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German Pages 236 Year 2015
Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) StreitKulturen
GUNTHER GEBHARD, ÜLIVER GEISL ER, STEFFEN SCHRÖTER
(HG.)
Streit Kulturen. Polemische und antagonistische Konstellationen in Geschichte und Gegenwart
[ transcript]
Dieser Band wurde gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen_
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ jdnb.d-nb.de abrufbar.
© zoo8 transcript Verlag, Bietefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Michael Pflüger »Streitmaschine«; © Michael Pflüger Lektorat & Satz: Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter Druck: Maju skel Medienprodulction GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-9r9-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http:jjwww.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
INHALT
Grußwort Wenn zwei sich streiten, freut sich das Denken
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Vorwort
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Streitkulturen- Eine Einleitung
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GUNTHER G EBHARD/ ÜUVER G E!SLER/ STEFFEN SCHRÖTER
Zur Kunst des Schreibens im Investiturstreit
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FLOR!AN HARTMANN
Der Kompromiss Überlegungen zur politischen Streitkultur der Schweiz vor 1800
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DAN!EL SCHLÄPP!
Vom Nutzen und Nachteil des Streits für die Erinnerung- Hamburgs Gedenken an die Unterzeichnung des Versailler Vertrages
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JAN!NA FUGE
»Don't be nice- it's the kiss of deathWohl und Wehe< hierzulande herauszustellen. Das Jahr der Geisteswissenschaften wurde offiziell erklärt, aber die Dresdner waren einmal mehr ihrer Zeit voraus, denn dasforumjunge wissenschaft lädt bereits seit 2005 zu einem herbstlichen Festival für das Denken. Dabei verbanden und verbinden sich Sinn, Zweck und Ausrichtung des Forums mit seiner Funktion als sinnfalligem Scharnier zwischen ambitionierter Forschung und interessierter Öffentlichkeit. Jenseits des viel zitierten >akademischen Elfenbeinturms< betrachten die Akteure des Projektes wissenschaftliches Denken stets als reflexiven kulturellen Vorgang, der auch in der sozietären Lebenswirklichkeit kommuniziert werden sollte. Kritisch, unbequem, urteilskräftig, ohne dabei die alleinige Deutungshoheit über gesellschaftliche Phänomene vor dem Hintergrund der Grenzen des eigenen Fachbereiches zu beanspruchen: Dergestalt präsentieren sich junge Kultur- und Sozialwissenschaftlerinnen in der Motorenhalle, dem Projektzentrum für zeitgenössische Kunst in der sächsischen Metropole. Die engagierten Organisatoren und teilnehmenden Nachwuchswissenschaftlerinnen betreiben neben der Etablierung eines Formates der geistigen Orientierung gewissermaßen auch den positiven Imagewandel ihrer Disziplinen. Überhaupt wird hier die Figur des intellektuellen Quertreibers aktiv und mit einer nicht zu verhehlenden Chuzpe konstruktiver Selbstironie in Frage gestellt. Dies ist auch angezeigt, da letzterem ja immer noch der Ruf einer gewissen >Weltfremdheit< anhaftet (der ja mit Blick auf die zuweilen gerne gepflegte >hermetische Außenseiterstellung< mancher moral Seience-Protagonisten auch berechtigt ist). Im Gegensatz zu den klassischen habituellen Pfadabhängigkeiten, die die allenthalben devote Atmosphäre in höheren deutschen Lehreinrichtungen kennzeichnet, geht es beim forum um die konsequente wie ganz natürliche Verortung der Wissenschaft im vitalen Diskurs der Öffentlichkeit. Jenseits der Hierarchien von »akademischem Götzendienertum«, ehrfürchtiger Totenstille angesichts der Einlassungen altvorderer Denker und der nicht selten vorherrschenden »intellektuellen Sprachparfümerie« (C. Walter im Stadtmagazin DRESDNER) in manchem Oberseminar vermitteln die Wissenschaftlerinnen auf einer bürgernahen Artikulationsplattform neue Perspektiven aufunser Weltverständnis. Diese Entwicklung unterscheidet sich wohltuend von dem Zustand, mit dem die wissensdurstige Jugend von heute in der alltäglichen Realität vieler
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STREITKULTUREN
Massenuniversitäten konfrontiert ist. Im Gepräge der Verwertungsdoktrinen eines dominanten ökonomischen Fristenregimes, interdisziplinärer Grabenkämpfe um >RelevanzExzellenz< und den >drittmittelgetriebenen Elitegebärden< verschiedenster Fächer sehen sich gerade kultur- und sozialwissenschaftliche Disziplinen einem unverhohlenem Verdrängungswettbewerb ausgesetzt. Angesichts dessen klingt das oberflächlich so titanische Bemühen des Bundesforschungsministeriums, das die »Geisteswissenschaften als die reflektierende Instanz der kulturellen Gnmdlagen der Menschheit« nun ein Jahr lang exklusiv gerühmt hat, zwischen den Zeilen doch nur wie ein überzeichnetes Memento mori. Vor der Bühnenblende einer knackigen Modeorientierung in der Wahl wissenschaftlicher Forschungsthemen, dadurch bedingter heuristischer wie hermeneutischer Fokus-Probleme und einem hastig vorgeführten Krebsgang hin zu immerneuen interkulturellen Perspektiven geht es nicht selten weniger um inhaltliche Authentizität denn um eine blendend vorgetragene Performance. Dabei sollten doch die vermittelnden, gestaltenden und memorierenden Kernelemente der Kultur- und Sozialwissenschaften im Zentrum ihrer öffentlichen Bewertung stehen; ebenjene inhärenten Schlüsselfaktoren geisteswissenschaftlichen Denkens, die neben vielfältigen Formen ästhetischer Welterschließung auch die strukturierende Ordnung unserer Lebenswirklichkeit sowie - via kritischer Erinnerung, analytischer Modeliierung und begrifflicher Organisation- unsere kollektive Selbstvergewisserung leisten, ohne die die relative Systemstabilität menschlichen Daseins nicht gewährleistet wäre. Die Fundamente unserer (Werte-)Gemeinschaft bilden fraglos immaterielle Tatbestände, deren inhärente Kräftebeziehungen von dynamischen, sich selbst erneuernden Wechselwirkungen zwischen ehernen Vernunftprinzipien auf der einen und intuitiver Ganzheitlichkeit auf der anderen Seite geprägt sind. Ebendies ist genuine Sache der Geisteswissenschaften und attestiert die Gewissheit von ihrer Zukunftsfähigkeit geradezu en passant. Dasforumjunge wissenschaft liefert hierzu ein glaubwürdiges Beispiel, dem man wünscht, dass es Schule macht. DR. DANIEL TREPSDORF
riesa efau. Forum fUr Kunst und Gesellschaft
VORWORT
Der vorliegende Band enthält die Ergebnisse der Diskussionen des nunmehr drittenforumjunge wissenschaft, das unter dem Titel StreitKulturen im November 2007 in der Motorenhalle des Dresdner Kunst- und Kulturvereins riesa efau stattfand. In Workshoprunden und öffentlichen Abendvorträgen wurden dabei verschiedene disziplinäre Perspektiven auf Streit anhand eines weiten Spektrums von Fallbeispielen präsentiert und ausgiebig debattiert. Dasforum versteht sich als Ort, an dem sowohl die innerwissenschaftliche Diskussion fortgetrieben als auch die Auseinandersetzung von Wissenschaftlerinnen mit der Öffentlichkeit gesucht wird. Gerade der Streit erwies sich in dieser Hinsicht als produktives Thema und ist gewissermaßen auch als repräsentativ für die Form der Veranstaltung anzusehen. Die verbale Auseinandersetzung wurde gezielt gesucht, kontroverse Thesen präsentiett und das Publikum ließ sich auf diese Art der Diskussion ein. Der Streit, so ist zu konstatieren, war somit nicht nur Thema der Veranstaltung, sondern war gleichzeitig auch in der Form angelegt und zeigte seine produktiven Seiten. Seinen in diesem Band ausgiebig diskutierten dissoziierenden Seiten wurde während des .forums durch ein kulturelles Begleitprogramm vorgebeugt. An dieser Stelle möchten wir es nicht versäumen, all denjenigen zu danken, die durch ihre Arbeit dazu beigetragen haben, dass die Veranstaltung in dieser Form und in dieser Qualität durchgeführt werden konnte. Besonderer Dank gilt dabei dem Kunst- und Kulturverein riesa efau - und hier insbesondere Daniel Trepsdorf - sowie den Mitarbeitern der Motorenhalle, die uns nicht nur die Räumlichkeiten zur VerfUgung gestellt haben, sondern uns darüber hinaus auch jede erdenkliche Unterstützung haben zukommen lassen. Des weiteren möchten wir uns bei allen Teilnehmerinnen bedanken, sowohl bei den Autorinnen dieses Bandes als auch bei denjenigen, deren Beiträge aus unterschiedlichen Gründen nicht im Rahmen dieses Bandes erscheinen konnten. Und nicht zuletzt gilt der Dank der Hans-Böckler-Stiftung, der Bundeszentrale für politische Bildung und der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen, ohne deren finanzielle Unterstützung weder eine solche Veranstaltung noch der vorliegende Sammelband möglich gewesen wären. Dresden, im Juli 2008 Gunther Gebhard/Oliver Geisler/Steffen Schröter
STREITKULTUREN- EINE EINLEITUNG GUNTHER G EBHARD/ÜLTVER GETSLER/STEFFEN SCHRÖTER »Aber auch der Streit ist Gemeinschaft, nicht Einsamkeit.« J W Goethe, Rede bei der Eröffnung der Freitagsgesellschaft (1791)
Gestritten wird oft, viel, an unterschiedlichen Orten, in verschiedensten Kontexten. Der Präsenz des Phänomens Streit steht allerdings seine negative Bewertung gegenüber. Der Streit scheint etwas zu sein, das zu vermeiden ist oder, für den Fall seiner Unvermeidlichkeit, möglichst schnell beendet werden soll. 1 Es kursiert wohl, so lässt sich konstatieren, eine Vorstellung von Streit, bei der dieser primär im Hinblick auf Überwindung und Beendigung gedacht und akzeptiert werden kann. Eine Harmonie(sehn)sucht erscheint so als Merkmal (zumindest) der gegenwärtigen Gesellschaft. Sehnsüchte mögen ihre Legitimität besitzen und als Horizont- als Anzustrebendes wie nicht Erreichbares- einen produktiven Charakter besitzen. Jedoch speisen sie sich aus dem Bezug auf Nicht-Wirkliches. Diesem steht eine Realität gegenüber, die nicht nur durch ihre Abweichung von einem solchen Ideal gekennzeichnet ist, sondern ihre eigene Funktionalität besitzt: Eine Gruppe oder Gesellschaft, die nur harmonisch wäre, so schreibt der Soziologe Georg Simmel 1908, wäre nicht nur »empirisch unwirklich, sondern würde auch keinen eigentlichen Lebensprozeß aufweisen« (Simmel 1992: 285). Entwicklung, Veränderung, Geschichte lässt sich mithin nicht aus einer Situation der Harmonie, die hier eng mit dem Aspekt der Statik korreliert wird, heraus denken. Jedoch erschöpft sich die Funktionalität des Nicht-Harmonischen, zu dem auch der Streit gehört, nicht in seiner Bedeutsamkeil flir die Bewegung. Simmel hat ebenfalls erkannt, dass der Streit - entgegen der Betonung der >EntzweiungAuseinandersetzung< enthalten ist, und aus der sich die Skepsis ihm gegenüber speist - auch vergesellschaftend wirkt. Eine solche Diagnose ließe sich z.B. an Alltagsbeobachtungen plausibilisieren: Der imperativische Appell, den Streit zu beenden, gehört zum Standardvonat elterlicher Erziehungsmaßnahmen gegenüber ihren Kindern, die Auffordemng, sich zu streiten, hingegen scheint nicht zum Repertoire verantwortungsvoller Pädagogik zu gehören. Auch ein erster kurzer Blick in den Bereich der Politik bestätigt diesen Eindmck: Wenn von Koalitionsstreit die Rede ist, ist die -krise nicht fern. Akzeptiert und affirmiert hingegen scheinen die Streitvarianten zu sein, die per se auf eine Beobachtung durch Dritte angelegt sind und sich durch eine Einhegung durch ihre institutionelle Rahmung auszeichnen, etwa das gepflegte Streitgespräch unter Intellektuellen oder auch der massenmedial inszenierte Streit.
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»Diese Entzweiungen«, so Simmel, seien »keineswegs bloße soziologische Passiva, negative Instanzen, so daß die definitive, wirkliche Gesellschaft nur durch die anderen und positiven Sozialkräfte zustande käme«; vielmehr sei die Gesellschaft ein »Resultat beider Kategorien von Wechselwirkungen« (ebd.: 286). Der Streit ist schließlich, insofern sich in ihm Akteure- seien es personale oder kollektive - wechselseitig aufeinander beziehen, ganz grundsätzlich durch den Charakter der Beziehung bzw. des Aufeinander-Bezogenseins geprägt.2 In diesem Sinne stellt sich der Streit beispielsweise als Identitätsgenerator dar, lässt Identität sich doch nur im Bezug auf ein Gegenüber herstellen (was selbstredend nicht heißt, dass Identitäten nur im Streit entstehen können). Wer aber streitet, nimmt sich stets in der und über die Reflexion des Anderen wahr. Was für den Einzelnen gilt, lässt sich ebenso auf Gruppen übertragen: Streit kann den Zusammenhalt von Kollektiven nach innen stärken, gerade weil man sich im Vollzug über das Gemeinsame klar wird. Nicht zuletzt ist dem Streit, insofern sein Ende offen ist und dieser mithin auf eine >Lösung< im Sinne einer Übereinstimmung zulaufen kann, auch die Möglichkeit der Vereinigung der Streitenden eingeschrieben. Wir wollen im Folgenden einige Überlegungen zum Streit vorlegen, in denen dieser als Form der Auseinandersetzung konzipiert wird, die gewaltfrei ist, der eine spezifische Akteurskonstellation eignet und die darüber hinaus bestimmte perfonnative Eigenschaften besitzt. Ein solches Konzept mag, insofern es prinzipiell auf eine gegenwärtige Verwendung des Wortes Streit rekurriert und begriffsgeschichtliche Aspekte zwar reflektiert, nicht aber konzeptuell einbindet, ahistorisch sein, jedoch ermöglicht es eine solche Fassung, Unterschiede zu machen. Und Unterscheidungen treffen zu können ist letztlich eine wichtige Funktion von Begriffen und Konzepten, ermöglichen Unterscheidungen doch überhaupt erst eine Spezifik der Beobachtung. Auch zeigt sich in den verschiedenen, an historischen Phänomenen ansetzenden Beiträgen dieses Bandes die Fruchtbarkeit eines solchen Konzepts. Aufbauend auf diesen konzeptuellen Überlegungen zum Streit selbst wird im Folgenden darauf eingegangen, dass sich ein reflexives Verhältnis zum Streit entwickelt hat, aus dem gesellschaftliche Praktiken hervorgegangen sind, die den Streit in Verfahren mit entsprechenden Settings institutionalisiert haben- dass sich mithin Technologien des Streitens herausgebildet haben. Die Einleitung abschließend kann eine Konzeptualisierung von Streitkulturen präzisiert werden, die - in Abgrenzung zu einem Kulturbegriff, der vor allem auf das Zivilisierte zielt - eine Beobachtungsmöglichkeit für diese Form der Auseinandersetzung zur Verfügung stellt.
Streit - eine Form der Auseinandersetzung Eine erste Annäherung an das Phänomen des Streits könnte in der zunächst recht allgemeinen Beschreibung dessen liegen, was sich bei einem Streit ereignet: Mindestens zwei Akteure oder auch soziale Gruppen setzen sich 2
Und würde in diesem Sinne Max Webers grundlegender Definition vom sozialen Handeln als »auf das Verhalten anderer« (Weber 1976: 1) bezogenes entsprechen.
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hauptsächlich mit verbalen Mitteln auseinander, miteinander oder auch gegeneinander; es wird versucht zu überzeugen, andere >auf Linie< zu bringen, in eine bestimmte Richtung zu drängen oder aber zum Schweigen zu bringen, auszuschließen. Aber eine solche Beschreibung, wie viel Plausibilität ihr auch immer attestiert werden mag, ist wohl kaum zureichend, um mit Streit als analytischer Kategorie arbeiten zu können. Auffallend ist, dass der Streit in einem auf den ersten Blick recht verwirrenden Begriffsfeld positioniert werden kann - und eben auch positioniert wurde. Um dies zu verdeutlichen, braucht man den Blick nur noch einmal zu den Ausführungen von Simmel zum Streit zurückzuwenden. Unter dem Oberbegriff Streit, verstanden als eine fundamentale F01m der Vergesellschaftung, widmet sich Simmel den, wie in seinen Darstellungen und Erläuterungen deutlich wird, sehr heterogenen Phänomenen des Kampfes, des Krieges, des Konflikts, der Konkun·enz oder auch - auf einer konkreteren Ebene - des Rechtstreits. Auch wenn Simmel in seiner grundlegenden Arbeit der Beschreibung und Konzeptualisierung des Streits eine bewundernswerte Menge an wertvollen Beobachtungen geliefert hat, kann man sich gleichwohl des Eindrucks nicht erwehren, dass die terminologische Anlage des Kapitels weniger zur Aufklärung als vielmehr zur Verunklarung des Zugangs zu dem Begriffsfeld beiträgt, in das der Streit zu gehören scheint. Dies mag einerseits, so kann man vermuten, einen Grund in der Etymologie bzw. in der Begriffsgeschichte des Streits haben. Der Streit war für lange Zeit mit der menschlichen Zwietracht und nicht zuletzt mit ihren problematischen Folgen verknüpft wie auch mit der ganz handfesten Auseinandersetzung - von der Schlägerei bis zum Krieg - konnotiert. 3 Jedoch haben sich im heutigen Sprachgebrauch diese Assoziationen weitgehend verflüchtigt: Streitäxte sind museal geworden. Die Land-, Luft- oder Seestreitkräfte bilden einen der wenigen verbliebenen semantischen Überhänge, in denen sich diese Engführung von Streit und Krieg noch finden lässt. Andererseits dürfte aber auch Sirnmeis Entscheidung, Streit als Oberbegriff für eine Gruppe von heterogenen Phänomenen zu wählen, ein zentrales Problem sein. Diese Frage nach der terminologischen Hierarchie wird auch in weiteren Diskussionszusammenhängen, auffallend insbesondere in der Auseinandersetzung um das Verhältnis von Konflikt und Streit, immer wieder gestellt. So wird beispielsweise in der Konfliktsoziologie Ralf Dahrendorfs der Konflikt als Form des Streits konzeptualisiert (vgl. u.a. Dahrendorf 1972: 18f.). Andererseits lassen sich aber auch Hierarchisierungen ausmachen, die, gerrau umgekehrt, vom Streit als einer Form des Konflikts ausgehen (vgl. u.a. Eriksson/ 3
In Hesiods Theogonie gebiert Eris, die Göttin der Zwietracht und des Streits, eine Reihe negativ konnotierter Eigenschaften und Auseinandersetzungsforrnen, unter ihnen »Schlachtgetümmel und Tötung und Kämpfe und Männergemetzel« (Hesiod 1990: 63). Anschaulich wird die bellizistische Fundiemng des Streits auch in dem Eintrag in der Biblischen Real- und Verhai-Handkonkordanz (Büchner et al. 1890: 935): »Streit, s. Krieg.« Zu >Eris< bei Homer und Hesiod vgl. Meyer (1885-1892, Bd. 5: 786). Zur Konnotation des K1iegerischen s. Krünitz (1840: 586f.); die weiteren Begriffe von >Streitaxt< bis >Streitwagen< (ebd.: 587-606). Ebenso Adelung (1811, Bd. 4: Sp. 440f.), wenngleich dmi der Streit als Krieg, im Gegensatz zu zahlreichen anderen Wörterbüchern, Lexika und Begriffsgeschichten des 18. und 19. Jahrhunderts, bereits als veralteter Gebrauch apostrophiert wird.
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Krug-Richter 2003). Fraglich ist aber, ob es einer solchen Hierarchisierung bedarf oder ob nicht vielmehr diese Frage zunächst zurückgestellt werden sollte, um sich den einzelnen Phänomenen zu widmen. Im Folgenden soll für eine Annäherung ein etwas anderer Weg beschritten werden. Auffallend ist zunächst, dass es sich bei allen Phänomenen, die in Simmels Streit-Kapitel, aber auch in den darauf folgenden Diskussionen um Streit oder Konflikt angesprochen werden, jeweils um solche handelt, die auf einer allgemeinen Ebene als Auseinandersetzung beschrieben werden können: Zwei oder mehr Akteure bzw. soziale Gruppen stehen sich gegenüber; sie handeln und kommunizieren in Anbetracht des oder der Anderen gegensätzlich und mitunter auch gegeneinander. Streit, Konflikt, Kampf, Krieg, Konkurrenz usw. können mithin als Formen der Auseinandersetzung begriffen werden. Zu fragen ist nun aber, wie sich diese Formen differenzieren Jassen. Als erste Kategorie, anhand derer sich diese Formen unterscheiden ließen, ist an die des Mediums zu denken. In welchen Medien werden die Auseinandersetzungen geführt? Lassen sich hier distinkte Charakteristika der einzelnen Phänomene ausmachen? Mit Blick auf den Streit ist hier insbesondere die Frage nach der Gewalt bzw. der Gewalttätigkeit in der Auseinandersetzung zu stellen, nicht zuletzt um die Ausdifferenzierung der ursprünglichen begrifflichen Identität von Streit und Krieg in den Blick zu bekommen. Es dürfte dabei klar sein, dass in solchen Formen wie Krieg oder Kampf der Gewalt - oftmals auch per definitionem - eine entscheidende Rolle zufallt. 4 Für Konflikte ist es demgegenüber deutlich schwerer, ein eindeutiges Medium oder auch ein bevorzugtes Mittel in der Auseinandersetzung zu bestimmen. Ein Grund dafür ließe sich darin ausmachen, dass der Konflikt nicht notwendigerweise einen Prozess beschreibt, sondern auch einen Zustand bezeichnen kann. Interessenkonflikte beispielsweise können strukturelle Gründe haben und müssen nicht zwingend die Form einer konkreten Auseinandersetzung annehmen; Konflikte können bestehen, ohne dass sie ausgetragen werden müssen. Für den Fall ihrer Austragung jedoch stehen dann die unterschiedlichsten Mittel zur Verfügung. Entscheidend ist aber, denkt man an eines der hervorstechendsten Beispiele, mit denen sich vor allem die Konfliktsoziologie beschäftigt hat, den Klassenkonflikt (vgl. hier v.a. Dahrendorf 1957; ders. 1972; ferner Krysmanski 1971), dass Konflikten zumindest die Möglichkeit innewohnt, auf Gewalt als Mittel der Austragung zurückzugreifen; die Prägung >KlassenkampfVerletzungsmacht< betrifft.
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Form der Auseinandersetzung zu tun. Mit anderen Worten: Wo Streit in Gewalt mündet, hat der Streit aufgehört, Streit zu sein. Ein Grund dafür ist u.a., dass mit dem Einsatz von Gewaltmitteln das Kriterium der Reversibilität nicht mehr gegeben ist. Der Fluchtpunkt des Streits - sein Ergebnis - ist reversibel, restlos neu verhandelbar. Das Ende eines Streits bedeutet, auch eventuelle Festlegungen immer »revidierbar zu halten« (Mauser 1993: 12). Dagegen ist der Tod als »Definitivum der Gewalt« (Popitz 1986: 78) irreversibel. Streit ist auch über ein (vorläufiges) Ende hinaus fortsetzbar, die gewaltsame Auseinandersetzung, die verletzt oder gar den Tod herbeiführt, dagegen nicht. »Die Unumkehrbarkeit der Gewalt ist die des Todes, der die Differenz von Leben und Tod schafft.« (QRT 2006: 37) Zwar kann ein Streit mit einer Intensität geführt werden, die ihm das Prädikat verleiht, es ginge mm Leben und Todtatsächliche< Gegenstand des Streits sein 8 - der Auseinanderset6
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Sprache kann im Zuge einer Differenzierung von Formen der Auseinandersetzung als Abgrenzungskriterium zu Gewalt fungieren. Die Auseinandersetzungen ließen sich dabei als Eskalationsstufen von sprachlicher zu körperlicher Kommunikation begreifen. So demonstriert es bereits der antike Mythos um Paris und Helena. In Meyers Konversations-Lexikon liest man eine pointierte Zusammenfassung des Mythos, der ein Durchgang durch Medien und Institutionen der Auseinandersetzung ist: »Bei der Hochzeit des Peleus und der Thetis von allen Göttern allein nicht geladen, schleuderte sie [Eris; Anm. v. uns] einen goldenen Apfel unter die Gäste, der durch die Aufschrift >Der Schönsten< den Streit zwischen Hera, Athene und Aphrodite veranlasste. Der Richterspmch des Paris führte bekanntlich zum Raub der Helena und dadurch zum Ausbmch des Trojanischen Kriegs.« (Meyer 1885-1892, Bd. 5: 786) Es ist - verständlicherweise - insbesondere die Linguistik, sofern sie sich mit dem Streit beschäftigt, die immer wieder auf die sprachliche Verfasstheil des Streits insistiert (vgl. u.a. Spiegel 1995). In diesem Zusammenl1ang werden dann auch spezifische Kommunikationsstile herausgearbeitet, die indizieren, dass es sich um einen Streit handelt; so beispielsweise eine entsprechend emotionalisierte, teilweise auch polemische Kommunikation oder ein spezifischer Einsatz der Stimme, der sowohl den Streitenden als auch potentiellen Beobachtern sichtbar macht, dass eine Streitsituation vorhanden ist. Der >tatsächliche< Streitgegenstand meint in diesem Zusammenhang den von einem Dritten, einem Beobachter der Streitsituation ausgemachten Gegenstand. Der theoretische Zusammenhang, der hier eine entscheidende Rolle spielt, ist der der Latenz. Tn einem Streit muss der kommunikativ, mithin in Sprache gefasste Gegenstand der Auseinandersetzung nicht notwendig der sein, um den es tatsächlich geht. Vielmehr können Streitende größere Bruchlinien zwischen den beiden Positionen über den Modus der Latenz kaschieren - ob bewusst oder unbewusst sei dahingestellt - und dadurch mithin die Wahrscheinlichkeit einer Fortsetzung sowohl der Kommunikation als auch der sozialen Beziehung (zu-
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zung wird sichtbar, an dem sich die Dynamik der Streitkommunikation und -interaktion entzündet. 9 Der Sprache kommt mithin das reflexive Moment zu, das Streit als solchen sowohl für die Streitenden als auch für einen Beobachter erkennbar macht. 10 Dabei muss der >Streit< als Selbstbeschreibungskategorie nicht notwendig im semantischen Reservoir der Streitenden vorhanden sein. Aber eine reflexive Wendung auf die Situation als Auseinandersetzung um einen Gegenstand, die Sprache ermöglicht, muss möglich sein. Das heißt aber wiederum nicht, dass die Sprache das einzige Medium ist, in dem ein Streit ausgetragen werden kann.11 Man denke hier nur an die komplexe Geschichte des Paragone- des Wettstreits der Künste, der vor allem im italienischen Cinquecento die Künstler und kunstinteressierten Gelehrten heftig umtrieb -, in dem der Streit auch in den Bildmedien ausgetragen wurde. 12 Die Kristallisation des Streits, die Sichtbarmachung der Bruchlinien, die mindest vorläufig) sichern. Mithin wird der Dissens auf ein Stellvertreterproblem verschoben, das eine Auseinandersetzung garantiert, aber eben auch den sozialen Zusammenhang nicht allzu stark gefahrdet. Eben solche latenten Streitigkeiten können von Dritten beobachtet und in die Kommunikation der Streitenden eingebracht werden. 9 Nebenbei bemerkt kann auch ein Blick auf Metaphern einen Beitrag zur Bestimmung von Auseinandersetzungsformen leisten: ein Konflikt schwelt, ein Streit dagegen entzündet sich oderflammt auf I 0 Daran schließt sich die Frage an, wie die Beobachtungsposition gestaltet sein muss: Wie nah oder fern muss man als Dritter sein, um den Streit wahrzunehmen, begreifen und analysieren zu können, ohne in ihn hineingezogen zu werden? Oder: Wie verändert sich die Beobachtung des Dritten, wenn es sich um Augenzeugenschaft oder um raum-zeitlich distanzierte Analyse handelt? II Nicht nur deshalb greift es wohl zu kurz, den Streit allein durch seine Zugehörigkeit zu den »Arten des Dialogs« (Maier-Schaeffer 2008: 25) zu begreifen. 12 Einige interessante Beispiele finden sich bei Hessler (2002): Oft wurden Topoi des diskursiv ausgetragenen Streits in der Bildproduktion aufgegriffen: So begann Sebastiano del Piombo, beständigere Bildträger wie Marmor für seine Malerei zu benutzen und wandte sich somit gegen das Argument der Vergänglichkeit der Malerei gegenüber der materiellen Beständigkeit der Bildhauerei, gegen das bereits Lionardo in seiner Paragone-Schrift Stellung bezogen hatte; allerdings mit dem ironisch anmutenden Resultat, dass die Produktionen weniger dauerhaft waren als die herkömmlichen, da die Verbindung zwischen Bildträger und Farbe eine durchaus problematische war, was u.a. dazu führte, dass die Farbe abplatzte (vgl. ebd. 93). Ein anderes Beispiel fiir die Austragung des Streits in den Bildmedien zeigt sich in der Auseinandersetzung um das Bildprogramm des Grabmals von Michelangelo. Sowohl die Bildhauer als auch die Maler reklamierten Michelangelo als den größten Künstler der jeweiligen Kunstgattung und damit auch als entscheidendes Argument im Paragone zwischen den beiden Bildmedien, und eben dies sollte auch in der Gestaltung seines Grabmals zur Geltung kommen: Die Bildhauer wollten eine trauernde Sculptura in der zentralen Position des Bildprogramms, wogegen die Maler erbittert stJitten (vgl. ebd.: 94f.). An dieser Begebenheit zeigt sich auch, wie ein >großen Streit gewissermaßen ausgreift und kleinere Streite oder Nebenschauplätze motiviert, die aber gleichwohl als wichtig für den großen Streit angesehen werden. Ein weiteres Beispiel fiir eine solche Streitdynamik kann man im Investiturstreit sehen; vgl. dazu den Beitrag von Florian Hartmann in diesem Band.
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Schärfung der Argumente und die Heftigkeit der Auseinandersetzung aber beruhte auf der Sprache, auf den unzähligen Traktaten, Streitschriften und Polemiken, die den Wettstreit zwischen Malerei und Bildhauerei aufnahmen und vorantrieben. Die Schriften steckten das Feld ab, in dem sich dann die künstlerischen Produktionen in den jeweiligen Bildmedien bewegten, um der einen oder der anderen Seite eine, auch von der jeweils anderen Seite anerkannte, mithin unabweisbare Evidenz zu verschaffen. Gleichwohl sieht man am Paragone im Cinquecento, dass der Streit nicht gewonnen werden konnte. Dieselben Argumente wurden immer wieder ins Felde geführt, die Gegenüberstehenden konterten entsprechend mit den vorhandenen argumentativen Mustern. Der Streit erhärtete sich gewissermaßen in der beständigen Wiederholung und seine anfängliche Dynamik verlor sich. Als Resultat, wenn man von einem solchen sprechen möchte, kann man aber - und dies gerade aufgrundder Verhärtung der >Fronten< - die Aufklärung über die eigene Position, über die vermeintlichen Essenzen der jeweils eigenen Kunst ansehen. Neben den Bildmedien können aber auch andere Medien aufgegriffen werden, um einen Streit auszutragen, seine Dynamik zu verstärken oder aber diesen in >geordnete Bahnen< zu lenken. Hinsichtlich der letzten Möglichkeit lohnt es sich, einen kurzen Seitenblick auf den Rechtsstreit zu werfen. Die meisten Gesellschaften, zumindest aber die im Sinne Luhmanns funktional ausdifferenzierten, haben mit dem Recht eine eigenständige Sphäre oder ein eigenständiges System entwickelt, in dem Streitfälle einer spezifischen, gesellschaftlichen Regelung zugeführt werden können. Die Überführung dieser in ein institutionalisiertes Setting ermöglicht die Entscheidung von Streit anhand eines meist ausgesprochen rationalen Kriterienkatalogs. Auf einer abstrakten Ebene freilich könnte man hier von einer Überführung der Austragung des Streits vom Medium der Sprache in das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Recht sprechen. Überhaupt kommt den meisten symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien (im Sinne Luhmanns) das Potential zu, Streit einer Lösung zuzuführen, wenn nicht sogar diesen zu beenden. >Erfolgsmedien< (vgl. Luhmann 2001: 203) wie eben Recht oder auch Macht- man denke in diesem Zusammenhang nur an einen politischen Streit zwischen Regierung und Opposition - sind gesellschaftliche Errungenschaften, die Streit regeln und kanalisieren; womit freilich nicht gesagt ist, dass beispielsweise durch ein >Machtwort< der Streit ein für alle Mal beendet sein muss. Auf der anderen Seite scheint es aber auch symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien zu geben, bei denen nicht ausgemacht ist, ob sie zu einer Klärung oder zu einer Verschärfung des Streits beitragen: gemeint sind solche Medien wie Geld, Reputation oder auch Liebe, die einen Streit sowohl perpetuieren als auch auflösen können. Wie auch immer das im Einzelnen aussehen mag, festzuhalten bleibt, dass Streit in einer Vielzahl von Medien ausgetragen werden kann, sein Nukleus bzw. Kristallisationspunkt ist aber notwendig in der Sprache zu suchen; erst in der Sprache wird eine Auseinandersetzung zum Streit. Und genau in diesem Aspekt ist auch die Abgrenzung von einem Phänomen wie dem der Konkurrenz zu verorten. Konkurrenz bedient sich unterschiedlichster symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien wie Liebe, Erfolg, Geld, Macht; auf die reflexive Wendung über Sprache aber ist die Konkurrenz nicht notwendig angewiesen, was man beispielsweise bei Konkurrenzen in der Ökonomie, sei es mit dem besten oder günstigsten Produkt um Kunden, sei es um den Arbeitsplatz, gut beobachten kann.
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Als zweites Kriterium- neben der Frage nach dem Medium- für die Unterscheidung der einzelnen Auseinandersetzungsformen bietet sich die Frage an, wie Akteure in einer Auseinandersetzung interagieren bzw. welche Akteure in einer solchen involviert sind. So müssen bei einem Kampf zwingend mindestens zwei Akteure miteinander bzw. gegeneinander interagieren. Anders bei einem Krieg: Erstens stehen sich hier mindestens zwei kollektive Akteure gegenüber, die freilich in spezifischen Situationen, mithin in Kampfhandlungen konkreter sichtbar werden. Zweitens aber entfallt hier die Situationsgebundenheit, die bei einem Kampfbeobachtet werden kann: Ausgehend von Initialereignissen (wie formaler oder auch faktischer Kriegserklärung) und mündend in temporäre (Waffenstillstand) oder auch formal-juristische Beendigungen (Kapitulation, Friedensvertrag), durchläuft der Krieg einen bestimmten Zeitraum und umspannt so verschiedene konkrete Situationen. Obwohl beide Formen der Auseinandersetzung also hauptsächlich auf das Medium der Gewalt zurückgreifen, unterscheiden sie sich hinsichtlich der beteiligten Akteure und insbesondere in der Art des Aufeinandertreffens dieser Akteure. Ein Wettkampf wiederum ließe sich dadurch kennzeichnen, dass es hier zu einer personalen Interaktion in einem temporal und räumlich klar abgegrenzten Bereich kommt; so beispielsweise im Sport bei der Kür des Besten. Demgegenüber muss eine KonkmTenzsituation nicht unbedingt darauf beruhen, dass sich die Konkurrierenden personal-konkret gegenüberstehen. Vielmehr können Konkurrenzverhältnisse - wie man sehr gut in der Ökonomie beobachten kann - durchaus auch abstrakte Verhältnisse sein, in denen der Einzelne mit Unbekannten um das fragliche Gut (Arbeitsplatz, Kunden, Aufträge etc.) konkurriert. Streit hingegen könnte man als eine vorwiegend personalisierte Form der Auseinandersetzung fassen. Zwar können auch kollektive Akteure (z.B. Künstlergruppen) miteinander im Streit liegen; bedeutsamjedoch ist, dass bei einem Streit zumindest die Möglichkeit besteht, den Kontrahenten sprachlich-kommunikativ ausmachen und auch adressieren zu können.13 Dies muss nicht notwendig auf den Kommunikationen der unmittelbar Beteiligten beruhen, wobei solche freilich die Personalisierung verstärken. Vielmehr sind oftmals (professionalisierte) Dritte, mithin also Beobachter ausschlaggebend dafür, dass es zu Personalisierungen in Streitsituationen kommt. Insbesondere die Massenmedien sorgen mit ihren Beobachtungen immer wieder dafür, dass aus eher unklaren, nicht-personalisierten Situationen klar konturierte Konstellationen werden, die auch entsprechende Effekte auf die Beteiligten zeitigen können. So können Positionsstreitigkeiten auf so genannte Meinungsführer zurückgeführt und so gar forciert werden, z.B. wenn eine tarifrechtliche Auseinandersetzung auf die zwischen einem Gewerkschaftsführer und einem entsprechenden Arbeitgeberführer zugespitzt wird. Aber auch in alltäglichen Situationen sorgen Dritte mitunter dafür, dass eine Konstellation auch für die Gegenüberstehenden als Streitsituation erkennbar wird. 13 Die Adressierung betrifft auch den Adressierten, der sich selbst als ein solcher begreifen und daraus die Aufforderung, aktiv in die Auseinandersetzung einzusteigen, (an-)erkennen muss: »Ein Streit, bei dem der eine streitet, der andere aber gar nicht merkt, dass gestritten wird, ist eben kein Streit - oder ein besonders fieser, wenn man die Streitabsicht zwar erkennt, aber ignoriert.« (Saße 2008: 9)
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Ein Streit kann über einen langen Zeitraum hinweg geführt werden - die weiter oben angesprochenen Beispiele wie der Paragone oder auch der Investiturstreit belegen dies ausgezeichnet. Dabei können sich die Akteurskonstellationen verschieben, neue Akteure treten in den Streit ein, ergreifen Partei, vormalige Wortführer werden abgelöst oder treten in den Hintergrund. In einem solchen Fall eines Streits über einen langen Zeitraum wird eine Vielzahl von Konununikationen und konkreten Interaktionssituationen überspannt; 14 es können Nebenschauplätze entstehen, der Streit kann sich verzweigen und in diesen Verzweigungen können sich eigenständige Streite entwickeln. Auf der anderen Seite kann Streit aber auch - wie man insbesondere im Alltag sieht - rein situations-, mithin rein interaktionsgebunden sein. Die Akteurskonstellation beschränkt sich in diesen Fällen auf die in einer entsprechenden Situation Anwesenden. Man kann an diesen kurzen Beobachtungen sehen, dass der Streit eine Vielzahl an möglichen Akteurskonstellationen (z.B. fix vs. variabel, akteursfixiert vs. partei- bzw. positionsfixiert) aufweist und entsprechend von einer extremen Bandbreite von Streitphänomenen zu sprechen ist. Eben diese Offenheit in der konkreten Ausgestaltung des Streits zeigt sich auch, wenn man ein drittes Kriterium an die Formen der Auseinandersetzung anlegt, nämlich die Frage nach den möglichen Ausgängen bzw. Ergebnissen von Auseinandersetzungen. Streit hat nicht nur Ursachen, Auslöser, einen Verlauf, sondern er läuft auch auf etwas zu: Streit hat ein Ende. Wie ein Streit zu Ende geht, lässt sich wiederum von anderen Formen der Auseinandersetzung abgrenzen. 15 Der Waffenstillstand und der Friedensschluss gehören im Sinne des hier entwickelten Konzepts nicht zum Streit; die Applikation dieser Semantik auf den Streit ist bloß metaphorischer Natur und zeigt >nur< die Nähe zu anderen Formen der Auseinandersetzung an. Ebenso wenig kann man - in einem begrifflich präzisen Sinne gedacht, und auch der Sprachgebrauch zeigt dies an - einen Streit gewinnen; jedoch kann man sich in einem Streit durchsetzen. Was den Streit jedoch von anderen Formen der Auseinandersetzung unterscheidet, ist, dass es verschiedene und recht heterogene Weisen seines Endes gibt und dass sein Ausgang vergleichsweise offen ist. Dabei lassen sich diese Formen der Beendigung noch einmal hinsichtlich ihrer temporären Fragilität oder aber Stabilität unterscheiden. So mag ein Streit beispielsweise im Konsens enden, in der Überzeugung einer der beiden Parteien durch die andere oder in der Einigung beider Parteien auf eine gemeinsame Position. 16 Im 14 Am Beispiel des Investiturstreits kann man auch sehen, wie Streit nahezu sämtliche sozialen und kulturellen Bereiche durchdringen und beeinträchtigen kann. Der Streit wird so dominant oder gar total, dass man sich ihm kaum mehr entziehen kann. 15 Eine erste Abgrenzung, die auch die Beendigungsszenmien betrifft, konnte bereits mit dem Kriterium der Reversibilität festgehalten werden. 16 Der Extremfall ist sicherlich, wenn der Streitabsicht dadurch die Grundlage entzogen wird, dass der oder die polemisch Angegriffene durch Zustimmung den Streit im Moment seiner Initiierung unterminiert. Fraueine Maier-Schaeffer (2008) hat dies anhand der Dramendialoge Franz Xaver Kroetz' und Mmius von Mayenburgs erarbeitet; in dem Aufsatz findet sich das schöne Beispiel aus von Mayenburgs Parasiten: »PETRIK: Du bist zum Kotzen. FRIDERJQUE: Ich weiß« (ebd.: 35).
