Fotografischer Kosmos: Der Beitrag eines Mediums zur visuellen Ordnung der Welt [1. Aufl.] 9783839409916

Unter Rückgriff auf zahlreiche, insbesondere symboltheoretische Ansätze unternimmt diese Studie den interessanten Versuc

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German Pages 212 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Die Ordnung der Welt
1.1 Was heißt „Ordnung der Welt“?
1.2 Die Ordnung der Welt in der modernen philosophischen Anthropologie: Max Scheler
1.3 Die symboltheoretische Konzeption einer anthropologischen Ordnung der Welt: Ernst Cassirer
1.4 Symbolische Ordnung und geistige Orientierung
1.5 Die mediale Ordnung der Welt
2. Der fotografische Prozess
2.1 Die Fotografie als Verfahren der „natürlichen“ Abbildung
2.2 Die Diskussion um den Kunststatus der Fotografie und die Infragestellung ihrer Symbolizität
2.3 Die Fotografie als Verfahren zur Herstellung von Symbolen
3. Das fotografische Zeichen
3.1 Fotografien im Kontext kausaler Bildtheorien
3.2 Zur allgemeinen Bildlichkeit von Fotografien
3.3 Fotografien im Kontext von Ähnlichkeitstheorien
3.4 Nelson Goodmans symboltheoretische Beschreibung bildhafter Zeichensysteme
3.4.1 Denotation
3.4.2 Exemplifikation und Ausdruck
3.4.3 Die syntaktische und semantische Struktur von Symbolsystemen
3.5 Das fotografische Zeichen – Versuch einer symboltheoretischen Bestimmung
4. Die Fotografie als Medium der visuellen Ordnung der Welt
4.1 Fotografie als kultureller Symbolismus
4.2 Der visuelle Code der Fotografie
4.2.1 Die Codifizierbarkeit ikonischer und fotografischer Zeichen
4.2.2 Die Gliederung des ikonischen Codes
4.3 Der gesellschaftliche Gebrauch der Fotografie
4.3.1 Private Portraitfotografie
4.3.2 Wissenschaftliche Portraitfotografie
4.4 Die Fotografie als mediale Erweiterung des mythischen Symbolismus
4.5 Künstlerische Portraitfotografie
5. Die Fotografie im Zeitalter ihrer Digitalisierung
5.1 Die Digitalisierung der Fotografie
5.2 Die „Virtualisierung“ der Fotografie
5.3 Zur Unterscheidung von analogen und digitalen Fotografien
Schlussbemerkungen
Abbildungen
Bildquellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
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Fotografischer Kosmos: Der Beitrag eines Mediums zur visuellen Ordnung der Welt [1. Aufl.]
 9783839409916

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Thomas Cohnen Fotografischer Kosmos

2008-07-21 14-04-11 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 029e184543945376|(S.

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Thomas Cohnen (Dr. phil.) studierte Germanistik, Chemie, Philosophie und Pädagogik und arbeitet zurzeit als Referent für Deutsch am Institut für schulische Fortbildung und schulpsychologische Beratung des Landes RheinlandPfalz.

2008-07-21 14-04-11 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 029e184543945376|(S.

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Thomas Cohnen

Fotografischer Kosmos Der Beitrag eines Mediums zur visuellen Ordnung der Welt

2008-07-21 14-04-11 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 029e184543945376|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Giuseppe Primoli: Prinz Emanuele Filiberto. Italien 1893-1895 Lektorat & Satz: Thomas Cohnen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-991-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2008-07-21 14-04-11 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 029e184543945376|(S.

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Inhalt

Vorwort 1. Die Ordnung der Welt 1.1 Was heißt „Ordnung der Welt“? 1.2 Die Ordnung der Welt in der modernen philosophischen Anthropologie: Max Scheler 1.3 Die symboltheoretische Konzeption einer anthropologischen Ordnung der Welt: Ernst Cassirer 1.4 Symbolische Ordnung und geistige Orientierung 1.5 Die mediale Ordnung der Welt 2. Der fotografische Prozess 2.1 Die Fotografie als Verfahren der „natürlichen“ Abbildung 2.2 Die Diskussion um den Kunststatus der Fotografie und die Infragestellung ihrer Symbolizität 2.3 Die Fotografie als Verfahren zur Herstellung von Symbolen 3. 3.1 3.2 3.3 3.4

Das fotografische Zeichen Fotografien im Kontext kausaler Bildtheorien Zur allgemeinen Bildlichkeit von Fotografien Fotografien im Kontext von Ähnlichkeitstheorien Nelson Goodmans symboltheoretische Beschreibung bildhafter Zeichensysteme 3.4.1 Denotation 3.4.2 Exemplifikation und Ausdruck 3.4.3 Die syntaktische und semantische Struktur von Symbolsystemen 3.5 Das fotografische Zeichen – Versuch einer symboltheoretischen Bestimmung

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4.

Die Fotografie als Medium der visuellen Ordnung der Welt 4.1 Fotografie als kultureller Symbolismus 4.2 Der visuelle Code der Fotografie 4.2.1 Die Codifizierbarkeit ikonischer und fotografischer Zeichen 4.2.2 Die Gliederung des ikonischen Codes 4.3 Der gesellschaftliche Gebrauch der Fotografie 4.3.1 Private Portraitfotografie 4.3.2 Wissenschaftliche Portraitfotografie 4.4 Die Fotografie als mediale Erweiterung des mythischen Symbolismus 4.5 Künstlerische Portraitfotografie 5. 5.1 5.2 5.3

Die Fotografie im Zeitalter ihrer Digitalisierung Die Digitalisierung der Fotografie Die „Virtualisierung“ der Fotografie Zur Unterscheidung von analogen und digitalen Fotografien

105 105 115 115 119 120 126 141 146 154 159 160 165 177

Schlussbemerkungen

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Abbildungen

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Bildquellenverzeichnis

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Literaturverzeichnis

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„Auf Verwechslung des Symbols mit dem Symbolisirten - auf ihre Identisirung - auf den Glauben an wahrhafte, volls[tändige] Repraesentation - und Relation des Bildes und des Originals - der Erscheinung und der Substanz - auf die Folgerung von äußerer Aehnlichkeit - auf durchgängige innre Übereinstimmung und Zusammenhang - kurz auf Verwechselungen von Subj[ect] und Obj[ect] beruht der ganze Aberglaube und Irrthum aller Zeiten, und Völker und Individuen.“ Novalis

Vorw ort

Am 3. Juli 1839 hielt der französische Physiker und Politiker Dominique François Arago eine Ansprache vor der Deputiertenkammer in Paris, in der er seinen Abgeordnetenkollegen das von Louis Jacques Daguerre entwickelte fotografische Verfahren vorstellte. Diesem war es gelungen, versilberte Kupferplatten mit Bromdämpfen zu fotosensibilisieren, sie nach ihrer Belichtung in einer Kamera mit Quecksilberdämpfen zu entwickeln und abschließend durch Kochsalz- oder Natriumthiosulfatlösungen zu fixieren. Damit war Daguerre als erster in der Lage, Fotografien herzustellen, die sich sowohl durch eine hohe Abbildungsqualität als auch durch eine große Haltbarkeit auszeichneten. Auch wenn Arago als Physiker vor allem den wissenschaftlichen Nutzen des neu erfundenen Mediums im Blick hatte, so sah er doch dessen darüber hinausgehende Bedeutung. Die Intention seiner Ansprache war es jedenfalls, die Deputierten davon zu überzeugen, das vorgestellte Verfahren „zu ‚vergesellschaften‘ und den Erfinder durch staatliche Mittel zu entschädigen.“1 Unterstützt von anderen Fürsprechern wie Gay-Lussac und Paul Delaroche hatte Arago Erfolg: Mit großer Mehrheit stimmte die Deputiertenkammer für den staatlichen Erwerb der Daguerreotypie und Daguerre erhielt fortan aus Steuergeldern eine jährliche Pension von 6000 Franc. Aragos politische Intervention zugunsten der Fotografie in ihrer frühesten Form ist nur ein Indiz dafür, dass sich die Zeitgenossen Daguerres wohl bewusst waren, welche Medienrevolution sich mit der Erfindung der Daguerreotypie und ihrer Weiterentwicklung in den folgenden Jahren vollzog – auch wenn die heutige Allgegenwärtigkeit von Fotografien damals wohl noch außerhalb des Vorstellbaren lag. Die intensive theoretische und dabei durchaus 1

Wolfgang Kemp, in: Wolfgang Kemp, Theorie der Fotografie 1. 1839-1912. München 1999, S. 51 9

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

auch kritische Begleitung, die dem Medium vom Zeitpunkt seiner Erfindung an zuteil wurde, ist ein weiteres. Aragos Beurteilung der Fotografie als nützliches Hilfsmittel für die Wissenschaften wurde dabei rasch durch die kontrovers diskutierte Frage verdrängt, ob Fotografie Kunst sein könne. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung wurde die Fotografie Gegenstand sowohl euphorischer Huldigungen wie auch radikaler Ablehnung. Fasziniert hat sie vor allem mit ihrer vermeintlichen Fähigkeit, die fotografierten Motive realistisch abzubilden. In der Tat erschienen die Übereinstimmungen zwischen Abgebildetem und fotografischer Abbildung durch deren Detailreichtum vielen so weitreichend, dass sie geradezu von einer Selbstdarstellung der Natur ausgingen. Das mechanische und dabei automatisch ablaufende Verfahren der Bildproduktion schien diese Ansicht zu bestätigen. Dieser mechanische Charakter des Herstellungsverfahrens von Fotografien wie auch die durch diese abgebildete Detailfülle lieferten andererseits aber auch die Argumente, ihren Kunststatus in Frage zu stellen. „Der große Künstler konzentriert das Interesse, indem er die unnützen und dummen Details unterdrückt“, behauptete Delacroix2 und bringt damit zum Ausdruck, dass die Fotografie, die ja nicht anders kann, als detailgenau abzubilden, per se keine Kunstwerke hervorbringen kann. Unterstützt wurde er in dieser Ansicht u.a. von Baudelaire, für den Kunst „nichts anderes ist als eine Abstraktion und ein Opfern des Details zugunsten des Ganzen“3 und daher der selektierenden und formenden Aktivität eines Künstlers bedarf, einer Aktivität also, die die Fotografie in ihrer Mechanik gar nicht mehr zulässt. Freilich fand die These Delacroix’ und Baudelaires, dass künstlerische Abbildungen nicht zu detailgenau sein dürfen, zur gleichen Zeit Widerspruch. John Ruskin etwa geht in der Detailfrage differenzierter vor, indem er „Details ohne und Details mit Wahrheit“4 unterscheidet, letztere als prägnante Merkmale dessen, was durch sie gekennzeichnet wird, bestimmt und damit als Gegenstand der Kunst entdeckt. Nichtsdestotrotz war der Legitimationsdruck, der auf der Fotografie aufgrund ihrer detailgenauen Abbildungsleistung und ihres mechanischen Verfahrens lastete, noch lange so groß, dass Fotografen viel Kreativität und auch enormen persönlichen Arbeitsaufwand in der Dunkelkammer aufbrachten, um den Detailreichtum ihrer Fotografien zu vermindern und den handwerklichen Charakter zu steigern. „Künstlerische Unschärfe“ war der Leitbegriff, mit dem die Piktorialisten ihren Gegnern zu begegnen suchten.

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Zit. nach Kemp, a.a.O., S. 14 Zit. nach Kemp, a.a.O., S. 14 Zit. nach Kemp, a.a.O., S. 15

VORWORT

Doch obwohl sie dadurch den Blick unwillkürlich wieder auf die Eigengesetzlichkeiten des Mediums lenkten und sich so die Möglichkeit eröffnete, die spezifischen Merkmale der Fotografie einmal unpolemisch, unabhängig von allen Wertungen zu bestimmen, konnten sich die medientheoretischen Erörterungen der Fotografie auch jetzt nicht von der Kontroverse zwischen kulturkonservativem Skeptizismus und medienoptimistischer Fortschrittsgläubigkeit emanzipieren. Ein Grund hiefür mag gewesen sein, dass inzwischen ein weiterer Aspekt des Fotografischen den Alltag der Menschen beeinflusste: die massenhafte Reproduktion von Fotografien in Druckerzeugnissen. Während die Möglichkeit zur Herstellung mehrerer Abzüge, wie sie das parallel zur Daguerreotypie von Henry Fox Talbot entwickelte NegativPositiv-Verfahren bereitstellte,5 in der Frühzeit der Fotografie nur im privaten Bereich (z.B. bei der Anfertigung von fotografischen Visitenkarten) genutzt wurde, erreichte bald nach der Erfindung der Autotypie im Jahre 1883, mit der Fotos in Rasterpunkte zerlegt und damit in Zeitungen abgedruckt werden konnten, die Vervielfältigung von Fotografien immer neue Höhenpunkte. So meldeten sich schnell Kritiker zu Wort, die „1. vor der Überflutung der Sinne und vor Erfahrungsverlust, 2. vor Verbreitung falscher Geschmacksmuster und 3. vor falscher bzw. unmöglicher Popularisierung“6 warnten. Und auch die – heute noch aktuellen – Befürchtungen, „daß die Fotografie immer mehr an die Stelle der Wirklichkeit trete“,7 wurde damals bereits artikuliert. Die daneben weiterhin geführte Diskussion der Frage, ob Fotografie selbst als Kunst angesehen werden kann, wurde angesichts dieses zunehmenden Auftretens der Fotografie in den Massenmedien ergänzt um die Untersuchung der Folgen, die die massenhafte Reproduktion künstlerischer Werke durch die Fotografie mit sich brachte. Für den Schweizer Rodolphe Töpffer bedeutete noch in der Zeit der Daguerreotypien die fotografische Vervielfältigung von Kunst eine Einschränkung oder gar Zerstörung ihrer auf unmittelbare Begegnung beruhenden Wirkung. Demnach haben Leute, die sich an der Vorstellung erfreuen, „in absehbarer Zukunft die ganze bewohnte Erde auf Platten gebannt zu besitzen“, nicht berücksichtigt, „daß dieses Geheimnis der fernen Denkmäler und zerstreuten Ruinen einen Gutteil des Reizes ausmacht, den wir genießen, wenn wir ihre unvollkommenen und unter Mühen erreichten Abbilder betrachten , und daß es fast ein Frevel ist, wenn man diesen Reiz zerstört, indem man ihn steigern will.“8 Walter Benjamin hat für die von Töpffer beschriebenen Konsequenzen der fotografischen Vermittlung von Kunst fast 100 Jahre später die berühmt 5 6 7 8

Daguerreotypien waren stets Unikate. W. Kemp, Theorie der Fotografie 1839-1912. In: Kemp, a.a.O., S. 37 W. Kemp, a.a.O., S. 37 Rodolphe Töpffer, Über die Daguerreotypie. In: W. Kemp, Theorie der Fotografie 1. 1839-1912. München 1999, S. 70 11

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

gewordene Wendung vom „Verfall der Aura“9 verwendet, ohne dabei allerdings Töpffers einseitige Klagehaltung einzunehmen, weil er durchaus auch sah, dass die Reproduzierbarkeit des Kunstwerks „dieses zum ersten Mal in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual“10 emanzipierte. Bezeichnenderweise erhielten in jener Zeit, in der Benjamin die Auswirkungen der fotografischen Reproduktion für das Kunstwerk diagnostizierte, die Bemühungen um eine Legitimation der Fotografie als eigenständige Kunstform neue Kraft. Inzwischen hatte sich die abstrakte Kunst entwickelt, und es ist bis heute üblich, diese Entwicklung auch auf die Erfindung der Fotografie zurückzuführen. Da diese, so das dabei verwendete Erklärungsmuster, die Aufgabe der Wiedergabe der Wirklichkeit übernommen hatte, wurde die bildende Kunst gleichsam frei zur „Erschließung der abstrakten Bildwelten“.11 Dass diese Erklärung und die daraus abgeleitete Monopolstellung der bildenden Kunst bezüglich der abstrakten Darstellung durchaus fragwürdig ist, beweist nicht nur das Auftauchen erster abstrakter Tendenzen in der Malerei schon vor Erfindung und Verbreitung der Fotografie (etwa bei Tuner), sondern auch das Bemühen von Fotografen zu Beginn des 20. Jahrhunderts um eine Fotografie, die die abstrakten Tendenzen der bildenden Kunst mitvollzieht. So forderte Alvin Coburn 1916 in dem Buch Photograms of the year, dass „auch die Kamera die Fesseln konventioneller Darstellungskunst“ abstreift, indem z.B. „Perspektiven von bisher vernachlässigten oder nicht wahrgenommenen Blickwinkeln aus versucht werden“.12 Die Fotografie, die er dabei – die Bauhaus-Theoretiker vorwegnehmend – im Blick hatte, sollte ihr Abbildungsinteresse zunehmend vom konkreten Gegenstand auf dessen Struktur und Form verschieben, also in gewisser Weise abstrakt werden. Damit wurde aber der Realismus, der traditionell als wesentliches Charakteristikum der Fotografie zugeschrieben wurde, fraglich. Tatsächlich ebnete Coburn einer Entwicklung den Weg, die zur subjektiven Fotografie führte, also zu einer Fotografie, als deren primäre Aufgabe der Ausdruck der Innerlichkeit des Fotografen verstanden wurde. Damit hatte aber die Theorie der Fotografie einen Punkt erreicht, der ihrem Ausgangspunkt diametral entgegengesetzt war. Wo ursprünglich die mechanische Subjektfreiheit als bestimmendes Kriterium eines neuen Bildmedi9

Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt/M. 1994, S. 15 10 Benjamin, a.a.O., S. 17 11 W. Kemp, Theorie der Fotografie 1912-1945. In: Kemp, Theorie der Fotografie 2. München 1999, S. 13 12 Alvin Langdon Coburn, Die Zukunft der bildmäßigen Fotografie. In: W. Kemp, Theorie der Fotografie 2, a.a.O., S. 55 f. 12

VORWORT

ums genannt wurde, das daher Gegenstände in ihrem konkreten Auftreten realistisch zu reproduzieren in der Lage sein sollte, trat nun die Subjektivität der abstrakten Fotografie. Das heißt freilich nicht, dass die ursprüngliche Anschauung von der wirklichkeitsgetreuen Abbildungsleistung der Fotografie nicht weiter vertreten worden wäre und noch immer vertreten wird. Man sieht: So intensiv die Diskussionen über Fotografie seit ihrer Erfindung auch geführt wurden, so disparat, widersprüchlich und unbefriedigend waren die Befunde, die aus ihnen resultierten. Nach wie vor ermangelt es der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Medium Fotografie eines konsistenten Ansatzes, der die divergierenden Beschreibungen der charakteristischen Merkmale und Leistungen der Fotografie unter einen einheitlichen Erklärungsrahmen stellen könnte. So verwundert es auch nicht, dass Vilém Flusser noch 1983 eine eigene „Philosophie der Fotografie“13 forderte. Der erste Ansatz, den er dabei lieferte, blieb angesichts seines tragischen Unfalltods 1991 unvollendet. Natürlich kann auch die vorliegende Arbeit Flussers Forderung einer umfassenden Philosophie der Fotografie, d.h. einer „Kritik des Funktionalismus in allen seinen anthropologischen, wissenschaftlichen, politischen und ästhetischen Aspekten“14 nicht einlösen. Sie versucht aber, dem von Flusser gesetzten Ziel ein Stück näher zu kommen. Die theoretische Perspektive, die dabei eingenommen wird, ist im Wesentlichen eine symboltheoretische und damit in erster Linie vom Werk Ernst Cassirers inspiriert. Als Neukantianer steht Cassirer in einer philosophischen Tradition, die die vom Subjekt erkannte Realität als dessen eigenes geistiges Produkt begreift. Nur in Form einer mentalen Repräsentation – so die Prämisse dieses Ansatzes – hat der Mensch überhaupt Zugang zur Wirklichkeit. Das heißt aber, dass er diese immer schon geistig umformen und in eine für ihn fassbare Symbolstruktur bringen muss. Die Ordnung dieser Symbolstrukturen, also dieser Systeme aus wechselseitig aufeinander verweisenden, wechselseitig sich bestimmenden und daher bedeutsamen Zeichen, bestimmt die Ordnung der Welt (1. Kapitel). Die durch seine geistige Tätigkeit entstehenden Symbolisierungen spielen also die entscheidende Rolle für die Weltorientierung des Menschen. Dass sich der Mensch mittels symbolischer Ordnungen in der Welt geistig orientiert, ist für Cassirer das Humanum, also das entscheidende Kriterium, das den Menschen als Menschen charakterisiert. Er bestimmt den Menschen 13 Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie. Göttingen 1997 14 Flusser, a.a.O., S. 71 13

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

deshalb auch als „animal symbolicum“.15 Als solches ist er aus seiner unmittelbaren Eingebundenheit in seine Umwelt herausgelöst und von dieser emanzipiert. Andererseits ist der Mensch der Wirklichkeit aber auch soweit entrückt, dass er der Vermittlung zu ihr bedarf. Als symbolisches Wesen ist der Mensch also immer auch mediales Wesen. Bereits die primäre Wahrnehmung vollzieht sich für ihn medial, also vermittelt durch seine geistigen Fähigkeiten, Erfahrungswirklichkeiten symbolisch zu formen und damit seinem Bewusstsein zugänglich zu machen. In dieser medialen Anlage liegt bereits der Impuls des Menschen begründet, seine symbolisierenden Fähigkeiten zu externalisieren und damit an apparative Vermittlungsinstanzen zu delegieren. Entscheidend dabei ist, dass – ganz im Sinne von M. McLuhans Diktum, nach dem das Medium die Botschaft ist16 – die technische Einrichtung des Mediums die Vermittlungsbedingungen und damit auch die vermittelte Bedeutung bestimmt. Medien sind also immer auch an der Formung und Konstruktion von Realitäten beteiligt. Anders gesagt: Die symbolische Ordnung der Welt, in der sich der Mensch erfährt, ist immer auch eine mediale Ordnung. Dies bedeutet, dass auch ein Medium wie die Fotografie maßgeblich an der Ordnung der Welt beteiligt ist – zumal, wenn es sich einer derartigen Verbreitung erfreut. Die ursprünglich vertretene und auch heute noch verbreitete Ansicht, dass Fotografie ein technisches Verfahren zur Verfügung stellt, das die realistische Widerspiegelung der Wirklichkeit erlaubt, steht zu dieser Grundannahme im Widerspruch. Die kritische Betrachtung des fotografischen Prozesses (2. Kapitel), also des technischen Verfahrens zur Herstellung fotografischer Bilder, wird bemüht sein müssen, diesen Widerspruch aufzulösen. Dabei wird sich zeigen, dass das fotografische Verfahren keineswegs eine direkte und unmittelbare Abbildung erlaubt. Vielmehr ist es – beginnend bei der physikalischen Apparatur der Kamera mit ihrer jahrhundertelangen Entwicklungsgeschichte bis hin zur chemischen Fixierung der mit ihr eingefangenen optischen Informationen – derart theoriegesättigt, dass es nur als Verfahren zur Herstellung von Symbolen und damit zur geistigen Formung von medialer Realität verstanden werden kann. Die beim fotografischen Prozess produzierten fotografischen Zeichen (3. Kapitel) lassen sich als Symbole dabei weder mit kausalen Bildtheorien, also der Annahme einer direkten Selbstabbildung des Abgebildeten, noch durch die Annahme einer Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Bild und Abgebildetem verständlich machen. Vielmehr bedarf es einer dezidiert symboltheoretischen 15 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Frankfurt/M. 1990, S. 51 16 Vgl. Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Dresden 1994, S. 23 ff. 14

VORWORT

Bestimmung von Fotografien, wie sie auf der Grundlage von Nelson Goodmans symboltheoretischer Beschreibung bildhafter Zeichensysteme vorgenommen wird. Auf der Basis dieser Bestimmung ist es dann möglich, die Fotografie als Medium der visuellen Ordnung der Welt (4. Kapitel) zu beschreiben. Dabei wird deutlich werden, dass die Fotografie als kultureller Symbolismus im Kontext aller anderen Symbolismen steht, die Cassirer in ihrer wirklichkeitsformenden Kraft nennt, allen voran die Sprache. Daher besitzen auch Fotografien einen (freilich visuellen) Code, der ihre Verständlichkeit im Rahmen der visuellen Kommunikation sichert und damit den gesellschaftlichen Gebrauch der Fotografie, wie wir ihn allenthalben erleben können, überhaupt erst ermöglicht. Dieser gesellschaftliche Gebrauch der Fotografie ist in der Tat so umfassend, dass er lediglich anhand einiger exemplarischer Aspekte im Lichte des zugrundegelegten symboltheoretischen Ansatzes untersucht werden kann. Die Aufmerksamkeit wird sich dabei auf die Portraitfotografie mit ihren privaten, wissenschaftlichen und künstlerischen Anwendungsfeldern fokussieren. Abschließend soll die Fotografie im Zeitalter ihrer Digitalisierung (5. Kapitel) betrachtet werden. Angesichts medienkritischer Stimmen, die mit der Digitalisierung eine Virtualisierung der Fotografie einhergehen und damit das Ende des fotografischen Zeitalters gekommen sehen, sollen die Folgen, die die jüngsten Veränderungen im technischen Herstellungs- und Speicherungsprozess von fotografischen Abbildungen mit sich bringen, untersucht und Möglichkeiten ausgelotet werden, analoge von digitalen Fotografien zu unterscheiden. „Die Philosophie der Fotografie ist notwendig“, schreibt Flusser, „um die fotografische Praxis ins Bewußtsein zu heben; und das wiederum, weil in dieser Praxis ein Modell für die Freiheit im nachindustriellen Kontext überhaupt aufscheint.“ Und er fährt fort: „Die Philosophie der Fotografie hat aufzudecken, daß die menschliche Freiheit im Bereich der automatischen, programmierten und programmierenden Apparate keinen Platz hat, um schließlich aufzuzeigen, wie es dennoch möglich ist, für die Freiheit einen Raum zu öffnen.“17

Ziel dieser Arbeit ist es, einen weiteren Baustein zu einer solchen Philosophie der Fotografie zu liefern.

17 Flusser, a.a.O., S. 74 15

1 . Die Ordnung de r Welt

1.1 Was heißt ‚Ordnung der Welt‘? In einer geordneten Welt zu leben, gehört wohl zu den existentiellsten Bedürfnissen des Menschen. Das Bewusstsein von einer Ordnung der Welt vermittelt das Gefühl der Verlässlichkeit und damit von Geborgenheit. Umgekehrt stürzt das Fehlen von Ordnung den Menschen in einen Zustand tiefer Verunsicherung und Hilflosigkeit. So wichtig die Ordnung der Welt also für das psychische Wohlergehen des Menschen zu sein scheint, so rätselhaft ist sie ihm doch immer geblieben. In gewisser Hinsicht lässt sich jenes Staunen, mit dem nach Platon und Aristoteles1 das Philosophieren zuallererst beginnt, das Staunen darüber nämlich, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, durchaus als Erstaunen darüber deuten, dass die Welt trotz ihrer Veränderlichkeit für den Menschen, der sie wahrnimmt, nicht einfach in einem Chaos versinkt, das sich dem geistigen Begreifen entzöge. Sein heißt in einem solchen Verständnis also stets sich in Ordnung befindliches Sein, und nur als solches ist es dem menschlichen Erkenntnisvermögen auch zugänglich. Im Gegensatz dazu stellt das Chaos eben jenes ungeordnete Durcheinander der Dinge dar, das sich aufgrund seiner Unbestimmtheit dem Erfassen entzieht und insofern dem Nichts der gähnenden Leere gleichkommt, die ursprünglich mit dem griechischen Terminus χȐ̙ος bezeichnet wurde. Dessen Gegenbegriff des κȩσµος weist denn daher auch einen Weg zum besseren Verständnis dessen, was ‚Ordnung‘ und infolgedessen ‚Ordnung der Welt‘ heißen könnte.

1

Vgl. Platon, Theaitetos, 155d: „Denn dies ist der Zustand eines gar sehr die Weisheit liebenden Mannes, das Erstaunen; ja es gibt keinen andern Anfang der Philosophie als diesen [...].“, Aristoteles, Metaphysik, 982b: „Weil sie sich nämlich wunderten, haben die Menschen zuerst wie jetzt noch zu philosophieren begonnen [...].“ 17

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

Der Bedeutungskern des Begriffs ‚Kosmos‘ liegt ursprünglich im militärischen und politischen Bereich und diente hier der Bezeichnung einer Anordnung oder Aufstellung etwa von Schlachtreihen oder von einzelnen Personen innerhalb der Gesellschaft. In diesem Sinne ist er mit dem aus dem Lateinischen stammenden Begriff der Konsistenz verknüpft, der ebenfalls dem militärischen Bereich entstammt und dort das Stellungbeziehen und SichAufstellen der Truppen bezeichnet. Entscheidend sind dabei zwei Bedeutungskomponenten, die in den beiden Wortbestandteilen con – ‚zusammen‘ und sistere – ‚stellen, sich stellen‘ zum Ausdruck gebracht werden: zum einen die Tatsache des Sich-Versammelns, die mit der Aufstellung einhergeht, zum anderen die Betonung des Stillstehens, Ausharrens und Bestehens derjenigen, die sich zu diesem Zweck versammelnd aufgestellt haben. Damit sind bereits zwei wesentliche Aspekte angesprochen, die für die Bedeutung des Begriffs ‚Ordnung‘ relevant sind. Ordnung entsteht demnach, wenn sich Einzelne versammeln und sich dabei zu einem stabilen Ganzen zusammenschließen, d.h. zu einer Menge, die in sich zusammenhängt, also kohärent ist, womit ein weiterer Begriff benannt ist, der in enger Bedeutungsnähe zum Begriff der Konsistenz steht und infolgedessen auch oft synonym mit diesem gebraucht wird: der der Kohärenz. Vom lateinischen Verb cohaerere abgeleitet, bezeichnet er das Zusammenhängen, die Verbundenheit, ja das geradezu organische Verwachsensein dessen, was als Einzelnes sich in der Kohärenz zusammengefunden hat. Und auch bei diesem Begriff schwingt, wie schon bei der Konsistenz, das Bedeutungsmoment des Bestand- und Halt-Habens mit. Ordnung, so kann nun ergänzend gesagt werden, bezeichnet also ein konsistentes Ganzes, das dadurch zustande kommt, dass Einzelnes sich kohärent zusammenschließt und dadurch Bestand und Dauer gewinnt. Damit das Einzelne sich aber auch wirklich kohärent zusammenfindet und nicht einfach nur ansammelt, ohne dabei etwas es Übersteigendes zu bilden, bedarf es einer Regelung durch eine Gesetzmäßigkeit, die das Verhältnis der Teile des Ganzen untereinander regelt. Damit ist aber das in Ordnung befindliche Ganze als System zu begreifen, d.h. als Gefüge, in dem sich mehrere und dabei auch durchaus unterschiedliche Teile auf eine bestimmte Weise zu einem Funktionszusammenhang zusammensetzen, in dem das Einzelne im Verhältnis zum Ganzen und zu den übrigen Teilen die ihm zugewiesene Stelle einnimmt und das daher eine bestimmte Struktur besitzt. Der Anspruch der Funktionalität dieser Struktur offenbart dabei, dass mit dem Ordnungsbegriff immer auch ein Moment des Zweckmäßigen mitgedacht wird. In Hinblick auf den Zweck, den ein System auf der Grundlage seiner Strukturierung verfolgt, ist die systematische Anordnung der Einzelteile des Systems entweder sinnvoll oder nicht. Ordnung bezeichnet demnach einen Zustand, in dem sich Elemente zu einem Gesamtzusammenhang vereinen, dessen Dauer und Be18

1. DIE ORDNUNG DER W ELT

ständigkeit sowie dessen dadurch ermöglichte zweckorientierte Funktionalität diesen Gesamtzusammenhang als Sinnhorizont etablieren, als Kontext gleichsam, innerhalb dessen die Einzelteile dieses Ganzen gesetzmäßig eingefügt sind und dadurch überhaupt erst ihre Bedeutung erhalten. Die Ordnung der Welt wäre infolgedessen als jener sinnvolle Gesamtzustand zu begreifen, innerhalb dessen sich das, was uns in der Wahrnehmung als Disparates begegnet, als bedeutungsvoll zu Identifizierendes verstehen lässt. Nun bezeichnet der Begriff ‚Ordnung‘ nicht nur einen Zustand, nämlich den des Geordnetseins, sondern auch den Prozess, der zu einem solchen Zustand führt, den Vorgang des Ordnens also. Die Vorstellung davon, wie und durch wen sich dieser Prozess des Ordnens der Welt vollzieht oder vollzogen hat, ist im Laufe der Geistesgeschichte tiefgreifenden Wandlungen unterworfen gewesen. Für Platon bestand kein Zweifel daran, dass die Welt in ihrer Wohlgeordnetheit Resultat der Tätigkeit eines göttlichen Wesens ist. Diese lag aber nicht etwa in einer Schöpfung schlechthin, durch die das Seiende gleichsam aus dem Nichts hervorgebracht worden wäre. Das Werk des von Platon angenommenen Demiurgen, des göttlichen Baumeisters, bestand vielmehr darin, die bereits vorgefundene Materie von einem regellosen, chaotischen in einen strukturierten Zustand übergeführt zu haben: „Indem nämlich Gott wollte, daß alles gut und, soviel wie möglich, nichts schlecht sei, brachte er, da er alles Sichtbare nicht in Ruhe, sondern in ungehöriger und ordnungsloser Bewegung vorfand, dasselbe aus der Unordnung zur Ordnung, da ihm diese durchaus besser schien als jene.“2

Platon geht also von der Ewigkeit der Materie aus und denkt sich den Zustand ihres Geordnetseins als entstanden, als durch einen schöpferischen Geist erzeugt vor. Durch dessen Eingreifen gaben die materiellen Elemente den Zustand des singulären, unsteten Daseins auf zugunsten der Zusammenfügung in einen stabilen, sie übergreifenden Gesamtzusammenhang. Die Entstehung des Kosmos, d.h. der allgemeinen Ordnung des Weltganzen, erweist sich dabei als Akt der Formung, bei dem Zahlen als Gestaltungsprinzipien eine entscheidende Rolle spielen: „[...] als jedoch Gott das Ganze zu ordnen unternahm, haben sich anfangs Feuer, Wasser, Luft und Erde, die aber bereits gewisse Spuren von sich selbst besaßen, durchaus in einem Zustand befunden, wie er bei allem, über welches kein Gott wal-

2

Tim 30a 19

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

tet, sich erwarten läßt. Diese von Natur also Beschaffenen formte zunächst Gott durch Gestaltungen und Zahlen.“3

Die Strukturierung mittels mathematischer Formgesetze schafft einen Zustand, in dem die Dinge in genau definierten Verhältnissen zueinander stehen, und der damit die Merkmale des Systems erfüllt. Ordnung stellt sich demnach ein, wenn zwischen den Teilen eines umfassenden Ganzen genau definierten Relationen herrschen. In dieser Relationierung erfährt das, was sich zunächst in ungehöriger Bewegung befand, seine Bestimmung und kommt zur Ruhe. Das Einzelne wird dadurch zu etwas, das einer höheren Gesamtheit zugehört, wobei diese durch die exakte Verortung der Elemente, d.h. durch deren Einordnung in den Gesamtzusammenhang ihre gleichbleibende Beständigkeit und Unveränderlichkeit gewinnt. Dieses Erstreben der Beständigkeit wie auch die Nennung der eigentlichen Motivation, aus der heraus sich das Ordnen der Welt überhaupt vollzieht, die Orientierung am Guten, offenbart, worauf sich der Blick des Demiurgen eigentlich richtet und was dem, was sich in seinem Ordnungsakt vollzieht, eigentlich zu Grunde liegt: die Ideen nämlich. Dass so etwas wie die Ordnung der Welt, d.h. unserer Erfahrungswelt überhaupt möglich ist, verdankt sich für Platon der Tatsache, dass es Ideen gibt, an denen die Gegenstände unserer Erfahrungswelt teilhaben können, um so erst ihre Identifizierbarkeit und damit Erkennbarkeit für den Menschen zu gewinnen. Die Ideen geben so gesehen „die eigentliche Antwort auf die Frage nach den Ursachen dafür, daß Dinge so sind, wie sie sind.“4 Die Teilhabe an den Ideen garantiert erst die Bedeutsamkeit der Welt und damit ihre Verständlichkeit für den Menschen, „weil wir eine Tatsache wie beispielsweise diejenige, daß ein bestimmtes Bild schön ist, nur dann verstehen können, wenn wir verstanden haben, was das Schöne ist, durch das das Bild schön ist.“5 So verdankt sich die Ordnung der Welt, d.h. ihr Geordnetsein ihrer Teilhabe an den ungewordenen, unvergänglichen und stets mit sich selbst identischen Ideen. Die Schöpfung dieser Ordnung bedeutet dann aber nichts anderes als die Ausrichtung der materiellen Welt auf diese Ideen hin. Diese platonische Vorstellung vom Kosmos, d.h. von einer in ihrer Gesamtheit sich in Ordnung befindlichen Welt sollte – in einigen Punkten neuplatonisch variiert – auch das Ordnungsdenken des Mittelalters maßgeblich bestimmen.

3 4 5 20

Tim 53b Michael Bordt, Platon. Freiburg, Basel, Wien, ohne Jahresangabe, S. 110 Bordt, a.a.O., S. 110

1. DIE ORDNUNG DER W ELT

In dem Maße aber, in dem sich das Denken der Neuzeit zunehmend nach mathematischen Prinzipien ausrichtete, erfuhr auch der Ordnungsbegriff eine bedeutsame Wandlung. Wenn René Descartes in seinen Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft feststellt, dass „alle Dinge in gewissen Reihen geordnet werden können“,6 bringt er zum Ausdruck, dass Ordnung nach seiner Lesart nun nicht mehr als Qualität eines Weltzustandes zu verstehen ist, in dem alles Seiende den ihm von Gott zugewiesenen Ort einnimmt. Die Dinge müssen vielmehr erst in eine Ordnung gebracht werden, und zwar durch Reihung, was ermöglicht, „sie untereinander [zu] vergleichen, damit wir die einen aus den anderen erkennen“.7 Auf diese Weise entkoppelt Descartes die Ordnung der dinglichen Welt von der bislang stets auf diese bezogenen Ordnung des Erkenntnisprozesses und gewinnt so eine Ordnungsvorstellung, die Ordnung als etwas rein Gedankliches begreift, nämlich als (an der Mathematik orientierte) Methode zur Erlangung sicherer Erkenntnis: „Die ganze Methode besteht in der Ordnung und Disposition dessen, worauf man sein geistiges Auge richten muß, um irgendeine Wahrheit zu finden.“8 Die Entwicklung der Umdeutung des Ordnungsbegriffs von dem der Beschreibung eines für das Bewusstsein zwar erfassbaren, von ihm aber unabhängigen Weltzustandes zu einem solchen der Beschreibung einer geistigen Tätigkeit, die mit Descartes beginnt, findet ihren vorläufigen Abschluss mit Kants „Revolution der Denkart“,9 in deren Folge dem Bewusstsein nur noch das an der Natur begreiflich wird, was es zuvor selbst in diese hineingedacht hat: „Dem ersten, der den gleichseitigen Triangel demonstrierte (er mag nun Thales oder wie man will geheißen haben), dem ging ein Licht auf; denn er fand, daß er nicht dem, was er in der Figur sah, oder auch dem bloßen Begriffe derselben nachspüren und gleichsam davon ihre Eigenschaften ablernen, sondern durch das, was er nach Begriffen selbst a priori hineindachte und darstellte (durch Konstruktion), hervorbringen müsse, und daß er, um sicher etwas a priori zu wissen, er der Sache nichts beilegen müsse, als was aus dem notwendig folgte, was er seinem Begriffe gemäß selbst in sie hineingelegt hat. [...] Als Galilei seine Kugeln die schiefe Fläche mit einer von ihm selbst gewählten Schwere herabrollen, oder Torricelli die Luft ein Gewicht, was er sich zum voraus dem einer ihm bekannten Wassersäule gleich gedacht hatte, tragen ließ, oder in noch

6 7 8 9

René Descartes, Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft. Regel 6, 381 Descartes, Regel 6, 381 Descartes, Regel 5, 380 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XI 21

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späterer Zeit Stahl Metalle in Kalk und diesen wiederum in Metalle verwandelte, indem er ihnen etwas entzog und wiedergab: so ging allen Naturforschern ein Licht auf. Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt [...].“10

Damit richtet sich aber die Anschauung nicht mehr „nach der Beschaffenheit der Gegenstände“, sondern vielmehr „der Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens.“11 Das bisher angenommene Verhältnis zwischen erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt kehrt sich infolgedessen um, weshalb Kant selbst bekanntlich von einer geradezu Kopernikanischen Wende in diesem Zusammenhang sprach.12 Dies beginnt bereits mit der sinnlichen Wahrnehmung, die auch für Kant jeder Erkenntnis zu Grunde liegt.13 Allerdings vermittelt uns die Sinnlichkeit keinen unmittelbaren Eindruck von den durch sie wahrgenommenen Gegenständen, sondern nur gemäß von Prinzipien, die die Wahrnehmung begründen und sie dadurch überhaupt erst ermöglichen. Kant nennt dabei zwei solcher Prinzipien, die er als „reine Formen sinnlicher Anschauung“14 bezeichnet, nämlich Raum und Zeit. Als reine Anschauungsformen sind Raum und Zeit für Kant keine empirischen Begriffe, die aus der Erfahrung gewonnen worden wären, sondern umgekehrt Vorstellungen a priori, die allen Erfahrungen vorausgehen. Dass wir die Welt räumlich und zeitlich wahrnehmen, liegt also nicht in der Räumlichkeit und der Zeitlichkeit der Welt begründet, sondern darin, dass sie für ein erkennendes Subjekt von dessen Verstand als raumzeitliche Welt zur Erscheinung gebracht wird. Damit ist für Kant bereits nach einer genaueren Betrachtung der sinnlichen Wahrnehmung im Rahmen der transzendentalen Ästhetik klar, „daß die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofür wir sie anschauen, noch ihre Verhältnisse so an sich selbst beschaffen sind, als sie uns erscheinen“ und uns deshalb unbekannt bleiben muss, was „es für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich und abgesondert von aller dieser Rezeptivität unserer Sinnlichkeit haben möge.“15 Die Ordnung der sinnlichen Wahrnehmung durch die apriorischen Anschauungsformen Raum und Zeit setzt sich in einer zweiten Phase des Erkenntnisaktes fort, in der der Verstand nun aus den geordneten Wahrnehmungen Begriffe formt, die auf Gegenstände bezogen werden können, und diese

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Kant, KrV, B XI - B XIII Kant, KrV, B XVII Vgl. Kant, KrV, B XVII Vgl. Kant, KrV, B 1: „Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel.“ 14 Kant, KrV, B 36 15 Kant, KrV, B 60 22

1. DIE ORDNUNG DER W ELT

darüber hinaus zu Urteilen, also Aussagen über die Beschaffenheit dieser Gegenstände verbindet. Die ordnende Funktion, die im Bereich der Sinnlichkeit die Anschauungsformen erfüllt haben, erfüllen im Bereich der Begriffs- und Urteilsbildung „reine Verstandesbegriffe, welche a priori auf Gegenstände der Anschauung überhaupt gehen“ und die Kant in aristotelischer Tradition „Kategorien“16 nennt. Erst dank dieser Kategorien erscheint uns die Welt als gegenständliche, und erst dank dieser Kategorien fügt sich die Gegenständlichkeit der so erscheinenden Welt zu einer sinnvollen Gesamtordnung. Die Ordnung der Welt wird also vom Subjekt nicht mehr vorgefunden, sondern von ihm im Erkenntnisakt selbst in diese hineingelegt. Erkenntnis wird damit wesensmäßig ausschließlich subjektiv, d.h. „sie ist in ihrer Beziehung auf den Erkenntnisgegenstand abhängig von den vorhandenen Eigenschaften des Erkennenden, des menschlichen Subjekts.“17 Sie ist damit nichts vor aller Subjektivität Gegebenes mehr, sondern wird zum Produkt der „transzendentalen Einheit des Selbstbewußtseins“,18 das die Mannigfaltigkeit des Wahrgenommenen zu einer geordneten Gesamtheit vereint. Damit löst der Mensch Gott als Ordnungsstifter ab. Das, was der Mensch als geordneten Zusammenhang der ihn umgebenden Welt erfasst, ist Produkt seiner eigenen geistigen Tätigkeit. Die Ordnung der Welt wird auf der Grundlage dieser Sichtweise aber zu einem erkenntnistheoretischen wie auch anthropologischen Problem.

1.2 Die Ordnung der Welt in der modernen p h i l o s o p h i s c h e n An t h r o p o l o g i e : M a x S c h e l e r So stößt denn auch einer der Begründer der modernen philosophischen Anthropologie, Max Scheler, bei seinen Überlegungen zu den Wesensmerkmalen des Menschen und zur Begründung seiner Sonderstellung unweigerlich auf dessen Vermögen, Ordnung in die Welt zu bringen. Dieses Vermögen basiert für Scheler zunächst auf der Fähigkeit des Menschen, „seine Umwelt sich zum Gegenstande zu machen.“19 Im Gegensatz zum Tier besitzt nur der Mensch „die voll ausgeprägte konkrete Ding- und Substanzkategorie.“20 Was er damit meint, erläutert Scheler anhand des Spinnenversuchs von Volkelt. Dieser hat beobachtet, dass eine Spinne eine Mücke, die sich in ih16 Kant, KrV, B 105 17 Wilhelm Teichner, Kants Transzendentalphilosophie. Freiburg, München 1978, S. 15 18 Kant, KrV, B 131 19 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos. Bonn 2002, S. 44 20 Scheler, a.a.O., S. 44 23

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rem Netz verfängt, also ihrem Tastsinn zugänglich ist, als Beute erkennt, vor einer Mücke aber flieht, wenn sie ihrem Gesichtssinn präsentiert wird. Das Ertastete und das Gesehene werden also von der Spinne offensichtlich nicht miteinander identifiziert. Der Mensch ist dagegen in der Lage, die Vielzahl der unterschiedlichen Wahrnehmungen eines Objekts auf jenen einen Gegenstand zu beziehen, der auf so unterschiedliche Weise in der optischen, akustischen und taktilen Wahrnehmung erscheint. Die Integration von Wahrnehmungskomplexen zu identischen Objekten, die „Umwandlung der affekt- und triebumgrenzten ‚Widerstands‘zentren zu ‚Gegenständen‘“21 stellt dabei bereits ein Moment des Sichherauslösens des Menschen aus seiner Umwelt dar. Durch seine Fähigkeit zur Objektivierung erlangt der Mensch jene „existentielle Entbundenheit vom Organischen“,22 die Scheler kurz mit dem Begriff der „Weltoffenheit“23 zusammenfasst. Erst als solches weltoffenes Wesen erlangt der Mensch im eigentlichen Sinne Welt: „Ein solches Wesen hat ‚Welt‘“.24 Wie aber kommt nun Ordnung in diese durch „Distanzierung der ‚Umwelt‘“25 gewonnene Welt? Hier wird eine weitere Fähigkeit wirksam, die Scheler dem Menschen als Wesensmerkmal zuschreibt: seine Fähigkeit zur Ideierung. Ideieren heißt für Scheler dabei, „unabhängig von der Größe und Zahl der Betrachtungen, die wir machen, und von induktiven Schlußfolgerungen, wie sie die Intelligenz anstellt, die essentiellen Beschaffenheiten und Aufbauformen der Welt an je einem Beispiel der betreffenden Wesensregion“26 mit zu erfassen. Der Mensch bedarf also nicht einer Vielzahl von Erfahrungen mit den ihn umgebenden Sachverhalten, um allmählich eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie es sich wesensmäßig mit diesen verhält. Er ist vielmehr in der Lage, bereits bei der ersten Begegnung mit einer Sache deren Wesen zu begreifen. Das bedeutet aber, dass der Mensch beim Erfassen einer Tatsache diese immer auch schon kategorisiert, verallgemeinert und als Glied einer Reihe von gleichartigen Tatsachen ansieht. Damit handelt es sich beim Akt der Ideierung aber im Wesentlichen immer schon um einen ordnenden Akt im Sinne der Lesart des Ordnungsbegriffs, wie er in der Neuzeit entwickelt wurde: Die durch Objektivierung erlangten Gegebenheiten, die in ihrer Gesamtheit die Welt des Menschen ausmachen, werden ideierend in eine systematische Ord21 22 23 24 25 26 24

Scheler, a.a.O., S. 41 Scheler, a.a.O., S. 38 Scheler, a.a.O., S. 40 Scheler, a.a.O., S. 38 Scheler, a.a.O., S. 40 Scheler, a.a.O., S. 50 f.

1. DIE ORDNUNG DER W ELT

nung gebracht. Die Ordnung der Welt, wie sie sich dem Menschen darstellt, ist demnach keine entdeckte oder aufgefundene, sondern eine vom Menschen zuallererst hervorgebrachte. Scheler sieht in der Erzeugung einer geordneten Welt mittels Objektivierung und Ideierung das, was den Menschen wesensmäßig auszeichnet und zudem seine Sonderstellung im Kosmos begründet. Das Prinzip aber, das sich einzig beim Menschen findet und damit dieser Sonderstellung zu Grunde liegt, nennt er „Geist“.27 Die Umwandlung der Umwelt in eine geordnete Welt ist also ein geistiger und als solcher spezifisch menschlicher Akt. Scheler legt dabei großen Wert auf die Feststellung, dass geistige Akte sich nicht als bloße Steigerung von intelligentem Verhalten begreifen lassen. Intelligenz, d.h. „die plötzlich aufspringende Einsicht in einen zusammenhängenden Sach- und Wertverhalt innerhalb der Umwelt, der weder direkt wahrnehmbar gegeben ist noch auch je vorher wahrgenommen wurde“,28 findet sich nach Scheler auch bei höher entwickelten Tieren. In dieser Einschätzung folgt er den Einsichten der Biologie seiner Zeit, v.a. den Interpretationen der Köhlerschen Tierversuche, die erstmals einfachen Werkzeuggebrauch bei Schimpansen nachweisen konnten. Nichtsdestotrotz besteht Scheler auf einen Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier, indem er den Geist nicht etwa wie die Intelligenz (und – dieser vorausgehend – Gefühlsdrang, Instinkt und assoziatives Gedächtnis) als „Wesensstufe psychischer und der Vitalsphäre angehöriger Funktionen und Fähigkeiten“29 auffasst, sondern in ihm gerade ein „jedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegengesetztes Prinzip“30 sieht. Auch wenn Scheler mit Blick auf lebensphilosophische Positionen, insbesondere die von Ludwig Klages ausdrücklich feststellt, dass Geist und Leben aufeinander hingeordnet sind und es deshalb ein Grundirrtum sei, „sie in eine ursprüngliche Feindschaft zu bringen“,31 so betreibt der Mensch für ihn mittels seiner geistigen Akte doch stets eine „Aufhebung des Wirklichkeitscharakters der Dinge“32 und damit letztlich der Welt. Denn auf Grund dieses Wirklichkeitscharakters erleben wir die Welt als Widerstand, als „hemmende[n], beengende[n] Druck“,33 den es zu überwinden gilt. Der Weg zur Überwindung der Widerständigkeit der Welt besteht nach Scheler aber gerade in

27 28 29 30 31 32 33

Scheler, a.a.O., S. 38 Scheler, a.a.O., S. 32 Scheler, a.a.O., S. 37 Scheler, a.a.O., S. 37 f. Scheler, a.a.O., S. 87 Scheler, a.a.O., S. 52 Scheler, a.a.O., S. 55 25

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ihrer „Entwirklichung“,34 in der asketischen „Außerkraftsetzung eben jenes Lebensdranges“,35 dem sich die Welt als Widerstand darbietet. In seiner Beschreibung des Menschen als „Asket des Lebens“36 wird Schelers Haltung zu dessen Körperlichkeit deutlich. Offenbar tritt die körperliche Existenz des Menschen als Prinzip des Lebensdranges ganz hinter seine geistigen Akte zurück. Bei Scheler wirken damit jene Einschätzungen fort, die den Körper als etwas zu Überwindendes begreifen, als etwas, das es abzutöten oder doch zumindest zu disziplinieren gilt. Dabei übersieht er, dass – wie noch genauer zu zeigen sein wird – es doch gerade der Körper ist, der der Existenz des Menschen einen Ort in der geistig gewonnenen Welt schafft und ihm so erst die Möglichkeit eröffnet, sich in dieser Welt auch zu orientieren. Damit droht aber gerade das verloren zu gehen, worum es nach Scheler dem Menschen doch spezifisch geht: eine Orientierung bietende Ordnung der Welt nämlich. Eine weitere anthropologische Position, in ihren Grundlagen wie die Schelers ebenfalls in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt, versucht diesen Mangel zu vermeiden: die symboltheoretische Kulturanthropologie Ernst Cassirers.

1 . 3 D i e s ym b o l t h e o r e t i s c h e K o n z e p t i o n einer anthropologischen Ordnung der Welt: Ernst Cassirer Ähnlich wie Scheler versucht Ernst Cassirer die Wesensmerkmale des Menschen über seine Abgrenzung zum Tier zu erfassen. Genauso wie jener berücksichtigt er dementsprechend die biologischen Kenntnisse seiner Zeit, v.a. die Johannes von Uexkülls. Dieser hatte das Überleben eines Organismus davon abhängig gemacht, dass er hinreichend in seine Umgebung eingepasst ist. Dazu müssen sein ‚Merknetz‘, durch das er für äußere Reize affizierbar ist, und sein ‚Wirknetz‘, über das er auf diese reagiert, angemessen zu einem ‚Funktionskreis‘ verknüpft sein. Nur wenn der Funktionskreis aus Merk- und Wirknetz es erlaubt, dass ein Organismus adäquat auf Reize aus seiner Umwelt reagiert, ist sein Fortbestand und damit letztlich der seiner Art sichergestellt. Die individuellen Lebewesen sind damit aber in Reiz-ReaktionsMechanismen gefangen, die sowohl ihre Erfahrungen wie auch ihre Verhaltensweisen streng determinieren und limitieren.

34 Scheler, a.a.O., S. 52 35 Scheler, a.a.O., S. 55 36 Scheler, a.a.O., S. 55 26

1. DIE ORDNUNG DER W ELT

Mit Scheler ist sich Cassirer nun einig, dass diese Eingebundenheit in einen Funktionskreis beim Menschen aufgehoben ist. Die Befreiung aus dem funktionalen Zusammenhang aus Merk- und Wirknetz gelingt ihm dabei durch dessen Erweiterung um ein spezifisch menschliches Symbolsystem: „Der ‚Funktionskreis‘ ist beim Menschen nicht nur quantitativ erweitert; er hat sich auch qualitativ gewandelt. Der Mensch hat gleichsam eine neue Methode entdeckt, sich an seine Umgebung anzupassen. Zwischen dem Merknetz und dem Wirknetz, die uns bei allen Tierarten begegnen, finden wir beim Menschen ein drittes Verbindungsglied, das wir als ‚Symbolnetz‘ oder Symbolsystem bezeichnen können.“37

Und wie bei Scheler ist es auch bei Cassirer ein besonderes Tätigkeitsvermögen, das den Menschen aus seiner Eingebundenheit in eine Umwelt geistig heraustreten lässt und deshalb als das ihn Kennzeichnende angesehen werden muss: „Nicht das bloße Betrachten, sondern das Tun bildet vielmehr den Mittelpunkt, von dem für den Menschen die geistige Organisation der Wirklichkeit ihren Ausgang nimmt.“38 Der Aufbau seines Persönlichkeitsbewusstseins39 und die Reifung zum vollwertigen Bewusstsein seines Ich40 vollziehen sich im Wesentlichen durch den Vollzug geistiger Akte. So basiert das gesamte Sein des Menschen in all seinen kulturellen Aspekten auf seinem geistigen Handeln. Cassirer betont dabei, dass dieses stets als kreatives, schöpferisches Handeln zu verstehen ist, insofern es nämlich stets um Akte des Bildens, Formens und Gestaltens geht. Dies zeigt sich für Cassirer bereits bei der einfachen bewussten Wahrnehmung. In dieser vollzieht sich erstmals eine Distanzierung von jener Unmittelbarkeit, wie sie sich in der ursprünglichen, primitiven Wahrnehmung findet.41 Der unmittelbaren Wahrnehmung stellt sich die Welt nämlich nicht als „ein Inbegriff von Dingen, die mit bestimmten ‚Merkmalen‘ und ‚Kennzeichen‘ versehen sind“, dar, sondern als eine „Mannigfaltigkeit und Fülle ursprünglich ‚physiognomischer‘ Charaktere.“42 Was so von der Welt erfasst wird, ist ihr „eigentümliches ‚Gesicht‘“,43 ihr urtümlicher Ausdruck, der den Wahrnehmenden in seiner Rezeptivität er37 E. Cassirer, Versuch über den Menschen. Hamburg 1996, S. 49 38 E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil (PsF II). Darmstadt 1973, S. 187 39 Vgl. PsF II, S. 239 40 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil (PsF III). Darmstadt 1975, S. 106 41 Vgl. PsF III, S. 72 42 PsF III, S. 80 43 PsF III, S. 80 27

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greift44 und ihn „ohne den Zwischenschritt einer Deutung oder auch nur Vergegenwärtigung anrührt und bewegt.“45 Damit bleibt der Mensch aber eingebunden in eine Welt, die für ihn wohl einen „Ausdrucks-Sinn“ besitzt, der in der Wahrnehmung „erfaßt und unmittelbar ‚erfahren‘“46 wird, die aber gerade deshalb auch noch ohne feste Ordnung ist. Die Welt bleibt für diese Form der Wahrnehmung eine immer nur augenblickhaft erlebbare Totalität von sinnlichen Eindrücken, die stets an die aktuelle Situation, in der sie auftreten, gebunden bleiben und daher mit dieser vergehen müssen: „Jeder sinnliche Eindruck besitzt, rein als solcher, eine ihm eigene, nie wiederkehrende ‚Tönung‘ oder ‚Färbung‘. Wo der reine Ausdruckscharakter dieser Tönung oder Färbung überwiegt, da gibt es noch keine in unserem Sinne ‚homogene‘ und keine in unserem Sinne konstante Welt.“47

Damit ein Wahrnehmungserlebnis nun zum Inhalt des menschlichen Bewusstseins werden kann, muss es aus diesem fluiden Wahrnehmungskontinuum herausgelöst, es muss gleichsam seiner Ereignishaftigkeit entkleidet werden. Dazu muss es einer Transformation, einer Umformung unterzogen werden. Diese besteht für Cassirer im Wesentlichen in einer „immanenten Gliederung“48 des Wahrnehmungsphänomens. Diese Gliederung umfasst vor allem zwei eng zusammenhängende Momente. Zunächst geht es darum, im Fluss des Wahrnehmungsgeschehens bestimmte Zentren zu fixieren: „Der Aufbau der anschaulichen Wirklichkeit beginnt [...] damit, daß die fließend immer gleiche Reihe der sinnlichen Phänomene sich abteilt. Mitten in dem stetigen Fluß der Erscheinungen werden jetzt bestimmte Grundeinheiten festgehalten, die fortan die festen Mittelpunkte der Orientierung bilden. Das einzelne Phänomen erhält seinen charakteristischen Sinn erst dadurch, daß es auf diese Zentren bezogen wird.“49

Durch das Festhalten von phänomenalen Grundeinheiten, die als Orientierungsmarken dienen, um die Phänomene in ihrer Gesamtheit auf diese beziehen zu können, kommt es also zur Absonderung einer festen Gestalt aus dem augenblicklichen Wahrnehmungserleben.

44 45 46 47 48 49 28

Vgl. PsF III, S. 88 O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Berlin 1997, S. 73 PsF III, S. 80 PsF III, S. 140 PsF III, S. 235 PsF III, S. 165

1. DIE ORDNUNG DER W ELT

Mit dieser Gestaltfixierung geht aber stets ein weiteres Moment der Transformierung sinnlicher Phänomene zu Bewusstseinsinhalten einher. Durch seine zentrierende Fixierung wird ein Phänomen nämlich immer auch in Beziehung zu anderen Phänomenen oder Phänomenaspekten gestellt: „Es gibt keine bewußte Wahrnehmung, die bloßes ‚Datum‘, die ein lediglich Gegebenes und in dieser Gegebenheit Abzuspiegelndes wäre; sondern jede Wahrnehmung schließt einen bestimmten ‚Richtungscharakter‘ in sich, mittels dessen sie über ihr Hier und Jetzt hinausweist.“50

Alles Wahrgenommene gelangt also immer nur als Element von Relationen ins Bewusstsein, durch die es die Beschränkungen seiner augenblickhaften Gegebenheit übersteigt. Bewusst wird uns etwas demnach immer nur dann, wenn es auf etwas anderes bezogen, wenn es mit etwas anderem in ein Beziehungsverhältnis gebracht werden kann. „Bewußtwerden heißt in diesen Modus des Aufeinanderbezogenseins verwandelt werden.“51 Damit ein sinnliches Phänomen aber zu einem solchen Element von Beziehungszusammenhängen werden kann, muss es im Zuge seiner Fixierung immer auch den Elementen, auf die es bezogen werden bzw. auf die es seinerseits Bezug nehmen soll, angepasst werden. Fixierung beinhaltet also immer auch ein Moment an Gestaltung, durch das die Anschließbarkeit des Fixierten zu anderem Fixierten gewährleistet ist: „Der Einzelwert der momentanen Wahrnehmung muß [...] als ein solcher erfaßt werden, der in einer allgemeinen Funktionsgleichung steht und aus ihr bestimmbar ist.“52 Erst die Möglichkeit, etwas mit anderem zu verknüpfen und damit in einen Beziehungszusammenhang einzubinden, befreit dieses aus seiner isolierten Gegebenheit, in der es dem Bewusstsein in dem Moment entschwinden müsste, in dem es in seinem sinnlichen Auftreten vergeht. Erst durch seine Relationierung unterliegt ein Wahrnehmungserlebnis nicht mehr dem Kommen und Gehen des Wahrnehmungsganzen, dem es entstammt. Eingebunden in ein System wechselseitiger Verweisungen unterschiedlicher Ordnungszusammenhänge erlangt es jene Dauer, Kontinuität und Identität, durch die allein es Bedeutung erhalten, d.h. Teil unseres Bewusstseins werden kann: „Das Einzelne, Daseiende wird in Hinsicht auf seine gegenständliche Bedeutung bestimmt, indem es der raum-zeitlichen Ordnung, der Kausal-Ordnung, der Ding-Eigenschafts-Ordnung eingefügt wird.“53

50 51 52 53

PsF III, S. 236 Schwemmer, E. Cassirer, a.a.O., S. 82 PsF III, S. 236 PsF III, S. 236 29

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Die Gliederung, die ein Wahrnehmungsgeschehen durch seine Fixierung und Relationierung erfährt, besteht also im Wesentlichen darin, dass es zum Element eines Ordnungszusammenhangs gestaltet wird. Dieser Gestaltungsakt ist aber wesensmäßig der einer Gestaltung zur Form. Denn erst als Form kann etwas Bestandteil eines Verweisungs- und damit eines Ordnungszusammenhangs werden. „Formwerdung [...] besteht darin, daß ein Geschehen zum Element in einer Formwelt, einer Welt der wechselseitigen Verweisungen wird.“54 Cassirer fasst die einzelnen Momente der transformierenden Gliederung eines sinnlichen Geschehens, eben seine Fixierung und Relationierung, deshalb auch als „Akt der Prägung“,55 also der prägenden Formgebung, zusammen. Entscheidend ist für ihn dabei, dass diese Prägung – anders als es seine münztechnische Lesart nahelegt – nicht darin besteht, dass dem Erlebnis eine formale Struktur nachträglich hinzugefügt wird. Die Form einer bewussten Wahrnehmung ist im Gegenteil immer schon in ihrem sinnlichen Vollzug angelegt. Die Gliederung, die die unmittelbare Wahrnehmung erfährt, um bewusst zu werden, ist eben eine immanente, d.h. eine Gliederung aus sich selbst heraus. Wahrnehmung ist demnach immer schon darauf ausgerichtet, sinnvoll und bedeutsam zu sein: „Hier handelt es sich nicht um bloß ‚perzeptive‘ Gegebenheiten, denen später irgendwelche ‚apperzeptive‘ Akte aufgepfropft wären, durch die sie gedeutet, beurteilt und umgebildet würden. Vielmehr ist es die Wahrnehmung selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger ‚Artikulation‘ gewinnt – die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört.“56

Damit ist durch den Akt der Prägung bereits in der einfachen bewussten Wahrnehmung das angelegt, was diese letztlich noch übersteigen wird: die symbolische Repräsentation. Zu einer Repräsentation wird eine geformte Wahrnehmung nämlich dann, wenn ein aus einem Ganzen herausgelöstes Moment „zugleich als Vertreter, als ‚Repräsentant‘ des Ganzen genommen wird. Denn damit erst enthält der Inhalt, ohne seine Einzelheit, seine stoffliche ‚Besonderheit‘ zu verlieren, eine neue allgemeine Form aufgeprägt.“57 Die durch Prägung aus dem Strom der unmittelbaren Erlebnisse herausgelösten und damit dem Bewusstsein präsenten Wahrnehmungen werden durch Repräsentation einer weiter gehenden strukturellen Veränderung unterzogen. 54 55 56 57 30

Schwemmer, E. Cassirer, a.a.O., S. 83 PsF III, S. 142 PsF III, S. 235 PsF III, S. 133

1. DIE ORDNUNG DER W ELT

Sie werden nun vollends ihres ursprünglichen sinnlichen Kontextes entkleidet und ganz zu formalen Elementen von Verweisungsgefügen: „Jedes besondere Phänomen ist jetzt nur noch Buchstabe, der nicht um seiner selbst willen erfaßt, der nicht etwa nach seinen eigenen sinnlichen Bestandteilen oder nach der Gesamtheit seines sinnlichen Aspekts betrachtet wird, sondern über den der Blick hinweg und durch welchen er hindurchgeht, um sich die Bedeutung des Worts, dem der Buchstabe angehört, und den Sinn des Satzes, in welchem dieses Wort steht, zu vergegenwärtigen. [...] Seine gesamte Existenz hat sich gewissermaßen in reine Form verwandelt; sie dient nur noch der Aufgabe, eine bestimmte Bedeutung zu vermitteln und sie mit anderen zu Bedeutungsgefügen, zu Sinnkomplexen zusammenzufassen.“58

Bedeutung erhält ein Wahrnehmungsphänomen also immer nur als Bestandteil von Sinnzusammenhängen, die wesensmäßig Verweisungszusammenhänge sind. Erst als etwas auf etwas anderes Bezogenes wird uns ein Phänomen als sinnvoll bewusst. Erst als Relationselement lässt sich etwas als etwas Bestimmtes wahrnehmen. Durch das Gefüge von Verweisungszusammenhängen, in dem etwas steht, erhält dieses also erst seine Bestimmung und damit seine Bedeutung: „Die Teilhabe an diesem Gefüge gibt der Erscheinung erst ihre objektive Wirklichkeit und ihre objektive Bestimmtheit.“59 In dem Moment aber, in dem ein spezielles Phänomen durch Relationierung in höhere Verweisungszusammenhänge bedeutsam geworden ist, ist es nicht mehr bloß jenes singuläre Phänomen, sondern allgemeine Vergegenwärtigung dessen, von dem es ein individuelles Beispiel darstellt. Es ist eben zu jenem Repräsentanten geworden, der die ganze Reihe des ihm Gleichartigen symbolisiert, also zu einem Symbol. Das Entscheidende am Symbol in diesem Verständnis ist aber seine Form, die es überhaupt erst ermöglicht, dass Verweisungen und damit Verweisungszusammenhänge und symbolischer Sinn zustande kommen. Diese Form aber ist Resultat eines formenden Aktes des Bewusstseins, eines symbolischen Prozesses, durch den es gelingt, „eine Totalerscheinung in eines ihrer Momente gleichsam zusammenzudrängen, sie symbolisch zu konzentrieren, sie im Einzelmoment und an ihm prägnant zu ‚haben‘.“60 Durch diese symbolische Verdichtung vermag das Besondere etwas Allgemeines zur Anschauung zu bringen, es gewinnt etwas, was Cassirer ‚symbolische Prägnanz‘ nennt, worunter er die Art versteht, „in der ein Wahrneh58 PsF III, S. 222 f. 59 PsF III, S. 237 60 PsF III, S. 133 31

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mungserlebnis, als ‚sinnliches‘ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nichtanschaulichen ‚Sinn‘ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt.“61 So erweist sich die menschliche Wahrnehmung, insofern sie überhaupt bewusst wird, als ursprüngliche Bewusstseinsleistung. Nur als vom Bewusstsein gestaltete kann Wahrnehmung zum Inhalt eben dieses Bewusstseins werden. Die Gestaltungsprozesse bestehen dabei, wie gesagt, zunächst in einer immanenten Gliederung, in einer Fixierung und Relationierung einzelner Wahrnehmungsmomente, durch die sich diese erst zu einer abgeschlossenen und in sich identischen Objektwahrnehmung organisieren. Damit ist bewusste Wahrnehmung aber auch immer schon bedeutsam. Die durch Fixierung und Relationierung geleistete Prägung sinnlicher Wahrnehmungserlebnisse zu Wahrnehmungsformen bedeutet ihre Transformierung in Elemente von Verweisungs- und damit Sinnzusammenhängen. So kommt im sinnlichen Wahrnehmungserlebnis immer auch ein nicht-anschaulicher Sinn zur Darstellung. Das durch Prägung dem Bewusstsein präsent gemachte Erlebnis stellt sich diesem also immer auch als symbolische Repräsentation, d.h. als Darstellung eines Allgemeinen dar, das das konkrete Erlebnis in seiner augenblicklichen Besonderheit übersteigt. Dadurch erst werden Ereignisse völlig aus der Kontingenz ihrer Ereignishaftigkeit gelöst und erlangen Bestimmtheit und damit Realität. Auch wenn Cassirer die Repräsentation als eigene Leistung interpretiert, „die zusätzlich [...] zu der ‚primären‘ Bewußtwerdung oder, wie man auch sagen kann, zur einfachen Präsentation von Bewußtseinsmomenten hinzutritt“,62 worauf etwa die Pathologie des Symbolbewusstseins63 verweist, so legt er doch Wert auf die Feststellung, dass das Zur-Anschauung-Bringen eines eigentlich nicht-anschaulichen Sinns im sinnlichen Erleben stets unmittelbar erfolgt, also nicht etwa Resultat eines nachgelagerten Bedeutungszuweisungsaktes ist. Eine solche nachträgliche Bedeutungszuweisung entspräche auch nicht seinem relationalen Verständnis von Bedeutung. Denn Wahrnehmungsmomente erhalten ja gerade nicht dadurch ihre Bedeutung, dass sie sie gleichsam aufnehmen wie hohle Gefäße eine Flüssigkeit. Ihre Bedeutsamkeit resultiert aus ihrem Eingebundensein in Sinngefüge, aus den Relationen, in denen sie zu anderen Elementen dieser Gefüge stehen und d.h. letztlich durch ihre Anschließbarkeit, die die Möglichkeit einer solchen Einfügung in Relationszusammenhänge erfordert. Diese Anschließbarkeit erlangen sinnliche Momente aber durch ihre Umprägung zur Form, die in der ursprünglichen

61 PsF III, S. 235 62 O. Schwemmer, E. Cassirer, a.a.O., S. 95 63 Vgl. PsF III, Kap. VI 32

1. DIE ORDNUNG DER W ELT

bewussten Wahrnehmung immer schon angelegt sein muss, weil sie ansonsten gar nicht zu Bewusstsein kommen könnte. Damit werden bei Cassirer aber „Sinn und Sinnlichkeit in der Weise vereinigt, daß im Sinnlichen zugleich Sinn gegeben ist.“64 Sinn und Bedeutung eines Bewusstseinsinhaltes bleiben also wesensmäßig an jenes sinnliche Moment gebunden, durch das sie zur Darstellung kommen. Anders als bei Scheler, für den die geistige Sinngebung der Sinnlichkeit noch antagonistisch entgegengesetzt ist, da sie die Wirklichkeit in ihrer Widerständigkeit offenbart, ist die Bedeutsamkeit der Wirklichkeit bei Cassirer auf ihre sinnliche Erschließung angewiesen. Anders als Scheler plädiert Cassirer bezüglich der sinnlichen Wahrnehmung denn auch nicht für eine Askese, die auf die Entwirklichung der Welt hin angelegt ist. Für ihn stellt die sinnliche und damit auch leibliche Existenz des Menschen vielmehr die grundlegende Voraussetzung dafür dar, dass der Mensch sich in der durch die Leistung seines Bewusstseins erlangten Ordnung der Welt auch geistig zu orientieren vermag.

