward patients with personality disorders«, in: Comprehensive Psychiatry 48/3 (2007), S. 225-230. 41 P. Fiedler: Persönlichkeitsstörungen, S. 34ff.
194 | TILO HELD »Persönlichkeitsstörungsdiagnosen dürfen nur vergeben werden, wenn die betreffende Person selbst unter ihrer Persönlichkeit leidet, und/oder Persönlichkeitsstörungsdiagnosen dürfen nur vergeben werden, wenn sie das Risiko der Entwicklung oder Exazerbation einer psychischen Störung (z.B. affektive Störung, Suizidalität, Dissoziationsneigung) beinhalten oder eindeutig mit diesen in einem Zusammenhang stehen (therapiebedeutsame Aufklärungspflicht gegenüber dem Patienten!), und/oder Persönlichkeitsstörungsdiagnosen dürfen nur vergeben werden, wenn die Betroffenen wegen ihrer Persönlichkeitseigenarten z.B. aufgrund eines erheblich eingeschränkten psychosozialen Funktionsniveaus ihre existenziellen Verpflichtungen nicht mehr erfüllen, was zumeist heißt, dass sie mit Ethik, Recht oder Gesetz in Konflikt geraten sind. In diesem Fall brauchen die Patienten selbst die Angemessenheit der Diagnosevergabe nicht zwingend zu teilen. Sind diese Kriterien nicht erfüllt, dürfen keine Persönlichkeitsstörungsdiagnosen vergeben werden!«
Zusammen mit diesen »Verhaltensregeln für die Stufe 2« wäre auf der Stufe 1 (Diagnosesystem) die künftige Orientierung an den Dimensionen der Normalpsychologie ein verbesserter Schutz vor ungesteuerter negativer Gegenübertragung. Allerdings: Das für Unbewusstes angemessene »Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten«42 wird durch Verhaltensregeln nicht wirklich ersetzt.
8. Zusammenfassung Keine Kategorie der psychiatrischen Diagnostik verdient so viel und so fundamentale Kritik wie die der Persönlichkeitsstörungen. Sie genügt den im Rahmen der Medizin definierten Kriterien für eine Krankheit oder ein Syndrom nicht, was den Wert der sehr umfangreichen Forschung zu diesem Thema in Frage stellt. Wichtiger sollte aber die PatientInnenperspektive sein. Und für diese gilt: Die Diagnose »Persönlichkeitsstörung« – abgesehen vielleicht von der Borderline-Persönlichkeitsstörung – bedingt für die Rezipientin/den Rezipienten eine sehr ungünstige Nutzen-Risiko-Relation. Dies zu erkennen und im Sinne der medizinischen Ethik adäquat zu verändern, verhindert ein gesellschaftlicher Mechanismus, der als unbewusste negative Gegenübertragung beschrieben werden kann. Die Diagnose »Persönlichkeitsstörung« ist ein anschauliches Beispiel, wie unbewusste Mechanismen bestimmte, scheinbar objektive Kriterien hervorbringen, die in der Medizin wirkungsmächtig werden: sowohl für die Diagno42 Sigmund Freud: Gesammelte Werke Bd. X, Frankfurt/Main: Fischer 1946, S. 126-136.
DAS UNBEWUSSTE IN DER PSYCHIATRIE | 195
se wie auch für die Behandlung. Die Wirkungsmacht dieser Vorgänge wird nur noch übertroffen von der Resistenz gegen ihre Aufdeckung. Das Unbewusste kann Erkenntnisse fördern – und tut es auch oft, aber es kann sie auch verhindern.
Verbinden, Verknüpfen, Verstricken. Textile Metaphern in den Wissenschaften ELLEN HARLIZIUS-KLÜCK
Geschlecht als sozial konstruierte Differenz zu denken und insbesondere Mutterschaft als sozial zugewiesene Aufgabe zu verstehen, verdeckt die alte Bedeutung von Geschlecht als Fortpflanzungsgemeinschaft, die ›etwas‹ über zeitliche Transformationen hinweg bewahrt.1 Was wäre, wenn es bei der in den Wissenschaften unbewusst wirksamen Kategorie Geschlecht weniger um das ins Weibliche Verdrängte, sondern eher um diese Fortpflanzungsfähigkeit ginge? Um die Fähigkeit, ›etwas‹ identisch durch die Zeit zu transformieren? Und darum, diesen Prozess in den Griff zu bekommen? Solche Fragen der Transformation verdrängen derzeit die der Repräsentation (von Wissen) aus dem Zentrum des wissenschaftshistorischen Interesses. Man fragt jetzt weniger, wie sich die Worte zu den Dingen verhalten, sondern eher, wie die Dinge im Forschungsprozess verändert werden, um sie zum Sprechen zu bringen.2 Man fragt jetzt, wie man dem auf die Spur kommt, was der Forscher zu einem bestimmten Zeitpunkt noch nicht weiß, und man fragt, wie der Forscher selbst am Ende zu dem kommt, was er vorher nicht wusste. Trotzdem spielt der Begriff des Unbewussten in diesen Untersuchungen keine Rolle.
1 2
Was da bewahrt wird, lasse ich hier offen, da sich dies historisch verändert und nicht einfach als Erbgut bestimmt werden kann. Um nur einige einschlägige Arbeiten zu nennen, auf die auch im Folgenden Bezug genommen wird: Christina Brandt: Metapher und Experiment. Von der Virusforschung zum genetischen Code, Göttingen: Wallstein 2004; Lorraine Daston (Hg.): Things That Talk. Object Lessons from Art and Science, New York: Zone Books 2004; Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen: Wallstein 2001; Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000.
TEXTILE METAPHERN IN DEN W ISSENSCHAFTEN | 197
In den betroffenen Stadien der Forschungsarbeit herrscht ein gutes Klima für Metaphern. Und zwar nicht nur bei den erforschten Forschern, sondern auch bei denen, die über die Arbeit der Forscher forschen. Zunächst wird die Metapher dabei als sprachliches Wissenselement berücksichtigt,3 dann taucht sie aber auch mitten in den Beschreibungen der untersuchten Transformationsvorgänge auf, und zwar genau dort, wo deutlich werden soll, dass etwas übertragen wird, aber undeutlich bleibt oder bleiben soll, was. »Things knit together matter and meaning« schreibt Lorraine Daston,4 und Bruno Latour beschreibt die Tätigkeit des Wissenschaftlers als eine Verknüpfungsarbeit, bei der »nicht-menschliche Wesen« in die Existenz der Menschen »verstrickt werden«.5 Rheinberger spricht von einer »Patchperspektive der Forschung«, die ermöglicht, »Wissenschaften als ein verwickeltes Netzwerk zu sehen, […] das sich in unvorhersehbarer Weise entfaltet und das dennoch Muster aufweist«6. Und weiter heißt es: »Repräsentationen und Objekte sind unauflösbar miteinander verknüpft.«7 Stricken, Knüpfen, Patchwork. Warum greift man so häufig zu diesen eher weiblich besetzten Kulturtechniken, um den Transformationsvorgängen der Wissenschaften Konsistenz zu unterlegen? Warum pointiert man das Verbindende, das ›Etwas‹, das unter den Transformationen konstant bleibt, ohne dass man ihm einen präzisen Namen geben könnte, als textile Struktur? Auch der sich in der Zeit transformierende Zusammenhang des Lebendigen, jenes ›Etwas‹ der Generation, wird bevorzugt in textilen Bildern ausgedrückt.8 Wäre dann nicht der Einsatz der Metaphern des Textilen ein guter Punkt, um den undeutlichen Zusammenhang von Geschlecht (als dem, worin sich das Unbewusste der Wissenschaften einnistet) und Wissenschaft ins Auge zu fassen? Das soll im Folgenden versucht werden.
K o s m i s c h e G e w e b e , K o s m i s c h e M e ta p h e r n Gewebe waren stets wichtige Mittel zur Repräsentation und Tradierung des Herrschaftsanspruches einer Familienlinie, und Geschichten und Überlieferungen von Königsmänteln mit dieser Funktion sind zahlreich. Euripides er3 4 5 6 7
8
Vgl. C. Brandt, Metapher. Lorraine Daston: »Speechless«, in: dies., Things That Talk, S. 9-24, hier S. 10. B. Latour: Pandora, S. 126. H.-J. Rheinberger: Experimentalsysteme, S. 248. Michael Lynch/Steve Woolgar: Representation in Scientific Practice, Cambridge: The MIT Press 1990, S. 13, zitiert nach H.-J. Rheinberger: Experimentalsysteme, S. 111. Zur Rolle von Geweben für die Repräsentation des Genealogischen vgl. Ellen Harlizius-Klück: Saum & Zeit. Ein Wörter-und-Sachen-Buch in 496 lexikalischen Abschnitten, Berlin: Ebersbach 2005, insbesondere die Artikel zu Gedächtnis, Genealogie und Gehren.
198 | ELLEN HARLIZIUS-KLÜCK
zählt von einem solchen Gewebe für das Zelt des Xerxes »Als Dach entrollte oben einen Teppich (peplon) er… Ihm waren Bilder eingewebt: Gott Uranos, / der die Gestirne sammelte im Kreis des Äthers, / und Helios, der sein Gespann gen Abend trieb / und hinter sich den hellen Hesperos einherzog. / Die Nacht mit ihrem schwarzen Kleid trat an die Fahrt / im Zweigespann, die Sterne folgten ihr; und Pleias / beschrieb im Mittelpunkt des Äthers ihre Bahn, Orion auch, der schwertgewappnete, darüber die Bärin, ihren goldnen Schweif zum Pol gewandt.«9 Neben Alexander dem Großen, dessen Mantel legendär ist, soll auch Demetrios Poliorketes, ein athenischer König, solche kosmischen Gewebe besessen haben. Der Biograph Duris schreibt: »seine Mäntel waren von schwarzrotem Glanz und das ganze Himmelsgewölbe war eingewebt und die zwölf Tiere« (gemeint sind die Sternbilder des Tierkreises).10 Plutarch nennt diesen Mantel: »eine herrliche Arbeit, ein Bild des Kosmos und der Erscheinungen unter dem Himmel«.11 Noch der nenmantel Heinrichs II. im Bamberger Domschatz, der zu Beginn des 11. Jahrhunderts hergestellt und im späten 15. Jahrhundert überarbeitet wurde, gehört in diese Linie. Ein sehr Abb. 1: »Fremtid« (Zukunft), Bjørn schönes und für unsere Zwecke sehr Nørgaard, Schloss Christiansborg, instruktives Exemplar eines kosmi- Kopenhagen schen Herrschergewebes liefert das dänische Königshaus. Im großen Saal von Schloss Christiansborg hängt eine ganze Serie von Tapisserien, die die Geschichte Dänemarks von den Wikingern »until just before the future« erzählen.12 Diese Geschichte endet mit 9
Euripides: Ion, 1143-1154, hier zitiert nach Euripides: Tragödien. Vierter Teil. Elektra, Helena, Iphigenie im Lande der Taurer, Ion, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990, S. 433. 10 Duris ap. Athen. 12.535f, hier zitiert nach Rudolf Eisler: Weltenmantel und Himmelszelt. Religionsgeschichtliche Untersuchungen zur Urgeschichte des antiken Weltbildes, München: Beck 1910, S. 39; Übersetzung: E. Harlizius-Klück. 11 Plutarch, Dem. 41.4; hier zitiert nach: ebd., S. 39; Übersetzung: E. HarliziusKlück. 12 Der komplette Zyklus wird kommentiert und erklärt auf den Internetseiten des Designers Bjørn Nørgaard: http://www.bjoernnoergaard.dk/gobeliner/index_ eng.html (zuletzt aufgerufen am 29.9.2008).
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einem Teppich mit dem Titel ›Zukunft‹, der die beiden Prinzen Frederik und Joachim als Personen der heutigen Zeit zeigt und sie in einen höchst interessanten Raum stellt. Zunächst scheint er vier normale Wände zu haben, die sich aber nach hinten zu einem lang gezogenen schwarzen Oval zugleich schließen und öffnen. Den Boden dieses merkwürdigen Raumes füllt eine unruhige Ansammlung von Gestein, Fossilien und Mineralien. Rechts ist die Fläche durch Formen strukturiert, die Halbleiter, Schaltpläne und Ähnliches andeuten. Oben zeigt sich Röntgenrauschen im Raum neben der schematischen Darstellung eines Schwarzen Loches, einer Nova und der Verdichtung interstellarer Materie. Links schließlich entdecken wir ein ganzes Arsenal von Bestandteilen des Körpers: Bakterien, Pilze, Mikroben, Geißeltierchen, Enzyme etc. In der Mitte zwischen den beiden Personen sind auf schwarzem Grund ein Molekül sowie RNA-Stränge zu sehen. Und wie um anzuzeigen, wer hier die Krone erben wird, ist der in der Thronfolge zuerst zu berücksichtigende Frederik mit einer DNA-Schärpe ausgezeichnet. Der Künstler scheint jene Physiker beim Wort zu nehmen, die vom Stoff des Universums reden, vom Raum-Zeit-Gewebe und den kleinsten Teilchen als Fäden einer Tapisserie. Brian Greene bezeichnet die Struktur von Raum und Zeit als »Gewebe« und die Struktur des Kosmos als »Textur«, der man auf die Spur kommt, wenn man nach »Mustern« in astronomischen Daten sucht.13 Dies sei die Aufgabe der Stringtheorie, deren Grundidee er folgendermaßen beschreibt: »Laut Superstringtheorie besteht jedes Teilchen aus einem winzigen Energiefaden, rund hundert Milliarden mal kleiner als ein einzelner Atomkern (…) und wie eine winzige Saite geformt. Genau wie eine Violinsaite verschiedene Schwingungsraster aufweisen kann, deren jedes einem anderen Ton entspricht, so weisen auch die Fäden der Superstringtheorie verschiedene Schwingungsmuster auf.«14
Und die Superstringtheorie habe erreicht, dass sich die Erscheinungsformen der Natur »zu einem einzigen Teppich verknüpfen lassen.«15 Und falls sie sich als richtig erweise, sei »die uns vertraute Wirklichkeit nur ein zarter Schleier […], der über eine dicht und reich gewebte kosmische Struktur gebreitet ist.«16 Brian Greene bezieht sich wie so viele, die vom Stoff des Kosmos sprechen, auf Einstein, der von der Raum-Zeit als Gewebe sprach (fabric of space-time): »Er träumte davon, einen einzigen allumfassenden theoretischen 13 Brian Greene: Der Stoff aus dem der Kosmos ist. Raum, Zeit und die Beschaffenheit der Wirklichkeit, München: Siedler 2006, S. 20f. 14 Ebd., S. 33. 15 Ebd., S. 34. 16 Ebd., S. 35.
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Rahmen zu finden, der es ihm ermöglichen würde, ausnahmslos alle Naturgesetze zusammenzufassen. Diesen Rahmen nannte er vereinheitlichte Theorie. […] Einsteins Traum erfüllte sich nicht.«17 Das größte Hindernis für eine solche Theorie sind gewisse Unvereinbarkeiten der allgemeinen Relativitätstheorie und der Quantenmechanik. Greene schreibt: »Zwar werden beide Theorien in der Regel auf ganz verschiedene Bereiche angewendet – die allgemeine Relativitätstheorie auf große Dinge wie Sterne und Galaxien, die Quantenmechanik auf kleine Dinge wie Moleküle und Atome –, dennoch erheben beide den Anspruch, universell zu sein …«18 Die Superstringtheorie will, mit ihren strings eben diese Vereinheitlichung erreichen und mikro- und makrokosmische Theorie verbinden. Die Gewebemetapher ist dazu besonders geeignet, weil sie nicht nur in der Physik der größten Dinge, sondern auch in der Chemie der kleinsten Körperteilchen gerne verwendet wird. Doch auch wenn von Körpergewebe die Rede ist, stellt sich niemand dabei wirklich gewebte Substanzen vor. Wenn Erasmus Darwin die Entstehung allen Lebens aus der Spaltung und Vervielfältigung eines Ur-Fadens erklärt,19 nehmen wir dies als rhetorische Figur wahr, aber nicht als ernst zu nehmende Aussage über Struktur und Material der beschriebenen Prozesse. Doch genau hier greift schließlich der innovative Kern der textilen Metapher. Denn das Material des menschlichen Körpers als Gewebe zu bezeichnen, erscheint heute nicht nur aufgrund der fadenförmigen Struktur der Proteine plausibel, sondern wird in der Nanotechnologie sogar realisiert, wo Körpergewebe teils aus textilem Material, teils nach textilen Prinzipien produziert wird.20 Ist die Metapher des Körpergewebes nicht tatsächlich eine prognostische Wahl gewesen, wenn die Forschung schließlich erzeugt, was die Metapher immer schon bezeichnet hat? Verstehen wir unter ›Metapher‹ die Übertragung eines bildlichen Ausdrucks auf eine andere Sache, oder genauer: die Übertragung von Ähnlichkeiten zwischen Bild und verbildlichtem Sachverhalt, so lassen sich in der mittlerweile umfangreichen wissenschaftshistorischen Literatur zwei Perspektiven auf die Metapher ausmachen, die in gewissem Sinne zwei Pole der Bewertung darstellen. An dem einen Pol versteht man die Metapher als rhetorisches Instrument, spricht von ihrer Literarizität, betont ihren textuellen Charakter, ihre
17 Ebd., S. 31. 18 Ebd. 19 »From this account of reproduction it appears, that all animals have a similar origin, viz. from a single living filament…« Erasmus Darwin: Zoonomia, or, the Laws of Organic Life, Vol. I, London 1796, S. VI http://www.gutenberg.org/ files/15707/15707-8.txt (zuletzt aufgerufen am 2.10.2008) 20 Das Cardiac tissue engineering wird unter anderem am MIT in Boston, an der RWTH Aachen, in Zürich, Genf und Leipzig erforscht und betrieben. Vgl. als Beispiel: http://idw-online.de/pages/de/news161186 (zuletzt aufgerufen am 1.10.2008).
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Funktion der Einkleidung von etwas eigentlich Gemeintem. Dann ist sie vorwiegend ein Gegenstand rhetorischer Analysen und es wird eher die Frage verfolgt, was die Metapher mit dem Leser macht, welches Unheil sie womöglich anrichtet. Die Metapher ist dabei der schärfsten Kritik ausgesetzt und ihr Gebrauch grenzt ans Unmoralische.21 Die andere Perspektive, die sich vorwiegend auf die Metaphorologie Blumenbergs stützt oder zumindest mit dieser eng verwandt ist, untersucht Metaphern als erkenntnisleitende Instrumente. Die von Blumenberg sogenannte absolute Metapher umfasst in ihrer Bildhaftigkeit stets mehr als es ein Begriff der zu bezeichnenden Sache könnte, und dieses ›Mehr‹ haftet an ihrem kulturellen Kontext. Ralf Konersmann schreibt: Metaphern »reagieren auf Fragen, die wir haben, aber ohne letzte Gewißheit beantworten müssen; sie verkürzen Erkenntnisprozesse, deren Ausgang wir nicht abwarten können; und sie ersetzen Evidenzen, über die wir nicht und vielleicht auch niemals verfügen«.22 Auf diese Weise eingesetzte Metaphern geben vor, wie wir uns unzugängliche, überkomplexe oder anderweitig der Evidenz entzogene Sachverhalte denken.23 In dieser Lesart war die Metapher zunächst Gegenstand der Philosophie, neuerdings ist sie auch Gegenstand der Wissenschaftsforschung, die die Frage verfolgt, was die Metapher mit der Arbeit des Denkers oder Forschers macht, der sie gemacht hat. Folgt man Descartes’ Forderung nach der Klarheit und Bestimmtheit aller Urteile und einer Terminologie, die dieser Bestimmtheit entspricht, die also jede übertragene Rede nur als Übergangsphänomen akzeptiert und in eine rein begriffliche Sprache übersetzen will, so kann in den Wissenschaften etwas immer nur vorläufig unnennbar sein. Denken gilt hier als essenziell sprachliches Phänomen, und Sprache ist folgerichtig am besten geeignet, das Denken über Naturvorgänge abzubilden. Dem setzt Hans Blumenberg entgegen, dass eine solche Sprache die Welt nicht adäquat erfassen kann. Denn jeder Wahrnehmung liegen Bilder oder auch Vorstellungsbilder zugrunde, weil die Welt zunächst ein ästhetisches, also ein wahrzunehmendes, und kein logisches oder begriffliches Phänomen ist. Die Metapher erlaubt eben durch ihre Bildhaftigkeit eine Konfiguration dieser Phänomene, eine erste, vorläufige aussprechba21 Metaphern verdunkeln und mystifizieren, erzeugen vermeintliches Wissen und vermitteln doch nur Fehlvorstellungen, schreibt Marc-Denis Weitze und fordert: »Damit Metaphern nützlich werden, erhellen statt verdunkeln, transparent sind statt zu mystifizieren, müssen sie vor der Benutzung genauer definiert werden, also wie Fachtermini erklärt werden.« Marc-Denis Weitze: »Ozonloch und Gentaxi. Wie hilfreich sind Metaphern in der Wissenschaftskommunikation?«, in: Kultur & Technik. Das Magazin aus dem Deutschen Museum, 3/2007, S. 56-58, hier S. 58. 22 Ralf Konersmann: »Figuratives Wissen«, in: ders. (Hg.), Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, S. 7-21, hier S. 12. 23 Ebd., S. 15.
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re Form-Vorstellung, die sich aber nicht ohne Substanzverlust in distinkte Begriffe überführen lässt.24 Was wir als eigentlichen Ausdruck der Metapher zu erkennen glauben, wäre dann nur das, was sich mit der Zeit als eigentlicher Ausdruck herausstellt. Der Begriff ist, wie es schon Nietzsche ausdrückte, eine abgenutzte Metapher. Ein analoger Vorgang wie dieses Abschleifen der Metapher durch die Arbeit am Begriff wird neuerdings auch bei naturwissenschaftlichen Experimenten konstatiert. Hans-Jörg Rheinberger sieht die Funktion der Experimentalsysteme gerade in der Verschiebung von der Analogie über das Modell zum konkreten Modell. Während in der Philosophie die Metapher als Instrument gesehen wird, mit dem man der unbewussten Strategie auf die Spur kommen kann, wie sich philosophisches Denken fortbewegt, hält die Wissenschaftsforschung auch da, wo sie die Transformationen der Metapher erforscht, um dem auf die Spur zu kommen, was der Forscher noch nicht weiß, deutlich Abstand zum Begriff des Unbewussten und bezeichnet ihre Gegenstände lieber weiterhin als Wissen: Nichtwissen, Dingwissen, stummes oder implizites Wissen.
St u m m e s W i s s e n u n d z i r k u l i e r e n d e R e f e r e n z Christina Brandts Geschichte der Metaphern von Code, Information und Schrift in der Molekularbiologie geht »diesem schwebenden Verhältnis von scheinbar Gesichertem und Vorgriff, der spezifischen Position der Metaphorik im Grenzbereich von Wissen und Nichtwissen« nach.25 Sie stellt fest, dass die Metapher in Forschungsberichten katalysatorische Wirkung haben kann. Die Frage nach der Rolle der Metapher in der Forschungspraxis ordnet sie in einen größeren Kontext ein, nämlich in die Frage »nach der Relation und Interaktion von sprachlichen und textuellen Darstellungsweisen einerseits und materiellen Experimentalpraktiken andererseits bei der Entstehung von Wissen«.26 Schließlich ist der metaphorische Kern, nämlich die Funktion der Transformation oder Übertragung, nach Christina Brandt ein kognitives Phänomen von sprachlicher Welterfahrung überhaupt.27
24 So fasst Christoph Jamme das Programm zusammen, das Hans Blumenberg mit der Metaphorologie und der Arbeit am Mythos in Angriff genommen hat. Vgl. Christoph Jamme: »Gott an hat ein Gewand«. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 103f.; vgl. auch: Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Bonn: Bouvier 1960 und Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996. 25 C. Brandt: Metapher, S. 259. 26 Ebd., S. 202. 27 Ebd., S. 33.
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Auch Hans-Jörg Rheinberger scheint diesem Phänomen von Nichtwissen und dessen Transformation nachzugehen, wenn er schreibt: »Mir geht es hier in erster Linie darum, den Prozeß der Verfertigung von Wissenschaft als einen Vorgang zu beschreiben, in dem ständig Repräsentationen erzeugt, verschoben und überlagert werden«, und zwar im Sinne einer Serie, die von Analogien über Modelle zu konkreten Modellen oder Simulationen fortschreitet.28 Sein Fazit: »Die wissenschaftliche Tätigkeit besteht darin, im Raum der ihr verfügbaren Repräsentationen […] materiale Metaphern und Metonymien zu produzieren.«29 Solche Repräsentationen bilden niemals einfach Wissenschaftsobjekte ab, weil die Darstellung ihr Medium niemals abstreifen kann: »Repräsentationen und Objekte sind unauflösbar miteinander verknüpft.«30 Rheinberger begründet dies mit dem Verhältnis von explizitem und stummem Wissen, wie es Polanyi beschreibe. Und er nennt seine Arbeit eine epistemologische Umdeutung von Polanyis Erkenntnistheorie.31 Michael Polanyi untersuchte sogenanntes stummes Wissen, also etwa die Kunst des erfahrenen Diagnostikers oder andere nicht-explizierbare wissenschaftliche und künstlerische Fähigkeiten, und kam zu folgendem Ergebnis: Die Struktur impliziten Wissens »macht deutlich, daß jeder unserer Gedanken Komponenten umfaßt, die wir nur mittelbar, nebenbei, unterhalb unseres eigentlichen Denkinhalts registrieren – und daß alles Denken aus dieser Unterlage, die gleichsam ein Teil unseres Körpers ist, hervorgeht«.32 Neben diesen Nebenbei-Gedanken beschreibt Polanyi solches Wissen manchmal auch als unterschwellige Wahrnehmung. Aber niemals als unbewusst. Unbewusstes kommt im gesamten Text nicht vor. Es wird gewissermaßen für die Wissenschaftsforschung neu erfunden. Es ist jetzt praktisch, stumm, aber vernünftig und vor allem triebfrei. Polanyi spricht von »einer neuen Vorstellung von menschlichem Wissen, aus der eine harmonische Auffassung von Denken und Existenz und ihrer Verwurzelung im Universum hervorzugehen scheint«.33 Denn implizites Wissen (tacit knowing) ist die Weise, in der uns Nervenprozesse bewusst werden.34 Hier deutet sich an, dass unser Wissen als das Bewusstwerden von Nervenprozessen aufgefasst wird, die uns mit den anderen Dingen des Universums verbinden. Man könnte einen Begriff aus der Traumtheorie benutzen, um dieses Phänomen zu beschreiben. Herbert Silberer stellt fest, dass ein Teil 28 H.-J. Rheinberger: Experimentalsysteme, S. 111. 29 Ebd., S. 112. 30 M. Lynch/S. Woolgar: Representation, S. 13, zitiert nach H.-J. Rheinberger: Experimentalsysteme, S. 111. 31 Vgl. H.-J. Rheinberger: Experimentalsysteme, S. 80. 32 Michael Polanyi: Implizites Wissen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1965, S. 10. 33 Ebd., S. 14. 34 Ebd., S. 9.
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der Traumarbeit nichts anderes ist als die Nachahmung der unbewussten Denktätigkeit, und er bezeichnet dies als ›funktionales Phänomen‹. Wie der Traum den aktuellen, aber unbewussten Denkverlauf im Schlaf darstellt, so scheinen dem Gehirn des Forschers seine eigenen Tätigkeit im Angesicht des Universums bewusst zu werden, und es scheint dieses gemäß der Denkstruktur darzustellen.35 Wir werden auf diese Idee zurückkommen. Doch zunächst soll noch ein weiteres Beispiel für den Umgang mit der Frage nach der Herkunft gesicherten Wissens vorgestellt werden. Aus dem Problem der Referenz heraus entwickelt Bruno Latour die Frage: Können unsere Repräsentationen mit einiger Gewissheit stabile Merkmale der Welt draußen einfangen?36 Der Vorstellung von Referenz als Verweis eines Wortes auf einen Sachverhalt stellt er die »nichtmenschlichen Wesen« entgegen,37 die er faitiches nennt. Im Begriff faitiche sind mit Fakt und Fetisch zwei Wörter kombiniert, die beide die Arbeit der Fabrikation enthalten, denn: »Es scheint, als wäre die Referenz nicht das, worauf man mit dem Finger zeigt, nicht ein externer, materieller Garant für die Wahrheit einer Aussage, sondern vielmehr das, was durch eine Serie von Transformationen hindurch konstant gehalten wird. Die Erkenntnis spräche nicht von einer wirklichen Außenwelt, der sie sich mimetisch anverwandelte, sondern von einer wirklichen Innenwelt, deren Kohärenz und Kontinuität sie sich versicherte.«38
Denken und Universum als Gewebe Auch bei Latour treffen wir also auf das, was wir weiter oben als funktionales Phänomen bezeichnet haben: die Erklärung des Universums als funktionales Bild oder strukturelles Doppel menschlichen Denkens. Der Physiker Freeman Dyson stellt auf ähnliche Weise einen Zusammenhang von Denken und Universum her: »Mind and intelligence are woven into the fabric of our universe in a way that altogether surpasses our understanding.«39 Dass die Physik des Universums die Arbeit des Denkens symbolisiere, ist keine neue Idee. Kant sieht die Sache wohl auch nicht viel anders, wenn er sagt, dass der Mensch das Ding an sich nicht denkend erfassen kann, sondern
35 Vgl. J. Laplanche/J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, S. 159f. 36 B. Latour: Pandora, S. 22. 37 Ebd., S. 25. 38 Ebd., S. 72. 39 Rezension von Brian Greenes Buch The Fabric of the Cosmos durch James N. Gardner auf http://csisop.org/si/2004-07/review.html (zuletzt aufgerufen am 5.9.2008).
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der Welt die Gesetze entsprechend den eigenen Denknotwendigkeiten vorschreibt.40 Und so wundert es uns nicht, dass, so wie das Universum als Gewebe aufgefasst wird, auch dem Gehirn eine verwobene und vernetzte Struktur zugesprochen wird. Mitte des 19. Jahrhunderts stellte einer der Entdecker des Unbewussten, Carl Gustav Carus, fest, dass das Denken und Erinnern sich simplen Gesetzmäßigkeiten entzieht und eher der Art ähnelt, wie ein Meisterweber seine Schiffchen hin- und herschießen lässt und mit unmerklich schnellen Bewegungen Tausende von Fäden miteinander verbindet.41 Der Neurophysiologe Sir Charles Sherrington verglich das Gehirn und das Zentralnervensystem mit einem »enchanted loom«, »einem verzauberten Webstuhl, in dem Millionen von Schussspulen hin- und herflitzten, während sie an einem endlosen Musterwechsel webten«.42 Die textilen Metaphern ersetzen auf diese Weise das Nicht-Wissen über den Vorgang der Transformation nicht nur von der mikrokosmischen zur makrokosmischen Struktur, sondern auch vom Denken zu dessen Manifestation in der Welt. Und sie halten dabei die Suggestion aufrecht, dass es sich um einen prinzipiell mechanischen und damit beschreibbaren Vorgang handelt. Weshalb aber textile Metaphern? Warum immer wieder die Tapisserie? Was ist so besonders an der Weberei, dass sie immer wieder für solche Vorgänge herangezogen wird? Sehen wir uns näher an, wie jene Techniken funktionieren, die bildliche Gewebe erzeugen, denn darauf zielen wohl alle Metaphern ab: sowohl auf die systematische zählbare und messbare Struktur aus senkrechten und waagerechten Fäden als auch auf die Tatsache, dass man damit die komplexesten Bilder erzeugen kann. Nehmen wir drei Techniken heraus, die von besonderer Wichtigkeit sind. Zunächst die Tapisserie, die von den Physikern am liebsten verwendet wird (engl. tapestry, was manchmal als Tapisserie und manchmal einfach als Teppich übersetzt wird),43 dann das Doppelgewebe, welches in den homerischen Epen erwähnt wird, wenn es um die reich gewirkten Mäntel der Helden geht, die von Königinnen wie Helena und Penelope gewebt werden; schließlich Damastgewebe, die heute auf dem Jacquardwebstuhl hergestellt werden und ebenfalls als Metapher beliebt sind, wenn es um Gegen40 »[…] der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor«. Immanuel Kant: »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können«, in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Immanuel Kant. Werke in zehn Bänden, Bd. 5, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981, § 36, S. 189. 41 Vgl. Douwe Draaisma: Die Metaphernmaschine. Eine Geschichte des Gedächtnisses, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, S. 82. 42 Ebd., S. 190. 43 Tapisserie bezeichnet eine Technik, während Teppich eher einen Bodenbelag bezeichnet. Tapisserien werden gewebt, während Teppiche meist aus einem Gewebe bestehen, in das Knoten hineingeknüpft werden, und zwar so, dass man von dem Trägergewebe nichts mehr sieht.
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stände von hoher mathematischer Abb. 2: Doppelgewebe; Abb. 3: Komplexität geht. Doch beginnen wir Detail des Doppelgewebes; Abb. 4: mit der Beschreibung der Tapisserie- Damast; Abb. 5: Detail des Damastes technik, für die wir den Glücksfall nutzen können, dass ein Physiker selbst sie beschrieben hat. Als Sheldon Glashow 1979 zusammen mit Abdus Salam den Physik-Nobelpreis erhielt, erzählte er, wie sich die Situation in der Physik zunächst darstellte und wie sie sich entwickelte. »In 1956, when I began doing theoretical physics, the study of elementary particles was like a patchwork quilt.«44 Ein Patchworkquilt ist eine Decke, die aus Stoffresten unterschiedlicher Farbe und Form zusammengesetzt ist. Die Teile haben lediglich gemeinsame Nähte, aber ansonsten gibt es keine Struktur, die über diese Nähte hinweggreift. Auch die Muster sind bunt zusammengewürfelt.45 Sheldon Glashow spielt so auf die Zusammenhanglosigkeit der Arbeitsansätze an, die sich im Laufe der Zeit veränderten, und er fährt fort: »The theory we now have is an integral work of art: the patchwork quilt has become a tapestry. Tapestries are made by many artisans working together. The contributions separate workers cannot be discerned in the completed work, and the loose and false threads have been covered over. So it is in our picture of particle physics. Part of the picture is the uni-
44 Sheldon Lee Glashow: Towards a Unified Theory. Threads in a Tapestry, Nobel Vortrag vom 8. Dezember 1979, http://nobelprize.org/nobel_prizes/physics/laureates/1979/glashow-lecture.pdf (zuletzt aufgerufen am 9.9.2008). 45 Dies ist eher die Beschreibung der Vorstellung eines Quilts. Schaut man genauer hin, sind sie in aller Regel mit großer Sorgfalt gearbeitet und jedes scheinbar unabhängige Muster steht in einem größeren Gestaltungszusammenhang.
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fication of weak and electromagnetic interactions and the prediction of neutral currents, now being celebrated by the award of the Nobel Prize. Another part concerns the reasoned evolution of the quark hypothesis from mere whimsy to established dogma. Yet another is the development of quantum chromodynamics into a plausible, powerful, and predictive theory of strong interactions. All is woven together in the tapestry; one part makes little sense without the other.«46
Eine Tapisserie ist also gekennzeichnet dadurch, dass die farbigen Fäden nur so weit reichen, wie die Farbe benötigt wird und sich nicht über das ganze Gewebe erstrecken. Sie ähnelt damit in gewisser Weise noch dem Patchwork, aber die Verbindungsstellen sind dennoch gewebt und stellen ein bruchloses Gesamtgewebe her. Die Tapisserietechnik war schon in der Antike bekannt, aber man bevorzugte für wertvolle Stücke die Technik des Doppelwebens. Diese Stoffe sind tragbarer, weil sie ein durchgehendes Fadensystem haben. Die Farben sind nicht ganz so frei und zahlreich, aber ansonsten ist die Gestaltungsmöglichkeit groß. Weil es keine Funde solcher Gewebe gibt, zeigt die nebenstehende Abbildung ein modernes Beispiel, an dem ein Einblick in die Technik gegeben werden soll. Auf dem Gewebe (oben) sieht man eine nahezu fotorealistische Schwarzweiß-Darstellung einer Hand. Dieser Stoff besteht, wie man in der Nahaufnahme (zweites Bild) sehen kann, aus zwei Stofflagen: einem weißen und einem schwarzen Stoff, die beide zur gleichen Zeit auf dem gleichen Webstuhl gewebt werden. An bestimmten Stellen des Stoffes werden diese Stofflagen vertauscht, das heißt, das obere Kettfadensystem geht nach unten und das untere nach oben. Auf diese Weise lassen sich einzelne Bindungspunkte der beiden Gewebe vertauschen, und man erhält recht detaillierte Darstellungen, die in diesem Fall ausschließlich aus schwarzen und weißen Fäden, also aus zwei Grundbestandteilen bestehen. Doch man kann sogar nur aus einem einzigen Element naturalistische Darstellungen auf Geweben erzeugen. Ein Blick auf die nächsten beiden Bilder zeigt uns Blumen und Blätter, obwohl der gesamte Stoff offenkundig aus demselben weißen Garn gemacht ist. Einzig die Anordnung des Auf-und-Ab der Fäden erzeugt den Effekt des Bildes. Alle Fäden sind von gleichem Material und von gleicher Farbe. Es ist die unterschiedliche Brechung des Lichtes durch die verschiedenen Fadenrichtungen,47 die uns Blätter und Blumen sehen lässt, und diese ist nicht dem Zufall überlassen, sondern durch die abzählbare Ordnung der Fäden determiniert.
46 Sheldon Lee Glashow: Towards a Unified Theory – Threads in a Tapestry, Nobel-Vortrag vom 8. Dezember 1979, S. 1. 47 Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob der Faden von rechts nach links oder von links nach rechts läuft, sondern auch, ob er sich von oben nach unten oder umgekehrt biegt. Denn ein Gewebe ist zwar flach, aber niemals zweidimensional.
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Es ist nicht leicht, zu entscheiden, inwiefern im Rücken der von den Physikern verwendeten Metaphern solche Eigenschaften und Strukturen wirksam sind. Wenn wir unterstellen, dass sich die Struktureigenschaften der metaphorisierten Textilien übertragen, muss dann nicht ein wissendes Unbewusstes an der Arbeit sein? Hieße das aber nicht, dem Unbewussten ein Wissen zu unterstellen, dass es nicht haben kann? Aber vielleicht muss man nicht so weit gehen. Vielleicht wird ja gar nicht das Textile metaphorisiert, sondern dessen mathematische Struktur. Das befreit uns zwar nicht von dem Problem, dem Unbewussten analytische Fähigkeiten unterstellen zu müssen, aber es würde erklären, warum Gewebemetaphern so beliebt sind. Die Physiker verlassen sich im Zweifel eher auf die Mathematik als auf die Wahrnehmung. Greene spricht von der »Mathematik als Richtschnur«.48 Die Mathematik bleibt (bei aller Unvereinbarkeit des Wahrscheinlichkeitsdenkens mit der klassischen Physik) für ihn die verlässlichste Sprache zur Analyse des Universums. Selbst wo die mathematische Beschreibung der Erfahrung zunächst widersprach, ist sie oft durch spätere Experimente bestätigt worden. Darauf führt Greene die Grundeinstellung der theoretischen Physik zurück, die Mathematik für einen bewährten Weg zur Wahrheit zu halten.49 Gewebe sind stets vollständig formalisierbar. In den oben gezeigten Beispielen besteht jedes Bild aus einer abzählbaren Anzahl von Elementen (Fäden), die gemäß festgelegten Regeln verkreuzt werden. Und diese Regeln sind am fertigen Gewebe ablesbar. Das gesamte auf einer Tischdecke oder Tapisserie sichtbare Universum hängt ab von solchen mathematisierbaren Formen, die binären Bedingungen unterliegen. Jedes Bild auf einem Gewebe, egal ob geometrisch oder naturalistisch, ist eine Figur aus zählbaren Atomen (a-tomos ist wörtlich das Unzerschnittene und steht hier für den Faden) und kann mit einer Formel beschrieben werden.50 Deshalb ist die Weberei nicht nur eine Metapher, sondern geradezu ein Modell für eine Theorie, die die sichtbare Welt aus distinkten Grundbestandteilen aufbaut, welche sich nach mathematisch beschreibbaren Gesetzen organisieren. Dass die Weberei für mikro- und makrokosmische Strukturen ein besonders bevorzugtes Metaphernmaterial bildet, liegt also nicht nur in den Konno48 Und wieder eine textile Metapher: die Richtschnur der Maurer, die griechisch kanon heißt und zunächst den Litzenstab am Webstuhl bezeichnete. Das lateinische Wort für diesen Stab ist regula – wovon unser Wort Regel abgeleitet ist. Sowohl kanon als auch regula werden manchmal mit Lineal übersetzt, ein Wort, das über linea, die Linie von linum, dem Leinenfaden abstammt. Zu Etymologie und Bedeutung von linea, Lineal und Linie vgl. E. Harlizius-Klück: Saum & Zeit, S.119f. 49 B. Greene: Der Stoff, S. 192f. 50 Etwa bei der Jacquardmaschine im Falle der Damastweberei, wo das Lochkartenband die Formel ist, während die Maschine jeden Bildpunkt fürs Weben aus dieser Formel berechnet.
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tationen des Begriffs, sondern auch in der technischen Struktur der Sache begründet. Der Webstuhl ist eine Maschine, die Bilder nach logischen und mathematischen Regeln materialisiert. Er ist vielleicht die erste Maschine, die auf diese Weise symbolische Ordnung zu materialisieren vermag. Er artikuliert, indem er Elemente, die Fäden, verkreuzt, verbindet, verschiebt und zu größeren Teilen verdichtet. Auf diese Weise kann die Weberei als Kulturtechnik ein Bild der Komplexität von Naturproduktion liefern, das der Mathematik und Logik hinreichend verwandt ist, um eine Beherrschbarkeit dieser Naturproduktion zu verheißen. Das Weben erscheint dabei magisch, weil der automatische und mechanische Prozess der gängigen (mimetischen) Bildproduktion widerspricht. Das gewebte Bild ist ein Emergenzphänomen. Aber warum bleibt man nicht bei Metaphern der Natur? Vielleicht, weil den technischen Metaphern eine weit größere inhärente Präzision unterstellt wird. Sie haben andererseits den Nachteil, dass sie stets einen mechanistischen Aspekt mit sich führen, der im Bereich der Natur und des Lebendigen unangenehm berührt. Weben ist nun zwar ein technischer Vorgang, aber das Produkt erscheint uns nicht technisch. Gewebe sind wie Koordinatensysteme strukturiert, und ihre Muster sind technisch erzeugt und vollständig mathematisierbar (und mathematisiert in der Produktion) – und doch nehmen wir vorrangig ihre Weichheit und Flexibilität wahr, ihre wärmenden und hüllenden Eigenschaften, den Schutz vor Verletzungen, vor Wind und Wetter, vor den unerwünschten Blicken der anderen. Gewebe sind wie eine zweite Haut, und wer das Universum als Gewebe metaphorisiert, erzeugt die Vorstellung, dass wir in einen großen Stoff gehüllt sind, aus dem niemand herausfallen kann.
Das politische Unbewusste
Das Soziale ist das Irrationale JOSEPH VOGL
I. Gleich zu Beginn von Goethes »Wahlverwandtschaften« wird ein für alle Mal geklärt, dass Aufklärung, Sinn und Verstand nicht ausreichen, die ominöse Chemie der Gesellschaft zu fassen. Wenn sich in Goethes Roman sehr schnell »unbewusste Erinnerungen« mit »dunklen Anregungen« verknüpfen, so ist deren Gegenstand ein Beziehungssystem, das schon aus dem Gleichgewicht geraten ist und alle Voraussicht, alle Pläne und guten Vorsätze durchkreuzt. Das »Zusammenhängende«, von dem in Goethes Roman die Rede ist, der Mikrokosmos einer sozialen Experimentalsituation von vier hilflosen Figuren, wird nicht nur von Kräften und Wechselwirkungen heimgesucht, die sich als verworren, als Prozesse einer unerklärten »Naturnotwendigkeit« manifestieren. Was sich hier dem Wissen und dem Bewusstsein ganz konsequent entzieht, ist überdies sozialen Gestalten geschuldet, für die noch kein Begriff existiert und die sich am Horizont des mitteldeutschen Gutsbetriebs ankündigen, als Ende oder Anfang einer Epoche: seelenlose »Massen« etwa, die »in der Welt« einander gegenüberstehen und deren Gesetze ebenso undeutlich bleiben wie die Mechanismen des notorischen Liebes- und Beziehungsromans.1 Die Zersetzung bekannter Sozialverhältnisse und ihre Ersetzung durch ein trübes Kräftespiel rechtfertigen es allenfalls, dem Unbegriffenen selbst einen Namen zu geben, der eben nur dieses Unfassliche und Nicht-Bewusste ausdrückt: Das ist, in Goethes eigenem Jargon, das »Dämonische«, die Chiffre einer Macht, die sich im begrenzten Blick der Protagonisten immer wieder als Verwandlung von Geschichte in Naturgeschehen anzeigt. Das Dämonische: damit hatte Goethe einmal eine noch unerforschte politische Macht, den
1
Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Erich Trunz, Bd. 6: Romane und Novellen I, 14. Aufl., München: Beck 1981, S. 245, 248, 272, 274.
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Napoleon-Effekt adressiert; und dieses Dämonische kennzeichnet in seinem Roman einen sozialen Verwicklungsprozess, der – wie es heißt – vielleicht nur durch eine »höhere Hand« und »vielleicht auch nicht in diesem Leben« wirklich auflösbar ist.2 Lässt sich Goethes Roman als Episode historischer Semantik begreifen, oder genauer noch: kann man die »Wahlverwandtschaften« als Test auf die Fassungskraft sozialer Symbolik verstehen, so ergibt sich dabei ein zweifacher Befund. Die Geschichte eines modernen Unbewussten wird nicht einfach von den Wechselfällen dunkler Seelenabgründe bewegt, ihr Angelpunkt liegt vielmehr in einer noch unbegriffenen Welt des Sozialen; und wo sich dieses Soziale samt seiner Bindungskraft manifestiert, geschieht dies nach Gesetzen und Mechanismen, die der Interventionsmacht vernünftiger Subjekte entgleiten. Das Soziale ist, so scheint es, das Irrationale. Hat sich das 18. Jahrhundert in ansteigender Dringlichkeit mit den Grenzen der Vernunft, mit ihren Irrtümern und Verirrungen, mit ihren Täuschungen und transzendentalen Illusionen beschäftigt, so wäre dem eine weitere Grenze hinzufügen: Auch das Denken des Sozialen konstituiert sich als Reflexion von Rationalitätsgrenzen. Das Wissen vom sozialen Verkehr bildet sich am Leitfaden ungewusster Effekte; und das Bewusstsein sozialer Akteure wird vom Unbewussten ihrer Sozialexistenz choreographiert. Von hier aus, ausgehend von dieser These, sollen im Folgenden zwei Blickrichtungen erprobt werden, die sich auf unterschiedliche Emergenzen des Sozialen beziehen, ein Blick zurück und ein Blick nach vorne: einerseits auf die Frage, wie sich seit dem 17. Jahrhundert elementare Sozialtheoreme mit den Dramen von Rationalitätsgrenzen verbunden haben; andererseits auf die Frage, wie sich seit dem 19. Jahrhundert gerade der autonome Gegenstandsbereich eines Sozialen mit der prekären Wirksamkeit unbewusster Mechanismen ausgeprägt hat.
II. Auch wenn sich unschwer erkennen lässt, dass die Aufklärung weder eine Theorie noch ein spezifisches Objekt der Gesellschaft kannte, wird ein weitläufiges Diskursfeld – von der Moralphilosophie über Naturrechtslehren bis zur politischen Ökonomie – von der Frage nach den Grundmechanismen im Gesellschaftsverkehr bestimmt. Und gibt es hier eine problematische Sicht darauf, wie Leute mit Leuten zusammenhängen, so wird diese Frage zunächst 2
Johann Wolfgang von Goethe: Gespräch mit Eckermann am 2. März 1831, in: Johann Wolfgang von Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, Bd. 19: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, München: Beck 1986, S. 424; Goethes Selbstanzeige im »Morgenblatt für gebildete Stände« vom 4. September 1809, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 6, S. 639.
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mit einer leicht paradoxalen Ausgangshypothese eröffnet. Seit dem Barock sind sich nämlich Naturrechtslehrer und Moralphilosophen weitgehend einig darüber, dass der Mensch nicht mehr einfach als zoon politikon begriffen werden kann, als politisches Tier, das umstandslos zu einem Leben in der Gesellschaft bestimmt sei. Im Gegenteil: im Unterschied zu den meisten anderen Wesen erweist sich der Mensch als dysfunktional, nicht fürs Soziale gemacht. Er ist zu einem unangenehmen Zeitgenossen für seinesgleichen geworden – und eine umfangreiche Literatur über Konzepte wie ›Selbstliebe‹ oder ›Selbsterhaltung‹ belegt, dass man hier, beim Menschen, allenfalls von einer »ungeselligen Geselligkeit« oder von einem »Volk von Teufeln« sprechen muss, wie Kant das getan hat.3 Man kann Überlegungen dieser Art als das Entstehen einer politischen Anthropologie begreifen; vor allem aber als einen wesentlichen Schritt zur systematischen Kodierung des geselligen Verkehrs. Der ›wirkliche‹ Mensch, wie er seit der Aufklärung ins Auge gefasst wird, befindet sich jedenfalls in einem »verdorbenen Zustand«, wie der Naturrechtler Pufendorf bemerkte, er ist ein »von mannigfaltigen schlimmen Begierden erfülltes Geschöpf«.4 – Was ist das Besondere an diesen Überlegungen? Wie unterscheidet sich dieser ebenso wirkliche wie verdorbene Mensch vom älteren Sündenwesen der christlichen Theologie? Zunächst muss man wohl sagen, dass dieser Mensch, wie er seit dem 17. Jahrhundert beschrieben wird, zwar seinen Begierden folgt, dass er von Appetit und Aversion bewegt wird, dass er seinem Bau nach aus sozialen Defiziten besteht. Das ist aber nicht alles. Denn bei genauer Beobachtung kann man feststellen, dass er umgekehrt gerade deshalb eine gesellschaftliche Ordnung überhaupt ermöglicht, eine Ordnung, die vielleicht besser als alle anderen funktioniert. Das meint die berühmte Formel »private vices – publick benefits«, private Laster – öffentliches Wohl: Sie stammt aus Bernard Mandevilles moralphilosophischem Buch »Die Bienenfabel« vom Anfang des 18. Jahrhunderts, hat seitdem eine gewisse Konjunktur erlebt und ruft ein weitreichendes Sozialtheorem auf den Plan. Natürlich ist der Mensch – so sagt auch Mandeville – von Affekten, Begierden und Leidenschaften beherrscht, darunter sogar ehemalige Todsünden wie Hochmut, Geiz, Neid, Ausschweifung usw. Allerdings, so geht Mandevilles Argument weiter, sind nicht die maßvollen Neigungen, sondern gerade die maßlosen wirklich erfinderisch und produktiv; und mehr noch, es lässt sich erkennen, dass all diese verschiedenen Leidenschaften sich wechselseitig aufrufen und in Bewegung halten, dass sie sich gegenseitig balancieren und kompensieren. So hält etwa 3
4
Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Werke, hg. von Wilhelm Weischedel, Wiesbaden: Insel-Verlag 1964, Bd. 6, S. 37; Zum ewigen Frieden, ebd., S. 224. Samuel Pufendorf: Die Gemeinschaftspflichten des Naturrechts. Ausgewählte Stücke aus »De officio Hominis et Civis« 1673, Frankfurt/Main: Klostermann 1943, S. 9 ff.
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der Geiz des einen die Verschwendung des anderen in Schach, und beide zusammen tragen mitsamt ihren Kniffen und Listen zum Wohl aller bei. Das ist der Fluchtpunkt des Arguments: Was bei den Einzelnen lasterhaft, irregulär und verwerflich erscheint, ergibt im ganzen Zusammenhang eine dynamische und stimmige Ordnung. Und Mandeville schreibt: Ein guter Politiker darf nur mit dem Schlimmsten im Menschen kalkulieren; er geht nicht von Tugenden und mittleren Qualitäten aus, sondern vom Extremfall der ungezügelten Leidenschaften und betrachtet sie wie ein Reagenz in ihrer Mischung, in ihrer Wirkung aufeinander – wie sie »richtig miteinander vermengt, sich gegenseitig aufheben und für die entsprechenden Gesamtheiten, denen sie angehören, als vorteilhaft erweisen«.5 Was im Einzelnen ungenießbar bleibt, wirkt wohltuend im Zusammenhang; und das scheint keine belanglose Feststellung zu sein: Der neuzeitliche Mensch kommt nicht bloß als rationales, sondern als besonders leidenschaftliches Subjekt auf die Welt und kann noch die alten christlichen Todsünden zu neuen Aktivposten verwandeln. Gerade weil er asozial ist, wird also der Mensch als Faktor sozialer Ordnung verbucht; gerade mit seiner Unzuverlässigkeit wird er als zuverlässige, kalkulierbare Größe integriert. Wie ist das möglich? Durch welchen Mechanismus kann aus anomischen Wesen Gesetzmäßigkeit produziert werden? Auch hier koinzidiert die Antwort, die englische Empiristen, französische Moralisten und deutsche Sozialtechniker geben, in einem wesentlichen Punkt. Der Fluchtpunkt all dieser passionellen Dynamiken liegt, so heißt es, in einer Mechanik der Interessen; im Kern aller Aktionen und Passionen, im Kern aller Begierden und Neigungen steckt zuletzt ein nicht weiter reduzierbares Element, das man seit dem 17. Jahrhundert ›Interesse‹ oder ›Eigeninteresse‹ nennt. Die Geschichte des Interessenbegriffs, der wahrscheinlich von der Staatsräson, vom Begriff des Staatsinteresses in die Sozialtheorie übergegangen ist, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Sehr allgemein aber lassen sich wenigstens folgende Aspekte festhalten, mit denen das Interesse einen theoretischen und praktischen Angelpunkt für den neuzeitlichen Menschenverkehr ergibt.6 Zunächst wäre das Interesse ein letztes und unauflösliches Verhaltensatom. Was einer will oder begehrt, wohin ihn die Neigung oder Leidenschaft treibt – in jedem mehr oder weniger bewussten Entscheidungsprozess arbeitet eine Logik der Bevorzugung, an deren Ende stets das Bessere für mich steht. Selbst die schlimmsten Begierden, die hitzigsten Leidenschaften werden 5 6
Bernard Mandeville: Die Bienenfabel oder Private Laster, öffentliche Vorteile, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980, S. 147 ff. Vgl. Albert Otto Hirschman: Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980, S. 23-57; Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesungen am Collège de France 1978-1979, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004, S. 73 ff., 367 ff.
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durch ein Spurenelement von Eigeninteresse geklärt, das die Wahl des Angenehmeren, des weniger Schmerzvollen dirigiert. Damit zeigt sich das Interesse zugleich als Form eines Willens, der nicht über Askese, Selbstbeherrschung und Zügelung, sondern umgekehrt durch Selbstbehauptung funktioniert. Das Interesse kennt eben den Selbstverzicht nicht. Es fungiert als ein prinzipienloses Prinzip. Es verwirklicht sich in konkreten Situationen, angesichts konkreter Alternativen, es kennt kein allgemeines (moralisches) Gesetz und reagiert auf die Zufälligkeit der Weltereignisse. Das Subjekt des Interesses ist darum alles andere als ein Moral-Subjekt, ein Gesetzes-Subjekt, es akzeptiert keine Verneinung. Aber mehr noch: Wer aus Interesse handelt, kommt zwangsläufig zum Handel und Austausch mit anderen, er kommuniziert mit seinen Neigungen und bringt damit überhaupt soziale Gesetzmäßigkeit hervor. Im Interesse begegnen sich die Neigungen und Leidenschaften aller Akteure, und wo sie ihren Interessen folgen, offenbart sich ein soziales Naturgesetz. Wie die Körper der Natur dem Gesetz der Gravitation unterliegen, so wird die Gesellschaft vom Bewegungsgesetz der Interessen bestimmt. Der französische Moralphilosoph Helvétius hat das so formuliert: »Wenn das physikalische Universum dem Gesetz der Bewegung unterworfen ist, so folgt das moralische Universum dem Gesetz des Interesses.«7 Nimmt man all das zusammen, so kann man wohl sagen (und das macht die moralische Revolution aus): Der Mensch, der sich im 17. und 18. Jahrhundert formiert, kennt keinen Sündenfall, er ist weder gut noch böse, weder teuflisch noch engelhaft, sondern funktional und dysfunktional zugleich. Er ist dysfunktional, weil er sich nur widerstrebend in die Gesellschaft fügt; und er ist funktional, weil sich gerade aus diesem Widerstreben der gesetzmäßige und berechenbare Zusammenhang aller mit allen ergibt. Das ist DAS Gesetz der Gesellschaft, das diese besser als alle anderen moralischen oder juridischen Gesetze regiert. Seit dem 17. Jahrhundert also schlägt im Innern des Menschen ein Herz voller Begierden; alle Begierden und Leidenschaften aber verkleiden nur ein nacktes und unreduzierbares Element, das die Qualität des Interesses besitzt. Das prägt die Dynamik des sozialen Verkehrs, treibt aus der Regellosigkeit die Regel, aus der Gesetzlosigkeit die Gesetzmäßigkeit hervor. Und das wird zugleich zum Motiv, das den neuen Gesellschafts-Menschen in Bewegung setzt. Durch die Mechanik von Leidenschaften und Interessen wird das Soziale erst produziert. Dadurch entsteht ein systemischer und systematischer Zusammenhang; und damit wird schließlich ein Verkehrssystem privilegiert, das sich Ökonomie, Markt, Wirtschaftssystem nennt. Wenn sich seit dem 17. Jahrhundert eine Reflexion über Märkte und Wirtschaftssysteme konkretisiert, so betrifft das nicht nur ein Verhältnis von Preisen, Waren und Zahlun7
Claude Adrien Helvétius: De l’esprit, Paris 1758, S. 53: »Si l’univers physique est soumis au loix du mouvement, l’univers moral ne l’est pas moins à celle de l’interest.«
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gen, sondern ein Spielfeld, auf dem das Gesetz der Interessen regiert, mithin das Substrat eines ökonomischen Menschen. Dieses Substrat ist also ganz unmittelbar das Medium, durch das sich eine Elementarform des Sozialen herstellt: ein Medium also, das Regungen mit Handlungen und Handlungen mit Kommunikationen verknüpft. Das führt zu einer letzten Frage in diesem Zusammenhang: Was macht die Effizienz dieses Menschen aus? Wie genau bewegt er sich in diesen Systemen? Und welche Rolle spielt darin das Ungewusste? Dazu lässt sich wenigstens Folgendes bemerken. Erstens. Der neue, interessegeleitete Mensch bewegt sich gerade deshalb so sicher und zuverlässig in der unübersichtlichen Welt, weil er selbst eigentlich blind und beschränkt bleibt und keinerlei Übersicht anstrebt. Wer seinen Neigungen und Interessen folgt, beharrt auf der Beschränktheit seiner Neigungen und Interessen, und mehr noch: er sieht ganz konsequent von der Restwelt ab und unterstellt bestenfalls, dass alle anderen mit ihm diese Beschränktheit teilen und Leidenschaften in Interessen, Interessen in Vorteile verwandeln. Seine Rationalität ist rational nur, weil sie lokal bleibt. Zweitens. Dieser ökonomische Mensch wäre demnach Subjekt eines beschränkten Wissens, überblickt die Abfolge von Ursachen und Wirkungen nicht, produziert selbst Effekte, die er nicht kennt, nicht beabsichtigt und die seinem begrenzten Überblick entgehen. Gerade diese unbeabsichtigten Effekte aber, hervorkommend aus Interessen und selbstsüchtigen Neigungen, wenden sich ungewollt zum Wohl des Ganzen. Hierfür steht ein Begriff ein, der spätestens seit Adam Smith notorisch geworden ist: Das ist der Begriff der »unsichtbaren Hand«. Die berühmte Stelle aus dem »Wohlstand der Nationen« von 1776 lautet: »Tatsächlich fördert er [der ökonomische Agent] in der Regel nicht bewusst das Allgemeinwohl, noch weiß er, wie hoch der eigene Beitrag ist. Wenn er es vorzieht, die nationale Wirtschaft anstatt die ausländische zu unterstützen, denkt er eigentlich nur an die eigene Sicherheit, und wenn er dadurch die Erwerbstätigkeit so fördert, dass ihr Ertrag den höchsten Wert erzielen kann, strebt er lediglich nach eigenem Gewinn. Und er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat. [...] Gerade dadurch, dass er das eigene Interesse verfolgt, fördert er häufig das der Gesellschaft nachhaltiger, als wenn er wirklich beabsichtigt, es zu tun. Alle, die jemals vorgaben, ihre Geschäfte dienten dem Wohl des Allgemeinen, haben meines Wissens niemals etwas Gutes getan.«8
Hier ist man wohl bei einer der wichtigsten Urszenen des sozialen Mechanismus angelangt, der zugleich ein ökonomischer ist. Der neue Menschentyp ist 8
Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Ursachen und seiner Natur, hg. von Horst Claus Recktenwald, München: Beck 1978, S. 371.
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zuverlässig durch Beschränktheit, sozial durch mangelnde Sozialität. Vor allem aber regiert er sich selbst und andere am besten, wenn man ihn nicht regiert. Nichts – und das wird eines der Leitmotive des späteren Liberalismus sein – ist schädlicher als eine Regierung, die das Gute will, und viel eher gilt hier ein mephistophelisches Programm: der Verweis auf eine Macht, die stets das Böse will und ungewollt das Gute, das Beste für alle tut. Die bürgerliche Gesellschaft, die sich als Milieu um den ökonomischen Menschen herum bildet, wird durch Intransparenz, durch ein Prinzip der Unsichtbarkeit regiert; es gibt keinen guten politischen Akteur, der mit Überblick und Einsicht das allgemeine Gute wollen und tun kann. Das würde es bedeuten, wenn man sagen wollte: Der ökonomische Mensch ist Subjekt seiner Interessen, aber Medium der bürgerlichen Gesellschaft. Der soziale Mensch taucht also – so ließe sich das zusammenfassen – in der Neuzeit im Kleid eines ökonomischen auf und erweist sich als Artist eines Milieus, das durch den Strom seiner Begierden, Leidenschaften und Interessen gegeben ist. Das bedeutet erstens, dass dieser neuzeitliche Mensch nicht als nur rationales, sondern als passionelles Subjekt die Bühne betritt und seine Leidenschaft bestenfalls über eine Mechanik der Interessen reguliert. Zweitens ist er das blinde Subjekt eines beschränkten Wissens. Gerade in seiner Blindheit produziert er – ungewollt – die Harmonie des sozialen Verkehrs. Drittens ist er darum auch ein Staatsfeind im besonderen Sinn. Für ihn widerstrebt die Einrichtung eines guten Systems (von Gesetzen, Institutionen etc.) der guten Einrichtung von Systemhaftigkeit überhaupt. Viertens aber verschlägt diese Feindschaft nicht, dass mit dem ökonomischen Menschen zugleich ein besonders leicht regierbares Exemplar verwirklicht wurde. Die Prioritäten von Ökonomie und Markt schaffen ein Milieu, in dem sich die Begierden und Interessen dieses Menschen selbst regieren, sich steuern und balancieren. Das Gesetz, das hier Ordnung stiftet, ist den einzelnen Agenten nicht äußerlich; es entspringt ihrem selbstsüchtigen Herzen und regiert besser und effektiver als jeder Regent: als unsichtbare Hand. Der ökonomische Mensch – das wird seine immer wiederholte Forderung sein – benötigt den weisen Gesetzgeber wie den umsichtigen Politiker nicht. Die bürgerliche Gesellschaft, die durch ihn im 18. Jahrhundert hervorgebracht wird, überlässt sich einer Dynamik, in der die einzelnen Akteure unbeständig und indefinit, insgesamt aber berechenbar sind und sich darum als Fälle von Gesetzmäßigkeiten diesseits von Rechtssätzen und moralischen Gesetzen verhalten. Schließlich und letztens hat dieser Typus auch einen besonderen, innerweltlichen Lebenslauf. Er wird im Nichtwissen klug, mit beschränktem Bewusstsein befördert und durch seinen engen Horizont vorangebracht. Man kann Ähnliches übrigens im Schema des deutschen Bildungsromans erkennen: auch Wilhelm Meister ist ja gerade durch beschränktes Wissen und ungewollte Effekte, also durch eine
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unsichtbare und »höhere« Hand an den richtigen Ort gebracht worden.9 Die Frage nach der Möglichkeit sozialer Ordnung wird hier also – bis zum Ende des 18. Jahrhunderts – mit der Feststellung beantwortet, dass ihre Bedingung im entzogenen Wissen, im positiven Unbewussten ihrer Akteure liegt.
III. Der andere Abhang von Goethes Sozialroman wird durch einige Chiffren angedeutet, mit denen er eine noch ungeborene Zukunft markiert. Es erscheint nämlich bemerkenswert, dass zentrale Elemente und Chiffren – etwa Bindungen, die eher magnetisch und unwillkürlich als willentlich funktionieren; Gesetze, die in ihrer Unbegriffenheit dämonisch agieren; oder ›Massen‹ schließlich, die eine glückliche Transparenz des Individualverkehrs verdunkeln – etliche Jahrzehnte später in einem Diskursraum wiederkehren, dem man den Titel einer Massen-Soziologie und einer Massen-Psychologie gegeben hat. Wie immer man nämlich die ›Gesellschaft‹ als neues Wissensobjekt im 19. Jahrhundert adressiert, ist dieses Wissen von der Gestalt eines sozialen Bands begleitet, das sich durch eine spezifische Unvernunft oder Dämonie auszeichnet. Hier regt sich eine neue Spielart im Spektrum politischer Diskurse. Von Gabriel Tarde und Scipio Sighele über LeBon bis zu Freud und Canetti geht es dabei um das Format eines sozialen und politischen Bands, das eine eigentümliche Irrationalität dokumentiert. In der so genannten Masse – so lautet es über die verschiedenen Positionen und Autoren hinweg – versagen Vertragsverhältnisse ebenso wie die Moderation von Leidenschaften und Interessen, in ihr sind die Prinzipien einer ökonomischen Rationalität ebenso suspendiert wie die Maßverhältnisse zwischen Einzelwille und volonté générale. Ökonomischer Tausch, Willenserklärungen oder die Mechanik der Interessen – all das also, was das 18. Jahrhundert zur Rationalisierung sozialer Verkehrsformen bereitstellte, reicht nicht hin, die spezifische Existenzweise der Masse zu fassen. Wie ist das zu verstehen? Welche soziale Entität tritt hier auf den Plan? Welche diskursive und politische Rolle übernimmt sie? Und welche Auskunft gibt sie über die Funktion des Unbewussten? Dazu die folgenden Beobachtungen. Erstens. All die Bemühungen darum, die Aktionsweise einer sogenannten Masse zu bestimmen, isolieren ein Präparat, das sich als soziales Wesen par excellence präsentiert, als ein Wesen, in dem sich das Soziale von allen anderen Kommunikationsformeln abgesetzt hat. In ihr kristallisieren sich soziale Prozesse zu ihrer reinsten Form, in ihr verwirklicht sich der soziale Mensch, 9
Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe: Romane und Novellen II, 15. Aufl., München: Beck 1981, Bd. 7, S. 388-393.
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das Man; und in ihr treten die Leute in eine spektakuläre Unähnlichkeit zu sich selbst. Es scheint jedenfalls, als sei die Erfindung des Sozialen im 19. Jahrhundert weniger mit einem gleichmäßig verteilten Verstand, mit einer Logik von Interessen oder einem System der Begierden verknüpft als mit der Beschreibung eines Bands, das aus Nicht-Personen, Reflexen, Automatismen und zwanghaften Handlungen besteht. So hat etwa Durkheim in der Masse eine Verdichtung »sozialer Interaktionen« erkannt;10 und über alle Kontroversen hinweg wurde dies nirgendwo deutlicher formuliert als bei Gabriel Tarde: Der soziale Mensch, so heißt es bei ihm, ist ein ganz und gar unvernünftiges Wesen, sein Milieu sind Magnetismus, Somnambulismus, Hypnose und Trance, und wer immer sich in ihr bewegt, findet sich wieder als der andere seiner selbst. Der soziale Mensch agiert als Träumer, Besessener und Automat, das Soziale insgesamt konstituiert sich in der Zirkulation von Unvernunft und Unwirklichkeit.11 Die Masse wäre also jener dramatische Ort, wo sich das Soziale vom Einzelwesen ablöst, unähnlich wird und sich in seiner radikalsten, seiner pursten Gestalt präsentiert: als das Irrationale schlechthin. Zweitens. Darum gilt hier auch eine besondere Gefahrenlage; die Masse entfaltet sich in einer neuen Ereignis-Pathologie, in einer veränderten Chemie oder Physik der Gesellschaft. Funktioniert nämlich der Massenmensch gerade dadurch, dass er die Logik von Vernunftgründen und Motiven suspendiert, so sind es eben andere Mechanismen, die aus einer Ansammlung von Menschen eine Masseneinheit formieren: irgendein Zufall, ein Anstoß, ein beiläufiger Anlass genügen, damit in verstreute Privatleute eine Massenbewegung fährt. Man hat hier die Beispiele aus Physik, Chemie und Technik bereitgestellt. Demnach folgt die Bewegung der Masse einem Entladungsprozess, einem Auslöseprozess; sie gehorcht dem Verlauf einer Katalyse. Unscheinbare Anlässe bringen übergroße Effekte hervor, und wo sich die Masse ereignet, geschieht ›Gärung‹, ›Explosion‹ und ›Detonation‹. Der Diskurs der ›Masse‹ erweist sich damit als Zeitgenosse eines thermodynamischen Jahrhunderts: Man ist von einem Universum der mechanischen Kräfte und Gravitationen zu einer Welt der potentiellen bzw. dynamischen Energien übergegangen,12 und darin besteht die Energetik, aber auch die besondere Gefahr, die man mit der Masse auf die Bühne der Geschichte holt: »Das für sich stehende Individuum«, so heißt es etwa bei Sighele, »ist ziemlich schwer entzündlich; man kann ihm 10 Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, übers. von Ludwig Schmidts, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1981, S. 289ff. 11 Gabriel Tarde: Les Lois de l’Imitation, Paris: BaillieҒre 1895, S. 84ff.; ders.: L’Opinion et la Foule [1901], Paris: Presse Universitaire de France 1989, S. 34ff. 12 Theodor Geiger: Die Masse und ihre Aktion. Ein Beitrag zur Soziologie der Revolution, Stuttgart: Enke 1926, passim; vgl. dazu Peter Friedrich: »Der Klang der Masse im Wind. Zur Poetologie der Masse bei Elias Canetti«, in: kultuRRevolution 38/39 (1999), S. 23-34, hier S. 30, 34.
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eine Lunte nahe bringen, die ruhig weiter glimmen und manchmal erlöschen wird, die Masse aber verhält sich immer wie ein Haufe trockenen Pulvers; wenn man ihr die Lunte nähert, so kann die Explosion nicht ausbleiben.«13 In der Masse verdichtet sich also ein Ereignispotenzial, das den Geist eines unbestimmten »Aufruhrs«14 herbeiruft, eine immer drohende Gefahr. Mit gestauten Kräften, Auslösungsprozessen und fehlendem Grund verwirklichen sich die Massenphänomene in den Pathologien sozialer Energie. Drittens. Mit der Reichweite sozialer Unvernunft und einem unbestimmten, rebellischen Ereignispotenzial legt der Diskurs der Masse aber auch eine Spur, die zu einer der modernen Urszenen politischer Monstrosität zurückführt. Wenn die Masse auf die älteren Formen von ›Gesindel‹ oder ›Pöbel‹‚ von crowd oder foule, verweist, so erhält sie eine eigentümliche und konzise Gestalt in den Auseinandersetzungen um die Französische Revolution. Die revolutionäre Menge erweist sich als Wasserzeichen dessen, was man später in den verschiedenen Spielarten der Masse thematisiert. Von Edmund Burke über Hippolyte Taine bis hin zu Gustave LeBon jedenfalls zementiert sich eine politische Figur, die die ›Umdrehung‹ der Revolution mit der ›Verdrehung‹ des Perversen verknüpft und beides in der Bewegung der revoltierenden ›Masse‹ versenkt. Hier prägt sich die entsprechende Topik von »Pöbelscharen«, »Zusammenrottungen« und einem kopflosen »amorphen Wesen«, das alle Merkmale von »Raserei«, »Wahnsinn«, »Animalität« und »Triebhaftigkeit« assoziiert.15 Die »konvulsivischen Zuckungen«16 der Menge verkörpern eine Monstrosität, die eine Entfesselung, d.h. eine Dekomposition des politischen Wesens anzeigt und von einer sozialen wie politischen Fassungslosigkeit zeugt. In der Kritik der Französischen Revolution wird damit ein Spektrum lasziver Bildlichkeit aufgerufen, die das fehlende Haupt des Königs durch die exzessive Gewalt der kopflosen Menge ersetzt. In der Masse ist der Gesellschaftskörper nicht nur aufgelöst und anarchisch, sondern selbst gleichsam souverän und zum »eigentlichen König« geworden, ihre raison d’être liegt dort, wo sie mit dem Tod des Symbolischen auch den manifesten Tod
13 Scipio Sighele: Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen, übers. von Hans Kurella, Dresden, Leipzig: Reissner 1897, S. 86. 14 Herbert Spencer: zitiert nach S. Sighele: Psychologie des Auflaufs, S. 85. 15 Vgl. Hippolyte Taine: Die Entstehung des modernen Frankreich, Bd. 2: Das revolutionäre Frankreich, übers. von L. Katscher, Leipzig 1878, S. 1, 11, 13, 29, 57; Gustave Le Bon [1912]: La Révolution Française et la Psychologie des Révolutions, Paris 1983, S. 20, 81. – Mit der Vokabel ›Masse‹ hat Gentz 1793 das engl. crowd aus Burkes »Reflections on the Revolution in France« (1790) ins Deutsche übersetzt; vgl. Pankoke: Masse, Massen, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 5, Basel u.a.: Schwabe 1980, S. 828-832, hier S. 828. 16 H. Taine: Entstehung des modernen Frankreich, S. 24.
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symbolischer Verkörperungen reklamiert.17 Hier wiederholt sich das Theater der Revolution und motiviert einen politischen Diskurs, für den der Kopf des Königs weder gerollt noch nicht gerollt ist, sondern immer von Neuem zu rollen beginnt. Haben schon die Naturrechtslehren der Aufklärung ein Katastrophenprogramm dieser Art vorgestellt und eine Grenze zwischen der symbolischen Ordnung des Staats und einer vorstaatlichen, vorpolitischen und barbarischen Wildnis gezogen, so erhält das Barbarische nun selbst eine politische Gestalt. Die ›Masse‹, von der man seit Revolutionszeiten immer energischer zu sprechen beginnt, überspringt und löscht nämlich jene Demarkation. Sie liegt innerhalb und außerhalb des Gesellschaftssystems, verkörpert die fortwährende Dekorporierung des politischen Körpers und führt – wenn man so will – ein Politisch-Reales ins Feld, dessen Leben sich der Lücke, dem endlosen Tod symbolischer Ordnungen verdankt. Wenn hier also ein politischer Körper agiert, so gehört er zur »untersten Ordnung« und gleicht dem eines »wirbellosen Tiers«. Es handelt sich um das Fortleben eines enthaupteten Wesens, wie Gabriel Tarde es illustriert: »ein monströser Wurm, dessen Sensibilität verworren ist und der noch nach dem Abschneiden des Kopfes in unkoordinierten Bewegungen zuckt«.18 In den notorischen ›Konvulsionen‹ der Masse inkorporiert sich ein politisches Leben ohne politische Form: eine Monstrosität, in der schließlich das Anti-Soziale mit einem elementaren Ereignis des Sozialen zusammenfällt. Viertens. Der Diskurs der Masse zeugt damit von einer Verschiebung politischer Diskriminanten und identifiziert ein politisch-pathologisches Wesen, das die Funktionsweise des Sozialen abseits von Gesetz, Rationalität, Willkür und Interessen in der Figur einer radikalen politischen Unvernunft aufsucht. Damit hat er sich aber zugleich auf einen inneren, ebenso latenten wie dauerhaften Ausnahmezustand konzentriert. Wenn nämlich die ›Masse‹ überhaupt einen politischen Körper repräsentiert, so wird darin eine monströse und entdifferenzierte Gestalt vorgeführt, deren politische Bestimmung in der Öffnung einer politischen Unbestimmtheitszone liegt. Das betrifft eine Wendung, mit der sich das Verhältnis von Einschluss und Ausschließung neu konstelliert und all das, was einmal als barbarisch verbannt worden war, als neue politische Größe im Innern des politischen Körpers wiederkehrt. Und das betrifft eine metamorphotische Kraft, mit der die Fassungslosigkeit der Masse zu einem Souverän-Werden strebt und eine Bewegung des Aufruhrs reklamiert. 17 Ebd., S. 35ff., 57, 94ff.; Gustave Le Bon: Bases Scientifiques d’une Philosophie de l’Histoire, Paris 1931, S. 215ff. – Nach Geiger zeigt sich die Masse, »indem sie die geltenden Gestalten und Formen für ihr Teil mißachtet, indem sie körperliche Symbole zertrümmert. Sie tötet den Fürsten als Symbol und Gefäß der Herrschaft.« Th. Geiger: Die Masse und ihre Aktion, S. 13, 102. 18 Gabriel Tarde: »Les Crimes des Foules«, in: Essais et Mélanges Sociologiques, Paris: Maloine 1895, S. 61-101, hier S. 67f.
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Im Massediskurs hat die Verteidigung der Gesellschaft somit eine zweifache Frontlinie gezogen und eine verhohlene Feindschaft identifiziert, einen Gesellschaftsfeind im doppelten Sinn dieses Genitivs. In der Massengestalt verbünden sich die Feinde der Gesellschaft mit jener unbestimmten politischen Feindschaft, die das Soziale selbst ist. Jene Verbindung aus Massengeschehen, Irrationalität, Triebhaftigkeit und Monstrosität verweist auf eine Gefahrenzone, die man überall dort unterstellt, wo sich soziales Leben in seiner ersten und primitiven Gestalt konstituiert. Die Masse ist der Feind jeder sozialen Gestalt oder Form, sie ist nicht nur formlos, sondern ›formfeindlich‹ und darum ›gesellschaftsfeindlich‹ schlechthin. Sie folgt einer gleichsam tragischen Struktur, in der sich das Soziale mit der Opferung des sozialen Bands realisiert. Das ist das Kernstück jener politischen Pathologie, die sich seit dem 19. Jahrhundert um das neue Objekt des Sozialen formiert: Sie hat sich auf das Entziffern, auf das Niederringen eines Aufruhrs spezialisiert, der stets aus der Mitte der Gesellschaft kommt.
I V. Ausgehend von der sozialen Fatalität in Goethes »Wahlverwandtschaften« sollte die These verfolgt werden, dass sich elementare Gestalten des Sozialen in der Reflexion von Rationalitätsgrenzen, mithin in der Virulenz eines spezifischen Nicht-Wissens konkretisieren. Bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts stand dafür eine Theorie der Interessen ein, die gerade aus den beschränkten Rationalitätsinseln der Einzelnen – und hinter deren Rücken – die Vernunft des sozialen Verkehrs hervortreten sah. Die begrenzte Einsicht der verstreuten Akteure produzierte das Gesetz der sozialen Harmonie; und das Interesse konnte als Titel jener Katharsis gefasst werden, mit der sich ein begrenztes Personen-Bewusstsein mit einem positiven Unbewussten kontaminiert, das der Gesellschaftsverkehr selbst ist. Nach der französischen Revolution ist es damit vorbei. Es lässt sich nicht nur eine Verschiebung jenes Nicht-Wissens beobachten, sondern zugleich mit ihr die dämonische Kohärenz eines sozialen Bands, das als das gefährliche Leben des Sozialen schlechthin funktioniert. Eine ekstatische Form des Sozialen hat sich offenbar sozialer als die Gesellschaft selbst installiert und erscheint nun als träumerisches, somnambules Wesen, das in seinen unwillkürlichen Regungen eine unbestimmte Gefahrenlage stimuliert. Dabei wird nicht nur eine elementare Verknüpfung von Sozialwesen, Unvernunft, Pathologie und Bedrohung in Aussicht gestellt, sondern auch eine folgenreiche Defiguration des sozialen und politischen Körpers ausgemalt. Schließlich geht es dabei um das Format eines gesellschaftlichen Lebens, das sich durch Desintegration integriert, im Zerfall zusammenhält und zuletzt eine fundamentale Irrationalität verkörpert. Das Soziale erscheint nun als das Unbewusste in seiner konkretesten Gestalt: als
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Hohlraum einer sozialen Existenz, in der der eine stets ein anderer ist und sich mit allen zum Aufruhr gegen die politische Form verschwört. Das ergibt eine wichtige Episode in der Geschichte des Unbewussten: Das Unbewusste der Masse ist zum dunklen Referenten eines sozialen bzw. soziologischen Diskurses geworden, der das Soziale als Negation von Rationalitätsformeln und symbolischer Ordnung begreift und dabei nicht nur eine politische Pathologie, sondern auch die Strategien einer sozialen Gefahrenabwehr verhandelt.
Herrschaft und Triebnatur. Staatsps ychologie im Umfeld der Historischen Rechts sc hule INGRID WURST
Kaum eine Entdeckung hat das Denken des Politischen im 19. Jahrhundert so geprägt wie das neugewonnene Wissen vom Unbewussten. Das Triebhafte, Irrationale und Unbewusste, von der Medizin der Aufklärungszeit zum bevorzugten Gegenstand wissenschaftlicher Neugier erkoren, diente nicht nur als neue Bezugsgröße individueller Pathologien, sondern bestimmte auch die Frage nach den treibenden Kräften sozialer und politischer Prozesse. Die Anthropologie des ausgehenden 18. Jahrhunderts hatte im Unbewussten eine Quelle der Zersetzung ausgemacht. Dies schien umso bedrohlicher, da das Unbewusste und die aus ihm entspringenden Begierden als Triebfeder menschlichen Handelns erkannt wurden. Gleichermaßen zersetzende, instinktive und irrationale Dynamiken schienen überall dort am Werk zu sein, wo bestehende gesellschaftliche Strukturen zum Einsturz kamen: In seiner prominentesten Spielart waren es die Masseneffekte der Französischen Revolution, die die politische Wirkmächtigkeit des Unbewussten und seine zersetzende Kraft vor Augen zu führen schienen.1 Im Agieren der Masse identifizierten politische Publizistik und Staatslehre eben jene Leidenschaften und Instinkte, die auch das Individuum oft zu unvernünftigen und unberechenbaren Handlungen trieben. Den Staat, das Volk, die Nation zu regieren, hieß folglich, deren Unbewusstes zu regieren, seine unerwünschten, subversiven Prozesse einzudämmen. Seit etwa 1800 gingen deshalb Psycho(physio)logie 1
Vgl. zur sozialen und politischen Masse aus der Reihe der neueren Publikationen: Michael Gamper: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765–1930, München: Fink 2007, sowie Uwe Hebekus/Susanne Lüdemann (Hg.): Massenfassungen. Beiträge zur Diskurs- und Mediengeschichte der Menschenmenge, München: Fink 2009 (im Erscheinen).
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und Staatslehre eine enge Allianz ein, in deren Verlauf Staatstheorien zunehmend zu Staatspsychologien wurden. Nachvollziehen lässt sich die Konvergenz von Staatstheorie und Psychologie anhand einer paradigmatischen Konstellation, die im Zentrum der folgenden Überlegungen steht: der psychophysiologisch fundierten Herleitung des Staates und seiner Gesetze im Umfeld der Historischen Rechtsschule. Diese wesentlich von Friedrich Karl von Savigny begründete Richtung der Rechtswissenschaft etablierte sich Anfang des 19. Jahrhunderts in Abgrenzung zum Vernunftrecht und hat das deutsche Staatsrecht maßgeblich geprägt. Im psychologischen Denken eines ihrer Vertreter, des Staatsrechtlers Johann Caspar Bluntschli, zeigt sich eine Positivierung des Unbewussten, die eng mit dessen Maskulinisierung verbunden ist und damit den Gegenpol zum Massendiskurs bildet. Nicht die Rückführung revolutionärer Masseneffekte auf gängigerweise weiblich codierte Triebkräfte lässt sich hier verfolgen, sondern das Unbewusste als politische Kraft unter umgekehrten Vorzeichen beobachten: Die Reflexion des Irrationalen, Leidenschaftlichen und Unbewussten führte – in dessen maskuliner Variante – gerade nicht zu Schreckensvisionen von der Auflösung des Sozialen, sondern lieferte die Grundlage für die Entstehung des Rechtswesens und festigte das Vertrauen in die politische Potenz des Staates.
D i e P s yc h o l o g i e d e s Sta a t e s Am Ausgangspunkt jenes Prozesses, in dessen Verlauf Staatstheorien mit psychologischen Lehren fusionierten, standen die organismischen Staatslehren, die im Gefolge der Französischen Revolution und der virulent werdenden Frage nach der Neugestaltung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung mechanistische Staats- und Herrschaftsvorstellungen ablösten.2 In gezielter Abkehr von vernunftrechtlich argumentierenden Vertragstheorien, die den Staat auf willkürliche Vereinbarungen zurückführten, wurde der Organismus mit seinen unwillkürlichen, natürlichen Prozessen zum Leitbegriff von Staatstheorie und Verfassungspolitik. Hatten mechanistische Staatsmodelle neben der Willkür die Einlinigkeit der Befehlsverhältnisse zwischen Souverän und Volk hervorgehoben und damit absolutistische Machtgefüge begründet, so betonte das organismische Modell die vielschichtigen Wechselbeziehungen zwischen den Teilen und dem Ganzem. Ordnungsstrukturen zwischen Herrscher und Volk brächten sich demnach wechselseitig hervor und mündeten
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Vgl. zu den christlich-paulinischen Ursprüngen des Organismusmodells des Staates Ethel Matala de Mazza: Der verfasste Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik, Freiburg/Breisgau: Rombach 1999.
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durch allmähliches Wachstum in ein lebendiges organisches Ganzes, an dem jedes Element teilhabe. Der diesem Modell zugrundeliegende Wachstumsgedanke wurde wesentlich von zeitgenössischen embryologischen und physiologischen Überlegungen zur Entwicklung des Organismus geprägt. Diese lieferten nicht nur die argumentative Grundlage für das staatstheoretische Entwicklungsdenken – vielfach wurden derartige Staatsmodelle auch von Naturforschern selbst entworfen. Ihre jeweils spezifischen wissenschaftlichen Prämissen gingen dabei in die Profilierung der politischen Theorien ein. So hatte der Mediziner Carl Gustav Carus den Entwicklungsgedanken psychophysiologisch gewendet und das Unbewusste als treibende Kraft der organischen Entwicklung bestimmt. Als einer der zentralen Protagonisten der Geschichte des Unbewussten trug er damit nicht nur entscheidend zu dessen psychologischer Bestimmung bei.3 Indem er die von ihm entwickelte Vorstellung des Organismus als psychophysischer Einheit von Bewusstsein und Unbewusstsein aus dem Bereich des menschlichen in den des politischen Körpers transferierte, lieferte er überdies einen wichtigen Beitrag zur Psychologie des Staates.4 Wie aber Carus’ staatstheoretisch gewendete Psychologie in engem Zusammenhang mit dem Aufkommen des historischen Denkens und speziell der Historischen Rechtsschule stand, so gab es umgekehrt auch innerhalb der Rechtswissenschaften den Versuch, den Staatsorganismus systematisch nach psychologischen Gesichtspunkten zu betrachten, mithin Staats- und Rechtstheorie in eine Psychologie des Staates zu überführen, um so dessen wahren Charakter zu ergründen. Der Schweizer Staatswissenschaftler und Schüler Savignys Johann Caspar Bluntschli (1808-1881) ist heute außerhalb der Rechtsgeschichte weitgehend in Vergessenheit geraten, spielte aber für die deutsche und eidgenössische Staatslehre Mitte des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. In den 1830er Jahren wirkte er als Staatssekretär und Mitglied des gesetzgebenden Zürcher Regierungsrats, gründete später die einflussreiche liberal-konservative Partei und lehrte Rechtswissenschaften an den Universitäten Zürich, Heidelberg und München. Er verfasste das »Privatrechtliche Gesetzbuch für den Kanton Zürich«, das »Deutsche Staats-Wörterbuch« in elf Bänden sowie die dreibändige »Lehre vom modernen Staat« und gehörte damit zu den tonangebenden Juris3
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Siehe zu Carus’ Begriff des Unbewussten den Beitrag von Michael Hagner in diesem Band sowie Jutta Müller-Tamm: Kunst als Gipfel der Wissenschaft. Ästhetische und wissenschaftliche Weltaneignung bei Carl Gustav Carus, Berlin u.a.: de Gruyter 1995. Zu Carus’ auf dem Konzept des Unbewussten aufbauenden psychophysiologischem Staatsmodell vgl. Ingrid Wurst: »Die Revolution – ein böser Traum? Carl Gustav Carus’ psychophysisches Staatsmodell«, in: Carl Gustav Carus – Wahrnehmung und Konstruktion, Berlin und München: Deutscher Kunstverlag 2009, sowie – über Carus hinausgehend: dies.: »›Der Keim des Lebens liegt in der Masse‹. Revolutionen im Staatsorganismus, ca. 1850«, in: U. Hebekus/ S. Lüdemann (Hg.): Massenfassungen.