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Konsens, so die Überzeugung nicht nur eine vorgeschobene ist, findet sich eine Variante, die den Streit dauerhaft beendet. Anders stellt sich dies bei einem weiteren Mechanismus der Beilegung des Streits dar, beim Kompromiss. Der Kompromiss rückt den Streit in die Nähe einer anderen Form der Auseinandersetzung: derjenigen der Verhandlung. Anders als beim Konsens hat man es hier mit einem Geben und Nehmen zu tun, ohne dass eine >wirkliche< Einigung, im Sinne einer Vereindeutigung vorher dichotomer Positionen durch die Vemeinung einer Position, hergestellt wäre. Der Kompromiss ist eine pragmatische Form der Beilegung eines Streits; insofern ihm zumindest die Möglichkeit innewohnt, dass sich beide mit dem Kompromiss zwar arrangieren können, aber letztlich unbefriedigt bleiben, dass sich also eine oder auch beide Seiten als benachteiligt betrachten können, 17 ist er ein Mechanismus der temporären Aussetzung des Streits und hält mithin seine Fortsetzung bzw. Wiederaufnahme offen. Jedoch kann ein Streit auch ohne die temporäre Invisibilisierung des Dissenses durch die »momentane Einigung« (Unger 1989: 12) des Kompromisses beendet werden. Auf verschiedene Weisen, und dies wären weitere Varianten der Streitbeendigung, kann der Dissens sichtbar beibehalten werden; die Entzweiung der Streitenden würde dann prolongiert. Ein Streit kann ob der argumentativen Erschöpfung der Beteiligten >verebben< oder abgebrochen werden; als solcher ob der fehlenden Austragung nicht mehr beobachtbar, würde der Dissens entsprechend fortbestehen, der Streit wäre in den Modus der Latenz verschoben und kann aus gegebenem Anlass fortgesetzt werden. Andererseits kann ein unauthebbarer Dissens einen Streit eskalieren lassen und ihn letztlich in einen anderen Modus der Auseinandersetzung - beispielsweise den der gewalttätigen 18 - kippen lassen. Fasst man den Streit im Sinne der hier vorgestellten Überlegungen 19 der Bindung an nicht-gewaltförmige Kommunikationsmedien mit dem Fokus auf Sprache als notwendigem, wenn auch nicht zwingend hinreichendem Bestandteil, Akteurskonstellationen, die, auch wenn kollektive Akteure möglich 17 »>Besser wäre es andersheutigen< Politik, als deren >Hauptelement< er den Kompromiss ausmachte - eine Kritik verbunden, deren zentrales Argument darin besteht, dass der Kompromiss sich letztlich als ein Verhältnis darstellt, aus dem »der Zwangscharakter nicht weggedacht werden kann«, da die »zum Kompromiß führende Strebung nicht von sich aus, sondern von außen, eben von der Gegenstrebung motiviert« (ebd.) werde. 18 Als eine andere Variante könnte man die Transformation in die spezifische Form des Rechtsstreits betrachten. Unter diesen Umständen sind die Möglichkeiten der Beendigung weit weniger offen, sondern laufen prinzipiell - auch wenn es beispielsweise den Vergleich gibt - auf Sieg oder Niederlage zu. 19 Es dürfte klar sein, dass der hier angelegte Kriterienkatalog alles andere als vollständig ist. Die Figur bzw. die Figuren des Dritten wurden ebenso wie die Frage nach den temporalen und räumlichen Bedingungen des Streits weitestgehend ausgeblendet. Hinsichtlich dieser Kriterien dürften weitere Präzisiemngen für das Phänomen des Streits einholbar sein, die aber im Rahmen dieser Einleitung außer acht gelassen werden, weil die angeführten Kriterien eine ausreichende Konturiemng des Phänomens ermöglichen; und um nichts anderes sollte es bis hierhin gehen.
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sind, auf eine Personalisierung zulaufen und Streitverläufe, die neben der grundsätzlichen Vielfalt der Möglichkeiten im Kern durch die Offenheit des Endes gekennzeichnet sind -, so wird deutlich, dass der Streit eine eigenwillige Form besitzt: die Entzweiung ist ihm eingeschrieben - denn ohne das Trennende wäre er kein Streit - , aber diese stellt gerade die Einheit der Beziehung her. Die Streitenden sind mithin schon durch die grundsätzliche Beziehungsförmigkeit des Streits integriert. Dabei ist diese spezifische Beziehungsform nicht voraussetzungslos. Diese Voraussetzung kann als Wechselspiel von Anspruch und Anerkennung gekennzeichnet werden, die sowohl das Zustandekommen wie auch die Offenheit des Endes bestimmt. Wer in einen Streit eintritt, tut damit einen Anspruch auf Gerechtigkeit kund. Dieser bezieht sich nicht auf die inhaltliche Ebene der Argumente, sondern auf die formale der Akteurskonstellation. Gerechtigkeit wird dafür eingefordert, dass Beiträge vorgebracht werden können und gehört werden. Und in der Anerkennung dieses Anspruchs, in der grundsätzlichen Anerkennung des Anderen als Streitenden besteht die Bedingung des Zustandekommens eines Streits im hier gemeinten Sinne.Z0 Wo die Geltung von Argumenten von vornherein von der hierarchischen Position des Sprechenden determiniert ist, kommt ein Streit nicht zustande. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass der Streit das Medium einer >herrschaftsfreien< Kommunikation par excellence wäre; selbstverständlich spielen Macht- und Herrschaftseffekte der Akteurskonstellationen für die Streitverläufe und -ausgänge eine entscheidende Rolle. Aber ohne die minimale - üblicherweise unausgesprochene - Übereinkunft einer Möglichkeit der Partizipation, ohne dass beide Parteien sich wechselseitig die Berechtigung zur Formulierung einer Position zugestehen, wäre ein Streit keiner, sondern ein bloßes Aufeinandertreffen oder -prallen. Unberührt von der Frage der Anerkennung - die Einlösung dieser Grundanforderung vorausgesetzt - bleibt die konkrete Gestalt der Konstellation. Der Streit kann sich an der graduell abweichenden Meinung ebenso entzünden wie ihm ein tiefgreifender Dissens zugrunde liegen kann; er mag im Konsens enden, im Kompromiss, eine Annäherung der Positionen bringen oder eben im Dissens, in der völligen Unvereinbarkeit der Positionen auslaufen. Nicht zuletzt kann sich im Verlauf eines Streits dieses Verhältnis ändern: man mag von kleinen Provokationen ausgehen, die an einem Detail ansetzen, und erst im Verlauf des Streits feststellen, dass die Positionen unvereinbar sind (oder unvereinbare Standpunkte überhaupt erst entwickeln). Desgleichen kann der Streit antagonistische Positionen in andere transformieren. Der Streit begreift mithin Konstellationen mit antagonistischer Positionierung ebenso ein wie das Verhältnis beispielsweise ein agonales sein kann. Sowohl in der Vielfalt der Konstellationen wie auch in der in ihm angelegten Möglichkeit der Transformation lassen sich Merkmale des Streits sehen; gerade diese Vielfalt bestimmt die Qualität der Offenheit des Streits in entscheidendemMaße mit 20 Mit Mauser (1993: 13) könnte man hier von einer »ethische[n] Fundiemng des Streits« sprechen- Mauser bezieht dies auf das Verständnis von Streit bei Lessing, bei dem die Anerkennung des Anderen in dem »Verzicht aller Beteiligten auf absoluten Wahrheitsanspruch« besteht, wodurch Andersa1i igkeit überhaupt einbezogen werden kann. Wir zielen jedoch keine Streitethik an, sondern benutzen dieses Merkmal als ein deskriptives, das zur Abgrenzung gegenüber anderen Formen der Auseinandersetzung dient.
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Technologisierung des Streits Deutlich wird, denkt man den Streit so wie hier vorgestellt, dass und warum er - bei aller negativen Konnotation - einige Attraktivität als Mittel sozialer Auseinandersetzung besitzt. Seine spezifische Medialität - allgemein: die Absenz von Gewalt; besonders: seine Bindung an Sprache - macht ihn zu einer anzustrebenden Form. So gilt schließlich die Befriedung der Gesellschaft als eine der zentralen Errungenschaften der Verfasstheit moderner Gesellschaften.21 Über diese spezifische Art der Performativität des Streits hinaus speist sich seine Attraktivität auch aus der skizzierten Akteurskonstellation. Die Personalisierung bzw. die Adressierbarkeit der Akteure geht einher mit einer situativen Konkretisierung des Problems. Die Überführung von Konflikten - seien sie beispielsweise struktureller Art wie die Interessenkonflikte zwischen Klassen oder gewaltförmiger Natur- in einen Streit hat mithin eine pazifizierende Wirkung und eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit einer Einigung, mit der sich - im Gegensatz zu anderen Konfliktlösungsvarianten, die z.B. mit Sieg und Niederlage enden- alle Seiten zumindest arrangieren können. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht allzu verwunderlich, dass die heutige Gesellschaft offensichtlich das vergesellschaftende Potential22 des Streits - und dessen Beendigung- entdeckt hat: mehr oder minder professionelle Mediatoren, Moderatoren oder Schlichter bevölkern einen Markt, dessen Angebote versprechen, Probleme im geregelten Streitgespräch zu lösen; Seminare zum Konfliktmanagement und Kommunikationstrainings vermitteln Techniken, die darauf gerichtet sind, Auseinandersetzungen in einen Streit zu überführen und diesen - einvernehmlich oder pragmatisch - zu lösen; Fernsehtalkrunden inszenieren den Streit zu den verschiedensten Themen von Kindsmord und Jugendgewalt bis Rentenerhöhung oder Mehrwertsteuer; runde Tische und andere partizipative Verfahren binden Bürger in mehr oder weniger öffentlich geführte Streitgespräche ein; Expertenkommissionen debattieren Fragen in der Bandbreite von der ökonomischen Entwicklung über die Kulturpolitik bis hin zur Bioethik Gesellschaft, so kann man konstatieren, hat mithin ein reflektiertes Verhältnis zum Streit entwickelt. Dazu gehört auch, dass die unterschiedlichen Möglichkeiten der Streitbeendigung und die dafür notwendigen Bedingungen Teil der Reflexion sind. Bedeutsamer also als die bloße Aufzählung möglicher Streitbeendigungsszenarien ist die Tatsache, dass für das Eintreten der jeweiligen Variante je spezifische Rahmenbedingungen notwendig sind. Streite werden initiiert und nicht selten geradezu in Szene gesetzt, Streitende eingeladen (oder eben nicht) und Bedingungen des Streitens werden oder sind festgelegt. 23 GesellSelbstverständlich mit der Ausnahme staatlicher Gewalt, die, monopolisiert und gehegt, gleichzeitig als die Bedingung der Bef1iedung gilt. 22 Wie auch, unter den Bedingungen einer ubiquitären Semantik des Pluralismus, das legitimatorische. 23 Dies muss nicht explizit geschehen, sondern kann auch die Folge struktureller Bedingungen sein. Der Zugang zu einem Expe1ienstreit ist (mindestens) durch die Anerkennung (von wem und wie hergestellt auch immer) als Experte limitiert; wer sich an einem massenmedial ausgetragenem Streit beteiligen will, bleibt letztlich den Selektionskriterien der Massenmedien unterworfen usw. 21
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schaft stellt - ohne hier zwingend Intention unterstellen zu müssen - bestimmte Settings zur Verfügung, und nicht selten sind (oder zumindest: scheinen) diese Settings gewählt, um je besondere Streitabschlüsse zu erreichen. In diesem Sinne ließe sich von Technologien des Streitens bzw. der Streitführung sprechen. Solche gesellschaftlichen >Inszenierungen< von Streit haben wiederum Effekte, vor allem dann, wenn die Ausrichtung auf eine bestimmte Variante der Beendigung in die Herstellung des Settings eingeführt und die Rahmenbedingungen mithin von der Zielvorstellung bestimmt werden. So hat die Herstellung einer Übereinkunft bzw. eines Konsenses zur Voraussetzung, dass die Positionen nicht unvereinbar sind. Was trivial wirkt, hat auf der Ebene gesellschaftlicher Praktiken erhebliche Folgen: Verfahren beispielsweise, die auf die Herstellung einer möglichst einheitlichen Meinung zielen, müssen antagonistische Positionen möglichst von vornherein vermeiden. Faktisch bedeutet dies nichts anderes als den Ausschluss mindestens einer der (beiden) Positionen?4 Dass dies dann, wenn z.B. der Pluralismus eine >Leitidee< darstellt, als problematisch erscheinen muss, hat zur Folge, dass diese Verfahren auf die Verdeckung dieses Umstands angewiesen sind. Subtilere Varianten können die Formulierung abweichender Positionen zulassen -und invisibilisieren gerade dadurch, wie wenig diese erwünscht sind. 25 Die Voraussetzung, dass antagonistische Positionen zu vermeiden sind, trifft ebenso, um ein weiteres Beispiel einzuführen, auf Verfahren zu, die auf die Herstellung von Kompromissen zielen. Die Bereitschaft zu verhandeln muss vorhanden sein (oder eben, z.B. durch Mediatoren, hergestellt werden). Als eine solche auf Kompromissherstellung ausgerichtete Technologie stellen sich beispielsweise die Tarifverhandlungen dar. Die Verwandlung des Klassenkampfes in einen mit Ruhephasen versehenen, insgesamt aber andauernden, hochgradig institutionalisierten Tarifstreit - nicht zuletzt durch das Konzept der Sozialpartnerschaft, dessen Begrifflichkeil schon anzeigt, dass es sich hier um ein Konzept der Befriedung handelt - lässt sich mithin als eine der sozialtechnologisch bedeutendsten Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts begreifen.Z6 In hohem Maße verrechtlicht - zu denken ist an Tarif24 Am Beispiel partizipativer Verfahren als- im Sinne Foucaults (2004; 2006)Regierungstechnologien hat dies Junge (2008) ausführlich untersucht. 25 So ließe sich der Beitrag von Nico Koppo (in diesem Band) lesen, der am Beispiel der Neuausschreibung der wirtschaftswissenschaftlichen Gemeinschaftsdiagnose zeigt, wie hier ein Setting geschaffen wird, das die legitimatorische Funktion der Existenz abweichender Meinungen darstellt, eigentlich jedoch darauf zielt, möglichst eindeutige Handlungsanweisungen für die Politik zur Verfügung zu stellen. 26 Schon 1932 hatte beispielsweise der Soziologe Theodor Geiger diagnostiziert, die Klassengesellschaft sei nicht mehr »der entscheidende Snukturzug der zeitgenössischen Gesellschaft« (Geiger 1967: 138), da der Klassenkampf durch Tarifverhandlungen institutionalisiert und mithin >>Unter Kontrolle gebracht« (ebd.: 184) worden sei. Dazu gehören ohne Zweifel auch eine Reihe von Sozialstrukturellen Entwicklungen, vor allem wohl eine breite Wohlstandsvermehrung, die sich schließlich in den 1950er Jahren in einer Programmatik des >Wohlstands für alle< (Ludwig Erhard) ausdrückte und in der Diagnose einer >nivellierten Mittelstandsgesellschaft< (Schelsky 1965) ihre Theoretisierung fand. Vgl. dazu auch Gebhard!Heim 2007.
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autonomie, Friedenspflicht, Streikrecht usw.- sowie geradezu ritualisiert zielen die Tarifverhandlungen darauf, unter der Bedingung des - graduellen oder auch schmerzlichen - Zurücksteckens beider Parteien einen Interessensausgleich zwischen streitenden Partnern (!) herzustellen. Gerade die Form des Kompromisses ermöglicht es, das Ende des Streits als Lösung darzustellen, mit der beide Parteien ihr Gesicht wahren bzw. Erfolg postulieren sowie Rationalität und Verantwortung demonstrieren können. Und nicht zuletzt macht der Kompromiss als temporärer Abschluss des Streits (durch die Laufzeit auch noch vertraglich festgelegt) seine Wiederaufnahme möglich. Der Kompromiss - als solcher schon funktional - stellt sicher, dass die gesellschaftlichen Legitimationsfiguren der Teilhabe und der Partnerschaft im immer wieder neu ausgetragenen Tarifstreit immer wieder aufs Neue aktualisiert werden. Notwendig ausgeschlossen aber bleibt der Klassenkampf, der Antagonismus, damit aber auch der über die Teilhabe an der ökonomischen Wohlstandsentwicklung hinausgehende politische Aspekt der - um einen, ob ihres Fehlens wohl zurecht aus der Mode gekommenen Temünus zu benutzen - Arbeiterbewegung. Die hier gewählten Beispiele zielen auf jeweils spezifische Formen der Übereinkunft, und beide sind- im Fall der partizipativen Verfahren direkt, im Fall des Tarifstreits, da man von einer Technologie der Entpolitisierung durch Verlagerung in das Gebiet der Ökonomie sprechen kann- als Mechanismen der Bearbeitung politischer Problemlagen konzipiert. Exemplarische Ausführungen rechtfertigen noch keine Ableitung einer Systematik. Und doch lässt sich die These vertreten, dass Gesellschaft nicht nur bestimmte Technologien des Streitaustrags zur Verfügung stellt, sondern dass in bestimmten gesellschaftlichen Gebieten - um nicht auf ein spezielles Theorieangebot rekurrieren zu müssen: Felder, Systeme, Sphären etc. - bestimmte Muster der Organisation des Streits dominieren, diese mithin je nach Feld/ System/Sphäre differenziert sind. 27 So lautete zu Beginn der 1990er Jahre mit Blick auf die politische Praxis der Befund des Politikwissenschaftlers Ulrich Sarcinelli, dass »Prozesse des Aushandeins und der Konsenstindung zunehmende Bedeutung [erhalten]« (Sarcinelli 1990: 44). Deren Ambivalenz wiederum drückt sich in der Synonymität von »Streitkanalisierungs-« und »Konsensbeschaffungsmechanismen« (ebd.) aus. Politischer und öffentlicher Streit würde - zumal in Deutschland- als »eine Art Unglücksfall oder als politische Führungsschwäche begriffen« (ebd.: 49). Ähnliche Einschätzungen stellt auch die politische Theorie bereit: Chantal Mouffe (2007) konstatiert, dass die gegenwärtige Vorstellung von Politik in hohem Maße von der Idee geprägt sei, dass »Konsens durch Dialog« (ebd.: 7) herzustellen wäre. Das deliberative Modell- als Oberbegriff für unterschiedliche theoretischen Fassungen: Habermas, Beck, Giddens -, das sich in zunehmendem Maße als Leitmodell gegenwärtiger Politik verstehen lässt, unterstelle den rationalen Konsens geradezu als Grundlage demokratischer Politik. Nicht zu übersehen ist auch anhand dieser exemplarischen Ausführungen, dass solche Technologisierungen des Streits Effekte haben. Sarcinelli verweist darauf, dass die Vermeidung des öffentlichen Streits durch Konsensoder Kompromisstindung im Vorfeld zwar die »politischen Reibungsverluste« (Sarcinelli 1990: 44) reduziere, andererseits jedoch die Kontrolle durch 27 Siehe dazu auch den Beitrag von Dennaoui/Witte in diesem Band.
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das Parlament und eine kritische Öffentlichkeit erschwere. Ebenso lässt sich konstatieren, dass der Hang zur Streitvermeidung unter dem Blick der Öffentlichkeit den Streit dort, wo er dann doch öffentlich ausgetragen wird, zunehmend den Charakter der Inszenierung annehmen lässt (vgl. ebd.: 48). 28 Schärfer fällt die Kritik bei Chantal Mouffe aus. Im Kontrast zu ihrem eigenen Ansatz einer politischen Theorie - mit dem sie, an Carl Schmitts FreundFeind-Antagonismus anschließend, diesen jedoch in das auf der Gegnerschaft beruhende Prinzip des »Agonismus« (Mouffe 2007: 29) transformierenderscheinen die deliberativen Theorieansätze als >postpolitische Visionen< (vgl. ebd.: 48ff.), die die Politik ihres politischen Charakters entkleiden. Dabei sind sie gleichzeitig in der Paradoxie gefangen, dass »jeder Konsens auf Akten der Ausschließung beruht« (ebd.: 19), und kommen mithin dem Freund-Feind-Schema Schmitts nahe, was sich als, gewissermaßen zu invisibilisierender, blinder Fleck liberalen Denkens darstellt. Das Fehlen einer wirklichen politischen Gegnerschaft im Feld der etablierten politischen Kräfte habe zu einem »Legitimationsverlust der demokratischen Institutionen« (ebd.: 85) geführt und dadurch, insofern rechte Parteien »immer dann Zulauf [hatten], wenn zwischen den traditionellen demokratischen Parteien keine deutlichen Unterschiede mehr erkennbar waren« (ebd.: 87), das Aufkommen und den Erfolg populistischer Kräfte bzw. Parteien begünstigt, wenn nicht gar zu verantworten. In diesem Sinne ließe sich von der Etablierung feld-, sphären- oder systemspezifischer Streitkulturen sprechen 29 - ohne damit behaupten zu müssen, dass es sich in einem strikten Sinne um Monokulturen handelt. 30 Was hier 28 Für Sarcinelli verdienen diese »medialen Darstellungen[ ... ], die Kriterien politischer Inszenierung und symbolischer Politik vermehrt Beachtung« (Sarcinelli 1990: 48). Dass möglicherweise das Durchschauen des Inszenierungscharakters selbst - ohne dass man dessen Mechanismen entschlüsseln können muss - einen nicht unerheblichen delegitimierenden Effekt haben mag, wird hier nicht verhandelt. 29 Während sich die mit der Begrifflichkeil der Systeme, Felder oder Sphären verbundenen Theorieentwürfe auf moderne Gesellschaften beziehen und die Herausbildung solcher spezifischen Streitkulturen entsprechend an die Sozialstmktur moderner Gesellschaften gebunden wäre, zeigt eine Verändemng des Gegenstandsbezugs andere Differenziemngsphänomene. Die literaturwissenschaftlieh-linguistische Bearbeitung von Streitphänomenen beispielsweise hat die sphärenbedingten Techniken im Sinne einer Poetik des Streits erarbeitet: »So können Gattungszwänge die Art bestimmen, wie in der Literatur gestritten wird. In der bis ins 18. Jahrhundert hinein normativ geprägten Tragödie wird in der hohen Stillage des Genus sublime gestritten, in der Komödie hingegen in dem der Alltagssprache augenährten Genus humile.« Auch eine diachrone Perspektive zeigt stilistische und gattungstypische Differenziemngen. Man streitet im Barock »im Alexandriner mit seiner um die Mittelzäsur gmppie1ten Ordnung, während der Aufklämng und Klassik im Blankvers, der den Kontrahenten Anzahl und Folge der Hebungen und Senkungen ihrer Rede vorschreibt« (Saße 2007: 6f.). Vgl. zu einer Poetik des Streitens, abgeleitet aus Alltagsbeobachtungen, auch Nothdurft 1993. 30 So ließen sich in Bereichen der Politik, die nicht direkt auf Regierungshandeln ausgerichtet sind - zu denken wäre an nicht-parlamentarische oder auch nicht in Parteien institutionalisierte politische >BewegungenLösung< zugesteuert werden müsste. Auch in diesen Feldern finden sich Technologisierungen oder Inszenierungen von Streit. Problematisch jedoch - zumindest im hier vorgestellten Verständnis von Streit- werden diese Technologien, wenn sie den Streit von Anbeginn an auf ein bestimmtes Ende hin zulaufen lassen.
Streitkulturen Diese vorangehend beschriebenen Mechanismen und Technologien, mit denen Streit als nicht-gewaltförmige31 und sprachfixierte Form der Auseinandersetzung geführt wurde und wird, sollen im Folgenden- das meint, in den Beiträgen des vorliegenden Bandes - mit dem Terminus Streitkulturen gefasst werden. Der Fokus liegt mithin auf den jeweils historisch und sozial variablen Erscheinungsweisen wie auch der je spezifischen Regelhaftigkeit von Streit. Trotz der konstatierten Offenheit und Variabilität von Auseinandersetzungen, die als Streit begriffen werden können, lassen sich bei einem gerraueren Blick bestimmte Muster des Streitverlaufs, explizite oder implizite Regeln beobachten, von denen sich die Streitenden bewusst oder unbewusst leiten lassen. Und eben für solche Reglementierungen soll das StreitkulturKonzept sensibel machen. Kultur soll dabei auf einer recht allgemeinen Ebene verstanden werden als die Art und Weise, wie Gesellschaft den Umgang mit Kontingenz regelt, also (immer in actu) festlegt, was möglich ist und was nicht möglich ist. 32 Das heißt nicht, dass Streitverläufe fixiert sind und die Streitenden in ein Korsett von Regeln gezwungen werden, das ihnen vorgibt, wie sie sich zu verhalten hätten - auch wenn es, wie weiter oben angesprochen, spezifische Mechanismen gibt, die einen bestimmten Verlauf zumindest nahezulegen scheinen. Vielmehr geht es im Sinne Goffmans (1977) um eine Rahmung der jeweiligen Streitkonstellationen, die Möglichkeiten eröffnet zu handeln, unter die Jugendorganisationen mancher Parteien -, sicherlich hirneichend Beispiele fur das Vorhandensein von >Gegnerschaft< finden. 31 Eben in diesem Aspekt der Absenz von Gewalt setzt sich dann auch der vorliegende Band von dem Streitkultur-Konzept ab, das Eriksson und Krug-Richter (2003) vorlegen. Ausgehend von der begrifflichen Fassung von Streitkulturen als >KonfliktaustragungspraktikenAggressionenAkteure< bezogen werden: so lässt sich der Streit der Avantgarden mit der >Gesellschaft< unterscheiden von dem zwischen Avantgardegruppen- zum einen in der Generationenfolge, zum anderen innerhalb einer Generation - , der wiederum andersgeartete Effekte zeitigt als der Streit innerhalb einer Avantgardegruppierung. Am Beispiel von Avantgarden wie den Dadaisten, den Surrealisten oder den Situationisten werden dann Streitfälle auf ihre sozialen Konsequenzen und Funktionalitäten befragt. Dabei fällt auf, dass gerade die Avantgarden ei-
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ne reflektierte Position zum Streit einnehmen, diesen mitunter gar als strategisches Mittel einsetzen, um ihre Interessen zu verfolgen. Sowohl zur Stärkung von Gruppen als auch zur Marginalisierung oder gar zum Ausschluss von Fraktionen wird der Mechanismus der bewusst gesuchten Auseinandersetzung angewandt. In den exemplarischen Ausführungen von Max Orlich wird auf diese Weise das produktive, aber immer auch das destruktive Potential erkennbar, das der Streit für künstlerische Avantgarden, flir deren Kunstund Selbstverständnis bietet. So gesehen kann dann der Streit als Dynamisierungsmechanismus für die Entwicklung der jeweiligen Gruppierung ausgemacht werden - sei es, dass er dafür sorgt, dass die Gruppierung weiter mach vorne eiltGuck Dich doch mal an< identifiziert er als integralen Bestandteil postmoderner Talkshows und nimmt dies zum Anlass, deren Streitkultur zu untersuchen. Die argumentative Widerspiegelung von Gesagtem, die der titelgebende Term bezeichnet, prägt aber auch die narrative Struktur des mittelalterlichen Märes Der Gürtel, die Silvan Wagner mit der Talkshow in Beziehung setzt. Aus dem Vergleich wird einerseits die Beständigkeit des Streitarguments sichtbar, andererseits treten die Differenzen zwischen mittelalterlichem Weltbild und postmodernem Sendefonnat- mithin der Wandel von Streitkulturen durch deren veränderte soziale und mediale Bedingungen- deutlich zutage: Wo die mittelalterliche Verserzählung versöhnlich und damit geradezu harmonisch ausgehen kann, indem die Entscheidung über den Ausgang des Streits auf einen spezifischen Dritten - Gott - ausgelagert und damit in die unabsehbare Zukunft des Jüngsten Gerichts verlagert wird, hat das Fehlen einer solchen Funktionsstelle in der Realität der Talkshow die beinahe endlose, weil nur durch die Sendezeit begrenzte, Perpetuierung der wechselseitigen Vorhaltung zur Folge. Die (bundes-)deutsche und europäische Migrationsgeschichte kann, so der Vorschlag von ALEXANDRA LUDEWTG, als eine verhinderte Streitgeschichte begriffen werden. Migranten waren und werden - aus historisch vielfältigen Gründen - oft nicht als der Gesellschaft zugehörig angesehen. Die Effekte dieser fehlenden Anerkennung lassen sich vermehrt in emotionalen Eskalationen der Auseinandersetzung beobachten: Die nicht mit einer Stimme ausgestatteten Mitglieder einer Gesellschaft melden ihre Ansprüche
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aufandere Weise, durch Wut, Zorn oder Zerstörung an. Vor dem Hintergrund einer solchen >Realgeschichte< der Migration nimmt der Beitrag filmische Inszenierungen des Ausbruchs der Wut in den Blick. Alexandra Ludewig diskutiert Möglichkeiten und Notwendigkeiten, den Streit zu initiieren. So erscheinen die Filme selbst als Einsätze in einer gesellschaftlichen Debatte und als Möglichkeit einer künstlerischen Sublimierung einer explosiven Stimmungslage. So kann gefragt werden, wie Bindungskräfte des Streits für gesellschaftliche Entwürfe nutzbar zu machen wären, die der Wirklichkeit der kulturellen Pluralität Rechnung tragen. Die 2007 vollzogene Reform der sogenannten >Gemeinschaftsdiagnose< untersucht NTCO KOPPO. Die Erstellung dieses halbjährlich durch die Bundesregierung in Auftrag gegebenen wirtschaftswissenschaftlichen Gutachtens, das von erheblicher politischer Relevanz ist und ebenso in der Öffentlichkeit hohe Aufmerksamkeitswerte erzielt, lässt sich, insofern verschiedene wirtschaftswissenschaftliche Institute mit differierenden ökonomietheoretischen Hintergründen daran beteiligt sind, als Verfahren eines regulierten Streits begreifen. Nico Koppo beobachtet die Reform, die in erster Linie in einer Neuausschreibung, also in einer Veränderung der Rahmenbedingungen besteht, daraufhin, wie durch sie die ambivalenten Ziele einer Legitimation durch Pluralismus einerseits und gewünschter Eindeutigkeit andererseits neu gewichtet werden. Aus dem Bedürfnis der Politik nach Vereindeutigung der Beratungsergebnisse heraus lassen sich Strategien ausmachen, durch Reglementierung des Zugangs Strittiges und Widersprüchliches als (notwendige) Elemente von wirtschaftswissenschaftlichen Diagnosen, zumal wenn sie von verschiedenen institutionellen Perspektiven aus erstellt werden, auszublenden und somit Ambivalenz und Dissens aus dem Gutachten weitgehend zu verbannen. Der Streit ist in diesem aktuellen Fallbeispiel ein Politikum, dessen grundsätzliche Ergebnisoffenheit bzw. Meinungspluralität überraschenderweise gerade in einer pluralistischen Sphäre - der demokratischen Politik unerwünscht zu sein scheint. Den Abschluss des Bandes bilden die (Vor-)Überlegungen von DANIEL WTTTE und YOUSSEF DENNAOUT zu einer >Soziologie des StreitsRealität< der Klassengesellschaft. Eine Einleitung«. In: dies./Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), »Realität« der Klassengesellschaft- »Klassengesellschaft« als Realität? Münster: MV, S. 7-26. Geiger, Theodor (1967): Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage [ 1932], Stuttgart: Enke. Goffman, Erving (1977): Rahmenanalyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Hesiod (1990): Theogonie, hg., übersetzt u. erläutert von Kar! Albert, Sankt Augustin: Academia Verlag Richarz. Hessler, Christiaue J. (2002): »Maler und Bildhauer im sophistischen Tauziehen. Der Paragone in der italienischen Kunstliteratur des 16. Jahrhunderts«. In: Ekkehard Mai/Kurt Wettengl (Hg.), Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier, Wolfratshausen: Edition Minerva, S. 82-97. Junge, Torsten (2008): Gouvernementalität der Wissensgesellschaft. Politik und Subjektivität unter dem Regime des Wissens, Bielefeld: transcript. Krünitz, Johann Georg (1840): Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft: in alphabetischer Ordnung [1773-1858], Bd. 175, Berlin: Pauli. Krysmanski, Hans Jürgen (1971): Soziologie des Konflikts. Materialien und Modelle, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Luhmann, Niklas (2001): Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt/M.: Suhrkamp.
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Maier-Schaeffer, Francirre (2008): »Unmögliches Streiten. Marius von Mayenburgs Parasiten und Michis Blut von Franz Xaver Kroetz«. In: Sprache und Literatur 101, l. Hj., S. 25-45. Mauser, Wolfram (1993): »Streit und Freiheitsfähigkeit Lessings Beitrag zur Kultur des produktiven Konflikts«. In: ders./Günther Saße (Hg.), Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings, Tübingen: Niemeyer, S. 3-14. Meyer (1885-1892): Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Leipzig/Wien: Verlag des Bibliographischen Instituts. Mouffe, Chantal (2007): Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Nothdurft, Werner (1993): »Gezenk und Gezeter. Über das verbissene Streiten von Nachbarn«. In: Johannes Janota (Hg.), Kultureller Wandel und die Getmanistik in der Bundesrepublik, Bd. 1: Vielfalt der kulturellen Systeme und Stile, Tübingen: Niemeyer, S. 67-80. Popitz, Heinrich (1986): Phänomene der Macht. Autorität, Herrschaft, Gewalt, Technik, Tübingen: Mohr. QRT (2006): »Moleküle einer Theorie der Gewalt«. In: ders., Zombologie. Teqste, Berlin: Merve, S. 29-74. Sarcinelli, Ulrich (1990): »Auf dem Weg in eine kommunikative Demokratie? Demokratische Streitkultur als Element politischer Kulturlnvestiturstreit< versehen wurde (vgl. W. Hartmann 1993: 5; allg. dazu R. Schieffer 1981; Laudage 1984; Beulertz 1991 ), und ein damit einhergehender signifikanter Anstieg schriftlicher Produktivität haben damals weite Teile der Bevölkerung unmittelbar berührt. Ausdruck dieser von heftigen verbalen, aber auch militärischen Auseinandersetzungen geprägten Periode war eine beispiellose Zunahme von Schriftlichkeit im Allgemeinen (vgl. Suchan 1997: 192), von ganz spezifisch auf den Streitgegenstand ausgerichteten Streitschriften im Besonderen, von brieflicher Kommunikation und mündlicher Agitation, die nach Meinung einiger Historiker gar erstmals zu einer »Mobilisierung der städtischen Massen« (Leyser 1993: 2) und zur »Erfindung des öffentlichen Raumes« (Melve 2007) geführt habe (vgl. Mirbt 1894; Münsch 2006). Diese Breitenwirkung und die Massenmobilisation sind Teil eines Phänomens, das die gesamte Epoche als eine ihrem Wesen nach >revolutionäre< (Moore 2001: 21) erscheinen lassen kann. In dieser Totalität wird der Streit im Folgenden auch in einem sehr weiten Sinn verstanden, nämlich als ein Konflikt, der sich nicht in bestimmten, abgeschlossenen Sphären ereignete, sondern der sich auch unterhalb der politischen Elite lokal vor Ort bemerkbar machte und der nahezu die gesamte Gesellschaft im alltäglichen Leben undauch jenseits militärischer Bedrohung - in der Sorge um ihr Seelenheil zutiefst erfasste. Die Totalität dieses Streits zeigt sich auch daran, dass Zeitgenossen beispielsweise von der Schwierigkeit berichten, sich einer eindeutigen Parteinahme zu entziehen (vgl. Vita Benn.: 23f.). Diese alle Stände erfassende Tragweite des Konflikts nötigte entsprechend eine große Zahl Betroffener,
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in dem Streit aktiv Stellung zu beziehen, sich, wo Möglichkeit und Fähigkeit bestanden, schriftlich zu äußern und ihre Meinung auch zu verbreiten. Inwiefern dieses Phänomen mit den Begriffen >Publizistik< und >Öffentlichkeit< etikettiert werden kann (bejahend Mirbt 1894; jüngst ebenso Melve 2007; ablehnend Suchan I 997: 253f.), kann hier nicht entschieden werden; jedenfalls schulte sich im 11. Jahrhundert gewissermaßen erstmals auf breiter Basis eine Gesellschaft im Streiten mit der Konsequenz, dass sich Streitmodalitäten und -Strategien zu ändern begannen. Streiten gewann Methode, und die Streitenden schufen sich neue Regeln. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie die epochale Auseinandersetzung im ausgehenden II . Jahrhundert, die von vielen Zeitgenossen als besonders leidvoll und drückend empfunden worden war, auch das Bewusstsein für die Bedeutung sch1iftlicher Kommunikation und Einflussnahme geschärft und damit zur Differenzierung einer Streitkultur im Sinne kunstvollen argumentativen Streitens beigetragen hat. Im Blickfeld der Untersuchung steht allein die intellektuelle Form des Streitens jenseits der kriegerischen Auseinandersetzung. Dazu wird - nach einem kurzen Galopp durch die Ereignisgeschichte und den Streitverlauf im ausgehenden 11. Jahrhundert (II.)- zunächst die signifikant zunehmende Produktion von Texten beschrieben, die als Reaktion der Zeitgenossen auf die heftigen Auseinandersetzungen der Epoche gedeutet werden kann (111.). Anschließend wird der Blick auf die damit einhergehende verstärkte Bedeutung gelenkt, die die Zeitgenossen damals der Kunst des Schreibens und der gewandten Rhetorik entgegen gebracht haben (IV.). In einer Synthese der vorangehenden Kapitel werden abschließend die Auswirkungen des Investiturstreits auf die Kunst des Streitens am Beispiel der Briefrhetorik und des kunstgerechten Abfassens von Briefen herausgearbeitet (V.). Die Fokussierung auf das Briefgenre ergibt sich dabei aus dem eindeutigen Befund, dass der überwiegende Teil der Diskussion im Investiturstreit in Briefform erfolgte und dass auch die längsten Traktate formal in das Gewand eines Briefes gekleidet wurden. Das Fazit soll dann - auch über die spezifischen Erscheinungen des Investiturstreits hinaus - zeigen, wie im Streit die Methoden des Streits, die Argumentationsstrategien und die Streitrhetorik den gegebenen Bedürfnissen angepasst werden können, wie sich mithin >Streitkultur< im Streitvollzug wandelt.