1 . 4 S ym b o l i s c h e O r d n u n g u n d g e i s t i g e O r i e n t i e r u n g Wenn uns etwas bewusst werden soll, muss es für uns Bedeutung haben. Bedeutsam wird für uns etwas dadurch, dass es eine Prägung, d.h. eine Umwandlung in eine Form erfährt. Als Form erst ist das Einzelne eingebunden in Verweisungs- und Sinngefüge, innerhalb derer es dadurch Bedeutung erhält, dass „in ihm zugleich das Bewußtseinsganze [...] mitgesetzt und repräsentiert wird.“65 So besteht die Prägung im Wesentlichen darin, an einem sinnlichen Eindruck jene prägnanten Momente zu fixieren, „durch die das Gegebene über sich selbst erweitert [...] wird.“66 Als Geformtes also gewinnt das Singuläre jene feste Gestalt, als die es Allgemeingültiges darzustellen und sich so aus dem Fluss der unmittelbaren Erlebnisse herauszuheben, also überhaupt erst präsent zu werden vermag: „Nur in dieser Repräsentation und durch sie wird auch dasjenige möglich, was wir die Gegebenheit und ‚Präsenz‘ des Inhalts nennen.“67 Durch seine Prägung erfährt ein sinnliches Erlebnis eine Transformation zu einem symbolischen Zeichen, als das es dann Inhalt unseres Bewusstseins

64 H. Paetzold, Ernst Cassirer zur Einführung. Hamburg 1993, S.43 65 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil (PsF I). Darmstadt 1977, S. 33 66 PsF I, S. 45 67 PsF I, S. 33 33

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wird. So erlangt das Bewusstsein nur dann Zugang zur Welt, wenn es diese sich selbst in Form von Zeichen zur Darstellung bringt. Was sich als „natürliche Symbolik“68 bereits auf der Ebene des einfachen Wahrnehmungsbewusstseins ereignet, findet dabei seine Fortsetzung in der Ausbildung einer „künstlichen Symbolik“69 und komplexer Symbolsysteme, wie sie sich nach Cassirer in der Sprache, dem Mythos, der Kunst und der Wissenschaft finden. Alle diese symbolischen Formen fungieren je für sich als „gewisse Weisen der ‚Objektivierung‘ [...]: d.h. als Mittel, ein Individuelles zu einem Allgemeingültigen zu erheben.“70 In allen diesen Symbolismen empfängt dadurch „das schlichte Dasein der Erscheinung eine bestimmte ‚Bedeutung‘, einen eigentlichen ideellen Gehalt.“71 Die Gestaltung, die das Bewusstsein in den und durch die symbolischen Formen leistet, bringt daher Welt im Sinne eines Kosmos, also eines geordneten Weltzusammenhangs, überhaupt erst hervor: „Neben der reinen Erkenntnisfunktion gilt es, die Funktion des sprachlichen Denkens, die Funktion des mythisch-religiösen Denkens und die Funktion der künstlerischen Anschauung derart zu begreifen, daß daraus ersichtlich wird, wie in ihnen allen eine ganz bestimmte Gestaltung nicht sowohl der Welt, als vielmehr eine Gestaltung zur Welt, zu einem objektiven Sinnzusammenhang und einem objektiven Anschauungsganzen sich vollzieht.“72

Jede symbolische Form verfolgt also das gleiche Ziel, nämlich die „passive Welt der bloßen Eindrücke, in denen der Geist zunächst befangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks umzubilden“,73 in der sich sinnliche Einzelheiten dann „einem Bewußtseins-Ganzen einfügen“,74 um so im übrigen auch das Bewusstsein als solches überhaupt erst zu konstituieren. Dadurch, dass das Bewusstsein also eine ihm zugängliche Welt hervorbringt, bringt es sich selbst immer auch mit hervor. In jeder symbolischen Form finden sich dabei die gleichen Grundrelationen, die Cassirer als Neukantianer den transzendentalen Anschauungsformen und Kategorien der Kritik der einen Vernunft entlehnt hat: Raum, Zeit und Kausalität. Die symbolische Verknüpfung erfolgt also immer im Sinne eines Nebeneinander, eines Nacheinander oder einer Ursache-Wirkungs-Beziehung.

68 69 70 71 72 73 74 34

PsF I, S. 41 PsF I, S. 41 PsF I, S. 8 PsF I, S. 9 PsF I, S. 11 PsF I, S. 12 PsF I, S. 27

1. DIE ORDNUNG DER W ELT

Diese Beziehungsgrundformen erweisen sich so als „einfache und aufeinander nicht reduzierbare ‚Qualitäten‘ des Bewußtseins.“75 So identisch die symbolischen Formen beim Aufbau von Beziehungsgefügen in qualitativer Hinsicht verfahren mögen, so sehr unterscheiden sie sich jedoch in der konkreten Art und Weise, wie sie die menschliche Erfahrung von Raum-, Zeit- und Kausalzusammenhängen organisieren. Sprache, Mythos, Kunst und Wissenschaft vermitteln jeweils eine spezifische Vorstellung etwa des Raums: „Die Einheit des Raums, die wir uns im ästhetischen Schauen und Erzeugen, in der Malerei, in der Plastik, in der Architektur aufbauen, gehört einer ganz anderen Stufe an, als diejenige, die sich in bestimmten geometrischen Lehrsätzen und in einer bestimmten geometrischen Axiomatik darstellt. Hier gilt die Modalität des logischgeometrischen Begriffs, dort die Modalität der künstlerischen Raumphantasie.“76

So ergibt sich für Cassirer eine „außerordentliche Mannigfaltigkeit von Formverhältnissen“,77 durch die zwar Erlebtes immer durch Relationierung zur geistigen Darstellung gelangt, aber eben auf unterschiedliche, nämlich vom jeweiligen Symbolismus abhängige Art und Weise. Die Unabhängigkeit der symbolischen Formen voneinander zeigt sich dabei auch darin, dass sie schwerpunktmäßig unterschiedliche symbolische Funktionen erfüllen. Cassirer unterscheidet dabei drei Symbolfunktionen: Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion. Auch wenn alle diese Funktionen prinzipiell in allen symbolischen Formen auftreten, so lässt sich doch jeder von Cassirer analysierten symbolischen Form – Mythos, Sprache, Wissenschaft – eine Funktion zuordnen, die in ihr dominiert. Bei der Ausdrucksfunktion fallen Zeichen und Bezeichnetes noch ursprünglich zusammen, „für sie steht das Bild der Sache, steht der Name dem Gegenstand, den er bezeichnet, gleich.“78 Erscheinungen stehen noch ganz für sich selbst, ohne als „Inbegriff von Dingen“ zu fungieren, „die mit bestimmten ‚Merkmalen‘ und ‚Kennzeichen‘ versehen sind, an denen sie sich erkennen und voneinander unterscheiden lassen.“79 Für die mythische Weltsicht, die durch die Ausdrucksfunktion bestimmt wird, geht demnach alles Gegebene in dieser seiner Gegebenheit auf, ohne dass ihm ein Moment des Stellvertretens einer anderen Sache, d.h. ohne dass ihm ein Moment der Repräsentation zukäme:

75 76 77 78 79

PsF I, S. 28 PsF I, S. 30 PsF I, S. 31 PsF III, S. 80 PsF III, S. 80 35

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„Man kann es demgemäß geradezu als ein Kennzeichen des mythischen Denkens bezeichnen, daß ihm die Kategorie des ‚Ideellen‘ fehlt, und daß es daher, wo immer ihm ein rein Bedeutungsmäßiges entgegentritt, dieses Bedeutungsmäßige selbst, um es überhaupt zu fassen, in ein Dingliches, in ein Seinsartiges umsetzen muß.“80

Bilder von Dingen oder Eigennamen von Menschen fallen für ein solches Wirklichkeitsverständnis in einem Verhältnis realer Identität zusammen. Bildliche oder sprachliche Zeichen verweisen also nicht auf das von ihnen Bezeichnete, sondern werden zu diesem selbst und ersetzen es folglich in ihrer unmittelbaren Gegenwart. Sie fungieren demnach nicht als ideelle Stellvertreter, die für etwas anderes, dessen Stelle einnehmend, auftreten, um letztlich eben dieses darzustellen, sondern werden ganz zu der von ihnen dargestellten Sache. Der Blick auf ein mythisches Zeichen geht also nicht durch dieses hindurch, um hinter ihm das eigentlich Gemeinte zu erblicken, er transzendiert dieses Zeichen nicht, sondern bleibt ganz bei dem sinnlich Präsenten und bei dessen Präsenz. Was das Zeichen im mythischen Bewusstsein bezeichnet, ist so gesehen nichts anderes als die Präsenz des Präsenten selbst. Bei der Darstellungsfunktion, die Cassirer vornehmlich in der Sprache vorfindet, besteht dagegen eine klare Differenz zwischen dem Zeichen und dem Objekt, auf das es referiert. Das Zeichen wird nun zum eigentlichen Stellvertreter für das Bezeichnete, zu dessen vollgültiger Repräsentation, wodurch es erst, wie bereits dargestellt, Dauer und Identität erhält und eine ideelle Kraft gewinnt: „Durch die konkrete Einzelheit des Bildes hindurch blicken wir jetzt auf diese Gesamtkraft hin. Sie bleibt, so sehr sie sich in tausend Formen verstecken mag, in ihnen allen doch sich selber gleich: sie besitzt eine feste ‚Natur‘ und Wesenheit, die in all diesen Formen mittelbar ergriffen, die in ihnen ‚repräsentiert‘ wird.“81

Die Bedeutungsfunktion schließlich dominiert die symbolische Form der Wissenschaft. Hier stehen Symbol und Symbolisiertes in einer nurmehr losen Beziehung. Relevant für das wissenschaftliche Denken ist vielmehr der Relationszusammenhang, als dessen Elemente die Symbole nun auftreten. Die Symbole stehen als „Begriffe der wissenschaftlichen Erkenntnis in einer funktionalen Reihe zueinander, und nur als Reihe vermögen die Begriffe eine Welt von Sachverhalten zu treffen“:82 „Es ist die Grundform der Beziehung selbst, die einen bestimmten Bereich von Gegenständen setzt und abgrenzt, und die

80 PsF II, S. 51 81 PsF III, S. 127 82 H. Paetzold, E. Cassirer zu Einführung, a.a.O., S. 52 36

1. DIE ORDNUNG DER W ELT

ihn in eben dieser Bestimmung für die Erkenntnis zu einem theoretisch beherrschbaren Ganzen macht.“83 Die Unterschiedlichkeit der symbolischen Funktionen begründet also die Verschiedenheit der symbolischen Formen und damit die „‚Mehrdimensionalität‘ der geistigen Welt“,84 die sich durch diese konstituiert. So vielfältig die geistige Welt aber auch sein mag, so begründet die Einheit der geistigen Tätigkeit, die sie hervorbringt, doch deren inneren Zusammenhang. Mögen sich die Symbolismen aufgrund der Verschiedenheit der in ihnen dominierenden Symbolfunktionen im einzelnen wesentlich unterscheiden, sie bleiben letztlich doch Resultat eines geistigen Prozesses, nämlich der Transformation der sinnlichen Ereigniswelt in eine symbolische Bewusstseinswelt. So bleibt trotz der Mannigfaltigkeit der Art und Weise, die Welt zu erfassen, doch die „Einheit der menschlichen Weltverhältnisse und Existenzformen“85 gewahrt. Nur dadurch aber findet sich der Mensch in einem in seiner Pluralität doch geordneten Weltzusammenhang wieder. Die Ordnung der Welt, wie sie sich dem Menschen darstellt, ist also Produkt seiner eigenen geistigen Tätigkeit der symbolischen Umgestaltung sinnlicher Gegebenheiten in eine bedeutsame Welt. In dieser symbolischen Tätigkeit unterscheidet sich der Mensch wesentlich vom Tier, weshalb Cassirer auch im Symbol den Schlüssel zum Wesen des Menschen sieht86 und daher den Menschen zusammenfassend als „animal symbolicum“87 definiert. Erst in einer symbolisch geordneten Wirklichkeit vermag sich der Mensch zu orientieren, d.h. sich in dem „Problem- und Bedeutungsraum“,88 als der eine so geordnete Welt sich konstituiert, zurechtzufinden. In diesem Sinne erfordert Orientierung ein Bescheidwissen, also eine theoretische Komponente, die sich mit der pragmatisch-praktischen des Sichzurechtfindens zum eigentlichen Verhaltenscharakter der Orientierung zusammenschließt.89 Orientierung im Sinne „wissender Selbstorientierung“90 vollzieht sich so gesehen immer als dialektischer Prozess von Selbst- und Weltbestimmung. Insofern die Weltbestimmung dadurch erfolgt, dass der Mensch ihr eine symbolische Gestalt verleiht, liegt in ihr immer schon ein Heraustreten aus der unmittelbaren Welterfahrung. Orientierung in der Welt bedeutet also immer auch ein Distanznehmen von ihr. Erst die Distanzierung der Welt durch ihre

83 84 85 86 87 88 89 90

PsF III, S. 474 PsF III, S. 17 O. Schwemmer, E. Cassirer, a.a.O., S. 24 Vgl. E. Cassirer, Versuch über den Menschen, Teil I, Kap. II E. Cassirer, Versuch über den Menschen, a.a.O., S. 51 Ernst Wolfgang Orth, Was ist und was heißt „Kultur“? Würzburg 2000, S. 29 Vgl. Orth, a.a.O., S. 29 Orth, a.a.O., S. 36 37

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Symbolisierung ermöglicht die Gewinnung jener Sinnzusammenhänge, in denen sich der Mensch überhaupt zu orientieren vermag. Das Weltverhältnis des Menschen, wie es sein Grundbedürfnis nach Orientierung erzwingt, ist also ein mittelbares und daher immer auch vermitteltes. Damit stellt sich aber dieses Verhältnis des Menschen zur Welt als ein wesensmäßig mediales, d.h. als ein vermitteltes und der Vermittlung bedürftiges dar. Die Ordnung der Welt, die aus einem solchen medialen Weltbezug resultiert, erweist sich damit ihrem ursprünglichen Charakter nach als eine mediale Ordnung.

1.5 Die mediale Ordnung der Welt Zu den grundlegenden Einsichten Cassirers gehört, dass kein sinnlich wahrnehmbares Ereignis oder Phänomen uns als isoliertes zu Bewusstsein kommt. Nur als eingeordnet in Verweisungszusammenhänge und damit als in Sinnhorizonten stehend wird es Bestandteil unserer bewussten Erfahrung. Unser Wissen von der Welt ist also immer vermittelt, insofern es nur aus Verweisungsvorgängen resultiert, wie sie sich im von Cassirer beschriebenen Symbolprozess ereignen. Dieser Umstand lässt es angebracht erscheinen, genauer zwischen den Begriffen ‚Wirklichkeit‘ und ‚Realität‘ zu differenzieren. Im alltäglichen wie auch gelegentlich im philosophischen Sprachgebrauch werden diese Begriffe nicht selten unterschiedslos zur Bezeichnung der Welt der Gegenstände und Ereignisse verwendet, wie sie unabhängig von den subjektiven Bedingungen der Wahrnehmung und des Denkens zu bestehen scheint. Tatsächlich bezeichnet seiner Ableitung vom lateinischen res – ‚Sache‘ nach aber nur der Begriff der Realität das Gegebene in seiner Sachhaltigkeit. Als Übersetzung ˸ ερ ̗ γεια dient der Terminus ‚Wirklichkeit‘ dagegen mehr des aristotelischen εν zur Bezeichnung der wirkenden Form, die der bewirkten Erscheinung des Realen zugrunde liegt und dieses damit letztlich übersteigt. Als ihrerseits wirkende energeia zeichnet sich die Wirklichkeit infolgedessen durch eine hyletische Widerständigkeit gegen den menschlichen Formungswillen aus und fungiert so als Grundlage, auf der sich menschliche Erfahrung bewähren kann. Dadurch wird sie zum nicht mehr hintergehbaren Fundament aller phänomenalen Realitätserfahrung und damit zugleich zur Basis aller symbolischen Realitätsbestimmung. Die Wirklichkeit stellt gleichsam jene „die sachliche Gegebenheit transzendierende Ordnung“91 dar, innerhalb derer uns Phänomene als erfahrbare Realität überhaupt erst gegeben sein können.

91 Klaus Wiegerling, Virtualisierung der Wahrnehmung. In: Trans. Internetzeitschrift für Kulturwissenschaften Nr. 15 (http://www.inst.at/trans) 38

1. DIE ORDNUNG DER W ELT

Grundvoraussetzung für ein solches Erfahren der Realität ist dabei aber ein Heraustreten aus der Unmittelbarkeit der Welterfahrung. Nur als mittelbare und daher immer schon vermittelte haben wir Welt, nur in der symbolischen Vermittlung fügt sich das Chaos des unzusammenhängenden Wahrnehmungsflusses zu einer geordneten, strukturierten Einheit. Durch die Symbolisierung verleiht das Bewusstsein den Phänomenen jene Formen, als die sie ihm vermittelbar und damit überhaupt erst zugänglich sind. Erst in der symbolisch vermittelten und durch diese Vermittlung geordneten Welt vermag sich der Mensch zu orientieren, d.h. sich in den symbolisch erzeugten Weltzusammenhängen zurechtzufinden. Orientierung in der Welt vollzieht sich damit prinzipiell medial, nämlich auf der Grundlage der dialektischen Vermittlung von Welt- und Selbstbestimmung. Denn erst in der symbolischen Gestaltung der sinnlichen Phänomene zur Welt gewinnt auch das geistige Selbst seine Identität. Die formende Weltbestimmung vollzieht sich dabei stets am Sinnlichen, auf das der Sinn als sein materieller Träger immer angewiesen bleibt. Als zentrale Vermittlungsinstanz zwischen Welt und Selbst fungiert daher zuallererst der eigene Leib als die Grundlage aller Sinnlichkeit. Der Leib markiert zunächst die Grenze zwischen mir und dem, was ich nicht bin, also der mich umgebende Wirklichkeit. Als Teil dieser Wirklichkeit lässt er mich an dieser teilhaben und verbindet mich dadurch mit ihr. Er vermittelt mir so die Wirklichkeit in ihrer hyletischen Widerständigkeit und damit als nicht hintergehbare Grundlage aller Realitätserfahrung, d.h. der Erfahrung der Wirklichkeit in der einzig mir zugänglichen, nämlich der medial vermittelten Form. Insofern eröffnet der Leib dem Menschen überhaupt erst die Möglichkeit, Zugang zur Welt außerhalb seiner zu erlangen. Gleichzeitig begrenzt er diese aber auch, da er den Zugang zur Welt immer schon gemäß seiner sinnlichen Vermögen und Einrichtungen präpariert und damit disponiert. Der Weltzugang, den wir durch den Leib erhalten, ist also kein direkter, sondern immer schon ein vermittelter. Leiblich nehmen wir in dieser Realität eine bestimmte räumliche und zeitliche Position ein, können uns also verorten. Aus dem Bezug auf unseren Leib gewinnen wir zudem Richtungsbestimmungen wie oben oder unten, hinten oder vorne, links oder rechts. Gemeinsam mit den aus der raum-zeitlichen Positionierung gewonnenen Lageverhältnissen ermöglichen sie eine vollständige Orientierung im geografischen Raum. Durch seine Sinnlichkeit eröffnet der Leib aber auch die erkennende Begegnung mit der Welt und damit Orientierung in einem weiteren, metaphorischen Sinn: als Zurechtfinden in Problem- und Bedeutungsräumen.92 Im Leib 92 Vgl. Orth, a.a.O., S. 29 39

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verbinden sich also Körperlich-Sinnliches und Geistiges und finden dadurch ihre Vermittlung. Cassirer sieht denn im Leib und seinem Verhältnis zur Seele auch das „Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation“,93 weshalb er wohl als Paradigma der „medialen Orientierung“94 des Menschen gelten kann. Die sinnlichen Vermögen des Leibs ermöglichen also erst den medialen Zugang zur Welt, sie begrenzen ihn aber auch nach Maßgabe ihrer Leistungsfähigkeiten: Der Wellenlängenbereich der für das Auge wahrnehmbaren elektromagnetischen Wellen ist ebenso beschränkt wie der Frequenzbereich der Schallwellen, für die unser Ohr empfänglich ist, und alle Formen sinnlicher Erkenntnis der Welt sind letztlich durch die begrenzte Speicherkapazität unseres Gedächtnis disponiert. Die Medialität des Menschen ist folglich immer schon daraufhin angelegt, die leiblichen Vermögen zu erweitern. Im Wesentlichen gelingt diese Erweiterung durch apparative Externalisierung der bewusstseinsimmanenten Symbolprozesse. Unter Apparatur soll dabei nicht nur eine technische Vorrichtung verstanden werden, sondern jegliche Einrichtung zur Hervorbringung und Verwendung von Symbolsystemen. Mittel zur Erzeugung von Schriftsymbolen sind im Sinne dieser Auffassung ebenso als mediale Apparaturen oder – kurz gesagt – Medien zu verstehen wie mathematische Kalküle. Eine solche Ausdehnung einer Begriffsextension birgt natürlich immer die Gefahr, dass sich die Bedeutung eines Terminus in der Beliebigkeit verliert. Es scheint daher geboten, einige allgemeine Charakteristika anzugeben, die Medien im hier verstandenen, symboltheoretischen Sinne kennzeichnen.95 Bereits von seiner ursprünglichen Wortbedeutung her – vom lateinischen medius – ‚in der Mitte befindlich‘, ‚mittlerer‘ – steht der Begriff ‚Medium‘ im Kontext der Idee der Vermittlung. Ein Medium ist also eine Vermittlungsinstanz. Am ursprünglichen Muster eines Mediums, an unserem Leib, wird deutlich, was dabei im allgemeinen Sinne vermittelt wird: nämlich das Selbst des Menschen mit der Welt. Die Notwendigkeit einer solchen Vermittlung resultiert, wie bereits gesagt, aus der Herausgehobenheit des Menschen aus der Welt, aus seiner grundsätzlichen Distanz zu dem, was er nicht ist. Als Vermittlungsinstanz überbrückt ein Medium diese Distanz des Menschen zur Welt, indem es ihm das Distanzierte und damit ursprünglich Abwesende präsentiert. Diese Präsentation erfolgt in erster Linie unter Überwindung der Raumund Zeitdistanzen zwischen dem Menschen und dem ihm Präsentierten, wo93 PsF III, S. 117 94 Orth, a.a.O., S. 33 95 Ich stütze mich bei den folgenden Ausführungen im Wesentlichen auf die Charakterisierung des Mediums, wie sie sich in Klaus Wiegerling, Medienethik. Stuttgart 1998, S. 6-29 findet. 40

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durch eine spezifische Form medialer Nähe erzeugt wird. Dazu muss das Medium die räumliche und zeitliche Gebundenheit des unmittelbar Erfahrbaren transzendieren, es muss das Erfahrbare aus seiner Ereignishaftigkeit herauslösen, also symbolisch prägend wirksam werden. Damit wird das Vermittelte aber niemals als es selbst vermittelt, sondern immer nur als bereits Gestaltetes und Geformtes, als das es überhaupt erst Bedeutung erlangt. Ein Medium vermittelt also Bedeutung, die wohl auf einen Referenten, einen außermedialen Gegenstand oder Sachverhalt verweist, nicht aber mit diesem zusammenfällt. Das Vermittelte ist deshalb in der Vermittlung selbst nie präsent, vielmehr wird es durch einen symbolischen Stellvertreter zur Darstellung gebracht, also repräsentiert. In dieser Repräsentation unterliegt das Vermittelte aber immer einer Inszenierung, insofern es vom Medium in einen perspektivischen Horizont eingebettet wird. Bei aller Überwindung von Distanzen schafft ein Medium im Prozess der Vermittlung damit andererseits eine neue spezifische Art von Distanz zum vermittelten Objekt. Diese mediale Distanz bleibt unaufhebbar und verhindert, dass das medial Vermittelte jemals unmittelbar, also unabhängig von seiner medialen Vermittlung wahrgenommen werden kann. Um es mit Kant zu sagen: Das Ding an sich bleibt uns letztlich verborgen. Das zur bedeutsamen Repräsentation Geprägte bliebe unvermittelbar ohne sinnlich wahrnehmbaren Träger. Zur symbolischen Prägung muss also die Materialisierung der so gewonnenen ideellen Bedeutung treten. Nur als materialisierte lässt sich Bedeutung aus dem Informationsfluss herausheben, archivieren und damit verfügbar halten. Die ideellen Komponenten eines Mediums lassen sich also nicht von seiner Materialität sinnvoll abtrennen und gesondert bewerten. Jede vermittelte Bedeutung hängt vielmehr von den Möglichkeiten des Mediums ab, sie materiell zu gestalten. Diese medialen Bedingungen bestimmen den vermittelten Inhalt. Was ein Medium vermittelt, hängt also immer auch davon ab, wie es dieses vermittelt. Folglich vermittelt ein Medium mit der vermittelten Sache immer auch die von seiner apparativen Einrichtung bestimmten Vermittlungsbedingungen und damit immer auch ein Stück weit sich selbst. Folglich erweist sich das medial Vermittelte inhaltlich immer auch als von den historischen, gesellschaftlichen und technischen Einrichtungsbedingungen des Mediums und von den daraus resultierenden Ordnungsprinzipien abhängig. Die Ordnung der Welt erweist sich so gesehen als eine wesensmäßig mediale Ordnung. Das Ordnen der kontingenten sinnlichen Phänomene zu einer konsistenten Welt, wie Cassirer es beschrieben hat, nämlich durch ihre Prägung und symbolische Verknüpfung, gelingt nur durch die Zwischenschaltung von Medien zwischen Mensch und Welt. Insofern scheint es berechtigt, Cassirers Definition des Menschen als animal symbolicum zuzuspitzen auf die 41

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Wendung vom „animal mediatum“,96 wodurch seine mediale Grundverfassung zum Ausdruck gebracht wird. Die Begrenztheit des Vermittlungsvermögens des ursprünglich dem Menschen zur Verfügung stehenden Mediums, seines eigenen Leibs nämlich, zog im Laufe der Kulturgeschichte (die daher immer auch eine Mediengeschichte ist) eine apparative Erweiterung dieser Vermögen nach sich, so dass zur leiblich-sinnlichen schon bald eine kulturelle und instrumentelle Vermittlung von Selbst und Welt trat. Damit ist aber auch gesagt, dass die dabei entwickelten Medien – von der Sprache und den ersten bildhaften Darstellungen über die Schrift bis hin zu abstrakten wissenschaftlichen Ordnungssystemen – wie auch ihre jeweilige technische Einrichtung wesentliche Funktionen bei der Orientierung des Menschen übernehmen. Als mediales Wesen ist der Mensch in seiner Wahrnehmung der Welt, in seinem Handeln in ihr wie auch in seiner Selbstbestimmung auf die vermittelnde und dabei realitätskonstruierende Kraft der Medien angewiesen. Ein Medium, das sich im Laufe des 19. Jahrhunderts derart rasant entwickelte, dass es sich anschickte, geradezu zum Leitmedium zumindest in der entwickelten Welt zu werden und damit „die Sprache als unser wichtigstes Instrument zur Deutung, zum Begreifen und Prüfen der Realität zu ersetzen“,97 ist die Fotografie. Aus dem bisher Gesagten lassen sich grundsätzliche Fragen ableiten, die sich eine symboltheoretisch motivierte Philosophie des Mediums ‚Fotografie‘ zu stellen hätte. Wenn die theoretische (und damit auch praktische) Bewältigung des Seins in der Welt immer nur medial gelingt, also dadurch, dass das Denken Zeichen als Stellvertreter für Gegenstände und Sachverhalte gebraucht, weil sich die Welt nur als bezeichnete zu einem geordneten Ganzen fügt,98 stellt sich die Frage, wie sich eine solche Transformation der Sinnenwelt in die bedeutsame Welt eines Zeichensystems fotografisch vollzieht. Wie gelingt der Fotografie jene symbolische Konzentration, durch die im Symbolprozess aus dem Ganzen der Erscheinung das Moment herausgelöst wird, das für das Ganze prägnant ist und daher als dessen Repräsentant fungieren kann? Inwiefern erfüllt die Fotografie damit jene Verweisungsfunktionen der Repräsentation, aufgrund derer es erst ein Wissen von der Wirklichkeit geben kann? Welches ist also die eigentümliche logische Struktur der Fotografie, kraft derer ein Gegenstand durch sie seine spezifische Bestimmung erfährt? Und inwieweit un96 Klaus Wiegerling, Die mediale Ordnung der Welt. Unveröffentlichtes Vorlesungsmanuskript SS 2003 Universität Stuttgart, S. 42 97 Neil Postman, Wir amüsieren uns zu Tode. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Reinhard Kaiser. Frankfurt/M. 2003, S. 95 98 Vgl. PsF III, S. 53 42

1. DIE ORDNUNG DER W ELT

terscheiden sich diese von den logischen Strukturen anderer vergleichbarer (d.h. visueller) Medien? Welches ist also der besondere Sinn der gegenständlichen Zusammenhänge, wie sie von der Fotografie erzeugt werden? Wenn tatsächlich jeder geistigen Grundfunktion wie der Kunst, dem Mythos, der Religion oder den Wissenschaften eine ursprüngliche bildende Kraft innewohnt, durch die die Erscheinung erst ihre Bedeutung empfängt, dann gilt es jenes Prinzip zu untersuchen, nach welchem die Fotografie Bedeutsames gestaltet. Welches ist also die ideelle Einheit der Fotografie, ihre spezifische Form, die sich im medialen Prozess der Vielfalt des Sinnlich-Stofflichen aufprägt? Aus diesen Fragestellungen ergeben sich für eine symboltheoretische Philosophie der Fotografie folgende Aufgabenstellungen: Ausgehend von einer Bestimmung und Abgrenzung jener Elemente, die überhaupt als fotografische Zeichen angesehen werden können, gilt es, den Prozess der Symbolisierung bei diesen zu rekonstruieren, also jenen technischen Vorgang nachzuzeichnen, durch den sinnliche Gegebenheiten zu Trägern einer geistigen Bedeutung werden. Die daraus resultierenden fotografischen Zeichen sind daraufhin zu untersuchen, welche Modalität der symbolischen Grundrelationen sich in ihnen finden. Dabei ist zu beschreiben, wie sich aus fotografischen Zeichen eine symbolische Form ‚Fotografie‘ konstituiert, in welchem Verhältnis die so entstandene Form zu anderen visuell-symbolischen Formen steht und wie sie sich in die Einheit des Bewusstseins-Ganzen einfügt. Eine Kenntnis der spezifischen Strukturprinzipien des Mediums Fotografie ermöglicht schließlich die Beschreibung der visuellen Ordnungen, die sich aus diesen Prinzipien ergeben und damit eine Bestimmung des Beitrags, den die Fotografie zur medialen Ordnung der Welt leistet.

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2 . Der fotografisc he Proze ss

2.1 Die Fotografie als Verfahren der „ n a t ü r l i c h e n “ Ab b i l d u n g Die Beantwortung der Frage, wie Fotografie symbolisch fungieren, d.h. an einer sinnlich wahrnehmbaren Gegebenheit einen Sinn zur Anschauung bringen kann, setzt zunächst die Klärung dessen voraus, was unter ‚Fotografie‘ überhaupt verstanden werden soll. Der Terminus ‚Fotografie‘ wird im allgemeinen Sprachgebrauch im Sinne zweier Bedeutungen gebraucht. Zum einen bezeichnet er die einzelne fotografische Abbildung – kurz: das Foto –, zum anderen jenes technische Verfahren, mit dem eben diese Abbildung hergestellt wird. Im vorausgegangenen Kapitel wurde eingehend dargelegt, dass eine medial vermittelte Bedeutung stets auch von den apparativen Einrichtungen des vermittelnden Mediums abhängt. Wie bei jedem Medium lässt sich also auch bei einem Foto dessen inhaltliche Komponente, dessen Bedeutung nicht von den technischen Einrichtungsbedingungen des Prozesses abtrennen, aus dem es als Resultat hervorgegangen ist. Insofern scheint es geboten, zunächst den apparativen Aspekt der Fotografie, d.h. den technischen Prozess der Produktion analoger fotografischer Abbildungen1 einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Zusammengesetzt aus den griechischen Worten ϕω˾̙ς (Licht) und γρα̗̙ϕειν (schreiben) bedeutet ‚Fotografie‘ wörtlich übersetzt so viel wie ‚mit Licht schreiben‘. Der originären Idee der Fotografie, wie sie in dieser ursprünglichen Wortbedeutung zum Ausdruck kommt, entsprechen demnach am ehesten die sogenannten Fotogramme. Solche Bilder erhält man, wenn man Papiere, die man zuvor mit fotosensiblen Salzen (vornehmlich Silberhalogeniden) 1

Mit der Digitalisierung der Fotografie beschäftigt sich eingehend das 5. Kapitel. 45

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

präpariert hat, mit Gegenständen belegt und dann direkt dem Sonnenlicht oder einer anderen, künstlichen Lichtquelle aussetzt. Durch Reduktion der Silberionen entsteht an den belichteten Stellen fein verteiltes metallisches Silber, das eine Schwarzfärbung des Papiers verursacht, während die unbelichteten Stellen weiß bleiben. Der englische Chemiestudent Thomas Wedgewood erzeugte auf dieses Weise bereits um 1800 Negativabbildungen, ohne sie freilich fixieren zu können, so dass bei weiterem Lichteinfall auch die bislang hellen Partien nachdunkelten und das Bild verschwand. Der englische Mathematiker Henry Fox Talbot nahm in seinen ‚photogenic drawings‘, seinen fotogenischen Zeichnungen überwiegend von Pflanzenteilen, das Prinzip des Fotogramms wieder auf, wobei er das Problem der Fixierung der so entstandenen Bilder dadurch löste, dass er das nicht reduzierte Silbersalz an den unbelichteten Stellen mit dem bis heute als Fixiermittel gebräuchlichen Natriumthiosulfat in eine wasserlösliche Form überführte und so aus dem Papier herauswaschen konnte. Nun entspricht das Fotogramm, das im 20. Jahrhundert durch Man Ray und seinen Rayographien noch einmal eine kurze Renaissance im Gebiet der künstlerischen Fotografie erlebte, selbst als umkopierte Positivabbildung in keiner Hinsicht dem landläufigen Verständnis von einem Foto, nachdem für dessen Herstellung stets die Verwendung eines nach optischen Gesetzmäßigkeiten funktionierenden Apparates notwendig ist. Eine Abbildung wird also erst dann als Fotografie anerkannt, wenn bei ihrer Herstellung optische, mechanische und chemische Verfahrensweisen gemeinsam zur Anwendung gelangen. Aber obwohl das fotosensible Aufzeichnungsmedium, sei es eine beschichtete Kupferplatte wie bei den Daguerreotypien oder ein präpariertes Blatt Papier wie bei Talbots Kalotypien, durch den Fotoapparat von dem fotografierten Objekt getrennt wurde, erlebte die Vorstellung einer direkten Abbildung, wie sie streng genommen nur für Fotogramme gilt, von Beginn der apparativen Fotografie an eine Übertragung auf die durch sie produzierten Bilder. Bereits im Januar 1839, d.h. ein halbes Jahr vor der offiziellen Vorstellung der Fotografie vor der französischen Deputiertenkammer durch Dominique François Arago am 3. Juli 1839, verglich der Kunstkritiker Jules Janin die Daguerreotypien, die er bislang zu sehen bekam, mit fixierten Spiegelbildern: „In der Camera obscura bilden sich Gegenstände der Außenwelt mit einer Wahrheit ohne Vergleich ab. Aber die Camera obscura tut nichts selbst, sie ist kein Bild, sie ist ein Spiegel, in dem nichts stehen bleibt. Stellen Sie sich jetzt vor, daß der Spiegel

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2. DER FOTOGRAFISCHE PROZESS

die Eindrücke der Objekte bewahrt hat, die sich in ihm spiegeln, und Sie haben eine beinahe komplette Vorstellung des Daguerreotyp.“2

Die Fotografie – hier noch in Form der Daguerreotypie – verbindet nach Janin also die Exaktheit der Wiedergabe der Realität, wie sie die schon seit der Renaissance bekannte Camera obscura leistet, mit der Technik der Fixierung der so entstandenen Abbildungen, die sie „dauerhaft, unvergänglich wie eine Gravur auf einer Stahlplatte“3 macht. Zumal dieser Vergleich der Fotografie mit Erzeugnissen der grafischen Künste, der noch im gleichen Jahr von Ludwig Schorn und Eduard Kolloff im „Kunstblatt“, einer Beilage zu Cottas „Morgenblatt für gebildete Stände“, aufgenommen wird, wenn sie Fotografien als „von den Strahlen des Tageslichts gestochene(n) Kupferstiche“4 bezeichnen, stellt die apparativ erzeugten fotografischen Bilder explizit in eine Reihe mit den Fotogrammen, indem auch sie gleichsam als durch Lichteinwirkung verursachte Abdrücke des Fotografierten angesehen werden. Durch die Einwirkung des Lichts – so die hier vertretene Vorstellung – haben sich die Gegenstände den Trägermaterialien förmlich eingeprägt und ihre unverwechselbaren Spuren hinterlassen. Mit dieser Ansicht wurde die Fotografie von Beginn an in die Klasse der natürlichen Abbildungen eingereiht, jener Abbildungen, die die abgebildeten Objekte quasi von selbst erzeugen wie etwa ihre eigenen Schattenbilder. Dass die Fotografie infolgedessen in Analogie zur griechischen Schattenmalerei gesehen wurde, zeigt sich etwa in den Überlegungen des Erfinders des Negativ-Positiv-Verfahrens, Henry Fox Talbots, „ob er seine Erfindung lieber Photographie, Lichtmalerei, oder Skiagraphie, Schattenmalerei, nennen sollte.“5 Weitere Formen natürlicher Abbilder sind alle Arten direkter Abdrücke, und so wurde denn die Fotografie auch schon bald als ein Verfahren interpretiert, eben solche Abdrücke von Objekten abzunehmen. Für Moriz Thausing etwa ähnelt ein Portraitfoto daher dem „Abguß der Maske“.6 Die Interpretation der Fotografie als Abdruck und damit direkte Selbstdarstellung des Fotografierten erhielt gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der ausdifferenzierten Zeichentheorie des amerikanischen Philosophen Charles Sanders Peirce eine wissenschaftliche Fundierung, die von der Fototheorie der Folge-

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Jules Janin, Der Daguerreotyp. In: Wolfgang Kemp, Theorie der Fotografie. 1. 1839-1912. München 1999, S. 49 Janin, a.a.O., S. 48 Ludwig Schorn und Eduard Kolloff, Der Daguerreotyp. In: Kemp I, a.a.O., S. 57 Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München 2001, S. 195 Moriz Thausing, Kupferstich und Fotografie. In: Kemp I, a.a.O., S. 139 47

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

zeit als ausgesprochen tragfähig angesehen und von ihr daher dankbar aufgegriffen wurde. Nach Peirce vollzieht sich jegliches Denken und Erkennen in Zeichen. Einer der zahlreichen Definitionen zufolge, die Peirce im Laufe der Jahrzehnte, in denen er seine Semiotik entwickelte, formuliert hat, handelt es sich bei einem Zeichen um alles, „was in einer solchen Beziehung zu einem Zweiten steht, das sein Objekt genannt wird, daß es fähig ist, ein Drittes, das sein Interpretant genannt wird, dahingehend zu bestimmen, in derselben triadischen Relation zu jener Relation auf das Objekt zu stehen, in der es selbst steht.“7 Ein Zeichen ist also zunächst eine Gegebenheit, die in Relation zu einem Objekt steht, und zwar derart, dass es für dieses stehen und damit als dessen Stellvertreter fungieren kann. Peirce erweitert dieses zweistellige Beziehungsverhältnis aber sogleich zu einer triadischen Relation, indem er den Interpretanten als dasjenige hinzufügt, das nun seinerseits in einer Relation zu der Relation steht, die zwischen dem Zeichen und seinem Objekt besteht. Wie ein Zeichen steht der Interpretant demnach in Beziehung zu einem Objekt, nämlich der Zeichen-Objekt-Beziehung, durch die er als Interpretant bestimmt wird. Peirce führt dementsprechend folgerichtig fort: „Dies bedeutet, daß der Interpretant selbst ein Zeichen ist, das ein Zeichen desselben Objekts bestimmt und so fort ohne Ende.“8 So entfaltet sich für Peirce die Semiose als unendlicher Prozess des InBeziehung-Tretens von Zeichen zu ihren Objekten und zu den diese Objektbeziehung interpretierenden Zeichen, die als Zeichen ihrerseits fortwährend neue interpretierende Zeichen bestimmen. Ein Zeichen wird also im Wesentlichen dadurch zu einem Zeichen, dass es in Relationen steht, einerseits zu einem Objekt, andererseits zu einem Interpretanten. An jedem Zeichen lassen sich infolgedessen stets drei Beziehungsaspekte ausmachen: der Aspekt des Zeichens in Beziehung zu sich selbst, der des Zeichens in Beziehung zu seinem Objekt und der des Zeichens in Relation zu seinem Interpretanten. Jeder dieser drei Aspekte lässt sich für Peirce nun seinerseits trichotomisch untergliedern. Am Zeichenaspekt lassen sich Qualizeichen, Sinzeichen und Legizeichen voneinander abgrenzen. Ein Qualizeichen ist dabei „eine Qualität, die ein Zeichen ist.“9 Die Zeichenfunktion basiert beim Qualizeichen also auf einer bestimmten sinnlich wahrnehmbaren Qualität, z.B. der Farbe, der Form oder der Gestalt. Farbkartons etwa, die veranschaulichen sollen, in welchen Farben Polstermöbelüber7 8 9 48

Charles Sanders Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen (PLZ). Hrsg. von Helmut Pape. Frankfurt/M. 1983, S. 64 PLZ, S. 64 PLZ, S. 123

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züge lieferbar sind, fungieren auf der Grundlage der Tatsache, dass sie eine bestimmte Farbe besitzen, als Zeichen für eben diese Farbe und können in einer entsprechenden Situation als Stellvertreter für diese verwendet werden. Ein Sinzeichen ist „ein einzelnes Ereignis [...] oder ein einzelnes Objekt oder Ding, das an einem einzelnen Ort oder zu irgendeinem Zeitpunkt existiert“ und „bedeutsam nur insofern ist, als es gerade dort und dann vorkommt.“10 Das eine konkrete Vorfahrtstraßenschild z.B., das an einer bestimmten Straßeneinmündung steht, signalisiert nur für diese Stelle das Vorfahrtrecht für Autofahrer, die an ihm vorbeifahren. Andererseits ist es auch nur an dieser Stelle, an der zwei Straßen zusammentreffen, bedeutsam im intendierten Sinne, also als Vorfahrstraßenschild. Im Flur einer Wohnung könnte es zumindest diese Bedeutung nicht haben. Konkret auftreten kann das Sinzeichen dabei nur als materiell verkörpertes, d.h. auf der Grundlage bestimmter sinnlich wahrnehmbarer Qualitäten. Insofern beruht die Möglichkeit eines Sinzeichens darauf, dass es auf Qualizeichen rekurriert, gleichwohl geht es in seiner Zeichenhaftigkeit weit über diese hinaus, da es ja nicht die sinnlichen Qualitäten selbst sind, die hier als Zeichen fungieren und in denen sich das Bezeichnete erschöpft. Auch wenn das singuläre Vorkommen das bestimmende Kriterium von Sinzeichen ist, heißt dies nicht, dass gleiche Sinzeichen nicht an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten auftreten können. Gleiche Sinzeichen besitzen dann deshalb die gleiche Bedeutung (also alle Vorfahrtstraßenschilder die eines Vorfahrtsrechts), weil sie als individuelle Beispiele eines allgemeinen Zeichentyps auftreten, des Legizeichens nämlich. Ein Legizeichen ist für Peirce das Gesetz, das das Auftreten der zur Klasse des Legizeichens gehörenden Einzelzeichen steuert und auf dessen Grundlage Sinzeichen damit überhaupt erst Bedeutung erlangen: „Ein Legizeichen ist ein Gesetz, das ein Zeichen ist. Ein solches Gesetz ist normalerweise von Menschen aufgestellt. Jedes konventionelle Zeichen ist ein Legizeichen (aber nicht umgekehrt). Es besteht Einigkeit darin, daß nicht ein einzelnes Objekt, sondern nur der allgemeine Typus dasjenige ist, was die Bedeutung trägt.“11

Die prominenteste und für die Fototheorie auch interessanteste Unterscheidung, die Peirce vornimmt, betrifft den Objektbezug des Zeichens. Diesbezüglich unterteilt er Zeichen in Ikone, Indizes und Symbole.

10 Charles S. Peirce, Semiotische Schriften, Bd. 3. Hrg. und übersetzt von C. Kloesel und H. Pape. Frankfurt/M. 1993, S. 146 11 PLZ, S. 124 49

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Ein Ikon ist dabei „ein Zeichen, das sich auf das von ihm denotierte Objekt lediglich aufgrund von Eigenschaften bezieht, gleichgültig, ob ein entsprechendes Objekt wirklich existiert oder nicht.“12 Ein Ikon vermag also ein Objekt zu bezeichnen, weil es qualitative, d.h. sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften mit diesem gemeinsam besitzt und mit ihm daher eine gewisse Ähnlichkeit aufweist. ‚Ähnlichkeit‘ versteht Peirce dabei allerdings in einem so weit gefassten Sinn, dass die Möglichkeit besteht, dass ein Ikon kraft eigener Qualitäten ein Objekt bezeichnet, das gar nicht wirklich existiert, sondern bloß fiktiv ist. Dieser Gedanke erscheint im ersten Moment ausgesprochen irritierend, lässt sich aber z.B. anhand der Vorstellung eines Straßenplans einer fiktiven Stadt leicht einsehen. Eine Stadt, deren Straßenverläufe strukturell den Angaben auf dem Plan entsprechen, kann als Objekt gelten, auf die der Plan als ikonisches Zeichen referiert. Allerdings wird der Straßenplan weder unverständlich noch völlig bedeutungslos, wenn keine solche Stadt existiert. Er gibt dann weiterhin für jedermann, der Straßenpläne prinzipiell zu lesen versteht, die Struktur eines Straßennetzes wieder. Im Gegensatz dazu stehen Indizes in einer physischen Verbindung mit dem von ihnen bezeichneten Objekt: „Ein Index stellt sein Objekt durch eine reale Korrespondenz mit ihm dar [...].“13 Das Objekt muss also real existieren oder existiert haben, soll ein Zeichen auf es indizierend Bezug nehmen können. Die Spur, die ein Tier im Schnee hinterlässt, kann nur zustande kommen, wenn es wirklich existiert und zudem an besagter Stelle durch den Schnee läuft. Dabei spielt es für den Zeichenstatus eines indexikalischen Zeichens noch nicht einmal eine Rolle, dass es als Zeichen aufgefasst wird. Ein Index verliert also nicht seine Eigenschaft, Zeichen zu sein, „wenn es keinen Interpretanten gäbe.“14 Seine Zeichenhaftigkeit basiert ausschließlich auf seiner Verbindung zum Objekt. Das wesentliche Kriterium des Symbols besteht dagegen gerade darin, dass es nur aufgrund einer Konvention auf sein Objekt referiert: „Ein Symbol ist ein Zeichen, dessen zeichenkonstitutive Beschaffenheit ausschließlich in der Tatsache besteht, dass es so interpretiert werden wird.“15 Es unterliegt also nicht der Notwendigkeit, in seinen sinnlichen Qualitäten irgendeine Ähnlichkeit oder gar physische Verbindung zu seinem Objekt aufweisen zu müssen. Es genügt, wenn es durch seine Realisierung bei einem Interpreten die Vorstellung des Objekts erzeugt, auf das es sich bezieht. Die konkrete Form, in der es sich dabei materialisiert, spielt dagegen keine Rolle, 12 PLZ, S. 124 13 Charles S. Peirce, Semiotische Schriften, Bd. 1 (SB1). Hrg. und übersetzt von C. Kloesel und H. Pape. Frankfurt/M. 1986, S. 112 14 SB1, S. 375 15 PLZ, S. 65 50

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es ist also „gleichgültig, welche Art von Laut-, Schrift- oder Bildmaterial wir verwenden, um ein Symbol auszudrücken.“16 Bei einem Symbol tritt also die Materialität, mit der es einem Interpreten sinnlich wahrnehmbar als konkretes Zeichen erscheint, völlig hinter seine allgemeine Beziehungsfunktion zurück. Auch wenn es als Sinzeichen auftreten muss, um überhaupt zur Kenntnis genommen werden zu können, wirkt es doch als Legizeichen, d.h. als allgemeiner Typus. Als solcher bezieht sich ein Symbol demnach auch nicht auf ein einzelnes, besonderes Objekt, sondern auf eine Objektklasse: „Es ist nicht nur selbst allgemein, sondern auch das Objekt, auf das es sich bezieht, ist allgemeiner Natur.“17 Insofern hat sich das Symbol in seiner Beziehung zum Objekt am meisten von diesem emanzipiert. Deswegen ist es in seiner Existenz als Zeichen auch am meisten davon abhängig, von einem Zeichenbenutzer als solches interpretiert zu werden. Es verliert also seine wesentliche Eigenschaft, Zeichen zu sein, wenn es keinen Interpretanten mehr gibt. Hinsichtlich dieses Verhältnisses eines Zeichens zu seinem Interpretanten unterscheidet Peirce nun zwischen Rhema, Dikent und Argument. Das Rhema entspricht dem logischen Prädikat einer Aussage, repräsentiert das von ihm Bezeichnete also als Eigenschaft und damit als Möglichkeit eines Objekts, auf eine bestimmte Art und Weise zu sein. Da ein Rhema noch nicht auf ein individuelles Ding eingeschränkt ist, handelt es sich bei ihm auch noch nicht um eine vollständige Aussage. Zu einer solchen wird das Rhema erst, wenn es um den Dikenten ergänzt wird, auf den die vom Rhema bezeichnete Qualität zutreffen soll. Als Dikent kann dabei nur ein solches Zeichen fungieren, das auf etwas real, also unabhängig von seiner zeichenhaften Repräsentation Existierendes bezogen ist. Nach dem, was Peirce über die Relation von Zeichen zu ihren Objekten ausführt, kommt dabei nur ein Index in Frage. Erst als Index repräsentiert sich der Dikent „selbst als in einer tatsächlichen Zweitheit zu seinem realen Objekt stehend.“18 Demnach wird im Dikenten das vollzogen, was im Rhema lediglich als Möglichkeit eröffnet wurde, nämlich „eine auf Einzeldinge eingeschränkte Art der Interpretation.“19 Das Dikent ist infolgedessen eine „ideale, rein wahrheitsdefinite Aussage und vermittelt eine entscheidbare Information über ein existierendes Objekt.“20 Das Argument schließlich geht über die Ebene der reinen Darstellung von Sachverhalten hinaus, indem es Aussagen logisch zueinander in eine Bezie16 17 18 19 20

Helmut Pape, Charles Sanders Peirce. Hamburg 2004, S. 128 PLZ, S. 125 PLZ, S. 68 Pape, a.a.O., S. 129 Pape, a.a.O., S. 129 51

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hung setzt, deren rationale Notwendigkeit aus sich heraus erkennbar wird. Ein Argument ist demnach „entweder eine Deduktion, Induktion oder Abduktion.“21 Aufgrund dieser Zusammenfassung der Grundlagen der Semiotik von Charles Sanders Peirce dürfte nun leicht einsichtig sein, wie gut sich ein Verständnis der Fotografie als Abdruck des Realen durch diese Theorie wissenschaftlich fundieren lässt. Eine Fotografie lässt sich demnach als Zeichen beschreiben, das zu seinem Objekt über die von diesem reflektierten Lichtstrahlen in einem direkten physischen Kontakt gestanden haben muss, damit es überhaupt zustande kommen konnte, und das, durch die Technologie der Abbildung verbürgt, weitgehende Ähnlichkeit mit diesem Objekt aufweist. Das Foto lässt sich so gesehen als ikonischen Index rekonstruieren, in dem das reale Objekt gleichsam seine Spuren hinterlassen hat. Tatsächlich hat Peirce selbst die Fotografien der Zeichenklasse der Indizes zugeordnet22 und damit eine Interpretationstradition begründet, die bis in die jüngste Zeit nichts an Attraktivität verloren hat. Noch immer ist es üblich, Fotografien als Indizes zu behandeln und damit zu behaupten, dass sich auf ihnen generell Objekte so abdruckhaft niederschlagen, wie es etwa bei Fotogrammen der Fall ist: „Aber das Fotogramm verstärkt oder verdeutlicht nur, was für jede Fotografie gilt. Jede Fotografie ist das Ergebnis eines physikalischen Abdrucks, der durch Lichtreflexion auf eine lichtempfindliche Oberfläche übertragen wird. Die Fotografie ist also eine Form des Ikons, d.h. einer visuellen Ähnlichkeit, die eine indexikalische Beziehung zu ihrem Gegenstand hat.“23

Die Tatsache, dass sich Fotografien im Rahmen der Peirceschen Zeichentheorie als Indizes klassifizieren lassen und sie damit eine unmittelbare Beziehung zu ihren Objekten unterhalten müssen, führt also nach wie vor zu der Schlussfolgerung, dass sie getreue Abbildungen ihrer Objekte in deren So-Sein liefern müssten. Eine solche Betrachtung von Fotografien als natürliche und daher wirklichkeitsgetreue Abbildungen ist aber in zumindest zweifacher Hinsicht problematisch. Zum einen scheint fraglich, ob eine direkte, physikalische Beziehung, wie Indizes sie Peirce zufolge zu ihren Objekten unterhalten, auch notwendigerweise dazu führen muss, dass die Objekte wirklichkeitsgetreu abgebildet werden. Peirce eigene Haltung in dieser Frage scheint keineswegs so eindeutig, wie es seine Ausführungen zum Index vielleicht nahelegen mögen. 21 PLZ, S. 89 22 Vgl. SB1, S. 193 23 Rosalind Krauss, Anmerkungen zum Index: Teil I. In: Herta Wolf (Hg.), Paradigma Fotografie. Band I. Frankfurt/Main 2002, S. 149 52

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Er unterscheidet zwar bei den Objekten eines Zeichens zwischen unmittelbaren, d.h. dargestellten Objekten, also solchen, die ihr Sein einer Darstellung durch Zeichen verdanken, und dynamischen Objekten, worunter er solche versteht, deren Sein von der Darstellung durch Zeichen gerade unabhängig ist. Wenn Peirce aber, wie bereits gesagt, behauptet, dass jegliches Erkennen in Zeichen geschieht, dann heißt dies ja doch wohl, dass ein Zugang zu dieser dynamischen, zeichenunabhängigen Wirklichkeit für den Menschen nicht möglich ist. „Mit absoluter Gewissheit, bemerkt er, können wir überhaupt nur Repräsentationen kennen; Dinge und Formen kennen wir nur vermittels Repräsentationen.“24 Dies bedeutet aber zugleich, dass die Feststellung der Abbildungstreue einer Repräsentation für Peirce schlichtweg ausgeschlossen ist, erforderte diese doch die Möglichkeit eines eben zeichen- und damit repräsentationsunabhängigen Zugangs zur abgebildeten Wirklichkeit. Die einzige Schlussfolgerung, die die Auffassung von der Indexikalität eines Zeichens erlaubt, ist die, dass es eine zeichenunabhängige Wirklichkeit geben muss. Damit diese aber zu unserer Realität25 werden kann, bedarf sie der Vermittlung durch Zeichen. Unabhängig ist sie allenfalls von der konkreten Art der Vermittlung: „Die Realität ist abhängig von ihrer Darstellung in Zeichen, doch nicht abhängig von einer bestimmten Darstellung. Diese Differenz ist im Objektbegriff reflektiert, wenn das Objekt als unmittelbares Objekt zwar abhängig von der Darstellung durch das Zeichen ist, trotzdem aber als dynamisches Objekt eine Unabhängigkeit von jeder bestimmten Darstellung behaupten kann.“26

Zum zweiten berücksichtigt die Behauptung der natürlichen Abbildung der Objekte durch die Fotografie nicht die Rolle, die der Fotoapparat auf Grund seiner spezifischen technischen Einrichtung bei ihrem Zustandekommen spielt, und damit auch nicht die Einflüsse, die von der medialen Apparatur auf die Bedeutung des vermittelten Inhalt ausgehen.27 In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Argumente derjenigen interessant, die von Beginn an der Fotografie aufgrund ihrer Apparativität und der dadurch bedingten Mechanisierung der Bildproduktion den Kunststatus prinzipiell absprachen – und damit auch die grundsätzliche Möglichkeit ihrer Symbolizität.

24 Klaus Oehler, Sachen und Zeichen. Zur Philosophie des Pragmatismus. Frankfurt/M. 1995, S. 79 25 Zur Unterscheidung von ‚Wirklichkeit‘ und ‚Realität‘ s. Kap. 1.5. 26 Alexander Roesler, Illusion und Relativismus. Zu einer Semiotik der Wahrnehmung im Anschluß an Charles S. Peirce. Paderborn, München, Wien, Zürich 1999, S. 148 27 Siehe hierzu Kap. 2.3 53

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2.2 Die Diskussion um den Kunststatus der Fotografie und die Infragestellung i h r e r S ym b o l i z i t ä t Ihre indexikalische Beziehung zum Gegenstand lässt die fotografische Abbildung wie ein getreues Ebenbild ihres realen Vorbildes erscheinen. Die frühen Theoretiker der Fotografie wurden denn auch nicht müde, diese Übereinstimmung des Fotos mit dem Fotografierten, wie sie sich etwa im Detailreichtum der Abbildung zeigt, zu betonen: „Ein Vorteil, den die Erfindung der Fotografie gebracht hat, ist der Umstand, daß sie es uns ermöglicht, in unsere Bilder eine Vielzahl kleinster Details aufzunehmen, die die Wahrheit und Realitätsnähe der Darstellung steigern helfen, und die kein Künstler so getreu in der Natur abkopieren würde.“28

Mit dieser Äußerung aus seinem 1844 erschienenen Buch „Der Stift der Natur“ begründet Henry Fox Talbot den Realismus der fotografischen Abbildung aber nicht nur damit, dass sich die Natur hier quasi identisch niederschlagen würde. Die Realitätsnähe der Fotografie ist vielmehr nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sie es vor allem selbständig tut. Wenn Talbot nämlich darauf hinweist, dass die fotografische Darstellung die Natur getreuer kopiert, als eine von Künstlerhand hervorgebrachte es vermag, dann führt er ihren Realismus zuallererst auf die Ausschaltung jeglicher subjektiven Instanz im fotografischen Abbildungsprozess zurück. Die vollkommene Mechanisierung der Bildherstellung, wie sie in der Fotografie erreicht worden ist, hat für Talbot dazu geführt, dass sich die Dinge gleichsam selbst, also ohne Vermittlung durch einen stets interpretierenden Menschen darstellen. „Der Akt des Fotografierens findet außerhalb des Körpers des Fotografen statt – im Unterschied zur Malerei, an deren Herstellung der Körper des Malers unmittelbar beteiligt ist.“29 Deshalb scheint das Foto tatsächlich nur die Spuren des Abgebildeten und nicht auch des Abbildenden und dessen subjektiver Disposition zu enthalten. Der Fotografie als Verfahren zur Produktion technischer Bilder eignet daher – so die schon früh etablierte und heute noch vertretene Lesart – eine Objektivität, wie sie jeder sonstigen Form der von Menschen hergestellten Bilder fehlt. Die Behauptung einer vollständigen und dabei unmittelbaren und objektiven Reproduktion der Natur durch die Fotografie aufgrund ihrer Indexikalität ei28 H.F. Talbot, Der Stift der Natur. Zitiert nach: Kemp I, a.a.O., S. 62 29 Boris Groys, Das Versprechen der Fotografie. In: Katalog zur Ausstellung „Das Versprechen der Fotografie – Die Sammlung der DG-Bank“. München 1998, S. 28 54

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ner- und ihrer Mechanisierung andererseits diente aber in den ersten Jahrzehnten nach ihrer Einführung keineswegs nur als ein aus dem damaligen Geist des Positivismus heraus entwickeltes Argument zur Legitimation eines neuen Mediums. Die Vertreter einer idealistischen Kunstauffassung nutzten diesen Hinweis auf die Abbildungsleistungen der Fotografie vielmehr dazu, ihren Kunststatus in Frage zu stellen: „Die Natur erscheint in den höchsten und edelsten Formen der Kunst sehr konventionalisiert: die Summe wird ohne die Details gegeben. In der Fotografie ist das umgekehrt: die summarische Behandlung wird dem Detail geopfert. Für Zwecke des Wissenschaftlers, etwa des Naturforschers, für den Architekten oder Ingenieur ist die äußerste Detailgenauigkeit von Vorteil, aber der Künstler wird sich nicht zu den Einzelheiten hinabbegeben, er strebt eine generelle Wirkung an. [...] Winzige Details sind das Attribut [...] des Sonnenbildes, aber nicht des Kunstwerks.“30

Nicht alle Fotografen des 19. Jahrhunderts vermochten es, sich mit der Beschränkung ihres Metiers auf ein Hilfsmittel der Wissenschaft einverstanden zu erklären, als welches es von Arago – selbst Physiker – in der bereits erwähnten Ansprache vor der französischen Deputiertenkammer vorgestellt wurde, in der er ihren Nutzen für die Archäologie, v.a. aber für die Astronomie ausführlich erläutert.31 Viele hatten durchaus ein Interesse daran, als Künstler anerkannt zu werden, weshalb die Ausgrenzung der Fotografie aus der Bildenden Kunst für sie einer Diffamierung und Infragestellung ihrer generellen Legitimität gleichkommen musste. Bekanntlich reagierten diese Fotografen zum Teil darauf, indem sie versuchten, ihre Fotografien malerisch erscheinen zu lassen. Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, war, bewusst auf die exakte Abbildungsleistung der Fotografie zu verzichten und unscharfe Bilder herzustellen, wie es etwa William John Newton bereits im Jahr 1853 forderte: „Dabei halte ich es nicht für notwendig oder wünschenswert, daß der Künstler die Wiedergabe winzigster Details anstrebt. Vielmehr soll er es auf eine breite und generelle Wirkung anlegen [...]. Und zu diesem Zweck braucht der Gegenstand nicht scharf zu erscheinen, im Gegenteil, ich fand, daß in vielen Fällen der Gegenstand besser erfaßt wird, wenn er leicht unscharf eingestellt wird – man erreicht so eine breitere Wirkung und kommt so dem Suggestiven der Naturdinge näher.“32

30 J. Leighton, Über Fotografie als Mittel und Selbstzweck. Zit. nach: Kemp I, a.a.O., S. 91 f. 31 Vgl. D.F. Arago, Bericht über den Daguerreotyp. In: Kemp I, a.a.O., S. 54 32 W.J. Newton, Fotografie in künstlerischer Hinsicht betrachtet. Zit. nach: Kemp I, a.a.O., S. 89 55

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So war denn die Idee der künstlerischen Unschärfe nicht neu, als sie gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum wichtigsten Ausdrucksmittel der piktorialistischen Fotografie avancierte. Inzwischen standen den Fotografen auch eine ganze Reihe technischer Verfahren zur Verfügung, mit denen sie Unschärfe erzeugen konnten. Angefangen bei der Verwendung von Lochkameras über die Out-of-focus-Technik, bei der eine leicht unscharfe Einstellung des Objektivs erfolgt, bis hin zu den verschiedenen Abzugsund Entwicklungsverfahren, die ihnen Eingriffe beim Vergrößern der Negative erlaubten. Hier sind v.a. jene Edeldruckverfahren wie das Gummibichromatverfahren, der Platin- oder der Öldruck zu nennen, die eine ganze Palette verschiedener Möglichkeiten eröffnete, dem Abzug eine breite Tonwertskala zu verleihen und die Nuancen und die Körnung gezielt zu bestimmen. Die malerischen Effekte, die damit erzielt werden konnten und die Fotografien wie Kohle-, Rötel-, Bleistift- oder Tuschezeichnungen wirken ließen, sind dabei nicht selten auf die Behandlung der Abzüge mit malerischen Werkzeugen wie Pinsel, Schwamm oder Stift zurückzuführen. Der enorme Aufwand, den piktorialistische Fotografen betrieben, um ihre Fotos in ihrer Wirkung den Bildern des damals zeitgenössischen Impressionismus anzugleichen, zeigt, dass sich die Fotografie einem immensen Legitimationsdruck von Seiten der Künste ausgesetzt sah.33 Auch wenn die Fotografie sich im Laufe des 20.

