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German Pages 354 Year 2014
Uwe Altrock, Grischa Bertram (Hg.) Wer entwickelt die Stadt?
Urban Studies
Uwe Altrock, Grischa Bertram (Hg.)
Wer entwickelt die Stadt? Geschichte und Gegenwart lokaler Governance. Akteure – Strategien – Strukturen
Diese Publikation wurde durch die Fritz Thyssen Stiftung gefördert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt E INFÜHRUNGEN Städtische Governance in historischer Perspektive – Zur Konzeption des Bandes Uwe Altrock / Grischa Bertram / Friedhelm Fischer | 7
Stadtentwicklung aus der „Governance-Perspektive“ – Eine veränderte Sicht auf den Beitrag öffentlicher Akteure zur räumlichen Entwicklung – früher und heute Klaus Selle | 27
S TAATSVERSTÄNDIS IM W ANDEL Fürstenwille und Bürgerwille bei der Stadtplanung – Zur Stadterweiterung von Hanau a.M. um 1600 Gerhard Fehl | 49
Stadtbaupläne in der Rheinprovinz im frühen 19. Jahrhundert – Formelle Planung und ihre Aushandlungsprozesse Hildegard Schröteler-von Brandt | 85
Auf dem Weg zur idealen Stadt – Die Ausprägung der lokalen Governance in Göttingen zwischen 1866 und 1918 Jan Volker Wilhelm | 107
S TAATLICHE A UFGABENERLEDINGUNG IM W ANDEL Governancestrukturen, Pfadentwicklungen und räumliche Auswirkungen auf das Verhältnis von Stadt- und Hafenentwicklung in London und Hamburg Dirk Schubert | 125
Konkrete Utopie – Peter Rehders Gutachten „Die bauliche und wirtschaftliche Ausgestaltung und Nutzbarmachung der lübeckischen Hauptschiffahrtsstraßen“ Otto Kastorff | 151
Zur Governance der Gartenstadt – Magdeburg zwischen „Rotenburg“ und „Protzenheim“ Friedhelm Fischer | 167
U NTERNEHMERISCHE S TADTENTWICKLUNG Deutsche Unternehmer und ihre Arbeiterkolonien im 19. und frühen 20. Jahrhundert Steffen Krämer | 179
Die Stadt der Unternehmer – Oder: das diskrete Geschäft der kleinen Bourgeoisie Renate Kastorff -Viehmann | 199
Haberland und Sommerfeld – Akteure und Strukturwandel in der Berliner Stadtentwicklung vor und nach dem Ersten Weltkrieg Celina Kress | 209
Z IVILGESELLSCHAFT IM W ANDEL Kommunale Wohnungsversorgung als Tätigkeitsfeld der „Bürgerlichen Frauenbewegung“ in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg Ulla Terlinden | 233
Der „Regional Plan for New York and Its Environs“ und die Macht zivilgesellschaftlicher Kompetenz in Zeiten gesellschaftlicher Krise Barbara Schönig | 255
Die Rotterdamer Projektgruppen – Ein Beispiel für lokale Governance beim behutsamen Umbau der Stadt in den 1970er und 1980er Jahren Ingrid Lübke | 275
S CHLUSS Urbane Governance in historischer Perspektive – Resultate, Forschungsperspektiven und Ausblick Uwe Altrock / Grischa Bertram | 297
Autorinnen und Autoren | 307 Literatur- und Abbildungsverzeichnis | 313
Städtische Governance in historischer Perspektive Zur Konzeption des Bandes Uwe Altrock / Grischa Bertram / Friedhelm Fischer
Es scheint derzeit ein verbreiteter Konsens darüber zu herrschen, dass in Europa eine Phase sozialstaatlicher, etatistischer Regulation zu Ende gegangen sei, in der die öffentliche Hand einen dominanten Part in der Stadtentwicklung gespielt habe. Neue Akteurskonstellationen bzw. Prozesse und Strukturen der Arbeitsteilung zwischen politisch-administrativem System, privaten Unternehmen und Zivilgesellschaft haben in dieser Sicht zur Entstehung vollkommen neuer Spielregeln geführt, die einseitig den privaten Akteuren nie gekannte Spielräume eröffnet hätten. So etwa ließe sich eine derzeit weit verbreitete Sichtweise in der stadtplanerisch geprägten Stadtforschung charakterisieren. Sie bildet beispielsweise das Fundament für eine Diskussion des communicative turn in der Stadtentwicklung, der nicht zuletzt im Zusammenhang mit einer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stärker aufkommenden Auseinandersetzung mit städtischen Beständen in Stadterneuerung und Quartiersentwicklung nicht nur die Notwendigkeit zu einer Einbeziehung unterschiedlichster Akteure in die Stadtentwicklung propagiert hat, sondern auch anknüpft an „vor Ort“ in vielfältigster Form aufkommender neuer kommunikativer Praktiken. Doch in welchem Maße ist diese Sicht zutreffend? Stellt die Teilhabe nichtstaatlicher Akteure an der Stadtpolitik wenigstens im kontinentaleuropäischen Raum wirklich ein derartiges Novum dar? Bei näherem Hinsehen entpuppt sich die Phase der „modernen Planung“ mit ihren spezifischen Strukturen kommunaler (und anderer hoheitlicher) Verfasstheit als zeitlich und räumlich eng begrenztes Phänomen, möglicherweise als ein Zwischenspiel der Gesellschaftsentwicklung. Daraus leitet sich die Frage ab, welche Vorläufer, Entstehungsbedingungen und Entwicklungspfade heutiger „neuer“ GovernanceModelle sich im Verhältnis zwischen dem politisch-administrativen System, privaten Unternehmen und der Zivilgesellschaft in Deutschland und im europäischen Vergleich identifizieren lassen. Das Ziel des vorliegenden Bands, der auf eine Tagung des Fachgebiets Stadterneuerung / Stadtumbau der Universität
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Kassel und des Arbeitskreises Planungsgeschichte in der Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung (GSU) am 7. und 8. Dezember 2007 in Kassel zurückgeht, ist eine breitere historische Einordnung der Genese von „Governance“-Strukturen auf der Ebene des lokalen Staats, vor allem unter Berücksichtigung von Entwicklungen vor der vermeintlichen „Geburtsstunde“ des Governance-Konzepts in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ein solches Vorhaben ist komplex und voraussetzungsvoll. Vor diesem Hintergrund kann und will dieser Band keineswegs für sich reklamieren, die sich im Rahmen einer historisch gewendeten Auseinandersetzung mit dem Governance-Konzept ergebenden Fragen abschließend beantworten zu können. Vielmehr will er aus verschiedenen Blickwinkeln exemplarisch deutlich machen, welche Vorläufer oder gar Kontinuitäten sich in der Stadtproduktion selbst in Phasen radikaler gesellschaftlicher Umwälzungen nachweisen lassen. Zudem soll untersucht werden, wie sie mit Industrialisierung, Weltkriegen, Herausbildung moderner europäischer Sozialstaaten und schließlich deren Infragestellung im Rahmen eines teilweisen Niedergangs des industriell geprägten Gesellschaftsmodells seit dem Ende des 19. Jahrhunderts über die europäischen Städte gekommen sind. Er betrachtet unterschiedliche Epochen und Politikfelder, bleibt dabei jedoch – mit bewusst gesetzten Ausblicken auf den angloamerikanischen Raum – auf deutsche Städte und Stadtregionen beschränkt. Dies dient nicht zuletzt einer Verschränkung zweier meist unverbundener Diskurse. Den ersten von ihnen bildet die historisch ausgerichtete Stadtforschung, die vielfach von Geschichtswissenschaftlern mit deren spezifischem Blick betrieben, innerhalb der Geschichtswissenschaften sicher bei aller Vervielfachung gesellschaftsgeschichtlicher Zugänge weiterhin eine – wenn auch gerade für die Stadtforschung höchst aufschlussreiche – Nische ist. Der zweite ist der politikwissenschaftlich motivierte Zugang der zeitgenössisch ausgerichteten Stadtforschung. Auch er stellt seit Jahren einen zwar hinlänglich stabilen, aber nichtsdestoweniger kleinen und in der gesamten Breite politikwissenschaftlicher Forschung zu wenig beachteten Teilbereich dar. Beide Diskurse widmen sich – wie viele andere kleine Forschergemeinden innerhalb ihrer jeweiligen Disziplin – dem gesellschaftlich ganz zentralen Phänomen der Stadt, ohne dass sich aus dieser Spezifik in Jahrzehnten intensiver wissenschaftlicher Auseinandersetzung eine spektakuläre Dynamik in der jeweiligen Disziplin ergeben hätte. Gleichwohl wurden sie zu einer bedeutenden Quelle wissenschaftlichen Grundlageninputs in den eher raumwissenschaftlich ausgerichteten Wissenschaftsbereichen wie der Geographie oder der Raumplanung. Die dortige Rezeption geschichts- und politikwissenschaftlicher Inhalte mag zwar keine völlige Einbahnstraße gewesen sein, doch bleiben die Einflüsse beispielsweise von Planungswissenschaftlern auf die Einzeldisziplinen eher begrenzt (die interdisziplinäre Ausrichtung der GSU kann hier vielleicht als ein positives Gegenbeispiel angeführt werden). Diese tendenziell unausgewogene Rezeption wissenschaftlicher Resultate erschwert die Orientierung gerade in interdisziplinären Gegenstandsbereichen wie der Stadtforschung. Disziplinär ausgerichtete Stadtforscher erfahren nur teilweise,
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mit welchen Konzepten ihre Kollegen aus anderen Wissenschaftsbereichen arbeiten und welches Erkenntnisinteresse einige ihrer wissbegierigsten Rezipienten, die interdisziplinär ausgerichteten Raumwissenschaften, mitbringen und an ihre Resultate herantragen. Zentrale Fragen einer interdisziplinär ausgerichteten Raumforschung lassen sich so nur mühsam beantworten, insbesondere vor dem Hintergrund der methodischen Schwächen vieler interdisziplinär ausgerichteter Wissenschaftler und Praktiker. Die genannten Schwierigkeiten haben sich auch den Autorinnen und Autoren dieses Bandes in den Weg gestellt. Insbesondere fiel auf, dass geschichtswissenschaftlich orientierte Forscherinnen und Forscher über weite Strecken das Governance-Konzept als Anregung und Einstiegsfrage nur unter Vorbehalt eines tieferen Einstiegs in die Governance-Forschung akzeptieren wollten. Eine derartige Haltung ist ehrenwert, macht sie doch deutlich, dass wissenschaftliche Gründlichkeit und begriffliche Sicherheit für die betreffenden Forscher ein hohes Gut darstellt. Erstaunlicherweise scheinen die im Vorfeld der Tagung und in ihrem Einstieg bewusst nur kursorisch gegebenen Einführungen aber auch die Möglichkeit offeriert zu haben, sich hinter dem vermeintlich nebulösen oder wenig präzis geklärten Begriffsrepertoire zu verstecken und die eigene Perspektive damit zu verengen. Den Ausgangspunkt für die Untersuchungen für diesen Band sollte explizit das Zusammenwirken der verschiedenen gesellschaftlichen Sphären Staat-Markt-Zivilgesellschaft mit ihren betreffenden Akteuren bei der Stadtproduktion vor der ab circa 1975 angesetzten Jetzt-Zeit bilden. Zwar sind die Beziehungen zwischen den genannten Sphären an vielen Stellen in äußerst erhellender Weise zum Ausdruck gekommen, gleichwohl blieben sie in einzelnen Beiträgen leider dann doch ein wenig unterbelichtet. Ziel der offen formulierten Suche nach den Wechselbeziehungen zwischen den genannten gesellschaftlichen Sphären war sowohl die Unübersichtlichkeit der Governance-Forschung, die nicht vorab in ihrer gesamten Breite aufgearbeitet und normierend gewichtet werden sollte, als auch die Hoffnung darauf, dass gerade ein geschichtswissenschaftlicher Blick auf Phänomene, die sich möglicherweise einer Erfassung durch das Begriffsrepertoire des Governance-Konzepts entziehen, einen neuen, abstrakteren und weiter gefassten Zugang zu den Fragen der Governance-Forschung und somit „von außen“ eine anders geartete Präzisierung des begrifflichen und konzeptuellen Rahmens erlauben würde. Im Folgenden soll vor diesem Hintergrund noch einmal der Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit den zu untersuchenden Fragestellungen umrissen werden, bevor dann in einem Schlusskapitel am Ende des Bands versucht wird zu resümieren, welche neuen Einsichten und Perspektiven sich durch die historischen Fallstudien und Untersuchungen auf den Gegenstand wie auf das Governance-Konzept ergeben haben.