II. Streitverlauf Der so genannte Investiturstreit hatte sich zwar auch an der Frage entzündet, inwieweit Laien, also Menschen nicht-geistlichen Standes, Bischöfe und andere geistliche Würdenträger in ihr Amt einsetzen, >investierenReformpapsttum< initiieren können. Damit begann eine Zeit der produktiven Kooperation von Kaiser und Papst auf dem Felde der Kirchenref01m (vgl. Goez 2000: 92ff.). Die Reinheit der Kirche sollte wiederhergestellt, das Ärgernis der Simonie, des Kaufens
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von geistlichen Ämtern, unterbunden und die Ehe von Priestern endgültig verboten werden. Zusammen gingen Kaiser und Papst ans Werk. Entgegen ersten Erwartungen wich diese Kooperation allerdings schnell der unerbittlichen Auseinandersetzung. Zum grundsätzlichen Streit über das Verhältnis zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt wurde der Konflikt zwischen dem gleichnamigen Sohn Heinrichs III. und Gregor VII. dann anlässlich der Besetzung von Bischofsstühlen. Weil Bischöfe damals über erhebliche weltliche Macht verfügten, wollte der König nicht auf seinen gewohnheitsmäßigen Einfluss bei der Besetzung von Bischofsstühlen verzichten (vgl. R. Schieffer 1989). Zudem war er nach seinem Selbstverständnis kein einfacher Laie, sondern der Gesalbte des Herrn, der durch »das Christusvikariat legitimiert und befähigt« war, »sich in einem Ritus der Christusnachfolge [ ... ] an Gott selbst zu wenden und sich dessen Hilfe und Gnade zu versichern« (Körntgen 2001: 159, 447f.). Wie selbstverständlich hatten die Könige darum auch Bischöfe eingesetzt, ohne ihr Handeln selbst damit im Widerspruch zu den Anliegen der Kirchenreform zu sehen. Zur Eskalation kam es schließlich aus Anlass der Bistumsbesetzung in Mailand (vgl. Keller 1973; Zey 2006; Laudage 2006: 145f.). Als Heinrich IV. im Herbst 1075 erneut in den Mailänder Bischofsstreit eingriff, mit Tedald ein Mitglied seiner Hotkapelle zum Erzbischof ernannte und zudem noch für Fermo und Spoleto zwei Bischöfe bestimmte, ohne sich mit dem Papst abzustimmen, setzte eine Entwicklung ein, deren Konsequenzen wohl niemand geahnt hatte (vgl. Th. Schieffer 1973: 47; R. Schieffer 1981: 206). Papst Gregor VII. forderte den König brieflich, aber nun drohend zum Gehorsam auf und ermahnte ihn zur Korrektur seines Verhaltens, insbesondere in Mailand (vgl. Reg. Greg.: 263-267). Heinrich erreichte dieser Brief nach seinem Sieg über die aufständischen Sachsen im Hochgefühl militärischer Unbesiegbarkeit (vgl. Becher 2006), »als ihm im ganzen Reich Gehorsam erwiesen wurde! Als die Großen soeben zu Weihnachten 1075 in Goslar seinen zweijährigen Sohn Konrad als Nachfolger im Königtum anerkannt hatten! Als er sich erstmals in seiner Regierung uneingeschränkt und unangefochten als Stellvertreter des himmlischen Königs auf Erden sehen durfte!« (Weinfurter 2006: 118) Der König reagierte, berief den deutschen Episkopat nach Worms, wo tatsächlich fast alle Bischöfe des Reiches erschienen. Im Bündnis mit dem Reichsepiskopat, der dem Papst ebenfalls wegen dessen unnachgiebigem Primatsanspruch zürnte, sollte das weitere Vorgehen besprochen werden. Auf der Reichsversammlung in Worms sprachen die Bischöfe im Januar 1076 Gregor, »dem falschen Mönch«, die Rechtmäßigkeit seines Amtes ab (Bell. Sax.: 59f.). Heinrich schloss sich- in ebenso demonstrativer wie falscher Selbstlosigkeit - deren Urteil an, inszenierte sich so als vermeintlich altruistischer Beschützer seiner Bischöfe. In bemerkenswerter Einmütigkeit standen König und deutscher Episkopat zusammen (vgl. Weinfurter 2006: 123). Gregor seinerseits reagierte auf das Wormser Schreiben im Februar desselben Jahres auf der Fastensynode in Rom mit der Exkommunikation und Absetzung des Königs (vgl. Reg. Greg.: 270f.). Nun auch innerhalb des deutschen Reiches unter Druck geraten, sah sich Heinrich IV. im Winter 1076/ I 077 genötigt, über die verschneiten Alpen zu ziehen und demütig den Papst um Vergebung zu bitten. Nach drei Tagen im Schnee vor der Burg von Canossa, in der sich der Papst verschanzt hatte, wurde Heinrich wieder in die Gemeinschaft der Kirche aufgenommen. Dieser >Gang nach Canossa< sollte
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in die Geschichte eingehen und 800 Jahre später noch dem Reichskanzler Otto von Bismarck als abschreckendes Beispiel überzogener Machtansprüche des Papsttums gelten. Die in Canossa I 077 vordergründig geschaffene Versöhnung zwischen Heinrich IV. und Gregor VII. war aber allenfalls ein fauler Friede; das Verhältnis zwischen Papst und König blieb höchst gespannt (vgl. Goez 2000: 137). 1080 schließlich wandte sich der Papst nach langem Zögern endgültig von Heinrich IV. ab und unterstützte in Deutschland den Gegenkönig Rudolf von Rheinfelden. Die Gegner reagierten aufihre Weise: Noch im selben Jahr wurde auch ein Gegenpapst gegen Gregor VII. nominiert. Ein Augsburger Annalist kommentierte diese >Doppelspitzen< lakonisch: »Wir alle sind verdoppelt, Päpste verdoppelt, Bischöfe verdoppelt, Könige verdoppelt, Herzöge sind verdoppelt« (Ann. Aug.: 130). Mit der Etablierung von Gegenpapst und Gegenkönig war eine neue Eskalationsstufe erreicht (vgl. F. Hartmann 2008: 199-204). Weder Gregor VII. noch Heinrich IV. konnten >ihre< Kandidaten nunmehr ohne Gesichtsverlust fallen lassen. Entsprechend konnte der Streit aus der Perspektive des Papstes nun allein mit dem Ende Heinrichs IV. abgeschlossen werden. Verhandlungsbemühungen und Kompromissbereitschaft wurden dabei schon theoretisch durch die Absicht ersetzt, den Gegner zu vernichten ( vgl. Blumenthai 2001: 191; R. Schieffer 1981: 177; Vogel1983: 189-197). Kaum zufällig setzte mit dieser Eskalation gerade in den 1080er Jahren, als Gegenkönig und Gegenpapst etabliert wurden, eine regelrechte »Publizistik« auf beiden Seiten ein (vgl. Mirbt 1894; Münsch 2006: 157; Melve 2007: 79, 84). War diese Auseinandersetzung zwischen Papst und Kaiser ohnehin schon heftig, so wurde die Unruhe und Verwirrung im II. Jahrhundert noch zusätzlich durch den Umstand verstärkt, dass damals zahlreiche weitere Konflikte ausgetragen wurden, die zunächst mit dem Investiturstreit in keinem genuinen Zusammenhang standen (vgl. Robinson 1999): Der alte traditionelle Adel widersetzte sich der aufkommenden Ministerialität, einem Stand herrschaftlich abhängiger und rechtlich unselbständiger Dienstleute des Königs, der althergebrachte Rechte des Adels zu übernehmen begann (vgl. Bosl 1950/51; Weinfurter 1991: 115ff.; Zotz 1991: 4). Parallel dazu sahen der Adel und der Klerus mit Argwohn ein aufsteigendes städtisches Bürgertum, das sich aus den Fesseln bischöflicher oder adliger Hegemonie befreit hatte (vgl. Schwineköper 1977; Jamut 1998; Dilcher 2006). Insbesondere unter Heinrich IV. mehrte sich zudem im Adel die Kritik an einer vermeintlich autoritären Königspolitik, die dessen Teilhabe an der Reichspolitik beschränkt und das Ende der konsensualen Herrschaft von König, Adel und Episkopat eingeleitet habe (vgl. Althoff 2007: 44; Schlick 2001: 16, 29; Weinfurter 1991: 123f.). Und nicht zuletzt weitete sich in den 1070er Jahren der Konflikt zwischen Heinrich IV. und den Sachsen zu einem regelrechten Krieg aus, der am Ende der Herrschaft seines Sohnes zur faktischen Ausschaltung des Königtums in Sachsen führen sollte (vgl. Fenske 1977; Giese 1979; Leyser 1984; Becher 2006). Die vielfaltigen Überschneidungen und wechselseitigen Beeinflussungen der Konfliktfelder lassen sich im Einzelnen kaum nachzeichnen. Doch alle diese Auseinandersetzungen zeigen, wie unzureichend und einschränkend die Bezeichnung >investiturstreitAchtung vor dem Feinde! < pflegt da auszubleiben, wo die Feindschaft sich über früheren Zusammengehörigkeilen erhoben hat.Ausgangspunkt< der folgenden Auseinandersetzung werden sollte. Es bedurfte im Investiturstreitangesichts dieser jähen Verwerfungen einiger Zeit und vor allem grundsätzlich neuer Formen des Streitens, um nach Jahren der Eskalation den Weg zu seiner Beilegung zu ebnen. Die mit der verbitterten, Stände übergreifenden Auseinandersetzung einhergehende allgemeine Beunruhigung tritt in den zeitgenössischen Quellen deutlich hervor unter Hinweis auf die »übelsten Streiterein zwischen Papst und König, zwischen Bischöfen und Herzögen, zwischen Klerikern und Laien. Göttliches Recht und gottloses Unrecht, alles wird vermischt und durcheinander geworfen« (Ann. Aug.: 130). Nicht wenige Bistümer hatten gleich zwei Bischöfe, oder aber einen, der als exkommuniziert galt. Daraus folgte eine große Verunsicherung der christlichen Gemeinde, die über die Gültigkeit
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der durch einen gebannten Geistlichen gespendeten Sakramente im Ungewissen blieb. Die in den Texten erkennbare Verwirrung über die Zeitumstände entsprang neben dem grundsätzlichen Dilemma eines gerade zusammenfallenden Weltbildes auch der Sorge um das eigene Seelenheil. Der widergöttliche Charakter, der in der Zwietracht zwischen den beiden Häuptern der Christenheit lag, spiegelte sich nicht nur nach Auffassung des Augsburger Annalisten in den Strafen der Natur just am Beginn des Investiturstreits wider (vgl. Ann. Aug.: 129): Blitzeinschläge, Unwetter und Hungersnöte wurden als Zeichen Gottes gewertet und trugen nicht wenig zu weiterer Verunsichenmg bei. Die Spaltung zwischen König und Papst, die in solchen Naturkatastrophen von Gott bestraft zu werden schien, wurde von der höchsten politischen Ebene aufnahezu alle Bereiche des alltäglichen Lebens ausgeweitet, überall im Reich beklagten Zeitzeugen »Kriege und Aufstände, Brände in Kirchen und Klöstern, sodass Bischof gegen Bischof kämpft, Klerus gegen Klerus, Volk gegen Volk, ja sogar der Sohn gegen den Vater, der Vater gegen den Sohn und der Bruder gegen seinen Bruder« (Lib. de un.: 193). Wie weit reichend die verschiedenen Verwerfungen dieser Epoche gewesen sind, belegt neben der unübersehbaren Schärfe und Parteilichkeit der Schriften, die in der Form bis dato unüblich gewesen war, auch der Umfang des literarischen Schaffens. Die Gefahrdung oder gar Zerstörung des traditionellen Geschichtsbildes veranlasste die Menschen zu einer erstaunlichen literarischen Produktivität. Und noch aus den Quellen des 12. Jahrhunderts wird ersichtlich, »wie tief der Streit die Zeitgenossen noch nach mehr als zwei Generationen bewegt hat, daß man ihn als entscheidenden historischen Einschnitt empfunden hat« (Goetz 1999: 249). So nimmt es kaum wunder, dass die zeitgenössische Literatur nach Deutungsmustern suchte, um Ordnung in die akute Verwirrung zu bringen und eine Stellungnahme zugunsten einer der beiden Parteien zu ermöglichen. Bezeugt wird dieses Bedürfnis durch zahlreiche Streitschriften, die erstmals in der europäischen Geschichte Phänomene wie >Öffentlichkeit< und >Publizistik< erkennen lassen (vgl. Melve 2007). Carl Mirbt, der sich als erster Wissenschaftler Ende des 19. Jahrhunderts systematisch mit diesen Texten befasste, zählte allein für die Zeit von 1050 bis 1112 115 Traktate von 65 Autoren, deren Zahl durch spätere Funde noch erweitert werden konnte (vgl. Mirbt 1894: 86; W. Hartmann 2007: 77; Melve 2007: 22-29). Bot das römische Recht den Kaisertreuen die Handhabe, jeden Treuebruch gegen Heinrich IV. als Majestätsverbrechen zu definieren und der Todesstrafe für würdig zu erklären, so suchten die Verteidiger Gregors VII. vor allem in der Geschichte Belege für die Rechtmäßigkeit der Absetzung eines Königs oder Kaisers durch den Papst oder durch die Fürsten (vgl. Goetz 1999: 311-335; Ziese 1972). Denn die als geheiligt verstandene Geschichte galt »als absolute und damit dauernd geltende Norm« (Schmale 1985: 61). Deshalb kam ihr in Zweifelsfallen zur rechtlichen Beurteilung Beweiskraft zu (vgl. Beulertz 1994: 8f.). Fand man die Belege nicht, schrieb oder deutete man die Geschichte kurzerhand um (vgl. Goetz 1999: 313). Die Bibel, Kirchenväter, das römische oder das Kirchenrecht sowie die Reichs- und Kirchengeschichte insgesamt dienten als Steinbrüche für Präzedenzfalle (vgl. Hackelsperger 1934; Struve 1992; Goetz 1987; ders. 1999). Diese Methode, die im Kern daraus bestand, aus der Geschichte oder aus dem Bestand alter anerkannter Autoritäten solche Belegstellen zusammenzu-
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tragen, die ein bestimmtes Vorgehen als völlig traditionell, gewohnheitsmäßig und damit legitim oder - auf der anderen Seite - als neuartig und damit als Unrecht markierten, entsprach ganz und gar der tradierten frühmittelalterlichen Praxis (vgl. Schmale 1985: 61). Beide Verfahren hatten allerdings ihre Mängel; denn sowohl die Geschichte als auch das Kirchenrecht waren in sich nicht kohärent und schlüssig. Beide Parteien fanden zur selben Streitfrage Belegstellen und Präzedenzfälle, die ihren eigenen Standpunkt stärkten. Ein Gelehrter aus Trier wusste von diesem Problem im argumentativen Streit mit den Gegnern ein Lied zu singen: »Wenn ich vernünftige Belege fordere, versprechen sie [die Gegner jenes Verfassers; F.H.], mir vernünftige Belege zu liefern; frage ich nach Autoritäten, um zurückzuweisen, was offensichtlich der wahren Lehre widerspricht, sagen sie zu, mir mit Autoritäten zu kommen« (Wenr.: 287). Auf jeden Beleg fand die Gegenseite einen entsprechenden Gegenbeweis aus der Feder einer anerkannten Autorität. In ihrer Widersprüchlichkeit verloren die althergebrachten Autoritäten im Rechtsdenken der Zeit an Beweiskraft; und dieses Dilemma war den Streitenden bewusst. Aus dieser Einsicht und in dem geistigen Klima regte die Notwendigkeit, immer neue Argumente im Interesse der eigenen Sache aus der Tradition zu schöpfen, nicht nur zur verstärkten Lektüre der alten Texte, sondern auch zu einem kritischen Umgang mit selbigen an. Die genannten Beispiele verdeutlichen, dass die mit dem Investiturstreit verbundenen Faktoren Ausgangspunkt eines Perspektivenwechsels nicht nur in Bezug auf die Geschichte und die christliche Tradition, sondern auch auf die zeitgenössischen Autoren wurden. Die literarische Flut, die sich in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts über das Reich ergoss, bestand aus zahlreichen nicht nur voneinander abhängigen, sondern vor allem aufeinander reagierenden Streitschriften, die es jeweils wiederum zu widerlegen galt (vgl. Suchan 2002: 41ff.). Nicht wenige Schriften lesen sich als direkte Antworten auf vorangegangene Invektiven. Auf breiter Basis wurden Akteure verunglimpft, Streitschriften der konkurrierenden Seite angegriffen, entkräftet oder polemisch abgetan. Eine ganz neue Art von Literatur, die viel stärker mit Polemik und Ironie durchsetzt war, brach sich Bahn. Diese Streitschriften zeichnen sich unter anderem durch zwei Charakteristika aus, die im Folgenden näher analysiert werden sollen: erstens durch ihre erstmals systematisch augewandte rhetorische Schärfe (vgl. Robinson 1976) und zweitens durch ihr formales Erscheinungsbild, denn auch die längsten Traktate kleiden sich im Gewand eines traditionellen Briefes, ja die Zeitgenossen empfanden gar keinen Unterschied zwischen politischen Briefen und Streitschriften (vgl. Erdmann 1936: 505). Beide Aspekte verdienen hier besondere Beachtung, weil sich gerade auf diesen beiden Feldern in besonderer Weise die spezifisch geschärfte Kunst des Streitens im Investiturstreit manifestiert.
IV. Streitrhetorik Bei genauer Lektüre der Streitschriften wird schnell deutlich, dass sie zur Vermittlung noch kaum geeignet waren, dienten sie doch in ihrem kompromisslos polemischen Stil weniger der Überzeugung des Gegners als der Identitätsstiftung innerhalb der eigenen Partei; allenfalls konnten sie ihre eigenen Vermittler mit den nötigen Argumenten versorgen und auf kommende Ver-
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handlungen vorbereiten (vgl. Suchan 1997: 254-260; dies. 2002: 40-43). Gruppenzugehörigkeit wurde nicht nur durch immer wieder identische Erzählmuster, Argumente und Formulierungen konstruiert und bestärkt, sondern auch auf Synoden öffentlichkeitswirksam inszeniert. Die Invektiven brachten nur in seltenen Fällen neue Gedanken, schufen daft.ir aber stets neue rhetorische Stilblüten und Polemiken. Die oft gleich an mehrere Adressaten verschickten Briefe wurden üblicherweise laut in großer Runde, etwa auf Versammlungen, Hoftagen oder Synoden verlesen oder von der Kanzel herunter paraphrasiert und kommentiert (vgl. Constable 1976: 11, 48; Köhn 1984: 352f.). Auf dieser performativen Ebene gewannen rhetorische Stilmittel ihre besondere Bedeutung. Viele Schreiben zielten entsprechend auf rhetorische Wirkung, waren aber kaum von juristischem Scharfsinn geprägt: sie sollten Identität stiften, nicht Streit schlichten. Stilistisch geschickt und rhetorisch geschult kleidete Gregor VII. seine Bannsentenz gegen Heinrich IV. I 076 in ein Gebet an den heiligen Petrus und schickte das Schreiben in mehrfacher Ausfertigung durch halb Europa: »Heiliger Petrus, Fürst der Apostel, wir bitten Dich, schenke uns treu Dein Gehör und erhöre mich, Deinen Diener, den Du von Kindheit an genährt und bis zum heutigen Tag aus der Hand der Ungerechten befreit hast, die mich wegen Deiner Treue gehasst haben und immer noch hassen.« (Reg. Greg.: 270) Nicht minder eloquent hatte zuvor Heinrich IV. zusammen mit den deutschen Bischöfen den Papst aufgefordert, vom Heiligen Stuhl herabzusteigen (vgl. Bell. Sax.: 59f.). 1 Man könnte bei den geschulten Streitschriftenautoren eine ganze Liste mit Beispielen rhetorischer Stilmittel in der Tradition antiker Rhetorik nach Cicero oder Quintilian anführen, Alliterationen, Anaphern, Wortspiele und kreative Wortschöpfungen, Chiasmen, Parallelismen und Antithesen. Wenrieb von Trier kritisierte die Argumente seines Gegners mit der Klimax und dem einfachem, aber eingehenden Parallelismus: »Haec omnia de paternitate vestra audiens erubesco, erubescens doleo, dolens reclamo« (Wenr.: 287). 2 Wilfried Hartmann und Ian Stuart Robinson haben weitere dieser rhetorischen Figuren in den Streitschriften des Investiturstreites aufgeführt und so auch die Wandlungen des Stils in der Epoche des Investiturstreits hervorgehoben (vgl. Robinson 1976; W. Hartmann 1997). Um die Neuartigkeit und Besonderheit dieser Rhetorik einordnen zu können, empfiehlt sich zur Veranschaulichung vor allem der Blick auf ihre Überlieferung und Rezeption. Denn mittelalterliche (und auch antike) Texte sind uns heute ja nicht wie selbstverständlich überliefert und bekannt. Sie mussten von Menschen kopiert, vervielfältigt, aufbewahrt werden; ob Kopisten das taten oder nicht, hing davon ab, ob sie die Texte ft.ir wichtig hielten oder nicht. Warum die Kopisten wiederum Texte abschrieben und was sie an ihnen interessant fanden, ist oft daran zu erkennen, in welchem Kontext sie Dieses Absageschreiben von Worms gipfelt in dem Imperativ descende, descende (»steige herab!«), den spätere Kopisten mit dem Zusatz dampnande (»Du,
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der Du verdammt werden wirst«) versehen haben. Die Alliteration gewinnt ihren rhetorischen Reiz auch daraus, dass ein Imperativ (descende) mit einem Gerundivum im Vokativ (dampnande) als vermeintlicher Parallelismus aufscheint. »Wenn ich all das von Euch vemehme, erröte ich; wenn ich erröte, leide ich; wenn ich leide, widerspreche ich lauthals.«
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überliefert sind. Einzelne Traktate wurden nämlich in einer Handschrift, gleich einem Buch, zusammengebunden. So wurde zusammengefügt, was ursprünglich zwar nicht zusammen gehörte, in den Augen der Kopisten und >Buchbinder< aber eine Einheit bildete. Wo und in welchen Manuskripten finden wir nun die Streitschriften? Die Briefe, die im Rahmen der Konfliktaustragung Ende des 11. Jahrhunderts durch das Reich geschickt wurden, sind uns meist in späteren Briefsammlungen des 12. Jahrhunderts überliefert. Gleiches gilt für zahlreiche Streitschriften des II. Jahrhunderts. Die beiden Schriften des gelehrten Gregorianers Manegold von Lautenbach beispielsweise, der im 11. Jahrhundert geschrieben hat, sind nur in Handschriften des 12. Jahrhunderts erhalten (vgl. W. Hartmann 2007: 79). Für zahlreiche weitere Texte, die in der Zeit und im intellektuellen Umfeld des Investiturstreits entstanden sind, lässt sich eine ähnliche Überlieferungslage ausmachen (vgl. ebd.). Das heißt nicht, dass die Texte nicht auch im 11. Jahrhundert gelesen und weiter kopiert worden sind; aber es belegt auch ein anhaltendes Interesse an diesen Texten noch lange nach dem Investiturstreit Bemerkenswert ist daran, dass diese Streitschriften an sich »als Gelegenheitsschriften mit großer Tagesaktualität alsbald ihr Interesse verloren«, wie Doris Stöckly (2000: 7) vermutet. Dennoch wurden sie weit nach dem Ende des Investiturstreits kopiert und sogar am Rand in den Handschriften kommentiert, als die Debatte auf inhaltlicher Basis längst abgeschlossen war. Oft finden sich in denselben Handschriften sogar noch theoretische Abhandlungen über das Abfassen von Briefen und weitere Briefsammlungen völlig anderen Inhalts, aber ähnlich gehobenen Stils. Wenn wir also Streitschriften des Investiturstreits neben Briefen völlig anderen Inhalts als schulbuchartige Einführung in das Briefschreiben überliefert finden, ergibt sich nur eine Schlussfolgerung: Man interessierte sich später nicht mehr wirklich für die Investiturfrage und für die einzelnen Argumente in der Auseinandersetzung zwischen Heinrich IV. und Gregor VII. Das war jedenfalls nicht das Kriterium, nach dem diese Texte zusammengestellt und für überlieferungswürdig erachtet wurden. Erhärtet wird diese Vermutung noch durch den Befund, dass die Handschriften in Lernzentren wie der Domschule in Samberg überliefert wurden, die ihre Zöglinge auf den Dienst am Kaiserhof oder in der Reichskanzlei vorbereiten sollten. Das Hauptverdienst dieser »Bildungsstätten« lag »in der Diktatschulung«, also im stilgerechten Abfassen von Briefen anband von eigens dafur gesammelten Mustern »aus dem Bereiche der Politik und des öffentlichen Lebens« (Erdmann 1936: 45). Hinzu kommt, dass in einigen dieser Handschriften die Texte durch Korrekturen oder Verbesserungen am Rand mit einer anderen rhetorischen Figur versehen wurden. Die Texte wurden dabei stets sprachlich verändert und korrigiert (vgl. Erdmann 1936a: 492; Robinson 1976: 211). Was in den Randglossen aber weniger kommentiert wurde, ist die intellektuell-argumentative Ebene der originalen Texte. Auch die Randglossen offenbaren also ein genuines Interesse fur Sprache und weniger für Inhalte und Argumentationsstrategien. Sind damit das Interesse am und die Fertigkeit im Gebrauch rhetorischer Stilmittel nachgewiesen, soll noch auf ein weiteres bemerkenswertes Phänomen hingewiesen werden. Denn obwohl sich beide Seiten in der Auseinandersetzung zwischen Papst und König rhetorischer Mittel bedienten, wurden selbige gleichzeitig - analog etwa zu den traditionellen Vorwürfen, die seit
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Sokrates stets gegen die Sophisten vorgebracht wurden - als wahrheitsfremd verworfen. Der Gregorianer Mauegold von Lautenbach, selbst ein brillanter Stilist, der rhetorisch alle Stilmittel zu nutzen verstand, klagte genau diese sprachlichen Winkelzüge seiner Gegner heftig an, die er daher als bloße Grammatiklehrer diffamierte: »Dieser Grammatiklehrer, von einer Versammlung von Philistern gewählt, beleidigt freudig den lebendigen Gott und unternimmt seine Arbeit nach Art der Schulrhetoren, die zu einem auferlegten Thema nicht darauf achten, was geschehen ist und was nicht, sondern in fiktiven Fällen mit geschärfter Zunge nur darüber sprechen, wie ein jeder Unrecht zufügen oder es aushalten kann« (Man. Laut.: 107).
Ähnlich abfällig über den Gebrauch rhetorischer Stilmittel äußerte sich schon vor dem eigentlichen Ausbruch des Investiturstreits der radikale Reformer und Vertraute Gregors VII. Petrus Damiani, der selbst wohl der größte Stilist seiner Zeit war. An einen befreundeten Kleriker schrieb er: »lch weiß genau, Bmder, dass, wenn mein B1ief in die Hände weltlicher Menschen fiele, bald sorgfältig darin nach dem Glanz der Beredsamkeit gesucht und geprüft würde, wie strikt die rechte Anordnung der Wörter angewandt wird und ob die bunten Stilmittel rhetorischer Kunst hervorleuchten. [... ]Aber Du, geliebter Freund, suche in meinem Brief nicht die Würze bissiger Sprache, suche nicht ehrwürdige akkurate Beredsamkeit, sondern Du sollst Gefallen finden an der Schlichtheit eines Schafes« (Petr. Dam.: T, 23, 217f.).
Gerade aus dem Mund rhetorisch durchaus geschulter Autoren muten diese Aussagen paradox an. Dass man aber- bei aller Kritik an der Rhetorik - auf eben diese zurückgriff und sie vermehrt an Bischofssitzen und Klosterschulen lehrte, ist kein Wunder. Wenn eine Seite anfing, Eloquenz im Streit gezielt zu funktionalisieren, blieb der anderen Seite nichts übrig, als dem Gegner mit den gleichen >Waffen< zu begegnen. Die Formen des Streitens- die >Streitkultur< - wandelten sich auf beiden Seiten parallel und passten sich allmählich einander an, so dass im Verlauf der Auseinandersetzung neue Regeln auch unausgesprochen parteiübergreifend etabliert wurden. Die Kritik am Gebrauch der Rhetorik ist bekanntlich alt und wurde zu allen Zeiten vorgebracht; sie belegt aber im konkreten Fall, dass man sich der Nutzbarmachung der Rhetorik auf der Seite des jeweiligen Gegners durchaus bewusst war. Die Reaktion bestand aber nicht in bloßer Kritik, sondern in Imitation und Assimilation; beide Seiten schenkten sich dort nichts.
V. Streitkonsequenzen Bei aller Kritik an rhetorischer Finesse, die in theologischer Vorstellung unehrlich oder wahrheitsfremd war, wusste man um die Bedeutung der Rhetorik im Streit. Angesichts der plötzlich sprießenden Schärfe des geschriebenen Wortes stellt sich unweigerlich die Frage: Woher kam diese Fertigkeit und wie stellte man sicher, dass sie erhalten blieb? Da bekanntlich die Kommunikation im Investiturstreit weitestgehend über Briefe lief und die Bedeutung der Briefe im Investiturstreit kaum hoch genug einzuschätzen ist (vgl. Melve
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2007: 25, 75; Suchan 1997: 260-269), sind die Vermittlungswege zu analysieren, die die Fähigkeit förderten, Briefe in angemessener Form und in überzeugendem Stil zu schreiben. Im abschließenden Kapitel soll daher ein gerade in jener Periode neu erfundenes Genre vorgestellt werden: Die Ars dictandi, ein Lehrbuch über die Kunst, Briefe zu schreiben. Das erste entsprechende Werk ist mitten im Investiturstreit entworfen oder vielmehr >erfunden< worden, und diese Gattung wurde in der Folgezeit mit immer neuen Modifikationen zu einem >Exportschlagersancto dictanie Spiritu< und der >ars dictandipropagandistischen< und >publizistischen< Zentrum des Investiturstreits, denn dort waren seine Fähigkeiten gefragt, ging es doch um nichts Geringeres als die Verteidigung der Libertas ecclesiae, der Freiheit der Kirche, vor äußeren, das heißt: weltlichen und das heißt: königlichen Einflüssen. Die bisherigen Befunde lassen vermuten, dass die erste Ars dictandi nicht zufällig von einem >Aktivisten< im Investiturstreit verfasst wurde, sondern dass sie intentional und funktional zum praktischen Nutzen in diesem epochalen Konflikt entworfen wurde. Möglicherweise hat Alberich sogar - wie schon bei seinem Auftreten gegen Bereugar von Tours und wie wahrscheinlich auch im Fall seiner Schrift gegen Heinrich IV. - auch die Ars dictandi auf gezielten Wunsch des Papstes entworfen. Entsprechende Absprachen zwischen Montecassino und Rom wären nicht undenkbar. Denn der damalige Abt Desiderius von Montecassino hat sich als zunächst treuer Parteigänger Gregors VII. nachweislich oft in Rom aufgehalten und war dort als Kardinalpriester von Santa Cecilia im Kardinalskolleg vertreten (vgl. Hüls 1977: 155). Die drei Päpste des späten 11. Jahrhunderts, deren Montecassiner Herkunft dokumentiert ist, belegen den intensiven Austausch zwischen der Benediktinerabtei in Benevent und dem Heiligen Stuhl. Alberich selbst hat sich mehrfach in Rom aufgehalten; seine leider nicht mehr erhaltene Streitschrift gegen Heinrich IV. dürfte in Rom, jedenfalls in enger Kommunikation mit dem Papst, entstanden sein. 1078 ist Alberich dort auf einer Synode zur Verteidigung päpstlicher Standpunkte gegen Bereugar von Tours aufgetreten und nachweislich ist er auch nicht in seiner Abtei in Montecassino, sondern in Rom bestattet (vgl. Petr. Diac.: 1033). Zwar stimmen im Mittelalter Sterbeort und Bestattungsort nicht immer überein, aber die Entfernung Roms zur Abtei Montecassino in den Bergen Benevents und der Umstand, dass Alberieb im Juli gestorben ist, wenn der Transport eines Leichnams wegen der Hitze unwahrscheinlich ist, lassen darauf schließen, dass Alberieb auch in Rom verstorben ist, sich also bis zu seinem Tod in Rom aufgehalten hat. Angesichts dieser stark auf Rom fokussierten Vita Alberichs erscheint es kaum sehr vermessen, den Ursprung der Ars dictandi in Rom zu suchen und auch auf die Bedürfnisse des Papsttums in der epochalen Auseinandersetzung mit dem römisch-deutschen Königtum zurückzuführen. Die Brieflehre schulte genau jene Fähigkeiten, die damals gefragt waren. Der Investiturstreit schuf damit gewissermaßen ein neues Genre, das gezielt die Fähigkeiten kunstvollen Streitens förderte. Alberichs Werke zur Briefrhetorik wurden schnell so einflussreich, dass sie schon zu Beginn des 12. Jahrhunderts in den Städten Oberitaliens zum Ausgangspunkt zahlreicher neuer, aber stets von Alberieb abhängiger Brieflehren wurden. Ihre Vertreter des 12. Jahrhunderts lassen sich mit guten Argumenten als Vorläufer der Renaissance-Humanisten verstehen (vgl. Bensou 1977: 38ff.). Die ersten Autoren, zumeist in Bologna ansässig, äußerten zwar bisweilen recht deutliche Kritik an der Methodik und am Stil Alberichs (vgl. Ad. Sam.: 30, 51), aber sie rezipierten gleichwohl eifrig dessen Werk; unabhängig von diesem Montecassiner Wegbereiter war keiner der späteren Autoren. Alberich prägte damit nachhaltig die briefliche Kommunikation des Mittelalters (vgl. Worstbrock 1989: 1). Das allein belegt, welche innovative
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Kiaft Alberichs Lehrtexten offensichtlich innewohnte. Anlass zu Alberichs Schaffen war die Einsicht gewesen, dass man in diesem Streit besonderer rhetorischer Fertigkeiten bedurfte - und dass diese nicht von selbst kommen. Die rhetorische Konkurrenz zu Heinrich IV. forderte eine neue Ausbildung, Alberich bemühte sich, diese zu gestalten.
VI. Fazit Wie einschneidend und leidvoll die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts war, zeigen uns unzählige Quellenaussagen: Kriege und Fehden im gesamten Reich- nicht zu reden von der Ungewissheit über die Konsequenzen im Jenseits: Was, wenn der Bischofkein rechtmäßiger Bischof war, weil ihn der falsche Papst eingesetzt hat? Sind die von jenem Pseudobischof geweihten Priester rechtmäßige Priester, die von diesen gespendeten Sakramente wirksame Sakramente? Die Konsequenzen schienen nicht absehbar; ebenso wenig ein Ende des Streits. Denn was anfangs nur der Diskurs über verschiedene Rechts- und Machtauffassungen gewesen war - gleich den entsprechenden Zusammenstößen in Frankreich (vgl. Grosse 2007) und England (vgl. Vollrath 2007) - wurde mit wechselseitiger Absetzung und durch den vermehrten Einsatz der Exkommunikation zum Ringenzweier Weltanschauungen. Die Brisanz und Totalität des lnvestiturstreits, der damals an unterschiedlichen Fronten ausgetragen wurde, forderten neben dem gezielten Einsatz rhetorischer Stilmittel auch völlig neue Methoden der intellektuellen Argumentation, die sich allmählich herausbildeten. Aus der Not des Investiturstreits machte man eine Tugend. Die Argumente wurden - nach anfänglich eher identitätsstiftender als überzeugender Polemik - zunehmend von einer frühscholastischen Dialektik geprägt. Das Kirchen- wie das römische Recht wurden mit neuen Methoden studiert und zur Lösung der rechtlichen Fragen konsultiert. Im Investiturstreit machte sich ein spezifischer Fortschritt in der Behandlung kontradiktorischer Rechtssätze bemerkbar: Wo sich zwei anerkannte Autoritäten widersprachen, nutzte das wechselseitige Aneinanderreihen von Zitaten nicht mehr (vgl. Fuhrmann 1982); man begann erstmals »einander widersprechende Texte nach ihrer Autorität zu ordnen und damit zu werten« (W. Hartmann 2007: 76). Es ist bemerkenswert, dass beide Seiten in mehr oder minder identischer Form die gleichen Veränderungen in ihrer Streitkultur umgesetzt haben. Es wäre insgesamt irreführend, einer der Parteien eine modernere Streitkultur und der anderen das Verharren in einer veralteten Methodik zu attestieren (vgl. W. Hartmann 2007: 82). Ähnlich verhält es sich auf dem Feld der Rhetorik. Die Rhetorik wurde verstärkt in Anspruch genommen und diente genuinen Streitinteressen, war Politik. In bisweilen sophistischer Manier wurden Argumente der Gegner verdreht und polemisch abgetan, zugleich wurde dem Gegner vorgehalten, er argumentiere nur in rhetorischen Floskeln und Winkelzügen, fernab jeder Wahrheit. Man fühlt sich an heutige Wahlkampfrhetorik erinnert, die unter Vermeidung inhaltlicher Genauigkeit auf die Kraft des Wortes alleine vertraut. Angriffe auf der moralischen Ebene, die den vermeintlich schändlichen Lebenswandel des Gegners brandmarken, sind also kein Privileg heutiger Wahlkämpfe. Interessanter als diese unsachlichen Angriffe als solche sind die Repliken darauf, die eben gerade das Ausweichen von der inhaltlichen auf die rhetorische Ebene angreifen. Rhetorik wird
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dann mit Fiktion und Mangel an Wahrheit gleichgesetzt (vgl. Petr. Dam. I: 23, 218; Man. Laut.: 107). Man kritisierte daher zwar beim Gegner den Gebrauch dieser sophistischen, wahrheitsfremden Rhetorik, wandte sie selbst aber unvermindert an. Dieses Phänomen lässt sich sicher nicht allein im Investiturstreit bemerken und ist möglicherweise sogar auf Streit allgemein zu generalisieren. Denn es dürfte sich auch in anderen Konflikten zeigen, dass Wandlungen von Streitregeln, von Streitkultur und Argumentationsstrategien, sobald sie von einer Partei erfolgreich angeregt wurden, von weiteren Streitparteien adaptiert werden. Nur aufvergleichbarem Niveau und in gleichen intellektuellen Sphären ist eine konstruktive Reaktion auf Invektiven der Gegner möglich. Streit setzt Kommunikation voraus, die bestimmten, wenn auch impliziten Regeln folgt; statt Regelverstöße bloß zu benennen und zu kritisieren, bleibt als Alternative, sich den neuen Regeln anzupassen. Ein Aspekt erscheint am Investiturstreit besonders bemerkenswert: In Alberich von Montecassino wurde eine Persönlichkeit vorgestellt, die maßgeblich in den Debatten mitgewirkt hat und gleichzeitig als Lehrer tätig war, der seine Zöglinge in der modernen dialektischen Streitmethodik unterwies und sie das kunstgerechte, stilistisch und rhetorisch ausgefeilte Abfassen von Briefen lehrte. Die Dialektik diente der argumentativen Streitmethode, der Briefwar das Genre schlechthin, in dem die Debatte des Investiturstreits ausgetragen und verbreitet wurde; die Lehrinhalte dienten also einer fest definierten >Streitkultur< und vermittelten, was für das Streiten wichtig war oder zumindest für wichtig gehalten wurde. Lehre und Praxis waren in diesem Fall eins, denn Alberich zeichnete sich rhetorisch im Abfassen von Briefen aus und wandte die Dialektik in den großen Auseinandersetzungen seiner Zeit an, stets in enger Kooperation mit dem Papst. Die Dialektik war ein neues argumentatives Mittel ( vgl. W. Hartmann 2007). Alberich hatte sich darin in j ungen Jahren intensiv geschult; die Ars dictandi war sogar seine Erfindung. Die Zeitumstände bedingten Innovation, zwangen zu neuen Streitformen, um im Streit zu bestehen. Sie leisteten ihren Beitrag zu einer intellektuellen Streitkultur, die jenseits der zum Teil militärisch ausgetragenen Auseinandersetzung formale Regeln fiir jenes Genre entwarf, das als wesentliches Streitmedium fungierte. Der Investiturstreit wurde zum großen Teil in Briefen ausgetragen. Es mag eine Ironie der Geschichte sein, dass man Anfang des 12. Jahrhunderts in Bologna über Alberichs Brieflehre, seine Methode und seinen Stil stritt (vgl. Hug. Bol.: 53f.; Ad. Sam.: 30, 51; dazu Schmale 1957: 26-34; Worstbrock 1989: 3f.): Aus dem Streitmedium war ein Streitobjekt geworden.
Siglen Ad. Sam.: Adalbertus Samaritanus (1961): Praecepta dictaminum, ed. Franz Josef Schmale(= Monumenta Germaniae Historica. Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 3), Weimar: Böhlau. Ann. Aug: Annales Augustani (1839), ed. Georg Heinrich Pertz (= Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 3), Hannover: Hahn, S. 123-136. Bell. Sax.: Liber de bello Saxonico (1937), ed. Hans-Eberhard Lohmann (= Monumenta Germaniae Historica. Deutsches Mittelalter. Kritische Studientexte 2), Leipzig: Hiersemann.