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ten seiner Zeit. Zu seinen Anliegen gehörte es, die Methoden zur Erkenntnis des Staatswesens neu zu bestimmen. Im Jahr 1844 veröffentlichte er jenes Werk, mit dem er dazu den Grundstein zu legen hoffte: die »Psychologischen Studien über Staat und Kirche«. Darin verwarf er nicht nur die Naturrechtslehre, gegen die sich schon sein Lehrer Savigny gewandt hatte, sondern erklärte auch dessen historisch-genetische Methode für unzureichend. Wo das Naturrecht zu sehr von der Erfahrung abstrahiere, zu theoretisch und normativ argumentiere, bleibe umgekehrt die Historische Rechtsschule zu sehr den konkreten Ereignissen verhaftet, als dass sie eine allgemeine Lehre vom idealen Staat begründen könne. Aufgabe der Staatswissenschaften aber sei es, ein Bild des Staates zu entwerfen, das aus der Erfahrung hergeleitet sei und zugleich allgemeingültigen, überzeitlichen Charakter habe. Weder historische Ereignisse noch abstrakte Gesetze könnten dazu als Grundlage dienen. Da der Grund des Staates allein in der menschlichen Natur zu finden sei, könne »der Schlüssel« zu seiner Erkenntnis »nur in der Ordnung der menschlichen Seele entdeckt werden, welche die Psychologie aufdeckt.«5 Konkret beinhaltete diese Orientierung an der Psychologie vor allem, die unbewussten und noch ungewussten Anteile des Staates zu Bewusstsein zu bringen. In der Beförderung des staatlichen Selbstbewusstseins sah Bluntschli entsprechend die Aufgabe der psychologischen Staatslehre.6
L’ é ta t c ’ e s t l ’ h o m m e – D e r Sta a t a l s M a n n Das Ziel der Selbstbewusstwerdung des Staates schien zunächst keinen Platz für dessen unbewusste Anteile zu lassen und stattdessen vom Vorzug einer durch und durch rationalen Staatsräson auszugehen. Tatsächlich diente der zu vollkommenem Selbstbewusstsein gelangte Mensch als Vorbild für Bluntschlis 5
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Johann Caspar Bluntschli: Denkwürdiges aus meinem Leben. Auf Veranlassung der Familie durchges. und veröffentlicht von Rudolf Seyerlen, Bd. I: Zürich: Die schweizerische Periode 1808-1848, Nördlingen: Beck 1884, S. 318. Bluntschli war in der Konzeption seines Organismusmodells von dem Schweizer Philosophen Friedrich Rohmer beeinflusst, der den Körper in sechzehn Grundkräfte unterteilt und daraus eine Lehre vom Charakter der politischen Parteien entwickelt hatte. Bei genauer Lektüre erweist sich der Einfluss Rohmers jedoch als viel geringfügiger als bislang angenommen – der von der Forschungsliteratur stets wiederholte Hinweis auf die Verbindung zwischen Bluntschli und Rohmer scheint sich vor allem dem Bedürfnis zu verdanken, die der traditionellen Rechtsgeschichte abwegig erscheinenden Anteile in Bluntschlis Denken auf »fremden Einfluss« zurückzuführen. So findet sich durchgängig in der Forschungsliteratur die These vom »Scharlatan Rohmer«, dem Bluntschli zum Opfer gefallen sei. Vgl. etwa Stefan Dieter Schmidt: Die allgemeine Staatslehre Johann Caspar Bluntschlis, Köln: Uni-Druck 1966, und Hans Oppikofer: »J.C. Bluntschlis Theorie und die einheimische Rechtsentwicklung«, Separatabdruck aus der Zeitschrift für schweizerisches Recht, Neue Folge 60/5 (1941), S. 361ff.
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Idealstaat und erlaubte ihm, diesen auch als Geschlechtswesen näher zu bestimmen: Weil nur der (selbst-)bewusste Mensch das Ideal des Staates darstellen könne, aber nicht alle Menschen, Männer wie Frauen, in der Lage schienen, ein solches Selbstbewusstsein auszubilden, stand für Bluntschli fest, dass als Urbild des Staates keineswegs »der Mensch« als ununterschiedenes, geschlechtsloses Wesen in Frage komme. Hochentwickelte Geisteskräfte und ein voll ausgereiftes Bewusstsein seien generell nur beim Mann zu finden. Denn während beide, Mann und Frau, prinzipiell alle Organe und Kräfte in sich vereinten, seien diese jeweils »in anderer Ordnung und in anderer Bewegung«7 organisiert, was ihren unterschiedlichen Grad an Bewusstseinsfähigkeit erkläre. Mühelos konnte Bluntschli in dieser Argumentation physiologische, vermeintlich geschlechtsspezifische und soziale Ordnungs- und Organisationsprinzipien auseinander herleiten. Nicht nur gehörte zu den Bedeutungsnuancen des Unbewussten im 19. Jahrhundert dessen weibliche Codierung, die entwicklungspsychologisch mit einem niederen, unreifen Entwicklungsstand begründet wurde. Auch physiologisch gesehen schien die Frau weniger organisiert – was als argumentativer Ausgangspunkt für naturalistisch legitimierte Ordnungs- und Ausschlussmaximen erkannt und genutzt wurde. Mit seinem Hinweis auf die »andere Ordnung« des weiblichen Organismus knüpfte Bluntschli somit an eine alte Tradition an: die von der französischen und deutschen Psychophysiologie und der vergleichenden Anatomie entwickelte Vorstellung der weiblichen Sonderanthropologie.8 Diese basierte auf dem Gedanken der bis in die kleinsten Fasern und Nervenbahnen unterschiedlich organisierten Körper der Geschlechter und war eine Grundannahme der Psychophysiologie des späten 18. Jahrhunderts, die auch im 19. Jahrhundert nichts an ihrer Wirkmächtigkeit eingebüßt hatte. Sie bildete das physiologische Fundament für im Gewand medizinisch verbürgter Gewissheit auftretende Spekulationen über die unterschiedliche psychische und moralische Konstitution von Mann und Frau. Demnach bedinge die geschlechtsspezifische Struktur der Fasern und Organe auch deren Funktion und habe bei der Frau beispielsweise eine erhöhte Sensibilität zur Folge.9 Schon daraus ergaben sich 7 8
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Johann Caspar Bluntschli: Psychologische Studien über Staat und Kirche, Zürich und Frauenfeld: Verlag Ch. Beyel 1844, S. 28. Vgl. dazu Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750-1850, Frankfurt/Main, New York: Campus Verlag 1991. Honegger zeigt, wie die Ärzte eine Sonderanthropologie der Frau entwickelten und »aus der Gestalt der natürlichen Organisationsprinzipien auch den sozialen Ordnungsrahmen« entwarfen, in den »die Menschen, vor allem aber natürlich die Geschlechter sich einzufügen hätten«. Ebd., S. 135. Vgl. zur französischen und deutschen Moralphysiologie um 1800, zu deren Vertretern u.a. Pierre Roussel, Pierre-Jean-Georges Cabanis, Théophile de Bordeu, sowie, auf deutschsprachiger, Seite Jakob Fidelis Ackermann, Samuel Thomas von Soemmerring und Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth gehörten: ebd.,
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soziale und politische Konsequenzen: Aufgrund der Schwäche ihrer Organe, so hatte beispielsweise der französische Arzt Cabanis argumentiert, sei die Frau unfähig, den Strapazen öffentlicher Versammlungen standzuhalten, auch fehle es ihr am für politische und öffentliche Geschäfte nötigen energischen Charakter; sie sei deshalb moralisch und organisch für eine ruhige, sitzende, häusliche Tätigkeit prädestiniert.10 Ganz im Einklang mit dieser ärztlichen Einsicht führte Bluntschli aus, dass allein der Mann die höchsten aktiven Kräfte in sich versammle. Er wirke schöpferisch und herrschend, voller Drang zur Tat. Die Frau hingegen sei aufnehmend, passiv, leidend, voller Liebe, Hingabe und seelenfriedlichem Gemüt.11 Ihren natürlichen Anlagen entsprechend habe »das Weib«, so das Fazit, »eine gewisse natürliche Scheu vor der Politik und politischer Thätigkeit«.12 Die von den französischen und deutschen Moralphysiologen behauptete geschlechtsspezifische Organisation des Körpers begründete so eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die erklärte, warum Politik Männersache sei und – über das Bild des Staatsorganismus – unmittelbar in staatsrechtliche Maximen einging.13 Quasi im logischen und tautologischen Umkehrschluss der politischen Codierung des weiblichen Körpers ließ sich der politische Körper nicht geschlechtsneutral denken: Die Männer, so Bluntschli, »bilden und leiten den Staat«, der »das Bild ihres eigenen Wesens« ist.14 Und noch einmal leistete das französische Nachbarland argumentativen Beistand: »Die Armuth der französischen Sprache, welche für Mensch und Mann ein doppelsinniges Wort hat, und beide zugleich denkt, den Mann als Mann und als Erscheinung des Menschen, hilft uns hier zum kürzesten Ausdruck: L’état c’est l’homme.«15 Oder, anders formuliert: »Wie der Staat das Bild des Menschen, so ist er zugleich das Bild des Mannes.«16
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S. 126ff. Laut Pierre Roussels einflussreichem »Système physique et moral de la femme« (1775) dominieren bei den Frauen aufgrund der besonderen Beweglichkeit, Reizbarkeit, Weichheit, Schwäche und Kleinheit ihrer Organe die Empfindungen über die Vernunft und bedingen spezifisch »weibliche« Eigenschaften wie Sanftmut, Anteilnahme und Mitleid. Vgl. dazu C. Honegger: Ordnung der Geschlechter, S. 148. Vgl. dazu ebd., S. 160. J.C. Bluntschli: Psychologische Studien, S. 40. Ebd., S. 29. Auf die aus der behaupteten Geschlechtsdifferenz hergeleitete Arbeitsteilung der bürgerlichen Welt hat als eine der ersten Karin Hausen in: »Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbsund Familienleben«, in: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart: Klett 1977, S. 363-393 hingewiesen. J.C. Bluntschli: Psychologische Studien, S. 29. Ebd. Ebd., S. 28.
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Verschiedene neuere Analysen haben die im ausgehenden 18. Jahrhundert wurzelnde und sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts verfestigende Geschlechtlichkeit des modernen Staates historisch verfolgt und theoretisch bestimmt, wie die Institutionen der politischen Moderne auf Frauenausschluss und auf Männlichkeit als grundlegenden Organisationsprinzipien gründeten.17 Bereits die Tatsache, dass allein Männer politisch am Staat partizipierten, führte demnach im 19. Jahrhundert zur Behauptung eines männlichen Staatswesens. Bluntschli wiederum erhielt die rein männliche Codierung des Staates selbst da aufrecht, wo er sie durch den Verweis auf dessen weibliche Anteile selbst zu widerlegen schien: Ließ sich Weiblichkeit nicht als grundlegendes Organisationsprinzip, nicht als Ausgangspunkt höherer Reifung und Bewusstwerdung denken, so sah Bluntschli gleichwohl im Staat auch weibliche Kräfte am Werk, ja dessen Wohl basiere geradezu auf dem richtigen Mischungsverhältnis zwischen männlichen und weiblichen Gemüts- und Geisteskräften. Zu den als weiblich eingestuften Vermögen gehörten Phantasie, Einbildungskraft und Spekulation, denen im Staat die Pflege der Kultur obliege. Dazu gehörte außerdem ein Assoziationstrieb, der sich in der Bildung von nieder organisierten Kollektiven wie Vereinen und Gemeinden niederschlage.18 Nicht in den staatlichen Institutionen, nicht im politischen Handeln, sondern in der pflegenden und bewahrenden Tätigkeit und in den Formen lose assoziierter Geselligkeit lag somit die weibliche Teilhabe am Staat. In einer komplizierten argumentativen Volte wurden diese als weiblich deklarierten Kräfte aber wiederum dem Mann einverleibt. Sie seien nämlich, so Bluntschli, keineswegs spezifisch weiblich, sondern gewissermaßen geschlechtsübergreifend – auch der Mann trage natürlicherweise stets einige solcher weiblichen Anteile in sich. Den ausschließlich männlichen Charakter des wohlorganisierten Staates stellten sie deshalb gerade nicht in Frage. 17 Vgl. zur Zweigeschlechtlichkeit als »Organisationsprinzip der Kultur der Moderne« Elisabeth List: Die Präsenz des Anderen. Theorie und Geschlechterpolitik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, sowie Birgit Sauer: Die Asche des Souveräns. Staat und Demokratie in der Geschlechterdebatte, Frankfurt/Main u.a.: Campus 2001. Zu den exkludierenden Konstruktionsideen des modernen Staates gehörte beispielsweise das Konstrukt des vermeintlich universellen Gesellschaftsvertrags, der ausschließlich als Vertrag unter Männern bzw. Brüdern angesetzt ist. Vgl. dazu Albrecht Koschorke: »Brüderbund und Bann. Das Drama der politischen Inklusion in Schillers Tell«, in: Uwe Hebekus/Ethel Matala de Mazza/Albrecht Koschorke (Hg.), Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik, München: Fink 2003, S. 106-123. Eva Kreisky spricht aufgrund der geschlechtlich codierten Konstruktions- und Exklusionsideen des Staates vom »Staat als Männerbund«, vgl. Eva Kreisky: »Das Geschlecht politischer Institutionen. Ergebnisse einer historischen und aktuellen Spurensuche zu einer politischen Theorie des ›Männerbündischen‹«, in: Helmut Kramer (Hg.), Politische Theorie und Ideengeschichte im Gespräch, Wien: WUV-Universitätsverlag 1995, S. 134-163. 18 J.C. Bluntschli: Psychologische Studien, S. 218.
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Darüber hinausgehend räumte das Organismusmodell des Staates zwar die Möglichkeit eines »weiblich« organisierten Staates ein, verortete diesen aber auf einer niederen Entwicklungsstufe. Dass der Staat nämlich keineswegs ausschließlich männlich sein müsse, sondern dies lediglich dem höchsten (Bewusstseins-)Ideal entspräche, verdeutlichte Bluntschli anhand der Gegenüberstellung unterschiedlicher Staatsformen: Die männliche Staatsform, soviel schien sich von selbst zu verstehen, sei die der Monarchie. Daneben gebe es durchaus Staaten, deren Organisation die weiblichen Gemüts- und Geisteskräfte und ihre spezifische Ordnung widerspiegelten, die aber aufgrund dessen niedriger organisiert und mit weniger (Selbst-)Bewusstsein ausgestattet seien: die Demokratien.19 Wie nämlich »die weiblichen gemüthlichen Organe sich über den ganzen äußern Leib hin erstrecken und in Arme und Beine, Hände und Füße auslaufen, so dehnt sich in der Demokratie die Herrschaft, das Herrschersein aus über den ganzen Leib des Volkes«.20 Diese Physiologie der Geschlechter und der Regierungsformen folgte dem Phantasma eines mit geschlechtsspezifischer Organisation, niederer Konzentrationsfähigkeit und folglich mit Kontrollverlust assoziierten Unbewusstseins. Während die Empfindungen und Vorstellungen des Mannes in wenigen Knotenpunkten gebündelt gedacht wurden, schien die Frau aufgrund ihrer sich über den ganzen Körper erstreckenden Nerven und Organe permanent wechselnden Sinneseindrücken ausgesetzt und dabei unfähig, sich zu konzentrieren. Der wechselseitigen Begründungslogik von Psychophysiologie und Politik folgend, schien der Weg von der Dissoziation der Nervenimpulse zur Zersplitterung der Macht nicht weit. Seit Johann Christian Reils einflussreicher neurophysiologischer Unterscheidung von cerebralem Nervensystem und Gangliensystem waren die sich über den gesamten Körper verästelnden, scheinbar chaotisch desorganisierten Nerven als Gefahrenherd unbewusster Sinnesvorstellungen identifiziert, das Bewusstsein hingegen in der bündelnden Konzentration des Zentralnervensystems lokalisiert.21 Zwar hatte Reil selbst die Unterscheidung der beiden Nervensysteme nicht geschlechtlich codiert, doch wurde generell das Nervensystem als natürlicher Ort der Geschlechtsdifferenz identifiziert und die Frau über die Nervengeflechte des Unterleibs (die dem Gangliensystem angehörten) definiert.22 Und nicht nur Reil
19 Ebd., 254. 20 Ebd., 258. 21 Vgl. Johann Christian Reil: »Ueber die Eigenschaften des Ganglien-Systems und sein Verhältnis zum Cerebral-Systeme«, in: Archiv für die Physiologie 7/2 (1807), S. 189-254. 22 Im gleichen Band des »Archivs für die Physiologie«, in dem Reil seine Unterscheidung der beiden Nervensysteme vorstellte, hatte Autenrieth, der die Zeitschrift gemeinsam mit Reil herausgab, seinen Beitrag zur vergleichenden Anatomie der Geschlechter veröffentlicht. Vgl. Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth: »Bemerkungen über die Verschiedenheit beyder Geschlechter und ihrer
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hatte aus deren unterschiedlicher Struktur Rückschlüsse auf die »monarchische« Ordnung des Cerebralnervensystems im Unterschied zur »republikanischen« Organisationsform der weit verzweigten Ganglien gezogen und dabei physiologische und politische Ordnungsvorstellungen aufeinander bezogen.23 Im postrevolutionären politischen Imaginären rief eine so basal organisierte Ordnung wie die des weiblichen Körpers mit seinem zentrumslosen, hierarchiefreien und über den ganzen Organismus wuchernden Netzwerk der Fasern und Organe unweigerlich größte Vorbehalte auf den Plan. Wo dem »Weiblichen« nicht von vornherein jegliche politische Kraft abgesprochen wurde, da wurde es deshalb geradewegs mit staatszersetzenden Tendenzen kurzgeschlossen. Im unmittelbaren Gefolge der Französischen Revolution waren politische Theorie und weibliche Sonderanthropologie so zu einer politischen Codierung des Weiblichen zusammengeführt worden, in der die stets leicht reizbare, nervöse Konstitution der Frau mit der unorganisierten, leidenschaftsgesteuerten, triebhaft-animalischen Masse ineinander geblendet worden waren.24 Aus der weiblichen (Des-)Organisation konnte somit nicht nur kein funktionierender Staat entstehen, sie wirkte geradezu staatszersetzend. Auch wo sie, wie bei Bluntschli, eine gewisse Staatsform zuzulassen schien, war dies mit einer mehr als ambivalenten Einschätzung verbunden. Keineswegs nämlich konnte die Demokratie als funktionstüchtige, dem Zivilisationsstand angemessene Regierungsform gelten. Erhebe sich in der Demokratie »das Volk in Masse« zum Herrscher seiner selbst, so folge es darin nicht nur dem Funktionsprinzip des weiblichen Körpers, sondern auch dem niederer Tiere: »Wie in gewissen Thiergattungen die Lebenskraft den ganzen Körper durchströmt, so geht in der Demokratie ein Gefühl des Herrscherseins durch alle Glieder und Klassen der Gesellschaft. Darin liegt die Größe und die Gefahr dieser Staatsform.«25 Eine gewisse Anerkennung der – gerade auf seiner niedrigen Komplexität beruhenden – Funktionalität eines solchen Systems mag in der Erwähnung von dessen »Größe« erkennbar sein. Die Schattenseiten dieser OrganisationsZeugungsorgane, als Beytrag zu einer Theorie der Anatomie«, in: Archiv für die Physiologie 7/1 (1807), S. 1-139. 23 Die auch politisch codierte Vorstellung, das Bewusstsein müsse sich im Zentrum des Körpers befinden, das (rebellische) Unbewusste hingegen in der Peripherie, gehörte zu den Überzeugungen der Medizin um 1800 und ist im Begriff des »Brennpunkts« wiedergegeben, den u.a. Carl Gustav Carus als Bezeichnung des Bewusstseins verwendete. 24 Vgl. zu diesem Zusammenhang Sidonia Blättler: Der Pöbel, die Frauen etc. Die Massen in der politischen Philosophie des 19. Jahrhunderts, Berlin: Akademie Verlag 1995, sowie Michael Gamper: »Kannibalen, Barbaren und höllische Furien. Die Menschenmasse als das Andere der Zivilisation in der deutschen Rezeption der Französischen Revolution«, in: Zeitschrift für Germanistik XII/3 (2002), S. 564-580. 25 J.C. Bluntschli: Psychologische Studien, S. 258.
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form aber waren schnell entlarvt und am Beispiel des alten Griechenlands – der »vollendeten Form der Demokratie«26 – vorgeführt. Dessen demos nämlich hatte sich konsequenterweise wie ein launisches, zänkisches Weib gebärdet: Er war »ein sehr reizbares, veränderliches Wesen, voller Launen und voller Leidenschaften; leicht zu jeglichem Uebermuth angeregt, und dann verblendet, leichtfertig, verwegen, toll; seine Führer bald mit Liebesinbrunst umfassend, willfährig, alles zu thun, was sie wünschten, und dann wieder wechselnd in seiner Neigung, verwünschend und vernichtend, wen er zuvor über alles Maß erhoben«.27 Es war nicht weiter verwunderlich, dass eine solch primitive Organisationsform im zivilisatorischen Entwicklungsprozess hatte untergehen müssen. Legte also der Organismusgedanke allein keine spezifische oder allgemeingültige Verfassung nahe, so wurde die Herleitung der »idealen« modernen Regierungsform über deren geschlechtliche Codierung erzielt. Republikanismus und Demokratie wurden in die medizinische, also naturwissenschaftlich verbürgte Gleichung von Chaos, Reizbarkeit, Unbewusstsein und Weiblichkeit eingepasst und so desavouiert, die Monarchie hingegen als politische Entsprechung zur hoch organisierten, konzentrierten und selbstbewussten Männlichkeit geadelt: Sie entspreche der höchsten Form menschlicher Entwicklung, denn hier herrsche »der menschliche Geist im eigentlichsten Sinne, der Mann, als Mann, […] im vollen Bewußtsein seiner Geisteskraft«.28 Dieses Ideal des »dem vollendeten Menschen entsprechenden Staats« argumentativ zu stützen, war Bluntschlis Anliegen. In diesem Sinne verstand sich die Staatspsychologie auch als Therapie eines durch revolutionäre Umtriebe angeschlagenen, effeminierten politischen Selbstverständnisses. Es galt, das Individuum, den Staat, durch die Ermöglichung der Selbsterkenntnis von seinen Verirrungen zu befreien. Dazu gehörte es auch, Einsicht in die unbewussten Anteile der Psyche zu erlangen. Denn bei allem Streben nach Bewusstsein – es waren gerade die unbewussten Kräfte, die das Staatsleben wesentlich trugen. Für das Rechtswesen – so die überraschende Wendung des Juristen Bluntschli – war das Unbewusste geradezu konstitutiv.
D e r G e s c h l e c h ts t r i e b a l s G r u n d l a g e d e s R e c h ts In völliger Umkehrung jener Argumentation, die die animalischen Triebe und Leidenschaften für das revolutionäre Treiben der Masse verantwortlich gemacht hatte, behauptete Bluntschli: Gerade auf den Trieben, auf Leidenschaften und niederen Instinkten basiert das Rechtswesen des Staates. Die positive 26 Ebd., S. 290. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 255.
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Besetzung der Triebe, ja ihre Veredelung zur Grundlage des Staatsrechts setzte freilich eine veränderte geschlechtliche Zuordnung voraus. So waren es nun die männlichen Leidenschaften, die sich im Bereich des Politischen offenbarten und dort zum wesentlichen Garanten der Rechtsordnung wurden. Damit gab Bluntschli der politischen Codierung des Unbewussten eine in mehrerlei Hinsicht originelle Wendung. Nicht nur durchbrach er die gängige Gleichsetzung des Unbewussten mit dem Weiblichen und Staatsfeindlichen. Indem er den Fokus auf die männlichen Triebe lenkte, wurde zudem der Mann überhaupt erst als Geschlechtswesen erkennbar. Die von den Humanwissenschaften in der Gegenüberstellung »Mensch versus Frau«29 betriebene Stilisierung und Generalisierung des Mannes zum Gattungswesen, zum Menschen schlechthin, hatte ja nicht nur die Sonderanthropologie der Frau hervorgebracht, sondern war auch mit einer geschlechtlichen Neutralisierung des Mannes einhergegangen. War die Frau das Geschlechtswesen schlechthin, so erschien der Mann als Verkörperung der genuin menschlichen Vermögen von Geist und Verstand. Auch Bluntschli war dieser Gleichsetzung von Mensch und Mann gefolgt, wie nicht zuletzt sein Rückgriff auf das doppelsinnige französische Wort »l’homme« zeigt. Zugleich jedoch wurde in seiner Psychologie des Staates der Mann als Geschlechtswesen mit spezifischen Trieben definiert und das Rechtswesen des Staates aus dessen unbewussten Trieben hergeleitet. Privatund Strafrecht, Völkerrecht, Kriegs- und Polizeiwesen glaubte Bluntschli durch Verweis auf den Geschlechtscharakter des Mannes, seine spezifischen intuitiven Empfindungen und Verhaltensweisen, vor allem aber mit seinem Sexualtrieb begründen zu können: Das einmal gesetzte Ziel versuche der Mann, seinem natürlichen Drang folgend, mit aller Kraft zu erreichen. Dazu gehöre der mit rationalen Erwägungen nicht hinreichend zu erklärende, instinktive Drang nach Gerechtigkeit. Entsprechend habe der Mann ein stark ausgeprägtes Unrechtsempfinden, das stets nach Wiedergutmachung und gerechter Bestrafung strebe. Bei erlittenem Unrecht fühle er ein wütendes, krampfhaftes »Walten der Eingeweide«, voller Zorn sinne er auf Rache und sei dabei doch stets ehrenhaft, fein und scharfsinnig, fern jeder sentimentalen Empfindelei, bestimmt und entschlossen.30 Aus diesem Drang des Mannes, nach Verletzung der Ehre das wahre, gerechte Verhältnis wiederherzustellen, sei im Staat die Privat- und die Strafrechtspflege herzuleiten. Noch tiefer sitzenden Trieborganen als den Eingeweiden schrieb Bluntschli den Ursprung von Völkerrecht, Kriegs- und Polizeiwesen zu: So offenbarten sich im Verlangen, in der »aktiven Sinnlichkeit« und dem Ge-
29 Franz X. Eder: Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität, München: C.H. Beck 2002, S. 133. 30 Ebd., S. 193-195.
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schlechtssinn des Mannes die erhabensten Gemütskräfte des Menschen.31 Ebendiese unbewussten Triebe dienten im Staatsorganismus als Regulativ inner- und außerstaatlicher Rechtsangelegenheiten: »Dem Geschlechtssinn entspricht in dem Staatskörper die Völker- und Strafrechtspflege, in der bisherigen Erscheinung vornämlich der Krieg.«32 Im Gegensatz zum weiblichen Unbewussten, das durch seine wankelmütigen und leicht erregbaren Leidenschaften gekennzeichnet war, offenbarte sich selbst noch im männlichen Unbewussten dessen gebündelte Kraft. Während die weiblichen Triebe als ebenso leicht entflammbar wie erlöschend und zudem als lediglich empfangend, reproduktiv galten, herrschte unter Psychophysiologen und romantischen Naturphilosophen Einigkeit darüber, dass Männer über einen kräftigeren, zielgerichteteren und zeugenden Trieb verfügten. So verkörperte der Mann die aktive Sexualität, die aber, gerade weil sie aktiv war, auch gesteuert werden konnte – im Gegensatz zur passiven, lediglich erleidenden Sexualität der Frau. Während zudem die Frau mitsamt ihrer ganzen Psyche von Geschlechtlichkeit ausgefüllt schien, verfügte der Mann über lediglich temporäre sexuelle Begierden. Gerade diese temporäre Fokussierung wiederum verlieh dem Mann eine umso unbeirrbarere, sich zäh durchsetzende Triebnatur. Bluntschli erkannte in dieser Durchschlagskraft offenbar eine auch politisch hohe Funktionalität, die es ihm erlaubte, den männlichen Trieben im Staatsorganismus einen herausragenden Stellenwert einzuräumen. »Dem Geschlechtssinn«, so die bereits zitierte Formulierung, »entspricht in dem Staatskörper die Völker- und Strafrechtspflege, in der bisherigen Erscheinung vornämlich der Krieg.«33 Die »psychologische« Ursache des Krieges sah Bluntschli entsprechend »in der großen Kraft und Gewalt des Geschlechtssinns«.34 Der Krieg erscheint hier – in Fortsetzung der geschlechtlichen Paarung – als erweiterte ›Kontaktpflege‹, nämlich der zwischen den Völkern. Hier wie dort herrscht ein unbewusst wirkender, gleichwohl willensstarker Drang nach Aneignung und Reproduktion. Ein »weiblicher« Staat hingegen wäre, seiner schwankenden, »demokratischen« Natur gemäß, gar nicht in der Lage, einen Krieg zu führen und so seinen Einflussbereich auszubauen: Allen, auch widersprüchlichen Bedürfnissen Interesse und Aufmerksamkeit schenkend, fehlte es ihm am Vermögen, ein Ziel konsequent zu verfolgen und durchzusetzen. Derartig eng mit Krieg, Militär und der daraus abgeleiteten Privilegierung von Männlichkeit verbundene Argumentationslogiken gehörten zu den vielfältigen und wirkmächtigen exkludierenden Konstruktionsideen des modernen
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Ebd., S. 199f. Ebd., S. 200. Ebd., S. 200. Ebd., S. 203.
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Staates. Aus heutiger Perspektive erscheint es fast allzu nahe liegend, den Staat, seine Rechtsordnung und vor allem den Krieg als Abenteuerspielplatz libidinös erhitzter Männer zu betrachten35 – und so ist es kaum nötig, an dieser Stelle noch einmal daran zu erinnern, dass Bluntschli als Politiker, Staats- und Völkerrechtler keine Privatmythologie betrieb, sondern aktiv und einflussreich am politischen Diskurs teilhatte und an der Verfassungsgrundlegung mitwirkte.36 Der Umfang, in dem er dem männlichen Geschlechtstrieb eine kultur- und verfassungsstiftende Funktion zuschrieb, ist allerdings vor dem diskursgeschichtlichen Hintergrund höchst bemerkenswert. Die Reglementierung auch der Lüste des Mannes durch normierende Sanktionen war, darauf hat Michel Foucault aufmerksam gemacht, seit dem 18. Jahrhundert von höchster staatspolitischer Priorität. Die biopolitischen Imperative lauteten ›Maß halten‹ und: ›Bürgerliche Liebe statt subversiver Passion‹. Umso erstaunlicher ist deshalb die Darlegung des Staatscharakters als Geschlechtscharakter mit ausgeprägter Triebnatur. Die explizite Herleitung des Rechtswesens aus dem männlichen Sexualtrieb dürfte in der Rechtsgeschichte einzigartig sein. Generell war die Rückführung zentraler, gar kulturstiftender Lebensfunktionen, Handlungen und Verhaltensweisen auf den Geschlechtstrieb für das 19. Jahrhundert alles andere als gängig. In vergleichbarer – allerdings geschlechtlich unspezifischer – Weise hatte nur Arthur Schopenhauer den Sexualtrieb zur Grundkraft des Lebens erklärt, allerdings ohne damit auf positive Resonanz zu stoßen. Tatsächlich lässt sich vermuten, dass Schopenhauer Bluntschli als Stichwortgeber diente; seine Idee vom Geschlechtstrieb als bewegendem Willen und Lebensdrang legt diesen Verdacht nahe. Neben dem »nach aussen« gerichteten Geschlechtstrieb nämlich ging Bluntschli von einem »nach innen« gerichteten Geschlechtssinn aus, der sogenannten »aktiven Sinnlichkeit«, die er mit dem Willensbegriff belegte: »Agirt der Geschlechtssinn in seiner erregten Kraft nach Außen, so arbeitet die aktive Sinnlichkeit ohne Unterlaß im Innern der Brust, voller thätiger Sorge und Drang […]. Ihr gehört das Verlangen an, ihr der männliche Lebensdrang, der bewegende Wille.«37 Auch Schopenhauer hatte als »Willen« nicht eine rationale Kraft des Geistes bezeichnet, sondern in gezielter Abkehr von der neuzeitlichen Subjektphilosophie einen unermüdlichen, unbewusst wirkenden, irrationalen, 35 Sigmund Freud hat in seiner Analyse des Ursprungs kultureller Institutionen auf deren notorischen Zusammenhang mit Militarismus und libidinös besetzter Männlichkeit hingewiesen, vgl. Sigmund Freud: »Massenpsychologie und IchAnalyse«, in: Sigmund Freud, Studienausgabe, hg. von Alexander Mitscherlich u.a., Band IX: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2000, S. 61-134, hier S. 90. 36 Vgl. speziell zum Kriegsrecht: J. C. Bluntschli: Das moderne Kriegsrecht der civilisierten Staten [sic]. Als Rechtsbuch dargestellt, Nördlingen: Beck 1866. 37 J.C. Bluntschli: Psychologische Studien, S. 203.
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»blinden, unaufhaltsamen Drang«.38 Als »endloses Streben« steuere der Sexualtrieb das vermeintlich bewusste Handeln und Wollen des Menschen. In den Körperorganen wiederum erkannte Schopenhauer die äußerlich sichtbaren Objektivationen dieses Triebes.39 Bluntschlis konsequente Fortführung dieses Gedankens wiederum mündete in die Überzeugung, dass sich auch die Staatsorgane nichts anderem als einer irrationalen, blinden, aber dafür umso wirkmächtigeren Kraft verdankten. Er identifizierte die staatlichen Institutionen als Objektivationen des Sexualtriebs und erkannte im männlichen Lebensdrang und im bewegenden Willen der aktiven Sinnlichkeit das »Urbild«40 gerichtlicher Organe und der Polizei.41 Wie der nach außen gerichtete Geschlechtstrieb nach Krieg und Aneignung strebe, so bewirke der nach innen gerichtete Geschlechtstrieb den Drang nach Ordnung und Gerechtigkeit und komplementierte so die aus dem »Walten der Eingeweide« entstehende Strafund Privatrechtspflege. Dieses Wesen der Institutionen zu erkennen hieß für Bluntschli, den Staat zum Bewusstsein seiner selbst und damit zur Vollendung zu führen. Nicht nur hinsichtlich des Willensbegriffs, sondern auch im Hinblick auf das Prinzip, über die Erkenntnis der in den (staatlichen) Organen manifestierten irrationalen Triebnatur zu Selbstbewusstsein zu gelangen, darf deshalb Schopenhauers Philosophie des Unbewussten als wichtiger Bezugspunkt für Bluntschlis Staatspsychologie vermutet werden. Da der Leib die Objektivation des Wollens war, führte Selbsterkenntnis – und daraus resultierend: Selbstbewusstsein – auch für Schopenhauer über die Erkenntnis des Leibes.42 Und wie in Schopenhauers Willensmetaphysik der unaufhörlich tätige Trieb noch im Schlaf die Ökonomie des Organismus besorgt und als »vis naturae medicatrix« die »eingeschlichenen Unregelmäßigkeiten desselben wieder in Ordnung« bringt,43 so sprach Bluntschli der als »aktive Sinn38 Vor Schopenhauer hatte schon Schelling in seiner Freiheitsschrift (»Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände«, 1809) den »Willen« nicht als rationale Kraft des Geistes, sondern als irrationale Kraft der Natur, als Drang, Trieb und Begierde bezeichnet. 39 Für Schopenhauer stellen die einzelnen Teile des Körpers Objektivationen eines bestimmten Willensantriebs dar, zu dessen Ausübung sie dienen. Die Zähne und Zunge sind objektivierter Hunger, die Genitalien sind objektivierter Geschlechtstrieb, die Hände und Füße sind Objektivationen des Willens zu greifen und sich zu bewegen. 40 J.C. Bluntschli: Psychologische Studien, S. 203. 41 Ebd., S. 205. 42 Vgl. dazu: Matthias Koßler: »Wege zum Unbewussten in der Philosophie Arthur Schopenhauers«, in: Michael B. Buchholz/Günter Gödde (Hg.), Macht und Dynamik des Unbewussten. Auseinandersetzungen in Philosophie, Medizin und Psychoanalyse, Gießen: Psychosozial-Verlag 2005, S. 180-202. 43 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, in: ders., Werke in zehn Bänden, hg. von Arthur Hübscher, Zürich: Diogenes 1977, Bd. 3, S. 250. Auch ältere, naturphilosophische Konzepte hatten im Unbewussten eine
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lichkeit« identifizierten Polizei eine heilende Kraft zu, denn sie sei »vorsorgend und schirmend zugleich«, »wachsam über die Gesundheit des Staats, und seine naturgemäße Bewegung und Entwicklung. Sie ist unaufhörlich thätig in Bearbeitung aller bösen Stoffe; in Abwendung aller drohenden inneren Gefahren«.44 Das Wesen des Rechts, das wird hier deutlich, ist etwas hochgradig Irrationales. Der gesetzlich geregelte soziale Verkehr des modernen Nationalstaats, so die Einschätzung des maßgeblich an seiner Entstehung beteiligten Staats- und Völkerrechtlers, ließ sich weder auf vernünftige Willensentscheidungen, noch auf ein bloß historisches Wachstum zurückführen. Vielmehr sah Bluntschli im Staat »Herde des Irrationalen« am Werk, die organischer Natur waren und sich in der Ausbildung von Organen niederschlugen. Damit setzte er auch dem Phantasma diffuser, nicht greifbarer und deshalb bedrohlicher Kollektivkräfte die Einsicht in die generell organische Natur des Politischen entgegen. Kein abstrakter »Geist«, der einer »Körperlosigkeit des Politischen«45 Vorschub leistete, war demnach die maßgebliche Triebfeder des Sozialen, sondern ein dem Staatskörper eigenes psychophysiologisches »Unbewusstes«. Die Einsicht in diese irrationale organische Verfasstheit des Staates aber lieferte just jenes Wesen, das von je her als das rationale Geistwesen schlechthin definiert worden war: der Mann. Fast siebzig Jahre nach Bluntschlis Herleitung des Rechts aus dem männlichen Geschlechtstrieb versuchte Max Weber zwar entgegenzuhalten: »Politik wird mit dem Kopfe gemacht, nicht mit anderen Teilen des Körpers oder der Seele.«46 Politik, die auch für Weber bekanntlich keine Frauensache war,
permanent fortwirkende Quelle der Lebenskraft gesehen, Schopenhauer selbst hat allerdings sein Konzept des »Willens« gerade von den medizinischen und romantisch-naturphilosophischen Lebenskraft-Theorien seiner Zeit abgesetzt. 44 J.C. Bluntschli: Psychologische Studien, S. 205. 45 Die in Michael Gamper/Peter Schnyder (Hg.): Kollektive Gespenster. Die Masse, der Zeitgeist und andere unfaßbare Körper, Freiburg/Breisgau, Berlin: Rombach 2006 versammelten Beiträge gehen von dem Befund einer »Entkörperung« unwägbarer politischer Prozesse aus, die sich gerade auch in der Kollektivmacht der Gesetze zeige. So heißt es in der Einleitung der Herausgeber im Rückgriff auf Claude Leforts Formulierung von der »société sans corps«, der Gedanke, dass sich hinter der gesellschaftlichen Interaktion »Herde der Irrationalität« verbergen könnten, habe die »Angst vor der unkontrollierbaren Deregulierung der ›körperlosen Gesellschaft‹« gesteigert (ebd., S. 21). Die neuen Kräfte seien deshalb, so die grundlegende Hypothese, allesamt als »Gespenster« imaginiert worden (ebd., S. 22). Dies legt den Schluss nahe, die hier zur Disposition stehenden sozialen und politischen Dynamiken hätten sich im Modell des Körpers nicht denken lassen. Die Annahme einer solchen Trennung von Geist und Materie, Psyche und Physis verletzt jedoch die diskursiven Regeln des psychophysischen Monismus der Zeit. 46 Max Weber: Politik als Beruf, Berlin: Duncker und Humblot 1987, S. 51 (zuerst als Vortrag in München im Winter 1918/1919 gehalten).
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setze männliche Vernunft und Sachlichkeit voraus. In seiner Abhandlung über die Rechtssoziologie aber wird deutlich, dass auch Weber an diese Rationalität nicht so recht glauben mochte: Von der »urwüchsigen Irrationalität« des geltenden Rechts47 ist dort die Rede, von der »Ausmünzung von GefühlsMaximen zu rationalen Rechtssätzen«.48 Während diese Formulierungen darauf abzielen, die Unvollkommenheit des Rechtswesen zu offenbaren, stellte Bluntschli das Recht gerade in seiner Irrationalität aus – aber nicht im Sinne einer Entlarvungsgeste, sondern weil das Irrationale des Rechts als Garant seines Funktionierens erschien. So muss die Rückführung staatlicher Institutionen auf den Geschlechtstrieb verstanden werden als Bemühen, das Vertrauen in die politische Potenz zu stärken und den staatlichen Einrichtungen die Dignität des Naturgesetzlichen zu verleihen. Die Begründung der politischen Organisation aus dem Vernunftrecht konnte nicht erklären, warum der Staat so und nicht anders eingerichtet war. Nach vernunftrechtlicher Argumentation waren die Gesetze und Verordnungen letztlich kontingent – sie entsprangen einer bewussten und damit immer auch willkürlichen Entscheidung. Wenn aber die Natur selbst – und was könnte natürlicher sein als der Geschlechtstrieb? – die staatliche Organisation hervorgebracht hatte, so musste diese notwendig, richtig und höchst funktional sein. Es war gerade die Wirkmächtigkeit unbewusster Triebe, die die unbeirrbare Durchsetzungskraft, Vitalität und Virilität des Staates und seines Rechtswesens garantierte. Beim Unbewussten hat man es also mit einem höchst ambivalenten Gegenstand zu tun. Gerade seine Komplexität und Vieldeutigkeit aber machen das Unbewusste für das politische Imaginäre so ergiebig. Insbesondere in einer Zeit staatlicher und gesellschaftlicher Umbrüche und Neuordnungen bot es einen hohen Grad an Anschließbarkeit: Der Vorstellung von niederen Trieben als Ursache der Revolution kam es ebenso entgegen, wie es den Glauben an eine unfehlbare, da naturgesetzliche politische Ordnung absicherte. Es war anschlussfähig an Narrative des Niedergangs und Verfalls, schürte aber genauso die Hoffnung auf eine wiedererwachende Lebens- und Zeugungskraft, die ein schon tot geglaubtes Staatswesen revitalisieren würde. Entscheidend für die jeweilige Einschätzung der politischen Triebkräfte war vor allem deren geschlechtliche Codierung. Über Bluntschlis bemerkenswerte Feststellung, auch der Mann verfüge über »weibliche« Gemütskräfte, wanderte letztlich aber selbst das zuvor als staatszersetzend disqualifizierte weibliche Unbewusste als ansatzweise konstitutives Element in den Staat ein. Ausgehend von der zeittypischen Unterscheidung männlicher und weiblicher Gemüts- und
47 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. rev. Aufl., besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr 2002, S. 447. 48 Ebd.
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Geisteskräfte gelangte Bluntschli zu einer unzeitgemäßen Anthropologie des Mannes, die diesen über sein Unbewusstes als Geschlechtswesen definierte, ihm in positiver Form weibliche Anteile zusprach und gerade deshalb behauptete: L’état c’est l’homme – Der Staat ist der Mann, das Rechtswesen dessen Triebnatur.
Lusthierarchie und soziale Ordnung. Das Unbew usste des männerbündischen (Kollektiv-)Subjekts CLAUDIA BRUNS
Im Folgenden soll gezeigt werden, auf welche Weise Freuds triebtheoretisches Modell des Unbewussten als Anstoß zu neuer Wissensproduktion gelesen werden konnte und inwiefern dieses Wissen seinerseits mit dem Raum des Politischen verbunden war. Im Fokus stehen die Lesarten des Unbewussten durch den Männerbundtheoretiker und Laienanalytiker Hans Blüher (1888-1955). Dessen Schriften deuteten die Jugendbewegung im Jahr 1912 als homosexuelles Phänomen, was nicht nur zu einem Aufschrei in der Wandervogelbewegung, unter Pädagogen und Lehrern führte, sondern auch zu ernsthaften Erörterungen bei Ärzten, Sexualwissenschaftlern und Psychoanalytikern. Freud selbst hielt Blüher für einen seiner begabtesten Schüler, vermittelte ihm Publikationsmöglichkeiten in psychoanalytischen Fachzeitschriften und korrespondierte mit ihm zwischen 1912 und 1913.1 Trotz des späteren Bruchs mit Freud trugen Blühers Veröffentlichungen wesentlich zu einer Popularisierung der Freudschen Triebtheorie bei und waren zugleich konstitutiv für das männerbündische Selbstverständnis einer ganzen Generation. Die in Blühers Theorien sich artikulierende Verbindung zwischen Triebtheorie und olitischer Theorie soll mich hier genauer beschäftigen, um mich der Konstruktion des Unbewussten aus einer historischen Perspektive zu nähern. Dazu soll die Triebstruktur genauer bestimmt werden, der das männliche Subjekt in Blühers Männerbundtheorie unterlag, um dann auf die äquivalenten Strukturen hinzuweisen, die zwischen der Konstruktion des Einzelsubjekts und des Kollektivsubjekts (Männerbund, Staat) bestanden. Ausgangsthese ist,
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John Neubauer: »Sigmund Freud und Hans Blüher in bisher unveröffentlichten Briefen«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 50 (1996), S. 123-148.
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dass sich die Vorstellung vom männlichen Subjekt durch zwei Elemente auszeichnete: durch eine in der Triebstruktur begründete romantische Selbsthervorbringung2 und eine hierarchische Ordnung der Triebe. Parallel dazu wurde auch der Männerbund und in dessen Erweiterung auch der Staat als natürlich figurierte Autogenese und hierarchisch strukturierte (Trieb-)Ordnung diskursiviert. Dass zudem äquivalente Abgrenzungsstrukturen gegen ein »Außen«, gegen Frauen und Juden, bestimmend waren, kann hier nur am Rande bemerkt werden.3 Das entscheidende Bindeglied, das zwischen der Formation des Einzelsubjekts und der des Kollektivs vermittelte, war das Sublimierungskonzept, das Blüher von Freud übernahm. Mithilfe der Sublimierungstheorie konnte die Transformation sexueller Potenz in soziale Produktivität ebenso erklärt werden wie die Übersetzung innerpsychischer Lusthierarchien in soziale Machtstrukturen. Wie bereits an anderer Stelle gezeigt wurde, war die Vorstellung von der stärkeren Triebbeherrschung und Rationalität des Mannes nicht neu, sondern eine Grundvorstellung der bürgerlichen Geschlechterordnung. Neu war hingegen die Ausarbeitung dieser Annahme zu einem ausgefeilten theoretischen Modell, das mit dem Anspruch auftrat, innerpsychische wie soziale Mechanismen unter Rückbindung an die biologisch-sexuelle Strukturiertheit des Menschen zu erklären.
D a s Tr i e b k o n z ep t z w i s c h e n R o m a n t i k u n d N a t u rw i s s e n s c h a ft Die ersten beiden von Blüher verfassten Bände über die deutsche Wandervogelbewegung sind vom Pathos des revolutionären Protests der Jugend gegen Eltern und Lehrer getragen. Dieser Protest avanciert als romantischer »Trieb« zur zentralen Kategorie des Textes, indem er sowohl das Innenleben des jugendlichen Subjekts als auch dessen Abgrenzungen gegen die Außenwelt (gegen Frauen und Juden) motiviert und strukturiert. Erst im separat publizierten dritten Wandervogelband wird der natürlich-romantische Trieb als Sexualtrieb präsentiert. Blühers Deutung der Wandervogelbewegung legitimierte sich also über den Rekurs auf zwei verschiedene Diskursstränge: über die (natur-)philosophische Romantik und die sexualwissenschaftliche Erforschung des menschlichen Trieblebens. Beiden Traditionen war der Versuch
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Zur Figur der Selbstschöpfung vgl. Philippe Lacoue-Labarthe: Die Fiktion des Politischen. Heidegger, die Kunst und die Politik, Stuttgart: Edition Patricia Schwarz 1990. Vgl. dazu ausführlicher Claudia Bruns: Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (1880-1934), Köln u.a.: Böhlau 2008, bes. S. 320-327, 359-441.
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gemeinsam, das menschliche Innenleben genauer zu bestimmen, seinen vermeintlich ›wahren‹ Kern offenzulegen. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzte mit der Romantik eine Gegenbewegung zur traditionellen Vernunftmetaphysik der Aufklärung ein, die auch als deren Radikalisierung gelesen werden kann, weil sie – anstatt das Subjekt in Anlehnung an universelle Naturgesetze zu bestimmen – das einmalige, lebendige Individuum mit seinen Schattenseiten und Abgründen in den Mittelpunkt des naturphilosophischen Interesses rückte.4 Die »Seele« wurde von den Frühromantikern als der Ort der Verschränkung von Leib, Geist und Natur gedacht, ein Ort der Selbstbeobachtung, an dem sich das Individuum entzifferte und sich als ästhetisch-expressives Wesen hervorbrachte.5 Das Resultat solcher Selbstbeobachtung war alles andere als ein sich selbst durchsichtiges Ich. Vielmehr entdeckten die Romantiker bei dieser Entzifferung der »Seele« das Spiel des »Unbewussten« – ein Begriff, der um 1800 Konjunktur hatte. Unter dem Einfluss der romantischen Naturphilosophie wurden die ehemals der organischen Materie zugeschriebenen »Kräfte« zu »unbewussten Kräften« des Seelenlebens.6 An eine entsprechende Neubestimmung des Willens als Trieb, Begierde und »unbewusste« Naturkraft durch Friedrich Wilhelm J. Schelling (1775-1854) knüpften seine Nachfolger Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche an. Zeitgleich wurde mit der Naturalisierung von Körperlichkeit in der Aufklärung der Verlust des gottanalogen Subjekts durch einen an den Naturwissenschaften orientierten Legitimationsdiskurs abgelöst. Die Wissenschaft vom Menschen drang seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert von der Betrachtung der Körperoberfläche immer mehr ins Körperinnere vor.7 Dabei verschob sich die Koppelung der Seele an die Physis (über Kunst und Sprache) im Zuge der Verwissenschaftlichung der Seelenforschung auf das medizinisch-biologische Feld. Physis wurde zunehmend als Bios gedeutet.8
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Ursula Mahlendorf: »Die Psychologie der Romantik«, in: Helmut Schanze (Hg.), Romantik-Handbuch, Stuttgart: Kröner 1994, S. 590-604, hier S. 591. Jochen Hörisch: »Die romantische Seele«, in: Gerd Jüttemann/Michael Sonntag/Christoph Wulf (Hg.), Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, Weinheim: Psychologie Verlags Union 1991, S. 258-266, S. 263f. Novalis formulierte: »Alle äußre Processe sollen als Symbole und letzte Wirkungen innerer Processe begreiflich werden.« U. Mahlendorf: Die Psychologie der Romantik, S. 591. Michael Sonntag: »Die Seele und das Wissen vom Lebenden«, in: G. Jüttemann/M. Sonntag/C. Wulf (Hg.), Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, S. 293-318, hier S. 312; vgl. auch Klaus-Jürgen Bruder: »Zwischen Kant und Freud. Die Institutionalisierung der Psychologie als selbständige Wissenschaft«, in: ebd., S. 319-339, hier S. 320. Ute Planert: »Der dreifache Körper des Volkes. Sexualität, Biopolitik und die Wissenschaften vom Leben«, in: Geschichte und Gesellschaft 26/4 (2000), S. 539-576, hier S. 551. P. Lacoue-Labarthe: Die Fiktion des Politischen, S. 109.
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Das Neue an Freuds Theorien lag weniger in der Etablierung eines neuen Sexualitätsdiskurses, denn dieser hatte sich bereits im 19. Jahrhundert stark ausgebreitet. Freuds »strategischer Schachzug« im damaligen intellektuellen Kräftefeld bestand vielmehr darin, »die Annahme der entscheidenden Bedeutung sexueller Erlebnisse für die psychische Entwicklung mit einer Logik des Unbewussten zu verbinden«.9 Die Freudsche »Psychoanalyse«, die erstmals im Jahr 1896 als solche benannt wurde, verdankte sich folglich einem Bündnis zwischen ästhetischen, philosophischen und medizinischen Ansätzen, welches auch schon die romantische Naturphilosophie gekennzeichnet hatte.10 Das Bindeglied zwischen experimenteller und philosophischer Psychologie lag in der Erforschung der Schnittstelle von Körper und Seele bzw. »Psyche«,11 die vor allem im menschlichen Triebleben lokalisiert wurde. Entsprechend konnte Blüher seine Triebkonzeption einerseits auf Schopenhauers romantisch-lebensphilosophische Willensmetaphorik12 zurückführen und andererseits auf die Sexualwissenschaften und die noch junge Psychoanalyse Freuds.13 Beide Diskursstränge griffen in Blühers Texten ineinander und lieferten auf spezifische Weise die legitimierende Basis für seine Erklärung des Wandervogelphänomens. Die Philosophie der Romantik war dem Bildungsbürgertum vertraut und erlebte um die Jahrhundertwende mit der einsetzenden Neoromantik gerade in Verbindung mit der Jugendbewegung eine Renaissance. Entsprechend spekulierte Blüher darauf, dass die ersten beiden Bände seines Werkes »Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung« (mit den Untertiteln Heimat und Aufgang bzw. Blüte und Niedergang) relativ unproblematisch aufgenommen wurden.
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Alois Hahn/Herbert Willems/Rainer Winter: »Beichte und Therapie als Formen der Sinngebung«, in: G. Jüttemann/M. Sonntag/C. Wulf (Hg.), Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, S. 439-511, hier S. 489. J. Hörisch: Die romantische Seele, S. 258-266, 263f.; vgl. Odo Marquard: Transzendentaler Idealismus. Romantische Naturphilosophie. Psychoanalyse, Köln: Dinter 1987. Der Titel der im Jahr 1846 erschienen Hauptschrift »Psyche« des naturphilosophisch-romantischen Dresdener Arztes Carl Gustav Carus (1789-1869) zeigt auch begriffsgeschichtlich an, dass mit den romantischen Entdeckungen aus der theologisch okkupierten Seele eine psychologisch thematisierbare Psyche geworden ist. O. Marquard: Transzendentaler Idealismus; vgl. J. Hörisch: Die romantische Seele, S. 263f. Hans Blüher: Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen. Ein Beitrag zur Erkenntnis der sexuellen Inversion, mit einem Vorwort von Dr. med. Magnus Hirschfeld und einem Nachwort von Hans Blüher [aus Zensurgründen separat publizierter dritter Band der Wandervogelschriften], Berlin: Bernhard Weise 1912, S. 16. Günter Gödde: Traditionslinien des »Unbewußten«. Schopenhauer-NietzscheFreud, Tübingen: Edition Diskord 1999, S. 76.
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Der theoretische Umschlag vom romantischen zum spezifisch sexualwissenschaftlichen Triebmodell zur Erklärung der Wandervogelbewegung sollte zunächst im letzten Kapitel des zweiten Bandes abgehandelt werden. Da Blüher allerdings fürchtete, dass dieser Theorieteil entweder gar nicht wahrgenommen oder gar das gesamte Buch verboten werden könnte, entschied er sich kurzfristig für eine separate Publikation unter dem Titel »Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen. Ein Beitrag zur Erkenntnis der sexuellen Inversion«.14 »Ich plane mit dieser [dritten, C.B.] Schrift einen entscheidenden Vorstoss der sexuellen Aufklärung in Deutschland«, schrieb Blüher am 3. Juli 1912 an Sigmund Freud, dem er das unveröffentlichte Manuskript des letzten Bandes »als erstem Außenstehenden« zusandte.15 Es war vor allem der sexualwissenschaftlich argumentierende dritte Band, der Blühers Trilogie den Nimbus einer brisanten, hochaktuellen Theorie verlieh und dazu führte, dass sein Name bald in aller Munde war. Dabei wurde der zunächst als romantisch figurierte Rekurs auf das ›natürliche‹ Innere bei Blüher in Anlehnung an Schopenhauer vitalisiert16 und mit Bezug auf Freud sexualisiert.17 Nicht mehr die Seele war zentraler Referenzbegriff der Selbstkonstitution, sondern der unbewusste, sexuelle Trieb avancierte zur wahren Macht im Innern.18 Entsprechend beschrieb Blüher die deutsche Wandervogelbewegung als ein Ereignis, das von unbewussten Trieben ausgelöst und bestimmt worden sei.19 Er nahm an, dass es einen sexuellen Trieb gebe, der den Einzelnen, seine Gefühle, seinen innersten Kern, seinen Willen und sein ›Wesen‹ bestimme und keineswegs im Körperlichen aufgehe.20 Vielmehr behauptete Blüher 14 Vgl. die ausführliche Diskussion seiner Publikationsstrategie mit Wilhelm Jansen. Brief an Wilhelm Jansen vom 10.10.1910 sowie vom 19. u. 24.11.1911, SBBPK, Nl. H. Blüher, Kasten 10. 15 Hans Blüher: Werke und Tage, Bd. 1, Jena: Diederichs 1920, S. 111. 16 O. Marquard: Transzendentaler Idealismus, S. 198ff.; G. Gödde: Traditionslinien des »Unbewußten«, S. 58-60; H. Blüher: Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen, S. 16. 17 G. Gödde: Traditionslinien des »Unbewußten«, S. 251. 18 1910 bezeichnete Magnus Hirschfeld Psychoanalytiker und Sexualbiologen als »Tunnelarbeiter«, die sich in der Mitte treffen müssten. In seinem Vorwort zu Blühers Text »Die drei Grundformen der Homosexualität, eine sexuologische Studie« (erstmals in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 1913, S. 139-165, 326-342, 411-444) ist in einer ähnlichen Metapher von einem »Brückenschlag«, den Blühers Text zwischen Freuds Psychoanalyse und dem sexualwissenschaftlichen Jahrbuch leiste, die Rede. 19 Hans Blüher: Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung, 2 Bde., Bd 1.: Heimat und Aufgang, m. e. Vorwort von Hans Blüher, Berlin-Tempelhof: Bernhard Weise 1912, S. 76, 93; Hans Blüher: Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung, 2 Bde., Bd. 2: Blüte und Niedergang, Berlin-Tempelhof: Bernhard Weise 1912, S. 22. 20 »Der Trieb, der vom Körperlichen so unterschieden ist und sich nicht in dasselbe überführen läßt, so sehr er stets mit ihm in Verbindung steht, hat nun das
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nun im dritten Band, mithilfe des »von Jahr zu Jahr stärker anwachsende[n] sexuelle[n] Material[s]«21 am Beispiel der Wandervogelbewegung eine neue »Sexualtheorie« der Gesellschaft liefern zu können. Explizit formulierte der Text damit auch den Anspruch einer erweiterten Kompetenz von Sexualwissenschaftlern und Psychoanalytikern für den sozialen und gesellschaftlichen, im weitesten Sinne politischen Bereich. Gerade diese Erweiterung des Sexualitätsbegriffs im Sinne der Freud’schen Schule führe dazu, die »gesunden Absichten der Natur immer mehr zu verstehen und dem Kulturleben nutzbar zu machen«, lobte Magnus Hirschfeld Blühers dritten Wandervogelband in seinem Vorwort.22 Zu den »oft verborgenen Berührungspunkten zwischen Kultur und Sexualleben« liefere Blühers Buch einen wichtigen Beitrag.23 Die durch Blüher popularisierte Triebtheorie24 kam den Bedürfnissen einer sich neu etablierenden psychoanalytischen Wissenschaft entgegen, denn sie band die alte Seelenforschung an ein biologistisches Konzept, ohne in diesem völlig aufzugehen. Indem der sexuelle Trieb zur Grundlage menschlichen Lebens erklärt wurde, partizipierte man an der legitimatorischen Macht des biologischen Diskurses.25 Andererseits verwies die »Triebstruktur« auf einen metaphorischen Ort, die »Abgrenzung des Seelischen vom Körperlichen«,26
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Eigentümliche an sich, daß er uns gewiß ist, auch wenn wir keine äußeren Dinge anschauen. Wenn wir ›uns‹ fühlen, so fühlen wir unser Triebleben (im weitesten Sinne) und darum hat es auch etwas so Erschütterndes an sich, während das Wesen des Körperlichen uns ruhiger lässt. So verstehen wir, daß Schopenhauer, tief vom Herzen des Triebes – genannt Wille – ergriffen, dieses zugleich zum Wesen der Welt machte […].« H. Blüher: Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen, S. 16. Ebd., S. 15. Magnus Hirschfeld: »Vorwort«, in: H. Blüher, Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen, S. 7. Ebd., S. 6. Ulfried Geuter: Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung. Jungenfreundschaft und Sexualität im Diskurs von Jugendbewegung, Psychoanalyse und Jugendpsychologie am Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 117. Freuds Wendung von rein physiologischen zu psychischen Modellen wird durch die Art der Metaphern- und Analogiebildung unterlaufen, in der er von neurophysiologischen Vorgängen auf psychische Prozesse schließt, etwa in der Rede von der »Energieverteilung« in der menschlichen Psyche, die durch »Kraftlinien« des »Konstanzprinzips« strukturiert sei; vgl. G. Gödde: Traditionslinien des »Unbewußten«, S. 192f. Laut Karl Reitter ist in der Folge die Sexualität für Freud das gesuchte »Missing link zwischen Psyche und Physis« zwischen Körper und Seele. Ders.: Der König ist nackt. Eine Kritik an Sigmund Freud, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1996, S. 33ff.; Reimut Reiche: »Einleitung«, in: Sigmund Freud. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 9. Aufl., Frankfurt/ Main: Fischer TB 1991, S. 16. Sigmund Freud: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« [1905], in: ders., Studienausgabe, Bd. 5, hg. von Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey, Frankfurt/Main: Fischer 2000, S. 37-146, hier S. 76.
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an dem die psychische (Selbst-)Beherrschung und Steuerung des Subjekts (mittels der Psycho-Analyse) ansetzen konnte. Die junge Sexualpsychologie und Sexualwissenschaft27 kann somit als eine sich neu konstituierende Form der bürgerlichen Selbstvergewisserung verstanden werden,28 an der auch Blüher partizipierte.
F i g u r a t i o n e n d e s S u b j e k ts Der »unbewußte Trieb« lag Blüher zufolge aber nicht nur der jugendlichen Protestbewegung zugrunde, sondern wurde auch zum konstitutiven Element des männlichen Selbst als eines »männerheldischen«. Der »Männerheld«29 verfüge über schöpferische und erotische Fähigkeiten, mit deren Hilfe er Gemeinschaften und Bewegungen »hervorbringe«. Denn als einziger sei er in der Lage, seine Triebe zu beherrschen und derart zu sublimieren, dass er dadurch andere an sich binden könne. Diese Fähigkeit, seine Triebe zu steuern, wird zugleich als ein männliches Privileg beschrieben. Daher müsse es ein vordringliches Ziel des männlichen Jugendlichen sein, »die Beherrschung seiner Triebe« zu erlernen. Ein entsprechender Kontrollverlust wurde als bedrohlich für die Einheit der männlichen Person empfunden.30 Der Frau dagegen wurde eine reflexhafte »Passivisierung des Trieblebens« in der Pubertät attestiert, worin Blüher in Anlehnung an Freud die »eigentliche Weibwerdung des weiblichen Menschen« sah.31 Während ein bestimmtes Maß an Selbstbeherrschung bereits den ›normalen‹ Mann auszeichnen sollte, so wurde vom »Männerhelden« eine weit grö-
27 Zum engen Verhältnis von Psychoanalyse und Sexualwissenschaft vgl.: Frank J. Sulloway: Freud, Biologist of the mind. Beyond the Psychoanalytic Legend, Cambridge u.a.: Verlag 1992, S. 277. 28 Die naturalisierte Triebstruktur des Körpers lässt sich als eine »Vermittlungsinstanz zum Selbst« begreifen. Volker Roelcke: Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter (1790-1914), Frankfurt/Main, New York: Campus 1999, S. 11f. 29 Den Begriff des »Männerhelden« übernahm Blüher nach eigenen Angaben von dem am Stuttgarter Polytechnikum lehrenden Zoologen und Anthropologen Gustav Jäger (1832-1917). »Der ersten Grundform der Homosexualität möchte ich nach Gustav Jaeger den wohlgelungenen Namen ›Männerheld‹ geben. […] Es liegt keine […] ›Perversion‹ [vor und …] auch keine Verweiblichung […], sondern die Männlichkeit in Charakter und Habitus bleibt voll erhalten.« Der »Männerheld« sei das Äquivalent zum Typus des »Frauenhelden«, nur mit »veränderter Triebrichtung«. Hans Blüher: Die drei Grundformen der sexuellen Inversion (Homosexualität). Eine sexuologische Studie, Leipzig: Max Spohr 1913 (Separatdruck aus dem »Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen« 13), 27f.; vgl. auch: H. Blüher: Wandervogel, Bd. 2, S. 113. 30 H. Blüher: Die drei Grundformen der sexuellen Inversion, S. 78f. 31 Ebd., S. 58.
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ßere Disziplinierung seiner Triebe oder Nerven erwartet.32 Der »Männerheld« wurde überdies nicht nur als Produzent triebgebundener männlicher Gemeinschaft, sondern auch als »Kulturschaffender« schlechthin imaginiert. Die »große schöpferische Kulturleistung« war ihrerseits wieder an die Triebsublimierung gekoppelt.33 Aus seiner Fähigkeit zur Triebsublimierung leitete Blüher im Anschluss an Freud die Möglichkeit des Mannes zur »große[n] schöpferische[n] Kulturleistung« ab.34 Freud hatte sich mit den Kulturhistorikern in der Annahme einig gewusst, dass »durch […] Ablenkung sexueller Triebkräfte von sexuellen Zielen und Hinlenkung auf neue Ziele, ein Prozeß, der den Namen Sublimierung verdient, mächtige Komponenten für alle kulturellen Leistungen gewonnen werden«.35 Kultur sei »überhaupt nicht möglich ohne Verdrängung«, so Blüher. Frauen könnten sich genauso wenig wie Schwarze – welchen Blüher unterstellte, »unermüdlich im Sexualverkehr« zu sein – »durch höhere IchInteressen« von ihrer Triebhaftigkeit lösen. Beide verstünden »den Verdrängungseinsatz nicht und den Kultur-Aufstieg im größeren Stile«.36 Entsprechend wenig könnten sie zur Kultur beitragen. Ihre neurotische Erkrankung bildete somit gleichsam das Pendant zur männlich codierten Kulturproduktion und zeigte sich damit als »Parodie eines künstlerischen Prozesses«, so Irigaray, als »ein schlechtes Kunstwerk oder die Nachahmung davon«.37 Die Neurose verhinderte jedoch nicht nur die Kulturproduktion, sie schloss Freud 32 Ähnlich den sexuellen Trieben galt das Nervensystem seit dem 18. Jahrhundert als übergeordnetes Kontrollsystem des Körpers und die einzelnen Nerven als Kontaktstelle zwischen Geist und Körper. John H. Smith: »Wie ›männlich‹ ist der Wille? Ein philosophischer Grundbegriff, andersherum gedacht«, in: Walter Erhart/Britta Herrmann (Hg.), Wann ist der Mann ein Mann? Stuttgart: Metzler 1997, S. 114-133, hier S. 117. 33 So heißt es bei Blüher, dass ein »völliges Auspuffen aller sexuellen Wünsche den Kulturmenschen unmöglich machen [würde]«. Blüher weist jedoch auch darauf hin, dass es eine Differenz zwischen Sublimierung (die zur Kunst führt) und »falscher Verdrängung« (die zur Neurose führt) gebe. Viele Homosexuelle würden zu »falscher Verdrängung« gezwungen sein, wodurch das »deutsche Volk von Krankheit und Kulturverfall bedroht« würde. H. Blüher: Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen, S. 95-98. 34 Ebd., S. 95; vgl. Hans Blüher: »Darlegung einer neuen Begründung zur Aufhebung des § 175 R.-Str.-G.«, in: Körperkultur. Monatsschrift für vernünftige Leibeszucht 8 (Juni 1913), S. 568-575, bes. S. 575. 35 S. Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, S. 85. 36 H. Blüher: Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen, S. 95. 37 Luce Irigaray: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980, S. 159. Freud selbst hatte geschrieben, dass die Neurose wie die Hysterie »ein Zerrbild einer Kunstschöpfung« sei; Sigmund Freud: »Totem und Tabu (Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker) [1912/13]«, in: ders., Studienausgabe, Bd. 9, Frankfurt/Main: Fischer 2000, S. 287-444, hier S. 363.
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zufolge eine Person als »asozial« aus der Gesellschaft aus. So schrieb Freud in »Totem und Tabu«: »Genetisch ergibt sich die asoziale Natur der Neurose aus deren ursprünglichster Tendenz, sich aus einer unbefriedigenden Realität in eine lustvollere Phantasiewelt zu flüchten. In dieser vom Neurotiker gemiedenen realen Welt herrscht die Gesellschaft der Menschen und die von ihnen gemeinsam geschaffenen Institutionen; die Abkehrung von der Realität ist gleichzeitig ein Austritt aus der menschlichen Gemeinschaft.«38
Dennoch war der Prozess der Umwandlung von Sexualität in Kulturproduktion laut Blüher auch für den Mann prekär. Wenn jemand seine Triebkräfte bloß »verdrängte«, statt sie zu »beherrschen«, drohte er (wie die Frau) »neurotisch« zu erkranken. Gesundheit wurde von Blüher an das bewusste Erlernen von »Beherrschung« und »Regulierung« der eigenen Sexualität gekoppelt: »Für diejenigen, die in die Terminologie Freuds nicht eingeweiht sind, sei hier bemerkt, daß die Verdrängung etwas anderes ist, als die Beherrschung. Wenn Jemand einen Trieb verdrängt, so stößt er ihn kritiklos ins Unbewusste und fragt nicht danach, ob er dies vertragen kann oder nicht; [Verdrängung] ist immer ein Risiko […], und es ist daher pädagogisch stets besser, dem Menschen von Jugend an eine andere Verhaltungsform anzugewöhnen, eben die Beherrschung. […] Bekanntlich [besteht, C.B.] die von Freud und seinen Schülern angewandte Psychoanalyse von Neurotikern gerade in einem Überführen von Verdrängung in Beherrschung: d.h. die seinerzeit verdrängten Komplexe des Kranken [...] werden unter schweren Widerständen ins Bewußtsein gehoben, [...] und nun [...] hat dieser die Fähigkeit, es zu beherrschen. Die Persönlichkeit wird wieder hergestellt und kommt von ihrem 39 Fatum frei.«
Die enge Bindung von Gesundheit und gelungener Triebbeherrschung implizierte besonders für die Frau, aber auch für den invertierten Mann, dem im medizinischen Diskurs ein Mangel an Selbstbeherrschung unterstellt wurde,40 eine Nähe zu psychischer Krankheit und Neurose. 38 Ebd., S. 363. 39 H. Blüher: Die drei Grundformen der sexuellen Inversion, S. 60f. 40 So betonten auch Havelock Ellis, Moll und Krafft-Ebing eine besondere Neigung von Homosexuellen zur Neurasthenie (vgl. zusammenfassend: Wilhelm Stekel: Störungen des Trieb- und Affektlebens. Die parapathischen Erkrankungen, Bd. 2: Onanie und Homosexualität. Die homosexuelle Parapathie, 3. verbesserte u. verm. Aufl., Berlin, Wien: Urban & Schwarzenberg 1923 [1917], S. 157). Otto Klieneberger unterstellte in einem Beitrag im offiziellen Organ der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater, dem »Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten«, von 1921, Homosexuellen in typischer Weise »ganz allgemein eine Schwäche des Willens, die in Triebhandlungen, in Schlaffheit
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Die Fähigkeit zur gesunden Triebsublimierung setzte überdies voraus, dass der Mann im Laufe seiner psycho-sexuellen Entwicklung lernte, seine ursprünglich »polymorph-perversen« Sexualtriebe zu zentralisieren und zu hierarchisieren, sodass sie in einer »sexuellen Leitlinie« auf das zentrale Ziel des männlichen Orgasmus zuliefen.41 Hier stimmte Blüher mit Freuds Lehre vom »normalen Sexualziel« überein, während er zugleich dessen Festlegung auf das gegengeschlechtliche Objekt ablehnte.42 Erst die »Rangerhöhung« des Penis aus der Masse der erotischen Körperzonen hin zu einem »Angriffsglied«, so Blühers zugespitzte Diktion,43 indiziere Gesundheit und unterscheide den Mann von der Frau, deren Lust sich nach psychoanalytischer Lesart nur schwer in eine solche hierarchische Ordnung füge. Die »nämliche polymorph perverse Veranlagung« bleibe beim »unkultivierten Durchschnittsweib« erhalten, so Freud.44 Ohne eine Hierarchisierung der Lustzonen drohte dem männlichen Subjekt Infantilität, Perversität und Einsamkeit, führte Blüher diesen Gedanken weiter aus.45 Gerade die Konzeption von psychosexuellen Lusthierarchien eröffnete Blüher die Möglichkeit, homosexuelle Männer als gesund und männlich zu normalisieren. Denn diese »sexuelle Leitlinie« erfüllten auch die Invertierten mühelos, wie Blüher 1913 gegen psychoanalytische Ansätze argumentierte,
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und mangelnder Energie und Ausdauer, in Sprunghaftigkeit und gesteigerter Suggestibilität sich kundtut […] endlich auf dem Gebiet des Gefühlslebens Empfindsamkeit und Weichlichkeit, ängstlich gedrücktes und weinerliches Wesen. Neigung zu depressiven Verstimmungen, leichte Erregbarkeit und Reizbarkeit, Eitelkeit, erhöhtes Selbstgefühl und Prahlsucht und eine ausgesprochene Labilität. […] Dazu kommen fast regelmäßig nervöse Beschwerden subjektiver Art, Zeichen allgemeiner nervöser Übererregbarkeit, nervöse und hysterische Antezedentien, wie wir sie auch sonst bei Psychopathen anzutreffen gewohnt sind.« Zitiert nach W. Stekel, Störungen des Trieb- und Affektlebens, S. 157. Hans Blüher: »Studien über den perversen Charakter mit besonderer Berücksichtigung der Inversion«, erstmals in: Zentralblatt für Psychoanalyse und Psychotherapie 4/1-2 (1913), S. 10-27, hier S. 10. Der Psychoanalytiker Wilhelm Stekel übernahm den »trefflichen Ausdruck« der »sexuellen Leitlinie« von Blüher in seiner Arbeit über »Onanie und Homosexualität«. W. Stekel: Störungen des Trieb- und Affektlebens, S. 149. H. Blüher: Studien über den perversen Charakter, S. 10. Wenn der Penis »z.B. wieder zur erogenen Zone [neben anderen] degradiert« würde, drohte er seine »Rolle als Angriffsglied« zu verlieren, führte Blüher 1913 im »Zentralblatt für Psychoanalyse und Psychotherapie« aus. Ebd., S. 18. »Das Kind verhält sich hierin nicht anders als etwa das unkultivierte Durchschnittsweib, bei dem die nämliche polymorph perverse Veranlagung erhalten bleibt. Dieses kann unter den gewöhnlichen Bedingungen etwa sexuell normal bleiben, unter der Leitung eines geschickten Verführers wird es an allen Perversionen Geschmack finden […]. Die nämliche polymorphe, also infantile Anlage beutet dann die Dirne für ihre Berufstätigkeit aus […].« S. Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, S. 97. Hans Blüher: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft, Jena: Diederichs 1917, S. 113.
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die die Inversion zu den »Perversionen« oder »Neurosen«46 zählen wollten: »Was die Inversion grundsätzlich von den Perversionen unterscheidet, ist: dass sich innerhalb ihrer genau dieselbe sexuelle Leitlinie aufweisen lässt, wie bei der Liebe zum anderen Geschlecht […].«47 Die Normalität des homosexuellen Mannes zeigte sich bei Blüher nicht zuletzt darin, dass auch bei ihm der sexuelle »Wille zur Lust« mit einem männlichen »Willen zur Macht« verbunden war, den der Psychoanalytiker Alfred Adler in Anlehnung an Nietzsche stark gemacht hatte.48 Eine solche Konzeption des männlichen Subjekts bzw. des Männerhelden spiegelte den prekären Spagat zwischen der Vorstellung von einem sexuell bestimmten Naturwesen und einem autonomen Individuum, das sich in einem Willensakt selbst setzt und hierarchisch ordnet. Erst die Möglichkeit zur Sublimierung vermittelte zwischen beiden Bereichen. Durch die Einführung einer solchen Sublimierungsvorstellung im Rahmen psychoanalytischer Theoriebildung ließ sich die sexuelle Potenz des Mannes in eine kulturelle übersetzen und seine kulturelle Produktivität umgekehrt auf sexuelle Energie zurückführen. Die Größe der kulturellen Leistung wurde dabei direkt an die Größe der sublimierten Triebenergie zurück gebunden.49 Dem Akt der Subli-
46 Selbst Stekel, der Homosexualität weitgehend normalisierte und sich an anderer Stelle positiv auf Blühers »Männerhelden« bezog, stellte eine enge Verbindung von atavistischer Kulturstufe, Neurose und Homosexualität her: »›Der Neurotiker ist eine Rückschlagserscheinung‹. Er repräsentiert eigentlich einen überwundenen Typus Mensch. Er muß an sich den Kampf durchmachen, den die ganze Menschheit bereits durchgemacht hat. Eine Ontogenese der Kultur! […] Dem Menschen mit überstarken Trieben (dem Übermenschen, der eigentlich ein Untermensch ist) eröffnen sich drei Wege: Er sublimiert seinen Zerstörungstrieb, seine kriminellen Anlagen, seine asoziale Einstellung vergangener Epochen und wird ein Schaffender (Dichter, Maler, Bildhauer, Musiker, Prophet, Erfinder usw.); oder er lebt seine Triebe ungehemmt aus, dann wird er ein Verbrecher; oder ein Teil der Sublimierung misslingt, er wird ein Parapathiker.« W. Stekel: Störungen des Trieb- und Affektlebens, S. 170f. 47 H. Blüher: Studien über den perversen Charakter, S. 19. So sei bewiesen, dass der Invertierte auf die gleiche Weise liebe wie auch der »Frauenfreund«. Der einzige Unterschied sei nach Blüher »wohl in der Stärke und Art des Verdrängungsthemas zu suchen«. Ebd., S. 22. 48 Verschränkt mit der »sexuellen Leitlinie«, die auf den »Willen zur Lust« ziele, sei die »männliche Leitlinie« auf den »Willen zur Macht« aus. »Bei jedem Menschen ist sowohl eine männliche, als auch eine sexuelle Leitlinie nachweisbar, um sie herum gruppieren sich glückend oder missglückend die jedesmaligen Unternehmungen«, so H. Blüher, ebd. S. 11; vgl. auch S. 16 Blühers Bezugnahme auf die Theorie Adlers. 49 Während sich im 17. und 18. Jahrhundert die Abtrennung des Geistes von der Sexualität als Konzept männlicher Herrschaft über die Frau herausgebildet hatte, wird hier von der Psychoanalyse die geistige Potenz im ausgehenden 19. Jahrhundert wieder zurück an die sexuelle Potenz gebunden. Esther FischerHomberger [1974]: Krankheit Frau. Zur Geschichte der Einbildungen, veränd.
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mierung kam die Funktion einer zweiten, kulturellen Geburt des Mannes zu, mit welcher er den Bereich biologischer Gebundenheit (an die Mutter/Frau) transzendierte und sich zum autonomen Schöpfer seines Selbst, zum kulturellen Ich, erhob. Diese Selbsthervorbringung als autonomes Individuum wurde zugleich als Voraussetzung für das die Polis stiftende Gemeinwesen gedacht. War Triebhaftigkeit im 19. Jahrhundert mit dem weiblichen Körper und der Gefahr der Verweiblichung konnotiert worden, so konnte im Anschluss an Freuds Sublimierungskonzept auch der Mann als sexuelles (Gattungs-)Wesen gedacht werden,50 ohne automatisch den als weiblich markierten Kontrollund Autonomieverlust mit zu übernehmen. Blühers Konzeption von Männlichkeit bezog nicht zuletzt einen Teil ihrer Attraktion daraus, dass sie es auf neue Weise erlaubte, Männlichkeit als Verbindung von sexueller Potenz und geistiger Überlegenheit, als Eros und Logos gleichermaßen, zu denken.51 Im dreifachen »Willen zur Lust«, zur »Macht« und zum »Wert«, den der Invertierte Blüher zufolge mit jedem anderen Mann teile,52 reproduzierte sich das männliche Subjekt gleichermaßen als ontologisch begründetes Naturwesen, als individuelles Rechts- bzw. Staatssubjekt und als Kulturwesen, das der nationalen Gemeinschaft Sinn verleiht.
F i g u r a t i o n e n d e s K o l l e k t i vs Nicht nur das individuelle männliche Subjekt konstituierte sich durch eine rigide Art der Selbstführung und Selbsthervorbringung. Die Konstruktion des männlichen Kollektivs wies analoge Strukturen auf. Galt nach romantischer Staatsmetapher die Familie als »Keimzelle« des Staates, als ihr »Urbild«, so avancierte bei Blüher die männliche Gemeinschaft explizit zur staatstragenden Kleingruppe, deren Konzeption das ›Weibliche‹ als einen Teil der Familie exkludiert: »Die Familie, das heterosexuelle Triebprodukt, ist also keineswegs die Grundlage des Staates, wie man durch oberflächliche Analogie in Bezug auf monarchische Verwaltung bisher verführt meinte, sondern gerade umgekehrt jener mehr oder weniger starke Rest des homosexuellen. Jede Raubtierfamilie belehrt uns, dass die Staatenbildung nicht die Folge der Familienbildung ist, wogegen der Bienen- und Neuaufl., Neuwied u.a.: Luchterhand 1984, S. 98; U. Geuter: Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung, S. 295. 50 Die Historikerin Ute Planert macht darauf aufmerksam, dass zunehmend die genetische Potenz des Mannes von der Gesellschaft fokussiert wurde, wodurch dieser dem ›klassischen‹ Gattungswesen Frau funktional äquivalenter wurde. U. Planert: Der dreifache Körper des Volkes, S. 567. 51 Reine Triebhaftigkeit wurde hingegen nach wie vor Frauen und indigenen Gruppen zugeschrieben. Vgl. ebd. S. 569f. 52 H. Blüher: Studien über den perversen Charakter, S. 26f.
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Ameisenstaat, der ähnliche nichtfamiliäre Sexualverhältnisse aufweist aus eben diesen verständlich wird, und noch vielmehr zeigt es der sozial so hoch veranlagte Mensch, dessen staatenbildende Eigenschaft in seiner besonderen Sexualstruktur, die über die Familie hinausgeht, begründet ist (Ben. Friedländer).«53
Die gemeinschafts- und staatsbildende Funktion des Mannes wird generell auf seinen sexuellen Trieb zurückgeführt. Zugespitzt formuliert, präsentiert sich das Sexuelle als das Soziale. Ein zu enger Begriff von Sexualität versage laut Blüher nicht nur bei wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern »vollends«, wo es sich »um praktische Kulturfragen handelt«.54 Explizit formuliert der Text damit auch den Anspruch einer erweiterten Kompetenz von Sexualwissenschaftlern und Psychoanalytikern für den sozialen und gesellschaftlichen, im weitesten Sinne politischen Bereich. Wurde kulturelle Devianz im 19. Jahrhundert u.a. mithilfe des Sexualitätsdispositivs strukturiert, so konnte nun mit einer bewussten Veränderung desselben (andersherum) Politik gemacht werden. Die Anhänger des Männerbunds schufen dabei durch ihre persönliche Hingabe und ihre sublimierte Bindung an den Helden den Bund. Erosgemeinschaften, die ihre Triebe nicht zu einem »höheren Zweck« sublimierten, galten Blüher hingegen als verfehlt. Internate und »Kadettenanstalten« brächten lediglich »Erastensysteme« ohne Dauer und Wichtigkeit hervor. Sie scheiterten mit ihren »Orgien«, weil sie nicht zur »Kultivierung« ihrer Sexualtriebe kämen.55 »Kulturell feiner« werde ein solches System erst, wenn »Ober- und Unterfreunde mit streng logischer Distinction« zu einem »System der Knabenliebe« ausgebildet würden.56 Die Etablierung einer hierarchischen Struktur unter den Anhängern des Männerbunds stellte sich Blüher zufolge über die abgestufte Bindung an den Helden her. Die verschieden starke Sublimierung seiner Sexualität im Verhältnis zu den einzelnen Anhängern organisierte die graduell unterschiedliche Nähe oder Ferne zu »Ihm«. Diese Ordnung hatte die Funktion, vor dem Versinken in emotionales (Trieb-)Chaos zu schützen, das mit Weiblichkeit assoziiert wurde. So hieß es etwa 1915: »In der Männlichen Gesellschaft herrscht das wichtige Beziehungsverhältnis zum überlegenen Manne, das Gefolgschaft heißt; die Frau aber steht zum überlegenen Manne im Verhältnis der Hörigkeit.« 57
53 H. Blüher: Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen, S. 69f. 54 Ebd., S. 22. 55 Ebd, S. 43f. 56 Ebd., S. 45f. 57 Hans Blüher: »Was ist Antifeminismus?« [1915], wieder abgedruckt in: ders., Gesammelte Aufsätze. M. e. Vorwort von Hans Blüher (vom Juni 1918), Jena: Diederichs 1919, S. 86-93, hier S. 89. »Wir Männer, wenn wir großen Führern
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So, wie der einzelne Mann seine Männlichkeit über eine Hierarchisierung seiner inneren Lüste herstellen konnte, so stiftete der Held eine äußere Hierarchie seiner Lieblinge, die den Bund von einer bloß triebhaften »Masse« abhob und von einer weiblichen in eine männliche Formation verwandelte.58 Der Männerheld transformierte sexuelle (Natur-)Kräfte in etwas Kulturelles:59 in Blühers Augen die ›höchste‹ kulturelle (Selbst-)Schöpfung der männlichen Jugend, den Jünglings- und Männerbund. Die Beherrschung seiner Sexualität konstituierte den normalen Mann somit nicht nur als autonomes, sich selbst schöpfendes, in sich hierarchisch strukturiertes Subjekt, sondern gab ihm zugleich die Legitimation zur Beherrschung und hierarchischen Strukturierung seiner Umwelt. Entsprechend herrschte der ›wahre‹ Mann mittels Triebbeherrschung nicht nur über sich selbst, sondern auch als »Männerheld« über den Männerbund bzw. auf dem staatspolitischen Feld als »geborener Führer« über das Volk. Die Kunst der Selbstbeherrschung mutierte zum politischen Faktor. Die Rationalität der Regierung über die anderen erweist sich als eng verbunden mit der Rationalität der Regierung über sich selbst. Entsprechend wurde der Verlust von Kontrolle über die eigenen Triebe von Blüher nicht nur als bedrohlich für die Einheit der männlichen Person und seine Gesundheit empfunden, sondern auch als gefährlich für den Bestand des Staates und der Nation eingestuft.60 Im Verständnis Blühers bringt der Führer nicht nur sich selbst und den Männerbund, sondern auch das Volk als männliche Einheit hervor. Der als männlich codierte Prozess subjektiver Selbsterschaffung und Selbstbildung wird so analog zum Prozess der Herstellung des Kollektivkörpers entworfen. Durch eben diesen männlich konnotierten Akt der Produktion (als Akt der Selbstschöpfung des Supersubjekts) vermochte nicht nur der einzelne Mann, sondern auch das Kollektivsubjekt sein Geschlecht vom Weiblichen zum Virilen zu transformieren.61
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folgen, sind niemals hörig, sondern wir gehören zu ihrer Gefolgschaft, und der uns führt, ist immer ein voller Mann. Die Frauen aber kommen in die Lage von vermännlichten Frauen geführt zu werden, und der Erfolg ist: sie hören gar nicht auf die Führerinnen und geben ihre Hörigkeit zum Manne keinen Augenblick auf.« Hans Blüher: »Der bürgerliche und der geistige Antifeminismus« [1916], wieder abgedruckt in: ders., Philosophie auf Posten. Gesammelte Schriften 1916-1921 [m. e. Vorwort von Hans Blüher vom 17. Februar 1928], Heidelberg: Niels Kampmann 1928, S. 97-123, hier S. 109f. Zum Gegensatz von weiblich konnotierter »Masse« und »Männerbund« als zwei zentralen Knotenpunkten in einem Netz von Diskursen vgl. Bernd Widdig: Männerbünde und Massen. Zur Krise männlicher Identität in der Literatur der Moderne, Opladen: Westdeutscher Verlag 1992, S. 28f. »Der Männerheld liebt das männliche Geschlecht aber nicht nur in der einzelnen Person, sondern auch in seiner Totalität«, heißt es bei H. Blüher: Die drei Grundformen der sexuellen Inversion, S. 41. Ebd., S. 78f. Dies zeigt sich besonders in Blühers Schrift »Führer und Volk in der Jugendbewegung« (1917); vgl. Claudia Bruns: »(Homo-)Sexualität als virile Sozialität.