33 Eine knappe Beschreibung der piktorialistischen Dunkelkammerverfahren, die einen Eindruck von diesem Aufwand vermittelt, liefert Jean-Claude Gautrand: „Die Emulsion [beim Gummibichromatverfahren] bestand aus farbigem Pigment, Gummi arabicum und Kaliumbichromat und wurde mit einem Pinsel auf ein Stück Papier aufgetragen. Nach dem Trocknen war die Schicht lichtempfindlich und wurde proportional zur Lichtwirkung unlöslich. Das Papier wurde unter einem Negativ im Kopierrahmen belichtet. Der Abzug des Bildes ergab sich durch Ablösen der nicht verhärteten Gummipartikel. Mit einiger Erfahrung konnte der Fotograf in den Entwicklungsprozess eingreifen, indem er mit Pinsel oder Schwamm Teile des Abzugs behandelte. War dieser Vorgang, der mehr als eine Stunde dauern konnte, beendet, wurde das Foto in eine Lösung aus Natriumsulfid gelegt, ausgewaschen, in einer Formollösung fixiert, erneut gewässert und danach getrocknet. [...] Das Papier wurde [beim Platindruck] zuvor in einer Lösung aus Kaliumplatinchlorid und Eisenoxalat präpariert, um dann wie gewohnt (bei diffusem Licht) belichtet zu werden. Anschließend entwickelte man es in Kalium- oder Ammoniumoxalat und fixierte es im Säurebad. [...] Ausgehend von den Untersuchungen Poitevins über die Fotolithografie entwickelte G.E. Rawlins 1904 ein neues Edeldruckverfahren. Nach Belichtung unter einem Negativ, wurde ein mit Gelatinebichromat beschichtetes Papier in lauwarmes Wasser getaucht, wo es das Wasser an den wenig belichteten Stellen aufsaugte. Eine fetthaltige Tusche blieb daher nur auf den trockenen Partien des Papiers haften, die den am stärksten belichteten Stellen (also dem Schwarz des Bildes) entsprachen. Die Entdeckung Rawlins, der sogenannte Öldruck, bestand nun darin, die Ölfarbe mit einem Pinsel aufzutragen, wodurch man die Tonwerte bis ins Detail beeinflussen konnte.“ J.-C. Gautrand, Die piktorialistischen Techni56

2. DER FOTOGRAFISCHE PROZESS

Jahrhunderts als anerkannte Kunstform durchgesetzt hat und die Frage nach ihrem Kunststatus damit obsolet geworden ist, bleiben doch die Argumente, mit denen sie angegriffen wurde, in einer ganz anderen, wenn auch offensichtlich mit der Kunstfrage zusammenhängenden Hinsicht prekär und bis in die moderne Fototheorie hinein virulent. Dies lässt sich schon an der ersten umfassenden kunsttheoretischen Verurteilung der Fotografie durch den Schweizer Zeichner, Schriftsteller und Ästhetikprofessor Rodolphe Töpffer ablesen, die 1841 anlässlich des Erscheinens einer nach Daguerreotypien gezeichneten und vervielfältigten Sammlung topografischer Ansichten verfasst wurde. Töpffer begründete damit jene Argumentationstaktik der idealistischen fotokritischen Kunsttheorie, die, wie bereits anhand der Äußerungen Leightons gezeigt, darin bestand, gerade die von ihren Erfindern so stolz herausgestellte Besonderheit der Fotografie – die Exaktheit in der Wiedergabe nämlich – als Abgrenzungskriterium von der Kunst zu benennen und gegen ihren Kunstanspruch zu wenden: „Allerdings liefert die Maschine ein unvergleichlich genaueres, identisches Abbild der Dinge, von den Farben der Dinge einmal abgesehen. Mehr jedoch vermag die Maschine nicht zu leisten. Ihr Werk ist da vollendet, wo das Werk des Künstlers beginnt. Denn in dem Moment, da dieser sich des allen zugänglichen Verfahrens bedient, um es nach Maßgabe seines subjektiven Empfindens zu benutzen, da wandelt er es unmittelbar zur Manier um, d.h. zu einem Mittel des Ausdrucks und nicht der Nachahmung.“34

Töpffer behauptet hier einen prinzipiellen Unterschied zwischen Fotografie und Kunst und macht diesen am Fehlen der subjektiven Komponente in der Fotografie fest. Anders als seine fotografiebegeisterten Zeitgenossen sieht er darin aber ein entscheidendes Defizit des neuen Mediums: „Eine Wiedergabe eines Ortes, ohne Zweifel genau, aber kalt und stumm, deren physische und materielle Treue sich auf eine simple Identität reduziert, die durch unser Organ wahrgenommen wird, und nicht eine Ähnlichkeit gibt, die der Geist erspürt.“35 Dadurch, dass die Fotografie lediglich ein identisches Abbild der Dinge liefert, also bloß nachahmt, entgeht ihr etwas am Abgebildeten, was die Kunst mit ihren Mitteln des Ausdrucks erfasst. Selbst wenn die künstlerische Abbildung – wie später auch Peirce sagen wird – im Vergleich zur Fotografie in einem nur indirekten, nämlich einem Ähnlichkeitsverhältnis zum Abgebildeten steht, so geht sie doch weit über diese hinaus, weil nur sie als Produkt „einer ken. In: Michel Frizot (Hg.), Neue Geschichte der Fotografie. Köln 1998, S. 300. 34 Rodolphe Töpffer, Über die Daguerreotypie. Zit. nach: Kemp I, a.a.O., S. 73 35 Töpffer, zit. nach Kemp I, a.a.O., S. 73 57

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intelligenten Schöpfung“, als „Abdruck des menschlichen, individuellen Geistes“36 etwas aufweist, was der Fotografie nach Töpffers Auffassung fehlt: Bedeutung. In der ausdruckslosen Identität ihrer Wiedergabe bleibt die Fotografie an der sinnlich wahrnehmbaren Oberfläche des Abgebildeten haften, ohne zu dessen Sinn vorzudringen. Dieser erschließt sich einzig der auf das Charakteristische zielenden Ähnlichkeit, wie sie die Kunst wiedergibt, die daher allein eine geistige Durchdringung des Abgebildeten erlaubt. Mit dieser Behauptung einer Sinnlichkeit ohne Sinn stellt Töpffer aber nicht nur den Kunststatus der Fotografie in Frage, sondern darüber hinaus auch ihren Symbolstatus überhaupt, wobei er bereits wichtige Bestimmungskriterien des Symbolischen nennt, wie sie sich später auch bei Cassirer finden: „Was ist denn ein Symbol? Es ist ein Zeichen, das in abgekürzter Form an zahlreiche und komplexe Objekte und Beziehungen erinnert. [...] Und was ist dann die Ähnlichkeit? Sie ist eine Verbindung von Zeichen, die zahlreiche und komplexe Dinge und Beziehungen evoziert. [...] Aber wenn die Ähnlichkeit Symbol ist und wenn die Kunst sich der Ähnlichkeit bedient und wenn die Ähnlichkeit, um ausgedrückt und verstanden zu werden, der Hilfe des Geistes bedarf, dann muß man als erste Konsequenz aus dem Gesagten ziehen, daß keine Maschine [...] jemals das geringste Phänomen produzieren kann, das der Ähnlichkeit und damit der Kunst angehört.“37

Aufgrund ihrer identischen Darstellungsweise bleibt die Fotografie also ganz bei der Sache, die sich in ihr selbst darstellt. Sie vermag nicht die abgebildete Sache in ihrer relationalen Bedeutsamkeit und damit das Allgemeine im Konkreten vorstellig zu machen. Was ihr nach Töpffer, aber mit Cassirers Terminologie ausgedrückt, demnach fehlt, ist jene symbolische Prägnanz, die Cassirer später als das Spezifische des Symbolischen ausmacht. Damit wird fraglich, ob es sich bei Fotografien überhaupt um Symbole (im Sinne der Symboltheorie Cassirers) handeln kann. Diese Fragwürdigkeit des Symbolstatus von Fotografien ist dabei deshalb besonders prekär, weil sie sich keineswegs mit der Fragwürdigkeit des Kunststatus der Fotografie erledigt hat, mit der sie, wie bei Töpffer deutlich geworden ist, in der Anfangszeit der Theorie der Fotografie so eng verquickt war. So finden sich noch in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, also in einer Zeit, in der die Fotografie als Kunst längst akzeptiert war, noch Äußerungen, die ihre Symbolizität anzweifeln. Susan Sontag etwa behauptet in einem ihrer Essays über Fotografie:

36 Töpffer, a.a.O., S. 72 37 Töpffer, a.a.O., S. 75 f. 58

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„Denn es liegt in der Natur der Fotografie, daß sie – anders als die Malerei – ihren Gegenstand niemals transzendieren kann. Ebenso wenig kann ein Fotograf sich je über das Sichtbare selbst erheben [...].“38 Damit spricht sie der Fotografie die Fähigkeit ab, Gegenstände in sie übergreifenden Bedeutungszusammenhängen darzustellen und so als sinnliche Gegebenheiten zu Repräsentationen von Sinn werden zu können. Und auch Roland Barthes negiert die symbolischen Repräsentationsqualitäten der Fotografie, wenn er ihre Funktion einzig im Präsentieren von zufälligen und einmaligen Gegebenheiten sieht: „Zunächst fand ich folgendes: was die Photographie endlos reproduziert, hat nur einmal stattgefunden: sie wiederholt mechanisch, was sich existenziell nie mehr wird wiederholen können. In ihr weist das Ereignis niemals über sich selbst hinaus auf etwas anderes: [...] sie ist das absolute BESONDERE, die unbeschränkte, blinde und gleichsam unbedarfte KONTINGENZ, sie ist das BESTIMMTE [...], kurz, die TYCHE, der ZUFALL, das ZUSAMMENTREFFEN, das WIRKLICHE in seinem unerschöpflichen Ausdruck.“39

Fotografien sind demnach durch extreme Selbstbezüglichkeit und Abgeschlossenheit gekennzeichnet: „Von Natur aus hat die Photographie [...] etwas Tautologisches: eine Pfeife ist hier stets eine Pfeife, unabdingbar.“40 Weil Fotografien tautologisch am Objekt ihrer Darstellung haften bleiben, fehlen ihnen nach Barthes auch jene Anschlussmöglichkeiten, durch die sie sich zu größeren, sie übergreifenden Verweisungszusammenhängen zusammenschließen und so eine über sie hinausweisende, also zeichenhafte Bedeutsamkeit erlangen könnten. Fotografien – so Barthes’ Befund – stellen keine Symbole dar, die sich zu Symbolsystemen zusammenschließen, weshalb sie sich einer übergreifenden ontologischen Klassifizierung entziehen und damit die Rede von ‚der Fotografie‘ überhaupt fragwürdig wird. In der Tat müsste das Unternehmen einer symboltheoretisch verfahrenden Philosophie der Fotografie, wie es in der vorliegenden Arbeit erprobt wird, an dieser Stelle abbrechen – wenn die Infragestellung der Symbolizität der Fotografie sich nicht ihrerseits in Frage stellen ließe.

38 Susan Sontag, Der Heroismus des Sehens. In: S. Sontag, Über Fotografie. Frankfurt/M. 2002, S. 94 39 Roland Barthes, Die helle Kammer. Frankfurt/M. 1989, S. 12 40 Barthes, a.a.O., S. 13 59

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2.3 Die Fotografie als Verfahren zur H e r s t e l l u n g v o n S ym b o l e n Die Behauptung, Fotografien könnten wegen ihres mechanischen Zustandekommens nicht als Kunstwerke angesehen werden, blieb ebenso wenig unwidersprochen wie die damit argumentativ verquickte These, Fotografien könnten für sich keinen Zeichen- oder Symbolstatus beanspruchen. Schon der bereits erwähnte Jules Janin erklärte ungeachtet seiner Betonung der objektiven Wiedergabe von Gegenständen durch die Fotografie: „Nehmen Sie weiterhin zur Kenntnis, daß auch, wenn das Licht arbeitet, der Mensch der Meister bleibt.“41 So war von Beginn des theoretischen Nachdenkens über Fotografie an durchaus auch die Rolle angesprochen, die der Fotograf im fotografischen Prozess spielt, als der amerikanische Fotograf Albert S. Southworth eine Generation nach Janin dieser subjektiven Instanz in einer Rede vor der „National Photographic Association of the United States“ seine besondere Aufmerksamkeit widmete. Southworth betont dabei, dass jede noch so hoch entwickelte Technologie im optischen oder chemischen Bereich nur dann gelungene Bilder hervorbringt, wenn sie angemessen zum Einsatz gebracht wird: „Wir schätzen die Leistung der Objektive in unseren Kameras, den hohen Standard der Chemikalien, Gläser und Papiere, die Vielfalt und Schönheit unserer Kartons und Rahmen, aber das, was einen befähigt, Licht und Schatten angemessen zu verteilen, das Modell zu stellen und die Accessoires für die Komposition des Bildes auszuwählen, zählt in der Skala der Qualifikationen unendlich höher und verlangt mehr Beobachtungsgabe und umfassendes Wissen, eine größere Kenntnis der Zusammenhänge zwischen Geist und Materie und ein schnelles Zusammenspiel von konzentrierter Überlegung und folgender Handlung.“42

Southworth bemüht sich hier, ein prinzipielles Missverständnis auszuräumen, von dem die Fotografie sowohl als technischer Prozess als auch als Abbildung, die aus diesem hervorgeht, betroffen ist. Dieses Missverständnis besteht darin, anzunehmen, dass der Fotograf in den Darstellungsprozess prinzipiell nicht einzugreifen in der Lage ist, bloß weil das Darstellungsverfahren sich in seinen entscheidenden Phasen ohne dessen Tätigwerden ereignet. Was dabei oft übersehen wird, ist die Tatsache, dass auch Fotografien komponiert werden können oder sogar müssen. Die Vorbereitungen, die dazu im Vorfeld des Ablichtens getroffen werden, sind von Entscheidungen bestimmt, die ihrerseits nicht vom apparativen Programm des fotografischen Prozesses abhän41 Janin, a.a.O., S. 48 42 Albert S. Southworth, Rede vor der National Photographic Association of the United States (1870). Zit. nach: Kemp I, a.a.O., S. 156 f. 60

2. DER FOTOGRAFISCHE PROZESS

gen, auch wenn es natürlich berücksichtigt werden muss. Insofern steht die technische Einrichtung der Fotografie nicht von vorneherein einem Hervorbringen künstlerischer Werke mit diesem Medium im Wege, genauso wenig wie die „rein mechanischen Operationen wie die Handhabung von Pinsel und Meißel“43 in den traditionellen Formen der Bildenden Kunst bereits von sich aus das Zustandekommen eines Kunstwerks garantieren. In der Fotografie gilt also nicht weniger als in den anderen Künsten: „Der Geist muß die Werte zum Ausdruck bringen und die Ähnlichkeiten und die Unterschiede herausarbeiten.“44 Damit erweisen sich auch die Produkte der Fotografie ungeachtet des technischen Charakters des Abbildungsprozesses als Produkte einer geistigen Schöpfungstätigkeit. Selbst wenn der Fotograf im Vergleich zur Malerei oder Bildhauerei kaum noch Hand anlegt, seine Körperlichkeit im Produktionsprozess also kaum noch eine Rolle spielt, behält er das Verfahren doch weitgehend im Griff. Und wenn Southworth davon redet, dass für eine gelungene Komposition, also geistigen Gestaltung des Bildes, Beobachtungsgabe und umfassendes Wissen nötig sind, so macht er auch klar, wodurch die vordergründig körperliche Aktivität des bildenden Künstlers beim Fotografen ersetzt worden ist: durch den fotografischen Blick, der als Form des aktiven Sehens die Tätigkeit darstellt, die in der Fotografie unerlässlich für die Herstellung von zumindest aussagekräftigen Bildern ist. Die Aktivität dieses Sehens besteht darin, Unterscheidungen zu treffen, auszuwählen, anzuordnen, visuelle Einzelinformationen zu einer Gesamtaussage zu verknüpfen, also Wahrnehmungsurteile zu fällen, und dies antizipatorisch, auf ein bestimmtes Ziel hin gerichtet – dem Bild und seiner Aussage nämlich. Damit charakterisiert Southworth aber die Tätigkeit bei der Herstellung des fotografischen Bildes als einen Akt der Einbildungskraft und das Anfertigen einer Fotografie dadurch als Akt der Formgebung, mithin als Akt der Symbolisierung. Dies impliziert, dass Fotografien keineswegs jene natürlichen, spiegelbildlich-exakten Abbildungen sind, als die sie traditionell und zum Teil auch heute noch angesehen werden. Tatsächlich zeigt bereits eine kurze kritische Überprüfung einer beliebigen Fotografie, dass sie uns das Abgebildete in vielerlei Hinsicht nicht präsentiert, wie es uns beim Sehen erscheint. Die fotografische Abbildung geht immer mit einem Verlust der Dreidimensionalität des Sehens wie auch mit einer Begrenzung des Bildfeldes durch einen rechteckigen Rahmen einher. Andererseits werden die Bildobjekte innerhalb dieses Bildfeldes und auf allen Bildebenen scharf abgebildet, was ebenfalls nicht un-

43 Southworth, a.a.O., S. 157 44 Southworth, a.a.O., S. 157 61

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serer Art des Sehens entspricht. Hinzu kommen der Verlust der Bewegung wie auch – in der Schwarz-Weiß-Fotografie – der der Farbigkeit. Talbots Vergleich der Kamera mit dem Auge45 ist also falsch, ebenso wie die Vorstellung, bei der Kamera handele es sich um einen Apparat, der die selbständige und daher natürliche Abbildung der Wirklichkeit erlaube. Eine solche Beurteilung des Fotoapparats übersieht, dass es sich bei ihm tatsächlich um ein Werkzeug zur Erzeugung einer visuellen Realität handelt, das eine langwierige Entwicklungsgeschichte aufweist. Diese beginnt lange vor der eigentlichen Erfindung der Fotografie, nämlich in der Zeit der Spätrenaissance. Als camera obscura diente sie seitdem als Hilfsmittel zur Herstellung von Bildern, die dem Konzept der Zentralperspektive gehorchen sollten, wie es zu dieser Zeit bereits theoretisch formuliert war. Die Entwicklung der Methode der zentralperspektivischen Bildkonstruktion sowie ihre Begründung auf der Grundlage einer wissenschaftlichen Theorie des Sehens, wie sie sich in der 1435 von Leon Battista Alberti verfassten Schrift „De Pictura“ findet, ging also der bildnerischen Verwendung der camera obscura voraus und bestimmte auch ihre technische Weiterentwicklung. Die Steigerung der Lichtstärke durch Einsetzen von Linsen in die Lochöffnung, die Verkleinerung der Gehäuse auf tragbare Maße und die Ausstattung mit Spiegeln, die das von der Kamera eingefangene Bild so auf eine Zeichenfläche projizierten, dass es bequem auf Papier abgepaust werden konnte, diente nur der Befriedigung des Bedürfnisses, Bilder anzufertigen, die den zentralperspektivischen Normen entsprachen. Die Entwicklung der Kamera wurde demnach maßgeblich von eben diesen Normen bestimmt und angeleitet. Die Fotografie aber, für die die Kamera nicht mehr nur Hilfsmittel, sondern wesentliches Gerät zur Bildherstellung ist, kam gar nicht darum herum, mit der technischen Einrichtung dieses Geräts sich auch die dieser Einrichtung zu Grunde liegenden Normen einverleiben zu müssen.46 Damit ging in die Fotografie aber zugleich auch das theoretische Konzept ein, aus dem diese Normen abgeleitet worden sind – eben das der Zentralperspektive. Dieses theoretische Konzept gewährleistet nun keineswegs eine wirklichkeitsgetreue Wiedergabe unseres Seheindrucks. Es macht nämlich „stillschweigend zwei sehr wesentliche Voraussetzungen“, die den psychophysiologischen Gegebenheiten der Wahrnehmung widersprechen: „zum Einen, daß wir mit einem einzigen und unbewegten Auge sehen würden, zum Anderen,

45 Vgl. Talbot, in Kemp I, a.a.O., S. 61 46 Vgl. Joel Snyder, Das Bild des Sehens. In: Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Band I, hg. von Herta Wolf. Frankfurt/M. 2002, S. 41 f. 62

2. DER FOTOGRAFISCHE PROZESS

daß der ebene Durchschnitt durch die Sehpyramide als adäquate Wiedergabe unseres Sehbildes gelten dürfte.“47 Damit vollzieht das Konzept der Zentralperspektive eine „Abstraktion von der Wirklichkeit“, die beweist, dass sein Ziel keineswegs in einer getreuen Darstellung des unmittelbaren Raumerlebnisses liegt, sondern vielmehr darin, „den psychophysiologischen Raum gleichsam in den mathematischen umzuwandeln“ und damit „die Gestaltung eines völlig rationalen, d.h. unendlichen, stetigen und homogenen Raumes gewährleisten zu können.“48 Die planperspektivische Darstellungsweise bringt also keinen Seheindruck authentisch zum Ausdruck, sondern eine bestimmte Raumanschauung, einen bestimmten Modus der Wahrnehmungskategorie ‚Raum‘. Es ist diese Modalität der Zentralperspektive und der ihr zu Grunde liegenden Raumtheorie, die Erwin Panowsky dazu veranlasst hat, sie im Sinne Ernst Cassirers als symbolische Form zu bezeichnen und zu betonen, dass andere Kunstepochen, etwa die der griechischen Antike, durchaus andere Raumtheorien und infolgedessen andere Perspektiven, d.h. andere Weisen entwickelt haben, den dreidimensionalen Raum durch Übertragung auf die zweidimensionale Fläche darzustellen.49 Und auch B.A. Uspenski besteht in seinem Vorwort zu L.F. Shegins Buch „Die Sprache des Bildes“ darauf, dass die sogenannte umgekehrte Perspektive, wie sie sich in der altrussischen Malerei findet, „und die damit verbundenen Bedingtheiten der Darstellung als ein eigenständiges und spezifisches System“ aufzufassen ist, „das mit dem System der linearen Perspektive [also der Zentralperspektive, T.C.] keinerlei Ähnlichkeit hat, grundsätzlich aber gleichberechtigt ist“,50 bevor er als vorläufiges Fazit ausführt: „Schließlich können wir offenbar generell feststellen, daß die lineare Perspektive nicht ein System zur vollständigen Wiedergabe der Realität ist, wie wir sie gewöhnlich sehen [...], sondern ein mehr oder weniger konventionelles System, in das wir unsere Wahrnehmung übertragen.“51

So erweist sich die Fotokamera als technische Einrichtung, deren apparatives Programm von einem theoretischen Konzept und damit kulturell bestimmt ist. Infolgedessen stellt sie Wirklichkeit nicht etwa unvoreingenommen so dar, wie sie ist, ja noch nicht einmal so, wie sie einem Betrachter unmittelbar er47 Erwin Panowsky, Die Perspektive als „symbolische Form“. In: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. von H. Oberer u. E. Verheyden. Berlin 1985, S. 101 48 Panowsky, a.a.O., S. 101 49 Vgl. Panowsky, a.a.O., S. 108 50 B.A. Uspenski, Zur Untersuchung der Sprache alter Malerei. In: L.F. Shegin, Die Sprache des Bildes. Dresden 1982, S. 10 51 Uspenski, a.a.O., S. 11 63

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scheint, sondern sie gestaltet sie nach Maßgabe des in der Apparatur inkorporierten konventionellen Konzepts neuzeitlicher Raumauffassung. Die Indexikalität, die Peirce Fotografien zugeschrieben hat, geht durch den Einsatz der Kamera also gerade verloren und wird nicht etwa durch ihr mechanisches Verfahren bewahrt, wie immer wieder behauptet wurde und noch immer wird. Eine direkte Kausalbeziehung zwischen Abbildung und abgebildetem Objekt existiert auch, ja gerade für das apparativ erstellte Foto eben nicht. Die Natürlichkeit, die Fotos aufgrund ihres apparativen Zustandekommens und der dadurch vermeintlich verbürgten Indexikalität stets unterstellt wurde, erweist sich insofern als Täuschung. Das theoretische Konstrukt, das der Kamera zu Grunde liegt, macht aus Fotos ebensolche Artefakte, wie etwa gemalte Bilder es sind, zumal, wenn diese nach den Prinzipien der Zentralperspektive angefertigt wurden. Wie diese sind sie technische Bilder, d.h. Pro̗ νη im ursprünglichen Sinne des Wortes.52 dukte einer τεχ Der fotografische Prozess stellt sich so gesehen keineswegs als Verfahren der spiegelbildlichen Fixierung der Natur dar, als deren exakte Wiederholung, sondern durchaus als Umformungs- und Gestaltungsprozess im Sinne einer Symbolisierung. Durch die Fotografie erfährt ein sinnliches Erlebnis eine symbolische Prägung, d.h. eine Transformation zu einem symbolischen Zeichen. Dementsprechend lassen sich im technischen Verfahren zur Herstellung fotografischer Abbildungen auch alle jene Momente ausmachen, die im letzten Kapitel als charakteristisch für jede Form von symbolischer Gestaltung genannt worden sind: (1) Fixierung Fotografien halten bestimmte Augenblicke innerhalb der Ereignishaftigkeit des sinnlichen Geschehens fest. Sie lösen damit aus dem Wahrnehmungskontinuum Ereignisse als phänomenale Grundeinheiten heraus und verleihen ihnen Dauer. Die Länge des fixierten Augenblicks wird durch die Belichtungszeit bestimmt. In ihrer frühen Phase erforderte das Fotografieren noch sehr lange Belichtungszeiten. Eine der ersten Fotografien, die in den Jahren 1826 oder 1827 von Nicéphore Niépce angefertigt wurde und einen Blick aus dem Fenster in Le Gras zeigt (Abb. 1), musste noch etwa acht Stunden belichtet werden. Dass die Abbildung – selbst als moderne kontrastreiche Reproduktion – bezüglich der Deutlichkeit vieles zu wünschen übrig lässt, 52 Dieser Befund scheint trivial, wurde doch die Technizität des fotografischen Bildproduktionsverfahrens nie in Zweifel gezogen, sondern im Gegenteil, wie gesagt, sowohl von Befürwortern wie auch Kritikern der Fotografie gerade betont. Um so verwunderlicher ist es, dass solche Artefakte in den Ruf einer wie auch immer verstandenen Natürlichkeit kommen konnten. 64

2. DER FOTOGRAFISCHE PROZESS

hängt nicht nur damit zusammen, dass sie auf einer für fotografische Zwecke weniger geeigneten Zinnplatte festgehalten worden ist, sondern auch damit, dass die Sonne während der Belichtungszeit natürlich ihre Stellung veränderte und auf dem Bild ganz unterschiedliche, nicht miteinander in sinnvollen Zusammenhang zu bringende Licht- und Schattenverteilungen wiedergegeben werden, die dem Betrachter eine Entzifferung der Darstellung erschweren. Die Fixierung eines augenblickhaften Moments, das Anhalten des Ereignisflusses, so könnte man sagen, gelingt hier so unvollkommen, dass es kaum zur Isolierung eines homogenen Wahrnehmungsphänomens kommen kann. Das Dargestellte geht gleichsam in einer Art visuellen Rauschens unter. Erst die Verkürzung der Belichtungszeit auf wenige Minuten bzw. noch im 19. Jahrhundert auf Sekundenbruchteile, wie sie durch die Entwicklung lichtstarker Objektive und v.a. lichtempfindlichen Filmmaterials ermöglicht wurde, erlaubte die zeitliche Fixierung auch bewegter Szenerien, die ihre hinreichende Herauslösung aus dem Zeitfluss gewährleistete. (2) Zentrierung Der Akt der Fixierung geht im Symbolisierungsprozess immer mit dem der Zentrierung einher, d.h. mit der Ausgliederung von Orientierungsmarken, die dann als Bezugspunkte für Phänomene in ihrer Gesamtheit fungieren können. Die Zentrierung vollzieht damit im Raum das, was die Fixierung in der Zeit leistet. Die räumliche Isolierung von Orientierungsmarken erreicht die Fotografie durch den Ausschnitt, mit dem sie der Abbildung einen rechteckigen Rahmen verschafft. Sie konstruiert dadurch den dargestellten Raum als einen homogenen und damit in Ausschnitte unterteilbaren Raum, d.h. gemäß einer konventionalisierten Vorstellung über die Natur des Raums, die, wie bereits dargestellt, über die Theorie der Zentralperspektive dem apparativen Programm der Fotografie einverleibt wurde. Erst innerhalb dieses Rahmens eines Bildausschnittes lassen sich eine Bildmitte eruieren und andere Bildbereiche zu dieser in Beziehung setzen. Somit lassen sich also erst innerhalb eines solchen ausgegliederten Rahmenausschnittes phänomenale Teilelemente fokussieren und als bedeutsam markieren. (3) Relationierung Damit ist bereits der dritte Aspekt der Symbolisierung angesprochen, der der Relationierung. Zentrierende Fixierung bedeutet ja immer auch zugleich Einfügung in Verweisungszusammenhänge. Diese Relationierung gelingt der Fotografie durch Komponieren und Inszenieren. Dies beginnt mit der Wahl eines bestimmten Standorts und eines Objektivs bestimmter Brennweite. Mit diesen beiden Faktoren lässt sich der Bildausschnitt festlegen und damit zu65

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gleich eine bestimmte Perspektivierung. Dadurch bleibt das Bild – ungeachtet der technischen Umstände seiner Entstehung – an die Beobachtung des Fotografen gebunden, d.h. an seine Wahrnehmung auf der Grundlage spezifischer Vorannahmen. Es ist diese Beobachtungsgabe, die bereits Southworth betonte, dieses fotografische Sehen durch den Fotografen, durch das er ein Ereignismoment herausheben und bedeutsam, d.h. dem Bildbetrachter bewusst machen kann. So bewirkt die vom fotografischen Blick gelenkte Inszenierung der Fotografie, die Komposition von Ereigniskomponenten gemäß bestimmter Anordnungsregeln die Ablösung der Fotografie „von seiner unmittelbaren dinglichen Bedeutung und seine Umwandlung in ein Zeichen allgemeinen [symbolischen] Inhalts.“53 Die Leistung des Fotografen besteht demnach in „seinem Vermögen, Bilder zu machen, die alle möglichen scharf dargestellten Gegenstände integrieren, Gegenstände, die alle in Konkurrenz miteinander stehen und sich doch insgesamt zu einer Einheit fügen. Diese Einheit besitzt keinen Referenten; außerhalb des Bildes existiert sie nicht.“54 In der Fotografie fügt der Fotograf also Einzelelemente zu einem Verweisungszusammenhang zusammen, der dem Bild letztlich Bedeutung verleiht. Dieser Verweisungszusammenhang und die Bedeutung, die seinen Elementen durch seine spezifische Struktur zukommt, ist der eigentliche Bildgegenstand, das was die Fotografie zur Darstellung bringt. Dies gilt keineswegs nur für künstlerische Fotografien, wenn auch für diese in besonderem Maße. Auch Hobbyfotografien erhalten ihre Bedeutung erst durch komponierendes Relationieren der dargestellten Einzelelemente. Die Enttäuschung, die viele Hobbyfotografen beim Betrachten etwa ihrer Urlaubsfotos befällt, ist wohl nicht nur auf die geringe ästhetische Qualität, sondern nicht zuletzt auch auf die mangelnde Bedeutsamkeit ihrer Bilder zurückzuführen, die aus ungenügendem Komponieren und Inszenieren erwächst. Bei einer Fotografie handelt es sich also weniger um die getreue Abbildung der Wirklichkeit, weniger um die bloße Wiederholung des Abgebildeten, als vielmehr um die Darstellung einer spezifischen Wirklichkeitssicht, wie sie sich der subjektiven Einbildungskraft des Fotografen verdankt. Dementsprechend beruht der Realismus, den man Fotografien in einem besonderen Maße zuschreibt, nicht in einem privilegierten Verhältnis zu ihrem Gegenstand. Fotografische Abbildungen sind nicht realistisch in dem Sinne, dass sie sich mimetisch der abgebildeten Wirklichkeit angleichen, wie sie unabhängig von der Wahrnehmung existieren mag. Aus symboltheoretischer Sicht ist eine solche Art von Realismus für Abbildungen gar

53 Jurij M. Lotman, Probleme der Kinoästhetik. Einführung in die Semiotik des Films. Frankfurt/M. 1977, S. 70 54 J. Snyder, a.a.O., S. 36 66

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nicht möglich. Wenn bereits die einfache Wahrnehmung, wie im ersten Kapitel dargelegt, immer schon eine Gestaltung des Wahrgenommenen impliziert, da Wahrzunehmendes nur als Gestaltetes überhaupt dem Bewusstsein zugänglich werden kann, wenn also schon die Wahrnehmung nicht in einer Präsentation des Wahrgenommenen, so wie es ist, besteht, kann dies für Bilder, auch für fotografische, ebensowenig gelten. Eine exakte Wiederholung des Abgebildeten, so wie es unabhängig vom Abbildungsprozess existiert, könnte uns gar nicht zu Bewusstsein kommen. Auch bei Fotografien handelt es sich also immer um Darstellungen, in denen das Dargestellte eine Umformung nach Maßgabe eines geistigen Konzepts erfahren hat. Die Behauptung, Fotos seien realistisch, weil sie uns die Dinge so zeigten, wie sie an sich seien, beruht auf einem zwar weit verbreiteten, aber deshalb nicht weniger unzutreffenden Vorurteil. Dies bedeutet aber nicht, dass Fotografien nicht in einer anderen Hinsicht durchaus als realistisch bezeichnet werden können. Dass ein Foto realistisch ist, kann nämlich auch bedeuten, „daß es aufgrund seiner Elemente uns die abgebildeten Dinge so zu sehen erlaubt, wie wir sie in leiblicher Anwesenheit bei ihnen gesehen haben oder gesehen hätten.“55 In einer solchen Lesart des Begriffs ‚Realismus‘ ist also nicht das Verhältnis von abgebildetem, realem Gegenstand und abbildender Fotografie gemeint, sondern die „Beziehung zwischen der Art und Weise, wie wir die Realität sehen, und wie wir das Foto sehen.“56 Demnach strukturiert das apparative Programm der Fotografie mit Hilfe der Kamera das Abgebildete beim Abbildungsprozess nach ähnlichen Regeln um, wie unser Geist dies im visuellen Wahrnehmungsprozess mit den dabei bewusst gewordenen Wahrnehmungsphänomenen tut. Fotografische Abbildung und visuelle Wahrnehmung transformieren also in gleicher oder doch zumindest ähnlicher Art und Weise. Dass aber die Transformation in Fotografie und Wahrnehmung so isomorph abläuft, hängt damit zusammen, dass das Sehen auf Grund seiner symbolischen Anlage selbst bildlich ist, d.h. als „systematische, in einer geordneten Reihenfolge voranschreitende Konstruktion eines Bildes aus Bildelementen“57 abläuft. Dementsprechend tun wir beim fotografischen Abbilden nichts anderes, „als das natürlich gesehene Bild, das wir nach bildlichen Regeln konstruieren, mit einer Re-Präsentation dieses natürlichen Bildes in Übereinstimmung zu bringen.“58 Die bildlichen Regeln, nach denen sich (fotografisches) Abbilden und natürliches Sehen organisieren, sind aber gleichermaßen durch das Modell der Zentralperspektive, wie es sich als symbolische Form herausgestellt hat, be55 56 57 58

Gernot Böhme, Theorie des Bildes. München 1999, S. 117 Böhme, a.a.O., S. 18 J. Snyder, a.a.O., S. 53 Snyder, a.a.O., S. 29 67

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stimmt. Unsere Wahrnehmung hat sich also die planperspektivischen Normen der neuzeitlichen Malerei ebenso einverleibt, wie es daraufhin das apparative Programm der Fotografie mit diesen Normen tat. Damit erweist sich aber das natürliche Sehen als nicht weniger kulturell disponiert als die fotografische Art und Weise der Darstellung von Dingen. Dass das nach planperspektivischen Prinzipien organisierte Sehen dennoch als das natürliche angesehen wird, beweist nur, „wie erfolgreich die symbolische Form der Zentralperspektive ihre toposbildende Funktion entfalten konnte.“59 Wenn Fotografien in diesem Zusammenhang aber eben nicht mehr als Vertreter einer besonderen Bildform angesehen werden können, einer Bildform nämlich, die aufgrund des technischen Prozesses der Bildproduktion eine privilegierte Abbildungsbeziehung zur Wirklichkeit unterhielte, stellt sich verschärft die Frage, auf welcher Grundlage sie denn sonst von anderen Bildformen abzugrenzen wären. Was macht also das spezifisch Fotografische von fotografischen Zeichen aus?

59 Sybille Krämer, Zentralperspektive, Kalkül, virtuelle Realität. Sieben Thesen über die Weltbildimplikationen symbolischer Formen. In: G. Vattimo/W. Welsch (Hg.), Medien – Welten – Wirklichkeiten. München 1998, S. 28 68

3 . Das fotografisc he Zeic hen

3.1 Fotografien im Kontext kausaler Bildtheorien Mit der Interpretation der Fotografie als technisches Verfahren zur Herstellung natürlicher Abbildungen gerät das Resultat dieses Verfahrens, das Foto, in den Kontext kausaler Bildtheorien. So werden fotografische Bilder von Peirce als Zeichen angesehen, die in einer kausalen Beziehung zu ihren Bezugsgegenständen stehen. Seine Kategorisierung von Fotografien als Indizes beinhaltet dabei die (schon von Talbot aufgestellte) Behauptung, dass der technische Prozess der Fotografie eine ursprüngliche Beteiligung eben dieser Bezugsgegenstände bei der Entstehung der Bilder gewährleistet und Fotografien infolgedessen zu jener Art Bilder gehören, die wie Schatten- oder Spiegelbilder ohne menschliche Beteiligung zustande kommen und daher im Gegensatz zu den von Menschen als Artefakte hervorgebrachten Bilder stehen. Damit folgt Peirce einer Tradition der Unterscheidung von natürlichen und künstlichen Bildern, wie sie sich zumindest bis zu Platons „Sophistes“ zurückverfolgen lässt: „Jegliches von diesen [den Hervorbringungen Gottes; T.C.] nun begleiten Bilder, welche nicht die Sache selbst sind, aber auch durch göttliche Veranstaltung entstanden. [...] Die in den Träumen und auch, was wir bei Tage natürlichen Schein nennen, wie der Schatten, wenn in das Helle Finsternis eintritt, und der Doppelschein, wenn an glänzenden und glatten Dingen eigentümliches Licht und fremdes zusammenkommend ein Bild hervorbringen, welches einen dem vorigen, gewohnten Anblick entgegengesetzten Sinneseindruck gibt.

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FOTOGRAFISCHER KOSMOS

[...] Und unsere Kunst? Werden wir nicht sagen, daß sie das Haus selbst durch die Baukunst hervorbringt, durch die Zeichenkunst aber noch ein anderes, gleichsam als einen menschlichen Traum für Wachende verfertigtes?“1

Die Überlegungen zum technischen Prozess der Fotografie haben im letzten Kapitel gezeigt, dass dieser keineswegs als natürliches Abbildungsverfahren angesehen werden kann. Auch wenn die Hand des Künstlers nicht wie beim Akt der Zeichnens oder Bildhauens am Zustandekommen einer Fotografie beteiligt ist, so enthält das apparative Programm der verwendeten Kamera doch immer schon alle jene Handgriffe, die aus der fotografischen Abbildung ein künstlich erzeugtes Gebilde machen. Wenn es das Kennzeichen natürlicher Zeichen ist, dass das Bezeichnende und das von ihm Bezeichnete in Relationen treten, die „unabhängig von den Handlungen, Absichten und Konventionen der Menschen“2 bestehen, wenn natürliche Zeichen von daher in einem geradezu unmittelbaren Abbildungsverhältnis stehen, dann kann es sich bei Fotografien nicht um natürliche bildhafte Zeichen handeln. Der apparative Aspekt und die dadurch bedingte Programmatik ihres Zustandekommens schließt die natürliche Zeichenhaftigkeit von Fotografien gerade aus, statt sie, wie irrtümlich nur zu oft behauptet wurde, überhaupt erst zu ermöglichen. Dementsprechend scheint es fraglich, ob kausale Bildtheorien in der Lage sind, etwas zum Verständnis des Bildcharakters von Fotografien beizutragen. Hinzu kommt, dass der Bildstatus der von Platon genannten natürlichen Abbildungen durchaus in Frage gestellt worden ist. John Hyman etwa hält es für irreführend, eine reflektierende Oberfläche wie die eines Spiegels als Instrument für die Erzeugung von Bildern aufzufassen: „Wenn ich ein Auto in meinem Rückspiegel sehe oder ein Schiff durch das Periskop eines Unterwasserbootes, dann sehe ich das Auto oder das Schiff, nicht das Bild eines Autos oder das Bild eines Schiffes. [...] Wir sprechen von Spiegelbildern, und diese Redeweise ist so lange korrekt, wie man unterstellt, daß das Sehen eines Spiegelbildes eines Autos nur heißt, daß man etwas indirekt sieht [...].“3

Für Hyman liegen Spiegelbilder als Erscheinungen der indirekten Perzeption phänomenal im Übergangsbereich zwischen Objekten und ihren Abbildungen.

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Soph. 266, b-c Oliver R. Scholz, Bild, Zeichen, Darstellung. Philosophische Theorien bildhafter Darstellung. Freiburg, München 1991, S. 78 Zit. nach Reinhard Brandt, Die Wirklichkeit des Bildes. Sehen und Erkennen – Vom Spiegel zum Kunstbild. München, Wien 1999, S. 39

3. DAS FOTOGRAFISCHE ZEICHEN

Die Lichtstrahlen, die das Auge von ihnen empfängt, stammen zwar nicht direkt vom wahrgenommenen Objekt, der Umweg, auf den sie die Spiegelfläche zwingt, macht aus dieser Fläche aber noch kein Bild. Auch wenn Reinhard Brandt Hymans Ausschluss der Spiegelbilder aus dem Feld der Bilder bedenklich findet, da er den logisch fragwürdigen Schluss nahelegt, dass es einen Menschen bei seiner Selbstbetrachtung im Spiegel plötzlich zweimal gibt,4 verdeutlicht er doch ein wesentliches Charakteristikum von Bildern: ihre prinzipielle Unabhängigkeit von der physischen Präsenz dessen, was abgebildet wird. So macht erst die materielle Fixierung aus einem Spiegelbild ein Bild. Folgerichtig weisen wir deshalb nicht schon der Mattscheibenprojektion einer Spiegelreflexkamera den Status eines (fotografischen) Bildes zu, sondern erst deren Materialisierung auf einer fotosensiblen Filmschicht als zunächst (d.h. vor ihrer chemischen Entwicklung) noch latentes Bild.5 Und auch die von Platon angeführten Schattenbilder erlangen erst dadurch vollwertigen Bildstatus, dass sie zumindest in ihren Umrissen – etwa durch Nachfahren mit einem Stück Kohle – auf einem Bildträger fixiert werden. Durch den Akt der Fixierung auf einer bildtragenden Oberfläche, sei es mit einem Stift, sei es mittels einer technischen Apparatur, geht aber gerade das am natürlichen Bild verloren, was als wesentliche Grundlage seiner Natürlichkeit begriffen wird – die Unabhängigkeit seines Zustandekommens vom menschlichen Handeln. Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass es natürliche Bilder im von Platon vertretenen Verständnis gar nicht gibt; entweder sind sie (als indirekte Wahrnehmungsphänomene) noch keine Bilder oder (als fixierte bildhafte Darstellungen) nicht mehr natürlich, sondern eben Artefakte. Damit wird aber jene Unterteilung der Bildformen in natürliche und künstliche hinfällig – und damit die Klassifizierung von Fotografien als natürliche Abbildungen qua ihres indexikalischen Verhältnisses zum Objekt ihrer Darstellung. Was die Betrachtung des technisch-apparativen Herstellungsprozesses von Fotografien im letzten Kapitel bereits aufgewiesen hat, nämlich die Artifizialität und damit prinzipielle Symbolizität von fotografischen Bildern, wird durch die Untersuchung der Fotografie als Resultat dieses technischen Prozesses rasch bestätigt. So erfährt auch die bereits zitierte Meinung ihre Widerlegung, dass es sich bei Fotografien wie bei natürlichen Zeichen immer nur um singuläre Zeichen handelt, die nur ein bestimmtes einzelnes Ereignis anzeigen, d.h. nicht als generelle Zeichen auftreten und damit kaum eine Rolle als Mittel der Kommunikation erfüllen können.6 4 5 6

Brandt, a.a.O., S. 40 Dazu muss aber gerade jener Spiegel, der die Projektion im Sucher ermöglicht, aus dem Weg des Lichtstrahls entfernt, das Spiegelbild also beseitigt werden. Vgl. Scholz, a.a.O., S. 78f. 71

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

Wie alle anderen Bildformen sind auch Fotografien Produkte einer umformenden Gestaltung, durch die Singuläres gerade aus seiner Singularität herausgehoben wird und einen allgemeinen Sinn zugewiesen bekommt. Wie diese Umformung im Akt des Fotografierens geschieht, vermag eine kausale Bildtheorie, die Bilder lediglich auf der Grundlage der Kausalrelation zweier Gegebenheiten – von Bild und Abgebildetem – begreift, nicht zu erklären. Ein solcher Ansatz verkennt, dass Fotografien in erster Linie Bilder und daher in ihren Eigentümlichkeiten nur zu verstehen sind, wenn klar ist, was Bilder allgemein ausmacht und wie sie es schaffen, etwas bildhaft zur Darstellung zu bringen.

3 . 2 Z u r a l l g e m e i n e n B i l d l i c h k e i t vo n F o t o g r a f i e n Die Überlegungen zu den Kausaltheorien von Bildern haben die materielle Fixierung als ein wesentliches Kriterium ihrer Bildlichkeit aufgewiesen. Erst eine eigenständige Materialität begründet ihre Unabhängigkeit von der Präsenz des Abgebildeten wie auch ihre raum- und zeitübergreifende und damit überindividuelle sinnliche (und das heißt für sie konkret: visuelle) Wahrnehmbarkeit. Die griechische Tradition kennt denn auch neben dem Terminus εικων noch ein weiteres Wort, das im Deutschen mit ‚Bild‘ übersetzt werden kann und eher dessen Gegenständlichkeit betont: πιναξ. Die Notwendigkeit einer materiell fixierten Beschaffenheit bedeutet aber, dass alle nicht materialisierten Phänomene, die gemeinhin als Bilder bezeichnet werden – Spiegel- und Schattenbilder ebenso wie Traum- und Vorstellungsbilder – diese Bezeichnung lediglich in einem metaphorischen Sinn verdienen. Im Gegensatz zu Bildgegenständen treten sie nicht als Elemente eines bildhaften Mediums auf, die, um ihre mediale Funktion zu erfüllen, eben materialisiert vorliegen müssen.7 Mit den bildhaften Gegenständen hat es nun eine eigenartige Bewandtnis. Denn gerade ihre Materialität, die ihnen ihre Sichtbarkeit verleiht, wird beim Sehen eines Bildes gar nicht explizit erkannt. Beim Betrachten einer SchwarzWeiß-Fotografie etwa sehen wir zwar die Silberschichten, wie sie nach der Entwicklung und Fixierung in einer auf Papier aufgezogenen Gelatineschicht eingebettet vorliegen und durch ihre verschiedene Dichte unterschiedliche Grautönungen und Helligkeitswerte besitzen. Doch solange das jeweilige Bild unter den gegebenen Betrachtungsbedingungen als optische Einheit erfasst werden kann, indem etwa der Betrachter einen der Größe des Bildes angemessenen Abstand einhält, werden jene Silberschichten und die durch ihre 7 72

Zur Bedeutung der Materialität von Symbolen vgl. Kapitel 1.5.

3. DAS FOTOGRAFISCHE ZEICHEN

Grauton- und Helligkeitsunterschiede hervorgerufenen Formen nicht als solche wahrgenommen. Stattdessen erkennt der Betrachter Häuser, Bäume und Gebirgsmassive unter Wolkenformationen, die sich zu einer Landschaftsaufnahme von Anselm Adams vereinen, eine Gabel und einen Teller, von André Kertész zu einem Stillleben komponiert, oder den von Robert Capa im Augenblick seines Todes festgehaltenen spanischen Loyalisten. Erkannt wird also das, was das jeweilige Bild darstellt. Damit aber das im Bild Dargestellte als solches erkannt werden kann, bedarf es offensichtlich gerade des Absehens von jener materiellen Grundlage, die das Dargestellte überhaupt erst zur Darstellung bringt. Silberschichten auf Trägerflächen werden also nicht als sie selbst erkannt, sondern als etwas anderes, als etwas, was sie selbst nicht sind, sondern durch sich zur Anschauung bringen. Zum Akt des Rezipierens sinnlich wahrnehmbarer Gegebenheiten muss also noch ein weiterer, ein eigentlicher Erkenntnisakt hinzutreten, in dem das Gesehene als etwas erkannt wird, das etwas anderes darstellt. In diesem Akt des Erkennens erhält das Sinnliche erst einen bestimmten Sinn. Es ist diese Wahrnehmung des Sinnlichen als Bedeutungsvolles, als Sinnhaftes, was nach Cassirer kennzeichnend für jede Art der Wahrnehmung ist, insofern sie sich symbolisch vollzieht. Bilder als Bilder zu erkennen bedeutet also, sie als Symbole zu erkennen, als Zeichen, die von sich weg auf anderes verweisen, was durch sie repräsentiert wird. Somit unterscheidet sich die Bildwahrnehmung zunächst nicht von der Wahrnehmung eines beliebigen anderen Phänomens, schon gar nicht, wenn es visueller Natur ist. Auch bei der Wahrnehmung nicht bildhafter Gegenstände vollzieht sich ja eine Transformation dessen, was sinnlich rezipiert wird, eine geistige Umgestaltung oder – wenn man will – Umbildung, durch die das Gesehene immer schon in Erkennbares geformt wird. Wahrnehmung, so könnte man zusammenfassen, vollzieht sich so gesehen immer schon bildhaft. Erst auf der Grundlage dieser Prämisse wird verständlich, wieso Bilder analog den nicht bildhaften Gegenständen überhaupt erkannt, d.h. als bedeutungsvoll wahrgenommen werden können. Andererseits wirft diese Betrachtungsweise ein anderes gravierendes Problem auf: Wie nämlich ist es, angesichts der gleichartigen symbolischen Wahrnehmungsweise, möglich, zwischen bildhaften und nicht bildhaften Objekten zu unterscheiden? Wenn alle visuellen Phänomene einer Umformung in bildhafte Erscheinungen unterworfen sind, wie gelingt dann ihre Differenzierung in Gegenstände, die Bilder sind, und Gegenstände, die keine Bilder sind? Offenbar besteht der Akt der Bildbetrachtung nicht nur darin, von der unmittelbaren Gegebenheit des Gesehenen zu abstrahieren und dieses dadurch als Repräsentation zu erkennen, sondern zusätzlich noch darin, von der Gegebenheit dessen, was als Repräsentiertes erkannt wurde, abzusehen. Bilderken73

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

nen umfasst also die Erkenntnis, dass das in und durch das Bild Repräsentierte nicht selbst, sondern nur als Repräsentiertes anwesend ist: „Dem in der Darstellung Dargestellten wird das Da-Sein im Bild-als-Bild-Betrachten abgesprochen, notwendig abgesprochen, denn da-ist nur der physische Träger.“8 Damit Bilder als solche erkannt werden, bedarf es also „eines besonderen Aktes der Verneinung“,9 die sich nach Brandt spezifisch von anderen Arten der Verneinung unterscheidet. In der auf Bilder bezogenen Negation werden nämlich weder ein bestimmtes Phänomen noch bestimmte Eigenschaften von diesem negiert. In ihr wird auch keine Unterscheidung verwechslungsfähiger Gegenstände vorgenommen. Vielmehr wird dem Dargestellten gezielt sein Da-Sein abgesprochen: „Hier ist der Akt der Negation nicht eine bloße Distinktion, sondern es muß eine Darstellung angenommen werden, für die es essentiell ist, daß das physisch Präsente nicht das Dargestellte ist, diesem letzteren also, obwohl dargestellt, kein Da-Sein zukommt.“10

So verleiht die physische und dadurch sinnlich wahrnehmbare Schwarz-WeißFotografie, das Papier als Trägerschicht samt den von ihm getragenen Silberschichten, der Darstellung einer Sache Existenz, nicht jedoch der Sache selbst. Diese bleibt immer von ihrer Darstellung im Bild getrennt. Zwischen dem Repräsentierten und seiner bildlichen Repräsentation klafft immer eine „ikonische Differenz“, die denn auch das spezifische Kennzeichen des (nicht nur fotografischen) Bildes ausmacht: dass es „der materiellen Kultur unaufhebbar zugehört, auf völlig unverzichtbare Weise in Materie eingeschrieben ist, darin aber einen Sinn aufscheinen läßt, der zugleich alles Faktische überbietet.“11 Der Status des Bildes ist demnach durch „das Paradox einer realen Irrealität bestimmt, dadurch, „ein Ding und ein Nicht-Ding zugleich“12 zu sein. Nun ist nach Cassirer diese paradoxe Struktur für jede Form bewusster Wahrnehmung kennzeichnend. Stets muss einem sinnlichen Phänomen Sinn eingeprägt werden, damit es zu Bewusstsein gelangen kann. In der Tat besitzen, wie dargestellt, für Cassirer dementsprechend bereits die Gegenstände der primären Wahrnehmung Repräsentationsqualitäten. Jeder bewusst wahrge8 9 10 11

Brandt, a.a.O., S. 105 Brandt, a.a.O., S. 105 Brandt, a.a.O., S. 106 Gottfried Boehm, in: Gottfried Boehm (Hrsg.), Was ist ein Bild? München 1994, S. 30 12 Gottfried Boehm, Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder. In: Christa Maar, Hubert Burda (Hrsg.), Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder. München 2004, S. 30 74

3. DAS FOTOGRAFISCHE ZEICHEN

nommene, d.h. aus dem Kontinuum der sinnlichen Welt isolierte und herausgehobene Gegenstand, ist immer auch Repräsentant des Gegenstandstyps, von dem er ein individueller Vertreter ist. Dies entspricht im Großen und Ganzen dem, was bereits mit der Bildhaftigkeit der primären Wahrnehmung benannt worden ist. Primär wahrgenommenen Gegenständen kommen demnach immer schon bildhafte Merkmale und Eigenschaften zu. Dies liegt in der von Cassirer postulierten prinzipiellen Symbolhaftigkeit unseres Weltzugangs begründet und ermöglicht andererseits überhaupt erst unsere Bildfähigkeit, d.h. unser Vermögen, Bilder als Bilder zu erkennen. An einem wahrgenommenen Gegenstand kommt also immer auch etwas zur Anschauung, was er selbst in seiner konkreten sinnlichen Gegebenheit nicht ist. Jedes Sinnlich-Besondere ist qua symbolischer Prägung immer auch etwas Allgemein-Bedeutungsvolles und übersteigt damit die Präsenz seiner aktuellen Gegebenheit. Bedeutet dies aber nicht, dass sich jene bei der Bildwahrnehmung vorgenommene Negation auch auf die primäre Wahrnehmung von Gegenständen anwenden lässt? Die Frage, wie es uns gelingt, Bilder von nicht bildlichen Gegenständen zu unterscheiden, würde dann nur noch prekärer. Um der Beantwortung dieser Frage zumindest etwas näher zu kommen, hilft vielleicht Dantos Konzept einer Opazitäts- und Transparenztheorie.13 Opak ist eine bildliche Darstellung demnach aufgrund ihrer Materialität. Deren Dichte macht das Bild undurchsichtig insofern, als es einen Betrachter nötigt, es als Gegebenheit sinnlich wahrzunehmen und dadurch seiner gewahr zu werden. In der Eigenschaft des Opaken tritt uns ein Bild also als Bildgegenstand entgegen, der unserer Wahrnehmung Widerstand bietet, die Aufmerksamkeit auf sich fokussiert und seine Apperzeption erzwingt. Diese Materialität, die die sinnliche Wahrnehmung des Bildes und damit dessen Bewusstwerdung überhaupt erst gewährleistet, ist aber auch immer schon daraufhin eingerichtet, dass sich das durch sie verbürgte Opake eines Bildgegenstandes auf den Sinn der Darstellung, also auf das Dargestellte hin öffnet und dabei transparent wird. Sobald ein Betrachter nicht mehr an einem Bild vorbeischaut, sondern es zum Gegenstand seiner bewussten sinnlichen Wahrnehmung macht, blickt er auch schon durch es hindurch in Hinblick auf das, was durch es bezeichnet wird und von ihm gemeint ist. Im Wesentlichen vollzieht sich im Transpa̗ αξ hinter der rentwerden des opaken Bildes damit ein Verschwinden des πιν ˸ ων ̗ erfüllt. Abbildfunktion, die es als εικ Übertragen auf den Vergleich von Gegenstandswahrnehmungen und der Wahrnehmung von Gegenstandsdarstellungen im Bild könnte man nun sagen, dass bei der Wahrnehmung von Gegenständen deren Repräsentationseigen13 Vgl. Arthus C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen. Frankfurt/Main 1984, S. 243 75

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schaften negiert werden und sie damit weitgehend opak bleiben. Ein Gegenstand wird demnach nur insoweit als Repräsentant wahrgenommen, wie es nötig ist, damit seine bewusste Erkennung möglich wird. Seine physische Präsenz wird zwar mit nicht-sinnlichem Sinn imprägniert (und nur deshalb erhält er für uns Bedeutung), bleibt aber vor diesem und diesen dominierend im Vordergrund. Bei einem Bild verhält es sich genau umgekehrt: Hier ist die physische Präsenz von einer Negation betroffen, die seine opake Materialität geradezu auflöst und damit seine Repräsentationseigenschaften in den Vordergrund rücken lässt. Die physisch präsente Materialität wird transparent für ihre eigentliche Funktion – Repräsentation von etwas Nicht-Anwesendem zu sein. Bilder und nicht-bildliche Gegenstände scheinen sich also weniger prinzipiell zu unterscheiden als vielmehr durch den Bereich der auf beide anwendbaren ikonischen Negation im Akt der Wahrnehmung. Ob etwas ein Bild ist oder nicht, lässt sich demnach an ihm selbst tatsächlich gar nicht ausmachen. Daher ist es auch möglich, dass Gegenstände, die ursprünglich nicht als Bilder bzw. bildhafte Objekte konzipiert waren, leicht zu solchen umfunktioniert werden können, wie seit Marcel Duchamps Readymades viele Werke der modernen Kunst beweisen. Die Bildhaftigkeit eines Bildes liegt infolgedessen nicht in ihm selbst, d.h. in dem Eigentümlichen seiner Gegenständlichkeit begründet, sondern vielmehr in der besonderen Art und Weise seiner Wahrnehmung. Bilder, so kann man zusammenfassend sagen, unterscheiden sich erst im Auge des Betrachters von nicht-bildlichen Gegenständen und erlangen erst im Akt der Wahrnehmung ihren Status als Bild. Sie sind nicht spezifische Gegenstände, sondern Gegenstände einer spezifischen Wahrnehmung. Martin Seel hat diese spezifische Art der Wahrnehmung, durch die Gegendstände erst zu Bildern werden, mit dem Attribut „ästhetisch“ bezeichnet und zwei Kriterien angeführt, die für sie kennzeichnend sind: „Ästhetische Wahrnehmungen sind erstens vollzugsorientierte und zweitens in einem bestimmten Sinn selbstbezügliche Formen sinnlichen oder sinnengeleiteten Vernehmens.“14 Vollzugsorientiert ist eine Wahrnehmung dabei dann, wenn sie „selbst zu einem primären Zweck der Wahrnehmung wird“,15 selbstbezüglich, wenn es „nicht nur um das jeweils Wahrgenommene, sondern gleichermaßen um den Akt der Wahrnehmung selbst geht.“16 Damit wird jeder Gegenstand für uns zu einem Bild, dessen Gegenständlichkeit im Akt der Wahrnehmung zugunsten des Wahrnehmungsaktes selbst verschwindet oder, in den Worten Dantos, auf das durch ihn Dargestellte hin transparent wird. 14 Martin Seel, Ästhetik und Aisthetik. Über einige Besonderheiten ästhetischer Wahrnehmung. In: M. Seel, Ethisch-ästhetische Studien. Frankfurt 1996, S. 48 15 Seel, a.a.O., S. 49 16 Seel, a.a.O., S. 51 76

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Sinnvoller als die Frage, was ein Bild zu einem Bild macht, scheint also die Frage zu sein, was einen Betrachter dazu veranlassen kann, einen Gegenstand als Bild wahrzunehmen. Bevor diese Frage näher erörtert werden kann, muss zunächst der beschriebene Zeichen- bzw. Symbolcharakter des Bildes noch etwas genauer untersucht werden. Nachdem sich also die (wenn auch nicht prinzipielle) Unterscheidbarkeit von bildhaften und nicht-bildhaften Gegenständen erwiesen hat, stellt sich das Problem, wie sich ein bildliches Zeichen wieder mit dem von ihm Bezeichneten in Verbindung bringen lässt. Denn diese Verbindung gehört schließlich notwendig zum Zeichen. Wodurch also wird jene ikonische Differenz zwischen Bild und Abgebildetem wieder überbrückt, so dass ein Bild als Abbildung von etwas Bestimmten angesehen werden kann? Die unvermittelte, dabei aber höchst problematische Antwort auf diese Frage lautet in vielen Fällen: durch Ähnlichkeit.