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Hug. Bol.: Hugo von Bologna (1863/64): Rationes dictandi prosaice, ed. Ludwig Rockinger, Briefsteller und Formelbücher des eilften bis vierzehnten Jahrhunderts (= Quellen zur bayerischen und deutschen Geschichte), München: Georg Franz, S. 53-94. Lib. de un.: Liber de unitate ecclesiae conservanda (1892), ed. Wi1he1m Schwenkenbecher (= Monumenta Gennaniae Historica. Libelli de lite 2), Hannover: Hahn, S. 173-284. LP: Liber pontificalis (1892), ed. Louis Duchesne (= Bibliotheque des Ecoles fran9aises d' Athen es et de Rome 2), Bd. 2, Paris: Thoris. Man. Laut.: Manegold von Lautenbach (1891 ): Liber ad Gebehardum, ed. Kuno Francke (= Monumenta Germaniae Historica. Libelli de lite 1), Hannover: Hahn, S. 308-410. Petr. Dam.: Petms Damiani (1983-1993): Die Briefe des Petms Damiani, ed. Kurt Reindei (= Monumenta Germaniae Historica. Die Briefe der deutschen Kaiserzeit 4), 4 Bde., München: Monumenta Germaniae Historica. Petr. Diac.: Petrus Diaconus (1895): De viris illustribus Casinensis coenobii, ed. Migne, (= Patrologia Latina 173), Paris: Gamier Fratres, Sp. 10101062. Reg. Greg.: Das Register Gregors VII. (1923), ed. Erich Caspar (= Monumenta Gennaniae Historica. Epistolae selectae 2,2), Berlin: Weidmann. Sig. Gembl.: Sigebert von Gembloux (1892): Apologia, ed. Ernst Sackur (= Monumenta Germaniae Historica. Libelli de lite 2), Hannover: Hahn, S. 436-464. Vita Benn.: Vita Bennonis II. (1902), ed. Harry Bresslau (= Monumenta Germaniae Historica. Scriptores remm Gennanicamm in usum scolamm separatim editi 56), Hannover/Leipzig: Hahn. Wenr.: Wenrich von Trier (1891): Epistola, ed. Kuno Francke (= Monumenta Germaniae Historica. Libelli de lite I), Hannover: Hahn, S. 280-299.
Literatur Becher, Matthias (2006): »Die Auseinandersetzung Heinrichs IV. mit den Sachsen. Freiheitskampf oder Adelsrevolte«. In: Jörg Jamut/Matthias Wemhoff (Hg.), Vom Umbmch zur Emeuemng? Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert- Positionen der Forschung(= MittelalterStudien 13), München: Fink, S. 357-378. Benson, Robert L. (1977): »Protohumanism and the Narrative Technique in Early Thirteenth-Century Italian >Ars DictaminisPublizistInvestiturstreit«In allem Übrigen werden sich die Gesandten zu verhalten wissenVersailles< stand für die >mnbegriffene Niederlage. Alles, was bisher axiomatische Gültigkeit besessen hatte, war jetzt erschüttert: der Glaube an die zivilisatorische Mission des deutschen Volkes, an das Recht Deutschlands auf einen >Platz an der SonneVersailles< wurde zum Lackmustest für die politische Glaubwürdigkeit der Parteien: Wer ftir den Vertrag war und seine Unterzeichnung für politisch notwendig hielt, war gegen das deutsche Volk und dessen Zukunft- so wurde es jedenfalls sofort unbarmherzig von der Mehrheit der Parteien ausgelegt. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass selbst in pazifistischen Kreisen eine Akzeptanz des Vertrages die Ausnahme war: Wenngleich eine kleine Minderheit von Radikalpazifisten den Versailler Vertrag als Folge einer »größenwahnsinnigen preußisch-deutschen Macht- und Eroberungspolitik« betrachteten, gab es - mit Ausnahme der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) - keine relevante politische Kraft, die an der Unschuld Deutschlandsam Ersten Weltkrieg öffentlich zweifelte (vgl. Wette 1981: 19). Vielmehr entwickelte sich eine beständige Agitation gegen den Vertrag, eine permanente »Propaganda der Friedlosigkeit« (Heinemann 1983: 238). Mit >Versailles< wollten sich die politischen Parteien von links bis rechts- in auf den ersten Blick bemerkenswerter Einmütigkeit - nicht arrangieren, von allen Seiten wurde der Friedensschluss als »Diktat«, »Schmach« und »Schande« etikettiert. Unabhängig davon gab es jedoch extrem unterschiedliche Haltungen gegenüber den Ursachen, Deutungen und Möglichkeiten der Abschaffung des Vertrages und der Abänderung des Ist-Zustandes. In jedem Falle bemerkenswert ist jedoch, dass das Vertragswerk Versailles in ganz anderem Maße als das Ve1tragswerk der Weimarer Verfassung eine bewusstseinsbildende Wirkung hatte. Versailles war politisches Dauerthema, wurde in Zeitungen thematisiert, war Argument in politischen Parlamentskontroversen und wurde mutmaßlich auch an Stammtischen debattiert. Mehr noch: Die politische Dauerreflexion über den Fixpunkt Versailles kann zusammen mit der Frage nach der »Kriegsschuld« sowie dem Begriff der >nationalen Revision< als »tragender Pfeiler gesellschaftlicher Identität der Weimarer Republik« (Bock 1991: 10) gelten.
Die Chiffre •Niederlage< zehn Jahre nach der Vertragsunterzeichnung Insbesondere im zehnten Jahr seines Besteheus war der Vertrag von Versailles wieder in der aktuellen politischen Debatte präsent: So sorgte der Y oungPlan, dessen Regelungen dem deutschen Wunsch nach Senkung der Reparationslast entgegen kommen sollte, für erhebliche innenpolitische Diskussionen. Unter anderem wurde hier die Reparationssumme auf 112 Milliarden Reichsmark mit einer Laufzeit bis 1988 festgelegt. Aus Empörung über diese Dauer initiierten die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) und der Stahlhelm im Dezember 1929 einen Volksentscheid gegen den Young-Plan (dazu umfassend Heyde 1998). Angesichts dieses brisanten, aktuellen Bezugs auf die einstigen Regelungen im Versailler Vertrag gewinnt auch die erinnerungskulturelle Bewusstmachung des zehnten Jahrestages Kontur. Immerhin geht es bei der Erinnerung vergangeuer Ereignisse weniger um deren ereignisgeschichtliche Rekapitulation als vielmehr um eine aktuelle Positionsbestimmung. Oder, anders gesagt: Wenn über die Deutung von Vergangenern gestlitten wird, so steckt dahinter auch stets ein Abtasten gegenwärtiger Problemlagen.
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Gedenktage, so bringt es der Sozialhistoriker Hannes Stekl auf eine eingängige Formel, »thematisieren bzw. verinnerlichen Gemeinsamkeiten bzw. Schlüsselereignisse der Vergangenheit, welche die Ursprünge der gesellschaftlichen Ordnung präsent machen, Werte ihrer Historizität entkleiden und auf Ziele der Gegenwart ausrichten sowie das kollektive Selbstwertgefi.ihl der Adressaten positiv bestimmen. Dadurch sind sie in bestimmter Weise für die Stabilität von sozialen Gruppen bzw. politischen Systemen von großer Bedeutung« (Stekl 1997: 91). Diese positive Bestimmung des kollektiven Selbstwertgeftihls bedeutet jedoch nicht, dass auch das eigentliche Initialereignis positiv konnotiert sein muss. Verlorene Schlachten, Traumata oder Tage der Schuld können ebenfalls als Kollektivsymbol handhabbar werden. Identifikation ergibt sich dann aus der Deutung, besagtes Ereignis (durch gezogene Lehren) überwunden, als Mahnung installiert oder in anderer Form zur Erträglichkeil materialisiert zu haben.
Alternatives Deutungsangebot Vor diesem Hintergrund gilt es, einen Blick auf jenes potentielle Deutungsangebot zu werfen, das Versailles zehn Jahre nach seiner Unterzeichnung eben letztlich auch offerierte. So markierte der Friedensschluss nicht nur den Schlusspunkt einer nunmehr alten Werteordnung, sandem auch den Aufbruch in ein neues Denken. Der Übergang zwischen Krieg und Frieden war ebenso eine Zeit fiir Ideen und Konzepte zur Friedensgestaltung. Der Politologe Alfons Siegel führt insbesondere die seitdem entstandenen konkurrierenden Modelle an: das liberale der USA, niedergelegt in Woodrow Wilsons 14-Punkte-Programm, in dessen Mittelpunkt Schlagworte wie Selbstbestimmungsrecht, Rüstungsbeschränkung und Völkerbundidee stehen, sowie das sozialistische Modell Lenins (vgl. Siegel 2003: 43ff). In den Jahren der Weimarer Republik wurde durch eine Reihe intemationaler Rechtsabkommen - zu nennen wären hier u.a. der Völkerbund oder der Briand-Kellog-Pakt versucht, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und Krieg als Mittel der Politik zu ächten. Durchaus hätte es also Anknüpfungspunkte gegeben zwischen jenem als >Schande< empfundenen Vertrag und einer einsetzenden Fortschrittsentwicklung - außenpolitisch wie auch innenpolitisch mit Blick auf die bereits seit zehn Jahren bestehende, mit einer Verfassung ausgestattete Republik. Betrachtet man jedoch die Tatsachen, war diese kontrafaktische Option für den Kriegsverlierer Deutschland lediglich eine theoretische: Die Revision des Vertrages sollte zum politischen Kalkül werden, dem alles weitere nur untergeordnet war. Daneben stand eine von der deutschen Außenpolitik betriebene Wahrnehmungslenkung, deren Ziel es war, »die starke Anti-VersaillesStimmung des Jahres 1919 über die Weimarer Republik hinweg zu erhalten und gezielt zur Verfolgung ihrer außenpolitischen Ziele einzusetzen« (Heinemann 1983: 238). Bereits 1919 war dazu im Auswärtigen Amt ein Kriegsschuldreferat gegründet worden, das eine >Unschuldspropaganda< größten Ausmaßes initiierte, dirigierte und finanzierte. Zum Ziel hatte es sich die Wi-
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derlegung der alliierten >Kriegsschuldlüge< gesetzt (Geiss 1978: 204) und arbeitete so an der Forcierung einer »innenpolitischen Einheitsfront« gegen Versailles (Heinemann 1983: 238).
Wie erinnert sich das Kollektiv? Die entscheidende Frage nunmehr ist: Wie kann ein Kollektiv aus derartigen Zusammenhängen einen für die Gegenwart relevanten Kern extrahieren, gar konstruieren? Und vor allem: Welche Rolle spielt hier der Streit? Gedenktage fungieren als eine A11 >missing link< zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie transportieren Geschichtsbilder und schaffen Geschichtsbewusstsein, das Karl-Ernst Jeismann in seiner als mittlerweile klassisch geltenden Formulierung als »Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive« (Jeismann 1985: 40) bezeichnete. In dieser Funktion helfen Gedenktage Gemeinschaften dabei, »zwischen vergangeuer und kommender Geschichte, zwischen Erfahrung und Erwartung ihren Ort zu bestimmen« und »stiften im Chaos der unendlichen Vorgänge der Vergangenheit Sinn, bieten Orientierungshilfe und Handlungssicherheit« (Jeismann 2002: 13). Fragt man nach den funktionalen Zielen von Gedenktagen, so weist eine in der Forschung stets wiederkehrende Begriffstrias den Weg: So dienen Gedenktage der Kreation von Identität, Legitimität und Integration. Aber welchen Beitrag kann das Begehen von Gedenktagen für die Schaffung kollektiver Identität leisten? Wie ergibt sich aus ereignisgeschichtlichen Zusammenhängen Identität? Die Antwort lautet: Über den Modus der Tradition, die hilft, Identität zu konstruieren. Grundsätzlich meint Tradition - ein Begriff, der vom lateinischen tradere (hinüberbringen oder übergeben) abstammt und insbesondere in den Sozialwissenschaften und in der Soziologie stark verwendet wird - in Anlehnung an Max Webers Typologie des >sozialen Handelns< den Fortbestand von Wertvorstellungen, normativen Orientierungen, Verhaltenweisen oder Institutionen, deren Geltung durch ihre schlichte praktische Bewährung, durch »eingelebte Gewohnheit« oder durch den Glauben an die »Heiligkeit« des Überkommenen gewährleistet wird (vgl. Weber 1976: bes. 78ff.). Insofern ist Tradition, kurzgefasst, notwendig für die Konstruktion von Gemeinschaften. Tradition bewirkt also die (reflexive) Übernahme von bewährten Werten und deren bewusste Fortschreibung für die Gegenwart. Dies gilt einerseits für positiv konnotierte Sachverhalte: Das, was sich als >gut< erweist, soll fortgeschrieben werden. Etablierte Werte können, zeitgemäß angepasst, übernommen und fortgesetzt werden - da an dieser Stelle kein neuer Orientierungsrahmen mehr gesucht werden muss, verschafft dies Handlungssicherheit und Stabilität. Aber es gilt eben auch für Ereignisse mit >negativem< Inhalt - wie Versailles. Das Gedenken in diesem Falle bewirkt die Fortschreibung der eigenen Geschichte aus jenem >Trotzdem< heraus. Über diesen Modus erst ist es möglich, den >Verlust< zu verarbeiten und ihn als Teil der eigenen Geschichte zu akzeptieren. Was sich jedoch im Einzelnen als tradierbar erweist, muss das Kollektiv für sich herausfinden und aushandeln. Legitimatorische Wirkung können Gedenktage insofern entfalten, als sie historische Kontiunitäten bezeugen, also die »Rechtfertigung von Werten und Leitideen, die sich im Medium von Tradition und Geschichte bewegen, um
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einen Zustand oder eine Handlungssequenz in positiver oder negativer Konnotation in Relation zur Kontinuität der Gegenwart mit der Vergangenheit zu setzen« (ebd.: 78). Auch in diesem Zusammenhang erhält der Begriff der Tradition für die Herstellung von Legitimität eine gesteigerte Bedeutung: Die Gegenwart blickt in die Vergangenheit und sieht dabei ihre Zukunft: Das >Lernen aus der Vergangenheit< hat dabei unmittelbare legitimitätsstiftende Wirkung. Grundsätzlich kann diese Form von politischem Handeln dabei zwei Stoßrichtungen haben: Es kann sowohl den Status quo legitimieren als auch Voraussetzungen für dessen Kritik und Veränderung schaffen (vgl. Schmidt 1996: 66). Der Vorgang der Legitimitätsbeschaffung für politisches Handeln kann damit ebenso von Herrschaftsträgem wie auch von oppositionellen Gruppen ausgeübt werden. »In beiden Fällen«, so betont der Politologe Haraid Schmid (2001: 60), »kann Geschichtspolitik stabilisierende und integrierende Wirkung entfalten: als staatliche Politik hinsichtlich des politischen Systems, als Partei- oder Verbandspolitik hinsichtlich der eigenen Klientel«. Beides war für das Beispiel Versailles relevant. Neben den bereits genannten Aufgaben fällt den Gedenktagen auch die Funktion zu, Bevölkerungsgruppen zu integrieren. Der Begriff Integration meint dabei zunächst das bewusste Herbeiführen oder die Entstehung einer Einheit, deren Form den in ihr zusammengeführten Einzelelementen das Bewusstsein der Zugehörigkeit vermittelt (als Übersicht dazu vgl. Smend 1987: Sp. 1354-1358; Mols 1995: Sp. 111-118). Für den modernen Staat resultiert daraus eine komplexe Aufgabe: Im Mittelpunkt der Integrationsleistung steht dabei die den Verfassungsstaat konstituierende Notwendigkeit, einen Pluralismus von Meinungen und Auseinandersetzungsmöglichkeiten3 zu kanalisieren und damit das Entstehen von die Stabilität gefährdenden fragmentierten politischen Teilkulturen zu verhindern. Ziel der Integration ist deshalb die Herstellung eines unstreitigen Minimalkonsenses zwischen allen gesellschaftlichen Gruppen, der die Akzeptanz sowohl von Verfassungsinstitutionen, Entscheidungswegen wie auch die »grundsätzliche Normbefolgung« beinhaltet. In offenen Gesellschaften ist das Begehen von Gedenktagen damit legitimatorisch-integrative Basisarbeit Feiertage schaffen eine »kulturelle Grundierung«, geben Gesellschaften »gründende« Inhalte, »wollen Konsens -bei allem sonst bestehenden Dissens« (Häberle 1987: 15). Dieser Konsens entsteht jedoch nicht aus dem Nichts, sondern es bedarf einer Aushandlung über die jeweils verbindlichste Position. Diese kann sich im Laufe der Zeit als immer weniger strittig erweisen. Solange noch eine Vielzahl von Zeitgenossen und Augenzeugen des betreffenden Ereignisses leben, gestaltet sich auch dessen Deutung zumeist als kontrovers; ein unmittelbarer Erlebnishorizont sorgt für eine Erhitzung des >kommunikativen Gedächtnisses< (Jan Assmann). Ruhe in der Auseinandersetzung um das Gedächtnis setzt zumeist erst ein, wenn die >Grenze im Gedächtnisraum< (Thomas Schmid) überschritten ist - der Übergang vom unmittelbaren kommunikativen Gedächtnis in ein kulturell organisiertes Gruppengedächtnis, in dem institutionalisierte Traditionsträger die zeremonielle Kommunikation ausrichten und auftraditionelle symbolische Inszenierungen zurückgreifen können. 3
Das zeichnete auch das Bundesverfassungsgericht grundlegend nach. Vgl. dazu BVerfGE 40, 287ff., 294: So ist die »ständige geistige Auseinandersetzung fur die freiheitlich-demokratische Grundordnung schlechthin konstituierend«.
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Insofern ist Streit- in dieser Form verstanden als habitualisierte Auseinandersetzung verschiedener gesellschaftlicher, politischer oder medialer Akteure über unterschiedliche Deutungen der Vergangenheit- wesentlicher Bestandteil des prozesshaften Charakters von Erinnerung. Vor dem Konsens steht der Streit um Positionen. Im simrnelschen Sinne ist Streit also auch für diesen Fall ein »positives Moment« zu eigen, »das sich mit seinem Verneinungscharakter zu einer nur begrifflich, aber nicht tatsächlich auseinander zu trennenden Einheit verflicht.« (Simrnel 1983: 186) Kurz gesagt: Erinnerung braucht Streit, um lebendig und fruchtbar zu sein. Und anders gewendet: Bleibt er aus, kann dies nur negative Wirkungen haben.
Die Hamburger Gedenkpraxis Von der Theorie lohnt sich ein Blick in die Praxis und zurück zur Frage »Welche Rolle spielte Streit im Sinne einer kontroversen Auseinandersetzung für die Erinnerung an die Unterzeichnung des Versailler Vertrages in Harnburg?« In Harnburg stand Versailles während politischer Debatten häufig auf der Tagesordnung. Als Gedenktag jedoch erfuhr es seine größte Aufmerksamkeit - einschließlich Kundgebungen, Gedenkveranstaltungen und einem bemerkenswerten Presse-Echo- anlässlich des zehnten Jahrestages; zuvor war die Gedenkaktivität nur sporadisch. Als wichtigster Gedenkakteur, der diesem Datum ein öffentliches Interesse angedeihen lassen wollte, präsentierte sich der Hamburger Aufklärungs-Ausschuss bzw. sein Dachverband, der überregionale Arbeitsausschuss deutscher Verbände. Er war 1921 unter der Regie des Auswärtigen Amtes gegründet worden. Unter seinem Dach beherbergte er zunächst mehrere Hundert, später mehrere Tausend deutsche Verbände unterschiedlichster Ausrichtungen. Der Arbeitsausschuss kennzeichnete sich stets mit dem Signum der >Überparteilichkeit< und >UnabhängigkeitDeutschen Revisionsbewegung< zusammengeschlossen hatte, dass er eine konservativ-revisionistische Politik fokussierte. Dieser Arbeitsausschuss plante zum zehnten Jahrestag der Unterzeichnung des Versailler Vertrages, eine wiederum als >überparteilich< apostrophierte Kundgebung zu veranstalten. Vornehmlich stand dahinter die Absicht, Aktivitäten aus »rechtsgerichteten Kreisen« zuvor zu kommen, schrieb Hans Draeger (StaHHa), Geschäftsfuhrer des Arbeitsausschusses deutscher Verbände in Berlin. Ziel dabei war insbesondere, dem Ausland ein wiedererstarktes, unbeugsames deutsches Volk vor Augen zu führen. Massiv versuchte Draeger, Stadtverwaltungen »oder aber wenigstens vertrauenswürdige Persönlichkeiten in den einzelnen Orten« (ebd.) für sein Anliegen zu gewinnen oder aber den Deutschen Städtebund mit einzubeziehen. Mittlerweile hatte sich auch der Hamburger Aufklärungsausschuss eingeschaltet und startete einen Vorstoß in dieselbe Richtung. Als Bürgermeister Carl Wilhelm Petersen auf eine nochmalige Nachfrage hin schließlich reagierte, äußerte er Bedenken. Zwar hielt auch er den Plan des Arbeitsausschusses für »an sich zweifellos sehr begrüßenswert[.]«, war jedoch der Ansicht, dass sich der Arbeitsausschuss anstelle der städtischen Unterstützung eher »die in Betracht kommenden Privatorganisationen« ins Boot holen und »sich dabei in enger Fühlung mit dem Auswärtigen Amt« (StAHHb) halten
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möge. Der Berliner Oberbürgermeister Böss, der ebenfalls eine gleichlautende Bitte des Arbeitsausschusses erhalten hatte, teilte diese Auffassung; mehr noch: »Ich bin sogar der Ansicht, dass man in der Oeffentlichkeit möglichst wenig von dem Vertrage reden sollte, weil die hüben und drüben an solche Kundgebungen geknüpften Erörterungen nur zu immer neuen Spannungen Anlass bieten« (StAHHc). Einen Teilerfolg hatte der Ausschuss schließlich dennoch zu verzeichnen: Der Städtebund empfahl seinen Mitgliedsstädten alsbald, »die Kundgebungen nach Massgabe der örtlichen Verhältnisse zu fördern, wenn eine würdige und sachliche Durchführung der Kundgebungen aufüberparteiischer Grundlage unter allseitiger Beteiligung sichergestellt ist« (StAHHd). In Harnburg jedoch provozierte dies keine Aktion von Seiten der Stadt: Harnburg beteiligte sich nicht an den Kundgebungen - weder mit einer eigenen Veranstaltung noch mit offiziellen Reden. Die Hansestadt befand sich damit auf einer Linie mit der Reichspolitik, die durchaus beobachtet wurde: »Reichsminister Severing erachtet als so gut wie gänzlich ausgeschlossen, daß das Reich zum lOjährigen Bestehen des Versailler Vertrages eine Kundgebung veranstalten werde« (StAHHe), meldete ein Fernspruch der Harnburgischen Gesandtschaft in Berlin noch am 1. Juni an den Hamburger Bürgermeister Petersen. Wenige Tage danach ergriff die Reichsregierung quasi in letzter Minute noch die Chance zu handeln. Sie beschloss, eine >amtliche Kundgebung< zu veröffentlichen. An mehr sei jedoch keinesfalls zu denken: »Von weiteren Kundgebungen und Maßnahmen aus Anlaß dieses Tages wird die Reichsregierung absehen. Eine Beteiligung amtlicher Dienststellen und amtlicher Persönlichkeiten an den von den Verbänden geplanten Kundgebungen soll nicht stattfinden. Amtliche Mittel sollen für die Veranstaltungen der Verbände nicht gewährt werden.« (StAHHt)
• Überparteilich keit• und staatliche Enthaltsamkeit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich sowohl Reichs- als auch einzelne Landesregierungen in der Frage des Versailles-Gedenkens reserviert und passiv verhielten. Die Hamburger Verantwortlichen begründeten dies mit der Notwendigkeit des Abwartens gegenüber der Reichs-Position; die Reichsregierung sah wiederum keine Notwendigkeit zu agieren, sondern enthielt sich bewusst mit dem Verweis auf die möglicherweise destabilisierende Wirkung, die ein derartiges Gedenken auch unter dem Einfluss ultrarechter Gruppierungen sowohl auf nationaler Ebene wie auch international, in seiner Wirkung auf das Ausland, entfalten könnte. Die reservierte Haltung der Regierung gewann zudem in einer Bürgerschaftsdebatte Kontur. Der Hamburger Senat hatte am 16. Mai 1929 eine Anfrage mit der Aufforderung erhalten, der »Aufzwingung des Versailler Diktats« auch von staatlicher Seite zu gedenken. Der Senat sah jedoch keinen Handlungsbedarf, die Antwort lautete mit diplomatischem Gestus: »Der Senat ist der Auffassung, daß die schicksalschwere Bedeutung des Versailler Vertrages dem deutschen Volke dauernd vor Augen gestellt ist und daß es
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keiner besonderen staatlichen Kundgebungen bedarf, um diese Erkenntnis durchzusetzen.« (StAHHg) Auch hier wird also die Passivität gegenüber einer Beteiligung an einer Kontroverse deutlich. Zur Disposition stand diese Haltung dabei nur für kurze Zeit: währendjener Bürgerschaftsdebatte vom 5. Juni 1929, in welcher die Senatsantwort verlesen wurde (StAHHh; folgende Zitate ebd.). Zunächst kam der die Anfrage stellende deutsehrrationale Abgeordnete Dr. Andreas Koch zu Wort. Er entrüstete sich spöttisch darüber, dass es schon »eigentümlich« sei, »daß bei einer derartigen Angelegenheit, die doch eigentlich Volkssache ist, nur wir allein von der Rechten und die Herren von der äußersten Linken sich für die Sache interessiert haben.« Die Senatsreaktion wertete Koch als »Desinteresse« gegenüber den Folgen des Versailler Vertrages, er kritisiert dessen Hintansetzung an die Verfassungsfeier: »Wenn man für die Freude etwas tun will, soll man auch den Mut haben, sich den Ernst vor Augen zu führen.« Erinnerung, soviel stand also auch ft.ir die Zeitgenossen fest, war ein wichtiger Bestandteil kollektiver Identitätsbildung. Auf das Plädoyer konterte der KPD-Abgeordnete Dettmann kategorisch. Er stellte heraus, dass der Tag des Erinnernsan Versailles auch ein Tag der Schulddebatte sein könne. Für ihn war Kochs Ansinnen ein chauvinistischer Akt der Loslösung aus dem Versailler Vertrag aus imperialistische Gründen. Die Anfrage stelle deshalb für die KPD die »Aufwerfung der Kriegsschuldlüge« dar. Von Seiten der KPD wolle man dem Ansinnen gegenübertreten, »neuen Kriegen den Weg ebnen zu wollen« und dies auf »dieser Tribüne der Öffentlichkeit«. In welcher Form speziell der Gedenktag genutzt werden solle, führt die KPD jedoch nicht aus. Auch die gemäßigteren Parteien ergriffen in der Aussprache das Wort. Der DDP-Abgeordnete Platen betonte die seiner Ansicht nach richtige Senatshaltung und unterstrich, dass der »entschlossene Wille zur Selbstbehauptung am besten bei der Verfassungsfeier zum Ausdruck kommen kann.« Hier käme nämlich paradigmatisch ein anderer Traditionsstrang zur Geltung, den es in viel stärkerem Maße zu betonen lohne: »Die Verfassungsfeier erinnert daran, daß es der deutschen Nation gelungen ist, [ ... ] das deutsche Volk aus dem Wirrsal des Krieges und aus dem Wirrsal der Revolution zur Selbstbehauptung zu bringen, trotz aller zerstörenden Widerstände, die im Inneren gegen sie aufgebracht worden sind.« Dessen ungeachtet sprach sich auch Platen für ein Erinnern an Versailles »in würdiger Weise« aus - nur eben staatlich solle es sich nicht formieren, sondern privat-bürgerlich, »ohne Ansehen der Partei«; er meinte damit das geplante Gedenken der Bürgervereine. Ganz ähnlich argumentierte der Abgeordnete Michael von der Deutschen Bauern Partei. Auch er sprach sich für eine enge erinnerungspolitische Verquickung des Versailles-Gedenkens mit dem Verfassungstag am ll. August aus: Versailles, das sei die »zweite Verfassung« der Weimarer Republik, und diese große »Schicksalsfrage von Versailles« solle insbesondere »in diesem Jahr« mit dem Verfassungstage verbunden werden - wenn dieser »einmal etwas mehr Inhalt haben soll«. Am Schluss der kurzen Debatte kam Bürgerschaftsmitglied Berner von den Sozialdemokraten zu Wort und konstatierte, überhaupt könne es nicht »so sehr darauf ankommen, eine sentimentale Übereinstimmung aller Parteien zu konstatieren«. Wichtig sei vielmehr, »aus den Tatsachen zu lernen«, wobei er dabei durchaus auch die Frage der Kriegsschuld reflektierte. Im
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Hinblick auf das Gedenken dieses Tages schlug er ebenfalls eine Perspektive vor, die so in der Debatte zuvor nicht zu hören war: »je weiter wir uns von den Kriegsjahren entfernen [ ... ], desto klarer wird es auch, daß es für Deutschland keine andere Rettung mehr gab.« Deshalb war für Berner und seine Fraktion auch klar, dass Versailles nicht das Versinken in Vergangenheitsträume bedeuten dürfe: »Wir lehnen es [ ... ] ab, in sentimentalen Betrachtungen über das Verlorene das zu versäumen, was heute zu tun ist.« Deshalb unterstützt Berner auch das Ansinnen des Abgeordneten Michael, dem Verfassungstage einen »reicheren Inhalt zu geben als sonst«- was bisher jedoch noch nicht geschehen sei. Dennoch: Es sei »des deutschen Volkes einzig würdig [ ... ], nicht mehr um das Verlorene zu trauern, sondern mutig in die Zukunft zu blicken und eine neuere bessere Zukunft zu erstreben, trotz Versailles undtrotzdes Siegerwillens der anderen.« Wenn diese Debatte eines deutlich macht, dann den Umstand, dass die Erinnerung an den Versailler Vertrag durchaus umkämpft war und viele Deutungsfragen offen blieben. Eine ernsthafte Auseinandersetzung blieb jedoch aus und es setzten sich im Vergangenheitsdiskurs jene durch, denen das Beschweigen der Differenz stabilitätsfördernder erschien als der Versuch ihrer Durchdringung. Keinesfalls wollten staatliche Vertreter den Platz >Versailles< besetzen. Die Beweggründe lassen sich zwar nur vermuten, dennoch wird die Furcht eine Rolle gespielt haben, sich in möglichen Deutungsdebatten weiter von der Bevölkerung zu entfernen. Daftir überließen sie diese Aufgabe jenen, die die Erinnerung nun ihrerseits für Deutungen von Vergangenheit, Gegenwart und auch Zukunft zu belegen suchten. Insofern kann von Mechanismen einer öffentlichen Streitvermeidung die Rede sein. Zu bewerten ist diese Haltung rückblickend als fatal: Denn die staatlichen Akteure vergaben sich damit die Chance, stabilisierend auf die öffentliche Meinung einzuwirken. Durchaus wäre denkbar gewesen, dass staatliche Akteure Gedenkalternativen anbieten - trotz Furcht vor Störungen von rechts. Ein möglicher Inhalt hätte beispielsweise der Versuch einer positiven Wendung der Versailles-Erinnerung sein können, um dem Niederlage-Topos eine Wiederaufbau-Hoffuung abzutrotzen. Stattdessen blieb die Ausdeutung des Vertrages Gruppierungen überlassen, die trotz des Postulats einer >Überparteilichkeit< politische Forderungen erhoben, die sich stark konservativ-revisionistischen Zielvorstellungen annäherten und darauf abzielten, eine aufbegehrende Volksbewegung zu konstmieren.
Glaubens- und nationale Gemeinschaft: Versailles und die Kirche Als ein weiterer wesentlicher Akteur innerhalb der Hamburger VersaillesErinnerung stellte sich die evangelische Kirche heraus. Bereits Wochen vor dem eigentlichen Gedenktag hatte der evangelische Kirchenausschuss, die Vereinigung der einzelnen Landeskirchen, seine Kirchen dazu aufgerufen, »den 28. Juni 1929 als Trauertag zu begehen« (NEKAa; folgende Zitate ebd.). Der Trauercharakter dieses Tages rekurrierte jedoch nicht auf die kriegerischen Handlungen mit Millionen von Menschenverlusten, sondern es ging der Kirche klar um diesseitige Anliegen. Durch die ungeheuerliche finanziel-
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Je Belastung sei eine »Not und Verarmung« hervorgerufen worden, die eine »tiefe Verbitterung« ausgelöst habe. Die Folge: »Der Glaube an menschliche und selbst an göttliche Gerechtigkeit ist bei vielen ins Wanken geraten.« Der hier offenbarte Standpunkt ist ein politischer, kein religiöser: Die Deutschen seien zu »Kriegsverbrechern gestempelt«, »niemals« könne Deutschland sich um »seiner Ehre und der Wahrheit willen« mit dem Umstand versöhnen, dass es »für alle Zeiten mit einem solchen Makel gebrandmarkt sein soll«. Die sich hieraus ergebende Empfehlung des Ausschusses: »Mit allen gerecht Denkenden und sittlich Empfindenden hält der Kirchenausschuss das Erzwingen eines Schuldbekenntnisses durch äußere Gewalt für verwerflich.« Dass offenbar selbst hochrangige Vertreter der evangelischen Kirche die Ablehnung des Versailler Vertrages eher für eine sittlich-religiöse denn für eine politische Frage hielt, wirft seine Schatten auf das Verständnis des politisch Bewirkbaren überhaupt. Versailles, das wird hier ganz deutlich, ist nicht die staatsrechtliche Konsequenz einer verfehlten Politik, die dem alten Kaiserreich in Rechnung gestellt werden muss. Damit wurde eine im Kern politische Frage in den Bereich des Religiös-Transzendentalen verlagert. Die Glaubensgemeinschaft wurde so zu einer Deutungsgemeinschaft in Fragen der alltäglichen Politik. Verständlicherweise ging es hierbei eben auch um Fragen der Sinnstiftung: Die Handlungseinheit >Glaubensgemeinschaft< verschmilzt mit der nationalen Gemeinschaft. Die Frage nach einem gerechten Gott wird plötzlich zu einer Frage nach einer legitimen Staatsordnung, die Infragestellung der Republik generiert gleichsam die klassische TheodizeeFrage. Galt die Reichsgründung noch als Offenbarung Gottes in der Geschichte, so wird diese Gleichung hier nun ex negativo gelöst: Die Existenz Gottes wird vielerorts in Anbetracht der Lage irrfrage gestellt, der Weg zurück zu ihm, so die kirchliche Argumentation, führt über eine Revision des Ist-Zustandes. Gute Gläubige werden damit auch zu guten Angehörigen der Nation, es ist gleichsam die Bestätigung eines nationalreligiösen Pflichtbewusstseins, bei dem bemerkenswerterweise kein Konkurrenzverhältnis zwischen Religion und Nationalismus offenkundig ist. Für die evangelische Kirche war dies gleichsam die Begründung, selbst in der Frage des Kampfes gegen das >Diktat von Versailles< aktiv zu werden. Zunächst regte der Kirchenausschuss dazu bei seinen Landeskirchen an, den 28. Juni mit einer entsprechenden Gedenkprozedur zu begleiten. So meldete schließlich das Mitteilungsblatt Gesetze, Verordnungen und Mitteilungen an die Kirchenvorstände und Geistlichen vom 14. Juni 1929, dass an dem » zehnjährigen Gedenktage der Unterzeichnung des Vertrages von Versailles« (NEKAb; folgende Zitate ebd.), der »als Trauertag gekennzeichnet werden soll«, folgende gedenkpraktische Instrumentarien von Seiten der Kirche arrangiert werden sollen: Die Kirchen sollten an diesem Tage offen gehalten und Trauerflor gehisst werden; um 15 Uhr, »der Stunde der Unterzeichnung des Diktats«, solle ein Trauergeläut veranlasst werden, am darauffolgenden Sonntag sei »in oder nach der Predigt des Tages zu gedenken und sodann die Erklärung des Deutschen Evangelischen Kirchausschusses (DEKA) auf den Kanzeln zu verlesen.« Ohne auf Einzelfalle einzugehen, wurde dieses Ansinnen durchaus in einer Reihe von Hamburger Gemeinden auch so umgesetzt. Bemerkenswert ist die Betonung des Charakters als Trauer-Gottesdienst: Auf staatlicher Ebene war es vermieden worden, diesem Tag einen institutionalisierten Anstrich dieser Art zu geben, ein entsprechender Antrag wurde im
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Reichstag abgelehnt. Die Kirche nun besetzte dieses politische Feld, das sie selbst jedoch als überpolitisch markierte- immerhin sei »von politischen Erörterungen in den Gottesdiensten abzusehen.« Trauer, wie bereits beschrieben, meinte also in diesem Fall nicht die Trauer um die Millionen von Kriegstoten und einen Beistand für die Familien, die Menschen verloren hatten; die Trauer galt der politischen Realität, verbunden mit dem Versuch, die Vision einerneuen Wirklichkeit zu offenbaren. Diese Wirklichkeit suchte ihren Bezugspunkt in der Vergangenheit. Beständig ist von einer »Revision« des Vertrages die Rede- und wie sollte eine solche vonstatten gehen, wenn nicht politisch? Zwischenbilanzierend ist an dieser Stelle zu sagen, dass ähnlich dem als überparteilich deklarierten Vorstoß eines Versailles-Gedenkens des Hamburger Aufklärungsausschusses die evangelische Kirche- als Landeskirche, aber auch in den einzelnen Gemeinden umgesetzt- dem Versailles-Gedenken einen vermeintlich nicht-kontroversen Gehalt zu geben suchte. Die Deutung des Versailler Vertrages sollte nicht im Bereich politischer Auslegungen liegen: Versailles galt ihr als Trauertag. Bemerkenswert ist dabei jedoch, dass Äußerungen kirchlicher Vertreter einen Umstand politischer Trauer postulierten und sich hiermit massiv aus einem individuellen Beistands-Verhältnis zu einzelnen Gemeindemitgliedern lösten. Problematisch war zudem die mit dieser Trauer verbundene Positivorientierung an einer Vergangenheit, die in der Gegenwart keinen Bestand mehr hatte. Nicht die Gegenwart entfaltete Kräfte, aus dem Dilemma von Versailles zu entfliehen, sondern die Vergangenheit. Konkretisiert werden die Tendenzen der bis hierhin skizzierten Haltungen nun abschließend bei einem Blick auf die Berichterstattung über das Gedenken in der Hamburger Presse.
Dissens statt postuliertem Konsens: Versailles und die Hamburger Presse Der Anschein von Einigkeit hinsichtlich der negativen Bewertung des Versailler Vertrages ist kennzeichnend für die Hamburger Presselandschaft des Jahres 1929. Es sind die beständig rekapitulierten Topoi, die mit dem Vertrag in Verbindung gebracht werden: »Kriegsschuldlüge«, »Trauertag«, >>Verbrechen, das im bürgerlichen Leben Erpressung genannt wird« (das liberal-bildungsbürgerliche Hamburger Fremdenblatt; HFB v. 19.6.1929 und 27.6. 1929), »Friedensdiktat« (die kommunistische Hamburger Volkszeitung; HVZ v. 10.6.1929), »tragischste Stunde der deutschen Geschichte« (das sozialdemokratische Hamburger Echo; HE v. 28.6.1929), »tragische[r] Gedenktag«, Tag der »tiefen Ohnmacht und Schmach« (der nationalliberale Hamburgischer Correspondent; HC v. 27.6.1929), »infames Lügengebäude«, »Unheilstag«, » Versailler Gewaltbetrug«, »Joch«, »Schanddiktat« und »Schmachdokument«, das Deutschland »in Sklavenketten« legt (die rechtsnational-konservativen Hamburger Nachrichten; HN v. 11.6.1929, 26.6.1929, 27.6.1929). Betrachtet man also zunächst nur diese Bewertung, so ist Wilhelm Mommsens Diagnose einer »Einheitsfront von Versailles« durchaus recht zu geben. Ebenso konsensual, so lässt sich aus den Artikeln ablesen, propagierte die Hamburger Presse den Aufruf, in Anbetracht des Gedenkanlasses >Einigkeit< walten zu lassen. Das Hamburger Fremdenblatt sah den Tag als
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Anlass für eine »Stunde kraftvoller, innerer nationaler Sammlung« und verstand ihn als »Tag der AufrutteJung des ganzen deutschen Volkes« (HFB v. 27.6. 1929). Vor dem Jahrestag sollten »alle Gegensätze der innenpolitischen Meinungen und Gruppen zurücktreten«, forderte der Harnburgische Correspondent (HC v. 26.6.1929) und die Hamburger Nachrichten postulierten: »Jeder, dem die Befreiung unseres Vaterlandes am Herzen liegt, wird aufgefordert, an einer der Hamburger Protestkundgebungen teilzunehmen« (HN v. 16.6. 1929). Ganz im sozialistischen Sinne richtete das Hamburger Echo seinen Fokus dabei nicht nur auf die Nation, sondern auf Europa: »Wir fordern, daß die einseitig diktierten Verträge von 1919 endlich die Umgestaltung finden, die zum Zusammenschluß Europas unerläßlich ist«, denn: »Die schweren Opfer, die die Kriegsteilnehmer aller Nationen getragen haben, sind umsonst gewesen, wenn es nicht gelingt, die Völker Europas zu einen. Dem hohen Ziel europäischer Demokratie müssen wir entscheidend näher kommen.« (HE, 26.6.1929) Wo aber nun findet sich der Streit? Bisher haben wir ja zunächst Einigkeit oder zumindest den Wunsch nach Einigung erlebt. Eine genauere Betrachtung der Zeitungsquellen ergibt, dass sich hinter der >Einheitsfront< durchaus Uneinigkeit verbarg. Ein Blick auf die in den jeweiligen Artikeln genannten Ursachen des Versailler Vertrages kann dies deutlich machen. In dieser doch entscheidenden Frage differierten die einzelnen Positionen gewaltig. Das sozialdemokratische Hamburger Echo ordnete die Verantwortung klar der alten Regierung zu, ein »blutbelecktes und bankerottes Regime von gestern«: Der Vertrag sei »jene Quittung« gewesen, »die der wahre Verantwortliche durch seine Flucht nach Holland einzulösen zu feige war.« (HE, 26.6.1929). Auch die kommunistische Volkszeitung machte deutsches Kriegstreiben verantwortlich: »Die geplante Kundgebung des Bürgertums gegen Versailles«, schrieb sie am 10. Juni mit wütend-aufklärerischem Impetus, »ist dazu noch eine elende Heuchelei. Die Vertreter dieser Parteien waren es, die durch ihre chauvinistische Kriegspolitik, durch den Gewaltfrieden von Brest-Litowsk, den Geist von Versailles heraufbeschworen.« (HVZ, 10.6.1929) Vor diesem Hintergrund kritisieren beide Zeitungen massiv auch jenen »Kriegsschuldrummel« des Gedenkens: »Dieser Tag wird von der deutschen Bourgeoisie genutzt, um in anderer Art die Kriegsschuldlüge neu aufzuwerfen und imperialistischen Kriegstendenzen zu huldigen«. Wie anders dagegen klingen Äußerungen der bürgerlichen Presse: Das Hamburger Fremdenblatt wich nicht vom Standpunkt ab, dass »die Unterschrift Deutschlands damals erpreßt worden ist, daß im Grundstein jenes Gebäudes, das Friedensvertrag genannt wurde, eine Lüge eingemauert worden ist.« (HFB v. 27.6.1929) Die Hamburger Nachrichten ordnen der Entente, den »Totengräbern des Deutschen Reiches« (HN v. 27.6.1929), die Schuld zu. Und auch der Harnburgische Correspondent sieht keinen Zusammenhang zwischen >Versailles< und dem Handeln der Deutschen. Versailles hätte seine Ursachen allein in einer Siegerjustiz: »Eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, ein System zur dauernden Beherrschung und Niederhaltung Deutschlands ist der Versailler Vertrag, erberuht auf einem Wortbruch und er sollte den >Siegern< das mühelos in die Arme treiben, was der Krieg ihnen schuldig geblieben war.« (HC v. 26.6.1929) Auch hinsichtlich der politischen Forderungen, die an die Regierung zur »Beseitigung« der Vertragswirkungen oder aber einer vermeintlichen Aussöhnung gestellt werden, differieren die einzelnen Positionen erheblich.