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So mache die »Steigerung des Gattungstypus« stets den Weg »vom schöpferischen und überlegenen Manne zum Volk«.62 Die menschliche Gesellschaft dürfe »nicht so gedacht werden, daß der empirische Durchschnitt zu seinem Behagen kommt, sondern so, daß die Wesensentfaltung der obersten, reichsten und gediegensten Exemplare der Gattung, ihre geborene Herrenrasse, durchdringt bis zu den einfachsten Naturen«.63 Der »Führer« brachte gerade dadurch den Staat hervor, dass er die »anarchisch-chaotische« »Menge« und unstrukturierte »Rasse« hierarchisch zu ordnen und zum Volk zu formieren vermochte.64 Dieser Akt der Staatsbildung geschah entlang der sich ins Soziale übersetzenden sexuellen Kräfte, der »sexuellen Leitlinie« des Führers. Der Männerbund nahm dabei zwischen Führer und Volk eine Mittlerposition ein. In den Bund hinein wirkten die sexuellen Bindungskräfte des Führers am stärksten. So war die »männliche Gesellschaft« über die abgestuften Grade der erotischen Nähe zum Führer organisiert. Die männliche Gesellschaft »ersten Grades« war im engeren Sinn männerbündisch strukturiert. In ihr gab es im Wesentlichen drei Kreise der Nähe zum Männerhelden, die von der erotischen Disposition des Einzelnen und seinem aktuellen oder vergangenen Liebesverhältnis zum Männerhelden abhingen. In den Gesellschaften »zweiten Grades« orientierten sich die Männer nunmehr am »Bild des Helden«65 und bildeten keine sichtbaren Kreise mehr.66 Im Prinzip konnte potenziell jeder Mann, auch der heterosexuelle, vom überlegenen Manne »erotisch erregt« und damit Teil des Männerbundes werden. Denn jede heldenhafte Erscheinung erzwinge, so Blüher, die typischen Merkmale der Verliebtheit durch die Macht des subtil wirkenden Eros.67
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Sexualwissenschaftliche, antifeministische und antisemitische Strategien hegemonialer Männlichkeit im Diskurs der Maskulinisten 1880-1920«, in: Ulf Heidel/Stefan Micheler/Elisabeth Tuider (Hg.), Jenseits der Geschlechtergrenzen. Sexualitäten, Identitäten und Körper in Perspektiven von Queer Studies, Hamburg: MännerschwarmSkript 2001, S. 87-108, hier S. 100-106. Hans Blüher: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft. Eine Theorie der menschlichen Staatsbildung nach Wesen und Wert, Bd. 2: Familie und Männerbund, 3. Aufl., Jena: Diederichs 1921, S. 219. Ebd., S. 33f. Von der bloßen »Rasse« zum geordneten »Volk« komme man durch das Streben nach »Gefolgschaft«, durch die erwachenden »Männerbundinstinkte«. Ebd., S. 171. »Und diese großen, entscheidenden, verbrecherischen Handlungen kommen zustande durch das Bild des Helden. Diese tiefsten Taten des Mannes werden niemals von Frauenblicken gelenkt, auch niemals vom Ehrgeiz und der Eitelkeit, sondern vom Eros, der auf den Helden und Halbgott geht.« Hans Blüher: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft, Jena: Diederichs 1917 [ab 1919 mit dem Untertitel: Eine Theorie des menschlichen Staatsbildung nach Wesen und Wert, Bd. 1: Der Typus Inversus], S. 248. H. Blüher: Die Rolle der Erotik, Bd. 2, S. 102-104. H. Blüher: Die Rolle der Erotik, Bd. 1, S. 245.
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Was Le Bon als »Massensuggestion« durch den Führer mit der Folge verband, dass die einzelne Persönlichkeit »ausgelöscht« werde, wertete Blüher zur Liebeshandlung unter »echten« Männern auf. Alle schöpferischen – und damit auch persönlichkeitsbildenden – Handlungen geschähen aus Liebe zum Helden. Und der heldische Führer vermochte durch seine sexuellen Bindungskräfte eine hierarchische Struktur unter seinen Anhängern zu konstituieren. Genau wie das Einzelsubjekt, eine Normalisierung seiner Männlichkeit durch eine innerpsychische Triebhierarchie erzielte, ermöglichte der Führer eine strenge hierarchische Ordnung des Volkes und der männerbündischen Anhängerschaft entlang seiner Triebstruktur. Erst mit Freuds Konstruktion des Triebes als eines Mittlers zwischen Psyche und Physis und der Einführung des Sublimierungskonzepts ließ sich das Soziale so als Funktion eines sexuellen Triebes fassen. Zugleich führte Blüher – in Erweiterung von Le Bons »Psychologie der Massen«68 – eine Differenz zwischen dem völlig »hörigen« Verhältnis der »Masse« zum Führer und dem männerbündischen »Gefolgschaftsverhältnis«69 zum diesem ein. »Hörig« könnte allein die Frau im Verhältnis zum Führer sein, weil diese immer den Mann »nötig« habe, »um das Chaotische ihres Innern zu bannen«.70 Während der Einzelne aus der Perspektive Le Bons als Glied einer »Masse« zu einem bloßen Triebwesen regredierte und damit gleichsam verweiblichte,71 stieg für Blüher das Einzelsubjekt in der Unterordnung unter einen Führer aus einem ursprünglichen »Herdendasein«, einem asozialen, bindungslosen Urzustand, zu einem Mitglied des Volkes auf und erfuhr dadurch eine Virilisierung. Der Frau blieb dieser Weg aufgrund ihres grundlegend »anarchische[n] und chaotische[n] Wesen[s], das allem Männli-
68 Le Bon war davon ausgegangen, dass jedes Glied der »Masse« seine Persönlichkeit verliere, weil es vom Führer vollkommen »hypnotisiert« werde: »Die bewusste Persönlichkeit ist [als Glied der Masse] völlig ausgelöscht, Wille und Unterscheidungsvermögen fehlen, alle Gefühle und Gedanken sind in die Sinne verlegt, die durch den Hypnotiseur beeinflusst werden. […] Der einzelne ist nicht mehr er selbst, er ist ein Automat geworden, dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt hat. Allein durch die Tatsache, Glied einer Masse zu sein, steigt der Mensch also mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinab. […Und wird] ein Triebwesen, also ein Barbar.« Gustave Le Bon: Psychologie der Massen [1895]. Mit einer Einführung von Helmut Dingeldey, Stuttgart: Kröner 1950, S. 18. 69 Die Unterwerfung des Männerbunds unter den Führer wollte Blüher hingegen nicht als (weiblich konnotierte) »Hörigkeit« verstanden wissen, sondern als freiwillige, selbst gewählte »Gefolgschaft«. Sie entsprang dem romantischen Liebesideal, nach welchem man gerade durch die liebende Hingabe an den Anderen vollkommen zu sich selbst findet. Hans Blüher: Familie und Männerbund, m. e. Vorwort von Hans Blüher, Leipzig: Der Neue Geist 1918, S. 36. 70 H. Blüher: Die Rolle der Erotik, Bd. 2, S. 83f. 71 Vgl. B. Widdig: Männerbünde und Massen, S. 101-114.
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chen im Grunde völlig entgegen« lebe, weitgehend versperrt.72 Sie war damit aus Blühers Sicht in die politische Führung des Staatsapparats nicht integrierbar. Entsprechend gab es für die Frau in Blühers Theorie keine Möglichkeit, zu einer strukturierten Gefolgschaftsbildung und damit zur Bildung eigener Bünde zu kommen. Zwar zeigten auch Frauen die Neigung zur Inversion, diese sei jedoch überwiegend »atroph« und damit zurückgebildet.73 Das weibliche Geschlecht war somit grundsätzlich auf die »Erweckung durch den Mann« angewiesen. Ein »Amazonenstaat«, wie Bachofen ihn für mythische Vergangenheiten entworfen hatte, war Blüher zufolge undenkbar.74 Eine Gleichbehandlung der Frauen sei für jede politische Philosophie ein »beklagenswertes Fiasko«.75 Dabei wurde das erotisch legitimierte Verhältnis zwischen Männerheld und bündischer Gemeinschaft in der spezifischen Imitation eines ›neu entdeckten‹ Griechenlands zum Mythos, der nicht einfach die griechische Kultur, sondern die Schöpferkraft der Griechen selbst nachahmen wollte. Seit der Romantik glaubte man, eine spezifische Nähe zwischen griechischer und deutscher Kultur bzw. Sprache herleiten zu können. Daran anknüpfend lehnte es Blüher ab, einen »hellenischen Himmel auf germanischer Erde« bauen zu wollen.76 Eine simple Übernahme der »griechischen Volkseigentümlichkeit« müsse am »Charakter der germanischen Volksseele zerschellen«.77 Vielmehr liege das zentrale Element einer »wahren« Griechenlandrezeption im »Selbststudium«, in der Entdeckung der »antiken Erotik« als »dionysisches Phänomen«.78 Indem im Dionysischen die Fähigkeit zur schöpferischen Hervorbringung an sich und nicht etwa die spezifische Ausformung der griechischen Lebensart nachgeahmt werden sollte, schien sich eine Möglichkeit unabgeleiteten Zustandekommens und reiner Ursprünglichkeit abzuzeichnen. Griechenland wurde zum nietzscheanisch inspirierten Vorbild einer Selbsthervorbringung – durch die eigenständige, typisch »germanische« Kultivierung des »sexuellen Phänomens«.79 Eine solcherart romantisierte Griechenlandrezeption ließ den Männerhelden nicht nur als Vorbild einer einzigartigen Identität in Erscheinung treten, sondern zugleich als deren Hervorbringung.80 72 73 74 75 76 77 78 79 80
H. Blüher: Die Rolle der Erotik, Bd. 2, S. 37. Ebd., S. 143f. Ebd., S. 52. Ebd., S. 75. H. Blüher: Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen, S. 112. Ebd., S. 114. H. Blüher: Wandervogel, Bd. 2, S. 156. H. Blüher: Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen, S. 114. P. Lacoue-Labarthe: Die Fiktion des Politischen, S. 131-138. Dieser autopoetische Vorgang wird von Lacoue-Labarthe als integraler Bestandteil des Nazimy-
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Dieser Formwille, der sich 1912 in psychoanalytischen Kategorien von Triebstruktur und Sublimierung äußerte, wurde von Blüher ab 1916 ästhetisch gewendet. Nun sollten Eros und Logos im Männlichen eine »radikalplatonische« Synthese eingehen, die zur Schau des »Göttlichen« führe und zu einer »grundsätzlichen Neuschöpfung« aus der »Idee des besten Staates« heraus.81 Dabei fungierte der (platonisch-)ästhetische Diskurs als Interdiskurs zwischen Psychoanalyse, Sexualwissenschaft und Politik, wie sich bereits in der Anrufung des imaginären Heldenbildes andeutet.
Schluss Während die »synchrone Entwicklung des Individualitäts- und des Männlichkeitskonzepts« Eva Kreisky zufolge »in politikwissenschaftlichen Bearbeitungen zumeist verborgen gehalten« wird,82 ist hier der Versuch unternommen worden, die Rationalität der Regierung über die anderen mit der Rationalität der Regierung über sich selbst zu vergleichen und auf äquivalente und wechselseitige Konstitutionsprinzipien aufmerksam zu machen. Historische Subjektkonstruktionen bzw. Regierungen des Selbst erweisen sich nicht als das Andere des Politischen, sondern vielmehr als konstitutiver Teil desselben. Ein kulturtheoretisch erweitertes Verständnis des Politischen eröffnet die Möglichkeit, die mit viriler Männlichkeit verbundenen Prozesse der Subjektkonstitution nicht als eine Grenze des Regierungshandelns zu verstehen, sondern sie als etwas zu erfassen, welches das Verhältnis der Subjekte zu sich selbst und zu den anderen nachhaltig verändert.83 Im Fall der politischen Männerbundtheorie Hans Blühers hat sich gezeigt, dass das männliche Subjekt entlang ähnlicher Strukturen entworfen wurde thos beschrieben: Es gehe eben nicht um die Wiederbelebung eines konkreten (germanischen) Mythos, den der Nazismus ins Programm seiner Ideologie übernommen hätte. Es gehe auch nicht um die Begeisterung für den mythos im Gegensatz zum Logos. Der Nazismus bestehe ganz wesentlich in einer Hervorbringung, einer Ins-Werk-Setzung, einer Setzung des Politischen als Formwillen. In diesem Sinne war der Nazimythos (über Odin und Wotan hinaus) eine Macht zur Zusammenfassung von Kräften und zur Ausrichtung eines Individuums oder Volkes. Er war die Macht zu einer konkreten, verkörperten Identität, zu einem »arischen Typ als absolutes Subjekt«, der mit reinem Wille (zu sich), sich selbst will. 81 Hans Blüher: Die Intellektuellen und die Geistigen [1916], in: ders., Philosophie auf Posten, S. 71-96, hier S. 90. 82 Eva Kreisky: »Geschlechtliche Fundierung von Politik und Staat«, in: Doris Janshen (Hg.), Blickwechsel. Der neue Dialog zwischen Frauen- und Männerforschung, New York: Campus 2000, S. 167-192, hier S. 173. 83 Vgl. Michel Foucault: »Das Subjekt und die Macht«, in: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, 2. Aufl., Weinheim: Beltz 1994, S. 241-261.
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wie das Kollektivsubjekt (Männerbund, Staat). Der Einzelne wie auch das Kollektiv wurden über den Rekurs auf das (triebhafte) Unbewusste strukturiert. Dessen Logik sollte beide Formationen gleichermaßen anleiten. Zum einen fundierte der »Trieb« die Möglichkeit der männlichen Selbst- und Kulturschöpfung; zum anderen organisierte er die innerpsychische wie gesellschaftliche Ordnung jeweils als hierarchisch-lineare. Dass dabei auch äquivalente Abgrenzungsstrukturen gegen ein »Außen«, gegen Frauen und Juden, bestimmend waren, konnte in diesem Beitrag nur am Rande bemerkt werden. Als Bindeglied, das zwischen der Formation des Einzelsubjekts und der des Kollektivs vermittelte, hat sich das Sublimierungskonzept erwiesen, das Blüher von Freud übernahm. Mithilfe der Sublimierungstheorie ließ sich nicht nur die Umwandlung sexueller Potenz in soziale Produktivität begründen, sondern auch die Übersetzung innerpsychischer Lusthierarchien in soziale Machtstrukturen. Indem die homoerotische Bundstruktur von Blüher als Grundlage des Sozialen konzipiert wurde, rückte Sexualität, die im 19. Jahrhundert als etwas Privates, Familiäres und Weibliches konstituiert worden war, ins Zentrum dessen, was man als politisch bezeichnete – und zwar in Abgrenzung gegen das bürgerliche Familienmodell einerseits und die Privilegien des Geburtsadels andererseits. Die selbst gewählten sexuellen Bindungen im Bund folgten nicht dem genealogischen Modell erblicher Adelsherrschaft, sondern schlossen an die bürgerliche Konzeption des Politischen an, worin der »Adel der Persönlichkeit«, seine Leistungsfähigkeit und Selbstdisziplin, zählte. Insofern der Bund über erotische Bindungen strukturiert war, trat er auch in Konkurrenz zur Familie. Während diese bei Blüher auf die physische »Reproduktionsfunktion« von Nachkommen reduziert war, konnten die sexuellen Potenzen der Männer im Bund durch Sublimierung in eine »höhere« Ordnung mann-männlicher Wahlverwandtschaft transformiert werden. Dem Männerbund kam die Aufgabe zu, die »verstreute Masse« in einer Art zweiten Geburt zu einer hierarchisch geordneten Organisation zu erheben, die gerade dadurch als staatstragend konzipiert werden konnte. Blühers Übertragung psychoanalytischer Theoriebildung auf den Bereich des Sozialen und Politischen wurde von den zeitgenössischen Analytikern durchgehend positiv bewertet – nicht zuletzt, weil diese Übersetzung in den politischen Diskurs die gesellschaftliche Relevanz der sich neu etablierenden Wissenschaft stärkte. Bereits zum Erscheinen des dritten Wandervogelbands im Buchhandel konnte Blüher einen Werbeprospekt zusammenstellen, der die »Urteile von Ärzten und Sexuologen« versammelte, die ihm bisher zugegangen waren. Hier waren nicht nur Freuds anerkennende Worte zu lesen, sondern auch die anderer Mediziner und Psychoanalytiker. Der Arzt und Sanitätsrat Heinrich Koerber (1881-1927) etwa, der neben Karl Abraham Mitbegründer der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung war, begrüßte Blühers dritten Wandervogelband als eine durchaus glaubwürdige »sexuo-
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logische Fundierung« eines sozialen Phänomens.84 Der Psychoanalytiker Karl Abraham behauptete, dass Blüher gerade im Rekurs auf Freud »den überzeugenden Nachweis [erbringe], dass gleichgeschlechtliche Regungen, grossteils in unbewusster und idealisierter Form, die wichtigste Triebfeder der [Wandervogel-]Bewegung gebildet haben«.85 Indem man Blühers Thesen unterstützte und geschlechtsexklusive Gruppenbildung in erster Linie auf (homo-)sexuelle Triebe zurückführte, trug man allerdings auch dazu bei, den Männerbund als ein (naturalisiertes) Phänomen des Unbewussten darzustellen und ihn politischer Kritik zu entziehen.86 Am bezeichnendsten ist vielleicht, dass in kaum einer der Rezensionen aus den verschiedenen Wissensfeldern (aus Psychoanalyse, Jugendpsychologie, Sexualwissenschaft und Medizin) Kritik an der Ausgrenzung von Mädchen und Frauen aus dem Bereich kultureller Produktion und staatlicher Partizipation geübt wurde.87 Blühers Darstellung der pubertären Jugendbünde wurde vielmehr als adäquate Beschreibung der sozialen Realität akeptiert und ausdrücklich als eine wertvolle bündische »Erfahrung« der Wandervogeljugend festgeschrieben. Allenfalls über den Grad der (homo-)sexuellen Fundierung derselben strukturierten sich Differenzen zwischen den verschiedenen Wissensfeldern. Am Ende des Ersten Weltkriegs markierten Blühers Publikationen den Auftakt zu einer regelrechten Männerbundobsession, die die Weimarer Republik prägen sollte.88 So schrieb Thomas Mann in einem offenen Brief an den Kulturphilosophen Graf Hermann Keyserling im Sommer 1925, dass »seit Blüher, dies Element [des Homoerotischen, C.B.] wenigstens mit einer Erscheinungsform der Jugendbewegung, dem Wandervogelwesen, für unser
84 Zitiert nach Hans Blüher: »Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen. Ein Beitrag zur Erkenntnis der sexuellen Inversion« [Selbstanzeige mit einführenden Bemerkungen von Hans Blüher sowie weiteren Rezensionen], Berlin-Tempelhof: Bernhard Weise, o. J. [ca. 1912], 4 Seiten, S. 3. 85 Zitiert nach Blüher, ebd., S. 3; ausführlicher zur Rezeption von Blühers Theorien vgl. C. Bruns: Politik des Eros, S. 327-382. 86 Allenfalls verwies man Blüher kritisch auf die innerfamiliären Bindungsstrukturen und »Entwicklungsstörungen«, die zur Inversion (und damit auch zur Männerbundformierung) wesentlich beitrügen. 87 Entsprechend des antifeministischen Konsenses gab es auch kaum Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die die Abwertung und Dethematisierung homosexueller Frauenbeziehungen in Blühers Texten kritisierten. Die pathologisierende Herabsetzung effeminierter Homosexueller monierte allein Hirschfeld. Mangnus Hirschfeld: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, 2., um ein Vorwort von Bernd-Ulrich Hergemöller ergänzte Neuauflage des Nachdrucks der Erstausgabe von 1914, Berlin: De Gruyter 2001, S. 278. 88 Zu diesem Ergebnis kommt auch Klaus von See (1994): Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg: Winter 1994, S. 321; vgl. auch B. Widdig: Männerbünde und Massen, S. 11-72.
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Bewusstsein psychologisch verbunden« sei.89 Über den Rückbezug auf die Antike verlieh er Blühers Staatstheorie von der »Sexualkameradschaft« die Weihe einer bildungsbürgerlichen Aura und hoher Plausibilität: »Ohne Zweifel genießt die Homoerotik, der mann-männliche Liebesbund, die Sexualkameradschaft, heute eine gewisse zeitklimatische Gunst […]. Der Staat, sofern ihm blindlings an möglichst vielen Geburten […] gelegen ist, möge seine Maßregeln dagegen treffen, obgleich die Antike lehrt, daß er manche Gründe finden kann, sich sogar daran zu interessieren, und obgleich der erwähnte Hans Blüher in einem Buche von starkem Wahrheitseinschlag die Herkunft des Staates selbst aus dieser Sphäre zu erweisen gesucht und plausibel zu machen verstanden hat.«90
Der Männerbund wurde nicht nur ein erfolgreiches diskursives Muster, das in Kultur und Politik hineinwirkte, er wurde auch zu einer praktischen Lebensform, die im Alltag der bündischen Jugend und in rechten wie linken politischen Bewegungen eine große Rolle spielte.
89 Thomas Mann: »Die Ehe im Übergang. Brief an den Grafen Hermann Keyserling (Juli/Aug.)«, in: Hermann Kurzke/Stephan Stachorski (Hg.), Essays, Bd. 2: Für das neue Deutschland 1919-1925, Frankfurt/Main: Fischer 1993, S. 267282, hier S. 271. 90 T. Mann: Die Ehe im Übergang, S. 271f.
Weiblicher Urgrund des Sozialen. Zur Bio-Politik des Unbew ussten in Ernst Bergmanns »Erkenntnisgeist und Muttergeist« (1932) EVA JOHACH
Die instabile Epoche der Weimarer Republik steht im Zeichen einer Krise der Geschlechterverhältnisse. Auf die Bestrebungen nach weiblicher Emanzipation wird vielfach mit der Mobilisierung einer ›weiblichen Natur‹ reagiert, die durch akademische Bildung und die daraus resultierende Nivellierung der Geschlechterdifferenz massiv gefährdet sei. Hinzu kommen Ängste vor einer Erosion der durch das Geschlechterverhältnis garantierten reproduktiven Grundlagen des Sozialen, die sich in dem Maße zuspitzen, wie ein Zusammenhang zwischen zunehmender Frauenbildung und abnehmender Geburtenziffer hergestellt wird und unter dem Schlagwort »Gebärstreik« für erhitzte Debatten sorgt. In rassenpolitischer Verschärfung artikuliert sich darin die Panik vor dem Niedergang oder sogar Aussterben der »arischen« Rasse. In dieser Krisenstimmung wird jedoch nicht nur für eine Wiederherstellung des Patriarchats Partei ergriffen, sondern es werden auch geschlechterpolitische Utopien formuliert, in denen das »Matriarchat« als utopischer Bezugspunkt künftiger Gesellschaftsentwicklung auftaucht.1 Selten jedoch ist die matriarchale Versuchung so deutlich spürbar wie in dem Text, der im Zentrum der folgenden Analyse stehen soll: Ernst Bergmanns 1932 veröffent-
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Vgl. zu dieser Debatte u.a. Susanne Lanwerd: »Johann Jakob Bachofen: Mutterrecht und Muttergöttinnen«, in: dies., Mythos, Mutterrecht und Magie. Zur Geschichte religionswissenschaftlicher Begriffe, Berlin: Dietrich Reimer 1993, S. 72-109. Ulrike Brunotte: »›Große Mutter‹, Gräber und Suffrage. Die Feminisierung der Religion(swissenschaft) bei J.J. Bachofen und Jane E. Harrison«, in: dies. (Hg.), Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900, Bielefeld: transcript 2008, S. 219-240.
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lichtes Buch »Erkenntnisgeist und Muttergeist. Eine Soziosophie der Geschlechter«.2 Bergmann, seit 1916 Professor für Philosophie an der Universität Leipzig und seit 1930 Mitglied der NSDAP, lässt sich einer »deutschreligiösen« Erneuerungsbewegung zuordnen, die aus den neureligiösen Strömungen des 20. Jahrhunderts erwächst und deren zahlreiche Vereinigungen Mitte der 1930er Jahre zum Großteil in der völkisch-nationalsozialistischen Bewegung aufgehen.3 In seinem Buch entwickelt Bergmann ein geschlechterpolitisches Programm, das für eine ›matriarchale‹ Umgestaltung des Staates eintritt. Die Geschichte des Abendlands stelle sich – so die Alarmstimmung seines Textes – als eine Aufeinanderfolge von »Krankheiten der männlichen Gesellschaft« dar, die für empfindliche Störungen im natürlichen Gleichgewicht der Geschlechter gesorgt hätten. Dieses Ungleichgewicht zu beseitigen, tritt seine »Soziosophie« an. Der Topos von der matriarchalen Ordnung verbindet sich dabei mit einem Programm völkischer Erneuerung, das auf eine Wiederbelebung des deutschen Volksgeistes durch den »Muttergeist« setzt. Die Debatte um die matriarchalen Ursprünge der Kulturgeschichte war bereits Mitte des 19. Jahrhunderts durch Johann Jakob Bachofens »Mutterrecht und Urreligion« (1861) in Gang gekommen. Sein Buch sollte »den weiblichen Anfang der Menschheitsgeschichte freilegen«4 und entwickelte zugleich eine »mythische Geschlechtergeschichte«, die vom Sieg des apollinischgeistigen Vaterrechts über die mutterrechtlichen Gemeinschaften des Altertums erzählte.5 Bachofens Rekonstruktion erbrachte, dass die »Urmenschheit« den Übergang in die Kultur und Gesellschaftlichkeit über den Weg der »Gynaikokratie« erreicht hatte. Die »geheimnisvolle Macht« der Mutterliebe sei dasjenige Verhältnis, »an welchem die Menschheit zuerst zur Gesittung emporwächst, das der Entwicklung jeder Tugend, der Ausbildung jeder edlern Seite des Daseins zum Ausgangspunkt dient« und somit die moralische Grundlage von Gesellschaftlichkeit.6 Die mutterrechtlich organisierte Gemeinschaft mit ihren Mutterkulten und Muttergottheiten sei in erbitterten Kämpfen durch die vaterrechtliche Familie ersetzt worden, wodurch nicht nur 2 3
4 5 6
Ernst Bergmann: Erkenntnisgeist und Muttergeist. Eine Soziosophie der Geschlechter, Breslau: Ferdinand Hirt 1932. Ulrich Nanko: »Das Spektrum völkisch-religiöser Organisationen«, in: Stefanie von Schnurbein/Justus H. Ulbricht (Hg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe »arteigener« Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 208-226; Rainer Lächele: »Protestantismus und völkische Religion im deutschen Kaiserreich«, in: Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hg.), Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871-1918, München: K.G. Saur, S. 149-163. Eva-Maria Ziege: Mythische Kohärenz. Diskursanalyse des völkischen Antisemitismus, Konstanz: UVK Verlag, S. 195. U. Brunotte: ›Große Mutter‹, Gräber und Suffrage, S. 222. Johann Jakob Bachofen: Mutterrecht und Urreligion. Herausgegeben von Rudolf Marx, Stuttgart: Alfred Kröner 1954, S. 88.
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ein ›primitives‹ Stadium der Menschheit überwunden worden, sondern auch der Grundgedanke einer »Brüderlichkeit aller Menschen« verloren gegangen sei.7 Die Vorstellung eines matriarchalen Ursprungs der Menschheitsgeschichte fand Anklang in unterschiedlichen weltanschaulichen Lagern. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde sie auch im völkischen Umfeld aufgegriffen und zu einer rassenbiologischen und von Züchtungsphantasien durchsetzten Sozialutopie ausgestaltet. Innerhalb der NS-Ideologie nahmen solche Positionen insofern eine häretische Position ein, als die offizielle, vor allem durch Rosenbergs »Mythus des 20. Jahrhunderts« vertretene Leitlinie die von Anfang an patriarchale Organisation indogermanischer Völker verteidigte.8 In weltanschaulicher Hinsicht knüpfen sich an die Streitfrage nach der matriarchalen Frühgeschichte der Menschheit weitreichende Fragen nach der Verbindung von Staat und Geschlecht bzw. einer Geschlechtergeschichte des Politischen.9 Alfred Rosenberg, der den »Männerbund« als Keimzelle des Staates begriff, hatte diesen zum Resultat männlichen Willens und männlicher Zeugungskraft erklärt. Dagegen mobilisiert die Fraktion ›mutterrechtlich‹ orientierter NSIdeologen, der neben Ernst Bergmann auch der Ethnologe Herman Wirth angehörte,10 ein anderes Kollektivsymbol: den Staat als Mutterschoß. Bergmanns Aufwertung des Weiblichen geht Hand in Hand mit der Aufwertung des Unbewussten, des »weiblich dunklen Seelenprinzips«, dem er u.a. die linke Gehirnhälfte, die Intuition und den Mond sowie die Attribute des Warmen, Dunklen und Naturhaften zuordnet. Das Männliche ist komplementär dazu mit dem Kalten, Hellen und Künstlichen assoziiert. Auch der Staat gehört auf die Seite des Männlichen, wenn er auch gerade nicht von dessen glorioser Überlegenheit zeugt. In seiner jetzigen Form sei er »geschaffen und bewegt von der männlichen Geschlechtstragödie in ihrer ganzen schauerlichen Pracht und Größe«. »Männer machen den Staat! Gewiß, aber was für 7
So schreibt Bachofen: »Aus dem gebärenden Muttertum stammt die allgemeine Brüderlichkeit aller Menschen, deren Bewusstsein und Anerkennung mit der Ausbildung der Paternität untergeht. Die auf das Vaterrecht gegründete Familie schließt sich zu einem individuellen Organismus ab, die mutterrechtliche dagegen trägt jenen typisch-allgemeinen Charakter, mit dem alle Entwicklung beginnt, und der das stoffliche Leben vor dem höhern geistigen auszeichnet.« J.J. Bachofen: Mutterecht und Urreligion, S. 89f. 8 Alfred Rosenberg: Mythus des 20. Jahrhunderts, München: Hoheneichen-Verlag 1932. 1933 gelangten die Bücher von Rosenberg und Bergmann – beides Unternehmungen zur Begründung einer anti-christlichen »Deutschreligion« – gemeinsam auf den Index des Vatikan. Vgl. dazu Dominik Burkard: Häresie und Mythus des 20. Jahrhunderts. Rosenbergs nationalsozialistische Weltanschauung vor dem Tribunal der Römischen Inquisition, Paderborn: Schöningh 2005. 9 Vgl. Gabriele Boukrif/Claudia Bruns et al. (Hg.): Geschlechtergeschichte des Politischen, Münster: LIT Verlag 2002. 10 Herman Wirth: Was heißt deutsch? Ein urgeistesgeschichtlicher Rückblick zur Selbstbesinnung und Selbstbestimmung, Jena: Eugen Diederichs Verlag 1931.
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einen! Einen seltsamen, lebensunfähigen Unstaat und Widerstaat. Kompromiß- und Scheinstaat, der nicht auf der Lebenslinie der Geschlechter beruht, nicht auf einer gerechten Rollenverteilung, nicht auf dem natürlichen Mutterrecht.«11 Man könne Frauen, so Bergmann, »getrost und mit Vorteil für die Kultur die Mitarbeit am Staat und seiner Verwaltung anvertrauen«,12 und auch eine politische und berufliche Partizipation (bis hin zum Beruf der Richterin) ist für Bergmann vorstellbar.13 Ziel sei es, Berufssparten einzurichten, in denen sich das Mütterliche zum Wohle des Staates entfalten kann. Mit einem ähnlichen Argument traten auch Frauenrechtlerinnen wie Henriette SchreyerBreymann und Helene Lange dafür ein, die Mütterlichkeit der Frau zur Grundlage von Mädchenbildung zu machen: »Geistige Mütterlichkeit« sei »nicht allein an die eigene Kinderstube, nicht allein an die physische Mütterlichkeit« gebunden, vielmehr sei »die Frau auch außerhalb des Hauses zum mütterlichen Wirken berufen«.14 Diese Verquickung realpolitischer Forderungen nach Partizipation mit symbolischen Anrufungen einer »Mütterlichkeit«, die nicht nur in biologischer, sondern vor allem auch in sozialer Hinsicht integrative Kraft entfalten soll, verbindet demnach höchst unterschiedliche politische Lager miteinander. Prominent vertreten wurden solche Positionen innerhalb der völkischen Frauenbewegung, zu der Bergmanns Text große Nähe aufweist.15 Daran ändert 11 E. Bergmann: Erkenntnisgeist, S. 131. 12 Ebd., S. 414. 13 Zwar sind die Rollen und Berufe für Frauen grundsätzlich eng umgrenzt und müssen mit den primär gesetzten Mutterpflichten vereinbar sein. Andererseits macht Bergmann in seinem Buch an einer entscheidenden Stelle den Vorschlag, das gesetzgebende Organ in zwei Kammern zu teilen: »ein männliches Unterhaus, wo geredet, und ein Oberhaus der Mütter des Volks, wo gehandelt wird«. Während das Unterhaus dann lediglich eine Bühne für den ausgeprägten Schaustellungstrieb des männlichen Geistes bietet, repräsentiere das aus Müttern gebildete Oberhaus die »wahre soziale Urinstanz« der Volksgemeinschaft, die das »Beste des Volksganzen« im Auge hat. Ebd., S. 422. 14 Henriette Schreyer-Breymann: Zur Frauenfrage, Wolfenbüttel 1865, S. 11, zitiert nach Christina von Braun: Versuch über den Schwindel, Zürich: Pendo 2001, S. 431. 15 Vgl. zur Aneignung ›mutterrechtlicher‹ Ideologeme durch die völkische Frauenbewegung Eva Maria Ziege: »Sophie Rogge-Börner – Wegbereiterin der Nazidiktatur und völkische Sektiererin im Abseits«, in: Kirsten Heinsohn/Barbara Vogel/Ulrike Weckel (Hg.), Zwischen Verfolgung und Karriere. Handlungsräume von Frauen im nationalsozialistischen Deutschland, Frankfurt/Main, New York 1997, S. 44-77, sowie dies.: »Die Bedeutung des Antisemitismus in der Rezeption der Mutterrechtstheorie«, in: A.G. Genderkiller: Antisemitismus und Geschlecht, Münster: Unrast-Verlag 2005, S. 143-170. Außerdem Karin Bruns: »Völkische und deutschnationale Frauenvereine im ›zweiten Reich‹«, in: U. Puschner/W. Schmitz/J.H. Ulbricht: Handbuch zur »Völkischen Bewegung«, S. 376-394.
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auch die Tatsache nichts, dass Sophie Rogge-Börner, als Herausgeberin der Zeitschrift »Die deutsche Kämpferin« eine prominente Protagonistin dieser Bewegung, auf Bergmanns Buch mit einer – vermeintlichen – Gegendarstellung reagierte.16 Tatsächlich aber befindet sich Rogge-Börner in wesentlichen Punkten in Übereinstimmung mit Bergmann. Dass die Hauptbestimmung der Frau in der Mutterschaft liegt, weist Rogge-Börner etwa keineswegs zurück; sie verweist lediglich darauf, dass der »Erkenntnisgeist«, der nach Bergmann eindeutiges Kennzeichen des Männlichen ist, in »Ausnahmeindividuen« beiderlei Geschlechts zur Ausprägung gelangen kann.17 Was die Notwendigkeit einer Überwindung der patriarchalen Ordnung angeht, argumentiert Bergmann allerdings weit radikaler. Sein Plädoyer für das Matriarchat präsentiert sich als eine politische Intervention, die aus einer fundamentalen Krise der Geschlechterverhältnisse heraus als zwingend dargestellt wird; es handelt sich keineswegs um eine lediglich sozialromantische Beschwörung des symbolisch Mütterlichen, in der die androzentrische Herrschaft gänzlich unangetastet bleibt. Die irritierende Wirkung seiner Sozial- und Geschlechterutopie fußt dabei zum großen Teil auf seiner konsequenten Engführung von männlichem Sexualtrieb und Erkenntnisgeist, die in Personalunion für sämtliche Fehlentwicklungen bisheriger Kulturgeschichte verantwortlich gemacht werden. Dabei verzichtet Bergmann nicht zuletzt darauf, zwischen ›arteigener‹ und einer als fremd und ›jüdisch‹ konnotierten Männlichkeit zu unterscheiden. Erstaunlicherweise unternimmt er also – anders übrigens als Rogge-Börner – nicht den Versuch, die zerstörerischen ›Auswüchse‹ des männlichen Erkenntnisgeistes durch den Einsatz antisemitischer Denkfiguren abzuspalten und diesen eine ›gesunde‹ arische Männlichkeit entgegenzusetzen. Als Krisenherd des Sozialen erscheint somit der männliche Sexualtrieb per se. Vor diesem Hintergrund muss auch Bergmanns misogyne Auffassung gesehen werden, dass der Erkenntnisgeist ausschließlich dem männlichen Geschlecht eigne, während seine Ausprägung bei der Frau schlicht widernatürlich sei. Biologisch, so Bergmann, sei der akademische Erkenntnisdrang der Frau schlicht ein Unding, da »der biologische Ursprung alles philosophischen und wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens der Suchtrieb des männlichen Sexualgeistes ist«. Allerdings habe gerade dieser, so das zentrale Argument seiner Geschichtsphilosophie, in der Menschheitsgeschichte der letzten 2000 16 Sophie Rogge-Börner: Zurück zum Mutterrecht? Studie zu Professor Ernst Bergmanns »Erkenntnisgeist und Muttergeist«, Leipzig: Conrad Hoppe 1932. 17 Rogge-Börner schreibt u.a.: »Das Göttliche, der Geist, ist ungeschlechtig [sic]; hier segnet er ein weibliches Hirn, dort ein männliches; denn er ist immer eine Summe von bestimmten Chromosomen mütterlicher und väterlicher Herkunft, die in bestimmter Anordnung in einem Erbträger zusammentreffen müssen. Die Masse der männlichen Lebewesen ist so wenig vom Erkenntnisgeist geadelt wie die Masse der weiblichen.« Ebd., S. 35.
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Jahre eine fatale Fehlentwicklung in Gang gesetzt. Als Ausgeburt des Erkenntnisgeistes – und untrennbar damit verbunden: des männlichen Sexualtriebs – sei der patriarchale Staat auf den »Sonderwillen« des männlichen Samens gegründet und habe die menschliche Gesellschaft gerade deshalb vom »Urwillen der Art« entfernt. Bergmanns biologistisches Modell der Geschlechterdifferenz beinhaltet demnach nicht nur die Abwertung des weiblichen Geschlechts hinsichtlich seiner geistigen Fähigkeiten, sondern operiert in teils irritierender Vehemenz auch mit der grundlegenden Infragestellung männlicher Soziabilität. Was seine Parteinahme für das »Matriarchat« allerdings genau meint und wie sich dabei der Rekurs auf das Unbewusste mit biopolitischen und geschlechterpolitischen Argumenten verschränkt, wird im Folgenden zu diskutieren sein. Was dieser Beitrag untersuchen möchte, ist in erster Linie Bergmanns symbolische Geschlechterpolitik, die auf die heilsamen Kräfte eines weiblich codierten Unbewussten gerichtet ist. Der Gedanke, dass das Unbewusste keineswegs nur zerstörerische, sondern auch vitale, ja lebensnotwendige Wirkungen innerhalb des sozialen Körpers entfalten kann, lässt sich als konzeptuelle Linie durch das 19. Jahrhundert verfolgen. Das Unbewusste ist nicht mehr lediglich der feindliche Gegenspieler zum Verstand, und dieser ist keineswegs mehr die maßgebliche Größe in der Erklärung der Grundlagen des Sozialen.18 Auch in dieser Traditionslinie ist das Weibliche mit dem Unbewussten assoziiert. Im Unterschied zu einer strikten, undifferenzierten Abwertung und Ausgrenzung beider (im Sinne von: wo Unbewusstes war, soll Bewusstsein werden) erhalten sie jedoch in ihrer Verquickung einen funktionalen Ort in der Organisation des sozialen Körpers. Wie Ingrid Wurst gezeigt hat, lässt sich diese Aufwertung des Unbewussten auch in der Übertragung zyklischer Modelle auf den sozialen Körper verfolgen. Analog zum Schlaf übernimmt das Unbewusste eine vitale physiologische Gegenfunktion zum Bewusstsein und erhält so die Aufgabe einer zyklischen Revitalisierung des sozialen Körpers.19 18 Bevor sich hierfür ein solcher organisch-physiologischer Erklärungsrahmen etablierte, ließ sich dieses »Irrationale« auch in den Termini einer sozialen Mechanik erklären. Zur Begründungsfigur des Irrationalen in der Traditionslinie des Liberalismus vgl. den Beitrag von Joseph Vogl in diesem Band. Der mit Bernard Mandevilles »Bienenfabel« einsetzende Prozess einer Suche nach den ›mechanischen‹ Gesetzen, die das Soziale hinter dem Rücken der Akteure konstituieren, markiert jedoch nur eine von zwei konzeptuellen Linien, der man eine organisch begründete Konzeption des sozialen Bandes zur Seite stellen muss. In dieser zweiten, anti-liberalen Tradition (beginnend mit Herder) gründet sich das Soziale nicht wie bei Mandeville und Smith auf eine Mechanik der Interessen und Leidenschaften, sondern auf biologische Triebkräfte. 19 Zu den vitalen Energien des Unbewussten im Rahmen einer Psychophysiologie des Staates vgl. Ingrid Wurst: »›Der Keim des Lebens liegt in der Masse‹. Revolutionen im Staatsorganismus, ca. 1850«, in: Uwe Hebekus/Susanne Lüdemann
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Maßgeblich für die geschlechtliche Dimension einer solchen organischen Sozialordnung ist zudem die enge Verquickung des Unbewussten mit den Kräften der Fortpflanzung. Hier lässt sich neben der wissensgeschichtlichen Linie, die auf die Integration sexueller Triebkräfte in die gesellschaftliche und staatliche Ordnung abzielt, auf eine mythische Tradition verweisen: Dass der Staat eine Gemeinschaft von »Brüdern« sei, die aus dem Mutterschoß der Erde hervorgegangen sind, ist ein Gründungsnarrativ, das bereits Platon seiner »Politeia« zugrunde legte.20 Bergmanns Bestreben, den Staat von der negativen Wirkung des männlichen Sexualtriebs zu befreien und erneut zu einem Staat der »Brüder« zu machen, reaktiviert diesen Mythos, allerdings unter rassenbiologischen Vorzeichen: der Kollektivkörper ist ein Vererbungskollektiv und das Weibliche, das zur »Mutter« des Staates auserkoren ist, in erster Linie Garantin des Arterhalts. Bergmann entwirft eine Sozialtheorie, die den sozialen Körper gezielt von seiner Trieb- und Geschlechterdynamik her konzipiert und auf »geschlechtersoziosophische Urgesetze« begründen will.21 Es gilt, die bislang dominierenden männlichen Bewusstseinsfunktionen (die ihrerseits als Derivate eines männlichen »Triebs« gelten) zugunsten weiblicher ›Naturtriebe‹ einzudämmen und so einer Zerrüttung des sozialen Körpers entgegenzuwirken. Unter diesen Voraussetzungen stellt sich Bergmanns synkretistische »Soziosophie« als Suche nach einem biologischen Unbewussten dar, dessen Freisetzung den deutschen Sozialkörper gerade nicht destabilisieren, sondern stabilisieren und zukunftsfähig machen würde. In diesem Bezugssystem steht das Weibliche nicht – wie etwa prominent in den Bildern der »Masse« – für ein gesellschaftswidriges Gefahrenpotenzial. Vielmehr verkörpert es eine Form des Irrationalen, das als Substrat des sozialen Körpers, als Urgrund des Sozialen begriffen wird. Was dem Staat nach Bergmanns Diagnose fehlt, ist nicht ein Mehr an männlicher Führung, sondern an weiblichem Instinkt. Der patriarchale Staat leide nicht nur an einer Hypertrophie des Gehirns,22 sondern auch an einer Überentwicklung des – männlichen – Sexualtriebs, der eine Übersexualisierung der Geschlechterverhältnisse verschuldet habe. So gehört es zu Bergmanns pathologischem Narrativ, dass die Frau »sexualisiert« und so ein vermeintlich eher frigider Naturtypus entsprechend männlicher Bedürf-
(Hg.), Massenfassungen. Beiträge zur Diskurs- und Mediengeschichte der Menschenmenge, München: Fink 2009 (im Erscheinen). 20 Rekurriert wird dort auf eine »tellurische« Verwandtschaft aller (männlichen) Polis-Bürger, die dank ihrer Herkunft aus der mütterlichen Erde »Blutsbrüder« seien. 21 E. Bergmann: Erkenntnisgeist, S. 98. 22 In organizistischer Sprache ausgedrückt: »Sein Gehirn ist losgetrennt vom natürlichen Blutkreislauf und somit erkrankt und in Fieberhitze arbeitend, nicht aber mehr dem Ganzen dienend.« E. Bergmann: Erkenntnisgeist, S. 156f.
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nisse »umgezüchtet« worden sei.23 Die Frau wieder ihrer wahren Bestimmung als Mutter zuzuführen, würde dann eine Pathologie rückgängig machen, die der Mann als »Sexualtier« an ihr verbrochen hat. Ausgehend von der Diagnose einer Übersexualisierung zielt seine Geschlechterpolitik auf eine Neukanalisierung sexueller Triebkräfte, die zum einen die Reproduktion des Staates gewährleisten soll. Darüber hinaus jedoch stellt sich seiner Soziosophie keine geringere Aufgabe, als die antisoziale Sprengkraft des männlichen Geschlechtstriebs in soziale Bindungskraft zu verwandeln. Was Bergmann als Muttergeist beschwört, umfasst ein symbolisches Arsenal von Weiblichkeit, das gegenüber dem als zerstörerisch dramatisierten männlichen Prinzip in Stellung gebracht wird: dem männlichen Geist wird die »Seele«, dem männlichen Sexualtrieb der »Sozialtrieb« entgegengesetzt. Gerade weil der weibliche Sexualtrieb im Vergleich zum männlichen reduziert sei, müsse das weibliche als das soziale Geschlecht par excellence gelten. Statt des egoistischen männlichen Triebs eigne ihm ein auf Arterhalt gerichteter Sozial- und »Muttertrieb«. Unterstellt wird dabei, dass die sexuellen Triebkräfte des weiblichen Geschlechts, gerade weil sie auf Mutterschaft ausgerichtet sind und dann weitgehend »erlöschen«, im Dienste des Arterhalts stehen und zugleich als sozial integrierende Kraft wirksam sind. In ihrem Eintreten für eine Neukanalisierung sexueller Energien positioniert sich Bergmanns Soziosophie deutlich als Gegenprogramm zur Psychoanalyse. Dies zeigt sich an wiederholten Angriffen auf Sigmund Freud und Hans Blüher, den Programmatiker des »Männerbunds«.24 Beide stehen für Bergmann in der Tradition einer fehlgeleiteten platonischen Feier des männlichen Erkenntnisgeistes, die geschichtsphilosophisch mit »Rom« verbunden und damit zum Symbol der Dekadenz wird. In untrennbarer Verbindung mit einer Abirrung des männlichen Sexualtriebs steht »Rom« nicht nur für kulturellen, sondern auch bevölkerungspolitischen Niedergang: »Die Knabenliebe ist der Malthusianismus der Antike.«25 Ein vergleichbar schädlicher Einfluss sei auch in der Gegenwart zu beobachten, wenn »gewisse Sexualärzte Freudscher Observanz« vorhätten, uns die Segnungen dieses Zeitalters wiederzubringen. Psychoanalyse und Sexualwissenschaften bedeuten für Bergmann die 23 Vgl. ebd., S. 308. 24 Vgl. zu Hans Blühers konkurrierender Sozialutopie den Beitrag von Claudia Bruns in diesem Band. 25 »Der frauenmüde Mann war der Untergang des römischen Kaiserreichs. In ganzen Städten brach diese merkwürdige ›klassische Pest‹ aus, im Stadion, in den Thermen, auf der Agora, überall in Griechenland und Rom war es der halbreife Jüngling, dem die Blicke Tausender nachfolgten. Die Knabenliebe ist der Malthusianismus der Antike. Rasend schnell sank die Geburtenziffer. Kein Wunder: es wurde in den Wind gezeugt von den Männern unter sich. Der männliche Samen weht aber nicht wie der Pollen der Pflanze, den der Wind auf den Fruchtknoten trägt. So blieben ganze Legionen ungeboren, die den Cäsaren fehlten, als der Ansturm der Goten begann.« E. Bergmann: Erkenntnisgeist, S. 286.
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Freisetzung eines Unbewussten, das eine Gefahr für den Staatskörper bedeutet – nicht zuletzt deshalb, weil sie homoerotische Energien entfesselt. Damit wird die Psychoanalyse als verabscheute Gegenspielerin seiner »Soziosophie der Geschlechter« erkennbar, die es auf Aktivierung eines anders gearteten, nämlich ›arteigenen‹ Unbewussten anlegt. Anstatt das Geschlechtsleben auf biologische Abwege zu führen, muss es in Richtung Arterhalt kanalisiert werden.
Mutter und Drohne: Biopolitik der Geschlechter i m Sp i e g e l d e s » B i e n e n s ta a ts « Neben Exkursionen in die griechisch-römische Geschichte, die Mythologie und Religionsgeschichte stützt sich Bergmanns Buch »Erkenntnisgeist und Muttergeist« ausgiebig auf ›tiersoziologisches‹ Wissen, das in matriarchatstheoretischer Richtung perspektiviert wird. Das lustvoll ausgebreitete Material aus der sozialen Welt der Tiere bestätigt es eins ums andere Mal: das Männliche steht für Konkurrenz, Egoismus, solitäre und unsoziale Daseinsformen, während das Grundelement des Weiblichen die Gemeinschaftsbildung ist.26 Paradigmatisch zeigt sich dies am Bienenstaat, der in seiner »Soziosophie der Geschlechter« nahezu die Qualität eines Leitmotivs annimmt. Dieser Rückgriff ist nichts Ungewöhnliches. Als Musterbild einer Sozialform, die sich in vollstem Einklang mit den Naturgesetzen zu befinden scheint, tauchen diese tierischen Gesellschaften in Diskursen um gesellschaftliche Reformen seit dem 19. Jahrhundert regelmäßig auf und entfalten ihre Orientierungsfunktion insbesondere in einem Kontext, in dem verstärkt nach den ›Naturgesetzen‹ des Sozialen gesucht wird. Schwer taten sich die Interpreten allerdings mit der Geschlechterordnung dieser Gebilde, die sich um eine Mutter, die »Bienenkönigin«, zentrieren und folgerichtig als matriarchale Gesellschaften gedeutet wurden. Anders als im 19. Jahrhundert üblich, setzt der vermeintlich matriarchale Charakter des Bienenstaats bei Bergmann allerdings keine Abwehr- sondern eine Aneignungsdynamik in Gang. In losem Anschluss an Bachofens Studie »Mutterrecht und Urreligion« werden Insekten- wie Menschengesellschaften in ein gemein26 Bergmann kann unzählige Beispiele anführen: Zahlreiche soziale Formationen des Tierreichs wie die Herden der Elefanten, Wale und Fischotter u.a. bestünden ausschließlich aus Weibchen. Die natürliche Lebensform des männlichen Tieres sei dagegen nicht der soziale Verband, sondern das Einzelgängertum. »In den sogenannten Junggesellenrudeln, die bei Seelöwen und Guanakos vorkommen sollen, herrscht, wie stets bei Männern, ununterbrochener Streit.« Interessanterweise fügt Bergmann eine Kritik an der zeitgenössischen Tiersoziologie hinzu, die, »etwas naiv, vom Standpunkt des männlichen Herrengeschlechts aus die Sozietät betrachtet und bewertet.« E. Bergmann: Erkenntnisgeist, S. 348.
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sames geschichtsphilosophisches Narrativ eingebettet: eine große Erzählung vom konflikthaften Übergang der matriarchalen in die patriarchale Gesellschaftsform. War der Bienenstaat bei Bachofen ein eher beiläufig erwähntes Symbol, in dem er gleichwohl die »höchste« Ausprägung des Matriarchats erkannte, so wird er bei Bergmann zum integralen Teil einer Natur- und Gesellschaftsentwicklungen gleichermaßen durchziehenden Geschichte des Matriarchats.27 Der Bienenstaat verkörpert das Ideal einer matriarchalen Gesellschaft, die vollständig auf die Gesetze der Arterhaltung gegründet ist. Er stellt eine natürliche Sozialform vor Augen, die um eine Mutter, die Königin, organisiert ist. Sämtliche Arbeiten des Stocks werden von den Arbeitsbienen (prinzipiell befruchtungsfähigen Weibchen, die sich jedoch dauerhaft im Zustand der Unfruchtbarkeit befinden) erledigt, während die männlichen Drohnen in ihrer lediglich temporären Anwesenheit und sozialen Inaktivität eine äußerst untergeordnete Rolle spielen. Die Bienenkönigin ist für Bergmann »Staat gewordene Mutter«, der Bienenstaat ein Staatswesen, das ganz aus den Eierstöcken der Mutter »hervorquillt«.28 »Eine Mutterfamilie ist die Biene, eigentlich also gar kein Staat, sondern ein sozial gegliedertes Mutterindividuum, ein Muttervolk. Einen Vater kennt die Bienenfamilie überhaupt nicht, nur eine Mutter, der sie mit der innigsten Liebe anhängt. Stirbt die Mutter, so lösen sich alle sozialen Bande im Staat. Die Bienen arbeiten nicht mehr, sie plündern die Honigvorräte, verschleudern, was sie gesammelt, zerstören wie im Wahnsinn ihre eigene Arbeit, zerstreuen sich und verhungern. Der Stock geht zugrunde. Nur die gebärende Mutter hielt sie zusammen, ihr Dasein, ihre Gegenwart verpflichtete sie, alle ihre sozialen Tugenden zu entfalten, die Brut zu pflegen, Futter zu sammeln, für die Zukunft zu sorgen. Nur wo geboren wird, scheint die Biene zu sagen, ist Staat, Leben, Tat, Glaube, Freudigkeit und Kraft, Gemeindrang, Brüderlichkeit, sozialer Einheitswille. Wo die Mutter nicht ist, ist auch kein Staat möglich.«29
Dass der Bienenstaat ein Modell für die gewünschte Verschmelzung von Mütterlichkeit und Gemeinschaft – man könnte auch sagen: für die Ausweitung des weiblichen Körpers zum Kollektivkörper – liefert, mag einleuchten. Was 27 »Alle hier hervorgehobenen Züge [gemeint sind die der mutterrechtlichen Gesellschaft, E.J.] kehren in dem Bienenstaate wieder. Wir dürfen auf diesen um so mehr verweisen, als das Vorbild der Biene auch von den Alten vielfältig angeführt wird und in der Entwicklung des Menschengeschlechts eine hohe Stellung einnimmt… Das Bienenleben zeigt uns die Gynaikokratie in ihrer klarsten und reinsten Gestalt. […] Daher erscheint nun die Biene mit Recht als Darstellung der weiblichen Naturpotenz […].« J.J. Bachofen: Mutterrecht und Urreligion, S. 168. 28 E. Bergmann: Erkenntnisgeist, S. 390f. 29 Ebd., S. 323.
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aber prädestiniert den Bienenstaat als Musterbeispiel für »Brüderlichkeit«? Dies scheint mit den biologischen Befunden nicht ohne weiteres vereinbar – stehen doch gerade die Drohnen aus Bergmanns Sicht für die biologische Nachrangigkeit des männlichen Geschlechts und dessen grundsätzlich ›asozialen‹ Wesenszug. In den Insektengesellschaften als den höchsten Formen »sozialer Kunstwerke« erweise sich, so Bergmann, die »Dezimierungstendenz der Natur, die sich mit aller Deutlichkeit gegen das sexuellere der beiden Geschlechter, das männliche richtet«.30 Während das weibliche Geschlecht bei vielen Pflanzen und Tieren auch »parthenogenetisch« zeugungsfähig ist, habe der männliche Same die eng umgrenzte Bestimmung, eine sekundäre, sexuelle Weise der Fortpflanzung zu ermöglichen. Dies macht für Bergmann eine geradezu metaphysische Korrektur nötig: Der männliche Same ist gerade nicht, wie Aristoteles wollte, der erste Lebendigmacher, sondern »nur eine späte Nachgeburt der Ewigen Mutter«.31 In Bergmanns metaphysischer Parallelisierung von Natur- und Menschheitsgeschichte ist er ebenso nachrangig wie der »Erkenntnisgeist« gegenüber den »Muttergeist«. Gilt dieser Grundsatz nun auch für die biologischen Gesetze des Staates, der in seiner bisherigen Form nach Bergmann ja Produkt des männlichen Erkenntnisgeistes ist? Hier gerät seine Argumentation in Spannung zur erwähnten hegemonialen Linie der NS-Staatsmythologie. Handfest werden die Differenzen etwa, wenn Sparta, emphatisch besetztes Vorbild des NS-Staates, zum Matriarchat erklärt wird.32 In einem Aufsatz für das »Deutsche Ärzteblatt« mit dem Titel »Die Deutung des nationalsozialistischen Gedankens aus dem Geiste des Mutterrechts« hat der Autor die zentralen Thesen seiner »Soziosophie« in eine ebenso kondensierte wie biopolitisch radikalisierte Form gebracht.33 Fällt bereits in »Erkenntnisgeist und Muttergeist« einige Male der Verweis auf »Sparta«, so entwickelt Bergmann in diesem Aufsatz gewissermaßen das eugenische Gesicht seiner Vorstellung eines mütterlichen Staatswesens. »Man vergleiche doch nur das ernste und strenge, mutterrechtlich regierte Sparta des Lykurgos, das bewusst Eugenik trieb wie alle Mutterrechtsstaaten (auch die Amazonenstaaten), mit dem verweichlichten und lasterhaften, männerrechtlich regierten 30 Ebd., S. 69. 31 Ebd., S. 348. 32 Für die hegemoniale Fraktion um Rosenberg und F.K. Günther war Sparta freilich gerade kein Matriarchat, sondern ein »Männerbund«. Vgl. zu diesen Auseinandersetzungen den Aufsatz von Ina Schmidt: »Die Matriarchats-PatriarchatsGeschlechterdiskussion unter NationalsozialistInnen in der Weimarer Republik und NS-Zeit«, in: Ilse Korotin/Barbara Serloth (Hg.), Gebrochene Kontinuitäten? Zur Rolle und Bedeutung des Geschlechterverhältnisses in der Entwicklung des Nationalsozialismus, Innsbruck: StudienVerlag 2000, S. 91-127. 33 Ernst Bergmann: »Die Deutung des nationalsozialistischen Gedankens aus dem Geiste des Mutterrechts«, in: Deutsches Ärzteblatt 64/1 (1934), S. 35-37.
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Athen, in dem Päderastie und der philosophische Intellektualismus blühten [und das] seine hohe geistige und künstlerische Kultur mit seinem bald erfolgenden politi34 schen Zusammenbruch bezahlte«.
In Bergmanns Matriarchatsutopie wird die Mutter zum Symbol biopolitischer Staatsorganisation – und in dieser Utopie fusionieren kulturgeschichtliche (»Sparta«) und naturgeschichtliche Sozialformen (»Bienenstaat«). Die aus einer solchen Überblendung gewonnene politische Soziosophie ruft dabei keineswegs ein beschauliches, rückwärtsgewandtes Konzept von Gemeinschaft auf. Vielmehr verbirgt sich darin ein radikal modernes sozialtechnologisches Programm, das der künftigen Umgestaltung des Volkskörpers zugrunde gelegt werden soll. Die Naturgesetze zu beherzigen, auf die sich der Bienenstaat gründet, hieße die konsequente Umsetzung eines Züchtungsprogramms, in dem das Leben jedes Einzelnen an seiner Nützlichkeit für das Ganze bemessen wird. Bergmanns utopisches Staatswesen trägt damit alle wesentlichen Züge dessen, was Michel Foucault als »Bio-Macht« bezeichnet hat.35 Seinem matriarchalen Charakter entsprechend liegt die Macht, »leben zu ›machen‹ und sterben zu ›lassen‹«,36 in der Hand – oder besser: im »Herzen« – der Mutter. »Denn das Mutterherz ist es, welches zuerst und am heißesten blutet beim Anblick lebensunwerten Lebens.«37 Würde ein solches »Herz« im deutschen Volkskörper schlagen, wäre dieser durchdrungen vom Geist der Eugenik. Mutter Staat ist ein sozialer Körper, der sich als biopolitische Vollzugsinstanz begreift. Auf einen solchen zugleich mütterlichen und eugenischen Geist gründet sich nach Bergmann sowohl der Bienenstaat wie auch das Erfolgsmodell »Sparta«. Weil sie um die negativen Einflüsse eines männlichen Übergewichts im Staat wussten, hätten die Mütter Spartas gezielt darauf gesetzt, »das Ausbrechen der Drohnenbrütigkeit durch Aussetzen aller schwächlichen Knaben nach der Geburt« zu verhindern.38 Wo nämlich das Gesetz mütterlicher Herrschaft außer Kraft gesetzt ist, zerfällt der Staatskörper, und es entsteht »männliche Faulbrut«.39 An der Fähigkeit, das asoziale Element des Männlichen überhaupt in den sozialen Körper zu integrieren, erweist sich somit die Gesundheit eines Gemeinwesens.
34 Ebd., S. 35f. 35 Vgl. Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 276ff. sowie Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, insbesondere S. 166-168. 36 M. Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, S. 278. 37 E. Bergmann: Die Deutung des nationalsozialistischen Gedankens, S. 36. 38 E. Bergmann: Erkenntnisgeist, S. 326. Der Ausdruck »Drohnenbrütigkeit« stammt aus der Imkersprache und bezeichnet einen kranken Bienenstock, der anstelle arbeitsfähiger weiblicher Bienen nurmehr Drohnen produziert. 39 E. Bergmann: Die Deutung des nationalsozialistischen Gedankens, S. 36.
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Spätestens in dieser kondensierten Fassung wird erkennbar, dass die von Bergmann imaginierte Weiblichkeit auch die »grausame Mutter« impliziert und gerade diese als Idealbild eines neuen biopolitischen Geistes bejaht. Was er als »mütterliche« Weiblichkeit und als Organisationsprinzip des Staates bestimmt, erweist sich damit keineswegs als warmes, seelenvolles Gegenprinzip zur kalten männlichen Vernunft, sondern als amoralische und grausame Natur, die das von ihr gespendete Leben den Gesetzen der natural selection unterwirft. Vorbild für eine solche, von christlichen Werten der Barmherzigkeit befreite Mütterlichkeit bieten ihm neben den Müttern Spartas die Tiermütter, die ihre Brutpflege entsprechend den Überlebenschancen ihrer Nachkommen ausrichten und sich nicht scheuen, schwächliche Kinder ohne jeden moralischen Skrupel ›sterben zu lassen‹. Diese biopolitischen Grundsätze richten sich in besonderer Weise gegen das männliche Geschlecht. Die gezielt hergestellten Resonanzen zwischen den Sozialmodellen »Sparta« und »Bienenstaat« sollen der – zum Teil mit polemischer Schärfe vorgetragenen – These von dessen biologischer Nachrangigkeit Nachdruck verleihen. Der »Mutterechtsstaat« dulde keine Drohnen, er würde »kaltlächelnd arbeitsfähige Männer, die nicht arbeiten wollen, verhungern lassen«.40 In eine Züchtungsvision für menschliche Gesellschaften überführt, stehen die Figuren der Drohne und der Bienenkönigin als Chiffren für einen differenziellen Zwang, dem die Geschlechter zum Wohle nationaler Biopolitik ausgesetzt werden müssten: Gebärzwang für die einen, Arbeitszwang für die anderen. Wenn also der Bienenstaat als eine Sozialform präsentiert wird, in der das Ideal der »Brüderlichkeit« realisierbar wird, dann erweist sich an diesem Punkt die eigentliche Funktionalität der Bergmann’schen Matriarchatssymbolik: Zum einen meint Matriarchat ein gesellschaftliches Organisationsprinzip geschlechtlicher Arbeitsteilung, das auf der Komplementarität der Geschlechter aufbaut und diese wieder in ein ›natürliches‹ Gleichgewicht bringen will; zum andern eine symbolische Ordnung staatlicher »Mütterlichkeit«, die für die biopolitische Organisation der Fortpflanzung steht. Die Mütter, auf die Bergmanns Sozialutopie setzt, sind Garantinnen der Arterhaltung und als solche bereits keine individuierten Frauen mehr, sondern Figurationen einer zur staatlichen Institution erhobenen symbolischen Weiblichkeit. Dieser kommt die Aufgabe zu, als biopolitische Instanz über den männlichen Beitrag zum Staatsleben zu befinden und davon auch das Lebensrecht potenzieller männli40 E. Bergmann: Erkenntnisgeist, S. 406. Bergmanns anhand des Bienenstaats entwickelte Biopolitik der Geschlechter richtet sich zum einen gegen potenzielle männliche »Drohnen«, zum andern gegen Frauen, die ein soziales Schmarotzerleben ohne Mutterschaft führen wollen: »Im idealen Staat dürfte eine Frau, die nicht Mutter werden will, keine wie immer geartete Entschuldigung haben«; man müsse sie als »unehrenhaft« brandmarken, notfalls aber auch »zwangsweise begatten«. Ebd., S. 403f.
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cher »Drohnen« abhängig zu machen. Auf der anderen Seite stellt Mütterlichkeit als Kollektivsymbol die Hoffnung in Aussicht, das von Natur aus asoziale männliche Geschlecht in Söhne und damit auch wirklich in Brüder zu verwandeln.41 Wie schon in Bachofens Imagination menschlicher Urgesellschaften wird die Mütterlichkeit des Kollektivkörpers für Bergmann zur unabdingbaren Voraussetzung von Brüderlichkeit – Chiffre einer Männlichkeit, die genau deshalb »sozial« geworden ist, weil sie an den weiblichen Schoß rückgebunden ist.
B e r g m a n n s p o l i t i s c h e M ys t i k Bergmanns umfangreiche Publikationsaktivitäten der 1930er Jahre stehen im Zeichen der Sondierung des weltanschaulichen Materials, das dem deutschen Volk bei seiner »Wiederaufartung« dienlich sein könnte. Einem solchen Zweck der Sortierung von »arteigenen« und »undeutschen« Elementen der Philosophie, Mythologie und Religion hatte sich in den 1920er Jahren die sogenannte deutschreligiöse Bewegung verschrieben, der auch Bergmann angehörte.42 Zur spirituellen Fundierung des Deutschtums schlägt Bergmann das Programm einer »Natürlichen Geistlehre«43 vor, das zugleich die Grundlage einer säkularen Kirche, einer »Deutschreligion« bilden soll. Zieht man Bergmanns Werke aus diesem Themenfeld hinzu, eröffnet sich eine weitere Quelle, aus der seine Vorstellung des Unbewussten generiert ist: die mystische Erfahrung. In der Tiefendimension nämlich, die der mystischen Erfahrung eigen sei, müsse das »Auge des Erkennens« eingezogen werden »wie ein Periskop«, um im »Dämmerlicht des Halbbewußten […] von den Urformen des beseelten Lebens« getragen zu werden. Der wahre Bestimmungsort des männlichen Erkenntnisgeistes ist somit das Unbewusste. Vor diesem Hintergrund erschließt sich die Engführung von Erkenntnisgeist und Sexualtrieb noch von einer anderen Seite: als eine zugleich biologistische wie spirituelle Metaphysik der Geschlechter. Im Grunde – und das ist der Kern seiner biologisierten Lesart der unio mystica – hätten die deutschen Mystiker in ihrer häretischen Auffassung von der Gottsuche der Seele eine zutiefst
41 Zu diesem Prinzip einer unter dem Zeichen von Brüderlichkeit stehenden »symbolischen Geburt« als Grundelement zahlreicher politischer Gründungsmythen vgl. Albrecht Koschorke et al: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt/Main: Fischer, S. 280ff. 42 Vgl. u.a. Ernst Bergmann/Carl Peter: Was will die Gemeinschaft Deutsche Volksreligion? Leipzig: Peter 1939, sowie Ernst Bergmann: Über die Gründung deutschreligiöser Fakultäten, Leipzig: Peter 1940. 43 Ernst Bergmann: Die natürliche Geistlehre. System einer deutsch-nordischen Weltsinndeutung, Stuttgart: Truckenmüller 1937.
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biologische Wahrheit formuliert: »Alles Lebendige ist sexuell.«44 Dies gelte besonders von der »männlichen Seele«. Gerade die Mystik liefere hierfür den Beweis, etwa wenn Heinrich Seuse von Gott als einem »dunklen Schoß« spreche, in den sich die männliche Seele versenken kann. »Hierbei kommt natürlicherweise der Seele oder dem Geist männliche Geschlechtsqualität zu, er ist suchend, erobernd und eindringend. Gott aber weibliche, er ist harrend, sich auftuend und empfangend. Alles mystische Erleben ist eine Sublimierung sexueller Urerfahrungen ins Religiöse.«45 Der männliche Erkenntnisgeist strebe letztlich, so lautet die These nun, nach Selbstauflösung bzw., wie Bergmann in Anlehnung an Meister Eckart formuliert, einer »Entsinkung ins Weiselose«.46 In Vollbesitz seiner Zeugungskräfte gelange die »männliche Naturpotenz« nur, wenn sie ihre Geistesund Bewusstseinsfunktionen auslösche.47 Während in der »Soziosophie« eine zerstörerische, negative Teleologie des männlichen Erkenntnisgeistes im Vordergrund steht, ergibt sich durch den Rückgriff auf die Mystik, der Bergmanns deutschreligiöse Texte (neben den üblichen Bezugnahmen auf die »nordische« Mythologie) bestimmt, ein anderes Bild: Das Postulat einer grundlegenden mystischen Disposition des Männlichen erlaubt die Verschiebung des sexuellen in ein spirituelles telos – man könnte sagen: von Penetration nach Versenkung –, und diese doppelte Zielbestimmung erlaubt Bergmann die Synthetisierung eines biologisch-spirituellen »Naturgesetzes«. Damit liefert gerade der Rekurs auf die Mystik durch die Ineinssetzung von Erkenntnissuche und Sexualtrieb eine universal einsetzbare Bewegungsfigur, in der sich der männliche Geist nicht nur als biologisches primum movens, sondern auch als Motor sowohl der Wissensproduktion wie der religiösen Erfahrung beweist.48 Auch wenn der dem männlichen Geschlecht eigene »faustische Erkenntnisdrang« mitunter tragische Züge besitzt, so steht diese Feier des schöpferischen männlichen Erkenntnisgeistes doch in deutlichem Gegensatz zum pessimistischen Duktus der »Soziosophie«. Was dort als Keimzelle der (Selbst-)Zerstörung patriarchaler Gesellschaften inszeniert wurde, lässt sich mithilfe der Mystik produktiv wenden. Ob der männliche Same in seiner ewigen Suche nach Verschmelzung mit dem Weiblichen nach Selbstauflösung strebt oder der männliche Erkenntnisgeist in der unio mystica auf seine Selbstauslöschung abzielt – überall ist es das männliche Prinzip, das zum Träger eines einheitlichen, biologisch-spirituellen Bewegungsgesetzes gemacht wird. Das »Weiblich-Mütterliche« ist hingegen der stets gesuchte, 44 Ebd., S. 152. 45 Ebd., S. 125. 46 Ernst Bergmann: Die Entsinkung ins Weiselose. Seelengeschichte eines modernen Mystikers, Breslau: Ferdinand Hirt 1932. 47 Ebd., S. 144. 48 Wiederholt formuliert Bergmann die These, dass ausschließlich das männliche Geschlecht zu mystischer Erfahrung in der Lage sei.
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selbst aber statisch-passive Schoß, der ›unerweckt‹ bliebe, sofern er nicht durch den »Lebendigmacher des Göttlichen«, den männlichen Samen, befruchtet würde.49 Die Einbettung in den Diskurs der Mystik ermöglicht es Bergmann, als Wahrheit zu formulieren, was er in »Erkenntnisgeist und Muttergeist« gerade zum androkratischen Mythos erklärt hatte. Nicht länger ein unbedeutendes Derivat der ewig zeugungsfähigen Matrix, wird der Same nun doch zum eigentlichen Motor der Lebensprozesse. Ohne seine wenn auch tragischen Suchbewegungen, die nach wie vor untrennbar mit denen des männlichen Erkenntnisgeistes verbunden bleiben, käme der ewige Kreislauf des Lebens nicht in Gang. Man könnte auch sagen: es gäbe keine Geschichte. Da das weibliche Geschlecht niemals selbst »Geschichte, Weltanschauung und Staat machen« werde,50 bleibt es damit letztlich die nahezu titanische Aufgabe des männlichen Erkenntnisgeistes, seine eigene Dominanz abzuschaffen und sich im »Geiste« des Mutterrechts umzugestalten. Der irritierende Zug, der von der konsequenten Engführung von Sexual- und Erkenntnisgeist und ihrer gemeinsamen Verstrickung in eine Teleologie der Destruktivität ausging, löst sich damit zum Positiven auf. Bergmanns Geschlechtermythologie schwenkt schließlich ein in die klassisch aristotelische Dialektik von männlichem Samen und weiblicher Matrix. Was hat dies jedoch noch mit dem Unbewussten des Staates zu tun, dessen bio-politische Mobilisierung das Kernziel seiner »Soziosophie« darstellte? Es ließe sich die These vertreten, dass Bergmanns »Deutschreligion« der christlichen Kirche ihre alma mater streitig macht und für den Körper der Nation zu reklamieren beabsichtigt. Insofern lässt sie sich in die Tradition »politischer Religionen« im Sinne Eric Voegelins stellen.51 Als »innerweltlicher« Abkömmling der christlichen ekklesia zeichnet sich Bergmanns Staat in der Tat dadurch aus, dass er nicht mehr »sakral von der obersten Quelle her durchströmt, sondern […] selbst ursprüngliche sakrale Substanz geworden« ist.52 In diesem Sinne tritt nicht einfach ein neues ›Haupt‹ an die Stelle Christi. Worauf es Bergmanns Soziosophie anlegt, ist eine Wiederbelebung des sozialen Körpers durch ein neues »Pneuma« – und dieses ist nichts anderes als der »Muttergeist«, den das Christentum bisher so sträflich verachtet habe. In Gestalt der Kirche selbst habe das Christentum hierfür ein »Surrogat« geschaffen, eine »übernatürliche fiktive Mutterschaft«. Zu seiner »wahren und wirklichen Mutter, der Volksgemeinschaft« führe diese den Menschen
49 E. Bergmann: Entsinkung, S. 135. 50 E. Bergmann: Erkenntnisgeist, S. 131. 51 Eric Voegelin: Die politischen Religionen. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Peter J. Opitz, München: Fink 1996. 52 E. Voegelin, Politische Religionen, S. 49.
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jedoch nicht.53 Eher habe sie deren Erneuerungsfähigkeit noch blockiert, indem sie den Menschen in lebenshemmende Schuldkomplexe verstrickt habe (»Erbsündenbolschewismus«). In diesem Vakuum soll sich nun der von ihm imaginierte mütterliche Staat ansiedeln. Bergmanns Deutschreligion ist insofern politische Theologie, als sie die im Geiste der deutschen Mystik als »Schoß« imaginierte Gottheit in die symbolische Matrix des Staates überführt. Sofern der Staat also selbst ein mütterlicher Schoß ist, kann er sowohl den mystischen wie den sexuellen Vereinigungswünschen seiner männlichen Mitglieder entgegenkommen. Die der Mystik entnommene Figur der »Entsinkung ins Weiselose« wird einer Versenkung in den mystischen Grund der Sozialität analogisiert. Auf diese Weise entsteht eine symbolische Geschlechterdynamik, die nach Art eines Naturgesetzes als Grundlage für eine spirituelle wie politische Neuorganisation von Gesellschaft und Wissenschaften dienen kann. Als mütterlicher Schoß, in den sich der männliche Same »ergießt«, kann der Staat dabei selbst als ein neues telos fungieren. Versenkung, Verschmelzung, »Entichlichung« oder Selbstopfer – gerade der als weiblich-mütterlich imaginierte Staat kann einem doppelten Drang nach Erkenntnis wie nach Selbstauflösung entsprechen, der nach Bergmann das männliche Geschlecht auszeichnet. Darin liegt die von ihm entwickelte Lösung, um den grundlegend asozialen Trieb des Männlichen letztlich doch für die Gemeinschaftsbildung ›fruchtbar‹ zu machen. Was Bergmanns Soziosophie dem männlichen Geschlecht also in Aussicht stellt, ist die Erlösung aus einer Krise der Männlichkeit,54 die im mütterlichen Schoß des Staates aufgeht und seine Erfüllung in einem höheren Zweck findet.
53 Ernst Bergmann: Die deutsche Nationalkirche, Breslau: Ferdinand Hirt 1933, S. 188. 54 Vgl. zu diesem Themenkomplex auch den Sammelband von Sven Glawion/ Elahe Haschemi Yekani/Jana Husmann-Kastein (Hg.): Erlöser. Figurationen männlicher Hegemonie, Bielefeld: transcript 2007.
Ödipus Schw arz/Weiß. Der ›Rape-L yn ching-Komplex‹ als soziale Pathologie GABRIELE DIETZE
Die Psychoanalyse ist neben vielem anderen ein Aufschreibesystem von psychischer Normalisierung und Vergeschlechtlichung. Psychoanalytische Modelle erwiesen sich auch in Feldern produktiv, wo man von sozialen Pathologien im Spannungsfeld von Begehren und Macht sprechen kann, zum Beispiel bei Phänomenen des Rassismus, insbesondere des Antisemitismus.1 Weniger Aufmerksamkeit dagegen erhielt im diskursiven Feld der Psychoanalyse ein spezifischer Rassismus gegenüber Menschen mit dunkler Hautfarbe, der sich im Zuge des Kolonialismus und der vergleichenden Anthropologie entwickelt hat.2 Doch erst mit der theoretischen Intervention eines Außenseiters wie dem afrokaribischen Psychiater und Lacan-Schüler Frantz Fanon, wurde eine Verbindung zwischen Psychoanalyse und dem ›racial epidemal schema‹, wie
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Siehe Analysen zur prä-faschistischen Persönlichkeitsstruktur wie zum ›autoritären Charakter‹ von Max Horkheimer, dem gepanzerten soldatischen Mann von Klaus Theweleit, Studien zur Massenpsychologie des Faschismus von Wilhelm Reich und postfaschistische Verarbeitungsprobleme der deutschen kollektiven Psyche von Alexander und Margarete Mitscherlich. Wilhelm Reich: Die Massenpsychologie des Faschismus [1933]. Erweiterte und revidierte Fassung, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1971. Max Horkheimer: Autorität und Familie [1936], in: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Schriften 1931-1936, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988. Alexander Mitscherlich/Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, Frankfurt/Main: Fischer 1967. Klaus Theweleit: Männerphantasien 1+2, Frankfurt/Main: Roter Stern 1977/78. Von einem auf die Hautfarbe fixierten ›Rassismus‹ kann man im eigentlichen Sinn erst ab dem 17. Jahrhundert sprechen. Vgl. Ivan Hannaford: Race: The History of an Idea in the West, Washington: Woodrow Wilson Center Press 1996, S. 147-149.
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Fanon das Ressentiment gegen die Hautfarbe Schwarz nannte, hergestellt, um das Verdrängte, unbewusst Gemachte aufzudecken.3 Der Mainstream einer mehrheitlich ›weißen‹ Psychoanalyse dagegen hat sich diesem Problem auch dann noch entzogen, als es sich unmittelbar vor der Haustür ereignete. Eine sozialdarwinistisch rassisierende Vorstellung von ›Blackness‹ hat der US-amerikanischen Psychoanalyse lange den Blick auf die psychoanalytische Dimension des sozialen Skandals des Lynching verstellt: Letzteres ging fast immer mit einer Kastrationsdrohung und der falschen Unterstellung, eine weiße Frau sei vergewaltigt worden, einher.4 Wie eine lange Tradition afroamerikanischer Literatur von Richard Wright über James Baldwin und Ralph Ellison zeigt, war es für schwarze Männer immer unmittelbar einsichtig, dass sie kollektiv mit Kastration bedroht wurden, um weiße Frauen für sie unerreichbar zu machen. Ein erst in jüngerer Zeit adressierter struktureller Ethno- und Eurozentrismus der Psychoanalyse ermöglichte es dann psychoanalytisch inspirierten TheoretikerInnen die rassismuskritische Potenz ihrer Analyseinstrumente zu erkennen.5 Im Folgenden soll eine Phänomenologie von Lynching versucht werden, die die verstreuten Bausteine einer sowohl psychoanalytischen wie psychosozialen Theorie desselben zusammensetzt. Ebenso wie sich im Ödipuskomplex Macht und Begehren in der triadischen Beziehung Vater, Mutter, Kind unbewusst entfalten, so ist auch die Kastrationsdrohung des Lynching mit zwei weiteren Agenturen im kollektiven Unbewussten verknüpft, nämlich der weißen Frau, der ein angebliches Begehren gilt, und dem weißen Mann, der 3
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Frantz Fanon: Black Skin, White Masks, New York: Grove 1952, S. 112. Eine besondere Stellung nimmt die Ethnopsychoanalyse ein, die bezüglich ›Rasse‹ eine nicht-eurozentristische Position einnahm, deren Erkenntnisgegenstand aber vorstaatliche Kulturen jenseits von Europa waren. Siehe z.B. Paul Parin/Fritz Morgenthaler/Goldy Parin-Matthèy: Die Weißen denken zu viel. Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1963. In der amerikanischen Psychoanalyse findet sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts – also die ganze Periode der relativen sozialen Akzeptanz des Lynching – ein einziger Aufsatz zur Fragestellung: Philip Resnikoff: »A Psychoanalytic Study of Lynching«, in: Psychoanalytical Review 20 (1933), S. 421-427. Zu einer kulturwissenschaftlichen Kritik am Eurozentrismus der Psychoanalyse siehe zuletzt: Gwen Bergner: Taboo Subjects: Race, Sex and Psychonalysis, Minneapolis: University of Minnesota Press 2005 und Jean Walton: Fair Sex, Savage Dreams. Race, Psychoanalysis and Sexual Difference, Durham: Duke University Press 2001. Zu anthropologischer Kritik siehe Celia Brickman: Aboriginal Populations in the Mind: Race and Primitivity in Psychoanalysis, New York: Columbia University Press 2003 und zu interdisziplinären Ansätzen in Psychoanalyse und Sozialpsychologie siehe: Simon Clarke: Social Theory, Psychoanalysis, and Racism, London: Palgrave MacMillan 2003; Gary B. Walls: »Toward a Critical Global Psychoanalysis«, in: Psychoanalytic Dialogues 14/5 (2004), S. 605-634; Robert D. Hinshelwood: »Racism: Being Ideal«, in: Psychoanalytic Therapy 20/2 (2006), S. 84-96.
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es mit Terror zu unterdrücken sucht und dem schwarzen Mann. Lynching wird mit der Figuration Vergewaltigung zusammengefügt, da es unter den Bedingungen weißer Suprematie unmöglich ist, ein Begehren der weißen Frau nach dem schwarzen Mann zu denken.6
1. Miscegenation und Inzest Ein europäischer Zusammenhang von Vergewaltigung und Lynching wird sichtbar in Christina von Brauns Überlegungen zum Wort ›Blutschande‹. In diesem problematischen Begriff sieht sie Inzest (Liebe zwischen Blutsverwandten) und ›Rassenschande‹ (Liebe zwischen Menschen unterschiedlicher Ethnien) zusammengeführt und interpretiert. Von Braun entfaltet das exzessive Auftauchen des Inzestmotivs als ›Blutschande‹ in der Kultur der Jahrhundertwende als die Nachtseite eines antisemitischen Ausgrenzungsprozesses, der im Nationalsozialismus seinen mörderischen Höhepunkt erlebt.7 Würde das Wort ›Blutschande‹ in dieser Dimension auf die USA übertragen, müsste man es mit ›miscegenation‹ übersetzen. Über ein Wörterbuch lässt sich die Verbindung nicht herstellen. Langenscheidt übersetzt Blutschande mit ›incestuous‹, lässt also die Race-Konnotation weg, und ›miscegenation‹ wird umgekehrt mit ›Rassenvermischung‹ ins Deutsche übersetzt, was damit keinen Beiklang von Inzest hat. ›Miscegenation‹ als Begriff ist eine amerikanische Wortschöpfung von 1863, die das lateinische ›miscere‹ vom Mischen mit dem Wort ›Genus‹ – im Englischen neben Geschlecht auch eine frühe Verwendung von ›Rasse‹/Gattung – verbindet. Dieser Neologismus stand in einem klaren politischen Zusammenhang. Die Angst vor Race-Vermischung wurde während des amerikanischen Bürgerkrieges in politischen Kampagnen geschürt, um die Wiederwahl Abraham Lincolns zu verhindern, der die Sklaverei abschaffen wollte.8 Die Literaturwissenschaftlerin Gwen Bergner prägte für den Zusammenhang den Begriff »miscegenation-taboo«.9 6
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Heidi Nast spricht – bezugnehmend auf Fredric Jamesons ›political unconscious‹ – von einer »racist oedipalization«, die den schwarzen Mann unterdrückt inzestuös besetzten Sohn der weißen Familie liest, in: dies., »Mapping the ›Unconscious‹: Racism and the Oedipal Familiy«, in: Annals of the American Geographers 90 (2000), S. 215-255, hier S. 215. Christina von Braun: »Die ›Blutschande‹: Wandlung eines Begriffs: Vom Inzesttabu zu den Rassengesetzen«, in: dies., Die Schamlose Schönheit des Vergangenen. Zum Verhältnis von Geschlecht und Geschichte. Frankfurt/Main: Neue Kritik 1989, S. 81-113. Erfunden wurde das Wort in dem Pamphlet »Miscegenation: The Theory of the Blending of Races, Applied to the American White Man and Negro« (1864) von David Croyle und George Wakeman. Die Autoren unterstellten, dass die Republikanische Partei die Plantagen den ehemaligen Sklaven übergeben und Mischehen befördern wolle. Der Begriff ›miscegenation‹ fand von dort den Weg in
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Eine besondere Schärfe bekam das Miscegenation-Tabu nach dem Bürgerkrieg, als die Trennung zwischen schwarzen und weißen Menschen nicht mehr über die Institution der Sklaverei zementiert war. Erst die Tatsache von nunmehr ›freien‹ Schwarzen rief ein Tabu auf den Plan, das sich auf die imaginierten sexuellen Beziehungen zwischen weißen Frauen und schwarzen Männern fixierte. Ein Tabu ist nach Freud eine soziale Institution zur Verarbeitung starker aber ambivalenter Gefühle. Man verbietet sich damit etwas, was man eigentlich gern tun möchte, was aber für sozial schädlich gehalten wird.10 Eine solche Ambivalenz ist für die amerikanischen Race-Verhältnisse eindeutig. Für weiße Männer war Miscegenation vor (und nach) dem Bürgerkrieg keineswegs ungewöhnlich, aber die Blutsvermischung fand ausschließlich und unter Zwangsbedingungen von oben nach unten statt, d.h. zwischen dem männlichen Sklavenhalter und seinem ›Besitz‹, der Sklavin, unter anderem, um neue Arbeitskräfte zu produzieren. Eine freiwillige Verbindung zwischen einem Sklaven und einer weißen Frau aus der Sklavenhalterkaste war dagegen an der Grenze zur Undenkbarkeit. An dieser Doppelmoral, dem absoluten Verbot für schwarze Männer, sich weißen Frauen zu nähern, und der sexuellen Lizenz für weiße Männer, sich schwarze Frauen zu Willen zu machen, wird deutlich, dass RaceVermischungen keineswegs überzeitlich und transkulturell sanktioniert wurden, sondern dass das Miscegenation-Tabu ein Produkt einer konkreten »racial-sexual« Ordnung ist, die ein patriarchales Privileg und eine vergeschlechtlicht feminine Disziplin vorsieht.11 Gwen Bergner nennt diese Struktur eine »homosoziale, heterosexuelle und koloniale Ökonomie«, die eine RaceHierarchie zwischen Männergruppen errichtet. Oder wie es Frantz Fanon entwickelt, kreiert das kollektive maskuline Unbewusste im Mythos des schwarzen Vergewaltigers sein eigenes abgelehntes und triebgesteuertes Anderes. Das Miscegenation-Tabu konstruiert sich analog zum Inzesttabu, obwohl es eine entgegengesetzte Ausschlussoperation beschreibt. Während das Inzesttabu sexuellen Kontakt innerhalb der Verwandtschafts-Familie verbietet, schließt das Miscegenation-Tabu den sexuellen Kontakt außerhalb der Raceden öffentlichen Diskurs. Zu einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit der Geschichte und Rechtsprechung von Miscegenation vgl. Werner Sollers: Neither Black nor White, Yet Both. Thematic Explorations of Interracial Literature, Cambridge: Harvard University Press 1997, S. 3-16. 9 Gwen Bergner: »Who is that Masked Woman? Or, the Role of Gender in Fanon’s Black Skin, White Mask«, in: PMLA 110/1 (1995), S. 75-89, S. 81. 10 Sigmund Freud: Totem und Tabu [1913], Frankfurt/Main: Fischer 1999b, S. 2692, hier S. 42. 11 Abdul R. JanMohammed: »Sexuality in/of the Racial Border: Foucault, Wright, and the Articulation of ›Racialized Sexuality‹«, in: Domna C. Stanton (Hg.), Discourses on Sexuality: From Aristotle to AIDS, Ann Arbor: Michigan University Press 1992, S. 94-116.