3 . 3 F o t o g r a f i e n i m K o n t e x t vo n Ähnlichkeitstheorien Wenn Hans Jonas als hervorstechende Eigenschaft eines Bildes die „unmittelbare oder jederzeit auf Wunsch erkennbare Ähnlichkeit mit einem anderen Ding“17 nennt, dann vertritt er eine Auffassung vom Wesen des Bildes, die geradezu selbstverständlich erscheint und sich daher weiter Verbreitung (nicht nur im Alltagsbewusstsein) erfreut. Eine mögliche Ursache für diese Selbstverständlichkeit mag darin liegen, dass sie sich auf eine weit zurückreichende und ehrenwerte Tradition berufen kann: auf Platons Ontologie nämlich, die für Gernot Böhme selbst eine Bildtheorie darstellt.18 Platon fasst den gesamten Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren als bildhaft auf, d.h. als Nachbildung von etwas, das ihm als Urbild zu Grunde liegt: „[...] eigentlich scheint es mir sich so zu verhalten, daß nämlich diese Begriffe gleichsam als Urbilder dastehen in der Natur, die anderen Dingen aber diesen gleichen und Nachbilder sind, und daß die Aufnahme der Begriffe in die andern Dinge nichts anderes ist, als daß diese ihnen nachgebildet werden.“19 Das Urbild, die Idee, ist das eigentliche, das für sich selbst Seiende und daher wahrhaft. Die Dinge erfahren im Gegensatz dazu als bloße Abbilder, als Darstellung (Mimesis) dieses wahrhaft Seienden eine entscheidende Abwertung. Sie stehen zwar in einem Teilhabe-Verhältnis zur Idee – sie teilen mit 17 Hans Jonas, Homo Pictor: Von der Freiheit des Bildens. In: G. Boehm (Hrsg.), Was ist ein Bild? A.a.O., S. 107 18 Vgl. Gernot Böhme, Theorie des Bildes. München 1999, S. 15 19 Parm. 132 d 77

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ihr das Aussehen –, bleiben aber doch das von dieser stets verschiedene Andere: „Was sollten wir also anders sagen, daß ein Bild sei, o Fremdling, als das einem Wahren ähnlich gemachte Andere solche?“20 Als das Andere, das sich vom wahren Seienden wesensmäßig unterscheidet, bleibt das Bild etwas Scheinbares,21 etwas, das an sich Aspekte vom wahrhaften Urbild zur Erscheinung bringt, ohne deshalb selbst zu einem wahrhaft Seienden zu werden. Es ist etwas im Vergleich zum Original Gleichartiges, also etwas, das dem Original äußerlich gleicht, dabei aber stets von diesem verschieden bleibt. Möglich wird diese Gleichartigkeit in der Verschiedenheit für Platon durch jene Ähnlichkeitsrelation, durch die Ur- und Abbild, Original und Nachahmung aufeinander bezogen sind. Dass Ähnlichkeit aber keineswegs eine Beziehung zwischen einem Abbild und dem durch dieses zur Anschauung gebrachten Abgebildeten stiften, mithin eine wesentliche Grundlage für die Bildhaftigkeit eines Bildes darstellen kann, hat Oliver Scholz mit Nelson Goodman dargelegt. Demnach führt die traditionelle Auffassung, zwei Dinge dann als ähnlich anzusehen, wenn sie in mindestens einer Qualität, Beschaffenheit oder Eigenschaft übereinstimmen, zu der prinzipiellen Schwierigkeit, anzugeben, was als ähnlichkeitsbestimmende Qualität, Beschaffenheit oder Eigenschaft angesehen werden soll.22 Denn offensichtlich bedarf es eines Restriktionskriteriums, da sich immer eine Eigenschaft finden lässt, die ein beliebiges Paar von Dingen gemeinsam hat.23 Stattdessen zu fordern, zwei Dinge müssten alle Eigenschaften gemeinsam haben, um als ähnlich gelten zu können, führt gleich in zweifacher Hinsicht in die Sackgasse. Zunächst erscheint es fraglich, ob es überhaupt möglich ist, solche Gegenstandspaare mit identischem Eigenschaftsprofil zu finden. Des Weiteren aber geht einer derart strengen Formulierung der Ähnlichkeitsbedingungen gerade das verloren, um dessen Klärung es geht: das Abbildungsverhältnis. Wenn ein Ding einem anderen nämlich soweit gleicht, dass es mit ihm qualitativ identisch wird, wird es unmöglich, den Bildstatus eines dieser beiden Dinge zu bestimmen. Auf diese Tatsache hat bereits Platon aufmerksam gemacht. Im Dialog „Kratylos“ weist Sokrates seinen Gesprächspartner darauf hin, dass das Bild keineswegs alles einzelne so wiedergeben darf, „wie das abzubildende ist, wenn es ein Bild sein soll“, und führt zur Beweisführung fort: „Wären dies wohl noch so zwei verschiedene Dinge wie Kratylos und des Kratylos Bild, wenn einer von den Göttern nicht nur deine Farbe und Gestalt nachbildete, wie die Maler, sondern auch alles Innere ebenso machte wie das deinige, mit denselben 20 21 22 23 78

Soph. 240 a Vgl. Soph. 240 b Vgl. Scholz, a.a.O., S. 43 Vgl. Scholz, a.a.O., S. 44

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Abstufungen der Weichheit und der Wärme, und dann auch Bewegung, Seele und Vernunft, wie dies alles bei dir ist, hineinlegte und mit einem Worte alles, wie du es hast, noch einmal neben dir aufstellte; wären dies dann Kratylos und ein Bild des Kratylos oder zwei Kratylos?“24

Damit ein Ding als Abbildung eines anderen Dinges gelten kann, darf es diesem abgebildeten Ding also nicht in jeder Hinsicht gleichen. Vielmehr muss es bestimmte Unterscheidungsmerkmale aufweisen, um als etwas Eigenes wahrgenommen werden zu können und nicht als die abgebildete Sache selbst. Einerseits muss eine Abbildung gewisse Eigenschaften mit dem abgebildeten Gegenstand gemeinsam haben, um als Abbildung gerade dieses Gegenstandes gelten zu können. Andererseits darf sie darüber hinaus bestimmte andere Eigenschaften gerade nicht haben, um nicht als der Gegenstand angesehen zu werden, von dem sie doch eigentlich die bildhafte Darstellung sein soll. In diesem Zusammenhang erweist sich noch ein weiterer Aspekt der Ähnlichkeitsbeziehung als problematisch für die Bestimmung des Bildstatus eines bildhaften Gegenstands. Ähnlichkeit ist nämlich reflexiv und symmetrisch. Damit ist einerseits gemeint, dass ein Gegenstand sich selbst am meisten ähnelt, andererseits, dass die Ähnlichkeit zweier sich ähnelnder Gegenstände wechselseitig zutrifft: „B ist A ebensosehr ähnlich, wie A B ähnlich ist.“25 Dies bedeutet aber weder, dass ein Gegenstand sein eigenes Bild ist, noch, dass ein seinem Bild ähnlicher Gegenstand seinerseits als Bild dieses Bildes angesehen werden kann. In diesem Sinne fordert auch Hans Jonas bei seiner Bildbestimmung, dass die Ähnlichkeit nicht vollständig sein darf, um als bloße Ähnlichkeit erkennbar zu bleiben und damit die Bildbeziehung eines Dings zu einem anderen zu wahren: „Eine Verdopplung aller Eigenschaften des Originals würde die Verdopplung des Dinges selbst ergeben, d.h. ein neues Exemplar derselben Art von Ding.“26 Eine solche weitgehende Übereinstimmung eines Bildes mit dem Abzubildenden käme einer „Selbstverhehlung des Bildes als Bild gleich“ und würde seinen wahren Sinn vereiteln, „nämlich das Ding darzustellen, nicht, es vorzutäuschen.“27 Gerade dies wird aber durch die notwendige Andersartigkeit des Bildes ausgeschlossen. Offensichtlich ist dem Bild also nur eine teilweise Übereinstimmung mit dem Abgebildeten erlaubt, um dadurch auch die Symmetrie der 24 Krat. 432 b-c 25 Nelson Goodman, Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Frankfurt/Main 1997, S. 15 26 H. Jonas, Homo Pictor, a.a.O., S. 108 27 Jonas, a.a.O., S. 108 79

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Ähnlichkeit für das spezielle Verhältnis des Bildes zum abgebildeten Gegenstand aufzuheben. Diese Restriktion legt dabei nahe, dass die Eigenschaften, in denen Übereinstimmung herrschen soll, keine beliebigen sein können, sondern ganz bestimmte, wichtige Eigenschaften. Welche solcher relevanten Eigenschaften kommen dafür aber nun in Frage? Da es sich bei Bildern um visuelle Gegebenheiten handelt, liegt es nahe, eine visuelle Ähnlichkeit zu fordern, d.h. eine Ähnlichkeit, die sich auf Übereinstimmung in Farbe, Größe, Form und Gestalt zurückführen lässt, wie es bereits Platon in dem oben angeführten Zitat tut. Nun beweisen die Reaktionen der Zeitgenossen auf die ersten Fotografien, die technisch bedingt Schwarz-Weiß-Fotografien und zudem in ihrem Format ausgesprochen begrenzt waren, dass weder Farb- noch Größenentsprechungen notwendig sind, um ein Bild als solches zu erkennen und es zudem als ausgesprochen realistisch zu erachten. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Beurteilung der ersten Farbfotografien. Auch wenn die Farbentreue am Beginn der technischen Entwicklung der Farbfotografie noch zu wünschen übrig ließ, war der Grad der Übereinstimmung mit der Farbigkeit des Abgebildeten doch ohne Zweifel größer als bei Schwarz-Weiß-Fotografien. Nichtsdestotrotz wurden Farbfotografien anfangs als unrealistisch empfunden. Der Tonwertdifferenzierung der Schwarz-Weiß-Bilder traute man noch lange ein größeres Vermögen zu, Relevantes am Abgebildeten wiederzugeben; seine Farbigkeit gehörte demnach nicht dazu.28 Dies weist darauf hin, dass Übereinstimmung in Form und Gestalt die (zumindest für die Fotografie) relevanteren Aspekte für die Beurteilung der Ähnlichkeit von Fotografien zu sein scheinen. Dabei wird jedoch oft übersehen, dass Fotografien (wie ja Bilder überhaupt) zweidimensionale Projektionen dreidimensionaler Gegebenheiten sind. Im Zuge dieser Projektionen können etwa Kreisformen die Gestalt von mehr oder weniger abgeflachten Ellipsen erhalten. Die dadurch bedingte Nichtübereinstimmung der Abbildung mit dem Abgebildeten in Gestalt und Form hält einen Betrachter jedoch keineswegs davon ab, das entsprechende Bild als Repräsentation eben des abgebildeten Gegenstandes zu erkennen. Und selbst für den Fall, dass auf einem Foto z.B. infolge extremer Unschärfe „nichts“, d.h. nichts Bestimmtes zu erkennen ist, verliert die Fotografie deshalb nicht ihren Bildstatus. Sie gilt dann wo-

28 Natürlich äußert sich in der Ablehnung der frühen Farbfotografien auch ein Stück Gewöhnung an die bis dato üblichen Schwarz-Weiß-Fotografien, was die später noch erörterte These, dass es sich bei der Einschätzung des Realismus von Abbildungen um eine Frage der Gewohnheit handelt, stützt (vgl. hierzu Kap. 3.4.1). Dennoch findet man auch heute noch, in einer Zeit also, in der Farbfotografien zum Standard geworden sind, die Meinung vertreten, dass Schwarz-Weiß-Fotografien eher geeignet sind, Relevantes am abgelichteten Objekt festzuhalten. 80

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möglich als missglückt insofern, als sie der Erwartung, die üblicherweise an sie gestellt wird, einen Gegenstand nämlich wiedererkennbar abzubilden, nicht erfüllt. Aber auch wenn ihr dann der Charakter einer Abbildung abgesprochen wird, wird sie doch noch als Bild angesehen und nicht etwa als ein Gegenstand, der irgendetwas anderes wäre als ein Bild. Aus all dem bisher über den Zusammenhang von Ähnlichkeits- und Abbildungsverhältnis Gesagten wird ersichtlich, dass die Fähigkeit eines Bildes, einen Gegenstand darzustellen und zu repräsentieren, sich nicht auf dessen Ähnlichkeit mit diesem zurückführen lässt. „Es ist klar, daß kein Grad der Ähnlichkeit eine hinreichende Bedingung für Repräsentation ist.“29 Offensichtlich lässt sich an einem Bild selbst bzw. an seinem Verhältnis zu einem von ihm abgebildeten Gegenstand nicht festmachen, was ein Bild ist, d.h. was einen Gegenstand wesensmäßig zu einem Bild macht. Ein Bild ahmt jedenfalls das Abgebildete nicht nach. Es bringt dieses zur Darstellung, verweist auf es und wird von einem Betrachter als etwas erkannt, das in diesem Sinne etwas anderes bezeichnet. Ein Bild als Bild wahrzunehmen heißt also, es als Symbol zu erkennen, das einen Gegenstand repräsentiert. Dazu bedarf es jedoch durchaus keiner Ähnlichkeit: „Tatsache ist, daß ein Bild, um einen Gegenstand repräsentieren zu können, ein Symbol für ihn sein, für ihn stehen, auf ihn Bezug nehmen muß; und daß kein Grad von Ähnlichkeit hinreicht, um die erforderliche Beziehung der Bezugnahme herzustellen.“30 Bilder sind demnach nur dann hinreichend in ihrer Bildlichkeit, in ihrer Fähigkeit, etwas visuell zu repräsentieren, erklärt, wenn sie als Symbole aufgefasst werden, die das in ihnen Dargestellte „aus dem Kausalverkehr der Dinge“ herausheben und in eine „nichtdynamische Existenz“ überführen, wodurch ihnen ein Existenzmodus zukommt, „der weder mit dem des abbildenden Dinges noch mit dem der abgebildeten Wirklichkeit zu verwechseln ist.“31 So zeigen sich am Bild selbst all jene Unterschiede wieder, die bereits für Symbole im allgemeinen ausgemacht wurden: den zwischen substantieller Gestalt und Bedeutung einerseits und den zwischen Bedeutung und Bedeutetem andererseits. Der Bildträger verschwindet infolge der ikonischen Negation ganz hinter dem symbolischen Aspekt des Bildes, das durch ihn erst sinnliche Wahrnehmbarkeit erlangt, hinter seinem Sinn, der sich im Bildträger sinnlich konkretisiert. So sind denn auch die „vielen Abzüge einer Fotografie

29 N. Goodman, a.a.O., S. 16 30 N. Goodman, a.a.O., S. 16 31 H. Jonas, Homo Pictor, a.a.O., S. 111 81

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[...] nicht soundsoviele zusätzliche Bilder, sondern ein Bild, eine Repräsentation soundsooft präsentiert.“32 Die ontologische Differenz zwischen Bild und abgebildetem Gegenstand ermöglicht es schließlich, dass zum einen viele Bilder eines Gegenstandes angefertigt werden können, ein Gegenstand also durch eine Vielzahl von bildlichen Zeichen bezeichnet werden kann, dass andererseits aber auch ein Bild aufgrund der ihm zugrundeliegenden symbolischen Verdichtung des Abgebildeten auf seine wesentlichen Sinnmerkmale eine Vielzahl von Gegenständen der gleichen Art repräsentieren kann. Beim Erkennen eines Bildes wird also nicht etwa der abgebildete Gegenstand als solcher und in seiner konkreten Gegebenheit erfasst, sondern zuallererst dessen symbolisch repräsentierter Typus. Insofern vollzieht sich bei der Abbildung eines Gegenstandes in Form einer pikturalen Repräsentation etwas Ähnliches wie bei der Bewusstwerdung eines Gegenstandes im Rahmen der primären Wahrnehmung. So wie ein Gegenstand im Wahrnehmungsakt eine symbolische Prägung zu einer allgemeinen Repräsentation erfährt, vollzieht die bildliche Darstellung eine ebensolche Transformation des Konkreten zu einem Exempel einer allgemeineren Bedeutung, das „seine Identität über den Wechsel seiner Ansichten hinweg“33 bewahrt. Damit erweist sich jede Form der bildlichen Darstellung als Externalisierung eines ursprünglichen Bewusstseinsvermögens und damit als medial im bereits erläuterten Sinne.34 Das Erkennen von Bildern gelingt nicht deshalb, weil zwischen dem Bild und dem Abgebildeten irgendeine Ähnlichkeit wahrgenommen würde. Es gelingt, weil die primäre visuelle Wahrnehmung – und dieser Punkt wurde bereits mehrfach betont – sich immer schon bildlich vollzieht: „Abstraktion, Repräsentation, Symbolismus – etwas von der Bildfunktion inhäriert bereits dem Sehen als dem integrativsten unter den Sinnen.“35 Fotografien und ihre abbildende Leistung sind also nur dann adäquat zu begreifen, wenn sie als Symbole, als bedeutende Zeichen angesehen werden. Die bildontologische Frage, was ein Bild im allgemeinen und eine Fotografie im besonderen an und für sich sei, ist so gesehen nicht zu beantworten. Die Frage nach dem (fotografischen) Bild wäre eher die, wann und wie ein solches als Bild, d.h. „als Zeichen in einem bildhaften System fungiert.“36 Die substantialistische Charakterisierung ist also durch eine funktionalistische zu

32 33 34 35 36 82

H. Jonas, a.a.O., S. 113 H. Jonas, a.a.O., S. 117 Vgl. Kap. 1.5. H. Jonas, a.a.O., S. 118 O. Scholz, a.a.O., S. 83

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ersetzen, ganz im Sinne des späten Wittgenstein, für den gilt: „Jedes Zeichen scheint allein tot. Was gibt ihm Leben? – Im Gebrauch lebt es.“37 Für ein tiefergehendes Verständnis der zeichenhaften Funktion von Fotografien müssen also bildhafte Zeichensysteme genauer auf ihre Strukturen hin untersucht werden. In diesem Zusammenhang wäre auch zu klären, wie sich bildhafte Symbolsysteme von anderen Zeichensystemen, etwa von sprachlichen, unterscheiden und wodurch sich die Fotografie als spezielle Art der bildhaften Symbolisierung von anderen Arten bildlicher Symbolismen, etwa von der Malerei, abhebt. Bei der Beschreibung sprachlicher und wissenschaftlicher Symbolismen hat Ernst Cassirer mit seiner „Philosophie der symbolischen Formen“ wichtige Beiträge geliefert. Bildhafte Symbolsysteme blieben dabei allerdings etwas vernachlässigt. Eine wichtige Ergänzung und Weiterführung erfährt die Philosophie Cassirers in diesem Bereich durch Nelson Goodmans „Entwurf einer Symboltheorie“, wie er sie in seinem Buch „Sprachen der Kunst“ geliefert hat.

3 . 4 N e l s o n G o o d m a n s s ym b o l t h e o r e t i s c h e B e s c h r e i b u n g b i l d h a f t e r Z e i c h e n s ys t e m e Nelson Goodman vertritt einen ähnlich allgemeinen Symbolbegriff wie Ernst Cassirer. Für ihn umfasst er „Buchstaben, Wörter, Texte, Bilder, Diagramme, Karten, Modelle und mehr“.38 Der Ausdruck ‚Symbol‘ bezeichnet bei Goodman also zunächst nicht mehr als ein Mittel der Verweisung und der Bezugnahme. Goodmans Anliegen ist es nun, die „Vielfalt und die Funktionen von Symbolen“39 auch und gerade in ihren nonverbalen Ausprägungen stärker einer systematischen Erforschung zuzuführen, als dies vor ihm durch die eher auf sprachliche Systeme konzentrierten Zeichenwissenschaften der Fall war. In diesem Zusammenhang geht es ihm vornehmlich um die Beantwortung der zwei zentralen Fragestellungen, (1) auf welche Art und Weise Symbole verweisen bzw. Bezug nehmen, welche Modi der Symbolisierung sich also vorfinden lassen, und (2) welche syntaktischen und semantischen Strukturen unterschiedliche Symbolsysteme ausbilden. Bezüglich der Bezugnahmeart unterscheidet Goodman dabei im Wesentlichen zwischen Denotation und Exemplifikation. 37 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/M. 1971, S. 201 38 Nelson Goodman, Sprachen der Kunst (SdK), a.a.O., S. 9 39 SdK, S. 9 83

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3.4.1 Denotation Denotation bezeichnet für Goodman die Beziehung zwischen einem Symbol und dem, worauf dieses zutrifft, für das dieses Symbol also steht. Jedes Symbol kann dabei für alles mögliche stehen, also etwas Beliebiges denotieren. Dies gilt im Prinzip auch für Bilder, deren pikturale Repräsentation Goodman als spezielle Art der Denotation auffasst.40 Wie bereits erläutert, gilt auch für die Repräsentation durch Bilder das, was für jede Form symbolischen Verweisens gilt: dass Ähnlichkeit zwischen dem bezeichnenden Symbol und dem bezeichneten Objekt keinesfalls eine Bedingung für das Zustandekommen der Symbolbeziehung ist. In der ähnlichkeitsunabhängigen Denotation unterscheiden sich Bilder also nicht von verbalen Formen der Symbolisierung, deren Beziehung zum Referenten offensichtlich nicht durch irgendeine Form von Ähnlichkeit gestiftet wird. Damit ist für Goodman ausgeschlossen, ein Bild als Nachahmung eines abgebildeten Gegenstandes im Sinne seiner getreuen Kopie verstehen zu können, d.h. im Sinne einer Kopie des Gegenstandes so, wie er ist.41 Da die Gegenstände auf eine Vielzahl von Weisen vorkommen und auch kein unschuldiges Auge in der Lage wäre, aus dieser Vielzahl eine relevante herauszugreifen (weil es für Goodman, Gombrich folgend, dieses unschuldige Auge nicht gibt42), stellt jede Repräsentation wie auch schon jede einfache Wahrnehmung eine Interpretation des Repräsentierten dar, die dieses, „durch Bedürfnis und Vorurteil reguliert“, eher erzeugt, „als daß es etwas widerspiegelt“.43 Goodman legt dabei Wert auf die Feststellung, dass dies für fotografische Formen bildlicher Repräsentation nicht weniger gilt als etwa für solche der Malerei, da die Wahl des Instruments und seiner Handhabung immer schon an eben jenem Konstruktionsprozess, als der sich die bildliche Darstellung erweist, beteiligt ist.44 Da eine bildhafte Repräsentation in diesem Sinne also immer auch symbolische Konstruktion des Repräsentierten ist, kann sie nicht nur singulär denotieren, also als Bezeichnung eines einzelnen Objekts, sondern auch multipel, d.h. distributiv im allgemeinen, wie es etwa bei Lexikonabbildungen der Fall ist. Und es wird sogar möglich, dass ein Bild nichts repräsentiert, da das Repräsentierte (wie bei Einhornbildern) nur als Fiktion existiert.

40 41 42 43 44 84

Vgl. SdK, S. 17 Vgl. SdK, S. 27 Vgl. SdK, S. 19 SdK, S. 19 Vgl. SdK, S. 20, Fußnote 8

3. DAS FOTOGRAFISCHE ZEICHEN

Nichtsdestotrotz sind solche „Repräsentationen mit Nulldenotation“45 Bilder einer bestimmten Art und lassen sich entsprechend klassifizieren (nämlich als Bilder, die Einhörner darstellen, d.h. als Einhorn-Bilder). Diese Klassifikation der Darstellung nach der Art ihres Darstellens findet sich freilich auch bei Bildern, die etwas Konkretes denotieren. Da das Denotierte, sofern es nicht-fiktional existiert, auf eine Vielzahl von Weisen vorkommt und die Darstellung eine bestimmte Existenzweise des Dargestellten herausgreift, stellt jede Darstellung das Dargestellte als etwas (durch die Darstellung) Bestimmtes dar. Jede bildliche Repräsentation ist also immer eine „Repräsentation-als“46 – auch im Falle der Darstellung konkreter Objekte, nur bei der Darstellung von Fiktionalem. Damit wird Repräsentation für Goodman „eher eine Frage des Klassifizierens als des Nachahmens von Gegenständen, eher eine Frage des Charakterisierens als des Kopierens“, in jedem Fall aber ist sie „keine Angelegenheit passiven Berichtens“.47 Der Realismus einer Abbildung resultiert demnach weder aus der naturgetreuen Imitation eines Gegenstandes noch aus der Wahrscheinlichkeit, die Repräsentation mit dem Repräsentierten zu verwechseln, was letztlich bedeuten würde, das Bild gar nicht mehr als Bild, d.h. in seinem zeichenhafte Status zu erkennen.48 Auch spielt die Menge an übermittelten Informationen über das Abgebildete keine Rolle für den Realismus einer Abbildung. Hierin irrten bereits die frühen Fotografietheoretiker, die den Realismus des neuen Mediums an der Detailfülle, also der Informationsdichte der Fotografien festmachen wollten. Würde man diese Betrachtungsweise konsequent anwenden, müssten Negative, die technisch bedingt stets eine größere Informationsmenge enthalten als die von ihnen hergestellten Abzüge, diesen gegenüber als die realistischeren Abbildungen gelten, was nicht nur dem alltäglichen Verständnis von Fotografien widerspricht, sondern auch von keinem Fototheoretiker so explizit behauptet wurde. Wenn bildhafte Darstellung eine Frage des Klassifizierens ist, dann erweist sich der Realismus einer Abbildung offensichtlich eher anhand der Eingängigkeit und Nachvollziehbarkeit der Klassifikation, d.h. anhand der Vertrautheit der pikturalen Etiketten, unter die klassifiziert wird: „Genau hier liegt, denke ich, der Prüfstein für Realismus: nicht in der Quantität der Information, sondern in der Leichtigkeit, mit der sie fließt. Und dies hängt davon ab, wie stereotyp der Modus der Repräsentation ist, wie gebräuchlich die Etiketten und ihre Verwendung geworden sind.“49 45 46 47 48 49

SdK, S. 31 Vgl. SdK, Kap. I, 6 SdK, S. 40 Vgl. SdK., S. 43 SdK, S. 45 85

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Ein Bild erscheint einem Betrachter also nicht dann als realistisch, wenn es das Dargestellte besonders deutlich, unverwechselbar und detailgenau zur Anschauung bringt, sondern sein Darstellen, d.h. seine eigene Art, das Abgebildete zu repräsentieren – und zwar unabhängig von diesem. Je unmittelbarer eine bildliche Darstellung erkennen lässt, als was sie etwas darstellt, auf welche Weise sie also das Dargestellte in ihrer Darstellung bestimmt, um so realistischer wirkt sie. Als Maßstab für den Realismus einer Abbildung dient damit nicht die Leichtigkeit, mit der sich das Abgebildete erkennen lässt, sondern die Eindeutigkeit, mit der sich die Abbildung als eine bestimmte ‚Repräsentation-als‘, d.h. als Landschafts-, Portrait- oder auch Einhorn-Bild etikettieren lässt. So bestätigt die Analyse des Zeichencharakters fotografischer Bilder die Aussagen über ihren Realismus, wie sie aus der Betrachtung des fotografischen Prozesses, der zu ihrer Herstellung dient, gewonnen wurden:50 Fotografien werden nicht deshalb als realistisch empfunden, weil sie sich mimetisch der abgebildeten Wirklichkeit angleichen, wie sie vermeintlich unabhängig von Wahrnehmungs- und Abbildungsprozessen existiert, sondern weil sie einem apparativen Programm entspringen, das auf in hohem Maße stereotype Weise das Abgebildete piktural etikettiert und damit seine Klassifikation auf besonders eindeutige Weise ermöglicht. Die Stereotypie dieser Etikettierung verdankt sich dabei zum einen der Tatsache, dass eine seit langem als verbindlich geltende Art der zweidimensionalen Darstellung räumlicher Gegebenheiten, die Zentralperspektive nämlich, integraler Bestandteil des apparativen Programms der Fotografie ist, zum anderen der Gleichförmigkeit, mit der dieses Programm dank seiner Mechanisierung abläuft. Insofern stimmt die Einschätzung, wonach die Mechanik der Bildproduktion den Realismus der Fotografie begründet, allerdings in einer anderen als der ursprünglich gemeinten Hinsicht: Der Mechanismus verbürgt nicht deshalb die Objektivität der aus ihm hervorgehenden Abbildungen, weil die subjektive Instanz des Abbildenden umgangen wird, sondern weil sie mit mechanischer Präzision die immer wieder gleichen pikturalen Etiketten zur Anwendung bringt und daher durch die Fotografie das Abgebildete auf die immer wieder gleiche Art und Weise klassifiziert wird. Die exakte Wiederholbarkeit, die der Modus der Repräsentation im fotografischen Prozess erlangt hat, verleiht diesem bereits seit Jahrhunderten bekannten und verwendeten Darstellungsmodus jene Stereotypie, die vom Betrachter letztlich als Realismus der Darstellung entschlüsselt wird. Die Grundvoraussetzung für Realismus in diesem Sinne ist freilich stets eine denotative Form der Bezugnahme, sei es als singuläre, multiple oder auch Nulldenotation. Dies ist bei Bildern der Fall, die im üblichen Sprach50 Vgl. Kap. 2 86

3. DAS FOTOGRAFISCHE ZEICHEN

gebrauch als gegenständlich gelten, worunter Fotografien in ihrer verbreitetsten Form sicher zu zählen sind. Nun sind allerdings aus der Bildenden Kunst auch Bilder bekannt, die nichtgegenständlich sind. Insofern es sich auch bei diesen um Bilder, also pikturale Symbole handelt, müssen hier andere, nichtdenotative Arten der Bezugnahme vorliegen. Goodman bezeichnet diese als Exemplifikation und Ausdruck.

3.4.2 Exemplifikation und Ausdruck Goodman hat in der Exemplifikation „eine wichtige und vielverwendete Weise der Symbolisierung innerhalb und außerhalb der Künste“51 erkannt. Im Unterschied zur Denotation, bei der ein Bezug vom Symbolsystem auf bezeichnete Objekte erfolgt, verweist die Exemplifikation selbstbezüglich auf Eigenschaften der exemplifizierenden Symbole. Damit ein Symbol eine Eigenschaft exemplifizieren kann, muss es diese also zuallererst besitzen: „Was ein Symbol exemplifiziert, das muß auf es zutreffen.“52 Nun besitzt jedes Symbol als materielle und daher sinnlich wahrnehmbare Gegebenheit eine ganze Reihe von Eigenschaften, die selbstverständlich nicht alle exemplifiziert werden. Goodman veranschaulicht diesen Sachverhalt anhand der Stoffmuster eines Schneiders.53 Als Proben exemplifizieren sie bestimmte Eigenschaften, die sie mit den Stoffen, für die sie als Proben fungieren, gemeinsam haben, wie Farbe, Webart, Textur oder Design der eingewebten Verzierung. Ein Kleid, das mit dem Stoff genäht wird, von dem eine Probe in der Musterkollektion des Schneiders vorliegt, wird z.B. ebenso rot sein wie die Probe selbst. Andere Eigenschaften wie die Größe oder die Form teilt die Probe mit dem Stoff, der letztlich zur Anfertigung des Kleides benutzt wird, nicht, dementsprechend exemplifiziert sie diese auch nicht. Zum Besitz einer Eigenschaft muss also zusätzlich die Bezugnahme auf eben diese Eigenschaft treten: „Exemplifikation ist Besitz plus Bezugnahme.“54 Dabei bestimmt die Wahl des Symbolsystems, welche spezifischen Eigenschaften exemplifiziert werden. Der Musterkatalog des Schneiders legt fest, dass es Eigenschaften wie eben die Farbe oder die Stoffqualität sind, die exemplarisch vorgeführt werden. Und die Entscheidung für ein bildliches Symbolsystem legt dementsprechend fest, dass es pikturale Eigenschaften sind, die ihre Exemplifikation erfahren sollen. Entscheidend an diesem Punkt ist, dass nur Etiketten exemplifiziert werden können, während prinzipiell alles denotiert werden kann.55 51 52 53 54 55

SdK, S. 59 SdK, S. 61 Vgl. SdK, S. 59 SdK, S. 60 Vgl. SdK, S. 63 87

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Damit unterscheidet sich die Exemplifikation von der Denotation zum einen im Bereich, wonach im allgemeinen Gegenstände und Ereignisse denotiert, Eigenschaften dagegen exemplifiziert werden, zum anderen in der Richtung, wobei, wie gesagt, bei der Denotation der Bezug vom Symbol weg, bei der Exemplifikation jedoch auf es selbst hin erfolgt. Goodman beschreibt die Exemplifikation deshalb auch als eine „Subrelation der Konversen der Denotation“.56 Da die Exemplifikation auf das Symbol verweist, rückt sie dieses selbst in den Fokus der Aufmerksamkeit und damit das, was am und durch das Symbol als relevant herausgestellt wird. Indem das Symbol auf diese Weise „einen bestimmten Aspekt an sich exponiert, indem es damit ermöglicht, diesen an einem anderen Objekt (re-identifizierend) ausfindig zu machen, [...] konstituiert es dieses Kennzeichen erst, macht es identifizierbar.“57 Damit vollzieht sich auf der Ebene der Eigenschaften mittels der Exemplifizierung eine Etikettierung, die der Etikettierung durch Denotation auf der Ebene der Gegenstände vergleichbar ist. Durch die Probe, die ihre Eigenschaft rot zu sein exemplarisch aufzeigt, wird der Stoff, für den die Probe steht, als ebenso rot etikettiert. Solange es nur um die Eigenschaft z.B. einer bestimmten Farbigkeit geht, muss das exemplifizierende Symbol dabei noch nicht einmal von der gleichen stofflichen Beschaffenheit sein wie der Gegenstand, dessen bestimmte Eigenschaft durch die Probe exemplifiziert werden soll. Die Eigenschaft rot zu sein kann auch durch ein Stück Papier exemplifiziert werden, wenn es in der gleichen Art rot gefärbt ist wie der Stoff, wenn seine farbliche Eigenschaft also auf die gleiche Art etikettiert wird wie die farbliche Eigenschaft des Stoffs. Dementsprechend kann jede Stoffmusterkollektion in ihrer Funktion, Farbproben zu geben, auch durch einen Farbkatalog ersetzt werden. Möglich wird die Exemplifikation durch jenes zentrale Moment im Symbolisierungsprozess, das Ernst Cassirer unter dem Stichwort ‚symbolische Prägnanz‘ beschrieben hat. Er verstand darunter ja jenen Akt der Formung, durch den symbolisch konzentriert prägnante Merkmale, also relevante Eigenschaften zur Anschauung gebracht werden, und zwar so, dass sie losgelöst vom konkreten, individuellen Ereignis als allgemeingültig verstanden werden und damit zur klassifizierenden Identifizierung von Gleichartigem dienen können. Erst auf diese Weise, so Cassirer, gewinnt unsere Erfahrungswelt jene Dauer und Unabhängigkeit von räumlichen und zeitlichen Kontingenzen, dass eine geistige Orientierung in ihr möglich wird. Mit seinem Konzept der Exemplifikation gelingt es Goodman, zumindest für den Bereich pikturaler Symbole exakter zu beschreiben, wie im Sinne der

56 SdK, S. 65 57 Simone Mahrenholz, Musik und Erkenntnis: eine Studie im Ausgang von Nelson Goodmans Symboltheorie. Stuttgart, Weimar 1998, S. 55 88

3. DAS FOTOGRAFISCHE ZEICHEN

symbolischen Prägnanz „ein Wahrnehmungserlebnis, als ‚sinnliches Erlebnis‘ zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen Sinn in sich befaßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Anschauung bringt.“58 Da jede Darstellung, wie erörtert, ja immer auch Darstellung-als ist, also einen Rückbezug auf die eigene Art der Darstellung aufweist, inhäriert jeder Darstellung ein exemplifikatives Moment. Der Akt der symbolischen Darstellung ließe sich nun so rekonstruieren, dass das Symbol dem Dargestellten mittels der Exemplifikation Eigenschaften, die es selbst besitzen muss, zuschreibt, mit denen es das Dargestellte klassifiziert.59 Darstellen bedeutet in diesem Sinne also, über Exemplifikation zu klassifizieren. Ein Symbol kann eine Eigenschaft nun aber nicht nur buchstäblich besitzen. Dies wird insbesondere dann relevant, wenn ein Symbol, zumal in Form eines Kunstwerks, bestimmte Gefühle auszudrücken scheint. Ein Bild etwa, das aufgrund seiner Gestaltung den Eindruck erweckt, Trauer auszudrücken, besitzt ja nicht die Eigenschaft, traurig zu sein. Buchstäblich besitzt es die Eigenschaft, die ihm aufgrund seiner Art, gestaltet zu sein, zukommt, z.B. partiell, überwiegend oder ganz in grauer Farbe gehalten zu sein. Die Eigenschaft, traurig zu sein, kommt dem Bild dagegen nur metaphorisch zu. Demnach gilt: „Was zum Ausdruck gebracht wird, wird metaphorisch exemplifiziert.“60 Was ein Symbol zum Ausdruck bringt, muss von ihm also auch als Eigenschaft besessen werden. Allerdings ist dieses Eigentum an den ausgedrückten Eigenschaften erworben. Daher handelt es sich bei ihnen, wie Goodman es sagt, um „metaphorische Importe“.61 Wie vollzieht sich nun ein solcher metaphorischer Import? Grundlage für das Funktionieren der Metapher ist die Organisation von Prädikaten in Bereichen und Schemata. Ein Prädikat verdankt seine Bedeutung dem Eingebundensein in Verweisungszusammenhänge mit anderen Prädikaten und seiner spezifischen Relation zu diesen. Ein Etikett funktioniert also nie isoliert, „sondern in seiner Zugehörigkeit zu einer Familie.“62 Das Etikett ‚rot‘ z.B. umfasst den Bereich aller als rot klassifizierten Gegenstände und ist mit anderen farbklassifizierenden Etiketten in der Sphäre der farbigen Dinge angesiedelt. Beim metaphorischen Gebrauch eines Etiketts vollzieht sich nun ein Wechsel nicht nur des ursprünglichen Verwendungsbereichs, sondern darüber

58 59 60 61 62

PsF III, S. 235 Vgl. Mahrenholz, a.a.O., S. 59 SdK, S. 88 SdK, S. 89 SdK, S.76 89

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hinaus auch der gesamten Sphäre.63 Das Prädikat ‚rot‘ findet also dann eine metaphorische Verwendung, wenn es gänzlich außerhalb der Sphäre der farbigen Gegenstände zur Anwendung kommt, etwa zur Bezeichnung der politischen Gesinnung, und so „zur Sortierung und Organisierung einer fremden Sphäre“64 dient. Bei der Metapher handelt es sich also um eine „kalkulierte Kategorienverwechslung“, die eine „Neuorientierung eines ganzen Netzwerkes von Etiketten“65 zu bewirken vermag. Der von Goodman so genannte metaphorische Import von ausgerückten Eigenschaften vollzieht sich also als Transfer aus einer ursprünglich fremden Bedeutungssphäre. Damit die so erworbenen Eigenschaften aber ausgedrückt werden, muss das etwa bildhafte Symbol, entsprechend zur buchstäblichen Exemplifikation, auf diese Bezug nehmen: „Von den zahllosen Eigenschaften, die ein Bild besitzt – die meisten von ihnen werden gewöhnlich ignoriert –, bringt es nur diejenigen metaphorischen Eigenschaften zum Ausdruck, auf die es Bezug nimmt.“66 Diese Konzeption ermöglicht es Goodman, eine ganze Reihe von fragwürdigen Erklärungen des symbolischen Ausdrucks z.B. durch Bilder zu vermeiden, etwa dass die ausgedrückten Emotionen die des Künstlers bzw. die sind, die im Betrachter evoziert werden sollen.67 Da ein Bild das, was es ausdrückt, metaphorisch exemplifiziert, also an sich zeigt, bleibt das Ausgedrückte Bestandteil des bildlichen Symbols und damit einzig abhängig von dessen pikturalen Eigenschaften. Damit stellt sich nun die Frage, welches diese spezifischen Eigenschaften sind, die ein bildliches Symbol auszeichnen und infolgedessen von anderen Symbolisierungsformen, etwa sprachlichen, unterscheiden. Die Art der Bezugnahme kann eine solche Differenzierung nicht leisten. Gegenständliche Bilder repräsentieren, stellen also denotativ konkrete Objekte (ob fiktiv oder nicht) dar. Insofern unterscheiden sie sich nicht von sprachlichen Beschreibungen, die ebenfalls als Formen der Denotation gelten können. Ungegenständliche Bilder exemplifizieren und verweisen damit ausschließlich auf eigene Eigenschaften wie ihre Farbigkeit oder Struktur und bringen zudem metaphorisch besessene Eigenschaften zum Ausdruck. Darin wiederum ähneln abstrakte oder informelle Gemälde der Musik. Was bildliche von sprachlichen oder musikalischen Symbolsystemen unterscheidet, scheint also einzig in ihnen selbst, in ihren syntaktischen und semantischen Strukturen begründet zu sein. 63 64 65 66 67 90

Vgl. SdK, S. 76 SdK, S. 76 SdK, S. 77 SdK, S. 91 Vgl. SdK, S. 55

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3.4.3 Die syntaktische und semantische Struktur von Symbolsystemen Ein Symbolsystem besteht für Goodman „aus einem Symbolschema, das mit einem Bezugnahmegebiet korreliert wird.“68 Das Symbolschema umfasst dabei die konkret auftretenden Symbole, die in einem syntaktisch strukturierten Verhältnis zueinander stehen; die Korrelation dieses Schemas mit einem Gebiet der Bezugnahme unterliegt dagegen einer semantischen Strukturierung. Ein Symbolschema besteht aus Charakteren, d.h. aus Klassen von Äußerungen oder – wie Goodman sie auch nennt – Marken. Diese stellen wiederum konkret geäußerte und daher sinnlich wahrnehmbare Einzelfälle dieser Charaktere dar. So gehören z.B. alle auf dieser Seite gedruckten ‚e‘ als Marken dem Charakter des fünften Buchstabens des lateinischen Alphabets an und sind insofern allesamt Einzelfälle dieses Charakters. Goodmans Unterscheidung von Charakteren und Marken ähnelt damit im Wesentlichen der in der Linguistik gebräuchlichen und ursprünglich auf Hjelmslev zurückgehenden Unterscheidung von ‚type‘ und ‚token‘, d.h. von Zeichentyp oder -klasse und Vorkommen eines diesem Typ angehörenden Zeichens. Infolgedessen sind auch alle hier gedruckten ‚e‘ als Vorkommen (tokens/Marken) eines Typs (type/Charakter) „‚echte Kopien‘ oder Replikas voneinander“69 und daher beliebig untereinander austauschbar. Die Syntax eines Symbolsystems bestimmt nun, welchem Charakter eine bestimmte Zeichenäußerung zuzuordnen ist und welche Zeichenäußerungen infolgedessen als echte Kopien voneinander gelten können, weil sie allesamt einem Charakter zuzuordnen sind.70 Gehört in einem Symbolschema keine Marke, also keine konkrete Einzeläußerung eines Symbols mehr als einem Charakter an, verhalten sich diese Marken charakter-indifferent; die Charaktere sind dann disjunkt.71 Die Disjunktivität der Charaktere ist für Goodman ein notwendiges Merkmal von Notationen, wie es das Alphabet eine ist,72 da erst disjunkte Charaktere es erlauben, konkrete Marken eindeutig einem Charakter zuzuordnen, d.h. letztlich alle ‚e‘ zweifelsfrei als Vorkommen des Buchstabens e zu identifizieren. Charaktere sind zusätzlich endlich differenziert oder artikuliert, wenn sie die folgende Forderung erfüllen: „Für jede zwei Charaktere K und K´ und jede Marke m, die nicht tatsächlich zu beiden gehört, ist die Bestimmung, daß entweder m nicht zu K oder m nicht zu K´ gehört, theoretisch möglich.“73 68 69 70 71 72 73

SdK, S. 139 SdK, S. 129 Vgl. SdK, S. 129 Vgl. SdK, S. 129 f. Vgl. SdK, S. 130 SdK, S. 132 91

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Endlich differenzierte Charaktere besitzen demnach exakt festgelegte und damit deutlich voneinander unterschiedene Intervallgrenzen, die es (zumindest theoretisch) ermöglichen, eindeutig zu entscheiden, welchem von zwei Charakteren eine Marke zugehört. Als Beispiel nennt Goodman das Schema der arabischen Bruchnotation (a/b). Obwohl es unendlich viele Charaktere aufweist, da a und b Elemente der Mengen der ganzen (a) bzw. der natürlichen Zahlen (b) sind und beide Mengen unendlich viele Elemente enthalten, sind doch die Charaktere selbst hinreichend voneinander abgegrenzt, so dass es stets möglich ist, eine Marke (z.B. 11/12372) exakt dem Charakter zuzuordnen, von dem sie ein konkretes Vorkommen ist. Das Postulat der endlichen Differenziertheit fordert damit, „daß die zur Identifizierung relevanten Unterschiede zwischen den Marken nicht fließend sein dürfen.“74 Weist ein Schema dagegen unendlich viele Charaktere auf, „die so geordnet sind, daß es zwischen jeweils zweien immer ein drittes gibt“, so dass nicht mehr entschieden werden kann, „ob eine Marke nur zu einem oder nicht vielmehr zu vielen anderen Charakteren gehört“,75 verletzt es also an jeder Stelle die Forderung der endlichen Differenziertheit, so ist es syntaktisch dicht. In syntaktisch dichten Schemata verlieren die Charaktere ihre sie unterscheidenden Grenzen und es kann nicht mehr entschieden werden, „ob eine Marke nur zu einem oder nicht vielmehr zu vielen anderen Charakteren gehört.“76 Wird ein Symbolschema nun mit einem Bereich der Bezugnahme korreliert, wird das Schema zum Symbolsystem. Die Zeichen werden dann auf Gegenstände klassifikatorisch angewendet. Die Funktion der Charaktere als Klassifikatoren wird dabei durch die semantische Struktur des Symbolsystems bestimmt. Analog zu ihren syntaktischen Pendants bestimmt Goodman die semantische Disjunktivität als das Erfordernis, „daß keine zwei Charaktere irgendeinen Erfüllungsgegenstand gemeinsam haben dürfen.“77 Entsprechend definiert er die semantische endliche Differenzierung: „[...] für jeweils zwei Charaktere K und K´, deren Erfüllungsklassen nicht identisch sein dürfen, und jedes Objekt h, das nicht beide erfüllt, muß die Festlegung, daß h K nicht erfüllt oder daß h K´ nicht erfüllt, theoretisch möglich sein.“78 Verletzt ein Symbolsystem die letzte Forderung, enthält es ambige oder mehrdeutige Charaktere. Deren Marken besitzen dann trotz klarer syntaktischer Zuordnung zu einem Charakter verschiedene Erfüllungsgegenstände. 74 75 76 77 78 92

Mahrenholz, a.a.O., S. 30 SdK, S. 133 SdK, S. 133 SdK, S. 147 SdK, S. 148

3. DAS FOTOGRAFISCHE ZEICHEN

Ein Symbolsystem, das solche mehrdeutige Charaktere aufweist, nennt Goodman semantisch dicht. Als Beispiel für ein solches semantisch dichtes System führt Goodman das System an, das einerseits aus dem Schema von Bruchzahlen und andererseits aus den Gewichten in Bruchteilen einer Gewichtseinheit besteht, die die Erfüllungsgegenstände dieses Schemas darstellen. Das Schema der Bruchzahlennotation ist, wie oben bereits erwähnt wurde, syntaktisch disjunkt und zudem endlich differenziert. Die eindeutige Zuordnung der Erfüllungsgegenstände zu den Charakteren des Schemas kann aber nicht gelingen, da „für den signifikanten Gewichtsunterschied keine Grenze gesetzt ist“; für jeden Gewichtsgegenstand wird es also stets „viele Charaktere geben derart, daß nicht einmal die feinste Messung bestätigen kann, daß ein Objekt sie nicht alle erfüllt.“79 Mit dieser Differenzierung der syntaktischen Struktur von Symbolschemata und der semantischen von Symbolsystemen verfügt Goodman nun über ein hervorragendes Mittel zur Bestimmung analoger und digitaler Symbolsysteme. Die Unterscheidung zwischen analog und digital stammt ursprünglich aus der Informationsverarbeitungstechnologie und bezeichnet verschiedene Arten der Darstellung und Verarbeitung von Informationen. Die analoge Technik verwendet dabei kontinuierlich veränderbare Größen wie Längen, Spannungen, Stromstärken und dergleichen, die digitale einen vereinbarten Satz diskreter Zeichen, die der darzustellenden Information durch einen Code zugeordnet sind. Die häufigste Sonderform der digitalen Informationsdarstellung ist dabei wohl die durch binäre Zeichenpaare oder Bits. Goodman überträgt nun diese informationstechnologische Differenzierung generell auf alle Formen von Symbolschemata und -systemen. Demnach ist ein syntaktisch dichtes Schema sowie ein syntaktisch und semantisch dichtes System, also ein System, das sowohl in syntaktischer wie auch semantischer Hinsicht in extremer Weise undifferenziert ist, analog.80 Ein digitales Schema ist dagegen syntaktisch diskontinuierlich, ein digitales System zudem syntaktisch und semantisch durchgängig differenziert.81 Digitale Systeme erfüllen dabei jene Bedingungen, die Goodman an ein Notationssystem stellt: syntaktische und semantische Disjunktivität und endliche Differenziertheit sowie Eindeutigkeit. Ihnen kommen daher auch deren Vorzüge zu, nämlich „Bestimmtheit und Wiederholbarkeit des Ablesens.“82 Wozu Notationssysteme tauglich sind, illustriert Goodman am Beispiel der westlichen Standard-Musiknotation. Jede mit dieser verfasste Partitur ist 79 80 81 82

SdK, S. 148 Vgl. SdK, S. 154 Vgl. SdK, S, 154 f. SdK, S. 155 93

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aufgrund ihrer eindeutigen Festlegungen von relevanten Merkmalen für die Identität von Aufführungen in der Lage, ein musikalisches Werk zu definieren, d.h. Aufführungen, die zu einem Werk gehören, von denen abzugrenzen, die nicht dazugehören.83 Mit seiner Theorie der Notation vermag Goodman nun Symbolschemata und -systeme knapp aufgrund ihrer syntaktischen und semantischen Struktureigenschaften zu charakterisieren: Schemata, die die Bedingungen der syntaktischen Disjunktivität und Differenziertheit erfüllen, sind notationale Schemata; erfüllt das entsprechende System zudem die Bedingungen der semantischen Disjunktivität und Differenziertheit, handelt es sich um ein Notationssystem. Die Unterscheidung von notationalen bzw. nicht-notationalen Schemata und Systemen ermöglicht es Goodman zudem, verschiedene Symbolisierungsweisen voneinander abzugrenzen und dabei auch – was im Zusammenhang der Untersuchung von Bildern am meisten interessiert – zu einer exakteren Fassung der Eigenarten bildlicher Symbolisierungsformen zu kommen. So lässt sich wie bereits gesagt die Partitur als Notationssystem bezeichnen, die diskursiven, natürlichen Sprachen jedoch lediglich als notationale Schemata. Sie erfüllen zwar die syntaktischen Anforderungen der Disjunktivität und Differenziertheit, aufgrund ihrer Ambiguitäten und Mehrdeutigkeiten jedoch nicht die entsprechenden semantischen.84 Nichtsprachliche Systeme, zu denen Goodman vor allem bildliche zählt, unterscheiden sich von sprachlichen nun aufgrund der fehlenden Differenzierung, d.h. aufgrund der Dichte des Systems.85 Repräsentationale, also bildliche Symbolsysteme teilen mit den natürlichen Sprachen das Fehlen von semantischer Disjunktivität und Differenziertheit. Der Unterschied zwischen beiden ist demnach einzig eine Frage der syntaktischen Struktur: Sprachliche Zeichen sind semantisch dicht, syntaktisch jedoch disjunkt und differenziert; Bilder sind dagegen sowohl syntaktisch wie auch semantisch dicht. Die Frage der Bezugnahme spielt dabei keine Rolle: „Ein System ist nur insofern repräsentational, als es dicht ist; und ein Symbol ist nur dann eine Repräsentation, wenn es zu einem durchgängig dichten System gehört oder zu einem dichten Teil eines teilweise dichten Systems. Ein solches Symbol kann eine Repräsentation sein, selbst wenn es überhaupt nichts denotiert.“86

83 Vgl. SdK, S. 126 84 In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass die Charakterisierung eines Symbolsystems als notational bzw. nicht-notational keine Aussage über den Wert oder Dignität des entsprechenden Symbolsystems macht. Ähnlich wie Cassirer betrachtet Goodman die verschiedenen Symbolsysteme als zwar unterschiedliche, aber gleichwertige Weisen der Klassifikation an. 85 Vgl. SdK, S. 210 86 SdK, S. 210 94

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In Sinne der erläuterten Unterscheidung von analogen und digitalen Systemen sind Bilder also als Symbole eines analogen Systems aufzufassen. So gut die Abgrenzung pikturaler Symbolsysteme von Notations- und sprachlichen Systemen unter Rückgriff auf ihre jeweilige syntaktische und semantische Struktur auch gelingen mag, so eröffnet sie doch ein neues Problem: das der Binnendifferenzierung pikturaler Systeme nämlich. Goodman erläutert dieses Problem mit Hilfe des folgenden Beispiels: „Vergleichen wir den Ausschnitt eines Elektrokardiogramms mit einer Zeichnung des Fudschijama von Hokusai. Die schwarzen Schlangenlinien auf weißem Hintergrund können in beiden Fällen exakt dieselben sein. Und doch ist das eine ein Diagramm und das andere ein Bild. Worin liegt der Unterschied?“87

Goodman greift dabei in Grundzügen ein Beispiel auf, das Ernst Cassirer bereits einführte, um zu erläutern, dass gleiche sinnliche Erlebnisse durchaus Träger eines unterschiedlichen Sinnes sein können, dass Symbole trotz gleicher Empfindungsdaten sich in ihrer Modalität unterscheiden und deshalb verschiedene Bedeutungen vermitteln können. So kann ein Linienzug entweder eine Zeichnung oder eine geometrische Figur darstellen; als was er schließlich verstanden wird, entscheidet lediglich die Sicht auf ihn: „Indem wir uns in die zeichnerische Gestaltung versenken, und sie für uns aufbauen, spricht uns in ihr zugleich ein eigener physiognomischer ‚Charakter‘ an. In der rein räumlichen Bestimmtheit prägt sich eine eigentümliche ‚Stimmung‘ aus: das Auf und Ab der Linien im Raume faßt eine innere Bewegtheit, ein dynamisches Anschwellen und Abschwellen, ein seelisches Sein und seelisches Leben in sich. Und hierbei fühlen wir nicht nur unsere eigenen inneren Zustände in subjektivwillkürlicher Weise in die räumliche Form hinein: sondern sie selbst gibt sich uns als beseelte Ganzheit, als selbständige Lebensäußerung. Ihr stetes und ruhiges Dahingleiten oder ihr unvermitteltes Abbrechen, ihre Rundung und Geschlossenheit oder ihre Sprunghaftigkeit, ihre Härte oder Weichheit: das alles tritt an ihr selbst, als Bestimmung ihres eigenen Seins, ihrer objektiven ‚Natur‘, heraus. Aber all dies tritt nun alsbald zurück und erscheint wie vernichtet und ausgelöscht, sobald wir den Linienzug in einem anderen ‚Sinne‘ nehmen – sobald wir ihn als mathematische Gebilde, als geometrische Figur verstehen. Es wird nunmehr zum bloßen Schema, zum Darstellungsmittel für eine allgemeine geometrische Gesetzmäßigkeit. Was nicht der Darstellung dieser Gesetzlichkeit dient, was bloß als individuelles Moment in ihm mitgegeben ist, das sinkt jetzt mit einem Schlage zur völligen Bedeutungslosigkeit herab – es ist wie aus dem geistigen Blickfeld geschwunden. Nicht nur die Farben und Helligkeitswerte, sondern auch die absoluten Größen, die in der Zeich-

87 SdK, S. 212 95

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nung auftreten, werden von dieser Vernichtung betroffen: sie sind für den Linienzug als geometrische Gebilde schlechthin irrelevant.“88

Cassirer hat damit auch schon den Ansatz vorgezeichnet, der zur Lösung von Goodmans Problem der Unterscheidung unterschiedlicher pikturaler, d.h. gleichermaßen dichter Symbole herangezogen werden kann. Offensichtlich liegt der Unterschied darin, was an einem Symbol als relevant angesehen wird. Bei einer Zeichnung sind dies wesentlich mehr Aspekte als bei einem Diagramm. So stellt Goodman denn auch fest, dass an einem Diagramm einzig die Ordinate und die Abszisse von jedem der Punkte, durch die die Linie verläuft, interessiert, während etwa die Dicke der Linie, ihre Farbe und Intensität oder etwa die Größe des Diagramms keine Rolle spielen.89 Bei der Zeichnung dagegen besitzen alle diese syntaktischen Merkmale eine bedeutende Relevanz. Obwohl sich also „die pikturalen und diagrammatischen Schemata darin gleichen, daß sie nicht artikuliert sind, werden einige Merkmale, die in dem pikturalen Schema konstitutiv sind, in dem diagrammatischen als kontingent fallengelassen; die Symbole in dem pikturalen Schema sind relativ voll.“90 Mit dem Konzept der relativen Fülle eines Symbolschemas hat Goodman eine Möglichkeit gefunden, eine wenn auch nur relative Unterscheidung verschiedener Formen repräsentationaler Symbole vorzunehmen. Da die Fülle sich nach der Anzahl der Züge oder Merkmale richtet, „welche das Schema insgesamt als konstitutive Eigenschaft behandelt“,91 ist ein dichtes Schema dann „diagrammatischer als ein zweites, wenn die charakter-konstitutiven Aspekte des ersten eigentlich in den charakter-konstitutiven Aspekten des zweiten enthalten sind“.92 So ist es prinzipiell möglich, den Bereich des Repräsentationalen gemäß zunehmender Fülle in einer Reihe vom Diagramm bis hin zur Malerei zu sortieren. Nicht zuletzt lässt sich aber nun auf der Grundlage der aus Goodmans Symboltheorie gewonnenen Terminologie eine relativ exakte Bestimmung dessen liefern, was die Besonderheiten des fotografischen Symbols ausmacht.

88 89 90 91 92 96

PsF III, S. 232 f. Vgl. SdK, S. 212 SdK, S. 213 Scholz, a.a.O., S. 105 SdK, S. 213

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3.5 Das fotografische Zeichen – Versuch einer s ym b o l t h e o r e t i s c h e n B e s t i m m u n g Eine Fotografie ist ein technisches, d.h. „ein von Apparaten erzeugtes Bild“.93 Damit unterliegt sie den Bestimmungen des apparativen Programms, mit dem sie erzeugt wird. Dieses Programm ist – wie im 2. Kapitel dargelegt wurde – nicht daraufhin angelegt, eine außerhalb des technischen Apparats gelegene Wirklichkeit möglichst getreu wiederzugeben. Es intendiert vielmehr die präzise, d.h. exakt wiederholbare Herstellung von Bildern gemäß einer bestimmten Abbildungstheorie, der der Zentralperspektive nämlich. Die Kamera lässt sich so gesehen als technologische Externalisierung einer bestimmten, historisch gewordenen Art und Weise verstehen, die Welt in den Blick zu nehmen. Die mechanische Gleichförmigkeit, mit der die Kamera aus dem Kontinuum des sinnlich Wahrnehmbaren Einheiten herauslöst, fixiert und zentriert, hat ihre Art der symbolischen Prägung zu einer stereotypen Form der bildhaften Wahrnehmung der Welt werden lassen. Dies – und nicht die Übereinstimmung des aus diesem technischen Abbildungsprozess hervorgehenden Bildes mit dem in ihm Abgebildeten – erzeugt den Eindruck, dass es sich bei Fotografien um realistische Abbildungen handelt. Als Bilder sind Fotografien dabei wie Bilder allgemein zunächst nichts anderes als dreidimensionale Gegenstände, „deren zweidimensionale Oberflächen durch einfarbige oder vielfarbige Eintragungen gestaltet sind.“94 Durch ihre Gestaltung werden die Oberflächen der Bildgegenstände zu bedeutenden Flächen, d.h. zu Flächen, die auf etwas, was sie selbst nicht sind, deuten und dieses dadurch bezeichnen. Fotografien sind also Zeichen bzw. Symbole im Sinne Cassirers und Goodmans, nämlich materielle und daher sinnlich wahrnehmbare Gegebenheiten, die einen nicht-sinnlichen Sinn, eine Bedeutung zur Anschauung bringen. Ihre Materialität, so grundlegend sie für die Erfüllung dieser Funktion auch sein mag, wird beim Akt der Bildbetrachtung daher auch auf diese Bedeutung hin transparent, das Bild infolgedessen einer ikonischen Negation unterzogen, d.h. in seiner materiellen Gegebenheit nicht bewusst wahrgenommen. Dabei muss ernüchternd festgestellt werden, dass die Entstehung eines Bedeutungsbewusstseins, wie es sich bei der Betrachtung eines Bildes vollzieht, trotz der vielfältigen Verstehensbemühungen, die in den zurückliegenden Kapiteln nur ansatzweise zusammengefasst werden konnten, wohl nach wie vor als ein „ungelöstes psychologisches Rätsel“95 eingestuft werden muss. Gleichwohl, soviel dürfte deutlich geworden sein, haben diese 93 Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie. Göttingen 1997, S. 13 94 Christel Fricke, Zeichenprozeß und ästhetische Erfahrung. München 2001, S. 143 95 Ernst H. Gombrich, Bild und Auge. Neue Studien zur Psychologie der bildlichen Darstellung. Stuttgart 1984, S. 224 97

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Bemühungen zumindest dazu geführt, dass der rätselhafte Vorgang des Verstehens von Bilden genauer beschrieben und differenziert worden ist. Demnach ist klar: Als bedeutende Zeichen nehmen Fotografien Bezug auf etwas. Stehen sie stellvertretend für das, was sie piktural repräsentieren, dann denotieren sie das von ihnen Abgebildete. Verweisen sie dagegen auf eigene Eigenschaften, exemplifizieren sie oder bringen, sofern die Exemplifikation metaphorische erfolgt, etwas zum Ausdruck. Von diesen Arten der Bezugnahme dominiert in der Fotografie, d.h. in der Summe aller nach dem fotografischen Verfahren hergestellten Bilder, die Denotation, was aber – wie noch zu zeigen sein wird – die Möglichkeit der Bezugnahme durch Exemplifikation und Ausdruck nicht von vorneherein ausschließt. Fotografien können singulär oder multipel denotierend darstellen, d.h. entweder explizit auf das einzelne dargestellte Objekt oder auf die Objektklasse, für die der abgebildete Gegenstand repräsentativ steht, Bezug nehmen. Sie können sogar, was zunächst überraschen mag, Repräsentationen mit Nulldenotation sein, d.h. lediglich Fiktives repräsentieren. Ein Bühnenfoto zum Beispiel, das Gustaf Gründgens in seiner berühmten Mephistomaske zeigt, fungiert ja nicht als Bild des Schauspielers Gustaf Gründgens, sondern eben als Repräsentation der Figur des Mephistopheles, mithin einer fiktiven Person. Das bedeutet aber: Die „Denotate können, müssen aber nicht in einem physikalischen Sinne an der Entstehung des Bildträger beteiligt sein“96 – was ein weiteres Mal die Unangemessenheit der Bestimmung von Fotografien als Indizes, also als physikalisch-kausal erzeugte Bilder erweist. Dass Fotografien etwas singulär oder multipel denotierend oder sogar als Nulldenotationen darstellen können, beweist, dass die bildhafte Repräsentation in Form einer Fotografie stets eine Klassifikation der dargestellten Objekte bedeutet. Gegenstände werden auch in der Fotografie nie so abgebildet, wie sie an und für sich sind, sondern immer als etwas Bestimmtes repräsentiert und damit durch den Akt der fotografischen Aufnahme zugleich als etwas Bestimmtes etikettiert. Das technische Verfahren der Fotografie bringt es mit seiner mechanischen Wiederholbarkeit dabei mit sich, dass potentiell immer wieder die gleichen Klassifikationsetiketten etabliert werden, unter die das Abgebildete dann klassifiziert wird. Fotografische Klassifikation, und um nichts anderes handelt es sich letztlich bei der bildlichen Repräsentation durch Fotografien, verläuft also, wie oben bereits gesagt, bedingt durch das apparative Programm des Bildherstellungsprozesses extrem stereotyp, was – so kann nun ergänzt werden – die Entschlüsselung der in der Fotografie vermittelten Information besonders leicht macht und so den Eindruck des Realistischen vermittelt. Realismus ist damit kein Maß der Übereinstimmung der Ab96 Lambert Wiesing, Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt/M. 2005 , S. 65 98

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bildung mit der abgebildeten Wirklichkeit, sondern ein Maß für die Vertrautheit des Betrachters mit der Art der durch die Abbildung geleisteten Klassifikation des Abgebildeten. Der Realismus einer Abbildung erweist sich damit ausschließlich intermedial, d.h. im Zuge des Vergleichs eines medialen Produkts (hier einer Fotografie) mit den Produkten anderer medialer Symbolsysteme (z.B. der Malerei), nicht durch den Vergleich eines Symbols mit der in diesem repräsentierten außermedialen Wirklichkeit. Als repräsentationale Symbole besitzen Fotografien eine syntaktische wie auch semantische Struktur, durch die sie als Symbolschema und -system bestimmt werden. Demnach finden sich in ihnen pikturale Marken wie Punkte, Linien in horizontaler, vertikaler oder diagonaler Ausrichtung und Flächen unterschiedlicher Tonwerte, die als konkrete Äußerungen von Klassen pikturaler oder – wie im Falle der Schwarz-Weiß-Fotografie in erster Linie – graphischer Charaktere wahrgenommen werden. Die Marken sind dabei nicht charakter-indifferent. Unterschiedlich lange vertikale Geraden, als welche z.B. Telegrafenmasten in einem Landschaftsfoto abgebildet werden, wenn sie ein in den Raum hinein gestaffeltes Ensemble bilden, in exakt voneinander abgegrenzte Charaktere einzuordnen, wird niemals gelingen, weil es zwischen zwei Charakteren (d.h. hier: zwischen Klassen von vertikalen Geraden einer bestimmten Länge) theoretisch unendlich viele Charaktere gibt. Für eine Marke kann also nie ausgesagt werden, dass sie zu einem bestimmten Charakter und nicht zu einem oder gar mehreren anderen gehört. Gleiches gilt auch für die Dicke der die Masten repräsentierenden Geraden, die in nichtdifferenter Weise mit zunehmender Raumtiefe abnimmt, und für alle anderen denkbaren Formen von graphischen Elementen wie Neigungswinkel von Geraden, Größe von Flächen oder Helligkeitswerte aller dieser genannten Marken. Die graphischen Charaktere einer Fotografie verletzen also die Forderung der endlichen Differenziertheit und sind damit syntaktisch dicht. Gleiches gilt in semantischer Hinsicht (eine vertikale Gerade muss nicht immer einen Telegrafenmast als Erfüllungsgegenstand besitzen, ist also mehrdeutig), was Fotografien, wie gezeigt wurde, mit allen anderen Formen pikturaler Symbolisierung teilen. Als weder syntaktisch noch semantisch disjunkte und differenzierte Symbole stellen Fotografien Elemente eines analogen Symbolsystems dar. Insofern unterscheiden sie sich von sprachlichen Systemen, die zwar auf der semantischen Ebene ebenfalls nicht die Eigenschaft der Disjunktivität und Differenziertheit besitzen, wohl aber auf der syntaktischen Ebene und damit ein notationales Schema ausbilden. Von anderen repräsentationalen, also bildhaften Symbolschemata unterscheidet sich die Fotografie wiederum durch ihr spezifisches Maß an syntaktischer Fülle. Dieses richtet sich ja nach der Anzahl der für die Abbildung rele99

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

vanten Züge. Für ein ausgesprochen diagrammatisches Schema wie einen mathematischen oder physikalischen Funktionsgrafen ist das Ausmaß an Fülle relativ gering. In der Regel beschränkt er sich auf das Koordinatensystem, die Angaben an dessen Achsen und den reinen Kurvenverlauf. Eine ganze Reihe weiterer pikturaler Merkmale wie Linienstärke oder -farbe oder auch die absolute Größe des Grafen spielen für seine Bedeutung keine Rolle. In weniger diagrammatischen Schemata wie Fotografien ist die Zahl bedeutender Merkmale bereits erheblich größer. Die Stärke von Linien oder die Abstufung von Tonwerten bestimmt die Bildwirkung einer Schwarz-Weiß-Fotografie und damit ihre Bedeutung maßgeblich. Die Vielzahl aufwendiger Dunkelkammerverfahren, die seit dem Piktorialismus entwickelt wurden,97 hatten ja gerade zum Ziel, alle diese Faktoren gezielt und in feinsten Nuancen zu beeinflussen, um eine gewünschte Bildwirkung erzielen zu können. Die syntaktische Fülle der Malerei ist im Vergleich zumindest zur Schwarz-Weiß-Fotografie noch einmal erheblich größer, treten hier doch schließlich die Farben in ihrer ganzen Palette unterschiedlichster Tönungen und Intensitäten als pikturale Merkmale hinzu. Im Gegensatz dazu begründet die Tatsache, dass Gemälde einmalig, Fotografien aber in einer Vielzahl von technisch reproduzierten Abzügen vorkommen können, für Goodman keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Malerei und Fotografie. Dies überrascht, zumal vor dem Hintergrund der Äußerungen Walter Benjamins, für den das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit bekanntlich seiner Aura, d.h. der Einmaligkeit seines Hier und Jetzt verlustig geht, weshalb für ihn folgerichtig in „der Photographie [...] der Ausstellungswert den Kultwert auf der ganzen Linie zurückzudrängen“98 beginnt. Tatsächlich scheint aber für Goodman ein anderer Unterschied relevanter zu sein: der zwischen autographischen und allographischen Werken.99 Allographisch sind dabei solche Werke (und auch die Kunstformen, denen sie entstammen), für die es ein Notationskriterium gibt, das es, wie bei literarischen Kunstwerken, zu beurteilen erlaubt, ob eine beliebige weitere Äußerung (etwa der 1000. Abdruck eines Gedichts oder dessen wiederholter Vortrag im Rahmen einer Dichterlesung) als neuer Einzelfall dieses Werks gelten kann oder nicht. Im Gegensatz dazu sind Kunstwerke autographisch, wenn „der Unterschied zwischen dem Original und einer Fälschung von ihm bedeutsam ist; oder, besser, dann und nur dann, wenn selbst das exakteste Duplikat dadurch nicht als echt gilt.“100

97 Vgl. Kap. 2, Fußnote 33 98 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt/Main 1994, S. 21 99 Vgl. SdK, S. 113 100 SdK, S. 113 100

3. DAS FOTOGRAFISCHE ZEICHEN

Fotografien gehören nun zwar „zu einem multiplen Symbolsystem, dessen Bilder mehrfach vorhanden sein können.“101 Da die Relation zwischen den Abzügen aber darin besteht, „daß sie vom selben Negativ hergestellt werden“,102 stellen sie nichtsdestotrotz Symbole eines autographischen Symbolsystems dar und unterscheiden sich insofern nicht von Gemälden, ungeachtet dessen, dass diese unzweifelhaft singulär vorkommen. Tatsächlich entscheidet einzig das Vorhandensein eines Notationskriteriums darüber, ob ein Symbol auto- oder allographisch ist, nicht sein singuläres oder multiples Auftreten. Für das Symbolsystem der Fotografie existiert aufgrund seiner syntaktischen und semantischen Dichte ein solches Notationssystem jedoch nicht.103 Als Symbole, d.h. als klassifizierende Zeichen sind Fotografien maßgeblich an der Erzeugung unserer Erfahrungswelt beteiligt. Denn dies ist ja die grundlegende Einsicht der Symboltheorien, wie sie u.a. von Cassirer und Goodman formuliert worden sind: dass die Welt, in der wir leben, sich in ihrer geordneten Vielfalt der „schöpferische(n) Kraft des Verstehens“, der „Verschiedenartigkeit“ und der „schöpferische(n) Kraft von Symbolen“104 verdankt. Demnach besteht die Gesamtheit der Welt, in der wir uns seiend wähnen, aus der Summe aller Beschreibungsweisen, mit denen wir sie uns begreiflich zu machen versuchen. Welt lässt sich also nicht entdecken, sondern nur erzeugen, und zwar dadurch, dass wir auf eine bestimmte Art und Weise auf sie blicken. Was wir von der Welt erfassen, wenn wir sie zu erfahren meinen, ist nicht diese selbst in ihrer Unmittelbarkeit, sondern immer nur, wie sie sich einem spezifischen Blick auf sie darstellt. Die Welt, in der wir leben, ist nichts anderes als die Summe der Versionen, die wir von ihr mit Hilfe unterschiedlicher Symbolsysteme entwerfen: „keine Welt ohne Wörter oder andere Symbole.“105 Dabei beginnt, das hat Cassirer deutlich gemacht, die Welterzeugung bereits mit der einfachen, scheinbar unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung. Schon in ihr vollziehen sich mit der Fixierung und Zentrierung grundlegende Gestaltungsprozesse, durch die das Wahrgenommene in der Form, in der es wahrgenommen wird, zuallererst konstruiert wird. Da insofern sich bereits 101 Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung (WdW). Frankfurt/Main 1990, S. 66 102 WdW, S. 67 103 Insofern ist der Aufwand, den viele Fotografen mit künstlerischem Anspruch heute noch beim Vergrößern und Entwickeln ihrer Bilder in der Dunkelkammer betreiben, unnötig, wenn es ihnen nicht nur darum geht, Unikate zu erstellen, also bewusst die technische Vervielfältigung aus dem apparativen Programm der Fotografie zu tilgen, sondern darüber hinaus auch den autographischen Charakter der Fotografien zu sichern, weil sie – mit Benjamin – denken, dieser gehöre notwendig zu einem pikturalen Kunstwerk. 104 WdW, S. 13 105 WdW, S. 19 101

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

primäre Wahrnehmungen medial, also vermittelt und damit mittelbar vollziehen, lassen sie sich leicht an externalisierte Symbolsysteme delegieren. Daher finden sich in den Arten, mit denen durch diese Symbolsysteme Welt erzeugt wird, alle jene Prozesse, die sich bereits bei der primären Sinneswahrnehmung finden und von Goodman als Prozesse der Komposition und Dekomposition, der Tilgung und Ergänzung, der Deformation, der Gewichtung und des Ordnens beschrieben werden.106 Demnach besteht Welterzeugung oft einerseits in der „Aufteilung von Ganzem in Teile und der Unterteilung von Arten in Unterarten, der Analyse von Komplexen in charakteristische Bestandteile sowie darin, Unterscheidungen zu treffen; andererseits aus der Zusammensetzung von Ganzheiten und Arten aus Teilen, Gliedern und Unterklassen, aus der Kombination von Merkmalen zu Komplexen und dem Herstellen von Verbindungen“, und zwar „durch die Verwendung von Etiketten: Namen, Prädikaten, Gesten, Bildern usw.“107 Dabei vollzieht sich im Zuge dieser Dekomposition und Komposition immer auch „ein umfangreiches Weglassen und Auffüllen“108 wie auch Veränderungen im Sinne von „Umgestaltungen oder Deformationen, die sich je nach Gesichtspunkt entweder als Korrekturen oder als Verzerrungen betrachten lassen.“109 In jedem Fall beruht erst auf dieser etikettierenden „Einteilung in Entitäten und Arten“, durch Analyse und Synthese, Weglassen und Ergänzen sowie durch formierende Umgestaltung im Wesentlichen die Möglichkeit, überhaupt identifizierbare Objekte zu isolieren und aus diesen dann eine konsistente Erfahrungswelt aufzubauen. Bei der Identifikation von Objekten mittels der genannten Operationen kommt es zudem stets zu unterschiedlichen Akzentuierungen dessen, was etwa als charakteristischer Bestandteil einer Entität oder Objektklasse aufgefasst wird. Diese Gewichtung vollzieht sich vornehmlich innerhalb eines Symbolsystems wie z.B. der Malerei, wenn etwa gleiche Sujets ganz unterschiedlichen Gestaltungsprinzipien unterworfen werden, was sich dann als Stilgeschichte rekonstruieren lässt. Im Unterschied dazu vollzieht sich in unterschiedlichen Symbolsystemen, wie etwa der Kunst und den mathematischen Wissenschaften, eine unterschiedliche Art der Ordnung von Welt, was sich leicht anhand der Einteilung der Farbtöne gemäß eines Farbenzirkels bzw. einer linearen Skala ab- oder zunehmender Wellenlängen des Lichts erkennen lässt.