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GEMEINSCHAF TLICHE M OBILISIERUNG UNERSCHLOSSENER R ESSOURCEN ALS S CHLÜSSELIDEE DES G OVERNANCE -K ONZEPTS Die Hochkonjunktur einer Auseinandersetzung mit dem GovernanceKonzept wäre an dieser Stelle nicht weiter erwähnenswert, wenn sie keine intensiven Bezüge zur Stadtforschung und ihren empirischen Resultaten aufweisen würde. Diese Bezüge erklären zwar, warum das Konzept auf so fruchtbaren Boden fällt, nicht jedoch vollständig, ob es damit auch treffsicher die „draußen“ beobachtbaren Vorgänge erfasst. Im Folgenden können im Anschluss an diese Vorbemerkungen Hintergründe der Entstehung des Governance-Begriffs und seiner vielfältigen Anwendungen beispielsweise in den Wirtschaftswissenschaften entfallen (für eine umfassende Diskussion der Hintergründe, der Bezüge zur Stadtforschung, der Ambivalenz im Umgang mit dem Begriff sowie seines Ursprungs vergleiche Nuissl/Heinrichs 2006; Altrock et al. 2004). Das Augenmerk soll sich hier ganz auf urbane Governance richten, hier verstanden als das Zusammenspiel verschiedenster Akteure bei der Produktion und Umsetzung raumwirksamer Entscheidungen auf städtischer Ebene, ganz gleich, ob die betreffenden Akteure selbst auf der städtischen Maßstabsebene verfasst sind oder nicht. Als wesentliche Merkmale des Governance-Ansatzes sind das Zusammenspiel wesentlicher Akteursgruppen über die öffentliche Hand hinaus und die Streuung von Schlüsselressourcen, die für die Herstellung von Handlungsfähigkeit zentral sind, von entscheidender Bedeutung. Für urbane Governance bedeutsam ist weiter die Frage nach dem Handlungsspielraum der kommunalen Maßstabsebene, für deren Beantwortung eine Untersuchung des Wechselverhältnisses örtlicher und überörtlicher Akteure sowie des prägenden Einflusses überörtlich wirkender Rahmenbedingungen eine Rolle spielt. Unabhängig davon, ob man hinter der Formel von „Governance statt Government“ etwas Anderes als eine veränderte Perspektive auf Stadtproduktion versteht oder nicht, so muss ihr in jedem Fall eine gewisse Attraktivität bei der Gewinnung von Erkenntnis innewohnen – ansonsten bliebe sie hohl und formal. Offenbar scheint es sich zu lohnen, die Sphäre von Markt und Zivilgesellschaft einzubeziehen, weil davon ausgegangen wird, dass sie einen maßgeblichen Beitrag zur Stadtproduktion leistet, wie immer dieser dann empirisch belegt und erklärt wird. Doch damit nicht genug: Governance ist mehr als ein simultanes, additives Arbeiten an der Raumproduktion durch verschiedene Akteure in verschiedenen gesellschaftlichen Sphären – eine solche Betrachtung wäre tautologisch, denn immer schon war davon auszugehen, dass sich zumindest in einem gegebenen Rahmen Investorenhandeln auf Märkten auch raumbezogen niederschlägt. Die interessante Neuerung an der Governance-Perspektive besteht nun nicht etwa darin, dass auf eine von vornherein feststehende Weise das Verhältnis der genannten gesellschaftlichen Sphären neu justiert wird, etwa nach dem Motto, Investoren füllten nicht einfach den ihnen von politisch-administrativen Entscheidungen vorgegebenen Rahmen aus, sondern sie seien eigentlich bestimmend für das Zustandekom-
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men dieser Entscheidungen, wie das in einem verkürzten Verständnis einer unternehmerischen Stadtpolitik vielleicht konstatiert werden könnte. Vielmehr bringt die Governance-Perspektive im Wesentlichen auf zwei Ebenen eine neue Sichtweise ins Spiel. Erstens fordert sie ein, das Kräfteverhältnis zwischen den gesellschaftlichen Sphären im dynamischen Feld der Stadtproduktion empirisch zu bestimmen. Feststehende und über eine Vielzahl von Entscheidungsprozessen hinweg wirkmächtige Kräfteverhältnisse sind weder empirisch belegbar noch Ziel der Governance-Forschung. Vielmehr zielt sie darauf ab, nach Gründen für bestimmte Konstellationen zwischen den Akteuren zu suchen, die begrenzten Einfluss auf die Stadtproduktion ausüben, aber in ihrem Zusammenwirken Muster aufweisen, mehr oder weniger stabile oder auch nur labile Gleichgewichte bilden, unter gewissen Rahmenbedingungen die Wahrscheinlichkeit des besonderen Einflusses eines bestimmten Akteurs erhöhen usw. Die Rede von „Governance statt Government“ ist also programmatisch und gibt kein vermeintliches Ergebnis vor – auch nicht etwa eines, das aus einer normativen Wendung des Begriffs von Governance entsteht, wenn das Heil der Stadtproduktion in umfassenden Partnerschaftskonstruktionen zwischen öffentlichen und privaten Akteuren gesucht wird. Zweitens stellt die Governance-Perspektive darauf ab, dass die Form und Intensität der Interaktion zwischen den beteiligten Akteuren relevant für die Stadtproduktion ist. Hierzu geht sie davon aus, dass die Akteure oder Akteursgruppen für sich jeweils nur über eine beschränkte Ausstattung von Schlüsselressourcen verfügen, die zur Manifestation räumlichen Handelns vonnöten sind. An dieser Stelle kommt die Überlegung ins Spiel, dass ein starker bzw. ein schwacher Staat in unterschiedlichem Maß in der Lage ist, aus eigener Initiative Stadtproduktion zu betreiben. In der einfachsten Form besteht hier der unmittelbare Bezug zur Entstaatlichungsdebatte im ausgehenden 20. Jahrhundert darin, dass – grob verkürzt formuliert – der fordistische Sozialstaat in der Lage war, mit seinen finanziellen Mitteln in großem Umfang Wohnungspolitik zu betreiben und so wesentlich die Gestalt der Stadt über öffentlichen Wohnungsbau mitbestimmte, während der schuldengeplagte Staat an der Schwelle zum 21. Jahrhundert zwar theoretisch die Rechtssetzungskraft besitzt festzulegen, wo in der Stadt welche Form von Wohnungsbau betrieben werden darf, aber mangels eigener finanzieller Mittel weder durchsetzen kann, wo tatsächlich in welchem Umfang gebaut wird, noch welche Zielgruppen im Einzelnen von den dann entstehenden privatwirtschaftlich finanzierten oder privatisierten Wohnungen vorrangig bedient werden. Ja, er wäre nicht einmal in der Lage, die Dominanz des Wohnungsbaus in der Stadtentwicklung aufrechtzuerhalten, die bis zu einem gewissen Grad quantitativ über Jahrzehnte bestanden hat, so er das denn wollte. Erst die Verständigung zwischen Akteuren, die je über bestimmte Schlüsselressourcen verfügen, im genannten Fall die öffentliche Hand mit ihrer Rechtssetzungsfähigkeit und die privaten Unternehmen mit ihrer Finanzkraft, führt zu einer gemeinsamen Mobilisierung der notwendigen Ressourcen, die eine Raumwirksamkeit von Stadtproduktion nach sich zieht. Andernfalls bleiben die Ressourcen unerschlossen. Die Governance-Perspektive fragt danach, auf welche Weise
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Interaktionen zwischen den Beteiligten zur gemeinsamen Mobilisierung von Ressourcen führen, und damit selbstverständlich auch, ob hier Dominanzen bestehen, ob sich Koalitionen oder gar dauerhafte Bündnisse bilden und unter welchen Umständen dies geschieht. Sie geht allerdings nicht davon aus, dass diese Bündnisse automatisch entstehen, und thematisiert damit neben den Machtverhältnissen auch die Hindernisse von Stadtproduktion. Nur: Indem sie auf eine Verteilung von Schlüsselressourcen auf verschiedene Akteure ausgeht, die nicht von vornherein feststeht (einschließlich der Kommunikationsfähigkeit der Akteure, die für die Mobilisierung der anderen Schlüsselressourcen erforderlich ist), und somit die verschiedenen Akteure bis zu einem gewissen Grad aufeinander angewiesen sind, verschiebt sich auch der Machtbegriff von der früheren Phase der Politikforschung mit ihrem Fokus auf Government. Die Machtfrage stellt sich nicht mehr dahingehend, wer über andere Akteure Macht besitzt, sondern wer überhaupt mit wem in der Lage ist, raumwirksam zu handeln. Am prägnantesten hat dieses Verständnis wohl Clarence Stone (1989) mit der Formel von „power to“ statt „power over“ auf den Punkt gebracht.
D ER N EUIGKEITSWERT EINER G OVERNANCE P ERSPEK TIVE IM Ü BERGANG VOM 20. J AHRHUNDERT INS 21. J AHRHUNDERT Wendet man sich nun näher der Frage nach dem Neuigkeitswert der Governance-Perspektive zu, ist zu untersuchen, inwiefern es Vorläufer der genannten Konstellationen gibt, die in der fordistischen Periode der Stadtpolitik oder davor anzusiedeln sind. Man wird schnell auf verschiedenste Anzeichen für eine Mitwirkung nicht-staatlicher Akteure an der Stadtentwicklung stoßen, die vor allem vor der fordistischen Periode, gerade in der liberalistischen Stadtentwicklung des 19. Jahrhunderts, zu vermuten sind. Eine systematische Untersuchung wird allerdings dadurch erschwert, dass städtische Selbstverwaltung, also lokale Staatlichkeit, und überhaupt Staatlichkeit im modernen Sinne in weiter zurückliegenden Geschichtsepochen einen ganz anderen Charakter besaßen als heute, beziehungsweise sich die Frage nach Governance noch einmal ganz anders stellen müsste, nämlich dahingehend, ob es überhaupt sinnvoll ist, von einem Zusammenspiel von staatlichen, privatwirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren zu sprechen. Auch bei internationalen Vergleichsstudien wird dieser Punkt häufig viel zu wenig reflektiert (vergleiche Altrock 2009). Gleichwohl erscheint es produktiv, sich empirisch einer Erforschung der Einflüsse unterschiedlichster nicht-staatlicher Akteure auf die Stadtproduktion zuzuwenden, wenn dabei jeweils die Rolle von Staatlichkeit und die grundsätzliche gesellschaftspolitische und verfassungsbezogene Stellung der Akteure geklärt werden. Eine solche Untersuchung wird in diesem Band in den unterschiedlichsten Facetten teilweise vorgenommen. Versucht man eine epochenübergreifende Zusammenhangsbetrachtung der Wurzeln von urba-
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ner Governance, so ist bei einer Beschränkung auf den mitteleuropäischen Raum und die Zeit seit den mittelalterlichen Städtegründungswellen eine Abfolge von pendelartigen Machtverschiebungen zwischen Landesherren und Stadtbürgern zu beobachten, die mehrere Epochen starker städtischer Selbstverwaltung mit zentralem Einfluss von bürgerlichen Persönlichkeiten und von Wirtschaftsakteuren (in unterschiedlichen Epochen eher Handelsdynastien, Zünften und Gilden, Industriellen oder Kapitalgesellschaften und Spekulanten) hervorgebracht hat. Die Vergangenheit durch eine Governance-Brille zu betrachten, birgt allerdings die Gefahr, aus jedem Einfluss nicht-staatlicher Akteure auf die Stadtproduktion sofort maßgebliche Governance-Vorboten abzuleiten. Hierzu ist einschränkend zu sagen, dass es vor der neuzeitlichen nennenswerten Herausbildung (lokal)staatlicher Verwaltungen nicht sinnvoll wäre, etwa Vertretungskörperschaften unter einflussreichem Einschluss von Kaufleuten als Bündnis zwischen Lokalstaat und Kaufleuten zu bezeichnen – der lokale Staat ist governance-analytisch hier weniger eine eigene Rechtspersönlichkeit als ein Zusammenschluss von Einzelakteuren. Weiter muss dahingehend eine Einschränkung vorgenommen werden, dass der Einfluss von privatem Kapital auf die Stadtentwicklung in Zeiten starker Landesfürsten zwar durch private Investitionen gegeben ist, aber der Rahmen hierfür extrem stark durch staatliche Entscheidungen vorgezeichnet wird. Ein Einfluss des privaten Kapitals auf die Stadtentwicklung kann im Governance-Sinne erst dann festgestellt werden, wenn Entscheidungen über Stadtentwicklungsfragen nicht ohne wirkmächtige Einbindung des privaten Kapitals in die Entscheidungsfindung gefällt werden. Schließlich ist – etwa im 19. Jahrhundert – auf das Verhältnis zwischen Staatsmacht und Kommune in der Entscheidung über Stadtentwicklungsfragen genauer einzugehen. Doch auch vor dem Hintergrund dieser Einschränkungen sind vielfältige Wurzeln von Governance einer näheren Untersuchung zugänglich. Sie liegen, soweit sie durch die Beiträge dieses Bandes aufgezeigt werden können, trotz der eingeschränkten Rolle des lokalen Staats erwartungsgemäß zumeist im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, und zwar sowohl im Einfluss von Spekulanten und Industriellen als auch in den sich herausbildenden Vorformen der Zivilgesellschaft. Gegenstand ihrer Aktivitäten sind vor allem die unterschiedlichsten Facetten der rapiden industriellen Urbanisierung. Die Frage danach, über welche Schlüsselressourcen die jeweiligen Akteure verfügen oder welche sie sich erstreiten, um im Entscheidungsprozess „ernst genommen“ zu werden oder gar in Bündnisse mit staatlichen Akteuren einzutreten, ist dabei jeweils im Detail unterschiedlich zu beantworten. Ohne zu viel vorwegzunehmen, soll hier bereits darauf hingewiesen werden, dass einzelne Beiträge auch in Zeiten stärkerer Staatlichkeit durchaus überraschende Elemente von Governance-Konstellationen zutage gefördert haben.