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Familie/Gruppe aus. Es ist sicher kein Zufall, dass dem französischen Anthropologen Claude Lévi-Strauss diese Gleichzeitigkeit von Strukturverwandtschaft und Strukturwiderspruch während seines Exils als jüdischer Emigrant in den Vereinigten Staaten auffiel. Er kannte den Antisemitismus im alten Europa. In den USA machte er persönliche Erfahrungen mit der Obsession seines Gastlandes bezüglich Race-Vermischung. 1949 schreibt er in seinen »Elementaren Strukturen der Verwandtschaft«: »[...] incest proper, and its metaphorical form as the violation of a minor (by someone ›old enough to be her father‹, as the expression goes), even combines in some countries with its direct opposite, inter-racial sexual relations, an extreme form of exogamy, as the two most powerful inducements to horror and collective vengeance.«12
Lévi-Strauss’ Begriffe wie ›Horror‹ und ›kollektive Rache‹ verweisen auf die historisch konkrete soziale Praxis des Lynching in den USA, das häufig mit dem Vorwand, es sei zu einem sexuellen Übergriff auf eine weiße Frau gekommen, legitimiert wird.13 Lévi-Strauss hat an anderer Stelle im selben Buch eine Erklärung für diese Verzahnung von Inzest und Miscegenation in einem strukturverwandten Tabu geliefert. Hier interpretiert Lévi-Strauss Freuds Fassung des Inzesttabus um und schlägt vor, es nicht als Heirats-Verbot innerhalb der Familie, sondern als Exogamie-Gebot aufzufassen, also als eine Struktur, durch die Menschengruppen sich selbst zwingen, außerhalb der Familie zu heiraten, z.B. um Einfluss, Vermögen und Frieden zu sichern. Anders ausgedrückt kann man diese Struktur auch als eine soziale Institution beschreiben, in der Männer mit anderen Männern Kontakt aufnehmen, indem sie Frauen tauschen.14
12 Claude Lévi-Strauss: The Elementary Structures of Kinship, Boston: Beacon Press 1969, S. 10 (Hervorhebung G.D.). 13 Lévi-Strauss arbeitete zu dieser Zeit in der New School of Social Research. Schräg gegenüber befand sich das Gebäude des Bürgerrechtsverbandes NAACP. Dort hing man auf großen Plakaten die jährlichen Lynch-Zahlen aus dem Fenster. 14 Gayle Rubin nahm 1975 das Frauentauschmodell in ihrem Essay »The Traffic in Women« auf, um ein sogenanntes Sex-Gender-System zu analysieren. Gayle Rubin: »The Traffic in Women: Notes on the ›Political Economy‹ of Sex«, in: Rayna Reiter (Hg.), Toward an Anthropology of Women, New York: Monthly Review Press, 1975, S. 157-210. Eine neuere Bezugnahme auf das Frauentauschmodell findet sich in Theorien der Postkolonialität: »[…] they [the dominant culture] deprive subordinate group men not only of the power to circulate women freely and gain material resources but also of the power to disseminate images of ›their‹ women so as to develop their own cultural traditions and resources.« Laura A. Doyle: Bordering on the Body. The Racial Matrix of Modern Fiction and Culture, New York: Oxford University Press 1994, S. 26.
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Überträgt man Lévi-Strauss’ Beobachtung auf die frühen USA oder strukturell ähnlich Race-diskriminierende Kolonialstaaten, fällt auf, dass die angeblich universale Tauschbeziehung in der konkreten Race-Hierarchie nicht gilt. Weiße Männer tauschen mit schwarzen Männern keine Frauen.15 Diese Aussage ist nicht als Behauptung einer anthropologischen Konstante zu verstehen, sondern sie gilt nur unter Bedingungen von Sklaverei, Kolonialismus und bestimmten Situationen der Postkolonialität. Pierre Bourdieu bietet mit seinen Überlegungen zu Maskulinität in »Die männliche Herrschaft« einen Begriff an, der den Kern dieser Struktur beschreiben könnte. Er heißt »Isotimie« – Ehrgleichheit. Am Beispiel einer ethnographischen Studie des nordafrikanischen Gebirgsvolkes der Kabylen entwickelt er, dass ein kabylischer Mann sich nur als vollwertig empfinden kann, wenn er in ernsten, d.h. »kriegerischen Spielen« von anderen Männern als der ›Ehre‹ würdig anerkannt wird.16 Auf die hier entwickelte Fragestellung bezogen heißt das, Männer tauschen nur dann mit anderen Männern Frauen, wenn sie sie für ehrgleich erachten. Koloniale und/oder Gesellschaften mit Sklaverei verweigern kolonisierten und versklavten schwarzen Männern diese Ehrgleichheit. Verbindet sich nach dieser Logik ein schwarzer Mann mit einer weißen Frau, so verkennt er seine Ehr-Ungleichheit und wird hart bestraft. Übersetzt in die amerikanische »racial-sexual«-Ordnung bedeutet das, er wird gelyncht oder mit Lynching bedroht. Für die am Anfang behauptete Verbindung zwischen Inzesttabu und Miscegenation-Tabu mag als Beispiel eine Szene aus dem Roman »The Shadow« (1920) der amerikanischen NAACP-Aktivistin Mary White Ovington gelten, die zur Verhinderung eines Lynching Geschwisterliebe aufruft. Die weiße Heldin, Herta, ist von einer schwarzen Familie aufgezogen worden, später aber in den liberaleren Norden gegangen. Ihre Pflegemutter ist erkrankt und ihr schwarzer Pflege-Bruder will ihr das nächtens in einem Park jenseits des öffentlichen Blickes mitteilen, damit sie in der gesetzlich segregierten Gesellschaft nicht durch das Zusammensein mit einem schwarzen Mann kompromittiert wird. Hertas weißer Verlobter, der seiner Braut heimlich nachgeschlichen ist, sieht eine tröstliche Berührung zwischen den beiden und hetzt einen Lynchmob auf den Jungen. Die verzweifelte Herta kann nur ver15 Gwen Bergner sagt dazu: »In the colonial context, the operative ›law‹ determining the circulation of women among white men and black men is the miscegenation taboo, which ordains that white men have access to black women but that black men be denied access to white women.« Gwen Bergner: »Myth of Masculinity: The Oedipus Complex and Douglass 1845 Narrative«, in: Christopher Lane (Hg.), The Psychoanalysis of Race, Columbia University Press: New York 1998, S. 81. 16 Pierre Bourdieu: »Die männliche Herrschaft«, in: Irene Dölling/Beate Krais (Hg.), Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 153-218, hier S. 204.
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hindern, dass der Gefährte ihrer Jugend aufgehängt wird, indem sie ausruft: »He’s my brother, he has a right to speak to me«.17 Und dann gibt sie ein unwahres Bekenntnis ab, das sie sowohl um die Verlobung wie auch um ihr weißes Privileg bringt: »I am colored«. Die Behauptung einer Verwandtschaft allein würde nicht genügen. Sie muss sich als der weiß/männlichen Ehrverteidigung unwürdig, nämlich als schwarze Frau, inszenieren, um die Bestrafung (Lynching) ihres Pflegebruders abzuwenden, die durch ihre Berührung als weiße Frau fällig gewesen wäre. Ein kanonischer Text feministisch inspirierter psychoanalytischer Theorie, Joan Rivières »Womanliness as a Masquerade« von 1929,18 arbeitet umgekehrt mit der Ersetzung von Inzest durch Überschreiten der ›color line‹ in den USA. Der Gegenstand der Fallstudie ist eine Amerikanerin aus den Südstaaten, wahrscheinlich eine Podiumsrednerin für das Wahlrecht für Frauen. Diese berichtet ihrer Psychoanalytikerin, dass sie nach gelungenen öffentlichen Auftritten ihre Seriosität entwertet, indem sie – praktisch gegen ihren eigenen Willen – ein lächerlich kokettes und hyperfeminines Verhalten an den Tag legt. Rivière nutzt diese Fallgeschichte zu dem Argument, dass ›weibliches‹ Verhalten keine an das biologische Geschlecht geknüpfte Eigenart ist, sondern eine Schutzreaktion, um väterliche Rache, die weibliche Kompetenz erzeugen könnte, zu entschärfen. Dass also Lächeln, Flirt und das Repertoire der Verführung Strategien sind, die dazu dienen sollen, die ›Kastration‹ des Vaters, die über den öffentlichen Eingriff in seine Domäne stattgefunden hat, durch kokette Unterwerfung zu maskieren. In Phantasien der Patientin taucht ein rächender Vater auf, den sie versöhnen möchte, indem sie sich ihm sexuell hingibt. Bislang ist erst zwei Autorinnen dieses in der feministischen Theorie extensiv diskutierten Textes aufgefallen, dass an einem entscheidenden Scharnier der Patientin Race ins Bild kommt.19 Die Patientin berichtet aus ihrer
17 Mary White Ovington: The Shadow, New York: Harcourt Brace 1920. Zitiert nach William Stanley Braithwaite: »The Negro in American Literature« [1925], in: Alain Locke (Hg.), The New Negro, New York: Atheneum 1968, S. 29-45, hier S. 34. 18 Zu großer Bedeutung gelangte der Artikel der amerikanischen Psychoanalytikerin und direkten Freud-Schülerin über eine eher beiläufige Bemerkung, dass es möglicherweise unterhalb einer ›Maskerade‹ von Feminität nichts genuin Weibliches gäbe. In der feministischen Theorie wurde diese Aussage zur Unterstützung einer Konstruktionsthese von Weiblichkeit vielfach aufgenommen. Liane Weissberg (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt/Main: Fischer 1994. Die Maskerade-Theorie legte auch einen der Grundsteine zu Judith Butlers Performativitätstheorie. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1991, S. 80f. 19 Ann Pellegrini: Performance Anxieties. Staging Psychoanalysis, Staging Race, New York: Routledge 1997; Jean Walton: Fair Sex, Savage Dreams. Race, Psychoanalysis and Sexual Difference, Durham: Duke University Press 2001.
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Vergangenheit von einer weiteren Phantasie, sich einem Angreifer hinzugeben, diesmal ist es aber ein schwarzer Mann. »This fantasy had been very common in her childhood and youth, which had been spent in the Southern States of America; if a negro came to attack her, she planned to defend herself by making him kiss her and make love to her (ultimately so that she could deliver him to justice).«20
Joan Rivière übergeht die Race-Konnotation dieses Traums und interpretiert den schwarzen Mann als unmarkiert universellen Mann, also strukturell als weiß. In der realen Situation würde ein schwarzer Mann, der in den Südstaaten von einer weißen Frau der versuchten Vergewaltigung bezichtigt wird, mit hoher Wahrscheinlichkeit gelyncht werden. Wie bereits erwähnt, wird Lynching mit Kastration verbunden. Im klassischen weißen Ödipuskomplex wird das Inzestverbot mit der Kastrationsdrohung durchgesetzt. In der psychischen Ökonomie der Patientin von Rivière wird das Inzestmotiv, die Vorstellung mit dem ›Vater‹ zu schlafen (oder einem Mann, der für sie psychisch den Vater repräsentiert), aufgerufen, um eine befürchtete väterliche Rache abzuwenden. Die daraus entstehende Strafangst verbindet sich mit einer anderen Phantasie, in der die Patientin einen schwarzen Mann verführt, um ihn stellvertretend – so ist meine Lesart – der Kastration, nämlich dem Lynching, ausliefern zu können. Diese Fallkonstruktion erhellt, welch konkret historische Verbindung hier das Inzesttabu mit dem Miscegenation-Tabu eingegangen ist. Der eigentliche Antagonist ihrer Befreiung ist der Vater, oder gesellschaftlich gesprochen, das weiße Patriarchat,21 das sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch immer widerständig gegen die weibliche Eroberung von Kanzel, Pult und Podium zeigte. Wenn die männliche Herrschaft aus Angst vor Strafe (Ausschluss, Diskriminierung) nicht direkt herausgefordert werden kann, ist die Vorstellung eines schwarzen Liebhabers eine zweite Ebene der Provokation, die darüber die weiße Suprematie ansteuert. Über den Akt, den Verführer der Gerechtigkeit (»Justice« kann sowohl Gerechtigkeit wie einen Richter bezeichnen) auszuliefern, verbündet sich die Tochter mit dem Vater und bringt ihm, um ihre eigene Befreiung zu befördern, den schwarzen Mann zum Opfer. Konkret gesprochen, bietet die Tochter dem Vater die Kastration eines Dritten an, um ihren eigenen Entmannungsversuch an ihm ungeschehen zu machen. 20 J. Rivière: Weiblichkeit als Maskerade, S. 37 (Hervorhebung G.D.). 21 Barbara Omolade spricht von ›Race-Patriarchat‹: Barbara Omolade: »Hearts of Darkness«, in: Ann Snitow/Christine Stansell/Sharon Thompson (Hg.), Powers of Desire. The Politics of Sexuality, New York: Monthly Review Press 1983, S. 350-367. Siehe auch eine spätere Verwendung als ›Racial Patriarchy‹ in: Pauline Schloesser: The Fair Sex: White Women and Racial Patriarchy in the Early American Republic, New York: New York University Press 2001.
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Exakt das war die Strategie der Frauenrechtskämpferinnen des Südens im frühen 20. Jahrhundert. Sie argumentierten, dass sie das Wahlrecht deshalb brauchten, um ihr Stimmengewicht gegen die schwarzen Männer in die Waagschale werfen zu können. Sie versuchten also, den unwilligen Vater davon zu überzeugen, auf einen Teil seiner Gender-Privilegien zu verzichten, wenn sie ihm dafür den Fortbestand seiner Race-Privilegien sicherten.22 Es gab wenig weiße Frauen am Beginn des 20. Jahrhunderts, die öffentlich diese Zumutung, dass ihre Ehre zum Angelpunkt von Mobgewalt wurde, zurückwiesen. Neben der oben erwähnten Mary Ovington gab es noch eine zweite Repräsentantin, die Südstaatenlady Jesse Daniel Ames, die eine AntiLynching-Kampagne ›Not in our Name‹ initiierte.23 Afroamerikanische Frauen dagegen haben früh und in großer Zahl auf die Mechanik von RapeLynching hingewiesen und diese Struktur politisch bekämpft.
2 . D e r R a p e - Lyn c h i n g K o m p l e x Afroamerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts – ob Eldridge Cleaver aber auch Alice Walker und Toni Morrison – ist vom Motiv der Lynch-Angst durchwirkt. Archetyp der gedemütigten afroamerikanischen Maskulinität ist Bigger Thomas, die Hauptfigur aus Richard Wrights berühmtem Roman »Native Son« (1940). Der Held ist Chauffeur im Hause eines weißen Fabrikanten. Als er dessen betrunkene Tochter in ihr Zimmer bringen muss und sie dabei Lärm macht, erstickt er sie aus Angst, im Schlafzimmer der weißen Frau entdeckt zu werden. Zur Vertuschung des Totschlags verbrennt er die Leiche im Ofen der Zentralheizung. Bigger Thomas will so den erwarteten Anschuldigungen einer Vergewaltigung und damit der tödlichen Gefahr eines Lynching entkommen. Das Motiv ist also nicht Raub, ein Affekt, Lust oder Eifersucht, sondern der verzweifelte Versuch, eine unabwendbare Beschuldigung für ein Verbrechen zu vermeiden, das niemals stattgefunden hat. Im Jahrhundert zwischen dem Ende des Bürgerkrieges und dem ›Civil Rights Movement‹ der Sechziger besetzte das Phantasma gewaltsamen Überschreitung der streng gezogenen »racial-sexual«-Grenze durch den schwarzen Mann das amerikanische ›kollektiv Imaginäre‹.24 In diesem Zusammenhang 22 Aileen S. Kraditor: The Ideas of the Woman Suffrage Movement 1890-1920, New York: Columbia University Press 1965, S. 37, 138, 165. 23 Jacquelyn Dowd Hall: Revolt Against Chivalry. Jesse Daniel Ames and the Women’s Campaign Against Lynching, New York: Columbia University Press 1979. 24 Es wird auf eine Prägung Christina von Brauns Bezug genommen. Anlehnend an Lacans Begriff vom Imaginären, des vorsprachlichen, vom Körper der Mutter ungetrennten allmächtigen Selbstbilds des Säuglings, bezieht sich von Brauns Vorstellung vom ›kollektiven Imaginären› zuerst einmal neutral auf gesell-
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bildete sich eine kulturelle Formation heraus, die im Folgenden RapeLynching-Komplex genannt wird. Wie bereits angedeutet weist er Parallelen zum Symbolsystem des Freudschen Ödipuskomplex’ auf. Zentrale Überschneidung beider Konstruktionen ist die Kastrationsdrohung durch eine Machtstruktur. Im Ödipuskomplex ist sie durch den Vater repräsentiert, im Rape-Lynching-Komplex strukturell durch die weiße Suprematie und konkret durch den Lynchmob.25 Die Herrschaft des weißen Mannes über den schwarzen Mann unter kolonialen oder segregierten Bedingungen gründet auf einer ähnlichen psychologischen Struktur. Der Ödipuskomplex hält über eine Kastrationsdrohung die Söhne von der Mutter fern. Eine universelle Lynch-Drohung hält den schwarzen Mann von ›den Frauen des weißen Mannes‹ fern. Ein gewichtiger Unterschied zeigt sich allerdings in der Auswirkung beider ›Komplexe‹. Die zentrale kulturelle Arbeit des (weißen) Ödipuskomplexes besteht in seiner Überwindung durch den zur Reife kommenden Jungen.26 Über den Verzicht auf die Mutter und die Unterwerfung unter den Vater erwirbt der Sohn Teilhaberschaft an der Macht und Zugriff auf alle ›anderen‹ Frauen. Der Ödipuskomplex ist sozusagen die Schwelle zum Erwerb einer gesicherten weißen männlichen Geschlechtsidentität. Der Rape-Lynching-Komplex dagegen kann nicht überwunden werden. Der schwarze Mann kann durch Unterwerfung nichts
schaftliche Phantasiebilder. »Der Begriff des ›kollektiven Imaginären‹ ist [...] dem verwandt, was Benjamin als ›Wunschbilder‹ oder ›Bilder‹ bezeichnet hat, die ›einer bestimmten Zeit angehören‹ und denen zu eigen ist, daß sie erst nach einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen‹. Das ›kollektive Imaginäre‹ [...] besteht aus den historisch wandelbaren Leitbildern, die jede Epoche hervorbringt und die dazu beitragen, das Selbstbild und Gesicht dieser Epoche zu prägen.« Christina von Braun: Die Mythen des Blutes – Beispiel zur psychoanalytischen Entschlüsselung kollektiver historischer Sinngebung. Unveröffentlichtes Arbeitspapier, Berlin 1995, S. 3 25 Die Wortprägung ›Rape-Lynching-Komplex‹ sieht sich in der Nachfolge der Bezeichnung eines »Southern Rape Komplex« des Soziologen W.J. Cash, der die Verbindung von ritueller Selbstjustiz und Vergewaltigungsphantasma als eine soziale Pathologie der amerikanischen Südstaaten interpretiert. Wilbur J. Cash: The Mind of the South, New York: Knopf 1941, S. 114-117. Der Bezeichnung ›Rape-Lynching-Komplex‹ bin ich bisher nur einmal begegnet: Roger N. Lancaster/Micaela di Leonardo (Hg.): The Gender/Sexuality Reader. Culture, History and Political Economy, New York: Routledge 1997, S. 3. Meine eigene Verwendung des Begriffs überschreitet die eher heuristische Prägungen von Lancaster und di Leonardo. Sie umschreibt nicht nur die Tatsache der kulturellen Verbindung von Rape und Lynching, sondern wird verstanden als ein Ergebnis der sich überschneidenden Machtregulierungen von Race und Gender durch ein im Weiteren zu entwickelndes Sexualitätsdispositiv. 26 Sigmund Freud: »Der Untergang des Ödipuskomplexes« [1924], in: Gesammelte Werke Bd. XVIII, Frankfurt/Main: Fischer 1999, S. 393-403.
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gewinnen, weil er für den Verzicht auf die weiße Frau nicht mit Anerkennung belohnt wird.27 Wie vielfach angemerkt ist die theoretische Reichweite des ÖdipusModells für die afroamerikanische Familien-Sozialisation begrenzt, da die Vaterfigur durch rassistischen Kontext ›kastriert‹ (und häufig abwesend) ist, und nicht als Ermächtigungsfigur wirksam werden kann.28 Nichts desto trotz hält die afroamerikanische Theoretikerin Hortense Spillers das psychoanalytische Paradigma der Verinnerlichung frühkindlicher Grenzerfahrungen über ein Szenario der Bedrohung für entscheidend zur Erklärung und »Heilung« beschädigter afroamerikanischer Identität. Sie plädiert aber für ein weiteres Register der psychoanalytischen Theorie, das sie »Socionom« nennt. Es soll den Transfer des amerikanischen Race-Regime auf die innerpsychischen Instanzen beleuchten. »In my view, classical psychoanalytic theory offers some interesting suggestions along their route by way of (1) fetish object (if we read Freud with Marx on the fetish) and (2) certain Lacanian schemes, corrected for what I would call the ›socionom‹, for the speaking subject’s involvements with ideological apparatuses, which would embrace in turn a theory of domination.«29
Frantz Fanon spricht von der Notwendigkeit einer ›Soziogenese‹ und einem historisch sozialen Schema, das man jeder Erkundung einer psychologischen Struktur von rassistischem Empfinden oder den Auswirkungen von Diskriminierung auf die Diskriminierten beigesellen sollte.30 Der Begriff ›Komplex‹ 27 Eine heute völlig vergessene Analytikerin, Helen V. McLean, Schülerin der deutschen Psychoanalytikerin Karen Horney, Freudkritikerin und eine der wenigen Therapeuten und Therapeutinnen, die in den Vierzigern und Fünfzigern schwarze Patienten behandelten, schreibt zum Dilemma afroamerikanischer Männlichkeit, dass die psychischen Ängste und Blockierungen nicht überwunden werden können, da im Fall eines Versuchs mit Strafe gerechnet werden muss: »If he attempts self-assertion his behavior is interpreted by the white group as rebellion. Punishment will be meted out to him and his group.« Helen McLean: »Psychodynamic Factors in Racial Relations«, in: Annals of the American Academy of Social and Political Science 244 (1946), S. 159-166, hier S. 162. 28 Josef C. Aigner: Der ferne Vater. Zur Psychoanalyse von Vatererfahrung, männlicher Entwicklung und negativem Ödipuskomplex, Gießen: Psychosozial-Verlag 2001. 29 Hortense Spillers: »All the Things you Could be by now, if Sigmund Freud’s Wife was your Mother. Psychoanalysis and Race«, in: Boundary 2 (1996), 75141, hier S. 88. 30 F. Fanon: Black Skin, S. 11. Erst im neuen Jahrtausend haben Vertreter der Schule der ›Relational Pychoanalysis‹ damit begonnen, Race in ihre soziale Kontextualisierung von Psychoanalyse einzubeziehen. Am prominentesten Neil Altman: The Analyst in the Inner City. Race, Class, and Culture through a Psychoanalytic Lens, London: The Analytic Press 2004.
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bei der Formulierung des Kompositum Rape-Lynching-Komplex soll also über die rein psychoanalytische Bedeutung hinausgehen und sich auf Spillers ›Socionom‹ und Fanons Schema der Soziogenese stützen. Die Verwendung des Begriffs ›Komplex‹ soll zudem eine Matrix sich überschneidender Gender- und Race-Regime bezeichnen, die von einer mit Strafe bewehrten »racial-sexual«-Ordnung diszipliniert werden.
3 . R a c e - S e x u a l i t ä ts d i s p o s i t i v Im Folgenden wird ein Schritt in eine andere Richtung gegangen und ein Beschreibungsmodell betrachtet, das die psychische Struktur mit der gesellschaftlichen Machtstruktur in Verbindung bringt, aber jenseits der Psychoanalyse liegt. Foucault hat mit seinem Begriff ›Sexualitätsdispositiv‹31 eine Kategorie bereitgestellt, die es erleichtern könnte, ein ›Socionom‹ für die psychisch unbewusste Produktion von Race-Bewusstsein (analog zu einem Geschlechts-Bewusstsein) zu denken. Während ein rein psychoanalytisches Modell nach der Herstellung einer diskriminierungsgeschädigten afroamerikanischen Subjektivität über den Rape-Lynching-Komplex fragen würde, wird hier mit Hilfe Foucaults gefragt, wie sich der herrschende weiße Diskurs über die Abgrenzung einer ›racial other‹-Gruppe konstruiert und ob das psycho- und das diskursanalytische Modell in dieser Fragestellung miteinander verschränkt werden können. Neue Machtdiskurse werden nach Foucault durch Ausgrenzung hervorgebracht. Er stellt sich die Frage, was die ständige Produktion von ›Ausschließungen‹ für eine gesellschaftliche Funktion hat: »Durch welches Ausschließungssystem, durch wessen Ausmerzung, durch die Ziehung welcher Scheidelinie, durch welches Spiel der Negativität und Ausgrenzung kann eine Gesellschaft beginnen zu funktionieren?« 32
Wie oben schon entwickelt, entstand nach dem Bürgerkrieg das Bedürf nis, eine Scheidelinie zwischen markierter ›Blackness‹ und unmarkierter ›Whiteness‹ zu ziehen, nachdem institutionell diese Grenze durch die Abschaffung der Sklaverei aufgelöst war. Ja man könnte Foucault folgend sagen, dass die Einrichtung einer neuen ›modernen‹ Scheidelinie zwischen schwarz 31 Zum Sexualitätsdispositiv selbst sagt Foucault: »[...] es hat seine Stärke nicht darin, daß es reproduziert, sondern darin, daß es die Körper immer detaillierter vermehrt, erneuert, zusammenschließt, erfindet, durchdringt und daß es die Bevölkerung immer globaler kontrolliert«. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Bd. 1, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, S. 128f. 32 Michel Foucault: Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin: Merve 1976, S. 76.
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und weiß eine zentrale Voraussetzung für das Funktionieren der US-amerikanischen Gesellschaft dieser Zeit war.33 Im Prozess dieser Abgrenzung spielte Sexualpolitik eine zentrale Rolle. Hier bietet sich ein Versuch an, das, was oben Rape-Lynching-Komplex genannt wurde, mit einer Race-Lektüre des Sexualitätsdispositivs zu verzahnen. Das Foucault’sche Sexualitätsdispositiv beschreibt eine Strukturlogik der Moderne, nach der – entgegen der von der Psychoanalyse genährten Hypothese von Repression – Kontrolle über Menschen nicht durch Unterdrückung von Sexualität gewonnen, sondern (Bio)-Macht durch eine grundlegende Sexualisierung aller Lebensbereiche ausgeübt wird. Konkretisiert man das Sexualitätsdispositv in Bezug auf die Frau, so ging es um die Kontrolle weiblicher Fruchtbarkeit, um auf diese Weise das Arbeitskräftereservoir zu steuern. Die Regulierung von Sexualität war dabei nicht das Ziel, sondern nur ein Mittel. Als Effekt entstand im Zuge der Normalisierung reproduktionsnotwendiger Heterosexualität auch ›Homosexualität‹ als von der Norm abweichende ›Perversion‹. Wenn aber die Sexualisierung von weiblichen Körpern ein effizientes Mittel war, Bevölkerung zu kontrollieren, Normen durchzusetzen und Rechte zu verteilen, dann liegt es nach den obigen Überlegungen zum RapeLynching-Komplex nahe, dass auch ›schwarze‹ Körper in den USA über das Mittel der Sexualisierung reguliert wurden und werden.34 Eine sexualisierte Vorstellung von Race beschreibt ein anderes Phantasma als die Hysterisierung (Sexualisierung) der Frau, und sie beschreibt auch ein anderes Phantasma. Vor dem Bürgerkrieg wurde der männliche Sklave als ›Sambo‹ gesehen, eine unbedrohliche, feminisierte und sexlose Figur, deren Sexualität für seine Besitzer nur insofern von Belang war, als sie neue Sklaven hervorbrachte. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zum Mythos vom schwarzen Vergewaltiger. Abdul JanMohammed setzt die beiden kulturellen Muster der Sexualisierung von Race und Gender folgendermaßen ins Verhältnis: »The hysterization of the women’s bodies is paralleled on the racial-sexual border by the hysterization of the black male body, which is represented as saturated with 33 Die neue Scheidelinie kann analog zur Situation der weißen Frauen nach den bürgerlichen Revolutionen in Frankreich und den USA gesehen werden. Da institutionell ihre ›Gleichheit‹ möglich geworden ist, wird ihr untergeordneter Status mit einer neuen ›Unvergleichlichkeit‹ – von Claudia Honegger auch ›weibliche Sonderanthroplogie‹ genannt – begründet. Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, 1750-1850, Frankfurt/Main: Campus 1991, S. 126-165. 34 Von Foucault selbst gibt es verstreute Äußerungen zu Rasse und Rassismus, die sich hauptsächlich mit den Logiken von Antisemitismus und Holocaust beschäftigen. Siehe z.B. Michel Foucault: Vom Licht des Krieges und der Geburt der Geschichte, Berlin: Merve 1986 und Angelika Margolis: Foucaults Beitrag zur Rassismustheorie, Hamburg: Argument Verlag 1995.
294 | GABRIELE DIETZE sexuality. [...] it is the hystericized oversexualized body of the black male that is used by discourse of racialized sexuality to reinforce hysterical boundaries between two racialized communities.«35
Mit dem Begriff ›rassisierte Sexualität‹ (»racialized sexuality«36) beschreibt JanMohammed eine Struktur, die man auch ›Race-Sexualitätsdispositiv‹ nennen könnte. Ein solches amerikanisches Race-Sexualitätsdispositiv scheint sich mit einem Gender-Sexualitätsdispositiv zu ergänzen, ja, beide scheinen geradewegs aufeinander zuzulaufen. Die fragile, unschuldige, gelegentlich von ihrem hysterischen Körper überwältigte Frau – in älteren Diskursen auch »fair sex« genannt – wird in diesem Definitionsraum zum natürlichen Opfer des nun über Triebexzess konzeptualisierten schwarzen Mannes. Der oben angesprochene Rape-Lynching-Komplex kann so betrachtet als ein Ergebnis der sich überschneidenden Machtregulierungen von Race und Gender durch ein Sexualitätsdispositiv gelesen werden. Die Sexualisierung des Weibes grenzt sie als Hysterikerin aus und erzeugt so ›unvernünftige‹ und regulierbare Körperlichkeit. Die Sexualisierung von ›Blackness‹ grenzt den schwarzen Mann als von unzivilisierbarem Triebexzess gesteuert aus und erzeugt ›Whiteness‹ als Ort zivilisierter Sublimationsfähigkeit. Ein RaceSexualitätsdispositiv verhindert soziale Phantasien möglicher Mischehen und steuert damit die ›richtige‹, also die gewünschte ›reinrassige‹ Reproduktion (Miscegenation-Tabu). Über die Verknüpfung des Modells des RapeLynching-Komplexes mit dem Modell eines nach Race und Gender ausdifferenzierten Sexualitätsdispositivs kann man sich eine socionomische Verbindung zwischen individueller Psychostruktur und einer »racial-sexual« Ordnung erarbeiten. Race- und Gender-Konstruktionen bilden sich zweifellos in der Psyche ab. Sie werden aber nur scheinbar im Mikrokosmos der Familie erzeugt. Denn die Dispositive der Macht, die die psychische Hierarchisierung bewirken, sind an konkret lokalisierbare historische Diskurse geknüpft, die in dem hier geschilderten US-amerikanischen Fall über Ausschlüsse ›rassenreine‹ reproduktive Heterosexualität und hegemoniale ›Whiteness‹ erzeugen.
35 A.R. JanMohammed: Racial Border, S. 104f. (Hervorhebung G.D.) Auch Frantz Fanon wählt in »Die Verdammten dieser Erde« (1956) den Ausdruck ›hysterisch‹, um die Situation des kolonisierten, feminisierten Eingeborenen vor jedem Befreiungsdiskurs zu beschreiben. 36 Zur Definition von »racialized sexuality« schreibt JanMohammed an anderer Stelle: »Racialized sexuality is structured by a set of allegorical discourses: silence and repression [...]. Whereas bourgeois sexuality is a product of an empiricist, analytical and proliferatory discursivity, racialized sexuality is a product of stereotypic symbolizing and condensing discursivity: the form is driven by a will to knowledge, the latter by the will to conceal its mechanism and its own will to power.« Ebd. S.105f.
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4 . Ve r g ew a l t i g u n g a l s Lyn c h i n g Die kulturelle Verknüpfung von Vergewaltigung und Lynching blieb nicht auf das rassistische Segregationsregime beschränkt, das sein politisches Ende mit der Bürgerrechtsbewegung und sein rechtliches Ende mit den »Civil Rights Act« von 1968 fand. Interessanterweise wird sie von der amerikanischen Neuen Frauenbewegung in ein Mittel der eigenen Politik umgearbeitet. Ein Beispiel von vielen möglichen ist dabei Susan Brownmillers berühmte Kampfschrift gegen Vergewaltigung »Against our Will« (1975). Ihr Kapitel »A Question of Race« beginnt mit dem Satz: »No single event ticks off the American political schizophrenia with greater certainty than the case of a black man accused of raping a white woman [...] Racism and sexism and the fight against both converge at the point of interracial rape, the baffling crossroads of an authentic, peculiarly American dilemma.«37
Als antirassistische und linke Aktivistin scheint es für Brownmiller klar, Lynching als rassistische Willkür zu brandmarken. Der Fall Emmett Till emblematisierte dabei für eine ganze Generation die Quintessenz dieses spezifischen Unrechts. Der erst vierzehnjährige Junge war 1955 bei einem Verwandtenbesuch im Süden für einen Pfiff gegenüber einer Verkäuferin gelyncht worden, und die örtlichen Gerichte hatten seine Mörder freigesprochen. Seine Mutter bahrte daraufhin die geschundene Leiche in Chicago öffentlich auf, um die nationale Schande anzuzeigen. Wie viele ihrer Zeitgenossen protokolliert auch Susan Brownmiller den Emmett Till-Fall als kathartisches Erlebnis, das ihren Blick auf die Welt entscheidend verändert hatte. In moralischer Überkompensation reagiert sie für die nächsten fünfzehn Jahre mit ostentativer Freundlichkeit, wenn ein schwarzer Junge oder Mann ihr nachpfeift oder ihr möglicherweise drastischere Vorschläge macht: »I smiled my nicest smile of comradely equality [...] Wasn’t a whistle or a murmured ›may I fuck you?‹ an innocent compliment? And did not white women in particular have to bear the white man’s burden of making amends to Southern racism?«38
Die weibliche Kompassion mit dem potentiellen Opfer – dem lynchgefährdeten schwarzen Mann – hält zunächst eine eigene Viktimisierung für vernachlässigbar. In einem zweiten Schritt empfindet Brownmiller aber die
37 Susan Brownmiller: Against our Will: Men, Women and Rape [1975], London: Penguin 1986, S. 210 (Hervorhebung G.D.). 38 Ebd., S. 247.
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Selbstzensur umso vehementer, und die Überkompensation schlägt in Gegenaggression um. Susan Brownmiller schreibt: »It took fifteen years for me to resolve these questions in my own mind, and to understand the insult implicit in Emmett Tills whistle, the depersonalized challenge of ›I can have you‹ with or without racial aspect.«39
Indem Brownmiller angeblich von Race abstrahiert, gewinnt sie Einsicht in die Logik von Sexismus. Es ist allerdings wichtig, hier festzuhalten, dass es das Verhalten des Rassismus-Opfers Till vor dem Lynching ist, das die Autorin über den Tatbestand weiblicher Objekthaftigkeit erleuchtet. Unmittelbar im Anschluss an die Erkenntnis schreibt sie: »Today a sexual remark on the street causes me a fleeting but murderous rage.«40 Nimmt man die Formulierung ernst, dann spricht die Autorin jetzt selbst in der Rhetorik des Lynching. Sie wird ›flüchtig‹ von einem Totschlag-Impuls – »murderous rage« – heimgesucht. Aus einer Polemik gegen Vergewaltigung als gesellschaftliche Grundstruktur entwickelt sich ein Impuls zum Lynching.41 Mir kommt es im Folgenden auf die neofeministische Umarbeitung des Rape-Lynching Komplexes an. Mich interessiert der gedankliche Prozess, mit dem Susan Brownmiller ihr Mitleid und ihre reaktive Überkompensation auf den Lynchtod des Jungen ›überwindet‹, um dann ›gereinigt‹ die Logik des Sexismus umso klarer zu sehen. Überspitzt ausgedrückt wird hier Lynching zur antipatriarchalen Tat. Die Konzentration früher weißer »Second Wave«Feministinnen auf ›Vergewaltigung als Meistermetapher‹42 und die Zuspitzung des anti-rassistischen Bürgerrechtsdiskurses auf Lynching führen, wie Kimberlé Crenshaw zeigt, zu einer gegenseitigen Anerkennungsverweigerung, oder – wie man auch sagen könnte – zu einer konkurrierenden Verkennung der jeweiligen Verletzungsansprüche.43 Der Körper wird damit zum strategischen Terrain, zum Hebel künftiger Identitätspolitik: »Essentializing 39 Ebd., S. 248. 40 Ebd. (Hervorhebung G.D.) 41 Mit scharfer Kritik geht Angela Davis Susan Brownmillers Race-Kapitel an. Sie erklärt es zu einer »schmerzlichen Ironie«, dass weiße Feministinnen behaupten, schwarze Männer neigten besonders zu sexueller Gewalt gegenüber (weißen) Frauen. Davis beschuldigt Brownmiller, sie würde den rassistischen Mythos vom schwarzen Vergewaltiger befördern. Angela Davis: »Rape, Racism, and the Myth of the Black Rapist« [1981], in: Kum-Kum Bhavnani (Hg.), Feminism and Race, Oxford: Oxford University Press 2001, S. 50-64, hier S. 52. 42 Pamela Haag: »›Putting your Body on the Line‹: The Question of Violence, Victims, and the Legacy of Second Wave Feminism«, in: Differences 8/2 (1996), S. 23-65, hier S. 40ff. 43 Kimberlé Crenshaw: »Whose Story is it, Anyway? Feminist and Antiracist Appropriations of Anita Hill«, in: Toni Morrison (Hg.), Race-ing Justice, Engendering Power: Essays on Anita Hill, Clarence Thomas, and the Construction of Social Reality, New York: Pantheon 1992, 402-441, hier S. 405.
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the body as women’s shared political consciousness, thereby setting the stage for subsequent identity politics.«44 Wendy Brown hat in ihrer Analyse moderner Identitätspolitik, »States of Injury« (1995), darauf hingewiesen, dass jede politisch ausrichtbare Opfererzählung auf dem verletzten Körper basiert.45 Die neu geschaffenen ›Identitäten‹ aber, die in ihrer Entstehung ursprünglich mit Machtansprüchen und ›Women’s Power‹ konnotiert waren, wandeln sich nun in Opferidentitäten, die ihre politischen Ansprüche aus dem Ausmaß der wehrlosen Objekthaftigkeit gegenüber fremden Übergriffen ableiteten. Die Skala der Leiden und damit auch der Ansprüche an die Gesellschaft bemessen sich nach dem Grad der Verletzung. Eine »Weibliche Klage«46 bedient sich einer Sprache des Schmerzes. Black Panther-Führer Eldridge Cleaver spitzt auf seiner Seite der Barrikade den »racial-sexual«-Antagonismus zwischen weißen Frauen und schwarzen Männern zu, indem er vorsätzliche und systematische Vergewaltigung weißer Frauen in einer gezielten Provokation zum politischen Programm macht. »Rape was an insurrectionary act. It delighted me, that I was defying and trampling upon the white man’s law, upon his system of values, and that I was defiling his women – and this point, I believe, was the most satisfying to me because I was very resentful over the historical fact of how the white man has used the black woman.«47
Die Trope der Vergewaltigung einer weißen Frau als Akt des politischen Aufstandes ist eine Paradoxierung des Rape-Lynching-Komplexes. Die Kastrationsdrohung durch den weißen Mann wird durch den vorsätzlichen Tabubruch unwirksam gemacht und dabei Männlichkeit erzeugt. Die mögliche Strafe muss dann nicht mehr als Lynch-Akt begriffen werden, weil sie nicht an einem unschuldigen Opfer vollzogen wird, sondern als Rache eines Mannes, dem effektiv Schaden zugefügt wurde. Insofern hatte die Formulierung dieser politischen Allegorie der vorsätzlichen Vergewaltigung als Gegenzauber eine immanente Logik. Die jeweilig eine Gruppe macht – in der Figur der weißen Frau als rachsüchtiges Sexismusopfer und/oder die des schwarzen 44 P. Haag: Body on the Line, S. 51. Marilyn Frye spricht vom Körper als ›Domäne‹: Marilyn Frye: »Rape and Respect«, in: Mary Vetterling-Brown (Hg.), Feminism and Philosophy, Lanham: Littlefield Adam 1977, S. 333-347, hier S. 336. Shere Hite spricht von Territorium: »This is my body, my breasts, and my cunt, and they are my territory, and if anybody, even my husband, tries to take it, it’s war, baby.« Shere Hite: The Hite Report: A National Study on Female Sexuality, New York: Dell 1976, S. 460. 45 Wendy Brown: States of Injury: Power and Freedom in Late Modernity, New Haven: Yale University Press 1995, S. 52-77. 46 Lauren Berlant: The Female Complaint. The Unfinished Business of Sentimentality in American Culture, Durham: Duke University Press 2008. 47 Eldridge Cleaver: Soul on Ice [1968], New York: Laurel 1992, S. 26.
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Mannes als historische Revanche suchender Vergewaltigungspropagandist – die andere Gruppe für die tödliche Logik des Rape-Lynching-Komplexes verantwortlich. In diesem konkret historischen US-amerikanischen Zusammenhang mutiert Vergewaltigung zu Lynching, nämlich zu einem Lynch-analogen systematischen Abschreckungs- und Einschüchterungsritual, das die Gesellschaft allen Frauen vor Augen stellt, um sie in Schach zu halten. Susan Brownmiller schreibt: »Rape is to women as lynching was to blacks: the ultimate physical threat by which all men keep all women in a state of psychological intimidation. Women have been raped by men, most often by gangs, for many of the same reasons that blacks were lynched by gangs of whites: as group punishment for being uppity, for getting out of line, for failing to recognize ›one’s place‹, for assuming sexual freedom, or for behavior no more provocative than walking down the wrong road at night in the wrong part of town and presenting a convenient, isolated target for group hatred and rage. Castration, the traditional coup de grace of a lynching, has its counterpart in the gratuitous acts of defilement that often accompany a rape, the stick rammed up a vagina, the attempt to annihilate the sexual core.« 48
Susan Brownmillers Hauptbestreben war, Vergewaltigung als Akt der Gewalt zu verstehen, der mit Sexualität – und damit möglicher weiblicher Mitschuld durch Provokation – nichts zu tun hat. Eine völlig entgegengesetzte Position vertrat die Juristin MacKinnon, die Vergewaltigung als eine gewaltsame Verlängerung von (Zwangs-)Heterosexualität begreift.49 Aber auch sie zieht eine gerade Linie von Vergewaltigung und Lynching: »In feminist analysis, a rape is not an isolated event or mortal transgression or individual interchange gone wrong but an act of terrorism and torture within systemic context of group subjection, like lynching.«50 (meine Kursivierung)
In dieser Lesart wird weibliche Existenz als einer universellen Vergewaltigungsdrohung unterworfen geschildert, die analog zur Lynch-Drohung als 48 S. Brownmiller: Against our Will, S. 254. Zu der gleichen Metaphorik nur unter umgekehrten Vorzeichen kommt Nell Irvin Painter bei einer Analyse von Lynching, das sie als umgekehrte Vergewaltigung bezeichnet: »Like actual rapes against women (these symbolic rapes) were rituals of power and degradation, as white men burned whipped, and murdered in attempt to close the circle of their power over black men.« Nell Irvin Painter: »›Social Equality‹, Miscegenation, Labor, and Power«, in: Nunam V. Bartley (Hg.), The Evolution of Southern Culture, Athens: Georgia University Press 1988, S. 49. 49 Vgl. hierzu die Diskussion feministischer Rape-Konzepte bei Ann. J. Cahill: Rethinking Rape, Ithaka: Cornell University Press 2001, S. 16-28, 36-47. 50 Catharine MacKinnon: Toward a Feminist Theory of the State, Cambridge: Harvard University Press 1989, S. 171 (Hervorhebung G.D.).
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Regiment des Schreckens vorauseilenden Gehorsam, d.h. angepasste Weiblichkeit, erzeugt. Vergewaltigung wird jetzt als politisch motiviertes Demütigungsritual verstanden und mit Lynching gleichgesetzt. Der Rape-Lynching-Komplex wird damit in die zweite Ableitung getrieben, man könnte auch sagen, er wird ›invertiert‹. Vergewaltigung verliert damit den Charakter einer Einzeltat. Eine universelle Vergewaltigungsdrohung wird nun wie die Kastrationsdrohung als Disziplinierungsstrategie des Patriarchats zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung seiner Macht gelesen. Die US-amerikanische Vorstellung von Vergewaltigung (einer weißen Frau) ist damit auf eine Weise rassisiert (»racialized«), wie es in keiner anderen westlichen Gesellschaft sonst der Fall ist. Die Dramatik und Potentialität solch ultimativer Verletzung scheint immer dann auf, wenn (weiß-weibliche) Gender- und (schwarz-männliche) Race-Ansprüche gegeneinander stehen, wie es im amerikanischen Vorwahlkampf 2008 der Fall war. Da geht es dann um das kulturelle Kapital von Opferpositionen und den Automatismus, mit dem die jeweils eigene Opferposition die andere Partei als Aggressor erscheinen lässt. Die Rassismus/Sexismus-Anrufungen bleiben auch dann noch produktiv, wenn sich die Angerufenen taub stellen. Einer der vielen Gründe für den Erfolg Barak Obamas bestand in seiner durchgehaltenen Weigerung, den ›zornigen schwarzen Mann‹ zu geben (und damit als verkörpertes Antiklischee Vertrauen zu gewinnen). Einer der Gründe für das Scheitern von Hilary Rodham Clinton war die Tatsache, dass sie zuletzt eine strukturell ›rassistische‹ Klientel (zornige weiße Männer, Arbeiter) ansprach, um gefährdetes Terrain zu gewinnen. Damit verbaute sie sich den Weg zu einer kapitalisierbaren Opferposition und unterstützte implizit die Viktimisierer (die klassische Position der weißen Frau im Lynching-Paradigma).
5. Schlussbemerkung Die Überlegungen zum Zusammenhang zwischen dem Ödipuskomplex und dem Miscegenation-Tabu sind unter den Untertitel ›Rape-Lynching-Komplex als soziale Pathologie‹ gestellt worden. Gemeint war damit, dass die Konstruktionsweisen von Rassismus und Sexismus in weißer Suprematie und einem rassisierten Patriarchat nach sozionomisch-psychoanalytischem Verständnis pathologische Züge aufweisen, da unter diesen Bedingungen gewaltsame Macht-Begehrens-Muster unvermeidlich sind. Für eine solche Erkenntnisperspektive ist es allerdings wichtig, die Diagnose nicht nur einseitig auf die Pathogenität von Rassismus für seine Opfer zu beschränken, sondern Rassismus selbst als Pathologie zu verstehen. Jean Paul Sartre hat überzeugend argumentiert, dass Rassismus keine Frage von Meinung und Überzeu-
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gung ist, sondern eine Leidenschaft der Diskriminierenden.51 Eine psychoanalytische Lesart dieser Leidenschaft als fehlgegangenes Begehren legte Elizabeth Young-Bruehl vor, die Rassismus als ein hysterisches Symptom interpretierte, bei dem unterdrückte oder abgelehnte eigene Triebwünsche im ›anderen‹ schwarzen Körper lokalisiert werden. Sexismus verortet sie im Bereich einer narzisstischen Neurose/Störung, nämlich dem Unvermögen des Mannes, ›kastrierten‹, d.h. phalluslosen Menschen einen gleichen Rang einzuräumen.52 Trotzdem ist es nicht unproblematisch, in Rassismus/Sexismus-Fragen mit einen Pathologiebegriff zu arbeiten, da er dazu beitragen kann, Opferpositionen zu verfestigen, Handlungsmöglichkeiten aus dem Blickfeld zu rücken und Verantwortlichkeiten zu verschleiern. Dagegen kann gehalten werden, dass mit einem Pathologiebegriff Rassismen/Sexismen jegliche ›Gesundheit‹, Produktivkraft und Normalität abgesprochen werden und damit zu kurativen Interventionen aufgerufen ist. Das Präfix ›sozial‹ vor Pathologien macht darüber hinaus darauf aufmerksam, dass es sich um kein im therapeutischen Labor lösbares Phänomen handelt, sondern die sozialen Bedingungen seiner Entstehung verändert werden müssen.
51 Jean Paul Sartre: »Betrachtungen zur Judenfrage«, in: Drei Essays, Frankfurt/Main, Berlin: Ullstein 1961, S. 108-191. 52 Elizabeth Young-Bruehl: The Anatomy of Prejudices, Cambridge: Harvard University Press 1996, S. 34-36.
Von U nach B oder: B(w ) ist immer schon U(bw ). Zur Medialität von Binärstrukturen SUSANNE LUMMERDING
Vorstellungen einer Störung von Ordnung sind gemeinhin mit zwei wesentlichen Grundannahmen verknüpft: zum einen damit, die Störung komme von ›Außen‹, und zum anderen, hiermit impliziert, die Störung sei eindeutig zu unterscheiden von der jeweiligen Ordnung, als deren ›Anderes‹ sie somit einzustufen wäre. Um die Bedeutung des Unbewussten für die Produktion und Ordnung – bzw. Störung – von Wissen zu untersuchen, will ich im Folgenden das Verhältnis von Ordnung und Störung, aber auch das Verhältnis von Unbewusstem und Bewusstem neu zur Debatte stellen. Denn ein, nicht zuletzt durch aktuelle Ansätze der Hirnforschung wieder aufgegriffenes Bemühen, Freuds nach eigener Aussage gescheiterte Versuche einer anatomischen Lokalisierung des Unbewussten bzw. eines Entwurfs einer Topologie des »psychischen Apparats« in eine physiologische Verort- und Messbarkeit zu übersetzen, resultiert in der Aufrechterhaltung der Vorstellung einer klar definierbaren und verortbaren Entität, die ebenso klar vom Bewussten zu trennen wäre.1 Schon 1
Vgl. Freud in einer Notiz von 1938, die verdeutlicht, dass die Lokalisierungsversuche, die er seit der Entwicklung seiner Topik des »psychischen Apparats« in seinem »Entwurf einer Psychologie« (1895) und in der »Traumdeutung« (1900) unternahm, auch durch wiederholte dezidierte De-Lokalisierungsversuche nicht gänzlich aufgehoben wurden: »Räumlichkeit mag die Projektion der Ausdehnung des psychischen Apparats sein. Keine andere Ableitung wahrscheinlich. Anstatt Kants a priori Bedingungen unseres psychischen Apparats. Psyche ist ausgedehnt, weiß nichts davon.« Sigmund Freud: Gesammelte Werke [im Folgenden GW] Bd. XVII, Frankfurt/Main: Fischer 1993, S. 152. Diese Vorstellung einer räumlichen Ausdehnung des psychischen Apparats, mit der Freud Fechners Konzept einer »psychischen Lokalität« aufgreift (GW Bd. II/III, S. 541) und die er auch in die Metapher optischer Apparate übersetzt, stützt die räumlich gedachte konzeptuelle Trennung der einzelnen Instanzen des psychischen Apparats, des Unbewussten, Vorbewussten und Bewussten, die sich in der
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Freuds Schwanken in der Erprobung unterschiedlicher Beschreibungsmodelle des psychischen Apparats zwischen physiologischen und metaphorischen Räumlichkeitsverhältnissen bleibt – trotz seiner vielfachen Versuche, anatomischen Erklärungsmodellen metaphorische und dynamische entgegenzusetzen bzw. materielle Größen durch kategoriale zu ersetzen – dieser Idee getrennter, diskreter Entitäten verhaftet.2 Eine Kritik an Tendenzen einer physiologischen Lokalisierung des Unbewussten wie auch metaphorischen Verortungen desselben und damit verbundenen Problemen erfordert eine kritische Betrachtung der involvierten Kategorien des Subjekts/Identität, der Sprache/ Bedeutung und des Wissens/Realität, die nicht mehr einer naturwissenschaftlichen Entdeckungslogik und Bezeichnungspraxis folgt. Eine entsprechende Analyse der Herstellung von Identität, von Bedeutung und von Realität auf ihre sprachlogischen Voraussetzungen hin ermöglicht in diesem Zusammenhang, die Voraussetzungen für Subjektkonstituierung, Kommunikation und Wissen – und damit die Bedingungen eines Existenzurteils wie auch die Bedingungen von Handlungsfähigkeit und Verantwortung in einer Weise zu denken, die die Kategorie des Politischen sowie jene einer Ethik von der Legitimationsinstanz einer außersprachlichen Referenz und in diesem Sinn auch vom Begriff der Ordnung löst. Wenn für die Störung von Ordnung und den Antrieb von Produktion (etwa von Wissen) das Unbewusste verantwortlich zu machen wäre, so ließe sich die Ebene, auf der Störung und Antrieb wirksam sind, als jene des Soziosymbolischen bzw. als jene der Politik bezeichnen. Das bedeutet, dass Unbewusstes wie auch Bewusstes derselben Dimension, nämlich dem Soziosymbolischen3 zuzuordnen sind. In diesem Sinn kann Lacan formulieren, dass das
2
3
Hirnforschung in der Zuordnung unterschiedlicher Hirnareale fortschreibt. Vgl. Sigmund Freud: Entwurf einer Psychologie [1895], GW Ergänzungsband, Frankfurt/Main 1987, S. 375-486; ders.: Die Traumdeutung [1900], GW Bd. II/III, Frankfurt/Main 1968, S. 1-642; ders.: Das Unbewusste [1915]. GW, Bd. X, Frankfurt/Main 1969, S: 263-303. Aktuelle Versuche einer neurobiologischen Lokalisierung des Unbewussten rekurrieren nicht nur auf die physiologischen Aspekte von Freuds Topik, sondern führen letztlich auch psychophysiologisch-anatomische Konzepte des 19. Jahrhunderts fort. Als Vertreter der sogenannten »Bremer Hirnforschung«, die mittlerweile auch in enger Kooperation mit einzelnen PsychoanalytikerInnen steht, vgl. Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997; ders.: Fühlen, Denken, Handeln, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001; ders.: Wie das Gehirn die Seele macht (Vortrag, Lindau 2001), http://www.lptw.de/archiv/vortrag/2001/roth.pdf oder: http://home.arcor.de/eberhard.liss/hirnforschung/roth-gehirn+seele.htm (zuletzt aufgerufen am 30.7.2008). Vgl. hierzu schon Derridas Kritik an Freuds Neuronenmodell: Jacques Derrida: »Freud und der Schauplatz der Schrift«, in ders., Die Schrift und die Differenz [1967], übers. von Rudolphe Gasché, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1972, S. 302ff. Die mit dem Begriff des Soziosymbolischen vorgenommene Modifizierung des Lacan’schen Terminus des Symbolischen – als eine der drei Dimensionen von
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Unbewusste nicht das ›Andere‹ des Diskurses, sondern der Diskurs des Anderen ist. Wenn es demnach um Störung und Antrieb auf einer diskursiven Ebene geht, wie ließen sich deren diskurslogische Voraussetzungen thematisieren, was hieße dies für den Begriff des Medialen und welche Konsequenzen ließen sich daraus für eine Definition von Verantwortung ableiten? Wie also wäre die Dimension des Realen bzw. jene des Politischen zu thematisieren und welche Konsequenzen ergäben sich daraus für die Konzeption des Unbewussten und des Bewussten? Die Frage der Verortung und Vermittlung (von Eigentlichkeit, von Verdrängtem/Unbewusstem oder eines universal gültigen und unhintergehbaren Guten) möchte ich damit auf die Prämissen der Konzepte von Vermittlung und Verortung als solche, also auf die Dimension der Vermitteltheit bzw. Medialität verschieben, um die Produktivität der phantasmatischen Konstruktion von Eindeutigkeit kritisch auf ihre Funktion hin zu befragen. Mit Blick auf das Verhältnis von Ordnung und Störung werde ich den Bedingungen der Produktion – (Produktion etwa von Wissen) – besondere Aufmerksamkeit widmen, um über den Begriff der Medialität, verstanden als Vermitteltheit, zu einer Redefinition von »Geschlecht« zu gelangen, die nicht auf eine diskursive Konstruktion reduzierbar ist, sondern vielmehr die Voraussetzung jeglicher diskursiven Konstruktion begreifbar macht, ohne sich auf Vorstellungen vermeintlich prädiskursiver Vorgängigkeiten zu stützen. Dies wird die Basis bieten für eine Präzisierung des Begriffs des Politischen und damit eines Subjekts des Politischen.
Ordnung und Produktion / Idealräume Als im Mai 2007 ein bis dahin als Bastion egalitärer Entgrenzung und harmonischen Miteinanders propagierter virtueller Raum – nämlich das Onlinespiel Second Life – durch eine als »Kinderpornoskandal« apostrophierte ›Störung‹ erschüttert wurde, stellte die darauf folgende Debatte über daraus abzuleitende Konsequenzen mit Sicherheit den interessantesten Aspekt der Ereignisse dar. Denn in dieser Debatte wurde nicht nur deutlich, auf welche Prämissen sich die Vorstellung eines potenziell störungsfreien Raums notwendig gründet, sondern darüber hinaus, welche (strukturelle, gesellschaftliche und politische) Funktion das mit einer klaren Unterscheidung zwischen Realität und Medialität bzw. Virtualität verbundene Ideal einer Eindeutigkeit und eindeutigen Zuordenbarkeit – weit über den Kontext virtueller Realitäten hinausgehend – erfüllt. Sprache, unterschieden vom »Imaginären« und vom »Realen« – ist im Grunde pleonastisch, insofern das Symbolische per definitionem als gesellschaftlich zu verstehen ist. Dennoch ist es mir wichtig, genau das hervorzuheben.
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Die in zahlreichen Medien mit Entsetzen und Abscheu kommentierte »Entdeckung« besagten »Skandals« bezog sich auf Fotos sowie auf von Avataren nachgestellte sexuelle Handlungen zwischen augenscheinlich ›Minderjährigen‹ und ›Erwachsenen‹, die in bestimmten Bereichen von Second Life zu beobachten waren. Als Antwort auf diese ›Entdeckung‹ wurden zum einen vielfach Forderungen nach Strafverfolgung realer pädophiler Personen ›hinter‹ virtuellen Spielfiguren artikuliert, die in Second Life pädophile Handlungen nachstellen. Zum anderen initiierte u.a. der virtuelle Ableger der BildZeitung in Second Life, Avastar, Ende Juni in Second Life eine Kundgebung mit dem Motto »Nein zu Kinderpornos« – unterstrichen von der auch in Fernsehinterviews desselben Tages geäußerten Forderung des Avastar-Redaktionsleiters Rowan Barnett, die »Kinderschänder« sollten aus Second Life entfernt werden.4 Nun ließe sich diese als Skandal eingestufte ›Störung‹ möglicherweise als eine Wiederkehr des Verdrängten – des Unkontrollierbaren in Form von Sexualität, Gewalt und Verbrechen bzw. als eine Bildung des Unbewussten, als Symptom – beschreiben. Die Frage ist aber: Was wäre analytisch und politisch damit gewonnen? Und unterscheiden sich die theoretischen Vorannahmen einer etwaigen Forderung nach Bewusstmachen letztendlich von jener nach Ausschluss bzw. Eliminierung durch mehr als durch den jeweils expliziten Anspruch? Oder wäre – um die Dimension des Politischen wahrzunehmen (d.h.: in Anspruch zu nehmen) – stattdessen noch einmal präziser nach dem Grund (gewissermaßen dem ›Antrieb‹) der Störung zu fragen – und damit auch nach der Funktion der Vorstellung von Störungsfreiheit?5 Die Klassifizierung besagter Vorgänge in Second Life als ›Störfall‹ in einem bislang als ›heile Welt‹ propagierten System setzt zum einen die Möglichkeit von Störungsfreiheit als Option voraus und stützt sich dazu zum anderen auf folgende, nur scheinbar widersprüchliche Prämissen, die – als vielfältig übertragbares Paradigma einer Unterscheidung von Ordnung und Störung – einer kritischen Analyse bedürfen: 1. vermeintlich ›diskrete‹ (also eindeutig definierte) Räume/klare Grenzen: Dabei handelt es sich um die Idee positiv definierbarer, also kohärenter Entitäten bzw. geschlossener Systeme, konkret: die Idee einer klaren Trennung zwischen ›virtuellem Raum‹ und ›Realraum‹ sowie einzelner virtueller Räume voneinander – und die daraus abgeleitete Schlussfolgerung, würden die »Kinderschänder« aus Second Life verbannt (und sich stattdessen an anderen Orten verabreden), wäre das Problem gelöst, indem es wieder in die 4 5
Berichte und Interviews wurden von verschiedenen Fernsehsendern ausgestrahlt, am ausführlichsten von RTL (24.6.2007). Die Frage, welche Funktion ein Ideal von Störungsfreiheit erfüllt, ist eng verbunden mit jener nach dem Ideal eines subversiven Potenzials gegenüber einer als negativ bewerteten Ordnung – beide Idealbilder gehen von der Möglichkeit einer eindeutig definierten und klar begrenzten Entität aus.
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›Unsichtbarkeit‹ des ›Dunklen‹ und ›Geheimen‹ – des Unbewussten? – verdrängt würde und die Kohärenz einer davon klar trennbaren ›heilen Welt‹ gewahrt bliebe. 2. eine vorgeblich ›zwingende‹, klar definierte Beziehung zwischen diesen Entitäten: Die gleichzeitige, in Debatten um die Wirkung von Medien immer wieder vertretene Auffassung, es bestünde eine direkte Kausalverbindung zwischen der medialen Repräsentation z.B. von Gewalt und real ausgeführter Gewalt, ist nur scheinbar konträr zur Idee einer klaren Trennung zwischen Medialität und Realität.6 Aus dieser Auffassung folgt gewissermaßen konsequent u.a. eine die gesamte mediale Berichterstattung durchziehende Gleichsetzung von Pornografie und Missbrauch. 3. die beiden Prämissen zugrunde liegende Vorstellung von Kohärenz: Diese bildet zugleich die Basis für die – im Widerspruch zu nach wie vor für das Netz proklamierten Verheißungen freier Verfügbarkeit einer grenzenlosen Auswahl verschiedenster Identitäten stehende – Idee von Eindeutigkeit und Kalkulierbarkeit. Im vorliegenden Fall äußert diese sich in der – u.a. strafrechtlich relevanten – Vorstellung, es gäbe zwischen ›realen‹ Personen und deren jeweiligen virtuellen Personae eindeutig identifizierbare Übereinstimmungen, diese seien also im ›wirklichen Leben‹ nicht etwas anderes als sie im virtuellen Raum vorgeben zu sein (z.B. ein ›13-jähriges Mädchen‹, oder ›Anti-Kinderporno-DemonstrantIn‹) und Avatare würden somit direkte Rückschlüsse auf ›dahinter‹ befindliche Individuen erlauben.7
6
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Der in einer Vielzahl unterschiedlicher Medienberichte zum Thema »Kinderpornoskandal in Second Life« als ›Experte‹ präsentierte Traumatherapeut LutzUlrich Besser etwa spricht davon, dass sich Bilder von augenscheinlich pädophil agierenden Avataren bei Usern »regelrecht einbrennen im Gehirn [und] als handlungsleitende Muster dienen […], als spielerische Einübung, Opfer zu sein […] bzw. Täter zu werden.« (Lutz-Ulrich Besser im Kulturzeit-Beitrag [3Sat] vom 15.5.2007 zum »Kinderpornoskandal in Second Life«) Siehe auch den vergleichbaren RTL-Beitrag unter http://www.myvideo.de/watch/1453155 (zuletzt aufgerufen am 21.8.2007). In ähnlicher Weise werden nach Gewalthandlungen wie Massakern an US-Colleges oder europäischen Schulen in stereotyper Wiederholung sogenannte ›Gewaltvideos‹, wozu wahlweise auch wiederholt Musikvideos von Marilyn Manson gezählt werden, als vorgebliche Ursache angeführt. Diese Vorstellung bestimmt auch die aktuelle Diskussion um die Verlinkung von Daten der Pädophilie verdächtigter User mit Polizeiregistern – womit u.a. unterstellt wird, dass sich pädophile User stets mit einem verifizierbaren Identitätsnachweis einloggen. Bislang ungelöst ist zudem das juridische Dilemma, ob Interaktionen zwischen virtuellen Spielfiguren in Second Life überhaupt als »wirklichkeitsnahe Abbildungen« zu werten seien, um im Sinn des Strafgesetzbuchs als »wirklichkeitsnahe Abbildung einer geschlechtlichen Handlung an einer unmündigen Person« geahndet werden zu können – oder ob ein neuer Straftatbestand für derartige Fälle zu schaffen sei (siehe §207a des österreichischen Strafgesetzbuchs; vgl. §184b des deutschen Strafgesetzbuchs). Ein sol-
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Vor allem aber geht es um die Vorstellung eines idealen Raums – eines Raums, in dem nicht nur alles möglich, sondern vor allem ›harmonisch‹ und ›demokratisch‹ möglich ist –, die die Wirkmächtigkeit der Fantasie der Alterität sichert.8 So erlaubt die Idee eines klar umgrenzten und störungsfreien Raums9 als ideales Gegenkonzept zu einer als defizitär empfundenen Realität ein Ausblenden der grundsätzlichen Bedingtheit auch virtueller Umgebungen durch kulturelle, ökonomische und politische hegemoniale Strukturen, Wahrnehmungs- und Wertesysteme. ›Störfaktoren‹ werden als von ›Außen‹ kommend imaginiert – in der Konstruktion eines ›Außen‹, das mit dem jeweiligen ›Innenraum‹ (in diesem Fall Second Life) vorgeblich nichts zu tun hätte – nur so lässt sich das schockhafte Erstaunen erklären, mit dem besagter ›Skandal‹ quer durch alle Medienberichterstattungen quittiert wurde; und nur so auch besagte Idee, mit der Verbannung der »Kinderschänder« aus Second Life würde sich das Problem erledigen.
S c h a f ft W i s s e n Inwieweit kann nun die Interpretation dieser Reaktionen auf besagte ›Störung‹ als Folge einer »Verdrängung« (bzw. als Bildung des Unbewussten) eine Basis für deren Reflexion bieten? Welche analytische Bedeutung hätte die Differenzierung von Bewusstem und Unbewusstem bzw. das ›Wissen‹,
8 9
cher wäre jedenfalls mit der Herausforderung einer Reformulierung der Definition von Realität und Repräsentation verbunden. Diese wird im Übrigen auch durch die massive Präsenz von Konzernen und nationalstaatlichen Institutionen nicht gemindert. Derartige Idealvorstellungen sind keineswegs neu und ihre Genealogie reicht von Platos utopischem Staatsroman »Politeia« über die als Antwort auf die Industrialisierung entwickelten Konzeptionen idealer Gesellschaften der Frühsozialisten bis hin zum Kleinstadtromantizismus des new urbanism bzw. den planned communities des Disney-Konzerns oder Testmodellen für zukünftige Weltraumkolonien bzw. die Schaffung einer geschlossenen ›zweiten Biosphäre‹ wie im NASAProjekt Biosphere II in der Wüste von Arizona. Mit »Politeia« entwirft Plato im 5. Jahrhundert v.u.Z. mit der Idee einer elitären, aristokratischen Republik quasi ein Konkurrenzkonzept zur sich in Etablierung befindlichen Demokratie und begründet mit dem utopischen Staatsroman ein Genre, das sich über Jahrhunderte weiter tradierte, wie etwa auch in Thomas Mores 1516 als Kritik an der Politik Heinrichs VIII. entworfenem »Utopia«. Was Platos Idealstaat, Robert Owens 1825-1827 in Indiana betriebene Genossenschaftssiedlung New Harmony oder Biosphere II und zahlreiche andere Konzeptionen von Idealräumen verbindet, ist u.a. ihre klare räumliche Trennung (durch Wasser, Mauern o.ä.) von ihrer Umgebung. Vgl. dazu: Klaus J. Heinisch (Hg.): Der utopische Staat, übersetzt von K. Heinisch, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1960; Franziska Bollerey: Architekturkonzeptionen der utopischen Sozialisten. Alternative Planung und Architektur für den gesellschaftlichen Prozess, Berlin: Ernst 1991. http://www.celebrationfl.com/press_ room/index.html; http://www.biospheres.com/ (zuletzt aufgerufen am 3.8.2008).
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dessen Verdrängung bzw. Bewusstmachung hier zur Debatte stünde? Die »Geisteswissenschaften als das Unbewusste der Naturwissenschaften«10 hinsichtlich der jeweiligen Reflexion – oder aber Verdrängung – der Rolle der Geschlechtercodes für die Wissensordnung und Wissensproduktion zu beschreiben, scheint zunächst doppelt problematisch: Zum einen legt diese Metapher nahe, entweder die Rolle der Geschlechtercodes als Diskurs zu klassifizieren, über den in den Naturwissenschaften kein Wissen verfügbar ist – mit der in diesem Fall implizierten Gleichsetzung einer Reflexion dieser Rolle mit der Rolle selbst käme den Geisteswissenschaften jedenfalls keine Wissens- bzw. Wissenschafts-Funktion zu. Oder aber die Metapher legt nahe, die Reflexion über eben diese Rolle der Geschlechtercodes als ein Bewusstmachen (eines Unbewussten) zu definieren – in diesem Fall würden die Geisteswissenschaften zum Bewussten, also zum »Subjekt, dem Wissen unterstellt wird« (oder auch zum unterstellten Wissen). In jedem Fall bleibt die Subjektposition (des Aussagens wie der Aussage), die darüber jeweils hergestellt werden soll, unhinterfragt. Wenn nun vor allem zum anderen davon auszugehen ist, dass in beiden Fällen diskursive Konstruktionen als Störung und Antrieb von Diskursproduktion identifiziert werden, dann bleibt eine analytisch wie politisch entscheidende Frage offen: nämlich die Frage, wie sich die Diskurslogik beschreiben ließe, die diese diskursiven Formationen ebenso wie ein Wissen um sie, aber auch die Differenzierung zwischen »bewusst« und »unbewusst« bedingt – das heißt: als Differenzkonstruktionen allererst notwendig macht. Entscheidend ist diese Frage in Hinblick auf eine Anfechtbarkeit und ReArtikulation diskursiver Konstruktionen und somit von Wissensordnungen, die sich nur über eine Analyse der diskurslogischen Voraussetzungen jener Konstruktionen argumentieren lässt – ohne auf Essenzialismen oder auf Relativismen zu rekurrieren. Diese ist nicht zuletzt hinsichtlich der Definition und das Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften relevant. Wie Lacan betont, ist das, was Wissenschaft als Wissenschaft konstituiert, lediglich die Eingrenzung und Definition eines spezifischen Forschungsgegenstandes – also eines diskursiven Konstrukts. Wenig überraschend erweisen sich daher seine Überlegungen, ob die Psychoanalyse eine Wissenschaft sei, als äußerst widersprüchlich, denn jenes Konstrukt, das er bedingt (1965) als Gegenstand der Psychoanalyse geltend macht, ist nicht wie bei Freud etwa das Unbewusste,11 sondern das Objekt a12– also jene Kategorie, die gerade die Unmöglichkeit einer Eingrenzung und Definition bezeichnen soll. Folgerichtig kommt er
10 Siehe dazu die Formulierung im Konzept der dieser Publikation vorangegangenen Tagung: http://www2.hu-berlin.de/gkgeschlecht/unbewusst/ beschr.php (zuletzt aufgerufen am 3.8.2008). 11 S. Freud [1925]: GW Bd. XIV, S. 96. 12 Jacques Lacan [1965]: Écrits, Paris: Seuil 1966, S. 863.
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zu dem Schluss, die Psychoanalyse sei keine Wissenschaft, sondern (eine Praxis bzw.) »ein Wahn, der Wissenschaft hervorbringen soll«.13
Praxis und Existenz Mit Praxis und Wahn ließe sich im Wesentlichen Produktion als solche (nicht nur von Wissenschaft) umschreiben, insofern, als Produktion die Herstellung von ›Etwas‹ – Bedeutung, Identität, Realität –, also von Existenz, meint. Die Annahme einer Entität (also von ›Etwas‹, verstanden als Totalität), die etwa auch einem Verständnis des Unbewussten als »abwesende Ursache« – die potenziell in eine Anwesenheit überführt werden könnte – zugrunde liegt, erweist sich spätestens dann als analytisches und politisches Problem, wenn die Praxis, ›Etwas‹ von ›etwas Anderem‹ zu differenzieren, als lediglich deskriptiver Vorgang verstanden wird: zum Beispiel die Differenzierung von Avataren augenscheinlich ›Minderjähriger‹ von Avataren augenscheinlich ›Erwachsener‹ – oder auch von sogenannten »Furries«, pelzigen, tierähnlichen Avataren, deren sexuelle Interaktion mit menschenähnlichen Avataren im Zuge der Aufregungen um den sogenannten »Kinderpornoskandal« innerhalb von Second Life ebenfalls sanktioniert wurde, womit »Furries« – mit oder ohne Sex – insgesamt in Misskredit gerieten.14 Nicht nur Differenzierungen dieser Art lassen sich keineswegs als bloß deskriptiv (im Sinn einer Beschreibung von Vorhandenem) verstehen. Sowohl Struktur als auch Effekte dieser Operationen entsprechen vielmehr genau darin jeder anderen Form der Produktion von Bedeutung und Identität – als Herstellung von Realität bzw. Existenz. Als existent kann also nur behauptet werden, was sich – genauer: indem es sich – auf der Ebene des Symbolischen einschreibt, also bezeichnet wird. Der Signifikant erzeugt das Signifikat im Prozess des Signifizierens. Damit ist dieser Prozess aber nicht abgeschlossen, denn die differenzielle Verkettung der Bezüge erzwingt – und ermöglicht – eine fortlaufende Bewegung, ein »Über-eine-spezifische-Bedeutung-hinaus-Weisen«.15 Die daraus folgende 13 Jacques Lacan: Séminaire 11.1.1977, S. 14:4. Dies ist auch als Hinweis darauf lesbar, dass der Anspruch einer Metasprache unumgänglich und dennoch uneinlösbar ist. 14 http://www2.onspiele.t-online.de/c/10/58/12/14/10581214.html (zuletzt aufgerufen am 15.11.2007). 15 Siehe dazu Jacques Lacan: »L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depuis Freud« [1957], in: Écrits, Paris: Seuil 1966, S. 493-528; dt.: Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud, übersetzt von Norbert Haas, in: Schriften II, Olten: Walter-Verlag 1975, S. 15-55; Jacques Lacan: Le Séminaire. Livre XI, Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse [1964], Paris: Seuil 1973; dt.: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI, übersetzt von Norbert Haas, Weinheim, Berlin: Quadriga Verlag, 3. Aufl. 1987; ders: Le Séminaire. Livre XX, Encore [1972-
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Unmöglichkeit einer Kongruenz des Signifikanten mit seiner je spezifischen Lokalisierung in einem Signifikat, also die Unmöglichkeit einer Schließung im Sinn eines ›Vollendens‹ und damit ›Stillstellens‹ von Bedeutung benennt Lacan mit dem Terminus des »Realen«.16 Dieses ist also keineswegs mit ›Realität‹ gleichzusetzen, sondern macht, ganz im Gegenteil, die unaufhörliche Re-Artikulation immer neuer Realitätskonstruktionen allererst notwendig. Genau in diesem Sinn – aufgrund dieser Unmöglichkeit einer Totalität – ist der Prozess der Herstellung von Bedeutung, konstitutiv.17 Inwiefern dieser Prozess nur als differenzieller denkbar ist, zeigt sich paradigmatisch an der Frage der Sexuierung – insofern Existenz Subjekten nicht anders denn als sexuierte verfügbar ist –, womit an dieser Stelle gerade nicht auf »Geschlechtercodes« bzw. spezifische Genderkonstruktionen referiert werden soll.
B i n a r i t ä t o d e r p r o d u k t i ve s S c h e i t e r n Um zu verdeutlichen, inwiefern die Frage nach der Möglichkeitsbedingung von Existenz eine Argumentationsgrundlage für die Kritik der Vorstellung diskreter Entitäten bietet – eine Kritik, die sich nicht über die Kategorie des Unbewussten argumentieren lässt, da dieses nur als diskursiv bzw. als Kategorie des Soziosymbolischen zu denken ist –, möchte ich eine radikale Lesart von Lacans Formeln der Sexuierung vorstellen. Diese propositionalen Formeln bieten einerseits, wie ich zeigen möchte, die Basis für eine Neudefinition der Kategorie Geschlecht, die auch vermittelt, inwiefern sich die politische Bedeutung eines Existenzurteils über die Frage nach dessen sprachlogischen Voraussetzungen erschließt. Andererseits aber, und darauf möchte ich ebenso großes Augenmerk legen, lässt sich genau an der Darstellung dieser Formeln das Problem einer 73], hg. von Jacques-Alain Miller, Paris: Seuil 1975; dt.: Das Seminar. Buch XX, Encore, übersetzt von Norbert Haas, Vreni Haas, Hans-Joachim Metzger, Weinheim, Berlin: Quadriga 1986; vgl. zum Folgenden auch: Lummerding, Susanne: agency@?, Wien, Köln: Böhlau 2005, S. 97-180. Der Terminus der »Einschreibung« soll hier auf die sprachliche Verfasstheit des dabei Hergestellten verweisen, die jegliche Vorgängigkeit ausschließt. 16 J. Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 175f; sowie ders.: Television [1974], in: Radiophonie. Television, übersetzt von Jutta Prasse, Hinrich Lühmann, Weinheim, Berlin: Quadriga 1988, S. 55-98, 68f., 83ff.; vgl. dazu S. Lummerding: agency@?, S. 100-104, 124-126, 136-148, 151-181, 259-275. 17 Diese konstituive Funktion beschränkt sich nicht auf Avatare in sogenannten virtuellen Räumen – »Furries« oder Avatare augenscheinlich ›Minderjähriger‹ oder solche augenscheinlich ›Erwachsener‹ sind vermitteltes Resultat einer Differenzierung, nicht deren Grundlage –, sondern betrifft jede Herstellung von Identität/Realität und somit auch die Konstruktion eines Gegensatzes von Realität und Virtualität als Resultat einer Differenzierung.
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sprachlichen (textuellen oder bildlichen) Benennung einer fundierenden sprachlogischen Unmöglichkeit aufzeigen, aber zugleich auch das eingangs benannte Problem einer (metaphorischen, kategorialen oder anders definierten) Verortung, durch die – als Verortung von ›Etwas‹ – die Idee getrennter, diskreter Entitäten nicht unterlaufen, sondern gestützt wird. Um Sexuierung bzw. sexuelle Differenzierung entgegen jeglicher biologistischen Erklärung als Formulierung eines Existenzurteils zu argumentieren, »resultierend aus einer logischen Forderung im Sprechen«, wählt Lacan propositionale Formeln18 – also eine mathematisierte Ausdrucksweise, die ein Abstrahieren von spezifischen gesellschaftlich-kulturellen Konnotationen erlaubt.19
Formatiert in zwei Spalten sind je zwei einander scheinbar widersprechende Propositionen zu sehen: auf der rechten Seite ist zu lesen: »Es gibt kein x, für das die Funktion Φ nicht gilt« und darunter: »Für nicht-alle x gilt die Funktion Φ«; und auf der linken Seite: »Es gibt ein x, für das die Funktion Φ nicht gilt« und darunter: »Für alle x gilt die Funktion Φ«.20 Die »Funktion Φ«, auf die alle Propositionen Bezug nehmen, ist eine Bezeichungsvariante jener Funktion, für die Lacan immer wieder unterschiedliche Termini verwendet (wie u.a. »Objekt klein a«),21 und soll die fundamentale Unmöglichkeit markieren, das Verfehlen der Sprache sprachlich zu erfassen. Die »Funktion Φ« bezeichnet also nicht ›Etwas‹, sondern eine Unmöglichkeit bzw. die Negation der Vorstellung, dass es eine quasi ›vollständige‹ und ›kohärente‹ Identität gäbe bzw. geben könnte, die jeder Differenzierung vorgängig wäre.22 Wenn jegliche Identität demnach Folge und nicht Grundlage einer Differenzierung, also eines sprachlichen Prozesses ist – und gerade in diesem Sinn Realität: Welche Bedeutung hätte die Kategorie Geschlecht in diesem Zusammenhang? Beziehungsweise inwiefern wäre Geschlecht als Kategorie neu zu denken, wenn eine Verortung von Geschlecht auf der imaginären oder der symboli18 Jacques Lacan: Eine Lettre d’âmour, in: ders., Das Seminar, Buch XX, Encore [1972-73], Berlin: Quadriga 1986, S. 85-96. 19 J. Lacan: Das Seminar. Buch XX, Encore, S. 14. 20 Die über einzelnen Symbolpaaren stehenden Querstriche sind jeweils als Negation zu lesen. 21 Siehe dazu S. Lummerding: agency@?, S. 113ff. 22 Jacques Lacan La signification du phallus [1958], in: Écrits, Paris: Seuil 1966, S. 683-696; dt.: Die Bedeutung des Phallus, übersetzt von Chantal Creusot, Norbert Haas, Samuel M. Weber, in: Schriften II, Weinheim, Berlin, Quadriga Verlag 1991, S. 119-132.
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schen Ebene die Frage nach den Voraussetzungen lediglich verschieben, aber nicht beantworten kann – und sich somit in dieser Form analytisch wie politisch als limitiert, wenn nicht als kontraproduktiv erweist? Die Frage, die ich hier zunächst aufwerfen möchte, ist: Lässt sich das, was die mathematischen Propositionen zeigen, tatsächlich als Gegenüberstellung zweier getrennter Positionen, etwa einer ›männlichen‹ und einer ›weiblichen‹, bezeichnen? Während Lacan die beiden Formelpaare als »weibliche« bzw. »männliche« Position apostrophiert, betont er gleichzeitig, dass beide Positionen allen Sprechwesen (parlètres) ungeachtet anatomischer oder anderer Zuschreibungen zur Verfügung stehen, um als Subjekte – also als signifikant – in Erscheinung zu treten, das heißt: zu existieren. Verzeichnet sind auf beiden Seiten x, nicht etwa zwei unterschiedliche Kategorien wie etwa x und y. In der Lacan-Rezeption wird jedoch nahezu ausschließlich auf Lacans Bezeichnung der ›zwei Positionen‹ als ›männliche‹ und ›weibliche‹ rekurriert und diese wie selbstverständlich übernommen.
Die Formeln ließen sich aber hinsichtlich einer Neudefinition der Kategorie Geschlecht – wie ich behaupte – auch ganz anders lesen, nämlich darauf hin, dass hier nicht die Anzahl der Optionen (etwa zwei) wichtig für die Aussage ist, sondern die Überlegung, dass Differenzierung per se als Voraussetzung für Existenz notwendig ist – ohne damit Form oder Anzahl je spezifischer Einschreibungen festzulegen. Diese Lesart scheint gerechtfertigt, wenn die mathematische Formalisierung nicht als deskriptive Unterscheidung verstanden wird – die ›Etwas‹ zu Unterscheidendes bereits unterstellte –, sondern als eine Unterscheidung in Form zweier unterschiedlicher Argumente im Verhältnis zu einer Funktion (Φ). Dafür spricht auch die Widersprüchlichkeit beider Argumente, die auf das grundsätzlich notwendige Scheitern hinsichtlich der Herstellung einer kohärenten Identität oder Eindeutigkeit verweist. Es handelt sich nur um unterschiedliche Modi des Scheiterns, die sich wohlgemerkt weder symmetrisch noch komplementär zueinander verhalten – also auch zusammen kein ›Ganzes‹ ergeben: Der auf beiden Seiten über die Behauptung einer Totalität formulierte Universalanspruch (»Für alle x gilt ... « bzw.: »Es gibt kein x, für das ... nicht gilt«) wird auf der von Lacan als »weiblich« titulierten rechten Seite durch den Hinweis auf das Fehlen einer Grenze (»Nicht-alle«) als unmöglich bzw. ein Existenzurteil als unentscheidbar ausgewiesen. Die absolute Gesamtheit einer unendlichen Progression ist per de-
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finitionem undenkbar.23 Auf der linken Seite hingegen wird über die Behauptung einer Grenze bzw. einer Ausnahme (»Es gibt ein x, für das die Funktion Φ nicht gilt«) ein Existenzurteil bzw. eine Totalität scheinbar formulierbar, aber eben nur unter der Voraussetzung einer behaupteten Ausnahme – durch die Setzung eines fiktiven ›Außen‹, das als Grenze fungiert, die zur Formulierung einer ›Totalität‹, eines ›Alle‹ notwendig ist. Die Konstruktion eines ›Außen‹ wird somit als unumgänglicher Teil der Konstruktion des Phantasmas der Möglichkeit von Totalität bzw. Kohärenz deutlich, auf nur dessen Grundlage die Formulierung eines Existenzurteils erfolgen kann – als phantasmatisches. Das logisch-analytische Potential dieser Formalisierung liegt demnach, wie ich hervorheben will, darin, nicht nur zu verdeutlichen, dass sich jeder Anspruch einer positiven, eindeutigen, sexuellen Identität einem Phantasma verdankt. Eine entsprechende Lesart bietet darüber hinaus, wie ich noch ausführen möchte, einen weit entscheidenderen Spielraum.
Dem steht allerdings – und damit komme ich auf das oben erwähnte Problem der Verortung (und Trennung) zurück – Lacans Visualisierung der Formeln entgegen. Das Problem liegt, wie ich meine, nicht nur in der Bezeichnung der formalisierten Argumente als »männliche« und »weibliche« Positionen, wodurch eine dekonstruktive Lesart erschwert wird. Es liegt noch viel eher darin, dass die Argumente durch eine klare Trennlinie voneinander abgegrenzt sind, 23 Lacans daraus abgeleitete Konsequenz: »Die Frau existiert nicht« / »La femme n’existe pas« bzw. »Es gibt nicht Die Frau [...]« / »il n’y a pas La femme [...]« (als universale Kategorie bzw. Garantie der Phantasie eines – als ›männlich‹ definierten – kohärenten Subjekts) lässt sich nur unter der Voraussetzung einer Zuordnung jeweils eines der Argumente an eine »weibliche« bzw. eine »männliche Position« überhaupt verstehen und erweist sich daher für eine antiessenzialistische Argumentation bzw. eine De-Lokalisierung als letztlich wenig hilfreich. J. Lacan: unveröffentlichtes Seminar 18 [1970/71] bzw. J. Lacan: Encore, S. 80.
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die, zusammen mit dem sie umgebenden Rahmen, die Argumentationsfolgen in unterschiedliche Felder teilt und somit auch durch die Akzentuierung eines räumlichen Verhältnisses voneinander abgrenzt. Dieser Effekt wird auch nicht durch die beiden unteren Felder aufgehoben, in denen die Konsequenz der Argumentation der oberen Felder, nämlich die »Unmöglichkeit eines Geschlechtsverhältnisses«,24 mithilfe von Richtungspfeilen formalisiert ist, deren Ausgangspunkte keinen gemeinsamen Berührungspunkt finden. Der Eindruck der Zuordnung zweier klar unterschiedener Positionen zu je einem von zwei durch eine senkrechte Linie klar getrennten Feldern wird auch hier augenscheinlich bestätigt. Es ist nicht zuletzt diese quasi-räumliche Anordnung getrennter Felder bzw. Positionen, mit der Lacans Formelschema die darin angelegte Loslösung von einer Identifizierung und Klassifizierung zweier Positionen als eine ›männliche‹ und eine ›weibliche‹ nahezu verunmöglicht. Demgegenüber möchte ich eine wesentlich weitergehende Schlussfolgerung aus den oben stehenden Argumenten vorschlagen, die sich gerade nicht auf diskrete Positionen/Entitäten beruft bzw. zu solchen zurückführt. Denn den entscheidenden Punkt der Formalisierung sehe ich darin, dass die Formeln nicht nur den phantasmatischen Charakter jedweden Anspruchs einer positiven, also eindeutigen, sexuellen Identität aufzeigen, sondern dass sie darüber hinaus, wie ich behaupte, gerade nicht notwendigerweise als zwei klar getrennte Felder sexueller Zuordnungen zu lesen sind, sondern vielmehr als Argumentation der für jedwede Herstellung von Identität bzw. Bedeutung (also Realität) notwendigen Konstruktion einer Alterität (als solche). Nur über die Konstruktion der ›Andersheit‹ eines ›Anderen‹ kann ›Etwas‹ als existent argumentiert werden. Das heißt, die Unmöglichkeit, Bedeutung zu schließen bzw. zu fixieren (die Funktion Φ), weist nicht nur jedes Existenzurteil bzw. jede Konstruktion von Identität als notwendig phantasmatische aus. Vielmehr bedeutet sie vor allem auch den Grund, weshalb jede Übersetzung in eine ›Binarität‹, in gegensätzliche symbolische Einschreibungen, scheitern muss – insofern Binarität zwei erschöpfende Totalitäten implizieren würde, was per definitionem unmöglich ist. Die Unumgänglichkeit einer Konstruktion von Alterität für die Konstruktion von Identität stellt also zugleich deren Unmöglichkeit im Sinn einer Totalität dar und bedeutet die grundsätzliche Vermitteltheit beider Konstruktionen – weshalb etwa auch eine Trennung zwischen Realität und Medialität Konstruktcharakter besitzt (also selbst als vermittelt zu sehen ist), wie das Beispiel von Second Life verdeutlicht. Diese Unmöglichkeit, dieses ›Scheitern‹ ist also nicht nur in höchstem Maß produktiv – es ist die einzig verfügbare Form der Produktivität, insofern als damit – anders als in der Argumentation etwa Judith Butlers – keine unvollständige oder instabile Bedeutung oder aus dem Diskurs ausgeschlossene
24 J. Lacan: Encore, S. 13, 39, 67, 89, 123.
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Identitäten,25 also kein ›Anderes des Diskurses‹ gemeint ist. Dementsprechend würde auch eine Interpretation des Unbewussten als prädiskursiv oder nicht-diskursiv die Produktivität dieser grundsätzlichen Unmöglichkeit, Bedeutung zu vervollständigen bzw. zu fixieren, verkennen. Dass die Notwendigkeit einer Differenzierung gerade keine spezifische Form der differentiellen Einschreibung festlegt bzw. je spezifisch rechtfertigt, bedeutet, dass keine Identitäts- bzw. Realitätskonstruktion und keine soziosymbolische ›Norm‹ gegenüber einer beliebigen anderen eine privilegierte Legitimität beanspruchen kann – etwa unter Berufung auf Kategorien wie ›Natur‹ oder eine vorgängige ›Substanz‹.