106 Vgl. WdW, I, 4 107 WdW, S. 20 108 WdW, S. 27 109 WdW, S. 30 102

3. DAS FOTOGRAFISCHE ZEICHEN

Beim Ordnen durch Symbolismen vollzieht sich also stets eine übergeordnete Organisation der durch formende Identifizierung gewonnenen Entitäten, wobei die zur Anwendung gebrachten Organisationsmodi nie „‚in der Welt vorgefunden‘, sondern in eine Welt eingebaut“ werden.110 Im eigentlichen Sinne fügen sich die Gegebenheiten erst im Rahmen dieses Prozesses des Ordnens zu einer geschlossenen und in sich zusammenhängenden Weltversion. Insofern trägt das Ordnen den wesentlichen (wenn auch nie völlig unabhängig von den anderen Symbolisierungsprozessen verlaufenden) Teil im Rahmen des medialen Prozesses der Welterzeugung bei. Das, was die Welt für uns überhaupt erst zur Welt werden lässt, ihr Geordnet-Sein nämlich, wird durch die geistige Tätigkeit des Menschen im Rahmen der verschiedenen sprachlichen, bildhaften oder akustischen Symbolsysteme erzeugt, wie sie sich im Laufe der Kulturgeschichte entwickelt haben. Dabei gilt das pluralistische Postulat, dass die vielen verschiedenen Weltversionen, wie sie in den unterschiedlichen Symbolismen – den Sprachen, den Wissenschaften oder den Künsten – vorliegen, „unabhängig voneinander von Interesse und Wichtigkeit sind, ohne daß wir dabei im mindesten zu fordern oder vorauszusetzen hätten, sie ließen sich alle auf eine einzige, grundlegende reduzieren.“111 Nachdem sich die Fotografie sowohl als Herstellungsverfahren wie auch als System von technischen Bildern als eigenständiges Symbolsystem erwiesen hat, gilt es nun im Sinne dieses Postulats im Folgenden genauer darzustellen, wie sie sich an diesem Prozess des symbolischen Erzeugens einer Ordnung der Welt im Rahmen ihrer visuellen Möglichkeiten beteiligt.

110 WdW, S. 27 111 WdW, S. 17 103

4. Die Fotografie als Medium der visuellen Ordnung der Welt

4 . 1 F o t o g r a f i e a l s k u l t u r e l l e r S ym b o l i s m u s Die Betrachtungen der letzten beiden Kapitel haben gezeigt, dass es sich bei Fotografien keineswegs um jene objektive Widerspiegelung einer außerfotografischen Wirklichkeit handeln kann, als die sie von Beginn an immer dargestellt worden sind. Schon der technische Prozess zur Herstellung fotografischer Bilder erlaubt nicht die Selbstabbildung der fotografierten Natur, von der Talbot und nach ihm viele andere geschwärmt haben. Dies aufgrund der Tatsache zu behaupten, dass der Mensch beim eigentlichen Abbildungsvorgang, d.h. beim Entstehen des latenten Bildes auf der fotografischen Trägerschicht, nicht beteiligt ist, hat sich als Ausdruck eines naiven Abbildungsrealismus erwiesen. Tatsächlich erfolgt bei der Fotografie gerade wegen ihres technischen Verfahrens die Abbildung immer nur auf der Grundlage eines apparativen Programms, durch das schon vor einem jeden Aufnahmeakt festgelegt ist, wie etwas abgebildet wird. Insofern verläuft die fotografische Abbildung stets automatisch. Aus diesem Automatismus des Abbildungsprozesses dessen Objektivität und Wirklichkeitstreue abzuleiten, bedeutet aber, einen gravierenden Fehlschluss zu begehen. Übersehen wird dabei nämlich, dass in das apparative Programm der Fotografie ja immer schon theoretische Annahmen eingeflossen sind, dass der Fotoapparat also immer schon auf der Grundlage bestimmter Theorien programmiert ist. Diese Programmierung bedingt, dass Fotografiertes nur nach Maßgabe der Planperspektive und zunächst nur in Schwarz-Weiß abgebildet wird. Selbst bei Farbfotografien erfolgt zunächst eine Schwarz-Weiß-Abbildung, durch die beim Entwickeln die Farbstoffentstehung in der fotografischen Schicht gesteuert wird. Demnach erweist sich, worauf bereits Vilém Flusser hingewiesen hat, die Farbfotografie in noch viel 105

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

höherem Maß als theoriegeleitet und infolgedessen von der dargestellten Wirklichkeit in ihrer Unmittelbarkeit entrückt als die Schwarz-WeißFotografie, obwohl gerade diese dem heutigen Betrachter ungleich realistischer erscheint.1 Dies beweist, dass das Empfinden des Realismus fotografischer Abbildungen keineswegs einen Hinweis auf deren vermeintlich tatsächliche Übereinstimmung mit der abgebildeten Realität geben. Die zentralperspektivische Abbildung, sei es in Farbe oder in Schwarz-Weiß, entspricht nicht der Realität, wie sie sich außerhalb des Apparats befinden mag. Der Fotoapparat ist letztlich gar nicht dazu programmiert, die Wirklichkeit zu wiederholen, sondern schlicht und einfach „Fotografien zu erzeugen“, und zwar nach Maßgabe der „im Programm enthaltenden Möglichkeiten.“2 Da diese aber wie gesagt immer schon durch die das Programm begründenden Theorien festgelegt sind, reproduziert die Fotografie nicht etwa die Wirklichkeit, sondern die Sicht auf sie und damit eine bestimmte Art, sie sich als Realität zu erschließen. Der Fotoapparat ist eben nicht das Fenster zur Welt, das einen unvoreingenommenen Blick auf diese erlauben und sie uns daher unvermittelt zeigen würde, sondern eine technische Einrichtung, durch die diese Welt zunächst, bevor sie uns erscheint, präpariert, also zubereitet wird, so dass sie für uns überhaupt eine fassliche Gestalt gewinnt. Im Akt des Fotografierens vollzieht sich also immer schon eine Formung des Fotografierten entsprechend dem diesen Akt steuernden Programm. Damit erweist sich aber der fotografische Prozess als ein im Wesentlichen symbolischer und der Fotoapparat infolgedessen als technische Einrichtung zur Herstellung von Symbolen. Deshalb ist auch nur eine solche Betrachtung fotografischer Bilder sinnvoll, die sie, von der „Prämisse von der Zeichenhaftigkeit der Bilder“3 im Allgemeinen ausgehend, auch im Besonderen als Symbole auffasst, d.h. als bedeutende Zeichen, die zum Bezeichneten in keinem anderen Verhältnis stehen als in dem der Verweisung und Bezugnahme. Diese symbol- oder zeichentheoretische Deutung von Bildern ist dabei nicht unwidersprochen geblieben. Zumal anthropologische und wahrnehmungstheoretische Ansätze bestehen darauf, dass es auch Bilder gibt, die keine Zeichen sind bzw. – in der Diktion der funktionalistischen Bestimmung zeichentheoretischer Bildauffassungen – nicht als Zeichen fungieren. Demnach können Bilder Zeichen sein, d.h. als Zeichen fungieren, sie müssen es aber nicht. In neuerer Zeit hat vor allem Lambert Wiesing die zeichentheoretische Prämisse der Bildbestimmung mit dem Hinweis in Frage gestellt, dass die 1 2 3

Vgl. V. Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie. Göttingen 1997, S. 40 Flusser, a.a.O., S. 24 Winfried Nöth, Zeichentheoretische Grundlagen der Bildwissenschaft. In: K. Sachs-Hombach (Hg.), Bildwissenschaft zwischen Reflexion und Anwendung. Köln 2004, S. 33

106

4. DIE FOTOGRAFIE ALS MEDIUM DER VISUELLEN ORDNUNG DER W ELT

semiotische Beziehungsfunktion zwischen materiellem Zeichen und Bezeichnetem bei Bildern keineswegs so unproblematisch herzustellen ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Fraglich scheint ihm zunächst, was unter dem Begriff ‚Bild‘ überhaupt zu verstehen ist: „Obwohl auf der einen Seite von Bildern ständig behauptet wird, daß sie sich auf etwas beziehen, daß sie etwas bedeuten und daß sie etwas symbolisieren, findet sich auf der anderen Seite keine einschlägige Diskussion der Frage, was in diesen Sätzen eigentlich die Bedeutung des Begriffs „Bild“ ist.“4

Wiesing unterscheidet, um diese Frage seinerseits einer Antwort zuzuführen, im Wesentlichen zwei Bedeutungen des Terminus ‚Bild‘, die er unter Rückgriff auf Husserl auch begrifflich voneinander abgrenzt: (1) das Bild als materielle Gegebenheit, den Bildträger, und (2) die auf dem Bildträger erkennbare Darstellung, das Bildobjekt.5 Im Großen und Ganzen findet sich damit bei Wiesing eine ähnliche Differenzierung, wie sie oben unter Heranziehen der ̗ αξ und εικ ˸ ων ̗ vorgenommen wurde. Der Fehler zeigriechischen Termini πιν chentheoretischer Bildbestimmungen besteht nun seiner Meinung nach darin, dass „geradezu selbstverständlich in den Semiotiken unterschiedlichster Tradition davon ausgegangen“ wird, „daß auch bei bildlichen Zeichen der Signifikant ein physikalisches Vorkommnis sein muß“6 und dabei übersehen wird, dass ausschließlich das Bildobjekt, also „ein immaterieller, das heißt ausschließlich sichtbarer Gegenstand“7 als Signifikant dient. Infolgedessen, so Wiesing, vermitteln semiotische Bildtheorien auch ganz falsche Vorstellungen vom Vorgang der Bildrezeption. Für Zeichentheoretiker wie etwa Goodman ist demzufolge „die Art der Bildrezeption in jedem Fall ein Lesen [...]; wenn hingegen das Bild ein Bildobjekt präsentiert, dann ist es ganz abwegig anzunehmen, daß Bilder gelesen werden, denn Bildobjekte werden nicht gelesen, sondern gesehen.“8 Dementsprechend beruht für Wiesing die sinnlich wahrnehmbare Gegebenheit des Zeichens „nicht auf einem semiotischen Vorgang, sondern auf einem Wahrnehmungsprozeß, der jeder semiotischen Verwendung voraus liegt“.9 Nun muss sich aber keineswegs jeder Zeichenrezeptionsprozess in Form eines Lesens vollziehen. Wer dies wie Wiesing behauptet, identifiziert allzu leichtfertig semiotische mit linguistischen Phänomenen und übersieht dabei,

4 5 6 7 8 9

Lambert Wiesing, Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt/M. 2005, S. 44 Vgl. Wiesing, a.a.O., S. 44 f. Wiesing, a.a.O., S. 48 Wiesing, a.a.O., S. 50 Wiesing, a.a.O., S. 34 Wiesing, a.a.O., S. 53 107

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

dass es durchaus auch nicht-linguistische Zeichenprozesse gibt, in denen sich die Formen der Bezugnahme von denen in Sprachsystemen spezifisch unterscheiden.10 Darüber hinaus scheint auch Wiesings Unterscheidung von Wahrnehmungs- und Zeichenprozessen und die Behauptung, letztere würden erstere voraussetzen, äußerst fragwürdig. Denn wir haben ja bereits bei Cassirer gesehen, dass schon der primäre Wahrnehmungsprozess sich sehr wohl als, wenn auch noch sehr rudimentärer, Symbolisierungsprozess, also letztlich als semiotischer Vorgang auffassen lässt. Tatsächlich gibt es, wie dargelegt wurde, eine ganze Reihe guter Gründe anzunehmen, dass erst der symbolischproduktive Verlauf der Wahrnehmung die Bedingung der Möglichkeit dafür bildet, dass sie überhaupt bewusst wird. Und das Besondere am symbolischen Wahrnehmen besteht demnach ja gerade darin, dass die sinnliche Anschauung zugleich eine nicht-anschauliche Bedeutung umfasst und daher das ZurAnschauung-Bringen eines eigentlich nicht-anschaulichen Sinns gerade nicht Resultat eines nachgelagerten Bedeutungszuweisungsaktes ist.11 Demnach muss Wiesings Kritik an Goodman, dass er nämlich den Bildträger und nicht das Bildobjekt als Signifikanten behandelt, an diesem und seiner an Cassirer orientierten Position vorbeigehen. Tatsächlich sieht Goodman im Bild wohl nicht entweder den Bildträger oder das Bildobjekt, sondern stets die Einheit aus beidem, d.h. eine immer schon vom Geist symbolisch durchformte sinnliche Gegebenheit.12 Die krude Trennung von Bildträger und Bildobjekt und damit einhergehend die von Bildwahrnehmung und Verwendung eines Bildes als Zeichen führt Wiesing denn auch zu der irrigen Annahme, dass die „Verwendung eines Bildes als bildliches Zeichen“ genau dann gegeben ist, „wenn das Bildobjekt dazu dient, einen Gegenstand zu identifizieren, der mit dem Bildobjekt sichtbare Ähnlichkeit besitzt.“13 Dabei hat sich ja gezeigt, dass Ähnlichkeit keine notwendige Bedingung für das Zustandekommen eines solchen Denotationsverhältnisses zwischen fotografischer Abbildung und fotografiertem Objekt ist, ja dass die Annahme einer Ähnlichkeitsbeziehung im Gegenteil sogar zu einer ganzen Reihe logischer Schwierigkeiten führt, die das, was mit ihr erklärt werden soll, die Bildlichkeit des fotografischen Bildes nämlich, eher verstellt als erhellt. Die Wurzel all dieser logischen Schwierigkeiten liegt wohl in dem prinzipiellen Missverständnis, dass überhaupt die Möglichkeit besteht, Ähnlichkeiten zwischen einer Abbildung und dem abgebildeten Gegenstand feststellen 10 Vgl. hierzu Kap. 4.2.1. 11 Vgl. PsF III, 235 12 Die Einheit aus Bildträger und Bildobjekt führt auch Wiesing an (vgl. a.a.O., S. 46), allerdings spielt sie bei seinen Erörterungen im Vergleich zum Bildobjekt keine nennenswerte Rolle. 13 Wiesing, a.a.O., S. 57 108

4. DIE FOTOGRAFIE ALS MEDIUM DER VISUELLEN ORDNUNG DER W ELT

zu können. Inwiefern es sich dabei tatsächlich um ein Missverständnis handelt, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass sich ja, wie schon mehrfach dargelegt, bereits die primäre Wahrnehmung, die vom Wahrnehmenden als unmittelbar erfahren wird, symbolisch vollzieht, uns also keineswegs einen realistischen Eindruck von der wahrnehmungsunabhängigen Wirklichkeit liefert. Wenn aber schon das ursprünglich Wahrgenommene uns immer nur als Symbolisches, also als geistig Geformtes zugänglich wird oder anderenfalls eben unzugänglich bleibt, kann der Vergleich, der einer jeden Feststellung von Ähnlichkeit zu Grunde liegen muss, sich immer nur im Feld des Symbolischen bewegen, ohne jemals dessen Grenzen in Richtung auf die Gegenstände, wie sie vermeintlich unabhängig von jeglicher geistigen Formung existieren mögen, überschreiten zu können. Es bleibt letztlich bei Kants Diktum: Das Ding an sich bleibt uns verborgen und damit auch jegliches Objekt, das von einem Fotografen zum Motiv seiner Fotografie auserkoren wird. Fotos sind also keine „Sachverhalte, die sich aus der Welt heraus kommend auf Flächen abgebildet haben“ und daher „die Welt selbst“ vorstellen.14 Der Betrachter, der annimmt, „daß er durch die Fotos hindurch die Welt dort draußen ersieht, und daß daher das Universum der Fotografie sich mit der Welt dort draußen deckt“,15 nimmt eine naive Haltung ein, ebenso wie jener Betrachter, der denkt, dass seine Sinnesorgane ihm einen unmittelbaren Zugang zur Welt gewähren.16 Die Ähnlichkeit, von der zu sprechen sich einzig rechtfertigen lässt, ist die, die sich aus dem Vergleich zweier Symbole oder Symbolisierungsarten ergibt, d.h. zweier Arten, die Wirklichkeit so zuzurichten, dass sie von uns überhaupt aufgenommen und zu einem Bestandteil unseres Bewusstseins werden kann. Während bei der sinnlichen Wahrnehmung die Zurichtung durch den Geist geschieht, wird sie im fotografischen Akt durch den Fotoapparat erledigt, der zuvor freilich dazu programmiert, d.h. für eine bestimmte Weise der Wirklichkeitszurichtung eingerichtet worden ist. In seiner Art, die Wirklichkeit für unser Bewusstsein durch symbolische Formung zu präparieren, imitiert der Fotoapparat dabei offensichtlich sehr effektiv die Art und Weise, wie diese Wirklichkeit durch unser Bewusstsein geistig transformiert wird. Dies kann auch kaum überraschen, verdankt doch der Fotoapparat als Artefakt seine Existenz genau jenem Geist, der immer schon Wahrnehmung als Gestaltung von Wirklichkeit vollzieht. Insofern erweist sich der Fotoappa14 Flusser, a.a.O., S. 38 15 Flusser, a.a.O., S. 38 16 Vgl. hierzu auch Cassirers Kritik am naiven Sensualismus, der das Sinnliche „nicht bloß als unentbehrliches, aber unselbständiges Moment behandelt, sondern [...] es zu einem an sich seienden Element hypostasiert“. E. Cassirer, Zur Logik des Symbolbegriffs. In: E. Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt 1994, S. 210 109

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

rat wie auch der gesamte technische Prozess der Herstellung von Fotografien als technische Erweiterung eines ursprünglich geistigen Vermögens des Menschen. Wie die Inhalte unserer bewussten Wahrnehmung gehen die durch diese produzierten fotografischen Zeichen als symbolische Repräsentationen daher über die unmittelbare Erfahrung hinaus, sie enthalten in ihrer sinnlichen Gegebenheit, in ihrer singulären Besonderheit immer auch allgemeine Sinnund Bedeutungsdimensionen. Erst diese begründen ihre Verständlichkeit, nicht etwa ihre wie auch immer zu beschreibende Nähe zu einer außerhalb ihrer liegenden Wirklichkeit. Die Ähnlichkeit, die Fotos zu Fotografiertem aufzuweisen scheinen, ist also keine von Bild und Abgebildetem, sondern allenfalls eine zwischen der visuellen Klassifikation und Ordnung durch unsere primäre Wahrnehmung einerseits und durch die Fotografie andererseits. Die Homologie von wahrnehmungsmäßiger und fotografischer Klassifizierung und die dadurch bedingte Stereotypie fotografischer Klassifizierung und Etikettierung sind es, die dem Betrachter den Eindruck einer realistischen und objektiven Abbildung der Welt durch die Fotografie vermitteln. Durch den Realismus, mit dem uns Fotografien infolgedessen erscheinen, erweist sich die Fotografie als Medium im symboltheoretischen, von der alltäglichen Verwendung des Begriffs abweichenden Sinn:17 als apparative Erweiterung des ursprünglichen geistigen Vermögens des Menschen, die Wirklichkeit in eine stabile Welt aus Symbolen umzuformen und sich so einen symbolischen Kosmos, einen Sinnzusammenhang zu schaffen, der ihm die geistige Orientierung erlaubt. Insofern ist die Fotografie ein Erfahrungsmedium, ein Werkzeug, das den Menschen bei seiner kulturellen Tätigkeit, sich eine Welt aus Symbolen zu erschaffen, unterstützt. Die Fotografie reiht sich damit in die Reihe der Symbolismen ein, „die die Menschen in ihren Kulturen oder genauer: als das tragende Fundament und verbindende Medium ihrer Kulturen entwickelt“18 haben. Erst dank dieser Symbolismen erlangen Gegenstände eine eigene Existenz innerhalb des Wahrnehmungsflusses, von dem sie Teile sind, und damit eine dauerhafte Identität. Nur als symbolisch repräsentierte bleiben uns Dinge gegenwärtig, auch dann noch, wenn der Zeitpunkt ihres wahrnehmungsmäßigen Erscheinens längst vergangen ist. Als Repräsentationen sind Symbole aber eben nie bloße Wiederholungen dieser ursprünglichen Wahrnehmungserlebnisse, sondern immer auch deren schöpferische Neugestaltung durch den Geist.19 So erschafft sich der Mensch eine eigene geistige Welt aus Symbolsystemen, durch die er aus der unmittelbaren physikalischen Umwelt entbunden ist:

17 Vgl. Kap. 1.5. 18 Oswald Schwemmer, Die kulturelle Existenz des Menschen. Berlin 1997, S. 24 19 Vgl. Schwemmer, a.a.O., S. 25 110

4. DIE FOTOGRAFIE ALS MEDIUM DER VISUELLEN ORDNUNG DER W ELT

„Er lebt nicht mehr in einem bloß physikalischen, sondern in einem symbolischen Universum. Sprache, Mythos, Kunst und Religion sind Bestandteile dieses Universums. Sie sind die vielgestaltigen Fäden, aus denen das Symbolnetz, das Gespinst menschlicher Erfahrung gewebt ist. [...] So hat er [der Mensch, T.C.] sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nicht sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe.“20

Mit dieser symbolischen Welt, die der Mensch zwischen die Wirklichkeit und sein unmittelbares Erleben schiebt, so dass diese eben immer nur vermittelt, d.h. medial erfasst wird, überschreitet er aber auch seine individuelle, leibliche Existenz. Denn die dabei geschaffenen Symbole besitzen ja stets eine eigene, materiale Existenz außerhalb unseres leiblich gebundenen Erlebens und damit auch unabhängig von diesem. Mit der Schaffung einer eigenen symbolischen Welt vollzieht sich also immer auch ein Akt der Entäußerung. Erst dadurch erlangt die symbolische Welt überhaupt die Möglichkeit, eine eigenständige Wirksamkeit zu entfalten. Die Symbolismen, aus denen sie sich aufbaut, besitzen dementsprechend über Eigenstrukturen, die sich durch die Aufbau- und Verknüpfungsmöglichkeiten ihrer Elemente, also der einzelnen materiellen Symbole bilden.21 Damit werden Symbole aber nicht nur für einzelne zur Stabilisierung ihrer Wahrnehmungswelt über wechselnde Wahrnehmungssituationen hinweg verfügbar, sondern auch für wechselnde Personen.22 Symbole entfalten ihre identifikatorische Kraft also nicht nur im individuellen Bewusstseinserleben, sondern darüber hinaus auch im sozialen. Die Eigenstruktur der Symbolismen begründet damit das Zustandekommen von Kultur, die sich mit Schwemmer als die Gesamtheit der symbolischen und technischen Gegenstände „und ihrer Verwendungsweisen – bis hin zu den verschiedenartigen (organisatorischen, rechtlichen, moralischen usw.) Regelungen – “23 verstehen lässt. Über den Aufbau einer individuell fixierten und strukturierten Wahrnehmungswelt hinaus kommt es durch den Symbolgebrauch so zusätzlich zur Schaffung einer kulturellen Welt, die sich dem interindividuellen öffentlichen Charakter der Symbole verdankt, den sie durch ihre Entäußerung erlangen. Denn dadurch werden die Symbole „Gegenstände eines inter-individuellen Gebrauchs, der bestimmten Regeln folgt und nur dadurch die Zeichenfunktion der Symbole sichern kann.“24

20 21 22 23 24

E. Cassirer, Versuch über den Menschen, a.a.O., S. 50 Vgl. Schwemmer, a.a.O., S. 65 Vgl. Schwemmer, a.a.O., S. 66 Schwemmer, a.a.O., S. 64 Schwemmer, a.a.O., S. 112 111

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

Eigentlich, so müsste erweiternd und präzisierend ergänzt werden, vollzieht sich die individuelle Sinnstiftung immer nur unter Rückgriff auf Symbole, die ihre Stabilität und damit identitätsstiftende Wirkung überhaupt erst aus ihrem sozialen Gebrauch heraus beziehen. Insofern ist der Mensch als symbolisches Wesen immer zugleich auch kulturelles Wesen, das sowohl zur geistigen Erschließung der Welt wie auch zur Selbstgestaltung auf Mittel und Formen der Sinnstiftung zurückgreifen muss, die ihm kulturell vorgegeben sind. „Unser geistiges Leben ist in einem gewissen Sinne immer ein „Doppelleben“, nämlich ein öffentliches Leben in der Welt der kulturellen Symbolismen und ein individuelles Leben des in diesen Symbolismen sich artikulierenden Bewußtseins.“25 Das individuelle Erleben des einzelnen ist also immer schon, insofern es sich symbolisch vollzieht, kulturell geprägt. Erkennen und Handeln können sich nicht anders als auf der Grundlage einer durch soziale Interaktion entstandenen kulturellen Tradition entfalten. Obwohl vom Menschen auf der Basis seiner leiblichen Erlebnisse geschaffen, „kann die objektivierte Kultur den Individuen nun also wiederum prägend, ja zwingend gegenübertreten.“26 Dies muss sich aber nicht notwendigerweise, wie Georg Simmel behauptet hat, zur Tragödie der Kultur auswachsen, weil sich der Mensch dermaßen von seinen symbolischen Objektivationen entfremdet, dass jegliche subjektive Entwicklung unterbunden wäre: „Es ist der Begriff aller Kultur, daß der Geist ein selbständig Objektives schaffe, durch das hin die Entwicklung des Subjektes von sich selbst zu sich selbst ihren Weg nehme; aber eben damit ist jenes integrierende kulturbedingende Element zu einer Eigenentwicklung prädeterminiert, die noch immer Kräfte der Subjekte verbraucht, noch immer Subjekte in ihre Bahn reißt, ohne doch diese damit zu der Höhe ihrer selbst zu führen.“27

Fraglich bleibt diese Diagnose nämlich, weil sie nicht verständlich zu machen vermag, wie es zu kulturellen Entwicklungen, zu historischem Wandel in der kulturellen Sinnstiftung kommen kann. Offensichtlich besitzt Kultur eher ein kommunikativ-dialektisches Wesen, wie Cassirer es annimmt: „Denn am Ende dieses Weges steht nicht das Werk, in dessen beharrender Existenz der schöpferische Prozeß erstarrt, sondern das ‚Du‘, das andere Subjekt, das dieses

25 Schwemmer, a.a.O., S. 113 26 Volker Steenblock, Kultur oder Die Abenteuer der Vernunft im Zeitalter des Pop. Leipzig 2004, S. 34 27 Georg Simmel, Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Berlin 1983, S. 203 112

4. DIE FOTOGRAFIE ALS MEDIUM DER VISUELLEN ORDNUNG DER W ELT

Werk empfängt, um es in sein eigenes Leben einzubeziehen und es damit wieder in das Medium zurückzuverwandeln, dem es ursprünglich entstammt.“28

Auch wenn der Mensch, um sich in einer Welt stabiler Sinnzusammenhänge orientieren zu können, auf kulturell vorgegebene und vorstrukturierte Symbolismen zurückgreifen muss, bleibt doch nicht ausgeschlossen, dass diese Symbolismen durch den Menschen eine Um- oder gar Neustrukturierung erfahren. Auch wenn Enkulturation zunächst eine Verinnerlichung der tradierten kulturellen Formen bedeutet, so bleibt doch die Traditionskritik und mit ihr die Weiterentwicklung dieser kulturellen Formen möglich. Für die hier angestellten Betrachtungen zur Fotografie bleibt zunächst festzuhalten: Die Fotografie ist ein Medium, mit dem der Mensch seine ursprünglichen Vermögen der symbolischen Gestaltung einer Welt geistiger Sinnzusammenhänge apparativ externalisiert und damit erweitert. Dadurch erlangt die Fotografie notwendigerweise kulturelle Qualitäten, d.h. die Fotografie als technisches Verfahren zur Herstellung fotografischer Bilder einerseits und als Gesamtheit dieser Bilder andererseits besitzt eine spezifische Eigenstruktur, die zum einen aus ihrem sozialen Gebrauch resultiert, diesen zum anderen aber auch wieder bestimmt und steuert. Da der soziale Gebrauch der Fotografie im Wesentlichen eine Form der Kommunikation innerhalb der Gesellschaft darstellt, bedeutet dies wiederum, dass die Fotografie über einen Code verfügen muss, d.h. über ein System von Regeln, das es erlaubt, Botschaften zu übermitteln. Der Code leistet dabei dreierlei: Zunächst wählt er „diskontinuierliche, diskrete, aus dem Kontinuum der möglichen Tatsachen herausgeschnittene Situationen aus, und bestimmt diese zu Einheiten, die für die Zwecke der interessierenden Kommunikation relevant sind.“29 Er ist so gesehen ein Verfahren zur Produktion von Symbolen. Sodann stellt er syntaktische Regeln auf, d.h. er bestimmt, welche der Kombinationsmöglichkeiten der kommunikationsrelevanten Einheiten oder Symbole erlaubt und welche ausgeschlossen sind und stellt so ein System von Wiederholungen im Auftreten von Symbolkombinationen her. Erst dadurch wird es schließlich möglich, dass der Code durch Aufstellen semantischer Regeln einem Symbol bzw. einer Symbolkombination bestimmte Bedeutungen zuweist.30

28 Ernst Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), Darmstadt 1961. Fünfte Studie: Die „Tragödie der Kultur“, S. 109 f. 29 Umberto Eco, Einführung in die Semiotik. München 2002, S. 58 30 Vgl. Eco, a.a.O., S. 58 113

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

Fotografie als Mittel der visuellen Kommunikation zu untersuchen, heißt also, ihren spezifischen Code zu analysieren, um letztlich zu verstehen, wie Fotografie in ihrem sozialen Gebrauch Ereignisse und Sachverhalte der Wirklichkeit kommunizierbar und damit verständlich macht. Aber besitzt die Fotografie tatsächlich einen solchen Code, oder ist eine Fotografie nicht auch als „Bild ohne Code“31 denkbar? Wie steht es aber mit der behaupteten Konventionalität fotografischer Botschaften, wenn sich für sie kein Code finden und beschreiben lässt? Muss es sich bei Fotografien dann nicht doch um die direkte, unvermittelte Wiedergabe von Wirklichkeit, um jene „Emanation des Referenten“32 handeln, wie von Beginn an angenommen wurde? Tatsächlich scheint die Behauptung der Symbolizität der Fotografie erst dann völlig berechtigt, wenn es gelingt, einen visuellen Code für die Fotografie auszumachen und einer analytischen Betrachtung zuzuführen. Umso bedenklicher muss es stimmen, wenn derjenige, der, wie dargelegt wurde, die bisher überzeugendste Beweisführung für die symbolischen Qualitäten von Bildern im Allgemeinen und damit von Fotografien im Besonderen geliefert hat, Nelson Goodman nämlich, den Aufweis eines solchen visuellen Codes schuldig bleibt. Dass er ihn schuldig bleibt, liegt freilich in der Natur der Sache, d.h. in der Logik seiner Aussagen. Bildliche Symbolsysteme waren nach Goodman ja sowohl in syntaktischer wie auch in semantischer Hinsicht dicht. Sie erfüllen also weder die Bedingung der syntaktischen noch die der semantischen endlichen Differenziertheit. Pikturale Schemata besitzen also unendlich viele Charaktere, so dass es unmöglich wird, zu entscheiden, ob eine konkret auftretende Marke nun zu einem bestimmten Charakter gehört oder nicht. Entsprechend lässt sich eine pikturale Marke auch keiner eingegrenzten Erfüllungsklasse zuordnen, sie ist stets zwei- oder mehrdeutig. Infolgedessen hat Goodman Bilder als Elemente von analogen Symbolsystemen aufgefasst, bei denen kleinste Unterschiede in der Auftretensweise einen Bedeutungsunterschied markieren können. Demnach fehlen pikturalen Symbolsystemen also jene diskontinuierlichen, diskreten Situationen, die nach Eco vom Code zu relevanten Einheiten bestimmt werden. Fehlt ihnen deshalb aber auch dieser Code? In jedem Fall ist ein Code im dargelegten Sinne nur für digitale Symbolsysteme denkbar, also für Systeme mit eben jenen zumindest syntaktisch endlich differenzierten, artikulierten Charakteren, die eine Identifizierung relevanter Unterschiede zwischen den Marken möglich machen. Dies ist denn

31 Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt/M. 1985, S. 99 32 R. Barthes, a.a.O., S. 90 114

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auch der Grund, weshalb Goodman auf der Basis seines Ansatzes nicht zu einer Darlegung eines visuellen Codes kommen konnte. Weitergeführt wird Goodmans Symboltheorie in dieser Hinsicht allerdings von Umberto Eco und seiner „Semiotik der visuellen Codes“, wie er sie in seiner „Einführung in die Semiotik“ entwickelt hat.

4.2 Der visuelle Code der Fotografie 4.2.1 Die Codifizierbarkeit ikonischer und fotografischer Zeichen Ecos Darlegungen zu den visuellen Codes beginnen mit dem wichtigen Hinweis, dass das Bestreben, „visuellen Tatbeständen jeden Zeichenwert abzusprechen“,33 in dem prinzipiellen Missverständnis gründet, wonach nur linguistischen Phänomenen auch ein Zeichencharakter zuzugestehen ist. Dabei wird jedoch übersehen, dass es sehr wohl nicht-linguistische Kommunikationstatbestände gibt, die deswegen noch lange nicht einer semiotischen Untersuchung verschlossen bleiben müssen. Nur solche Kommunikationsakte als semiotisch anzuerkennen, die sich auch mit linguistischen Mitteln analysieren lassen, hieße, Semiotik ungerechtfertigterweise mit Linguistik gleichzusetzen und sie damit auf diese zu beschränken, während sie als autonome Disziplin doch zumindest unabhängig von ihr ist, wenn sie nicht diese sogar umfasst. Wenn sich also visuelle Phänomene nicht linguistisch beschreiben lassen, bedeutet dies nicht, dass sie keinen Zeichencharakter besitzen, sondern dass es eigener semiotischer Beschreibungskategorien bedarf, um sie in ihrer Zeichenhaftigkeit zu erfassen. Für Eco steht außer Zweifel, dass es Kommunikationsprozesse auf der Basis abbildender Zeichen gibt. Deren Abbildungsverhältnis, und hier stimmt Eco mit Goodman überein, erklärt sich dabei aber nicht durch irgendeine Form von Ähnlichkeit.34 Infolgedessen besteht eine wesentliche Aufgabe der Semiotik darin, „in Erfahrung zu bringen, wie es zugeht, daß uns ein graphisches oder photographisches Zeichen, welches kein materielles Element mit den Sachen gemein hat, als den Sachen gleich erscheinen kann.“35 Ecos Erklärung hierfür deckt sich in wesentlichen Punkten mit der, die in den letzten beiden Kapiteln herausgearbeitet wurde. Offensichtlich gibt es Übereinstimmungen in der Verarbeitung von visuellen Stimuli, die von Ge-

33 Eco, a.a.O., S. 197 34 Vgl. Eco, a.a.O., S. 202 35 Eco, a.a.O., S. 204 115

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

genständen einerseits und von pikturalen Repräsentationen dieser Gegenstände andererseits stammen: „Mit den von der Zeichnung gelieferten Erfahrungsdaten tue ich dasselbe wie mit den von der Sinneswahrnehmung gelieferten Erfahrungsdaten: Ich selektioniere sie und strukturiere sie auf Grund von Erfahrungssystemen und auf Grund von Annahmen, die von der vorhergehenden Erfahrung abhängen, und folglich auf Grund von erlernten Techniken, also auf Grund von Codes.“36

Sowohl die primäre Wahrnehmung wie auch die Bildwahrnehmung sind also erfahrungs- und damit codegesteuerte Prozesse und infolgedessen eher Vorgänge der aktiven Gestaltung als der passiven Widerspiegelung von wahrgenommener Wirklichkeit. Dass wir einer Abbildung im Rahmen der Bildwahrnehmung die gleiche Bedeutung zuschreiben wie dem abgebildeten Gegenstand im Rahmen der primären Sinneswahrnehmung, liegt also nicht in der Ähnlichkeit des Bildes mit dem Abgebildeten begründet, sondern darin, dass der die Wahrnehmung steuernde Wahrnehmungscode und der die Bilderkennung steuernde Erkennungscode gleiche Bedeutungszuweisungen produzieren. Ähnlichkeit besteht somit nicht in einem ontologischen Sinn zwischen zwei Dingen einer erfahrungsunabhängigen Wirklichkeit, sondern zwischen zwei vom Geist produzierten Symbolen, den Wahrnehmungssymbolen einerseits und den pikturalen Symbolen, die eben jene Wahrnehmungssymbole repräsentieren, andererseits. Die eigentliche Abbildungsbeziehung besteht demnach „zwischen einer relevanten Einheit des graphischen Systems und einer relevanten Einheit des semischen Systems, das von einer vorhergehenden Codifizierung von Wahrnehmungserfahrung abhängt.“37 Der ikonische Code, der solche Abbildungsbeziehungen steuert, stellt also „die semantische Beziehung zwischen einem graphischen Zeichenträger und einer schon codierten Wahrnehmungsbedeutung her.“38 Es gibt, so lässt sich zusammenfassend sagen, tatsächlich einen ikonischen Code, und deshalb sind auch alle Abbildungsoperationen, graphische wie fotografische, durch Konventionen gesteuert und bestimmt.39 Aber lässt sich dieser ikonische Code auch in seiner Struktur analysieren und beschreiben? Einer Codifizierung ikonischer Zeichen scheint zunächst die Tatsache entgegenzustehen, dass ihre Gliederungselemente nur schwer voneinander zu un36 37 38 39

Eco, a.a.O., S. 202 Eco, a.a.O., S. 208 f. Eco, a.a.O., S. 208 Vgl. Eco, a.a.O., S. 209

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terscheiden sind.40 Bereits kleinste Veränderungen in ihrer Erscheinungsweise haben unter Umständen große Auswirkungen auf die Gesamterscheinung der bildlichen Darstellung wie auch auf ihre Bedeutung. Offensichtlich sind also die Einheiten, aus denen sich ein ikonisches Syntagma zusammensetzt, in so komplexe Kontextverhältnisse eingebettet, dass es ausgesprochen schwierig ist, „die relevanten Einheiten von den fakultativen Varianten zu sondern“ oder überhaupt diskrete Einheiten auszumachen, auf deren Opposition sich ein Code gründen könnte und „durch deren sukzessive Kombinationen höchst komplexe Gestaltungen“,41 wie pikturale Repräsentationen sie darstellen, rekonstruiert werden können. Diese Schwierigkeiten, mit denen eine Codifizierung ikonischer Zeichen offensichtlich verbunden ist, sagen aber zunächst nicht mehr aus, als dass es sich bei ikonischen Codes, deren Existenz ja angenommen werden muss, um sehr variable und in gewissem Sinne sehr schwache Codes handelt.42 Ikonische Elemente, so lässt sich daraus folgern, besitzen offenbar in erster Linie Kontextbedeutungen, weshalb sie auch nicht wie Sprachphänomene in ein System fester Bedeutungsoppositionen einsortiert werden können. Im Wesentlichen entspricht diese Tatsache dem, was Goodman als Kennzeichen analoger Symbolsysteme ausgemacht hat. Dies besagt aber nicht mehr, als dass linguistische Codifizierungsverfahren nicht geeignet sind, pikturale Phänomene angemessen zu erfassen; dass sie sich generell einer Codifizierung entziehen, folgt daraus jedoch noch nicht notwendigerweise. Selbst wenn es stimmt, dass analoge Systeme sich einer Codifizierung verschließen, weil eine solche immer darauf hinausläuft, aus einem Kontinuum relevante Elemente zu isolieren und diskreten Elementklassen zuzuordnen, selbst wenn also mit anderen Worten die Digitalität eines Symbolsystems als Bedingung der Möglichkeit dafür angesehen wird, seinen Code bestimmen zu können, so ist damit doch noch nicht ausgeschlossen, dass die Codes analoger Systeme sich nicht zumindest theoretisch auf digitale Strukturen zurückführen lassen,43 dass also ein ikonischer und damit auch fotografischer Zeichenprozess wie „jeder Zeichenprozeß in einem bestimmten Augenblick in digitale Begriffe übersetzt werden kann.“44 Tatsächlich ist eine solche Digitalisierung analoger Symbolsysteme möglich, und zwar auf Grund der Tatsachen, dass ihre Strukturen graduell angelegt sind. Ihre Codes organisieren sich demnach zwar nicht auf der Grundlage streng diskreter Einheiten, die in binären Oppositionen zueinander stehen,

40 41 42 43 44

Vgl. Eco, a.a.O., S. 215 Eco, a.a.O., S. 215 f. Eco, a.a.O., S. 217 Vgl. Eco, a.a.O., S.223 Eco, a.a.O., S. 225 117

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wohl aber auf Stufen basierend, durch die das kontinuierlich Erscheinende durchaus differenziert und eingeteilt wird.45 Diese stufenweise Codifizierung analoger Systeme ist gleichsam die Bedingung, die ihre Digitalisierung prinzipiell ermöglicht. Im Rahmen des fotografischen Zeichenprozesses kommt es denn auch tatsächlich zu jener Digitalisierung eines zwar analogen, aufgrund seiner graduellen Strukturierung aber gleichwohl digitalisierbaren visuellen Zeichensystems, und zwar infolge des Einsatzes des Fotoapparats und der durch ihn hindurch belichteten Filmschichten. Gerade die dadurch ins Spiel gebrachte chemische Komponente des apparativen Programms bewirkt z. B. in der Schwarz-Weiß-Fotografie in dreifacher Weise die Übersetzung des analogen Zeichenprozesses in einen digitalen Code. Zum einen wird das optische Kontinuum auf der Filmschicht in diskrete Bildpunkte aufgelöst, deren Größe der Korngröße der in die Schicht eingelagerten Silberbromidkristalle entspricht. Die Körnigkeit des Bildträgers fungiert so als Äquivalent für die Digitalität von Symbolsystemen, die aus diskreten Einheiten aufgebaut sind. Zum zweiten werden die Farben gleichsam übersetzt in schwarze, weiße und graue Tonwerte. Drittens erfahren dabei die kontinuierlichen Helligkeitsunterschiede, wie sie sich im visuellen Wahrnehmungsprozess finden, auf dem Film und später in noch größerem Maße auf dem Fotopapier des Abzugs keine entsprechende Wiedergabe. Vielmehr kommt es, bei Abzügen etwa in Abhängigkeit von der Gradation, d.h. der Härte des Fotopapiers, zu einer Reduktion des Kontrastumfangs, indem Intervalle von Helligkeitswerten zu einem ganz bestimmten, vom Papier dann wiedergegebenen Tonwert zusammengefasst werden. Helligkeitswerte, die auf der Filmschicht keine exakte Entsprechung in einem wiedergegebenen Tonwert finden, werden dann dem Tonwert zugeschlagen, dem sie am nächsten liegen. Sehr niedrige Helligkeitswerte erfahren dadurch eine Wiedergabe durch den Tonwert Schwarz, sehr hohe Helligkeitswerte entsprechend durch den Tonwert Weiß, anstatt etwa durch einen sehr dunkel- bzw. hellgrauen Tonwert repräsentiert zu werden. So neigt also der technische Prozess der Fotografie wie jede andere Kommunikationstechnologie dazu, „die analogischen Modelle in digitale Codes zu übertragen“,46 was durch die graduelle Struktur dieser analogischen Modelle ja auch immer schon möglich ist. Auch wenn eine fotografische Repräsentation als Symbol eines analogen Symbolsystems und damit als nicht digital betrachtet wird, so entstammt sie doch einem digitalisierenden Herstel-

45 Vgl. Eco, a.a.O., S. 225 46 Eco, a.a.O., S. 226 118

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lungsprozess und kann infolgedessen, zumindest der prinzipiellen Möglichkeit nach, digital analysiert werden.47 Aber auch wenn sich bildliche Zeichenprozesse damit als codifizierbar erwiesen haben, heißt dies noch nicht, dass ihre Codes nach dem gleichen Prinzip gegliedert sein müssen, wie es von sprachlichen Codes bekannt ist. Die Möglichkeit, ikonische Symbolsysteme zu digitalisieren und sie damit zu Analysezwecken sprachlichen Systemen strukturell anzugleichen, enthebt nicht der Notwendigkeit, den spezifischen Gliederungen ikonischer Codes und deren Eigentümlichkeiten nachzugehen.

4.2.2 Die Gliederung des ikonischen Codes Nachdem der Beweis für die prinzipielle Codifizierbarkeit ikonischer Zeichenprozesse erbracht ist, erweist sich die Unmöglichkeit, visuelle Codes nach dem Vorbild verbaler Sprachen zu gliedern, als Hinweis auf die Notwendigkeit, für sie eigene spezifische Gliederungen vorzunehmen. Eco greift zu diesem Zweck auf Ansätze von L. Prieto zurück, der Figuren, Zeichen und ikonische Aussagen unterscheidet. Figuren sind dabei die „Wahrnehmungsbedingungen (z.B. Beziehungen von Figur und Hintergrund, Lichtkontraste, geometrische Verhältnisse), die nach den vom Code aufgestellten Modalitäten in graphische Zeichen transkribiert worden sind.“48 Sie umfassen demnach solche Elemente, die lediglich einen unterscheidenden Wert haben, ohne aber selbst irgendeine Bedeutung zu besitzen.49 Figuren sind dabei nicht diskret und daher auch zahlenmäßig nicht begrenzt und bilden so ein unendliches Kontinuum an Möglichkeiten, Botschaften zu erzeugen. Gleichwohl hat jede Kultur immer schon „eine Reihe von relevanten Zügen jeder möglichen Abbildung entwickelt“, die westliche etwa „die Elemente der Geometrie“.50 Zeichen sind dagegen Elemente, die „mit konventionalisierten graphischen Mitteln Erkenntniseinheiten (Nase, Ohr, Himmel, Wolke) oder „abstrakte Modelle“, Symbole, Begriffsdiagramme des Gegenstandes (die Sonne als Kreis mit fadenförmigen Strahlen)“51 denotieren. Auch sie stellen sich nicht als diskrete Einheiten in einem graphischen Kontinuum dar. In ihrer Bedeutung sind sie erst im Kontext der ikonischen Aussagen erkennbar, als welche Bilder letztlich anzusehen sind. Demnach illustrieren bildliche Repräsentationen nicht nur singuläre verbale Zeichen, die Abbildung eines Pferdes et47 48 49 50 51

Vgl. Eco, a.a.O., S. 229 Eco, a.a.O., S.246 Vgl. Eco, a.a.O., S. 236 Eco, a.a.O., S. 247 Eco, a.a.O., S. 247 119

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wa das Zeichen ‚Pferd‘, sondern stellen immer komplexe ikonische Aussagen dar, im genannten Beispiel etwa vom Typ ‚Dies ist ein stehendes Pferd im Profil‘.52 Als Kontext der ikonischen Zeichen setzen die ikonischen Aussagen diese in eine signifikante Opposition zueinander und machen sie dadurch identifizierbar. So ist im genannten Beispiel des Bildes eines stehenden Pferdes im Profil das Zeichen für dessen Kopf erst auf Grund der Opposition zu den Zeichen für die Hufe, den Schwanz usw. erkennbar. Aus seinem Kontext herausgerissen wird das Zeichen abstrakt, es verliert seinen darstellenden Wert.53 Erst auf der Ebene der ikonischen Aussage lässt sich also so etwas wie ein ikonischer Code ausmachen, der „auf der Ebene der Figuren Größen als relevante Züge wählt“ und festlegt, dass „seine ZEICHEN nur dann denotieren, wenn sie im Kontext einer IKONISCHEN AUSSAGE stehen.“54 Dies bedeutet freilich nicht, dass es einen allgemeinen ikonischen Code gäbe. Obschon konventionell lassen sich ebenso viele ikonische Codes ausmachen, wie es Stile gibt, etwas bildlich zu repräsentieren. Dementsprechend unterscheiden sie sich auch in ihrer jeweiligen Erkennbarkeit. Der Code der Fotografie ist offensichtlich besonders gut erkennbar, d.h. besonders leicht zu entschlüsseln. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass er aufgrund seiner apparativen Umsetzung nur wenige Freiheitsgrade für eine ideolektische Variation der ikonischen Aussage gewährt. Der fotografische Code ist also, das lässt sich hier zum wiederholten Male feststellen, besonders stereotyp. Nur deswegen und eben nicht wegen ihrer wie auch immer gedachten ontologischen Realitätshaltigkeit erscheinen Fotografien so realistisch. Erst auf der Ebene der figurativen Bilder kann daher auch eine semiologische Klassifizierung zu Aussageeinheiten erfolgen. Diese Ebene ist, wie Eco feststellt, andererseits aber auch „ausreichend für eine Semiotik der visuellen Kommunikation“55 und damit für eine zeichen- oder symboltheoretische Untersuchung des gesellschaftlichen Gebrauchs der Fotografie.

4.3 Der gesellschaftliche Gebrauch der Fotografie In seiner Konventionalität bestimmt der Symbolismus der Fotografie maßgeblich ihren gesellschaftlichen Gebrauch, so dass er sich demnach aus diesem bestimmen lassen müsste.

52 53 54 55

Vgl. Eco, a.a.O., S. 247 Vgl. Eco, a.a.O., S. 244 Eco, a.a.O., S. 244 Eco, a.a.O., S. 245

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Nun ist aber eben jener gesellschaftliche Gebrauch der Fotografie von einer derartigen Vielfalt, dass es kaum möglich erscheint, sich über ihn einen auch nur einigermaßen strukturierten Überblick zu verschaffen. Tatsächlich sind Fotografien im Leben des modernen Menschen allgegenwärtig geworden. Sie begegnen uns längst nicht mehr nur noch in Illustrierten, wo sie dieser Bezeichnung nach als wesentlicher Bestandteil hineingehören, sondern auch in Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen gleich welcher Art, auf Plakatwänden und Litfaßsäulen an jeder Ecke des urbanen Raums, auf Verpackungsmaterialien, an den Wänden heimischer Wohnzimmer oder in Fotoalben. Sie gehören zu den ständigen Begleitern der Menschen in nahezu allen ihren öffentlichen und privaten Lebensbereichen. Wie ließen sich Fotografien angesichts dieser Ubiquität klassifizieren und damit einer genaueren Analyse bezüglich ihres Auftretens und der damit einhergehenden Funktionen unterwerfen? Die Möglichkeit, die sich zuallererst anbietet, ist die aus der taditionellen kunsthistorischen Bildbetrachtung stammende Unterteilung von Fotografien nach Bildgattungen oder Themenfeldern. Zumal die Fotografien aus der Frühzeit des Mediums lassen sich so recht übersichtlich ordnen, da die Einführung der neuen Abbildungstechnik nicht gleich mit einer Entwicklung neuer Genres verbunden war. „Zwar war die Photographie etwas revolutionär Neues innerhalb der Reproduktionstechniken, aber die Bildthemen entsprechen dem traditionellen Kanon der Bilderproduktion.“56 So dominieren anfangs Portrait-, Landschafts- und Architekturaufnahmen, wissenschaftliche und technische Abbildungen sowie Kunstreproduktionen – Gegenstände also, die auch vor der Erfindung der Fotografie mit anderen grafischen Mitteln ihre Abbildung erfuhren. Diese Beschränkung der Fotografie auf den traditionellen Bildkanon mag in der Zeit unmittelbar nach ihrer Erfindung noch technisch bedingt gewesen sein. Die Lichtstärke der Objektive und die Lichtempfindlichkeit der Filmschichten erforderten lange Belichtungszeiten und begrenzten so die Anwendungsfelder des neuen Mediums. Die Darstellung bewegter Objekte im Rahmen von Moment- oder Schnappschussaufnahmen etwa war unmöglich, zumal die Unhandlichkeit der frühen Fotoapparate aufgrund ihrer Größe und ihres hohen Gewichts die Fotografen ohnehin nur zu oft ins Atelier bannten. Doch selbst nachdem viele technische Probleme durch die rasch voranschreitenden Entwicklungen im optischen und chemischen Bereich gelöst und dadurch immer mehr fotografierbar wurde, erweiterte sich zunächst weder das Feld fotografischer Motive noch das Repertoire fotografischer Darstellungsweisen. Dies beweist, dass die Fotografie ebenso wie andere Bildformen kul56 Jens Jäger, Gesellschaft und Photographie. Formen und Funktionen der Photographie in Deutschland und England 1839-1860. Opladen 1996, S. 140 121

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turellen Bestimmungen unterlag, Bestimmungen, die übrigens mit keineswegs prinzipiellen Abweichungen bis heute wirken. Fotografie war und ist also in hohem Maße konventionalisiert. Da sich die visuelle Kommunikation als wesentliche Funktion der Fotografie erwiesen hat, kann dies freilich nicht mehr überraschen. Wie bei jeder anderen Form von Kommunikation auch gewährleistet erst die Konventionalisierung der Fotografie ihr Funktionieren als Kommunikationsmittel. Dies bedeutet aber auch, dass die Bedeutungen von Fotografien maßgeblich von den sozialen Zusammenhängen bestimmt werden, unter denen sie entstanden sind, dass sie also je nach Entstehungskontext und Verwendungszweck – privat oder öffentlich, künstlerisch oder wissenschaftlich – ganz unterschiedliche Bedeutungen vermitteln können, selbst wenn die Fotografien gleiche Motive zur Anschauung bringen. Das Problem in diesem Zusammenhang ist also, dass „Photographien immer ein Teil in einem Kommunikationsprozeß darstellen, nicht aber aus sich heraus die Inhalte des gesamten Prozesses vermitteln können.“57 Eine andere Möglichkeit, zu einer Klassifikation von Fotografien zu kommen, resultiert daher aus der konsequenten Betrachtung der Fotografie als Kommunikationsakt. Nach Flusser lässt sich ein solcher im Wesentlichen in zwei Phasen gliedern: in die Phase der Informationserzeugung und in die der Verteilung und Speicherung der zunächst erzeugten Informationen.58 Die Phase der Informationsdistribution bezeichnet Flusser als Diskurs und unterscheidet dabei vier Diskursmethoden: „Erstens: Die Empfänger umgeben den Sender im Halbkreis wie im Theater. Zweitens: Der Sender bedient sich einer Reihe von Informationsüberträgern (Relaisstationen), wie in der Armee. Drittens: Der Sender distribuiert die Information an Dialoge [d.h. an Kommunikationsteilnehmer, die sich ihrerseits in der Phase der Informationserzeugung befinden; T.C.], welche sie bereichert weitergeben, wie in den wissenschaftlichen Diskursen. Viertens: Der Sender strahlt die Information in den Raum aus, wie im Rundfunk.“59

Zumindest im Rahmen des öffentlichen Gebrauchs, also als Massenmedium, bedient sich die Fotografie dieser letzten genannten Methode. Dazu hat sie einen eigenen Verteilungsapparat zur Verfügung, der ebenso wie der Fotoapparat als technische Einrichtung der Informationserzeugung nach Maßgabe eines bestimmten und bestimmenden Programms funktioniert. 57 Jäger, a.a.O., S. 135 58 Vgl. Flusser, a.a.O., S. 45 59 Flusser, a.a.O., S. 46 122

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Eine wichtige Funktion des Verteilungsapparats besteht dabei darin, seine zu distribuierenden Informationen, die Fotografien, zu kanalisieren, d.h. auf verschiedene Verteilungskanäle zu verteilen. Je nachdem, welchen Kanälen sie zugeteilt werden, lassen sich Fotografien theoretisch in folgende Informationsklassen einordnen: „in indikative Informationen vom Typ ‚A ist A‘, in imperative vom Typ ‚A soll A sein‘ und in optative vom Typ ‚A möge A sein‘.“60 Gemäß dieser Informationsklassen lassen sich drei große Bereiche der gesellschaftlichen Kommunikation mittels Fotografien abgrenzen, in denen diese jeweils dominieren: der Bereich der Wissenschaft (indikativ), der der Politik in einem sehr allgemeinen Sinne (imperativ) und der der Kunst (optativ). Jeder dieser Kommunikationsbereiche hat dementsprechend seine eigenen Kanäle für die Verteilung der jeweiligen fotografischen Information wie wissenschaftliche Magazine, politische Plakate und Galerien oder Kunstzeitschriften. Nun hat Flusser selbst darauf hingewiesen, dass seine Differenzierungen theoretischer Natur sind, sie in konkreten Kommunikationssituationen also nie rein durchgeführt werden können. Jede wissenschaftliche Information besitzt infolgedessen auch politische und ästhetische Aspekte, so wie umgekehrt jede politische Botschaft auch wissenschaftliche und künstlerische Informationen enthält und jedes Kunstwerk auch wissenschaftlich und politisch imprägniert ist. Demnach sind die Verteilungskanäle auch nicht vollständig gegeneinander abgeschottet, sondern vielmehr durchlässig, so dass „eine Fotografie von einem Kanal in einen anderen hinübergleiten kann.“61 Jeder Kanalwechsel geht dabei freilich mit einem Bedeutungswechsel einher. So erhalten etwa Fotografien der Mondlandung eine neue Bedeutung, wenn sie aus astronomischen Fachzeitschriften auf Werbeplakate und anschließend in eine Kunstausstellung wandern.62 Für eine Betrachtung der Fotografie als Symbolismus und die damit einhergehende Analyse ihrer kommunikativen Funktion erscheint es nun am fruchtbarsten, beide genannten Klassifikationsmöglichkeiten miteinander zu verbinden, also einerseits die Zugehörigkeit zu Genres oder Themen als grundsätzliches Einteilungskriterium beizubehalten, um dann aber innerhalb eines solchen Themenfeldes die je nach Informationsklasse unterschiedlichen Darstellungsweisen und die Abhängigkeit der Bedeutung der vermittelten Informationen vom jeweiligen Distributionskanal beschreiben zu können.

60 Flusser, a.a.O., S. 49 61 Flusser, a.a.O., S. 49 62 Vgl. Flusser, a.a.O., S. 49 123

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Es ist klar, dass die folgenden Betrachtungen sich im Wesentlichen auf ein Genre werden konzentrieren müssen und selbst im Rahmen eines so eingegrenzten Untersuchungsfeldes lediglich exemplarisch verfahren können. Aus zwei Gründen scheint dabei die Portraitfotografie besonders geeignet zu sein. Zum einen gehören Portraitfotografien – sei es im privaten Bereich, sei es in den Massenmedien – von Beginn an zu den beliebtesten und daher auch quantitativ zu den besonders häufig vorkommenden Fotografiearten. Zum anderen lassen sich die bisher entwickelten Thesen zum Abbildcharakter von Fotografien anhand von Portraitaufnahmen besonders gut erproben und damit bestätigen. Denn in keinem anderen Genre werden Fotografien so vehement mit dem objektiven Widerspiegelungsanspruch in Verbindung gebracht wie gerade im fotografischen Portrait. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass schon in der bildenden Kunst die Besonderheit des Portraits, die es von anderen Kunstgattungen unterschied, darin gesehen wurde, dass es sich immer „auf ein existierendes Element der Realität in Gestalt einer realen Person“63 bezog. Bereits dem gezeichneten und mehr noch dem gemalten Portrait wird also traditionell eine mimetische Beziehung zu einem menschlichen Vorbild unterstellt. Diese Beziehung wird dabei stets als Grundbedingung des Portraits angeführt, als das, was ein Bild überhaupt erst zu einem Portrait macht, und daher keinesfalls eine „interpretierende Leistung des Betrachters“ sein kann, sondern vielmehr „Ergebnis der Intention des Porträtisten“64 ist und daher dem Portrait selbst inhärent sein muss. Hans-Georg Gadamer hat angesichts dieser Grundbedingung auch von der Okkasionalität des Portraits gesprochen und damit gemeint, dass seine „Bedeutung sich aus der Gelegenheit, in der sie gemeint wird, inhaltlich fortbestimmt, so daß sie mehr enthält als ohne diese Gelegenheit. So enthält das Porträt eine Beziehung auf den Dargestellten, in die man es nicht erst rückt, sondern die in der Darstellung selber ausdrücklich gemeint ist und sie als Porträt charakterisiert.“65 Nach Gadamer ermöglicht erst jene Okkasionalität, dass das Portrait die Leistung erbringt, die ihm üblicherweise zugeschrieben wird – die Individualität des Portraitierten zur Darstellung zu bringen. Damit unterscheidet sich die Menschendarstellung im Portrait aber grundsätzlich von derjenigen, bei der ein Mensch etwa für ein Figurenbild Modell gesessen hat. Hier ist der Mensch nicht als er selbst Gegenstand der Darstellung, er hat vielmehr die Aufgabe, an sich etwas zur Anschauung zu bringen, was ohne ihn in seiner Modellfunktion unanschaulich bliebe. Daher muss in einem solchen Bild der 63 Rudolf Preimesberger, Hannah Baader, Nicola Suthor (Hrsg.), Porträt. Berlin 1999, S. 17 64 Preimesberger u. a., a.a.O., S. 17 65 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Tübingen 1990, S. 149 ff. 124

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als Modell fungierende Mensch auch in seiner Individualität gerade verschwinden oder zumindest zurücktreten hinter dem Schema, das zu veranschaulichen seine Aufgabe ist: „Wirkt [...] in einem Bilde das Modell als Individualität, etwa als eine interessante Type, die dem Maler vor den Pinsel gekommen ist, so ist das ein Einwand gegen das Bild; denn man sieht dann in dem Bilde nicht mehr das, was der Maler darstellen will, sondern unverwandelten Stoff.“66

Dass die Okkasionalität tatsächlich dem Portrait selbst zukommt und zu seinem „kernhaften Bedeutungsgehalt“67 gehört, sieht Gadamer dadurch als bewiesen an, dass ein Portrait auch von einem Betrachter als Portrait angesehen wird, der den Portraitierten selbst gar nicht kennt. Das Gelegentheitliche des Portraits bleibt dann uneinlösbar, ohne dabei allerdings zu verschwinden. Das Portrait vermag dann zwar nicht mehr zu sagen, wer der Dargestellte ist, wohl aber, „daß es ein bestimmtes Individuum ist (und nicht ein Typus).“68 Für Gadamer erhält die Darstellung im Portrait infolgedessen einen geradezu personenhaften Sinn, was bedeutet, „daß der Dargestellte sich selbst in einem Porträt darstellt und mit seinem Porträt repräsentiert.“69 Im Kontext einer solchen Argumentation kann es auch nicht verwundern, dass ein Portrait (außer im Falle einer handwerklich unzureichenden Ausführung) stets Ähnlichkeit mit dem Dargestellten aufweist – er stellt sich ja schließlich selbst dar und ist damit gleichsam selbst, d.h. in seiner individuellen Gegebenheit im Abbild präsent. Die Gedanken, die Gadamer zum gezeichneten oder gemalten Portrait anstellt, weisen, dies dürfte diese kurze Zusammenfassung deutlich gemacht haben, klare Parallelen zu den Ausführungen auf, mit denen Fototheoretiker die Eigenarten des Mediums Fotografie insgesamt zu charakterisieren suchten. Sei es die Idee der Selbstdarstellung, des besonderen Maßes an Ähnlichkeit oder die der daraus resultierenden Authentizität, die eine Fotografie infolgedessen für sich beanspruchen kann – im Lichte der Bemerkungen Gadamers zum Portrait scheint es sich bei Fotografien generell um Portraits in einem allerdings sehr weiten Sinne zu handeln, nämlich um Portraits nicht nur von Menschen, sondern allgemein von dem, was auch immer seine individuelle fotografische Abbildung erfährt. Demnach potenziert sich im fotografischen Portrait jener Anspruch auf Wahrhaftigkeit und Realitätstreue, wie er bereits dem gemalten Portrait, zumindest dem der Neuzeit gegenüber artikuliert wird. Damit erweist sich das 66 67 68 69

Gadamer, a.a.O., S. 149 Gadamer, a.a.O., S. 149 Gadamer, a.a.O., S. 150 Gadamer, a.a.O., S. 151 125

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fotografische Portrait aber als ein Feld, auf dem die bislang eher allgemeinen kritischen Anmerkungen die fotografische Authentizität betreffend auf konkrete Fallbeispiele angewandt und auf ihre Stichhaltigkeit hin geprüft werden können.