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A K TEURE , S TRATEGIEN , S TRUK TUREN UND PARTNERSCHAF TEN : B AUSTEINE EINER A NALYSE URBANER G OVERNANCE
VON
Auf die Bedeutung der Akteure für die Analyse von Governance wurde bereits mehrfach hingewiesen. Fragt man sich nach dem Wie ihres Zusammenspiels, treten die anderen zentralen Begriffe in den Mittelpunkt. Strategien spielen in der Stadtpolitik auch in einem Government-Verständnis eine wesentliche Rolle, doch bilden sie wesentliche Ansatzpunkte für Kommunikation im Vorfeld von Entscheidungen und die Herausbildung von Bündnissen. Sie haben daher neben ihrer sachbezogenen Funktion in der Stadtentwicklung (als Gegenstand, über den entschieden wird), auch eine vermittelnd-prozessuale Bedeutung. Auch im Verhältnis von Politik, Rat und Verwaltung, das im Mittelpunkt lokalpolitischer Analysen unter dem Government-Paradigma stand (und steht), ist dies ansatzweise der Fall, etwa wenn – eine zentrale Figur der traditionellen lokalen Politikforschung – die verschiedenen Beteiligten eine unterschiedlich starke Informationsverarbeitungskapazität aufweisen (und daher mit Strategien ganz unterschiedlich umgehen können). In einer Governance-Betrachtung setzen die Akteure verschiedene Ressourcen ein und sind daher noch in einem stärkeren Maß nach ihrer Strategiefähigkeit zu differenzieren. Doch darüber hinaus verbinden sie mit Strategien auch je eigene Ziele. Es wird schon in diesen kurzen Betrachtungen deutlich, dass einige der Grundfesten der traditionellen lokalen Politikforschung im Übergang zum Governance-Paradigma durch Abstraktion und Aufweitung eng definierter Konzepte ins Wanken geraten. Ähnlich sieht es auch bei den Strukturen und Partnerschaften aus. Noch vor einiger Zeit schien es geboten, die Zusammenarbeit von lokalem Staat und Privatwirtschaft auf „Wachstumskoalitionen“ oder andere stabile Arrangements zu befragen, die sich durch selektive Anreizmechanismen über längere Zeit hinweg halten und die Stadtpolitik unabhängig von Mehrheiten maßgeblich beeinflussen. Es stellt sich angesichts dieser lang anhaltenden Debatte allerdings die Frage, ob etwa die Begriffe „Wachstumskoalition“ und „Urbanes Regime“ (Molotch 1976; Elkin 1985; Logan/Molotch 1987) wirklich fruchtbar sind – die intensive Auseinandersetzung über die Begriffe setzte sich ja auch nur teilweise damit auseinander, wie häufig die genannten Phänomene vorzufinden sind, und eher damit, in welchen Spielarten sie wo, warum und mit welchen Folgen auftreten. Dass in Zeiten wirtschaftsstruktureller Umbrüche mit spezifischen lokalen Folgen ein anhaltender Druck zur wirtschaftsfreundlichen Politik besteht, dürfte nahe liegen. International vergleichend angelegte Analysen haben daher auch immer wieder zutage gefördert, dass in stärker etatistisch verfassten Ökonomien wie etwa in Deutschland daraus noch nicht unbedingt ein stabiles Bündnis zwischen Wirtschaft und Politik resultiert, das die Geschicke von Städten lenkt, sondern vielmehr Interessen der Wirtschaft bis zu einem gewissen Grad vorrangig behandelt werden, wenn es darauf ankommt, ohne dass dafür auf lokaler Ebene ein ereignisübergreifendes Arrangement überhaupt nötig wäre. Mit anderen Worten funkti-
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oniert eine lobbyistische Struktur in diesem Sinn ebenso zuverlässig, ja, sie kann sogar wesentlich flexibler wechselnde Einflüsse aus der Öffentlichkeit in eine – wenn auch unvollkommene – sich integrativ gebende Stadtpolitik verarbeiten, ohne ständigen Infragestellungen ausgesetzt zu sein. Es zeigt sich also, dass eine Governance-Perspektive keinen großen Erkenntnisgewinn verspricht, wenn es lediglich darum geht, nachzuweisen, dass die unterschiedlichen Akteursgruppen Einfluss auf die Stadtentwicklung nehmen, was auch in der Vergangenheit stets der Fall war. Vielmehr kann eine eingehende Untersuchung der Strukturen und Partnerschaften zwischen den Akteursgruppen zutage fördern, wann eine leidlich stabile Zusammenarbeit zwischen ihnen einen maßgeblichen Zugewinn an Handlungsfähigkeit mit sich bringt – und wann dies zumindest von den Akteuren so gesehen wird. Damit wird durch die Governance-Analyse deutlich, in welchem Maße die Akteure aufeinander angewiesen zu sein scheinen, wenn sie die Raumentwicklung wirksam steuern wollen. An dieser Stelle wird also eine andere Perspektive eingenommen als die einiger politikwissenschaftlicher Zugänge, die insbesondere darauf abheben, dass die Betrachtung von Governance-Formen Auskunft darüber gibt, welche wesentlichen Regulationsmechanismen (Recht, Markt, Netzwerk) Einfluss auf die Raumentwicklung nehmen. Diese spielen zwar eine bedeutende Rolle etwa im Zusammenhang mit der Privatisierung öffentlicher Aufgabenträger, doch weniger bei der räumlichen Entwicklung im engeren Sinne. Jene ist gekennzeichnet durch projektbezogene Sequenzen von Einzelentscheidungen, die unterschiedliche räumliche Reichweiten besitzen. Sie werden von den zu analysierenden Strategien und Strukturen stark beeinflusst, zeitigen häufig aber zeitlich sehr begrenzte zweckbezogene Partnerschaften in der Entwicklung eines bestimmten Stadtgebiets, wohingegen stabile mittel- bis langfristige Einflüsse nicht-staatlicher Akteure auf die Raumentwicklung ganz unterschiedliche Ausformungen besitzen können: Von der strategischen Einflussnahme der verfassten Wirtschaft in Form von Industrie- und Handelskammern auf die langfristige strategische Flächenplanung (Beispiel Hamburg / Sprung über die Elbe) über den langfristigen subtilen Einfluss großer Grundstückseigentümer, die nicht selten halbstaatliche Infrastrukturunternehmen sind (Beispiel Stuttgart 21) und einen recht groben Einfluss organisierter Akteure auf die Wirtschaftsförderung und die Flächenpolitik bis hin zu stark durch andere Einflüsse moderierte und überlagerte Einflussnahmen von wichtigen Grundstückseigentümern in der Entwicklung strategischer Orte (Beispiel BerlinAlexanderplatz). Was sie interessant macht, ist weniger die Frage nach den grundsätzlichen Regulationsformen – denn die Notwendigkeit eines Zusammenspiels der unterschiedlichen Akteursgruppen ist hier durch die jeweilige Aufgabenstellung der Stadtentwicklung vorgezeichnet – als die Frage danach, welche Faktoren neben der Aufgabenstellung den unterschiedlichen Einfluss der jeweiligen Akteursgruppen erklären.
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Z EITÜBERGREIFENDE V ERGLEICHE ALS VERNACHL ÄSSIGTE A NSÄTZE DER E RKENNTNISGEWINNUNG : E IN P L ÄDOYER FÜR EINE GESCHICHTLICH MOTIVIERTE G OVERNANCE -F ORSCHUNG Lässt man sich auf eine Governance-Analyse ein, scheinen vor dem Hintergrund der oben skizzierten Rahmenbedingungen sofort vielfältigste Fragen danach auf, wie das Zusammenspiel der Akteure grundsätzlich verfasst ist und welchen Mustern es möglicherweise folgt. bei deren Analyse galt die Aufmerksamkeit insbesondere international vergleichenden Ansätzen einer urbanen Governance-Forschung, die einen institutionentheoretischen Blick ins Spiel bringen (vergleiche Pierre 2005, DiGaetano/Strom 2003). Nach erheblichen Anlaufschwierigkeiten und methodischen Problemen ist es ihnen bis zu einem gewissen Grad gelungen, unterschiedliche GovernancePraktiken in verschiedenen Ländern z.B. auf rechtliche, ökonomische und politikkulturelle Faktoren zurückzuführen, ohne aber dabei genau belegen zu können, ob die Variationsbreite von beobachtbaren Praktiken innerhalb eines Landes oder gar einer Stadt (zu London vergleiche Dowding et al. 1999) mit den Ansätzen erklärt werden könnte. Es liegt nahe, dass vergleichende Analysen für das Verständnis von Governance als fruchtbar angesehen werden. Die umfangreichen methodischen Schwierigkeiten, die sie aufwerfen, sollen hier nicht weiter beleuchtet, sondern nur erwähnt werden. Es ist aber gleichwohl überraschend, dass Vergleiche in den letzten beiden Jahrzehnten fast ausschließlich in räumlicher Hinsicht versucht wurden: Zwischen Städten oder gar zwischen Staaten. Ein Vergleich in zeitlicher Hinsicht verspricht ähnlichen Erkenntnisgewinn, weist aber völlig anders gelagerte methodische Herausforderungen auf. Während die längerfristige Analyse ein und derselben Stadt Probleme verschiedener politischer Kulturen ein Stück weit verringern kann, bleibt ein weit in die Vergangenheit reichender analytischer Blick auf Dokumentenanalyse angewiesen und kann damit nicht die analytische Tiefe von Experten- und Zeitzeugeninterviews erreichen. Neben der wissenschaftlichen Neugier auf die Frage nach der Bedeutung von Governance-Konstellationen, die unter Einschluss von nichtstaatlichen Akteuren wirkmächtig waren, bevor der Begriff überhaupt geprägt wurde, und die einen wesentlichen Ausgangspunkt für die Herausgeber bildete, Governance-Analysen mit geschichtswissenschaftlichem Fokus anzuregen, stellen zeitübergreifende Vergleiche ungeachtet der erwähnten methodischen Herausforderungen eine wesentliche Blindstelle bei der Schärfung des Verständnisses von urbaner Governance dar. Ihnen ist aber nur durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit beizukommen: Mit politikwissenschaftlichem Blick kann das Feld der urbanen Governance überhaupt erst erschlossen werden, und beobachtete Phänomene lassen sich so insbesondere auf ihre Relevanz filtern. Ein geschichtswissenschaftlicher Zugang liefert ergänzend das Handwerkszeug für eine Interpretation von sehr selektiv verfügbaren Quellen. Die beobachteten Fälle lassen sich auf zeitliche Brüche und Kontinuitäten, auf epochenübergreifende Gültigkeit und Verallgemeinerungsfähigkeit
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untersuchen. Die planungswissenschaftliche Perspektive schärft die Analyse für die Besonderheiten kleinräumiger und stark raumbezogener Entwicklungen. Ein derartiger Ansatz liegt dem vorliegenden Band zugrunde, wenngleich die einzelnen Autorinnen und Autoren ihn mit ganz unterschiedlichen eigenen Schwerpunkten ausgefüllt haben. Diese werden im nächsten Abschnitt näher vorgestellt.
Z UM P HÄNOMEN DES PARADIGMENWECHSELS IN DER P L ANUNGSGESCHICHTE : P HASEN , S CHICHTEN UND FACET TEN . O DER : E NDLICH ANGEKOMMEN IN DER (P OST-) M ODERNE ? Dass es das Phänomen der Governance in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen auch schon vor der Erfindung des Begriffs gegeben hat, ist im Rahmen der Tagung ausgiebig dokumentiert und untersucht worden, ebenso wie die Tatsache, dass es erhellend ist, das Zusammenwirken von öffentlichen und privaten Akteuren in den neu gewonnenen Sehweisen und Kategorien auf andere Weise in Augenschein zu nehmen als wir es gewohnt waren: Wir können die Befunde neu sortieren und grundsätzlich neue Fragen stellen, um so ggf. zu anderen Schlussfolgerungen und praktischen Handlungsempfehlungen zu gelangen. Häufig mag die neue Sehweise lediglich eine interessante Wendung und Ergänzung zu den vertrauten Erklärungsmustern darstellen. Aber manchmal fällt es einem wie Schuppen von den Augen, dass einem die nunmehr als „wahr“ erkannten Zusammenhänge lange verschlossen waren, ja sogar, dass die bisherigen Erklärungsmuster durch eine gegenteilige Sicht zu ersetzen sind. Die Theorien der Vorgänger zerfallen dann im Glanze widerholt reklamierter „kopernikanischer Wenden“ zu Staub, und die neuen Erklärungen erstrahlen als endgültige Wahrheiten – bis zum nächsten Schritt des Erkenntnisfortschritts. In vielen Fällen sind die überkommenen Theorien allerdings lediglich zu differenzieren oder auch durch eine gegenteilige Sicht zu ergänzen. Ein solches Aufheben von Widersprüchen in einem dialektischen Ganzen kann sich als schwierigeres, aber angemesseneres Unterfangen darstellen. Immer wieder stellen sich dabei Fragen wie: Wie lässt es sich erklären, dass uns der neue Blick auf die Dinge so lange unerschlossen geblieben ist? Und was war zuvor? „War alles falsch?“ (Hillebrecht 1965) Stellen sich im Rückblick die Wechsel der Paradigmen und Handlungskontexte als Phasen dar, die einander ablösen, so wie das heliozentrische Weltbild das geozentrische ablöste? Oder haben wir es eher mit Schichten zu tun, die aufeinander aufbauen? (Albers 1993, Selle 1995, Krüger 2007) Die folgenden Ausführungen stellen, über die Kategorien von Phase und Schicht hinaus, ein ergänzendes Bild vor, das der Komplexität der betrachteten Zusammenhänge in besonderem Maße Rechnung trägt.