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Ein kalter Krieg auf dem •Schlachtfeld Erinnerung< Es ist eine Reihe von Ergebnissen, die nunmehr als Gesamtschau zusammengefasst werden können. Zunächst offenbart ein Blick auf die mediale Thematisierung des Gedenkanlasses >VersaillesSchlachtfeld Erinnerung< ein kalter Krieg tobte: Zwar ist partiell vermutlich tatsächlich von einer >Einheitsfront< von Versailles zu sprechen, jedoch wird klar, dass der Tag in seinem Kern kontrovers war. Mit anderen Worten: Es gab einen Konsens, jedoch erstreckte sich dieser nicht auf die gesamte Bedeutungstiefe des Gedenkanlasses Versailles. Diese kontroversen Inhalte wurden in der eigentlichen Gedenktagspraxis nicht thematisiert. Weder finden sich in den ausgewerteten Pressedarstellungen Auseinandersetzungen mit konträren Positionen noch gab es entsprechende Hinweise in den tatsächlich stattgefundenen Veranstaltungen. Eine tatsächliche Kommunikation, ein Austausch über verschiedene Positionen oder gar der Versuch einer Konsensfindung hierüber fand nicht statt. Der Diskurs über Deutungen von Vergangenern und die Orientierungen für die Zukunft erstickte sich selbst im Keim, der Wunsch nach einer die Differenz überdeckenden >Überparteilichkeit< war stärker. Die Erinnerung an Versailles war deshalb weder getragen von einer Auseinandersetzung mit der Frage nach der Kriegsschuld noch beinhaltete sie den Versuch einer retrospektiven Fehleranalyse, wenngleich es durchaus Gruppierungen gab, die derartige Fragen grundsätzlich hätten stellen können. Der Streit um die Vergangenheit entpuppte sich damit als Un-Streit, dem es an einer kommunikativen Basis fehlte. Von staatlicher Seite wurde Engagement in dieser erinnerungskulturellen Frage vermieden- ein Fehler, denn von dieser Seite hätten durchaus Impulse gegeben werden können, die sowohl integrativer, legitimatorischer wie auch identifikatorischer Art hätten sein können. Streit sollte vermieden werden, da seine Eskalation und eine destabilisierende Wirkung befürchtet wurde. Unabhängig von einer Einschätzung, wie berechtigt diese Annahme war, zeigt sich doch auch, dass eine im Rahmen des gesellschaftlichen Pluralismus durchaus notwendige Auseinandersetzung um Positionen keine positive Zielvorstellung, sondern mit Ängsten aufgeladen war. Der Raum für eine erinnerungskulturelle Debatte war nicht abgesteckt und wurde daher nicht genutzt; Spielregeln der Auseinandersetzung gab es ebenso wenig- und die Chancen der stabilisierenden Wirkung, die eine aktive, wenn auch umkämpfte Vergangenheit hat, verfielen deshalb ungenutzt. Versailles und die deutsche Entwicklung im Rahmen der hier getroffenen Vereinbarungen entpuppte sich damit als etwas fundamental anderes als der von John R. Gillis für die Amerikaner und Franzosen beschriebene »Cult of new beginnings« (vgl. Gillis 1994), den ideologisch motivierten Wunsch, einen Bruch mit der Vergangenheit zu vollziehen: »Teilnehmer der amerikanischen wie auch der französischen Revolution sahen sich am Beginn einer neuen Ära stehend, sie schufen einen >Kult des neuen Anfangstrotz< Versailles, wurde nicht versucht. Versailles galt nicht als der Beginn einer neuen Entwicklung, sondern als das Ende einer alten, mit der eine entstehende Zivilgesellschaft noch nicht gebrochen hatte. Die Erinnerung an Versailles evozierte Reichs-Sehnsüchte eben »als Gegenbild zur staatlichen Wirklichkeit« sei jener Reichsgedanke, so Sontheimer (1968: 223ff.), vielleicht gar der Weimarer Republik »wirksamste Antithese« gewesen, da sich unter seinem Dach verschiedenste politische Gruppierungen zusammenfinden konnten- wie dies ja auch in Harnburg der Fall war. Der Wunsch nach Einigkeit in einer doch so uneinigen Gesellschaft war offenbar so groß, dass der Konsens selbst verordnet, nicht jedoch diskursiv gefunden wurde. Und hierin besteht das Problem: Die Unvereinbarkeit der Positionen wurde zwar geduldet, nicht jedoch als Ergebnis einer Kontroverse über deren tatsächliche Unüberwindbarkeit tatsächlich akzeptiert. Einvernehmen bestand in einer Ablehnung von Versailles und einem konsensual vorgetragenen Begehren nach Revision des Vertrages ( vgl. Salewski 1980); eine offene Auseinandersetzung über Erreichtes oder noch Un-Erreichtes kam nicht zustande. Obwohl diese kontrafaktische Option nicht unbedingt eine dem Historiker gut zu Gesicht stehende ist, gibt es Hinweise, die vermuten lassen: Die Versailles-Erinnerung hätte hier eine Schlüsselposition einnehmen können. Insbesondere in einer engen Zusammenschau mit Ereignissen wie Verfassungs- oder Revolutionstag hätten diesbezüglich Möglichkeiten bestanden. Tragischerweise, so ist fast zu sagen, konnte sich dieses Potential jedoch nicht im Sinne einer die Nation verbindenden nationalen Trostformel entfalten. Stets galt die Niederlage als Manko des neuen (nicht jedoch des alten) Regimes, wenngleich in diesem Zusammenhang Wolfgang Schivelbusch durchaus rechtzugeben ist, dass in Deutschland - ganz anders als in Frankreich - eine Parade von Niederlagen im Sinne eine revolutionär-republikanischen Tradition wohl nicht in Frage kam (Schivelbusch 2001 : 236ff.). Einzuwenden dagegen wäre: Dass Positionen über Identifikationsinhalte in Weimar unvereinbar waren- wie gegebenenfalls auch der Streit um einen Nationalfeiertag zeigt -, haben andere Beispiele der Zeit gezeigt, vor deren Hintergrund auch Versailles zu betrachten ist. Und dennoch: Dass eine Auseinandersetzung, ein Streit um die Deutung jener so entscheidenden Situation von Versailles ausgeblieben ist und von einem Schein-Konsens erstickt wurde, kann nicht konstruktiv gewesen sein. Im Gegenteil: Die unvereinbaren Positionen wurden so zementiert, deren Auflösung rückte dadurch in unerreichbare Ferne. Ein Streit, mutiger, agiler und ergebnisoffen, möglicherweise von staatlichen Akteuren angestoßen und mitgetragen, hätte mutmaßlich nichts an der insgesamt prekären Situation der Weimarer Republik geändert. Jedoch hätte er den Blick schärfen können, die traditions-, Iegitimations- und identitätsstiftende Kraft historischer Ereignisse nachhaltiger zu nutzen.
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Siglen HC HFB HE HN HVZ
Hamburgischer Correspondent Hamburger Fremdenblatt Hamburger Echo Hamburger Nachrichten Hamburger Volkszeitung
Quellen NEKAa = Erklärung des Deutscher Evangelischer Kirchenausschuss zur zehnjährigen Wiederkehr des Versailler Diktats, gez. Dr. Kapler, 1. Juni 1929. In: Nordelbisches Kirchenarchiv, Bestand 32.01, Nr. 2179. NEKAb = Gesetze, Verordnungen und Mitteilungen aus der Harnburgischen Kirche, 14. Juni 1929. In: Nordelbisches Kirchenarchiv, 32.01, Akte 2179. StAHHa =Hans Draeger an Max Horndasch von der Kölnischen Volkszeitung, 6.11.1928. Dieses Schreiben ist einem Schreiben beigefügt, das Johannsen vom Aufldärungs-Ausschuss Harnburg am 8.11.1928 an Dr. Lindemann von der Staatlichen Pressestelle der Hamburger Senatskanzlei richtete. Staatsarchiv Hamburg, Senatskanzlei, Präsidialabteilung 1928 A 153. StAHHb =Der Hamburger Bürgermeister Carl Petersen an den Oberbürgermeister von Berlin, Gustav Böss, 2.1.1928. Staatsarchiv Hamburg, Senatskanzlei, Präsidialabteilung 1928 A 153. StAHHc = Der Oberbürgermeister von Berlin, Gustav Böss an den Hamburger Bürgermeister Carl Petersen, 8.1.1929. Staatsarchiv Hamburg, Senatskanzlei, Präsidialabteilung 1928 A 153. StAHHd = Deutscher Städtetag an Mitgliedstädte, 24.5.1929. Staatsarchiv Hamburg, Senatskanzlei, Präsidialabteilung 1928 A 153. StAHHe = Fernspruch der Harnburgischen Gesandtschaft in Berlin an den Hamburger Bürgermeister Petersen, 1.6.1929. Staatsarchiv Hamburg, Senatskanzlei, Präsidialabteilung 1928 A 153. StAHHf = Amtliche Kundgebung der Reichsregierung, 10.6.1929. Staatsarchiv Hamburg, Senatskanzlei, Präsidialabteilung 1928 A 153. StAHHg = 19. Sitzung der Bürgerschaft, 5.6.1929. Stenographische Berichte über die Sitzungen der Bürgerschaft zu Harnburg im Jahre 1929. Harnburg [1929], S. 757-781, hier: S. 761. StAHHh = 19. Sitzung der Bürgerschaft, 5.6.1929. Stenographische Berichte über die Sitzungen der Bürgerschaft zu Harnburg im Jahre 1929. Harnburg [1929], S. 757-781. VvDN = Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung. Band 326. Stenographische Berichte. Von der 27. Sitzung vom 13. März 1919 bis zur 52. Sitzung am 9. Juli 1919. Berlin 1920,39. Sitzung, 12.5.1919, S. 1081-1084.
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Literatur Allain, Jean-Claude (1996): »Das Schloß von Versailles«. In: Horst Möller/ Jacques Morizet (Hg.), Franzosen und Deutsche. Orte der gemeinsamen Geschichte, München: Beck, S. 59-77. Bariety, Jacques (1995): »Das Deutsche Reich im französischen Urteil«. In: Klaus Hildebrand (Hg.), Das Deutsche Reich im Urteil der Großen Mächte und europäischen Nachbarn (1871-1945), München: Oldenbourg, S. 203-218. Bock, Nikola (1991): Pazifismus zwischen Anpassung und >freier Ordnung»Nicht alles ist möglich.< Es gibt also Grenzen. Kultur ist immer eine Grenzfrage, ein Herstellen von Grenzen, ein Übertreten oder Unterlaufen von Grenzen.« (Eßbach 1996: 75) Kultur als Grenzfrage gibt somit zunächst einen gewissen Handlungsrahmen, eine Orientierungshilfe vor. Gleichzeitig impliziert ein solches Kulturverständnis die Vorstellung, dass der Rahmen überschritten, dass über ihn verhandelt und er dadurch verändert werden kann. Das Innen der Kultur konstituiert sich durch das Wissen über das es umgebende Außen als Möglichkeitsraum. Es handelt sich bei Kultur daher um ein zugleich Vertrautheit herausbildendes wie auch zum Schritt ins Neuland einladendes Konstrukt. Ausgehend von der im Inneren herausgebildeten Identität gilt es, die Differenzen im Außen zu entdecken. Eine so verstandene Kultur führt auf zwei Ebenen zum Begriff des Streits. Denn Streit kann zum einen zwischen denjenigen, die in der Vertrautheit verbleiben wollen, und denjenigen, die Neugier oder Unzufriedenheit über die Grenze schauen oder gar treten lässt, entstehen. Zum anderen kann auch zwischen mehreren Grenzüberschreitern die Frage danach, welche Grenze in welcher Richtung zu welchem Zweck überschritten werden soll, zu Auseinandersetzungen fUhren. Die Grenzfrage als Kernelement von Kultur manifestiert sich im Streit darüber, was Kultur ist oder sein kann. Streit macht Grenzen sichtbar und führt so ein selbstreflexives Element ein. Im Streit wird der abstrakte Möglichkeitsraum des Außen transformiert in das konkrete Aufeinandertreffen verschiedener Ziele und Mittel, um deren Umsetzung und Verwirklichung im Inneren gerungen wird. Die im >Nicht alles ist möglich< zum Ausdruck kommende Regelhaftigkeit von Kultur wird vom Streit ergänzt um die Erfahrung der Kontingenz, dass etwas »SO, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist« (Luhmann 1987: 152). Streit schärft den Blick für Alternativen jenseits der Grenzen, auf den »Horizont möglicher Abwandlungen« (ebd.) und macht somit Kultur deutlich. Streit ermöglicht es, Kultur nicht zwangsläufig mit dem Begriff der Identität verknüpfen zu müssen, sondern sie vielmehr über die Entdeckung der Differenz greifbar zu machen (vgl.
98 I MAx ÜRLICH Eßbach 1996: 76). Einem so verstandenen Kulturbegriff ist stets der Aspekt des Vergleichs eingeschrieben. Nur dadurch, dass etwas anderes als Kultur aufgefaßt wird, nur durch den Blick über die Grenze, ist es möglich, auch das Eigene als Kultur zu konzipieren. 1 Doch dem Streit selbst sind, wie der Kultur, Beschränkungen auferlegt. Auch er benötigt einen Rahmen, der vorgibt, wer mit wem wann streiten darf und über welche Themen. Zudem müssen Regeln bezüglich des Streitverlaufs anerkannt werden - nicht zuletzt, um den Streit auch wiederbeenden zu können. Gerade im Streit über Streit werden die Regelungsmechanismen deutlich und zugleich problematisiert. Streit bringt nicht nur die Grenzen der Kultur zum Vorschein, sondern auch die eigenen. Streit und Kultur sind somit beide charakterisiert durch die Verknüpfung eines Moments der Bewegung und der Stillstellung, durch die Kombination von Grenzüberschreitung und Einhegung. Der Streit ist sowohl ein wichtiger Aspekt als auch eine spezifische Form von Kultur. Streit und Kultur, aber auch Streit als Kultur in Form des Wechselspiels von Grenzüberschreitung und Einhegung sollen im Folgenden am Beispiel der im 20. Jahrhundert auf- und abtauchenden künstlerischen Avantgarden analysiert werden. Bei diesen ist eine besonders spannende Ausprägung von Streitkultur zu erkennen, die sowohl ft.ir den Aspekt des Streits als auch ft.ir denjenigen der Kultur aufschlussreich ist. Denn es handelt sich hier um komplexe und miteinander verwobene Streitstrukturen, innerhalb derer verschiedene Grenzen sichtbar gemacht und Modelle der Überschreitung entwickelt werden, unterschiedliche Streitgegner die Szene betreten und diverse Streitformen praktiziert werden und in deren Rahmen nicht zuletzt auch die Streitkultur selbst in einer Kultur des Streits thematisiert wird. Die Avantgarden und ihre Streitkultur zeigen somit nicht nur Grenzen von Kultur auf, sondern auch diejenigen des Streits gegen Kultur und Grenzen des Streits an sich. Und sie machen - ausgehend von der These der Streitkultur als Kultur der Avantgarde- auch die Grenzen des >Modells Avantgarde< deutlich. Zur Untersuchung dieser avantgardistischen Streitkultur(en) gilt es nach knappen Vorüberlegungen zum Zusammenhang von Avantgarde und Streitkultur -, zunächst einige Anmerkungen zur Soziologie des Streits sowie zum Begriff der Avantgarde zu machen, um so die Leitfragen nach den Formen, den Entstehungs- und Beendigungsmöglichkeiten sowie nach der Funktion avantgardistischer Streitkultur zu entwickeln. Diese ist dann im weiteren
Siehe hierzu auch ausfiihrlicher Luhmanns Anmerkungen zum Begriff der Kultur (vgl. Luhmann 1995). Kultur als Beobachtung zweiter Ordnung setzt bei Luhmann am Übergang vom 17. zum 18. Jahrhunde1i ein und bildet somit bezüglich grundsätzlicher Funktionsweisen das Modell fiir das sich Ende des 18. Jahrhunderts ausdifferenzierende Kunstsystem (vgl. Luhmann 1997: 213f.). Sowohl Kunst als auch Kultur arbeiten dabei mit (regionalen und historischen) Vergleichen und verdeutlichen so das bereits im Begriff bzw. im Konzept enthaltene Moment der Kontingenz. Hiermit setzt zudem das ein, was man mit Luhmann als die moderne Semantik von Kultur bezeichnen könnte: Während vor der Sattelzeit Kultur als das angesehen wurde, was man selbst hat, die anderen, die >Barbaren< jedoch nicht, wird nun die Semantik der Kultur zu einer Semantik des Vergleichs. Die eigene Kultur wird dadurch greifbar, dass man auch den anderen Kultur zuschreibt und auf dieser Basis Vergleiche möglich werden.
STREITLUST UND STREITKULTUR DER AVANTGARDEN
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Verlauf des vorliegenden Beitrags an vier verschiedenen Ebenen avantgardistischer Streitkultur zu explizieren und zu analysieren.
I. Streit und Avantgarde In welcher Verbindung stehen nun die Avantgarden 2 zu den skizzierten Dimensionen einer Streitkultur? Warum sind sie ein interessanter Gegenstand zur Analyse des Streits? Zentral ist hierbei der Aspekt der Bewegung, der Grenzüberschreitung, der für die Avantgarde kennzeichnend ist. Avantgarden versuchen, der Kultur streitend ihre Grenzen aufzuzeigen. Kultur ist dabei einerseits der Rahmen, in dem sich Avantgarden herausbilden, andererseits zugleich ihr Gegner wie auch das Objekt ihres Streitens. Durch den Streit mit seiner Doppelfunktion von Anknüpfung und Abgrenzung positioniert sich die Avantgarde außerhalb der bestehenden Grenzen, ohne jedoch den Kontakt abreißen zu lassen, und versucht, so die Grenzen der Kultur aufzuheben. Gleichzeitig entwickelt die Avantgarde stets neue Streitformen, streitet also auch über den Streit bzw. hinterfragt dessen Regelung. Die Avantgarde streitet nicht nur mit oder über Kultur, sondern auch mit der bis dato etablierten Streitkultur. Das avant der Avantgarde steht für die Bewegung des Überschreitens oder Einreißens von Grenzen. Doch so wie der Streit seine Grenzen hat, so gilt dies auch für das Aktionspotential der Avantgarden, nicht zuletzt, wenn sie mit der Einhegungstendenz der Kultur konfrontiert werden, die aus der radikalen Grenzüberschreitung der Avantgarde nur allzu gern eine graduelle Grenzverschiebung macht, das Voranlaufen also durch die eigene Bewegung einholt. Bei der Avantgarde sind somit, genau wie bei Streit und Kultur, die zwei miteinander ringenden Aspekte von Bewegung und Stillstellung, von Grenzüberschreitung und Grenzziehung erkennbar. Streit und Streit über Streitkultur werden zur Kultur der Avantgarde.
I. 1 Die Soziologie des Streits Auch wenn im Folgenden nicht mit einem a priori definierten Streitbegriff an die Avantgarden herangetreten werden soll, sind vorab einige Anmerkungen zu den zentralen Begriffen des Streits bzw. des Konflikts notwendig, wie sie in der Soziologie zu finden sind. Abgesehen von den grundlegenden Überlegungen bei Georg Simmel (vgl. Simmel 2001) ist sowohl in der Soziologie als auch in der Sozialpsychologie der Begriff des Konflikts weitaus häufiger
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Während im weiteren Verlauf des vorliegenden Beitrags die künstlerischen Avantgarden im Mittelpunkt stehen werden (vgl. hierzu weiter unten Abschnitt J.2), lassen sich die folgenden Vorüberlegungen auf ein allgemeineres Verständnis von Avantgarde anwenden, das auch die politischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts mit einschließt. Dies sollte jedoch nicht zu einer allzu strikten Gegenüberstellung von politischen und künstle1;schen Avantgarden führen, da sich vor allem im 20. Jahrhundert die künstlerischen Avantgarden gerade durch ihre politischen Ambitionen bzw. durch den Versuch einer engen Verzahnung von Kunst und Politik (vgl. Hecken 2006: llff. und Rasmussen 2004) bzw. Kunst und Leben (vgl. Kiwitz 1986: 40ff.) auszeichnen.
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zu finden als derjenige des Streits. 3 Dies wird bereits bei Lewis Coser deutlich (vgl. Coser 1967; Coser 1972), der zwar eng an Simmel anknüpft und zentrale Aspekte im Rahmen seiner funktionalistischen Theorieausrichtung fortführt, aber dabei aus der Streit- wieder eine Konflikttheorie macht. Häufig werden die beiden Begriffe jedoch synonym verwendet. Wollte man sie strikt auseinander halten, wäre für die vorliegenden Ausführungen das entscheidende Differenzkriterium die Frage nach der Gewaltsamkeit: Wenn auch alles andere als friedlich, so ist Streit mit Blick auf die Avantgarde als eine von körperlicher Gewalt freie Auseinandersetzung, als wechselseitige Provokation, als Diskussion oder als Debatte aufzufassen. Demgegenüber steht im Konflikt die Anwendung von körperlicher Gewalt zumindest als Option zur Verfügung. Während Streit bei Simmel als Oberbegriff für verschiedene antagonistische Verhaltensweisen wie Kampf, Konflikt, Konkurrenz etc. eingeführt wird, ist Streit hier ein engerer Begriff als Konflikt, wobei er zugleich verschiedene Äußerungsformen der Auseinandersetzung wie Diskussion und Debatte, Provokation und Konkurrenz umfasst. Eine solche Abgrenzung des Streits gegenüber dem Konflikt und anderen Arten der Auseinandersetzung bezieht sich also primär auf die Austragungsformen und Regelungsmechanismen. Um innerhalb des Streits verschiedene Typen skizzieren zu können, ist es hilfreich, den Blick zunächst auf die Akteure zu richten. Hier lässt sich zwischen dem Streit zwischen zwei Personen, innerhalb einer Gruppe und zwischen Gruppen unterscheiden. Für den Streit innerhalb einer Gruppe findet sich bei Coser die hilfreiche Abgrenzung zwischen gemeinschaftlichen und nicht-gemeinschaftlichen Konflikten (vgl. Coser 1972: 86ff.). Beim gemeinschaftlichen Streit geht es um Fragen und Themen, die den Grundzusammenhalt der Gruppe nicht in Frage stellen: Der Gruppenzusammenhalt ist in diesem Falle stärker als die durch den Streit entstehenden zentrifugalen Kräfte. Beim nicht-gemeinschaftlichen Streit hingegen werden genau diese grundlegenden Aspekte des Gruppenzusammenhalts zur Disposition gestellt. Eine weitere Binnendifferenzierung des Streits ergibt sich, wenn man die Objekte oder Inhalte, um die gestritten wird, in den Mittelpunkt rückt, wie dies - wenn auch wieder im Rahmen der Konflikttheorie - bei der Unterscheidung zwischen Interessenkonflikt, Machtkonflikt und Wertkonflikt oder zwischen Sachkonflikt, Beziehungskonflikt und Machtkonflikt (vgl. Messmer 2003) der Fall ist. Des Weiteren kann die Frage gestellt werden, ob um Mittel oder um Ziele gestritten wird, um so zwischen Zielkonflikt und Mittelkonflikt zu differenzieren (vgl. Wasmuth 1996). In diesem Zusammenhang ist zudem zu überlegen, ob es sich beim Streit selbst um ein Mittel oder einen Zweck handelt, ob es also ein außerhalb des Streits liegendes Objekt gibt oder ob der Streit nicht vielmehr auch Selbstzweck sein kann.4
3
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Siehe zu dieser >Konfliktaffinität und Streitblindheit< der Soziologie sowie zu einer ausgearbeiteteren Streitdefinition den Beitrag von Youssef Dennaoui und Daniel Witte im vorliegenden Band. Der Streit als Selbstzweck spielt gerade bei Auseinandersetzungen innerhalb einer Gruppe eine wichtige Rolle. Nicht nur die Tatsache, dass der Streit, solange er andauert, dafiir sorgt, dass die Mitglieder miteinander im Austausch und somit in Verbindung stehen, ist dabei von Bedeutung, sondern vor allem der Aspekt, dass im Streit miteinander die Frage nach der Gruppenidentität, nach ihrem Zusammenhalt stets aktualisiert und neu ausgehandelt wird. Streit als
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Neben diesen Typologien muss jedoch der Streit selbst als Situation und Interaktion5 in den Blick genommen und sein Prozess-Charakter herausgearbeitet werden. Zentral hierbei ist die Frage nach verschiedenen Phasen des Streits, nach den ihn vorab bestimmenden oder auch erst in seinem Verlauf herausgearbeiteten bzw. modifizierten Regeln, nach Logiken der Beschränkung und der Ausweitung des Streits, nach typischen Streitanfängen ebenso wie nach Mechanismen zu seiner Beendigung sowie nach der für viele dieser Aspekte wichtigen Figur des Dritten. Vor allem jedoch ist nach den Folgen des Streits zu fragen, nach seiner Wirkung auf die Streitenden und ihr Umfeld. Ist Streit als produktiver oder als lähmender- gar destruktiver- Faktor aufzufassen? Schafft er soziale Verbindungen oder beendet er sie? Ohne diese Fragen vorab beantworten zu wollen, soll doch abschließend das alltagssprachlich weit verbreitete negative Verständnis des Streits als destruktiver und daher zu vermeidender Form der Interaktion in Frage gestellt werden. Demgegenüber betont Simmel - aber auch Coser- die produktive bzw. funktionale Seite des Streits: »[D]ie Gesellschaft [braucht] irgend ein quantitatives Verhältnis von Harmonie und Disharmonie, Assoziation und Konkunenz, Gunst und Mißgunst, um zu einer bestimmten Gestaltung zu gelangen. [... ] [D]ie Gesellschaft, wie sie gegeben ist, ist das Resultat beider Kategorien von Wechselwirkungen, die insofern beide völlig positiv auftreten« (Sirnmel200 1: 286). Diese komplexe Funktionslogik von Verbinden und Trennen, von Zentrifugal- und Zentripetalkräften des Streits, von Streitauslösern und Streitbeendigung wird im Folgenden an den Avantgarden zu explizieren sein.
1.2 Der Begriff der Avantgarde Das 20. Jahrhundert lässt sich im Bereich der Politik - aber noch deutlicher in dem der Kunst - als Jahrhundert der Avantgarden bezeichnen. Wenn hier von Avantgarde gesprochen wird, ist der erste Bezugspunkt dabei der Begriff der >historischen AvantgardenWir streiten- also sind wirhistorische Avantgarden< beigetragen haben (vgl. Bürger 1974).
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Avantgardebegriff in die Gegenwart hinein zu erweitern, also auch Gruppen einzuschließen, die nach dem 2. Weltkrieg entstehen. Zu denken wäre hierbei u.a. an CoBrA sowie die Lettristische Internationale (im Folgenden: L.I.) und die Situationistische Internationale (im Folgenden: S.I.). Der Begriff der >Avantgarde< (vgl. Barck 2000; Böhringer 1978; Enzensberger 1976: 57f.; Mann 1991: 7ff.) entstammt ursprünglich dem militärischen Vokabular und bezeichnet eine Vorhut vor dem eigentlichen Heer. »Die Avantgarde sicherte den Marsch, indem sie den Feind suchte, seine Bewegungen rechtzeitig aufklärte, ihm die eigenen verschleierte und so lange hinhaltenden Widerstand leistete, bis die eigenen Truppen gefechtsbereit geworden waren« (Böhringer 1978: 90). Die Avantgarde ist Ttir das Heer tätig, diesem zugehörig und von diesem abhängig. Sie kann zudem zur Deckung des Rückzugs eingesetzt und so zur Arri/?!regarde werden (vgl. ebd.: 91 ). Dieser militärische Avantgardebegriff lässt sich nur zum Teil auf die hier im Mittelpunkt stehenden künstlerischen Avantgarden übertragen: Denn auch wenn das Vorauslaufen und die Konzeption als kleine und bewegliche Einheit für die künstlerischen Avantgarden eine zutreffende Beschreibung sein mag, so entfällt die ebenso wichtige Funktion der Arrieregarde bei den Künstlergruppen: Ganz im Gegenteil wird bereits das Eingeholt-Werden hier als so lange wie möglich aufzuschiebendes Problem thematisiert. Doch es ergibt sich noch eine zweite Differenz: Im militärischen Sinne ist die Avantgarde Teil des Heers und hat kein eigenständiges Ziel. Genau ein solches Abhängigkeitsverhältnis jedoch lehnen die künstlerischen Avantgarden strikt ab. Sie integrieren sich nicht in die Institution Kunst, sondern grenzen sich ab; sie agieren nicht für die bestehende Gesellschaft, sondern gegen sie; sie haben kein von einer übergeordneten Einheit vorgegebenes Ziel, sondern entwickeln dieses, meist gerade gegen diese Einheit, selbst. 7 Zudem basiert der militärische Avantgardebegriff auf einer räumlichen Konzeption von Vorwärts und Rückwärts. Diese wird bei den künstlerischen Avantgarden auf die zeitliche Struktur von Voraus und Nachfolgend übertragen. Die Künstlergruppen erheben den Anspruch, ihrem Umfeld zeitlich und dabei meist in Form einer Idee voraus zu sein. 8 Dieses Verhältnis der Avantgarden zur Zeit ist jedoch ein paradoxes und der Versuch, diese Paradoxie aufzulösen, führt schließlich zu dem Verhalten, das als typisch avantgardistisch bezeichnet werden kann: »Die Avantgarde beansprucht, der eigenen 7
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Dieses Sich-Abgrenzen lässt sich allerdings selbst wieder als Abhängigkeitsverhältnis lesen, da stets zu fragen ist, wieviel dessen, womit gebrochen wird, in diesem Bruch wiedemm mitgeführt wird. Denn der Zustand, gegen den ein Bruch vollzogen werden soll, muss immer als Umwelt dieses Bruchs gesehen werden. Die Beschaffenheit und Position der Grenze, die überschritten werden soll, hat stets einen Einfluss auf eben diese Überschreitung. Mit Blick auf die Sphäre der Kunst lässt sich deren Funktionsweise daher nur über den Zusammenhang von Norm und Bmch, von Grenze und Überschreitung verstehen: »Defining itself and then escaping from its own definition« (Henri Focillon zitielt n. Luhmann 1997: 337). Festzuhalten bleibt aber, dass dieses Abhängigkeitsverhältnis einem anderen Organisationsprinzip bzw. einer anderen Funktionslogik folgt als das zwischen der militärischen Avantgarde und dem Heer. Gerhard Plumpe verweist diesbezüglich auf den Sonderfall des Anfang des 20. Jahrhunderts zu beobachtenden >Revolutionstourismus< aus Westeuropa nach Russland: Hier wird der Zeitvorspmng des revolutionären Russlands gegenüber dem Rest Europas wiedemm räumlich erfahrbar gemacht, »man überschreitet im Raum eine Zeitgrenze« (Plumpe 200 1: 9).
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Zeit voraus zu sein. Da aber auch sie nicht in der Zukunft handeln kann, läuft dies praktisch darauf hinaus, in der gemeinsamen Gegenwart sich zu distanzieren, zu kritisieren, zu polemisieren« (Luhmann 1997: 467). 9
1.3 Streitkultur der Avantgarde Vor diesem Hintergrund sind nun die künstlerischen Avantgarden auf ihre Streitkultur hin zu untersuchen. Denn trotz aller Unterschiede im Hinblick auf ihre jeweiligen Ziele und auf den kulturellen Kontext, in dem sie entstehen- eines scheint beinahe allen Avantgarden des 20. Jahrhunderts gemeinsam zu sein: die ausgeprägte Streitkultur. Von DADA und dem Surrealismus über CoBrA und die Lettristen bis zur S.I., gestritten wurde viel, vielfältig und - so scheint es - häufig auch sehr gern. Dabei können folgende Fragen als erste Orientierung dienen: • • •
Welche Formen des Streits sind im Bereich der Avantgarde im Einzelnen zu erkennen? Wie entsteht Streit und wann kann er als beendet angesehen werden? Lässt sich dem Streit eine besondere Funktion im Kontext der Avantgarden zuschreiben?
Bei der Untersuchung dieser Aspekte sind vier verschiedene Formen bzw. Felder des Streits in Betracht zu ziehen. Erstens ist dies der Streit bzw. die Auseinandersetzung zwischen der Avantgarde und ihrem zeitgenössischen gesellschaftlichen Umfeld. Zweitens der Streit zwischen verschiedenen Generationen der Avantgarde. Drittens die Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb einer Generation der Avantgarde und viertens schließlich der Streit, der innerhalb einer Avantgardegruppe zu beobachten ist. Dabei lassen sich die drei erstgenannten Ebenen als Streit zwischen mehr oder weniger klar definierbaren Gruppen von der letzten als Streit innerhalb einer Gruppe unterscheiden. Nicht zuletzt aufgrund dieser Vielfalt der Streitformen und -ebenen ist eine vorangestellte enge Definition des Streits der Untersuchung eher hinderlich. Vielmehr ist es gerade das Ziel der vorliegenden Ausführungen, herauszuarbeiten, was avantgardistischer Streit ist, in welchen Formen er auftritt und welche Funktionen er erfüllt.
II. Avantgardistisch Streiten
II. 1 Streit als Kunst- und Gesellschaftskritik Die künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts zeichnen sich durch ihre Opposition zu der sie umgebenden Gesellschaft aus. Sie befinden sich mit 9
Auch Enzensberger verweist auf die zeitlichen Paradoxien des Avantgardebegriffs: »Mitgedacht ist in ihr [der Avantgarde-Metapher; M.O.] die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen: Vorläufer und Nachzügler sind in jedem Augenblick des Prozesses zugleich anwesend. Äußere und innere Zeitgenossenschaft fallen auseinander. Das en avant der Avantgarde möchte gleichsam Zukunft im Gegenwärtigen verwirklichen, dem Gang der Geschichte vorgreifen« (Enzensberger 1976: 58f.; Herv. i. Orig.).
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verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen im Widerspruch und kritisieren diese dementsprechend deutlich. Anders als ein Streit zwischen konkreten Gruppen oder zwischen zwei Personen ist diese Ebene der Auseinandersetzung eher indirekt, da der >Gegner< der Avantgarde diffus bleibt. Die Auseinandersetzungen haben daher nicht die Form von Debatte oder Diskussion, sondern lassen sich besser unter dem Begriffspaar von avantgardistischer Provokation und gesellschaftlicher Reaktion fassen. Sowohl die Provokationen der Avantgarde als auch die gesellschaftliche Reaktionen können dabei sehr unterschiedliche Formen annehmen. Auf dem Feld der Kunst sind z.B. bei DADA zwei Strategien erkennbar, diebeidedie bisherige Auffassung des Kunstwerks ebenso wie diejenige des Künstlers als individuell schöpferischem Genie radikal in Frage stellen. Zu denken wäre hierbei zum einen an die Ready-Mades von Duchamp, die zwar noch materielle Gestalt, aber mit dem klassischen Kunstwerk nicht mehr viel zu tun haben. 10 Zum anderen findet sich die Vorgehensweise, überhaupt keine materiell greifbaren Kunstwerke mehr herzustellen, sondern sich auf Aktionen und Provokationen wie im Cabaret Voltaire in Zürich zu konzentrieren. Hier steht die direkte Konfrontation mit dem Publikum im Mittelpunkt. Beide Arten des Bruchs mit bisher gültigen Kunstauffassungen rufen auf Seiten der Gegner (Kunstkritiker, Publikum, Museen) als Reaktion zunächst entweder Ablehnung oder Widerstand hervor. Die vertretenen Positionen liegen so weit auseinander, dass zunächst kein Kompromiss möglich erscheint. Doch genau dieser bildet sich in der Folgezeit durch die Beschäftigung mit dem Neuen und dem damit verbundenen Gewöhnungseffekt heraus. Die avantgardistische Provokation verliert ihr Schock-Moment (vgl. Benjamin 1999: 36ff.; Bürger 1974: I 08), sie wird in abgeschwächter Form integriert. So bleibt vom angestrebten Bruch bestenfalls ein gradueller Wandel. 11 Diese schnelle Aneignung avantgardistischer Kritik erklärt auch die Steigerungslogik, die im Wechsel von Streit und seiner Beendigung enthalten ist. Mit den Provokationen DADAs können die Nachkriegsavantgarden keinen Streit mehr beginnen. Nach Schlichtung des Streits zwischen DADA und der Kunst durch die kompromissartige Eingliederung von DADA in den Kanon müssen sie neue, radikalere Ansatzpunkte finden. Die verschiedenen Streite der unterschiedlichen Generationen sind somit nicht unabhängig voneinander, sondern steigern sich aneinander. Die Situationisten müssen daher einen Schritt weiter gehen und ein neues Streitfeld aufmachen, indem sie jegliche künstlerische Tätigkeit ablehnen und daher feststellen, dass es, so proklamiert Debord (1995: 42f.) in einem 1957 verfassten Text, »keine Maler mehr geben [wird], sondern Situationisten, die unter anderem auch malen«. Ähnliche Prozesse sind in der Auseinandersetzung zwischen der A vantgarde und dem gesamtgesellschaftlichen Umfeld zu erkennen. Allerdings I 0 Duchamp stellt das berühmteste dieser Ready-Mades, die Fountain, unter dem Pseudonym Richard Mutt aus. Dieses Pseudonym selbst ist programmatisch: Richard ist homophon zu rich art (reiche Kunst). Mutt: englisch für incomp etent, awkward p erson und homophon zu mud (Dreck). Die Signatur R. Mutt zieht daher nicht nur die reiche Kunst in den Dreck oder ordnet sie dem Dummen zu, sondern bringt auch das Ende des Königs mit sich: R(oi) Matt! Vgl. zur Aufhebung der klassischen Werkkategorie u.a. Bürger (1974: 77) sowie zu derjenigen des Genie-Künstlers u.a. Tlling (200 I: 27). 11 Vgl. hierzu auch die von Natalie Heinich skizzierte Abfolge von transgression, rejet und integration (Heinich 1998).