4.3.1 Private Portraitfotografie In den ersten Jahrzehnten nach ihrer Erfindung dominierten Portraitaufnahmen die Fotografie, seien es solche von Einzelpersonen oder von Personengruppen, v.a. von Familien. Bis zum Jahre 1860 machten Portraits in Deutschland fast 93% aller hergestellten Daguerreotypen aus, in England immerhin noch fast 79%.70 Ein Grund für die Bevorzugung dieses Bildthemas lag sicherlich in der technischen Beschränkung infolge der extrem langen Belichtungszeiten, die Daguerreotypen aufgrund der geringen Lichtempfindlichkeit des Filmmaterials erforderten und die Fotografen damit ins Atelier zwangen. Doch auch nachdem die Einführung weiter entwickelter Verfahren wie etwa des Kollodiumverfahrens erheblich kürzere Belichtungen des Filmmaterials erlaubte, blieb die Portraitfotografie dominierend. Ursache hierfür war nicht allein eine technische Beschränkung anderer Art, die das Kollodiumverfahren mit sich brachte – die Bildplatten mussten im noch feuchten Zustand entwickelt und fixiert werden, was eine komplett ausgerüstete Dunkelkammer am Ort der Bildaufnahme notwendig machte und im Falle von Außenaufnahmen eben deren Mitführung. Nicht weniger entscheidend für die Dominanz der Portraitfotografie war wohl zum einen die Berufsgruppe der ersten Fotografen, häufig ehemalige Miniaturmaler und Graveure, die sich nun des Mediums bedienten, das ihren ursprünglichen Beruf verdrängt hatte, zum anderen die Nachfrage von Seiten einer breiter werdenden Kundenschicht. Portraits waren nämlich bis ins 19. Jahrhundert hinein „aufgrund der damit verbundenen Kosten nur einer kleinen Oberschicht vorbehalten.“71 Zwar fand das aufstrebende Bürgertum in der Miniaturmalerei und ihren mechanisierten Formen mittels Silhouettenschnitt und Physionotrace72 Möglichkeiten einer kostengünstigen Befriedigung ihres wachsenden Bedürfnisses nach Repräsentation in Form von Portraitdarstellungen. In ihrer einförmigen und starren Ausdruckslosigkeit ent70 Vgl. Jäger, a.a.O., S. 144 71 Jäger, a.a.O., S. 146 72 Der Physionotrace ist eine 1786 von dem Kupferstecher Gilles-Louis Chrétien erfundene Apparatur, die zwei Techniken der Portraitdarstellung – die Silhouette und den Kupferstich – kombinierte. Durch ein Gestell wurden dabei die Umrisse des Schattenbildes auf eine Leinwand projiziert. Der Portraitist musste dann nur noch das Schattenbild, welches er mit Hilfe von Parallelogrammen am Apparat beliebig verkleinern konnte, nachzeichnen, die Umrisse anschließend auf eine Metallplatte übertragen und diese dann gravieren. 126

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sprachen diese Darstellungen aber nur zu oft nicht den an Individualität und Identifizierbarkeit orientierten Vorstellungen der Auftraggeber. Die Fotografie erfüllte dagegen wesentlich besser die kulturellen Erwartungen bezüglich der bildhaften Repräsentation, arbeitete zudem wesentlich schneller und billiger – v.a. bei Gruppenbildern – und erlaubte relativ bald auch eine beliebige Reproduktion der einmal angefertigten Abbildungen. So hatte sie es leicht, jene Abbildungsverfahren zu ersetzen. Aufgrund ihrer ursprünglichen Ausbildung als Portraitmaler verbürgten die frühen Fotografen zudem, dass ihre Aufnahmen zumindest den bekannten, also konventionalisierten Standards der Portraitdarstellung entsprachen, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert durchgesetzt hatten. Als exemplarische Beispiele dieser ersten Stilepoche der Portraitfotografie gelten die Werke von Etienne Carjat und Gustave Le Gray in Frankreich und von David Octavius Hill und Robert Adamson in England. Vor allem aber Gaspard Félix Tournachon, genannt Nadar, verkörpert für viele wie für Gisèle Freund den musterhaften Typus des „Künstlerphotographen“:73 „Die ästhetische Qualität der Bilder liegt darin, daß die Physiognomie das Bild beherrscht und die Bewegungen des Körpers nur dazu dienen, ihren Ausdruck zu unterstreichen. Die Pose wirkt noch unverkrampft. Nadar ist der erste Photograph, der das Gesicht des Menschen neu entdeckt. Die Kamera ist ganz dicht herangerückt an die Intimität der Gesichtslandschaft. Es geht ihm nicht um äußere Schönheit, sondern darum, den charakteristischen Ausdruck eines Menschen zu finden und festzuhalten.“74

Damit Nadar seine künstlerischen Intentionen auf so bemerkenswerte Weise einlösen konnte, mussten für Freund zwei wesentliche Voraussetzungen gegeben sein: eine freundschaftliche Beziehung des Fotografen zu den von ihm Portraitierten und ein berufliches Verantwortungsgefühl, das die fotografische Tätigkeit frei hielt von kommerziellen Geschäftsinteressen und falschen Prätentionen.75 Mit der Kommerzialisierung der Fotografie und der damit einhergehenden Ausrichtung auf den breiten Publikumsgeschmack beginnt infolgedessen für Freund auch der Niedergang der künstlerischen Portraitfotografie. Wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung trug für sie dabei Adolphe-Eugène Disdéri. Dieser verwendete konsequent die bereits bekannten Glasnegative, was die Verarbeitung, v.a. aber die Herstellung einer Vielzahl von Abzügen erleichterte bzw. überhaupt erst ermöglichte. Daneben verkleinerte er das bislang üb73 Gisèle Freund, Photographie und Gesellschaft. Hamburg 1979, S. 42 74 Freund, a.a.O., S. 48 75 Vgl. Freund, a.a.O., S. 48 f. 127

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liche Aufnahmeformat auf die Größe von Visitenkarten, wodurch er mehrere Negative auf einer Kollodiumplatte ablichten konnte. Durch diese technischen Veränderungen wie auch durch die arbeitsteilige Organisation der Produktion seiner Fotografien konnte Disdéri die Preise für Fotos so weit senken, dass breite Kundenschichten auch unter dem neu aufgestiegenen Bürgertum erschlossen werden konnten. Unter dem Einfluss Disdéris wurde der Erwerb einer Fotografie für immer mehr Menschen erschwinglich und das noch relativ junge Medium auf diese Weise populär. Mit den technischen und verfahrensorganisatorischen Neuerungen gingen nun allerdings auch Änderungen ästhetischer Natur einher. G. Freund beschreibt und bewertet diese folgendermaßen: „Betrachtet man die unzähligen Photographien, die Disdéri während seiner Tätigkeit fabriziert hat, so fällt als hervorstechendes Merkmal seiner Bilder das Fehlen jeglicher individuellen Physiognomie auf, wie sie für die Werke des Künstlerphotographen Nadar charakteristisch war. Vor dem Auge des Beschauers ziehen in unabsehbarer Reihe die verschiedensten Stände und Berufe des bürgerlichen Lebens vorüber, hinter deren symbolischer Darstellung die Persönlichkeit des Dargestellten fast völlig verschwunden ist. Die typischen Charaktere einer sozialen Schicht verdecken jegliche Persönlichkeit.“76

Für Freund steht also außer Zweifel, dass mit der Visitenkartenfotografie und ihrer massenhaften und fabrikmäßigen Produktion automatisch ein Verfall der künstlerischen Fotografie einhergeht.77 Wie ist eine solche Bewertung auf der Grundlage der bisher entfalteten symboltheoretischen Deutung fotografischer Abbildungen einzuschätzen? Ein Ertrag der bildtheoretischen Analysen im 3. Kapitel war die Einsicht in die Notwendigkeit, beim Betrachten eines Bildes das, was der Betrachter sieht von dem zu unterscheiden, was er erkennt. Mit Eco könnte man nun sagen, dass ein Betrachter beim Anschauen von Nadars Portrait der Sarah Bernhard und des Gustave Doré (Abb. 2 und 3) visuelle Figuren sieht, also HellDunkel-Kontraste, Winkel, Rundungen und – auf schon etwas komplexerer Ebene – Figur-Hintergrund-Beziehungen.78 Was der Betrachter freilich erkennt, sind ikonische Zeichen wie Nasen, Augen, Haare, Kleidungsstücke, die sich zu ikonischen Aussagen verbinden: dunkelhaarige Frau, hell gekleidet, sitzend, den Kopf in die Hand gestützt bzw. dunkelhaariger Mann, dunkel gekleidet, ebenfalls sitzend, den Arm auf der Stuhllehne ruhend.

76 Freund, a.a.O., S. 74 77 Freund, a.a.O., S. 42 78 Vgl. Eco, a.a.O., S. 258 128

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Entscheidend ist dabei, dass die ikonischen Aussagen, obwohl sie sich aus ikonischen Zeichen kombinatorisch zusammensetzen, ihrerseits erst den Kontext bilden, der die Erkennbarkeit der Zeichen überhaupt gewährleistet. Dass etwas als Nase erkannt wird, hängt also davon ab, dass die Abbildung insgesamt bereits als Darstellung eines menschlichen Gesichts dechiffriert ist. Die Zeichen, die sich zur Aussage verbinden, sind also nicht einfach nur Teile der Bedeutung dieser Aussage, aus denen sich deren Gesamtbedeutung zusammensetzt. Entsprechendes gilt für die ikonischen Figuren, die sich zu den Zeichen verbinden. Das Bild stellt sich dem Betrachter also als „eine Art von Hypersignifikat“79 dar, das zunächst identifiziert sein muss, ehe die Teile, aus denen es sich zusammensetzt, im Akt des Erkennens sinnvoll interpretiert werden können, indem sie im Hinblick auf den Kontext dieses Hypersignifikats erst ihre Teilbedeutungen zugewiesen bekommen. Als Bestandteil eines visuellen Kommunikationsaktes lassen sich wiederum zumindest zwei Ebenen unterscheiden, auf denen sich das Bilderkennen vollzieht. Auf der ikonischen Ebene wird erkannt, was dargestellt wird, in den vorliegenden Fällen also eine Frau bzw. ein Mann, aber noch nicht, auf welche Art und Weise und aus welcher Intention heraus die Darstellung erfolgt. Die ikonische Ebene stellt so gesehen die Ebene der visuellen Denotation dar.80 Auf der ikonografischen Ebene verbinden sich mit den Denotaten, wie sie auf der ikonischen Ebene erkannt worden sind, Konnotationen.81 Auf dieser Ebene konnotiert das Icon Frau in Nadars Sarah Bernhard-Portrait zunächst Schönheit und aufgrund der Bekleidung auch Reichtum. Das Aufstützen des Kopfes vermittelt den Eindruck von Bedächtigkeit und Introvertiertheit und charakterisiert die dargestellte Person dadurch als gebildet und in sich gekehrt. Ihr an der Kamera vorbeigehender Blick nimmt keinen Kontakt zum Betrachter auf und hält ihn dadurch trotz der durch den Bildausschnitt suggerierten Nähe auf Distanz. Die nach oben gerichtete Blickrichtung verweist auf eine transzendente, also auf eine auf Jenseitig-Geistiges gerichtete Orientierung. Im Gegensatz dazu wirkt die Haltung Dorés durch den auf die Stuhllehne aufgestützten Arm offener. Während der Körper in diesem Kniestück fast frontal zum Betrachter ausgerichtet ist, wendet sich der Kopf zur Seite und präsentiert das Gesicht dadurch im Halbprofil. Der Blick ist geradewegs aus dem Bildraum hinaus in die Richtung, in die sich der Portraitierte durch seine Körperhaltung öffnet, gerichtet, als fokussiere dieser etwas in der Ferne. Der

79 Eco, a.a.O., S. 257 80 Vgl. Eco, a.a.O., S. 272 81 Vgl. Eco, a.a.O., S. 272 129

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Dargestellte erweckt so den Eindruck von Aufbruchsbereitschaft, was durch das Kleidungsaccessoire des Schals noch unterstützt wird. Im Bild wird der Portraitierte auf diese Weise als selbstsicher und entschlussfreudig dargestellt. Im Vergleich zu diesen Nadar-Portraits nehmen sich übliche Abbildungen aus dem Atelier Disdéris in der Tat ganz anders aus (Abb. 4). Am auffälligsten ist wahrscheinlich, dass statt des Brustbildes oder des Kniestücks auf den Visitenkartenfotos Ganzfigurendarstellungen dominieren. Damit verliert das Gesicht, auf dem bei Nadar noch der Fokus des Interesses lag, an Bedeutung. Stattdessen wird die Aufmerksamkeit des Betrachters stärker als dies bei Brust- oder Kniestücken der Fall sein kann, auf die Kleidung des Fotografierten gelenkt. Sie dient nun in besonderer Weise dazu, den sozialen Status der portraitierten Personen anzuzeigen und ihren Anspruch auf attraktive Außenwirkung zu unterstreichen. Deshalb achteten diese bei ihren Fotografenterminen auch stets auf gehobene Garderobe in gutem Zustand.82 Zudem weitet sich durch das Abrücken der Kamera vom Fotografierten der Bildraum um diesen herum, was eine Einbeziehung von Dekoration und Ausstattungsgegenständen möglich und notwendig macht. Im vorliegenden Bildbeispiel ist der portraitierte Monsieur Thiers in ein Ensemble aus einem Stuhl auf der einen und einem Tisch auf der anderen Seite eingefügt, wobei von dem Tisch nur noch ein kleiner Teil der Platte und eines Beines erkennbar ist, weil sich ein ausladender, schwerer Vorhang faltenreich über diesen legt. Damit orientiert sich der Fotograf einerseits an der traditionellen Portraitmalerei, v.a. der Herrscherikonografie, in der der drapierte Vorhang, Tisch und Stuhl und darüber hinaus eventuell noch ein Buch zu den üblichen Bildelementen gehörten.83 Andererseits imitierte eine solche Atelierausstattung die bürgerliche oder gar großbürgerliche Wohnkultur,84 ohne sie freilich exakt reproduzieren zu wollen, was die Möglichkeiten eines Fotografen, selbst eines gut verdienenden, sein Atelier entsprechend auszustatten, wohl auch überfordert hätte. Die ikonische Aussage, so könnte man mit Eco sagen, setzt sich in den Bildern Disdéris also aus einem wesentlich breiteren Spektrum aus ikonischen Zeichen zusammen, als dies bei den Portraits von Nadar der Fall gewesen ist. Dies geht einher mit einer Veränderung der Bedeutsamkeit der einzelnen Zeichen für die Bedeutung der Gesamtaussage. Das Gesicht und seine Mimik

82 Vgl. Jäger, a.a.O., S. 156 83 Vgl. Jäger, a.a.O., S. 160 84 Vgl. Jäger, a.a.O., S. 159 130

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verliert offensichtlich an Relevanz, während Zeichen, die als Accessoires äußerlich zum Portraitierten hinzutreten, an Wichtigkeit gewinnen.85 Es sieht also so aus, als müsse man G. Freund in ihrer Einschätzung Recht geben, dass die Darstellung der Persönlichkeit des Portraitierten hinter der Repräsentation eines bürgerlichen Standesbewusstseins zurücktritt. Doch wie sieht es tatsächlich mit der Darstellung der Individualität bei Nadar aus? G. Freund vertritt bezüglich des Portraits und seiner Abbildungsleistung die weitgehend idealistische Vorstellung, „nur in der Physiognomie des Dargestellten lasse sich das Wesen der Person erfassen, nur in den unterscheidbaren Gesichtszügen zeige sich das Individuum“.86 Sie vertritt also noch eine Überzeugung, die im 19. Jahrhundert durchaus weit verbreitet war, was sich an der Entwicklung solcher Wissenschaften wie der Physiognomik oder der Phrenologie zeigt: dass der Körper, v.a. aber das Gesicht gleichsam als Spiegel der Seele Aufschluss zu geben vermag, wie es um die Persönlichkeit des betrachteten Menschen bestellt sei. Dementsprechend muss die Aufmerksamkeit auf dem Gesicht, auf seinem Minenspiel, allenfalls noch auf der Gestik speziell der Hände, die traditionell der Physiognomie des Menschen zugerechnet werden, liegen. Aufgabe des Fotografen ist es dann, das, was sich an Charakteristischem am Gesicht einer Person ablesen lässt, angemessen zur Darstellung zu bringen. Dies bedeutet zuallererst, den zu Portraitierenden in eine Haltung zu bringen, die entspannt und locker ist. Was Freund an Nadar denn auch hervorhebt, ist, dass die Posen der von ihm Fotografierten noch unverkrampft wirken. Sie bringt damit ihre Einschätzung zum Ausdruck, dass es Nadar besonders gut gelungen ist, jene Forderung der zeitgenössischen Portraitästhetik nach der ‚natürlichen Pose‘ zu erfüllen. Wie merkwürdig die Vorstellung von der Natürlichkeit der Pose beim Fotografiertwerden nun allerdings ist, kommt bereits in der Selbstwidersprüchlichkeit dieser Wendung zum Ausdruck. Denn nichts liegt der Pose ferner, als natürlich zu sein. Auf diesen Umstand hat Roland Barthes überzeugend hingewiesen: „Sobald ich nun das Objektiv auf mich gerichtet fühle, ist alles anders: ich nehme eine „posierende“ Hal-

85 Gelegentlich hatten die verwendeten Möbel über ihre Inszenierungsfunktion hinaus aber noch die Aufgabe, den Portraitierten als Gegenstände zum Abstützen zu dienen, um es ihnen dadurch zu erleichtern, für die Dauer des Belichtungsvorgangs eine bestimmte Haltung einzunehmen. Alternativ dazu, wohl auch im Falle des Monsiuer Thiers, kamen Stützvorrichtungen zum Einsatz, die das Stillhalten zwar effektiv gewährleisteten, allerdings um den Preis einer etwas steifen Wirkung. 86 Andreas Köstler in: Andreas Köstler, Ernst Seidl (Hrsg.), Bildnis und Image. Das Portrait zwischen Intention und Rezeption. Köln, Weimar, Wien 1998, S. 11 131

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tung ein, schaffe mir auf der Stelle einen anderen Körper, verwandle mich bereits im voraus zum Bild.“87 Der Fotografierte wird also schon vor dem eigentlichen Aufnahmeakt zum Bild. Bereits das Bewusstsein, jetzt bzw. gleich fotografiert zu werden, lässt ihn eine Haltung einnehmen, die ihn zu einem Körperbild werden lässt, d.h. zu einer Repräsentation seiner selbst in der Materialität des eigenen Körpers. Was über Bilder im Allgemeinen gesagt worden ist, dass sie nämlich schlechterdings nicht natürlich sein können,88 muss für diese Körperbilder, wie sie sich in der Pose manifestieren, gleichermaßen gelten. Dass sie vor oder ohne den eigentlichen Aufnahmeakt keine dauerhafte Fixierung erfahren, ändert an diesem Umstand nichts Wesentliches. Als Objekt eines erwarteten fotografischen Aktes verwandelt sich der Mensch in eine Abbildung seiner selbst, nämlich in die, die er gerne von sich abgeben möchte. Der Akt des Fotografierens erweist sich durch diese Tatsache, dass er das Posieren des Fotografierten geradezu notwendigerweise hervorruft, als durch und durch konventionalisiert. Barthes spricht in diesem Zusammenhang daher auch von einem Gesellschaftsspiel, auf das sich der Fotografierte einlässt: „[...] ich posiere, weiß, daß ich es tue, will, daß ihr es wißt, und doch soll diese zusätzliche Botschaft nicht im mindesten das kostbare Wesen meiner Individualität verfälschen (fürwahr die Quadratur des Kreises): das, was ich bin, unabhängig von jedem Bildnis.“89 Damit erweist sich aber die Vorstellung, dass die Portraitfotografie überhaupt ein authentisches Abbild der Persönlichkeit eines Menschen im dargelegten idealistischen Sinne geben könnte, als irrig, und so auch G. Freunds Einschätzungen der Fotografien Nadars. Auch Nadar inszenierte die von ihm Fotografierten, d.h. er gestaltete ihre Posen, mit denen er es immer schon zu tun hatte. Er benutzte dazu bestehende ikonografische Codes, nämlich solche der Mimik und Gestik, um die Konnotationen des Betrachters, wie sie sich auf der ikonografischen Ebene des Bildverstehens einstellen, zu steuern – um so die von ihm Portraitierten auf eine Art und Weise dem Betrachter erscheinen zu lassen, wie es für sie und auch für ihn als Fotografen wünschenswert war. Der Unterschied der Fotografien von Nadar einer- und von Disdéri andererseits besteht dann lediglich darin, dass sich beide Fotografen unterschiedlicher Codes bedienten, die verschiedene ikonische Zeichen zur Verfügung stellten, um ikonische Aussagen zu komponieren. Dass Disdéri einen anderen ikonischen Code verwendet hat als Nadar, muss dabei nicht als Indiz für dessen künstlerische Unzulänglichkeit gelten;

87 R. Barthes, a.a.O., S. 19 88 Vgl. Kap. 3.1 89 Barthes, a.a.O., S. 20 132

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es kann vielmehr auch als Anzeichen dafür gewertet werden, dass sich die allgemeinen gesellschaftlichen Vorstellungen davon, was Individualität bedeutet, wodurch sie begründet wird und wie sie sich letztlich äußert, schon zu dessen Zeiten im Wandel befunden haben. Tatsächlich kann Disdéris Abrücken vom Gesicht durchaus auch als (ihm selbst nicht notwendig bewusster) Reflex auf eine Entwicklung angesehen werden, die Gille Deleuze und Félix Guattari folgendermaßen beschrieben haben: „Das Gesicht ist eine Oberfläche: Gesichtszüge, Linien, Falten, ein langes, rechteckiges oder dreieckigen Gesicht; das Gesicht ist eine Karte, selbst wenn es an einem Volumen haftet und es umgibt, selbst wenn es Aushöhlungen, die nur noch als Löcher vorhanden sind, umfaßt und einrahmt. [...] Ein Gesicht kommt nur dann zustande, wenn der Kopf nicht mehr ein Teil des Körpers ist, wenn er nicht mehr vom Körper codiert wird und selbst keinen polyvoken, mehrdimensionalen Körpercode mehr hat – wenn der Körper, inklusive Kopf, von etwas, das man als Gesicht bezeichnet, decodiert wird, übercodiert werden muß. Das bedeutet also, daß der Kopf und alle Volumen- und Aushöhlungs-Elemente des Kopfes zu einem Gesicht gemacht werden müssen. [...] Die Erschaffung geht nicht nach der Ähnlichkeit vor, sondern nach Proportionsverhältnissen. Es ist ein viel unbewußterer und maschinellerer Vorgang, bei dem [...] das Gesicht nicht die Rolle eines Modells oder Bildes spielt, sondern die einer Übercodierung aller decodierten Körperteile. [...] Wenn selbst der menschliche Kopf nicht unbedingt ein Gesicht ist, wird das Gesicht innerhalb der Menschheit geschaffen, allerdings aufgrund einer Notwendigkeit, die nicht dem Menschen „allgemein“ zu eigen ist.“90

Die grundlegende Behauptung, die in diesem Textabschnitt geäußert wird, ist die, dass das Gesicht nicht etwa per se, also quasi natürlich gegeben ist, sondern vielmehr erst geschaffen werden muss. Auch wenn der Kopf als Teil des menschlichen Körpers dabei gleichsam die materielle Grundlage stellt, so ist das Gesicht als Resultat dieses Erschaffungsprozesses letztlich doch in seiner Bedeutung abgelöst von dieser Grundlage. Die Bedeutung eines Gesichts, das, was durch es zur Anschauung kommt, setzt sich also nicht aus den Bedeutungskomponenten der körperlichen Erscheinungen zusammen, aus denen es sich kombiniert, also aus den Bedeutungskomponenten der Volumen- oder Aushöhlungselemente des Kopfes. Vielmehr erhält umgekehrt der Körper, beginnend beim Kopf, seine Bedeutung aus der des Gesichts. Das Gesicht wirkt im Sinne einer Übercodierung rückwirkend bedeutungszuweisend auf

90 Gille Deleuze, Félix Guattari, Die Erschaffung des Gesichts. In: Dies., Tausend Plateaus. Berlin 1992, S. 233-235 133

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die körperlichen Elemente, aus denen es sich letztlich kombinatorisch zusammensetzt. Was Deleuze und Guattari über den Prozess der Gesichtserschaffung aus einer körperlichen Grundlage heraus sagen, erinnert in vielem an Ecos Beschreibung des Bildverstehens. So wie die ikonische Aussage als Hypersignifikat erst das Verständnis ihrer eigenen materiellen Grundlage, der ikonischen Zeichen nämlich, gewährleistet, so wird der Kopf erst dann als Grundlage des Gesichts aufgefasst, wenn die Bedeutungseinheit Gesicht schon längst decodiert und auf den Kopf projiziert ist. Damit erweist sich aber der Prozess des Gesichterkennens als analog zum Prozess des Bilderkennens. Wie dieses muss jenes ein produktiver, bedeutungszuweisender Akt des Erkennenden sein. Infolgedessen müssen beide auch konventionalisierte, also durch einen Code gesteuerte Vorgänge sein. Daraus folgt aber, dass das Gesicht keineswegs als natürliche Gegebenheit angesehen werden kann, die als Symptom für innere Wesensmerkmale einer Person fungieren könnte, sondern vielmehr als kulturelles Phänomen aufgefasst werden muss, als Produkt eines gesellschaftlichen Konstitutionsprozesses und damit als Resultat sozialer Interaktion: „Das Gesicht ist nichts Gegebenes, sondern realisiert sich immer erst interaktiv zu einem weiteren. Das individuierte, konkrete Gesicht entsteht also erst durch die Absetzung von einem alternativen Gesicht.“91 Dass dem so ist, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass auch die individuelle Persönlichkeit, die man im Zuge der traditionellen, aufklärerischen, v.a. aber hegelianisch-idealistischen Konzeption des Subjekts hinter diesem meinte erblicken zu können, erst auf der Basis gesellschaftlicher Erwartungen entsteht, gleichsam als Komplex sozialer Rollen, die der einzelne im Zuge vielfältiger Kommunikationsinteraktionen erfüllt. Das, was dabei als Selbst auftritt, ist also in erster Linie sozial determiniert. Demnach kann die Bedeutung des Gesichts sich nicht aus einem authentischen Persönlichkeitskern heraus ergeben, sondern muss vielmehr aus einer sozialen und damit kulturellen Codierung resultieren. Dieser Befund der prinzipiellen Bildlichkeit des Gesichts legt ein Verständnis des Persönlichkeitsbegriffs nahe, der sich wieder mehr an der ursprünglichen Bedeutung des lateinischen, aus dem Bereich des Theaters stammenden Terminus orientiert, von dem er sich ableitet. Demnach bezeichnet persona zunächst die Maske und damit die Rolle in einem Schauspiel und darauf basierend die Rolle, die jemand in seinem Leben spielt. Die Relationalität der Figur auf der Bühne, wie sie sich aus dem Zusammenspiel mit anderen Figuren ergibt, ist dabei auch im modernen soziologischen Personenbegriff ein relevantes Element geblieben: „Das In-der-Rolle-Sein des Schauspie91 N. Suthor in: Preimesberger u.a., a.a.O., S. 470 134

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lers ist das Modell, an dem das In-Beziehung-Sein der Person ursprünglich abgelesen wurde.“92 Die Physiognomie des Menschen erweist sich so gesehen als Rollenspiel, das er im Laufe seines Lebens durch soziale Interaktion erworben hat: „Die Grundlagen der Mimik sind dem Menschen angeboren [...]. Dennoch tritt unsere Mimik ab frühester Kindheit mit der Umwelt in Kommunikation und hört bald auf, lediglich elementarer Ausdruck unseres unmittelbaren inneren Empfindens zu sein. Am Anfang unseres Lernens steht der Nachahmungstrieb, das physiognomisch-mimische Eingehen auf unsere Umwelt: Bewegungen, Mienen werden aufgenommen und kopiert, aber auch anerzogen. Das elementar Angeborene wird gesellschaftlich überformt. Der ‚Prozeß der Zivilisation‘ zwingt uns zur Kontrolle der Gesichtszüge – macht uns gegebenenfalls zu pathognomischen Lügnern –, vereinert aber auch unsere Mimik. Wir lernen ganz selbstverständlich, oft vollkommen unbewußt, mit ihr umzugehen und sie einzusetzen, sei es aus Anpassung, aus Berechnung, aus Lust an der Selbstinszenierung oder aus Freude an der Nachahmung.“93

Das, was als Charakter begriffen wird, erweist sich im Licht dieser Lesart also als abhängig von der sozialen Stellung eines Menschen und den dadurch bedingten sozial-kommunikativen Kontext, in dem er aufwächst und lebt. Gisèle Freunds Diagnose, dass Disdéri und die ihm folgenden Fotografen lediglich Masken in einem zur Requisitenkammer eines Theaters ausgebauten Atelier dargestellt hätten,94 trifft also durchaus einen wesentlichen Aspekt der von ihnen angefertigten Portraitfotografien. Die Kritik, die sie an ihnen darauf basierend übt, muss allerdings insofern zurückgewiesen werden, als sich der idealistische Impetus, aus dem heraus sie erfolgt, als nicht haltbar erweist. Das Zurücktreten einer physiognomisch gedeuteten Individualität ist nämlich keineswegs alleine darauf zurückzuführen, dass sich die Fotografen dem nivellierenden Massengeschmack ihrer weitgehend ungebildeten Kundenschicht anpassten.95 In der vermeintlichen Maskenhaftigkeit der Darstellung von Personen im Stile der Visitenkartenfotografie spiegelt sich vielmehr besonders deutlich die Tatsache der gesellschaftlichen Konstitution der individuellen Persönlichkeit wieder. Anders gesagt: Disdéri und die anderen carte-de-visiteFotografen konnten gar nicht anders als die von ihnen Portraitierten als Träger gesellschaftlicher Rollen und ihre Gesichter als Masken darzustellen, weil ih-

92 Michael Theunissen, Skeptische Betrachtungen über den anthropologischen Personenbegriff. In: H. Rombach (Hg.), Die Frage nach dem Menschen. Aufriss einer philosophischen Anthropologie. Freiburg, München 1966, S. 483 93 Norbert Borrmann, Kunst und Physiognomik. Menschendeutung und Menschendarstellung im Abendland. Köln 1994, S. 164 f. 94 Vgl. Freund, a.a.O., S. 74 f. 95 Vgl. Freund, a.a.O., S. 73 135

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re Kunden nun einmal Rollenträger waren und deren Gesichter eben Masken: „Die Maske verbirgt das Gesicht nicht, sie ist das Gesicht.“96 Als seinerseits gesellschaftliches Produkt kann das Gesicht gar nicht eine von der Gesellschaft unabhängig gedachte persönliche Authentizität zum Ausdruck bringen, sondern immer nur als Ausdruck eines gesellschaftlichen Images fungieren, wie Erving Goffman es verstanden hat: „Immer aber ist das eigene soziale Image, selbst wenn es persönlichster Besitz und Zentrum der eigenen Sicherheit und des Vergnügens sein kann, nur eine Anleihe von der Gesellschaft; es wird einem entzogen, es sei denn, man verhält sich dessen würdig.“97

Dementsprechend kann die Portraitfotografie gar nicht anders als eben dieses Image des Fotografierten zu reproduzieren und im Portraitfoto zu repräsentieren. Dies gilt nicht weniger für die Fotografien Nadars. Seine Portraits gegen die Disdéris mit dem Hinweis auszuspielen, hier käme noch eine Individualität zum Ausdruck, die bei letzterem verloren gegangen sei, verfehlt die beschriebene Funktion der Fotografie. Hier wie dort handelt es sich um Image transportierende Abbildungen. Hier wie dort diente das Atelier als „Versuchsanordnung gesellschaftlicher Identitätsproduktion und Habitualisierung“,98 hier wie dort fand schließlich „die Hervorbringung des wahren und bedeutsamen Ausdrucks als gesellschaftliches Persönlichkeitstheater statt – ein allmählich perfektioniertes Zusammenwirken der Beteiligten, die fotografische Synchronisation von gesellschaftlichen Idealbildern, tradierten Konventionen, individueller Physiognomie, technischem Verfahren und künstlerischer Ambition.“99 Demnach erscheint es sinnvoll, mit A. Köstler das Verhältnis von Portrait und portraitiertem Individuum anders zu umschreiben: „Spricht man von Bildnis, sollte man von seiner Botschaft reden, die dann auch die Herausstellung des Individuums zum Thema haben kann – zu einem seiner Themen.“100 Portraits stellen also nicht in erster Linie Individuen in ihrer Individualität dar, sondern konstituieren sie wenn überhaupt erst, und zwar dann, wenn dies ihr dominierendes Thema ist. Bei Nadars Fotografien ist dies der Fall, bei Disdéris Bildern liegt der Fokus eher auf der Wirkung auf die Adressaten und auf den Wertungen, die bezüglich der sozialen Stellung der Fotografierten von dieser vorgenommen werden sollten. Nadars und Disdéris Fotografien 96 Deleuze/Guattari, a.a.O., S. 160 97 Erving Goffman, Interaktionsrituale. Frankfurt/M. 1971, S. 15 98 Bernd Busch, Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie. München, Wien 1989, S. 312 99 Busch, a.a.O., S. 314 100 Köstler u.a., a.a.O., S. 13 136

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stellen so gesehen also lediglich zwei Arten dar, das Image, d.h. „die Ganzheit aus Informationen, Vorstellungen und Wertungen, die mit [...] einer Person verknüpft werden“,101 mit dem Medium der Fotografie visuell zu kommunizieren. Ein ästhetisches Urteil lässt sich auf der Grundlage einer solchen thematischen Schwerpunktsetzung freilich nicht fällen oder begründen. Damit soll nicht behauptet werden, dass Nadars und Disdéris Fotografien ästhetisch gleichwertig sind. Sicherlich lässt sich ein Unterschied im ästhetischen Wert finden, wohl auch ein solcher, der Nadar im Vergleich zu Disdéri als Künstler ausweist, dann aber nur auf der Grundlage eines Bewertungskriteriums, das erst noch expliziert werden muss. Die Behauptung einer im Wesentlichen Images bildenden und Images reproduzierenden Funktion der Fotografie im Rahmen der visuellen Kommunikation innerhalb einer Gesellschaft oder Kulturgemeinschaft lässt sich an einem weiteren namhaften Beispiel vertiefen und differenzieren. 1929 erscheint August Sanders „Antlitz der Zeit“, eine Sammlung von „Sechzig Aufnahmen deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts“, wie es im Untertitel heißt. Bereits die Wahl des Titels ist insofern bemerkenswert, als die Vorstellung des Gesichts bzw. der Gesichtlichkeit nun vollständig vom Konzept einer individuellen Person losgelöst ist. Was in der Fotosammlung dagegen sein Antlitz zeigen, was dem Betrachter also physiognomisch gegenübertreten soll, ist die Zeit, d.h. eine bestimmte gesellschaftliche Epoche. Dementsprechend sind die Dargestellten auch weitgehend entindividualisiert: Die Bildtitel verraten keine Namen mehr, sondern beschränken sich auf die Angabe der sozialen Schichtzugehörigkeit (Bauer, Kleinstadtbürger, Arbeiterfamilie) oder des Berufs (Geldbriefträger, Der Arzt). Selbst bei Prominenten wie dem Komponisten Paul Hindemith wird der Name nur durch die Angabe von Initialen angedeutet. Im Zentrum seines thematischen Interesses und seiner Abbildungsintention steht für August Sander also offensichtlich nicht eine vermeintliche am Gesicht ablesbare, benennbare Individualität, sondern der einzelne als Vertreter einer gesellschaftlichen Klasse bzw. seines Berufsstandes. Das Portrait hat sich vollends gewandelt zum Ausdruck einer Klassenzugehörigkeit. In seiner Einleitung zu „Antlitz der Zeit“ schreibt Alfred Döblin denn auch, dass die Bilder Sanders keineswegs, wie es zunächst den Anschein haben mag, Individuen zur Darstellung bringen. Sie können es gar nicht, weil die präsentierten Gesichter längst eine „Abflachung“, d.h. eine „Gleichmachung, das Verwischen persönlicher und privater Unterschiede unter dem

101 Köstler u.a., a.a.O., S. 14 137

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prägenden Stempel einer größeren Gewalt“102 erlitten haben. Döblin kennt zwei solcher größerer Gewalten, die Gesichter abzuflachen vermögen: den Tod, wie an Totenmasken deutlich wird, und die „Kollektivkraft der menschlichen Gesellschaft, der Klasse, der Kulturstufe.“103 Wie sich die dadurch bewirkte Abflachung im Medium der Fotografie spiegelt, lässt sich recht gut am Beispiel des Bildes vom „Handlanger“ (Abb. 5) ablesen. Vor einem durchgehend schwarzen Hintergrund zeichnet sich, durch von oben einfallendes Licht aus dem Dunkel hervorgehoben, die Gestalt des Handlangers ab, der sich in zerschlissener Kleidung und mit leicht gespreizten Beinen frontal dem Bildbetrachter zuwendet. Irgendetwas oberhalb des Abgebildeten, was im Bild selbst nicht zu sehen ist, vielleicht ein Gebäudeteil, wirft einen Schatten auf den Körper des Arbeiters, wodurch seine untere Körperhälfte schwächer ausgeleuchtet ist als die obere. Da diese zudem etwas unschärfer abgebildet ist, wird die Aufmerksamkeit des Betrachters unwillkürlich auf Kopf und Schultern gelenkt, auf denen der Mann eine Holzpalette mit Maurersteinen trägt. Während er mit der linken, durch ein Tuch aus Leder oder ähnlichem geschützten Hand die Ecke der Palette festhält, stützt er den rechten Arm in die Hüfte und vergrößert so die Auflagefläche für die Last auf den Schultern. Die Steine sind in zwei Reihen säuberlich in V-Form auf die Palette gestapelt, wobei sie den Kopf des Handlangers dicht anliegend umgeben. Unter einer Mütze schaut dieser aus einem kantigen Gesicht mit festem Blick, aber ansonsten reglosem Ausdruck hervor. Durch die gleichmäßige, schattenlose Ausleuchtung erscheint das Gesicht glatt und flach und erhält dadurch eine maskenhafte Wirkung. Der Eindruck der Distanz, der von dieser ausgeht, wird noch durch die abstrakte Flächigkeit des Bildes verstärkt, die auf die frontale Stellung des Mannes und den schwarzen Hintergrund, der dem Bild jegliche räumliche Tiefenwirkung nimmt, zurückzuführen ist. Von ihrer gesamten Gestaltung her ist die Fotografie des Handlangers also darauf ausgerichtet, die abgebildete Person in ihrer Physiognomie als durch die ausgeübte Tätigkeit geformt darzustellen und damit als bestimmt durch die gesellschaftliche Stellung, der sich diese Tätigkeit verdankt. Sie versucht erst gar nicht, den Schein von Individualität zu erzeugen, sondern setzt ganz darauf, die originären fotografischen Gestaltungs- und Wirkintentionen zum Einsatz zu bringen. Diese bestehen aber eben darin, den einzelnen als Vertreter seiner gesellschaftlich bestimmten Existenzweise und damit als Repräsentanten einer ihn übersteigenden Allgemeinheit darzustellen, als Rollenwesen, das bis in seine Gesichtszüge hinein von den Umständen geformt ist, unter 102 Alfred Döblin, Von Gesichtern, Bildern und ihrer Wahrheit. In: August Sander, Antlitz der Zeit. Sechzig Aufnahmen deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts. München 1990, S. 7 103 Döblin, a.a.O., S. 10 138

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denen es lebt: „Die Nahrung formt den Menschen, die Luft und das Licht, in dem er sich bewegt, die Arbeit, die er verrichtet oder nicht verrichtet, dann die spezielle Ideologie seiner Klasse.“104 Diese Formung vermag die Fotografie darzustellen, sofern der Fotograf zu denen gehört, die „die großen Universalien für wirksam und real“105 halten, d.h. vor allem jene gesellschaftlichen Gestaltungskräfte, denen der einzelne überhaupt erst seine individuelle Identität verdankt. Das Ziel solcher Fotografen ist eine Soziologie in Bildern von Gesichtern,106 ihr eigentliches Thema demnach der Menschentyp, für den der Fotografierte repräsentativ steht. So individuell die Fotografien Sanders im Besonderen und Portraitfotografien im Allgemeinen auch erscheinen, so sehr können sie doch nicht anders, als die gesellschaftliche und kulturelle Existenz des Menschen, wie sie sich in der Rollenmaske seines Gesichts, in der Pose seiner Gestik äußert, zur Darstellung zu bringen. So erweist sich einmal mehr, dass der vermeintliche Realismus der Fotografie eben nicht in der identischen Reproduktion des Abgebildeten besteht, sondern in der Reproduktion von Wahrnehmungsmustern, die das Aussehen dessen, was wir wahrnehmen, bestimmen. Das Medium verwandelt damit die Realität, die es vermittelt, durch und in der Vermittlung sich und seinem Darstellungsprogramm an – nicht umgekehrt. Für die Portraitfotografie heißt das, dass sie im Fokus des Objektivs „das Menschenbild so weit modernisiert, daß es restlos fotografierbar wird. Die Individualpsychologie hat abgedankt; die Maske ist nicht mehr hintergehbar.“107 Damit zeigt sich auch die eigentliche Funktion der Fotografie, wie sie in ihrem gesellschaftlichen Gebrauch z.B. im Rahmen der Portraitfotografie zu Grunde liegt – und das bis in die heutige Zeit. Fotografieren bedeutet demnach zuallererst, etwas zum Objekt des Fotografierens zu machen, d.h. eine Wahl bezüglich des Gegenstandes und des Genres zu treffen. Dadurch, dass aus der Menge dessen, was technisch fotografiert werden kann, im Akt des Fotografierens etwas Bestimmtes als Motiv ausgewählt wird, wird dieses immer auch auf spezifische Weise aufgewertet, nämlich zu einem Objekt, „das für würdig befunden wird, es zu photographieren, d.h. es festzuhalten, zu konservieren, zu kommunizieren, vorzuzeigen und zu bewundern.“108

104 Döblin, a.a.O., S. 14 105 Döblin, a.a.O., S. 13 106 Vgl. Döblin, a.a.O., S. 13 107 Wolfgang Brückle, Politisierung des Angesichts. Zur Semantik des fotografischen Porträts in der Weimarer Republik. In: Fotogeschichte, 17 (1997), Heft 65, S. 10 108 Pierre Bourdieu, Einleitung. In: P. Bourdieu u.a., Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Frankfurt/M. 1981, S.18 139

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

Fotografieren bedeutet also, die Welt nach den Kategorien ‚Fotografierbares‘-‚Nicht-Fotografierbares‘ im Sinne von ‚fotografierwürdig‘-‚nicht fotografierwürdig‘ zu ordnen und ihre Aneignung dem Akt der erkennenden Wahrnehmung entsprechend zu organisieren. Die Normen, nach denen sich diese Organisation vollzieht, sind die einer gesellschaftlichen Klasse oder einer sonstigen sozialen Gruppe und damit letztlich kulturell bestimmt. Die Betrachtungen zur Portraitfotografie haben dabei gezeigt, dass sich diese kulturelle Organisation der Wahrnehmung von Welt – in diesem speziellen Fall von gesellschaftlicher Welt – bis in die konkrete Art und Weise hinein fortsetzt, das ausgewählte Motiv auch in Szene zu setzen. Die Darstellung des Menschen als Träger einer bestimmten sozialen Rolle, und nur dazu hat sich die Fotografie aufgrund des sie steuernden apparativen Programms als fähig erwiesen, dient der Integration der so repräsentierten Gruppe, „indem sie immer wieder das Gefühl neu bestätigt, das die Gruppe von sich und ihrer Einheit hat.“109 Was also bei Portraitfotografien, und zwar auch schon bei Einzelportraits und nicht erst bei Familien- oder sonstigen Gruppenfotos, eigentlich zum Objekt wird, sind nicht die Individuen, „sondern die Beziehungen zwischen ihnen.“110 Damit sind Portraitfotografien weniger die Reproduktionen der von ihnen dargestellten individuellen Personen, sondern eine Reproduktion des Bildes, das eine kulturelle Gruppe von sich und ihren einzelnen Mitgliedern hat. Als Repräsentant der Gruppe muss der einzelne Fotografierte aber infolgedessen in der Pose zum Bild seiner selbst und damit zum Bild der Gruppe werden, das diese durch die Fotografie reproduziert sehen will. Durch die fortlaufende Reproduktion der Gruppennormen erfahren diese durch die Fotografie ihre Bestätigung. Als „Technik der Wiederholung“111 stellt die Fotografie also auch ein Mittel der Bestätigung dar – der Bestätigung durch Wiederholung dessen, was bestätigt werden soll. So vollzieht sich im Abbilden des einzelnen oder auch einer Familie eigentlich die Abbildung der Gruppe, der dieser oder diese angehört, ihrer Normen und damit letztlich der Ordnungskriterien, nach denen diese eingerichtet ist. Der einzelne steht dabei für das Allgemeine, verleiht diesem sein Gesicht und demonstriert durch seine Pose, dass dieses Achtung und Akzeptanz verdient. Die Fotografie bringt also am Singulären etwas Allgemeines zum Ausdruck und fungiert dabei auch als Mittel, „einmalige Konstellationen, Aspekte der wahrgenommenen Welt festzuschreiben, die [...] ihrer Flüchtigkeit wegen im Grunde gar nicht wahrgenommen werden können.“112

109 Bourdieu, a.a.O., S. 31 110 Bourdieu, a.a.O., S. 36 111 Bourdieu, a.a.O., S. 38 112 Bourdieu, a.a.O., S. 87 140

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Fotografien erfüllen, das dürfte hier deutlich geworden sein, in jeder Hinsicht Funktionen, die als spezifische Symbolfunktionen dargestellt worden sind: Zentrierung und Fixierung kontingenter Wahrnehmungserlebnisse und Aufladen des Fixierten mit überindividueller Bedeutsamkeit durch Relationierung. Die Fotografie als Medium erweist sich dadurch aber als nichts anderes als die apparative Erweiterung eines ursprünglich geistigen Vermögens des Menschen, seine Welt nämlich symbolisch zu formen und damit in eine für ihn fassbare, bedeutsame Gestalt zu bringen. Als Medium in diesem Sinne unterliegt es in jeder Hinsicht in seinem Gebrauch gesellschaftlicher und damit kultureller Normen. Die Produkte dieses Mediums sind dann aber durch dessen gesellschaftliche Gebrauchsweisen geprägt. Für die Fotografie bedeutet dies, dass sie unmöglich objektive Wiedergabe der Wirklichkeit sein kann. „Wenn man die Photographie für die realistische und objektive Aufzeichnung der sichtbaren Welt hält, dann deshalb, weil man ihr (von Anfang an) gesellschaftliche Gebrauchsweisen eingeschrieben hat, die als „realistisch“ und „objektiv“ gelten.“113 In der Fotografie bildet sich genauso wenig die außermediale Wirklichkeit ab, wie in den Produkten anderer Bildmedien auch. Wenn sie etwas zur Anschauung bringt, dann die Art und Weise, wie wir gelernt haben und daher gewohnt sind, die Welt als Welt zu sehen, d.h. als Bedeutsames, Geordnetes und in sich Zusammenhängendes zu begreifen.

4.3.2 Wissenschaftliche Portraitfotografie Die ordnende Funktion der Fotografie für das gesellschaftliche Leben soll noch an einem weiteren Bereich aufgezeigt werden, der in einem weiten Sinne dem wissenschaftlichen Gebrauch des Mediums zuzurechnen ist: dem Bereich der kriminalistischen Fotografie im Umfeld der erkennungsdienstlichen Behandlung von Tatverdächtigen oder verurteilten Straftätern. Die Behauptung, dass Fotografien keine Individuen abbilden, sondern Repräsentanten von gesellschaftlichen Typen scheint im Rahmen dieser Verwendung der Fotografie befremdlich, kommt es doch gerade hier vermeintlich auf die Identifizierbarkeit des einzelnen an. Ein Blick auf die Entwicklung der Verbrecherfotografie, wie sie Susanne Regener in ihrer ausführlichen Studie über die fotografische Erfassung114 nachgezeichnet hat, zeigt allerdings, dass auch der Delinquent mit seiner individuellen Physiognomie nicht dominierendes Thema seiner fotografischen Darstellung durch die Polizei war und ist. Diese vollzog sich in der Frühzeit

113 Bourdieu, a.a.O., S. 86 114 Susanne Regener, Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen. München 1999 141

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der Fotografie zunächst „aus der zeitgenössischen Atelierfotografiepraxis heraus.“115 Infolgedessen unterschieden sich anfangs die Fotografien zum polizeilichen Gebrauch kaum von den Portraitfotos, wie sie für die bürgerliche Kundschaft angefertigt worden sind. So sind sowohl die bürgerliche Dame auf Abbildung 6 wie auch die des Betrugs Angeklagte auf Abbildung 7 sitzend und in schräger Position fotografiert worden. Der Blick beider Frauen läuft an der Kamera vorbei aus dem Bild in die Richtung, nach der sich beide von ihrer Sitzposition her öffnen. Beide sind mittig im Bild angeordnet und gleichmäßig ausgeleuchtet. Damit entspricht die Abbildung der Straftäterin in Pose und technischer Umsetzung all jenen gestalterischen Vorgaben, die der ausführende Fotograf in seiner beruflichen Tätigkeit erfüllen musste. Dementsprechend drückt auch das Foto der Angeklagten jene rollenmäßige Haltung der Würde und Selbstachtung aus, die sonst dem bürgerlichen Klientel vorbehalten bleiben sollte. In einer Hinsicht unterscheiden sich die Fotografien freilich doch voneinander. Während die bürgerliche Dame sauber frisiert und in aufwendiger, gut gepflegter Kleidung dargestellt worden ist, trägt die mutmaßliche Betrügerin Alltagskleidung, auf deren bildmäßige Wirkung der Fotograf zudem wenig Achtsamkeit gelegt hat. Da nun aber die Kleidung, wie dargelegt wurde, eine für die inszenatorische Intention grundlegende Bedeutung in der fotografischen Darstellung bürgerlichen Selbstbewusstseins und Geltungsbedürfnisses hatte, musste die so entstandene Fotografie einen in sich widersprüchlichen Charakter erhalten. Die ikonischen Zeichen, so könnte man mit Eco sagen, fügen sich in diesem Bild nicht zu einer in sich konsistenten ikonischen Aussage, es fehlt ihnen also letztlich an jener Hypersignifikanz, auf der ihre visuelle Bedeutsamkeit überhaupt erst beruht. Ihre vornehmliche Funktion, nämlich die Ordnung der gesellschaftlichen Welt visuell zu reproduzieren, zu vermitteln und damit zu ihrer Erhaltung beizutragen, konnten sie so nicht erfüllen. Fotografien wie die der angeklagten Betrügerin mussten im Verständnis der Zeit daher sinnlos erscheinen und waren so auch für den erkennungsdienstlichen Gebrauch ungeeignet. So verwundert es nicht, dass sich schon bald grundlegende Änderungen im Bereich der Verbrecherfotografie vollzogen. Diese begannen damit, dass der Fotograf „die symbolischen Versatzstücke bürgerlicher Lebensweise beseitigte“116 und die Darzustellenden vor neutralem Hintergrund in einem leer geräumten Raum platzierte, in dem nur noch der Stuhl als Körperstütze angesichts der langen Belichtungszeiten verblieb (vgl. Abb. 8). Hinzu kamen bewusste Verstöße gegen die Regeln aus den Lehrbücher der Fotografie: „Unvorteilhafte Haltungen und unkorrigierte Gesichtsausdrücke kommen vor wie 115 Regener, a.a.O., S. 32 116 Regener, a.a.O., S. 51 142

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unregelmäßige Ausleuchtung, perspektivische Verzerrung und Bildausschnitte, bei denen der Kopf im Verhältnis zum Körper zu groß erscheint oder Hände abgeschnitten wurden.“117 In einem nächsten Schritt, nicht zuletzt ermöglicht durch die erhöhte Mobilität der Fotografen infolge der fortschreitenden fotografietechnologischen Entwicklung, ging man dazu über, die Fotografen ins Gefängnis zu bestellen, statt wie bislang die Straftäter ins Atelier zu bringen. Mit diesem Wechsel des Herstellungsortes ging auch eine grundlegende Änderung der Bildästhetik einher. In der Regel wurden die Personen nun vor einer Mauer abgelichtet, vor einem Hintergrund also, der „in der Zeichenwelt der professionellen Fotografie bis dahin nicht existent gewesen“118 ist. Zudem setzt sich mehr und mehr die Frontalansicht auf den Fotografierten durch, wie sie später zum Standard erhoben werden sollte. Insgesamt erhalten im Bereich der Kriminalfotografie damit Prinzipien der Bildgestaltung Gültigkeit, die die Fotografien gerade nicht inszeniert wirken lassen sollten und dadurch geradezu im Kontrast zur Ästhetik der verbreiteten Atelierfotografie standen. Den Höhepunkt und Abschluss erreichte diese Entwicklung einer spezifischen Delinquentenfotografie aber mit der Einführung des Systems zur dokumentarischen Erfassung eines Beschuldigten, das auf den Leiter des Erkennungsdienstes der Pariser Polizei, Alphons Bertillon, zurückgeht und mit Abwandlungen noch heute der erkennungsdienstlichen Erfassung dient. Dieses System bestand aus verschiedenen Teilen, nämlich aus der Auflistung biometrischer Daten wie Körpergröße, Gewicht u.ä., später ergänzt durch Fingerabdrücke, aus einer Beschreibung der körperlichen Erscheinung, v.a. des Gesichts (d.h. aus einem sogenannten portrait parlé), aus der Auflistung besonderer Kennzeichen und eben aus Fotografien. Erst die Kombination aller dieser Teile, davon war Bertillon überzeugt, konnte die einwandfreie Identifizierung einer Person gewährleisten. Zumal die identifikatorische Leistung der Fotografien allein durchaus nicht unbezweifelt war, waren doch Beispiele bekannt, „die die Ähnlichkeit der Abbildungen verschiedener Personen oder die Unähnlichkeit zweier Aufnahmen ein und derselben Person zeigten.“119 Nichtsdestotrotz glaubte Bertillon durchaus an die prinzipielle Möglichkeit der Herstellung von fotografischen Abbildungen, die ein hohes Maß an Ähnlichkeit mit den abgebildeten Personen aufweisen könnten. Dazu müssten nur alle inszenatorischen Impulse auf Seiten des Fotografen ausgeschaltet werden. Um dies zu erreichen, entwickelte er ein standardisiertes Verfahren zur Herstellung von Personenfotografien. Dabei griff er im Wesentlichen auf Regeln

117 Regener, a.a.O., S. 57 118 Regener, a.a.O., S. 70 119 Regener, a.a.O., S. 133 143

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zurück, wie sie bereits in der ethnografischen und anthropologischen Fotografie entwickelt worden waren. Dazu gehörte die „Präsentation des Individuums vor der Kamera in en-face- und en-profil-Stellung, ein stets heller Hintergrund für die Kontrastwirkung und ein einheitlicher Verkleinerungsmaßstab“120 (Abb. 9). Zur exakten Einhaltung dieser Standardvorgaben wurde eine technische Vorrichtung entwickelt, die aus einem Aufnahmestuhl bestand, der so geformt und mit Stützvorrichtungen für den Kopf versehen war, dass der Fotografierte in eine ganz bestimmte Haltung gezwungen wurde, und der um 90° gedreht werden konnte, so dass der Fotografierte für die Anfertigung der Profilaufnahme seine Haltung nicht verändern musste. Der genau abgemessene Abstand des Fotoapparats zum Stuhl sowie die Verwendung der immer gleichen Plattengröße garantierten den gewünschten Abbildungsmaßstab. Die Standardisierung des Abbildungsverfahrens und seine damit einhergehende Technisierung führten zu einer derartigen Vereinfachung der Herstellung der gewünschten Personenfotografien, dass der Akt der Aufnahme in die Hände von Polizeibeamten gelegt und damit auf die Mitwirkung professioneller Fotografen, die die Standardisierung eventuell hätten unterlaufen können, verzichtet werden konnte. Die Einführung des Systems von Bertillon zeitigte weitreichende Folgen. Mit seinem Verfahren der standardisierten und damit stets reproduzierbaren Herstellung von Abbildungen des Menschen betrieb er eine Verwissenschaftlichung der Personenfotografie, die die Verobjektivierung des Menschen ins Extrem trieb. Der Mensch ist nun wirklich voll und ganz zum bloßen Gegenstand der fotografischen Erfassung geworden. Dies führte aber nun keineswegs dazu, dass der einzelne in seiner Unverwechselbarkeit zum Thema dieser fotografischen Erfassung wurde. Vielmehr war die Entwicklung des Systems Bertillons mit der Herausbildung eines spezifischen visuellen Musters verbunden. Auch wenn die standardisierte Methodik mit dem Anspruch entwickelt wurde, im Dienste der Identifikation möglichst exakte Aufnahmen herzustellen, d.h. solche, die so detailliert und wirklichkeitsgetreu wie möglich spezifische Merkmale der fotografierten Personen widerspiegeln sollten, so erreichte sie jenseits dieser eigentlichen Intention doch nur die Etikettierung der dargestellten Personen als Verbrecher. Bertillons Abbildungsverfahren diente letztlich der Ausbildung eines neuen visuellen Codes, der es ermöglichte, die Dargestellten ikonografisch zu klassifizieren, nämlich als die Anderen, die Außenseiter, die nicht der Gemeinschaft der bürgerlichen Gesellschaft zuzurechnen sind. Die spezifische Form der Abbildung, wie sie Menschen in der Polizeifotografie erleiden müssen, dient also in erster Linie der „klassifikatorischen Zurichtung des outsider“, was aber nach dem bisher über die symbolische Verfasstheit der Wirklichkeitsordnungen Gesagten 120 Regener, a.a.O., S. 149 144

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nichts anderes bedeutet, als dass „durch die sinnstiftenden Strategien wissenschaftlicher Wahrnehmungs- und Deutungsmuster [...] Fotos zu Dokumenten einer symbolischen Erfassung“121 werden. Damit zeigt sich selbst im wissenschaftlichen Bereich mit seinem explizit objektiven Anspruch, dass die Fotografie die erfasste Wirklichkeit nicht etwa bloß widerspiegelt, sondern im Akt der Erfassung erst erzeugt. Die visuelle Repräsentation des Menschen im Modus der Verbrecherfotografie belegt ihn überhaupt erst mit einer Bedeutung, wie sie aus der Kategorisierung ‚Normalbürger‘ und ‚krimineller Außenseiter‘ entspringt. So erweist sich erneut, dass die Fotografie „eben nicht nur darstellendes Medium, sondern selbst am Prozeß der sich nach und nach differenzierenden Wahrnehmung beteiligt“122 ist. Fotografie im Bereich der Darstellung von Menschen ist also kein Mittel zur getreuen Abbildung von Gesichtern, sondern zur Erzeugung von Images und damit zur Erzeugung einer „Gesichterordnung, die unterscheidet zwischen gut und böse, gesellschaftlich inside und outside.“123 Wie auch bei der Atelierfotografie dient der einzelne Fotografierte bloß als Repräsentant einer Gruppe, die im Foto zwar anhand dieses einzelnen, aber letztlich in ihrer Gesamtheit dargestellt wird. Auch als Polizeifotografie transformiert das Medium das Abgebildete in ein Symbol, in einen Bedeutungsträger, an dessen Singularität etwas Allgemeines zur Anschauung kommt, hier die Ordnung der gesellschaftlichen Strukturierung. So wie die bürgerliche Portraitfotografie als Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer bedeutsamen gesellschaftlichen Gruppe fungiert und darüber hinaus, etwa als Teil eines Familienalbums, die Verortung in einen genealogischen Gesamtzusammenhang gewährleistet, bewirkt die Darstellung im Modus der Polizeifotografie die Zuweisung der Gegenrolle und damit die Ausgrenzung aus dem bürgerlichen Gesellschaftskontext. Hier wie dort wird das Individuum als gesellschaftlich konstituiert angesehen und entsprechend vorstellig gemacht: als Rollenträger und damit in seiner Einzigartigkeit eigentlich bestimmt durch die von ihm erfüllten sozialen Rollen. Atelier- und Verbrecherfotografie erweisen sich damit als zwei Ausprägungen eines apparativen Programms, das in jedem Fall die Funktion einer visuellen Ordnung der gesellschaftlichen Realität und damit eines Teilbereichs der menschlichen Realität124 überhaupt erfüllt. Die Fotografie ist auch und selbst in ihrem wissenschaftlichen Gebrauch kein Mittel zur Wiedergabe der Wirklichkeit an sich, sondern die apparative Erweiterung des ursprünglichen symbolischen Vermögens des Menschen, die Umwelt, in der er sich befindet, 121 Regener, a.a.O., S. 14 122 Regener, a.a.O., S. 90 123 Regener, a.a.O., S. 17 124 Zur Differenzierung der Begriffe ‚Realität‘ und ‚Wirklichkeit‘ vgl. Kap. 1.5 145

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nach Maßgabe eigener geistiger Kriterien in eine geordnete Welt umzuformen. Objektiv ist die Fotografie dabei allenfalls insofern, als sie die kulturellen Ordnungsprinzipien, die sie veranschaulicht, durch eben diese Veranschaulichung objektiviert, d.h. zu einem Teil der gesellschaftlichen Kommunikation macht. Da sich eine solche Kommunikation aber immer nur zwischen Subjekten ereignet, wäre es wohl angemessener, von einer Intersubjektivität der Fotografie zu sprechen. Gleichwohl ist und bleibt der Glaube an das Vermögen der Fotografie, Wirklichkeit getreu abzubilden, Teil eben dieses kulturellen Diskurses. Offensichtlich ist die Erfüllung der beschriebenen Funktionen durch die Fotografie im Rahmen ihres gesellschaftlichen Gebrauchs an eben jenen Glauben an die Objektivität des fotografisch Abgebildeten gebunden. Die Behauptung, dieser Glaube resultiere aus einem naiven Missverständnis oder aus einer Unkenntnis der konventionellen Natur auch der fotografischen Abbildung, greift dann zu kurz. Vielmehr, so scheint es, ist jenes „Versprechen der Fotografie“125 Teil ihres eigenen medialen Programms, auf Grund dessen sie überhaupt erst ihre wirklichkeitsordnende Kraft entfalten kann. Der Glaube an die Objektivität der Fotografie und an ihre naturgetreue Abbildungsleistung geht also dem Gebrauch der Fotografie voraus und resultiert nicht aus diesem als Erfahrungstatsache. Er ist gleichsam Bestandteil ihrer symbolistischen Ideologie. Diese Einsicht ermöglicht es nun, genauer zu bestimmen, welcher Art von Symbolismus die Fotografie zuzurechnen ist.