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Henr y James: The House of Fiction Das Auftreten neuer Paradigmenwechsel und ‚turns‘ hat sich seit den großen, Epoche bildenden Paradigmenwechseln der Geschichte von der Antike an mit dem Beginn der Moderne beschleunigt. Das ist sowohl eine Folge der allgemeinen kulturellen Akzeleration, als auch der seit der Moderne verbreiteten multiperspektivischen Sicht auf die Welt. Ein Schlüsseltext zu diesem Phänomen, der hier zugleich auch für den Blick auf den Paradigmenwechsel in der Planungsgeschichte fruchtbar gemacht werden soll, ist das berühmte Vorwort des amerikanischen Pioniers des modernen Romans und seiner Theorie, Henry James, zur Ausgabe seines Romans „Portrait of a Lady“ von 1908: “The house of fiction has[...]. not one window, but a million. At each of them stands a figure with a pair of eyes[...]. He and his neighbors are watching the same show, but one seeing more where the other sees less, one seeing black where the other sees white, one seeing big where the other sees small, one seeing coarse where the other sees fine. And so on, and so on...” James preist darin die multiperspektivische Erlebbarkeit der Welt als nie versiegende Quelle dichterischer Erzählungen und Inspiration. Grenzenlos ist die Zahl der zu öffnenden Fenster. Die Widersprüche, die sich aus den unterschiedlichen Perspektiven ergeben, beunruhigen den Dichter dabei zunächst noch nicht. Nichts spricht dagegen, dass die Aspekte der Realität, die aus den jeweils neu bezogenen an den Fenstern wahrgenommenen werden können, wie ein dreidimensionales Puzzle zusammenpassen, und sich das Bild mit jedem Standort- und Paradigmenwechsel entsprechend dem jeweiligen Erkenntnisinteresse immer weiter zu größerer Vollständigkeit runden kann. Aber in James‘ zeitgleich publizierter Novelle „The Turn of the Screw“ (1898, 1909) nehmen die Ambivalenzen und die Unsicherheit über die „richtige“ Interpretation der beobachteten Phänomene Besorgnis erregende Dimensionen an. Damit entfaltet sich die Thematik von „Ambivalenz und Moderne“ (Baumann 1992) im 20. Jahrhundert. Dem Verschwinden des allwissenden Erzählers, etwa im Werk von Joseph Conrad, folgt das Verschwinden der Linearität der Erzählungen in der Stream-of-Consciousness-Technik von Virginia Woolf und James Joyce. Während Literatur und Malerei den Befund einer in zahllose Facetten zersplitternden Welt letztlich zweckfrei abbilden können, bleibt der Physik ab Einstein und Heisenberg nichts übrig, als mit widersprüchlichen und einander prinzipiell ausschließenden Vorstellungen wie vom Licht als Korpuskel- oder Wellenphänomen weiter zu arbeiten. Sie ist ebenso auf Ergebnisse angewiesen, mit denen sie praktisch, anwendungsorientiert weiter kommt, wie ArchitektInnen und PlanerInnen, die in der Lage sein müssen zu bauen und zu handeln. Deren Antrieb, neue Fenster der Erkenntnis zu öffnen, ist, im Gegensatz zum schöngeistigen Kunstideal des Henry James, in erster Linie pragmatisch, interessengeleitet. Jedes neu geöffnete Fenster erweitert das Verständnis für die Zusammenhänge und damit potentiel ihre Handlungsfähigkeit. Und sollte „the house of fiction“ einen rückwärtigen Flügel haben oder gar Teil einer
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Blockbebauung mit Fenster zum Hof sein, dann wird es sogar möglich zu sehen, was „hinter dem Busch“ steckt. In dieser Beziehung ist die Haus-Metapher dem bekannten Bild überlegen, das vom Aufsetzen verschiedener Brillen spricht. Im hier skizzierten Sinne eingesetzt, thematisiert das Bild vom Haus mit seinen Fenstern das Phänomen des Paradigmenwechsels, ohne widersprüchliche Sehweisen von vorneherein als falsch oder richtig, überholt oder up-todate gegeneinander auszuspielen. Was dem einen weiß erscheint, mag sich, aus dem anderen Fenster gesehen, durchaus als schwarz darstellen. Allerdings schließt das Bild keinesfalls die Bewertung und Beurteilung der beobachteten Sachverhalte aus, legt durchaus keine Positionslosigkeit nahe. Es ist eben eine zunächst auf Pluralität und multiperspektivische Wahrnehmung hin orientierte Metapher der Moderne und keine Aufforderung zu postmoderner Beliebigkeit. Auf den Gegenstand unserer Tagung angewandt, könnte die Metapher eine Einladung darstellen, die vorgestellten Beiträge von der Warte unterschiedlicher planungstheoretischer Zugänge aus gedanklich durchzuspielen, etwa vom Fenster der Managementforschung aus (z.B. Krüger 2007). Die Öffnung solcher Fenster kann selbst in Fallstudien ausgeprägt etatistischer Situationen zur Entdeckung ungeahnter Governance-Zusammenhänge führen (sofern die Governance-Forschung bei ihrer Frage nach dem Zusammenspiel von öffentlichen, wirtschaftlichen und bürgerschaftlichen Akteuren den GovernanceBegriff nicht eindeutig auf Kontexte reduziert, in denen die öffentlichen Hand eine deutlich untergeordnete Rolle spielt). Am Beispiel des Beitrags zur Governance der Gartenstadt in diesem Band ließe sich zum einen erklären, weshalb der Blick der bisherigen Forschungen zu dieser Thematik aus dem ehrenwerten Fenster der 1980er Jahre-Wohnungsreformdiskussion ein so schlechtes Zeugnis für die mittelständische Gartenstadt Hopfengarten ausstellte, und warum ganz einfach ein frisch aufgerissenes Fenster diese Sicht relativieren und sie um die gegenteilige Perspektive ergänzen kann – mit deutlichen praktischen Konsequenzen für die Bewertung der Siedlung und den Umgang mit ihrem Erbe. Denn mit einem Schlag erschiene nicht nur die „anständige“ Arbeitersiedlung Reform auf der linken Straßenseite denkmalwürdig. Auch das Bild der gegenüber liegenden, als typisch engstirnig-eigennützige Eigenhaussiedlung fehlinterpretierten mittelständischen Siedlung Hopfengarten stünde im Blick der stirnrunzelnden Kritik durch die mittelständische Linke anders da. Allerdings würde ein Blick aus dem Fenster neoliberaler Betrachtung offenbaren, dass die Ergebnisse kritischer Hinterfragung linker Grundüberzeugungen auch zu missbräuchlichen Fehlinterpretationen genutzt werden können (im Sinne der postulierten grundsätzlichen Überlegenheit des privaten Marktes gegenüber Eingriffen der öffentlichen Hand). Die präventive Öffnung eines weiteren Fensters stünde damit an. Als Schlüsseltext der Moderne öffnet die Passage von Henry James auch Fenster mit Blick auf Grundpositionen von Architektur und Planung in der Moderne – Arbeitsfelder, deren Akteure lange in den Ansätzen einer neuzeit-
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lichen, geistigen Moderne (Welsch 1991: 65-85, Hradil 1990:127f) verhaftet blieben, die im Wesentlichen die Züge der Aufklärung trägt. Den Vorstellungen einer in ihren geistigen Grundstrukturen kaum überschaubar komplexen, zersplitterten Welt tragen die Architekten der Moderne nur begrenzt Rechnung. Verständlich! Denn die Kontexte, in denen sie handeln müssen, sind komplex genug! Geradezu polar entgegengesetzt zu den angedeuteten Grundbefindlichkeiten, die die moderne Kunst angesichts der neu entdeckten Komplexitäten entwickelt hat, setzen die architektonischen Strategien der klassischen Moderne auf Einfachheit – Gegengift nach den Exzessen des Eklektizismus/Historismus: „Weniger ist mehr!“ Zugleich jedoch korrelieren diese Strategien der Einfachheit und Bescheidenheit mit dem Anspruch der Erschaffung einer neuen Welt, der die Verbindungen zur Vergangenheit zurückweist und sich am Krassesten in Le Corbusiers Entwürfen zur Neugestaltung von Paris manifestiert. Ebenso maßlos wie dieser Anspruch daher kommt, so unterkomplex ist das damit verbundene Gott-Vater-Modell, in dem sich die Mehrzahl der Architektinnen und Planer jener Zeit verorten, und das erst spät im Umfeld von Partizipation und Governance in die Krise gerät. Erst seit sich jenes facettenreiche, multiperspektivische Feld von Ansätzen geöffnet hat, das wir mit „Planung in der Nachmoderne“ umschreiben, ist die Planung an jener erkenntnistheoretischen Position angelangt, zu der Henry James um die Jahrhundertwende sein House of Fiction konstruierte – endlich angekommen in der Moderne! Doch das ist eine andere Geschichte, die an dieser Stelle den Fensterrahmen sprengen würde.
D IE B EITRÄGE
IN DIESEM
B AND
Bevor jeder einzelne Beitrag einen individuellen Blick in die – nähere wie fernere – Vergangenheit wirft, obliegt es Klaus Selle (RWTH Aachen), den „Fensterrahmen“ dieser Beobachtungen, die gemeinsame Governance-Perspektive, für die vorliegende Veröffentlichung zu definieren. Hierfür nimmt er zunächst die vermeintlich einfache Frage „Wer entwickelt die Stadt?“ in den Fokus. Dass die Antwort darauf lautet, dass „alle“ – wenngleich in unterschiedlicher Weise – an der Stadtentwicklung beteiligt sind und neben den kommunalen Akteuren und „üblichen Verdächtigen“ aus der Bau- und Immobilienbranche auch die Bürgerinnen und Bürger ihre Stadt mitgestalten. ermöglicht zunächst eine genauere Untersuchung der Rolle der Stadtplanerinnen und Stadtplaner, um schließlich ein umfassendes Verständnis von Stadtentwicklung durch die Betrachtung von Aufgaben, Akteuren und – schließlich – Governance einzufordern. Dabei unterscheidet Selle innerhalb der Fachdiskussion drei Governance-Begriffe: Governance als Trendhypothese die von einer Veränderung der gesellschaftlichen Steuerung unter Zunahmen nicht-staatlicher Akteure ausgeht; Governance als daraus abgeleitete normative Vorstellung eines „guten Regierens“ bzw. einer „guten Stadt-
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politik; und schließlich Governance als Analyseinstrument. Letztere auch von Selle bevorzugte Begriffsverwendung ermögliche dann einen sehr viel feinkörnigeren Blick auf den jeweiligen Mix von Akteuren und der von ihnen zu bewältigenden Interdependenzen, der im Abgleich mit historischen Ähnlichkeiten auch all zu voreilig behauptete „Déjà-vus“ verhindern könne.
Die ersten drei Beiträge beschäftigen sich mit Wandlungen im Staatsverständnis als Ausdruck veränderter Governance. Einen besonders weiten Blick in die Vergangenheit unternimmt Gerhard Fehl (ebenfalls RWTH Aachen), wenn er die lokale Governance bei der Anlage Neu-Hanaus durch flämisch-wallonische Calvinisten in den Jahren 1596 bis 1602 betrachtet. Dabei zeigt sich, dass die protestantischen Glaubensflüchtlinge, die von Graf Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg angesiedelt wurden, sich des in ihnen liegenden wirtschaftlichen Potentials bewusst waren und daher nicht als Bittsteller auftraten, sondern vielmehr für bürgerliche Rechte und politische Teilhabe innerhalb eines neuen Machtverhältnisses von Fürst, Kirche und Bürgern kämpften. Allein die erforderliche Stadterweiterung und die damit für den Fürsten verbundenen finanziellen Lasten führten zu Veränderungen von Governance-Strukturen und Planungskultur. Fehl unterscheidet dabei zwei sich in dieser Zeit diametral entgegengesetzt entwickelnde Planungskulturen, die entweder „absolutistisch-zentralistisch“ die Stadtproduktion und -gestaltung beim Herrscher bündelten oder „paternalistisch-partizipatorisch“ der Verhandlung anheim stellten. Zu welchen Ergebnissen letztere Vorgehensweise – manifestiert in einer verfassungsartig ausformulierten „Kapitulation“, die nicht nur Macht-, Aufgaben- und Lastenverteilung sondern auch das Zusammenleben regelte – in Neu-Hanau führte, zeigt Fehl anhand dreier Bilanzen: Der Erfüllung der beiderseitigen Erwartungen an den Vertrag, der ökonomische Erfolg der Stadterweiterung und der Beitrag Hanaus zur Veränderung der Planungskultur im Deutschen Reich. Hildegard Schröteler-von Brandt (Universität Siegen) thematisiert die Stadtbaupläne in der Rheinprovinz im frühen 19. Jahrhundert. Zu diesem Zeitpunkt entstanden innerhalb der durch Wachstum und Industrialisierung veränderten politischen, gesellschaftlichen und bodenrechtlichen Situation erstmals formelle Pläne, die die landesfürstliche Planung ablösten und somit auch den Übergang zum privatrechtlichen Städtebau markieren. Allein auf staatlicher Seite waren nun zahlreiche Akteure beteiligt, die sich zudem auf Provinz, Regierungsbezirk und preußischer Regierung verteilten. Zwischen 1829 und 1840 wurde das Planungsverfahren durch Instruktionen etwa zu Vermessungsarbeiten und Darstellung der königlichen Regierung immer stärker systematisiert. Auch die Planungsinhalte wurden immer präziser und detaillierter. Das Verfahren zum Umgang mit den zwischen und unter privaten und öffentlichen Interessen entstehenden Konflikten zielte bereits auf einen Ausgleich ähnlichem dem heutigen Abwägungsgebot ab. Die Erkenntnis dieser Rechte und Einspruchsmöglichkeiten insbesondere seitens der Grund-
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besitzer verstärkte die generell bestehenden Konflikte, etwa solche zwischen Idee und Umsetzung der Pläne. Andererseits nutzten auch die Gemeinden ihre Möglichkeiten, um Verfahren so lange herauszuzögern, dass in einigen Fällen der Plan durch Einzelfallentscheidungen nur noch eine Darstellung der gebauten Realität bedeutet hätte. Letztlich waren es in der Regel Fragen der Umsetzung, die die Planinhalte bestimmten, während rationale Planungsideen sich häufig nicht durchsetzen ließen. Unter der Überschrift „Auf dem Weg zur idealen Stadt“ lenkt Jan Volker Wilhelm (Bamberg) erneut den Blick auf das Wirken privatwirtschaftlicher Akteure bei der Erweiterung der Städte während der Hochphase der Industrialisierung. Hierbei untersucht er mit Göttingen das Beispiel einer Mittelstadt, in denen zwar die Praxis kommerzieller Terrainumlegung ebenfalls üblich war, in der Regel allerdings durch Bauunternehmen durchgeführt wurden. Die Besonderheit des Göttinger Falls liegt in der umfassenden Neuordnung der gesamten Wege- und Besitzstruktur des Außenbereichs innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne. Daher stellt sich für Wilhelm insbesondere die Fragen, nach den Gründen für die Möglichkeit dieses Vorgehens und der Kooperation von Stadtverwaltung und Bauwilligen innerhalb der städtebaulichen Praxis. Dabei zeigt sich eine innovative Anwendung der nationalen Vorgaben, die es ermöglichte, bodenrechtliche Mängel des preußischen Fluchtliniengesetzes zu kompensieren, und sich bis heute positiv auf die Bebauungsstruktur auswirkt. Die dafür nötige, weitgehend obrigkeitsstaatliche Regulierung des Baugeschehens durch die Stadt, stellt sich so auch als ein Ergebnis eines Aushandlungsprozesses mit Eigentümern und Bauträgern dar. Somit, so Wilhelm, könne das damalige Stadtbauamt auch als Dienstleister verstanden werden.