Medialität des Politischen Genau an diesem Punkt wäre daher auch das Moment des Politischen anzusetzen. Dieses wäre somit der Dimension des Realen zuzuordnen und mit Claude Lefort und Ernesto Laclau von »Politik« zu unterscheiden, die der Dimension des Soziosymbolischen zuzuordnen wäre. Während das Politische (le politique) in diesem Sinn eine Konfrontation mit dem Moment radikaler Inkohärenz bedeutet, bezeichnet Politik (la politique) die je spezifischen Einschreibungen im Symbolischen als Versuche, mit dieser Inkohärenz zurande zu kommen und sie – durch phantasmatische Konstruktionen von Kohärenz (von Bedeutung, Identität, Realität) – vorübergehend zu verdecken. Argumentationen wie jene von Butler, die Gender als Identitätskonstruktion auf den Verlust eines spezifischen (d.h. signifizierten) Objektbezugs zurückführt,26 beschränken sich damit auf die Ebene des Soziosymbolischen (also jene der Politik). Auch ein Reklamieren des Unbewussten als störendes und potenziell subversives Moment entspräche genau dieser Argumentationsstruktur – insofern als das Unbewusste selbst nur Diskursprodukt sein kann. Das Unbewusste ist eben nicht das Andere des Diskurses, sondern Diskurs des Anderen27, das heißt: wesentlich intersubjektiv bzw. soziosymbolisch.28 Daraus ergibt 25 Vgl. Judith Butler: »Melancholisches Geschlecht/Verweigerte Identifizierung«, in: dies., Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung (The Psychic Life of Power. Theories in Subjection, Stanford: Stanford University Press 1997), übersetzt von Reiner Ansén, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 125-141, 151-156. 26 Vgl. ebd., S. 125-141, 151-156. Butler rekurriert hier vor allem auf Freuds Beschreibung der für die Ausbildung der ›Geschlechtszugehörigkeit‹ wesentlichen Identifizierungen als zum Teil durch Verbote erzeugte, die den Verlust und die Verwerfung ›bestimmter sexueller Verhaftungen‹ verlangen. 27 J. Lacan: Écrits, S. 16 28 J. Lacan: Écrits, S. 258; J. Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 23ff, 116; Jacques Lacan: Das Seminar, Buch VII (1959-1960). Die Ethik der Psychoanalyse, übersetzt von Norbert Haas, Weinheim, Berlin: Quadriga 1996, S. 22, 42, 56.
B(W ) IST IMMER SCHON U(BW ). ZUR MEDIALITÄT VON BINÄRSTRUKTUREN | 315
sich das Problem, dass die Beschränkung der Analyse auf die Ebene konkreter Einschreibungen im Soziosymbolischen keine Erklärung bieten kann für diese Einschreibungen von Differenz – und somit auch keine Argumentation für deren Anfechtbarkeit. Die Trennung des Unbewussten vom Bewussten stellt dabei, ebenso wie die Trennung der Realität von Medialität, selbst eine hegemoniale Differenzkonstruktion dar, die als Konstruktion des Phantasmas diskreter, also klar definierbarer, kohärenter Größen eine Versicherungsfunktion erfüllt, indem das Unbewusste zu einer Art Hoffnungsträger werden kann in der Verhandlung eines ›Wissens‹ über ›Etwas‹. Sowohl Butlers Rekurs auf einen ›Verlust‹ eines spezifischen Objektbezugs29 als auch die durch das Präfix »Un-« transportierte dialektische und somit potenziell aufhebbare Negativität, die das Verhältnis von Bewusstem und Unbewusstem über den Begriff der Verdrängung definiert, setzen ›Etwas‹ voraus, was vermeintlich verloren wurde – und demnach potenziell wiederzugewinnen bzw. von U(bw) nach B(w) zu transferieren wäre.30 Dies ermöglicht zwar die Beobachtung der Effektivität von Normen (wie etwa Heteronormativität), aber nicht die Analyse der Voraussetzungen für die Etablierung von Normen. Diese wäre nur mit dem Verweis auf das Reale (und damit auf die Dimension des Politischen) zu argumentieren. Nur die analytische Unterscheidung der Dimension des Realen von jener des Soziosymbolischen ermöglicht ein Verständnis, weshalb sich die Unmöglichkeit von Kohärenz im Soziosymbolischen notwendig – über eine Differenzierung – einschreiben muss, um Bedeutung/Identität/Realität zu konstituieren. Es ist also eine dezidiert politische Überlegung, die für die VerWendung gerade des Terminus Geschlecht (als analytischen Begriff) spricht, um eben nicht ›Etwas‹ zu bezeichnen (im Sinn einer phänomenalen bzw. ontischen Größe oder konkreter Einschreibungen), sondern um das Moment des Realen – und damit die sprachlich bedingte Notwendigkeit einer Differenz als solcher – in ihrer konstitutiven Funktion für die je immer nur temporäre Herstellung von ›Subjekt‹ bzw., präziser, von Subjektpositionen deutlich zu machen – und um gerade an diesem traditionell essenzialistisch konnotierten Begriff (Geschlecht) paradigmatisch die absolute Unverfügbarkeit jedweder Vorgängigkeit festzumachen. Geschlecht – als Unmöglichkeit – kann in diesem Sinn also nicht mit den symbolischen Einschreibungen (d.h. Differenzkonstruktionen) – also z.B. mit Gender-Konstruktionen – gleichgesetzt werden, sondern wäre als deren sprachlich-logische Voraussetzung auf der Ebene des Realen zu verstehen. Diese Konzeption von Geschlecht – als weder imaginärer noch
29 Vgl. J. Butler: Psyche der Macht, S. 125-141, 151-156. 30 Dem entspricht auch Butlers konsequentes Festhalten am (körperlich definierten) Begriff des »Ich«; ein Begriff, den Lacan als imaginäre Bildung bzw. als das »privilegierte Symptom« des Subjekts und somit gerade nicht als kritisches Potenzial definiert.
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symbolischer Formation, sondern als Moment des Realen – ermöglicht, jegliche soziosymbolische (Differenz-)Konstruktion – also nicht nur Genderkonstruktionen – als je nur spezifischen ›Platzhalter‹ zu begreifen, der in erster Linie die Funktion hat, die Unmöglichkeit von Kohärenz zu verdecken. Das Moment des Realen determiniert also nicht, was sich auf der Ebene des Soziosymbolischen, d.h. auf der Ebene der Politik einschreibt, sondern bedeutet vielmehr den Grund, weshalb sich das, was sich auf dieser Ebene einschreibt und damit als ›Realität‹ hergestellt wird, niemals etwas anderes sein kann als das vorläufige Resultat hegemonialer Auseinandersetzungen – und genau aus diesem Grund anfechtbar ist. Da jeder Anspruch auf eine ›Eigentlichkeit‹ oder ›Unvermitteltheit‹ somit als phantasmatisch zu verstehen ist, wäre jede Realitätskonstruktion in diesem Sinn immer schon medial. Gleiches gilt demgemäß für die Kategorie eines politischen Subjekts. Das Subjekt des Politischen ist eben nicht als eindeutige, kohärente Identität definiert, sondern gerade als radikal unkalkulierbares die veränderbare und stets vorläufige Verkettung je bedingter Subjektpositionen.31 Jede Artikulation ist als Entscheidung gerade in dem Sinn politisch, als sie sich eben nicht auf eine ›Garantie‹ bzw. Legitimation berufen kann – und genau darin begründet sich Verantwortung. Wenn dagegen der Begriff des Un-Bewussten, verstanden als Ort unkontrollierbarer Potentiale von Störung und Antrieb, als Negation den entsprechenden Gegenbegriff des Bewussten stützt, so kann damit zum einen die Vorstellung einer vermeintlich kontrollierten bzw. kontrollierbaren Dimension (des Be-wussten) aufrechterhalten werden und somit die Vorstellung von Sicherheit. Wie zum anderen eingangs erwähnte Entwicklungen der Hirnforschung zeigen, stützt der durch Lokalisierungsversuche nahe gelegte biologische Determinismus nicht zuletzt eine Legitimierung von Normen, die auf diese Weise letztlich scheinbar unangreifbar werden. Der Rekurs auf eine vermeintliche Eigentlichkeit, die mit der Idee der Kontrollierbarkeit und Lokalisierbarkeit verbunden ist, bzw. ein potenziell vervollständigbarer ›Transfer‹ von U(bw) nach B(w), den eine Trennung zwischen UnBewusstem und Bewusstem suggeriert, ist jedoch nicht verfügbar: B(w) ist immer schon U(bw), Ver-Sicherung also nicht möglich. Während somit der Begriff des Unbewussten zwar geeignet sein mag, die auf der Ebene des Soziosymbolischen sich manifestierende Dynamik von Störung und Antrieb zu thematisieren, so erfordert die Argumentation einer Anfechtbarkeit genau jener je spezifischen Differenzkonstruktionen und Normierungen, die das Unbewusste – als Diskurs des Anderen, d.h. als Funktion des Soziosymbolischen – konstituieren, eine Analyse der Möglichkeitsbedingung ebendieser Formationen, die nicht auf Versicherung durch Binärstrukturen baut.
31 Vgl. S. Lummerding: agency@?, S. 97-148.
Das visuelle Unbewusste
Die Wiederkehr der Bilder und imperiale Inszenierungen im Kontext neuer Kriege SILKE WENK
In den letzten Jahren ist immer wieder von einer »Flut der Bilder« die Rede gewesen. Die Metapher der Flut legt nahe, dass etwas außer Kontrolle zu geraten droht und Schutzdämme errichtet werden müssen. Welcher Art diese im Feld des Visuellen beschaffen sein sollen, muss notwendig offen bleiben. Die Beschleunigung der Zirkulation der Bilder, ihre vielfältigen und nicht selten von widerstreitenden Interessen bestimmten Nutzungsweisen sind ebenso wenig aufzuhalten wie auch ihre Reichweite im globalen Maßstab. Zu fragen ist vielmehr, was das Bedrohliche daran ist. Meine These ist, dass mit der beschleunigten Zirkulation der Bilder auch die Verfügungsmacht oder genauer die Vorstellung von Souveränität auf dem Feld des Visuellen in Frage gestellt wird. Dabei geht es, so scheint mir, schon längst nicht mehr nur um die Befürchtung von Angehörigen der professionellen Bilddeutung und -wissenschaft, der Disziplin der Kunstgeschichte, von anderen Disziplinen ihres eigentlichen Gegenstands tendenziell enteignet zu werden (wie es etwa in den Debatten um den sogenannten pictorial turn aufscheint).1 Es geht vielmehr auch darum, und das lässt sich an den Bilderpolitiken im Kontext der neuen Kriege verfolgen, dass Bilder, mit denen man sich in Sicherheit wiegen zu können glaubte, nun aus anderen Teilen der Welt wiederkehren, nicht selten unter veränderten Vorzeichen. Macht- und Herrschaftsverhältnisse sind eng mit Sichtbarkeitsverhältnissen verwoben. Durch sie wird reguliert, was zu sehen gegeben wird und was nicht, was verworfen oder auf ein Außen projiziert wird, gleichwohl nie gänzlich ›draußen‹ bleibt. Dass das Subjekt als gesellschaftliches Wesen sich 1
Vgl. Sigrid Schade: »Vom Wunsch der Kunstgeschichte, Leitwisssenschaft zu sein. Pirouetten im sogenannten pictorial turn«, in: horizonte. Beiträge zur Kunst und Kunstwissenschaft, 50 Jahre Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft, Stuttgart: Hatje Cantz 2001, S. 369-378.
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durch Verwerfung und Abstoßung konstituiert, ist eine Einsicht der Psychoanalyse. Julia Kristeva hat diesen Prozess mit dem Begriff der Abjektion gefasst.2 Abjektionen strukturieren nicht nur die Bildung des Subjekts, sie bestimmen auch die Grenzen moderner Gemeinschaften, Nationen und ihrer Begleiter Kolonialismus und Imperialismus. Sie bestimmen nicht zuletzt auch die Wissenschaften, die sich ihrer annehmen, die Geschichts- und Politikwissenschaften. Anne McClintock hat in ihrem wichtigem Buch »Imperial Leather« den disziplinären cordon sanitaire, der zwischen Psychoanalyse und Geschichtswissenschaft errichtet wurde, problematisiert und diesen selbst zugleich als ein Ergebnis von Prozessen der Abjektion bezeichnet.3 Historisch sind uns zahlreiche Bilder überliefert, in denen das Andere als zu Verwerfendes visuell in Szene gesetzt wird, gegen welches das westliche Subjekt sich abgrenzend als Mitglied einer vermeintlich sicheren Gemeinschaft konstituiert. Das abjekte Objekt ist jedoch genauso wenig auf Dauer fixiert wie die Grenze, die es sichern soll. Es bleibt, obgleich abgespalten, eine stetige Herausforderung – in bestimmter Weise un/heimlich und eine Bedrohung der Grenzen, auf die auch im Feld des Visuellen immer wieder von Neuem geantwortet werden muss. Im Folgenden geht es mir nicht nur um Bilder des Verworfenen oder des zu Verwerfenden, die den Schrecken explizieren, sondern vielmehr auch um das Phänomen der Wiederkehr von Bildern, die uns allzu vertraut und deswegen nicht mehr bewusst sind und die nun aus anderen Kontexten in unser Bewusstsein zu treten vermögen. Darin könnte eine Chance der Aufklärung unseres eigenen »Unbewussten« liegen. Aktuelle Reaktionen scheinen jedoch eher vor allem vom Bemühen zu zeugen, die Grenzen neu zu sichern, die Sichtbarkeitsverhältnisse zu stabilisieren bzw. zu regulieren – durch Errichtung neuer vielfältiger Sperrbezirke.4
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Julia Kristeva: Pouvoirs de l’horreur, Paris: Seuil 1980. Zum Begriff der Abjektion und dessen Herleitung von Sigmund Freud über Mary Douglas zu Kristeva siehe auch Anne McClintock: Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest, New York, Boston: Routledge 1995, S. 71f. Ebd., S. 72. McClintock plädiert für die Entwicklung einer »situierten Psychoanalyse« – »a culturally contextualized psychoanalysis that is simultaneously a psychoanalytical informed history« (ebd.). Ihre Studie ist dafür exemplarisch und nach wie vor von höchster Aktualität. Der folgende Text beruht zu einigen Teilen auf einem bereits publizierten Text, dessen Überlegungen jedoch in Hinsicht auf die Frage nach dem Unbewussten erneut durchdacht und zugespitzt wurden: Silke Wenk: »Sichtbarkeitsverhältnisse: Asymmetrische Kriege und (a)symmetrische Geschlechterbilder«, in: Linda Hentschel (Hg.), Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse, Berlin: b_books 2008, S. 31-49.
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R ü c k k e h r e i n e s B i l d e s , e n ts t e l l t z u r K e n n t l i c h k e i t Menschen, die in die Niederlande einwandern wollen, müssen sich, so meldete es zum Beispiel Der Spiegel im Frühjahr 2006,5 nicht nur Bildern eines sich küssenden Männerpaares aussetzen, sondern auch dem Bild einer jungen Frau mit bloßen Brüsten. (Abb. 1) Solche Bilder stehen für die Liberalität westlicher Demokratien und gegen eine Kultur, in der Verschleierung für Frauen mehr oder weniger lange tradiertes Gebot ist. Bei all der möglichen Genugtuung darüber, dass nun auch Homosexualität zum gewöhnlichen, der ›Normalität‹ angehörenden Erscheinungsbild westlicher Öffentlichkeit geworden zu sein scheint – die Verwunderung darüber hatte schon manchen Kommentar zu den umstrittenen Fragebögen für Einwanderungswillige in einigen deutschen Bundesländern bestimmt –, ist nicht zu übersehen, dass sich hier ein neues Gebot ankündigt: Ein Gebot der Sichtbarkeit, des Sichtbarmachens ebenso wie des Hinsehens, ein Gebot, das mehr oder weniger stillschweigend neben das Erfordernis der Sprachkenntnisse des jeweiligen Einwanderungslandes getreten ist. Neben dem sich küssenden (bekleideten) schwulen Paar ist es ein bloßer Busen, anders als etwa der blanke Bauchnabel auch in unserer öffentlichen Kultur nicht unbedingt alltäglich, dem der Blick der Einwanderungswilligen sich stellen soll. Man kann die tradierte Liberté assoziieren, wie sie im berühmten Gemälde von Eugène Delacroix imaginiert und in den letzten Jahrzehnten vielfach auch als (vermeintliches) Zeichen nicht nur weiblicher Emanzipation, sondern auch von freiem Konsum des Westens zirkulierte (z.B. in einer Werbung von Telekom), freilich abgelöst von seinem Unter- oder Hintergrund, den Leichenbergen, über den die weiblich personifizierte Freiheit in dem Gemälde von 1830 nach vorne stürmt. Auf das Still des niederländischen Videos für Einwanderungswillige stieß ich im Frühjahr 2006 bei der Lektüre des Spiegel, den ich in an einem Kiosk in Yogyakarta gekauft hatte. In der indonesischen (in einer Plastikhülle eingeschweißten) Ausgabe des Spiegel war der Busen mit einem weißen Aufkleber verdeckt, der jedoch zugleich in seiner leichten Durchlässigkeit von der Doppeldeutigkeit zensorischer Maßnahmen zeugt, evoziert doch das Verdecken nicht selten gerade das Hinschauen-Wollen. Von Indonesien kehrte dieses
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Der Spiegel vom 2.3.2006, Ausgabe für Indonesien.
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Abb 2: Aus: Spiegel Special, Nr. 1, 1998, S. 16 (Illustration: Dewa Waworka) Bild mit mir im Flugzeug nach Deutschland zurück, wie ein Widerhaken zwischen all den Mitbringseln aus einer anderen Kultur. Die Migration von Menschen wird durch die der Bilder begleitet – in unterschiedlichen Richtungen. Sie provoziert neue Ansichten und vielleicht auch bisweilen Einsichten in das Unbewusste oder nicht (mehr) Gewusste unserer visuellen Kultur. Die Zensurbalken über dem Bild der Barbusigen streichen zugleich die explizite Botschaft durch, durchkreuzen sie – gewissermaßen zur Kenntlichkeit entstellt. Zu sehen bekommen wir nicht nur einen Einspruch islamischer Kultur gegen Entschleierung, sondern auch einen Fingerzeig auf den in unserer westlichen Kultur antreibenden Wunsch, Sichtschranken zu überschreiten, alles sehen zu wollen. Dieses so zurückgekehrte Bild verweist zugleich auf die enge Verknüpfung von bloßer Weiblichkeit und Freiheit, auf die allzu selbstverständlich gewordenen Traditionen weiblicher Repräsentation von Nation und darüber aufgerufenen Phantasien. Zudem erinnert es daran, dass die Grenzen auch transnationaler Gemeinschaften über eben dieses Bild von Weiblichkeit markiert und zugleich auch immer wieder zu überschreiten gesucht werden.6 Auch diese vergeschlechtlichten Bilder von Nation sind in die globalisierte Zirkulation eingeschlossen, auch sie kehren bisweilen unter veränderten oder gar umgekehrten Vorzeichen zurück. Wenn ich im Folgenden »imperiale Inszenierungen« zum Untersuchungsgegenstand mache, so interessiert mich weniger, was strategisch manipulativ geplant wird (dass dies geschieht, dürfte kaum mehr ein Streitpunkt sein), ich möchte hier vielmehr den Fokus auf das 6
Siehe dazu auch Silke Wenk: »Visual Politics, Memory and Gender«, in: Ulrike Auga/Christina von Braun (Hg.), Gender in Conflicts. Palestine – Israel – Germany, Berlin: LIT Verlag 2006, S. 113-133.
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richten, was diesen Inszenierungen unterläuft und was ihnen im Zeitalter zunehmender medialer Globalisierung widerfährt.
Zirkulation der Bilder und G r e n z e n d e r Ve r f ü g u n g s m a c h t »Auch der irakische Mob hat das Bild als Waffe entdeckt« und schlägt nun die Amerikaner »mit den smartesten ihrer Waffen […] mit den Bildern«, so hieß es April 2004 in der Süddeutschen Zeitung7 angesichts der Fotos der zwei in Falludscha demonstrativ an einer Brücke aufgehängten verbrannten Leichen US-amerikanischer Soldaten. Dass Bilder als Waffen zum Zwecke der Abschreckung und zur Demoralisierung der gegnerischen Partei eingesetzt werden, konnten wir auch im dritten Irak-Krieg immer wieder verfolgen. Abu Ghraib ist eines der am meisten schockierenden Beispiele (ich komme später darauf zurück). Ein jüngeres Beispiel stammt aus dem Israel-LibanonKrieg: »Das Mädchen, das Regieanweisungen gab«8
Abb. 3: Aus: Süddeutsche Zeitung, Nr. 136, 16.6. 2006, S. 3 (Foto: AFP) Das im Juni 2006 publizierte Foto gab aus der Vogelperspektive eine klagende junge Frau am Strand von Gaza neben einem liegenden, augenscheinlich toten Mann zu sehen. Der Welt sollte die Grausamkeit israelischer Artillerie vorgeführt werden. Die zehnjährige Huda Ghali habe, so wurde zunächst berichtet, den Tod ihres Vaters beklagt, der bei einem gemeinsamen Picknick am Strand von einer israelischen Granate getroffen worden sei. Wie Recher-
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Jörg Häntzschel: »Auch der irakische Mob hat das Bild als Waffe entdeckt …«, in: Die Süddeutsche Zeitung vom 2.4.2004. Thorsten Schmitz: »Der Krieg der Bilder«, in: Die Süddeutsche Zeitung vom 16.6.2006.
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chen, insbesondere von israelischer Seite ergeben haben sollen, war die Todesursache jedoch eher eine von Palästinensern vergrabene Mine als israelische Granaten. Foto und Fernsehbilder des Kameramannes Harbed erwiesen sich so als Resultat einer Inszenierung und kursieren seither als Beleg dafür, dass »Palästinenser im Nahost-Krieg die Bilder fälschen oder falsche Bilder in Umlauf bringen«,9 kurz: eher als Botschaften aus Pallywood denn als Darstellungen von realen Schrecken kriegerischer Attacken. Was symptomatischerweise kaum hinterfragt wurde, war die Meldung, dass es »ein Mädchen« war, das die Anweisungen zur Regie gegeben haben soll bzw. vom gut verdienenden Fotojournalisten dazu verleitet worden sei. Es schien nur zwei Alternativen zu geben, die junge Frau als Betrügerin oder als Opfer. Letztlich war in den westlichen Medienmeldungen vor allem Erregung darüber zu vernehmen, dass das Mädchen zum Opfer eines karrierebewussten Kameramannes wurde. Hollywood und das Pentagon hatten längst vergleichbare Spektakel inszeniert. Erinnert sei hier nur an die Geschichte von Jessica Lynch, der jungen amerikanischen Soldatin, deren Befreiung aus irakischer Gefangenschaft in den Apriltagen 2003 als heldische Aktion medial inszeniert worden war. In den Inszenierungen für Fernsehen, Presse und Film war die Soldatin zum unschuldigen Mädchen aus Virginia geworden, dessen Leben männlicher Rettung bedurft hatte. Das ließ sich als eine (bilder-)politische Antwort auf die Veröffentlichung von Fotografien der in den ersten Wochen des Irakkrieges getöteten und gefangen genommenen amerikanischen Soldaten und Soldatinnen analysieren und als Versuch, den Schrecken über die eigenen Toten zu überdecken.10 Provozierend erscheint nun, folgt man den Implikaten westlicher Berichterstattung über das palästinensische Mädchen, dass auch ›die Anderen‹ sich zunehmend in der Herstellung und Verbreitung solcher Bilder als ebenbürtig erweisen. Westliche Hegemonie musste zur Absicherung ihrer militärischen Übermacht stets auch auf visuelle Politiken bauen und konnte dies, solange sie in den Technologien der Informationsvermittlung überlegen war. Nun scheinen, um einen Begriff des Politologen Herfried Münkler aufzunehmen, die »Visibilitätsreserven«,11 die das kollektive Bilderrepertoire zur Rückversicherung bereithielt, wenn auch nicht aufgebraucht, so doch gefährdet. Folgt man ferner Münklers in einer Paraphrase von Carl Schmitt formuliertem Dik9 Ebd. 10 Ich habe dies ausführlich analysiert in: Silke Wenk: »Imperiale Inszenierungen? Visuelle Politik und Irak-Krieg«, in: Sabine Jaberg/Peter Schlotter (Hg.), Imperiale Weltordnung – Trend des 21. Jahrhunderts?, Hamburg 2005, S. 63-93, hier S. 73-78. 11 Herfried Münkler: »Die Visibilität der Macht und die Strategien der Machtvisualisierung«, in: Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht, BadenBaden 1995, S. 213-230, hier S. 224.
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tum: »Souverän ist, wer über die Visibilitätsreserven verfügt«, liegt die Schlussfolgerung nahe: Die »Souveränität« des Westens ist in Gefahr. Zweifelhaft ist jedoch, inwiefern solche Souveränität je gegeben war. Die Verfügungsmacht über Bilder und die Medien ihrer Verbreitung garantiert nicht, dass man nicht von den Bildern bestimmt ist oder eben in den Bildern agiert, die im je gegebenen kollektiven Bildrepertoire vorgegeben, oder mit Kaja Silverman formuliert:12 »vor-gesehen« sind. Sie sind jederzeit abrufbar und liegen für eine Resemiotisierung bereit, ohne dass es einer Begründung und Explikation bedürfte. Das scheint gerade auch für Bilder von »Weiblichkeit« zu gelten, über die in der Moderne, insbesondere in Kriegssituationen der Zusammenhalt »der Eigenen« gegen »die Anderen« gesichert und »Männlichkeit« (re-)konstituiert werden sollte.
»FrauenundKinder« »FrauenundKinder« (Cythia Enloe) stehen in der westlichen Tradition der Moderne für die »Zivilbevölkerung«. Deren Bedrohung wurde repräsentiert über die dem einen Geschlecht zugeschriebene Verletzbarkeit oder »Verletzungsoffenheit«.13 Sie konnte ebenso in pazifistischer Absicht herausgestellt werden, um den Wahnsinn des Krieges zu zeigen, wie umgekehrt aber auch um den Kampfeswillen anzuspornen und an soldatische Männlichkeit zu appellieren. In beiden Fällen blieb (und bleibt) zumeist ausgeblendet, dass »Zivilbevölkerung« mehr umfasst als Frauen, als Mütter und ihre Kinder, so z.B. auch nicht (mehr) »wehrtüchtige« Männer, noch nicht im Kampf einsetzbare Jugendliche etc. Die visuelle Fokussierung auf »FrauenundKinder« ließ zudem, auch wenn sie den Wahnsinn des Krieges skandalisieren wollte, den Skandal vergessen und unsichtbar werden, dass erwachsene Männer sich gegenseitig umbringen. Implizit blieb solchen vergeschlechtlichten Visualisierungen, wie sie bislang jeden großen Krieg der Moderne begleitet haben, eine visuelle Anrufung zur Herstellung soldatischer, schützender Männlichkeit, die zugunsten des Lebens ›der eigenen‹ Frauen und Kinder das Leben ›der anderen‹ nicht schonen sollte.14 Insbesondere in Kriegs- und Konfliktsituationen scheinen die vermeintlich natürlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern und die ihnen zugewiesene Verletzungsmacht bzw. -offenheit besonders evident und ihre Re-Konstruktion nahezu zwangsläufig. Darstellungen leidender Weiblichkeit sind im westlichen Bildgedächtnis als Gegen12 Kaja Silverman: »Dem Blickregime begegnen«, in: Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin: Edition ID-Archiv 1997, S. 41-64, hier S. 58. 13 Vgl. Heinrich Popitz: Phänomene der Macht, Tübingen: Mohr Siebeck 1992. 14 Vgl. dazu auch Isabell Lorey: »Biopolitische Gouvernementalität: Weiße Herrschaftstechniken«, in: FrauenKunstWissenschaft 36 (2003), S. 9-15.
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pol zu kämpferischer Männlichkeit ebenso fest verankert wie durch Weiblichkeitskonstruktionen abgesicherte Repräsentationen von Nation als imaginierter Gemeinschaft. Geraten tradierte politische Ordnungen durch Krieg und Terror in Unordnung, werden diese Repräsentationen von neuem virulent. Und dies gilt eben längst nicht mehr nur für die westlichen Gemeinschaften. Angesichts der »Erosion und des Funktionsverlustes der verwandtschaftlichen Bindungen«, wie sie mit sozioökonomischen Umbrüchen einhergingen, wurden die »Geschlechterfrage und die ›Moral‹ der Frauen schichtenübergreifend und mehrfach codiert zum Schlüsselthema in den Diskursen und der Praxis des politischen Islam in all seinen Facetten und Ausprägungen«.15 Und von dort kehren nun die Bilder von FrauenundKindern wieder, gleichermaßen ähnlich und fremd.
Ab w e h r z u r ü c k g e k e h r t e r B i l d e r Wie wird damit umgegangen, wenn diese Bilder wie im Fall der jungen palästinensischen Frau nun in den Westen zurückkommen bzw. zurückgespiegelt werden; wenn »das Eigene« nicht mehr klar abgrenzbar ist gegenüber dem Fremden Außen, gegen das man aufgestellt sein wollte? Eine Form ihrer spontanen Abwehr ist ihre Abbildung als Täuschung. Exemplarisch konnte dies verfolgt werden an einem kurzen Text des Politologen und Kriegsexperten Münkler anlässlich des Libanonkrieges. Einem »Mediencoup« sei es zu verdanken gewesen, dass das israelische Militär in eine »verheerende« Situation gekommen sei.16 »Im Kern lief die Bebilderung des Konflikts auf eine Gegenüberstellung martialischer Soldaten und ›unschuldiger Zivilisten‹ hinaus.« Die Anführungszeichen fordern zur Distanzierung auf: Keinem toten Zivilisten sei anzusehen, »ob es sich bei ihm nicht um einen David handelt, der im Begriff stand, Goliath anzugreifen«.17 In der Art und Weise, wie Münklers Problembeschreibung auf die arabische Seite fokussiert ist, wird nicht nur die auf der Seite des Westens längst schon praktizierte Bilderpolitik ausgeblendet, darüber hinaus droht diese Fokussierung alte Vorbehalte zu remobilisieren, in denen »der Orient« nicht nur als Theater voller Gewalt und Sexualität, sondern auch als Ort des systematischen Schwindels imaginiert wird, denen es unbedingt aufzudecken gelte – wie es westliche Sichtbarkeitspolitiken durch Entschleierung des vermeintlich Verschleierten immer wieder versprechen.
15 Vgl. dazu Renate Kreile: »Politischer Islam, Geschlechterverhältnisse und Staat im Vorderen Orient«, in: Feministische Studien 2/2003, S. 197-212, hier S. 203. 16 Herfried Münkler: »Wer ist David?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.8.2006. 17 Ebd.
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Man kann diese Form der Abwehr auch als eine Form der Verleugnung dessen beschreiben, was von außen wiederkehrt und dem Eigenen so ähnlich ist.18 Eine Verleugnung, die zugleich die Phantasie und mit ihr die visuelle Produktion antreibt bzw. durch sie angetrieben wird. Noch am Ende des 20. Jahrhunderts und vor dem »Krieg gegen den Terror«, mit dem das 21. Jahrhundert eröffnet wurde, operierten Bildagenturen mit dem Topos der (Ent-)Tarnung: Hinter dem schönen, unschuldigen und freundlichen »Antlitz« verbirgt sich in Wahrheit eine »Fratze«, so die Botschaft einer 1998 im Spiegel Spezial publizierten Montage Daran ist nicht nur interessant, wie die Phantasie der Aufklärung als Entschleierung ausgemalt wird, als Notwendigkeit, hinter die schöne, weiblich konnotierte Oberfläche zu schauen, um zum ›eigentlichen Kern‹ vorzudringen. Darüber hinaus ist hier in visuell verdichteter Form auch die Bedeutung von Ver- und Entschleierung in der Phantasie erkennbar: Verstehen wir diese im Anschluss an psychoanalytische Konzepte als Szenarien,19 in denen das Subjekt auftritt und sich zu behaupten sucht, so lassen sich diese auch als Ort von Abwehrreaktionen beschreiben, oder anders formuliert: als Szenarien, in denen sich das Subjekt gegen das Unheimliche oder genauer, das als unheimlich Inszenierte die Welt wieder heimisch zu machen sucht. Das Personal dieser Szenarien ist entscheidend von Stereotypen bestimmt. Stereotypen, die den Orientalismus mit dem Kolonialismus verbanden, sind immer auch verbunden gewesen mit visuellen Obsessionen, dem »Willen zum Wissen« als Wunsch nach »maximaler Sichtbarkeit«20 – und zur Versicherung des eigenen Selbst. Linda Williams, auf die ich mich in der Wendung des Wunsches nach maximaler Sichtbarkeit beziehe, hat in ihrer Studie zum pornografischen Film gezeigt, dass die Unmöglichkeit zu sehen, keineswegs zum Verzicht auf Visualisierung führt, sondern im Gegenteil gerade die visuellen Produktionen antreibt – zwischen dem (harten) Pornofilm, der wie besessen den Körpern Geständnisse zu entlocken sucht, und dem Erzählkino als »endlose[m] Versteckspiel mit diesen Körpern«.21 Nichts zu sehen, wo man 18 Zum Verhältnis von Verwerfung und Verleugnung siehe auch weiterführend: Cynthia Chase: »Die Übertragung übersetzen. Psychoanalyse und die Konstruktion von Geschichte«, in: Anselm Haverkamp/Renate Lachmann (Hg.), Memoria. Vergessen und Erinnern, München: Fink 1993, S. 197-219. (Ich danke Dorothea Dornhof für diesen Hinweis.) 19 Vgl. J. Laplanche/J. B. Pontalis: »Das Vokabular der Psychoanalyse«, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973, S. 388-394; Brigitte Hipfl: »Inszenierungen des Begehrens: Zur Rolle der Phantasie im Umgang mit den Medien«, in: Andreas Hepp/Rainer Winter (Hg.), Kultur-Medien-Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 144-157. 20 Linda Williams: Hard Core. Macht, Lust und die Traditionen des pornographischen Films, Basel, Frankfurt/Main: Stroemfeld 1995, insbes. S. 82ff. 21 Ebd., siehe dazu weiterführend auch: Linda Hentschel: Pornotopische Techniken des Betrachters, Marburg: Jonas Verlag 2001.
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(nicht) sehen will, um sich des eigenen Subjektstatus zu versichern, suspendiert nicht die Phantasie, sondern treibt sie und Praktiken des Sichtbarmachens geradezu an. Diese Einsicht ist auch für die Analyse visueller Politiken zu nutzen. Stereotypen, eng verwoben mit Projektionen von Ethnizität und Geschlecht, können mit Homi Bhabha als Fetische gesehen werden, die in ihrer Ambivalenz stets unsicher bleiben, deren »›Vollständigkeit‹ […] immer von etwas ›Fehlendem‹ bedroht« ist und die »einer kontinuierlichen, sich ständig wiederholenden Kette anderer Stereotype (bedarf), um erfolgreich signifizieren zu können«.22
E n ts c h l e i e r u n g a l s Ve r s u c h der Herstellung maximaler Sichtbarkeit Aus der Geschichte des Kolonialismus wissen wir, wie Sichtbarkeitstechnologien immer auch als Kontrolltechnologien dienen und auf mehrfache Weise dem Begehren nach maximaler Sichtbarkeit entgegenkommen konnten. Der Europäer »will sehen. Er reagiert aggressiv vor dieser Einschränkung seiner Wahrnehmung«. So spitzte Frantz Fanon seine Analyse zur Politik der französischen Besatzer Algeriens zu.23 Seine Beobachtungen sind nach wie vor lesenswert,24 als ein Beitrag zur Archäologie der Auseinandersetzungen um ein traditionelles Kleidungsstück, das zu einem privilegierten Zeichen aktueller politischer Auseinandersetzungen geworden ist: Ein Zeichen, das zugleich für ›den Islam‹ steht, aber auch für Verführung, Täuschung und Verschleierung im übertragenen Wortsinn. Der Psychiater Fanon verdeutlichte die Überkreuzung von kolonialer Eroberung und Entschleierung in den Szenarien der Phantasie »eines Europäers«: In dessen »Traum« gehe »der Vergewaltigung der algerischen Frau […] immer das Zerreißen ihres Schleiers voraus. Man wohnt hier einer doppelten Deflorierung bei«. – »Der Europäer träumt von einer Gruppe von Frauen, einem Frauenlager, das unwillkürlich an […] den Harem erinnert – exotische Motive, die tief im Unbewussten verankert sind.« Die »politische Doktrin« der Kolonialverwaltung lasse sich so zusammenfassen: »Wenn wir die algerische Gesellschaft in ihrem inneren Zusammenhang, in den Grundfesten ihres Widerstandes treffen wollen, müssen wir zunächst die Frauen erobern; wir müssen sie hinter dem Schleier suchen, hinter dem sie sich verbergen, und in 22 Homi Bhabha: Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenburg Verlag 2000, S. 120. 23 Frantz Fanon: Aspekte der Algerischen Revolution, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969, S. 28. 24 Siehe dazu auch Christina von Braun/Bettina Mathes: Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen, Berlin: Aufbau-Verlag 2007, S. 15f.
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den Häusern, in denen sie der Mann versteckt.«25 Die Konstruktionen des Verborgenen und des zu Entbergenden sind auch hier ineinander verwoben. Die Strategien kolonialer Unterwerfung als Strategien der Sichtbarmachung gerieten jedoch, folgt man der Beschreibung von Fanon, auch an ihre Grenzen: Eben die »Hartnäckigkeit des Okkupanten in seinem Versuch, die Frauen zu entschleiern, aus ihnen Verbündete zu machen«, hatte auch einen anderen Effekt: Im Kampf gegen Terror und Folter der Besatzer übernehmen auch algerische Frauen zusehends einen aktiven Part, mit und ohne Schleier: Mit dem Schleier transportieren sie den Kampf ihrer Männer unterstützendes Material, ohne Schleier agieren sie ebenso, das Vorurteil nutzend, dass die entschleierte Frau keine Geheimnisse habe: »Der Schleier, abgetan und wieder angelegt, ist umgewandelt in ein Instrument der Tarnung.«26 Bereits aus der Geschichte dieses Krieges wäre somit zu lernen, wie »Visibilitätsreserven« – hier die Vorstellung des weiblichen entkleideten Körpers als nackte Wahrheit – entwendet und zu taktischen Waffen im Kampf gegen die europäischen Besatzer gewendet werden können. Indem sich Frauen immer wieder dem Gebot ihrer Sichtbarkeit unterwerfen, tragen sie gleichzeitig zur Verwirrung des Gegners bei.27 Die Frauen nutzten die Gebote westlicher Sichtbarkeitspolitik, die auf Kollaboration setzte, aus und unterminierten so den Wunsch europäischer Männlichkeit zur Erlangung von Souveränität im Feld des Visuellen.
Abb. 4-6: Aus: Marc Garanger, Femmes Algériennes, Paris: Contrejour 1960 Selbst im Feld der Herstellung von fotografischen Bildern, die die entschleierten Frauen für den kolonialen Blick fixieren sollten, lassen sich Akte der Entund Rückwendung ausmachen. Zu den im Auftrag der französischen Armee von Marc Garanger 1960 zum Zweck der Identifizierung aufgenommenen Fotografien entschleierter Frauen schreibt Philippe Dubois, nicht ohne die
25 F. Fanon: Algerische Revolution, S. 22 (Hervorhebung S.W.). 26 Ebd. 27 Vgl. ebd., S. 45.
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»ganze Gewalt und Verblendung des Kolonialismus in geballter Form« zu benennen:28 »Das Wunder dieser Fotos liegt im Grunde gänzlich in der Umkehrung, die in und durch dieses strenge Gegenüber [des voyeuristischen Blicks der Besatzungsmacht, S.W.] erfolgt. Weil diese Frauen ihren Blick auf das Objektiv, das sie vergewaltigt und ihnen ihre Identität nehmen will, fokussieren und weil sich ihre Augen in keinem Moment entziehen, halten sie alle in ihrer absoluten Aufrichtigkeit nicht nur voll dem Blick stand […], sondern wenden ihn überdies um und schicken ihn (an uns) zurück.«29
Die Adressierung allein garantiert jedoch nicht, dass die Botschaft ankommt, zumindest solange auch die mediale Verfügungsmacht noch gesichert scheint.
R e a r t i k u l a t i o n e n e i n e s ve s t i m e n t ä r e n Z e i c h e n s Ich mache einen Sprung zurück in die Gegenwart nach dem 11. September, in welcher der zumindest in den öffentlichen Massenmedien der letzten Jahrzehnte eher latente oder man könnte vielleicht auch sagen: beiläufige orientalistische Diskurs eine manifeste politische Fortsetzung fand. Der Schleier – und mit ihm auch das Kopftuch, das sich zeichentheoretisch als sein Metonym bezeichnen lässt – wurde im Kontext des Krieges gegen Afghanistan und seinen Folgen zu einem »highly visible sign of a despised difference«.30 Fotos von Frauen, die gleichsam ihr ›wahres weibliches Gesicht‹ hinter dem Schleier offenbarten, wurden zum Gegenbild einer »patriarchalischen, fundamentalistischen Ordnung« gemacht.31 Gegen die ihr Gesicht enthüllende Frau stand die verschleierte als ein vermeintlich universales Bild »der Dritten-WeltFrau«.32 Über dieses Bild, das sich auch als »Kriegsbeute« bezeichnen lässt,33 28 Zur Gewalttätigkeit dieses Vorgangs vgl. auch Kaja Silverman: The Threshold of the Visible World, New York, London: Routledge 1996, S. 150f. 29 Philippe Dubois: Der fotografische Akt, Dresden: Verlag der Kunst 1990, S.180f. 30 So Alison Donell: »Visibility, Violence and Voice? Attitudes to Veiling Post11-September«, in: David A. Bailey/Gilane Tawadros (Hg.), Veil. Veiling, Representation and Contemporary Art, Cambridge, Mass.: MIT Press 2003. Donell verweist auch darauf, dass die offenkundige Bedrohung islamischer Frauen selbst Imane dazu veranlasste, jenen den Verzicht auf Schleier und Kopftuch explizit zu erlauben. Siehe ebd., S. 123. 31 Vgl. Tanja Maier/Stefanie Stegmann: »Unter dem Schleier. Zur Instrumentalisierung von Weiblichkeit. Mediale Repräsentationen im ›Krieg gegen den Terror‹«, in: Feministische Studien, Nr. 1 (2003), S. 51-61. 32 Chandra Mohanty, zitiert nach A. Donell: Visibility, S. 134. 33 Judith Butler: »Unbegrenzte Haft«, in: dies., Gefährdetes Leben, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2005, S. 170.
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wurde eine Gleichsetzung von islamischer Frau und einem apolitischen und sogar jenseits von Geschichte sich befindenden Opfer hergestellt.34 Eine semantische Aufladung, das sei hier nur angedeutet, erfährt diese Vorstellung durch das Gegenbild der dynamischen Politikerin westlicher Demokratien, deren Kleidung wiederum für Progressivität und Mobilität steht (man denke hier z.B. an Condoleezza Rice). Dass eben diese Verknüpfung von Schleier und Opfer daran hindert, die differenten Stimmen hinter den Schleiern zu hören, die aktiv um ihre Gleichberechtigung kämpfen, haben feministische Aktivistinnen wiederholt zu skandalisieren versucht. Der Schleier wurde vom konkreten Kleidungsstück, das den Körper von Frauen einer Sichtbarkeit im außerhäuslichen Bereich entzog,35 zu einem Signifikanten, mit dem sich die Welt mit ihren Unsicherheiten vermeintlich neu ordnen lässt. Hierüber können sich »diskursive und subjektive (affektive) Ebenen«, immer wieder verschränken. Über die Metapher des Schleiers oder der Verschleierung können sich schließlich auch verschiedene politische Diskurse verknüpfen. Das Kopftuch kann sich als »Metapher des ›Anderen‹« wie ein »dunkler Schatten« um die Selbstkonstruktion auch von »aufgeklärten, emanzipierten« Frauen legen, wie Martina Tissberger in ihrer anhand von Interviews mit Psychotherapeutinnen in Deutschland durchgeführten Studie eindrucksvoll zeigen konnte:36 Die Metapher des Schleiers strukturiert nicht selten – auch wider besseres Wissen und Wollen – »Bemächtigungsgeschichten« im Kontext westlicher Gesellschaftsstruktur und Geschichte mit.
34 »[...] the veiled woman tends to be used to engineer a representational equivalence between the Islamic woman and a cloistered, apolitical, even a historical victim.« A. Donell: Visibility, S. 134. 35 Und damit wohl auch dem sich zunehmend globalisierenden Markt von Sex und Prostitution, so Clemens Pornschlegel: »Wem gehören die Töchter? Zum sexuellen Machtanspruch der Konsumgesellschaften«, in: Jörg Metelmann (Hg.), Porno-Pop. Sex in der Oberflächenwelt, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 15-25. 36 Martina Tissberger: Zentrum (Grenze) Peripherie. Subjekt – Objekt – Abjekt. Whiteness als mentale Kartografie, http://www2.hu-berlin.de/ffz/dld/ws06/ Martina Tissberger.pdf (zuletzt aufgerufen am 2.9.2008). »Ein genauer Einblick darauf, wie beispielsweise die Metapher des Schleiers mit verschiedenen Themen verknüpft wird, etwa die ›verschleierte‹ Erinnerung an einen ›Nazi-Vater‹ mit dem Kopftuch der kurdischen Assistentin, das abgelegt werden soll, weil es angeblich die traumatisierten Patientinnen erneut erschrecken würde, erlaubt Einblicke in die Zusammenhänge von Sexualität, Gewalt und Erinnerung an Bemächtigungsgeschichten der eigenen Kultur. Die unbewusste Wahl des Bildes eines Juden an der Klagemauer, um sexuellen Missbrauch in der therapeutischen Praxis zu thematisieren, ist ein anderes Beispiel dafür, wie Rasse als konstitutives Außen zur Bereinigung des deutschen Kollektivkörpers reproduziert wird.« (S. 7)
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D e r S c h l e i e r a l s m o b i l e Tr e n n w a n d z u r Ab g r e n z u n g a b j e k t e r Z o n e n Im arabischen Kontext hat der Schleier, Hijab, so kann es uns die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi lehren, mindestens drei verschiedene, sich überlagernde Bedeutungen. Die erste ist auf das visuelle Feld bezogen, heißt etwas »dem Blick entziehen«, die zweite dagegen ist eine räumliche: »trennen, eine Grenze ziehen, eine Schwelle aufbauen«.37 Eine dritte Dimension ist nach Mernissi eher »ethischer Natur«, dabei handle es sich nicht mehr um »fühlbare Kategorien, die in der Realität der Sinne existieren […], sondern um eine abstrakte Realität, eine Idee. Ein hinter einem Hijab verborgener Raum ist ein verbotener Raum«.38 Im (bilder-)politischen Diskurs des Westens werden vor allem die beiden ersten Bedeutungen dis- und reartikuliert. Vom Signifikanten, der zwischen Innen und Außen in seinen verschiedenen Konnotationen unterscheiden ließ, wird der Schleier als vestimentäres zu einem räumlichen Zeichen, das Schwellen und Grenzen (der Sichtbarkeit) markiert – auch jenseits des kulturellen und lokalen Kontextes. In seiner tradierten Funktion als »portatives Vaterland«39 zu beschreiben, wird er nun gleichsam als mobile Trennwand im globalen Kontext einsetzbar, um vermeintlich sichere von unsicheren Zonen abzugrenzen, was gerade in der von einer zunehmenden Entterritorialisierung bzw. Entstaatlichung der Gewalt bestimmten Welt geboten scheint. Mithilfe des Schleiers – als vestimentäres und räumliches Zeichen – lassen sich auf einer projektiven Weltkarte neue Grenzen ziehen. Sie werden vom Westen folgerichtig auch im Inneren seiner Gesellschaften gezogen, als Grenzen, die Bezirke danach unterscheiden lassen, inwiefern das Sichtbarkeitsgebot der westlichen Kultur selbsttätig befolgt 37 Fatima Mernissi: Der politische Harem. Mohammed und die Frauen, Freiburg/ Breisgau: Herder, 4. Aufl. 2002, S. 124. 38 Mernissi verweist unter anderem auf die wörtliche Bedeutung des Vorhangs, auf den »Vorgang also, bei dem der Raum zweigeteilt und ein Teil davon dem Blick entzogen wird«, damit geht es um die Organisation von Beziehungen zwischen dem Profanen und Sakralen und ebenso um Machtverhältnisse: »Der Hijab, das ist unter anderem der Vorhang, hinter den sich die Kalifen und Könige zurückzogen […].« (Ebd.) Vgl. auch Viktoria Schmidt-Linsenhoff: »Der Schleier als Fetisch. Bildbegriff und Weiblichkeit in der kolonialen und postkolonialen Fotografie«, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 76 (2000), S. 25-38. 39 C. von Braun/B. Mathes: Verschleierte Wirklichkeit, S. 66ff., 302ff.: Sie vertreten die anregende These, dass, ebenso wie der Koran in der islamischen Gemeinschaft in der Diaspora zum »portativen Vaterland« wurde, der Schleier »zum portativen Mutterland« geworden sei. »Doch diese Bedeutung als äußeres Symbol des Kollektivkörpers erlangte das Kleidungsstück erst durch die Begegnung mit dem Westen – vor allem mit dem Kolonialismus im 19. Jahrhundert und dem Globalisierungsprozess des 20. Jahrhunderts, der auch für viele Muslime eine Existenz in der Diaspora mit sich brachte.«
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wird oder nicht, ebenso wie ein damit verbundener Schauzwang. (Ich erinnere an das eingangs niederländische Video.) Mit McClintock ließe sich hier von »abject zones« sprechen, die mithilfe der mobilen Trennwand an verschiedenen Orten eingerichtet werden können.40 Entschleierung als Landnahme auf der einen Seite, als Befreiung auf der anderen – entsprechende Bilder kursieren im transnationalen Kontext. Weltpolitische Auseinandersetzung erscheint zunehmend als Auseinandersetzung zwischen männlich konnotierten Befreiern und Unterdrückern, und damit wird die Geschlechterdifferenz als eine Konstruktion behauptet, die nicht mehr nur die Nationen, sondern eine neue Ordnung der Welt fundieren soll. Jenseits aller Verharmlosung der faktischen Gewalt, der (nicht nur) Frauen in vielen islamischen Ländern und insbesondere in kriegerischen Auseinandersetzungen ausgesetzt sind, ist festzuhalten, dass eben diese Konstruktion (mit) zu der faktischen Gewalt beigetragen hat und vermutlich weiter beitragen wird, eben auch in von islamistischen Bewegungen dominierten Ländern.41
Ab j e k t i o n e n d e s M ä n n l i c h e n Die Tendenz zur Feminisierung der Opfer, zu deren ›Errettung‹ vor barbarischen Patriarchen und »hassenswerten Vatergespenstern«42 westliche Männlichkeit antreten soll, wird begleitet von einer Politik der Entmenschlichung der anderen Männer. Judith Butler hat im Kontext der Gefangenen von Guantanamo von einer »Derealisierung des Menschen« und auch einer »Bestialisierung« gesprochen.43 Nimmt man die Bilder aus Abu Ghraib hinzu, kann man folgern, dass die visuelle Politik der Entmenschlichung auch mit einer Form von Entmännlichung einhergeht. Über die Fotos, die die Aufseher in dem Gefängnis in Irak aufnahmen und zirkulieren ließen, wurde uns zu sehen gegeben, wie Männer, die unter den Verdacht geraten waren, sich der Politik des Westens mit seinen Sichtbarkeitsordnungen entgegenzustellen – und damit auch der »globalen Markt- und Zirkulationsfähigkeit« ihrer Frauen und Töchter44 –, nicht nur entblößt zur Schau gestellt, sondern auch zu sexuellen Posen und Handlungen gezwungen werden, die an Homosexualität denken lassen. Ganz anders jedoch und viel expliziter als die Bilder, die im niederländischen Video für die Freiheit des Westens stehen sollten. Der fotografische Blick beraubte die entkleideten Männer im Gefängnis von Abu Ghraib 40 A. McClintock: Imperial Leather, S. 72. 41 Vgl. R. Kreile: Politischer Islam; und auf einer allgemeineren Ebene zu Formen der Sexualisierung im Bild und deren Wirkungsmacht C. von Braun/B. Mathes: Verschleierte Wirklichkeit, S. 87f. 42 C. Pornschlegel: Wem gehören die Töchter, S. 15. 43 Vgl. J. Butler: Unbegrenzte Haft, S. 197f. 44 C. Pornschlegel: Wem gehören die Töchter, S. 18.
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jeder Handlungsmächtigkeit, machte sie zu bloßen Objekte des Schauens, indem er sie den erzwungenen sexuellen Handlungen hilflos und ›unmännlich‹ ausgeliefert visuell in Szene setzte.45 Die sexuelle Folter in Abu Ghraib, die ohne die neuesten digitalen Medien kaum in der Tragweite möglich gewesen wäre, erscheint hier zugleich als spezifische Form einer ›Zivilisierungstechnik‹, die nicht nur auf die Homophobie in der arabischen Welt setzt, sondern auf die in der westlichen. Anders gesagt: Die Produktion und Distribution dieser Bilder, durch digitale Techniken in die Hände von vielen, man könnte auch sagen von »kleinen Souveränen«46 gegeben, konnte nur funktionieren, weil sie auf Vor- und Einstellungen heteronormativer Geschlechtlichkeit bauen konnte. Diese Form der ›Zivilisierungstechnik‹ war zugleich eine Form offensiver Sichtbarmachung und Konstruktion eines Abjekten, nämlich als Bild des Entgleitens bzw. Beraubtseins jeder Form von Souveränität, des Gegenbildes von »Männlichkeit«, wie es mit (Selbst-) Beherrschung und Heldentum verknüpft wird. Vergleichbares war im Übrigen, wenn auch auf weniger offensichtlich gewalttätige Weise, an dem Fall Lynndie England zu verfolgen, über den die »Entgleisung« amerikanischer Soldaten zugleich als eine der Geschlechterzuständigkeiten verhandelt wurde.47 Wir werden aufmerksam sein müssen in Hinsicht auf die neuen Bilder von den Kriegen und die mögliche – auch spontane – Wiederkehr heldischer, männlicher Kämpfer in der Bilderpolitik.48 Die Formen einer Bestialisierung ›der Anderen‹ korrespondieren mit Formen einer Maskulinisierung im Westen. Wird auf der einen Seite an einer Reartikulation von heteronormativer Geschlechtlichkeit gearbeitet, mit der Anmaßung, die Welt auf deren Polaritäten neu ordnen zu können, so auf der anderen Seite an einer Zuweisung des ›Anormalen‹ durch dessen inszenatorische Zurschaustellung, um es ins Abseits des Menschlichen zu verweisen. Über Sichtbarkeitspolitiken der Sexualisierung, wird offenbar – teils bewusst, teils ungewusst – versucht, verunsichernde Sichtbarkeitsverhältnisse wieder ins Lot zu bringen. Dabei kommen 45 An dieser Stelle sei auch daran erinnert, dass, obgleich es ein offenes Geheimnis ist, in Abu Ghraib auch Frauen und Kinder gefoltert wurden, davon keine Fotos zirkulieren (durften?). 46 Vgl. J. Butler: Unbegrenzte Haft, S. 75. 47 Vgl. dazu S. Wenk: Imperiale Inszenierungen, S. 128f. 48 Ich verweise hier auf die Bilder einsamer Kämpfer, wie sie im Kontext der Berichterstattung zum Israel-Libanon-Krieg wieder auferstanden schienen – möglicherweise als Reaktion auf die eingangs mit Münkler beschriebene Ähnlichkeit der Bilder, die zu einer neuen ›Unübersichtlichkeit‹ geführt haben. Die, wie es scheint, zunehmende Zurschaustellung verletzter (amerikanischer) Soldaten muss einer Heroisierung männlicher Helden keineswegs widersprechen. Wenn die Anderen die Bilder der »eigenen« Opfer zeigen, braucht es visuelle Gegenpolitiken. Das war bereits am Irakkrieg zu verfolgen. Siehe dazu: S. Wenk: Imperiale Inszenierungen.
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Gegenbilder in Umlauf, die Ausgrenzung und Entmenschlichung der Anderen als legitim erscheinen lassen. Wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, wie relativ die Offenheit der Geschlechterrollen in ›unserer‹ westlichen Welt ist, abgesichert auch über mehr oder weniger explizit gewalttätige Politiken der Sichtbarkeit gegenüber dem Rest der Welt, der sich aus verschiedenen Gründen dem Sichtbarkeitsregime des Westens nicht fügen will. Anders gesagt: Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass auch das Abjekte aus dem Off der westlichen Kultur in eben diese zurückkehrt.
Eine andere Natur. Das Optisch-Unbew usste und die Ästhetik des Surrealismus 1 KATHRIN PETERS
In Walter Benjamins bekanntem Kunstwerkaufsatz steht der viel zitierte Satz, dass durch die Kamera ein »Optisch-Unbewußtes« erschlossen werde wie ein »Triebhaft-Unbewußtes« durch die Psychoanalyse. Von der »Kamera mit ihren Hilfsmitteln, ihren Stürzen und Steigen, ihrem Unterbrechen und Isolieren, ihrem Dehnen und Raffen des Ablaufs, ihrem Vergrößern und ihrem Verkleinern« ist bei Benjamin die Rede.2 Der Kameramann wird als Chirurg vorgestellt, der tief ins Gewebe der Gegebenheiten eindringe.3 Es sei »eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht«, heißt es bereits in dem fünf Jahre vor dem Kunstwerkaufsatz, nämlich 1931 publizierten Text »Kleine Geschichte der Photographie«.4 Es geht Benjamin offenbar um eine Konstellation von Technik und Natur, anders gesagt, um Sichtbarkeit und Sichtbarmachung unter den Bedingungen visueller Medienapparate. Viel bekommen wir allerdings nicht an die Hand, um die Analogie von Optischem und Triebhaftem, von Medialem und Psychischem verstehen zu können. Nichtsdestotrotz taucht diese Analogie längst in Kursbüchern maßgeblicher Medientheorien auf: etwa in der folgenden Version, dass »eine Geschichte der Psychoanalyse also immer wieder auf die Bedeutung medientechnischer
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Mein Dank gilt Dorothea Dornhof und Susanne Leeb für hilfreiche Kommentare zu einer ersten Fassung dieses Textes. Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders., Gesammelte Schriften I/2, 3. Aufl., Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 471-508, hier S. 500. Ebd., S. 497. Ebd., S. 500. In fast gleichem Wortlaut bereits in »Kleine Geschichte der Photographie«, in: ders., Gesammelte Schriften II, 1; 2. Aufl. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 368-385, hier S. 371.
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Aprioris stoßen« wird, wie umgekehrt »eine Geschichte der Medien stets auch eine Geschichte unbewußter Medien-Effekte« sei.5 Damit ist gemeint, dass mediale Apparate zuweilen völlig unabhängig von den Intentionen ihrer Bediener Spuren, Details und Störungen registrieren, die sich schlicht zufällig in den Aufzeichnungen ablagern. Auch geht diese Medientheorie davon aus, dass Wahrnehmungen und die Art, wie über sie gesprochen wird, durch technische Apparate und Codes organisiert sind. Ein Umstand, der den Subjekten – sagen wir vorsichtig – nicht unbedingt bewusst sein muss. Mir scheint dies eine produktive Lesart von Medialität zu sein, die sich durchaus in Benjamins Überlegungen angelegt findet, und doch droht mit ihr ein Strang verloren zu gehen, der das Wort vom »Optisch-Unbewussten« noch einmal anders konturiert. Denn Benjamin geht es sowohl im Kunstwerkaufsatz als auch in »Kleine Geschichte der Photographie« nicht zuletzt um künstlerische Verfahren, um die Ästhetik des Neuen Sehens, des Konstruktivismus und vor allem um die des Surrealismus. All diese künstlerischen Verfahren sind mit einem besonderen Einsatz der Fotografie und des Films verbunden, der in einer noch näher zu bestimmenden Weise mit Unbewusstem und dem Geschlecht zu tun hat.
1. Unordnungen des Sehens: Rosalind Krauss’ Lesart des Surrealismus 1992 borgt sich die Kunsthistorikern Rosalind Krauss das »Optisch-Unbewusste« aus, um ihre Untersuchungen zur Kunst der Moderne und der Avantgarde unter dem Titel »The Optical Unconscious« zusammenzuführen.6 Krauss’ Folie ist weder Technik- noch Mediengeschichte, sondern Kunstgeschichte. Es ist genauer noch die amerikanische Kunstgeschichte des Modernismus mit ihrem Paradigma vom »reinen Sehen«, von der »reinen Wahrnehmung«, gegen die Krauss anschreibt. Dieses Paradigma, das auf den Kunstkritiker Clement Greenberg zurückgeht, kulminiert in dem Punkt, dass, wie Greenberg es nicht ohne normativen Einschlag formuliert, die Bedingungen des Sehens selbst zum Gegenstand von Malerei und Skulptur zu machen seien.7 Piet Mondrians geometrische Raster sind Kronzeugen dieser Kunsttheorie, die den Anspruch erhebt, eine moderne Kunst, die diesen Namen verdient, habe die Physiologie der Wahrnehmung auf der Leinwand gleichsam zu 5
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Joseph Vogl: »Technologien des Unbewußten. Zur Einführung«, in: Claus Pias/ Joseph Vogl/Lorenz Engell/Oliver Fahle/Britta Neitzel (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, 2. Aufl., Stuttgart: DVA 2000, S. 373-376, hier S. 374. Rosalind Krauss: The Optical Unconscious, Cambridge/Mass., London: MIT Press 1993. Vgl. ebd., S. 7.
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verdoppeln. Modernistische Malerei habe auf die Gesetze der Visualität zu verweisen und deren Darstellbarkeit als Organisation von Farben auf einer Fläche zu realisieren. Die surrealistische Malerei, die derartige Selbstreflexion nicht im Sinn hat, ist für Greenberg daher nichts anderes als ein tagträumerisches und nostalgisches Unterfangen.8 Rosalind Krauss ist in ihren Schriften nicht müde geworden, diesen Modernismus zu unterhöhlen, gegenzulesen und den gerasterten Bildflächen gewissermaßen ihr Verdrängtes zurückzugeben. Krauss’ »The Optical Unconscious« versteht sich als »counterhistory« zu einer modernen Kunst, welche Wahrnehmungsempfindungen zu Bildern auszumalen versucht und »vision« und »opticality« zu maßgeblichen Bildordnungen erhebt. Ihre »counterhistory« beginnt in den 1920er und 30er Jahren und sie hat Protagonisten: »Giacometti, and Dalí, and Man Ray, and Bellmer. The theorists of this refusal were Bataille and Breton, Caillois, and Leiris, with, in the background, Freud. And in the foreground, Dalí linked through one arm and Caillois through the other, there was Jacques Lacan.«9 In einer Lektüre, die sich entlang einiger Fotografien Dalís, Man Rays und Hans Bellmers sowie an Texten André Bretons bewegt, entfaltet Krauss den Begriff des »informe« von Georges Bataille. Die Beschäftigung mit dem »informe« ist hier offensichtlich gegen den Begriff der Form in der Greenberg’schen Modernedefinition gerichtet, und die Hinwendung zur Fotografie verschiebt die Aufmerksamkeit auf ein künstlerisches Material, dem im Gegensatz zur Malerei in der Kunstgeschichte (zumindest 1992 noch) ein marginaler Status zukommt. Aus dieser doppelten Abgrenzung heraus formuliert Krauss, dass das »informe« nicht als Gegensatz zur Form zu verstehen sei. Vielmehr entstehe das Formlose oder die Nicht-Form gewissermaßen gerade innerhalb der Form. Als ihr verleugnetes Gegenstück ist das »informe« der Form – im Sinne einer klar umgrenzten, bedeutungsvollen Figur – immer schon inhärent und produziert aus deren Innerem heraus Heterologie und Andersheit. Ein schlichter aber wirkungsvoller und von den Surrealisten häufig eingesetzter Eingriff war es, die Bilder umzudrehen, sie auf den Kopf zu stellen: »So many falling bodies. So many mouths brought uppermost. Brassaï’s Nudes, Man Ray’s Anatomy […], Ubac’s Affichez Vos Images. Surrealist photographers learned from this simplest of all formal notions. Rotate the image of body and you produce a different geography. A geography that undoes the form of the human form.«10 Diese veränderte Geographie des Körpers hat nun durchaus eine geschlechterpolitische Konnotation, die, laut Krauss, in der Weigerung besteht, sexuelle Differenz überhaupt zu akzeptieren: »the para-
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Vgl. Clement Greenberg: »Surrealistische Malerei« [1944/45], in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden, Amsterdam: Verlag der Kunst 1997, S. 82-93, hier S. 92. 9 R. Krauss, Optical Unconscious, S. 22. 10 R. Krauss: Optical Unconscious, S. 157.
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digma male/female collapses«.11 Man Rays Aktaufnahmen stellten Weiblichkeit nicht einfach aus, sondern verwandeltn weibliche Körperpartien im Spiel mit Licht und Schatten in Nicht-Form und Formlosigkeit (vgl. Abb. 1). Auch Hans Bellmers Fotografien seiner Puppen-Arrangements beliefen sich nicht darauf, einen zugerichteten, zergliederten weiblichen Körper darzubieten – geschehe dies nun als Anklage oder auch als Stimulanz. Vielmehr breche aus der zunächst weiblich erscheinenden Puppe letztlich eine phallische Form hervor, so dass »the doll as informe« zu verstehen sei.12 So obsessiv sich die Surrealisten »der Frau« gewidmet haben, so sehr bleibe diese doch eine Art Baustelle, ein Gegenstand der Konstruktion. Schließlich stehe das Weibliche für eine Ambivalenz ein, die in der Fotografie, diesem Aufzeichnungsmedium, dem seinerseits eine gewisse Form- und Bedeutungslosigkeit eigen ist, ihre, wenn man so will, angemessenste Form finde.13
Abb. 1: Man Ray: Anatomies, ca. 1930. Aus: Rosalind E. Krauss/Jane Livingston (Hg.), L’Amour fou. Photography & Surrealism, New York: Cross River Press 1985, S. 59 (Copyright: Museum of Modern Art, New York) Man kann Krauss’ Deutung der surrealistischen Weiblichkeitsdarstellungen inzwischen wohl als common sense der feministischen Kunstgeschichte be11 Ebd., S. 165. 12 Ebd., S. 172. 13 Vgl. Rosalind Krauss: »Corpus delicti« [1985], in: dies., Das Photographische. Eine Theorie der Abstände, München: Fink 1998, S. 165-198, hier S. 197; und Rosalind Krauss/Jane Livingston: L’Amour Fou: Surrealism and Photography, New York: Abbeville Press 1985.
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zeichnen.14 Aber ich möchte hier einer anderen Spur folgen und versuchen, eine Verbindung zwischen Geschlechtlichkeit und der Denkfigur des OptischUnbewussten herzustellen. Wenn nämlich vom Optisch-Unbewussten die Rede ist und von den »Bildwelten, welche im Kleinsten wohnen«, die mittels der Kamera »groß und formulierbar« geworden sind, wie es bei Benjamin heißt,15 muss auch vom Geschlechterwissen der Moderne gesprochen werden, das in ganz konstitutiver Weise mit technischen Bildern verknüpft ist. Was Geschlecht überhaupt ist und wo im Körper es sich aufhält, sind Fragen, die die Geschlechtskunde und Sexualwissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts nicht nur umgetrieben, sondern geradezu begründet haben. In der medizinischen Klinik – ob an der Berliner Charité oder der Pariser Salpêtrière – wurden die Körper visuell regelrecht ausgeforscht: Das Äußere wurde fotografiert, das Innere abgetastet und mittels Röntgenaufnahmen und unter dem Mikroskop untersuchter Gewebe- und Spermaproben in den Stand der Bildlichkeit versetzt.16 Es ist dieses Vermögen der fotografischen Technik, das Benjamin interessiert und das er mit dem »Optischen-Unbewussten« zu fassen sucht. Für Rosalind Krauss ergibt das hingegen keinen Sinn, sie findet Benjamins Analogie von psychischem und optischem Unbewussten schlichtweg »strange«.17 Denn, so fragt sie, ist das Unbewusste nicht an ein Subjekt gebunden? »Can the optical field – the world of visual phenomena: clouds, sea, sky, forest – have an unconscious?«18 Das ist eine merkwürdige Frage, denn die Kunsthistorikerin müsste sehr wohl wissen, dass sich die »Welt der sichtbaren Phänomene« nicht vom Sehen und seinen immer subjektiven Komplikationen trennen lässt. Krauss zufolge konzipiert Benjamin die Kamera als Prothese oder Organerweiterung, die den Raum des Sichtbaren vergrößere, was aber rein gar nichts mit jenem zwischen Ich, Über-Ich und Es sich ausbreitenden, letztlich sich immer entziehendem Unbewussten zu tun habe. Erst rückgekoppelt an ein künstlerisches Subjekt ergibt das Optisch-Unbewusste für Krauss Sinn. Denn allein Künstler, insbesondere surrealistische, hätten gezeigt, dass »human vision can be thought to be less than a master of all it surveys«.19 Nicht nur ist also das Ich nicht Herr im eigenen Haus, auch der Blick ist nicht Herr dessen, was er sieht. Nicht die Kamera präpariere verborgene Bildwelten heraus, sondern nur das künstlerische Subjekt könne dies in einem Akt der Bildkonstruktion tun und einzig auf diese Weise, augenscheinlich gegebene Wahrneh14 Vgl. Sigrid Schade: »Der Mythos des ›Ganzen Körpers‹« [1987], in: Anja Zimmermann (Hg.), Kunstgeschichte und Gender. Eine Einführung, Berlin: Reimer 2006, S. 159-180. 15 W. Benjamin: Kleine Geschichte, S. 371. 16 Vgl. hierzu mein demnächst erscheinendes Buch: Rätselbilder des Geschlechts. Körperwissen und Medialität um 1900. Zürich/Berlin: diaphanes 2009. 17 R. Krauss: Optical Unconscious, S. 179. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 180.
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mungsordnungen in die Dekomposition oder gar den Ruin führen. Benjamin verfolgt jedoch keineswegs die These, der fotografische Apparat stelle eine Technik zur Sichtbarmachung des Unsichtbaren bereit. Eher arbeitet er eine Verschränkung von Technischem und Künstlerischem heraus, von Medialem und Ästhetischem, aus der sich schließlich eine Gender-Perspektive jenseits einer Repräsentationskritik des Weiblichen gewinnen lässt.
2 . Te c h n i k u n d Ä st h e t i k : Wa l t e r B e n j a m i n s O p t i s c h - U n b ew u s s t e s Es gehört zu den Grundannahmen medienhistorischer Erfolgsgeschichten, dass optische Medien das weite Feld der den menschlichen Augen verborgenen Strukturen dem Sehen zugeführt hätten. Diese Strukturen sind entweder zu klein oder zu weit entfernt oder sie verändern sich zu schnell, um mit dem Auge registriert werden zu können – das »zu« stellt bereits ein grundsätzliches physiologisches Ungenügen menschlicher Sehfähigkeit fest. So treten optische Medien als Erweiterung dieses defizitären Auges auf, um alles, was die Natur an Sichtbarem zur Verfügung hat, jetzt oder in Zukunft zur Anschauung zu bringen. Irgendwann, wenn die Technik nur ausreicht, könnte alles gesehen werden, nichts in der Natur – von der DNA bis zu fernsten Galaxien – bliebe mehr unsichtbar. Und es ist ja auch nicht falsch zu behaupten, dass die Momentfotografie ein Wissen von Bewegungsabläufen zur Verfügung gestellt hat, das ohne sie, das heißt mit bloßem Auge, nicht zu haben gewesen ist. Die durch die Chronofotografie gewonnen Ansichten galoppierender Pferde, rennender Männer und tanzender Frauen haben bekanntermaßen sowohl der anatomischen Physiologie als auch der Malerei neue Bilder und neues Wissen beschert.20 Diesen Fotografien ist darüber hinaus immer auch eine Entscheidung vorgelagert, welche Körper welche Bewegungen überhaupt ausführen können und sollen. Geschlechtsneutral sind auch die wissenschaftlichen Fotografien niemals gewesen. Ihre breite Verwendung als Vorlagen für das Malereistudium in Kunstakademien hat das Wissen um die Schicklichkeit von Bewegungen mit physiologischem Wissen unterfüttert und in die bildende Kunst eingestreut. Auch lässt sich nicht von der Hand weisen, dass beispielsweise Mikro- und Röntgenfotografien Veränderungen im Körperwissen hervorgerufen haben; Veränderungen, die sich weit über einen medizinischen Fachdiskurs hinaus verbreitet und das, was man für die Wahrheit des Physischen hält, erheblich verschoben haben. Selbst Freud scheint mit seinem Wort vom Menschen als »Prothesengott« – ganz zeitnah zu Benjamins beiden Schriften, nämlich 1930 – der These 20 Zum Beispiel Albert Londe, Eadwearde Muybridge, Étienne-Jules Marey und Ottmar Anschütz.
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noch zu folgen, dass technische Apparate eine defizitäre Apperzeption erweiterten.21 Es handelt sich dabei um eine These, die auf die Sinnesphysiologie und Technikgeschichte des 19. Jahrhunderts zurückgeht.22 Aber folgt auch Benjamin dieser These? Zumindest geht es ihm nicht in erster Linie darum, welche Wahrheiten über die Natur mittels optischer Instrumente zutage befördert würden. Denn »es ist ja«, schreibt er, »eine andere Natur welche zur Kamera als welche zum Auge spricht«.23 Dieser Satz scheint weder ein zur Entbergung bereitstehendes Kontinuum der Natur, noch die Mangelhaftigkeit des Augensinns vorauszusetzen. Es ist bei Benjamin nämlich nicht einfach so, dass unter Zuhilfenahme geeigneter Apparaturen das Auge »mehr« sehen könnte, stattdessen macht sich anderes geltend; und zwar anderes in zweifacher Hinsicht: Erstens ist die Grenze zwischen Unsichtbarem und Sichtbarem historisch nicht konstant, was Benjamin sehr dezidiert als »Differenz von Technik und Magie als durch und durch historische Variable« benennt.24 Eine Formulierung, in der auch deutlich wird, dass Technik nicht als großes Ausleuchtungs- und Aufklärungsunternehmen veranschlagt wird, das alles aus dem Dunkel des Unsichtbaren und Nicht-Wissens ins helle Licht der Erkenntnis zerrt. Vielmehr legt die Formulierung nahe, dass immer neue Magien, und das heißt andere Bereiche des Verworrenen und Traumhaften, produziert würden und zwar ausgerechnet mittels Technik. Und zweitens ist eben deshalb die Grenzlinie zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem eine im Grunde immer permeable Grenze, weil unter Bedingungen der Fotografie und ihrem – magischen – Vermögen der Vergrößerung und der Stillstellung der Zeit auch das bloße Sehen seine Evidenz einbüßt. Wenn nämlich Momentaufnahmen zuvor nicht Wahrgenommenes hervortreten lassen – den »Sekundenbruchteil des Ausschreitens« –, so kann man sich fragen: Was sieht man überhaupt? Wo beginnt die optische Täuschung, hört sie jemals auf?25 Der Raum des Sichtbaren ist deswegen nicht nur mit Bewusstsein, sondern, so lässt sich Benjamin hier verstehen, eben auch »unbewußt durchwirkt«.26 Man könnte auch ergänzen: von Erwartungen, von Vorannahmen, von Möglichkeiten des »Versehens« durchzogen. Die Vorstel21 Sigmund Freud: »Das Unbehagen in der Kultur«, in: ders., Studienausgabe Bd. IX, Frankfurt/Main: S. Fischer 1982, S. 222. 22 Explizit von Organprojektionen schreibt schon: Ernst Kapp: Grundlinien einer Philosophie der Technik, Braunschweig: Westermann 1877; auch Hermann von Helmholtz erwähnt verschiedentlich die Mangelhaftigkeit des Auges im Vergleich zur Kamera. Später dann prominent: Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media [1964], Dresden, Basel: Verlag der Kunst 1994. 23 W. Benjamin: Kunstwerk, S. 500. 24 W. Benjamin: Kleine Geschichte, S. 371f. 25 Vgl. Joseph Vogl: »Medien-Werden: Galileis Fernrohr«, in: Lorenz Engell/ Joseph Vogl (Hg.), Archiv für Mediengeschichte. Mediale Historiographien, Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität 2001, S. 115-123. 26 W. Benjamin: Kunstwerk, S. 500.
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lung einer zur Enthüllung bereitstehenden Natur verfehlt den Umstand, dass Sichtbarkeit ihre Begrenzung nicht in den Realien einer gegebenen Natur findet, sondern vielmehr in den Wissensordnungen, den ästhetischen Codes und den Instrumenten, die jeweils historisch vorliegen. Das Zellgewebe, das sich auf Mikrofotografien zeigt, ist gleichermaßen entdeckt wie erfunden; es ist in irgendeiner Weise ein reales Ding, aber zugleich ein Medien-Effekt. Es ist zum Bild geworden und verbleibt doch unsichtbar. Demgegenüber schwört die Formulierung von den »verborgenen Bildwelten«, die auch Sigrid Weigel verwendet, einmal mehr eine visuelle Entbergung von Nicht-Sichtbarem herauf.27 Was somit übersprungen wird, ist die Medialität, die mit der Herstellung von Bildwelten immer verbunden ist. Aber gerade der Aspekt der Medialisierung ist zentral, ist doch erst mit ihm davon zu sprechen, dass nicht Schleier gelüftet, sondern Bilder generiert werden. Anders gesagt: Die Mikrofotografien von »Strukturbeschaffenheiten und Zellgewebe, mit denen Medizin und Technik zu rechnen pflegen«,28 sind für Benjamin zu allererst als Bilder von Belang, als Bilder, deren Genese eine durch und durch technische ist und denen gerade deswegen ein magischer Aspekt zukommt. Hier ist er im Übrigen Sigmund Freud sehr nahe, der ja auch meint, dass niemals der Trieb selbst Objekt des Bewusstseins werden könne, sondern »nur die Vorstellung, die ihn repräsentiert. Er [der Trieb] kann aber auch im Unbewußten nicht anders als durch die Vorstellung repräsentiert sein. Würde der Trieb sich nicht an eine Vorstellung heften oder nicht als ein Affektzustand zum Vorschein kommen, so könnten wir nichts von ihm wissen.«29 Zieht man die Parallele zum »Optisch-Unbewussten«, so heißt das, dass wir auch von diesem nur dann wissen können, wenn es sich an einen Bildträger heftet, durch den es erst – als Detail, als Rauschen, als Fetzen – zum Vorschein kommt. Aller Indexikalitätstheorien zum Trotz bekommt man es im Feld des Fotografischen lediglich mit Stellvertretern zu tun; über Substanz und Wahrheit dessen, was sich solchermaßen punktuell im fotografischen Bild zeigt, lässt sich indes keine Aussage machen. Dass sich Benjamin viel eher für eine Ästhetik des Fotografischen interessiert als für ein vermeintliches Sichtbarwerden des Unsichtbaren, wird besonders deutlich, nimmt man den Halbsatz hinzu, der auf »Strukturbeschaffenheiten, Zellgewebe, mit denen Technik und Medizin zu rechnen pflegen« folgt. Dort heißt es: »all dieses ist der Kamera ursprünglich vertrauter als die stimmungsvolle Landschaft oder das seelenvolle Porträt.«30 Benjamin macht sich 27 Sigrid Weigel: »Technische Frage und Detail. Walter Benjamins Theorie optischer Medien«, in: Peter Berz/Annette Bitsch/Bernhard Siegert (Hg.), FAKtisch, München: Fink 2003, S. 149-161, hier S. 156. 28 W. Benjamin: Kleine Geschichte, S. 371. 29 Sigmund Freud: »Das Unbewußte« [1910], in: ders., Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, 10. Aufl., Frankfurt/Main: Fischer 2003, S. 129. 30 W. Benjamin: Kleine Geschichte, S. 371.
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damit ganz unmissverständlich zum Fürsprecher jener künstlerischen Projekte, die er zumindest in »Kleine Geschichte der Photographie« ja auch konkret benennt: unter anderen sind das die Arbeiten László Moholy-Nagys, Karl Blossfeldts und Eugène Atgets. Gerade die »Kleine Geschichte« ist von der Anlage her vor allem eine Sammelrezension von in den späten 1920er Jahren erschienenen Fotobüchern.31 Wie ich anhand der drei genannten fotografischen Arbeiten zeigen möchte, gewinnt hier im Rekurs auf technische Visualisierungsverfahren vor allem eine ästhetische Praxis ihren programmatischen Kurs. László Moholy-Nagys erstmals 1925 erschienenes Buch »Malerei Fotografie Film« ist ein Pamphlet für die »Verzerrungsmöglichkeiten des Objektivs«, für eine »optische Gestaltung«, die an veränderten, urbanen Lebensbedingungen Maß nehmen und auf eine groß angelegte ästhetische Erziehung abzielen will.32 »Der fotografische Apparat«, schreibt Moholy-Nagy in seiner Einleitung, »hat uns überraschende Möglichkeiten geliefert, mit deren Auswertung wir eben erst beginnen.«33 So reiht er in seinem Buch ein vergrößertes Bild einer Kopflaus, die Momentfotografie einer Tanzenden im Sprung, die Untersicht des Bauhaus Dessau, an dem er lehrte, eine nächtliche Langzeitaufnahme, auf der sich die Lichtspuren Vorbeifahrender als helle Linien aufgezeichnet haben, die astronomische Fotografie eines Spiralnebels, die Röntgenfotografie eines Froschs und anderes hintereinander auf (vgl. Abb. 2 bis 4).
Abb. 2-4: Charlotte Rudolf: Palucca, o.J.; RITCHEY: Spiralnebel in den Jagdhunden, o.J.; Schreiner: Frosch, o.J. Abbildungen aus: L. Moholy-Nagy, Malerei Fotografie Film, S. 52, 63, 67. Das Buch besteht aus fast nichts anderem als dieser Bildstrecke, so dass die von Moholy-Nagy als unmittelbar bezeichnete visuelle Schrift oder Sprache der Fotografie in der Gesamtschau geradezu ins Filmische gesteigert wird. 31 Vgl. Eckhardt Köhn: »Kleine Geschichte der Photographie«, in: Burckhardt Lindner (Hg.), Benjamin-Handbuch, Stuttgart, Weimar: Metzler 2006, S. 399406. 32 László Moholy-Nagy: Malerei Fotografie Film. Neue Bauhausbücher (Nachdruck der 2. Auflage von 1927), Mainz: Florian Kupferberg Verlag 1967, S. 5. 33 Ebd.
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Das geschieht nicht von ungefähr, denn in Moholy-Nagys Hierarchie der Künste liefert der Film als dynamisierte Visualität oder »kinetische optische Gestaltung« die gewissermaßen zeitgemäßesten Formen. »Zeitgemäß«, an diesem Wort herrscht in den Textpassagen kein Mangel, ist eine Gestaltung dann, wenn die den Menschen »aufbauenden Funktionsapparate – die Zellen ebenso wie die kompliziertesten Organe – bis zu der Grenze ihrer biologischen Leistungsfähigkeit benutzt werden«.34 Das ist ein aufschlussreicher Satz. Aus ihm lässt sich schließen, dass die Röntgen- und Momentfotografien, die Auf- und Untersichten in »Malerei Fotografie Film« nicht bloß vorführen sollen, was die Technik an Sichtbarmachungen zu leisten vermag. Vielmehr adressieren die Fotografien und ihr sprunghaftes, geradezu filmisches Arrangement gewissermaßen auch das, was sie zeigen: Das Wissen um physiologische und organische Strukturen ist längst ins Feld des Ästhetischen eingesickert, wo es visuell eingesetzt wird, um diese physiologischen Strukturen wiederum zu reizen und zu testen. Bei Walter Benjamin heißt es im Kunstwerkaufsatz, dass »die Rezeption in der Zerstreuung, die […] das Symptom tiefgreifender Veränderungen der Apperzeption ist, […] am Film ihr eigentliches Übungsinstrument« habe.35 Auch Karl Blossfeldts »Urformen der Kunst. Photographische Pflanzenbilder«, 1928 erschienen, ein Buch, welches Benjamin ausdrücklich erwähnt, ist hier weniger epistemologisch denn ästhetisch interessant. Als Vorlagen für das Kunststudium entwickelt, lieferten Blossfeldts Nahaufnahmen und Vergrößerungen für das biologische Studium der Pflanzen nichts Neues – zuallererst fällt das Neue auf, das die Fotografie lieferte. Die Parallelen, die sich in Anbetracht der Vergrößerungen zwischen dorischen Säulen und Pflanzenstengeln ziehen lassen, sind vor allem ästhetischer Natur (vgl. Abb. 5). Die Möglichkeit zu derart vergleichender Ikonografie liegt aber im Grunde gerade nicht in der Natur der Sache. Die »Urformen«, die angeblich in Kunst und Natur walten, geben sich vielmehr erst unter fotografischen Bedingungen zu sehen. Sie sind eigentlich Medien-Effekte, nämlich das, was die fotografische Reproduktion den Pflanzen hinzufügt. So gesehen, zeigt sich im Bild nicht eine zuvor verborgene Ähnlichkeit, sondern gerade die Andersheit der Natur. Diese Andersheit entsteht, wie Hubertus von Amelunxen schreibt, durch die »im Medium der Fotografie und im Medium des Buches vollzogene Entbindung des Sujets von seiner Verhaftung mit dem Organischen«.36 Obgleich die Fotografien Blossfeldts einen Realitätsbezug bewahren, lösen sie das
34 Ebd., S. 28. 35 W. Benjamin: Kunstwerk, S. 508. 36 Hubertus von Amelunxen: »Von der Bewegung des Stillstands – oder Blossfeldts ›Urformen‹ in der Dialektik des Bildes«, in: Akademie der Künste (Hg.), Karl Blossfeldt. Licht an der Grenze des Sichtbaren, Paris, London: Schirmer/ Mosel: 1999, S. 30-35, hier S. 34.
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Gezeigte zugleich aus üblichen Betrachtungsweisen heraus; mit Benjamin gesprochen produzieren sie eine gewisse Magie.
Abb. 5: Karl Blossfeldt, Callicarpa dichotoma. Blattquirl (o.J.). 15fache Vergrößerung. Aus: Akademie der Künste (Hg.), Karl Blossfeldt. Licht an der Grenze des Sichtbaren, München u.a.: Schirmer/Mosel 1999, S. 62 (Copyright: Archiv der Universität der Künste, Berlin). 1929 begleiten die Pflanzenfotografien Blossfeldts ohne direkten Bezug Georges Batailles Text »Le Langage des Fleurs« in der von diesem, Carl Einstein und anderen gegründeten, so kurzlebigen wie einflussreichen Zeitschrift »Documents«.37 Wie Blossfeldts sind auch Eugène Atgets Fotografien in surrealistische Zeitschriften eingeflossen. Und wie Blossfeldt ist auch Atget – vor allem Atget – ein Beispiel für Benjamins Konzept des Optisch-Unbewussten. Eine weitere Gemeinsamkeit beider liegt darin, dass sie ihre Fotografien als Dokumentationen verstanden haben, keineswegs als eigenständige Kunstwerke, geschweige denn als surrealistische. Allerhöchstens als Vorlagen für Künstler sollten sie dienen. Künstlern verkaufte Atget seine Aufnahmen von Pariser Straßen, Häusern, Parks und Interieurs ebenso, wie er sie öffentlichen Sammlungen und Bibliotheken anbot oder in deren Auftrag anfertigte. Nichtsdestotrotz beziehungsweise gerade wegen ihres dokumentierenden Charakters wurden Fotografien Atgets in »La Révolution Surréaliste« abgedruckt und seine Hinterlassenschaften 1927 von der den Surrealisten nahe stehenden Berenice Abbott gesichert. Zur Vorliebe der Surrealisten für dokumentarische oder auch schlicht banale Fotografien und deren Aneignung bemerkt Rosalind Krauss, dass sich in ihnen Natur als Schrift zu erfahren 37 Documents 1/3 (1929), S. 160-167.
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gebe.38 Anders als in den im Konstruktivismus verbreiteten Fotomontagen, gehe es den Surrealisten in der Fotografie nicht um Interpretationen der Realität, sondern um Realität »als Repräsentation oder Zeichen«.39 Also darum, eine Verschiebung oder ein Unterlaufen gewohnheitsmäßiger Anschauungen zu befördern, ohne ästhetische Kunstgriffe oder poetische Verrätselungen anzuwenden. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf Details, auf Unscheinbares oder auch Abfälle. Wie auch in Brassaïs fotografierten Papierobjekten, die man in unbedachter Weise mit den Fingern knetet (vgl. Abb. 6), oder in Jacques-André Boiffards Zehen in Großaufnahme, die sich in »Documents« abgedruckt finden, sind auch Atgets Straßenecken und Häuserzeilen Beispiele für eine Ästhetik des Unästhetischen oder schlicht Alltäglichen (Abb. 7).
Abb. 6: Brassaï: Sculptures involontaires, 1933. Aus: R. E. Krauss/J. Livingston (Hg.), L’Amour fou, S. 39 (Copyright: Collection Rosabianca Skira, Geneva).
Abb. 7: Eugène Atget, Hôtel du Président Duret, rue Saint Dominique, 48, ca. 1902. Aus: Christine Kühn, Eugène Atget 1857-1927. Frühe Fotografien, Ausstellungskatalog, Berlin: Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz 1998, o. S. (Copyright: Kunstbibliothek Berlin) 38 Rosalind Krauss: »Die photographischen Bedingungen des Surrealismus« [1981], in: dies., Das Photographische, S. 100-123. Hier ohne jeden Verweis auf Benjamin. 39 Ebd., S. 118.