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wird die avantgardistische Kritik hier vor allem in der Form des Manifests vorgebracht oder im öffentlichen Skandal inszeniert und verweist so auf Alternativen jenseits der aktuell bestehenden Grenzen. Anders als in der Sphäre der Kunst scheint hier jedoch die Wandlungsfähigkeit bzw. die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Kritik auf Seiten des gesellschaftlichen Gegners kaum vorhanden zu sein. Die Kritik ist zwar nicht unbedingt radikaler als im Bereich der Kunst, doch sind mit der Politik und der Religion wohl heiklere Bereiche betroffen. Diese dürften im Vergleich zur Kunst als >ernsthafter< oder zentraler aufgefasst werden und deshalb weniger Spielraum für grundsätzliche Kritik lassen. Es entwickelt sich keine Auseinandersetzung, kein wirklicher Streit, an dessen Ende sich die Positionen angenähert hätten. Es bleibt bei der reinen Provokation und ihrer Ablehnung. Bei DADA lässt sich dabei der Skandal zunächst als Erweiterung der Aktivitäten des Cabaret Voltaire bzw. als Übertragung dieser Aktivitäten in eine breitere Öffentlichkeit auffassen. Zu denken ist hierbei mit Blick auf die Politik an die Aktionen von Johannes Baader, wie etwa seinen Auftritt in der Nationalversammlung, wo er 1919 das Flugblatt Dadaisten gegen Weimar von der Galerie aus abwarf (vgl. Bergius 1993: 155). Oder auch an einen von ihm im Berliner Börsen-Courier 1921 veröffentlichten Artikel, in dem er in der für DADA typischen spielerisch-gebrochenen Art sein >Projekt einer radikalen Sanierung des Erd- und WeltballsFlüchtigen< direkt nach ihrem Grenzübertritt verhaftet und wieder zurück gebracht. 12 12 Mit Blick auf die politischen Aktionen der Situationisten und deren Beendigung durch die Macht des Gesetzes sei hier nur verwiesen auf ihre Beteiligung am >Skandal von Strasbonrg< (vgl. Pencenat 2005) sowie an der Besetzung der Sorbonne im Mai 1968 (vgl. Durneutier 1990).
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Die Reaktion von Gesellschaft und Kunst auf die avantgardistischen Streitangebote liegt somit zwischen strikter Ablehnung- im Sinne von Totschweigen oder von Widerstand gegen die vorgebrachten Provokationen und langsam einsetzendem Verständnis bzw. der Bereitschaft, sich mit den Positionen der Avantgarde auseinanderzusetzen. Dabei scheint die Kunst schneller und besser mit den Provokationen umgehen zu können als die weitere gesellschaftliche Sphäre. Das Streitangebot der Avantgarde wird auf dem Feld der Kunst eher angenommen, allerdings nur, um den Streit dann möglichst schnell wieder durch Abschwächung der Kritik und durch Kompromiss zu beenden. 13 In der gesellschaftlichen Sphäre hingegen wird der Streit meist mit gesetzlichen Mitteln im Keim erstickt/ 4 er bleibt bei der bloßen Provokation stehen. 13 Diese Fähigkeit der schnellen Absorption bzw. Stillstellung von Streitpotential innerhalb der Kunst ist nicht zuletzt ein Ergebnis der anhaltenden avantgardistischen Provokation. War der Streit im Sinne des Wettstreits um Neuheit innerhalb der bestehenden Grenzen dem Kunstsystem schon immer immanent, so ist es das zweischneidige Verdienst der Avantgarde, dass nun auch die Neuheit jenseits der Grenze, der Bruch der Norm als Kunst wahrnehmbar geworden ist. Provokation und Normbruch werden zum fundamentalen Bestandteil der Selbstreproduktion des Kunstsystems, das so zu einem stetigen Wechselspiel von Grenzüberschreitung und einholender Grenzverschiebung wird (vgl. Luhmann 1997: 323ff.; Mukafovscy 1970). Die Kunst muss den Streit also nicht deshalb möglichst schnell durch einen Kompromiss beenden, weil sie nicht streitfähig ist, sondern im Gegenteil deshalb, weil sie auf eine ständige Reproduktion und Steigerung des Streitens angewiesen ist. Diese erhält ihre Dynamik nicht zuletzt dadurch, dass nichts seine Wirkung schneller verliert als der Schock und die Neuheit (vgl. Benjamin 1999: 36ff.; Bürger 1974: 108). In diesem Zusammenhang sei hier noch auf Boris Groys verwiesen, der versucht, eine Themie der Kultur einzig und allein auf der Kategorie des Neuen aufzubauen (vgl. Groys 1992). Auch er arbeitet dabei mit dem Bild der Grenzüberschreitung und der Grenzverschiebung, allerdings zwischen dem Profanen und dem Sakralen. Das Neue ist bei ihm das, was diese Grenze überschreitet und sie damit neu justiert, wie er dies u.a. an den Ready-Mades von Duchamp verdeutlicht, die- aus dem profanen Raum stammend - nach dem Abflauen des ersten Schocks durch Grenzverschiebung dem Sakralen zugeordnet werden können. Durch diese Erweiterung des Raums des Sakralen jedoch wird eine erneute Wahrnehmung eines Ready-Mades als neu, als grenzüberschreitend verunmöglicht - das Konzept des Ready-Mades funktioniert laut Groys nur einmal. 14 Als weiteres Beispiel für diese Art des formal-juristischen Umgangs mit avantgardistischer Kritik seien hier noch die Prozesse genannt, die die bayrischen Behörden in den 60er Jahren gegen die deutsche Sektion der S.I., die Gruppe SPUR, anstrengten. So wurde im November 1961 die gesamte Auflage der Zeitschrift SPUR vom Sittendezernat beschlagnahmt und die Herausgeber wegen Gotteslästerung, Religionsbeschimpfung und Verbreitung unzüchtiger Schriften angeklagt (vgl. u.a. Mickwitz 1996: 56ff.). Interessant ist hierbei vor allem, dass zwar die ursprüngliche Provokation so aus der Welt geschaffen bzw. unter Verschluss gehalten werden konnte, der Streit als solcher aber mitnichten beendet war. Vielmehr bot gerade der Prozess für die Gruppe SPUR und die S.I. die Möglichkeit, einen neuen Streit zu beginnen - und Manifeste und Flugblätter gegen eben dieses als unberechtigt empfundene juristische Vorgehen zu veröffentlichen (vgl. u.a. Gruppe SPUR 2006; sowie zur internen Planung der Vorgeheusweise im Jahr 1961 Debord 2001). Vor allem aber fällt hier auf, dass der Streit mit der Gesellschaft in diesem Fall dafür sorgt, dass eine Auseinandersetzung innerhalb einer Gruppe bzw. zwischen zwei Gruppen zur Ruhe kommt
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Der Streit der Avantgarde mit Kunst und Gesellschaft als Zeichen ihrer Fähigkeit zum Voranlaufen ruft also unterschiedliche Reaktionen hervor. Die Gesellschaft versucht, das Voranlaufen zu verhindern, zu ignorieren, zu verbieten. Sie neigt dazu, das avantgardistische Aufzeigen der aktuellen Grenzen als so grundlegend oder auch als so destabilisierend zu erachten, dass es keinen Verhandlungsspielraum lässt und daher das Streitangebot insgesamt abzulehnen ist. Die Kunstsphäre hingegen lässt das Voranlaufen zu und versucht dann, die Avantgarde durch einen Kompromiss einzuholen und so für den eigenen, gemäßigten Wandel dienstbar zu machen- hier sind also zumindest Tendenzen zu einer, durch teilweise radikale Grenzüberschreitung ausgelösten, graduellen Grenzverschiebung zu erkennen. Heide Parteien haben also ein, wenn auch unterschiedlich ausgerichtetes, Interesse am Streit: Die Avantgarde will ihn vom Zaun brechen und aufrecht erhalten, während ihn die Kunstsphäre und die Gesellschaft mäßigen und beenden möchten. Dabei entsteht insgesamt der Eindruck, als ließe die Gesellschaft dem avantgardistischen Streit auf dem Feld der Kunst bzw. dem Streit als künstlerischästhetischer Praxis nicht zuletzt deshalb etwas mehr Entfaltungsmöglichkeiten, um ihn von gesellschaftlichen Kernbereichen wie Politik und Religion fernzuhalten. 15 Genaugegen diese Abgrenzung von Kunst und Politik, gegen diesen >affirmativen Charakter der Kultur< ( vgl. Marcuse 1967) jedoch richtet sich die avantgardistische Kritik. Sie kann deshalb auch nicht zur Ruhe kommen, so lange sie nur auf einem der beiden Felder akzeptiert und gehört wird. Beim Blick auf die einzelnen Avantgardegruppen ist zu erkennen, dass der Streit in erster Linie in der Anfangsphase der Gruppe von Bedeutung ist. Er dient hier zur Selbstpositionierung und zur Konstituierung der Gruppe. Ist diese Phase erst einmal überstanden und beginnt die Aneignung der eigenen kritischen Position, das Eingeholt-Werden durch das gesellschaftliche Umfeld, so konunt es häufig zu Ermüdungserscheinungen oder zu einer Verlagerung des Streits in das Gruppeninnere, was nicht selten deren Auflösung zur Folge hat. Gleichzeitigjedoch schafft dieses Eingeholt-Werden bereits implizit wieder die Grundlage für die nächste Auseinandersetzung, für die dann die nachfolgende Generation der Avantgarde zuständig ist.
II. 2 Streit als abgrenzende Anknüpfung Die verschiedenen Generationen der Avantgarde kritisieren und streiten sich auch untereinander. Dies hat eine Ursache darin, dass die vergangeneu Avantoder zumindest zeitweise ausgeblendet wird. Denn zum Zeitpunkt der auf die Beschlagnahme folgenden zwei SPUR-Prozesse im Mai und November 1962 war die Gruppe SPUR nach langem internen Streit bereits aus der S.I. ausgeschlossen worden und der Streit zweier sich spaltender Gruppen bereits in vollem Gange. Doch auch hier engagierte sich die S.I. im Streit mit den deutschen Behörden für die - im doppelten Wortsinn - ehemaligen Mitstreiter (vgl. u.a. Debord 2001 a; Gruppe SPUR 1988). 15 Positiv gewendet ließe sich diese Trennung zwischen künstlerischer bzw. im engen Sinne kultureller und gesellschaftlicher Sphäre auch so auffassen, dass ersterer die Funktion zukommt bzw. zugeschrieben wird, als eine Art Experimentierfeld für mögliche Grenzüberschreitungen zu dienen. Tm kleinen Rahmen können hier Kultur und ihre Grenzen streitend und zunächst unverbindlicher erprobt werden als im gesamtgesellschaftlichen Kontext.
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garden aus der Sicht der neu entstehenden mittlerweile zum Establishment, zum Ist-Zustand der Kultur gehören, sich hier also die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft auch auf die avantgardistischen Vorgänger erstrecken muss. Der Streit zwischen verschiedenen Generationen der Avantgarde ist somit eng mit demjenigen zwischen der Avantgarde und der Kunstsphäre verbunden. Auch auf dieser Ebene findet der Streit nur selten als direkte Auseinandersetzung zwischen zwei Personen statt, er wird vielmehr weiterhin meist in Form von schriftlichen Stellungnahmen geführt. Dennoch ist zu beobachten, dass er in den Formulierungen gewissermaßen persönlicher wird oder werden kann, weil der Gegner konkreter wird, sei es in Form einer bestimmten Gruppe oder auch einer einzelnen Person. So stellt Micheie Bernstein mit Blick auf die Auseinandersetzung der Situationisten mit den historischen Avantgarden fest: »Jeder ist das Kind vieler Väter. Es gab den Vater, den wir haßten, den Surrealismus. Und es gab den Vater, den wir liebten: Dada. Wir waren die Kinder von beiden ... « (Michele Bernstein zitiert in Marcus 1993: 186). Zudem wird der Streit selbstrefiexiver, denn die zentralen Kritikpunkte, die von der jüngeren Generation in der Auseinandersetzung vorgebracht werden, wie der Vorwurf des Scheiterns der Vorgänger, sind nun auch als ein Problem für die eigene Gruppe zu sehen. Dadurch jedoch, dass die vorangegangenen Avantgarden zunächst als Avantgarden anerkannt und danach ihr Scheitern thematisiert und problematisiert wird, eröffnet sich die Möglichkeit, das Scheitern mehr und mehr als Bestandteil von Avantgarde zu begreifen.16 Die Reflexion der Avantgarden über das Scheitern von Avantgarden betont den zeitlichen- ja momenthaften Charakter- dieses Phänomens und scheint so zugleich den Begriff des Scheiteros als Kritikpunkt an den Avantgarden unbrauchbar zu machen - denn, so formuliert Debord 1967 (1996: 164), »ihre Avantgarde ist ihr Verschwinden«. In dieser Auseinandersetzung tritt die jüngere Avantgarde als diejenige auf, die den Streit beginnt und in ihm die aggressiveren Töne anschlägt. Wenn sich DADA mit dem Futurismus und einer Vielzahl anderer Ismen auseinandersetzt bzw. sich von diesen abgrenzt, 17 so beginnt hier bereits die reflexive, avantgarde-interne Diskussion über Avantgarde als Teil einer Kultur, deren Grenzen es zu bestimmen oder zu überschreiten gilt. Auffällig ist hierbei die paradoxe Situation, dass sich DADA gerade nicht als neue Kunstrichtung verstanden wissen möchte, sich aber selbst in eine Ahnenreihe von
16 Diese Reflexivität in der Auseinandersetzung mit den historischen Avantgarden
lässt sich jedoch nicht bei allen Nachkriegs-Avantgarden beobachten. So ist zum Beispiel beim Blick auf den Abstrakten Expressionismus festzustellen, dass dieser den historischen Avantgarden ihren Avantgardecharakter gerade abspricht und sie nahtlos in die europäische Kunstgeschichte eingliedert. Dies hat zwei Folgen: Zum einen siche11 sich der Abstrakte Expressionismus dadurch den Alleinvertretungsanspruch fiir die Kategorie der Avantgarde und zum anderen wird dabei auf recht simple Weise das Problem des Scheiterns ausgeblendet. Diese lnvisibilisierung des nahezu notwendigen Scheitems des avantgardistischen Moments verstellt jedoch auch die Möglichkeit, dieses produktiv gewendet in die eigenen Konzeption von Avantgarde zu integrieren. 17 Vgl. z.B. die Anmerkungen von Theo van Doesburg von 1923: »Es ist ein Irrtum zu glauben, Dada gehöre zur Kategorie neuer Kunstf01men wie Impressionismus, Futurismus, Kubismus, Expressionismus. Dada ist keine Kunstrichtung. Dada ist eine Richtung des Lebens selbst« (Doesburg 1992: 17).
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Kunstrichtungen einordnet. Gerade diese Einordnung jedoch ermöglicht wiederum die Abgrenzung. Das Streitpotential liegt hier im Bewusstsein der historischen Bedingtheit der eigenen Gruppe und im offensiven Umgang mit modifizierender Anknüpfung. Neuheit als Neukombination wird hier zur zentralen, auch offzieH vertretenen Vorgehensweise, nicht zuletzt um gerade dadurch DADA »in der Rolle einer verwandlungsfähigen und dynamischen Avantgarde von dem uniformen Ausdrucksangebot des Expressionismus, Futurismus und Kubismus abzuheben« (Schmidt-Burckhardt 2005: 224). Im Zusammenhang mit den Konjunkturen der Avantgarde bzw. ihrer vor allem anfangs starken Streitbereitschaft kann man hier davon sprechen, dass eine gerade im Entstehen begriffene, >frische< Avantgarde auf eine bereits länger bestehende oder gar schon etablierte trifft. Die jüngere Generation wirft der älteren ihre Aneignung, ihr Scheitern oder auch ihre abgeflaute Streitbereitschaft vor. Dagegen kontern die Kritisierten, wenn sie sich überhaupt noch angegriffen fühlen, mit dem Vorwurf der Wiederholung, negieren das explizit Neue der Nachfolger und sprechen ihnen somit die Existenzberechtigung ab. Genau um diese Existenzberechtigung aber geht es der jüngeren Generation und um sie wird gestritten. Häufig sind Argumentationen zu vernehmen wie: >Die Vorgänger haben dieses und jenes falsch gemacht, deswegen mussten sie scheitern, wir hingegen erkennen diesen Fehler und werden es besser machen>Es gibt keine Avantgarde, die nicht als Reaktion auf alle ihre Vorläufer oder zumindest auf einige von ihnen agiert hätte« (ebd.: 422). Diese Selbsthistorisierung der Avantgarden erfüllt zwei sich scheinbar widersprechende Aufgaben: Sie dient zur Promotion des Neuen ex nihilo und zugleich der Legitimation durch Kontinuität. »Dieser inhärente Widerspruch stellt das produktive Dilemma der Avantgarde dar« (ebd.: 3). Die Einordnung in eine Reihe von Vorläufern in Form des Stammbaums ist daher gerade in der Anfangsphase von Avantgarden eine weit verbreitete Praxis und kann als Versuch angesehen werden, die eigene radikale Neuheit sowohl herauszubilden als auch abzusichern. 18 In einem Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass die historischen Avantgarden mitnichten geschichtslos sind. Der von Peter Bürger attestierte Bruch mit der gesamten Tradition der Kunst (vgl. Bürger 1974: 82f.) ist in dieser
18 Auf das Bild von Grenze und Grenzüberschreitung übertragen bedeutet dies, dass die jüngere Avantgarde den eigenen Grenzübertritt als absolut neuartig zu setzen versucht und ihn gleichzeitig dadurch absichern will, dass die Praxis des Grenzübertritts an sich als bereits bekannt und in gewisser Weise bewährt eingeführt wird.
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Form nicht erkennbar. Wenn es bei den historischen Avantgarden etwas Neues gibt, das sie von vorangegangenen Gruppierungen und Kunst-Ismen unterscheidet, so ist dies nicht ihre vorgebliche Traditionslosigkeit, sondern gerade der neuartige Umgang mit den Vorgängern. »Das Neue, so ließe sich mit Blick auf die Selbsthistorisierung der Moderne behaupten, bestand in der radikalen Reflexivität ihrer Voraussetzungen« (Schmidt-Burckhardt 2005: 3). Und genau für dieses schwierige bis paradoxe Verhältnis von Anknüpfung und Abgrenzung ist neben dem Stammbaum gerade der Streit, der ja zwangsläufig auf einen Gegner angewiesen ist, den es zu überwinden gilt, die adäquate Ausdrucksform. Was bei allen bislang skizzierten Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Generationen der Avantgarde jedoch ins Auge sticht, ist die Tendenz zur Einseitigkeit des Streits: Meist wird dieser vor allem als Kritik oder Provokation der jüngeren Gruppierung geführt, während die ältere daraufnur sehr verhalten oder gar nicht reagiert. Der Streit scheint hier vor allem für die jüngere Generation von Bedeutung zu sein, der Gegner ist zwar vorhanden, beteiligt sich jedoch kaum. Dennoch kann man auch in diesem Kontext am Begriff des Streits festhalten. Zum einen, weil die Art und Weise, wie die jüngere Generation ihre Positionen vorträgt, eindeutig streitenden bzw. streitbaren Charakter hat, und zum anderen, weil sich die ältere Generation zumindest indirekt am Streit beteiligt, indem sie ihre Positionen, wenn auch bereits Jahre zuvor, klar formuliert und somit in den Pool von Streitthemen eingebracht hat. Es handelt sich somit um einen gewissermaßen zeitversetzten Streit, bei dem die jüngere Generation die Positionen der älteren zunächst aktualisierend wieder aufgreift, sie darstellt und dann die eigene Position dagegen entwickelt. 19 Dies wird besonders bei den Situationisten deutlich: Von diesen wurden vor allem DADA und der Surrealismus als die wichtigsten Vorläufer der eigenen Gruppierung anerkannt und zugleich kritisch diskutiert. Dabei unterscheidet sich die Wertung der beiden Gruppen grundlegend. Auch wenn die S.I. in den 1950er und 1960er Jahren bei beiden sowohl Anknüpfungs- als auch Kritikpunkte findet (vgl. Debord 1995: 29ff.; Debord 1996: 157ff.; Situationistische Internationale 1976; Situationistische Intemationale 1976b; Gruppe SPUR 1976), so ist festzustellen, dass die Auseinandersetzung mit dem Surrealismus insgesamt wesentlich umfangreicher ist,20 dass bei DADA der Schwerpunkt eher auf der Anknüpfung und beim Surrealismus eher auf der Kritik bzw. Abgrenzung liegt. Oder in den Begriffen des Streits formuliert: In der Auseinandersetzung mit DADA ist wesentlich leichter ein Konsens oder ein Kompromiss zu finden als beim Surrealismus.
19 In diesem Zusammenhang ließe sich vermuten, dass die anhaltende Dynamik
von Avantgarden nicht zuletzt gerade aus dieser zeitlich gedehnten Struktur des Streits entsteht - eines Streits, der fast nie zu einem direkten Face-to-face gelangt und in dem somit auch die Möglichkeit der gemeinsamen Übereinkunft, des Überzeugens kaum vorstellbar ist. Dies gilt besonders dann, wenn die Gruppe, auf die eine andere streitend reagiert, schon gar nicht mehr existiert oder handelt. 20 Vgl. zur Auseinandersetzung mit dem Surrealismus zudem die Ex-Post-Betrachtung von Jules Franyois Dupuis. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei >Jules Frans;ois Dupuis< um das Pseudonym des S.I.-Mitglieds Raoul Vaneigem handelt (vgl. Dupuis 1979).
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Hauptstreitpunkt ist wieder die Frage nach dem Scheitern der Vorgänger, hier bezogen auf deren zentrale Zielsetzung, »den Autonomiestatus der Kunst, deren Abgehobenheil von der Lebenspraxis radikal in Frage [zu stellen]« (Bürger 1982: 6). Da die Wege und Mittel, die jeweils zu diesem Ziel führen sollen, deutlich voneinander abweichen (vgl. Plant 1992: 38ff.), unterscheiden sich auch die Kritikpunkte der S.I. gegenüber den beiden Vorläufern: »Der Dadaismus wollte die Kunst wegschaffen, ohne sie zu verwirklichen; und der Surrealismus wollte die Kunst verwirklichen, ohne sie wegzuschaffen« (Debord 1996: 164f.; Herv. i. Orig.). Während der dadaistische Angriff auf die Institution Kunst scheitern musste, weil er nicht in die Lebenspraxis überführt werden konnte, so liegt die Schwäche des Surrealismus für die S.I. darin, zwar die Kunst in die Lebenspraxis zu überfUhren, sie dabei jedoch als solche nicht anzugreifen. Dementsprechend möchte die S.I. kritisch an die Vorgänger anknüpfen und durch eine Kombination der bei beiden erkennbaren Versuche der Grenzüberschreitung ihre jeweiligen Schwachpunkte umgehen. »Die seitdem von den Situationisten erarbeitete kritische Position hat gezeigt, daß die Wegschaffung und die Verwirklichung der Kunst die unzertrennlichen Aspekte ein und derselben Aufhebung der Kunst sind« (ebd.: 165; Herv. i. Orig.). Dass die S.I. trotz ihrer sehr grundlegenden Kritik daran festhält, an einzelne Ansätze DADAs und des Surrealismus anzuknüpfen bzw. diese weiterzuentwickeln, hängt eng mit ihren theoretischen Konzepten zusammen. Diese lassen es möglich erscheinen, dass die Aneignung einer Avantgarde kein endgültiges Scheitern ist, sondern durch eine erneute Zweckentfremdung auch wieder aufgehoben werden kann. Trotz einer Diagnose wie »Heute ist der Surrealismus vollkommen langweilig und reaktionär« (Situationistische Internationale 1976a: 74), die man 1958 von der S.I. vernehmen konnte, muss eine Auseinandersetzung mit den Prozessen stattfinden, die zu diesem Ergebnis, zu dieser Langeweile geflihrt haben. Kritik und Anknüpfung schließen sich somit nicht mehr aus. Die Verfiachung oder die Beendigung des vorangegangenen Streits zwischen Avantgarde und Kunst bzw. Gesellschaft muss nochmals als Streit zwischen verschiedenen Avantgarde-Generationen reflektiert werden. 21 Diese zunächst als identitätsstiftend anzusehende Vorgehensweise beinhaltet allerdings das Problem, dass die Auseinandersetzung mit Vorgängern auch zum Streit um diese Vorgänger innerhalb der eigenen Gruppe fUhren kann, wie dies beim Streit der Surrealisten um ihre Stammbäume deutlich wird.
21 Die Auseinandersetzung der S.l. mit dem Surrealismus bietet jedoch auch Beispiele für Streitsituationen, in denen die zwei Generationen direkt und aktuell miteinander streiten, in denen also ein wirklicher, zeitgleicher Austausch von Argumenten stattfindet. Dieser knüpft dabei meist an die zentralen Streitpunkte an, die zuvor in der einseitig von der jüngeren mit der älteren Generation geführten Auseinandersetzung herausgearbeitet wurden - federführend ist also auch hier die jüngere Generation. Begonnen hatte dieser Streit, der sowohl über Face-ta-face-Diskussionen als auch über den Austausch von Briefen, Pamphleten und Flugblättern gefüh1i wurde, bereits 1954 zwischen der L. T. und den Surrealisten (vgl. die diesbezüglichen Dokumente in Debord 2002: 67ff., 89, 290ff.), fmigesetzt wurde er dann zwischen der S.T. und den Sun·ealisten bis ca. 1958 (vgl. die Dokumente hierzu in Berreby 2004: 85ff. sowie: Situationistische Internationale 1976a).
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Generell formuliert: Eine Auseinandersetzung zwischen den Generationen A und 8 dürfte in der Regel weder durch Konsens noch durch Kompromiss zu beenden sein, sondern lediglich dadurch, dass auch die jüngere Avantgarde B in den Etablierungs- bzw. Aneignungsprozess eintritt und eine noch neuere, frischere Avantgarde C auf den Plan tritt, die einen neuen, radikalisierteren Streit initiiert.
11.3 Streit als externe Konkurrenz Die Streitkultur verlängert sich auch auf die Ebene einer Generation der Avantgarde und ist in den scharfen Auseinandersetzungen zwischen zeitgleich existierenden Gruppierungen zu erkennen. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass mit der skizzierten Übertragung der militärischräumlichen Konzeption von Avantgarde auf die intellektuell-zeitliche Ebene der Begriff diffuser wird. Denn anders als das klar zu bestimmende räumliche Voranlaufen ist die Frage nach einem Vorsprung auf dem Gebiet der Ideen und Theorien sehr unterschiedlich zu beantworten. Es ist nun möglich, dass zu einem Zeitpunkt verschiedene Avantgarden auftreten, die mitjeweils verschiedenen Ideen voranlaufen wollen. Diese geraten aufgrund ihrer jeweiligen Positionen oftmals in Konflikt miteinander. Gestritten wird hier also vor allem darum, in welche Richtung voran gelaufen, welche Grenze wie überschritten werden soll. Am schärfsten werden die Auseinandersetzungen innerhalb einer Generation der Avantgarde dann, wenn es sich um das Phänomen der Abspaltung handelt, wenn aus einer Gruppe zwei oder mehr entstanden sind - beim Übergang also vom gruppeninternen Streit auf die des Streits zwischen Gruppen. Da hier die personellen Kontinuitäten auf der Hand liegen, müssen die inhaltlichen Unterschiede - und seien sie noch so klein - zur Rechtfertigung der eigenen Existenz besonders betont und ausgefochten werden. »Die durch Teilung entstandenen Gmppenindividualitäten aber befehden sich in der Regel zunächst aufs heftigste. Gerade, weil sie beide das Erzeugnis einer und derselben Idee sind, muß eine die andere zu vemichten suchen [... ], denn jede glaubt, sie sei die einzige und wahrhafte Darstellung der Idee und fühlt daher durch die Existenz der Emdergruppe ihr innerstes Wesen verneint« (Kracauer 1963: 14 7).
Da sich beide Fraktionen im Moment der Spaltung dieselbe Idee in leichten Nuancierungen teilen, geht es weniger um vollkommen gegensätzliche Richtungen des Voranlaufens als um die Geschwindigkeit desselben. Es lässt sich bei der Spaltung stets eine radikale und eine gemäßigte Gruppe ausmachen. »Die radikale Gruppe[ ... ] fühlt sich als die eigentliche Trägerinder unverfalschten Idee und stempelt die gemäßigte Gruppe zu einem abtrünnigen Glied der Gmppenindividualität. [... ] [Die] gemäßigtere Gruppe ihrerseits hat es in gewisser Hinsicht schwerer, den Radikalen gegenüber ihren Standpunkt zu vertreten. Sie rückt leicht in eine Verteidigungsstellung« (ebd.: 148).
Ein solcher Streit kann nur auf zwei Arten zur Ruhe kommen: Sei es, dass nicht mehr um die Repräsentation der einen Idee gestritten werden muss, da sich die beiden Gruppen nach der Spaltung inhaltlich in unterschiedliche
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Richtungen entwickeln, sei es, dass eine der Gruppen und mit ihr ihre Variante der Idee von der Bildfläche verschwindet. Ein Beispiel hierfür bietet die Auseinandersetzung zwischen den Pariser Dadaisten und den Surrealisten. Diese beginnt um 1921 als Streit zwischen verschiedenen Fraktionen innerhalb von DADA Paris u.a. im Rahmen einer Meinungsumfrage zu berühmten Künstlern und Schriftstellern der Vergangenheit, die als Liquidationsliste bzw. Liste der Ersten und Letzten bekannt wurde (vgl. Abbildung 105 und 108 in: Schmidt-Burckhardt 2005: 234 und 237). Diese »sollte die künstlerische Position genau bestimmen und zeigen, wie die Surrealisten vorgehen, mit wem sie intellektuell verwandt sind, was sie zusammenhält und was sie trennt« (ebd.: 224). 22 Diese zunächst als identitätsstiftend anzusehende Vorgehensweise beinhaltet allerdings auch Probleme, da so die »tief greifenden Differenzen innerhalb der Literatengruppe, die Breton wiederholt zum Ausschluss einzelner Mitglieder bewegen sollten, [ ... ] in den konträren Bewertungen der einzelnen Persönlichkeiten seit der Antike zum Ausdruck [kamen]« (ebd.: 235). Die Liquidationsliste nimmt also bezüglich des Streits der Avantgarde eine komplexe Stellung ein: Sie ist einerseits Auseinandersetzung mit Vorgängern, beinhaltet andererseits aber auch die Gefahr des Streits um diese Vorgänger zwischen den Fraktionen der eigenen Gruppe. So wie oben eine Verbindung zwischen dem Streit zwischen Avantgarde und Gesellschaft einerseits und dem zwischen verschiedenen Avantgardegenerationen andererseits angedeutet wurde, so ist auch eine Verbindung zwischen dem Streit zwischen den Generationen und dem noch zu skizzierenden innerhalb einer Gruppe zu erkennen. Vor allem aber ist der so ausgelöste Streit als Beginn der Abspaltung der Surrealisten von den Dadaisten aufzufassen und somit als Grundlage der Streits zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb einer Generation der Avantgarde. Auch wenn die offizielle Gründung des Surrealismus- wenn man hierfür einmal das Veröffentlichungsdatum des ersten Manifest des Surrealismus zu Grunde legt - erst im Jahr 1924 erfolgt, so ist die Spaltung doch bereits 1921122 in vollem Gange und lässt sich vor allem an der Auseinandersetzung zwischen Andre Breton und Tristarr Tzara und der jeweils um sie gescharten Fraktionen nachzeichnen. Dies verdeutlicht, dass sich die Surrealisten bereits zu diesem Zeitpunkt als eigenständige Gruppe und die Dadaisten als ihre Gegner ansehen. Neben den unterschiedlichen Positionen der beiden im Proces Barres (vgl. Vowinckel 1989: 125ff.) ist hier eine Auseinandersetzung im Vorfeld der Planung eines von Breton angesetzten Kongresses in Paris zu nennen. Es handelt sich hierbei zunächst um einen inhaltlichen Streit: Tzara weigert sich, an der Organisation der Tagung teilzunehmen und be-
22 Dazu wurde von den SuJTealisten eine Liste von verschiedensten Künstlern und Schriftstellern von der Antike bis zur Gegenwart erstellt, die auch die Mitglieder der eigenen Gruppe um faßte. Die Personen auf dieser Liste wurden nun von den Sun·ealisten mit Wertungen von -25 bis +25 versehen, so dass sich aus den Mittelwerten eine Rangfolge erstellen ließ, die die Wertschätzung der Surrealisten fur diese Künstler bzw. deren Nähe zu oder Entfernung von den Surrealisten sichtbar machten. Zugleich aber wurden durch die teilweise stark voneinander abweichenden Bewe1iungen einzelner auf der Liste aufgefuhrter Personen durch die Surrealisten auch Übereinstimmungen und Differenzen innerhalb der surrealistischen Gruppe deutlich.
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gründet dies mit der Konzeption derselben, die von Breton stammt. 23 Die inhaltlichen Vorstellungen der beiden Seiten liegen dabei soweit auseinander, dass die Spaltung offensichtlich wird und Tzaras Position von Breton nur als Angriff auf seine inhaltliche Neuausrichtung gewertet werden kann. An diesem Punkt der Unvereinbarkeit verlagert sich der Streit von der inhaltlichen auf die persönliche Ebene. Breton umschreibt Tzaras Verhalten in einer öffentlichen Stellungnahme als »les agissements d ' un personnage connu pour le promoteur d'un >mouvement< venu de Zürich« (Andre Breton zitiert n. ebd.: 133), woraufhin Tzara Bretons Ausschluss aus dem Organisationskornmitee veranlasst. Der Bruch zwischen DADA und Surrealismus ist nun auch formell vollzogen. Dennoch dauert die inhaltliche Auseinandersetzung noch einige Zeit an, wie die DADA-kritischen Veröffentlichungen Andre Bretons in der Zeitschrift Litterature nach seiner Distanzierung von Tzara24 verdeutlichen. Dabei ist jedoch, wie oben skizziert, zu erkennen, dass der Streit vor allem von Seiten des Surrealismus als der jüngeren Avantgarde weitergeführt wird, während sich die Dadaisten mehr und mehr zurückziehen. Mit dem Phänomen der Abspaltung erhöht sich also das Tempo des Aufund Abtaueheus der Avantgarden erheblich. Aus der Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Fraktionen innerhalb einer Gruppe wird ein Konkurrenzkampf verschiedener Gruppen. Es handelt sich hier um ein leicht zeitversetztes bzw. eine gewisse Zeitspanne hindurch gleichzeitiges Nebeneinander, welches mit einer Abstoßungsbewegung eine neue Gruppierung hervorbringt und eine andere verschwinden lässt. Und erst durch das Verschwinden einer der beiden Gruppen bzw. durch die Entwicklung deutlich differrierender inhaltlicher Positionen kommt dieser Streit zum Stillstand- nicht also durch einen Kompromiss, sondern durch den Wegfall des Streitgegenstands bzw. Streitgegners. Oftmals ist aber auch zu erkennen, dass ein solcher Streit zwar im Laufe der Zeit etwas zur Ruhe kommt, jedoch nie vollkommen still gestellt werden kann. Dies ist sehr gut mit Blick auf die Abspaltung der L.I. von den Lettristen 1952 erkennbar. Der Lettrismus wird 1945/46 von Isidore Isou und Gabriel Pommerandin Paris begründet. Im Jahr 1951 wird Guy Debord auf die Gruppierung aufmerksam und schliesst sich ihr an. Bereits 1952 bildet der Neuling Debordjedoch innerhalb der Lettristen zusammen mit einigen anderen Mitgliedern eine geheime, sich als radikaler ansehende Fraktion, die sich 23 Tm Mittelpunkt stand hierbei der Begriff des esprit moderne. Breton ging es
darum, verschiedene Kunstrichtungen zusammenzubringen, um in der Konfrontation unterschiedlicher Konzeptionen zum Kern des Begriffs zu gelangen. Demgegenüber betont Tzara: »Mais je considere le marasme acuel, resulte du melange des tendances, de Ia confusion des genres, et de Ia Substitution des groupes aux personnalites, est plus dangereux que Ia reaction.« (Tristan Tzara zitiertn. Vowinckell989: 131) 24 Hier heißt es bereits 1922 unter anderem: »Soweit er sich auf der Höhe dieses Denkens befunden hat, war der Dadaismus gar nicht so übel, wenngleich ich die bewegte Existenz der nächstbesten Nutte dem geruhsamen Schlaf auf Hegels Lorbeeren vorziehe. Aber derlei Erwägungen sind Dada reichlich fremd. [... ] [O]hne zu bemerken, daß sich Dada damit selbst jeder Kraft und jeder Wirksamkeit beraubt, erstaunt darüber, daß seine Anhängerschaft nur noch aus ein paar armen Teufeln besteht, die sich auf die Poesie zurückgezogen haben und sich ganz bürgerlich aufregen, wenn man sie an ihre Missetaten von einst erinnert. Das Wagnis hält sich schon seit langem woanders auf« (Breton 1995: 271).
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schließlich im Oktober 1952 abspaltet und die L.I. ins Leben ruft (vgl. Marcus 1993: 352ff.; Ohrt 1997: SOff.). Lettrismus und L.I. sind somit keine aufeinander folgenden Gruppen im Sinne eines Auf- und Abtauchens, sondern existieren in scharfer Konkurrenz nebeneinander. Hier spielen zwei Faktoren für das Andauern der Auseinandersetzung eine zentrale Rolle: Zum einen bestehen beide Gruppen noch lange Zeit weiter (die Lettristen bis heute und die L.I. in Gestalt der S.I. zumindest bis 1972), der Streitgegner verschwindet also nicht einfach. Zum anderen war die inhaltliche Auseinandersetzung hier mit einem großen Ausmaß an persönlicher Enttäuschung des Iettristischen Protagonisten Isidore Isou geprägt, der sich von Debord, der L.I. und später auch der S.I. verraten fühlte. Noch im Jahr 2000 veröffentlicht er ein Buch mit seiner gesammelten Kritik und Polemik am ehemaligen Verbündeten (vgl. Isou 2000), genauso wie die L.I. und die S.I. in ihren Zeitschriften bis weit in die 1960er Jahre hinein immer wieder kritisch-polemisch auf Isou und die Lettristen zu sprechen kommen (vgl. Brau 2002; Debord 2002; Jom 1976). In diesem Fall ist somit die Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen nicht von dem persönlichen Streit zwischen ihren jeweiligen >Köpfen< Isou und Debord zu trennen. Neben der skizzierten inhaltlich-theoretischen Motivation für diese Auseinandersetzung ist hier ebenso eine persönlich-emotionale Ebene zu beachten. Der Streit tritt hier als das Andere der vorangegangenen intensiven Zusammenarbeit bzw. der persönlichen Beziehung auf. Das Ende einer solchen Beziehung und die Enttäuschung bzw. Wut über ein solches kann deutliche Auswirkung sowohl auf die Dauer als auch die Intensität der nachfolgenden Auseinandersetzung haben. Schlägt eine Beziehung an ihrem Ende nicht in Indifferenz um, so ist ein langer und intensiver Streit zu erwarten, der nicht selten die Form offener Feindschaft annehmen kann. Der Streit zwischen Avantgarden ist stets auch als Anzeichen für deren Totalitätsanspruch nach außen aufzufassen. Streit scheint auf dieser Ebene erst dann enden zu können, wenn dieser Anspruch von einer Gruppe erfolgreich durchgesetzt worden ist. Da dies jedoch meistens weder gegenüber den anderen Gruppierungen im künstlerischen Feld und noch viel weniger gegenüber der Gesamtgesellschaft gelingt, hat diese Art des Streits aus dieser Perspektive kein Ende, sondern begleitet die Gruppe während ihrer gesamten Existenz. Aus einem anderen Blickwinkel kommt er irgendwann doch zur Ruhe- dann nämlich, wenn aufgrundder gescheiterten Verwirklichung der eigenen Positionen, aufgrund der Einsicht, dass die eigene Grenzüberschreitung diese Grenze nicht aufheben konnte, ein gewisses Frustrationsmoment bei den Protagonisten einsetzt, das dazu führen kann, dass die Gruppe den Streit nach innen verlagert und sich langsam zerfleischt. Neben der bisher skizzierten Variante, dass der Streit innerhalb der gleichen Avantgardegeneration im Zusammenhang mit der Gruppenspaltung steht, gibt es noch eine weitere Konstellation. Diese ließe sich als friedlicher oder als Verbindungen herstellender Streit beschreiben. Es handelt sich hierbei um die bei der Vorgeschichte der S.I. deutlich erkennbare Situation des Austauschs zwischen verschiedenen Gruppierungen, die letztendlich den Zusammenschluss in einer größeren Gruppe zur Folge hat. »Die vor kurzer Zeit gebildete Situationistische Internationale hat die Frage von Einigkeit und Bruch wieder aktuell gemacht. Eine Periode der Diskussionen und der Verhandlungen zwischen verschiedenen gleichstehenden Gruppen [ ... ] [ist] zugunsten einer disziplinierten Organisation abge-
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schlossen worden« (Bernstein 1976: 31). Die Gründung der S.I. im Juli 1957 markiert daher nicht nur das Entstehen einer neuen Gruppe, sondern auch das Ende des vier Jahre andauernden Austauschs und der Verhandlungen zwischen verschiedenen Einzelpersonen und internationalen Gruppen wie dem Movimento Nucleare, der Gruppe Reflex, dem Mouvement pour un Bauhaus Imaginiste, der L.I. und dem Psychogeographischen Büro. Um einen friedlichen bzw. produktiven Streit handelt es sich, da es hier weniger um Konfrontation geht, sondern zumindest grundsätzlich der Wille zur Kooperation erkennbar ist und sich die Beteiligten trotz der Vielfalt ihrer Positionen als prinzipiell gleichwertig ansehen. Am Begriff des Streits ist dennoch festzuhalten, da es sich bei diesem Austausch um zum Teil heftige Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen, von den einzelnen Gruppen ausgearbeiteten Positionen handelt. In dessen Verlauf kommt es immer wieder zu Abspaltungen bzw. in diesem Fall zum Abbruch der Verhandlungen. Schließlich bildet sich ein Kern von Einzelpersonen und Gruppen heraus, die ihre jeweiligen Positionen zumindest für soweit kompromissfähig halten, dass sie eine Zusammenarbeit in der S.I. wagen wollen.