Daran schließen sich drei Beiträge an, die sich hierin bereits andeutende Veränderung staatlicher Aufgabenerledigung in den Fokus ihrer Betrachtung nehmen. Dirk Schubert (HCU, Hamburg) stellt anhand der beiden Fallstudien London und Hamburg die komplexen Akteurskonstellationen, Zuständigkeiten und Steuerungsprozesse in denen sich das besondere Verhältnis zwischen Hafen- und Stadtentwicklung entwickelt hat. Zur Beschreibung schlägt er ein Prinzip von „choices and circumstances“ vor, um sowohl die Präferenzen und Optionen der relevanten Stakeholder als auch die Rahmenbedingungen der Entwicklungen zu beachten. Die technischen und wirtschaftlichen Erfordernisse des Hafenbetriebs und seiner Fortentwicklung werden dabei auch innerhalb des Kontextes der Restrukturierung von Staatlichkeit und der Veränderung von Governance-Strukturen verordnet, da die gerade in den Hafenstädten zu beobachtende Dominanz privatwirtschaftlicher Entscheidungsträger hier integriert werden kann. Den konkreten Fall der Lübecker Hafenplanung unter Baumeister Peter Rehder nimmt Otto Kastorff (Bad Schwartau) zum Anlass für eine planungstheoretische Analyse der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ästhetischen Grundlagen von Formfindung und Formgebung. Dabei stellt Rehders Gut-
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achten über „Die bauliche und wirtschaftliche Ausgestaltung der lübeckischen Hauptschiffahrtsstraßen“ von 1906 für ihn mit Bloch eine „konkrete Utopie“ dar, die zunächst eine unentfremdete Ordnung in der besten aller möglichen Gesellschaften formuliert wird, um schließlich chaotisch-ungewollte wie einsichtsvoll-gewollte Anpassungen zu erfahren. Während die Lübecker Planung, die erstmals nicht auf das Stadtgebiet beschränkt war, sondern den gesamten Unterlauf der Trave umfasste, zum einen sehr konkret war und etwa zentimetergenaue Angaben machte, blieb sie weitgehend utopisch in dem Sinne, als sich niemals ein entsprechendes Entwicklungspotenzial einstellte. Damit liefert Kastorff auch einen Beitrag, der die Bedeutung von Rahmenbedingungen jenseits der Governance-Strukturen reflektiert. Am Beispiel der drei Magdeburger Gartenvorstädte zeigt Friedhelm Fischer (Universität Kassel), dass auch die als weitgehend gesichert geltenden Erkenntnisse zur deutschen Gartenstadt-Bewegung anhand der hier eingenommenen Governance-Perspektive zumindest eine Veränderung der bislang dominanten Einordnungskriterien erforderlich macht. Die Unterscheidung von „öffentlich“ und „privat“ bei Akteuren und Strategien findet ihre Entsprechung in „Gemeinschaft“ und „Individualität“ von Architektur und Städtebau. Der einfachen, kostengünstig produzierten Serialität innerhalb der Siedlung „Reform“ standen die freistehenden, individuell und repräsentativ gestalteten Villen innerhalb der Kruppschen Werkssiedlung für leitende Angestellte gegenüber. An der zunächst als vorbildlich gefeierten Siedlung „Hopfengarten“ zeigt Fischer schließlich, das der hier unternommene Versuch, Merkmale des bürgerlichen Wohnens im Arbeitersiedlungsbau vor allem an der fehlenden Möglichkeit einer Verallgemeinerung im nachfolgenden Massenwohnungsbau scheiterte.
Die „unternehmerische Stadtentwicklung“ steht im Gegensatz zu den bisherigen, eher staatszentrierten Beiträgen im Mittelpunkt der nachfolgenden Artikel. Steffen Krämer (Ludwig-Maximilian-Universität München) konzentrierte sich auf das bereits in mehreren anderen Beiträgen gestreifte Thema der Arbeiterkolonie als einer auch unter Governance-Gesichtspunkten besonderen Form der Stadtproduktion. Dabei dienen drei Siedlungen als Beispiel für das Interesse deutscher Unternehmer am Arbeiterwohnungsbau: Die Arbeiterkolonien der Gussstahlfabrik Krupp in Essen und der Textilfabrik Ulrich Gminder in Reutlingen sowie die Arbeitersiedlung „Alte Heide“ in München. Dabei zeigen sich Gemeinsamkeiten bei den Zielsetzungen der Unternehmer, weiterhin bestehender paternalistischer Ansätze und der Orientierung an englischen Vorbildern, aber auch der städtebaulichen Gestaltung. Krämer betont insgesamt den wichtigen Beitrag der Arbeiterkolonien für die Fortentwicklung der Stadt- und Siedlungsplanung, aber auch die Lebensbedingungen der Arbeiter geleistet haben. In Renate Kastorff-Viehmanns (Universität Dortmund) Beitrag wird die Wohnraumproduktion im Ruhrgebiet um die Jahrhundertwende zum 20.
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Jahrhundert untersucht. Die damals ganz neutral als „Spekulation“ begriffene Siedlungstätigkeit in der Nähe der Schachtanlagen der entstehenden Industrieregion war neben den ab etwa 1890 geschaffenen Werkssiedlungen ein wesentlicher Teil der raschen Urbanisierung der vormals ländlichen Gegend. Dabei analysiert Kastorff-Viehmann neben den bau- und planungsrechtlichen Rahmenbedingungen vor allem die Akteurskonstellationen und baulichen Standards dieser Stadtproduktion. Die daraus resultierende, rückblickend zumeist als strukturell und städtebaulich defizitär beschriebene Situation, die sie vor allem auf die selbst auf dem (vormals) „platten Land“ hohen Behausungsziffern zurückführt, ist dabei für sie auch im weitgehenden Fehlen staatlicher oder gemeindlicher Steuerung begründet. Celina Kress (CMS, Berlin) betrachtet mit den Berliner Immobilien- und Bauunternehmern Georg Haberland und Adolf Sommerfeld zwei „klassische“ Beispiele privater Stadtproduktion vor und nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Governance-Blickwinkel. Exemplarisch an den beiden Siedlungen „Rheinisches Viertel“ und Zehlendorf-Nord wird neben den städtebaulicharchitektonischen Konzepten der Siedlungen auch auf die jeweiligen Prozesse und Akteurskonstellationen eingegangen, innerhalb derer sie geplant, verhandelt und realisiert wurden, sowie der institutionelle und gesellschaftliche Rahmen ihrer Entstehung beschrieben. Dabei geht Kress auch der Frage nach, wie Haberland und Sommerfeld städtebauliche Leitbilder der Zeit beeinflusst haben. Der Vergleich der beiden nicht parallel entwickelten Projekte ermöglicht dabei, Veränderung des historischen Rahmens und der städtebaulichen Ausgestaltung in Beziehung zu setzen.
Schließlich vervollständigen drei verschiedene Aspekte der veränderten Rolle der Zivilgesellschaft den Blick auf historische Wurzeln der aktuellen Governance-Diskussion. Mit ihrem Beitrag zur „Wohnreform als Tätigkeitsfeld der ‚Bürgerlichen Frauenbewegung’ vor dem Ersten Weltkrieg“ greift Ulla Terlinden (Universität Kassel) den seit den Sechziger Jahren laufenden Diskurs um „Soziale Bewegungen“ auf, der zuletzt durch die neu aufgekommenen Debatten um Zivilgesellschaft und Governance ins Hintertreffen geraten sei. Dabei ginge es stets um eine alternative Form von bürgerlicher Öffentlichkeit außerhalb des politischen Systems, die zunächst in Konfrontation später aber auch in Kooperation mit Staat ihre politischen Ziele verfolgten. Als Teil einer republikanisch orientierten Zivilgesellschaft war die im 19. Jahrhundert entstandene so genannte „Alte Frauenbewegung“ bei der Wohnungsfrage einerseits darum bemüht, politisch für eine verbesserte staatliche Kontrolle und Obhut zu streiten. Andererseits führte ihr philanthropisch geprägtes Anliegen auch dazu, als Stifterinnen und Ehrenamtliche selbstständig zur Milderung sozialer Härten beizutragen. Terlinden zeigt so, wie die Frauenbewegung als Teil der Reformbewegungen der Zeit zwischen einem auf Ordnungsstaatlichkeit und Liberalität reduzierten Staat und dem Profitstreben der Wirtschaft eine dritte, heute als zivilgesellschaftlich bezeichnete Kraft bildeten. Sie trug nicht nur zu
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einer Verbesserung der städtischen Wohnverhältnisse bei, sondern konnte insbesondere auf kommunaler Ebene auch die Bedeutung bürgerlichen Engagements stärken. Barbara Schönig geht davon aus, dass die Mitwirkung der Zivilgesellschaft und insbesondere ihrer Eliten an der Stadtentwicklung im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert selbstverständlich gewesen sei. Wenngleich sie dies auch für das Deutsche Reich als gesichert ansieht, belegt sie ihre These innerhalb ihres Beitrags mit einem US-amerikanischen Beispiel: Dem „Regional Plan of New York and Its Environs“ von 1929. Für sie ist dabei von besonderem Interesse, wie der privat durch die Russell Sage Foundation finanzierte Plan, erst in der durch die Weltwirtschaftskrise evozierten Phase verstärkter staatlicher Macht und Planung, des New Deal Franklin D. Roosevelts, seine volle Wirkmächtigkeit entwickeln konnte. So zeigt Schönig, dass einerseits das Entstehen staatlicher Planung durch eine engagierte Zivilgesellschaft befördert wurde, die sich hierin ein Instrument zum Erhalt der regionalen Wettbewerbsfähigkeit erhoffte, und dass die durch die staatlichen Akteure übernommenen konservativen inhaltlichen Ansätze die erfolgreiche Umsetzung begünstigten. Andererseits verdeutlicht sie aber auch, dass die zivilgesellschaftliche Initiative eines starken staatlichen Partners bedurfte, um die Planung absichern zu können und konkrete Planungsprojekte durchzusetzen. Die unter der planungsfreundlichen Bundesregierung entstehenden Planungsinstitutionen machten sich in New York die Fähigkeit des „Regional Plan of New York and Its Environs“ zu Eigen, innerhalb der Oberschicht für Reformen zu werben. Neben den so bezeichneten Synergien macht Schönig aber auch auf das generelle Problem aufmerksam, zivilgesellschaftlich-private Interessen in staatliches Handeln zu integrieren. Der Beitrag von Ingrid Lübke (Universität Kassel) stellt zugleich gewissermaßen einen Ausblick aus der historischen Perspektive auf die Gegenwart dar und belegt dabei die Vergänglichkeit auch unserer heutigen Ansätze und Sichtweisen. Mit dem Beispiel der Rotterdamer Projektgruppen widmet sich Lübke nämlich der jüngsten Geschichte und zeigt, dass das Modell einer partizipativen und kooperativen Planung, das ab 1974 die Planungs- und Entscheidungsstrukturen in der Rotterdamer Stadterneuerung umfassend und gesamtstädtisch veränderte, nach fast zwanzigjähriger Laufzeit 1992 beendet wurde. Obwohl es hier also gelungen war, weit stärker in die institutionalisierten Strukturen von Verwaltung und politischem System einzugreifen, war dem Projekt letztlich ein kaum größeres Verharrungspotenzial beschieden, als ähnlichen „Experimenten“ andernorts. Allerdings veranschaulicht Lübke auch, wie sehr die in den Projektgruppen angelegte Verknüpfung formeller und informeller Planungs- und Entscheidungsstrukturen die sowohl behutsame als auch demokratische Stadterneuerung befördern konnten. Im Ergebnis wurden viele Altstadtquartiere erhalten und saniert und nicht durch großmaßstäbliche Neubauten ersetzt, wie es zu Beginn der 1970er Jahre noch vorgesehen war.