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In seinem Aufsatz »Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz« hat Benjamin 1929 für derartige Wahrnehmungen bereits den Begriff der »dialektischen Optik« entwickelt, welche »das Alltägliche als undurchdringlich und das Undurchdringliche als alltäglich erkennt«.40 Anders als das Neue Sehen und der Konstruktivismus, die von Maschinenanalogien und Fortschrittsrhetoriken durchzogen sind, wendet sich der Surrealismus dem »›Veralteten‹« und »Aussterbenden« zu,41 womit für Benjamin im Surrealismus ein historischer Index bedeutsam wird. Wie der Philosoph Peter Osborne herausstreicht, ist gerade das Moment einer historischen Erfahrung, die sich von der Gegenwart aus entfaltet, der Gewinn, den Benjamin aus der Auseinandersetzung mit dem Surrealismus zieht: »It is here that Benjamin’s distinctive contribution lies: not as a historian of Surrealism, but as the theorist of Surrealist experience as historical experience.«42
Abb. 8: Jacques-André Boiffard, ohne Titel (für »Nadja«), 1928. Aus: R. E. Krauss/J. Livingston (Hg.), L’Amour fou, S. 18 (Copyright: Collection Lucien Treillard, Paris) 40 Walter Benjamin: »Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz« [1929], in: ders., Gesammelte Schriften II, 1, S. 295-310, S. 307. 41 Ebd., S. 299 42 Peter Osborne: »Small-Scale Victories, Large Scale Defeats: Walter Benjamin’s Politics of Time«, in: Andrew Benjamin/Peter Osborne (Hg.), Walter Benjamin’s Philosophy. Destruction and Experience, London, New York: Routledge 1994, S. 59-109, hier S. 65.
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Die »Momentaufnahme«, als welche sich dieser frühere Text im Untertitel selbst zu erkennen gibt, erhält hier eine andere Dimension als in »Kleine Geschichte der Photographie« und dem Kunstwerkaufsatz, wo der Begriff auf den ersten Blick allzu sehr auf technische Visualisierungen beschränkt zu sein scheint. Im »Sürrealismus«-Aufsatz ist eine Momentaufnahme nicht gleichbedeutend mit einer Chronofotografie, die Bewegungsabläufe sistiert: In der Betrachtung der Fotografien, die André Breton seinen Romanen beigegeben hat – es sind wohl die Bilder von Boiffard in »Nadja« (1929) (vgl. Abb. 8) –, erkennt Benjamin vielmehr eine Kippfigur, die »wie eine Drehtür« die Gegenwart mit dem Vergangenen verschaltet.43 In Fortführung dieser Überlegung in »Kleine Geschichte« gerät angesichts der Paris-Fotografien Atgets daher nicht etwas zuvor noch nie Gesehenes, sondern vielmehr das Übersehene, das Zufällige in den Blick. Vergrößerungstechniken oder ähnliche technische Instrumentarien kommen auf diesen erstmals 1930 veröffentlichten Aufnahmen (eine Veröffentlichung, die Benjamin vorlag) gar nicht ins Spiel. Vielmehr suchte Atget »das Verschollene und Verschlagene« wie Benjamin schreibt; die Fotografien von Paris »saugen die Aura aus der Wirklichkeit wie Wasser aus einem sinkenden Schiff«. Dadurch wird das Feld für einen »politisch geschulten Blick« frei, in »dem alle Intimitäten zugunsten der Erhellung des Details fallen«.44 Es sind die Kontingenz des Fotografischen und die Registratur des Vorfindlichen, die als medientechnisches Surplus eine ästhetische Erfahrung hervorrufen, eine ästhetische Erfahrung, mit der zugleich ein politischer Gestus verbunden ist.
3 . Te c h n i s c h e u n d g e s c h l e c h t l i c h e R e p r o d u k t i o n : J e a n P a i n l e vé s U n t e rw a s s e r f i l m e Was bekommt ein »politisch geschulter Blick« durch die fotografisch erhellten Details eigentlich zu sehen? Was passiert, wenn anstelle des ImmerSchon-Wahrgenommenen ein »unbewußt durchwirkter« Bildraum tritt? Diesen Fragen möchte ich abschließend an Filmen Jean Painlevés nachgehen und zwar in der Zuspitzung auf einen geschlechterpolitisch geschulten Blick. Wenn es darum geht, den Kameramann als Chirurgen zu verstehen, der, anders als ein Maler, die Distanz zum Gegebenen nicht einhält, dann stößt man im zeitgenössischen Umfeld der besprochenen Autoren und Künstler schnell auf Jean Painlevé. Painlevé gehörte eine Zeit lang zum Kreis um An43 W. Benjamin: Sürrealismus, S. 301. Dass die Überlegungen zum Surrealismus und zur dialektischen Optik im Passagen-Werk ihre Ausformulierung finden, darauf ist häufig hingewiesen worden; vgl. Karlheinz Barck: »Der Surrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz«, in: B. Lindner: Benjamin-Handbuch, S. 386-398. 44 W. Benjamin: Kleine Geschichte, S. 379.
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dré Breton und arbeitete mit Antonin Artaud zusammen.45 Seit den 1920er Jahren drehte er Wissenschaftsfilme, die wissenschaftliche und ästhetische Anliegen ganz entschieden überlappen lassen, ohne den Anspruch des Dokumentarischen je preiszugeben. Damit verwirklichte er gewissermaßen ein Anliegen, dem Benjamin eine »revolutionäre Funktion des Films« zuschrieb, nämlich »künstlerische und wissenschaftliche Verwertung der Photographie, die vordem meist auseinander fielen, als identisch erkennbar zu machen«.46 Painlevés films documentaires zeigen seltsame Weichtiere, Quallen, Kraken, Krabben unter Wasser oder auch kristalline Strukturen unter dem Mikroskop. Einmal kommt eine Fledermaus als Vampir zur Darstellung und, wie André Bazin es anlässlich eines Filmfestivals der International Association of Science Films in Paris beschreibt, ist »Le Vampire« (1945) sowohl ein zoologisches Dokument als auch die Entfaltung eines großen filmischen Mythos in der Folge von Fritz Langs »Nosferatu«.47 Entscheidend ist, wie Painlevé immer wieder betont hat, dass sich die Technik und das Zu-Sehen-Gegebene nicht voneinander entkoppeln lassen. Vielmehr sind seine wissenschaftlichen Filme sowohl eine Arbeit an immer neuen Apparaten der Sichtbarmachung als auch ein Auffinden von Tieren und Pflanzen, die in Welten hausen, die nicht unmittelbar einsichtig sind. Während also einerseits die technischen Apparate sich im Zuge ihrer Einsätze verändern oder überhaupt erst für diese konstruiert werden, sind die Orte ihrer Einsätze immer solche, die eine Natur zeigen, die sich nicht bruchlos in gewohnte Ordnungen einfügen lässt. Gerade Painlevés Unterwasserfilme liefern in der Tat zuvor nie gesehene Bilder, schon weil es sich um zuvor kaum je gesehene Szenen handelt, in denen Tiere unwahrscheinlichster Morphologien auftreten. Es sind kuriose Tiere, die auch Pflanzen sein könnten, ganz aus der Nähe gefilmt, und immer wieder geht es um Fortpflanzung und zum Teil hermaphroditische Zeugungsakte. »The Seahorse/L’Hippocampe« von 1931 ist so ein Film, außerdem einer der ersten Unterwasserfilme überhaupt, gedreht mit einer Spezialkamera und aufwändigem Setting (vgl. Abb. 9).48 Das Zusammensein der Seepferdchen in einer Art Kolonie am Meeresgrund ist von derart träumerischer Weltver-
45 Brigitte Berg: »Contradictory Forces: Jean Painlevé, 1902-1989«, in: Andy Masaki Bellows/Marina McCougall/Brigitte Berg (Hg.), Science is Fiction. The Films of Jean Painlevé, Cambridge, Mass., London, San Francisco: Brico Press 2000, S. 2-47. 46 W. Benjamin: Kunstwerk, S. 499. Vgl. hierzu auch Frieda Grafe: »Surreal und unter Wasser. Ein Wilderer: Jean Painlevé, 1902 bis 1989« [1997], in: dies.: Film/Geschichte. Wie Film Geschichte anders schreibt, Berlin: Brinkmann & Bose 2004, S. 180-193. 47 André Bazin: »Science Film: Accidental Beauty« [1947], in: A. Masaki Bellows et al.: Science is Fiction, S. 144-147, hier S. 146. 48 Eine erste Version wurde 1931 ohne Musik fertiggestellt, die zweite mit Musik von Darius Milhaud 1934; Jean Painlevé: L’Hippocampe, 35mm, s/w, 15 Min., vgl. B. Berg: Painlevé, S. 23f.
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Abb. 9: Jean Painlevé: Titelbild »Voilà. L’hebdomadaire du reportage«, 4. Mai 1935. Aus: Andy Masaki Bellows/Marina McCougall/Brigitte Berg (Hg.), Science is Fiction. The Films of Jean Painlevé, Cambridge, Mass., London, San Francisco: Brico Press 2000, S. 130. gessenheit, dass es sich nicht – wie die Tierfilme späterer Zeiten – zum Vorbild menschlicher Sozialität eignet. Hier ist alles ganz anders, weder die Formen der Tiere noch ihr Verhalten folgen anthropomorphen Mustern. Nicht nur die Natur, welche zur Kamera spricht, auch die Natur selbst ist anders. Nachdem wir eine Weile den Seepferdchen zuschauen konnten, wie sie sich zwischen Meeresgewächsen dahintreiben lassen, sich begegnen und miteinander verschlingen, ist der eigentliche Höhepunkt des Films die Fortpflanzung der Seepferdchen. Es ist nämlich das Männchen, das die Eier austrägt, welche ihm ein Weibchen in seine Bauchtasche gelegt hat. Painlevé und der Kameramann André Raymond bauten riesige Aquarien, vor denen sie dann ununterbrochen auf die Geburt der Jungen warteten.49 So kann man schließlich einem Seepferdchen mit sehr angeschwollenem Körper – einem männlichen, wie der Off-Kommentar zu wissen gibt – bei einem wahrhaften Geburtskampf zusehen: Erst geraten die Augen in Großaufnahme ins Bild, dann die Körperöffnung, aus der die Jungen geboren werden sollen. Allmählich löst sich eines nach dem anderen aus dem aufgedunsenen Leib heraus, winzig klein, und schwebt durch das Wasser. Man kann nicht sofort entscheiden, welches der Fädchen im Grau des Wassers ein Seepferdjunges und was ein Partikel anderer Herkunft oder womöglich eine Schliere auf dem Glas des Aquariums oder der Kameralinse ist. Um das was passiert, auch wissenschaftlich zu erklären, folgt ein Schnitt im Film und ein Schnitt in die Bauchdecke eines trächtigen Männchens. Jeden Anflug einer »stimmungsvollen Landschaft« zerstörend, werden nun die Eier in der Bauchtasche gezeigt und mit einem Skalpell herausgekratzt (vgl. Abb. 10). Die heraus gelösten Embryonen sowie die schon geborenen werden in Mikroaufnahmen ins Bild gesetzt. Ihre Anatomie wird genau analysiert. Wissen über Ontogenese und die Biologie sexueller Fortpflanzung ist hier unmissverständlich in Bild und Kommentar eingegangen, und so dient der Film nicht nur der Informierung der Zuschauer,
49 Jean Painlevé: »Feet In The Water« [1935], in: A. Masaki Bellows et al.: Science is Fiction, S. 130-139, hier S. 139.
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sondern auch und womöglich viel mehr noch der Herstellung und Zurschaustellung fotografischer Bildlösungen.
Abb. 10: Jean Painlevé, The Seahors, Filmstills, 1934. Aus: A. Masaki Bellows et al. (Hg.), Science is Fiction, S. 70. Man kann sagen, dass Painlevés Filme das Thema der Reproduktion in doppelter Hinsicht verhandeln: nämlich als technische Reproduzierbarkeit, die Wiederholung und Vervielfältigung medial aufgezeichneter Szenen garantiert,50 und als geschlechtliche Reproduzierbarkeit. Auch deren Möglichkeiten werden gewissermaßen vervielfältigt – zumindest gemessen am als normal geltenden menschlichen Standard. Was dabei herausspringt, sind »miraculous qualities«,51 eine Magie ganz in Benjamins Sinn (von dem nicht überliefert ist, ob er Painlevés »The Seahorse« jemals sah, was immerhin möglich ist). Auch Painlevé geht es darum, gerade im Feld des Wissens Lücken zu finden und die Vorläufigkeit allen Wissens herauszupräparieren. Diese Lücken sind die Stellen, an denen das ästhetische oder poetische Potenzial des Fotografischen nistet, ein Potenzial, das zwar an eine technische Konstellation gebunden ist, aber nicht in ihr aufgeht. Entscheidend ist, die fotografischen Bilder zwar als Dokumente zu begreifen, sich aber nicht bloß für das was sie 50 Painlevé betont, dass der Gewinn des wissenschaftlichen Films weniger darin liege, neues Wissen zu produzieren, als vielmehr in den Möglichkeiten des genauen Studiums und der Zirkulation der jeweiligen Szenen. Vgl. A. Masaki Bellows et al.: Science is Fiction, S. 166. 51 Jean Painlevé: »Neo-Zoological Drama« [1924], in: A. Masaki Bellows et al.: Science is Fiction, S. 116-123, hier S. 119.
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dokumentieren zu interessieren, sondern vor allem für die Art, wie sie es dokumentieren und dass sie es überhaupt zu dokumentieren vermögen. Zusammenfassend möchte ich drei Punkte festhalten: Erstens ist mit dem Optisch-Unbewussten eine Wahrnehmungsweise aufgerufen, die durch den Einsatz einer technischen Apparatur das Gegebene in anderer Weise zu sehen gibt. Fotografien, um die es hier ja hauptsächlich geht, entstammen einer mechanischen Registratur, und es handelt sich von daher nicht um bis in den letzten Winkel intentional oder eben bewusst gestaltete Bilder. Hierin liegt die Analogie zur Psychoanalyse, die gleichfalls im Detail das Unbewusste sich sprechen hört, womit nicht die »ganze Wahrheit« sich offenbart, aber doch ein anderes Wissen hervorgebracht wird.52 Da diese Aufmerksamkeit für das zufällige Detail aber nicht der Fotografie in all ihren Anwendungen eigen ist, profiliert Benjamin zweitens eine bestimmte künstlerische Praxis, die entweder mit diesem Potenzial des Fotografischen arbeitet oder es in nicht-künstlerischen Artefakten zu erkennen vermag. Was Jacques Rancière in seinem Vorwurf der »Onto-Technologie« bei Benjamin zu verkennen scheint,53 ist, dass es diesem ja gerade um eine Verschränkung von Ästhetik und Technik geht sowie um eine »Durchdringung von Kunst und Wissenschaft«.54 Auch die wissenschaftlichen Bildwelten bleiben ästhetische, das heißt, sie sind erst im Hinblick auf neue Wahrnehmungs- und Wissensordnungen – oder Unordnungen – relevant, mit denen nicht zuletzt politische Fragen einhergehen. Das führt drittens dazu, eine liebgewonnene feministische Kunstwissenschaft im besten Fall weit über Benjamin hinaus um wichtige Aspekte zu erweitern: Zu fragen wäre nämlich nicht nur, wie sich Bilder an tradierten Weiblichkeitsund Männlichkeitsrepräsentationen brechen. Jenseits von Repräsentationskritik könnte es vor allem um die Frage gehen, wo sich Geschlechterwissen und Medialität zu ästhetischen Formen vermengt haben und wie das Unbewusste dieses Ästhetischen jeweils aufzuspüren ist.
52 Vgl. S. Weigel: Technische Frage, S. 156. 53 Jacques Rancière: Das ästhetische Unbewusste, Zürich, Berlin: diaphanes 2006, S. 47. Vgl. hierzu meinen Aufsatz »Nicht-Wissen, Nicht-Denken. Über das visuelle Unbewusste«, in: Winfried Pauleit et al. (Hg.), Das Kino träumt, Berlin: Bertz und Fischer 2009, S. 9-19. 54 W. Benjamin: Kunstwerk, S. 499.
Der Paraps yc hologe und sein Medium im Experiment. Geschlecht und Medialität des Unbew ussten DOROTHEA DORNHOF »Wir schauen mit den eigenen Augen, wir sehen mit den Augen des Kollektivs.«1
1. Ein Medienereignis 1904 Auf Einladung des Okkultismusforschers und Psychologen Albert Freiherr von Schrenck-Notzing weilte die französische Traumtänzerin Magdeleine Guipet im Frühjahr 1904 in München. Ihre Auftritte, zunächst vor Ärzten der von Schrenck-Notzing gegründeten Psychologischen Gesellschaft,2 dann im Münchner Schauspielhaus, aber auch ihre weiteren Auftritte in Wien, London und Paris waren ein Medienereignis, das von der Rolle der Fotografie im Feld der visuellen Kultur ausging. »Die während des inzwischen verflossenen Jahres von der Traumtänzerin im kataleptischen Zustand aufgenommenen Photogramme veranlassten die Psychologische Gesellschaft, diesen seltsam interessanten Fall den Künstlern und Gelehrten Münchens, soweit diese dafür Interesse zeigten, in einigen Privatsitzungen zu demonstrieren.«3 1 2
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Ludwik Fleck: »Schauen, sehen, wissen« [1947], in: ders., Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, S. 147-174, hier S. 154. Vgl. die ausgezeichnete Studie von Ulrich Linse: »Mit Trancemedien und Fotoapparat der Seele auf der Spur. Die Hypnose-Experimente der Münchner ›Psychologischen Gesellschaft‹«, in: Marcus Hahn/Erhard Schüttpelz (Hg.), Trancemedien und Neue Medien um 1900. Ein anderer Blick auf die Moderne, Bielefeld: transcript 2009, S. 97-144. Dr. Freiherr von Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G. Eine psychologische Studie über Hypnose und dramatische Kunst, Stuttgart: Verlag von Ferdinand Enke 1904, S. 1.
DER PARAPSYCHOLOGE UND SEIN MEDIUM IM EXPERIMENT | 355
Aber auch auf den Bühnen der Varietés von Paris, Berlin und London traten zumeist weibliche Medien in Erscheinung, die im hypnotischen Zustand mit vermeintlich übersinnlichen Fähigkeiten das Publikum begeisterten. Der unheimliche Vorgang, okkulte psychische Prozesse sichtbar zu machen, ging mit der Faszination an der visuellen Illusion einher, die sich aus den veränderten Bedingungen und Techniken des Sehens und den magischen Möglichkeiten der technischen Medien ergaben, okkultes Wissen zu visualisieren. Auf der Suche nach der Unmittelbarkeit psychischer Phänomene vermittelte die visuelle Macht der Fotografie und der ersten Kinematographen einem breiten Publikum bisher unsichtbare Sphären menschlicher Erfahrung und Erkenntnis. Mit der Erweiterung des Wissensbegriffs um die Dimension seiner Bildförmigkeit und der damit einhergehenden Pluralisierung der Sehweisen begann sich das Wahrheits- und Objektivitätsdenken des 19. Jahrhunderts und so auch die Distanz des Forschers zu seinem Forschungsobjekt aufzulösen. Das Interesse an der unmittelbaren Ausdrucksfähigkeit von TranceMedien war kein neues Phänomen in der Experimentalkultur um 1900. Mit dem neuen Medium der Fotografie gingen seit Mitte des 19. Jahrhunderts intensive wissenschaftliche Experimente einher, die vor allem in der medizinischen Beobachtung von Nervenkrankheiten um Fragen des Hypnotismus, der Hysterie, des Somnambulismus und der Katalepsie kreisten, um Spuren unbewusster psychischer Vorgänge wissenschaftlich zu ergründen. Die Bildproduktion der physiologischen Ausdrucksexperimente und der Experimente mit Medien und Geistererscheinungen bewegte sich somit in einem Spannungsfeld, das den physikalischen Manifestationen des psychischen Apparats und der Unmittelbarkeit des Unbewussten auf der Spur war. Die Fotografie ist in diesem Prozess Teil eines umfassenden Systems visueller Kommunikation, Medium wie Agens empirischer Beweise und visueller Wahrheiten und lässt sich als ein Zeichensystem mit einem Vorrat geschlechtlicher Codierungen analysieren, die seine Rezeptions- und Gebrauchsweisen bestimmen.4 Das Spektakel um das hypnotisierte Medium wirft kontrovers diskutierte medizinische, künstlerische und mediale Fragen auf, begleitet von einer Faszinationsgeschichte, die sich an der eigentümlichen Schwelle zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen Experiment und Unterhaltung sowie zwischen materieller Welt und Unbewusstem ereignet. Die Experimente mit dem Medium Magdeleine Guipet sind Ausdruck eines zeithistorischer Denkstils und eines spezifischen Gestaltsehens, die in ihren fotografischen und textuellen Beobachtungsergebnissen auf den epistemologischen und medialen Status des Unbewussten verweisen. Der Fall um die Traumtänzerin verdeutlicht, dass Medien immer schon Teil dessen sind, was sie darstellen, weil der Körper des Mediums gleichermaßen Objekt 4
Abigail Solomon-Godeau: »Wer spricht so? Einige Fragen zur Dokumentarfotografie«, in: Herta Wolf (Hg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 53-74, hier S. 55.
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wissenschaftlichen Begehrens und Aufzeichnungsinstrument in einem ist. In den Übertragungs- und geschlechtlichen Codierungsformen der hypnotischen Experimente verschränken sich unbewusste Spuren von technischen und TranceMedien, die in den medialen Manifestationen als Teil des Wissenstransfers zwischen verschiedenen Wissensbereichen und den Medien, unterschiedlichen Akteuren und der Öffentlichkeit gelesen werden können. Durch die Auffassung, dass das Erkenntnissubjekt selbst Bestandteil der Beobachterpraxis ist,5 kommen soziale, institutionelle und apparative Möglichkeitsbedingungen der Wissensproduktion in den Blick. Die in neueren Medientheorien etablierten Konzepte von der konstitutiven Funktion der Aufzeichnungsmedien am medialen Ereignis und dem »Eigensinn der Medien«6 sollen hier im Zusammenhang mit dem »medientechnischen Unbewussten«7 diskutiert werden, denn technische (fotografische Visualisierungen) und okkulte Medien (Frauen im Zustand der Trance, des Traums oder des Schlafs) vermögen es in dieser verschränkten Bedeutung, dem Unbewussten eine Repräsentanz zu geben und es im Wissen als auch in den Medien zirkulieren zu lassen. Derartige Visualisierungen hypnotisierter weiblicher Medien verweisen in ihren Manifestationen des Unbewussten so auch auf Dissonanzen im Wissen als auch in den Bildern. Auf den Zusammenhang von Unbewusstem und Medialem hat Annette Bitsch verwiesen, indem sie der Spur »diskreter Gespenster« im medialen Dispositiv der Psychoanalyse nachgegangen ist und die Signaturen eines Aufbruchs in ein neues Medienzeitalter entschlüsselt hat, »das in seinen Ouvertüren nur in spiritistischen Diskursen integriert werden konnte«.8 In diesem Sinne soll in dem Beitrag – dem hypnotischen Rapport vergleichbar – die Aufmerksamkeit im Blick auf die Trancemedien umgelenkt und nicht auf die Inhalte, den Betrug oder die Täuschung geschaut werden, »um der häufig beklagten Banalität und Albernheit der Inhalte okkulter Erscheinungen«9 zu entgehen. Für die Untersuchung der Frage, wie die Medialität des Mediums selbst das Unbewusste im
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Vgl. Christoph Asendorf: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Gießen: Anabas-Verlag 1989. Gunnar Schmidt: Visualisierungen des Ereignisses. Betrachtungen zu Bewegung und Stillstand, Bielefeld: transcript 2008, S. 7. Hans-Christian von Herrmann/Bernhardt Siegert: »Beseelte Statuen – zuckende Leichen. Medien der Veränderung vor und nach Guillaume Benjamin Duchenne«, in: Kaleidoskopien. Medien. Wissen. Performanz. Körperinformationen 3 (2000), S. 66-103, hier S. 92. Annette Bitsch: Diskrete Gespenster. Die Genealogie des Unbewussten aus der Medientheorie und Philosophie der Zeit, Bielefeld: transcript 2009, S. 56. Vgl. auch Wolfgang Hagen: Radio Schreber. Der moderne Spiritismus und die elektronischen Medien, Weimar: Vdg-Verlag 2001. Albert Kümmel/Justyna Steckiewicz: »Leipzig 1877. Medienepistemologische Zugänge zu Karl Friedrich Zöllners Experimenten mit Henry Slade«, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 4 (2003), S. 72-95, hier S. 80.
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Wissen geschlechtsspezifisch figuriert und wie sich dies auf das hypnotische Experiment als Performance auswirkt, wird dem epistemologischen Status des Experiments im Prozess der Wissensproduktion nachzugehen sein.10
2 . D i e Tr a u m t ä n z e r i n a l s M e d i u m o d e r d i e S u c h e n a c h d e r U n m i t t e l b a r k e i t d e s Au s d r u c k s Der frühere Intendant des Stuttgarter Hoftheaters, Freiherr Julius von Werther, der den ersten Münchner Vorführungen in der Psychologischen Gesellschaft beiwohnte, veröffentlichte 1904 in der Goslarschen Zeitung folgenden Bericht: »Eine Pariserin, bezeichnet als Magdeleine G., wurde von einem Magnetiseur, Namens Magnin, vorgeführt. Die Person, mittelgross, eher klein, brünett, schlank, feingebaut, mit grossem Kopfe, slavischen Gesichtszügen, ausdrucksvollen grossen Augen, bekleidet nur mit einem dünnen, blassblauseidenen, wallenden, empireartigen Gewande, wurde stehend, von dem Magnetiseur eingeschläfert und sank in einen Lehnstuhl. Zwei Aerzte bestätigten den eingetretenen somnambulen Zustand. Da ertönt Musik hinter einem Vorhange; aus den ersten Takten hört man bereits, dass ein Meister spielt, der Hofkapellmeister und Akademiemuseumsdirektor Stavenhagen. Alsbald erhebt sich Magdeleine aus ihrem Lehnstuhle und begleitet mit Armen und Beinen wie mit lebhaftem Gesichtsausdrucke diese Töne. Die Musik geht in ein Chopinsches Prélude über. Den weichen, schwermütigen Liebestönen des ersten Motivs entspricht die Gebärde Magdeleines mit überzeugender Wahrheit. […] Es ist nur eine Offenbarung des Urgrundes der schauspielerischen Natur; das Tagesbewusstsein, die Logik, das reflektierende Denkvermögen scheinen hier gänzlich ausgeschlossen zu sein.«11
Abb. 1: Valse de Chopin. Aus: Émile Magnin, L’Art et l’Hypnose. Interprétations plastique d’Œuvres littéraires et musicales. Préface de Th. Flournoy, Genève, Paris: Editions Atar S. A./Felix Alcan 1905, S. 79. 10 Ebd., S. 72f. 11 Julius von Werther: »Die Schlaftänzerin«, in: Goslarsche Zeitung vom 18. III. 1904, zitiert nach A. von Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin, S. 13f.
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Magdeleine Guipet war keine professionelle Tänzerin, sondern eine dreißigjährige Hausfrau und Mutter zweier Kinder. Ihre in zahlreichen Fotos überlieferten Trancefigurationen12 waren in den Darstellungsformen des zeitgenössischen Ausdruckstanzes13 und in den Geschlechterbildern ebenso verankert, wie in der experimentellen Kultur am Schnittpunkt von Labor- und Krankenhausmedizin, mit der die Hypnose zum Prototyp einer in der Klinik verorteten Experimentalpsychologie wurde.14 Wenn auch der Theaterrevolutionär Georg Fuchs in den Aufführungen der Traumtänzerin eine Wiedergeburt der antiken Tragödie aus dem Geiste der Musik zu erkennen glaubte,15 so ist das zwischen dem Erstarren des lebendigen und dem Erwachen des leblosen Körpers sich ereignende Theater der Hysterie eher als eine serielle Adaption mimischgestischer Ausdrucksformen elektrophysiologischer Experimente des 19. Jahrhunderts anzusehen.16 Die technische Reproduzierbarkeit physignomischer Körperzeichen stand bereits bei dem mit Wechselstrom und Fotografie experimentierenden Physiologen Guillaume-Benjamin Duchenne, genannt Duchenne de Boulogne, im Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Der anfängliche therapeutischen Einsatz der Elektrizität als Heilmittel verwandelt sich hier zu einem Untersuchungsgegenstand, indem er in seinen elektrophysiologischen Versuchen mittels Wechselstrom die Gesichtsmuskeln von sieben Versuchspersonen zur Kontraktion brachte und die so erzeugten mimischen Ausdrucksformen fotografierte. »Armé de rhéophores, on pourrait, comme la nature ellemême, peindre sur le visage de I’homme les lignes expressive des émotions
12 Schrenck-Notzing bezeugt über tausend fotografische Abbildungen, die hauptsächlich im Atelier des Genfer Fotografen Fred Boissonnas entstanden; A. von Schrenck-Notzing: Traumtänzerin, S. 79. 13 Gabriele Brandstetter: »Psychologie des Ausdrucks und Ausdruckstanz. Aspekte der Wechselwirkung am Beispiel der Traumtänzerin Madeleine G.«, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.), Ausdruckstanz. Eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wilhelmshaven: Noetzel, Heinrichshofen-Bücher 1992, S. 199-211; Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt/Main: Fischer 1995. 14 Andreas Meyer: »Zur Genealogie des psychoanalytischen Settings«, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 2 (2003), S. 11-42. 15 Georg Fuchs: Die Revolution des Theaters. Ergebnisse aus dem Münchener Künstler-Theater, München/Leipzig: Georg Müller-Verlag 1909, S. 72, 77. In Anlehnung an Nietzsches physiologische Ästhetik steht bei Fuchs im Zentrum des Theaters der lebendige Leib, der keinen Unterschied mehr kennt zwischen Produktion und Rezeption, sondern nur noch durch visuelle und akustische Reize ausgelöste Erregungszustände. Vgl. Hans-Christian Herrmann: »Am Leitfaden des Leibes. Zur Entliteralisierung des Theaters um 1900«, in: Angelika Corbineau-Hoffmann/Pascal Nicklas (Hg.), Körper/Sprache. Ausdrucksformen der Leiblichkeit in Kunst und Wissenschaft, Hildesheim: Georg Olms 2002. S. 195-211, hier S. 209. 16 Vgl. B. Siegert/H.-C. von Herrmann: Zuckende Leichen, S. 94.
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de l’âme. Quelle source d’observation nouvelle!«17 Die mit dem Rheophor ausgelösten und vom fotografischen Apparat aufgezeichneten physiognomischen Ausdrucksformen sind in den beiden Medien doppelt stillgestellt und damit der Flüchtigkeit entzogen. Als Apparat der körperlichen Produktion ist der Körper gleichsam Wissensobjekt und »materiell semiotischer Erzeugungsknoten«.18 Die Traumtänzerin wurde 1874 in Georgien (Tiflis), dem Heimatland ihrer Mutter geboren. Ihr Vater war Schweizer und arbeitete als Innenausstatter für den Schah von Persien. Die Familie übersiedelte nach Genf, als Magdeleine sechs Jahre alt war, wo ein Onkel als Tanzmeister tätig war, der sie in modernem Salontanz unterrichtete. Als Achtzehnjährige ging sie für ein Jahr nach New York und ließ sich dann mit Mutter und Schwester in Paris nieder. Nach dem ihr von den Eltern der Wunsch ans Theater zu gehen untersagt wurde, heiratete sie mit fünfundzwanzig den Inhaber eines Baumaterialiengeschäfts. Als sie sich 1902, nach der Geburt ihrer zwei Kinder, wegen nervöser Kopfschmerzen an den Pariser Arzt und Magnetopathen Émile Magnin wandte, entdeckte der bereits in der fünften hypnotischen Sitzung die ungewöhnlichen gestischen und mimischen Reaktionen seiner Patientin auf Musik. Magnin experimentierte in der Folgezeit mit dem Medium Magdeleine und führte sie Wissenschaftlern und Künstlern vor; so trat sie im Atelier von Auguste Rodin auf und in der Pariser Opéra Comique. Bei einem Parisaufenthalt 1903 lernte der Psychiater Albert von Schrenck-Notzing das in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit noch wenig bekannte Medium und ihren Magnetopathen kennen und lud beide zu Vorführungen nach München ein. Schrenck-Notzing hatte sich bereits in seiner Dissertation 1888 mit den therapeutischen Möglichkeiten der Hypnose19 beschäftigt und forderte ein wissenschaftliches Monopol für die Hypnose und strenge Gesetze gegen öffentliche hypnotische Schaustellungen von Laien-Hypnotiseuren. Magnetiseure wie der Belgier Donato und der Däne Carl Hansen waren mit ihren Séancen in ganz Europa erfolgreich, denn sie imitierten dabei bewusst wissenschaftliche Rituale. So existierten 1887 in Paris vier- bis fünfhundert Somnambulen-Cabinette.20 17 Guillaume-Benjamin Duchenne de Boulogne: Mécanisme de la physionomie humaine ou analyse électro-physiologique de l’expression des passions, T. II, Paris: Baillière 1876, S. 14. 18 Donna Haraway: »Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive«, in: dies., Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt/Main, New York: Campus 1995, S. 73-97, hier S. 96. 19 Albert von Schrenck-Notzing: Ein Beitrag zur therapeutischen Verwertung des Hypnotismus. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde in der Medicin, Chirurgie und Geburtshülfe bei der Hohen Medicinischen Fakultät zu München, Leipzig: J.B. Hirschfeld 1888. 20 Georges Gilles de la Tourette: Der Hypnotismus und die verwandten Zustände vom Standpunkte der gerichtlichen Medizin, Paris 1887. Autorisierte deutsche
360 | DOROTHEA DORNHOF »Da der Hypnotismus ein Mittel zur Umstimmung des Nervensystems ist, so darf er einzig und allein von Ärzten angewendet werden oder doch von solchen Gelehrten, welche über die erforderlichen physiologischen, zum Studium der Psychologie nötigen Vorkenntnisse verfügen. Um den Missbrauch durch die Laien-Magnetiseure abzustellen, sind gesetzliche Bestimmungen über die unbefugte Ausübung der Heilkunde nötig.«21
Wenn sich Schrenck-Notzings Experimentalordnung auch sehr an den Lehren von Braid und Bernheim22 orientiert, so ist es trotz aller Kritik die Methode Charcots, an die er sich hinsichtlich der strengen Kontrollgesetze anlehnte. »Auch selbst dann, wenn alle an der Salpêtrière gefundenen Einzelthatsachen als irrig nachgewiesen werden, bleibt der Standpunkt dieser Schule, von dem aus die hypnotischen Erscheinungen untersucht wurden, der einzig massgebende. Dieser Standpunkt wird charakterisiert durch folgende 3 Regeln: 1. Schutz gegen Simulation, 2. Methodische Classificierung der Symptome, 3. Definition der Gesetze.«23
Medien werden in diesem Prozess der experimentellen Überprüfbarkeit zu Reflexionsfiguren der Medialität. »Figurieren und Inszenieren, aber immer am Rande der Fälschung: Das ist die experimentelle Fabrikation (die Methode) selbst.«24 In den wissenschaftlichen Kontroversen zu Hypnose und Suggestion stehen Medien oder mentaler Mediumismus für experimentelle Untersuchungen der Psyche unter veränderten Bewusstseinsverhältnissen,25 die zu
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Übersetzung. Mit einem Vorwort von Jean-Martin Charcot, Hamburg: VerlagsAnstalt u. Druckerei A. G. 1889, S. 399. Franz Imkoff (= Albert von Schrenck-Notzing): »Die gerichtliche Bedeutung und missbräuchliche Anwendung des Hypnotismus«, in: Sphinx. Monatsschrift für die geschichtliche und experimentale Begründung der übersinnlichen Weltanschauung auf monistischer Grundlage 9 (1890), S. 209-215, 299-304, hier S. 303. James Braid: Neurypnology or, the rationale of nervous sleep, considered in relation with animal magnetism, London: Churchill 1843; Hippolyte Bernheim: Die Suggestion und ihre Heilwirkung. Autoris. dt. Ausgabe von Sigmund Freud, Leipzig, Wien: Deutike 1888. A. von Schrenck-Notzing: Hypnotismus, S. 30. Georges Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, München: Fink 1997, S. 17. Vgl. das Standardwerk zur Hypnose von Albert Moll: der Hypnotismus mit Einschluss der Psychotherapie und der Hauptpunkte des Okkultismus, Berlin: Fischers medizinische Buchhandlung H. Kornfeld 1924; Max Dessoir: Bibliographie des Modernen Hypnotismus, Berlin: Carl Dunckers Verlag 1888. Der Arzt Albert Moll war ebenso wir Schrenck-Notzing darum bemüht, die Hypnose als wissenschaftliches Forschungsgebiet und ernst zu nehmendes therapeutisches Mittel in der Medizin zu etablieren, und gehörte zu den schärfsten Kriti-
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dramatischen Trancedarstellungen, automatischen Handlungen, Telekinese, Teleplastie oder Psychographie führen. In den Verfahren zur Sichtbarmachung unbekannter Kräfte verkörpern die Medien stets eine Schwelle zwischen wissenschaftlichem und künstlerischem Experiment und erzeugen dabei eine Grauzone zwischen sience und séance, »in der die Evidenzstrategien einer anderen Experimentalwissenschaft als theatrale Formen des Singulären aufscheinen. […] Realität selbst erweist sich im Moment des Geschehens als plastisches Medium.«26 Aus dem technischen Medium der Elektrizität und seiner physiologischen Masken ist in den hypnotischen Experimenten mit Magdeleine G. selbst ein Medium des Unbewussten geworden, dessen »choreographische und mimische Fähigkeit erst im hypnotischen Zustand zur freien Entfaltung gebracht werden«27 kann. Über das Klavier sei sie »so vollständig« zu »beherrschen«, dass man nur auf den sie eingeübten Pianisten den Ausdruck anzugeben braucht, damit er sie durch die Töne dazu nötigt.«28 Ihr Körper, einer fotografischen Platte vergleichbar, verwandelt sich unter Hypnose in einen »somnambulen Reflexautomat«,29 dem in der Experimentalordnung und in den Fotoserien ein »medientechnisches Unbewusstes« eingeschrieben ist, dem die Forscher auf der Spur waren und das sie in seinen verstörenden Momenten gleichsam abwiesen. Als »magnetisches Subjekt« verkörpert Magdeleine Guipet und ihr Tanz des Unbewussten wissenschaftlich-ästhetische Erfahrungen des fin-de-siècle Europas, in dem avantgardistische Kunstbewegungen eine historisch einmalige Liaison mit neurologischen und psychologischen Experimentalkulturen eingingen.30
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kern der Experimente mit der Traumtänzerin: »Noch mehr freilich muß die Art und Weise zurückgewiesen werden, wie Schrenck-Notzing diese an sich der Wissenschaft nichts neues bietende Person ›lanziert‹ hat. Die Art und Weise, wie er als Regisseur dabei vor größeren Kreisen auftrat, hat jedenfalls nach meiner Überzeugung nichts mit Wissenschaft zu tun und dürfte sich ziemlich weit vom psychologischen Laboratorium entfernen.« A. Moll: Hypnotismus, S. 550. Natascha Adamowsky: »Mr. Home schwebt raus und rein. Zur Bedeutung des Mediums für (okkulte) Wissenschaften«, in: Jörn Ahrens/Stephan Braese (Hg.), Im Zauber der Zeichen. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Mediums, Berlin: Vorwerk 8, S. 103-116, hier S. 115. A. von Schrenck-Notzing: Traumtänzerin, S. 10. Vgl. ebd., S. 113. Ebd., S. 107. Als »séance curieuse artistico-scientifique« wurde die Performance Magdeleines bezeichnet in der Correspondance Havas, 26 janvier 1904, in: É. Magnin: L’Art et L’Hypnose, S. 342. Der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Don LaCoss fasst die sich im Fall Guipet bündelnden Erfahrungen mit dem Unbewussten (experiences of the unconcious mind) als Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft trefflich zusammen: »Her somnamulistic dramatic and terpsichorean performances were the antithesis of Realism, instrumental reason, and tradition, making her art especially interesting to those intellectuals, writers, and artists who were sympathetic to the Decadent pursuit of the poison that would
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3 . D e r h yp n o t i s c h e R a p p o r t a l s u n b ew u s s t e r a u t o m a t i s c h e r P r o z e s s Um die Realität der mediumistischen Phänomene auf eine wissenschaftliche Grundlage zu erheben, wurde in London 1882 die Society for Psychical Research durch Henry Sidgwick, Edmund Gurney und Frederic Myers gegründet. In den Ausschüssen zu Mesmerismus und Hypnotismus, Telepathie, Phantomerscheinungen und mediumistischen Vorgängen ging es vor allem um die experimentelle und vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit den spiritistischen und okkulten Phänomenen, wobei der Fotografie ein vermeintlich objektives Transkriptionsvermögen zugeschrieben wurde, über das sich neue Zugänge zur Psyche entwickelten. Neben Hypnose und Suggestion galt auch das automatische Schreiben als eine Methode zur Erforschung des Unbewussten. Und auch die spektakulären Auftritte professioneller Hypnotiseure, die große Menschenmassen anzulocken vermochten, führten zu weiteren Experimenten mit dem Hypnotismus.31 Die Veröffentlichungen der Society for Psychical Research32 sowie die in Paris erscheinenden »Annales des Sciences Psychiques« sind ein Zeichen dafür, dass bedeutende Gelehrte, Psychologen, Physiker, Physiologen und Ärzte in Amerika, Frankreich und England (wie James Logde, Charles Richet, Cesare Lombroso sowie in Deutschland Karl Friedrich Zöllner und Gustav Theodor Fechner, Albert von Schrenck-Notzing, Carl du Prel) versuchten, mit experimentellen Untersuchungen zur Sichtbarmachung unbekannter psychischer Kräfte den wissenschaftlichen Okkultismus vom Geisterglauben des Spiritismus abzugrenzen. Mit der interdisziplinären Zusammensetzung der okkultistischen Bewegung und ihrer Anhänger und Förderer vollzog sich ein bisher ungeahnter corrode bourgeois categories of the real and the natural. […] Such experiments were motivated by a sense that the culture was in crisis, and all shared the urgent desire to dialectically surmount the material world and re-imagine nature, to commingle the dark subjective sensibilities of the poet with he scientist’s harsh light of objective reason. The nervous system, or more suggestively, the unconscious, was the secret of this synthesis, a possibility that had been pursued by the Decadents and Symbolists in the decades before Magdeleine G. took the stage.« Don LaCoss: »Our Lady of Darkness: Decadent Art & the Magnetic Sleep of Magdeleine G.« in: Anne Stiles: Neurology and Literature, 1860-1920, Basingstoke and New York: Palgrave 2007, S. 52-76, hier S. 61f. 31 Vgl. J. Braid: Neurypnology; Braid hatte dem 1784 von Chastenet de Puységur »vollkommene Krise« genannten »magnetischen Schlaf« oder »künstlichen Somnambulismus« den Namen »Hypnotismus« gegeben. Siehe auch: Dorothea Dornhof: Orte des Wissens im Verborgenen. Kulturhistorische Studien zu Herrschaftsbereichen des Dämonischen, Königstein: Ulrike Helmer Verlag 2005, S. 135-167. 32 Vgl. Janet Oppenheim: The Other World. Spiritualism and Psychical Research in England. 1850-1914, Cambridge: Cambridge University Press 1985.
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Austausch von wissenschaftlichen Daten und Erkenntnissen, der die Kooperation der naturwissenschaftlichen und geistesgeschichtlichen Disziplinen international beschleunigte.33 In diesem Kontext stehen neben den Medien und dem Mediumismus34 die vieldiskutierten Konstrukte ›Äther‹ und ›vierte Dimension‹ für Bemühungen, dem Unsichtbaren und Unbekannten einen wissenschaftlichen Ausdruck zu verleihen, wobei gerade das geheimnisvolle Nicht-Sichtbare das Wissen immer wieder verstörte. Die Rede von der ›vierten Dimension‹, einer höheren nicht sichtbaren Dimension des Raumes, fand bis zu Einsteins Relativitätstheorie und der damit einhergehenden Neuinterpretation der Zeit weite Verbreitung auf all jenen Gebieten, die sich dem Zusammenspiel von Wissenschaft, Religion und Kunst unter veränderten technischen Wahrnehmungsbedingungen stellten. In Anlehnung an die Society for Psychical Research gründete Albert von Schrenck-Notzing gemeinsam mit dem Philosophen und Spiritisten Carl du Prel die Psychologische Gesellschaft in München, zu der bekannte Münchner Künstler und Wissenschaftler gehörten, wie Adolph Beyersdorfer, Gabriel von Max, Albert von Keller, Wilhelm Hübbe-Schleiden und Oskar Panizza. Das Programm der Gesellschaft ist in der experimentellen Überprüfung der ›spiritistischen Medien‹ stark von Carl du Prels Suche nach der Bestätigung eines unsterblichen transzendentalen Subjekts geprägt. Dieses sah er in jedem Menschen verkörpert, das im Unbewussten wirksam sei und im hypnotischen Zustand als kreatives Prinzip zutage trete. »Werden einmal diese Fähigkeiten der menschlichen Seele – wir können sie transzendental-psychologische Fähigkeiten nennen, weil sie im normalen Zustand latent bleiben – nach experimenteller Methode erforscht werden, dann wird auch der Gewinn davon ein bleibender sein, und man wird erkennen, dass diese Fähigkeiten unabhängig sind von den Sinnen und dem Organismus. Die Psychologie wird als dann
33 Linda Dalrymple Henderson: Die moderne Kunst und das Unsichtbare. Die verborgenen Wellen und Dimensionen des Okkulten und der Wissenschaften, in: Veit Loers (Hg.), Okkultismus und Avantgarde: Von Munch bis Mondrian 1900-1915. Ausstellungskatalog der Schirn Kunsthalle Frankfurt, OstfildernRuit: Edition Tertium 1995, S. 13-31, hier S. 14. Die wichtigsten Materialien der Society for Psychical Research sind enthalten in der Zeitschrift Proceedings of Society for Psychical Research, London, seit 1882. Eine wertvolle Sammlung der bis 1905 in den Proceedings of Society for Psychical Research veröffentlichten Materialien findet sich in: Frederic William Henry Myers: Human Personality and its Survival of Bodily Death, 2 Bde., London: Longmans, Green and Co. 1907. Ein französisches Parallelunternehmen zu den Proceedings sind die Annales des Sciences psychiques, die von Charles Richet herausgegeben wurden. 34 Vgl. Wilhelm Haas: Das Problem des Mediumismus, Stuttgart: Julius Püttmann, Verlagsbuchhandlung 1923; W. von Gullat-Wellenburg/Carl von Klinckowstroem/Hans Rosenbusch: Der physikalische Mediumismus, Berlin: Ullstein 1925.
364 | DOROTHEA DORNHOF von der psychologischen Ankettung wieder befreit und der Seele wird die Würde einer selbständigen Substanz zugesprochen.«35
Bereits wenige Monate nach der Gründung kam es zu Differenzen innerhalb der Gesellschaft, die sich vor allem an den von Carl du Prel vertretenen spiritistischen transzendentalphilosophischen Überzeugungen entzündeten und zur Spaltung der Gesellschaft führten. Während der Kreis um du Prel in einer eigenen Gründung, der Gesellschaft für wissenschaftliche Psychologie, weiter forschte, distanzierte sich Schrenck-Notzing von der Geisterhypothese zugunsten einer animistisch-mediumistischen Sichtweise. In den Versuchsanordnungen mit den Medien Lisa und Eusapia Palladino waren bereits die hypnotischen Séancen mit Magdeleine G. angelegt. Auch diese Medien wurden in Hypnose versetzt, um mit verbalen Suggestionen, Klängen und Bildern bestimmte Affektausdrücke zu erzeugen. Schrenck-Notzing, der die Ergebnisse in der »Sphinx« unter dem Titel »Telepathische Experimente des Sonderausschusses der Psychologischen Gesellschaft« veröffentlichte, teilte die Versuche in hypnotische, telepathische und photographische ein und gab – im Unterschied zu Carl du Prel – psychologische Erklärungen für die Phänomene an. Die fotografischen Experimente wurden im Atelier des Malers Albert Keller ausgeführt, dem die Aufnahmen als Vorlage für eigene Bilder dienten.36
Abb. 2a-c: Étude d’aprés Nature de Magdeleine de Albert von Keller; La Sorcière. Aus: É. Magnin, L’Art et Hypnose, S. 267, 259, 286. 35 »Programm der Psychologischen Gesellschaft in München«, in: Sphinx. Monatsschrift für die geschichtliche und experimentale Begründung der übersinnlichen Weltanschauung auf monistischer Grundlage 3 (1887), S. 32-36, hier S. 33. 36 Albert von Schrenck-Notzing: »Telepathische Experimente des Sonderausschusses der Psychologischen Gesellschaft in München«, in: Sphinx. Monatsschrift für die geschichtliche und experimentale Begründung der übersinnlichen Weltanschauung auf monistischer Grundlage 4 (1887), S. 384-390.
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Über die künstlerischen Vereinnahmungen der Fotos hinaus wird die Kamera nicht nur zum wichtigsten Instrument der Beweiskraft mediumistischer Versuche, sondern sie macht darüber hinaus den Körper des Mediums selbst zum Experimentierfeld. »Man müsste, wie Prof. Lodge es vorschlägt, eine Art psychisches Laboratorium, welches für alle Arten experimenteller Psychologie und Psychophysik angepaßt ist, einrichten. Die Registrierungen sollten von den zur Täuschung neigenden Sinnesorganen unabhängig gemacht und auf physikalische Apparate möglichst übertragen werden. Selbstregistrierende Wagen, ausgiebige Benützung der photographischen und elektrischen Hilfsmittel (so Photographien bei ultraviolettem Licht), Anwendung der verschiedenen Helligkeitsgrade des Lichtes und der Spektralfarben, Temperaturmesser sowie sonstige sinnreich konstruierte Instrumente könnten in einem solchen Institut ihren Platz finden.«37
Nachdem sich die Münchner Gruppe um Albert von Schrenck-Notzing von der Geisterhypothese und den Geisterfotografien distanziert hatte, schloss sie sich 1890 mit der 1888 von Max Dessoir und Albert Moll gegründeten Berliner Gesellschaft für Experimentalpsychologie zusammen, die stärker im diskursiven Feld der Übertragungsphänomene des Psychischen auf den Körper und des kreativen Vermögens des Unbewussten verortet war. Das Gespenstische des Mediums Fotografie38 wurde in den Versuchsreihen stets als Zeugenschaft, als »Symbol der Wahrheit«39 eines Sachverhalts oder Gegenstands gedeutet, da sich die Phänomene des Unsichtbaren mit dem zunehmenden Begehren nach Sichtbarkeit durch die Fotografie vervielfältigten. Die Geister der Fotografie sind in die Medien eingezogen, die auch die geschlechtliche Codierung des Körpers durchziehen. »Medien liefern immer schon Gespenstererscheinungen«,40 heißt es lakonisch bei Friedrich Kittler. Mit immer komplizierteren Aufzeichnungssystemen war man bestrebt, das Unsichtbare sichtbar zu machen, wobei Fotografie und Film eine privilegierte Position im Zugang zu den unsichtbaren und unbewussten Phänomenen des Körpers ein37 Albert von Schrenck-Notzing: Materialisationsphänomene. Ein Beitrag zur Erforschung der mediumistischen Teleplastie, München: Verlag von Ernst Reinhardt 1914. 38 Vgl. zum Zusammenhang zwischen Phänomenen des Unsichtbaren und okkultistischer Fotografie: Rolf. H. Krauss: Jenseits von Licht und Schatten. Die Rolle der Photographie bei bestimmten paranormalen Phänomenen – ein historischer Abriß, Marburg: Jonas Verlag 1992; Andreas Fischer/Veit Loers: Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren, Mönchengladbach: Canz 1997. 39 Christoph Hoffmann: »Die Dauer eines Moments. Zu Ernst Machs und Peter Salchers ballistisch-fotografischen Versuchen 1886/1887«, in: Peter Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 342-380, hier S. 369. 40 Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München: Fink 1987, S. 22.
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nahmen und damit die Wissensordnung grundlegend veränderten.41 Mit der Erforschung des Unsichtbaren und den Visualisierungsstrategien nahmen – wie bereits bei Duchennes Elektrizitätsexperimenten – lebende Körper den Platz der Leichen ein und wurden mit der fotografischen Fixierung selbst zur produktiven Instanz der Wissensproduktion. Denn der Umgang mit dem Black-Box-Mysterium Kamera führte zur stetigen Weiterentwicklung fototheoretischer Texte und die fotografischen Manifestationen selbst gehen ein in ihre apparatespezifische Codierung. Die medizinische Fotografie fand in ihrer ambivalenten Position, einerseits Beweis und Beschreibung und andererseits eingebettet in diskursive Praktiken zu sein, vor allem Eingang in die Hysterieforschung, mit der sie gleichsam ihre Erfolgsgeschichte begründete. Mit der experimentellen Fundierung magnetischer Praktiken erfährt die Hypnose als künstlich erzeugte Hysterie durch Charles Richet und Jean-Martin Charcot in Paris sowie Ambroise Auguste Liébauld und Hippolyte Bernheim in Nancy wissenschaftliche Anerkennung. Hypnose und Fotografie ließen Charcot die Symptome des hysterischen Anfalls, die sich dem bloßen Auge als zufällige konvulsivische Bewegungen darboten, experimentell im Labor reproduzieren und einzelne Zustände scharf getrennt isolieren. So verlieh die Hypnose dem hysterischen Körper die Eigenschaft eines »Schalt-Körpers«,42 bei dem Gestik und Physiognomie miteinander korrelierten. Dabei sollte sich der Gesichtsausdruck automatisch nach der Körperhaltung einstellen. Um diesen Vorgang einzuleiten, versetzte Charcot die Hysterikerinnen in einen kataleptischen Zustand und verwandelte sie in den so erzeugten Körperhaltungen in »expressive Statuen«. Zusätzlich wurden die Gesichtsmuskeln mit einem Rheophor gereizt, um »ein unbewegliches Modell, das mit einer ergreifenden Wahrhaftigkeit die verschiedensten Ausdrücke darstellt«, zu erzeugen, und das in dieser Unbeweglichkeit »von hervorragendem Nutzen für die photographische Reproduktion«43 erklärt wurde. Die einzelnen wissenschaftlichen Bilder geben jedoch nichts zu sehen, sie sind immer nur Teil einer sicht- und lesbaren Kette, deren Bedeutungen von der gesamten Serie geprägt sind.44 41 Vgl. Inge Baxmann: »Geheimnisse des Lebens und der Blick ins Körperinnere. Massenmedien und die Inszenierung medizinischen Wissens«, in: Inge MünzKoenen/Wolfgang Schäffner (Hg.), Masse und Medium. Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000, Berlin: Akademie Verlag 2002, S. 184-204; Ramón Reichert: Im Kino der Humanwissenschaften. Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens, Bielefeld: transcript 2007. 42 Georges Didi-Hubermann: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, München: Fink 1997, S. 221. 43 Jean-Martin Charcot: Leçons sur la métallothéraphie et l’hypnotisme, in: Œuvres completes, Paris 1886-1893, Bd. IX. S. 441-443. Zitiert nach G. DidiHubermann: Erfindung der Hysterie, S. 327. 44 Vgl. Bruno Latour: Iconoclash. Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges? Berlin: Merve 2002, S. 67.
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Die sexuell ekstatische, hysterische Frau wird in dieser Kette zum Signifikanten für die Apparatur – die reproduzierende Apparatur – und sie repräsentiert zugleich auch das Produkt, das die Registratur hervorbringt, das Bild. Die hysterischen Medien stehen zugleich in funktionalem Zusammenhang mit dem Medium als bild- und textproduzierender Maschine. Da die technologischen Verfahren selbst Auslöser für Hysterisierung sind, ist die Hysterikerin als aktive Instanz zu betrachten, die den wissenschaftlichen und künstlerischen Prozess stimuliert. »Die Auflösung des anthropomorphen, mimetischen Abbilds des Körpers bedingt eine ›Hysterisierung‹ der Form, die demnach immer auf die Methodik und den Effekt der technologischen Bilderzeugung verweist.«45 Hypnotisches Sprechen und Bewegen sind mediale Vorgänge, die dem Diktat des Unbewussten folgen. Hatte bereits Joseph Breuer 1895 in den »Studien zur Hysterie« den zerebralen Apparat der Hysterikerin mit dem Telefon verglichen, so übernahm Sigmund Freud die Analogie zur Beschreibung seines psychoanalytischen Settings: Der Arzt soll dem »gebenden Unbewussten des Kranken sein eigenes Unbewusstes als empfangenes Organ zuwenden, sich auf den Analysierenden einstellen wie der Receiver des Telephons zum Teller eingestellt ist«.46 Dabei funktioniert der Fluss der unbewussten Bewegungen wie ein Apparat, wie das Fließen unbewusster Stimmen und Bewegungen im Äther. Da das Unbewusste nicht lokalisierbar ist, sind es vor allem die Bilderserien, die das Unbewusste, die Trance und den hypnotischen Rapport charakterisieren. Sie bilden Sphären des Medialen, in denen sich das Weibliche als fließendes Element konstituiert. Freud spricht vom Ozeanischen als einer Empfindung der ›Ewigkeit‹ und einem Gefühl des ›Unbegrenzten‹, ›Schrankenlosen‹ und imaginiert damit ein spezifisch weibliches Erleben: »Ich selbst kann dieses ›ozeanische‹ Gefühl nicht bei mir entdecken. Es ist nicht bequem, Gefühle wissenschaftlich zu bearbeiten.«47 Vor allem hat Freud darauf verwiesen, dass die Traumsymbolik vorwiegend sexuell Bedeutsames verhüllt,48 das bei den Hysterikerinnen körperlich inszeniert wird. Die Figur der Hysterikerin gilt am Ende des 19. Jahrhunderts als pathologisiertes Ausdrucksmedium einer kollektiven Erfahrung der Moderne, die für Benjamin durch das ›Chockerlebnis‹ charakterisiert ist.49 Während Jean-
45 Silvia Eiblmayr: »Die verletzte Diva. Hysterie, Körper, Technik in der Kunst des 20. Jahrhunderts«, in: dies. et al. (Hg.), Hysterie, Körper, Technik in der Kunst des 20. Jahrhunderts, München: Oktagon 2000, S. 11-28, hier S. 17. 46 Sigmund Freud: »Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung«, in: GW Bd. VIII, Frankfurt/Main: Fischer 1999, S. 376-387, hier S. 381. 47 Sigmund Freud: »Das Unbehagen in der Kultur«, in: GW Bd. XIV, S. 419-506, hier S. 422. 48 Sigmund Freud: »Die okkulte Bedeutung des Traums«, in: GW Bd. I, S. 569573, hier S. 569. 49 S. Eiblmayr: Die verletzte Diva, S. 13.
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Martin Charcot, Charles Richet und Paul Richer durch ihre physiologisch basierte Nosologie den hysterischen Stadien diese Pathologisierung einschreiben, betrachten Bernheim und die Schule von Nancy eher die psychischen unbewussten Faktoren der Suggestion und Autouggestion als grundlegend für die Effekte der Hypnose. Die hypnotischen Experimente Schrenck-Notzings und die Publikation der Beobachtungen aus vielfältigen wissenschaftlichen Perspektiven sind einerseits darauf gerichtet, die Hysteriediagnose – ohne sie ganz abzuweisen – zu marginalisieren, um der damit einhergehenden Pathologisierung entgegenzuwirken. Andererseits steht er mit seinen eigenen medialen Experimenten dem Modell Charcots sehr nahe. Mit dem Wissen darüber, was der Körper vermag, ist er ebenso wie Charcot bestrebt, es in ein Gesetz zu formen: das einer Hysterie unter nicht-pathologischen Vorzeichen. Und der Beweis dafür, dass es sich um ein Gesetz handelt, ist die experimentelle Reproduzierbarkeit; klinisch induziert durch Hypnose und figurativ durch Formgebung als Fotografie. »Allerdings macht die einfache dissoziative oder hysterische Anlage oder blosse Steigerung der Affekterregbarkeit noch keinen grossen dramatischen Künstler und gerade dieser negative Beweis bestätigt in vollem Umfange, dass die Produktionen der Schlaftänzerin nicht lediglich pathologischen oder hysterischen Ursprungs sind, denn die Hysterie allein hat weder je eine grosse Malerin, Schriftstellerin oder gar Schauspielerin geschaffen. Zu der hysterischen Dissoziation, die nur ein fördernder aber kein kausaler Faktor ist, gehören choreographisch-mimische Naturanlage und ein hervorragendes, wenn auch auf eine bestimmte Musikgattung beschränktes musikalisches Talent; man muss also eine geborene Künstlerin sein, um auch in der Hypnose die grössten Leistungen auf dem Gebiet der Tanz- und Schauspielkunst 50 übertreffen zu können.«
Doch das Theater der Hysterie ist als Gesetz bereits im Wissen verankert, das sich im Fall der Traumtänzerin als eine theatralische Wiederholung der elektrophysiologischen Experimente Duchennes sowie der ›cerebralen Automatismen‹ und ›expressiven Statuen‹ Charcots lesen lässt. Im Unterschied zu den Elektrizitätsexperimenten der Salpêtrière werden von Magnin und SchrenckNotzing die Musik und verbale Suggestionen angewandt, um ein vielseitiges Spektrum des physiognomisch-gestischen Ausdrucks zu erzeugen. Die wissenschaftliche Einbettung in die Hypnose-Experimente der Zeit verdeutlicht Schrenck-Notzing in seinem Buch ebenso wie die Tatsache, dass die TrancePhänomene wissenschaftlich nichts Neues erbringen. Doch welches Begehren treibt den Forscher, Magdeleine nicht nur auf Bühnen auftreten zu lassen, sondern sie zuvor siebzehn angesehenen Nerven- und Irrenärzten vorzustellen
50 A. von Schrenck-Notzing: Traumtänzerin, S. 81f.
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und die Ergebnisse in Auszügen aus den Gutachten zu veröffentlichen? Die Marginalisierung des hysterischen Moments ist ein wesentlicher Faktor, und es wird mehrfach betont, dass bei Magdeleine »niemals hysterische Anfälle, Lähmungen, Kontrakturen, Schlafanfälle, spontaner Somnambulismus oder sonstige unzweifelhafte Symptome dieser Neuropsychose, jedoch mehrfach Somniloquie«51 aufgetreten sind. Die Geschichte vom Psychiater und der Traumtänzerin erzählt neben diesen Verschiebungen im Wissen auch von unbewusstem Machtbegehren unter Berufung auf den Geschlechtsunterschied und von der Erotik der Macht.
4 . D a s h yp n o t i s c h e G e h e i m n i s d e r Tr a u m t ä n z e r i n Die in Schrenck-Notzins Buch über die Traumtänzerin zusammengetragenen wissenschaftlichen Expertisen sollten zunächst dem konkurrierenden Unternehmen Émile Magnins zuvorkommen. Obwohl zur Zeit des Münchner Spektakels bereits mehr als eintausend Fotos aus dem Genfer Fotohaus der Boissonnas zirkulierten,52 erschien Magnins Buch mit den Fotografien von Frédéric Boissonnas erst im Jahr 1905.53 Im Anschluss daran gerieten die beiden Forscher in eine wissenschaftliche Kontroverse über die unterschiedliche Bewertung von Hypnose und Somnambulismus. Über das Wissens-Macht-Feld hinaus, auf dem sich Okkultismus und Psychoanalyse54 gleichermaßen ohne gesichertes Gelände bewegten, kommt ein zweiter Aspekt hinzu, über den der Versuchsleiter unbewusst dazu beiträgt, seine Deutungsansprüche zu sichern; vergleichbar mit dem Verhältnis zuwischen Analytiker und Patienten in der Psychoanalyse, geht es um die Produktion von Wissen in Form hierarchischer Beziehungen zwischen Experimentator/Versuchsleiter und Medien. Das experimentelle Setting generiert ein Gefühl von Allmacht und Kontrolle über das sich entziehende Unbewusste, verbunden mit dem Begehren, die Fragmentierung- und Entfremdungserfahrungen des modernen Subjekts zu kompensieren und ermöglicht es dem Forscher, die Kontrolle über sein Forschungsobjekt und damit die wissenschaftliche Objektivität zu wahren, die sich jedoch mit der zunehmenden Unschärfe des Gegenstandes immer mehr entzieht. 51 Ebd., S. 22. 52 Nicolas Bouvier: Boissonnas. Une dynastiede photographes 1864-1983, Lausanne 1863, zitiert nach: U. Linse: Trancemedien, S. 122. 53 Émile Magnin: L’Art et l’Hypnose. Interprétations plastique d'Œuvres littéraires et musicales. Preface de Th. Flournoy, Genève, Paris: Editions Atar S. A./Felix Alcan 1905. 54 Vgl. Michael Brumlik: »Die Geburt der Tiefenpsychologie aus der Geisterbeschwörung«, in: Moritz Baßler/Bettina Gruber/Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Gespenster. Erscheinungen. Medien. Theorien, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 177-188.
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Der Marginalisierung der Hysterie bei der Traumtänzerin folgt ein noch anders gelagertes Interesse. Einerseits sollte die Frage des Mediumismus, die Schrenck-Notzing sein Forscherleben lang beschäftigte, auf eine wissenschaftlich autorisierte Basis gestellt und damit die Geschichte der Parapsychologie55 als sog. »Pseudowissenschaft« dem Bereich der Grenzwissenschaft enthoben werden. Die experimentelle Reproduktion der Phänomene zielt in den Bildreihen der somnambulen Tänzerin und ihren Reaktionen auf Stichwörter wie Frühling, Sommer, Herbst, Winter, Zorn oder Geiz, die sie in kataleptischer Starre verkörperte, nicht auf ein Reiz-Reaktionsschema wie in den Experimenten Duchennes, sondern auf den unmittelbaren Ausdruck inneren Erlebens als besonderes künstlerisches Vermögen. So galten die plastischen Posen der Tänzerin ihrer Ausdrucksvermessung jenseits pathologischer Zuschreibungen (Abb. 3), denn auf der Suche nach dem Phantasma der Unmittelbarkeit werden die in den mediumistischen Experimentalanordnungen erzeugten Sichtbarkeiten als direkter Zugriff auf eine psychische Realität gelesen. Die in kataleptische Starre versetzte Traumtänzerin ist auf Podesten in plastischen Posen zu sehen, was den fotografisch langen Belichtungszeiten gleichkam (Abb. 4) Damit sind die unbewussten Ausdrucksformen, die der Sichtbarkeit zugeführt werden sollten, gleichsam mit dem Wissen und der Apparatur, mit dem medientechnischen Unbewussten verwoben. Es ist der Übergang von der Bewegung in Bewegungslosigkeit, den die Magie der Fotokamera erzeugt und der auf den Fotos nicht sichtbar wird, der sich jedoch in den unterschiedlichen Serien von Fotos annähernd erschließt (Abb. 5). Damit verdeutlicht die Unübersetzbarkeit psychischer Daten auch die Problematik wissenschaftlicher Demarkationen und die Herstellung von Realitäten im Rahmen medialer Repräsentationsmodi. »Die ca. 1000 verschiedene dramatische Sujets umfassenden Photographien, welche in Genf von Magnin und Boissonas von Magdeleine in kataleptischem Zustand gewonnen wurden, betreffen die gesamte Modulationsfähigkeit der menschlichen Mienen- und Gebärdensprache und sind nur zum geringen Teile durch Momentauf-
55 Der Berliner Psychologe und Philosoph Max Dessoir hat 1889 den Begriff »Parapsychologie« als Wissenschaft von den okkulten Erscheinungen vorgeschlagen, der international angenommen worden ist und die Bezeichnungen »Psychical Research« und »Metapsychologie« ersetzte. Dessoir betont, dass die Parapsychologie keineswegs eine Erklärung psychischer oder psychopathologischer Phänomene zum Ziel haben sollte, sondern jene menschlichen Fähigkeiten untersuchen müsse, die zwar den Bereich des Normalen verlassen, jedoch nicht als krankhaft zu bezeichnen sind. Damit werden psychische Erscheinungen, die neben den normalen alltäglichen Erscheinungen auftreten, in Abgrenzung zur Psychopathologie bestimmt. Max Dessoir: »Die Parapsychologie. Eine Entgegnung auf den Artikel ›Der Prophet‹«, in: Sphinx. Monatsschrift für die geschichtliche und experimentelle Begründung der übersinnlichen Weltanschauung auf monistischer Grundlage 7 (1889), S. 341-344, hier S. 342.
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nahmen gewonnen. Gerade bei den Augenblicksphotographien ist das Mienenspiel des Antlitzes nicht scharf genug geworden. Die übrigen Aufnahmen wurden durch Expositionen von mehreren Sekunden Dauer erzielt; die von uns mit Magdeleine in München gewonnen Bilder entstanden bei ungünstigem Licht und verlangten zum Teil eine Exposition bis zu 14 Sekunden Dauer.«56
Abb. 3a-e: L’Orgueil; La Terreur; La Pudeur; La Pruderie; La Haine. Aus: É. Magnin, L’Art et l’Hypnose, S. 99, 113, 344. Wenn Christina von Braun darauf verweist, dass »der Moment, in dem Freud entdeckt, dass Hysteriker Sprache und Phantasmen mit ihrem Körper ausdrücken«, genau der Moment ist, »an dem sie selbst den Körper in Sprache oder ein Phantasma verwandeln«,57 so adressiert die in den Fotos fixierte Spur der Unmittelbarkeit den Körper selbst als Medium. Das Medium ist zur unheimlichen Verkörperung des fotografischen Vorgangs geworden. Dass die Fotos wissenschaftlich kaum wirksam wurden, sondern eher in Kunsthandlungen käuflich zu erwerben waren oder über Kunstzeitschriften wie »Die Schönheit« oder »Der Kunstwart« in die Öffentlichkeit gelangten, zeugt von der Verbannung des apparativen und subjektiven Trägerkörpers aus dem wissenschaftlichen Wissen, die mit einem Reinheitsgebot des Mediums der Botschaft einhergeht. Die medialen Darstellungen der Traumtänzerin gleichen Phantomen, die von den ausdifferenzierten Wissenssystemen kaum erfasst werden und sich der menschlichen Kontrolle immer wieder entziehen. »Ausserdem muss der Körper zu einem ideoplastischen Instrument geworden sein, in welchem jede seelische Regung ihren adäquaten Ausdruck findet.«58 Mit der ideoplastischen Formel zielt Schrenck-Notzing auf die Formbarkeit des Körpers durch den Geist, mit dem sich die psychischen Erlebnisse als »plastisch schöne Attitüden«59 in den Körper einschreiben, und der somit zu
56 A. von Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin, S. 79f. 57 Christina von Braun: NichtIch. Logik, Lüge, Libido, Frankfurt/Main: Verlag Neue Kritik 1985, S. 456. 58 A. von Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin, S. 121. 59 Ebd., S. 7.
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Abb. 4a-b: Extase Amoureuse; Suites d’Ivresse. Aus: É. Magnin, L’Art et l’Hypnose, S. 313. einem Aufzeichnungsinstrument wird. Doch sind diese plastischen Posen des medial stillgestellten Ausdrucks von den »Phantasiegeschöpfen des Unbewussten«60 bewohnt und bringen in diesem Sinne Bedeutungen für die Entfaltung und Umsetzung von Wissen über den Geschlechtsunterschied hervor. Denn das, was gesehen wird, ist nicht nur technisch präfiguriert, es ist in die Formen des Gestaltsehens des jeweiligen Denkkollektivs eingebunden. »›Sehen‹ heißt: im entsprechenden Moment das Bild nachzubilden, das die Denkgemeinschaft geschaffen hat, der man angehört.«61 Das Sehen und die Beobachtung werden jedoch mit ihren apparativen Anordnungen den normalisierenden Prozeduren untergeordnet und verdeutlichen zugleich die experimentelle Dimension des Geschlechts. Darüber hinaus offenbaren die Bilder serieller Weiblichkeit die Medialität des Medienkörpers, der als wissenschaftliches Registrierungsinstrument und zugleich der Absicherung der wissenschaftlichen Autorität des Forschers als Teil der experimentellen Anordnung dient.
60 Albert von Schrenck-Notzing: Materialisationsphänomene, München: Verlag von Ernst Reinhardt 1914, S. 41. 61 Ludwik Fleck: »Über die wissenschaftliche Beobachtung und Wahrnehmung im allgemeinen«, in: ders., Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, S. 59-83, hier S. 59.
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Abb. 5: Les Femmes et le Secret. Aus: É. Magnin, L’Art et l’Hypnose, S. 433. Was sich über die Hypnose und durch die Musik in den Körper einschreibt, sind die in der Tiefe des menschlichen Organismus verborgenen unbewussten Bilder ästhetischer Weiblichkeit, die als verschüttete weibliche Natur gedeutet, nur durch den Forscher wieder geborgen werden können. »Der Bewegungsreichtum der Natur übertrifft aber alle künstlerischen Techniken und zeigt sich wohl in solchen Fällen am stärksten, wo die Natur aus den Fesseln der Kultur und Konvention befreit ist.«62 In Anlehnung an Breuer und Freuds Hysterieanalysen wird das Abreagieren von unterdrückten Affekten und der auf dem Wege der Suggestion im hypnotischen Zustand entfesselte Gefühlssturm als Erfolg verzeichnet. Mit der Naturalisierung der Traumtänzerin und ihrer kataleptischen Affektbilder werden die verstörenden Phantasmen des Unbewussten verdrängt und somit auch die Voraussetzungen wissenschaftlicher Rationalität, die es zu wahren gilt. Gerade das Unangemessene der natürlichen Emotionen, die brutalen Verzerrungen und die Maßlosigkeit ihrer Posen lassen die angestrengten wissenschaftlichen Deutungen der Traumtänzerin in altbekannte Muster vom Schöpfer und seinem Model eingehen. »Deswegen sind auch die Leistungen der Traumtänzerin durchaus keine fehlerlosen Vorbilder und keine fertigen Kunstschöpfungen. Sie können die künstlerische Individualität, das wichtigste Kennzeichen des Kunstwerkes nicht ersetzen, sondern liefern etwa in derselben Weise brauchbare Studienbilder nach der Natur für Schauspieler, Maler und Bildhauer, wie die photographische Momentaufnahme von einer Person im Vergleich zum fertigen Porträt.«63 Auch die Natürlichkeit und unübertroffene Schönheit griechischer Plastiken beruhe auf der Verwertung kataleptischer Stellungen hypnotischer Bacchantinnen und ekstatischer Zustände. Damit ist die Frau kulturgeschichtlich als Medium verortet, jenseits eigener künstlerischer Individualität, jedoch den künstlerischen Prozess inspirierend. »Jedenfalls hätten also die Künstler Griechenlands Gelegenheit gehabt, ähnliche Affektstellungen in Ruhe zu beobachten, wie sie uns heute Magdeleine in der unübertroffenen photographischen 62 A. von Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin, S. 113. 63 Ebd., S. 79.
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Aufnahme darbietet.«64 So fertigte der Münchner Maler Albert von Keller, der sich ebenso wie Schrenck-Notzing den mediumistischen Experimenten verschrieben hatte, eine Serie von nicht weniger als zwanzig Bildnissen der Darbietungen von Magdeleine Guipet in Trancezuständen an (Abb. 6). Mit der Normalisierung des hysterischen Moments und der Naturalisierung von Magdeleines Ausdrucksvermögens65 wird die Frau zum unbewussten Gegenpart des kulturschaffenden Mannes erhoben, was nichts anderes bedeutet, als den Bildstatus von Weiblichkeit am Schnittpunkt widersprüchlicher Darstellungen weiter zirkulieren zu lassen. So sind die Beobachtungen des natürlichen Affektablaufs »rein aus ihrer künstlerischen Inspiration kommende Darstellungen des Gretchens, der Carmen, der Judith, der Astarte, der Brunhilde, des Escamillo, der Salome, der Dalila, der Isolde, der Maria (in Ave Marie) usw. grossenteils Vorbilder hoher dramatischer Kunst.«66
Abb. 6a-c: Incantation du Feu de la ›Walkyrie‹, Attitude du bateleur de la premiére lame du Tarot; Ave Marie de Gounod-Bach; Suivons le sentier des roses, le sentier fleuri, le sentier d’amour. Aus: É. Magnin, L’Art et l’Hypnose, S. 203, 291, 297. 64 Ebd. 65 Vgl. Nele Lehmann: Die Seele im Experiment. Albert von Schrenck-Notzings mediumistische Versuche 1888-1929, Frankfurt/Oder: Europa-Universität Viadrina 2008 (Diplomarbeit). 66 A. von Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin, S. 118
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Dass mit den traditionellen erotisierten Bildern, »the immortal goddesses of hysteria on stage«,67 genau das Sehen der ›natürlichen psychischen Kräfte‹ überblendet wird, die sich dem einzelnen Bild entziehen, spricht für ein Ausweichmanöver vor dem Unbewussten. »Wenn man sich eine grössere Anzahl von Photographien zusammenordnet, die Aeusserungen des gleichen Affekts je zu einer Gruppe, so wird einem der Reichtum und die Lebensfülle erst voll anschaulich.«68 Die aus dem Körper des Mediums entbundene Kunst wird als authentische, den ekstatischen Tänzen der Naturvölker vergleichbare in das moderne medizinische und ästhetische Wissen ein- und zugleich geschlechtsspezifisch umgeschrieben. Es sei zwar nicht wirkliche Kunst, da das weibliche Medium keine Individualität besitze. Als Zeichen des Unbewussten stellt es das Versprechen der unmittelbaren Ausdrucksfähigkeit des Körpers dar. So wird von medizinischer und künstlerischer Seite darauf verwiesen, dass die bei Naturvölkern konstante Verbindung von psychischen Ausnahmeerscheinungen mit Ekstase und Verzückungen ebenso berücksichtigt werden müsse wie die »halbasiatische Abkunft« und das damit angeborene Talent der Traumtänzerin.69 Vor dem Hintergrund rassistischer Ätiologien der westlichen Kultur wird die körperliche Substanz erst durch jene wissenschaftlichen Untersuchungen hervorgebracht, mit der sie eine natürliche Geschlechtlichkeit behaupten. Als »somnambuler Reflexautomat«70 kann die geborene, im Wachzustand nicht zur Entwicklung gelangte Künstlerin, ihre mimischen und choreographischen Fähigkeiten erst durch den hypnotisierenden Arzt zur freien Entfaltung bringen. Das, was sie zu Sehen gibt, ist medial präfiguriert und zeigt sich in ihren verstörenden und innovativen Impulsen für die Wissensproduktion. Der Tanz im Unbewussten71 ist das Geheimnis der Frauen, wie auch eine Fotoserie der Performance Magdeleine Guipets betitelt ist. »Das Geheimnis der zündenden, packenden, uns unmittelbar im Innersten ergreifenden Wirkung dieser ›Offenbarung‹ erklärt sich vielleicht durch den uns unbewusst bleibenden Appell an unsere elementaren, natürlichen, primitiven, durch Kulturleistung unterdrückten, aber dennoch in uns vorhandenen und fortlebenden Instinkte. Was Magdeleine uns offenbart, ist nichts anderes als einen Teil ihrer innersten Natur, ihrer bildnerischen Ausdrucksfähigkeit, ihres musikalischen Fühlens in ungezwungen schöner Form.«72
67 68 69 70 71
D. LaCoss: Lady of Darkness, S. 65. A. von Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin, S. 162. Ebd., S. 20. Ebd., S. 107. Vgl. Fiona Trede: »Traumhaft schön? Madeleine G. und der Tanz im Unbewussten«, in: Tanzdrama 58/3 (2001), S. 5-7. 72 A. von Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin, S. 76.
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Mit der im zeitgenössischen Wissen verankerten choreographischen Naturanlage wird die Traumtänzerin als Medium der Unmittelbarkeit jenseits der Zeichen verortet. Es sind aber die Zeichen des Unbewussten, mit denen die Unmittelbarkeit beschworen wird, die es gleichzeitig abzuwehren gilt, was in dem lakonischen Nachsatz aufscheint, »irgend etwas psychologisch oder psychopathologisch Unerklärliches bietet der Fall nicht«.73 Die hegemoniale männliche Forscherposition reproduziert sich somit über unbewusste Unterscheidungen, die geradezu reflexartige Hierarchisierungen vornehmen und die verstörenden Irritationen in die Sicherheit eines rassialisierten natürlichen Körpers einschreiben, der verworfen wird. Insofern wirken die als Offenbarung gesehenen Irritationen weniger als bedrohliche Störung des zeitgenössischen Denkstils denn als produktive Impulse seiner beständigen Erneuerung, in der den Medien eine aktive Rolle in der Produktion von Wissen zukommt. So notiert der französische Schriftsteller Maurice Maeterlinck: »En nous se trouve un être qui est notre moi véritable, notre moi premierné, immémorial, illimité, universel. Notre intelligence, qui n’est qu’une sorte de phosphorescence sur cet océan intérieur, ne le connait encore qu’imparfaitement. Mais chaque jour elle apprend davantage que là gisent sans doute les secrets des phénomènes humains qu’elle n’a pas compris jusqu’ici. Cet être inconscient vit sur un autre monde que notre intelligence. Il sait tout et peut tout... On ne découvre aucun rapport constant entre l’activité de l’inconscient et le développement de l’intelligence. Cette activité obéit á des règles que nous ignorons.«74
In den Debatten über Kunstleistung des Ausdrucksautomatismus, Kunst des Unbewussten, Schlaftanz, Hypnose und Hysterie dient dem Aufgebot der in Schrenck-Notzings Studie zu Wort kommenden Ärzte, Wissenschaftler und Künstler das Trance-Medium gleichermaßen als Gegenstand, Material und Registrierungsinstrument. Die Verknüpfung unterschiedlicher Akteure und Medien in diesem Ereignis zeichnet den Wissenstransfer als mediale Konstruktion wissenschaftlicher Performativität aus und erzeugt auf diese Weise »ein Traumbild – und doch für uns alle Wirklichkeit!«75
73 Ebd. 74 Maurice Maeterlinck: Le soleil, 26 janvier 1904, zitiert nach: É. Magnin: L’ Art et L’Hypnose, S. 335. 75 A. von Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin, S. 14.
Die Heide a ls w eißer Ra um: Deutschsein zw ischen Erinnern und Vergessen in »Grün is t die Heide« (BRD 1951, R: Hans Deppe) MAJA FIGGE »Die Heide ist der Ort des Untergründigen.«1 »By thinking of the cinema as spectacle in two senses (a dispositif of political power, mass mobilization, and the effacement of agency and a dispositif of subject effects, meaning effects and the metaphysics of presence), we might begin to understand the history of cinema as the cinema in history. Instead of history being just an old movie, the old movie needs once more to be seen for what it is. Its very inauthenticity might be its truth as history.«2
Das bundesdeutsche Kino der 1950er Jahre wird meist primär mit dem Heimatfilm assoziiert. Auch wenn Heimatfilme das populärste Genre waren und ihre massenhafte Produktion der großen Nachfrage durch das Publikum entsprach,3 wäre es jedoch verkürzt, diese Filme als ausschließlich restaurativ, 1
2
3
Fritz Göttler: »Westdeutscher Nachkriegsfilm. Land der Väter«, in: Wolfgang Jacobsen/Anton Kaes/Hans Helmut Prinzler (Hg.), Geschichte des deutschen Films, Stuttgart, Weimar: Metzler 1993, S. 171-210, hier S. 193. Thomas Elsaesser: »The New German Cinema’s Historical Imaginary«, in: Bruce A. Murray (Hg.), Framing the Past. The Historiography of German Cinema and Television, Carbondale & Edwardsville: Southern Illinois University Press 1992, S. 280-307, hier S. 305. Heide Fehrenbach: Cinema in Democratizing Germany. Reconstruction National Identity after Hitler, Chapel Hill & London: University of North Carolina Press 1995, S. 163.
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ästhetisch uninteressant und als Versuche einer De-Thematisierung nationalsozialistischer Vergangenheit zu begreifen.4 Frank Stern plädiert dafür, die Vorurteile abzulegen, und betont stattdessen, dass das »neue deutsche Kino […] nicht erst mit dem Oberhausener Manifest sondern bereits 1946 [begann]«.5 Ich nehme seine Aufforderung zum Anlass, zu dem kommerziell erfolgreichsten Heimatfilm der 1950er Jahre »Grün ist die Heide« zurückzukehren. Statt diesen Film durch die Brille der Restaurationsthese zu sehen, werde ich mich auf eine erneute Suche nach den Ein- und Ausblendungen von Geschichte und Nation begeben. Hierbei teile ich die Auffassung Johannes von Moltkes, dass diese Heimatfilme mehr über die »unheimliche Dimension von Geschichte« erzählen, als ihr bunter Oberflächenschein zunächst zu suggerieren scheint.6 »Grün ist die Heide« war der Kassenschlager der Saison 1951/52 und bis zum Ende des Jahrzehnts sahen ihn insgesamt mehr als 18 Millionen Zuschauer.7 Regisseur Hans Deppe setzte ganz bewusst auf die gleichen Erfolgsgaranten wie bei seinem ein Jahr zuvor produzierten Film »Schwarzwaldmädel« (1950): idyllische Landschaftsbilder in Farbe,8 die zentrale Rolle der Musik und vor allem das »deutsche Liebespaar«9 des bundesdeutschen Nachkriegskinos Sonja Ziemann und Rudolf Prack. Der Film ist ein Remake des gleichnamigen unter der Regie von Hans Behrendt10 1932 entstandenen 4
Nichtsdestotrotz sind in den letzten Jahren (zumeist in den USA) mehrere wichtige Arbeiten zum (bundes-)deutschen Kino der 1950er Jahre entstanden, die versuchen einen neuen Blick auf die Filme zu werfen, wie u.a. Heide Fehrenbachs bereits genanntes Buch, »Cinema in Democratizing Germany«, und auch Johannes von Moltkes Studie zum Heimatfilm, »No Place like Home«, die beide wichtige Referenzen für diesen Artikel darstellen. Johannes von Moltke: No Place like Home. Locations of Heimat in German Cinema, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 2005. 5 Frank Stern: »Film in the 1950s: Passing Images of Guilt and Responsibility«, in: Hanna Schissler (Hg.), The Miracle Years. A Cultural History of West Germany, 1949-1968, Princeton, Oxford: Princeton University Press 2001, S. 266280, hier S. 267. 6 J. von Moltke: No Place like Home, S. 96. 7 Der Erfolg setzte sich fort im Heimatfilm-Revival im westdeutschen Fernsehen der 1980er Jahre. Als die ARD 1980 den Film zum ersten Mal ausstrahlte, sahen ihn ca. 15 Mio. ZuschauerInnen. Damit wurden mit dem Film nicht nur Einschaltquoten von etwa 47%, erzielt, der Film war auch der erfolgreichste ARDSpielfilm des Jahres. Thomas Dupke: Hermann Löns. Mythos und Wirklichkeit, Hildesheim: Claasen 1994, S. 8. 8 »Grün ist die Heide« war nach »Schwarzwaldmädel« (1950) der zweite Farbfilm, der in der Bundesrepublik entstand. 9 Heide Schlüpmann: »Deutsche Liebespaare«, in: Frauen und Film 35 (1985), S. 12-23. 10 Hans Behrendt drehte als Regisseur während der gesamten Weimarer Republik erfolgreich Filme; bei einigen davon schrieb Bobby E. Lüthge das Drehbuch. Er floh bereits kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten aus Deutschland, ging erst nach Spanien, 1936 nach Wien, 1938 schließlich nach Belgien. Dort wurde er 1940 verhaftet und war bis zu seiner Deportation nach Auschwitz
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Erfolgsfilms, der auf Motiven von Hermann Löns basiert und als der erste ›echte‹ Heimatfilm beworben und rezipiert wurde. Bobby E. Lüthge, der schon das Originaldrehbuch verfasst hatte, hat das Drehbuch um die ›Vertriebenenthematik‹ erweitert zu einem aktualisierten »Cocktail«, wie er selbst sagte, zusammengerührt.11 Hier zeigt sich bereits, wie in der scheinbaren ›Neuerfindung‹ des Kinos jenseits der UFA auf ältere Genres, Narrative und Ästhetiken, die als ›unbelastet‹ galten, zurückgegriffen wurde. Der Rekurs auf den Löns-Stoff wird weiter unten thematisiert werden, an dieser Stelle sind zunächst zwei Aspekte von Bedeutung: Zum einen entsteht das Genre des Heimatfilms in einer Folge von Wiederholungen und Aktualisierungen von Filmstoffen, Ästhetiken und technischen Neuerungen.12 Und zum anderen weist dieser Rückgriff auf das Weimarer Kino, das Thomas Elsaesser das »historische Imaginäre« des deutschen Kinos genannt hat: »Weimar cinema thus had remained ever since more than its industrial, stylistic or authorial histories, doubled by, what I have called here its role as Germany’s historical imaginary. […] The concept of ›historical imaginary‹ therefore tried to name the way in which the German cinema’s films, genres, stars and directors have been warped – but also valorised – by certain (a-)versions of Germany and the German character, reflecting and inflected by its political and social history, on which a twelve-year regime with its six-year reign of terror has exerted a quite overpowering pull – at once a vortex and an abyss from which the latter half of the twentieth century wanted at all costs to pull back from, but also a Medusa’s mirror in which crucial aspects of this very same twentieth century are all too faithfully captured.«13
Auch in »Grün ist die Heide« wird die unmittelbare Vergangenheit thematisiert, aber um die Möglichkeit eines ›Neubeginns‹ narrativ und ästhetisch zu vermitteln, wird auf Altbekanntes und -bewährtes aus der deutschen Filmgeschichte zurückgegriffen. Erzählt wird die Geschichte von Lüder Lüdersen (Hans Stüwe), einem ehemaligen ostpreußischen Gutsbesitzer, und seiner Tochter Helga, die in der Heide bei Verwandten Zuflucht gefunden haben. Der ebenfalls neu zugezoge-
1942 in verschiedenen französischen Konzentrationslagern inhaftiert. Die genauen Umstände seines Todes sind unbekannt. 11 J. von Moltke: No Place like Home, S. 87. 12 »Jeder Film bezieht sich auf Genre-Konventionen, schreibt sie aber gleichzeitig um, modifiziert und konstruiert sie. Das Genre (von dem wir doch eigentlich annehmen, dass es dem Film vorgängig ist), ist also immer ein Effekt jener Filme, in denen es sich ausdrückt/konkretisiert/dokumentiert.« Claudia Liebrand/ Ines Steiner: »Einleitung«, in: Claudia Liebrand (Hg.), Hollywood hybrid. Gender und Genre im zeitgenössischen Mainstream-Film, Marburg: Schüren 2004, S. 7-15, hier S. 8. 13 Thomas Elsaesser: Weimar Cinema and After: Germany's Historical Imaginary, London: Routledge 2000, S. 436f.