11.4 Streit als interne Konkurrenz Vor diesem Hintergrund der Gruppenbildung verwundert es kaum, dass auch innerhalb einer einzelnen Gruppierung der Streit eine zentrale Art des Umgangs miteinander ist. Doch hat er hier zunächst eine produktive Wirkung bzw. trägt zur Entwicklung der eigenen Position bei. Er entsteht hier in erster Linie aus der Vielfalt von Positionen, die durch die Mitglieder und ihren jeweiligen Hintergrund in die Gruppe getragen werden und über die anfangs häufig nur ein Minimalkonsens besteht. Streit ist hier zunächst keine explizite Grenzüberschreitung, sondern entwickelt die Konzepte zu einer solchen. Es wird über verschiedene Modi des Streits nach außen im inneren gestritten. Zugleich ist der Streitjedoch auch innerhalb der Gruppe eng mit dem Begriff der Kultur verknüpft, da gerade im Streit die Frage nach Identität und Differenz thematisiert wird und sich so nach und nach die Gruppenidentität herauskristallisiert. Gerade in der S.I. nimmt der Streit als Motor der Theorieentwicklung, aber auch der Gruppendynamik, eine zentrale Stellung ein - sie ist das Paradebeispiel einer streitenden Avantgarde. Sie ist dies nicht nur, weil sie aus sehr unterschiedlich ausgerichteten Vorgängergruppen entstanden ist und daher in ihr viele unterschiedliche Positionen aufeinandertreffen und so von Beginn an viele Streitpunkte vorhanden sind. Vielmehr wird hier nicht nur um einzelne inhaltliche Punkte gestritten oder der Streit strategisch eingesetzt -nein, er ist in der gesamten Gruppengeschichte so etwas wie der rote Faden des Umgangs miteinander und wird als solcher auch thematisiert. Um die Vielschichtigkeit des Streits innerhalb einer Gruppe angemessen skizzieren zu können, soll daher im Folgenden und anders als in den vorangegangenen Abschnitten mit der S.I. nur ein Beispiel herausgezogen und analysiert werden.25 25 Als weitere im Inneren streitende Avantgarde wäre sicherlich noch der Surrealismus zu erwähnen. Sei es mit Blick auf die bereits erwähnten internen Auseinandersetzungen um die Stammbäume, sei es bei der Frage nach der Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Partei oder in Bezug auf Bretons Streit-
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Streit als inhaltliche Auseinandersetzung wird nicht nur akzeptiert, sondern geradezu gefordert. Dabei wird als >echter< Streit nur der Streit als Mittel zur Entwicklung inhaltlicher Positionen akzeptiert und strikt vom Streit als Mittel zur Erreichung von außerhalb seiner selbst liegender Zwecke unterschieden. »Und noch grundlegender kann man feststellen, daß kein echter Streit von Leuten ausgetragen werden kann, die dadurch, daß sie ihn vom Zaun brachen, eine etwas höhere soziale Stufe erreicht haben, als wenn sie es gelassen hätten« (Debord 1985: 30). Neben dem bei Künstlergruppen häufig zu beobachtenden Problem der »Sozialität der Solitären« (vgl. Thurn 1983), d.h. der Frage, inwieweit sich individuelle Entfaltung und kollektive Organisationsform vereinbaren lassen, geht es dabei vor allem um theoretische und strategische Auseinandersetzungen zwischen den Mitgliedern. Streit und Diskussion sind bei der S.I. weniger die Ausnahme als die Regel, sie dürfte sich selbst als diskutierende Gruppe gesehen haben. Die Grundfrage, die es deshalb zu stellen gilt, lautet: Wie kann die Einheit der Gruppe als ein Streit von Positionen definiert und prozessiert werden (vgl. Eßbach 1988: 46ff.)? Es geht um das Wechselspiel von zentrifugalen und zentripetalen Kräften des Streits bzw. um die Frage, in welchem Verhältnis Streit und Wir-Gefühl stehen. Denn erst durch dieses Wir-Gefühl bzw. das damit einhergehende Zusammengehörigkeitsgefühl wird innerhalb der Gruppe ein gewisses Ausmaß an Streit ermöglicht. Ein zu großes Ausmaß oder ein Zuviel an Streit jedoch bedroht genau diesen Zusammenhalt und beinhaltet somit die Gefahr, die Gruppengrenzen zu sprengen. Der Streit zeigt hier zunächst seine produktiven und differenzierenden Kräfte: In der Auseinandersetzung mit anderen Gruppenmitgliedern werden Ideen entwickelt, modifiziert und präzisiert, werden Konzepte verworfen und neue eingeführt. Im gegenseitigen Austausch entsteht etwas, das der Einzelne so nicht hervorgebracht hätte. »In diesem Austausch, der der Logik von Frage und Antwort folgt, leistet jeder Diskutierende etwas für die Aussagen des anderen, und er zehrt von den Beiträgen anderer« (ebd.: 47). Der Streit um Theorie, die »Kunst des Dialogs und der gegenseitigen Beeinflussung« (Situationistische Internationale 1976c: 154) als eine wichtige Praxis der Situationisten verhindert somit gerade das von Kracauer diagnostizierte Erstarren der Idee des Einzelnen innerhalb einer Gruppe (vgl. Kracauer 1963). Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass über die Aufnahme neuer Mitglieder oftmals auch gezielt neues Streitpotential in die Gruppe geholt wird. Dies erfolgt auch und gerade in den ruhigeren Phasen nach der Beendigung eines vorangegangenen Streits. Streit wird also wegen seiner produktiven Wirkung für die Theorieentwicklung teilweise geradezu provoziert. Diese Anwerbung von neuem Streitpotential innerhalb der S.I. hat zudem eminent taktische Aspekte, die sich auf die Gruppendynamik auswirken und sich bei den Situationisten in Gestalt der beeindruckenden Mitgliederfluktuation bemerkbar machen. Denn es ist zu beobachten, dass es durch die gezielte Aufnahme neuer Mitglieder bzw. eine geschickte >Rekrutierungspolitik< auch
und Ausschlusslust - auch die Surrealisten haben viel miteinander gestritten (vgl. Vowinckel 1989: 167ff.). Dennoch nimmt der Streit hier eine weniger zentrale Stellung ein als in der S.T., nicht zuletzt da er eher als störendes Element, nicht aber in seiner produktiven Wirkung wahrgenommen bzw. reflektiert wurde.
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möglich ist, die eigene Position oder Fraktion zu stärken. Doch diese taktische Seite des Streits, d.h. seine Nutzbarmachung nicht mehr für die Theorieentwicklung an sich, sondern zur Durchsetzung bestimmter Positionen, kann dazu führen, dass die bis dahin positive Wirkung des Streits nun mehr und mehr zu einer negativen wird. Denn der Streit wird nun von der Mehrheitsfraktion dafür eingesetzt, im Inneren der Gruppe einen Totalitätsanspruch durchzusetzen, alternative Meinungen zum Schweigen zu bringen und damit dem inhaltlichen Streit selbst die Grundlage zu entziehen. Doch auch ohne diese strategische Seite kann der Streit die Gruppe und ihre theoretische Entwicklung blockieren: etwa weil aus inhaltlichen Auseinandersetzungen leeres Gerede wird oder weil die vertretenen Positionen unvereinbar weit auseinanderliegen. In diesem Fall wird im Laufe des Streits deutlich, dass kein Konsens bzw. kein Kompromiss erzielt werden kann. Der Streit stellt den Grundkonsens der Gruppe zunehmend in Frage und droht dadurch, den Gruppenzusammenhalt zu sprengen. In diesem Fall bleibt zur Erhaltung der Gruppenkohärenz meist keine andere Möglichkeit als die - von der Situationistischen Internationale intensiv genutzte - des Ausschlusses bzw. Austritts. Hier tritt die vereinheitlichende Tendenz des Streits auf den Plan. Diese ist zunächst in dem Sinne produktiv, dass sie die Gruppe weiter lebensfähig hält, da es zur Solidarisierung der verbleibenden Mitglieder kommt. Zugleich jedoch ist sie, genau wie die strategische Vereinheitlichung, aufgrundder Verarmung des inhaltlichen Austauschs teuer erkauft. Zwar ist die Gefahr des Zerfalls fürs Erste beseitigt, doch nur um den Preis des inhaltlichen Stillstands. Der Streit ist in dieser Phase nicht mehr in der Lage, äußere Grenzen der Kultur sichtbar zu machen oder gar zu ihrer Überschreitung anzuregen, er kann nur noch seine eigenen Grenzen verdeutlichen und sie eventuell durch neue Regelungsmechnismen verschieben. Dies könnte die Vorgehensweise der Situationisten erklären, recht bald nach einer solchen >negativen Streiterfahrung< durch die Aufnahme neuer Mitglieder den nächsten Streit in seiner zunächst produktiven Wirkung vorzubereiten. Insgesamt ist also zu erkennen, dass ein Konflikt, so lange er gemeinschaftlich ist, d.h. so lange es bei ihm auf einer gemeinsamen Basis um einzelne Streitpunkte geht, innerhalb der S.I. leidenschaftlich ausgetragen wird und für die Gruppe in gewissem Rahmen funktional ist. So stellt Debord 1968 fest: »Meines Erachtens sollte die Möglichkeit von Tendenzen in verschiedenen taktischen Fragen bzw. Entscheidungen in der S.I. zugelassen werden, unter der Bedingung, dass unsere allgemeine Basis nicht infrage gestellt wird« (Debord 1977: 462). Wird während der Auseinandersetzung jedoch deutlich, dass eine gemeinsame Basis doch nicht oder nicht mehr besteht und der Konflikt somit nicht-gemeinschaftlich und dysfunktional zu werden droht, so wird er durch Austritt/Ausschluss beendet. Und ab diesem Moment kann das Spiel bzw. der Streit von neuem beginnen. Das Abwechseln von produktiven und lähmenden Phasen des Streits sorgt daher, nicht zuletzt durch die dadurch ausgelöste Mitgliederfiuktuation, für das theoretische Vorankommen der Gruppe.
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111. Resurne Abschließend soll noch einmal auf die eingangs formulierten Leitfragen zurückgekommen und versucht werden, mit ihrer Hilfe eine Zusammenfassung dessen zu liefern, was hier als avantgardistische Streitkultur vorgestellt wurde.
111.1 Formen des Streits Der Streit tritt in der Sphäre der Avantgarden in verschiedensten Ausprägungen auf und ist dabei auf allen skizzierten Ebenen als eine für Avantgarden grundlegende soziale Praxis aufzufassen. 26 Vom Streit innerhalb der einzelnen Gruppe über den Streit innerhalb einer Generation sowie zwischen den verschiedenen Generationen von Avantgarden bis hin zum Streit zwischen Avantgarde und Gesellschaft ist dabei eine Steigerung seines Abstraktionsgrades erkennbar. Der, wenn man so will, >klassische Streit< zwischen zwei oder mehreren Einzelpersonen in einer Face-to-face-Situation lässt sich nur auf der Ebene der einzelnen Avantgardegruppen finden. Bereits auf der Ebene des Streits innerhalb einer Avantgardegeneration hat man es mit Auseinandersetzungen zwischen Gruppen zu tun, die nur noch selten von Angesicht zu Angesicht geführt werden, während das Medium der schriftlichen Debatte in den Mittelpunkt rückt. Dies verstärkt sich nochmals beim Übergang zum Streit zwischen verschiedenen Generationen der Avantgarde, bei dem sich der Abstand weiter erhöht bzw. die kommunikative Erreichbarkeil des Gegners nochmals abnimmt. Beim Streit zwischen Avantgarde und Gesellschaft schließlich hat es die streitende Avantgarde mit einem höchst abstrakten und kaum noch greifbaren Gegner zu tun. Dabei wurde deutlich, dass diese vier Ebenen des Streits nicht unabhängig nebeneinander stehen. Vielmehr sind sie in diversen Kombinationen miteinander verbunden, es lassen sich Übergänge und Verwischungen zwischen ihnen ausmachen. Gerade durch diese Verschränkungen der Ebenen scheint die Fortdauer des Streits verständlich zu werden. Streit, der auf der einen Ebene zur Ruhe kommt oder geschlichtet wird, bietet auf einer anderen Ebene den Anlass zu neuen Auseinandersetzungen. Ähnlich wie bei den Avantgardegruppen selbst ist somit auch beim Streit eine Bewegung des Auf- und Abtauchens erkennbar.
111.2 Anfang und Ende des Streits Die Frage nach Anfang und Ende des Streits ist vor diesem Hintergrund nicht so leicht zu beantworten. Erkennbar ist in diesem Zusammenhang zunächst, 26 Dabei sollte jedoch nicht aus dem Blick geraten, dass es sich in den meisten der hier skizzierten Streitsituationen zunächst um eine künstlerisch-ästhetische Praxis handelt bzw. um eine vom künstlerisch-ästhetischen Bereich ausgehende soziale Praxis. Diese hat jedoch gerade beim Futurismus, bei DADA, dem Surrealismus und bei der S.I. deutliche politische und soziale lmplikationen. Daher kann der Streit, gerade bei der S.T., als soziale Praxis bezeichnet werden und sollte nicht als rein künstlerisch-ästhetische Äußerungsform aufgefasst werden. (vgl. auch oben, Anm. 2).
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dass es auf allen Ebenen stets die Avantgarde ist, die den Streit beginnt. Die Avantgarde eröffnet die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, versucht, ihre Grenzen aufzuzeigen und zu sprengen. Die aktuelle Generation der Avantgarde greift die vorangegangene an, nachdem diese ihren Streit mit der Gesellschaft beendet und daher ihren Avantgardeanspruch verspielt hat. Beim Streit innerhalb einer Generation entsteht der Streit, weil eine Gruppe sich für avantgardistischer als eine andere hält oder einen Alleinvertretungsanspruch erhebt. Und auch innerhalb der einzelnen Avantgardegruppen ist es meist die sich als fortschrittlicher erachtende Fraktion, die den Streit zur Durchsetzung ihrer Ansichten bemüht. Zwei Dinge fallen bei den letzten zwei Ebenen auf: zum einen die Tatsache, dass die Avantgarde als aktuelles Phänomen häufig eine Definitionsfrage ist. Es geht hier um die Selbstbezeichnung als Avantgarde. Genau deshalb ist dieser Begriff innerhalb der Gruppen und zwischen ihnen so umstritten, reiben sich mehrere Selbstdefinitionen von Avantgarden aneinander. Damit hängt der zweite Aspekt zusammen: der Totalitätsanspruch der einzelnen Avantgarde. Denn aus der Logik der jeweiligen Gruppe kann es nur eine richtige Richtung des Voranlaufens, der Grenzüberschreitung geben - und das ist selbstverständlich die eigene. Die Frage nach der Durchsetzbarkeit dieses Alleinvertretungsanspruchs fiihrt zur Frage nach der Beendigung des Streits. Innerhalb der Einzelgruppe ließe sich dieser Anspruch vielleicht noch am ehesten durchsetzen, der Streit wäre durch den Sieg einer Partei beendet. Dieses Ende verliert jedoch seine Eindeutigkeit, wenn sich die unterlegene Fraktion abspaltet. Denn dann kann der eben abgetauchte Streit innerhalb der Gruppe als Streit zwischen Gruppen wieder auftauchen. Auf dieser Ebene scheint der Streit sich am längsten zu halten und meist erst dann zur Ruhe zu kommen, wenn sich eine Gruppe auflöst oder ihren Avantgardeanspruch aus Sicht der weiterbestehenden Gruppe verwirkt hat und daher zu den vergangeneu Avantgarden zu zählen ist, kurz: wenn der Gegner verschwindet. Doch auch mit einem verschwundenen Gegner lässt sich zur Schärfung der eigenen Position sehr gut weiter streiten, dann eben als Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Generationen der Avantgarde. Auch in der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft scheint aus Sicht der Avantgarde wenig fiir ein Ende des Streits zu sprechen: Die Chance, dass hier der Streitgegenstand wegfällt, indem die Utopien der Avantgarde umgesetzt und ihre Grenzüberschreitungen somit akzeptiert werden, ist genauso gering wie ein Verschwinden des Streitgegners. Dass der Streit dennoch beendet werden kann, liegt an der entwaffnenden Integrationsleistung der Gesellschaft, die dem avantgardistischen Streit seine Wirksamkeit nimmt und ihn durch eine Kombination von Unterdrückung und Kornpromissfähigkeit im Sinne einer graduellen Grenzverschiebung beendet. Doch auch hier ist es mehr ein Abtauehen als ein völliges Stillstellen des Streits. Denn schließlich ist genau diese gesellschaftliche Aneignung avantgardistischer Kritik der Auslöser des nächsten Streits, dann vorgetragen von der nächsten im Auftauchen begriffenen Avantgarde. Denn auch wenn die von der vorangegangenen Avantgarde anvisierten Grenzen durch diese nicht aufgehoben werden konnten- deutlich sichtbar gemacht wurden sie aufjeden Fall.
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111.3 Funktionen des Streits Die Avantgarde als zeitliches Konstrukt, als Bewegung von Voranlaufen und Eingeholt-Werden, findet im Streit aus mehreren Gründen ihre adäquate Ausdrucks- und Handlungsweise. Es ist erkennbar, dass sowohl bei der Avantgarde insgesamt als auch beim Streit als ihrer Ausdrucksform ein vergleichbares Auf- und Abtauehen festzustellen ist. Die Phase des VorausLaufens der Avantgarde lässt sich als diejenige des Streits auffassen, während das Eingeholt-Werden oftmals den Streit beendetoderauch umgekehrt die Beendigung des Streits das Eingeholt-Werden zur Folge hat. Die Streitbarkeit bzw. Streitlust ließe sich als ein zentrales Erkennungsmerkmal von Avantgarden bzw. als >roter Faden< der verschiedenen avantgardistischen Gruppierungen beschreiben. Mit Blick auf die einzelne Gruppe fallt auf, dass der Streit vor allem in der Anfangs- bzw. Konstituierungsphase von zentraler Bedeutung ist, er dient der Herausbildung der Gruppenidentität und ihrer Legitimierung, er ist als Abstoßungsbewegung aufzufassen. Um durch eine solche Abstoßung das Voranlaufen einzuläuten, müssen jedoch die entgegen aller vorgeblicher Neuheit vorhandenen Verbindungen zu den Vorläufern verschleiert werden. Die Herausbildung einer neuen Avantgarde ist somit stets eine Mischung aus Anknüpfung und Abgrenzung: Während die Abgrenzung zur Herausbildung der eigenen Identität beiträgt, erfullt die Anknüpfung bzw. der Verweis auf Vorläufer eine legitimatorische Funktion. Genau dieses schwierige bis paradoxe Verhältnis von Anknüpfung und Abgrenzung findet im Streit, der ja zwangsläufig auf einen Gegner angewiesen ist, den es zu überwinden gilt, seine adäquate Ausdrucksform. Für die Avantgarde ist der Streit auf den vier skizzierten Ebenen der Hauptantrieb, das Lebenselixier. Der Bruch und die Konfrontation sind ihre zentralen Vorgehensweisen. Sowohl in ihrem Inneren als auch nach außen sorgt der Streit für das Vorankommen, für die Entstehung von neuen, kritischen theoretischen Positionen. Gleichzeitig jedoch sind diese im Streit entwickelten Positionen sowohl nach innen als auch nach außen mit einem gewissen Totalitätsanspruch behaftet, der dazu fuhrt, dass die Tendenz zur Vereinheitlichung und somit zur Beendigung des Streits zu beobachten ist. Die Avantgarde ist streitlustig, versucht den Streit aufrecht zu erhalten, ihn gerade gegen die Aneignungsversuche von künstlerischer und gesellschaftlicher Sphäre zu verteidigen. Doch gleichzeitig läuft der in der Avantgardelogik enthaltene Alleinvertretungsanspruch auf eine Beendigung des Streits hinaus. Der Streit der Avantgarde zeigt nicht nur Grenzen von Kultur auf bzw. versucht, diese zu übertreten, sondern er macht im Prozess des Streitens auch seine eigenen Regelungsmechanismen und Grenzen deutlich, wird selbstreflexiv, muss feststellen, dass auch im Streit >nicht alles möglich ist< - und erweist sich selbst als Kultur. Die Avantgarde hat somit insgesamt ein zwiespältiges Verhältnis zum Streit: So grundlegend seine Funktion ftir ihre Entstehung und weitere Entwicklung ist und so ausgeprägt daher auch die Streitbereitschaft ist, so sehr versucht die einzelne Gruppe letztendlich aus der Logik ihrer theoretischen Ansätze heraus, den Streit sowohl im Inneren als auch nach außen durch eine Vereinheitlichung der Vielfalt zu entschärfen und zu beenden. Damit entzieht sie sich die eigene Existenzgrundlage, da mit der Beendigung des Streits auch
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die Phase des Voranlaufens beendet ist und die Avantgarde eingeholt wird. Ist die Avantgarde nicht mehr in der Lage zu streiten, verliert sie ihren Charakter als Avantgarde. Sie fällt wieder zurück in die Gesellschaft; genau dadurch jedoch bietet sie Anlass für neuen Streit, schafft Platz für die nächste Generation von Streitenden und sorgt so für das Fortbestehen des Streits. Der Streit ließe sich somit, sowohl in seinem Aufflammen als auch in seiner Beendigung, als >Motor der Avantgarde< auffassen.
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STREITLUST UND STREITKULTUR DER AVANTGARDEN
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SÄNGERSTREIT ALS STREIT DER FORM SONJA WüRTEMBERGER
Der Sängerstreit ist in jüngster Zeit wieder Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungen geworden, allerdings in einem bisher wenig erforschten Gebiet: Die Arbeiten Sascha Verlans (z.B. 2003; ders. 2005; ders./Loh 2000; dies. 2006) beschäftigen sich intensiv mit der Funktion des deutschsprachigen Raps in der aktuellen Literatur und fragen, inwieweit sich dessen Battleund Wettstreitkultur in die Tradition des Sängerstreits einreihen lässt. Dabei verweist Sascha Vertan (so auch in seiner Sendung im Deutschlandfunk1) u.a. auf den Sängerstreit im Mittelalter. Genauere sprachliche wie stilistische Arbeiten, die diesen Zusammenhang vor allem auf der künstlerisch-technischen Seite belegen können, stehen jedoch noch aus. Ich möchte hier einen Anfang machen. Die Kultur des literarischen Streits, dessen Polemik stets innerhalb seines literarischen Systems verharrt, kennt zunächst vielfache Formen: das Zitat, Polemik in Briefen, öffentliche Diffamierungen und die Parodie in allen literarischen Formen. Doch nur der Rap und die Dichtung des hohen Mittelalters pflegen ihren Streit in komplexen formalen Strukturen, fast muss man sagen: pflegen einen Streit der Form. Zwei offensichtlich völlig verschiedene Kulturen wählen den gleichen Weg des Wettkampfs mit klaren Regeln in der Hierarchie und der Zitationsweise; >dönediebe< bzw. >biter< (d.h. Plagiatoren) werden verachtet. Solange man sich an diese Regeln hält, ist man auch noch als Verlierer Teil des Systems. Was zunächst nur wie ein Streit zwischen Dichtem um die Vorrangstellung innerhalb der eigenen >Kulturabteilung< aussieht, verweist aber explizit auf soziale und politische Dimensionen: Der Sängerstreit ist ein im besonderen Maße literatur-politischer, dessen soziale Komponente als wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand nicht zu unterschätzen ist. Denn in ihm spiegeln sich die Regeln seiner ihn umgebenden Welt wider. Er nimmt sie auf, transformiert und tradiert sie. Er instrumentalisiert und wird instrumentalisiert. Doch was macht den mittelhochdeutschen Sängerstreit mit einem Rapbattle vergleichbar? Und welchen heuristischen Wert kann man einem solchen Vergleich beimessen? Zunächst erheben manche Rapper selbst den Anspruch, Erbe der mittelalterlichen Kultur zu sein, wie z.B. Torch in Derflammende Ring: »Minnesang immer schon war eine redlich Kunst. .. « (Torch 2000). Er ist auch derjenige, der darin den Begriff »Text-Turniere« geprägt hat undso-sicherlich in einer eklektizistischen Unbefangenheit, was seine verwendeten MittelalterMotive anbelangt - den Bezug zu einer längst untergegangenen Kultur schafft. In Frankreich knüpft u.a. die Gruppe Massilia Sound System an die Vgl. http://www.dradio.de/dlf/sendungen/langenacht/289782/.
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Troubadour-Tradition an, indem sie auf okzitanisch rappt, dem fast untergegangenen Dialekt, in dem auch die Troubadours gedichtet und gesungen haben. Inwieweit dieser Anspruch auch für den deutschen Rap gerechtfertigt ist, soll im Folgenden an einer exemplarischen Analyse dargelegt werden. Wie die mittelalterliche Erzählkunst ist auch der Rap stark mündlich geprägt. Ein Zusammenhang kann deshalb hier auf der formal-ästhetischen Ebene sowie der kulturtypologischen Produktion mündlicher Kulturen gesehen werden (vgl. z.B. Kimmirrich 2003). Die formale Ausrichtung des Rap, die vor allem durch die feststehende Rhythmik bestimmt wird, lässt die poetische Funktion der Sprachkunst zur Dominante (vgl. Jakobson 1979: 83-121) des Rap werden. Besonders lässt sich das in selbstreferentiellen Texten wie denen des Sängerwettstreits beobachten. Beide pflegen - überspitzt formuliert- einen Formalismus, der die Weiterentwicklung der jeweiligen Dichtkunst erst ermöglicht. In diesem Aufsatz möchte ich daher zusätzlich den Kunstwert des Rap, der nach wie vor irrfrage gestellt wird (vgl. z.B. Bayer 2004), herausstreichen. Zunächst gehe ich kurz auf den Wettkampfgedanken ein, der beide Kulturen - die des Mittelalters und die des HipHop - prägt. Nach einem kurzen, einführenden Beispiel werde ich dann zwei Sprüche des Meißners aus dem 13. Jahrhundert und einen Rap von Danny Fresh analysieren, da sie dieses agonale Prinzip in besonderer Weise in sich tragen: nämlich in der dargebrachten Form selbst? Ein Ausblick, wohin diese Form des Wettkampfs die Dichtung führt, soll diese Untersuchung abschließen.
I. Spielregeln des Wettstreits Die Kultur des HipHop ist ebenso wie die des Hochmittelalters geprägt von Inszenierung und Repräsentation: Neben der unleugbar wichtigen Erschaffung von Bildern in den passenden Musikvideo-Clips ist es im HipHop vor allem die Sprache, die Bilder aufleben lässt und zelebriert. Die Inszenierungen des Körpers und des Sozialen bilden hierbei den Rahmen: »Das theatrale Spiel im HipHop ist kein Spiel im Sinne des >So-tun-als-obreale< Kampf rivalisierender Gruppen in einem Viertel von Detroit wird schließlich in einem Freestyle-Battle auf der Bühne eines kleinen Underground-Clubs ausgetragen - vor den Augen der diesen Streit betreffenden Öffentlichkeit. Diese Verlagerungen auf die Bühne fuhren zu emer »Agonalisierung des Kriegs, die Wirklichkeit wird agonal überformt, höfisches [wie HipHop-spezifisches; S.W.] Interaktionswissen gibt sich[ ... ] seine eigene imaginäre Wirklichkeit. Diese wird imaginär geboren, aber sie ist wirklich. Und sie ist aufsensationelle Weise wirklich, denn sie folgt neuen Regeln, die sie als eine unwahrscheinliche Wirklichkeit entstehen lassen - unwahrscheinlich, weil nichts zunächst dafür spricht, daß aus einem Kampf um der Vernichtung oder Unterwerfung eines Gegners willen ein Kampf vornehmlich um der eigenen Ehre willen wird« (Haferland 1988: 32f.). Und nur um Ehre und Anerkennung innerhalb der Szene geht es in den Battles.
1.1 Battles Der Wettstreit bestimmt die Fortentwicklung im HipHop seit dessen Ursprüngen, sei es beim B-Boying - dem Breakdance - , beim Graffiti, beim DJing und schließlich auch beim Rappen: »Mit der Battle- und FreestyleKultur ist etwas ins literarische Leben zurückgekehrt, was lange Zeit vergessen war: Improvisation und Wettstreit« (Verlan/Loh 2000: 92). Da ist es nicht weit bis zu Aristoteles, der den Ursprung der Dichtung in der Improvisation sieht. 3 Der Battle »bezeichnet zum einen die konkrete künstlerische Auseinandersetzung innerhalb der HipHop-Bewegung, etwa Freestyle- oder GraffitiBattle, aber auch den Motor der Bewegung (= Battle-Gedanke)« (ebd.: 121 ; vgl. a. Androutsopoulos 2003: 12). Seit Afrika Bambaataa in den 1970er Jahren die Zulu Nation als schwarze politische Bewegung gründete, wird der Battle auch als eine Möglichkeit betrachtet, Konflikte gewaltfrei zu lösen. HipHop soll somit »nicht nur Konkurrenz und Kampf, sondern vor allem eins: eine an ethischen Prinzipien orientierte Wertegemeinschaft« (Klein/ Friedrich 2003: 51) sein. 4 Im Gegensatz zu sportlichen Wettkämpfen geht es beim Battle nicht um Rekorde und Medaillen, sondern um Ehre, Anerkennung und Respekt.
3
Vgl. hierzu die Ausführungen von Aristoteles (1965: 1448b, 20), wenn er in der Poetik über die zwei Ursachen der Dichtkunst spricht.
4
Dass vor allem in jüngster Zeit auch in Deutschland diese Ideale nicht mehr gepflegt werden, ist an den gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Berliner HipHop-Szene zu sehen, wobei auch hier das Thema des Battles als Kunstform - gerade bei sehr gewaltverherrlichenden Texten - immer wieder thematisiert wird (vgl. z.B. Simon/Willeke 2008: 17-23).
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»Aus dieser Perspektive ist jeder Rap eine Kampfansage, jeder Move ein Angriff, jedes Graffiti ein Raumgewinn. Ein nie endender Wettbewerb, der den Hiphopperu größte Aufmerksamkeit abverlangt: aufpassen, beobachten, schnell reagieren, parieren und austeilen. Jeder Sieg ist Verteidigung, jede Anerkennung kann schnell wieder zunichte gemacht werden« (ebd.: \56).
Die Konkurrenz ist somit unmittelbar in den Prozess der Stilbildung und der Steigerung der Qualität eingebunden. Über den Sieger entscheidet das Publikum oder eine stellvertretende Jury. »[N]ur wer improvisieren kann in Reimen und Versen, kann wirklich in Dichtung streiten« (Verlan/Loh 2000: 94). Für Sascha Verlan und Hannes Loh knüpft der HipHop hier an die alten Traditionen des Dichterstreits und des Sängerkriegs an, die »vor allem in der Frühphasen literarischer Entwicklung« (ebd.) konstituierend gewesen seien.
I. 2 Sängerkrieg Das agonale Denkmuster ist uns aus der Tradition des mittelhochdeutschen Sängerstreits und Sängerkriegs bekannt. Günther Schweikles Zusammenstellung gibt davon beredtes Zeugnis (Schweikle 1986). Dieser Streit zeigt sich in einer Vielfalt von Gattungen: Inhaltsparodien, Formparodien, Gattungsparodien, Scheltstrophen, Polemiken innerhalb von Dichterfehden. Höhepunkt ist die »fiktionalisierte Fehde« (ebd.: IX), denn sie zeigt, dass es sich beim Sängerstreit um einen Topos handelt, der zum Selbstläufer geworden ist. Natürlich ist der Wettstreit auch dazu da, den Sänger innerhalb seiner Zunft zu positionieren, zugleich aber liegt seine Funktion, wohl nicht weniger wichtig, im »Vergnügen des Publikums« (ebd.: XI). Anders als der HipHop, der sich hermetisch mit seinen Sprachcodes vom gesellschaftlichen Mainstream auszuschließen versucht und sein Wettstreit-Ideal feiert, das den primus inter pares sucht, sind die mittelalterlichen Sänger immer inner- und außerhalb ihrer gesellschaftlichen Ordnung. Sie sind nicht Teil der Gesellschaft, aber Teil des gesellschaftlichen Lebens und müssen sich deshalb auch >externen< Bewertungen aussetzen, da ihre Existenz davon abhängt. Obwohl von der Gesellschaft ausgegrenzt, schließen sich die Fahrenden aber nicht zusammen, sondern spalten sich noch in Untergruppen auf und bekämpfen sich mit literarischen Mitteln.
II. Watther und die Fantastischen Vier Ein Beispiel mag einen ersten Eindruck der Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Streitkulturen vermitteln: Das berühmte, so genannte Schachlied Walthers von der Vogelweide greift ein Minnelied seines Kontrahenten Reinmar auf, bricht dessen Struktur auf und parodiert es am Ende durch eine grammatische transformatio. Aus »Si ist min ostedieher tac« (»sie ist mein Ostertag«) des Reinmar wird »si si sin ostedieher tag« (»sie sei sein österlicher Tag«) bei Walther (beide Zitate Handschrift C), der metaphorische Preis
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der Minnedame verkommt so zu einem kakophonen Stottern: »si si sin« (vgl. Fischer 2003). 5 Im deutschen Rap gibt es seinerseits die Form der Dichterfehde, z.B. in den 1990er Jahren zwischen den Gruppen Rödelheim Hartreim Projekt (RHP) und Die Fantastischen Vier (F4). Das erste Album von RHP, Direkt aus Rödelheim, ist eine sogenannte »Diss«-Platte. Das »Dissen« (eng!. »disrespect«), also das Anreden auf despektierliche Art und Weise, wurde auf diesem Album von diversen, zu diesem Zeitpunkt auf dem Markt befindlichen Rapkünstlern aufgegriffen. Die F4 hatten auf ihrem ersten Album hingegen noch recht naive Verse verfasst, unter anderem »jede menge reime, die sich auch noch reimen«. 6 Dieser Vers wurde ihnen von RHP wieder zurückgespielt, indem diese den Refrain eines äußerst polemischen wie vielfältig vulgären Raps, der nur aus dem gesungenen Wort »Reime« besteht, mit einem wiederkehrenden Sampie dieses Verses der F4 unterlegten. Die F4 ließen dies jedoch nicht auf sich beruhen, sondern machten sich bereit für die nächste Runde. Sie griffen die Melodie des »Reime«-Refrains auf und wandelten auch ihren eigenen frühen Reim ab zu: wer hatte recht als er behauptete vier gewinne das waren wir mein kindund jetzt spitz dein ohr und setz dich hin wir singen dir ein Iied vor über schweine denn wir machen reime um die sie uns beneiden schweine und damit auch noch scheine das können die nicht leiden Dabei wird »Schweine« wie »Reime« bei RHP intoniert, die jeweils folgenden Zeilen haben die gleiche rhythmische Struktur wie »jede menge reime, die sich auch noch reimen«. Dieses eine Beispiel ist ebenso schlicht wie eingängig und mag einen ersten Eindruck vermitteln. Komplexer wird es bei thematischen Parallelen, bei der Verknüpfung von Sport- und Kriegsmetaphorik, vielschichtigen Reimstrukturen und strengen F ormalia. Letzteren gilt die Frage: Wem dient dieser strenge Formalismus? Keine dichterische Polemik nach dem Ende des Mittelalters hat sich noch einmal so intensiv der sprachlichen und stilistischen Kunst als Wettbewerbsbedingung und Waffe bemächtigt.
111. Der Meißner und Danny Fresh In den meisten Dichtungen innerhalb der Sängerstreittradition geht es um Wettkampf, Ehre und Status. Die höchste Kunst allerdings ist es, auf indirek5 6 7
Hubertus Fischer wagt am Ende seines Aufsatzes als erster Mediävist einen Ausblick auf den Rapbattle, ohne ihn allerdings näher zu spezifizieren. In diesem Zusammenhang muss auch immer beachtet werden, dass im Rap der aus dem Englischen übernommene »rhyme«IReim-Begriff sowohl den Reim im engeren Sinne als auch den Vers an sich bedeuten kann. Vier gewinnt war der Titel des ersten Albums der F4, die mittlerweile die erfolgreichste HipHop-Band Deutschlands sind.
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te Art eine Kampfansage zu machen. Zu den >Text-Turnieren< dieser Art sollen nun zwei Sprüche des Meißners aus dem 13. Jahrhundert und ein RapSong von Danny Fresh aus dem Jahr 2006 betrachtet werden. Der Meißner war ein mitteldeutscher Sangspruchdichter aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts, der innerhalb seiner Zunft hoch angesehen war. Nähere Umstände zu seinem Leben liegen wie bei den meisten seiner Zeitgenossen im Dunkeln. Allerdings kann man aus der ihm zugeschriebenen überlieferten Dichtung schließen, dass er eine wichtige Rolle im zu dieser Zeit aufkeimenden Sängerstreit spielte. Danny Fresh ist ein Rapper aus der Gegend um Stuttgart und die meiste Zeit seiner Karriere als MC und Freestyler eher eine regionale als nationale Rap-Größe geblieben. Innerhalb der Szene ist er aber kein Unbekannter. Battle-Raps werden in Zusammenhang mit seinem Namen weniger vermutet, da er hauptsächlich in der christlichen HipHop-Szene unterwegs ist. Songs wie Strike back und BB Baby auf seinem 2006 erschienenen ersten Soloalbum Veni zeugen jedoch von einer artifiziellen SattleKunst, weswegen BB Baby hier auch vorgestellt wird. Beide, der Sängerdichter und der Rapper, verwenden stilistische Mittel im Übermaß - die kämpferische Komponente wird fast überdeckt von einem überladenen Stil in Form von Buchstabenspiel, Lautmalerei und Reimwillen. Daher eignen sie sich auch hervorragend für einen stilistischen Vergleich, der die Idee eines >Wettstreits der FmmDiz liet aller buoche buochstabe besliuzet.< Sliez üfden sin! dln kunstdes woI geniuzet. Paris, Padouwe, Saleme e des selben jach. Jn disem Iiede suochet lere Ein wlser man, der hät verloren s:ihen namen: Mam was s:ih vleisch, gröz was s:ih ere. Swer mir den nennet, der nedruf sich des nicht schamen. Ein itslich kunsterräte, in disem Iiede Wie hiez der man? der snepfe in deme riede Wil wilde sln, des mac man selten in gezamen.« (Schweikle 1986: 91)
Aleke bat KllliZ, dem ein Freund Hechte gab. In Griechenland nahm man Pfauder auf, wurde die Schalkstat ruchbar. Christopher sprach zu sich selbst: »Dieses Lied umfasst die Buchstaben aller Bücher!« Entschlüssele seine Bedeutung! Deine Kunst wird davon profitieren. Paris, Padua, Salemo haben das auch innner gesagt. In diesem Lied sucht ein weiser Mann Belehnmg, der diesen Titel verloren hat: Marn (mürbe?) war sein Fleisch, groß war seine Ehr. Wer mir den nennt, braucht sich dessen nicht zu schämen. Jener Dichter rate, wie hieß der Mann in diesem Lied? Die Schnepfe im Ried will ein Wildvogel sein, deshalb kann man sie selten [oder: niemals] zähmen. (Höver/Kiepe 1978: 403)
Dem Meißner werden mehrere Strophen innerhalb der beliebten Polemiken um den Marner zugeschrieben ( vgl. dazu die Zusammenstellung unter Schweikle 1986: II.b. Fehden um Mamer, ebd.: 78-83). Allerdings wird Marners Name dabei kein einziges Mal genannt, einzige Ausnahme ist nach Ansicht mancher Forscher obiger Spruch. Hier heißt es in Vers 9: »Mam was sin vleisch, gröz was sin ere«. Diese Parallelkonstruktion soll deutlich auf den Mamer verweisen, was allerdings nicht mit Sicherheit bezeugt ist (vgl. Wa-
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chinger 1973: 151f.). Dennoch ist der Spruch als Kampfansage an die literarische Welt zu verstehen. Durch die Verwendung des gesamten Alphabets in dem Satz, der mit »Aleke bat cunzen« beginnt, entsteht der Anspruch, exemplarisch und faktisch alles gesagt zu haben, was es zu sagen gibt, wie der Meißner selbst zugibt: »Diz liet aller buoche buochstabe besliuzet« (Vers 4). Das Abecedarium umfasst den ersten Stollen (Verse 1-3) komplett, den Ort der Einleitung, die zugleich alles und nichts sagt; »[i]hren Sinn aber hat noch niemand erraten, obwohl der Meißner ausdrücklich dazu auffordert und demjenigen Vorteile Ttir seine Kunst verspricht, der den Sinn >aufschließtSinnseltenen< Fällen seiner neuhochdeutschen Bedeutung, meist steht es ft.ir >nieLehrstück< soll sich vertieft noch einmal mit der Reimkunst des Meißners auseinandersetzen: Ein snellez rat lief unde rat, daz selbe rat treip Chuonrat, der buoch unrät, guot was der rät: nu rät den rät mit muozen. Zuht angeleit ist guot geleit, zuht kann erwenden herze leit. swem sünde ist leit, Got den hie leit, den wir ouch vürhten muozen. Ich brach den arm, des wart ich arm. ein wazzers arm, stuont staete, und muol diz stat, dä stuont ein stat, dar nu niht stät, unstaete was des, waz man gebuwete wider: ich verlös zwei schäflmd einen wider; den schaden klage ich staete. (Schweikle 1986: 101)
Ein schnelles Rad lief und drehte sich, und jenes Rad trieb Konrad, der eine Schande fur die literarische Welt ist [oder: keine Ahnung von Büchern hat] , sinnvoll war der Rat: Jetzt ratschlage den Rat mit Ruhe. Mit Bildung bekleidet hat man gutes Geleit, Bildung kann von Herzschmerzen heilen. Wer die Sünde satt hat, den führt Gott hierher, den wir auch furchten sollten. Tch brach mir den Arm, davon wurde ich arm. Ein Wasserarm beständig stand und mahlte die Stätte; dort war eine Stätte, die jetzt dort nicht mehr steht, unbeständig war das, was man wieder aufbaute. Ich verlor zwei Schafe und einen Widder, den Verlust beklage ich ständig. (Übersetzung S.W.)