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Stadtentwicklung aus der „GovernancePerspektive“ Eine veränderte Sicht auf den Beitrag öffentlicher Akteure zur räumlichen Entwicklung – früher und heute 1 Klaus Selle
Nichts scheint langweiliger zu sein als die „Neuerung“ von gestern. Dieses aus der Warenwelt und dem Medienwald bekannte Phänomen ist selbst manchen Fachdiskussionen nicht fremd. Und so jagt auch in den Publikationen zur Stadtentwicklung seit einigen Jahrzehnten ein Thema das nächste: „Krisen“ lösen einander ab, eine „Wende“ folgt auf die andere und insbesondere das „Planungs-Verständnis“ scheint von stetem „Wandel“ geschüttelt. Diese angestrengte Suche nach dem jeweils Neuen gleicht die wissenschaftliche Arbeit gelegentlich dem Marktschreier-Verhalten an, was Anlass zur Kritik geben kann. Wichtiger aber ist: Sie schneidet die jeweils aktuelle Debatte von den historischen Vor-Erfahrungen ab und lässt so wichtige Potenziale – für die Analyse von Entwicklungslinien ebenso wie für das Gewinnen von Handlungskonzepten – ungenutzt. Da ist eine Tagung (und eine Buchpublikation wie die vorliegende), die zum Denken in längeren Zyklen anregt, die nach Kontinuitäten in vermeintlichen oder tatsächlichen Veränderungsprozessen fragt, sehr hilfreich. Dabei kann es nicht darum gehen, nur „déjà-vu“ zu rufen und auf Vorgänger und Wiederkehrer zu verweisen. Vielmehr müssen Fragen gestellt, Begriffe gesucht und Perspektiven gefunden werden, die uns überhaupt erst in die Lage versetzen das Heutige in Bezug zum Gestrigen und Vorgestrigen zu setzen. Da sind einfache Fragen hilfreich – etwa wie die der Tagung vorangestellte: „Wer entwickelt die Stadt?“ Und da kann sich eine Betrachtungsweise als nützlich
1 | Hinweis: Der Beitrag stammt aus dem Jahr 2008 und gibt den Diskussionstand zu diesem Zeitpunkt wider.
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erweisen, die erst in jüngerer Zeit aus den Politikwissenschaften Eingang in die Forschungen zur Stadtentwicklung fand: die „Governance-Perspektive“. Damit sind auch bereits die wesentlichen Schritte der folgenden Argumentation benannt: • Am Anfang steht die Frage, wer die Städte entwickelt. Damit wird der Blick auf die in der Stadt handelnden Akteure und ihre Beiträge zur räumlichen Entwicklung gerichtet und es lässt sich schnell erkennen, dass (vormals wie heute) Stadtentwicklung aus vielfältigen Aktivitäten resultiert – an den Märkten, im öffentlichen Sektor und in der lokalen Gesellschaft. • Ein solcher Blick auf die Entwicklung der Städte wurde aber lange Zeit ausgerechnet von denen, die sich professionell mit räumlicher Planung und Entwicklung sowie deren Theorie befassen, nicht geteilt. Sie sahen sich, ihre Pläne und Planungsverfahren im Zentrum der Stadtentwicklung. Hier war ein Wandel im Selbstverständnis und ein Perspektivenwechsel in der theoretischen Arbeit vonnöten, um das professionelle Handeln in den Kontext des Handelns anderer Akteure stellen zu können. • Für die Auseinandersetzung mit einer Vielfalt von Akteuren und der zwischen ihnen wirksamen Interdependenzen bieten die Politikwissenschaften einen Begriff an: Governance. Nutzt man ihn in erster Linie zu analytischen Zwecken – und nicht schon, wie dies gelegentlich geschieht, als Kennzeichnung vermeintlicher Veränderungen oder als Norm – lassen sich Stadtentwicklungsprozesse differenziert beschreiben. Insbesondere die Frage, wer Stadt entwickelt, lässt sich aus der „GovernancePerspektive“ sowohl für zurückliegende Entwicklungsepochen wie für aktuelle Aufgaben gut beantworten – mit noch offen Konsequenzen für die „mental models“ der planenden Disziplinen und die theoretischen Konzepte der Stadtforscher. Diese Argumentationsschritte führen überwiegend durch das steinige Gelände eher abstrakter und möglicherweise unanschaulicher Überlegungen. Denn: Um den Umfang des Beitrages nicht noch mehr auszuweiten bleiben praktische Illustrationen und Fallbeispiele auf kurze Andeutungen beschränkt. Das mag ausgeglichen werden durch Hinweise auf ausführlichere Darstellungen aktueller empirisch orientierter Studien aus eigenem Arbeitszusammenhang (vgl. z.B. Klemme/Selle 2008). Vor allem aber werden die vielen konkreten Falluntersuchungen im vorliegenden Band plastisch verdeutlichen, welche Leistungsfähigkeit die der Governance-Perspektive verpflichteten Studien in konkreten historischen Forschungszusammenhängen haben können.
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S TADT ?
Wer entwickelt Stadt? Ist das eine Frage, die des Nachdenkens bedarf? Nein, so wird hier behauptet. Diese Frage kann als beantwortet gelten – das legen die Fakten ebenso nahe wie Feststellungen aus der Fachdiskussion der letzten Jahrzehnte.
Alle Auf die Frage, wer die Städte entwickelt, gibt es nur eine richtige Antwort: Alle. Alle wirken – in unterschiedlicher Weise – an der baulich-räumlichen, sozialen, ökologischen, ökonomischen oder kulturellen Entwicklung der Städte mit…. Das lässt sich leicht illustrieren: Beginnen wir mit den Bürgerinnen und Bürgern. Die sind – zum Beispiel – für den Urban Sprawl verantwortlich. Sie bauen und bezahlen die Einfamilienhäuser an den Peripherien. Oder entscheiden sich – zum Beispiel – für Eigentumswohnungen an integrierten Standorten und tragen so zur „Reurbanisierung“ bei. Und wo sie nicht selbst bauen sind sie Nachfrager von Wohnraum und beeinflussen mit ihren Präferenzen der Angebote der Wohnungsproduzenten. Das gilt auch für jene Haushalte mit niedrigem Einkommen: Auch ihre Standortwahl kann (unter Bedingungen von Nachfragermärkten) über die Geschicke von Stadtquartieren entscheiden. Kurzum die Bürgerinnen und Bürger der Städte wirken auf vielfältige Weise – direkt oder indirekt, gezielt oder gleichsam nebenbei – auf Stadtentwicklung ein. Sie entwickeln Stadt… …aber selbstverständlich nicht allein. Noch fehlen die Akteure, die zumeist als erste unter den „Stadtproduzenten“ genannt werden – die Bau-, Boden- und Immobilienunternehmen, die Grundeigentümer, Bauinvestoren, die Entwickler und Vermarkter, die Wohnungsunternehmen und Industriebetriebe, die Einzelhändler, die Logistik- und Verkehrsbetriebe, Entsorgungsund Energieunternehmen und so fort. Mit ihren Aktivitäten tragen sie auf vielfältige Weise zur Stadtentwicklung bei. Last but not least sind die kommunalen Akteure zu nennen: Sie fertigen die Bebauungspläne, beauftragen ihre Entwicklungsgesellschaften mit Kauf und Verkauf von Grundstücken, schützen Freiflächen, verändern Lagestrukturen durch Verkehrsbauwerke, setzen Standorte in Wert – und müssen sich bei alledem der Klagen der Bürger und der Mahnungen der Industrieverbände erwehren.
Raumbezug und Interdependenz Für dieses Einwirken vieler Akteure auf die Stadtentwicklung wurden in den letzten Jahren viele Formulierungen und Bilder gefunden – wie etwa die folgende Abbildung, deren Aufgabe es ebenfalls ist, den Prozess der Stadtentwicklung als Resultat des Handelns von Akteuren aus drei „Sphären“ (Markt, Staat, Gesellschaft) darzustellen.
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Abb. 1: Stadtentwicklung als Resultat des Handelns von Akteuren aus drei „Sphären“ (Markt, Staat, Gesellschaft)
Das wird hier grafisch stark vereinfacht (Abb. 1), denn es fehlen noch die vielen „Zwischenwelten“ (intermediärer Bereich) und Doppelzuordnungen (etwa: Öffentliche Betriebe, die marktförmig agieren etc.). Aber um solche Feinheiten kann es hier nicht gehen. Entscheidend an einem Schema wie diesem und der zuvor aufgelisteten (gänzlich unvollständigen) Aktivitätenvielfalt vieler Akteure, die zur Stadtentwicklung beitragen, ist vor allem, die Tatsache, dass sie • sich im Raum überlagern und • untereinander in Wechselbeziehung stehen. Damit werden bereits zwei zentrale Begriffe angesprochen, die uns weiter unten erneut begegnen werden: Raumbezug und Interdependenz.
Alles neu? Déjà-Vu-Erlebnisse Im Jahr 2007 ließ eine Meldung die Planerwelt aufhorchen: Eine Gruppe von Kölner Unternehmern hatte beschlossen, dass die Stadt dringend eines Masterplans bedürfe. Mit einer erstaunlichen Begründung: „Köln leidet seit langem daran, dass es kein schlüssiges und verbindliches Konzept für die Stadtentwicklung gibt. Stadtplanung und Städtebau wurden und werden von Fall zu Fall betrieben – die Folgen dieser eher zufällig und leider auch immer mal wieder sachfremd getroffenen Einzelentscheidungen sind im Stadtbild zu sehen…Um diese Herausforderungen anzugehen und die Potentiale, über die diese vitale Stadt zweifellos verfügt, zu mobilisieren, benötigt Köln eine langfristig angelegte, visionäre und verbindliche Entwicklungsstrategie – einen städtebaulichen Masterplan: Ein an Zielen definierter Rahmen für die Stadtentwicklung der nächsten 20 Jahre, verbindlich und gleichzeitig mit hoher
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Flexibilität – insbesondere in gestalterischen Details – , ist dazu das geeignete Instrument“ (www.masterplan-koeln.de/anlass_und_ziele.html). Erstaunlich ist diese Erläuterung insofern, als sie im Wesentlichen die Argumente zusammenfasst, die bislang ein „Planungserfordernis“ für öffentliche Akteure begründeten. In diesem Fall aber nimmt der Verein „Unternehmer für die Region Köln e.V..“ die Dinge selbst in die Hand, beauftragt ein renommiertes Planungsbüro, finanziert dessen Arbeit mit 500.000 Euro und „schenkt“ alles das der Stadt. Noch wird am Plan gearbeitet. Man darf auf das weitere Verfahren gespannt sein. Ein Einzelfall? Mitnichten. Auch in anderen deutschen Städten beteiligen sich Unternehmen direkt oder mittelbar an der Aufstellung von Plänen, der Finanzierung und Ausrichtung von Wettbewerben etc. Es geht nicht immer um derart spektakuläre Aufträge und Summen – aber das Grundmuster ist keinesfalls auf die besonderen „kölschen“ Verhältnisse beschränkt. Ein neues Phänomen? Ebenfalls: Nein. 1907 beschloss eine Gruppe von Unternehmern und einflussreichen Bürgern, dass ihre Heimatstadt dringend eines übergeordneten Planungskonzeptes bedürfe. Sie beauftragten einen renommierten Architekten und Städtebauer mit der Erarbeitung eines Konzeptes, dessen Entstehung sie aus eigenen Mitteln finanzieren. 1909 wurde es vorgelegt. Aber die Initiatoren ließen es nicht dabei bewenden. Es war ihnen klar, dass ein solcher Entwicklungsplan nur Wirkung erlangt wen auch seine Umsetzung und Weiterentwicklung als Prozess gestaltet wird. Es wurde also ein Komitee gegründet, das fast dreißig Jahre lang professionelle PR für den Plan betrieb, immer neue Kooperanten und Unterstützer einwarb und so dafür sorgte, dass der Plan nicht Papier blieb. Stark verkürzt wurde hier von der Geschichte des „Plan of Chicago“ und der Rolle, die der lokale „Commercial Club“ dabei spielte, berichtet. Diese Geschichte ist noch immer nicht abgeschlossen. Der Commercial Club besteht weiterhin und erneut macht er sich um Stadt- und Regionalentwicklung verdient: Nach einem zweijährigen Arbeitsprozess legte er 1999 einen Bericht mit dem Titel „Chicago Metropolis 2020: Preparing Metropolitan Chicago for the 21st Century“ vor, gründete eine neue Organisation gleichen Namens (Chicago Metropolis 2020 ), stiftet zahlreiche Kooperationen an und entwickelt auf diese Weise, wie es in der Internetdarstellung heißt, „a new kind of ›civic entrepreneurship’ in the region“ (http://www.chicagometropolis2020.org/5_3.htm; vgl. zu diesem Beispiel ausführlich: Barbara Schönig in Altrock u.a. 2007:137 ff ). Amerikanische Verhältnisse? Vielleicht. Aber das heißt nicht, dass in Deutschland der unternehmerische Einfluss auf die Stadtentwicklung geringer gewesen sei – wenn er sich auch auf andere Weise artikulierte. Wer etwa die Industrialisierungsgeschichte des Ruhrgebiets nachzeichnet, wird unschwer erkennen, dass alle wesentlichen Entwicklungsetappen direkt oder mittelbar von den Absichten der „Kohle- und Stahlbarone“ geprägt waren (vgl. zu einer Fallstudie: Niethammer 1979). Dieser Einfluss wirkte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Noch in den 80er Jahren wurden ganze Siedlungen abgerissen, um die immissionsschutzrechtlichen Voraussetzungen für die Entwicklung von Stahlunternehmen zu schaffen.