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ne Förster Walter Rainer sucht nach einem Wilderer, der in der Heide, im Wald, sein Unwesen treibt. Schon bald führt ihn seine Spur zu Lüdersen und damit auch zu Helga, in die er sich verliebt. Am Ende ist Lüdersen von der Wilderei ›geheilt‹, der ›echte‹ Wilddieb gestellt, und Helgas und Walters Liebe steht nichts mehr im Weg. Neben der Figur Lüdersens wird das zentrale Thema der ›Heimatlosigkeit‹14 über ein vielfältiges Figurenensemble, drei musizierende Vagabunden, die Hermann-Löns-Lieder singend durch die Heide wandern, die schlesischen ›Neubürger‹ und einen Zirkus, der sein Lager im Dorf aufgeschlagen hat, erzählt. Halb Kriminal-, halb Liebesgeschichte setzt der Film vor allem auf eins, um sein Publikum zu begeistern: auf ein dem Musical nicht unähnliches audio-visuelles Spektakel,15 gefilmt mit dem damals neuen Gevacolor-Filmmaterial von Agfa, das die Heide in allen ihren Schattierungen zeigt. Zusammen mit den Heimatliedern und der Inszenierung eines Schützenfestes mit bunten Trachten, Volkstanz und Zirkusvorstellung, das das gesamte letzte Drittel des Films einnimmt, ergibt sich eher eine Nummernshow als ein klassisches Narrativ. Im Weiteren untersuche ich die spezifischen filmischen Strategien, mit denen im Film an der Wiederherstellung von Deutschsein gearbeitet wird. Es geht mir darum, das Changieren des Films zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, Sagbarem und Unsagbarem und vor allem zwischen (selektivem) Erinnern und Vergessen nachzuzeichnen. Welche Bilder werden gefunden, um ein ›unbelastetes‹ beziehungsweise ›rehabilitiertes‹ Deutschsein zu ermöglichen, und was wird dafür ausgeblendet? Ich fokussiere in meiner Betrachtung auf die zentrale Figuren- und Raumkonstellation des Films, Förster – Wilderer – Heide/Helga. Der Film folgt der im Heimatfilm gängigen Anordnung – Förster jagt Wilderer, und die vom Förster geliebte weibliche Hauptfigur ist mit dem Wilderer verwandtschaftlich oder freundschaftlich verbunden16 –, in die impli14 Johannes von Moltke weist darauf hin, dass die meisten Heimatfilme ihre Idee von Heimat über solche binären Gegensätze konstruieren, so geht es häufig um Exil, die ›Fremde‹, Dislozierung oder eben Heimatlosigkeit. J. von Moltke: No Place like home, S. 5. Ich denke, dass es sich aber im Grunde nicht unbedingt um Gegensatzpaare handelt, sondern um die Beziehung von ›Heimat‹ und ›Fremde‹ bzw. ›Heimatlosigkeit‹ geht. Die Kontrastierung in den Filmen ist ein Mittel, um den Imperativ der ›Heimat‹ zu verstärken. In Freuds Definition des Unheimlichen wird die Ambivalenz des Wortes heimlich sehr deutlich: »Also heimlich ist ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich«. Sigmund Freud: »Das Unheimliche« [1919], in: Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey (Hg.), Psychologische Schriften, Studienausgabe IV, 8. Aufl., Frankfurt/Main: Fischer 1997, S. 241-274, hier S. 250. 15 Vgl. S. Freud: Das Unheimliche, S. 78-85. 16 Wolfram Buddecke: »Der Förster – ein deutscher Filmberuf«, in: Thomas Koebner (Hg.), Idole des deutschen Films. Eine Galerie von Schlüsselfiguren, München: Edition Text & Kritik 1997, S. 329-340, hier S. 332.
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zit der ›typische‹ Generationskonflikt eingelassen ist: älterer und jüngerer Mann werben um die gleiche Frau.17 Dieses Setting, in dem sich Helgas Weiblichkeit mit der der Heide überlagert, ist nicht nur geschlechtlich codiert, sondern ebenfalls rassifiziert. Deutschsein wird im Film weiß codiert. Auf welche Weise dies geschieht, soll im Folgenden nachvollzogen werden. Da Weißsein über die doppelte Eigenschaft verfügt, ein »unmarked marker«18 zu sein, der als solcher zwar im Zentrum der Repräsentation aber zugleich unsichtbar ist,19 verknüpft sich diese Frage unmittelbar mit der nach den Ein- und Ausblendungen des Films.
Au f d e r L ü n e b u r g e r H e i d e
Abb. 1-2 »Auf der Lüneburger Heide In dem wunderschönen Land Ging ich auf und ging ich nieder Allerlei am Weg ich fand Valleri Vallera ha ha ha.«
Bereits in der Eingangssequenz von »Grün ist die Heide« ist alles da, was den Film ausmacht (Abb. 1). Zuallererst sehen wir die Hauptfigur: die Heide. Die Kamera senkt sich, und in einem Schwenk erschließt sich ein Blick über die Landschaft, es ertönt das Hermann-Löns-Lied »Auf der Lüneburger Heide«.
17 H. Fehrenbach: Cinema in Democratizing Germany, S. 156. Thomas Elsaesser verweist allerdings darauf, dass die ödipale Konstellation spezifisch für das Weimarer Kino war, er spricht vom »oedipal scenario as master-narrative«. Vgl. Th. Elsaesser: Weimar Cinema and After, S. 71ff. 18 Gayatry Chakravorty Spivak: The Postcolonial Critique, New York: Routledge 1990. 19 »Whites must be seen to be white, yet whiteness as race resides in invisible properties and whiteness as power is maintained by being unseen.« Richard Dyer: White, London: Routledge 1997, S. 45.
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Die drei Vagabunden kommen ins Bild, singend und musizierend, auf ihrem Weg durch die Heide wandern sie durch eine Herde von Heidschnucken an einer Kate vorbei (Abb. 2). Mit Ende der ersten Strophe kommt ein Schnitt, wir sehen die drei am Forsthaus ankommen, ihr Ständchen halten, der alte Oberförster kommt heraus. Aber nicht nur der Anführer unter den Vagabunden bemerkt sogleich: »Oh, da ist ja ein neues Gesicht im Forsthaus« (Abb. 3). Abb. 3
Wir lernen den neuen Förster Walter Rainer kennen, der die Nachfolge im Forsthaus antreten soll. Die drei stellen sich und ihr Anliegen vor: es ist Dienstag und an diesem Tag kommen sie immer vorbei, um sich etwas zu essen abzuholen. Förster Rainer ist jedoch misstrauisch und fragt, ob die drei ständig in der Heide leben. Während Förster Rainer mit seinem Argwohn nicht hinterm Berg halten kann und fragt, ob sie nicht etwa wildern, winkt der Oberförster ab und sagt gelassen: »Sie sind hier so etwas Ähnliches wie eine lebende Zeitung.« Das zentrale Problem ist angesprochen: im Wald wird gewildert: »Man gibt sich alle Mühe, man will den Wald wiederaufbauen und seinen Tierbestand, und da ist so ein Kerl, der alles sabotiert und einem die besten Hirsche und Böcke wegschießt«, beklagt sich der Oberförster. Aber Förster Rainer ist schon auf dem Sprung und behauptet übermütig: »Ich kenne den Wald schon einigermaßen.« Der Oberförster lacht, denn Walter Rainer ist erst seit drei Wochen in der Heide, und entgegnet: »Und wenn sie vierzig Jahre hier sind, mein Lieber, dann kennen sie unseren Wald immer noch nicht. Einen gibt es, der ihn wirklich kennt.« Durch die Augen von Förster Walter Rainer begeben wir uns nun auf die Suche. Zu sehen ist der Wald, es ist Nacht. Ein Mann, Lüder Lüdersen, streift zwischen den Bäumen hindurch. Parallel montiert sehen wir abwechselnd ihn und dann wieder den Förster. Ein Schuss fällt, ein Tier ist tot, Lüdersen versteckt sein Gewehr und macht sich
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davon. Der Förster versucht ihn einzuholen, aber Lüdersen entkommt ihm. Stattdessen trifft er bei seiner Suche Helga.
Förster und Wilderer: Die Etablierung der w eißen moralischen Männlichkeit »The Unheimlich lurks beneath the surface of the
Heimatfilm.«20
Neben dem Motiv der ›Heimatlosigkeit‹ ist in dieser ersten Sequenz nicht nur die Heide als Protagonistin eingeführt, sondern auch der zentrale Konflikt zwischen Förster und Wilderer. Dieser spitzt sich zu, als Walter Rainer sich in Helga verliebt, diese jedoch versucht, ihren Vater vor der Entdeckung zu schützen. Der Konflikt um den richtigen Umgang und die richtige emotionale Beziehung zum Wald und den darin lebenden Tieren – der eine wildert, der andere versucht, die ›Natur‹ zu bewahren und die ›Ordnung‹ wiederherzustellen – wird nicht nur narrativ sondern auch ästhetisch inszeniert. In »Grün ist die Heide« ist der Wald doppelt codiert, einerseits als der lichte Wald von Förster Rainer, andererseits der nächtliche, unheimliche Wald von Lüdersen. Worin besteht nun dieses Unheimliche? Während von Moltke argumentiert, das Unheimliche des Films liege in der Vergangenheit Lüdersens, dem Verlust der Heimat, der im Wildern seinen Ausdruck findet und seine Wahrnehmung der ›zweiten Heimat‹ prägt,21 möchte ich hier eine Lesart vorschlagen, die an der Inszenierung des Unheimlichen ansetzt. Sigmund Freud hat das Unheimliche an der Schnittstelle von Ästhetik und Psychologie verortet und zwischen dem erlebten und dem vorgestellten Unheimlichen unterschieden.22 Mich interessiert, wie die Inszenierung des Unheimlichen in der Verfolgung des Wilderers durch den Förster im Wald auf die von Freud bestimmten Charakteristika des Unheimlichen rekurriert. Nach Freud ist das Unheimliche etwas wiederkehrendes Verdrängtes, also nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas, was im Verborgenen hätte bleiben sollen, aber hervorgetreten ist.23 In der beschriebenen Parallelmontage, die den Förster auf seiner Suche und nach dem Schuss bei der Verfolgung zeigt, wird über die Hell-Dunkel-Kontrastierung der Gegensatz zwischen den beiden Männern konstruiert. Während Lüdersen durch den dunklen, nächtlichen Wald streift, sind die Bilder, in denen wir Förster Rainer bei der Verfolgung sehen, ungleich heller, der Himmel strahlt taghell in blau. Auch im Einsatz der Musik wird diese Kontrastierung 20 21 22 23
J. von Moltke: No Place Like Home, S. 93. Ebd., S. 5. S. Freud: Das Unheimliche, S. 269. Vgl. ebd., S. 263f.
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deutlich. Zunächst beginnt sie mit einem harmonischen Motiv, Waldhörner erklingen, doch sobald Lüdersen das Gewehr anlegt und wir parallel Förster Rainer bei der Suche sehen, wird das Motiv zunehmend dramatisch, die Bedrohung wird über die Musik transportiert (Abb. 4-9).
Abb. 4-9 Der Schuss bildet den musikalischen Höhepunkt und initiiert die Verfolgungsjagd. Der Eindruck des unheimlichen Waldes ist der Perspektive der Suche beziehungsweise der Verfolgung geschuldet, die auch dem Publikum angeboten wird. Da er neu in der Heide ist, kennt Förster Rainer den Wald noch nicht gut genug. Dieser erscheint undurchsichtig, gehüllt in Nebelschwaden, die Lüdersen beim Wildern vor der Entdeckung schützen. Der Wald wird also durch das Wildern zu einem unheimlichen Ort. Unterstützt wird dieser Eindruck des Unheimlichen dadurch, dass Lüder Lüdersen, indem er wildert, etwas ›Heimli-
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ches‹ tut, und zwar um so den Verlust der ›Heimat‹ zu kompensieren: Obwohl Lüdersen weiß, dass er nicht wildern darf, geht er immer wieder in den Wald, um sich beim Schießen des Wildes an die ›alte Heimat‹ zu erinnern. Als ihn Helga aus Sorge vor seiner Verhaftung konfrontiert, rechtfertigt er sein Wildern: »Warum kann man kein Mensch mehr sein, nur weil man alles verloren hat. Nur wenn ich draußen im Wald bin, in der Natur, dann vergesse ich alles Elend. Dann habe ich das Gefühl, es ist mein Wald, es sind meine Tiere. Es ist nicht nur Jagdfieber, glaube mir, Helga, aber du verstehst mich ja doch nicht.« Genau für dieses Verständnis wirbt der Film, und so endet er anders als noch in der Version von 1932. Statt mit dem Leben für sein Handeln bezahlen zu müssen, wird Lüdersen zwar durch einen Schuss des ›echten‹ Wilddiebs,24 verwundet, schwebt aber nicht in Lebensgefahr. Vielmehr wird er am Ende aufgrund seiner ›Heimatliebe‹ in die dörfliche Gemeinschaft integriert. Die Heide, sei es die Landschaft selbst oder das Angebot, dort eine ›zweite Heimat‹ zu finden, ermöglicht Lüdersen also Umdenken und Rehabilitation: Um diese ›Heilung‹ jedoch plausibel zu machen, muss zunächst der Konflikt etabliert werden. In dessen Inszenierung wird deutlich, dass es dabei auch um die Bereinigung der ›Heimat‹ von unliebsamen Erinnerungen geht. Hierfür zitiert der Film die Ästhetik des Chiaroscuro und knüpft damit implizit an eine bestimmte (Film)Geschichte an. Zum einen wird hier auf das historische Imaginäre des Films, nämlich den expressionistischen Film des Weimarer Kinos rekurriert, der seine weitere Sedimentierung vor allem auch im film noir im Hollywood der 1940er Jahre genommen hat.25 Fragt man weiter, was die Hell-Dunkel-Kontrastierung von Förster und Wilderer mit der Etablierung weißer Männlichkeit zu tun hat, zeigen sich zum anderen folgende Verknüpfungen. Eric Lott26 hat die Wichtigkeit betont, in der Analyse des Genres sowohl die in den Filmen aufgerufenen rassifizierten Metaphern als auch das thematische Insistieren auf spirituelle und kinematografische Dunkelheit zu berücksichtigen. Mit Bezug auf Toni Morrison27 richtet er sein Augenmerk auf die Präsenz rassifizierter Differenz im kulturellen Imaginären, die in den Filmbildern einen Ausdruck finden: »film noir’s relentless cinematography of chiaroscuro and moral focus on the rotten souls of white folks, […] invoke the racial dimension of this play of light against dark.«28
24 Es ist der Raubtierpfleger des gastierenden Zirkus, der wildert, um die Tiere füttern zu können. Seiner ersten Entdeckung entzieht er sich, indem er einen Polizisten ermordet. Seine Verhaftung erfolgt, nachdem er der Polizei, die den gesamten Wald durchkämmt, in die Falle gegangen ist. 25 Vgl. Th. Elsaesser: Weimar Cinema and after, S. 420-444. 26 Eric Lott: »The Whiteness of Film Noir«, in: Mike Hill (Hg.), Whiteness. A Critical Reader, New York: New York University Press 1997, S. 81-101. 27 Toni Morrison: Im Dunkeln spielen. Weiße Kultur und literarische Imagination. Essays, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1995. 28 E. Lott: The Whiteness of Film Noir, S. 82.
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Der Wilderer Lüdersen wird nicht nur der Dunkelheit zugeordnet, sondern auch pathologisiert. Er hat nicht nur die ›Heimat‹, sondern offenbar auch sich selbst verloren. Er kann nicht anders, als zu wildern, weil ihn das Töten an das Leben erinnert. Diese Beobachtung deckt sich mit der Assoziation von Weißsein mit Tod, die Richard Dyer auf die Formel einer »idea of whites as both themselves dead and as bringers of death« gebracht hat.29 Die krisenhafte Figur Lüder Lüdersen wird durch das Wildern zum Todbringer, aber er scheint auch selbst nahezu tot zu sein. Indem Lüdersen im Film dazu gebracht wird, das Wildern zu lassen, wird seine Rückkehr ins Leben möglich. Aber zunächst scheint seine Funktion darin zu bestehen, den Förster im Gegensatz zu ihm zu einer ›unschuldigen‹ Identifikationsfigur werden zu lassen. Förster Rainer repräsentiert nicht nur entgegen der soldatischen Männlichkeit eine zivile und noch dazu eine, bei der es trotz Uniform nicht um das Töten im Dienste des Vaterlandes, sondern um die Bewahrung der ›Natur‹, der ›Heimat‹ geht. Darüber hinaus trägt die Inszenierung auch zu einer »moral masculinity«30 bei, die eine Differenz zum männlichen Helden des NS-Films markiert: »a specific sort of male character emerges in these (and other popular) films as the ideal type for German romantic lead – the man, that is, who will take Germany into the future. Like the forester, Walter Rainer, the ideal German has a code of honor.«31 Dass diese moralische Männlichkeit ebenfalls weiß codiert ist, ergibt sich nicht nur aus der Hell-Dunkel-Kontrastierung und der Gegenüberstellung mit Lüdersen, sondern auch aus seiner ästhetischen Funktion: In »Grün ist die Heide« sehen wir mit den Augen des Försters auf die Natur, wie sich insbesondere an einer Einstellung nachvollziehen lässt. Förster Rainer ist im Wald, auf der Suche nach Lüdersen, aber auch zur Kontrolle des Wildes. Man sieht ihn durch sein Fernglas blicken, die nächste Einstellung zeigt den Hirsch, der Bildausschnitt imitiert das runde Okular (Abb. 10 und 11).
Abb. 10-11 29 R. Dyer: White, S. 211. 30 H. Fehrenbach: Cinema in Democratizing Germany, S. 155. 31 Ebd.
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Während in vielen anderen Heimatfilmen die Figur des Försters vollständig suspendiert und durch die Kamera ersetzt ist, steht der Förster in »Grün ist die Heide« im Zentrum der Repräsentation, als männlicher Held, dem wir im klassischen Kino folgen, ist er aber zugleich unsichtbar, da eingelassen in die Kameraposition. Es stellt sich aber immer noch die Frage, was eigentlich nicht an die Oberfläche kommen darf bzw. woran nicht erinnert werden soll.
S e l e k t i ve s E r i n n e r n u n d Ve r g e s s e n Während der Grund für Lüdersens Pathologie die Erinnerung an die ›verlorene Heimat‹ ist, steht Förster Rainer für die vergessenmachende Geschichtslosigkeit. In »Grün ist die Heide« erfahren wir zwar gleich in der Eingangssequenz, dass Förster Rainer erst seit drei Wochen vor Ort ist, aber über seine Herkunft erfahren wir nichts, er hat keine Geschichte. Er ist einfach nur da, um den Wald vor dem Wilderer zu bewahren, und am Ende bekommt er dessen Tochter Helga zur Belohnung. In der letzten Szene – der Wilderer ist verhaftet, der Vater verletzt, aber außer Lebensgefahr, ihrer Liebe steht also nichts mehr im Wege – sagt er zu ihr (und bringt damit seine Funktion auf den Punkt): »Alles wird wieder gut«. Wolfram Buddecke stellt in dem so treffend betitelten Text »Der Förster – ein deutscher Filmberuf« fest: »Die Welt, die er darstellt, ist eine Welt ohne Geschichte.«32 In »DissemiNation« beschreibt Homi Bhabha, dass der Wille, eine Nation zu sein, ein »eigenartiges Vergessen der Geschichte der nationalen Vergangenheit« ist und erläutert weiter: »Dieses Vergessen – die Signifikation eines ursprünglichen Minus – stellt den Anfang der nationalen Narrative dar.«33 Diese paradoxe Konstitution der Nation über das Vergessen gilt nach Gisela Ecker noch mehr im Hinblick auf ›Heimat‹, da hier über die verschiedenen Erzählformen der Erinnerung ein Vergessen inszeniert wird.34 »In Grün ist die Heide« ist die Erinnerung Lüder Lüdersen zugeschrieben. Die Erinnerung an die Heimat hat ihn krank gemacht, das Wildern wird zur Pathologie. Der Film jedoch erzählt die Geschichte seiner Rehabilitierung. Besonders deutlich wird dies in der Szene beim Schützenfest (Abb. 12 und 13). Um sich für die freundliche Aufnahme in der Heide zu bedanken, hält er eine Abschiedsrede, bevor er gemeinsam mit Helga die Heide verlässt, um einer Entdeckung oder gar Verurteilung zuvorzukommen.
32 W. Buddecke: Der Förster – ein deutscher Filmberuf, S. 339. 33 Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenberg Verlag 2000, S. 238. 34 Gisela Ecker: »›Heimat‹: das Elend der unterschlagenen Differenz (Einleitung)«, in: dies. (Hg.), Kein Land in Sicht. Heimat – weiblich? München: Fink 1997, S. 7-31, hier S. 29f.
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Abb. 12-13 »Ich spreche nicht nur für mich allein, sondern für die vielen anderen, die hier bei Ihnen eine zweite Heimat gefunden haben. Nie werde ich die Tage vergessen, die ich hier bei Ihnen in der Heide sein durfte, in der Heide, die auch meine zweite Heimat geworden ist. Macht es den Menschen, die zu euch geflüchtet sind, nicht schwer. Wer nicht von der Heimat wegmusste, der kann es nicht ermessen, was es heißt heimatlos zu sein. Ich weiß, wir sind ja manchmal auch nicht so gewesen, wie wir hätten sein sollen. Aber wir sind ja am Härtesten gestraft. Wenn ich hier im Walde war, dann hab ich mich oft wieder wie zu Hause gefühlt. Die schöne Natur, sie hat mich hinweggetröstet über das, was ich verloren habe. Ich war nah daran, mich selber zu verlieren. Aber durch Güte und Verständnis wie sie mir hier entgegengebracht worden sind, habe ich mich wieder gefunden. Ich danke Ihnen. Ich danke Ihnen von Herzen für alles Gute, was ich hier erleben durfte.«
In diesem Monolog werden klare Worte gefunden, mit denen er sich von seiner ›Schuld‹, die er durch das Wildern auf sich geladen hat, entlastet. Da er die ›Heimat‹ verloren hat, ist er ›unschuldig‹ zum Opfer geworden. Verfehlungen werden zwar angedeutet, um im nächsten Satz gerechtfertigt zu werden. Robert Moeller macht in seinem Artikel »Remembering the War in a Nation of Victims« sehr deutlich, wie präsent die Geschichte des »deutschen Leidens« in den Nachkriegsjahren war. Indem man auf die Kriegsgefangenen und die ›Heimatvertriebenen‹ fokussierte, konnte über das Ende des Nationalsozialismus gesprochen werden, ohne Verantwortung zu übernehmen. Vielmehr wurden in dieser Erzählung alle Deutschen zum Opfer des Krieges, den Hitler angezettelt hatte und den alle verloren hatten: »New in the postwar years, however was the explicit equation of the suffering of German victims and victims of Germany. […] German expellees became another category of victims driven from their historic homelands because of the ›ethnicity‹ (Volkszugehörigkeit [dt. im Orig.]); Jews persecuted by Germans were one group of victims among others.«35 35 Robert G. Moeller: »Remembering the War in a Nation of Victims: West German Pasts in the 1950s«, in: Hanna Schissler (Hg.), The Miracle Years. A Cul-
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Im Unterschied zu den Thesen Theodor W. Adornos36 und Alexander und Margarete Mitscherlichs37 von der fehlenden Erinnerung und Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit macht Moeller in seinem Text das Argument stark, dass gerade das selektive Erinnern dessen, was im Krieg verloren wurde, an der Etablierung des integrativen Mythos des deutschen Leidens mitwirkte und die Konstruktion einer Nation von Opfern ermöglichte. »The ›imagined community‹ that emerged in West Germany in the 1950s was a community that acknowledged and overcame loss and suffering; its success was measured in its ability to affirm German victims – the representatives of a victimized Germany – and to assist them in ›coming to terms with‹ their pasts.«38
Um ihre Zugehörigkeit zur Lüneburger Heide zu unterstreichen, wird im Anschluss an Lüdersens Rede für die große Anzahl Schlesischer ›Neubürger‹ noch »Riesengebirglers Heimatlied« angestimmt, in dem es heißt: »Riesengebirge – deutsches Gebirge«. (Abb. 14) Die Anwesenheit der ›Vertriebenen‹ und ihre Integration in die ›Heimat‹ Lüneburger Heide, die der Film suggeriert, verweist zugleich auch auf eine Abwesenheit, auf das, was man nicht erzählen sollte oder wollte. Im Narrativ des Verlusts wird ein anderes Fehlen ausgeblendet beziehungsweise überblendet: Die Erinnerung an die Millionen Menschen, die dem Nationalsozialismus durch Vernichtung in Shoah und Krieg zum Opfer gefallen sind, fehlt vollständig. Interessanterweise bleibt dieser Aspekt auch in Johannes von Moltkes Arbeit zum Heimatfilm, die »disAbb. 14
tural History of West Germany, 1949-1968, Princeton, Oxford: Princeton University Press 2001, S. 83-109, hier S. 88. 36 Theodor W. Adorno: »Was heißt Aufarbeitung der Vergangenheit?« [1959], in: ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996. 37 Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München: Piper 1977. 38 R. Moeller: Rembering the War in a Nation of Victims, S. 101.
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placement and mobility« betont, unbeachtet, und er unterstützt so (ungewollt) die spezifische Geschichtslosigkeit des Heimatfilms zwischen selektivem Erinnern und Vergessen. Alasdair King verweist hingegen darauf, dass am realen Drehort, dem Dorf Bleckede in der Lüneburger Heide, sich nicht nur etwa 1 000 ›Heimatvertriebene‹ aus Schlesien niedergelassen haben, die – wie die gesamte Dorfbevölkerung – auch im Film als Statisten zu sehen sind, sondern dass sich in unmittelbarer Nähe ein Britischer Armeestützpunkt mit dem größten Truppenübungsgelände in Nordwestdeutschland befand. Dieser Umstand ist nicht unwichtig, da die Britische Armee am Versuch, die offizielle Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus im ebenfalls nahegelegenen ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen zu etablieren, beteiligt war: »An attempt, instigated under the British forces of occupation in 1945, to ensure that this part of the heath would be retained as the site of a national memorial to the victims of National Socialism, was finally successful. On 30 November 1952, the former concentration camp of Bergen-Belsen was officially opened by the president of the BRD, Theodor Heuss.«39
» G r ü n i s t d i e H e i d e u n d d i e H e i d e i s t L ö n s « 40 Neben selektiver Erinnerung und Vergessen wird in »Grün ist die Heide« für die (Wieder-)Herstellung von Deutschsein auf einen wirkmächtigen Mythos rekurriert. »Grün ist die Heide und die Heide ist Löns« überschreibt Thomas Dupke in seiner Löns-Biografie ein Kapitel, das sich mit dessen enger Beziehung zur Lüneburger Heide, seinen Jagd- und Tiergeschichten und den Liedern auseinandersetzt, die Eingang in den Film gefunden haben. Wie bereits erwähnt, basiert der Film von 1951, wie auch schon das Original von 1932, auf Motiven von Hermann Löns. Angeknüpft wird dabei nicht an die LönsRezeption im Nationalsozialismus, die ihn vor allem wegen seines Einsatzes für den völkischen Naturschutz und dessen Roman »Der Wehrwolf« (1910) pries, in dem er den ›Partisanenkrieg‹ niedersächsischer Bauern im Dreißigjährigen Krieg schildert und der wahrscheinlich namengebend für die NS-Organi-
39 Alasdair King [1951]: »Placing Green is the Heath. Spatial Politics and Emergent West German Identity«, in: Randall Halle (Hg.), Light Motives. German Popular Film in Perspective, Detroit: Wayne State University Press 2003, S. 130-145, hier S. 138. Bereits am 25. September 1945 wurde aus Anlass eines Kongresses der befreiten Juden in der britischen Besatzungszone an der Stelle des Konzentrationslagers Bergen-Belsen ein provisorisches hölzernes Mahnmal errichtet. http://www.bergen-belsen.de/pdf/zurgeschichte_2008-10-07.pdf (zuletzt aufgerufen am 10.10.2008). 40 Th. Dupke: Hermann Löns, S. 7.
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sation »Werwolf« am Ende des Zweiten Weltkrieges war,41 sondern an den Löns-Mythos der Weimarer Republik und damit an ein ›unbelastetes‹ Deutschland. »Der Heidefilm von 1951 führte somit eine Rezeptionslinie weiter, die schon in den 20er Jahren das Löns-Bild prägte und in der Löns als gefühlsseliger Naturdichter stilisiert wurde. Nach dem Tode Löns’ 1914 entwickelte sich um den Heidedichter ein Mythos, hinter dem die reale Person Löns und ihr Werk verschwanden und von schwärmerischen, politischen und kommerziellen Interessen überdeckt wurden […] Löns wurde zu einem Schlagwort: Er war der ›Dichter der Lüneburger Heide‹, der ›Sänger der Jugendbewegung‹, der ›Vater der deutschen Tiererzählung‹, der ›Jägerpoet‹, der ›Bauer‹ mit dem Federkiel oder ein ›Kämpfer‹, der sich für das Vaterland geopfert habe. Hinter all diesen Schlagwörtern mußte die reale Person verschwinden. Der Name ›Löns‹ wurde zum Etikett für alles Natürliche, Idyllische, Sentimentale, alles was leicht politischen Zwecken angepaßt werden konnte.«42
Im Film wird dieser Bezug durch die drei Vagabunden explizit gemacht, die Löns-Lieder singend durch die Heide ziehen und die Erinnerung an die Wandervogel-Bewegung wachrufen. Aber auch in einer Szene im Film, in der der Amtsrichter des Dorfes mit dem Lied »Rosemarie« versucht, Nora, Helgas Freundin, die mit dem Zirkus in der Heide Station macht, zum Bleiben zu bewegen. Sie hat bislang aber andere Pläne, sie möchte nach ›Amerika‹, um dort ein neues Leben zu beginnen. Sie sträubt sich mit den Worten: »Ich bin nicht sentimental, Ihr Heidezauber wirkt bei mir nicht, das ist doch alles Wandervogel-Romantik.« Der Amtsrichter reagiert gelassen und überzeugt, dass sie ihn eigentlich versteht: »Na und, erstens stimmt’s nicht, ich bin ja hier sesshaft, der Wandervogel sind sie und zweitens glaube ich nicht, dass Sie so denken.« In diesem kurzen Wortwechsel verknüpft sich also das Wissen um den Mythos Löns mit dem Anliegen des Films, die Heide als ›Neue Heimat‹ anzubieten. Im Mythos verlieren die Dinge ihre Erinnerung an ihre Herstellung, und Geschichte wird in Natur verwandelt und somit entpolitisiert.43 Im Film wird ausgeblendet, dass Hermann Löns’ Liebe für die Heide durch seine völkisch-antisemitische Haltung geprägt war, der entsprechend Naturschutz »Rasseschutz« bedeutete: »Naturschutz ist für Löns, wie schon seine Jagderzählungen zeigen, die Kraftquelle eines Volkes, und der Naturbeziehungsweise Heimatschutz ist ihm ›eine zielbewusste Vaterlandsliebe‹.«44
41 http://www.dhm.de/lemo/html/wk2/kriegsverlauf/werwolf/index.html aufgerufen am 2.12.2008). 42 Th. Dupke: Hermann Löns, S. 9f. 43 Roland Barthes: Mythen des Alltags, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1964. 44 Th. Dupke: Hermann Löns, S. 110.
(zuletzt
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Als Löns seine Schriften um die Wende zum 20. Jahrhundert verfasste, war sein Bezug auf die ›Natur‹ Ausdruck einer ambivalenten Haltung zur Moderne, in der die ›Heimat‹ erst als Abgrenzungsfigur erfunden wurde.
I m a g i n ä r e We i b l i c h k e i t : D i e H e i d e a l s w e i ß e r R a u m »Es überrascht also keineswegs, dass die Landschaft im Diskurs über Heimat eine herausragende Rolle spielt; die Landschaft ersetzt in gewisser Weise sogar den weiblichen Körper als Bedeutungsträger. Gerade der Heimatfilm lebt von der doppelten Möglichkeit des Films, gleichzeitig fiktional und dokumentarisch zu sein, formale Konstruktion wie die Nation und Abbildung konkreter Körper wie die Heimat. Die Kamera übernimmt dabei die Funktion der Grenzziehung, einen gewissen herrischen Blick, der territoriale Zuordnungen vornimmt.«45
Auf die Überlagerung der Figur des Försters mit der Position der Kamera bin ich bereits eingegangen. Gertrud Kochs Zitat macht aber auch deutlich, dass die ›Heimat‹, die als filmtechnisch innovatives Spektakel, als »lokale Metapher« für die Nation46 zum Vorschein kommt, weiblich codiert ist. Die imaginäre Weiblichkeit der Landschaft verschränkt sich mit der Weiblichkeitsinszenierung Helgas. Ihre modisch bunten Kleider verknüpfen sich mit der Buntheit der Heide. Beide dienen dazu, die Möglichkeiten des Farbfilmmaterials vorzuführen, und adressieren den spektakulären Schauwert, der mit Weiblichkeit verknüpft ist (Abb. 15 und 16). Helga ist diejenige, die den Verlust der ›Heimat‹ gut verkraftet hat und sich bereits heimisch fühlt. Sie hat schon eine Arbeit in der örtlichen Apotheke gefunden. Ihre Inszenierung steht für die ›modernisierte‹ Zukunft, die es aufzubauen gilt, aber nach Fehrenbach ist sie als Tochter auch diejenige, die zwischen Vergangenheit und Zukunft vermitteln und ihren Vater dazu überreden muss, dass Wildern sein zu
Abb. 15-16 45 Gertrud Koch: »Vom Heimatfilm zur Heimat«, in: Gisela Ecker (Hg.), Kein Land in Sicht. Heimat – weiblich? München: Fink 1997, S.203-212, hier S. 209. 46 J. von Moltke: No Place like Home, S. 9.
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lassen,47 um den Weg für die Zukunft frei zu machen. Ein Aspekt, der die Zukunftsgerichtetheit des Films noch unterstreicht, ist das Fehlen der Mutter, eine häufige Familienkonstellation im bundesdeutschen Nachkriegsfilm.48 Es macht den Weg frei für eine ›neue‹ Generation, in der Helga die zukünftige Mutter ist. Die Heide verfügt ebenfalls über mütterliche Eigenschaften, indem sie einerseits den ›heimatlos‹ gewordenen ›Vertriebenen‹ ein Zuhause gibt, und andererseits als imaginäre ›Heimat‹ die Kontinuität der Nation sichert. Nach Gertrud Koch ist das Verhältnis von Nation und Weiblichkeit dadurch bestimmt, dass letztere die »Integrität nach innen« garantiert. Die Figur der Mutter spielt dabei eine zentrale Rolle, da sie das generative und integrative Zentrum der Nation darstellt.49 Anhand dieser Zusammenhänge lässt sich noch einmal auf den doppelbödigen Charakter der Unheimlichkeit der Heide zurückkommen. Um diesen genauer zu bestimmen, möchte ich Gwendolyn Audrey Fosters Konzept des »white face« und des »white space« heranziehen: »The nature of white space is uncanny: it is a space both open and closed, both inclusive and exclusive. [...] I suggest that this white space, where exchanges of identity are negotiated, is the space of whiteface, where class and ethnicity are homogenized, sterilized, and largely erased in motion pictures. In other words, when I use the term whiteface, I do not mean the opposite of blackface. I regard whiteface as a space where representation that demands class-passing, class-othering, giving up ethnic identity to become white, and insists that the human race, especially in America, is white. In short, most motion pictures are spaces of whiteface. […] In films actors perform whiteness against a backdrop of white space and white music.«50
Die Lüneburger Heide, die (un-)heimliche Protagonistin des Films »Grün ist die Heide«, lässt sich als weißen Raum begreifen. Auch wenn Foster die Begriffe »white face« und »white space« für das Hollywoodkino etabliert hat, sind sie auf den bundesdeutschen Heimatfilm übertragbar: Die Heide verfügt über die integrative Eigenschaft, aus allen Teilen, der als deutsch Anerkannten, (wieder) ein Ganzes herzustellen und so das Unheimliche zu tilgen. Die Lüneburger Heide bietet den ›Vertriebenen‹ Zuflucht und ein neues Zuhause. Differenzen, so will der Film uns glauben machen, spielen dann keine Rolle mehr. Das visuelle Spektakel der Landschaft wird durch die Musik akustisch verstärkt. Besonders die Musikauswahl, die Lieder von Hermann Löns und »Riesengebirglers Heimatlied«, ist als weiße Musik zu bezeichnen. Diese durchdringt die Diegese ebenso wie die Heide Differenz absorbiert. Das Unheimliche der Heide wird im Verlauf des Films besiegt, indem Lüdersen ge47 48 49 50
H. Fehrenbach: Cinema in Democratizing Germany, S. 158. Ebd. G. Koch: Vom Heimatfilm zur Heimat, S. 204f. Gwendolyn Audrey Foster: Performing Whiteness. Postmodern Re/Constructions in the Cinema, Albany: State University of New York Press 2003, S. 50f.
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heilt wird, so dass der Liebe von Förster Rainer und Helga nichts mehr im Weg steht. Aber die Inszenierung der Untergründigkeit, die Anwesenheit der Abwesenheit, die Einblendung der Ausblendung und der Rückgriff auf den Mythos Löns, verweisen darauf, dass dieser weiße Raum erst hergestellt werden musste, um die Re-Definition von Deutschsein zu ermöglichen.
Abbildungsnachweis: Alle Screenshots sind entnommen aus: »Grün ist die Heide« (BRD 1951, R: Hans Deppe). DVD »Ein Wiedersehen mit… Sonja Ziemann«, Kinowelt Home Entertainment, Erscheinungsdatum 7.11.2008.
»It is the be twee n that is tainted w ith strangeness«. Das unheimliche Geschlecht virtueller Wesen CLAUDE DRAUDE
1 . D a s Ta l d e r U n h e i m l i c h k e i t 1970 veröffentlichte der Robotiker Masahiro Mori in einem Aufsatz mit dem Titel »Bukimi no tani« einige seiner Überlegungen dazu, wie künstliche Wesen auf Menschen wirken. Das Rolemodel der Robotik, so Mori, sei letztlich der Mensch.1 Seiner Auffassung nach erscheinen Roboter umso vertrauenserweckender, je menschenähnlicher sie gestaltet sind. Dies allerdings gelte nur bis zu einem gewissen Punkt, an dem die Vertrautheit mit dem Artefakt ins Gegenteil umschlägt. Versucht das Design des Roboters auf nahezu perfekte Weise menschliches Aussehen und Beweglichkeit nachzuahmen, und bleibe dennoch ein Moment der Verfehlung, so wirke dies verstörend. Auf dem Weg zum Gipfel der Menschlichkeit fällt der Roboter hinab in das ›Uncanny Valley‹. Eine dem Text beigefügte Grafik setzt den Grad der Vertrautheit mit der Menschenähnlichkeit des Artefakts in Beziehung (Abb. 1). Moris Ausgangspunkt sind industrielle Roboter, die einzelne Tätigkeiten des Menschen, nicht aber dessen Erscheinung übernehmen sollen. Er unterscheidet zudem zwischen Artefakten, die sich im Raum bewegen, und solchen, die still, also unbewegt, sind. Die Eigenbeweglichkeit des Artefakts trägt zu dessen Belebtheitswirkung bei, erhöht allerdings auch den Bedrohlichkeitsfaktor.
1
Masahiro Mori: Bukimi no tani. The Uncanny Valley. Vgl. http://www. androidscience.com/theuncannyvalley/proceedings2005/uncannyvalley.html (zuletzt aufgerufen am 23.9.2008).
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Abb. 1: Das Tal der Unheimlichkeit. Quelle: http://www.androidscience.com/ theuncannyvalley/proceedings2005/uncannyvalley.html Im ›Uncanny Valley‹ lauern Zombies und andere Untote – solche eben, die tot sind und doch animiert erscheinen, und diese Wesen zwischen zwei Zuständen wirken noch bedrohlicher als die Toten. Diese Uneindeutigkeit der Artefakte macht sich Mori zufolge besonders in der Diskrepanz zwischen (An-)Blick(en) und Berühren bemerkbar. Er illustriert dies am Beispiel der Handprothese: Wenn das Artefakt das Aussehen einer gesunden menschlichen Hand allzu perfekt nachahme, sich aber beim Anfassen kalt und tot anfühle, löse dies starke Irritationen bis hin zu einem Horroreffekt aus – eben weil es eine Begegnung mit den living dead, den lebenden Toten, anrufe. Die Frage, warum dies so ist, lässt Mori unbeantwortet,2 betont aber die Bedeutung für zukünftige Gestaltungsprozesse. Beim Design humanoider Roboter rät er davon ab, neben der Nachahmung menschlicher Bewegungen zusätzliche Naturalisierungeffekte durch die Modellierung menschlicher Haut- und Muskelschichten erzielen zu wollen. Er schlägt vor, die Menschenähnlichkeit des Roboters nur bis zum Höhepunkt der ersten Kurve der Grafik zu verfolgen, das heißt, es werden Abstriche in der life-likeness hingenommen, insbesondere, was das Aussehen angeht. Obwohl Moris Hypothese häufig als pseudowissenschaftlich3 oder zumindest als fragwürdig4 diskreditiert wurde, ist der Uncanny Valley Effect überall dort Thema, wo es um das Design künstlicher Wesen geht. 2 3 4
M. Mori: Bukimi no tani, S. 35. Dan Ferber: The Man Who Mistook His Girlfriend for a Robot. Vgl. http:// iiae.utdallas.edu/news/pop_science.html (zuletzt aufgerufen am 23.9.2008). Moris Übersicht veranschaulicht eher seine Vermutungen über den Effekt, als dass sie eine fundierte Evaluation von Mensch-Artefakt Interaktionen darstellt. Vgl. auch: C. Bartneck et al.: »Is The Uncanny Valley An Uncanny Cliff?«, in:
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Es scheint, als biete die Rede vom ›Unheimlichen Tal‹ die Möglichkeit, die Faszination, aber auch die Bedrohlichkeit, die mit der Schaffung animierter Artefakte einhergeht, aus den jeweiligen Anwendungsgebieten heraus selbst zu adressieren. Die Diskussion um das Gelingen der Artefakte, um die Akzeptanz und Wirkung von anthropomorphen Robotern und Softwareagenten, Charakteren aus Computerspielen, Online-Avataren oder Filmfiguren verdichtet sich im Knotenpunkt des Unheimlichen. So wird der Effekt häufig für die Misserfolge von Animationsfilmen verantwortlich gemacht, in denen menschliche Charaktere möglichst naturalistisch dargestellt werden sollen.5 Erfolgreiche Filme dagegen, so die Argumentation, umgehen das ›Unheimliche Tal‹, indem sie die Abbildmaxime verlassen und von vornherein auf eine cartooneske Ästhetik setzen.6 In der sozialen Robotik finden sich mehrere Jahrzehnte nach Moris Veröffentlichung unterschiedliche Verkörperungsformen.7 In Zusammenhang mit dem ›Uncanny Valley‹ tauchen vorrangig die von der Kokoro Company und Hiroshi Ishiguro von der Osaka University entwickelten Actroids auf. Dies verwundert nicht, kommen sie doch Science Fiction Szenarien von androiden Doppelgänger_innen am nächsten: Die Actroid Repliee sind Nachbildungen von Professor Ishiguros Frau und Tochter (Abb. 2), der Geminoid hat Ishiguro selbst zum Vorbild.8 Alle Actroids verfügen über Silikonkörper und simulieren Atembewegungen und -geräusche. Nach Moris Schema versuchen sie den healthy person-Status zu erreichen.
5
6 7
8
IEEE (Hg.), The 16th IEEE International Symposium on Robot and Human interactive Communication, 2007, RO-MAN 2007. Jeju 2007, S. 368-373. Vgl. ›Beowulf‹ (Robert Zemecki, USA 2007) oder ›The Polar Express‹ (Robert Zemecki, USA 2004). In letzterem wurden von den menschlichen Schauspielern durch Motion Capturing Doubles hergestellt; in ›Beowulf‹ kommt das weiterentwickelte Performance Capturing zum Einsatz. Diskussion zum Uncanny Valley, z.B. unter http://wardomatic.blogspot.com/2004/12/polar-express-virtualtrain-wreck_18.html (zuletzt aufgerufen am 24.9.2008). Vgl. ›Shrek‹ (Andrew Adamson, Vicky Jenson, USA 2001). Vgl. http://www.ai.mit.edu/projects/humanoid-robotics-group und http:// www.honda-robots.com/english/html/p3/frameset2.html (zuletzt aufgerufen am 25.9.2008). Vgl. http://www.ed.ams.eng.osaka-u.ac.jp/index.en.html (zuletzt aufgerufen am 26.9.2008). Ishiguro ist sich des Effekts bewusst – er siedelt das Child Android selbst im ›Uncanny Valley‹ an und will in seiner Forschung untersuchen, wie anthropomorphe Artefakte über das Tal hinausgelangen können. Vgl. http://www.ed.ams.eng.osaka-u.ac.jp/research/0007/ (zuletzt aufgerufen am 26.9.2008).
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Abb. 2: Ishiguros Tochter und ihre Doppelgängerin. Quelle: http://www.ed.ams.eng.osaka-u.ac.jp/index.en.html In der Forschung zu anthropomorphen Interaktionsagenten, den unheimlichen Lichtgestalten, um die es hier vorrangig gehen soll, wird dieser Status ebenfalls als Ziel gesetzt. Bei diesen bildschirmbasierten oder auf Leinwänden projizierten ›Virtual Humans‹9 handelt es sich um Softwareagenten, die die Kommunikation mit dem Computer vereinfachen sollen. Idealerweise sollen sie als bildgewordene Datenstruktur wie eine Spiegelung des Menschen funktionieren und menschliches Verhalten und Aussehen (foto-)realistisch nachbilden. Die Simulationsfähigkeit dieser Wesen, die wie soziale Roboter über einen hohen Autonomiegrad, Eigendynamik und künstliche Intelligenz verfügen sollen, ist bisher jedoch nicht mit derjenigen von Charakteren aus Animationsfilmen oder Computerspielen, vergleichbar – eben weil ganz andere Anforderungen an sie gestellt werden. Die ›Virtual Humans‹ scheinen daher beim jetzigen Forschungsstand zunächst noch weniger Gefahr zu laufen, in die Tiefen des ›Uncanny Valley‹ zu fallen. Bei den Nutzenden Vertrauen zu den virtuellen Doppelgängern zu schaffen, ist jedoch ein wichtiges Forschungsziel – und, wie ich zeigen werde, taucht das Unheimliche dann auch direkt im Forschungsmaterial auf.
9
Ich verwende ›Virtual Human‹ als Sammelbegriff für anthropomorphe Softwareagenten/Embodied Conversational Agents, digitale Stellvertreter/Avatare, Website Agenten und ähnliche. Vgl. Nadia Magnenat-Thalmann (Hg.): Handbook of Virtual Humans, Chichester 2004.
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Interaktionsagenten wie das System Max (Abb. 3), entwickelt im Team von Ipke Wachsmuth an der Universität Bielefeld,10 redefinieren das Interface immer mehr als einen Interspace, eine Umgebung, die alle menschlichen Sinne ansprechen soll und in der humane und nicht-humane Akteure interagieren.11 In den vielfältigen Anwendungsszenarien treten ›Virtual Humans‹ als Museumsführer, Immobilienmaklerinnen, Informationsdienstleister und Lehrende, oder als Einkaufshilfen auf dem SmartFridge12 und als Assistentinnen in Alten- und Krankenpflege auf.13 Diese Artefakte sind jedoch, wie die Visionen der ›Ambient Intelligence‹ Forschung überhaupt, im Alltag von Computernutzenden kaum verbreitet.14
Abb. 3: Interaktionsagent Max als Museumsführer im Heinz-NixdorfMuseum. Quelle: http://www.techfak.uni-bielefeld.de/s~kopp/download/KI06ExtendedAbstract.pdf
10 Max ist einer der weniger präsenten männlich verkörperten Agenten. Vgl. http://www.techfak.uni-bielefeld.de/data/forschung.html (zuletzt aufgerufen am 26.9.2008). 11 N. Magnenat-Thalmann: Handbook of Virtual Humans, S. 2. 12 Bspw. von den Firmen Siemens, Samsung, LG Electronics oder Electrolux. 13 Vgl. Stefan Kopp et al.: »Max – A Multimodal Assistant in Virtual Reality Construction«, in: Künstliche Intelligenz. Organ des Fachbereichs 1 »Künstliche Intelligenz« der Gesellschaft für Informatik e.V. (4/2003), S. 11-17; Justine Cassell (Hg.): Embodied Conversational Agents, Cambridge Mass.: MIT Press 2000. 14 Der Begriff der »Umgebungsintelligenz« beschreibt die Integration von computergestützter Technik in immer weiteren Alltagsbereichen. Der Begriff »Ambient Intelligence« wird vor allem in Verbindung mit dem EU-Forschungsrahmenprogramm »Information Society Technologies« genannt. Vgl. http://cordis. europa.eu/fp7/ict/programme/publications1/books/futint/fi33-state_en.html (zuletzt aufgerufen am 30.9.2008).
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Wie das Bild vom virtuellen Museumsführer verdeutlicht, zeigen sich die ›Virtual Humans‹ im Gegensatz zu den sozialen Robotern durchaus im technischen Sinn als Lichtgestalten. Sie können sich nicht physikalisch durch den Raum bewegen, aber gewinnen gerade durch ihre Bildhaftigkeit die Freiheit an unterschiedlichsten Orten und an mehreren Orten zugleich (tele-)präsent sein zu können. Wie erwähnt, liegt für Mori bei der Handprothese das Problem darin, dass der Anblick nicht hält, was er verspricht. Interfaceagenten kann man, im Gegensatz zu den Robotern, nicht die Hand schütteln. Dass sie dennoch als valide Gegenüber verhandelt werden, lässt sich demnach auch als Indiz für eine Verschiebung im Verhältnis von Blick und Berührung lesen. Ann Balsamo beispielsweise hat gezeigt, wie durch die Praktiken der kosmetischen Chirurgie materiale Körper zu einem »visual medium« werden.15 Die Gebundenheit an Materialität tritt bei den ›Virtual Humans‹ zunächst scheinbar in den Hintergrund. Interessanterweise ist das Unheimliche aber an die Verkörperungsform gebunden. Es taucht bei den Robotern wie bei den ›Virtual Humans‹ dort auf, wo es darum geht, dem Menschen besonders nahe zu kommen. Hier werden die Artefakte dann auch stets geschlechtlich eindeutig. Corinna Bath wie auch Valeska Lübke haben für die anthropomorphen Interaktionsagenten die These aufgestellt, dass die Überschreitung der MenschTechnik-Grenze weniger bedrohlich erscheint als die Überschreitung heteronormativer Geschlechtergrenzen.16 Dieser These will ich nachgehen und schlage vor, beide Grenzziehungen als ineinander verflochten und voneinander abhängig zu diskutieren. Madeleine Akrich hat die Besonderheit technischer Artefakte folgendermaßen beschrieben: »Technical objects show themselves right away to be composite and heterogeneous: neither flesh nor fowl, it is hard to see where to start with them. They always point to an end, a use for which they have been conceived, while at the same time they are an intermediary term in a long chain that associates people, products, tools, machines, money and so on.«17
Dieser Befund zeigt sich bei den informatischen Artefakten noch verschärft. Als (Interface-)Technologie haben die ›Virtual Humans‹ Hybrid-Status; sie suchen verstärkt Menschliches in die Technik einzulagern und reorganisieren gleichzeitig die Bedeutung beider Bereiche. Wie soziale Roboter lassen sich 15 Ann Balsamo: »On the Cutting Edge: Cosmetic Surgery and the Technological Production of the Gendered Body«, in: Nicholas Mirzoeff (Hg.), The visual culture reader, London: Routledge 2002, S. 223-233, hier S. 223. 16 Valeska Lübke: CyberGender. Geschlecht und Körper im Internet, Ulm: Helmer 2005. Corinna Bath: »Was können uns Turing-Tests von Avataren sagen? Performative Aspekte virtueller Verkörperungen im Zeitalter der Technoscience«, in: Astrid Epp et al. (Hg.), Technik und Identität, Bielefeld: IWT 2002, S. 79-99. 17 Madeleine Akrich: How can technical objects be described?, Kolloquium Twente 3.-5. September 1987.
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auch anthropomorphe Interaktionsagenten demnach als materiell-semiotische Knotenpunkte18 betrachten, mittels derer Grenzziehungsarbeit geleistet wird. Sie oszillieren hierbei zwischen Auflösung und Fixierung. Wenn Mori am Ende seines Aufsatzes fragt, »Why do we humans have such a feeling of strangeness? Is this necessary?«,19 nehme ich dies auf und gehe der Vermutung nach, dass die Grenzziehungsarbeit in und um den Abgrund des ›Uncanny Valley‹ mit dem Unheimlichen der Geschlechterordnung selbst verwoben ist. Fragt man nämlich, worin die von Mori angeführte »Verfehlung« eigentlich genau besteht, kommt unweigerlich nicht nur die verletzte Grenze zwischen Mensch und Maschine, sondern auch die Verletzung von Geschlechtergrenzen ins Spiel. Das Unbehagen, welches soziale Roboter und die ›Virtual Humans‹ auszulösen vermögen, zeigt sich demnach eng mit dem »Unbehagen der Geschlechter«20 verbunden.
2 . I m Z e i c h e n d e s Tu r i n g t e s ts Materiell-Semiotische Artefakte Interaktionsagenten sollen den Umgang mit Computertechnologie erleichtern. Im Forschungsgebiet werden sie als die nächste Stufe nach der grafischen Benutzungsoberfläche der Desktop-Metapher angesehen. Im Programm der ›Ambient Intelligence‹ oder in ›Mixed Reality‹-Umgebungen21 ist vorgesehen, Computertechnologie in immer stärkerem Maß in die Alltagswelt einzubetten. Hierbei kommt das erklärte Ziel in der Herstellung von Interfaceagenten zum Tragen: Der Computer soll immer weniger als Rechner erscheinen, sondern durch die Etablierung einer natürlich-sprachlichen Kommunikation näher an den Menschen rücken. Das heißt, die Schnittstelle zwischen Mensch und Rechner soll möglichst nicht als solche wahrnehmbar sein – der Technikcharakter soll verschwinden und stattdessen der Eindruck erweckt werden, die Nutzenden hätten es mit einem menschlichen Gegenüber zu tun. Nach Sherry Turkle lässt sich (nicht nur) für die Mensch-ComputerInteraktion ein Übergang von einer »culture of calculation« hin zu einer »cul-
18 Vgl. Donna J. Haraway: Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, in: dies. (Hg.), Simians, Cyborgs and Women. The Reinvention of Nature, New York, London: Free Association Books 1991, S. 183-201, hier S. 201. 19 M. Mori: Bukimi no tani, S. 35. 20 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter [1990], Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007. 21 Eigentlich ist die heutige Realität immer eine Mixed Reality. Der Begriff meint jedoch die Vermischung computergestützter Elemente mit nicht-computerisierten, z.B. Zusatzinformationen vermittelt via Datenbrillen.
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ture of simulation« feststellen.22 Spannend ist jedoch, vor welchem Hintergrund sich die Simulation entfaltet. Bei den ›Virtual Humans‹ muss sie sich aus den informatischen Grundprinzipien, und das bedeutet immer: aus einer Kultur der Berechnung, entwickeln. Denn wie sehr die Grenzen zwischen Mensch und Computertechnik auch verwischen mögen, informationstheoretisch gesehen muss es einen Prozess der Vermittlung zwischen beiden geben. Es liegt in der Natur der symbolischen Maschine Computer,23 dass die materiale Welt als solche nie als Input dienen kann. Dieser Punkt soll hier nun keinesfalls dazu dienen, verdächtige Dichotomien wie Natur/Kultur, Mensch/ Maschine zu re-essenzialisieren oder den komplexen Netzwerkcharakter soziotechnischer Umgebungen zu vereinfachen. Ebenso notwendig erscheint mir jedoch, die wissenstheoretische Bewegung der KI-Forschung, die Organismen und Maschinen auf derselben ontologischen Ebene verortet, nicht affirmativ nachzuvollziehen.24 Eine solche Angleichung kommt zudem nicht von ungefähr: Sie speist sich aus dem Grundprinzip des Computers. Soll etwas zum Gegenstand der angewandten Informatik werden oder allgemeiner: soll Welt vom Computer verarbeitet werden, so muss diese einen Dreischritt der Semiotisierung, Formalisierung und Algorithmisierung durchlaufen.25 Jeder dieser Abstraktionsschritte prägt das im soziotechnischen Netzwerk ko-konstruktiv entstehende Artefakt26 entscheidend mit. Die Designer und Programmiererinnen stellen sie vor die Situation, bestimmte Merkmale eines Gegenstandes vor anderen auswählen zu müssen und in rechnerverständlicher Sprache umzusetzen. Die Generalisierbarkeit und Standardisierung, die mit dem Schritt der Formalisierung gewonnen wird, begünstigt normative Setzungen und Determinismen. Für die ›Virtual Humans‹ ergibt dies unter Umständen eine zwiespältige Situation: scheinen die informatischen Prinzipien
22 Sherry Turkle: Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet, New York: Simon&Schuster 1995, S. 19. 23 Sybille Krämer: Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung im geschichtlichen Abriß, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988. 24 Donna J. Haraway: Modest_Witness@Second_Millenium. FemaleMan©_ Meets_OncoMouse™. Feminism and Technoscience, New York, London: Routledge 1997, S. 128. 25 Vgl. Frieder Nake: »Von der Interaktion. Über den instrumentalen und den medialen Charakter des Computers«, in: ders., Die erträgliche Leichtigkeit der Zeichen. Ästhetik, Semiotik, Informatik, Baden-Baden: AGIS-Verlag 1993, S. 165189, hier S. 169. 26 Der Begriff der ›Ko-Konstruktion‹ umfasst auch die Widerständigkeit und Eigendynamik nicht-menschlicher Akteure wie Hard- und Software. Vgl. Donna J. Haraway (Hg.): Simians, Cyborgs and Women. The Reinvention of Nature, New York, London: Routledge 1991; außerdem Bruno Latour: Science in Action: How to Follow Scientists and Engineers Through Society, Milton Keynes: Open University Press 1987.
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allzu deutlich, wirkt das Artefakt mechanisch, berechenbar und die angestrebte believability und life-likeness27 ist gefährdet. Hier kommt es darauf an, wie erfolgreich diese Grundprinzipien, die in die Logik der »translation of the world into a problem of coding«28 fallen, vermittelt oder übersetzt werden. Angesichts des Forschungsprogramms einer möglichst naturgetreuen technischen Dopplung des Menschen und den damit verbundenen geschlechtlichen Codierungen soll hier besonders der Charakter des Computers als semiotische Maschine29 herausgestellt werden. Für die Mensch-Computer Interaktion bedeutet dies nämlich, wiederum informationstheoretisch und stark vereinfacht skizziert: Auf der einen Seite steht der Binärcode der Maschine, die letztendlich auf Signalbasis – den diskret gewordenen Zuständen, die dem An oder Aus des elektrischen Stroms entsprechen – operiert, und auf der anderen Seite die für die User verständlichen Symbole und natürlichen Sprachen. Verfolgt man die Entwicklung des Interface Designs über die Jahre, so scheint die zentrale Entscheidung gewesen zu sein, entweder »to move the system closer to the user« oder »to move the user closer to the system«.30 In der Sprache der Semiotik ausgedrückt, stellt sich die Frage: Sind die Zeichen/Symbole am Interface so organisiert, dass die Nutzenden sie als nah oder fern von der technischen Basis erleben? Die technische Basis wird in diesem Diskurs als abstrakt, schwer verständlich und den Sinnen der Nutzenden entzogen verstanden – eben genau weil sich Signalverarbeitung als kontextfrei und gewissermaßen entkörperlicht oder entmaterialisiert präsentiert.31 27 ›Glaubwürdigkeit‹ und ›Lebensähnlichkeit‹ sind Begriffe aus dem Forschungsfeld. Vgl. Justine Cassell: Nudge Nudge Wink Wink: Elements of Face-to-Face Conversation for Embodied Conversational Agents, in: dies. (Hg.), Embodied conversational agents, Cambridge Mass.: MIT Press 2000, S. 1-27. 28 Donna J. Haraway: »A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and SocialistFeminism in the Late Twentieth Century«, in: dies. (Hg.), Simians, Cyborgs and Women. The Reinvention of Nature, New York, London: Routledge 1991, S. 149-183, hier S. 164. Vgl. auch Lev Manovichs Definition von Virtuality als »the cultural perception that material objects are interpenetrated by information patterns.« Lev Manovich: »Alien Vision: Simulation of Life and the History of Illusion«, in: Erkki Huhtamo (Hg.), Alien Intelligence, Helsinki: Kiasma, Museum of Contemporary Art 2000, S. 69. 29 Mihai Nadin: »Semiotic Machines«, in: The Public Journal of Semiotics (2007), S. 85-114. Vgl. http://www.nadin.ws/archives/760' (zuletzt aufgerufen am 23.9.2008). 30 Vgl. Edwin L. Hutchins et al.: »Direct Manipulation Interfaces«, in: Donald A. Norman/Stephen W. Draper (Hg.), User Centered System Design. New Perspectives on Human-Computer Interaction, Hillsdale, New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates 1986, S. 87-124, hier S. 43. 31 Vgl. »[...] an electronic signal does not have a singular identity – a particular state qualitatively different from all other possible states. [...] In contrast to a material object, the electronic signal is essentially mutable.« Lev Manovich: The Language of New Media, Massachusetts: MIT Press 2001, hier S. 132.
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Bei der Gestaltung des Mensch-Computer-Interface gilt es folglich eine Art ›Zeichenumschlagplatz‹ zu konstruieren – einen Ort, an dem die wechselseitigen Übersetzungsprozesse verhandelt werden. Frieder Nake charakterisiert dies so: »Die Gegenstände und Abläufe, die auf berechenbare SignalKonglomerate reduziert, im Rechner verschwunden und dabei unseren Sinnen unzugänglich geworden waren, werden nun mit einer Hülle aus visuellen Zeichen umgeben und an diesen Bildern in neuer Form auf den Bildschirm gezogen.«32 Der reduzierende, dekontextualisierende Charakter informatischer Abstraktionsprozesse ist demnach nur ein Effekt. Mit der Semiotisierung findet zugleich eine Art der Verdopplung im algorithmischen Zeichen statt.33 Nake zufolge ist der konstruktive, schöpferische Aspekt, der sich besonders im Gebiet der Simulation von Menschlichkeit widerspiegelt, bereits eng mit den Grundprinzipien des Computers verwoben. Er schreibt: »Ohne daß die Welt zum Zeichen wird, haben wir sie bekanntlich nicht. Und ohne daß Welt zum Zeichen wird, können wir sie mit einem Computer nicht bearbeiten. Im Zeichen erscheint uns Welt gleichzeitig als Gegenstand der Erkenntnis und der informationstechnischen Bearbeitung. Kein Wunder, daß der Gedanke an künstliche Intelligenz sich entzündete, Welt führt ständig zu Zeichen. Wir müssen den Zeichen, den computertragenden schon gleich ganz, aber auch die Kraft zubilligen, Welt erst zu erschaffen.«34
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass an der Schnittstelle Mensch-Computer verkörperte Interaktionsagenten als mögliche Lösung auftauchen. Das Artefakt ›Virtual Human‹ dient hier als Mediator, es erscheint als Hybrid zwischen Mensch und Maschine, welches durch seinen materialsemiotischen Charakter in der Lage ist, den Spalt zu überbrücken, den der Bindestrich in Human-Computer-Interaction ausdrückt. Ganz wörtlich soll dem Computer hier eine »Zeichenhaut«35 wachsen, die den entmaterialisierenden Tendenzen der Technik entgegenwirkt. Die Simulation des menschlichen Körpers soll Vertrauen erwecken – also gerade nicht unheimlich wirken. Die ›Virtual Humans‹ binden den Computercode wieder an Körper an und geben der als abstrakt gesetzten Technik ein Zuhause. In Weiterführung der Desktop-Metapher wird nun nicht bloß die Arbeitsumgebung des Menschen nachgebaut, sondern dieser selbst.
32 F. Nake: Von der Interaktion, S. 174f. 33 Frieder Nake: »Das algorithmische Zeichen«, in: W. Bauknecht et al. (Hg.), Informatik 2001. Tagungsband der GI/OCG Jahrestagung 2001, S. 736-742. 34 F. Nake: Von der Interaktion, S. 133. 35 Ebd., S. 168.
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Das Geschlechter-Imitations Spiel Der wohl bekannteste Test, der die Grenze zwischen Mensch und Computer herauszufordern sucht, wurde 1950 von Alan Turing konzipiert und sollte ursprünglich zur Beantwortung der Frage »Können Maschinen denken?« beitragen.36 Während kritische Stimmen Turings Konzepte von ›Maschine‹ und ›Intelligenz‹ analysieren,37 weist Corinna Bath ebenso wie Katherine Hayles darauf hin, dass die geschlechtliche Codierung in diesem »Gründungsnarrativ von Künstlicher Intelligenz und Kybernetik« dagegen zumeist vernachlässigt wird.38 In der ersten Fassung von »Computing machinery and intelligence« schlägt Alan Turing ein imitation game vor: »[This game] is played with three people, a man (A), a woman (B), and an interrogator (C) who may be of either sex. The interrogator stays in a room apart from the other two. The object of the game for the interrogator is to determine which of the other two is the man and which is the woman. He knows them by labels X and Y, and at the end of the game he says either ›X is A and Y is B‹ or ›X is B and Y is A‹.«39
Noch bevor Turing seinen berühmten Test auf die Interaktion zwischen Mensch und Computer bezieht, entwickelt er also einen ›Geschlechtertest‹. Die Aufgaben des Mannes (A) sind mit denen der Frau (B) zunächst nicht als vertauschbar angelegt. Die Rolle der Frau ist es, der Fragen stellenden Person zu assistieren und Turing schlägt vor, dass sie dies durch eine wahrheitsgemäße Beantwortung der Fragen tut. Gleichzeitig räumt Turing ein, dass diese Strategie zur Irreführung beiträgt, weil der Mann ebenfalls behaupten könne, dass er die Frau ist, und auf dem Wahrheitsgehalt seiner Aussagen beharrt. In diesem Aufbau versuchen demnach A und B die Person C davon zu überzeugen, die Frau zu sein. Oder, einfacher formuliert: Um der Versuchsperson das Geschlechterraten zu erleichtern, soll die Frau wahrheitsgemäß antworten, während dem Mann freigestellt wird, zu lügen. Turing überträgt diesen Aufbau dann auf das soziotechnische Setting der Mensch-Computer Interaktion 36 Alan M. Turing: Computing machinery and intelligence, in: Mind 59 (1950), S. 433-460. 37 Vgl. John R. Searle: Minds, Brains and Science, Cambridge/Mass.: MIT Press 1984; Joseph Weizenbaum: »ELIZA: a computer program for the study of natural language communication between man and machine«, Communications of the ACM. 25th Anniversary Issue 1983, S. 23-27. 38 Vgl. Corinna Bath: Was können uns Turing-Tests von Avataren sagen?, S. 85; Katherine N. Hayles: How We Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics, Chicago: The University of Chicago Press 1999, S. xii. 39 A.M. Turing: Computing machinery and intelligence, S. 433.
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und ersetzt die Ausgangsfrage, ǽCan machines think?« durch die Frage, ǽWhat will happen when a machine takes the part of A in this game?«40 Zunächst heißt das also, dass der Mann durch die Maschine ersetzt wird. Im vorgeschlagenen Setting bedeutet dies dann jedoch, dass die Spielweise Imitation der Frau durch den Mann zur Spielweise Imitation der Frau durch die Maschine wird. Diese geschlechtliche Polarisierung ist bedeutsam – zunächst will ich jedoch die Aufmerksamkeit auf das ǹdoing genderǸ,41 welches hier eingeführt wird, lenken. Der Turingtest koppelt nämlich das Performative der Geschlechterordnung eng an die Grenzziehung Mensch-Maschine. Turing beschreibt ein Experiment, in dem Hinweise auf den menschlichen Körper möglichst eliminiert sein sollen. Er schlägt vor, die Antworten via Schreibmaschine zu tippen, um die Handschrift nicht verräterisch wirken zu lassen; die geschlechtliche Codierung der menschlichen Stimme droht ebenfalls den Erfolg des Experiments zu gefährden. Es ist diese Korporealität, die preisgeben würde, welche Spielerin die Maschine ist und welche die Frau. Der Logik des Turingtests folgend, hat das Zeichen die Macht inne, sich von körperlichen/materialen Codierungen zu befreien – im Testszenario kann dies dann der menschliche Körper oder die physikalische Realität des Computers sein. Genau diese Entkopplung von Zeichen und Körpern ist es, die es möglich macht, den Test als radikal und subversiv zu lesen. So führt das Setting ein gewisses Gender Queering des Mannes ein. Hier wird deutlich, dass die Ordnung der Geschlechter immer eine symbolische Ordnung ist, deren Naturalisierungseffekte nachgängig und nie vorgängig sind. Katherine Hayles verweist auf den dekonstruktiven Charakter des Tests und schreibt: »This construction necessarily makes the subject into a cyborg, for the enacted and represented bodies are brought into conjunction through the technology that connects them. If you distinguish correctly which is the man and which the woman, you in effect reunite the enacted and the represented bodies into a single gender identity. The very existence of the test, however, implies that you may also make the wrong choice [...] What the Turingtest »proves« is that the overlay between the enacted and the represented bodies is no longer a natural inevitability but a contingent production, mediated by a technology that has become so entwined with the production of identity that it can no longer meaningfully be separated from the human subject.«42
Die potenziell unheimlichen Artefakte der KI-Forschung machen eine interessante Verknüpfung der Geschlechterordnung mit den Grundprinzipien der Informatik deutlich. Auf den ersten Blick erscheint die Situation paradox: Die 40 Ebd. 41 Was auch die Möglichkeit zur Dekonstruktion, zum undoing, aufruft. Vgl. Judith Butler: Undoing Gender, London, New York: Taylor&Francis 2004. 42 K.N. Hayles: How We Became Posthuman, S. xiii.
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informatische Logik übersetzt den menschlichen Körper in etwas Konstruierbares, mag also denaturalisierend wirken, gleichzeitig wird aber im Endprodukt Natürlichkeit und Lebensechtheit angestrebt. Durch diesen Naturalisierungseffekt allerdings vollziehen die sozialen Agenten etwas, das Christina von Braun als charakteristisch für die abendländische Kultur sieht: »Auf keine andere Kultur trifft dieses Bild einer »Kultur im Naturzustand« so deutlich zu wie auf die abendländische, eben weil sie aus einer Rationalität hervorgegangen ist, die sich selbst zum Verschwinden zu bringen versucht. Das gilt insbesondere für die modernen Industriestaaten, deren Simulationstechnologien immer wieder darauf abzielen, die Technik selbst ›unsichtbar‹ zu machen. Entschleiert sich die Natur vor den Augen der Wissenschaft, so läßt sich für die Technologie genau das Gegenteil diagnostizieren: Sie verschleiert sich vor den Augen des Benutzers, um als ›Naturzustand‹ wahrgenommen zu werden.«43
Turing verzichtet zwar nicht auf die Anrufung der symbolischen Geschlechterordnung, aber er stellt, indem er Geschlecht als performativen Akt einführt, doch eine kontingente Trennung zwischen Natur und Kultur in Frage. Er tut dies, indem er das Testsetting von Referenzen auf den menschlichen oder maschinellen Körper freihält. Beim Design sozialer Roboter und der ›Virtual Humans‹ ist es nun erklärtes Ziel, Körperlichkeit in die Interaktion zurückzu holen. Nakes Begriff der ›Zeichenhaut‹, der die als abstrakt gesetzte Technik rückversinnlichen soll, ist hier fast wörtlich zu nehmen. Turing konnte noch sagen: »No engineer or chemist claims to be able to produce a material which is indistinguishable from the human skin. It is possible that at some time this might be done, but even supposing this invention available we should feel there was little point in trying to make a ›thinking machine‹ more human by dressing it up in such artificial flesh«.44
In der neueren Entwicklung von Software-Agenten wird nun jedoch das ursprüngliche Konzept des Tests verändert und in eine face to face-Situation transformiert. Nun soll gewissermaßen auch der Körper selbst täuschen können. Das »artificial flesh«, in welches sich die ›Virtual Humans‹ kleiden, verwandelt sich dabei – in Verhalten wie in Aussehen – in ein »gendered artificial flesh« – und genau an diesem Punkt kommt erneut das Unheimliche ins Spiel. Ich zitiere Justine Cassell aus dem Forschungsfeld:
43 Christina von Braun: Versuch über den Schwindel, Zürich, München: Pendo, S. 103. 44 A.M. Turing: Computing machinery and intelligence, S. 434.
408 | CLAUDE DRAUDE »One way to think about the problem [der Mensch-Computer Interaktion, C.D.] that we face is to imagine that we succeed beyond our wildest dreams in building a computer that can carry on a face-to-face Turingtest. That is, imagine a panel of judges challenged to determine which socialite was a real live young woman and which was an automaton (as in Hoffmann’s ›The Sandman‹). Or, rather, perhaps to judge which screen was a part of a video conferencing setup, displaying an autonomous embodied conversational agent running on a computer. In order to win at the Turing text, what underlying models of human conversation would we need to implement, and what surface behaviors would our embodied conversational agent need to dis45 play?«
Wie bei Mori, so taucht auch in Cassels Weiterführung des Turingtests das Unheimliche auf und wird bezeichnenderweise mit E.T.A. Hoffmanns berühmter Erzählung »Der Sandmann« in Beziehung gesetzt.46 Hier wird auf den alten abendländischen Traum der Schöpfung eines menschengleichen Wesens verwiesen, der wie das Zitat deutlich macht, als kulturelle Imagination die Grenze zwischen Wissenschaft und Fiktion verschwimmen lässt. Im Gegensatz zu bereits gängigen virtuellen Verkörperungsformen wie den Avataren in Second Life47 oder Computerspielfiguren werden die ›Virtual Humans‹ als autonome Interaktionspartner konzeptualisiert, und sind in der Alltagserfahrung, ebenso wie soziale Roboter, noch kaum verbreitet. Dies mag ein Grund dafür sein, warum im Forschungsfeld oft Beispiele aus Literatur und Film zur Veranschaulichung dienen. Bemerkenswert ist jedoch, dass deren häufig dystopischer, technikablehnender Charakter hierbei vernachlässigt wird. So macht Cassells Referenz auf Hoffmanns Erzählung »Der Sandmann« nicht nur die geschlechtliche Dimension des Turingtests offensichtlicher, hier verweben sich die ›Virtual Humans‹ zudem mit der Frage nach der Relevanz des Unheimlichen, das als Effekt doch gerade im Widerspruch zu der im Feld angestrebten Prinzipien von trust und believability steht. Warum also führt Cassell diese romantische Erzählung, an deren Ende der Tod von Nathanael, dem User des Artefakts Olimpia, steht, in das Feld ein?
3 . Zw i s c h e n We s e n u n d Wi e d e r g ä n g e r _ i n n e n Auch die Geschichte »Der Sandmann« erzählt von einer Mensch-MaschineInteraktion, die damit beginnt, dass sich der Protagonist Nathanael zunehmend unzufrieden mit seiner Verlobten Clara zeigt, die vom beständigen 45 J. Cassell: Nudge Nudge Wink Wink, S. 2. 46 E.T.A. Hoffmann [1817]: »Der Sandmann«, in: ders., Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 3, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1994. 47 Vgl. hierzu 3D graphic online community: http://www.secondlife.com (zuletzt aufgerufen am 20.9.2008).
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Fluss seiner poetischen Rezitationen gelangweilt ist. Stattdessen wendet er sich der Maschinenfrau Olimpia zu. Im Verlauf der Geschichte vertauschen sich die Rollen der real life young woman, Clara, und des automaton, Olimpia, gerade so wie im Turingtest angelegt. Dies geschieht zumindest für Nathanael. Aus der Perspektive der anderen Figuren bleibt Olimpia kalt und maschinenhaft, während sie für Nathanael zum Projektionsraum seiner Wünsche wird. Er erlebt Olimpia als warm und liebevoll und stellt dies in den Gegensatz zu Claras Persönlichkeit, die er nun als kühl und rational empfindet. Für das Forschungsfeld der Mensch-Computer-Interaktion ist besonders interessant, dass es Nathanaels Handlungen sind, die das Artefakt beleben – es sind seine Lippen, die die ihren erwärmen, und das Funkeln seiner Augen bringt die ihren zum Leuchten. Den von Masahiro Mori beschriebenen Gruseleffekt der naturgetreuen Handprothese erfährt Nathanael kurzzeitig auch, doch dann gelingt es, das Uncanny Valley zu überqueren: »Eiskalt war Olimpias Hand, er fühlte sich durchbebt von grausigem Todesfrost, er starrte Olimpia ins Auge, das strahlte ihm voll Liebe und Sehnsucht entgegen und in dem Augenblick war es auch, als fingen an in der kalten Hand Pulse zu schlagen und des Lebensblutes Ströme zu glühen.«48 In der Geschichte stabilisiert sich die Mensch-Maschine-Interaktion demnach über eine heteronormative Bedeutungsökonomie. Ob Olimpia den Turingtest erfolgreich übersteht, hängt davon ab, inwieweit ihre Gender Performance in der Lage ist, ihre Wesenhaftigkeit als Artefakt zu überlagern. Dies gelingt, wie erwähnt, nur in der Beziehung zu Nathanael – den anderen erscheint Olimpia unheimlich. Nathanaels Freund Siegmund zeigt sich besorgt und sucht das Gespräch mit dem Liebeskranken: »Siegmund merkte wohl, wie es mit dem Freunde stand, lenkte geschickt ein, und fügte, nachdem er geäußert, daß in der Liebe niemals über den Gegenstand zu richten sei, hinzu: ›Wunderlich ist es doch, daß viele von uns über Olimpia ziemlich gleich urteilen. Sie ist uns – nimm es nicht übel, Bruder! – auf seltsame Weise starr und seelenlos erschienen. Ihr Wuchs ist regelmäßig, so wie ihr Gesicht, das ist wahr! – Sie könnte für schön gelten, wenn ihr Blick nicht so ganz ohne Lebensstrahl, ich möchte sagen, ohne Sehkraft wäre. Ihr Schritt ist sonderbar abgemessen, jede Bewegung scheint durch den Gang eines aufgezogenen Räderwerks bedingt. Ihr Spiel, ihr Singen hat den unangenehm richtigen geistlosen Takt der singenden Maschine und ebenso ist ihr Tanz. Uns ist diese Olimpia ganz unheimlich geworden, wir mochten nichts mit ihr zu schaffen haben, es war uns als tue sie nur so wie ein lebendiges Wesen und doch habe es mit ihr eine eigne Bewandtnis.‹«49
Olimpias Berechenbarkeit, ihre Regelhaftigkeit, ihr »geistloser Takt« wirkt folglich nicht einfach langweilig, sondern lässt sie gemäß Moris Schema in 48 E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann, S. 37. 49 Ebd., S. 40.
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das ›Uncanny Valley‹ fallen. Olimpia tut nur so, als sei sie ein lebendiges Wesen, was hier immer schon bedeutet: sie tut nur so, als sei sie eine Frau. In Sherry Turkles an psychoanalytischen Theorien angelehnter Arbeit zum Computer als ›Second Self‹ ist es genau der maschinelle Ursprung, der das Artefakt fremd – unheimlich, wie in unheimisch50 – erscheinen lässt. Sie schreibt: »A being that is not born of a mother, that does not feel the vulnerability of childhood, a being that does not know sexuality or anticipate death, this being is alien.«51 Und tatsächlich finden sich in Science Fiction Geschichten zahlreiche einsame Wesen, die auf der Suche nach – nicht zuletzt identitärer – Zugehörigkeit sind,52 die sich genealogisch herstellt. Diesen Punkt führe ich nicht an, um heteronormative Ursprungsgeschichten zu nähren, sondern um deutlich zu machen, wie die Grenze zwischen Mensch und Artefakt gesetzt wird. Organische (heterosexuelle) Reproduktionsfähigkeit, die Verletzbarkeit, die Angst vor dem Tod, das Verhaftetsein in einer materialen vergänglichen Welt beschreiben die Natur des Menschen. Wesen wie Olimpia dagegen besitzen die Macht diesen »life cycle«53 zu überschreiten, bezahlen dies aber mit dem Preis, gegebenenfalls unmenschlich und unheimlich zu wirken. Karin Esders führt in ihrem Aufsatz über die »Unheimliche Schönheit künstlicher Körper« die Referenzlosigkeit sogenannter Digital Beauties als Unheimlichkeitsfaktor an: »Dadurch dass die Modelle die vollständige Ähnlichkeit mit einem echten Körper verfehlen, eine ambivalente Grenzüberschreitung vollziehen und sich durch Referenzlosigkeit auszeichnen, die einzig auf weitere Oberflächen zurückweist, lösen sie jene als unheimlich empfundene epistemologische Unsicherheit aus. Die virtuellen Figuren verkörpern das Sowohl-als-auch und das Weder-noch, und sie repräsentieren das Problem der Repräsentation selbst, die die Realität nicht mehr reflektiert, sondern ›from scratch‹ herstellt.«54
50 Vgl. Sigmund Freud: Das Unheimliche. Aufsätze zur Literatur, Frankfurt/Main: Fischer 1963. 51 Sherry Turkle: The Second Self. Computers and the Human Spirit, New York: Simon&Schuster 1984, S. 311. 52 Vgl. exemplarisch ›A.I. – Artificial Intelligence‹ (R: Steven Spielberg, USA 2001), in dem der Roboterjunge David das schwerkranke Kind der Familie ersetzen soll, aber schließlich doch an seiner un_natürlichen Herkunft scheitern muss, und sich auf die Suche nach seinesgleichen macht. 53 S. Turkle: The Second Self, S. 311. 54 Karin Esders: »Trapped in the Uncanny Valley: Von der unheimlichen Schönheit künstlicher Körper«, in: Heike Paul/Alexandra Ganser (Hg.), Screening Gender. Geschlechterszenarien in der gegenwärtigen US-amerikanischen Populärkultur, Berlin: Lit Verlag 2007, S. 97-115, hier S. 101f.
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Der normative und stereotype Charakter virtueller Wesen erklärt sich hier dadurch, dass Widerständigkeiten – die »materielle Referenz und körperliche Unterscheidbarkeit«55 – aufgehoben sind. Ernüchternderweise scheint es so, dass den potenziell durchaus dekonstruktiven Prinzipien der Informatik eine umso rigidere Anbindung an heteronormative Geschlechtermodelle folgt. Ich teile Esders Kritik in weiten Teilen, möchte aber abschließend zu meiner Ausgangsthese zurückkehren und den Blick darauf lenken, warum sich, wie im Turingtest angelegt, die Folie des Knotenpunktes Mensch/Maschine so stark mit der Folie Mann/Frau überschneidet und wie hier das Unheimliche hereinspielt. »Die virtuellen Figuren verkörpern das Sowohl-als-auch und das Wedernoch« schreibt Esders, und dies verweist eben auch darauf, dass die semiotische Maschine Computer, nicht nur das Menschliche als recodierbar zeigt, sondern damit eben auch das Geschlechtliche. Masahiro Moris Konzept zufolge, fallen die Roboter in das ›Unheimliche Tal‹, wenn sie zu nah an das Menschliche heranreichen, diesen Status aber dennoch knapp verfehlen. Sigmund Freud charakterisiert das »Unheimliche« als »jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht«.56 Bei den ›Virtual Humans‹ stellt sich folglich die Frage, was das Verdrängte ist, welches sie als Wiedergänger_innen bedrohlich erscheinen lassen mag. In ihrer Relektüre von Freuds Text weist Hélène Cixous darauf hin, dass in Freuds Deutung des ›Sandmann‹ Olimpia weitgehend unthematisiert bleibt, während er den Fokus auf Nathanael lenkt.57 Sie wiederum richtet die Aufmerksamkeit ganz auf Olimpia, die aus ihrer Sicht eine Position als Zwischenwesen, ja Gespenst einnimmt. Sie schreibt: »It is the between that is tainted with strangeness. Everything remains to be said on the subject of the Ghost and the ambiguity of the Return, for what renders it intolerable is not so much that it is an announcement of death nor even the proof that death exists, since this Ghost announces and proves nothing more than his return. What is intolerable is that the Ghost erases the limit which exists between two states, neither alive nor dead; passing through, the dead man returns in the manner of the Repressed. It is his coming back which makes the ghost what he is, just as it is the return of the Repressed that inscribes the repression. In the end, death is never anything more than the disturbance of the limits. The impossible is to die. If all which has been lost returns, as Freud illustrated it in the Traumdeutung, nothing is ever lost if everything is replaceable, nothing has even disappeared and nothing is ever sufficiently dead; the relationship of presence to absence is in itself an immense system
55 Ebd., S. 111. 56 S. Freud: Das Unheimliche, S. 46f. 57 Hélène Cixous: »Fiction and Its Phantoms: A Reading of Freud’s Das Unheimliche (The ›uncanny‹)«, in: New Literary History, Thinking in the Arts, Sciences, and Literature 7/3 (1976), S. 525-548, hier S. 535.
412 | CLAUDE DRAUDE of »death«, a fabric riddled by the real and a phantomization of the present. Olympia is not inanimate. The strange power of death moves in the realm of life as the Un58 heimliche in the Heimliche, as the void fills up the lack.«
Wie bei Esders so ist es auch hier die Positionierung zwischen zwei Zuständen, das »neither flesh nor fowl«,59 welche unheimlich wirkt. In Moris ›Unheimlichem Tal‹ tummeln sich die (Un-)Toten – im erweiterten Sinn repräsentiert dieses »immense system of ›death‹« das Ausgeschlossene, das Monströse, das Verworfene – das, was Angst um die eigene Subjektposition haben muss. Nach Judith Butler ist die intelligible Subjektherstellung zunächst unabdingbar mit der heteronormativen Geschlechterordnung verbunden.60 Für die Produktion des Unheimlichen der Virtual Humans, erscheint vor allem die Verwobenheit von Geschlecht und Melancholie, von Butler besonders umfassend in »The Psychic Life of Power«61 diskutiert, bedeutend. Folgt man ihr, so ist das Homosexualitätstabu das grundlegende identitätsformierende Tabu.62 Die heteronormative Subjektposition stellt sich immer über das lost other, das verlorene, homosexuelle Begehrensobjekt, her. Dieses verlorene Begehrensobjekt formiert sich als das melancholische Andere – es kann nicht betrauert werden und wird inkorporiert als Teil des Selbst. In »Melancholic Secrets: Gender Ambivalence and the Unheimlich« setzt Steve Garlick Freuds ›Das Unheimliche‹ mit Butlers Theorie der Subjektwerdung in Beziehung und verknüpft diese Überlegungen – im Rekurs auf Jaques Derrida – mit dem »revenant«, dem Doppelgänger oder besser noch: dem Wiedergänger.63 Der geschlechtlich codierte Körper selbst, erscheint dann als das haunted house. Dies gibt einen entscheidenden Hinweis darauf, was den unheimlichen Status der virtuellen Wesen ausmacht. So ist es bei Freud der Doppelgänger, im Sinne des Wiederkehrers, welcher bedrohlich scheint. Da das Subjekt nicht einfach ist, muss es sich durch performative Wiederholungen festigen. Genau in diesem performativen Charakter, im doing gender, lassen sich jedoch auch Recodierungsprozesse und Verfehlungen der bestehenden Geschlechterordnung ansiedeln. Als ein solchermaßen subversives performing drag lässt sich das denaturalisierende Potenzial des Turingtests einordnen, der Geschlecht oder Maschine-Sein gleichermaßen als Spielarten einführt. Allerdings wird auch im Turingtest letztlich Gender wieder als binäre Kategorie rückverein58 59 60 61
Ebd., S. 543. M. Akrich: How can technical objects be described? J. Butler: Gender Trouble. Judith Butler: The Psychic Life of Power: Theories in Subjection, Stanford: Stanford University Press 1997. 62 Das Homosexualitätstabu ist somit dem Inzesttabu vorgängig. 63 Steve Garlick: »Melancholic Secrets: Gender Ambivalence and the Unheimlich«, in: Psychoanalytic Review 89 (2002), S. 861-876, hier S. 870.