Der erste Stollen enthält achtmal einen Reim auf »rat«l»rät« im Sinne von >RadRatKonradUnrat< und >rate!muozen< hin, der auf diese Weise phonetisch vorbereitet wurde und zugleich die mittlerweile automatisierte Hörererwartung, nach dem Diphthong [uo] noch ein >rat< zu bekommen, enttäuscht. Der zweite Stollen verwendet [uo] noch einmal, >leitet ihn gut< weiter (» ... guot geleit«), lässt es aber dann dabei bewenden. Bei >leit< sind grammatische Reime häufiger, drei der fünf Reimwörter gehören dem Lexem >leit-< (anleiten, geleiten, leiten) an, zwei sind auslautverhärtete Derivate zum Lexem >lld-< (Leid, leid). Die Häufigkeit der Reimwörter insgesamt ist geringer. Dabei ist aber zu beachten, dass >leit< phonetisch >rat< sehr nahe steht, [I] und [r] bilden als Liquide gemeinsam eine Untergruppe der Sonoranten. Die Assonanz des Diphthongs, der seinen Onset im [a] hat, erklärt sich wohl von selbst. Die Anapher >zuht< ist einsilbig und endet eben-
SÄNGERSTREIT ALS STREIT DER FORM
I
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falls auf [t]; sie reiht sich somit in die Reimreihe ein. Das gleiche gilt für >Gotmuozen< enttäuscht und erfüllt zugleich die Hörererwartung: Die assonante Reimfolge wird nicht weiter getrieben, aber der reine Reim am Versende markiert das Ende des Aufgesangs und grenzt ihn phonetisch vom Abgesang ab. Dieser nämlich reimt sich nun aufHomonyme der Lautfolge [arm] (Arm, arm, Wasserarm) mit einer parallel konstruierten assonantischen Erweiterung auf [a]: » ... brach den arm I .. .wart ich arm I .. .wazzers arm«. Darauf folgt eine ähnliche Reihe auf [uo] und mit einem grammatischen Reim auf Flexionen und Derivate des Verbs >stänUnbeanstandet passierenRitter HeinrichHeinrich< der beste Freund Konrads, der ein Auge auf die wunderbaren, höfischen Tiere seines neuen Freundes wirft. Als beide bei einem Kriegszug des Herzogs von Brabant als Kundschafter unterwegs sind, versichert Konrad dem Ritter >HeinrichHeinrich< verbalisiert schließlich deutlich, was bislang in der amourösen Stimmung nur angeklungen ist: »her Heinrich sprach: min gerirre ist einer hande dinc: ich minne gerne di man, ni dehein wip ich gewan. tut ir daz und swaz ich wil, winde unde vederspil gibeich uch mit willen.« (Ebd.: Verse 737-743)
Herr Heinrich sagte: >Mein Begehren ist Folgendes: Ich liebe die Männer, eine Frau habe ich nie besessen. Wenn ihr alles tut, was ich will, dann gebe ich euch die Windhunde und den Jagdvogel sehr gerne.
Heinrich< leistet den Dienst an dem Ritter Konrad, der den Minnelohn gewähren soll. Konrad verwahrt sich anfänglich gegen diesen Minnehandel (und erfüllt damit seine Rolle als >MinnedameHeinrichs< weiß, ist dieses Bild der krönende Abschluss einer Pervertierung der traditionellen Minnerollen: Während in der Gartenszene die Dame »nider seic I und der ritter nach neic« (ebd., Verse 349f.), ist es hier der Ritter, der in einem ähnlich aggressiven Akt unten zu liegen kommt. Auf dieser Basis von Analogien und Unterschieden wendet nun die Dame das Paradigma »Guck dich doch mal an!« gegen ihren Ehemann an und beginnt so einen Streit, der bislang durch das Verschwinden Konrads ein statischer Konflikt ohne Kommunikation bleiben musste: Triumphierend demaskiert sich >Heinrich< und gibt sich als die Ehefrau Konrads zu erkennen. Sie vergleicht ihre beiden amourösen Abenteuer und stellt dasjenige ihres Mannes als weitaus schlimmer dar als ihr eigenes: »do sprach her Heinrich: weiz got, ir sit worden mir ein spot! weit ir nu ein ketzer sin durchhundeund den habich min? vil untugenthafter lip, ich bin uwer elich wip. durch habich und durch winde und durch das ros swinde und durch minen horten gut, der mir gibet hohen mut zu strite und zu tjuste, einen ritterich kuste und liz in bi mir slafen, daz ir mit dem wafen weret mit des bmien kraft
Da sagte Herr Heinrich: >Weiß Gott, Ihr seid verachtenswert für mich geworden! Wollt ihr denn ein Ketzer werden wegen meiner Hunde und dem Habicht? Du sündhafter Leib, ich bin eure Ehefrau. Wegen dem Habicht und der Windhunde und wegen dem schnellen Ross und wegen meines vortrefflichen Gürtels, der mir die Kraft flir Schlacht und Turnier gibt, habe ich einen Ritter geküsst und ließ ihn mit mir schlafen, damit ihr solchermaßen gewappnet und durch die Macht des Gü1iels
22 Im Streit wird die Minnedame diesen wirtschaftlichen Unterschied auch zum Thema machen, s.u.
·•GUCKDICHDOCHMALAN!" 1155
werder in der ritterschaft. nu welt ir ein ketzer sin vil gerne durch den habich min und rumt ir vor mir di lant. ir habt uch seihen geschant! daz ich tet, daz was menschlich; so woldet ir unkristenlieh vil gerne haben nu getan.« (Ebd.: Verse 775-797)
in der Ritterschaft an Ansehen gewinnt. Nun wollt ihr aber am liebsten wegen meines Habichts ein Ketzer werden und gebt mir bereitwillig nach. Ihr habt selbst Schande über euch gebracht! Was ich tat, das war menschlich; ihr aber wolltet gerade bereitwilligst völlig unchristlich handeln.
Meine Dame, ich will ganz der eure sein. Vergebt mir meine Verfehlung, liebe Henin, du Untadelige.< Sie sagte: >Das mache ich sehr gerne. Ich möchte auch, lieber Herr, alle deine Wünsche erfüllen. Wir sollten unseren Streit beilegen. Herr, du weißt selbst am besten: Du hattest am meisten Schuld. Nun nimm den Habicht und das Ross (damit wirst du niemals unterliegen) und auch den Gürtel und die Hunde.< Am seihen Tag noch
156 I SILVAN WAGNER
furen si vil vrolich hin heim in Swabenrich.« (Meyer 1915: Verse 803-818)
reisten sie überglücklich wieder heim nach Schwaben.
Im Vergleich mit einer entsprechenden Szenerie in einer Talkshow drängt sich die Frage auf, warum Konrad sich nicht wehrt, warum er die einseitige Schuldzuweisung stehen lässt,23 obwohl die Möglichkeit einer umgekehrten Schuldzuweisung sehr nahe liegen würde - immerhin könnte man ja argumentieren, dass Konrad nicht tatsächlich mit einem Mann geschlafen hat, sondern eigentlich mit der eigenen Ehefrau und damit de facto keineswegs die Todsünde begangen hat, die ihm zur Last gelegt wird; auch könnte sich Konrad durchaus darauf berufen, dass er im Gegensatz zu seiner Frau keinen Ehebruch begangen hat, da die Ehebindung durch sein Verschwinden als gelöst angesehen werden könnte (s.o.; vgl. Schröter 1990: 91). Besonders die fehlende Reaktion auf die wiederholte Schuldzuweisung (»di schulde was din allermeist«) überrascht im Vergleich mit der Talkshow. Strukturell formuliert: Wieso ist in der mittelalterlichen Verserzählung das Streitparadigma »Guck dich doch mal an!« gleichzeitig Anfang und Ende eines Streits und nicht, wie in der Talkshow, der Anfang einer tendenziell endlosen Kette von Vorwürfen und Gegenvorwürfen? Dieser Frage soll nun im weiteren Vergleich nachgegangen werden.
Gott und Talkmaster Die Ursache für die unterschiedlichen Möglichkeiten der Funktionalisierung des Streitparadigmas in Mittelalter und Postmodeme ist in dem grundsätzlich religiös bestimmten und auf Gott orientierten Selbstverständnis der Gesellschaft des Hochmittelalters zu suchen. Dies schlägt sich bereits in den fundamentalen Kommunikationsmodalitäten des Streits nieder, denn im mittelalterlichen Streit wird auch Gott als Kommunikationspartner wahrgenommen, wie bereits die Einleitung des Streits belegt: »do sprach her Heinrich: weiz got, ir sit worden mir ein spot! weit ir nu ein ketzer sin [... ]?« (Meyer 1915: Verse 775-777)
Da sagte Herr Heinrich: >Weiß Gott, Ihr seid verachtenswert für mich geworden! Wollt ihr denn ein Ketzer werden?
Streit< vor diesem Hintergrund konsequenterweise auch nach eigenen begrifflichen Werkzeugen und methodischen (Beobachtungs-)Instrumenten verlangt. Was also ist ausgehend von diesen Annahmen nun unter >Streit< zu verstehen?
111. Dimensionen und Formen des Streits >Eine Definition dessen, was Streit >istStreit< -mehr kann und will sie nicht sein- dient in erster Linie als Diskussionsvorschlag. Sie bedarf damit der kritischen Reflexion und vor allem: der empirischen Beschäftigung mit dem Gegenstand; erst auf diesem Wege könnte sich eine längerfristig tragfahige Begriffsbestimmung hervorbringen lassen.
STREIT UND KULTUR I 217
Als einen ersten Definitionsvorschlag möchten wir folgende Bestimmung formulieren, die den >Streit< als soziologisches Phänomen ausdrücklich auf Interaktionskontexte20 beschränkt: Unter >Streit< im hier beschriebenen Sinne verstehen wir demnach eine auf einer spezifischen Differenz beruhende, sprachlich-diskursive Form der Kommunikation zwischen zwei oder mehr Akteuren in Interaktionssystemen? 1 Wir glauben, damit eine erste Annäherung an den Gegenstand formuliert zu haben, die den Streit als ein soziales Phänomen sui generis qualifiziert und zugleich verdeutlicht, weshalb er gegenüber der traditionellen Konfliktsoziologie nach neuen Mitteln und Wegen der soziologischen Analyse verlangt. 22 Die soziologische Beobachtung von historischen und gegenwärtigen Streitfällen kann nun über die soziale Struktur und Organisation von Streit und darüber, welche Dimensionen sich intern unterscheiden lassen, Aufschluss geben. Es hat sich als fruchtbar herausgestellt, bei der Analyse unterschiedlicher sozialer Phänomene eine symbolische, eine normative, eine Dimension der Interaktionen und Rituale sowie eine Organisationsdimension zu unterscheiden?3 Der Streit ist dieser analytischen Trennung zufolge sozial strukturiert, d.h. erstens symbolisch kommuniziert, zweitens rituell reproduziert, drittens normativ stabilisiert und viertens in Organisationen verdichtet. 1. Dem Streit sind in seiner symbolischen Dimension eigenständige Qualitäten abzugewinnen. So ist etwa das Symbolsystem Sprache nicht bloß ein logisches Instrument bzw. Medium der Streitaustragung, sondern in seiner
20 Ein ursprünglich noch zur Diskussion gestellter, alternativer definitorischer Kandidat war der Beg1;ff der >KopräsenzInteraktion< und >Interaktionsssystem< sowie den Kommunikationsbegriff weitgehend so, wie sie bei Luhmann verwendet werden (vgl. insbesondere Luhmann 1987: 19lff., 551ff., 560ff.; ders. 1991; ferner ders. 1991a; ders. 1993a). Interaktionssysteme sind dabei nach Luhmann durch die wechselseitige und reflexive Wahrnehmung der Interaktionspartner gekennzeichnet. Deren Beschränkung auf Situationen mit physischer Anwesenheit im engeren Sinne, sofern sie bei Luhmann überhaupt explizit so angelegt ist, erscheint uns dabei jedoch, insbesondere angesichts moderner Massenkommunikationsmedien, als zu eng. Ferner sehen wir uns durch diese begrifflichen Entscheidungen nicht gezwungen, auch das supertheoretische Gesamtangebot der Systemtheorie zu übernehmen. Dies mag als eklektisch oder gar inkonsistent kritisiert werden, erscheint uns aber lediglich als eine der Verständigung dienliche und damit pragmatische terminologische Entscheidung. 22 An dieser Stelle sei mit allem Nachdruck betont, dass wir uns hier vorerst mit einem definitorischen Minimalkonsens begnügen müssen. Für weitere Anreicherungen dieses Verständnisses von Streit sei auf die nun folgenden Dimensionierungs- und Typologisierungsversuche verwiesen. 23 Wir knüpfen hier an ein theoretisches Modell von Gephart an, der im Anschluss insbesondere an Durkheim von vier elementaren Dimensionen des sozialen Lebens sp1;cht (vgl. Gephart 1990; ders. 2006; sowie eine exemplarische Anwendung auf das Duell als einer ritualisierten Form der Beendigung des Streites in ders. 2006a).
218 I YOUSSEF DENNAOUI/DANIEL WITIE Eigenschaft als groppenbildendes Teilungsprinzip und Klassifikationssystem immer auch ein potentielles Streitobjekt: »ln der Auseinandersetzung und für die Bedürfnisse der Auseinandersetzung funktionieren die untrennbar logischen wie soziologischen Teilungsprinzipien, die mit Begriffen zugleich Gruppen schaffen [... ]. Darum geht es in den Auseinandersetzungen um die Definition des Sinns der Sozialwelt um Macht über die Klassifikations- und Ordnungssysteme, die den Vorstellungen und damit der Mobilisierung wie Demobilisierung der Gruppen zugrundeliegen. Es geht um das Evakationsvermögen der sprachlichen Äußerung, das anders sehen lässt [... ] oder das, indem es Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata modifiziert, anderes sehen lässt, andere, bislang unbemerkte oder in den Hintergrund verbannte Eigenschaften[ ... ]; es geht um das Trennungsvermögen, Distinktion, diakrisis, discretio, das aus der unteilbaren Kontinuität diskrete Einheiten auftauchen lässt, aus dem Undifferenzierten die Differenz« (Bourdieu 1987: 748; Herv. im Orig.). Neben diesem Evakationsvermögen der sprachlichen Äußerung kommt, Bourdieu zufolge, der Durchsetzung legitimer Benennungen, der eigenen Weltsicht und ihrer Anerkennung durch den Gegner eine ebenso große Bedeutung als symbolische Strategie zu. Die auf Symbolen basierenden Strategien der Distinktion und Legitimierung können dabei in zentraler Weise entscheidend für den Ausgang des Streits sein. Die im Streit praktizierten Trennungsakte, die immer einen ausgeprägten Unterscheidungssinn voraussetzen, sind zudem entscheidend bei der Schaffung und Stabilisierung kollektiver und individueller Identitäten. Im Streit erzeugen Kollektive und Individuen zugleich Selbstbilder, die je nach Streitfall in Stellung gebracht werden, um sich nach außen abzugrenzen und zu unterscheiden und nach innen den Zusammengehörigkeitsglauben und die Integrationskraft der Gruppe zu schärfen bzw. zu stärken.Z4 Auch durch die Verweigerung des Streits, d.h. auch dort, wo keine Streitakte vollzogen werden, können schließlich Gefühle der Einheit und Zusammengehörigkeit, der Abgrenzung und Unterscheidung erzeugt und damit über die Grenzen der eigenen Gruppe hinaus als ein Exklusionsmechanismus wirksam werden. 2. Normative Positionen sind generell dazu prädestiniert, zu Streitobjekten zu werden. Wie unten noch eingehender erläutert werden soll, bedarf der Streit stets eines »Konsenses im Dissens«, einer grundlegenden Einigkeit, mindestens über die Streitbarkeil der umstrittenen Objekte. Darüber hinaus bedingt er aber auch die Schaffung neuer sowie die Modifizierung alter Normen und Regeln. Streit als ein regulatives Konzept entwickelt die normativen Elemente seiner eigenen Begrenzung und Regulierung aus sich selbst heraus, er ist Gegenstand kognitiver, ethischer, juridischer und ästhetischer Klassifikationen und Bewertungen. Streitakte können, je nach Streitfall und Streitsphäre, eine spezifische normative Kraft, eine Art Streitkodifikation hervor24 Wir gehen davon aus, dass Kollektive (zumindest nach unserem Verständnis) nicht unmittelbar miteinander streiten können, sondern Streit stets mithilfe des Mediums der Stellvertretung austragen. Die hier gemeinte Stellvertretung lässt sich jedoch nicht auf ihre juridische Dimension reduzieren, sondern sie schließt alle denkbaren Formen von Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit, bewusster und unbewusster, legitimer und nicht-legitimierter Stellvertretung ein.
STREIT UND KULTUR I 219
bringen, die in der kompletten internen Organisation des Streits ablesbar bleibt. Dabei können die normativen Verhältnisse je nach Streitposition anders gedeutet und in Anspruch genommen werden; der Streit kann seine eigenen Normen und Codes affizieren und diese selbst zum Gegenstand werden lassen. 3. Der Streit kann in sinnvoller Weise als Ritual, als eine Form der rituellen Kommunikation aufgefasst werden. Er kennt verschiedene Phasen, unterschiedliche Logiken des Überganges, vielfältige Techniken und Strategien des Streit-Beginns und des Streit-Endes sowie schließlich eine Vielzahl von auf den Streit folgenden Phasen und Anschlussmöglichkeiten.Z5 Die für den Streit charakteristischen Distinktionsrituale sind habitualisierte Kanäle der Streitaustragung, Komplexe aus Gesten, körperlichen Posituren, Wörtern und Metaphern, die ein umfassendes Verhältnis zur Welt darstellen. 4. Die vierte analytische Dimension schließlich lenkt den Blick auf den Umstand, dass die normativen Ordnungen des Streits zumeist einer Verfestigung und Verdichtung in Institutionen und Organisationen bedürfen. Selbst wo er nicht zur Bildung formaler Organisationen im engeren Sinne führt, bedarf der Streit jedoch eines Mindestmaßes an sozialer, zeitlicher, räumlicher und sachlicher Koordination.Z6 Es ist diese gesellschaftliche Strukturiertheit, die dem Streit auch seinen »Lebensprozeß« (Simmel 1992: 285), seine dynamische Qualität bzw. seine Prozessualität verleiht. 27 Zu den im Rahmen des Dimensionierungsversuches formulierten Thesen kommen ein Reihe von weiteren Annahmen, die im Folgenden präsentiert werden sollen. Eine besondere und vielleicht auch besonders interessante Eigenschaft des Streits, in der normative und in Organisationsformen gerinnende Ordnungsleistungen zusammenfließen, betrifft schließlich den Bereich der notwendigen Voraussetzungen für seine Entstehung. Der Streit - so lässt sich plausibel zeigen - erfordert gerade als eine Form des artikulierten Dissenses selbst ein hohes Maß an konsensuellen Übereinkünften. Um streiten zu können ist es zwingend erforderlich, bestimmte Prinzipien als unstrittig anzuerkennen, von rudimentären Logiken der Rede und Gegenrede bis hin zu elaborierten Ethiken des Streitens. Doch die konsensuellen Grundlagen des Streits reichen noch viel tiefer. Er verlangt selbst nach einem hohen Maß an Einmütigkeit über das Objekt und die Relevanz des Streits. Um nämlich einen Streit beginnen zu können, müssen die Streitpartner zumindest diese Übereinkunft treffen: Dass der umstrittene Gegenstand oder allgemeiner: das Thema des Streits eines Streits überhaupt wert ist2 8 Schließlich - und wir wollen hier nur erste Andeutungen machen - setzt der Streit auch auf der Ebene der In25 Eine dies berücksichtigende Analytik würde vermutlich auffruchtbare Weise an klassische und moderne Ansätze der sozialanthropologischen und soziologischen Ritualtheorie anschließen können (etwa Turner 1969; Donglas 1981 ; Gaffman 1971 ; oder auch wiederum Collins 2004). 26 Wir schließen hiermit in lockerer Weise an die Dimensionen der Sinnhaftigkeit von Kommunikationen an, wie sie etwa bei Luhmann (1987: 11 2ff.) formulie1i und später bei Autoren wie Nassehi (2003: 152ff.) um die Raumdimension erweitert worden sind. 27 An dieser Stelle weichen wir von Gepha1is Modell ab, der in der vierten analytischen Dimensionen stärker auf formale Organisationen abstellt, wie sie etwa bei Luhmann (1993) grundlegend beschrieben werden. 28 »Schön sein muss Helena, wenn ihr sie täglich schminkt mit eurem Blut« (Shakespeare 1967: I, 1).
220 I YOUSSEF DENNAOUI/DANIEL WITIE
teraktionspartner ein Mindestmaß an wechselseitiger Anerkennung voraus: Das Ende jedes Streits (oder gar schon den kategorischen Ausschluss jedweder Möglichkeit fUr seine Entstehung) bedeutet es, wenn der Andere als streitunwürdig abqualifiziert, in Streitfragen zurpersonanon gratadegradiert oder sogar: überhaupt nicht als Person anerkannt wird. Der Streit setzt also einen relativ umfangreichen »Konsens im Dissens« (vgl. Bourdieu 1974: 123; sowie ders. 1998: 88f.; ders. 2001: 45; ähnlich auch schon Simmel 1992: 306f.) voraus, der sich mindestens auf den Gegenstand und die Teilnehmer des Streits, vermutlich aber weit darüber hinaus erstreckt. 29 Dass die wechselseitige Anerkennung des Anderen als notwendige Bedingung für den Eintritt in einen Streit behauptet werden kann, mag dabei sicherlich als eine der faszinierendsten Paradoxien des Phänomens erscheinen, die weiteren Nachdenkensund der gerraueren Untersuchung bedarf. Ausgehend von der oben vorgeschlagenen Arbeitsdefinition und der dort anschließenden Dimensionierung relevanter Gesichtspunkte lassen sich nun verschiedene idealtypische Formen des Streits voneinander unterscheiden. Einige mögliche Differenzierungskriterien sollen hier genannt werden. In einer ersten Dimension wäre es möglich, den Streit hinsichtlich der Rationalitätsgrade seiner Akteure, der in ihm zum Ausdruck kommenden Zweck-Mittel-Relationen bzw. der ihm zugrunde liegenden Handlungsorientierungen zu klassifizieren. Demnach wäre - in loser Anlehnung an Webers (vgl. 1980: 11 ff.) Handlungstypologie - zunächst zwischen reflexiven und nicht-reflexiven Formen und sodann zwischen einer primär zweck- und einer stärker wertrationalen, einer sich aus Konflikttraditionen speisenden und einer primär affektuell motivierten Streitform zu unterscheiden: Abbildung 1: Diffe renzierung von Streittypen nach Handlungsorientierungen
nicht-reflexiver Streit
Streit als Strategie zur Zielerreichung
Streit als Selbstzweck
traditionaler Streit
affektueller Streit
29 Dieser Konsens geht weit über ein gemeinsam geteiltes Symbolsystem wie etwa die gemeinsame Sprache (oder: >Kulturgewöhnlichen< Streitfall der Typus des >entgrenzten< und sodann der des >totalen< Streits entgegenzustellen. Auf der anderen Seite dieses Kontinuums lägen entsprechend >verhinderte< und >erstickte< oder auch >stille< Typen des Streits. Hier wäre freilich eine präzise Abgrenzung von verwandten Phänomenen, insbesondere vom vollständig >latenten< Streie2 sowie (am anderen Ende des Kontinuums) von bestimmten Formen der Eskalation vonnöten; kritische Punkte, an denen der Streit aufhört, Streit zu sein. Über den Sinn von Typologisierungen wie den hier vorgeschlagenen lässt sich freilich stets streiten. Idealtypische Konstruktionen können jedoch nicht nur die empirische Wahrnehmung leiten oder strukturieren, sondern sind zudem geeignet, aufgrund ihrer jeweiligen inhaltlichen Implikationen heuristische Funktionen zu erfüllen. So könnte etwa mit einiger Plausibilität die Hypothese aufgestellt werden, dass ein Streit um materielle Objekte und ein Streit um fundamentale Werthaltungen mit jeweils unterschiedlichen Intensitäten, variierenden Tempi und unterschiedlichem emotionalen Engagement geführt werden. Diese und andere Anschlussthesen lassen sich freilich wiederum nur im Rahmen empirischer Forschung prüfen? 3 Zudem lassen sich diese und vergleichbare Typen schließlich mit einer gesellschaftstheoretischen Ebene in Beziehung setzen. Aus einer kultursoziologischen Warte betrachtet kann ihnen nur dann ein Sinn abgerungen werden, wenn man sie an die Struktur und die kulturellen Bedingungen einer gegebenen Gesellschaft anbindet. Diese Perspektive soll im Folgenden skizziert werden.
30 Wobei dieser mit dem oben genannten Typus des >Streits als Selbstzweck< zusammenfallen könnte. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit der Berücksichtigung möglicher Zweck-Mittel-Verkettungen (vgl. Parsous 1949: 229ff., 740ff.). 31 Die Figur des Dritten findet besondere Berücksichtigung auch in der schönen Studie von Utz (1997). Die dortige Verwendung des simmelschen Streitbegriffs vermeidet es jedoch, diesen einer gerraueren Klärung zu unterziehen. 32 Den die Alltagssprache unpräzise mit der Wendung >mit jemandem Streit haben< bezeichnet. Eine gerraue Grenzziehung scheint hier notwendig, aber nicht unproblematisch: Vollständige Latenz schließt ein Verständnis von Streit im hier vorgeschlagenen Sinne aus, dieser bedarf - zumindest vorübergehend Phasen der Performanz. 33 Doch auch hier gilt die an Karrt angelehnte Aussage: Empirische Forschung ohne theoriegeleitete Hypothesen ist blind (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 198).
222 I YOUSSEF DENNAOUI/DANIEL WITIE
IV. Gesellschaftsstruktur und Streitsemantik: Streitsphären der Moderne Die ideellen und institutionellen Folgen des Investiturstreits34 in Form der Unterscheidung von politischer und religiöser Sphäre setzten eine Differenzierungsdynamik in Gang, die unmittelbar danach auch zur Verselbständigung anderer Bereiche wie Recht und Wissenschaft flihrte und weitere Differenzierungsschübe begünstigte. Das dominante Ordnungsprinzip moderner Gesellschaften, funktionale Differenzierung, lässt sich somit als »Nebenfolge« eines Streits begreifen und führt selbst wiederum zur Ausbildung von verschiedenen Streitsphären: In seiner Folge differenzierte sich die öffentliche Sphäre in eine Vielzahl von unterschiedlichen Streitarenen. Eine direkte Folge dieser ganzen Reihe von Ausdifferenzierungs- und Politisienmgsschüben ist die Herausbildung unterschiedlicher Eigenkulturen, die nicht mehr aufeinander zu reduzieren und flireinander nicht mehr verfügbar sind. Eigenkulturen also, die semantisch verschieden operieren, »wo für Politik nur noch Politik, für Kunst nur noch Kunst, für Erziehung nur noch Anlagen und Lernbereitschaft, für die Wirtschaft nur noch Kapital und Ertrag zählen« (Luhmann 1997: 708). Ein gemeinsamer Handlungszusammenhang, der diese Eigenkulturen synchronisieren kann, scheint unter der Bedingung moderner Kultur und Gesellschaftsstruktur nicht mehr möglich. Strukturell gesehen differenziert sich die Gesellschaft in Sphären35 oder Teilsysteme, die nicht mehr durch eine allen Systemen gemeinsame Grundsymbolik integriert werden können, und sich »nicht nur über eigene Kriterien des Richtigen, also nicht nur über Gesamtformeln ihrer Programme [ ... ] ausdifferenzieren, sondern [ ... J primär über eigene binäre Codes« (Luhmann 1993b: 430). Streit kann in diesem Kontext mithin als eine Vergesellschaftungsform interpretiert werden, die unter Modernitätsbedingungen an Wahrscheinlichkeit gewinnt. Die zunehmende Streithaftigkeit oder gar Streitfreudigkeit moderner Gesellschaften gegenüber vormodernen lässt sich insofern begründen, als die Durchsetzung ihres zentralen Strukturmerkmals funktionaler Differenzierung mit dem Verlust des Primats eines hierarchischen, häufig Konsens begünstigenden Strukturprinzips erkauft werden musste. 36 Vor diesem Hintergrund scheinen moderne Gesellschaften die Form einer Arena anzunehmen: Anstelle einer Perspektive auf Gesellschaft, die vor allem sinnhafte Entwicklungsprozesse in den Vordergrund rückt, geraten somit Kampfschauplätze und Frontlinien in den Blick. 34 Vor allem Schwinn (200 1: 259ff.) hat die Bedeutung des Investiturstreits für die Entstehung des okzidentalen Differenziemngsmusters herausgearbeitet und dabei auf die unmittelbaren und langfristigen, ideellen und institutionellen Konsequenzen dieser epochalen Trennung von kirchlicher und weltlicher Macht hingewiesen. Der darin postulierte Zusammenhang von Streit und Differenziemng ist für eine zukünftige Streitsoziologie jedoch noch herauszuarbeiten. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Fl01ian Hartmann im vorliegenden Band. 35 Zur vergessenen Sphärenmetapher bei Weber vgl. Gephart (2005). 36 Hinzuzufügen ist mindestens noch ein weiterer Faktor, dass nämlich die Wahrscheinlichkeit, in einen Streit einzutreten, in dem Maße steigt, wie seine Eskalation und Entgrenzung, insbesondere aber der Einsatz physischer Gewaltmittel systematisch unwahrscheinlicher gemacht und damit auch das individuelle Risiko verringert wird (vgl. Luhmann 1987: 539f.; dazu Nollmann 1997: 175ff.).
STREIT UND KULTUR
I 223
Die beschriebenen Bedingungen moderner Kultur und Gesellschaftsstruktur- also insbesondere die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in verschiedene Handlungssphären mit je eigenen Funktionscodes, Teilrationalitäten, Spielregeln, Rechtfertigungslogiken und Wahrheitsregeln37 - affizieren auch die Praktiken und Formen des Streitens. Je nach Sphäre, d.h. je nach den spezifischen Einsätzen und Gewinnmöglichkeiten, können die symbolischen Streitstrategien, ihre rituellen Handlungsformen, die Normierung von Aushandlungsprozessen und ihre Verdichtung in Organisationen andere sein. So sind ein Familienstreit von einem Rechtsstreit und ein Gelehrtenstreit von einem Nachbarschaftsstreit strikt zu unterscheiden. Die Eigenlogik der Sphäre entscheidet über die Form, die Dauer, die Heftigkeit und die >RhythmikDritten< an, desjenigen also, der blind ftir die konkreten Lebenswelten der Beteiligten ist, eine neue gesellschaftliche Realität imaginiert, in die die jeweiligen Streitigkeiten überführt und sphärenimmanent entschieden werden können.
V. Figuren und institutionalisierte Formen des Dritten Für die Soziologie scheint also Streit nicht nur dahingehend interessant zu sein, wie er in sozialen Interaktionszusammenhängen hergestellt wird, soziale Beziehungen konstituiert, innovative Praktiken stiftet und sich unter der Bedingung moderner Kultur ausdifferenziert hat, sondern auch welche Vermitt37 Von Rechtfertigungslogiken und Wahrheitsregeln sprechen vor allem Luc Boltanski und Laurent Thevenot in ihrer interessanten Studie (Boltanski/Thevenot 1991), was bis zu der Annahme unterschiedlicher >RechtfertigungsweltenDritten< tummeln sich an der Grenzzone zwischen streitenden Parteien: Beobachter, Zeuge, Stellvertreter, Anwalt, Richter, lachender oder herrschender Dritter, Fürsprecher, Mediator, Sündenbock, Vormund, Übersetzer, Überläufer, Therapeut, Sachverständiger, Fremder, Berater usw. Der Streit erhält somit in diesem Grenzbereich eine triadische Interaktionsstruktur, wo der Dritte entlang »trifunktionaler Ordnungsprinzipien« (Dumezil 1989, zit. n. Fischer 2000: 128) agiert. Wenn man nun die oben genannten Beispiele möglicher >Dritter< genauer betrachtet, so wird schnell deutlich, dass es sich bei einer großen Zahl von ihnen, wenngleich freilich nicht bei allen, um institutionalisierte Dritte aus der Rechts- oder der politischen Sphäre handelt. Der Rechtsstreit gilt in diesem Zusammenhang als paradigmatische Form der Institutionalisierung einer dritten Perspektive im Streit. Dem Recht wird vor diesem Hintergrund gewöhnlich neben der Politik eine zentrale Stellung in der Verwaltung moderner Streitarenen zugeschrieben, da es die Streitfahigkeit der Streitparteien absichert und ein weitreichendes Streitpotential garantiert. Charakteristisch für die Streithaftigkeit der Modeme ist also die Selbsteinschränkung ihrer Mittel zur Streitaustragung auf das Recht (vgl. Luhmann 1995: 124ff.). 38 Dabei behandelt das Recht soziale Streitigkeiten unter höchst artifiziellen Verfahrensbedingungen und mit einer höchst artifiziellen Sprache: Der Ursprungsstreit wird in eine Kunstsprache übersetzt (vgl. Teubner/Zumbansen 2000: 189ff.). Das Kamel des Richters ist eben anders als die elf Kamele des Scheichs, wie es in einer von Luhmann (2000: 3ff.) rechtssoziologisch fruchtbar gemachten arabischen Erzählung heißt. Wenn soziale Streitfälle in Rechtsfälle überführt werden, so bringt diese reflexive Überführung zugleich eine Transformation der Streitsprache mit sich, denn Recht kann erst dann seine Rechtswirksamkeit entfalten, wenn es Streitfälle aufgrund seiner selbst produzierten Fiktionen >entfremdetReflexivität< ist jedoch keine formal-rationale, sondern eine solche, die Differenzen erlaubt und für die »Institutionalisierung von Heterogenitäten« (Willke 1993: 277) in den Teilbereichen der Gesellschaft Sorge trägt sowie dafür, dass diese für die Ansprüche anderer sensibel bleiben. Die formale Bestimmung der Figur des Dritten schließlich verweist darauf, dass dieser sich nicht lediglich in den hochgradig institutionalisierten Bereichen von Recht und Politik tummelt, sondern vielmehr auch im >subinstitutionellen Bereich< (vgl. Utz 1997: 13, 24) eine tragende Rolle für die Vermittlung, Übersetzung, Koordination oder Transformation von Streitfällen spielt. Eine Kartographie dritter Perspektiven im Streit könnte sich gerade deshalb als ein fruchtbares Forschungsfeld flir eine Soziologie des Streits erweisen.
VI. Schluss Streit setzt nicht nur Kultur voraus, Streit schafft auch Kultur. Der Streit bringt Regeln, Regelmäßigkeiten, Rituale, symbolische und normative Codes sowie soziale Ordnungskonfigurationen hervor, die Erwartbarkeiten im Streit schaffen und als Ausgangspunkt neuer Gruppen, also als »Keim künftiger Gemeinschaft« (Simmel 1992: 296) fungieren können. Der Streit kann insofern sozial produktiv und funktional sein, als er auch Elemente seiner eigenen Normierung und Regulierung, die wir dann als Kultur bezeichnen, in sich selbst entwickelt, stabilisiert und verändert.
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In diesem Beitrag haben wir versucht, eine vorsichtige Arbeitshypothese zu formulieren, die es allerdings noch empirisch zu überprüfen gilt: Diese geht von der Beobachtung gesellschaftsstruktureller und kultureller Zusammenhänge aus, die nicht nur die Bedingungen vorgeben, unter denen Streit sozial hergestellt wird, sondern auch die Determinanten seiner gesellschaftlichen Austragungsformen bestimmen, seiner Orte und Rituale, seiner Akzeptanz, usw. Unter Modernitätsbedingungen erscheint eine einheitliche Streitkultur, die für alle Streitkontexte gleichermaßen gilt, zunehmend als unwahrscheinlich. Vielmehr ist von einer Pluralisierung und Fragmentierung von Streitkulturen auszugehen, d.h. von unterschiedlichen kulturellen Formen, Orten, Zeiten und Logiken des Streits, die von Sphäre zu Sphäre unterschiedlich ausgeprägt sein können und zugleich die Grenzen legitimer Streitbarkeit markieren: Nicht jeder kann und darf mit jedem jederzeit, überall und über alles streiten. Modeme Streitkulturen sind vielfältiger und komplexer geworden. Der Beitrag einer zukünftigen Streitforschung hat nicht zuletzt dieser Komplexität Rechnung zu tragen, die sich unter Kontingenzbedingungen zu bewähren hat. Die Kontingenzannahme lässt dabei nämlich den Schluss zu, über den Kontext okzidentaler Kultur und Gesellschaftsstruktur hinaus von alternativen streitkulturellen Formen und Mustern zu sprechen. Gerade in weltgesellschaftlichen Interaktionszusammenhängen schließt hier eine ganze Reihe von Fragen an: Wie verändert sich der Streit, seine Form und Dynamik, wenn Mitglieder unterschiedlicher Streit-Kulturen in einen Streit miteinander eintreten? Welche Gefahren lauem in der Pluralität von Streitkulturen selbst - und welche Potentiale stecken gerade in einer reflexiv geführten Debatte über eine mögliche und wünschbare gemeinsame Kultur des Streitens? Wie schließlich ist vor dem Hintergrund von Anerkennungs- und Alteritätsdebatten ein solcher transkultureller Streit zu denken und sozial zu strukturieren, der gerade im Streit die plurale Verfasstheit von Streit, seine spezifischen Logiken und deren möglicherweise unterschiedliche Werthorizonte und Traditionen, vielfältige Sprechweisen und Körperposituren, Umgangsformen, Rhythmen und variierende Grade der Lust am Streit mitzureflektieren hätte? Hier eröffnet sich eine interessante Forschungsperspektive, nämlich »Streitkultur« als eine Vergleichskategorie in die Diskussion einzuführen.
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STREIT UND KULTUR I 227
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