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Kein Flächennutzungsplan entstand ohne intensive Abstimmung mit den lokalen Großunternehmen und selbst solche renommierten Projekte wie die IBA Emscher Park wären nicht ohne das Verwertungsinteresse der Montanunternehmen an ihren nun nicht mehr benötigten Liegenschaften zustande gekommen. Apropos Verwertung von Liegenschaften: In der Entwicklung vieler Städte lässt sich nachzeichnen, wie schon in der vorindustriellen Epoche Verwertungsinteressen von Grundeigentümern Richtung und Intensität der Siedlungsentwicklung prägten. Das setzte sich in der Gründerzeit fort. Ein schönes Beispiel – eines von vielen – sind etwa die Spekulationen des Baron Karl von Eichthal in München: Er „veranlasste“, wie es so schön heißt, die Errichtung zweier Stadtquartiere (des Gärtnerplatzviertels und des Franzosenviertels in Haidhausen) – just dort, wo seine Ländereien lagen (vgl. Landeshauptstadt München 2004:78-79). Wem Beispiele wie dieses bekannt vorkommen, wer sich etwa erinnert fühlt an die Rolle, die die Immobilientöchter der Bahn heute mancherorts bei der Stadtentwicklung spielen, der geht sicher nicht fehl in der Annahme, dass es sich hier um vergleichbare Rollen und Prozesse handelt. Um ein letztes Beispiel zu nennen und der Einfachheit halber in München zu bleiben: Auch die Rolle, die der Bauunternehmer Jakob Heilmann zu Zeiten von Theodor Fischer (ab etwa 1890), auf kommunaler Seite des Leiter des Stadterweiterungsbüros, spielte (Landeshauptstadt München 2004:83-84), mag manche an die Neue Heimat in den 1970er Jahren oder an diverse Immobilienentwickler der Jetztzeit erinnern. In der jüngeren Zeit wird Stadtentwicklung wieder verstärkt aus der Bürgerperspektive wahrgenommen, werden die Potenziale der Zivilgesellschaft entdeckt und nach Möglichkeiten gesucht, sie zu fördern und in lokale Politikprozesse einzubinden. In diesem Fall ist besonders evident, dass es sich hier nicht um neue gesellschaftliche Wirklichkeiten, sondern um ein Wiederentdecken und Erinnern geht. Schon Freiherr vom und zum Stein sah im bürgerschaftlichen Engagement eine wichtige Ressource für die Entwicklung des lokalen Gemeinwesens (vgl. Geißel 2007:23-24). Und Hellmut Wollmann hat mehrfach darauf hingewiesen (z.B. 2002:328 ff.), dass die Kommunen in Deutschland immer einen großen Schnittbereich zur zivilgesellschaftlichen Sphäre aufweisen (vgl. hierzu und zur Entwicklung vom „Ehrenmann“ zum bürgerschaftlichen Engagement: Zimmer 2007). Das fand zum Beispiel in der kommunalen Sozialpolitik des 19. Jahrhunderts seinen Ausdruck (Armenpflege, Wohltätigkeitsvereine etc.) und dauert bis heute in anderen Handlungsfeldern der Stadtentwicklung an (Kultur, Grün- und Freiräume – zum Beispiel „Bürgerparks“) etc. Das sind nur Beispiele für Déjà-Vu-Erlebnisse, die sich zu einer unendlichen Kette ergänzen ließen (vgl. als Anregung zum Beispiel Fehl/RodriguezLores 1983). Man könnte daraus fast eine Art Gesellschaftsspiel für diejenigen machen, die sich mit Stadtentwicklung auseinandersetzen: Aktuelle Entwicklungen und Fälle werden aufgerufen – und mit historischen Vorgängern oder Analogien pariert. Gewonnen hat, wer die meisten zu nennen weiß…
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Aber es geht hier nicht um Spiele, sondern vorrangig um den Hinweis, dass sich in der jüngeren Stadtgeschichte zahlreiche Belege dafür beibringen lassen, wie intensiv der Einfluss mächtiger privater Akteure auf die Stadtentwicklung war (und ist). Stadtplanern in der Praxis war dies stets klar. Das bringt zum Beispiel Fritz Schumacher (1920:105-106) zum Ausdruck, wenn er mit Blick auf planvolle Stadtentwicklung feststellt: „…natürlicher und lebensvoller wird das Ergebnis sein, wenn sich die Macht privater Initiative mit den öffentlichen Machtmitteln zu diesem Zweck vereint…“ Als eindrucksvolles Beispiel für eine solche Verbindung privater und öffentlicher Macht kann – um nur einen weiteren Fall zu nennen – die „Aufbaugemeinschaft“ gelten, der wesentliche Impulse für den Wiederaufbau des kriegszerstörten Hannover zu verdanken sind: Der damalige Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht bündelte und moderierte die „Kräfte des Aufbaus“. Als solche galten ihm vor allem die Grundbesitzer, die Eigner großer Unternehmen und die Vertreter wichtiger Interessensgruppen (vgl. Auffarth 1995). Kurzum: Die „Koproduktion“ von Stadt ist keineswegs ein neues Phänomen – und wer das heutige Zusammenwirken privater und öffentlicher Akteure verstehen will, wird von den historischen Vorformen viel lernen können.
„Alle zehn Jahre ein großer Mann?“ Von „Macht“ und „mächtigen Akteuren“ war die Rede. Und tatsächlich kommen in den Berichten über „Koproduktionen“ von Stadt, über Kooperation in der Stadtentwicklung vor allem Mächtige (Männer) vor: die Fürsten und „Entrepreneurs“ – nebst ihren Stadtbaumeistern und Planungsexperten. Eine solche Sicht der Dinge würde aber der Antwort auf die Frage, wer Stadt entwickelt, nicht gerecht. Dies vor allem aus drei Gründen: Zuerst fällt bei einer solchen Reduktion des Akteurstableaus auf, dass da offensichtlich alle jene Akteure der Stadtentwicklung und Partner kommunaler Bemühungen fehlen würden, die nicht durch Einzelpersonen vertreten wurden, sondern als Unternehmen agieren: Man denke nur an die Beiträge des gemeinwirtschaftlichen Sektors – von den frühen Wohnungsgenossenschaften bis hin zur gewerkschaftseigenen Neue Heimat. Zu denken ist aber selbstverständlich auch an jene Unternehmen, die Grundstücke verwerten – etwa die ehemaliger Produktionsstandorte und Infrastrukturen aus der Industrialisierungsphase – und so erheblichen Einfluss auf Standort- und Stadtstrukturen nehmen. Nicht vergessen werden sollten die Unternehmen des Finanzsektors, von den Lebensversicherern (die früher zum Beispiel im gemeinwirtschaftlichen Sektor ihr Geld anlegten) bis zu den heutigen Banken (deren Kreditvergaben über das Wohl und Wehe ganzer Regionen entscheiden können). Den zweiten Einwand hat schon Brechts „lesender Arbeiter“ in Frageform formuliert: „Wer baute das siebentorige Theben? | In den Büchern stehen die Namen von Königen. | Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? | Und das mehrmals zerstörte Babylon, | Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern | Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute? | Wohin
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gingen an dem Abend, wo die chinesische Mauer fertig war, | Die Maurer? Das große Rom | Ist voll von Triumphbögen. Über wen | Triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz | Nur Paläste für seine Bewohner? … | Alle zehn Jahre ein großer Mann. Wer bezahlte die Spesen? | So viele Berichte, | So viele Fragen“. Mit dem dritten Einwand ist darauf aufmerksam zu machen, dass hier von Stadtentwicklung die Rede ist und nicht vom Städtebau oder gar nur von der Stadtplanung. Tatsächlich ist der Akteurskreis, der Pläne zur Entwicklung von Städten erstellt, überschaubar. Und auch diejenigen, die unmittelbar mit dem Bauen befasst sind, lassen sich im Einzelfall noch deutlich benennen. Aber die Akteure der Stadtentwicklung sind sehr viel zahlreicher, sind – bei entsprechend feinteiliger Betrachtung, siehe oben – wir alle. Bei der Beantwortung der Frage „Wer entwickelt die Stadt?“ ist also an die interkulturelle Initiative in einem benachteiligten Stadtquartier ebenso zu denken wie an den Wandel der Anbieterstruktur am Wohnungsmarkt, ist der an den Stadtrand umziehende Haushalt ebenso von Belang wie die Standortgemeinschaft der Einzelhändler in der Innenstadt und so fort. Eine Geschichte der Stadtentwicklung nach dem Muster „Alle zehn Jahre ein großer Mann“ würde also den grundlegenden, alltäglichen Prozesse des Einwirkens Vieler auf die Entwicklung der Städte nicht gerecht. Wenn die Entwicklung der Städte, mit den Worten Wolf Reuters (2004:73), als „wildes, chaotisch anmutendes, hybrides Gemisch aus Akten jedweder Art“ zu begreifen ist, dann besteht die Herausforderung für die Wissenschaft darin, dies angemessen abzubilden. Solche Forderungen an die urbanistischen Theoriebildung hat John Friedmann (2006:275) schon geltend gemacht und dabei den professionellen Planern ans Herz gelegt, dass es erst die Wirkungszusammenhänge zu verstehen gilt, bevor man sich ans Planen machen könne: „The human, and more specifically, the urban habitat, takes form as multiple forces interact with each other in ways that are not fully predictable… It is, therefore, obvious that planners need to have a good understanding of how these city-forming processes work …. This formulation posits the city-forming process first, before there can be any serious talk of strategic intervention“. Auch an dieser Stelle soll der Hinweis nicht fehlen, dass solche Einsichten und Folgerungen nicht erst in der jüngsten Fachdiskussion entstanden. Bereits vor zwanzig Jahren stellte Gerd Albers (1988:2) fest, dass Stadtentwicklung als „Niederschlag vieler unterschiedlicher Bemühungen über lange Zeiträume“ zu verstehen sei. Und zwei Jahrzehnte konstatierte der Sozialpsychologe Alexander Mitscherlich in seinem (damals Aufsehen erregenden) Buch „Die Unwirtlichkeit der Städte. Anstiftung zum Unfrieden“: „Die Stadt ist – gelungen oder misslungen, kultiviert oder trübsinnig – Gruppenausdruck und Ausdruck der Geschichte von Gruppen, ihrer Machtentfaltung und Untergänge…“ (1965:32). Mitscherlich führt uns damit von den scheinbar abstrakten multiple forces Friedmanns zurück auf diejenigen, die diesen „Kräften“, den ökonomischen,
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politischen, gesellschaftlichen, rechtlichen etc. Rahmenbedingungen und Mechanismen in ihrem Handeln Ausdruck verleihen: den Akteuren und ihren Interdependenzen im Raum.
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Nicht immer wurde die Auffassung, dass Städte von vielen – in einem chaotisch anmutenden und schwer vorherzusehenden Prozess – entwickelt werden, geteilt. Es gab andere Vorstellungen. Sie waren insbesondere bei den Fachleuten aus den Disziplinen des Städtebaus, der Stadt- und Raumplanung vorzufinden. Ihr Selbstverständnis und ihre Theorien sahen Pläne und deren Verfasser im Zentrum der Stadtentwicklung. Diese Vorstellungen und Sichtweisen beginnen sich zu wandeln. Im Folgenden seien daher kurz diese früheren und in Teilen bis heute nachwirkenden Vorstellungen von der zentralen Rolle der „Planung“ beschrieben.