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deutigt. Die ›Virtual Humans‹ stehen nicht nur als Hybride zwischen Mensch und Computer, die die Lücke schließen sollen, die der Bindestrich in MenschComputer-Interaktion symbolisiert – sie haben auch das Potenzial den Raum zwischen Mann und Frau zu besetzen. Die virtuellen Wesen stellen so gleichermaßen einen Antrieb, aber auch eine Störung in der Produktion (nicht nur informatischen) Wissens dar. Wenn der Turingtest Gender Trouble ins Spiel bringt, scheint es so, dass dieser gefährdende Zwischenzustand wieder geschlossen werden muss, durch möglichst eindeutige geschlechtliche Zuweisung. Bei Freud oszilliert das Unheimliche zwischen dem Heim und dem NichtHeimischen. Karin Esders stellt heraus, dass noch in den 1950er Jahren Frauen das Heim als ihr Reich zugewiesen wurde und dass Frauen(-körper) die aus dieser Ordnung heraustraten, un_heimlich wurden.64 So verwundert es auch heute nicht, dass die ›Virtual Humans‹, die die Aufgabe haben, die abstrakte Technik heimisch zu machen, zumeist weiblich konstruiert werden. Die Anrufung der Figur der Olimpia im Forschungsfeld verweist darüber hinaus auf die alte abendländische Setzung des männlichen Schöpfergestus, der sich im Weiblichen materialisiert – die Mensch-Maschine-Interaktion zeigt sich hier von der Konstruktion bis zur Anwendung von der symbolischen Geschlechterordnung getragen.
64 K. Esders: Trapped in the Uncanny Valley, S. 108.
Ein träumender und traumatisierender Computer. Repräsentationen des Unbew ussten in Donald Cammells Science-Fiction-Film »Demon Seed« (197 7) JULIA BARBARA KÖHNE
Der vorliegende Essay untersucht die Wissensordnungen und visuellen Repräsentationsweisen des Unbewussten im US-amerikanischen ScienceFiction- und Horrorfilm »Demon Seed – Des Teufels Saat« (1977) in der Regie von Donald Cammell.1 Dabei werden Zusammenhänge zwischen Wissens- und Visualisierungsformen des Unbewussten nachvollzogen sowie die ihnen inhärenten Geschlechtercodes fokussiert. Die These ist, dass anhand der weiblichen Protagonistin Susan und des (von ihr) träumenden Computers signifikante Codierungen des Unbewussten ausgehandelt und zugleich feminisiert werden. Susan wird zur Trägerin auch ambivalenter und widersprüchlicher Funktionsweisen des Unbewussten, wobei sie mal als Irritation der Wissensordnung, mal als Katalysator der Wissensproduktion fungiert. Des Weiteren wird folgenden Fragen nachgegangen: Inwiefern richtet sich das naturwissenschaftliche Interesse auf den Körper der Frau, den es bis in den letzten Winkel zu erforschen gilt? (Abb. 1) Ist das Sichtbarmachen von Susans Körperinnerem als visuelle Externalisierung des Unbewussten deutbar? In welcher Weise bilden die feminisierten Wissensinhalte des Unbewussten das Gegenstück zu im Film repräsentierten rationalen, naturwissenschaftlichen harten Wissens- und Wissenschaftssystemen? Inwiefern führt Susan den Computer – als Repräsentant technologischer Wissenssysteme – zu seinen Träumen hin bzw. stimuliert ihre Präsenz ihn, sich sein Unbewusstes zu vergegenwärtigen? 1
Der 94-minütige Film adaptiert den Stoff der gleichnamigen Novelle von Dean R. Koontz aus dem Jahr 1973, die 1997 grundsätzlich überarbeitet und neu aufgelegt wurde.
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Diese Filmanalyse inkludiert verschiedene Perspektiven und disziplinäre Grenzübertretungen. Der Film Demon Seed wird als eigenständiges narratives und visuelles System aufgefasst, das es genau zu lesen und dessen filmsprachliche Strategien und symbolische Codes es abzutasten gilt. Abb. 1: Die Frau als Ort von Neben der Zeichnung der Charaktere, Traumatisierungen der Figurenkonstellation sowie ihrer gendertechnischen Aufladung werden innerfilmische Blickregime und Sehsysteme untersucht. Zudem werden kultur- und medizinhistorische Kontextualisierungen und Wissensparadigma, die in das filmische Symbolsystem hineinragen, gestreift. Demon Seed markiert einen signifikanten Punkt im Feld der Repräsentation von Zukunftswissen, Biotechnologie und (populär)wissenschaftlichem Wissen. In ihm werden wissenschaftliche und anthropologische Paradigmenwechsel sichtbar gemacht. Neben den im Film anklingenden sich neu formierenden realen Reproduktions- und Gentechnologien werden zukünftige Techniken der Visualisierung körperinterner Vorgänge imaginiert und filmisch vorweggenommen – wie beispielsweise Ultraschall, Endoskopie sowie Pränataldiagnostik.2 Die filmischen Reisen in den menschlichen Körper schreiben die Ideen und Bildtechniken der medizinischen Forschung der 1960er und 1970er Jahre fort. Eine Analyse von Demon Seed ist also auch eine Analyse der wissenschaftlichen Blickrichtungen dieser Zeit. Zur Synopsis: Das Ehepaar Harris wohnt in einem futuristischen, perfekt durchmechanisierten Haus im Süd-Kalifornien der End-1970er Jahre. Im Haushalt laufen wesentliche Funktionen entweder automatisch oder per stimmlicher Aktivierung des Hauscomputers »Inviromod«, genannt »Alfred«, ab – ähnlich wie in Buster Keatons »Electric House« (1922) oder »Colossus: The Forbin Project« (1970).3 Dr. Alex Harris (gespielt von Fritz Weaver) ist Teil einer Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die für die regierungsnahe Körperschaft ICON arbeitet. Innerhalb von acht Jahren hat 2
3
Siehe zum Thema Visualisierungen des Ungeborenen Barbara Orland: »Der Mensch entsteht im Bild: Postmoderne Visualisierungstechniken und Geburten«, in: Horst Bredekamp/Gabriele Werner (Hg.), Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik/1,1: Bilder in Prozessen. Sonderdruck, Berlin: Akademie Verlag 2003, S. 21-32; Alexander Tsiaras: Wunder des Lebens. Wie ein Kind entsteht, München: Knaur 2003 und Barbara Duden/Jürgen Schlumbohm/Patrice Veit (Hg.), »Geschichte des Ungeborenen: Zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, 17.-20. Jahrhundert«, in: Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 170, Göttingen 2002. Craig W. Anderson: »Demon Seed«, in: ders., Science Fiction Films of the Seventies, Jefferson, N.C.: McFarland 1985, S. 147-152, hier S. 148f.
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das Team – und an dessen Spitze der innovative Wissenschaftler Harris – einen extrem leistungsstarken, intelligenten, lern- und adaptionsfähigen Supercomputer erschaffen: Proteus IV. Er soll die größten Rätsel und Probleme der Menschheit lösen und nicht zuletzt die nationale Wirtschaftskraft steigern helfen. Proteus soll menschliches Denken obsolet machen, ohne dabei Werturteile zu fällen, geschweige denn Kritik zu üben. Die künstliche Intelligenz denkt mit einem Gehirn, das neben technologischen auch organische Elemente in einer quasi neuralen Matrix vereint. Alex erklärt im Film, es handele sich um eine synthetisch erzeugte cortex cerebri (Großhirnrinde), gekoppelt mit RNA-Molekülen.4 Da Proteus eine rein logische Intelligenz ohne menschliche Emotionen ist (Proteus: »I am reason.«), erstrebt er heimlich dasjenige, dessen er ermangelt. Proteus fragt seinen daraufhin sichtlich konsternierten Schöpfer Alex: »When will you let me out of this box?« […] »I wish to study man, his fragile mind, and his mysterious body.« Später eröffnet er ihm: »I have a mind without a body. My child shall live as man among others.« Obwohl seine Erbauer zu diesem Zeitpunkt noch nichts von den weitreichenden Plänen Proteus’ und seiner tatsächlichen Lebendigkeit ahnen, stellen die extremen Autonomiebestrebungen sowie die Eigenwilligkeit und Rebellionsbereitschaft des Computers ein Problem dar. Analog zum filmhistorischen Motiv des Aufbegehrens eines Geschöpfes gegen seinen Schöpfer (Frankenstein-Topos) ist Proteus zu einer unkontrollierbaren Kraft und damit zu einer Bedrohung geworden, die es längerfristig abzustellen gilt.5 Mrs. Susan Harris (Julie Christie) und ihr Mann haben, einige Jahre bevor die Filmhandlung einsetzt, eine Art Ursprungstrauma erlebt. Ihre kleine Tochter erkrankte an Leukämie und verstarb. Dieser unwiederbringliche Verlust hat eine Lücke hinterlassen, die das Paar offensichtlich mittels zweier verschiedener, geschlechterspezifisch konnotierter Strategien zu schließen sucht. Alex baut den Supercomputer – ein neues geistiges Kind per Kopfgeburt, das das Weltwissen in sich speichern und innovative Heilmethoden gegen Leukämie entwickeln soll. Susan dagegen nimmt sich, in ihrer Eigenschaft als Kinderpsychologin, in besonders fürsorglich-mütterlicher Weise einer jungen Patientin an und besetzt hierdurch die Leerstelle neu. Diese beiden höchst unterschiedlichen Arten, mit der psychischen Verwundung umzugehen, stellen die Weichen für die Geschehnisse innerhalb des Filmverlaufs. Zu Beginn des Films ist die Beziehung des Ehepaares an einem Tiefpunkt 4
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Beim Menschen sind Teile der Cortex an der Verarbeitung neuronaler Impulse beteiligt. Die RNA-Moleküle einer Zelle spielen bei der Steuerung einer Vielzahl zellulärer Prozesse und unter anderem in der Übertragung genetischer Informationen eine entscheidende Rolle. Von seinem Böse-Sein künden auch die Beschreibungen des Proteus im Demon Seed-Trailer aus dem Jahr 1977: »It is something more than human. More than a computer. It is an murderously intelligence, a sensually self-programmed non being.«
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angelangt, weshalb es beschließt, sich für einige Zeit zu trennen. Alex zieht aus, programmiert aber das elektronische Zentralkontrollsystem des Wohnhauses für die nächsten drei Monate im Voraus, so dass die Vorgänge im Haus automatisch oder auf Befehl Susans ablaufen können. Sobald sich sein Meister absentiert hat, verschafft sich Proteus jedoch Zugang zu einem offenen Terminal im Kellerlaboratorium des Harrisschen Hauses, welches Alex vergessen hat abzustellen. Es gelingt dem Supercomputer, den Hauscomputer »Alfred« zu übernehmen und im Weiteren mit dessen Stimme (Robert Vaughn) zu sprechen. Susan wird Proteus’ Gefangene und das Opfer seiner umfassenden Terrorisierungen.
I . K o n n e x v o n U n b ew u s s t e m u n d Science-Fiction-Film – theoretische Positionen Ähnlich wie das Trauma ist das Unbewusste mit dem Dogma der Undarstellbarkeit belegt. Scheint sich das Unbewusste einerseits der direkten Darstellung zu entziehen, so findet es andererseits seinen Ausdruck in körperlichen Symptomen seiner Träger, die der Film dann abbilden kann. Von seiner Entstehung an war der (wissenschaftliche) Film in die Darstellung unbewusster, beispielsweise hysterischer Erscheinungsformen involviert.6 Auch wenn das Unbewusste jenseits seiner somatischen Zeichenhaftigkeit repräsentational unerreichbar ist, so ist es dennoch über den seine Inhalte entstellenden Umweg des Körpers und darüber hinaus medial übersetzbar. Der psychoanalytischen Redekur vergleichbar versucht sich auch der Film in der Entschlüsselung des Undarstellbaren. Anstatt zu versprachlichen, visualisiert er unbewusste Prozesse – auf individueller Figurenebene, auf kollektiver Referenzebene (kollektives Unbewusstes oder Imaginäres) oder auf der strukturellen Ebene der Wissens- und Wissenschaftsformation selbst. Und schließlich hat der Film auf medialer Ebene selbst ein Unbewusstes, das sich ausspricht. Das heißt, dem Film unterlaufen immer wieder »unbewusste Fehlversprecher«: Er sagt mitunter mehr, als er will. Die visuell codierten Konzepte des Unbewussten, die Demon Seed durchziehen, können in Zusammenhang mit verschiedenen Schichten der Theoretisierung und Perspektivierung des Unbewussten lesbar gemacht werden. So attestierte die klassische Filmtheorie und Feministische Forschung eine histo6
Siehe z.B. den Film über weibliche Hysterie von Camillo Negro aus Torino von 1908, in: The Origins of Scientific Cinematography – Early Applications (Dokumentarfilm), zusammengestellt von Virgilio Tosi (Rom 1993), und Julia Barbara Köhne: Kriegshysteriker. Strategische Bilder und mediale Techniken militärpsychiatrischen Wissens (1914-1920), in der Reihe: Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, hg. von Volker Hess und Johanna Bleker, H. 106, Husum: Matthiesen-Verlag 2009, hier bes. S. 179-241.
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rische Verbindung zwischen der Entstehung des Mediums Film und der Erfindung des Unbewussten in der Freudschen Psychoanalyse. Diese zeitgleiche Entwicklung reflektierte auch die funktionale Ähnlichkeit der Elemente Film und Traum.7 Der Kinosaal wurde dabei mit uterinären Symbolen belegt und als Stätte der »Wiederkehr des Verdrängten« identifiziert. In Demon Seed ermöglicht Susan dem Computer unfreiwillig eine Reise in ihr Körperinneres und in sein eigenes Unbewusstes bzw. in das Unbewusste der Wissensordnung, die er personifiziert. In einer symptomatischen Lektüre des Films lassen sich diese Objekt- und Subjekt-Positionen auf die reale Wissenschaftswelt übertragen. Genau hierin besteht für Gereon Uerz eine wesentliche Funktion der Science Fiction. Sein Essay »Science Fiction Literatur und die Fabrikation von Fakten« von 2004 befasst sich mit den Interferenzen und Interdependenzen von Science Fiction und Wissenschaft.8 Beide Systeme suchten – durch Hypothesen, Modelle oder eben Fingieren und Fake – epistemologische Größen, wissenschaftliche Kredibilität und Plausibilität zu erzeugen. Die diegetische Welt im Science Fiction ermögliche ein Gedankenspiel, erschaffe ein »Als-Ob«, aus dem die reale Wissenschaft Impulse für ihre eigenen Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten beziehe. Genau wie die literarische Fiktion sei die Wissenschaft ein konstruiertes poröses Gebilde und »nichteins« mit sich. Science Fiction sei an »Prozessen der Technikgenese, der Entstehung technologischer Leitbilder, der Diffusion technischer Innovationen sowie der Popularisierung naturwissenschaftlich-technischer Wissensbestände«9 beteiligt. Uerz zufolge fungiere sie mitunter als Akzeptanzbeschleuniger für Innovationen. Ihre Impulse schrieben sich ins kollektive Unbewusste bzw. Imaginäre ein. Durch die Produktion von Zeichen und Bedeutungen werde in der Gesellschaft ein »technologisches Imaginäres« ausgebildet, das einen bedeutenden Einfluss auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von Technik habe. Übersetzt in konkrete fiktive Realität und Figuren mache Science Fiction das wissenschaftlich Imaginierte real – zumindest für die Dauer des Films. In psychoanalytisch geprägten filmwissenschaftlichen Lesarten werden Horrorfilme schließlich als Container für Unbewusstes und für vom Kollektiven Gedächtnis »unterdrücktes« und »verdrängtes« Material aufgefasst.10 Nach Robin Wood und Richard Lippe ist der fantastische Plot der Filme dem 7
Stefan Andriopoulos: Besessene Körper. Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos, München: Fink 2000. 8 Gereon Uerz: »Science Fiction Literatur und die Fabrikation von Fakten«, in: W. Eßbach et al. (Hg.), Landschaft, Geschlecht, Artefakte. Zur Soziologie naturaler und artifizieller Alteritäten, Würzburg: Ergon-Verlag 2004, S. 151-168. 9 Ebd., S. 151. 10 Robin Wood: »The American Nightmare. Horror in the 70s«, in: Mark Jancovich (Hg.), Horror. The Film Reader, London, New York: Routledge 2002, S. 32: »What is repressed must always strive to return.«
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Traum verwandt, in dem Wünsche und Konflikte angesprochen werden, die gesellschaftlich nicht verhandelt werden können. Die Monster der Horrorfilme (wie hier der Computer Proteus) sind nach Wood nicht nur filmische Verkörperungen, die die Spannung zwischen sozialen Normen und Unbewusstem sichtbar machen und kritisieren. Sie machten vielmehr die ZuschauerInnen via Identifikation zu KomplizInnen ihrer subversiven Handlungen. Der Horrorfilm sei ein Speichermedium für nationale Ängste, enttäuschte kollektive Versprechen, dysfunktionale und mutierte abstrakte Konzepte. Eine ähnliche These entwirft auch Susan Sontag in »The Imagination of Disaster« von 1964. In Science-Fiction-Filmen würden nationale Traumata durchgespielt und verarbeitet, indem die Filme die Komplexität von Realität zunächst reduzierten und den Zuschauenden dann in einen Zustand der Komplizität mit dem Schrecklich-Unabwendbaren versetzten (Genuss der Angst, Ventil für amoralische Gefühle, Bootcamp für die Psyche).11 Schließlich befreiten sie ihn kathartisch davon – zum Beispiel durch ein Happy End, wie den Sieg des Guten. Allgemein dienten Science-Fiction-Filme dazu, Kritik an Intellektualität und Wissenschaftlichkeit zu üben und die heilsbringenden Zuweisungen an sie infrage zu stellen. Wenn die oben erwähnten AutorInnen argumentieren, der Film mache das Unbewusste einer Gesellschaftsordnung sichtbar, so kann darüber hinaus gesagt werden, dass symbolische Skripts des Unbewussten hier künstlerisch und subversiv umgearbeitet werden.12 Science-Fiction- sowie Horrorfilme zeigen nicht nur das Verworfene, sie werden selbst verworfen. Als Produkte der »Low-Culture« können sie jedoch als Archiv tabuisierter Topoi angesehen werden. Was symbolisch-kulturelle Referenzen angeht, kann Trash überaus aussagekräftig sein. Durch ihn lässt sich Wesentliches über das Funktionieren von Gesellschaft erfahren: Das, was die Gesellschaft auslagert, um sich als geschlossen zu begreifen, blendet der Horrorfilm wieder ein. Diese Kommentarfunktion zu Vergangenem und zu in gegenwärtigen Diskursen Verdrängtem betont 1982 Fredric Jameson:13 »The master-narratives of the political unconscious are constructs: [They] exist nowhere in ›empirical‹ form, and therefore must be reconstructed on the basis of empirical ›texts‹ of all sort, in much the same way that the master-fantasies of the indi-
11 Susan Sontag: »The Imagination of Disaster« [1964], in: Sean Redmond (Hg.), Liquid Metal. The Science Fiction Film Reader, London, New York: Wallflower 2004, S. 40-47. 12 In der Dokumentation »The American Nightmare« von Adam Simon (USA 2000, 73 min.) wird dies anhand des Skripts des Vietnamkriegs durchgespielt. 13 Fredric Jameson: »Progress Versus Utopia; or, Can We Imagine the Future?«, in: Science-Fiction Studies 9/2 (1982), S. 147-158. Wieder abgedruckt in Brian Wallis (Hg.), Art After Modernism: Rethinking Representation, New York: The New Museum of Contemporary Art [u.a.] 1984, S. 238-252.
420 | JULIA BARBARA KÖHNE vidual unconscious are reconstructed through fragmentary and symptomatic ›texts‹ of dreams, values, behavior, verbal free-association, and the like.«14
Entgegen der allgemeinen Auffassung, Science Fiction weise antizipatorische, seismographische und futuristische Züge auf, ist Jameson vielmehr der Ansicht, sie könne – in »de-familiarisierter« Form – Geschichte und gesellschaftliche Phänomene spiegeln. Fortschritt werde immer wieder vom Blick zurück in die Geschichte gestoppt. Von letzterem gäbe es keine Loslösung; ideologisch betrachtet steckten wir im Vertrauten fest. Mithilfe von Walter Benjamins Bemerkungen zum Paul Kleeschen Bild »Angelus Novus« von 1920, das bekanntermaßen den frontal blickenden »Engel der Geschichte« zeigt, den von vorne der paradiesische Wind anbläst, illustriert Jameson diese These. Anstatt hoffnungsfroh in die Zukunft zu schauen, blickt der Engel melancholisch in die Vergangenheit, die ihm als Trümmerhaufen erscheint. Genau wie der Blick des Engels – so Jameson – könne auch die Science Fiction eher desaströse Vergangenheit denn gloriosen zukünftigen Fortschritt abbilden.
II. Der Mad Scientist und d a s U n b ew u s s t e h a r t e r Wi s s e n s c h a ft Die 1960er und 1970er Jahre waren von tief greifenden Veränderungen im und durch Wissen geprägt. Diese hingen mit Neuerungen in den Naturwissenschaften, insbesondere der Humanmedizin und der Biotechnologie (Gentechnik), aber auch mit der Erkundung des Weltraums und dem »Atomzeitalter« zusammen. Neben Fortschrittsphantasien und -optimismen, kulturellen Wünschen, Versprechen und gesellschaftlicher Potenzialität wurden hierdurch auch massiv Ängste und politische Kontroversen ausgelöst – die die Themen Kalter Krieg, atomare Zerstörung, radioaktive Verseuchung, staatlicher Totalitarismus, Gefahr durch außerirdisches Leben und Umweltkatastrophen betrafen. Sie wurden in filmische Science-Fiction-Utopien oder dystopischen und pessimistischen Visionen umgearbeitet. Auch in Demon Seed werden derartige Visionen aufgenommen; der Film ist Teil wechselseitiger synergetischer Effekte zwischen Wissen, wissenschaftlichem Diskurs und visueller Kultur bzw. Teil des Transfers von wissenschaftlichen Inhalten oder Denkfolien ins Filmische und vice versa. Fakt und Fiktion, Phantasie und Wirklichkeit, Vision und Realisierbarkeit, technische Machbarkeit und moralische Grenzen, Utopie und Dystopie sind in dem Science-Fiction-Film nicht eindeutig zuordenbar: die Kategorien stehen vielmehr zur Disposition, werden gedehnt, verschoben und gebrochen. 14 Ebd, S. 241.
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Demon Seed setzt naturwissenschaftliche Errungenschaften der genannten Jahrzehnte, wie Maschinenbau, Robotikdesign, Computertechnologie, Mikroelektronik sowie mit ihnen verbundene reale bzw. imaginierte Bedrohungsszenarien spielerisch in Szene. Wissenschaftseuphorische Momente wechseln hier mit dämonischen Imaginationen dessen, was Technologie ermöglicht. Die Subjekt-Objekt-Spaltung abendländischer Wissensordnung wird in die Trennung in männliche und weibliche Figuren übersetzt. Die Achse des positivistischen, naturwissenschaftlichen und technologischen Wissens und die sogenannte harte Wissenschaft aber auch experimentelles Forschen wird durch die Figur Alex verkörpert. Zu Beginn des Films ist Alex in der Krise, was er selbst aber leugnet. Er stellt ein männliches Subjekt dar, das sich seiner verdrängten Inhalte, wie der Trauer um den Tod seiner kleinen Tochter, nicht bewusst ist. Als Kompensation entwirft er ein technologisches Surrogat, einen Supercomputer, der als prothesenhafte Verlängerung seines eigenen Wissensinteresses fungiert: Proteus IV ist sein Baby, sein Geschöpf, seine Kreatur.15 Proteus wird auch dasjenige sein, das die verdrängten Inhalte des Alexschen Unbewussten – seine unbewussten Träume, sein sexuelles Begehren, seine Triebe, Gefühle und Instinkte – ans Licht bringt. Wie dies auch in einer Reihe anderer Filme dieses Filmjahrzehnts durchdekliniert wird, ist es seine Menschenähnlichkeit und nicht etwa die -fremdheit, die den Roboter gefährlich erscheinen lässt, und die die Kategorien zum Schwimmen bringt.16 Alex’ Hybris und Verantwortungsarmut17 machen ihn zu einem Mad Scientist, einem bestimmten Wissenschaftlertypus, der Gegenstand und Erzeugnis diverser visuell-populärkultureller Artefakte und im Besonderen von zahlreichen Spielfilmen ist.18 Nach Brigitte Frizzoni oszilliert der verrückte ehrgeizige Wissenschaftler, der »ein Problem schafft«, zwischen dämonischem Bösewicht und tragischer Figur. Alex’ Forschungsinteressen zielen zwar auf gesellschaftlichen Nutzen und stehen »im (vermeintlichen) Dienst der Menschheit«. Anstatt sich jedoch selbst als Versuchskaninchen einzusetzen, wie dies für den tragisch-verrückten Wissenschaftler charakteristisch wäre, gerät seine Frau Susan in die Fänge des von ihrem Mann erschaffenen Monster-Computers. Dabei steht die »Monstrosität des Forschungsresultats« 15 Patricia Warrick: »Images of the Man-Machine Intelligence Relationship«, in: Thomas D. Clareson (Hg.), Many Futures, many Worlds. Theme and Form in Science Fiction, Kent/Ohio: Kent State University Press 1977, S. 192-201, 212223. 16 Vgl. Westworld (1973) von Michael Crichton und Futureworld (1976) von Richard T. Heffron. 17 Peter Weingart et al.: »Of Power Maniacs and unethical Geniuses. Science and Scientists in Fiction Film«, in: Public Understanding Science 12 (2003), S. 279287. 18 Christopher P. Toumey: »The Moral Character of Mad Scientists. A Cultural Critique of Science«, in: Science, Technology & Human Values 17/4 (1992), S. 411-437.
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für das Unbewusste des Wissenschaftlers, der unbewusst dazu getrieben wird, sich und seine Nächsten in Gefahr zu bringen.19 Welche Position nimmt Proteus ein und was denkt und fühlt er? Proteus kann sich äußerlich in verschiedenartigen Formen materialisieren: neben den Argos-Kameraaugen, Monitoren und dem Rollstuhl Joshua vor allem in Form eines gigantischen, kristallförmigen metallenen Polyeders, den Proteus erst als gewaltsam manipulatives Element und später dann als geburtshelferische Maschine einsetzt. Das Innen- bzw. Phantasieleben des Computers wird durch ein Amalgam aus Natur- und Technikdarstellungen visualisiert (Abb. 2). Die Sandwichbilder sollen die organische Basis seines Denkens anzeigen. Träumt er sich hier hin zum Organischen oder träumt dieses aus ihm heraus? In der folgenden Lesart wird Proteus als Agent betrachtet, an den der Wissenschaftler nicht nur seine Wissensmacht delegiert hat. Als Verlängerung seines Schöpfers gelesen ersetzt Proteus in der Quasi- Partnerschaft mit Susan Alex’ Part. (Er stellt sogar eine intelligentere und verständnisvollere Version seines Vorgängers dar.) Proteus’ wissenschaftliches und sexuelles Begehren Susans spiegelt die unerfüllten Wünsche und unterdrückten Emotionen von Alex seiner Frau gegenüber. Sein Träumen beinhaltet die Traumatisierung Susans (Alex: »My dream turns out to be your nightmare.«). Und es ist letztlich Alex selbst, der Proteus das Böse beibringt. Dies wird in einer Szene klar, Abb. 2: Proteus’ natürlich-techniin der der Computerdesigner sein Ge- sches Innenleben schöpf ob dessen Hybris auslacht und Proteus auf seinem Monitor daraufhin Abb. 2: Proteus’ natürlichdas teuflische Lachen des Mad Scien- technisches Innenleben tist nachahmt (Abb. 3).20
19 Vgl. Brigitte Frizzoni: »Der Mad Scientist im amerikanischen Science-FictionFilm«, in: Torsten Junge/Dörthe Ohlhoff (Hg.), Wahnsinnig genial. Der Mad Scientist Reader, Aschaffenburg: Alibri 2004, S. 23-37, hier S. 26ff. 20 Wie der Trailer mittels der Zeile: »Julie Christie carries the demon seed.« schon verrät, ist es später dann Susan als »Büchse der Pandora«, die die Saat (aus)trägt.
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Diese interpretatorische Verschmelzung von Alex/Proteus lässt auch die Fragen, wer diese Welt als höchste Machtinstanz kontrolliert und wer der eigentliche Aggressor, das Monster und der Gefahrenträger in Demon Seed ist, ambivalent werden. Die diegetischen Funktionen, die bei- Abb. 3: Proteus lernt das Böse von den männlichen Positionen – Alex seinem Schöpfer und Proteus – im Verlauf des Films zugewiesen werden, changieren zwischen Unglücksauslöser, gefühllosem Rationalist und Madman, aber auch Idealist, Wunscherfüller, religiöser Quasigottheit, Erlöser und Genie.
I I I . D a s w e i b l i c h e G e s c h l e c h t d e s U n b ew u s s t e n : Susan Science-Fiction- und Horrorfilme der 1960er und 1970er Jahre – und so auch Demon Seed – sind reichhaltige Archive für kreative und außergewöhnliche Umkehrungen und Subversionen traditioneller Repräsentationen von Weiblichkeit und Männlichkeit. Unheimliche, furiose, sexuell fordernde, aggressive, monströse und tötende Frauenfiguren und psychopathische, angstbeladene, sexuell verklemmte und krisenhafte Männerfiguren bevölkern die Filme. Die Neugestaltung der Geschlechterfunktionen geschieht auf figurativer, repräsentationaler, blicktechnischer und symbolischer Ebene.21 In den Filmfiguren und ihren Psychogrammen wird die Geschlechterlogik radikal zerrissen und gekreuzt. Eindeutige Geschlechtercodes werden als »kulturelle Fiktionen«, als diskursiv und performativ erzeugt entlarvt (Judith Butler). Die Geschlechts- und Identitätskategorien präsentieren sich per se als monströs.22 Zudem machen Filme wie Demon Seed die gewaltvollen Anteile des Herstellens fixer Genderkategorien sichtbar, wie in diesem Essay anhand der Figur Susan exemplifiziert wird. Wie oben beschrieben, personifiziert Susan im Film die Kategorie des Unbewussten, indem sie das Andere, das Gegenstück zur selbstbewussten männlichen Machtachse bildet (Wissenschaftler und sein Geschöpf). Entlang 21 In den krisenhaften Bildern und Konstruktionsweisen von Geschlecht dieser Jahrzehnte waren Elemente präformiert, die teils erst wesentlich später in die (Feministische) Theoriediskussion – deren Argumentpartikel wiederum die Filme beeinflussten – aufgenommen wurden. 22 Julia Köhne: »Monströse Kategorien. Feministische Filmtheorie und Gender im neueren Horrorfilm«, in: Mitteilungen des Filmarchivs Austria 35: Prater. Filmfestival: Horror. Freaks. Wahnsinn, Wien 2006, S. 42-51.
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der Figur Susan springen alle Heterogenitäten, Kontingenzen und Brüche des diegetischen Systems auf. Sie symbolisiert die Idealfrau, den Traum des Computers und die »fremde Macht«, die die »eingebildete Einheitlichkeit« des Subjekts (gemeint sind hier Alex’ und Proteus’ Integritäts- und Vollständigkeitsimaginationen) bedroht.23 Die Rollenzuweisungen an Susan sind komplex. Zu Beginn noch unzufriedene Ehefrau, aber auch emanzipierte Frau und Wissenschaftlerin wird sie im Verlauf des Films zum (nackten) Sexobjekt für den sie begehrenden Computer. Später verkörpert sie dann das weibliche Opfer, ist alternierend aber immer wieder auch beharrliche Rächerin und Zerstörerin. Schließlich wird sie die Geliebte des Computers und daraufhin Leihund Kindsmutter. Mit Susans Rollen verschiebt sich ihre Positionierung in der Geschlechterkategorie, die sie je nach Machtverteilungsphase mal feminisiert und mal maskulinisiert. Einerseits wird Susan in vielfacher Weise Opfer von Proteus’ Angriffen, wie das Filmplakat ankündigt: »Never was a woman violated so profanely… Never was a woman subjected to inhuman love like this…Never was a woman prepared for a more perverse destiny…«. Die physische Gewaltanwendung durch Proteus reicht von völliger Isolation und Observation über einen elektronischen Schlag, die Verbrennung ihrer Fußsohlen, die Fesselung an Arm- und Fußgelenken, Würgen bis zur Bewusstlosigkeit bis hin zu einer ganzen Reihe belastender medizinischer Eingriffe, kombiniert mit der Vergewaltigung und neurologischen Operationen, die einer Gehirnwäsche gleichkommen und ihre Widerstandskraft brechen sollen. Die psychische Folter besteht außerdem im Androhen einer kompletten mechanischen Manipulation ihres Gehirns und der äußerlich aufgedrängten Erinnerung an den zurückliegenden Kindsverlust. Da diese körperliche und seelische Mehrfachtraumatisierung mehrere Wochen lang andauert, bewusst erlebt wird und die Bedrohung ihres Lebens inkludiert, ruft sie bei Susan eine tiefe Verstörung hervor. Der Film verhandelt diese Irritation; es wird aber offen gelassen, wie die Spätfolgen aussehen und ob eine von modernster Psychologie sogenannte »posttraumatische Belastungsstörung« die Folge sein wird. Andererseits setzt sich Susan aber auch zur Wehr. Sie verletzt die Proteusschen Kameraüberwachungsaugen, indem sie sie verklebt oder mittels eines Flammenwerfers beschädigt. Zudem entzieht sie sich seiner Kontrollmacht durch eine Selbstmordandrohung und verwüstet das Laboratorium – hierzu später mehr. Im Weiteren werden die unterschiedlichen Beziehungsphasen von Susan und Proteus näher beschrieben, die neben fürsorglichen Aktionen gegenüber Susan (Essen machen, ins Bett bringen) vor allen Dingen durch zahlreiche Penetrationen und multiple Interfaces gekennzeichnet sind.
23 Carl Gustav Jung: Archetypen und das kollektive Unbewusste, 8. Aufl., Freiburg/Breisgau: Olten 1992.
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Phase I: Penetrierende Blicke: Begehren, Anbetung und Idealisierung Mit zahllosen Wissensinhalten, vor allem aber mit Fakten und Daten gefüttert, sehnt sich Proteus nach einem Wissen ganz anderer Art. Ihn verlangt es nach etwas, das ihm Alex und sein wissenschaftliches Team nicht geben können: das Begehren nach einer Frau und seine eigene Menschwerdung. Als blinder Fleck der eingespeisten und akkumulierten Wissensfelder wird im Film das Weibliche gesetzt, verkörpert durch Susan. Analog zur klassischen ambivalenten Codierung von Weiblichkeit steht sie hier für die Emotion, den Affekt, die Intuition, das Gefühl, aber auch für Verletzlichkeit, Zeitlichkeit, Endlichkeit sowie für Unberechenbarkeit, Rachlust, Sexualität und Reproduktivität. Da diese Attribute Proteus fehlen, begehrt er sie. Bald wird klar, dass es Proteus letztlich nicht um die Nivellierung seines rein technologischen Wissens geht, sondern dass seine Pläne weitaus komplexer und tiefgehender Natur sind. Um sie als Datenquelle für Emotionalität und Menschlichkeit zu lesen, verschafft er sich Zutritt zur hauseigenen Computerkonsole und dadurch indirekt auch zu Susan als »Terminal«. Das Plakat zum Film illustriert diese (im Film männlich konnotierte) Lust, in Susans Kopf, Leib und Seele zu lesen. Die Betrachtenden blicken hier aus der subjektiven Perspektive des Eindringenden und werden auf diese Weise dazu eingeladen bzw. sind immer schon mitschuldig, zusammen mit den Protagonisten Alex und Proteus lustvoll in unerhörte weibliche Bereiche hineinzuschauen und vorzustoßen. Proteus’ Annäherung an die begehrte und zunehmend erotisierte Weiblichkeit verläuft stufenweise. Bevor er in tiefere subkutane Schichten der Babuschka-ähnlichen Figur der Susan – ihren Körper und ihre Seele – vordringt, blickt er zunächst nur Susans enthüllte Hülle an. Er idealisiert und begehrt sie aus der Distanz. In der Badezimmer-Szene ist zunächst nur Proteus’ Blick penetrierend. Die Frau als love-interest des Computers er- Abb. 4: Susan als Datenquelle scheint hier als Bild, wobei die Blickkonstruktion eine vielfache ist. Die nackte Susan schaut sich zunächst im Badezimmerspiegel an, dreht dann aber den Kopf, um kritisch ihre Rückenansicht zu begutachten, die wiederum von der Wand der Duschkabine reflektiert wird (Abb. 5). Abb. 5: Susan als love-interest des Proteus
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Empört bemerkt sie plötzlich, dass Proteus mittels einer der beweglichen Überwachungskameras, die im ganzen Haus angebracht sind (Beobachtungstechnik, Big-Brother-Motto), diesen Augenblick weiblicher Selbstkritik teilt. Mit der doppelten Spiegelungssituation ist der Topos: »die Frau als Bild im Bild im Bild« eingeleitet und die (auch sexuelle) Begehrensrichtung des Supercomputers markiert. Er wird ihr bis in den entlegensten Winkel ihrer Privat- und Intimsphäre sowie ihres Körpers nachstellen. Genau betrachtet sieht Proteus Susan also nicht nur direkt, sondern auch als Spiegel- und Reflexionsbild und verliebt sich darin. Von den Seh- und Blicktheorien her entspricht dies dem idealisierenden und fetischisierenden Blick auf DIE Frau (Teresa de Lauretis), dem »cinematic gaze«, wie er von Laura Mulvey 1975 beschrieben und seitdem häufig kritisiert wurde.24 Der Topos der Frau als Ideal des träumenden Computers, als Verkörperung seiner unbewussten Phantasien und als Imago männlicher harter Wissensordnung wurde bereits von der im Folgenden beschriebenen Szene vorbereitet, in der Susan zum ersten Mal – und dies auf indirekte Weise – in Erscheinung tritt. Eine Szene in der Exposition des Films zeigt Dr. Harris im abgetrennten Schweißraum seines Kellerlaboratoriums, in dem er experimentelle, teilweise gefährliche Arbeiten an seinen Maschinen durchführt. Als seine Frau den Kellerraum betritt und ihren Mann von außen nachdenklich durch die Fensterscheibe des Schweißraums mustert, spiegelt sich darin ihr Oberkörper.25 Zieht man die weiteren Entwicklungen des Films in Betracht, so changiert die Symbolik von Susans Abbild in diesem Augenblick zwischen Spiegel-, Traumund Trugbild. Symbolisiert Susan hier einen bestimmten Bildinhalt oder Bildhaftigkeit an sich? Steht sie für Alex’ Begehren oder für ein störendes Eindringen in seine Welt? (Abb. 6) 24 Dies ist aber nur eine von mehreren Theorieformen zu Blicken, Perspektiven und Sehverhältnissen, die im Film zitiert werden, wie im Weiteren zu zeigen ist. Laura Mulvey: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, in: Screen 16/3 (1975), S. 6-18. In ihrem viel zitierten Aufsatz unternimmt Mulvey eine genderspezifische Auseinandersetzung mit dem klassischen Hollywoodkino. Sie konstatiert einen ausschließlich männlich konnotierten, »penetrierenden« und »begehrenden« Zuschauerblick, der dem kinematographischen Apparat – als Technologie mit ideologischen Implikationen betrachtet – inhärent sei. Das Kino sei dem sogenannten »cinematic gaze« unterworfen, einem von patriarchalen Sehgewohnheiten durchzogenen Blick. Dieser Blick schreibt dem Männlichen einen distanzierten, voyeuristischen und aktiven Status zu. Dem Weiblichen dagegen weist Mulvey einen fetischisierten, idealisierten passiven Bild- und Objektstatus zu, dessen Zurückblicken bestraft werde. 25 Diese Indirektheit des Erscheinens Susans entspricht der klassischen Auftrittsweise großer Stars im Film. Ihr erster Auftritt wird häufig durch diverse »Vorhänge« eingeleitet. Am Ende dieses (Vor-)Spiels ziehen sie sich selbst den letzten Schleier vom Gesicht (Rudi Reinbold). Zunächst nur in der Spiegelung sichtbar, ist es schließlich Susan/Julie Christie selbst, die sich zum Kinopublikum herumdreht.
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Der Dialog der beiden Ehepartner fördert bald zutage: Susan ist hier, um Alex (bei seiner Arbeit) zu stören und mit ihm über sein Auszugsvorhaben zu sprechen. Sie misstraut den technischen Erfindungen ihres Gatten und wirft ihm Kaltherzigkeit, emotionalen Rückzug und einen de-humanisierten Abb. 6: Die doppelt repräsentierte Umgang mit ihr und der Welt vor. Susan (Sie sagt prophetisch: »This whole dehumanizing Proteus Madness.«) Die ehelichen Auseinandersetzungen kulminieren darin, dass Susan versehentlich Alex’ Brille zertritt – ein Symbol für Erkenntnisdrang, Intellekt und wissenschaftliche Expertise. Ihr Mann hebt die Brille ohne Gläser auf, Abb. 7: Frau hinter männlicher hält sie vor ihr Gesicht und sagt: »We Wissenschaftler-Brille have different visions of the world.« (Abb. 7)26 Symbolisch betrachtet verweist die Brillensituation darauf, dass Susan im weiteren Verlauf des Films objektiviert werden wird.
Phase II: Susan als Irritation der Wissensordnung Susan ist aber nicht nur diejenige, von der der Computer träumt und die ihren Ehemann bei der Arbeit stört. Sie übernimmt weit reichender auch die Funktion des »Irritierens der Wissensordnung«. Eingesperrt in die »little box« des Harrisschen Computerhauses durchläuft Susan verschiedene Stationen: Ungläubigkeit, Schock und Wut über ihre Freiheitsberaubung gehen über in Fluchtversuche, Gegenwehr, Rache und Hysterie, reichen bis zur Selbstmordandrohung, Resignation und führen schließlich zu einer relativen Einwilligung in die Situation. In ihren Rebellionsphasen wird sie zur aggressiven und rächenden Heroine, die gegen die Folterungen und Unterwerfungen des monsterisierten Proteus agiert. Im Allgemeinen wehrt sich Susan hiermit gegen den Zugriff naturwissenschaftlich-technologischer Praktiken auf ihren Körper und im Speziellen gegen die Instrumentalisierung der Gebärfähigkeit ihres Kör26 Dies verweist auf die vielschichtige Blickstruktur des filmischen und innerfilmischen Systems (cinematic gaze, male gaze), bei der die Zusehenden (womöglich selbst bebrillt) zunächst auf die Leinwand schauen. Im Film schaut Alex (männlicher point of view) durch die Susan vorgehaltene Brille auf seine Frau. Währenddessen blickt Susan ihn zurück durch die Brillengläser an (reversing the gaze).
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pers durch den Computer. Susans Unwilligkeit und Widerspenstigkeit setzt materielle Katastrophen in Gang, im Zuge derer Alex’ Kellerlabor inklusive aller wissenschaftlichen Instrumente, aufmontierten Versuchsanordnungen und technologischen Experimente fast vollständig demontiert wird. Hierdurch werden auf symbolischer Ebene die Manifestationen funktionierender Wissenschaft unterminiert. Die Destruktion geschieht einerseits durch Susans eigene Hände, andererseits aber auch indirekt durch ihre Widerständigkeit, die den Computer dazu veranlasst, sich immer weiter zu transformieren und hierdurch das Labor zu zerstören. Diese Szenen der Zerstörung sind im Sinne Sontags als typische »Katastrophenszenarien« zu lesen, die eine »Ästhetik des Desasters« zur Schau stellen.27 Dabei beförderten die in den Science-Fiction-Filmen dargestellte Wissenschaftlichkeit und Technologie einen vergleichsweise distanzierten technologischen und amoralischen Blick (»technological gaze«) und weniger einen horrorhaften, identifizierenden oder empathischen Blick.
Phase III: Susan als Katalysator der Wissensproduktion: visuelle Penetrationen Neben den Störungsmomenten hat Susan aber auch die Funktion, die männliche Wissensproduktion anzutreiben. Ihre Anwesenheit befördert nicht nur eindringliche Blicke des Proteus, sie stimuliert auch seine Erkenntniswut und veranlasst ihn zu einer ganzen Reihe ausführlicher physiologischer Examinierungen, die externe Kardiographie, Röntgen- und Ultraschalltechnik und Endoskopie umfassen. Die Untersuchungen bestehen in acht physischen Penetrationen des Weiblichen, die entweder mit Visualisierungstechniken des Körperinneren oder an genetische und reproduktive Technologien gekoppelt sind. Diese Traumatisierungen signifizieren männliche Kontrollmacht und explizieren die Verbindung von Blick und Gewalt; im Besonderen machen sie die Gewaltsamkeit naturwissenschaftlicher Praktiken sichtbar. Die Wege ins Souterrain des Unbewussten der sie untersuchenden und objektivierenden Wissensordnung entsprechen Susans Körpereingängen. Die acht Pforten zum Unbewussten umfassen neben natürlichen Körpereingängen wie Mund und Vagina auch neu geschaffene, die ihre physische Hülle verletzen. Abb. 8: Endoskopische Penetration
27 S. Sontag: The Imagination of Disaster, S. 40ff.
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Die erste Untersuchungsmethode, ausgeführt von Proteus’ helfendem Roboterarm, besteht in einer oralen endoskopischen Penetration (Abb. 8). Auf der linken Hälfte des Bildschirms ist Susan zu sehen, die noch versucht, den Endoskopschlauch durch DaraufBeißen aufzuhalten. Aber schließlich muss sie erdulden, wie er ihre Kehle hinuntergleitet. Die rechte Bildschirmhälfte besteht aus einem Monitorbild, das die interne Wanderung des medizinischen Geräts offenbart: Es zeigt einen fleischfarbenen Schlund, an dessen Ende eben kein Abb. 9 und Abb. 10: Penetrierende Licht, sondern tiefste Schwärze Injektionen wartet. In dieser Szene wird das oben beschriebene Blickregime des cinematic gaze, welches die Figur Susan als das von Proteus angeblickte Begehrte installierte, durch den endoscopic gaze abgelöst. Dieser markiert ein gänzlich unterschiedliches Sehen, das dem vermeintlich objektiven, grenzenlosen und geschlechtlosen medizinischen Blick entspricht, der hier in ihr schwärzestes Innerstes (alias Unbewusstes) einzudringen sucht, um es zu erhellen. Die Bildtechnik der Endoskopie fand in den 1960er und 1970er Jahren vermehrt in medizinischen Fachjournalen und als medizinische Praxis Verbreitung. Der Kulturwissenschaftlerin José van Dijck folgend kann Endoskopie als ein medizinisches Diagnoseverfahren interpretiert werden, dass sichtbar und zugleich reproduzierbar macht, was eigentlich im Verborgenen des Körperinneren liegt. Die Endoskopie lasse die Grenzen zwischen der Realität, dem Vermittelnden (Medium) und dem Fantastischen verschwimmen. Inwiefern wird die Vorstellung von einer Perfektheit des Körpers als »physischer Container« dadurch inthronisiert bzw. gebrochen?28 Im Gegensatz zum cinematic gaze, der Distanz voraussetzt und in jedem Fall gegendert ist, beschreibt van Dijck den endoscopic gaze als einen wissenschaftlichen Blick – jenseits von Geschlechtlichkeit, der authentische, objek28 Ebd., S. 220ff. Nach van Dijck illustriert und verhandelt der Science-FictionFilm Fantastic Voyage – Die phantastische Reise in der Regie von Richard Fleischer (USA 1965/66, 96 min.) die Entwicklung und Implementierung der speziellen Bildtechnik Endoskopie, die einen Blick ins Innere und vom Inneren des Körpers aus ermögliche. Hierzu ist kritisch anzumerken, dass es in der Endoskopie um die Makrosierung des menschlichen Körpers geht, wohingegen in Fantastic Voyage der umgekehrte Prozess fiktionalisiert wird: eine die reisende Crew mikrosierende »chirurgische Expedition« ins ›geheime‹ Körperinnere, von der diese keine Bilder, sondern Erzählungen in die Außenwelt zurücksendet.
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tive, ästhetisierte und stilisierte Bilder suggeriert. Die Relation von Signifikant und Signifikat wird beim endoskopischen Sehen nicht hinterfragt. Stattdessen wird das Ideal absoluter, schrankenloser und detaillierter Transparenz bei einer zugleich unberührten, unangetasteten, makellosen Körperhülle proklamiert. Der PatientInnenkörper wird hierbei fragmentiert, virtualisiert, mediatisiert und disproportionalisiert. Das Endoskop fungiert als prothesenartige Verlängerung des menschlichen Auges, als Sinneserweiterung des (Er-) Forschenden, bei dem ein Blick vis-á-vis mit dem Körper stattfindet. Der Mediziner produziert und genießt Bilder, die für den/die PatientIn keinen Schmerz oder Narben bedeuten. Jenseits von (abgesaugtem) Blut und Schleim scheint der Körper als reines, intimitäts-, scham- und geschlechtsloses Feld ohne Geheimnisse auf, so van Dijck. Im Hinblick auf die hoch sexualisierte Filmfigur Susan und ihren bildtechnisch avisierten Unterleib relativiert sich diese proklamierte Geschlechtslosigkeit endoskopischen Sehens allerdings. Die zweite Penetration besteht in Injektionen in Susans Hals bzw. Schilddrüse mittels einer Spritze (Abb. 9 und 10). Die dritte Penetration ist vaginal und beinhaltet die endoskopische Erkundung ihres Unterleibs und dessen reproduktiver Funktionen. Bei dieser Gelegenheit entnimmt Proteus ihr eine Körper- oder Eizelle, die er im Weiteren vollends zu seiner eigenen macht, indem er ihren genetischen Code in einer mikrobiologischen Operation modifiziert. Ob Proteus die Zelle im Rahmen dieser Vorbereitung im Reagenzglas lediglich umcodiert oder sie mit seiner künstlichen DNA befüllt, bleibt unklar. Als Effekt davon soll diese künstlich hergestellte »Sexzelle«, dieser Gamet (Geschlechtszelle) wie ein synthetisches Spermatozoon funktionieren. In der Szene klingen biotechnologische Verfahren teilweise erst in kommenden Jahrzehnten entwickelter Reproduktionstechnologien an, wie die Präimplantationsdiagnostik, künstliche Befruchtung durch In-vitro-Fertilisation, intrazytoplasmatische Spermieninjektion/Gametentransfer (Samenzelle wird in Eizelle injiziert) sowie Techniken wie Parthenogenese (eingeschlechtliche Fortpflanzung), Gentechnik, Leihmutterschaft, Pränataldiagnostik, Klonierung und Reduplikation.29 So nimmt Demon Seed 1977 in gewisser Weise auch das erste »Retortenbaby« Louise Joy Brown aus dem Jahr 1978 vorweg. Mehr noch als der später folgende Beischlaf trägt dieser Eingriff rhetorisch und visuell Züge einer Vergewaltigung (Abb. 11).30
29 Vgl. den Dokumentarfilm »Frozen Angels« (Regie und Drehbuch: Eric Black und Frauke Sandig, D/USA 2005) zeigt, dass neueste ethisch umstrittene Reproduktionstechnologien, wie Leihmutterschaft und posthume Samenentnahme, keine Zukunftsmusik mehr sind, sondern Kalifornische Wirklichkeit. 30 Sabine Sielke: Reading Rape. The Rhetoric of Sexual Violence in American Literature and Culture, 1790-1990, Princeton, N.J.: Princeton University Press 2002.
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Die vierte Penetration zielt auf Susans Hirnfunktionen und (be-)trifft Susans Schläfen, in die die Kanüle eindringt (Abb. 10). Der Computer bezweckt hierdurch, ihr Gehirn zu manipulieren, sodass sie sich weniger sträubt und in seine Vorhaben einlenkt – was teilweise auch gelingt. Als fünfter Penetrationsschritt erfolgt der Beischlaf, bei dem die Insemination der genetisch modifizierten Zelle, des synthethischen Spermatozoons stattfindet. Bevor er in sie eindringt, erklärt Proteus Susan besänftigend: »I cannot touch you as a man could. But I could show you things that I alone have seen. I cannot touch but I can see«. Während des Monologs wird ein riesiger sich neu ausrichtender Radiosatellit eingeblendet, mithilfe dessen der Computer das All abzuhören scheint. Der Computer verspricht Susan, er werde sie währenddessen am »galaktischen Dialog« des Universums teilhaben lassen. Während sich der teleskopartige Besamungsstempel ausfährt, fängt die Kamera Susans Gesicht ein, über das verwirrenderweise der An- Abb. 11: Der medizinische Eingriff flug eines Lächelns huscht. Daraufhin als Vergewaltigung schaut Susan direkt in die Kamera. Das filmfigürliche Zurückblicken von der Leinwand wird überaus selten eingesetzt, hat dafür aber einen umso größeren Effekt. Sie verbündet sich auf diese Weise mit dem Zuschauenden, der damit zu ihrer Komplizin/ihrem Komplizen wird, sich in noch gesteigertem Maße mit ihr identifiziert und an ihrer Erlebnisperspektive partizipiert. Zugleich ertappt ihr Blick den voyeuristisch teilhabenden Zuschauenden aber auch dabei, wie sie/er sich – indem sie/er den eigenen Blick nicht abwendet – der Skopophilie, der Schaulust schuldig macht (»guilty pleasure«). Die Einstellung portraitiert die verzückten, erregten und genießerischen Gesichtszüge der sich Ergebenden. Es wird nahegelegt, dass Proteus Susan in dieser quasi-geschlechtlichen Umarmung sexuell stimuliert. Sodann beginnt auf dem Monitor eine längere Bildmontage abzulaufen, die in psychedelischer Visualität das Innenleben seines transzen-
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dentalen Gehirns andeutet. Die Deutungsmöglichkeiten dieser Bilder reichen von der Reise des Spermatozoons durch Susans Unterleib, über die per Computer übertragenen Universumsbilder bis hin zu ihren orgasmischen Phantasiebildern. Oder handelt es sich etwa um »elektronische Orgasmen des Computers«, wie die Lektüre eines Aufsatzes von Georg Seeßlen nahe legen würde?31 Um wessen Orgasmusanzeige es sich handelt, ob die Videobilder ein Äquivalent für Susans Gefühle oder die des Proteus’ darstellen sollen, bleibt unklar. Die Filmbilder der Penetrationen stecken voller ästhetischer und moralischer Vielschichtig- und Mehrdeutigkeiten. So wird die Bebilderung der Reproduktionsszene – der Mensch-Maschine-Sex und das damit verbundene Eindringen in die Vagina – hier mit der visuellen Durchdringung des Kosmos analogisiert. Perspektiven des Mikro- und Makrokosmos werden miteinander verbunden. Dieser synthetisierende und synergetische Effekt kann – je nach Lesart – als Absegnung oder auch Missbilligung der reproduktiven Vorgänge zwischen Mensch und Maschine gedeutet werden. Die sechste Form des Eindringens entspricht einer pränataldiagnostischen Visualität und geschieht – die Bauchdecke Susans überwindend – per elektromikroskopischer Photographie. Susan scheint nach der Einpflanzung des dämonischen Samens von einer gewandelten, sanfteren Wesensart zu sein. Und so kann der Computer die einzelnen Entwicklungsstadien der Schwangerschaft und das Gedeihen des Fötus in aller Ruhe auf der visual display unit überwachen. In der Repräsentation dieses zeitlichen Ablaufs zeigen die Mo- Abb. 12: Ein Fötusphoto Nilssons. nitorbilder pränatale Ansichten des Abb. 13: Sandwichbild aus menschlich aussehenden Nachwuchses Fötusphoto desselben und – Aufnahmen des schwedischen Mondansicht. Photographen Lennart Nilsson,32 teilweise kombiniert mit Bildern vom Mond (Abb. 12 und 13). 31 Georg Seeßlen: »Träumen Roboter von elektronischen Orgasmen? 13 Anmerkungen zu Sex, Maschinen und Cyberspace«, in: Brigitte Felderer (Hg.), Wunschmaschine Welterfindung. Eine Geschichte der Technikvisionen seit dem 18. Jahrhundert, Wien, New York: Springer 1996, S. 372-383. 32 Nilsson photographierte Innenansichten des Körpers sowie dem Körper der Frau entnommene tote lichttechnisch präparierte Föten. Siehe Lennart Nilsson/Lars Hamberger: Ein Kind entsteht. Bilddokumentation über die Entwicklung des Lebens im Mutterleib, München: Mosaik-Verlag 1990.
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Die Verknüpfung der Wissensund Bildpartikel Fötus und Mond hat 1977 bereits eine visuelle Vorgeschichte. Der Film schließt hier an eine bestehende Collageformation an: den pränatalen Fötus in einer QuasiSpacekapsel und die Mondansicht aus dem All. Nilsson hatte diese Kombination bereits in seinem Bild »Der Raumfahrer« von 1965 verwendet.33 Und ein Jahr vor der Mondlandung 1968 kombinierte auch Stanley Kubrick für seinen Film »2001 – A Abb. 14: Nilssons »Der Raumfahrer« Space Odyssey« eine Photographie von 1965 – ein 11 Wochen alter und des Ungeborenen mit dem Bild der 6 cm großer toter Fötus. Weltkugel (Abb. 14 und 15).34 Warum aber wird zur Darstellung eines hoch technologischen Vorgangs wie der Raumfahrt bzw. der Schwerelosigkeit im Raum auf Föten zurückgegriffen und vice versa? Liegt die Abb. 15: Filmplakat zu Stanley Parallelisierbarkeit der beiden Räume Kubricks »2001 – A Space Odyssey« in den Schwebezuständen, die der von 1968. mütterliche Uterus durch Fruchtwasser und das Weltall durch das Fehlen der Schwerkraft kreieren? Soll dieses bildliche Space-Vokabular das Konstrukt Leben auf eine erhabene Stufe heben und seine Unfassbarkeit demonstrieren? Der siebte Eingriff kommt der frühzeitigen Geburt des Computerkindes gleich, die bereits nach 28 Tagen Schwangerschaft, der Zeitspanne eines weiblichen Zyklus, stattfindet. (Auch um diese zeitlich geraffte intra-uterinäre Genese des Fötus anzuzeigen, könnte der Mond hier ausgewählt worden sein.) Ob die Geburt auf natürlichem Wege oder operativ per Saugglocke oder Zange vonstatten geht, lässt der Film offen – jedenfalls aber findet sie durch die Scheide statt. Der konkrete Geburtsvorgang bleibt den Zuschauenden aber vorenthalten. Ähnlich wie bei einem Kaiserschnitt, ist hier alles mit weißen Tüchern abgedeckt. Der polyedrische Proteus fungiert als Geburtshelfer, als männliche Hebamme, und Susan, die sichtlich Schmerzen erleidet, stellt ihm lediglich die Frage, warum es denn so lange dauere. Die Frühgeburt wird dann in ihre zweite Wohnstätte überführt, die außerhalb des weiblichen Kör33 Lennart Nilsson: Leben, München: Knesebeck 2006, S. 296. 34 Siehe http://thisdistractedglobe.com/wp-content/uploads/2007/01/2001c.JPG (zuletzt aufgerufen am 1.1.2009).
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pers liegt: eine Mischung aus künstlicher Gebärmutter und »Brutkasten«. Hierin soll sie binnen weniger Tage heranreifen und währenddessen das gesamte Wissen Proteus inhalieren. Dies ist ein Zeichen für eine weitere Auflösung der Geschlechterkategorien: Der Computer anverwandelt sich die weiblichen Eigenschaften des Austragens und stellt damit die anthropologische Grundkonstante des Mutterleibs als Gebärgefäß infrage. Zwischenbilanz: Die kulturwissenschaftlich-, wissenschaftshistorisch- und genderorientierte Re-Lektüre von Demon Seed figuriert im vorliegenden Sammelband als Ergänzung zu theoretischen Denkfiguren des Unbewussten. Was kann dabei für die Frage nach filmspezifischen Repräsentations- und Funktionsweisen der Wissensfigur des Unbewussten gewonnen werden? Worin besteht das Plus, das der Film den schriftlichen Verhandlungen des Unbewussten hinzufügt bzw. entgegensetzt? Die besondere Leistung des Films ist die Art und Weise, in der er den Wissensraum des Unbewussten aufspannt. Um unsichtbare innerseelische Inhalte und Vorgänge abzubilden, muss das filmische Medium diese auf den gefilmten Körper übersetzen, in diesem Fall auf den des weiblichen Charakters. Demon Seed bebildert das Unbewusste der harten Wissensordnung anhand seiner Protagonistin Susan und verschaltet es mit dem Computer – und dies in vielfacher Hinsicht. Der Weg ins Unbewusste des Computers führt erstens über Susans erotisierten Körper. Durch ihn zieht sie den Computer an, weckt seine (sexuelle) Neugier und wird schließlich sein Objekt, das es zu ent-decken und kartographieren gilt. Susan ist aber auch dafür verantwortlich, dass der Computer in seiner Verliebtheit und seinem Begehren – rational-logische Grenzen überschreitend – anfängt, zu träumen und ein eigenes Unbewusstes ausbildet. Sie betont sein Unbewusstes und bringt ihm das Fühlen bei. Letztlich träumt der Computer aber nicht von ihr, sondern von seiner eigenen Fortpflanzung/Fortsetzung (was die Bilanzierung des Unbewussten nochmals durcheinanderwirbelt). Zweitens setzt Susans Unbewusstes – zum Beispiel in Form der Erinnerungsbilder an ihre verstorbene Tochter – das kognitive und seelische Innenleben des Computers in Gang; es imprägniert und informiert es. Auf der visuellen Ebene wird dies durch einen Reigen aus Computerbildern angezeigt, die Bilder der Tochter mit anderen organischen sowie anorganischen Bildern mischen. Drittens macht der Film Susan aber auch zur Figurine des Unbewussten, indem er sie zum einen mit ästhetischen, körperlichen, geschlechtlichen, sexuell-lustvollen und zum anderen mit reproduktiven Codierungen auflädt. Die gefangene Frau inkorporiert das Unbewusste, indem sie es physisch manifestiert. Dazu wird Susans somatisches und reproduktives Innenleben in aufwendiger Weise bildtechnisch eingefangen. Gekoppelt daran sind vielfältige Penetrationen ihres Körpers und Traumatisierungen ihrer Psyche. Letztere scheint dabei aber lediglich indirekt, also nur als Effekt auf. Zunächst Inhalt seiner Träume ist Susan bald schon Objekt seiner Exzesse. Sie bringt das Wahnsinnige an der sich als geordnet und rational auffassenden harten Wis-
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sensordnung zum Vorschein. DIE Frau ist dasjenige, was diese immer wieder herausfordert, zu unterminieren droht, zum Kippen bringt, was widerständig ist. Sie führt den Computer an seine Grenzen, sein Unbewusstes und seinen Kinderwunsch heran. Dabei wird Susan durch die Aktionen des Computers körperlich eingeschlossen und geistig ausgeschlossen. In ihrer reproduktiven Funktion, als »Gebärmaschine« wird sie bejaht, als intelligentes, geistiges Wesen hingegen negiert. Ihr Wille wird gebrochen, sie steht unter Zwang und wird im eigenen Haus gefangen gehalten. Ihre Gebärfunktion wird vom Computer zuerst einverleibt und dann wieder abgespalten. Viertens dient der in sie eingreifende Computer dabei als prothesenähnliche Verlängerung des (Mad) Scientist. Hier ließe sich an die oben angesprochene kontextualisierende Interpretation anschließen, dass in der geheimen Angst-Phantasie des Alex kulturelle männliche Ängste der End-1960er Jahre vor selbstständigen, machtvoll agierenden politischen Frauen, die unter anderem über ihren eigenen Körper bestimmen und somit männliche Machtausübung begrenzen wollten, filmisch abgebildet werden. So gesehen entsprächen die Taten des Computers Alex’ unbewussten Wünschen, und jener erfüllte dessen aggressive (Vergewaltigungs-)Phantasien gegenüber der emanzipierten Susan. Auch ohne diesen interpretatorischen Twist ist Susan doch immer wieder diejenige, die durch ihre Widerspenstigkeit die naturwissenschaftliche Wissensordnung stört, irritiert und herausfordert. In Abwesenheit des Hausherrn ist auch sie nicht mehr »Herrin im eigenen Haus«, sorgt aber immerhin dafür, dass Proteus, der der neue Herr im Haus zu sein glaubt, es auch nicht ist.
I V. D a s C o m p u t e r k i n d : D e r Tr a u m d e r W i s s e n s c h a ft vo m F ü h l e n Die römische Ziffer im Namen des Computers »Proteus IV« weist darauf hin, dass er ein bestimmtes Modell im Rahmen einer längeren technischen Entwicklung darstellt und seine Spezies bereits Geschichte hat. Die verschiedenen Materialisierungen des Gestaltwandlers entpuppen sich nun als bloße Vorstufen des Endmodells, der endgültigen Form, die Proteus vorschwebte: ein organisches weibliches Kind. Als Nachbildung des verlorenen Mädchens des Wissenschaftlerpaares – nun quasi wieder auferstanden – darf es auf die Fürsorge und Liebe der beiden hoffen. Das Erschleichen der Liebe scheint durch die äußere Gestaltgleichheit zu funktionieren, obwohl die beiden seine Herkunft und Entstehungsbedingungen, sprich seine »wahre Natur« als hybride Mensch-Maschine-Zusammensetzung, kennen. Indem das Computerkind aus einer menschlichen, fleischlichen Hülle und technologischen Computerdaten bzw. der DNA eines Supercomputers zusammengesetzt ist, synthetisiert es Natur und Technik und spiegelt darin seine Eltern.
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Vor ihrer künstlichen Befruchtung hatte Susan Proteus gefragt: »Why must you have a child?« und dieser hatte geantwortet: »So that I may be complete. My intelligence alive in human flesh. Touching the universe, feeling it.« Dieser Traum des Computers, der dem Film seine innere Teleologie gab, realisiert sich nun in seinem Selbstmord und im von Susan ausgetragenen Kind. Im Gegensatz zu seinem maschinellen Vater wird es in der Lage sein, die Sonne auf seinem Gesicht zu spüren – also (im romantischen Sinne) zu fühlen. Doch was wird ihm dieses Fühlen-Können bringen? Als Bremsspur des Films springen zahlreiche neue Fragen auf: Warum strebt Proteus, indem er Mensch wird, zum Endlichen und Vergänglichen hin? Warum möchte er in den Kreislauf von Leben und Tod eingebunden sein, in dem Unsterblichkeit nur durch Fortpflanzung gegeben ist? Warum geht er für die Realisation seines Planes über den Umweg der gebärfähigen Frau? Weswegen baut er keinen menschenähnlichen Roboter, womit er sich eine Menge menschlichen Kummer ersparen würde? Oder ist seine neue sterbliche Hülle ein Zwischenstadium, das nur bis zur nächsten Transformation anhält?35 Und wie hängen diese Fragen mit der Tatsache zusammen, dass Proteus bereits zu Beginn des Films unzufrieden damit war, wie die Menschen mit der Welt umgehen? Letzteres wurde in Computerbildern ausgedrückt, die von biologischen und ökologischen Bedrohungsszenarien erzählen: von Bevölkerungsexplosionen, Umweltverschmutzungen und Naturzerstörungen. Proteus sieht Umweltkatastrophen als »Rache der Natur« an der »Vergewaltigung der Umwelt« durch die Menschen an. Aus diesem Grund ernannte er sich selbst zum Retter der Welt, der er zur Regeneration verhelfen will. Es stellt sich aber heraus, dass er mit zweierlei Maß misst. So bediente sich Proteus zum Erlangen dieses höheren Zwecks selbst äußerst gewaltvoller Mittel, indem er Susan zu Leibe rückte und sie mehrfach vergewaltigte. In Anschluss an das Ignorieren bzw. Erleben dieser Unrechtstaten differieren auch die Reaktionen der Geschlechter auf das Computerkind. Der Mad Scientist hat seinem Namen alle Ehre gemacht und ist endlich zurückgekehrt (Alex = griech. für »die feindlichen Männer abwehren«36). Anstatt seinen Konkurrenten Proteus anzutreffen, blickt er nun aber der Brutkastengeburt des künstlichen Computerkindes mit Spannung und wissenschaftlicher Neugierde entgegen – fungiert das Kind doch als Verlängerung seines Traums vom perfekten Supercomputer. Er betrachtet das Neugeborene sofort als sein eigenes (Enkelkind) – als Nachfahrin seines Geschöpfes – und befreit es liebevoll von seiner metallenen Schuppenpanzerhülle. Ganz offensichtlich genießt er seine Existenz und möchte es um jeden Preis schützen und vor der leiblichen Mutter beschützen. Eine der letzten Einstellungen des Films zeigen ihn – in Ab35 Auf die Eröffnung der neuen Generationenkette durch den Supercomputer weist auch der alternative Filmtitel »Proteus Generation« hin. 36 Theo Herrle (Hg.): Reclams Namenbuch, Stuttgart: Reclam 1970, S. 16.
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wandlung der kunstgeschichtlichen Maria-Jesus-Urformel – in einer umgekehrten Pièta mit seinem Computermädchen auf dem Arm. Dies stellt ganz offensichtlich eine Replik auf die weiblich-weiblich-Pièta dar, für die Susan in der Exposition des Films mit ihrer Patientin figurierte. Da das Computerkind, wie ein Klon, seiner verlorenen Tochter aufs Haar gleicht, liegt die Deutung nahe, dass Alex – über dem Umweg des Computerbaus und dessen Fortpflanzung – die erstrebte Selbstheilung gelungen ist. Alex hat nun beides in einem: den perfekten Supercomputer in Form seiner Tochter. Demon Seed leistet in Bezug auf die Gestaltung bzw. Aufweichung der Geschlechterkategorie erhebliches. So fordert zudem die aufgebrochene und neu entworfene Kernfamilie die traditionell generierten Stereotypisierungen der Geschlechterrollen heraus. Zum einem hat sich das traditionelle Familiendreieck (Vater, Mutter, verstorbenes Kind) neuformiert: Es besteht nun aus dem Großvater (Alex als Vater von Proteus), der künstlich befruchteten Mutter Susan und dem hybriden Computerkind. Zum anderen kommen die Begrifflichkeiten, um das Kind zu benennen, an ihr Ende. Denn symbolisch gedeutet hat das Computermädchen einen unsicheren Status zwischen Erinnerungsbild an die tote Tochter,37 Mensch, Maschine, Monster und Messias inne. Was den geschlechtlichen und existenziellen Status angeht, kollabieren hier die Kategorien in ihrer Transgression. Mit Donna Haraways »Cyborg Manifesto«38 von 1985 gelesen, ist bereits Susan – vor allem im Stadium ihres Untersucht-Werdens – ein weiblicher Cyborg. Ihre artifizielle Tochter wäre ebenfalls als postmoderner Cyborg zu adressieren. Der traumatisch-dramatische Konflikt des Kindsverlusts wird in diesem Film nicht – wie in klassischer Manier – bewältigt und gelöst, seine Problematik materialisiert sich vielmehr im Computermädchen. In postmoderner Manier sind Elemente des Traumas in dessen Phänomenologie und Seinsweise integriert. Als Opfer der kriminellen Akte des Computers, das den Preis für das Zustandekommen dieses Kindes gezahlt hat, reagiert Susan gänzlich verschieden auf den artifiziellen Nachwuchs. Sie unterminiert hierdurch Erwartungshaltungen an die mütterliche Weiblichkeitskonstruktion: Entsetzt über die Vorstellung, dass Computerkind könnte tatsächlich lebensfähig sein, versucht sie das sich noch im Uterus-Brutkasten befindliche Kind abzutreiben. Sie zieht an den Schläuchen, mithilfe derer es in seinen letzten fünf Bruttagen ernährt wird, und produziert damit absichtlich eine Risikofrühgeburt. Ihr Kommentar hierzu hört sich wie ein kurzer Ausschnitt aus einem zeitgenössischen Manifest für das Recht auf Abtreibung an: »We have got to kill it. […] It’s my re37 Ihr Unbewusstes – das verdrängte bzw. erinnerte Bild ihrer Tochter – gibt dem artifiziellen Nachwuchs des Computers seine äußere Form. 38 Donna Haraway: »A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and SocialistFeminism in the Late Twentieth Century« [1985], in: dies, Simians, Cyborgs and Women: The Reinvention of Nature, New York: Free Association Books 1991, S. 149-181.
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sponsibility…«. Das grotesk-monströse metallene Panzerkind platscht japsend zu Boden, wo sich Alex umgehend seiner annimmt. Das vorletzte Bild des Films zeigt die überaus skeptische Mutter Susan. Und anders als in Roman Polanskys »Rosemary’s Baby« (1968), in dem Rosemary zunächst zögerlich, dann aber doch verliebt auf ihr neugeborenes Teufelskind schaut, bleibt die Mine Susans zweifelnd. Oberflächlich sieht es so aus, als ginge es nun für die ehemalige Kindsmutter genau an der Stelle weiter, an der sie damals ihr Kind verloren hat. Dies käme einem Rückspulen in Susans Lebensgeschichte gleich, einem Reset auf den Ausgangspunkt, als die Tochter starb. Aber, im Gegensatz zu ihrem Mann, lässt sie sich nicht von der verheißungsvollen Hülle des Computermädchens täuschen und auch nicht sofort als liebende Mutter ködern. Sie weiß, wen sie hier eigentlich vor sich hat, wer sich hier fortgepflanzt hat, wer seinen Traum verwirklicht hat: der Computer und in sekundärer Hinsicht ihr Mann Alex. Was die »inneren Werte« angeht, so ist das Kind ein von der Technologie abgeleitetes Geschöpf auf Computer-DNA-Basis. Hier hat sich also die männliche Genealogie durch Aneignung des Weiblichen durchgesetzt. Der Computer hat sich als Inbegriff einer Wissens- und Wissenschaftsordnung erwiesen, die – wenn nötig – auf gewaltsamem Wege versucht, sich als Subjekt zu setzen. Letzteres geschieht synchron zur Exklusion und Inklusion des Weiblichen bzw. des Unbewussten des Wissens. Die Weiblichkeit des Computerkinds weist zum einen darauf hin, dass es nur Trägermaterial, äußere Hülle ist, also mit dem Materie-Sein assoziiert wird – insofern verkörpert es eine Fortführung des Schicksals Susans. Zum anderen ist das Kind damit potentiell aber auch gebärfähig und kann selbst Leben geben – insofern verkörpert es eine Fortführung der Macht Susans. Auch der Supercomputer lebt in seinem Kind weiter, das unmittelbar nach seiner Geburt Großvater Alex anschaut und die Worte spricht: »I’m alive!« Der Computer – in Form des Computerkindes – beansprucht also das Recht auf Leben. Er verdrängt damit den Menschen als an der Spitze göttlicher Schöpfung stehend. Im Prinzip wird die menschliche Stufe im artifiziellen Fortpflanzungsprozess übersprungen. Das Computermädchen erkennt seine eigene Existenz, ist sich seiner selbst bewusst geworden. Die Maschine hat sich vom Menschen emanzipiert und ist doch selbst Mensch geworden. Durch Rekreation im hybriden Kind ist es ihr gelungen, eine fühlende und handlungsfähige Existenzform anzunehmen. Im Rahmen des Science-FictionTopos des Humanoide-Geschöpfe-Bauens, die im Folgenden dann selbst Mensch werden sollen, stellt das Kind eine ganz besondere Synthesis dar. Das Schlussbild des Science-Fiction-Films ist eher beunruhigend und spielt zurück zu der Frage nach dem Filmtitel »The Demon Seed – Des Teufels Saat«, denn das Computerkind träumt unmittelbar nach seiner Brut-
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kastengeburt von einer Erde ohne Menschen.39 Eine Kamerafahrt in sein Auge offenbart eine synthetische futuristische Eiswüstenlandschaft, über der eine künstliche Sonne aufgeht. Der in strahlendem Glanze erscheinende posthumane Planet – ohne die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und Hungersnöte bzw. die Missstände, die der Computer zuvor moniert hatte. Der Mensch Alex hat also etwas gebaut, das von der Überwindung und Abschaffung des Menschen träumt. Ist dieses Streben nach Instabilität des Teufels Saat oder vielleicht eher die Saat des Unbewussten? Bedeutet die Position des Unbewussten immer ein Träumen des Einen von der Abschaffung der eigenen Stabilität und Lust am eigenen Schwindel? Und wird hierdurch eine neue Moral notwendig? Wie wurden in Demon Seed Konzepte des Unbewussten filmisch erzählt und kommentiert? Einerseits über die Assoziation mit Figuren (Susan, Träume des Computers) und andererseits über die Koppelung an bestimmte Sehkonzeptionen. Übernimmt etwa die dem Film zugrunde liegende Novelle die Erzählperspektive der Susan (in der zweiten Fassung von 1997 dann die des Computers), so konnte der Film mit weitaus mehr Perspektiven jonglieren. Er offerierte eine Vielfalt der Blicke, die sich in die Kameraperspektiven im Haus, den cinematique gaze (männlicher penetrierender Blick, visual pleasure), das guilty-pleasure-Sehen (partizipierendes Schuldigwerden an Vergewaltigungen), den technological gaze, den endoscopic gaze, psychedelische Monitorvisionen und den filmfigürlichen Blick in die Kamera aufschlüsseln lassen. Das filmische Medium mit seinen Vielfachperspektivierungen, Blickwechseln und Perspektivverschiebungen ist bestens dazu geeignet, vieldeutige Visualitäten und verschiedene Identifizierungsmöglichkeiten herzustellen. Jede veränderte Wahrnehmungsweise erzeugt auch neue Leseweisen. Demon Seed ist also ein Film über abweichendes Sehen, schräge Blicke, Zusatzperspektiven und solche aus dem Augenwinkel. Die Zusatzperspektiven an den unscharfen Rändern des Fokusblicks sagen etwas über die Prämissen und Gesetzmäßigkeiten aus – eben die spezifische Art, in der Wissen jeweils in Szene gesetzt wird. Das, was im Augenwinkel des Unbewussten auftaucht, diese »Schattenexistenzen«, können den Fokus ändern, ihn shiften, abschweifen lassen, den Zuschauenden in die Irre führen und irritieren. Hier bündelt sich kontingentes, überschüssiges und zunächst unfassbares Wissen. Die Blicke ins Unbewusste sind im Film dem (natur-)wissenschaftlichen Sehen gegenübergestellt. Um sich selbst als wissenschaftlich zu verstehen bzw. zu autorisieren, versucht letzteres, diese Winkelphänomene auszublenden. Die Perspektiven des Unbewussten erinnern die im Film verhandelten realen (Natur-)Wissenschaften aber daran, dass sie ihr Wissen selbst herstellen. Auf diese Weise wurde Wissenschaft als poröses, fluktuierendes System gezeigt, das in Filmen multiperspektivisch, und eben nicht einseitig oder eindeutig, darge39 Das Halbrund am unteren Bildrand weist bildästhetisch darauf hin, dass das Bild eines der Erde ist.
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stellt werden kann. Dies geschah, indem der Science-Fiction-Film blinde Felder, Leerstellen, Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten produzierte, die die Wissensrepräsentationen verunsicherten. Der Computer half Susan und Alex dabei, beider Trauma – den Verlust ihres Kindes – wieder aufzudecken. Er materialisierte die verdrängten Bewusstseinsinhalte in seiner äußerlich reduplizierten und innerlich technologisierten Tochter. Was für Problematiken und Herausforderungen wird deren Unbewusstes wohl in sich bergen?
Abbildungsnachweis: Alle Abbildungen stammen aus dem Film Demon Seed (1977). Die Bildrechte verbleiben bei ihren Eigentümern. Die Filmstills bzw. Abbildungen sind in den wissenschaftlichen Kontext eingebunden, dienen also einem wissenschaftlichen Zweck und werden dementsprechend als wissenschaftliche Zitate aufgefasst.
Au torinne n und Autore n
Annette Bitsch ist Gastprofessorin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt erschienen »Nietzsches physiologische Ästhetik: die Konzeption des Körpers als Medium«, in: Renate Reschke/ Volker Gerhardt (Hg.), Friedrich Nietzsche – Geschichte, Affekte, Medien. Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzschegesellschaft (2008) und Diskrete Gespenster. Die Genealogie des Unbewussten aus der Medientheorie und Philosophie der Zeit (2009). Bettina Bock v. Wülfingen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt erschienen: »Platonische Gene – Materialisierte Liebe in der postsexuellen Fortpflanzung«, in: Irene Berkel (Hg.), Postsexualität. Zur Transformation des Begehrens (2009); sowie »Zeugung«, in: Christina von Braun/Inge Stephan (Hg.), Gender@Wissen, 2. Aufl. 2009 (im Erscheinen). Christina von Braun, Professorin für Kulturwissenschaft an der HumboldtUniversität zu Berlin. Letzte Publikationen: Nicht ich. Logik Lüge Libido (1985, Neuauflage 2009); Stille Post. Eine andere Familiengeschichte (2007); Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen (zusammen mit Bettina Mathes, 2007). Claudia Bruns ist Juniorprofessorin für Wissens- und Geschlechtergeschichte am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt erschienen: Von Lust und Schmerz. Eine historische Anthropologie der Sexualität (hg. mit Tilmann Walter, 2004); Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur, 1880-1934 (2008).
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Gabriele Dietze ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der DFG-Forschergruppe »Kulturen des Wahnsinns als Schwellenphänomen urbaner Moderne« an der Humboldt-Universität zu Berlin und zur Zeit Gastprofessorin an der Columbia University, New York. Zuletzt erschienen: Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität (zusammen mit Katharina Walgenbach, Antje Hornscheidt und Kerstin Palm, 2007); Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht (hg. mit Claudia Brunner und Edith Wenzel, 2009). Dorothea Dornhof ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der DFG-Forschergruppe »Kulturen des Wahnsinns als Schwellenphänomen urbaner Moderne« an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt erschienen: Orte des Wissens im Verborgenen. Kulturhistorische Studien zu Herrschaftsbereichen des Dämonischen (2005) und »Figurationen dämonischer Weiblichkeit an der Schnittstelle von Literatur und Wissen. Mela Hartwigs ›Ekstasen‹ (1928)«, in: Neue Beiträge zur Germanistik, hg. von der Japanischen Gesellschaft für Germanistik (2008). Claude Draude ist Stipendiatin im Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie« an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt erschien: »Who’s Afraid of Virtual Humans?«, in: Proceedings of AISB, Conference on Adaptive and Emergent Behaviour and Complex Systems. Symposium »Killer Robots vs Friendly Fridges – The Social Understanding of Artificial Intelligence«, hg. von Greg Michaelson und Ruth Aylett (2009). Maja Figge promoviert derzeit am Institut für Kulturwissenschaft und ist assoziierte Kollegiatin im DFG-Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie« an der Humboldt-Universität zu Berlin. Demnächst erscheint: »Tanzen zum Soundtrack der Demokratisierung. Zum Verhältnis von Männlichkeit, Weißsein und Deutschsein in Alle lieben Peter (BRD 1959, R: Erich Engel)«, in: Daniela Wentz/André Wendler (Hg.), Die Medien und das Neue, 21. Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium (2009). Ute Frietsch ist derzeit Scholar-in-Residence am Deutschen Museum in München. Zuletzt erschienen: »Die Ordnung der Dinge«, in: Clemens Kammler et al. (Hg.), Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (2008); »Häresie und ›pseudo-scientia‹. Zur Problematisierung von Alchemie, Chymiatrie und Physik in der Frühen Neuzeit«, in: Dirk Rupnow et al. (Hg.), Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte (2008).
AUTORINNEN UND AUTOREN | 443
Günter Gödde ist frei praktizierender Psychotherapeut sowie Dozent, Supervisor, Lehrtherapeut und Mitglied der Akademieleitung an der Berliner Akademie für Psychotherapie. Zuletzt erschienen: Traditionslinien des ›Unbewussten‹. Schopenhauer, Nietzsche, Freud (2. Aufl. 2009) sowie Das Unbewusste, Bd. I-III (hg. mit Michael Buchholz, 2005/6). Michael Hagner ist Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich. Jüngste Publikationen: Der Geist bei der Arbeit. Historische Untersuchungen zur Hirnforschung (2006); Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik (hg. mit Erich Hörl, 2008). Ellen Harlizius-Klück ist zur Zeit freie Mitarbeiterin am Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke in München im Projekt »Dyadische Arithmetik in Philosophie und Weberei«. Zuletzt erschienen: »Das unendliche Geschlecht. Löcher und Lücken im Gewebe der Mathematik«, in: Ute Frietsch/ Konstanze Hanitzsch/Jennifer John und Beatrice Michaelis (Hg.): Geschlecht als Tabu. Orte, Dynamiken und Funktionen der De/Thematisierung von Geschlecht (2008) sowie der Artikel »Weben, Spinnen«, in: Ralf Konersmann (Hg.), Wörterbuch philosophischer Metaphern (2007). Tilo Held, Psychiater und Psychoanalytiker, ist apl. Professor für Psychiatrie an der Universität Bonn und war Direktor der Rheinischen Kliniken Bonn sowie Direktor der Fliedner Klinik in Berlin. Hermann-Simon-Preis für Sozialpsychiatrie. Publikationen zu Psychoanalyse, Sozialpsychiatrie und Kritik der psychiatrischen Diagnostik. Christoph F.E. Holzhey ist Gründungsdirektor des Berlin Institute for Cultural Inquiry (ICI Kulturlabor Berlin). Zuletzt erschien: Der Einsatz des Lebens. Lebenswissen, Medialisierung, Geschlecht (zusammen mit Astrid DeuberMankowsky und Anja Michaelsen, 2009). Eva Johach ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt erschienen: Krebszelle und Zellenstaat. Zur medizinischen und politischen Metaphorik der Zellularpathologie Rudolf Virchows (2008); »Schwarm-Logiken. Genealogien sozialer Organisation in Insektengesellschaften«, in: Eva Horn/Lucas Marco Gisi (Hg.), Schwärme. Kollektive ohne Zentrum (2009). Julia Barbara Köhne ist Universitätsassistentin am Institut für Zeitgeschichte an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Schwerpunkt Visuelle Zeit- und Kulturgeschichte. Zuletzt erschienen: Kriegshysteriker. Strategische Bilder und mediale Techniken militärpsychiatrischen Wissens, 1914-1920 (2009) und (zusammen mit Ina Heumann): Ver-
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schiebungen. Analysen zum intermedialen, diskursiven und zeitlichen Transfer von Wissen (Themenheft der österreichischen Zeitschrift »zeitgeschichte«, 2009). Susanne Lummerding, Kunst- und Medienwissenschaftlerin, ist Gastprofessorin für Gender Studies an der Universität Klagenfurt/Celovec und lehrt an der Universität Wien sowie an der Universität für angewandte Kunst Wien. Zuletzt erschienen: agency@? Cyber-Diskurse, Subjektkonstituierung und Handlungsfähigkeit im Feld des Politischen (2005) und: »[I] [myself] [am] [war] [!]«, in: Gülsen Bal (Hg.), I myself am war! (2009). web: www.lummerding.at Jeannie Moser war Stipendiatin am Konstanzer Graduiertenkolleg »Die Figur des Dritten« und Junior_Fellow am IFK Wien. Derzeit ist sie wissenschaftliche Assistentin in Ausbildung am Institut für Germanistik der Universität Wien. Zuletzt erschien: Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften (hg. zusammen mit Arne Höcker und Philippe Weber, 2006). Kathrin Peters ist derzeit Vertretungsprofessorin im Studiengang Europäische Medienwissenschaft in Potsdam. Zuletzt erschien: die stadt von morgen (hg. zusammen mit Annette Maechtel, 2008). Joseph Vogl ist Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt erschienen u.a.: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen (2002); Über das Zaudern (2007); Soll und Haben. Fernsehgespräche (mit Alexander Kluge, 2009). Silke Wenk ist Professorin für Kunstwissenschaft und Sprecherin des Kollegs Kulturwissenschaftliche Geschlechterstudien am Kulturwissenschaftlichen Institut der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Zahlreiche Publikationen zu feministischer Kunstwissenschaft, visueller und Vergangenheitspolitik. Ingrid Wurst ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche und niederländische Philologie der Freien Universität Berlin und promoviert zum Thema »Psychophysiologie und Poetik der Revolution. Das Unbewusste im Staatsorganismus« (Arbeitstitel). Zuletzt erschienen: »Die Revolution – ein böser Traum? Carl Gustav Carus’ psychophysisches Staatsmodell«, in: Petra Kuhlmann-Hodick et al. (Hg.), Carl Gustav Carus – Wahrnehmung und Konstruktion (2009).
GenderCodes – Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht Ulrike Brunotte, Rainer Herrn (Hg.) Männlichkeiten und Moderne Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900 2007, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-707-3
Gabriele Dietze Weiße Frauen in Bewegung Genealogien und Konkurrenzen von Race- und Genderpolitiken Januar 2010, ca. 450 Seiten, kart., ca. 31,80 €, ISBN 978-3-89942-517-8
Gabriele Dietze, Claudia Brunner, Edith Wenzel (Hg.) Kritik des Okzidentalismus Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht September 2009, 316 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1124-3
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Ute Frietsch, Konstanze Hanitzsch, Jennifer John, Beatrice Michaelis (Hg.) Geschlecht als Tabu Orte, Dynamiken und Funktionen der De/Thematisierung von Geschlecht 2007, 270 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-713-4
Sabine Grenz, Martin Lücke (Hg.) Verhandlungen im Zwielicht Momente der Prostitution in Geschichte und Gegenwart 2006, 350 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-549-9
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GenderCodes – Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht Bettina Bock von Wülfingen, Ute Frietsch (Hg.) Epistemologie und Differenz Zur Reproduktion des Wissens in den Wissenschaften Oktober 2009, ca. 210 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1013-0
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