4.4 Die Fotografie als mediale Erweiterung des m yt h i s c h e n S ym b o l i s m u s Ernst Cassirer unterscheidet verschiedene Arten, die Erfahrungswirklichkeit zu gestalten und damit in eine sinnvolle Form zu bringen. Neben der Sprache und der Wissenschaft nennt er den Mythos als Symbolsphäre und damit als Grundprinzip, aufgrund dessen sinnliche Erscheinungen für uns ihren gegenständlichen Charakter gewinnen, ihrer Zufälligkeit entkleidet werden und sich so erst zu Sinnzusammenhängen fügen. Stets verknüpfen sich dabei sinnliche Gegebenheiten mit einer bestimmten Bedeutung, fungiert das Sinnliche also als Zeichen, an dem ein das Sinnliche in seiner konkreten Einmaligkeit übersteigernder Sinn repräsentiert wird. Insofern vollzieht sich bereits die einfache, primäre Wahrnehmung nicht unmittelbar, sondern symbolisch vermittelt,

125 Vgl. Boris Groys, Das Versprechen der Fotografie. In: Das Versprechen der Fotografie.DieSammlungderDGBank,hg.vonL.Sabau.München,London, New York 1998 146

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d.h. als Resultat eines theoretischen, bedeutungsstiftenden geistigen Akts des Menschen: „In Wahrheit ist jedoch schon das, was wir die Welt unserer Wahrnehmung nennen, kein Einfaches, von Anfang an selbstverständlich Gegebenes, sondern es „ist“ nur, sofern es durch gewisse theoretische Grundakte hindurchgegangen, durch sie erfaßt, „apprehendiert“ und bestimmt ist.“126

Im Prozess der Wahrnehmung vollzieht sich also ein Übergang von der Sphäre der unmittelbaren sinnlichen Eindrücke zu einer Welt der anschaulichen Vorstellungen, die insofern erst zu Recht die Bezeichnung ‚Welt‘ verdient, als sich erst hier aus dem Kontinuum kontingenter Sinneseindrücke konstante Verhältnisse herausheben und ein festes Sinngefüge, also so etwas wie eine Weltordnung bilden. Das einzelne Wahrnehmungsereignis kommt uns also immer nur insofern zu Bewusstsein, als an ihm die Form des Allgemeinen, für das es steht, mit zur Anschauung kommt: „Die Erfassung, die bloße Apprehension des Einzelnen, erfolgt somit, in dieser Form des Denkens, bereits sub specie des Gesetzesbegriffs. Das Einzelne, das besondere Sein und das konkret-besondere Geschehen, ist und besteht; aber dieser sein Bestand ist ihm nur dadurch gesichert und verbürgt, daß wir es als einen Sonderfall eines allgemeinen Gesetzes oder genauer gesagt, eines Inbegriffs, eines Systems allgemeiner Gesetze denken können und denken müssen. Die Objektivität dieses Weltbildes ist somit nichts anderes als der Ausdruck seiner vollständigen Geschlossenheit, als der Ausdruck der Tatsache, daß wir in und mit jedem Einzelnen die Form des Ganzen mitdenken und das Einzelne somit gleichsam nur als einen besonderen Ausdruck, als einen „Repräsentanten“ dieser Gesamtform ansehen.“127

Jede bewusste Wahrnehmung vollzieht sich also auf der Basis einer Abstraktion, durch die Unwesentliches unterdrückt und Wesentliches betont und dadurch überhaupt erst wahrnehmbar wird. Alles, was bewusst wahrgenommen wird, ist also immer schon auf das reduziert, was sich an ihm konstant zeigt, was mit anderen Worten typisch für es ist. Damit liegt im Akt der Wahrnehmung immer auch ein Akt der Formung begründet, durch den das Einzelne als typischer Repräsentant für etwas Allgemeines konstituiert wird und dadurch seine spezifische Bedeutsamkeit erlangt. Erst als ein solches Bedeutsames erlangt es überhaupt erst seine wahrnehmbare Gegenständlichkeit, also seine Objektivität, durch die es für uns dann bewusst wahrnehmbar wird. Das Bedeutsamwerden im Akt der Wahrnehmung geht also dem eigentlichen Ge-

126 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil (PsF II). Darmstadt 1973, S. 40 127 PsF II, S. 42 f. 147

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wahrwerden stets voraus: „Ohne erlebte Bedeutsamkeit keine Wahrnehmung.“128 In der Art und Weise, wie dieser Akt der geistigen Formung sich nun im einzelnen vollzieht, unterscheiden sich die Symbolismen voneinander. Für Cassirer stellt der Mythos die erste und in gewisser Hinsicht ursprünglichste Form der symbolischen Gestaltung dar, was sich daran zeigt, dass er „noch nicht den Charakter der freien geistigen Tat, sondern den Charakter der naturhaften Notwendigkeit, den Charakter eines bestimmten psychologischen „Mechanismus“ an sich“129 trägt. Infolgedessen bleibt das Bewusstsein noch sehr stark in die von ihm selbst erzeugte Welt der Zeichen und Symbole eingebunden, weshalb ihm dessen symbolische Konstitution auch noch verschlossen bleibt. Das, was erst dank seiner symbolischen Formung, also als Zeichen, Objektivität erlangt, wird vom mythischen Denken als objektive Wirklichkeit aufgefasst. Die Unterscheidung zwischen dem Zeichen in seiner sinnlichen Anschaulichkeit und seiner ideellen Bedeutung, von Symbol und Symbolisiertem, wird auf dieser Stufe geistig-gestalterischer Wahrnehmung noch nicht vollzogen: „Wo wir ein Verhältnis der bloßen „Repräsentation“ sehen, da besteht für den Mythos, sofern er von seiner Grund- und Urform noch nicht abgewichen und von seiner Ursprünglichkeit noch nicht abgefallen ist, vielmehr ein Verhältnis realer Identität. Das „Bild“ stellt die „Sache“ nicht dar – es ist die Sache; es vertritt sie nicht nur, sondern es wirkt gleich ihr, so daß es sie in ihrer unmittelbaren Gegenwart ersetzt. Man kann es demgemäß geradezu als ein Kennzeichen des mythischen Denkens bezeichnen, daß ihm die Kategorie des „Ideellen“ fehlt, und daß es daher, wo immer ihm ein rein Bedeutungsmäßiges entgegentritt, dieses Bedeutungsmäßige selbst, um es überhaupt zu fassen, in ein Dingliches, in ein Seinsartiges umsetzen muß.“130

Insofern kann man das mythische Denken als wesentlich nicht-repräsentatives Denken bezeichnen. Das Wahrgenommene wird noch ganz als es selbst aufgefasst und nicht als symbolische Fassung einer das Einzelne transzendierenden Allgemeinheit. Das Einzelne bringt für diese Auffassung nicht etwas Typisches an ihm zur Anschauung, um damit über sich und seine Besonderheit hinauszuweisen. Dementsprechend hat das mythische Denken auch eine eigene Auffassung bezüglich des Verhältnisses des Ganzen zu den Teilen, aus denen es sich zusammensetzt, entwickelt: 128 Erich Rothacker, Der Satz der Bedeutsamkeit. In: Ralf Konersmann (Hg.), Kulturphilosophie. Leipzig 1996, S. 147 129 PsF II, S. 31 130 PsF II, S. 51 148

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„ [...] hier herrscht noch eine wirkliche Ungeschiedenheit, eine gedankliche und reale „Indifferenz“ des Ganzen und der Teile. Das Ganze „hat“ nicht Teile und zerfällt nicht in sie; sondern der Teil ist hier unmittelbar das Ganze und wirkt und fungiert als solches. [...] Der Teil ist, mythisch gesprochen, noch dasselbe Ding wie das Ganze, weil es realer Wirkungsträger ist – weil alles, was er leidet oder tut, was aktiv und passiv an ihm geschieht, zugleich ein Leiden und Tun des Ganzen ist.“131

Dies bedeutet nun freilich nicht, dass jegliche Form von Unterscheidung dem mythischen Denken fremd wäre oder ihm gar zuwiderliefe. Tatsächlich gelangt auch der Mythos zu Gliederungen des Daseins und des Geschehens mittels eines ihm eigenen Gegensatzes – des Gegensatzes zwischen ‚Heiligem‘ und ‚Profanem‘ nämlich.132 Im Sinne dieses Gegensatzes lässt sich etwa der Raum einteilen in heilige und unheilige Bezirke, wobei die Feststellung der Heiligkeit eines Raumsegments im Wesentlichen darin besteht, dass es von dem umgebenden Raum abgegrenzt wird: „Die Heiligung beginnt damit, daß aus dem Ganzen des Raums ein bestimmtes Gebiet herausgelöst, von anderen Gebieten unterschieden und gewissermaßen religiös umfriedet und umhegt wird. Dieser Begriff der religiösen Heiligung, die sich zugleich als räumliche Abgrenzung darstellt, hat seinen sprachlichen Niederschlag ̗ ενοζ) geht auf die im Ausdruck des templum erhalten. Denn templum (griech. τεµ Wurzel τεµ ‚schneiden‘ zurück; bedeutet also nichts anderes als das Ausgeschnittene, Begrenzte.“133

Aber auch bezüglich der Zeit hat der Mythos ein eigenes Verständnis entwickelt. Im Gegensatz zum geschichtlichen Zeitverständnis, das „das Sein in eine stetige Reihe des Werdens auflöst, innerhalb dessen es keinen ausgezeichneten Punkt gibt, in dem vielmehr jeder Punkt auf einen weiter zurückliegenden hinweist“, trennt der Mythos rigoros „die empirische Gegenwart von dem mythischen Ursprung und gibt beiden je einen eigenen unvertauschbaren „Charakter“.134 Das Gegenwärtige wird für den Mythos von der Vergangenheit also nur insofern bestimmt, als es aus dieser ihren Ursprung nahm. Als einmal Gewordenes ist es aber dem historischen Prozess des Werdens, des fortwährenden Entwickelns und Veränderns enthoben. Damit bleibt es aber auch immer auf diese Vergangenheit bezogen und in dieser als ihrem Ursprung befangen. Die Zeit lässt sich nicht in Abschnitte teilen, die sich wie-

131 PsF II, S. 65 132 Vgl. PsF II, S. 103 133 PsF II, S. 123 134 PsF II, S. 131 149

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derum zu einem kontinuierlichen Zeitfluss reihen würden. Das Dasein der Gegenwart ist ausschließlich durch seine Gegenwärtigkeit bestimmt. Das Zeitbewusstsein aber, das das Dasein nur in seiner Gegenwärtigkeit begreift, betrachtet die Zeit als momenthaft und ist damit in gewisser Hinsicht zeitlos. Das Selbstgefühl des Menschen schließlich ist im mythischen Denken noch wesensmäßig mit dem Gemeinschaftsgefühl verschmolzen: „Das Ich fühlt und weiß sich nur, sofern es sich als Glied einer Gemeinschaft faßt, sofern es sich mit anderen zur Einheit einer Sippe, eines Stammes, eines sozialen Verbandes zusammengeschlossen sieht.“135 Eine Möglichkeit, wie sich dieses ganz auf die Gemeinschaft bezogene und von dieser bestimmte Selbstgefühl äußern kann, ist z.B. der Ahnenkult, zu dessen Grundlage der Glaube des einzelnen gehört, mit den Vorfahren nicht nur genealogisch verbunden, sondern als Teil der Sippe mit diesen geradezu identisch zu sein. Die Gemeinschaft wird dadurch regelrecht zur Bedingung, auf deren Grundlage das Selbst des einzelnen überhaupt erst möglich wird. Bereits diese sehr knappe Zusammenfassung einiger wesentlicher Aspekte des mythischen Denkens lässt dessen Analogie zum apparativen Programm der Fotografie und zu seiner Ideologie erkennen, wie sie sich im Versprechen einer objektiven Wiedergabe der Wirklichkeit kundtut. Die Behauptung der Fotografie, die seit ihrer Erfindung in den verschiedensten theoretischen Äußerungen zum Medium ihr Sprachrohr gefunden hat, in ihr bilde sich nämlich die Natur gleichsam von selbst ab, so dass Fotografien von Dingen geradezu als diese selbst angesehen werden könnten, entspricht in ihrer Anlage der nicht-repräsentativen Ausrichtung des mythischen Denkens. So wie dem mythischen Bewusstsein seine eigene symbolische Verfasstheit verschlossen bleibt, verkennen solche Theorien die wirklichkeitskonstituierende Kraft des Mediums Fotografie, wenn sie darauf bestehen, dass seine Resultate als indexikalische Spuren des Abgebildeten anzusehen sind und infolgedessen in keiner Hinsicht über deren Gegebenheit hinauszuweisen in der Lage seien. Die Weigerung, in Fotografien mediale Wirklichkeitskonstrukte zu sehen, die nach bestimmten kulturellen Normen entstehen, entspricht in vielem der Unfähigkeit des mythischen Denkens, zwischen Zeichen und Bezeichnetem, zwischen dem Symbol in seiner sinnlich-anschaulichen Gegebenheit und dem in ihm zur Anschauung gebrachten ideellen Bedeutungsgehalt zu unterscheiden. So wie für dieses infolgedessen das Bild die abgebildete Sache nicht darstellt, sondern diese selbst ist, verkennt die Theorie einer natürlichen und damit objektiven Abbildung mittels der Technik der Fotografie die prinzipielle und nicht aufhebbare Distanz zwischen Bild und Abgebildetem im Abbildungsverhältnis. Eine Theorie, die von der natürlichen 135 PsF II, S. 209 150

4. DIE FOTOGRAFIE ALS MEDIUM DER VISUELLEN ORDNUNG DER W ELT

Abbildungsfähigkeit der Fotografie ausgeht, spricht sozusagen einen Teil der fotografischen Medienideologie aus, ohne sich dessen freilich bewusst zu werden. Der mythische Charakter der medialen Ideologie, wie sie der Fotografie zu Grunde liegt, zeigt sich auch in ihrer Behandlung von Raum und Zeit. Die Auswahl eines Ausschnitts, die einen grundlegenden Bestandteil des fotografischen Aktes bildet, und ihre Bedeutung als Entscheidung darüber, was als wert befunden wird, fotografiert zu werden und was nicht, entspricht der mythischen Gliederung des Raums in heilige und profane Bezirke. Die Bestimmung des Bildausschnitts über die Auswahl von Aufnahmestandort und Objektivbrennweite lässt sich als säkulare Form der Abgrenzung eines heiligen Orts bestimmen. Der Bildausschnitt erhält demnach den Status eines templum im ursprünglichen Sinne des Wortes, nämlich eines durch Begrenzung Geheiligten. Die Festlegung des Fotografierbaren, die durch die Ausschnittwahl immer Bestandteil des fotografischen Aktes ist, entspricht also der Heiligung eines räumlichen Bezirks durch religiöse Umfriedung. Das Fixieren eines bestimmten Zeitmoments, das durch die Wahl der Belichtungszeit erfolgt, entspricht andererseits der Enthebung eines Ereignisses aus dem Fluss sich aneinanderreihender Zeitabschnitte. Das im Foto Festgehaltene erfährt durch diese fotografische Fixierung eine Umwandlung in etwas nur noch Gegenwärtiges und damit Zeitloses. Als etwas, das nicht mehr einem historischen Werdensprozess unterliegt, steht die fotografische Repräsentation in ihrer Gegenwärtigkeit der Vergangenheit, aus der sie hervorgegangen ist, zwar abgetrennt gegenüber, bleibt aber wie das Gegenwärtige im Mythos doch ständig auf diese als ihrem Ursprung, als dem zeitlichen Ort ihres Gewordenseins bezogen. Wie im Mythos erfährt also die Vergangenheit durch den fotografischen Akt ihre stete Vergegenwärtigung. Die Fotografie, dies mag der hier angestellte Vergleich ihrer ideologischen Grundlagen mit den wesentlichen Zügen des mythischen Denkens gezeigt haben, reproduziert also im Großen und Ganzen all jene Modi der symbolischen Formung und Ordnung von Welt, wie sie im Symbolismus des Mythos wirksam werden. Man kann sie deshalb als mediale Erweiterung eben dieses mythischen Symbolismus begreifen. Als Medium stellt sie also technische Apparaturen zur Verfügung, die jene geistigen, ursprünglich vom mythischen Denken realisierten Umformungsprozesse durchführen. Insofern kann es nicht überraschen, dass nur allzu oft dem „Prozeß des Fotografierens etwas Magisches“136 zugeschrieben wird: Das Magische als bestimmte Form des mythischen Weltverständnisses findet sich auch in der Fotografie als eben dessen medialer Erweiterung. 136 Susan Sontag, Über Fotografie. Frankfurt/M. 2002, S. 148 151

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

Nur als diese technisch-apparativ erweiterte und fortgesetzte Form der mythischen Weltsicht kann die Fotografie überhaupt jene gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Funktionen übernehmen, wie sie anhand der bürgerlichen und kriminalistischen Portraitfotografie beschrieben worden sind. Diese bestehen ja in erster Linie darin, die Fotografierten als Angehörige einer bestimmten sozialen Schicht oder Berufsgruppe zu repräsentieren oder aber als Außenseiter der bürgerlichen Gesellschaft zu stigmatisieren. Damit werden die fotografierten Einzelpersonen aber selbst zu Repräsentanten einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung, die durch ihre bildliche Darstellung zur Anschauung gebracht und dadurch bekräftigt wird. So sehr die Portraitfotografie auch auf Individuen bezogen zu sein scheint, so sehr ist sie doch bloß in der Lage, die Gesichter als Masken und die Menschen als Rollenträger abzubilden. Das Medium kann aufgrund seiner mythischen Verfasstheit gar nicht anders, als die Abgebildeten immer nur als Teil einer ihnen übergeordneten Gemeinschaft darzustellen und damit eben diese Gemeinschaft selbst. Die Fotografie nimmt also allenfalls scheinbar den einzelnen in den Blick, tatsächlich sieht sie in ihm immer nur das Allgemeine, für das er steht, und behauptet dadurch immer nur dessen Einheit mit diesem. Als mediale Erweiterung des mythischen Bewusstseins vermittelt sie also letztlich auch dessen Selbstgefühl, das ja stets mit dem Gemeinschaftsgefühl verschmolzen ist. Die Individualität, die scheinbar getreu in der fotografischen Abbildung erfasst wird, wird so als Produkt des Lebens in der Gesellschaft vorstellig gemacht. Die Fotografie entfaltet also jenes relationistische Individualitätsverständnis, wie es für die bürgerliche Gesellschaft zumindest seit dem 19. Jahrhundert kennzeichnend ist und bis in die zeitgenössische Soziologie vertreten wird, vor allem von der Theorie des Symbolischen Interaktionismus. Demnach definiert sich das Selbst eben erst aus seinen Beziehungen zu anderen und formt sich seine Individualität erst aus den sozialen Interaktionen heraus: „Der Prozeß, aus dem heraus sich die Identität entwickelt, ist ein gesellschaftlicher Prozeß, der die gegenseitige Beeinflussung der Mitglieder der Gruppe, also das vorherige Bestehen der Gruppe selbst voraussetzt.“137 Wesentlich für die Entwicklung eines Bewusstseins vom eigenen Selbst ist also das Eingebundensein des einzelnen in eine soziale Gruppe. Die Einbindung erfolgt dabei über Kommunikationsprozesse, die das Vorhandensein gemeinsamer Symbolsysteme notwendig machen. Im Rahmen dieser Kommunikationsprozesse wird nun „der einzelne mit stabilisierten Ver-

137 George H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Hg. von Ch.W. Morris. Frankfurt/M. 1968, S. 207 152

4. DIE FOTOGRAFIE ALS MEDIUM DER VISUELLEN ORDNUNG DER W ELT

haltenserwartungen konfrontiert“, die „die anderen an ihn richten.“138 Dadurch erfährt sich der einzelne „aus der besonderen Sicht anderer Mitglieder der gleichen gesellschaftlichen Gruppe oder aus der verallgemeinerten Sicht der gesellschaftlichen Gruppe als Ganzer, zu der er gehört.“139 Indem sich der einzelne also aus der Perspektive der anderen, wie sie ihm im kommunikativen Interaktionsprozess, auch über Fotografien, vermittelt wird, betrachtet, entwickelt er ein Bild vom eigenen Selbst und seiner Eingebundenheit in soziale Rollenstrukturen, das letztlich den Kern seiner sozialen Identität bildet.140 Dass dieses soziale Selbstverständnis wesensmäßig mythisch ist, muss nicht irritieren, hat doch Cassirer gezeigt, dass der mythische Symbolismus im Verlauf der Kulturentwicklung des Menschen keineswegs durch andere Symbolismen, etwa den Wissenschaften, verdrängt und vollständig ersetzt worden ist. Vielmehr muss die Geistesgeschichte des Menschen so gesehen werden, dass neue Symbolismen und mit ihnen neue Formen der Ordnung von Welt ältere überlagern und ergänzen. Dies bedeutet aber, dass diese älteren Modi geistiger Formung stets virulent bleiben und neben den neueren und durch diese hindurch fortwirken. Auch die moderne Gesellschaft beinhaltet also in ihrem Kollektivbewusstsein noch Reflexe mythischer Modelle, Welt als sinnvoll wahrzunehmen und zu konstituieren und damit in ihrer Bedeutsamkeit zu Bewusstsein zu bringen. Und in einem modernen technischen Medium wie der Fotografie können, wenn es sich bei ihm um die apparative Externalisierung mythischer Denkweisen handelt, dann all jene Grundaspekte zum Tragen kommen, die den mythischen Symbolismus und seine Modalität der geistigen Gestaltung von Welt bestimmen: Identität von Zeichen und Bezeichnetem, Heiligung des Raums durch Ausschnittwahl, Zum-StehenBringen der Zeit und die Behauptung einer Einheit von Ich und Gesellschaft. All diese Aspekte sind wesentliche Leistungen des Mediums, weil es durch seine apparative Ideologie entsprechend eingerichtet ist. Nur auf der Grundlage dieser Leistungen wird die Fotografie überhaupt erst tauglich für einen gesellschaftlichen Gebrauch, wie er anhand der verschiedenen Formen der Port-

138 Klaus-Jürgen Tillmann, Sozialisationstheorien. Eine Einführung in den Zusammenhang von Gesellschaft, Institution und Subjektwerdung. Hamburg 1993, S. 134 139 Mead, a.a.O., S. 180 140 Dass Mead darüber hinaus auch noch die aus der individuellen Biographie sich entfaltende personale Identität kennt, die dann – wieder über Interaktionsprozesse – mit der sozialen Identität zu einer Ich-Identität ausbalanciert werden muss, kann hier nicht weiter ausgeführt werden, ohne den Rahmen dieser Arbeit zu sprengen. 153

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

raitdarstellungen beschrieben worden ist. Der gesellschaftliche Gebrauch der Fotografie ist also im Wesentlichen ein mythischer.141 Dass die Fotografie, auch wenn sie der externen Umsetzung des mythischen Symbolismus dient, deshalb nicht notwendigerweise der mythischen Weltbetrachtung verhaftet bleiben muss, sollen die dieses Kapitel abschließenden Betrachtungen zur künstlerischen Fotografie zeigen.

4.5 Künstlerische Portraitfotografie Der Kunststatus der Fotografie war, wie bereits erwähnt wurde, von Beginn an und für lange Zeit ausgesprochen umstritten. Als Medium für wissenschaftliche Dokumentationen durchaus anerkannt, wurde ihr die Möglichkeit, Kunstwerke zu erschaffen, prinzipiell abgesprochen. Die mechanische und automatische Verfahrensweise der Bilderzeugung wie auch die Eigenarten der resultierenden Bilder selbst, etwa ihr Detailreichtum, passten nicht zum Verständnis, das im 19. Jahrhundert bezüglich künstlerischer Bilder und ihres Zustandekommens verbreitet waren. Die Bemühungen des Piktorialismus, durch Veränderungen im technischen Verfahren Fotografien malerischer zu gestalten und so ihre Akzeptabilität als Kunstwerke zu erhöhen, wurden bereits erläutert.142 Doch erst im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfuhr die Fotografie in den Augen der Kunstkritiker jene Anerkennung, um die sie sich gut einhundert Jahre bemühen musste, und die für die breite Rezipientenschicht sogar noch später, wohl erst mit ihrer Musealisierung seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts erkennbar wurde. Maßgeblichen Anteil an dieser endgültigen Etablierung der Fotografie als Kunstform hat in der jüngeren Zeit die amerikanische Fotografin Cindy Sherman. 1954 in Glen Ridge, New Jersey, geboren, studierte sie bis 1976 am State University College in Buffalo im State New York, worauf ihre regelmä-

141 Für Klaus Wiegerling ist der mythische gesellschaftliche Gebrauch sogar ein Kennzeichen jeglicher bildlicher Symbolformen und markiert darüber hinaus den entscheidenden Unterschied zur Schrift: „Während die bildliche Symbolisierung – auch die photographische – immer noch eher in den Kontext der mythologischen Weltsicht gehört, die setzt und nicht diskursiv auflöst und begründet, eröffnet sich mit der Schrift die Möglichkeit der Historisierung und der Diskursivität. Zusammen tragen sie einen Widerstreit aus, der die Welt als einen Antagonismus von sinnlich-mythischen Kräften und diskursiv-historischen Kräften erscheinen lässt.“ Klaus Wiegerling, Aspekte medialer Weltordnungen – Schrift versus Bild. In: Bernd Kiefer, Werner Nell (Hg.), Das Gedächtnis der Schrift. Perspektiven der Komparatistik. Wiesbaden 2005, S. 139 142 Vgl. Kap. 2.2, v.a. Fußnote 33 154

4. DIE FOTOGRAFIE ALS MEDIUM DER VISUELLEN ORDNUNG DER W ELT

ßige Ausstellungstätigkeit einsetzte. Heute gehört sie zu den renommiertesten Fotokünstlern der Gegenwart. Shermans fotografisches Werk besteht bis etwa Mitte der 80er Jahre hinein aus Portraitdarstellungen, was es besonders interessant für die hier angestellten Überlegungen macht. Charakteristisch ist dabei, dass Cindy Sherman ausschließlich selbst als Modell fungiert. Zentrales Thema ihrer Kunst scheint also das Selbstportrait zu sein, dennoch erklärt sie in einem Interview: „Ich mache keine Selbstportraits“, und fährt fort: „Ich versuche immer, in den Bildern soweit wie möglich von mir selbst wegzugehen.“143 Wie passt das zusammen? Cindy Shermans künstlerisches Vorgehen und Anliegen soll anhand einer frühen Fotoserie erläutert werden: den „Untitled A-D“ (Abb. 10-13). Alle Bilder dieser Serie sind hochformatige Schwarz-Weiß-Fotografien, die sich weitgehend auf die Darstellung des Gesichts beschränken und vom übrigen Körper allenfalls den Schulteransatz zeigen. Vor dem stets schwarzen Hintergrund heben sich die gleichmäßig ausgeleuchteten Körperpartien kontrastreich ab. Nur im Bild C sind Teile von Kleidung zu erkennen, ansonsten scheint das Modell unbekleidet, abgesehen vom Hut und der Mütze in den Bildern A und B. Durch die Frontalabbildung des Gesichts und den Blick der Abgebildeten in die Kamera entsteht der Eindruck einer unmittelbaren Nähe des Modells zum Betrachter. Unterstützt wird dieser noch durch die Verwendung einer längeren Brennweite, v.a. in A und B, was eine geringe Schärfentiefe bewirkt. Das Gesicht kann also nicht in seiner ganzen dreidimensionalen Tiefe scharf abgebildet werden. In solchen Fällen gilt die Lehrbuchregel, dass die Augen als der gewöhnlich ausdrucksstärkste Teil des Gesichts zu fokussieren sind. Die Bilder C und D entsprechen dieser Regel auch, in A und B wird aber jeweils auf die Krempe des Huts bzw. der Mütze scharf gestellt, wodurch das gesamte Gesicht in einer leichten Unschärfe verschwimmt. Im Gegensatz zum verwendeten Accessoire tritt dieses infolgedessen in seiner Bedeutung zurück, was beim ersten Betrachten gar nicht direkt auffällt, wohl aber eine gewisse Irritation im Betrachter auslöst. Zusätzlich variiert der jeweilige Bildeindruck infolge unterschiedlicher Mimik und des Einsatzes von Schminke derart, dass es kaum möglich ist, auf den verschiedenen Bildern im Modell ein und dieselbe Person, Cindy Sherman nämlich, wiederzuerkennen. Was will uns die Fotografin dann aber mit ihren mutmaßlichen Selbstportraits zeigen? Ihre Verwandlungsfähigkeit? Auch wenn sie auf nur einem Bild ihr Gesicht durch übermäßiges Grimassieren geradezu karikaturhaft entstellt (B), so wirken doch auch alle anderen 143 Andreas Kallfelz, Cindy Sherman: „Ich mache keine Selbstportraits“. Wolkenkratzer Art Journal 4, 1984, S. 49 155

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

Fotos eher wie die Darstellung stereotyper Figuren als wie authentische Portraits. Was auf den ersten Blick aussieht wie eine bewusste „Verleugnung des Selbst, als wolle Sherman vorführen, daß sie sich überhaupt nur durch diese Entstellung dem Blick der Photolinse hingeben kann“,144 erweist sich bei genauerer Betrachtung als Hinweis auf die Tatsache, dass der „Blick“ des Fotoapparats immer schon eine programmbedingte entstellende Wirkung hat. Shermans frühe Selbstportraits führen in überzogener Weise vor, wie sich der Portraitierte schon am Beginn des fotografischen Prozesses, d.h. mit der Einstellung der Aufnahmeapparatur und damit schon vor der Betätigung des Auslösers zu einem Bild verwandelt, das durch die eigentliche Aufnahme, also durch die Fixierung auf dem Filmmaterial lediglich nochmals reproduziert wird. Jede Fotografie stellt also, das macht Sherman mit ihren Arbeiten klar, eigentlich ein Metabild dar, ist tatsächlich Bild von einem Bild, zu dem sich der Fotografierte, durch fotografische Bildregeln gelenkt, immer schon verwandelt, sobald er sich zum Objekt einer fotografischen Abbildung gemacht sieht. So gesehen stellen Shermans Maskeraden nicht ein Verfahren vor, sich vor voyeuristischen Affekten der Betrachter von Fotos zu schützen, so als gäbe es hinter der vorgestellten Oberfläche des Gesichts so etwas wie einen eigentlichen, persönlichen Kern zu entdecken. Sie führen vielmehr vor, dass die „Suche nach einer realen, kohärenten, homogenen Identität“145 hinter der Vielfalt der fotografischen Erscheinungsweisen ins Leere laufen muss und daher zum Scheitern verurteilt ist. Cindy Sherman fertigt in der Tat keine Selbstportraits im traditionellen Sinne an, weil ihnen kein Selbst, keine personale Identität zu Grunde liegt, die sich in ihnen wiederfinden lassen könnte. Die Annahme einer solchen über alle Variabilitäten unveränderlichen Identität ist Sherman in höchstem Maße fragwürdig geworden. Stattdessen führt sie vor, „wie ein und derselbe Mensch verschiedenste Identitäten annehmen und verkörpern kann“.146 Sie entwickelt damit ein Identitätsverständnis, das auf der Annahme basiert, dass Identität im Wesentlichen durch den kulturellen Kontext bestimmt ist, in dem ein Mensch aufwächst, und daher nicht als einmalige Gegebenheit aufgefasst werden darf, sondern vielmehr als die Vielfalt der unterschiedlichen Rollenbilder verstanden werden muss, zwischen denen sich der einzelne in einem fortwährenden Übergang befindet. Cindy Shermans Fotografie leistet damit zum einen eine Visualisierung der Diagnose einer „Vervielfachung gesellschaftlicher Identität [...] in der entwickelten Moder-

144 Elisabeth Bronfen, Das andere Selbst der Einbildungskraft: Cindy Shermans hysterische Performanz. In: Cindy Sherman, Photoarbeiten 1975-1995. Hrsg. von Zdenek Felix und Martin Schwander. München, Paris, London 1995, S. 18 145 Bronfen, a.a.O., S. 22 146 Wolfgang Welsch, Ästhetische Denken. Stuttgart 1990, S. 178 156

4. DIE FOTOGRAFIE ALS MEDIUM DER VISUELLEN ORDNUNG DER W ELT

ne.“147 Sie demonstriert andererseits aber auch, dass die Vermittlung dieser Rollenpluralität wesentlich bildhaft vonstatten geht, nämlich über die Konstitution und Verbreitung von Images, die als Orientierungsmuster für das gesellschaftliche Leben des Menschen dienen. Shermans Fotografie vollzieht dabei eine Abstraktion in dem sehr umfassenden Sinn des Begriffs, in dem er von Lambert Wiesing in seiner Studie zur Frage, was abstrakte Fotografie148 sein könnte, entfaltet wird. Hier bedeutet Abstraktion so viel wie die Reduktion auf das Wesentliche, das Verfahren des Absehens von etwas, das als unwesentlich angesehen wird, um so „das Augenmerk auf die als wesentlich beurteilten Merkmale einer Sache zu lenken“,149 Merkmale, die immer schon da sind, aber in ihrer Relevanz leicht übersehen werden, weil das Unwesentliche sie überdeckt. Das, was in Shermans Fotografien in seinen wesentlichen Merkmalen offengelegt werden soll, was also einer Abstraktion unterzogen wird, ist die Portraitfotografie. Aber inwiefern wird diese nun abstrahiert? Offensichtlich erfasst der Abstraktionsvorgang weder den Prozess der fotografischen Produktion noch die Gegenständlichkeit der dabei gewonnenen Produkte. Sherman greift auf die übliche Ausstattung des Portraitfotografen zurück, ohne erkunden zu wollen, wie weit sie beim Weglassen technischer Komponenten gehen kann, ehe ihre Fotografien aufhören, Fotografien zu sein. Und auch ihre Fotos selbst sind nicht in dem Sinne abstrakt, dass sie keine Gegenstände bzw. keine Personen mehr zeigen würden. Shermans Fotos zeigen das, was gemeinhin von Portraitfotos erwartet wird: Gesichter von Personen. Dabei abstrahiert sie aber von der Individualität der dargestellten Person. Indem nämlich immer wieder dieselbe Person in jedem Bild eine unterschiedliche Individualität zum Ausdruck bringt, zeigen ihre Fotos, dass es offensichtlich gar nicht einer Vielzahl unterschiedlicher Individuen bedarf, um dennoch eine Vielfalt von Individualitäten zu reproduzieren. Um Individualität in ihrer Vielgestaltigkeit fotografisch darzustellen, genügt eine einzige individuelle Person. Denn sie vereint ja in sich bereits eine Vielzahl sozialer Identitäten, die nicht zuletzt durch die Portraitfotografie als Bestandteil visueller gesellschaftlicher Interaktion wesentlich mit konstituiert wird. Shermans Fotografien verweisen damit in erster Linie auf die Möglichkeiten, die in dem Medium, dem sie angehören, begründet liegen. Sherman führt die Fotografie damit gleichsam als Metafotografie vor und macht sie so als technisches Verfahren und mediale Erweiterung der symbolischen Gestaltung gesellschaftlicher Ordnungen erkennbar. Was im gewöhnlichen Gebrauch der Portraitfotografie unerkannt bleibt, nämlich die mythischen Implikationen ih147 Welsch, a.a.O., S. 180 148 L. Wiesing, Was könnte „Abstrakte Fotografie“ sein? In: L. Wiesing, Artifizielle Präsenz, a.a.O., S. 81-98 149 Wiesing, a.a.O., S. 85 157

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

res apparativen Programms, wird in Shermans seriellem „Entwurf einer Vielfalt möglicher Identitäten“150 mit den Mitteln der Fotografie selbst transparent gemacht. Shermans Fotografie wird damit selbstreferentiell und betreibt so gesehen ein Stück weit Selbstaufklärung, durch die sie ihre mythischen Grundstrukturen entmythologisiert. Was allgemein das Künstlerische an der Fotografie Shermans ausmacht, ist, dass sie als Fotografin nicht bloßer Funktionär des fotografischen Programms151 geblieben ist, also jemand, der das Funktionieren dieses Programms gewährleistet und damit letztlich selbst Bestandteil dieses Programms wird, sondern vielmehr ihre Absichten gegen die des Apparats durchgesetzt hat. Entsprechend dieses Kriteriums ist demnach jede Fotografie künstlerisch, bei der „der Fotograf das Apparatprogramm im Sinne seiner menschlichen Absicht besiegt, das heißt, den Apparat der menschlichen Absicht unterworfen hat.“152 Aufgrund der in dieser Selbstaufklärung liegenden Distanzierung der Fotografie von ihren eigenen Mechanismen der Reproduktion gesellschaftlicher Rollenmodelle liegt in der künstlerischen Fotografie immer auch die Möglichkeit begründet, zum Motor der Gestaltung neuer Rollenbilder zu werden und damit auch eine Funktion innerhalb des Prozesses des gesellschaftlichen Wandels zu übernehmen, wie es sich u.a. im Spannungsfeld zwischen Rollenübernahme und Rollengestaltung vollzieht.

150 Bronfen, a.a.O., S. 15 151 Vgl. Flusser, a.a.O., S. 26 152 Flusser, a.a.O., S. 43 158

5 . Die Fotografie im Ze ita lter ihrer Digitalisierung

Alle bisher angestellten Überlegungen waren auf die analoge Fotografie bezogen, d.h. auf jene traditionelle Form der Fotografie, bei der mit Hilfe eines optischen Geräts Bilder chemisch auf einen Bildträger fixiert werden. Dabei scheint sich die Ära dieser fotografischen Technologie unweigerlich dem Ende zuzuneigen. Bereits ein flüchtiger Blick in einschlägige Fachzeitschriften für Fotografie oder auch einfach nur in die Werbeprospekte und Schaufensterauslagen von Fotogeschäften lässt erkennen, welche enorme Entwicklung die Digitalfotografie in den letzten Jahren vollzogen hat. Längst sind digitale Kameras mit Auflösungsvermögen, die die analogen Filmmaterials in den Schatten stellen, zu erschwinglichen Preisen und damit auch für Hobby- und Amateurfotografen erhältlich. Zudem gehört es für immer mehr Entwicklungslabors heute schon zum Standardangebot, entwickelte Filme zu einem geringen Aufpreis zu digitalisieren und dem Kunden neben den üblichen Papierabzügen eine CD-ROM mit den gespeicherten Bildern zukommen zu lassen, um so auch den Besitzern konventioneller Fotoapparate die Möglichkeiten zu eröffnen, die die digitale Fotografie ihrem Anwender bietet: variable Archivierung, rasche Reproduktion mit dem heimischen Drucker und v.a. die computergestützte Bildbearbeitung. Denn auch Bildbearbeitungssoftware ist mittlerweile so leistungsfähig und dabei so billig geworden, dass sie jedem Hobbyfotografen im Besitz eines heute üblichen Rechners ein breites Spektrum manipulativer Möglichkeiten erschließt, wie es bislang dem Bereich professioneller Bilderzeugung vorbehalten war. Wer heute eine Werbefotografie in einer Illustrierten betrachtet, kann fast sicher davon ausgehen, dass sie mit einer Digitalkamera aufgenommen, auf jeden Fall aber mit Hilfe des Computers mehr oder weniger aufwendig nachbearbeitet worden ist: Augen und Zähne werden weißer, kleine Falten 159

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

getilgt, die Lippen voller und leuchtender in ihrer roten Farbe. Wohl kaum eine Fotografie aus der Werbebranche ist heutzutage nicht mehr durch technische Manipulation geschönt. Dieses ist im Großen und Ganzen bekannt und wird in den breiten Kreisen der Rezipienten auch weitgehend akzeptiert – man erwartet von der Werbung schließlich nichts anderes. Dass aber auch dokumentarische Fotos keinem geringeren manipulativen Zugriff zugänglich sein sollen und, wie die Erfahrungen zeigen, seit geraumer Zeit auch tatsächlich z.T. weitreichenden Veränderungen unterworfen werden, lässt manche Fototheoretiker angesichts der immer stärker aufkommenden digitalen Bildgenerierungstechniken vom Ende des fotografischen Zeitalters sprechen.1 Wie sind eine solche Einschätzung und ihre argumentative Begründung auf der Grundlage der bislang entwickelten symboltheoretischen Betrachtungen des Mediums Fotografie zu bewerten? Die Beantwortung dieser Frage wird Gelegenheit bieten, anhand der digitalen Fotografie einige zentrale Thesen der bisherigen Überlegungen kritisch zusammenzufassen und gegebenenfalls weiter zu prononcieren.

5.1 Die Digitalisierung der Fotografie Zunächst bedarf die hier vorgenommene Einteilung der Fotografie in eine analoge und eine digitale Form der genaueren Erläuterung. Im bisherigen Verlauf der Untersuchung wurden die Begriffe ‚analog‘ und ‚digital‘ im Sinne Goodmans zur Charakterisierung von Symbolsystemen verwendet. Digitale Symbolsysteme sind demnach solche, die zumindest syntaktisch endlich differenzierte, artikulierte Charaktere aufweisen und bei denen daher eine Identifizierung relevanter Unterschiede zwischen den Marken einer Symbolklasse möglich ist. Im Gegensatz dazu markieren in analogen Symbolsystemen, zu denen Bilder und damit eben auch Fotografien zählen, bereits kleinste Unterschiede in der Auftretensweise einen Bedeutungsunterschied. In der Fototheorie werden die Begriffe in der Regel zur Bestimmung von Technologien der Produktion fotografischer Bilder und infolgedessen auch zur Charakterisierung dieser Bilder selbst verwendet und in diesem Zusammenhang ein geradezu revolutionärer Umbruch konstatiert. So stellt etwa William J. Mitchell fest, eine herkömmliche, auf fotochemische Weise produzierte Fotografie sei „eine analoge Repräsentation der räumlichen Differenzierung einer Szene: ihre Unterschiede sind, sowohl was die Räumlichkeit als auch

1

Vgl. hierzu die von Herta Wolf herausgegebene zweibändige „Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters“: Paradigma Fotografie, Frankfurt/M. 2002 und Diskurse der Fotografie, Frankfurt/M. 2003

160

5. DIE FOTOGRAFIE IM ZEITALTER IHRER DIGITALISIERUNG

was die Tonwerte betrifft, kontinuierliche“; im Gegensatz dazu werden digital erstellte Bilder „durch die gleichförmige Aufteilung der Bildfläche in ein endliches cartesianisches Gitter aus Punkten (sogenannte Pixel) digital codiert, und die Farbintensität jedes Punktes wird durch ganze Zahlen aus einem endlichen Bereich angegeben. Die so entstehende zweidimensionale Anordnung ganzer Zahlen (das Rasternetz) kann im Computer gespeichert, elektronisch versandt und durch verschiedene Mittel auf dem Bildschirm als Bild dargestellt oder ausgedruckt werden.“2 Gegen Mitchells Behauptung, mit der Digitalisierung der Fotografie habe auf der formalen Ebene eine grundlegende systemische Veränderung Einzug gehalten, wendet Peter Lunenfeld zu Recht ein, sie sei übertrieben,3 wobei er darauf aufmerksam macht, dass die Digitalität digitaler Fotografien für den Bildbetrachter immer weniger erkennbar werden und digitale Fotografien infolgedessen immer schwieriger von analogen zu unterscheiden sind: „Mit der Verbesserung der digitalen Bildbearbeitung wird es für das menschliche Auge immer schwieriger, zwischen den feinen Details und fließenden Kurven, die wir mit dem fotochemischen Verfahren verbinden, und den gepixelten Bildern elektronischer Systeme zu unterscheiden.“4

Zudem, so könnte man ergänzen, erscheint die Analogie analoger Fotos, so wie sie in den hier zitierten Äußerungen verstanden wird, nämlich als die Wiedergabe fließender, d.h. kleinster und dabei kontinuierlich ineinander übergehender Unterschiede in der bildhaften Repräsentation, keineswegs so selbstverständlich, wie Mitchell meint. Mit Eco haben wir ja gesehen, dass auch das analoge Symbolsystem, dem fotografische Zeichen angehören, sich auf digitale Strukturen zurückführen lässt, weil es durchaus graduell angelegt ist. Tatsächlich wird, wie bereits dargelegt, das optische Kontinuum auf der fotochemischen Schicht ja mitnichten mit der entsprechenden Kontinuität wiedergegeben, sondern aufgrund der Körnigkeit der Träger- und Speicherschicht durchaus in diskrete Bildpunkte aufgelöst. Und auch die Tonwerte, von denen Mitchell ganz im Sinne der frühen Fototheorie annimmt, dass sie fließend ineinander übergehen, werden in Wirklichkeit in Abhängigkeit von der Gradation des Fotopapiers in mehr oder weniger umfängliche, in jedem Fall aber diskrete Tonwertskalen umgesetzt. Die Annahme, beim Übergang von der analogen zur digitalen Fotografie hätte sich ein revolutionärer technologischer Umbruch vollzogen, lässt sich so also nicht halten. Vielmehr, so könnte man sagen, ist die völlig unproblemati2 3 4

William J. Mitchell, zitiert nach: Peter Lunenfeld, Digitale Fotografie. Das dubitative Bild. In: Herta Wolf (Hg.), Paradigma Fotografie, a.a.O., S. 163 Vgl. P. Lunenfeld, a.a.O., S. 164 Lunenfeld, a.a.O., S. 164 161

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

sche Digitalisierung der fotografischen Bildproduktion, wie sie sich in den letzten Jahren vollzogen hat, eher ein Indiz dafür, dass die fotografische Technologie in gewisser Weise immer schon digital funktioniert und im Zuge der Entwicklung der Computertechnik nun die ihr angemessene Speicherapparatur erhalten hat. Auch wenn Lunenfeld Mitchell nicht darin folgt, dass sich die radikale Transformation der Fotografie auf technologischem Feld, nämlich „im Übergang von chemischen zu digitalen Produktionssystemen“5 vollzogen hätte, so teilt er nichtsdestotrotz dessen Einschätzung einer revolutionären Veränderung des Mediums infolge seiner Digitalisierung. Der eigentliche Umbruch liegt für ihn aber eben weniger in der Durchsetzung einer neuen Technologie als vielmehr im damit einhergehenden Aufkommen neuer und erweiterter Möglichkeiten einer Manipulation von Fotografien: „Weil das digitale Bild aus diskreten Pixeln zusammengesetzt ist, die ihnen zugewiesene mathematische Werte besitzen, kann das ganze digitale Bild durch Modifikation der jeweiligen Pixeldefinitionen verändert werden.“6 Aufgrund dieser „immanente[n] Veränderbarkeit“7 wandelt sich für Lunenfeld der semiotische Status der Fotografie ganz erheblich. Was bislang Mittel zur objektiven Wiedergabe der faktischen Wirklichkeit war, wird nun dubitativ, d.h. „dem Zweifeln anheimgegeben.“8 Natürlich weiß auch Lunenfeld, dass die beispielsweise von Jules Janin9 oder Henry Fox Talbot10 vertretene „Vorstellung, daß das Foto in gewisser Weise wahr sei“,11 von anderen Fototheoretikern und Kunstkritikern stets bestritten wurde. Sicherlich kannte er etwa Lewis Hines Position, die dieser während eines Vortrags 1909 vertrat: „Die Fotografie zeichnet ein gesteigerter Realismus aus; sie besitzt eine innere Anziehungskraft, die den anderen Mitteln der Illustration fehlt. Aus diesem Grund glaubt der normale Zeitgenosse, daß die Fotografie nicht lügen kann. Natürlich wissen Sie und ich, daß dieses grenzenlose Vertrauen in die Fotografie oft brutal erschüttert wird, denn wenn Fotografien auch nicht lügen, so können doch Lügner fotografieren.“12

5 6 7 8 9 10 11 12

Lunenfeld, a.a.O., S. 164 Lunenfeld, a.a.O., S. 165 Lunenfeld, a.a.O., S. 165 Lunenfeld, a.a.O., S. 167 Vgl. Kap. 2, Fußnote 2 Vgl. Kap. 2, Fußnote 10 Lunenfeld, a.a.O., S. 167 Lewis Hine, Sozialfotografie: Wie die Kamera die Sozialarbeit unterstützen kann. Ein Lichtbildvortrag (1909), zit. nach: Kemp, Theorie der Fotografie 1. 1839-1912. München 1999, S. 271

162

5. DIE FOTOGRAFIE IM ZEITALTER IHRER DIGITALISIERUNG

Was Hine, immerhin einer der bekanntesten Vertreter der frühen sozialdokumentarischen Fotografie, also einer Sparte der Fotografie, in deren Wahrheit auch heute noch ein hohes Maß an Vertrauen gesetzt wird, hier in den Blick nimmt, wurde im zweiten Kapitel bereits einer eingehenden Betrachtung unterzogen.13 Es ist nämlich die besondere Rolle, die der Fotograf beim Akt des Fotografierens trotz aller Mechanisierung immer noch spielt. So unabhängig dieser Prozess auch von seinem Körper abläuft, so wenig also das Verfahren der fotografischen Bildproduktion in seiner Hand liegen mag – der Fotograf behält es doch weitgehend im Griff. Und zwar insofern, als er durchaus das apparative Programm, das der Bilderzeugung zu Grunde liegt, innerhalb bestimmter, keineswegs enger Grenzen steuert. Sowohl die Wahl des Ausschnitts, der Perspektive, evtl. auch der Beleuchtungsverhältnisse vor Betätigen des Auslösers wie auch die Auswahl einzelner Bilder aus der Fülle der Abzüge nach dem Entwickeln und Vergrößern des Filmmaterials eröffneten dem Fotografen immer schon eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Beeinflussung der Bildwirkung. Beträchtlich erweitert wurden diese noch durch das Retuschieren von Negativen, ein Verfahren, das sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit unter den Portraitfotografen erfreute und unter Kunstkritikern durchaus als Mittel anerkannt war, Fotografien malerischer zu gestalten und sie dadurch als neue Kunstform anerkennenswerter zu machen. Die prominentesten Beispiele für retuschierte Fotos aus dem Bereich der politischen Dokumentarfotografie sind wohl heute noch jene Bilder aus der Stalin-Zeit, auf denen Trotzki und andere unliebsame Gegner des Diktators einfach getilgt wurden, nachdem sie bei ihm in Ungnade gefallen waren. Auch wenn Hine von diesen Formen des Lügens mit Fotografien noch nichts wissen konnte, so bringt er doch pointiert zum Ausdruck, was schon vor ihm zahlreiche Fotografen immer wieder betont haben, um sich als Künstler Anerkennung zu verschaffen: dass auch die Fotografie zahlreiche Möglichkeiten der kreativen Gestaltung des Bildes enthält – und damit auch zu dessen „Verfälschung“. Insofern waren Fotografien also immer schon dubitativ, d.h. zweifelhaft in ihrem Wahrheitsgehalt, und Lunenfeld äußert auch nichts Gegenteiliges. Er behauptet aber, dass das Dubitative in der analogen Fotografie nie so maßgeblich werden konnte, als dass das Vetrauen in ihren Wahrheitsgehalt und ihre Evidenz in der Öffentlichkeit nachhaltig hätte erschüttert werden können. Erst infolge der digitalen Technologie stellt das Dubitative in Lunenfelds Sicht den „springenden Punkt“14 in der Fotografie dar, wächst es sich also zu ihrem we-

13 Vgl. Kap. 2.3 14 Lunenfeld, a.a.O., S. 167 163

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

sentlichen Bestimmungskriterium aus – um dadurch dem Fotografischen schlechthin den Grund zu entziehen: „Zwar wohnte der Fotografie immer schon die Möglichkeit, verändert zu werden, inne, aber das digitale Foto ist so unentwirrbar mit anderen Elementen der Computergrafik verbunden, daß die früher einzigartigen Qualitäten der Fotografie als Fotografie verlorengehen.“15

Fotografie wird demnach zu einem bloßen Teilbereich des Grafischen, zu einer bestimmten Form der Ausgabe binärer Codes durch den Computer neben vielen anderen Arten der digitalen Darstellung von Zeichen in Wort und Bild. Für Lunenfeld ist klar, dass dieser Wandel eine Veränderung der Rezeptionshaltung des Betrachters erzwingt. In erster Linie ist dabei die traditionelle Unterscheidung von dokumentarischer und künstlerischer Fotografie betroffen. Fotografien entweder als realistische Abbilder mit dokumentarischer Beweiskraft oder als Mittel des Ausdrucks innerer Zustände anzusehen, ist dabei angesichts der prinzipiellen Manipulierbarkeit der Fotos im Zuge ihrer digitalen Produktion nicht mehr möglich. Vielmehr gilt es anzuerkennen, dass nunmehr alle Fotografien, gleich welchen Genres oder Motivbereichs, als künstlerische Produkte angesehen werden müssen: „Mit dem Eintritt in das digitale Zeitalter, in das Zeitalter des Dubitativen, funktioniert diese Trennung nicht mehr, da alle digitalen Fotografien – unabhängig von den Intentionen ihrer Produzenten – nun künstlerischen Fotografien gleichen.“16 So problematisch der Glaube an eine unmittelbare und objektive Repräsentation der Wirklichkeit durch die Fotografie auch stets gewesen sein mag, durch ihre Digitalisierung, so Lunenfeld, ist er vollends obsolet geworden. Mit seiner Diagnose eines Verschwindens des Wahrheitsgehalts der Fotografie infolge der digitalen Tilgung ihres dokumentarischen Beglaubigungsvermögens stimmt Lunenfeld ganz offensichtlich in den Chor all jener ein, die im Aufkommen digitaler Kommunikationstechnologien generell eine Verdrängung des Wirklichen durch das Künstliche bzw. des Realen durch das Virtuelle sehen. Vom Standpunkt einer solchen Sichtweise aus verlieren digitale bildhafte Darstellungen jeglichen Bezug zu einer durch sie dargestellten Wirklichkeit, den sie in analoger Form durchaus noch beanspruchen konnten: „Was dem Bild [in seiner digitalen Form, T.C.] vorausgeht, ist nicht der Gegenstand (die Dinge, die Welt ...), das abgeschlossene Reale, sondern das offensichtlich un-

15 Lunenfeld, a.a.O., S. 165 16 Lunenfeld, a.a.O., S. 171 164

5. DIE FOTOGRAFIE IM ZEITALTER IHRER DIGITALISIERUNG

vollständige und approximative Modell des Realen, also seine durch reine Symbole formalisierte Beschreibung.“17

Digitale Medien sind demnach also eher Präsentations- als Repräsentationsmittel, denn durch sie wird nicht mehr real Dagewesenes (erneut) vorstellig gemacht, sondern von Maschinen künstlich Erzeugtes, dem nach Couchot nichts Reales mehr vorangehen muss. An die Stelle der Wirklichkeitsbezeugung der analogen tritt somit die Simulation der Wirklichkeit durch die digitale Fotografie. Die Fotografie, so die Quintessenz dieser Überlegungen, wird durch ihre Digitalisierung zu einer Provinz des Virtuellen – und geht als eigenständige Darstellungsform damit letztlich verloren. Von dieser Warte aus betrachtet befinden wir uns mit der digitalen Fotografie also tatsächlich am Ende des fotografischen Zeitalters. Allerdings ist die Annahme, dass (erst) mit der Digitalisierung der Fotografie auch deren Virtualisierung einhergeht, nicht ganz unproblematisch, was im Begriff der Virtualität selbst und in seinem Verhältnis zum Begriff der Wirklichkeit bzw. des Wirklichen begründet liegt.

5.2 Die „Virtualisierung“ der Fotografie Der Begriff des Virtuellen hat durch die Computerwissenschaft und -technologie Eingang in den populärsprachlichen Gebrauch gefunden. In dem Maße, in dem Computer das Leben in unserer Gesellschaft zunehmend bestimmen, ist denn auch immer häufiger von Virtualität und Virtualisierung die Rede: Organisationsprozesse in Firmen werden virtuell vollzogen, Fabrikationsabläufe virtuell gesteuert, Geldgeschäfte virtuell abgewickelt. Und in den Chat-Rooms des Internet werden Beziehungen, ja sogar Identitäten virtuell. Vor allem im Rahmen der Wendung „virtuelle Realität“ hat das Virtuelle dabei den Charakter eines Gegensatzes zum Wirklichen gewonnen, was durchaus in seiner ursprünglichen Bedeutung begründet liegt. Vom lateinischen virtus – ‚Tugend‘, ‚Kraft‘, ‚Tüchtigkeit‘ abgeleitet bezeichnet virtuell das, was zwar der Möglichkeit nach vorhanden, aber eben noch nicht verwirklicht, also noch nicht fähig ist zu wirken. Als zusätzliche Bedeutungskomponente findet sich daher auch oft die Übersetzung ‚scheinbar‘. Eine virtuelle Realität ist demnach eine Wirklichkeit, die erst noch eine werden muss, weil sie noch im Zustand des Möglichen verharrt. Von der 17 Edmont Couchot, Die Spiele des Realen und des Virtuellen. In: Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Hrsg. von Florian Rötzer, Frankfurt/M. 1991, S. 348 165

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Wirklichkeit als dem Inbegriff dessen, was ist, weil es verwirklicht wurde, hebt sich das Virtuelle dabei als das Scheinbare und Uneigentliche ab. Doch wie steht es tatsächlich um diesen Gegensatzcharakter zwischen dem Virtuellen und dem Wirklichen? Verkennt die Behauptung eines solchen Konkurrenzverhältnisses nicht, dass ‚Wirklichkeit‘ immer schon ein fragwürdiges Konzept war? Die Unterscheidung von bloß virtueller (also scheinhafter) und eigentlicher (wahrer) Wirklichkeit verrät ein Denken, das sich nach dualistischen Ordnungsprinzipien organisiert, ein Denken, wie es bei Parmenides seine vorbildhafte Ein- und bei Platon seine systematische Ausführung erfahren hat.18 So verwundert es denn auch nicht, dass die Metaphern aus Platons Höhlengleichnis bis heute die Grundlagen einer Kritik an den elektronischen und zumal computergestützten Medien bilden, für die Virtualität auf eine „Auslöschung des Wirklichen“19 hin angelegt ist und daher als dessen Bedrohung begriffen werden muss. Aus symboltheoretischer Sicht ist eine solche dualistische Trennung von eigentlicher Dingrealität und scheinbarer Zeichenrealität kaum aufrecht zu erhalten. Tatsächlich erlangt die Wirklichkeit außerhalb unseres Bewusstseins für dieses ja erst dadurch Realität, dass es von ihm selbst symbolhaft transformiert worden ist. Die Welt, in der wir leben, das hat Ernst Cassirer unmissverständlich klargestellt, ist immer schon eine reine Zeichenwelt: „Ich betone aufs schärfste, daß die ‚bloße‘, die gewissermaßen nackte Wahrnehmung, die frei von jeder Zeichenfunktion wäre, kein Phänomen ist, das uns unmittelbar, in unserer „natürlichen Einstellung“ gegeben ist. Was wir hier erfahren und erleben – das ist kein Rohstoff einfacher ‚Qualitäten‘, sondern es ist immer schon durchsetzt und gewissermaßen beseelt von bestimmten Akten der Sinngebung.“20

Realerfahrungen sind also nie frei von der eigenen Gestaltung des Erfahrenen und so gesehen nie ganz von vermeintlichen Illusionserfahrungen zu trennen. Wenn aber das, was wir als unmittelbare Wahrnehmung erleben, immer schon eine Repräsentationsfunktion besitzt, aufgrund derer sich für uns erst „das natürliche „Weltbild“ mit seinen konstanten Dingen und Eigenschaften auf-

18 Der Begriff ‚dualistisch‘ wird hier also nicht im Sinne einer Anerkennung zweier Seinssphären verwendet, sondern zur Unterscheidung von Wirklichkeit und Nicht-Wirklichkeit. 19 Jean Baudrillard, Illusion, Desillusion, Ästhetik. In: S. Iglhaut, F. Rötzer, E. Schweeger, Illusion und Simulation. Begegnung mit der Realität. Ostfildern, Cantz, 1995, S. 92 20 Ernst Cassirer, Zur Logik des Symbolbegriffs. In: E. Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt 1994, S. 214 166

5. DIE FOTOGRAFIE IM ZEITALTER IHRER DIGITALISIERUNG

baut“,21 dann sind unsere Erlebnis- und Wahrnehmungsformen immer schon von Mustern der Imagination geprägt. Das heißt, dass der Begriff der virtuellen Realität „ungeeignet zur Unterscheidung zwischen potentieller und physikalischer Realität“ ist, „da auch in Letzterer Virtualität wirksam ist.“22 Weltverstehen vollzieht sich also stets im Modus symbolhafter Weltgestaltung. Anders gesagt: Der Geist kann nur das verstehen, was er selbst hervorgebracht hat. Es ist Cassirers Verdienst, festgestellt zu haben, dass dieses gestaltende Weltbegreifen sich in unterschiedlichen, kulturell disponierten Formen vollzieht, die sich im Laufe der Kulturgeschichte entfaltet und dabei das Weltbegreifen unterschiedlich dominiert haben – Mythos, Kunst, theoretische Erkenntnis und, so ergänzt Wolfgang Welsch,23 die elektronischen Medien in der jüngsten Zeit. Dies bedeutet dann aber nichts anderes, als dass „Wirklichkeit immer nur vermittelt, tatsächlich immer nur als mediale Konstruktion zugänglich ist“ und infolgedessen die Behauptung einer „Opposition von medial konstruierter Realität vs. unvermittelter Wirklichkeit [...] schlicht unsinnig“ wird.24 Wenn dieses mediale Erkennen der Welt nun aber davon abhängig ist, dass die Phänomene der Wahrnehmung zunächst einmal symbolisch vergegenständlicht, d.h. überhaupt erst zu Objekten des Erkennens gestaltet werden, und diese Objektivierung nur durch einen geistigen Akt der Auseinandersetzung von erkennendem Subjekt und zu erkennender Welt gelingt, dann bedeutet dies, dass die dualistische Trennung von Ich und Welt nicht immer schon gegeben, sondern erst im Rahmen des Erkenntnisprozesses vom Erkennenden selbst bewirkt wird. Die Gegenüberstellung von Ich und Welt und die damit verbundene Objektivierung der Dinge ist also überhaupt erst Resultat des Symbolisierungsprozesses, durch den sich Erkennen ereignen kann, und nicht etwa gegebene Voraussetzung des Erkenntnisaktes, die in ihm bloß widergespiegelt würde. Die Regeln, nach denen dieser Symbolisierungsprozess verläuft, sind, wie gesagt, vielgestaltig. Die unterschiedlichen symbolischen Formen, in denen sie sich finden, objektivieren auf verschiedene Art und konstituieren dabei auch verschiedene Welten. Infolgedessen ist auch das Gegenüber von Subjekt und Objekt von je unterschiedlicher Art, abhängig von der

21 Cassirer, Logik des Symbolbegriffs, a.a.O., S. 215 22 Klaus Wiegerling, Virtuelle Realität. In: Ralf Schnell (Hg.), Kultur der Gegenwart. Ein Wörterbuch. Stuttgart 2000, S. 524 23 Vgl. Wolfgang Welsch, „Wirklich“. In: S. Krämer (Hg.), Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien. Frankfurt/M. 2000, S. 205 24 Stefan Münker, Die Wirklichkeit aus der Perspektive ihrer digitalen Produzierbarkeit. Vorbereitende Skizzen zu einer philosophischen Ästhetik virtueller Realitäten. In: Günter Kruck, Veronika Schlör (Hrsg.), Medienphilosophie – Medienethik. Frankfurt/M. 2003, S. 38 167

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symbolischen Form, in der und durch die sich das Erkennen der Welt vollzieht. Die Vorstellung einer vermeintlich einheitlichen Realität, das sogenannte „abgeschlossene Reale“, von dem etwa Couchot spricht,25 hat damit dem Bewusstsein einer „Pluralisierung und Diversifikation der Wirklichkeit“26 zu weichen, mitsamt der damit einhergehenden Konsequenz, dass eine strikte polare Unterscheidung von scheinhafter virtueller und eigentlicher nichtvirtueller Realität unangemessen und daher unhaltbar ist. Damit würde aber auch die Behauptung einer Virtualisierung der Fotografie durch die Ablösung analoger durch digitale Produktionstechnologien und infolgedessen die ihres Anheimfallens an das Dubitative obsolet. Die Problematik einer solchen Diagnose wird vollends deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass bei ihrer Fundierung immer wieder Beschreibungsmodelle Anwendung finden, die entweder direkt der Peirceschen Zeichentheorie entlehnt27 sind oder sich doch stark an diese anlehnen. Nach Charles Sanders Peirce muss ja bekanntlich dreierlei gegeben sein, damit ein Zeichen seine Repräsentationsfunktion erfüllen kann: das Zeichen selbst, das Zeichen in Beziehung zu seinem Objekt und das Zeichen in Beziehung zu seinem Interpretanten, d.h. zu einem interpretierenden Bewusstsein, das Zeichen und Objekt in einem semiotischen Prozess aufeinander bezieht und so dafür sorgt, dass das Zeichen als etwas Bedeutendes überhaupt zustande kommt. Zeichen besitzen also eine triadische Struktur, wobei jeder dieser drei Aspekte des Zeichens nochmals trichotomisch untergliedert werden kann. Die Untersuchungen der Fotografie in ihrer analogen bzw. digitalen Form lassen die Differenzierungen des Zeichen- und des Interpretantenaspekts meist außer Acht und beschränken sich auf die Einteilung des Objektaspekts in Ikon, Index und Symbol. Ikons sind für Peirce Zeichen, die mit ihren Objekten in einem Ähnlichkeitsverhältnis stehen. Sie stellen das Objekt dank eigener Qualitäten dar, was impliziert, dass das Objekt nicht wirklich existieren muss, sondern fiktiv sein kann. Indizes stehen mit ihren Objekten in einer physischen Verbindung, was bedeutet, dass sie auf ihre Objekte angewiesen sind, auch wenn sie letztlich eine individuelle, vom Objekt abgelöste Existenz führen.

25 Vgl. Fußnote 17 26 Stefan Münker, Was heißt eigentlich: „Virtuelle Realität“? In: S. Münker, A. Roesler (Hg.), Mythos Internet. Frankfurt/M. 1997, S. 118 27 So bei Lunenfeld 168

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Symbole schließlich stehen in einer konventionalisierten Beziehung zu ihren Objekten; sie werden erst dadurch zu Zeichen, dass sie als solche interpretiert werden. Peirce selbst hat die durch analoge Verfahren erzeugten Fotografien, die ihm ja auch einzig bekannt sein konnten, wie bereits erwähnt der Zeichenklasse der Indizes zugeordnet. Demnach handelt es sich bei der traditionellen, d.h. fotochemisch erzeugten Fotografie um die bildhafte Repräsentation eines Objekts, mit dem sie über die vom Objekt reflektierten Lichtstrahlen in einem direkten physischen Kontakt gestanden haben muss, damit sie überhaupt zustande kommen konnte. Im Foto als indexikalischem Zeichen hat das reale Objekt gleichsam seine Spuren hinterlassen, weshalb wir ihm auch wenigstens eine gewisse Ähnlichkeit mit dem dargestellten Objekt zutrauen. Mag das Foto das abgebildete Objekt auch noch so inszeniert zur Anschauung bringen und damit unfähig bleiben, es in seinem vom fotografischen Blick unabhängigen Sein zu zeigen, so bezeugt es als „Emanation des Referenten“28 nichtsdestotrotz, dass es im Moment der Aufnahme real existiert hat: „Jede Photographie ist eine Beglaubigung von Präsenz.“29 Die Fragwürdigkeit der Annahme eines indexikalischen Verhältnisses eines Zeichens zu dem von ihm Bezeichneten sowie der daraus sich ergebenden Schlussfolgerung für eine Theorie der Fotografie, wie sie etwa von kausalen Abbildungstheorien gezogen werden, ist eingehend dargelegt worden.30 Festzuhalten bleibt, dass die These einer Virtualisierung der Fotografie durch die Digitalisierung ihrer Produktionsverfahren, ihr damit einhergehender Evidenzverlust sowie die dadurch motivierte Rede vom Ende der Fotografie sich zumindest aus symboltheoretischer Sicht nicht widerspruchsfrei begründen lassen. Die Fotografie hat in ihrer digitalen Form keinen Wahrheits- oder Objektivitätsanspruch verloren, weil sie ihn auch in ihrer analogen Form niemals besessen hat. Wenn es denn einen Umbruch im Status der Fotografie durch ihre Digitalisierung gegeben haben soll, dann liegt er jedenfalls nicht in einem Verlust des Realitätsbezugs zugunsten der Darstellung einer bloß virtuellen Scheinwelt. Fotografie lieferte nie die objektive Widerspiegelung der Wirklichkeit, sondern immer schon eine Form der Darstellung und damit der symbolischen Erzeugung von Welt und einer dieser unterstellten Ordnung. Spätestens diese Zurückweisung der Behauptung, dass es einen prinzipiellen hiatus zwischen einer objektiv-widerspiegelnden Analogfotografie und einer simulatorisch-wirklichkeitserzeugenden Digitalfotografie überhaupt gibt, und dies mit dem Hinweis darauf, dass aus symboltheoretischer Sicht

28 Roland Barthes, Die helle Kammer. Frankfurt/M. 1989, S. 90 29 Barthes, a.a.O., S. 97 30 Vgl. Kap. 2.3 169

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Fotografie wie jedes andere Medium auch immer schon die Funktion hatte, Erlebnis- und Erkenntniswirklichkeit zuvorderst zu formen und dabei herzustellen, lässt den Eindruck entstehen, als könne die Symboltheorie auf die Annahme einer Realität, die außerhalb der die Erkenntnis ermöglichenden symbolischen Formen liegt, generell verzichten. Ernst Cassirer hat diesen Einwand gegen seine „Phaenomenologie der Erkenntnis“31 durchaus gesehen: „Wenn es wahr ist, daß alle Objektivität, alles, was wir gegenständliches Anschauen und Wissen nennen, uns immer nur in bestimmten Formen gegeben und nur durch diese zugänglich ist, so können wir aus dem Umkreis dieser Formen niemals heraustreten – so ist jeder Versuch, sie gewissermaßen „von außen“ zu betrachten, von Anfang an hoffnungslos. Wir können nur in diesen Formen anschauen, erfahren, vorstellen, denken; wir sind an ihre rein immanente Bedeutung und Leistung gebunden. Wenn dem aber so ist, so bleibt es durchaus problematisch, mit welchem Rechte wir überhaupt einen Gegenbegriff und einen Korrelatbegriff zur reinen Form bilden können. Sprechen wir von einer ‚Materie‘ der Wirklichkeit, die in die Form „eingeht“ und die durch sie gestaltet wird, so scheint dies zunächst nichts anderes als eine bloße Metapher zu sein. Denn als bloße ‚Materie‘, als ein Etwas, das sozusagen nur ein nacktes Dasein hat, ohne schon irgendwie durch eine Form bestimmt zu sein, ist uns ja nichts in unserer Erkenntnis gegeben. Eine [sic] solches etwas ist vielmehr eine bloße Abstraktion – und eine Abstraktion von sehr fragwürdigem und verdächtigem Charakter.“32

In der Tat wurde Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen“ so gedeutet, dass von ihren Voraussetzungen aus die Annahme einer stofflichen, vor aller semantischen Formung gegebenen und daher von dieser unabhängigen Wirklichkeit zurückzuweisen sei. Eine solche Lesart legt Cassirer selbst ja auch nahe, wenn er etwa die Annahme einer eigenständigen, objektiven Wirklichkeit als Ausdruck eines mythischen Weltverständnisses begreift und damit immer schon als Resultat einer bestimmten Art der Wirklichkeitskonstitution ansieht.33 Damit lässt sich Cassirer in gewisser Hinsicht durchaus als Vorläufer eines konstruktivistischen Denkens und seiner zentralen These ansehen, dass Medien – in Analogie zu den Symbolismen – „unsere alltäglichen Instrumente der Wirklichkeitskonstruktion“34 sind. Wie der Neukantianer Cassirer beziehen sich auch die Konstruktivisten auf Kant, wenn sie die Auffassung, „daß der vernunftbegabte, erkenntnisfähige Organismus in eine bereits strukturierte Welt geboren wird und daß es darum zur Aufgabe des denkenden 31 32 33 34

Cassirer, Logik des Symbolbegriffs, a.a.O., S. 208 Cassirer, Logik des Symbolbegriffs, a.a.O., S. 209 Vgl. PsF II, S. 31 Siegfried J. Schmidt, Furien des Verschwindens: Medien und/oder Wirklichkeit? In: Günter Kruck, Veronika Schlör (Hrsg.), Medienphilosophie – Medienethik. Frankfurt/M. 2003, S. 67

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Menschen gehört, Struktur und Gesetze jener von ihm prinzipiell unabhängigen Welt zu „erkennen““,35 ablehnen. Wie Cassirer bereits in seiner Untersuchung Substanzbegriff und Formbegriff und dann in seiner Philosophie der symbolischen Formen eine funktionale Erfahrungstheorie entwirft, in der die Einzelerfahrung stets im Kontext eines Systems steht, innerhalb dessen sie als Repräsentation fungiert, so ersetzt auch der Konstruktivismus das aus der philosophischen Tradition stammende „Verhältnis zwischen der Welt der faßbaren Erlebnisse und der ontologischen Wirklichkeit durch ein anderes begriffliches Verhältnis“:36 „Wo die Überlieferung, trotz Kant, zwischen Erlebnis und „Wirklichkeit“ stets Gleichförmigkeit, Übereinstimmung oder zumindest Korrespondenz als natürliche und unerläßliche Voraussetzung betrachtete, postuliert der radikale Konstruktivismus die grundsätzlich andersartige Beziehung der Kompatibilität oder, wie ich sie in Anlehnung an den englischen Ausdruck nennen möchte, der Viabilität. Im Gegensatz zu der „ikonischen“ Relation der Übereinstimmung, die – auch wenn nur eine ungefähre Annäherung postuliert wird – begrifflich auf Isomorphie beruht, ist die Relation der Viabilität auf den Begriff des Passens im Sinne des Funktionierens gegründet.“37

Und wie es für Cassirer „die logische Differenzierung der Erfahrungsinhalte und ihre Einordnung in ein gegliedertes System von Abhängigkeiten“ ist, „was den eigentliche Kern des Wirklichkeitsbegriffs bildet“,38 so nehmen nach den Konstruktivisten unsere Sinnesorgane lediglich „Unterschiede wahr, nicht mehr „Dinge“, die sich als solche von anderen unterscheiden ließen“, wodurch „Dinglichkeit“ zu einem „Produkt unserer intrinsischen Art und Weise, wahrzunehmen“39 wird. Ob und inwiefern die Erfahrungen dabei eine getreue Widerspiegelung der Wirklichkeit liefern, ist weder zu entscheiden, da die Wahrnehmung eines Gegenstandes für uns niemals mit dem Gegenstand selbst, also mit dem Gegenstand jenseits aller Wahrnehmung vergleichbar ist, noch relevant, da es nach der konstruktivistischen Sichtweise ja ausschließlich auf die Viabilität, also auf die Brauchbarkeit einer Erfahrung ankommt. Und die ist immer dann gegeben, wenn die Erfahrung ‚funktio-

35 Ernst von Glaserfeld, Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität. In: Einführung in den Konstruktivismus. Beiträge von H. v. Foerster, E. v. Glaserfeld, Peter M. Heijl, Siegfried J. Schmidt, P. Watzlawick. München 1998, S. 13 36 E. v. Glaserfeld, a.a.O., S. 18 37 E. v. Glaserfeld, a.a.O., S. 18 f. 38 Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Formbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik. Berlin 1910, S. 371 39 E. v. Glaserfeld, a.a.O., S. 21 171

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niert‘, d.h. in erster Linie, wenn sie die Überlebensfähigkeit des Organismus sichert. Wie für Cassirer sind für den Konstruktivismus Wahrnehmung und Erkenntnis also „konstruktive und nicht abbildende Tätigkeiten“,40 durch die das Subjekt in der Lage ist, „den Fluß seines Erlebens zu unterbrechen und die Stücke, die durch solche Unterbrechungen entstehen, reflektiv zu betrachten.“41 Damit verliert aber auch der zumindest traditionell, d.h. im Sinne eines Abbildungsrealismus verstandene Begriff der Objektivität seinen Sinn. Wenn es nicht mehr möglich ist, einen Gegenstand so zu erkennen, wie er an sich ist, dann kann Erkenntnis schlicht nicht mehr objektiv sein: „Da Wissen für den Konstruktivisten nie Bild oder Widerspiegelung der ontischen Wirklichkeit darstellt, sondern stets nur einen möglichen Weg, um zwischen den „Gegenständen“ durchzukommen, schließt das Finden eines befriedigenden Wegs nie aus, daß da andere befriedigende Wege gefunden werden können. Darum kann, vom konstruktivistischen Gesichtspunkt aus, auch nie ein bestimmter gangbarer Weg, eine bestimmte Lösung eines Problems oder eine bestimmte Vorstellung von einem Sachverhalt als die objektiv richtige oder wahre bezeichnet werden.“42

Von dieser Position aus scheint es nur noch ein kleiner Schritt hin zu der Aussage, dass eine materielle Wirklichkeit prinzipiell als theoretisches Konstrukt, also wiederum als Produkt der geistigen Tätigkeit anzusehen ist und sie damit in ihrer vorbewussten Gegebenheit geleugnet werden kann. Einen solchen Schritt scheint z.B. Siegfried J. Schmidt mit seiner Feststellung vollzogen zu haben, dass wir auf der Grundlage der konstruktivistischen Auffassung einer immer nur vermittelt zugänglichen Wirklichkeit die Vorstellung einer vorgängigen Wirklichkeit gar nicht mehr benötigen.43 So weit geht Cassirer freilich nicht, was ihm durchaus Kritik eingebracht hat, zu der er in seiner Schrift „Grundformen und Grundauffassungen der Logik“ Stellung bezieht. Dort zitiert er Marc-Wogaus Vorwurf, dass die „Philosophie der symbolischen Formen“ nicht zu der seiner Meinung nach in ihr doch angelegten konsequenten Überwindung des erkenntnistheoretischen Sensualismus gelange: „Denn auch hier werde zwischen einem hier und jetzt gegebenen Inhalt und dem, was dieser Inhalt darstellt und vorstellig macht, zwischen ‚Praesenz‘ und ‚Reprae-

40 41 42 43

E. v. Glaserfeld, a.a.O., S. 30 E. v. Glaserfeld, a.a.O., S. 32 E. v. Glaserfeld, a.a.O., S. 32 Vgl. Siegfried J. Schmidt, Kalte Faszination. Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Vellbrück 2000, S. 59 f.

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sentation‘ unterschieden. Läßt sich aber eine solche Unterscheidung durchführen, da doch eine reale Trennung zwischen beiden Bestandteilen nicht möglich sein soll – da ein Phaenomen niemals ein bloß sinnliches Datum ist, das als dieses einzelne erlebt wird, sondern sich mit anderen zu einem Ganzen fügt und unmittelbar auf dieses Ganze ‚hinweist‘, es ‚darstellt‘ oder ‚vorstellt‘?“44

Nun ist es richtig, dass sich Cassirer ausdrücklich in die Tradition der kantischen Erkenntniskritik stellt und daher ihre Einsicht teilt, „daß die Gegenstände nicht fertig und starr, in ihrem nackten An-Sich, dem Bewußtsein „gegeben“ werden, sondern daß die Beziehung der Vorstellung auf den Gegenstand einen selbständigen spontanen Akt des Bewußtseins voraussetzt“ und dass der Gegenstand infolgedessen „nicht vor und außerhalb der synthetischen Einheit“ besteht, sondern „vielmehr erst durch sie konstituiert“45 wird. Dies schließt aber mit ein, dass er auch eine weitere Grundeinsicht Kants teilt, die nämlich, nach der Begriffe ohne Anschauungen leer bleiben müssen. Cassirer muss daher zu der Grundeinsicht gelangen, „daß auch all das, was wir in irgend einem Sinne „geistig“ nennen, seine konkretet Erfüllung schließlich in einem Sinnlichen finden muß, daß es nur an ihm und mit ihm erscheinen kann“.46 Auch die „Philosophie der symbolischen Formen“ kann also letztlich nicht anders als „eine Welt des Gesehenen, Gehörten, Getasteten, eine Welt optischer, akustischer, haptischer Phaenomene“ anzunehmen, „an der und mittels welcher aller ‚Sinn‘, alles, was wir Erfassen, Verstehen, Anschauen, Begreifen nennen, sich allein manifestieren kann.“47 Aus der Tatsache, dass uns die materielle Wirklichkeit in ihrer Materialität verschlossen bleiben muss, zu schließen, dass die Annahme einer materiellen Wirklichkeit generell zu verneinen ist, heißt für Cassirer also, entschieden über das Ziel hinauszuschießen. Eine relationistische Betrachtungsweise, wie sie in der „Philosophie der symbolischen Formen“ entfaltet wird, bedarf eben eines Bezugspunktes, von dem aus es überhaupt erst möglich ist, Beziehungen innerhalb einer Welt geistig geformter Phänomene herzustellen: „Das „Gesehene“ erscheint freilich immer nur in einer bestimmten Weise der „Sicht“ – nicht vor ihr oder außerhalb derselben. Aber andererseits hängen alle diese verschiedenen Weisen der Sicht derart miteinander zusammen, daß sie sich auf ein bestimmtes Gesehenes beziehen und an ihm eine gemeinsame Basis besitzen. Diese Basis behaupten wir nicht als einen an sich seienden absoluten Träger, wohl aber als einen funktionalen Zusammenhang. Was wir die ‚Materie‘ der Wahrnehmung nen-

44 45 46 47

Cassirer, Logik des Symbolbegriffs, a.a.O., S. 210 PsF II, S. 39 Cassirer, Logik des Symbolbegriffs, a.a.O., S. 210 Cassirer, Logik des Symbolbegriffs, a.a.O., S. 210 173

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nen: das ist uns also nicht eine bestimmte „Summe der Impressionen“, ein konkretes Substrat, das der künstlerischen, der mythischen, der theoretischen Anschauung zu Grunde liegt. Es ist vielmehr gewissermaßen nur eine Linie, in der sich die verschiedenen Weisen der Formung schneiden.“48

So erweist sich die Sicht einer Sache immer als in Beziehung stehend zu dem, was durch diese als Gesehenes symbolisch erschlossen wird. Wenn sich ihr auch das Gesehene nie aus seinem wie auch immer angenommenen vor- oder außersymbolischen An-Sich-Sein präsentiert, so wird es doch als dasjenige präsent, auf das die Sicht in einer bestimmten Weise stets gerichtet ist. Mögen unterschiedliche Sichtweisen ein Gesehenes auch immer anders repräsentieren, so zentrieren diese sich doch nichtsdestotrotz stets um das Gesehene herum. Dort, wo sich die in verschiedene Deutungsrichtungen hin auslaufenden Symbolismen ihr gemeinsames Zentrum, ihren gemeinsamen Ausgangspunkt haben und wo sie sich daher bildlich gesprochen schneiden, konkretisiert sich aus ihnen heraus das, was Cassirer die Materie der Wahrnehmung nennt. Damit gelingt es Cassirer die Präsenz des Repräsentierten zumindest als „Grenzbegriff“49 zu exponieren, um so den Aspekt des Sinnlichen, auf den jede geistige Formung ja notwendigerweise angewiesen ist, zu bewahren. Bei aller Nähe, die sich zwischen Cassirers Symboltheorie und dem Konstruktivismus konstatieren lässt, vertritt Cassirer in diesem Punkt doch einen vom Konstruktivismus abweichenden Standpunkt. Natürlich haben auch die Konstruktivisten die Gefahr gesehen, dass sich ihr „Postulat der Selbständigkeit“, nach dem ein erkennender Organismus stets als eine „selbständige, autonome, organisatorisch geschlossenen Wesenheit“ anzusehen ist, zur Forderung ausformulieren lässt, „daß das sich die Welt vorstellende Subjekt die einzige Wirklichkeit ist.“50 Und auch ihr Ausweg aus dieser Solipsismus-Falle hat viel mit Cassirers kulturanthropologischem Ansatz gemeinsam. Der Konstruktivismus kennt nämlich nach Heinz von Foerster neben dem Postulat der Selbständigkeit auch noch das der Einbezogenheit. Dieses besagt, dass ein beobachtender Organismus „selbst Teil, Teilhaber und Teilnehmer seiner Beobachtungswelt“51 und daher als sich die Welt vorstellendes Subjekt nur mit allen anderen Subjekten in der Lage ist, eine Welt zu erzeugen. Demnach entsteht eine als objektiv empfundene Wirklichkeit dadurch, „daß unser eigenes

48 Cassirer, Logik des Symbolbegriffs, a.a.O., S. 213 49 Cassirer, Logik des Symbolbegriffs, a.a.O., S. 213 50 Heinz von Foerster, Entdecken oder Erfinden. Wie läßt sich Verstehen verstehen? In: Einführung in den Konstruktivismus. Beiträge von H. v. Foerster, E. v. Glaserfeld, Peter M. Heijl, Siegfried J. Schmidt, P. Watzlawick. München 1998, S. 42 51 H. v. Foerster, a.a.O., S. 43 174

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Erleben von anderen bestätigt wird“: „Intersubjektive Wiederholung von Erlebnissen liefert die sicherste Garantie der „objektiven“ Wirklichkeit.“52 Wirklichkeit kommt also nur in einer Gesellschaft interagierender Subjekte, mithin nur im Rahmen einer Kultur zustande. Im Wesentlichen entspricht dies der Einsicht, die auch aus der Betrachtung der wirklichkeitskonstituierenden Funktion des Mediums Fotografie und der objektiven Wirkung ihrer Produkte gewonnen wurde. Fotografie dient demnach innerhalb einer Kultur der Wiederholung und damit der Bestätigung gesellschaftlich relevanter Wirklichkeitsmodelle, und je häufiger und einförmiger diese fotografisch wiederholt werden, umso stärker empfinden wir ihre Stereotypie und umso realistischer und objektiver wirken die Bilder, durch die sie konkret vermittelt werden. Aufgrund der mechanischen Einrichtung ihrer technischen Apparatur ist die Fotografie als Medium aber in besonders hohem Maße in der Lage, verlässliche Wiederholungen von Wahrnehmungserlebnissen anzufertigen, wobei generell gilt: „Je verläßlicher die Wiederholung so eines Erlebnisses sich heraufbeschwören läßt, um so solider wird der Eindruck der Wirklichkeit.“53 Die Entscheidung über die Verlässlichkeit der so gewonnenen Wirklichkeitsmodelle und damit die Unterscheidung „zwischen „Illusion“ und „Wirklichkeit“, zwischen „subjektivem“ und „objektivem“ Urteil“ vollzieht sich dabei ausschließlich unter Rückgriff auf Wiederholungserlebnisse im Rahmen sozialer Kommunikation.54 Damit ist, wie sich bereits gezeigt hat, die Fotografie wie jedes andere Medium maßgeblich an der Etablierung von Wirklichkeitsmodellen, d.h. von Systemen „der Sinnorientierungsoptionen einer Gesellschaft“ aus „Kategorien und semantischen Differenzierungen“55 beteiligt. Das Problem der konstruktivistischen Lesart einer sich ausschließlich durch mediale Kommunikation konstituierenden Wirklichkeit besteht nun freilich darin, dass nach ihr stets solche Medienrealitäten ein besonders hohes Maß an Wirklichkeit zugesprochen bekommen, die im Erleben besonders stabile Wiederholungsmuster erzeugen. Demnach müssten Medienrealitäten umso wirklicher wirken, je stärker die technischen Apparaturen, die sie erzeugen, von maschinellen Programmen bestimmt sind. Denn je enger die durch das apparative Programm bestimmten Dispositionen des Mediums abgesteckt sind, umso gleichförmiger oder – konstruktivistisch betrachtet – umso verlässlicher wiederholt es die von ihm reproduzierten Erfahrungsmuster. Der Eindruck von Wirklichkeit wird so zu einer Funktion des Ausmaßes, in dem die symbolische Gestaltung der Erfahrungswirklichkeit externalisiert und damit 52 53 54 55

E. v. Glaserfeld, a.a.O., S. 33 E. v. Glaserfeld, a.a.O., S. 33 E. v. Glaserfeld, a.a.O., S. 32 Siegfried J. Schmidt, Geschichten & Diskurse. Abschied vom Konstruktivismus. Hamburg 2003, S. 34 175

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an technische Apparaturen delegiert wird. Anders gesagt: Je selbständiger, d.h. je stärker automatisiert die mediale Konstruktion der Wirklichkeit erfolgt, umso realistischer wirken die apparativ erzeugten Wirklichkeiten. Die Fotografie müsste infolgedessen durch ihre Digitalisierung noch realistischer wirkende Bilder produzieren, erzeugt doch nun der Computer durch seine in hohem Maße abgeschlossene Programmierung besonders systemimmanente, autopoietische und daher stabile Wiederholungsmuster. Die zunehmende Verbreitung digital bearbeiteter oder gar ausschließlich digital, d.h. auf der Grundlage eines computergestützten Generierungsprogramms erstellter Fotos scheint diesen Eindruck zu bestätigen und damit als Argument für die Behauptung der Konstruktivisten zu dienen, nach der die Entscheidung über den Realismus einer Medienwirklichkeit nur noch im Rahmen eines innergesellschaftlich geführten kulturellen Diskurses gefällt wird. Übersehen wird dabei freilich, dass der Konstruktivismus hier tatsächlich die materielle Wirklichkeit als Grundlage, auf der basierend geistige Gestaltung und damit mediale Konstruktion von Wirklichkeit überhaupt erst möglich wird, verabschiedet. Insofern erweist sich Cassirers symboltheoretischer Ansatz, in dem das Sinnliche als das, was der geistigen Formung zu Grunde liegen muss, was damit dieser Formung aber auch einen Widerstand entgegensetzt, als leistungsfähiger für die Unterscheidung von virtueller und nichtvirtueller Fotografie oder – um im Rahmen der konstruktivistischen Terminologie zu bleiben – zur Unterscheidung von fotografischen Wirklichkeitskonstruktionen unterschiedlicher „Stufen der Wirklichkeit“.56 Auch wenn für Cassirer, wie für den Konstruktivismus, die materielle Wirklichkeit in ihrem spezifischen So-Sein niemals erkennbar ist, so bleibt sie doch in ihrem materiellen Sein erfassbar. Wie die Wirklichkeit ist, wird uns tatsächlich immer verborgen bleiben, darin stimmen Cassirer und die Konstruktivisten überein. Dass die Wirklichkeit ist, ist für Cassirer aber mehr als bloße kulturelle Übereinkunft, die auf diskursivem Wege erlangt wurde. „Die Hyle ist für das Symbol eine Art Grenzwert, die Grenze von Gestalt- und Manipulierbarkeit“ und damit „unveräußerbarer logischer Bestandteil des Symbols.“57 In ihrer hyletischen Widerständigkeit, mit der sie die unterschiedlichen symbolischen Sichtweisen auf sich bezieht, bleibt die materielle Wirklichkeit also in allen noch so unterschiedlichen Formen symbolischer Repräsentation präsent – und damit auch im Medialen rekonstruierbar.

56 E. v. Glaserfels, a.a.aO., S. 32 57 Klaus Wiegerling, Medienethik als Symbolphilosophie – Handeln im Zeitalter virtueller Welterzeugungen und Weltordnungen. In: Hausmanninger, Thomas/Capurro, Rafael (Hg.), Netzethik – Grundsatzfragen der Internetethik. München 2002, S. 96 176

5. DIE FOTOGRAFIE IM ZEITALTER IHRER DIGITALISIERUNG

Wie dies im Bereich der Fotografie gelingen kann, soll zum Abschluss mit Roland Barthes’ Differenzierung von studium und punctum als Elemente des Fotografischen gezeigt werden. Aus deren symboltheoretischer Neudeutung, so die hier vertretene These, lässt sich ein Kriterium gewinnen, mit dem es letztlich doch möglich sein soll, ohne Rückgriff auf naive Abbildungstheorien und die von diesen postulierten Trennungen von virtuellen und nichtvirtuellen Darstellungsverhältnissen zwischen analoger und digitaler sowie damit zusammenhängend zwischen dokumentarischer und künstlerischer Fotografie zu unterscheiden.

5 . 3 Z u r U n t e r s c h e i d u n g vo n a n a l o g e n u n d d i g i t a l e n Fotografien In seinen unter dem Titel „Die helle Kammer“ veröffentlichten Bemerkungen zur Fotografie gelangt Roland Barthes zu der Erkenntnis, dass Fotografien, die seine Aufmerksamkeit in besonderer Weise auf sich ziehen, durch eine „Art von Dualität“58 gekennzeichnet sind, die sich wiederum dem gemeinsamen Auftreten zweier widerstreitender Elemente verdankt. Aufgrund des ersten Elements vermitteln Fotografien konventionelle Informationen und schaffen so ein Rezeptionsfeld, das ich als Betrachter „im Zusammenhang mit meinem Wissen, meiner Kultur recht ungezwungen wahrnehme.“59 Nach der Rezeptionshaltung, die dieses erste fotografische Element erzeugt, wird es von Barthes studium genannt, was für ihn nicht, „jedenfalls nicht in erster Linie, „Studium“ bedeutet, sondern die Hingabe an eine Sache, das Gefallen an jemandem, eine Art allgemeiner Beteiligung, beflissen zwar, doch ohne besondere Heftigkeit.“60 Das studium stellt gleichsam die konventionelle Basis dar, aufgrund derer die Fotografie ihrer gewöhnlichen visuellen Kommunikationsfunktion nachkommt. Es gewährleistet, dass die Betrachter „unausweichlich den Intentionen des Photographen begegnen, in Harmonie mit ihnen eintreten, sie billigen oder mißbilligen, doch stets sie verstehen“,61 sichert also den Status der Fotografie als Bestandteil der visuellen Kultur und damit jenen Sinn- und Bedeutungszusammenhang, aufgrund dessen Fotografien abbilden, informieren oder Konsumwünsche erwecken. Eine Fotografie, deren Produkte lediglich das Element des studium aufweisen, ist für Barthes dabei eine „einförmige Photographie“, eine Fotografie, die alle Voraussetzungen besitzt, „um alltäglich zu 58 Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt/M. 1985, S. 31 59 Barthes, a.a.O., S. 33 60 Barthes, a.a.O., S. 35 61 Barthes, a.a.O., S. 37 177

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sein, da die „Einheit“ der Komposition die Grundregel der vulgären (und insbesondere der akademischen) Rhetorik ist.“62 Einförmige Fotografie, so könnte man symboltheoretisch gewendet sagen, ist demnach ein Typ von Fotografie, der bei der Darstellung von Welt konventionalisierte und etablierte Weisen der symbolischen Formung des Dargestellten zur Anwendung bringt, die infolgedessen sehr einheitliche und vertraute Images63 produziert und sich daher bruchlos in die visuellen Bedeutungszusammenhänge, wie sie in der Gesellschaft anerkannt und verbreitet sind, einfügt. Eine solche Fotografie wiederholt im Wesentlichen die Wahrnehmungsmuster der Betrachter und scheint daher ein authentisches Abbild der als objektiv angenommenen Wirklichkeit zu liefern, während sie doch tatsächlich nur die durch sie reproduzierten Wahrnehmungsmuster bestätigt und legitimiert. Das studium kann nun aber durch ein zweites Element durchbrochen werden, das „wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang“ hervorschießt, um den Betrachter geradezu „zu durchbohren“.64 Dieses zweite Element, „welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt“,65 nennt Barthes punctum. „Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).“66 Dabei handelt es sich in der Regel um Details, die „zufällig und zwecklos ins Bild“67 geraten und gerade dadurch, dass sie vom Fotografen nicht absichtlich platziert werden, die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich ziehen, ja geradezu absorbieren. Sie zwingen den Betrachter regelrecht dazu, nur sie in den Blick zu nehmen und den Bildzusammenhang darüber aus dem Auge zu verlieren. Dem punctum eignet also eine geradezu expansive Kraft, durch die es „paradoxerweise die ganze Photographie einnimmt und dabei doch ein „Detail“ bleibt.“68 Für Barthes ist es dieses punctum, in dem sich der Referent recht eigentlich zu erkennen gibt, in dem sich die Fotografie als Medium gleichsam aufhebt und nicht mehr Zeichen ist, sondern die Sache selbst wird.69 Dementsprechend behauptet er auch folgendes prinzipielle Unterscheidungskriterium zwischen studium und punctum: „Das studium ist letztlich immer codiert, das punctum ist es nicht.“70

62 63 64 65 66 67 68 69 70

Barthes, a.a.O., S. 50 f. im Sinne der in Kapitel 4 verwendeten Bedeutung Barthes, a.a.O., S. 35 Barthes, a.a.O., S. 36 Barthes, a.a.O., S. 36 Barthes, a.a.O., S. 52 Barthes, a.a.O., S. 55 Vgl. Barthes, a.a.O., S. 55 Barthes, a.a.O., S. 60

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5. DIE FOTOGRAFIE IM ZEITALTER IHRER DIGITALISIERUNG

Nun haben die bisherigen Betrachtungen ergeben, dass Fotografie als mediale Erweiterung einer bestimmten Weise, Wirklichkeit geistig geformt zur Anschauung zu bringen, diese nie an und für sich selbst, also letztlich uncodiert darstellen kann. Wenn dies immer wieder so erscheint, für Barthes etwa in jenem von ihm als punctum bezeichneten, aufmerksamkeitsabsorbierenden Detail einer fotografischen Abbildung, so erweist sich dieser Eindruck doch nur als Bestandteil jenes Symbolismus selbst, der in der Fotografie die Wirklichkeitskonstitution leitet. Dass sich das punctum nicht in den Gesamtzusammenhang des Bildes, in dem es auftaucht, einfügen will, dass es dessen studium dadurch durchbricht und geradezu aufhebt, ist weder ein Indiz für seine Uncodiertheit noch infolgedessen dafür, dass sich hier Wirklichkeit unvermittelt, das Präsente also unabhängig von seiner Repräsentation zeigt. Die Sprengung der ikonischen Aussage, um es in Ecos Terminologie auszudrücken, durch einzelne ikonische Zeichen, die sich nicht in deren Kontext einfügen wollen, bedeutet lediglich, dass hier verschiedene Codifizierungsmuster zur Anwendung kommen. Das punctum sticht also aus dem studium nicht deshalb heraus, weil es anders als dieses nicht codiert, sondern weil es anders, nämlich nicht mit diesem konform codiert ist. Die Dualität, von der Barthes spricht, liegt also nicht im Gegensatz zwischen ‚codiert‘ und ‚uncodiert‘, sondern im Gegensatz unterschiedlicher Codierungen. Mit Goodman könnte man sagen, dass hier verschiedene Arten der visuellen Kategorisierung und, damit einhergehend, verschiedene Arten der Herstellung von visuellen Sinnzusammenhängen Verwendung finden, wobei sich diese dennoch im punctum schneiden. Was dabei sichtbar wird, ist allerdings nicht die uncodierte Wirklichkeit, und das punctum eignet sich auch nicht, aus ihm den Beweis für die medienunabhängige Präsenz des Repräsentierten abzuleiten. Wohl aber findet sich in ihm jene Materie der Wahrnehmung im Sinne Cassirers, nämlich als gemeinsamer Bezugspunkt verschiedener Arten der symbolischen Formung, die sich für ihn aus ihrer Überschneidung ergibt. Hier wird also nichts Ungeformtes aus einem Feld des Geformten heraus sichtbar, sondern das Geformte gerade als Geformtes, nämlich in seiner Geformtheit. Das Auftreten unterschiedlicher, den Betrachter in seiner Rezeption irritierender Gestaltungsmuster macht erst richtig deutlich, dass die Erkenntnis von Wirklichkeit immer nur im Modus der medialen Gestaltung verläuft, auch dann, wenn die Gestaltungsmuster in sich konsistent sind und sich deren Rezeption daher frei von Irritationen vollzieht. Das punctum durchbricht nicht die Notwendigkeit, Wirklichkeit zu einer geistigen Realität umzuformen, um sie dadurch überhaupt erst begreifbar zu machen. Es durchbricht, recht verstanden, die Illusion, dass ein direktes, unmittelbares, also nicht vermitteltes Begreifen der Realität möglich ist.

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In dieser symboltheoretischen Auffassung lässt sich Barthes’ Unterscheidung von Fotografien, die lediglich ein studium aufweisen, und solchen, bei denen dieses durch das punctum durchbrochen wird, nun verwenden, um eine Differenzierung zwischen analogen und digital produzierten Fotos vornehmen zu können, ohne auf die erkenntnistheoretisch problematische Unterscheidung ihres Verhältnisses zu einer virtuellen oder nicht-virtuellen Realität zurückgreifen zu müssen. Analoge Fotografien, so könnte man nun definieren, sind demnach punctumoffene Abbilder, d.h. Resultate einer visuell-symbolischen Formung von Wirklichkeit, in denen sich unterschiedliche, ja gelegentlich sogar widerstreitende Weisen der Formung überschneiden können. Digitale, also auf der Grundlage eines Computerprogramms generierte Fotografien sind dagegen solche, bei denen eine derartige Überschneidung nicht oder nicht mehr vorkommen, weil sie entweder von Anfang an so gestaltet wurden oder mit Hilfe der Manipulationsmöglichkeiten der digitalen Produktionstechnologie nachträglich entsprechend verändert worden sind. In diesen Fotos findet sich nur noch das studium, sie reproduzieren also nur noch konventionalisierte Darstellungsmuster. Sie sind ein-förmig in dem Sinn, dass sie nur noch einheitliche Formen der Symbolisierung von Welt verwenden. Dies schließt, darauf hat Barthes ausdrücklich hingewiesen, nicht aus, dass der Fotograf die Betrachter seiner Fotografien überraschen kann; einförmige Fotos müssen also nicht notwendigerweise auch monoton sein, obwohl sie dies – und nicht nur im Amateurbereich – nur allzu oft sind. Barthes kennt folgende Arten, den Betrachter von Fotografien zu überraschen: durch die Darstellung des Seltenen (etwa von missgestalteten Menschen), durch die Darstellung von Bewegungen, die dem Auge gewöhnlich verborgen bleiben, durch die ungewöhnliche Anwendung der apparativen Technik (etwa in Form von Doppelbelichtungen oder, wie bei den Pikturalisten, der gewollten, bewusst herbeigeführten Unschärfe) oder durch die Darstellung vorgefundener, also nicht inszenierter aber dennoch ungewöhnlicher Zusammenhänge, die dadurch humorvoll wirken (Barthes nennt das Beispiel zweier antiker Büsten, die Kertész personifizierte, indem er sie so fotografierte, als schauten sie aus dem Fenster einer Mansarde). In all diesen Fällen ereignen sich die Überraschungen jedoch im Bereich eines in sich konsistenten Darstellungszusammenhangs. Das punctum unterscheidet sich im Gegensatz dazu von der bloßen Überraschung dadurch, dass es auf einer ganz anderen Sinn- und Bedeutungsebene angesiedelt ist. Möglich wird das Eindringen des punctum in einen anvisierten semantischen Zusammenhang dadurch, dass die Fotografie, zumindest in ihrer analogen Form, eine prinzipielle Kontingenz aufweist. Auch darauf hat bereits Barthes hingewiesen, indem er die Fotografie in einem ersten phänomenologischen Zugriff schlechthin als „die TYCHE, de[n] ZUFALL, das ZUSAM180

5. DIE FOTOGRAFIE IM ZEITALTER IHRER DIGITALISIERUNG

MENTREFFEN, das WIRKLICHE in seinem unerschöpflichen Ausdruck“71 charakterisierte. Der Schlussfolgerung, die er daraus zieht, dass die Fotografie nämlich das reproduziert, was nur einmal stattgefunden hat, und das dargestellte Ereignis daher „niemals über sich selbst hinaus auf etwas anders“72 hinweisen könne, kann dagegen in ihrer Infragestellung der Symbolizität der Fotografie nicht gefolgt werden. In der prinzipiellen Zufälligkeit der Fotografie zeigt sich keineswegs ihre Fähigkeit zur authentischen Widerspiegelung der Wirklichkeit, verbunden mit der Unfähigkeit, diese in ihrer Singularität zu transzendieren, sondern vielmehr ein gewisses Maß an Nichtfestgelegtheit in der Art, Wirklichkeit visuell-symbolisch zu formen. Damit zeigt sich erneut, was bereits früher festgestellt wurde, dass nämlich das apparative Programm der fotografischen Technologie die Darstellung weit weniger determiniert, als dies von Fototheoretikern immer wieder angenommen und als Beweis dafür angeführt wurde, dass die Fotografie gar nicht anders könne, als die Wirklichkeit selbst wiederzugeben. Die Neuerung, die die digitale Technologie in die Fotografie einführte, besteht dann aber genau darin, diese Zufälligkeit der Symbolisierung zu beseitigen. Insofern sie von vorneherein und ausschließlich am Computer geschaffen werden, was bereits heute kein Problem mehr ist, sind sie frei von Zufälligem, weil das Zufällige kein Aspekt des apparativen Programms des Computers ist, zumindest soweit er zur Herstellung von Bildern verwendet wird. Computergenerierte Bilder weisen also erst gar nichts Zufälliges auf, sondern nur das, was auf der Grundlage des Programms, das ihre Produktion leitet, vorgesehen ist. Werden sie dagegen am Computer einer Bildbearbeitung unterzogen, was auch mit analog hergestellten und erst anschließend digitalisierten Fotos möglich ist, werden Zufälligkeiten im Zuge dieser Überarbeitung getilgt, wie es etwa in den bereits erwähnten Werbefotos heute gang und gäbe ist. Was also in digitalen Fotos verloren geht, ist nicht ihr authentischer Wirklichkeitsbezug, sondern die Möglichkeit, ein punctum aufzuweisen. Digitale Fotos bestehen, so könnte man auch sagen, immer nur aus dem Element des studiums und sind infolgedessen immer nur ein-förmig. Das ist es letztlich, was sie, und darin hat Lunenfeld Recht, allesamt zu künstlerischen Fotografien macht. Das Dokumentarische der Fotografie aber, das dabei verloren geht, besteht in nichts anderem als in der Fähigkeit der dualen Symbolisierung der stets medial vermittelten Wirklichkeit. Damit werden erneut zwei wesentliche Eigenschaften von Symbolen und Symbolsystemen deutlich, die bereits erläutert, zum Schluss dieser Arbeit aber noch einmal ausdrücklich herausgestellt werden sollen, weil sie die ent71 Barthes, a.a.O., S. 12 72 Barthes, a.a.O., S. 12 181

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scheidenden Aspekte des Theorieansatzes ausmachen, der dieser symboltheoretischen Untersuchung zur Fotografie zu Grunde liegt. Die Tatsache, dass in einem Foto verschiedene Weisen der visuellen Codierung nebeneinander auftreten können, ohne dabei bezüglich ihrer Aussage zueinander zu passen, erscheint auf der Grundlage dessen, was Umberto Eco über ikonische Aussagen gesagt hat, einigermaßen seltsam. Beziehen demnach die ikonischen Zeichen nicht erst aus der ikonischen Aussage, die sich aus diesen zusammensetzt, ihre Bedeutung? Wie können sie dann, wie es die duale Codierung erfordert, innerhalb eines Bildzusammenhangs unterschiedlichen ikonischen Aussagen zugehören? In der Tat muss Ecos Beschreibung des ikonischen Codes und des innerhalb dessen bestehenden Verhältnisses zwischen ikonischen Figuren, Zeichen und Aussagen um einen Grundgedanken erweitert werden, der bereits im Zusammenhang mit Symbolsystemen thematisiert wurde, und zwar der von deren Eigenstruktur. Die Tatsache, dass ikonische Aussagen erst dadurch zustande kommen, dass ikonische Zeichen sich zu solchen zusammensetzen, setzt Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen diesen voraus, aufgrund derer die Einzelzeichen miteinander in Beziehung treten können. Im Rahmen dieser Verknüpfungsmöglichkeiten bilden die Zeichensysteme dadurch konkrete Strukturen aus, so dass bestimmte Verknüpfungsmöglichkeiten realisiert werden und andere nicht. Welche Strukturen sich dabei letztlich bilden, hängt zum einen „von der „Innenseite“ der Vorstellungen in unserem Bewußtsein“73 ab. Die Funktion der Symbolisierung besteht ja eben darin, den mentalen Repräsentationen in unserem Bewusstsein Identität und dadurch Dauerhaftigkeit zu verleihen, um so eine konstante und geordnete Welt in sich zusammenhängender Vorstellungen aufzubauen. Dabei ist das Bewusstsein nur bedingt einem bestimmten Strukturprogramm unterworfen, es ist in der Ausbildung der Symbolstruktur und der dadurch bestimmten symbolischen Aussagen relativ frei. So ist es eben möglich, dass in einer fotografischen Abbildung verschiedene ikonische Aussagen codiert und vom Betrachter entsprechend decodiert werden, mit der Folge, dass sich verschiedene Images, also verschiedene visuelle Ordnungskategorien überschneiden. Die Isolierung identischer Vorstellungen aus dem Kontinuum des Bewusstseinsstroms durch ihre Verknüpfung mit Symbolen sowie der Aufbau komplexerer Sinnzusammenhänge durch die symbolische Verknüpfung der Vorstellungen untereinander hat Cassirer als wesensmäßige Fähigkeit des Menschen als animal symbolicum beschrieben. Damit die so gewonnene semantisch zusammenhängende Vorstellungswelt aber auch eine Dauerhaftigkeit über die Existenz des einzelnen Bewusstseins, in dem sich deren symbo73 Oswald Schwemmer, Die kulturelle Existenz des Menschen. Berlin 1997, S. 65 182

5. DIE FOTOGRAFIE IM ZEITALTER IHRER DIGITALISIERUNG

lische Konstitution vollzieht, hinaus gewinnt, muss sie externalisiert, d.h. in den sozialen Bereich hinein getragen werden, und zwar dadurch, dass sie für diesen sozialen Bereich verständlich geäußert wird. Dazu müssen die Symbole, durch die die Vorstellungswelt des einzelnen ihre feste Gestalt erhält, materialisiert werden, denn nur so können sie in einen Kommunikationsprozess, also in einen Prozess des sozialen Austauschs mit anderen symbolisch konstituierten Vorstellungswelten eingehen. Es ist klar, dass im Rahmen eines solchen sozialen Austauschs die Strukturen der Symbolsysteme, die hier kommuniziert werden, eine von außen auferlegte Disposition erleiden. Zunächst sorgt allein schon die Materialität der Symbole selbst für eine Beschränkung der Verknüpfungsmöglichkeiten. So bestimmt z.B. „das Lautmaterial einer Sprache Möglichkeiten der Wortbildung und -verknüpfung“ und die „Formen der motorischen Spracherzeugung schaffen schon Tendenzen zur Strukturierung einer Sprache, die eine untere Schicht im Gefüge ihrer syntaktischen Gliederung ausmachen.“74 Entsprechendes gilt für visuelle und speziell ikonische Symbolsysteme und damit auch für Fotografien. Da die fotografischen Symbole nicht motorisch, sondern apparativ erzeugt werden, bestimmt demnach das apparative Programm der Bildproduktionstechnik bereits die Möglichkeiten der Verknüpfung einzelner ikonischer Zeichen. Das apparative Programm der Fotografie hat sich in mancherlei Hinsicht in der Tat als äußerst restriktiv erwiesen, d.h. das Feld der Verknüpfungsmöglichkeiten visueller Symbole erfährt im Bereich der Fotografie eine sehr starke Begrenzung und Einengung. Dies ist auch die Ursache dafür, dass es in der Fotografie so leicht zur Einförmigkeit kommt mit der Folge, dass der fotografische Code ein so hohes Maß an Vertrautheit und Eingängigkeit gewonnen hat, was Fotografien so realistisch wirken lässt. Wenn es nichtsdestotrotz auch hier zu dualen Codifizierungen kommen kann, ist dies der Beweis dafür, dass zusätzlich zur materiellen Bestimmung noch eine weitere hinzutreten muss. Diese liegt im eigentlichen sozialen Austausch, in der Kommunikation selbst begründet. Damit Symbolsysteme auch für ein anderes Bewusstsein sinnvoll und damit verständlich sein können, müssen ihre Strukturen allen an der Kommunikation Beteiligten bekannt und vertraut sein. Das bedeutet, dass Symbolsysteme auch kommunikativen und damit sozialen Dispositionen unterliegen müssen. Das Geäußerte muss, nachdem es von anderen wahrgenommen worden ist, auch in seiner Symbolstruktur zu entschlüsseln sein. Dies wird durch eine Homogenisierung und Standardisierung der durch die interindividuelle Eigenstruktur der Symbolismen bereits vorstrukturierten individuellen Äußerung erreicht:

74 Schwemmer, a.a.O., S. 65 183

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„Die vorstrukturierten Ausdrucksformen, die in die individuelle Äußerung eingehen, verschaffen diesen nämlich standardisierte Elemente des Austauschs. Um diese standardisierten Elemente herum [...] entwickelt sich unser Austausch als Veränderung, Verknüpfung, Erweiterung, Verkürzung usw. dieser durch Standardisierung gewöhnlich gewordenen Elemente.“75

Diese Standardisierung, so wurde gezeigt, geht bei der Fotografie besonders weit, und verstärkt dadurch noch die durch die technischen Beschränkungen bewirkte Eingängigkeit von Fotografien wie auch ihre darauf beruhende realistische Wirkung. Was darüber nur zu leicht vergessen wird, ist – und das wurde in der vorliegenden Arbeit immer wieder betont –, dass die Welt, die sich in der Fotografie so realistisch abzubilden scheint, keineswegs jene außermediale Wirklichkeit ist, von der wir so selbstverständlich ausgehen, jene Wirklichkeit außerhalb unseres Bewusstseins und damit unabhängig von dessen geistiggestalterischer Kraft. Die Welt, in der wir leben, ist eine symbolische Welt. Sie setzt sich aus einer Vielzahl symbolisch gestalteter und medial konstruierter Wirklichkeiten zusammen, die vom einzelnen ständig auf die für ihn relevante Sinnhaftigkeit hin ausgelegt, also letztlich hermeneutisch erschlossen werden müssen. Die Welt, die sich dem Menschen im Lichte seiner Symbolismen offenbart, ist seine Welt, d.h. eine Welt der Kultur, „eine Welt der materiellen Zeichen und Geräte, die fortan die Außenwelt seines Handelns wie die Innenwelt seines Denkens und Fühlens, seines Erlebens und Strebens prägen“,76 eine Welt, die erst durch ihre symbolische Formung, auch und gerade unter Beteiligung apparativer Medien, eine Ordnung gewinnt, die es dem Menschen ermöglicht, diese Welt als Kosmos zu erleben, als Welt eines konsistenten, Orientierung bietenden Sinnzusammenhangs.

75 Schwemmer, a.a.O., S. 132 76 Schwemmer, a.a.O., S. 30 184

Sc hluss be me rk unge n

„Auf Verwechslung des Symbols mit dem Symbolisirten – auf ihre Identisirung – auf den Glauben an wahrhafte, volls[tändige] Repraesentation – und Relation des Bildes und des Originals – der Erscheinung und der Substanz – auf die Folgerung von äußerer Aehnlichkeit – auf durchgängige innre Übereinstimmung und Zusammenhang – kurz auf Verwechselungen von Subj[ect] und Obj[ect] beruht der ganze Aberglaube und Irrthum aller Zeiten, und Völker und Individuen.“1

Abgesehen von den unmittelbar an ihrer Erfindung Beteiligten dachte wohl noch niemand an die Fotografie, als Friedrich von Hardenberg, besser bekannt unter dem Namen Novalis, diese Gedanken während seiner Freiberger Studienzeit in den Jahren 1798/99 niederschrieb und seinen unter dem Titel „Allgemeines Brouillon“ zusammengefassten Materialien zur Enzyklopädistik hinzufügte. Tatsächlich sollten noch gut 40 Jahre vergehen, ehe das fotografische Verfahren soweit ausgereift war, dass es von Arago der Öffentlichkeit vorgestellt werden konnte. Novalis’ Gedanken scheinen in der Zwischenzeit freilich in Vergessenheit geraten zu sein. Die Behauptung, mit der Fotografie eine wahrhafte und vollständige Abbildungsrelation und damit eine durchgängige Übereinstimmung zwischen Bild und Original erreichen zu können, wurde von den frühen Verteidigern des neuen Mediums jedenfalls keineswegs als Aberglaube und Irrtum angesehen. Nun dürften Daguerres und Talbots Zeitgenossen die zitierten Äußerungen eines deutschen Frühromantikers, mit denen dieser rückblickend zu einem der „ersten unter den modernen Medientheoretikern“2 avancierte, kaum gekannt 1 2

Novalis, Das Allgemeine Brouillon. Materialien zur Enzyklopädistik 1798/99. Hamburg 1993, S. 157 Jochen Hörisch, Eine Geschichte der Medien. Von der Oblate zum Internet. Frankfurt/M. 2004, S. 35 185

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haben. Dennoch beweisen sie, dass es auf der Grundlage einer intensiven und verständigen Lektüre der Schriften Kants, von der das „Allgemeine Brouillon“ für Novalis Zeugnis ablegt, möglich war, zu Ansichten zu gelangen, die die Vorstellungen eines naiven Abbildungsrealismus, wie sie seit ihrer Erfindung fortwährend im Zusammenhang mit der Fotografie geäußert werden, auszuschließen. In der Tat kann Novalis wohl als einer der ersten, wenn nicht sogar als der erste Denker gelten, der aus Kants Transzendentalphilosophie symboltheoretische Schlussfolgerungen zog: „Alles Fixiren geschieht durch Verknüpfung – durch eine mehr oder minder individuelle Beziehung. Ich mache etwas fest – indem ich in Beziehung darauf etwas andres veränderlich mache – durch Beziehung desselben auf ein loses etc. Operationen d[es] Verstandes. Sollte der abstracte Verstand – das Sprachvermögen seyn – Hier wird etwas durch willk[ührliche] Verknüpfung mit der an sich bestimmten Affection eines schreibenden und tönenden Instruments fest und erkennbar.“3

Wie später bei Cassirer vollzieht sich die Bestimmung eines Wahrnehmungsobjekts schon für Novalis durch Relationierung. Und wie für Cassirer ist dies schon für Novalis sowohl eine Operation des Verstandes als auch instrumental externalisierbar. So verwundert es nicht, dass bereits Novalis die sinnvolle Wahrnehmung der Welt als vermittelt und damit als medial auffasste: „Aller Sinn ist repräsentativ-symbolisch – ein Medium. Alle Sinneswahrnehmung ist aus zweiter Hand.“4 Wer weiß, wie weit Novalis diese Ansätze zu einer eigenen symboltheoretischen Position ausgebaut hätte, wäre er nicht bereits 1801 im Alter von bloß 28 Jahren gestorben. So blieb es dem Neukantianer Cassirer vorbehalten, mit seiner „Philosophie der symbolischen Formen“ jene erkenntnistheoretische Ansicht systematisch ausformuliert zu haben, die der vorliegenden Arbeit zugrunde lag. Das Erkennen der Welt, so die hier vertretene Prämisse, erfolgt nicht passivaufnehmend, sondern ist maßgeblich Resultat einer Aktivität des erkennenden Bewusstseins. Nur dadurch, dass es aus dem Kontinuum der sensorischen Eindrücke, wie sie die Sinnesorgane liefern, im Rahmen eines symbolischen Prozesses bedeutsame Wahrnehmungsobjekte fixiert, macht es die Wirklichkeit für den Menschen überhaupt erst erfahrbar. Die Wahrnehmungsrealität, in der er sich erlebt, wird dadurch in ihrer Ordnung zu einem Produkt seines Geistes – und dieser damit zum primären Medium, vermittels dessen der

3 4

Novalis, a.a.O., S. 184 Novalis, a.a.O., S. 134

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SCHLUSSBEMERKUNGEN

Mensch sich überhaupt in einer zusammenhängenden, geordneten Welt erleben kann. Wie dargelegt, ist unser Bewusstsein dabei auf apparative Externalisierung hin angelegt. In der Tat kann all das, was als Medium in einem engeren oder auch weiteren Sinne verstanden wird, von der Sprache über Bilder bis hin zu den modernen elektronischen Medien, als externe Erweiterung der ursprünglichen medialen Verfasstheit unseres Bewusstseins und seines Vermögens aufgefasst werden, Weltbilder zu konstruieren und uns als Erfahrungsrealität zu präsentieren. Die apparativen und technischen Einrichtungsbedingungen, die diesen Medien zu Grunde liegen, bestimmen dabei maßgeblich die Art und Weise, wie sie an der Konstruktion der Realität teilhaben und damit auch deren Charakter als Realität. Anders gesagt: Wie uns die Wirklichkeit als mediale Realität und damit als konsistente Sinnwelt entgegen tritt, entscheidet das Medium auf der Grundlage seiner spezifischen technischen Dispositionen. Wie stark diese technische Einrichtung und die ihr zu Grunde liegende theoretische (und damit immer auch ideologische) Konzeption die mediale Konstruktion von Welt bestimmt, hat die Betrachtung des fotografischen Prozesses gezeigt. In gewisser Hinsicht kann die Kamera selbst wie auch die daran angeschlossene chemische Fixierung des durch sie Aufgenommenen als Symbolismus, d.h. als spezifischer Modus der symbolischen Gestaltung von Wirklichkeit verstanden werden. Dies bringt notwendig mit sich, dass die durch den fotografischen Prozess entstandenen Bilder schlechterdings nicht als getreue Widerspiegelung der Wirklichkeit angesehen werden können: „In Wirklichkeit gibt es einen solchen Spiegel gar nicht. Fotografen kopieren die Natur nicht bloß, sondern verwandeln sie dadurch, daß sie dreidimensionale Erscheinungen ins Flächenhafte übertragen und so aus dem Zusammenhang ihrer Umwelt lösen, wobei Schwarz, Grau und Weiß anstelle des äußeren Farbenspiels treten. Was aber den Vergleich mit einem Spiegel vollends unmöglich macht, [...] ist vielmehr die Art, in der wir die sichtbare Realität zur Kenntnis nehmen.“5

Diese Schlussfolgerung zu ziehen, scheint in hohem Maße sowohl der Intuition als auch der eigenen Erfahrung beim Herstellen und Betrachten von Fotografien zu widersprechen. Wie stark kontraintuitiv und wie schwierig durchzuhalten die Einsicht einer Gestaltung der Wirklichkeit durch das Medium 5

Siegfried Kracauer, Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Vom Verfasser revidierte Übersetzung von Friedrich Walter und Ruth Zellschan. Herausgegeben von Karsten Witte. Frankkfurt/M. 1985, S. 40 187

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Fotografie ist, zeigen jene Äußerungen Kracauers, in denen er im Gegensatz zur oben zitierten Aussage doch an einem gewissen Realismus der Fotografie festhält, indem er nämlich behauptet, dass das von ihm beschriebene formgebende Streben „mit der realistischen Tendenz nicht in Konflikt zu geraten“ braucht und das Problem des Fotografen in erster Linie darin besteht, „die „richtige“ Mischung zwischen Wirklichkeitstreue und formgebendem Bemühen herzustellen.“6 Dies bedeutet nun freilich nicht, dass diese Einsicht falsch oder unbegründet wäre. Vielmehr lässt sich der Eindruck des Realismus bei fotografischen Abbildungen auf eine ganze Reihe von Faktoren zurückführen, die, so konnte gezeigt werden, mit einem vermeintlich tatsächlichen Realismus in keinem Zusammenhang stehen. Demnach wirkt Fotografie deshalb so realistisch, weil die Typisierung, also die Art und Weise der symbolischen Gestaltung, die durch sie vorgenommen wird, bedingt durch ihre technischen Dispositionen extrem einheitlich verläuft und dem Betrachter der resultierenden Bilder infolgedessen vertraut und eingängig erscheinen. Realismus ist also kein Merkmal fotografischer Abbilder, sondern liegt vielmehr in der Art des Umgangs mit ihnen begründet. Dieser wird aber im Wesentlichen durch gesellschaftlich bedingte Verhaltensweisen bestimmt und damit durch die Weise, in der der Gebrauch von Fotografien im Kontext der sozialen Kommunikation mit Bildern habitualisiert worden ist. Der Eindruck der Wirklichkeitstreue, der den Betrachter von Fotografien bei ihrem Beschauen beschleicht, erweist sich so gesehen als emotionaler Reflex einer gesellschaftlich geforderten und eingeübten und darüber hinaus letztlich im Medium selbst propagierten mythischen Lesart von Fotos, d.h. einer Lesart, die die Abbildung mit dem Abgebildeten identifiziert und damit das Zeichen für die bezeichnete Sache selbst nimmt. Ein solcher Eindruck erweist sich also als Resultat einer bestimmten Sozialisierung und nicht als Hinweis auf die Natur der Sache selbst. Damit ist aber auch klar, dass Fotografie nur als gesellschaftliches Phänomen hinreichend verstanden werden kann. Mit Hilfe der Fotografie reproduziert und legitimiert die Gesellschaft die Schemata, auf denen ihre soziale Ordnung beruht. Fotografie wird dadurch zum Mittel der Konstruktion sozialer Sinnwelten, zu einem Medium der konstruktiven Ordnung der Welt. Der symbol- und zeichentheoretische Ansatz, auf dessen Grundlage die vorliegende Arbeit beruht, erweist sich so als im Kontext vielfältiger Bezüge zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen stehend. Diese Bezüge allesamt genauer auszuloten, hätte den Rahmen dieser Arbeit gesprengt. Dennoch sollen sie abschließend zumindest in Grundzügen beleuchtet werden. Exempla6

Kracauer, a.a.O., S. 41

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SCHLUSSBEMERKUNGEN

risch seien dazu nur zwei Disziplinen herangezogen: die Psychologie und die Soziologie. Ähnlich wie die Symboltheorie betont die Psychologie der Wahrnehmung die aktive Rolle, die das erkennende Bewusstsein im Wahrnehmungsprozess spielt, in dessen Verlauf sensorische Informationen aus der Umwelt zu Perzepten, also zu mentalen Repräsentationen dieser Umwelt transformiert werden. So hat z. B. bei der visuellen Wahrnehmung das Wahrnehmungssystem im Wesentlichen drei Aufgaben zu erfüllen: Es muss (1) im Rahmen der Objekterkennung Wahrnehmungsgegenstände in ihrer Bedeutung bestimmen, also zunächst einmal ermitteln, welche Objekte in der Umgebung anzutreffen sind, (2) diese Objekte lokalisieren, also in Erfahrung bringen, wo sich die in ihrer Bedeutung bestimmten Objekte befinden und welche räumlichen Beziehungen sie zueinander und zum erkennenden Subjekt einnehmen, und (3) dafür sorgen, dass das Aussehen der erfassten Objekte auch dann konstant bleibt, wenn das Netzhautbild, das die zu verarbeitenden sensorischen Eindrücke von den Gegenständen liefert, sich ständig ändert (was im Prinzip permanent der Fall ist). Damit der Eindruck einer in sich zusammenhängenden und sinnvollen Szene entsteht, müssen die sensorischen Empfindungen also vom Wahrnehmungssystem organisiert werden. Dabei folgt es einer ganzen Reihe von Organisationsgesetzen, die bereits von der Berliner Schule der Gestaltpsychologie, also von Max Wertheimer, Kurt Koffka, Wolfgang Köhler und anderen vor allem während der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts und damit wohl nicht zufälligerweise zeitgleich zur Entstehung der „Philosophie der symbolischen Formen“ systematisch untersucht und beschrieben worden sind.7 Die Organisation der aufgenommenen Reize durch das Bewusstsein läuft letztlich darauf hinaus, sie zu klassifizieren und zu kategorisieren, d.h. bestimmten Mengen relevanter Eigenschaften oder Konzepten zuzuordnen. Erst durch diese Zuordnung wird das Wahrgenommene als Objekt bestimmt. Damit ist aber zugleich ausgeschlossen, dass uns jedes erkannte Objekt als einzigartig erscheint. Vielmehr behandeln wir Objekte in unserem Wahrnehmungsfeld stets als Exemplare einer Objektklasse, die im Gedächtnis als Konzept repräsentiert ist.

7

Näheres hierzu findet sich u.a. bei Rita L. Atkinson/Richard C. Atkinson/Edward E. Smith/Daryl J. Bem/Susan Nolen-Hoeksema, Hilgards Einführung in die Psychologie. Herausgegeben von Joachim Grabowski und Elke van der Meer, übersetzt von R. Beyer, J. Grabowski und H. Hagendorf unter Mitarbeit von P. Weiß.Heidelberg, Berlin 2001; Philip G. Zimbardo, Psychologie. Deutsche Bearbeitung von Siegfried Hoppe-Graf, Barbara Keller und Irma Engel. Heidelberg, Berlin 1995; Helmut E. Lück/Rudolf Miller (Hrsg.), Illustrierte Geschichte der Psychologie. Weinheim, Basel 2005 189

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

Entscheidend bei der Beschreibung all dieser Prozesse ist die Einsicht, dass Wahrnehmung nicht alleine als sogenannter Bottom-up-Prozess, also nicht ausschließlich durch Reizimputs gesteuert verläuft, sondern dass sich im Sinne eines Top-down-Prozesses auch Erfahrung, Wissen, Erwartungen und der kulturelle Hintergrund des erkennenden Subjekts auf die Interpretation und Klassifikation der sensorischen Reize, also letztlich auf die Objekterkennung auswirken. Aufgrund dieser Top-down-Prozesse neigen wir nun dazu, „nach einer Ordnung im Ablauf der Geschehnisse zu suchen, und sobald wir eine solche Ordnung (Interpunktion) in sie hineingelesen haben, wird diese Weltschau durch selektive Aufmerksamkeit selbstbestätigend.“8 Das, was wir wahrnehmen, ist also in einem höheren Maße von Bedingungen des Bewusstseins bestimmt als von den tatsächlich aufgenommenen Umweltreizen. Das Bild der Welt, das sich in unserem Bewusstsein als Resultat des Wahrnehmungsprozesses entwickelt, ist im Wesentlichen von diesem selbst konstruiert oder, wie die Symboltheorie in ihrer Terminologie sagt, als Symbolsphäre geistig gestaltet. Obwohl sich der Prozess der Konstruktion der erlebten Wirklichkeit im individuellen Bewusstsein vollzieht, bleibt dieser deshalb noch lange nicht bloß subjektiv. Die den Konstruktionsprozess steuernden Faktoren – Erfahrung, Wissen, Erwartung, kultureller Hintergrund – können nämlich erst dann wirksam werden, wenn sie im Rahmen gesellschaftlicher Interaktionsprozesse wie Erziehung und Lernen vom Individuum internalisiert worden sind. Damit stellt sich die Konstruktion der Wirklichkeit, obgleich vom einzelnen geleistet, letztlich als gesellschaftliches Phänomen dar. Diese Behauptung entspricht im Wesentlichen der These, die der Wissenssoziologie, wie sie von P. Berger und T. Luckmann entwickelt wurde, zu Grunde liegt. Demnach erscheint die Wirklichkeit, wie wir sie in der Alltagswelt erleben, im Gegensatz zu anderen Wirklichkeiten (z.B. die der Traumwelten) deshalb so wirklich, weil sie sich „im Bewußtsein in der massivsten, aufdringlichsten, intensivsten Weise“ installiert.9 Diese Eindringlichkeit der Wirklichkeit der Alltagswelt verdankt sich dabei der Tatsache, dass es sich bei ihr um eine „intersubjektive Welt“ handelt, d.h. um eine Welt, „die ich mit anderen teile.“10 Objektiv und sinnvoll in ihrer Anordnung erscheint mir die Welt also erst auf der Grundlage sozialer Interaktion, durch die meine Weltsicht von anderen bestätigt werden kann. Diese 8

Paul Watzlawick, Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen. München 2005, S. 84 9 Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Übersetzt von Monika Plessner. Frankfurt/M. 2004, S. 24 10 Berger/Luckmann, a.a.O., S. 25 190

SCHLUSSBEMERKUNGEN

Interaktion setzt Kommunikation und ein sie ermöglichendes Zeichensystem voraus. Erst in der Kommunikation transzendiert der einzelne seine singuläre Existenzweise, überbrückt „die Kluft zwischen der Zone [seiner] Handhabung und der des Anderen“ und integriert dadurch „die verschiedenen Zonen der Alltagswelt [...] zu einem sinnhaften Ganzen.“11 Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass sich erst im Lichte der Kommunikation und der bei ihr verwendeten Symbole die Welt als wirklich erweist: „Symbole und symbolische Sprache werden so tragende Säulen der Alltagswelt und der „natürlichen“ Erfahrung ihrer Wirklichkeit. „Täglich“ und „alle Tage“ beziehungsweise „alltags“ lebe ich in einer Welt der Zeichen und Symbole.“12 Wirklichkeit wird also auf dem Weg der symbolischen Interaktion institutionalisiert und legitimiert und damit als Gesamtheit von Sinnwelten überhaupt erst konstituiert. Die Institutionalisierung der gesellschaftlichen Ordnung liegt dabei in erster Linie „in der Typisierung eigener und fremder Verrichtungen“13 begründet, wodurch der Handelnde letztlich zum Rollenträger wird. Erst die Rollentypologie seines Verhaltens erzeugt im einzelnen das Gefühl, in einer wirklichen Welt zu agieren: „Als Träger einer Rolle – oder einiger Rollen – hat der Einzelne Anteil an einer gesellschaftlichen Welt, die subjektiv dadurch für ihn wirklich wird, daß er seine Rollen internalisiert.“14 Die Internalisierung der Rollen und damit der gesellschaftlichen Wirklichkeit erfolgt dabei über Sozialisation, d.h. über „die grundlegende und allseitige Einführung des Individuums in die objektive Welt einer Gesellschaft.“15 Im Zuge der Sozialisation bekommt der einzelne auch einen bestimmten Platz innerhalb der sozialen Ordnung zugewiesen und erhält dadurch nicht zuletzt eine eigene Identität: „Die subjektive Aneignung der eigenen Identität und die subjektive Aneignung der sozialen Welt sind nur verschiedene Aspekte ein und desselben Internalisierungsprozesses, der durch dieselben signifikanten Anderen vermittelt wird.“16 Als erfolgreich lässt sich eine Sozialisation infolgedessen dann bezeichnen, wenn durch sie „ein hohes Maß an Symmetrie von objektiver und subjektiver Wirklichkeit (und natürlich Identität)“17 erreicht wurde. 11 12 13 14 15 16 17

Berger/Luckmann, a.a.O., S. 41 Berger/Luckmann, a.a.O., S. 42 Berger/Luckmann, a.a.O., S. 76 Berger/Luckmann, a.a.O., S. 78 Berger/Luckmann, a.a.O., S. 140 Berger/Luckmann, a.a.O., S. 143 Berger/Luckmann, a.a.O., S. 175 191

FOTOGRAFISCHER KOSMOS

Je komplexer Gesellschaften strukturiert sind, umso mehr ist die symbolische Integration der isolierten institutionellen Prozesse zu einer sinnvollen gesellschaftlichen Gesamtordnung auf die Vermittlung durch apparative Symbolismen, also auf den Einsatz von Medien angewiesen. Die Funktion der Fotografie im Rahmen dieses Prozesses der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit nachzuzeichnen und damit ihren Beitrag zu einer visuellen Ordnung der Welt aufzuzeigen, war Ziel und Anliegen der vorliegenden Arbeit. Dabei dürfte deutlich geworden sein, dass das große Projekt einer Philosophie der Fotografie, wie sie von Vilém Flusser gefordert wurde, also einer Philosophie, die die fotografische Praxis in all ihren apparativen, gesellschaftlichen und ideologischen Dispositionen zu Bewusstsein bringt, nur möglich ist, wenn sie als Symboltheorie betrieben und dabei im interdisziplinären Bezugsfeld zumindest zwischen Psychologie und Soziologie eingebettet ist. Eine Philosophie der Fotografie lässt sich, kurz gesagt, nur als Teil einer umfassenden Medientheorie betreiben – und damit nur als Teil einer symbolund prozesstheoretisch orientierten Kulturanthropologie.

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Ab bildunge n

Abb. 1: J. N. Niépce, Blick aus dem Arbeitszimmer in Le Gras (1826)

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FOTOGRAFISCHER KOSMOS

Abb. 2: Nadar der Ältere, Sarah Bernhardt (1859)

Abb. 3: Nadar der Ältere, Gustave Doré (1859)

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ABBILDUNGEN

Abb. 4: Disderi, Monsieur Thiers (um 1860)

Abb. 5: August Sander, Handlanger (1928)

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FOTOGRAFISCHER KOSMOS

Abb. 6: E. Rye, Unbekannte (1865)

Abb. 7: E. Rye, Unbekannte (1867)

Abb. 8: E. Rye, Unbekannter (1870)

Abb. 9: Erkennungsdienstliche Fotografie, Polizei Dresden (1903)

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ABBILDUNGEN

Abb. 10: Cindy Sherman, Untitled, A (1975)

Abb. 11: Cindy Sherman, Untitled, B (1975)

Abb. 12: Cindy Sherman, Untitled, C (1975)

Abb. 13: Cindy Sherman, Untitled, D (1975)

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Bildquelle nve rz eic hnis

Abb. 1:

Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13:

http://de.wikipedia.org/wiki/Bild: View_from_the_Window_at_Le_Gras%2C_Joseph_ Nic%C3%A9phore_Ni%C3%A9pce.jpg#filelinks Gisèle Freund, Photographie und Gesellschaft. Hamburg 1979, S. 57 Gisèle Freund, Photographie und Gesellschaft. Hamburg 1979, S. 61 Gisèle Freund, Photographie und Gesellschaft. Hamburg 1979, S. 78 August Sander, Antlitz der Zeit. München 2003, Tafel 23 Susanne Regener, Fotografische Erfassung. München 1999, S. 47 Susanne Regener, Fotografische Erfassung. München 1999, S. 47 Susanne Regener, Fotografische Erfassung. München 1999, S. 56 Susanne Regener, Fotografische Erfassung. München 1999, S. 151 Cindy Sherman, Photoarbeiten 1975-1995. München, Paris, London 1995, Tafel 9 Cindy Sherman, Photoarbeiten 1975-1995. München, Paris, London 1995, Tafel 27 Cindy Sherman, Photoarbeiten 1975-1995. München, Paris, London 1995, Tafel 19 Cindy Sherman, Photoarbeiten 1975-1995. München, Paris, London 1995, Tafel 1

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Claus Pias (Hg.) Abwehr Modelle – Strategien – Medien

Maria Muhle Eine Genealogie der Biopolitik Zum Begriff des Lebens bei Foucault und Canguilhem

September 2008, ca. 272 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-876-6

Juli 2008, 306 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-858-2

Andreas Hetzel (Hg.) Negativität und Unbestimmtheit Beiträge zu einer Philosophie des Nichtwissens. Festschrift für Gerhard Gamm

Emmanuel Alloa, Alice Lagaay (Hg.) Nicht(s) sagen Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert

September 2008, ca. 256 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-956-5

Alexander García Düttmann Derrida und ich Das Problem der Dekonstruktion August 2008, 198 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 978-3-89942-740-0

März 2008, 308 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-828-5

Iris Därmann, Harald Lemke (Hg.) Die Tischgesellschaft Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen Februar 2008, 244 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-694-6

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Edition Moderne Postmoderne Martin Nonhoff (Hg.) Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe 2007, 250 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-494-2

Dirk Quadflieg Differenz und Raum Zwischen Hegel, Wittgenstein und Derrida 2007, 364 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-812-4

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Jens Szczepanski Subjektivität und Ästhetik Gegendiskurse zur Metaphysik des Subjekts im ästhetischen Denken bei Schlegel, Nietzsche und de Man 2007, 242 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-709-7

Fabian Goppelsröder Zwischen Sagen und Zeigen Wittgensteins Weg von der literarischen zur dichtenden Philosophie

Steffen K. Herrmann, Sybille Krämer, Hannes Kuch (Hg.) Verletzende Worte Die Grammatik sprachlicher Missachtung

2007, 168 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-764-6

2007, 372 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-565-9

Judith Siegmund Die Evidenz der Kunst Künstlerisches Handeln als ästhetische Kommunikation

Ludger Schwarte (Hg.) Auszug aus dem Lager Zur Überwindung des modernen Raumparadigmas in der politischen Philosophie

2007, 258 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-788-2

Hans-Joachim Lenger, Georg Christoph Tholen (Hg.) Mnema Derrida zum Andenken 2007, 262 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-510-9

2007, 318 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-550-5

Andreas Niederberger, Markus Wolf (Hg.) Politische Philosophie und Dekonstruktion Beiträge zur politischen Theorie im Anschluss an Jacques Derrida 2007, 186 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 978-3-89942-545-1

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Edition Moderne Postmoderne Daniel C. Henrich Zwischen Bewusstseinsphilosophie und Naturalismus Zu den metaphysischen Implikationen der Diskursethik von Jürgen Habermas 2007, 246 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-620-5

Stefan Blank Verständigung und Versprechen Sozialität bei Habermas und Derrida 2006, 232 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-456-0

Alice Pechriggl Chiasmen Antike Philosophie von Platon zu Sappho – von Sappho zu uns

Peter Janich (Hg.) Wissenschaft und Leben Philosophische Begründungsprobleme in Auseinandersetzung mit Hugo Dingler

2006, 188 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-536-9

2006, 274 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-475-1

Reinhard Heil, Andreas Hetzel (Hg.) Die unendliche Aufgabe Kritik und Perspektiven der Demokratietheorie

Tobias Blanke Das Böse in der politischen Theorie Die Furcht vor der Freiheit bei Kant, Hegel und vielen anderen

2006, 288 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-332-7

Jens Badura (Hg.) Mondialisierungen »Globalisierung« im Lichte transdisziplinärer Reflexionen 2006, 318 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-364-8

Ulrike Ramming Mit den Worten rechnen Ansätze zu einem philosophischen Medienbegriff

2006, 232 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-465-2

Johann S. Ach, Arnd Pollmann (Hg.) no body is perfect Baumaßnahmen am menschlichen Körper. Bioethische und ästhetische Aufrisse 2006, 358 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-427-0

2006, 252 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-443-0

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Edition Moderne Postmoderne Gerald Hartung, Kay Schiller (Hg.) Weltoffener Humanismus Philosophie, Philologie und Geschichte in der deutsch-jüdischen Emigration

Hans-Joachim Lenger Marx zufolge Die unmögliche Revolution

2006, 224 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-441-6

Christoph Ernst, Petra Gropp, Karl Anton Sprengard (Hg.) Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie

Detlef Staude (Hg.) Lebendiges Philosophieren Philosophische Praxis im Alltag

2003, 334 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-159-0

2005, 156 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-363-1

Hans-Joachim Lenger Vom Abschied Ein Essay zur Differenz

Christoph Henning Philosophie nach Marx 100 Jahre Marxrezeption und die normative Sozialphilosophie der Gegenwart in der Kritik

2004, 418 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-211-5

2001, 242 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-933127-75-4

2005, 660 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN: 978-3-89942-367-9

Christian Schulte, Rainer Stollmann (Hg.) Der Maulwurf kennt kein System Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge 2005, 272 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-273-3

Arnd Pollmann Integrität Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie 2005, 394 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-325-9

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