Wir entwickeln Stadt? „Shared Mental Models“ im Wandel Alle entwickeln die Städte – ist das wirklich so? Beim Blick in die Tageszeitung oder ins Fernsehen können Zweifel aufkommen. Denn hier wird nicht selten das Bild einer Stadtentwicklung gezeichnet, in der es klare Verursacher und Verantwortlichkeiten gibt: Da ist etwa – während die Kamera über eine Vorortödnis schwenkt – die Rede von den „Sünden der Planer“ und in der Berichterstattung an anderer Stelle ist es „die Stadtplanung“, die die „Verschandelung des Landschaftsbildes“ durch einen Gewerbebau zu verantworten hat – als hätten nicht Herr M. oder Frau S. hier oder das Unternehmen X. dort investiert und gebaut. Tatsächlich gibt es eine Außenwahrnehmung des Berufsstandes, in der die Städtebauer und Planer, wenn sie nicht als Bauherren der Stadt erscheinen, so doch Verantwortung für alle ihre Entwicklungen tragen. Diese Wahrnehmung deckt sich mit Bildern, die die Profession der Städtebauer, Stadt- und Raumplaner lange Zeit von sich selbst hatte – und in Teilen noch hat. Man kann solche Bilder als shared mental models begreifen, als Einschätzungen und Vorstellungen, die Mitglieder einer Gemeinschaft teilen. Diese „Modelle“ entstehen und verdichten sich, das Beispiel der Stadtplanung macht das deutlich, im Wechselspiel von Praxis, Theorie und disziplinärer Geschichtsschreibung. Daraus kann ein gewisses Beharrungsvermögen resultieren, dessen Grenzen zur Immunisierung gegenüber Realitätswahrnehmungen fließend sind. Aber es gehört auch zum Wesen solcher Modelle, dass sie sich wandeln, wenn die Entfernung zur Wirklichkeit dauerhaft zu groß wird. Von einem solchen Wandlungsprozess ist hier die Rede: Auf die Frage, welche Rolle die Städtebauer in der Stadtentwicklung spielt, hat Cornelius Gurlitt in seinem 1920 erschienenen Handbuch des Städtebaus
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eine klare Antwort gegeben: Die Stadt ist des Städtebauers Werk (vgl. Albers 1993). Damit ist bereits ein erstes „mentales Modell“ identifiziert: Es ist die Metapher vom „Stadtschöpfer“. Der Städtebauer oder Stadtplaner erschafft die Stadt. Dieses Modell vom „Stadtschöpfer“ wurde in den folgenden Jahrzehnten auf vielfältige Weise variiert: Dem Stadt-Bau-Künstler und dem fürsorgenden Planer-Vater, der der „Entwicklung der Stadt eine helfende Hand reicht“ (so Patrick Abercrombie) folgte der diagnostizierende und heilende Stadt-Arzt (der in der Lage ist, Städte zu „sanieren“, also wieder gesund zu machen). Der wurde in den 60er Jahren abgelöst durch den Wissenschaftler, der die Entwicklung der Räume (unter Verwendung großer Datenmengen) systematisch analysiert und die Verteilung der räumlichen Ressourcen sachlogisch optimiert. Auf diese Weise sollte, wie es damals hieß, die gesamte Entwicklung der Umwelt global gesteuert werden. In allen diesen Bildern, die durch viele stadtgeschichtliche Abhandlungen, die den Plan und seinen Verfasser in den Mittelpunkt der Darstellung rückten, ihre Bestätigung zu finden schienen, sehen sich die Fachleute als „Autoren“ der Stadt, als „Schöpfer einer mit ihrer Zeit im Einklang stehenden Wirklichkeit“ (Eisinger 2006:157). Natürlich konnte nicht verborgen bleiben, dass die Stadtentwicklung dort, wo das Eigentum an Grund und Boden und die Marktkräfte wirken – also keine zentrale Macht die wie auch immer gearteten Idealplänen autoritär durchsetzen kann – ihre eigene Dynamik entfaltet und sich vielfach über planerische Bemühungen hinwegsetzt. Das führte aber nicht schon dazu, dass die Fachleute ihre Rolle gänzlich neu fassten. Vielmehr sahen sie sich immer noch als diejenigen, die über das „richtige“ Wissen verfügen und deren Pläne dem Nutzen aller am besten dienen könnten – wenn da nicht Eigennutz und Irrationalität am Werke wären. Und so entstand ein zweites, metaphorisch verdichtetes Selbstbild: die Stadtplaner als „Kämpfer“ oder „Missionare“. Leonie Sandercocks (1998:35) beschreibt mit ironischem Unterton den heldenhaften Kampf der Planungsfachleute gegen Eigennutz und Irrationalität – „heroically slay the dragons of greed and irrationality“. Und Gerd Albers spricht im gleichen Zusammenhang (2006:50) von einer „missionarischen Sonderstellung“ und einem „Sendungsbewusstsein, das den Planer als Vorreiter der Ordnung in einer Welt widerstrebender Tendenzen sieht“ (Albers 2006:4546). Aber es gibt inzwischen auch Stimmen, die auf Wirklichkeiten hinweisen, die von den Selbstbildern der Disziplin abweichen. Drastisch etwa Dieter Hoffman-Axthelm (1996:49): „Anlagekapital und Kommunalpolitik sind die beiden Mühlsteine, zwischen denen sich zermalmen zu lassen, Stadtplanung genannt wird. Das Stück ist allen bekannt: […] Die Kommune/der Dezernent/ die mehrheitsfähige Partei oder Koalition will den Anleger. Sie will ihn, weil sie Arbeitsplätze oder Gewerbesteuern will […] oder weil sie Brachflächen nicht glaubt füllen zu können – der Gründe sind viele. Die städtische Planung hat die Sache gangbar zu machen“.
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In einer 2006 erschienenen Aufsatzsammlung finden sich weitere Realitätsbeschreibungen. Hier nur zwei Beispiele: • „ Faktisch vollzieht sich die Entwicklung immer über eine Summe von Einzelmaßnahmen“ (Ganser 2006:529-530). • „Die Rolle gesamtstädtischer, dem Gemeinwohl verpflichteter Planung […] wurde stets überschätzt. Gestaltende Kraft konnte sie vor allem dort entfalten, wo sie der wirtschaftlichen Dynamik vorauseilte und den ökonomischen Erfordernissen räumlichen Ausdruck verlieh […]“ (Pesch 2006:358).
Planung oder Stadtentwicklung? Über Gegenstand und Perspek tive der Theorie Auf die Notwendigkeit einer Unterscheidung von „Planen“ und „Entwickeln“ stoßen wir erneut, wenn wir uns den shared mental models zuwenden, die in der wissenschaftlichen Arbeit zum Ausdruck kamen: In den Planungstheorien der 50er und 60er Jahre ging es um den Prozess des Planens an sich. Ausdrücklich wurde darauf hingewiesen, dass dieses „Planen“ unabhängig von der jeweiligen Aufgabe zu betrachten sei (Faludi 1969:216; vgl. Friedmann 2006:269-270; Selle 2005:Kap. 3) – es gehe ganz allgemein um Ziel-Mittel-Wahl, rationale Entscheidungen und dergleichen. Auch wurde nicht nach Akteuren unterschieden: Wer da plant blieb zumeist ungewiss und auch die Frage, wessen Handeln durch die Planung vorbereitet werden soll, wurde in der Regel nicht gestellt. Im europäischen Raum, dem deutschsprachigen zumal, wurde und wird die planungstheoretische Diskussion jedoch vor allem im Kontext räumlicher Entwicklung geführt. Auch hier wird zwar vielfach unspezifisch von „der Planung“ gesprochen, aber es sind doch zumeist Bezüge zum Handeln von Gebietskörperschaften etc. (als Akteuren) und zur räumlichen Entwicklung (als Gegenstandsbereich) zu erkennen. Insbesondere in den verwaltungswissenschaftlich beziehungsweise juristisch geprägten Diskussionssträngen stehen zudem ausdrücklich konkrete, gesetzlich definierte Verfahren und die daran beteiligten öffentlichen Institutionen im Mittelpunkt der Betrachtung: das System der Raumplanung, die Aufstellung der Bauleitpläne, die Implementation der Landschaftsplanung, die Kooperation in der Regionalplanung etc. Das wird in den entsprechenden Veröffentlichungen nicht immer deutlich erläutert, insofern ist eine Definition wie die von Dietrich Fürst (2006:117) hilfreich, nach der zum Beispiel Regionalplanung „›Ordnungsregeln’ produziert, wie der knappe Raum optimal genutzt werden soll. Der Plan oder die Ordnungsregeln […] richten sich an Dritte, […] primär Fachbehörden und Kommunen“. Eine so verstandene Planungstheorie hat also die Gestaltung von Planungsprozessen oder -verfahren durch staatliche beziehungsweise
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kommunale Akteure zum Gegenstand. Man kann daher auch von einer verfahrensbezogenen Perspektive sprechen. Die Frage, „wer entwickelt die Stadt?“ wird hier nicht gestellt – und lässt sich auf diese Weise auch nicht beantworten. Das scheint aber nicht immer berücksichtigt zu werden. Es gibt jedenfalls einen nicht geringen Anteil von Diskussionsbeiträgen, die den Eindruck erwecken, sie würden etwas über räumliche Entwicklung mitteilen, obwohl sie doch vor allem Planer, Pläne und Planung betrachten. Auch in der historischen Literatur findet man Darstellungen, die eine Person und die ihr zugeschriebenen Pläne in den Mittelpunkt stellen und den Eindruck erwecken, Person und Plan hätten eine bestimmte Stadtentwicklung bewirkt, nur weil die baulichen Strukturen im Plan denen in der Wirklichkeit ähneln. Das aber dürfte für Stadtentwicklung – sofern sie nicht unter den Bedingungen zentralistischer Herrschaft stattfindet – stets ein Kurzschluss sein. Ein Beispiel: Wer die Stadtentwicklungspläne der 70er Jahre studiert, wird nicht sehr viele ihrer Inhalte im Raum vorfinden – und das, was im Raum den Planabsichten zu entsprechen scheint, ist nur selten auf diese zurückzuführen. Wer räumliche Entwicklung verstehen will, wird also sein Augenmerk zunächst nicht auf „Pläne“ sondern auf die city-forming processes und die hier wirksamen Akteure richten müssen. Welche Konsequenzen sich daraus ergeben und welche Rolle dabei insbesondere der „Governance-Perspektive“ zukommt, sei im Folgenden umrissen:
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Die Frage „Wer entwickelt Stadt?“ signalisiert eine Veränderung von Blickrichtung und Blickwinkel gegenüber bisherigen planungstheoretischen Untersuchungsansätzen: • Die Blickrichtung ändert sich insofern als nicht Verfahren und Steuerungsformen („Planung“) im Vordergrund der Betrachtung stehen, sondern Entwicklungen im Raum und die sie prägenden Akteure; • War die traditionelle planungstheoretischen Betrachtungsweise auf öffentliche Akteure fokussiert, so wird nun der Blickwinkel so erweitert, dass die Gesamtheit aller im Raum wirksamen Akteure – und ihrer Interdependenzen – erfasst werden kann Für diese veränderte Wahrnehmungsweise erweist sich das aus den Politikwissenschaften stammenden und auf den Prozess der „Entdeckung der Akteure“ zurückgehenden Governance-Konzept als hilfreich: Versteht man Governance weder normativ noch als Trendhypothese, sondern lediglich als Instrument zur differenzierten Beschreibung und Analyse von Bezügen zwischen Akteuren, dann steht damit zudem eine „Sehhilfe“ für eine sehr
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feinkörnige Wahrnehmung solcher „Modi der Interdependenzbewältigung“ zur Verfügung,
Aufgaben und Ak teure Stadt entwickelt sich, Stadt wird entwickelt – durch das Handeln vieler Akteure, deren Aktivitäten sich auf vielfältige Weise im Raum überlagern, aufeinander beziehen, einander konterkarieren etc. So lautete die erste Antwort auf die Frage „Wer entwickelt Stadt?“ Wer also Stadtentwicklung verstehen will, wird – so wurde dann im zweiten Schritt in Abgrenzung zu traditionellen planungstheoretischen Ansätzen gefolgert – den Raum und die dort Handelnden zuerst in den Blick nehmen, bevor zum Beispiel die Frage gestellt werden kann, welchen Beitrag einzelne (etwa öffentliche) Akteure und bestimmte Verfahren zur Stadtentwicklung leisten können. Allerdings wird man wohl kaum „den Raum“ oder „die Stadt“ mit allen dort wirkenden Akteuren insgesamt zum Untersuchungsgegenstand machen können und wollen, Vielmehr werden in der Regel bestimmte Probleme oder Aufgaben im Raum, die sich einzelnen Akteuren stellen, den Ausgangspunkt der Betrachtung bilden: Damit kann die Wiedernutzung von Brachen ebenso gemeint sein wie die Steuerung von Einzelhandelsstandorten, die Siedlungsflächenentwicklung insgesamt ebenso wie die lokale Wohnungsbestandspolitik, die klimafreundliche Stadtentwicklung, die stadtnahe Landwirtschaft und so fort. Von solchen Aufgaben ausgehend wird dann zu identifizieren sein, welche Akteure zum jeweiligen Handlungsfeld Bezüge aufweisen („StakeholderAnalyse“) und welche Interdependenzen ihr Handeln untereinander aufweist – und wie es gegebenenfalls mit Blick auf bestimmte Ziele zu gestalten sei. Im Gegensatz zur traditionellen verfahrensbezogenen Perspektive könnte hier also von einer aufgaben- und akteursbezogenen Betrachtungsweise gesprochen werden. Dieser aufgaben- und akteursbezogene Zugang zur Stadtentwicklung ersetzt die traditionelle Auseinandersetzung mit „Planung“ nicht, sondern ergänzt sie: Die verfahrensbezogene Perspektive mag möglicherweise dort zu relevanten Ergebnissen führen, wo die öffentlichen Akteure ihr eigenes Handeln planen, also eigene raumwirksame Tätigkeiten vorsteuern und – sofern die betrachtete Verfahrenssequenz bis zur Umsetzung reicht – über die für die Planrealisierung erforderlichen Ressourcen verfügen. Als Beispiele wären hier etwa die kommunale Schulentwicklungsplanung oder Verkehrsplanung zu nennen. In beiden Fällen handelt es sich um abgrenzbare Organisationseinheiten, auf die sich das Planen bezieht. Auch verfügen die in dieser Organisationseinheit zusammengefassten Akteure (die verschiedenen Ämter, Ausschüsse etc.) über Steuerungsressourcen zur Umsetzung ihrer Planungen. Hier mag die analytische Konzentration auf ein Verfahren sinnvoll sein, wenngleich es zur Erklärung von Friktionen bei Planung wie Umsetzung durchaus auch
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hilfreich wäre, mehr über die Eigenlogiken der anderen Akteure im eigenen Hause zu wissen. Insofern findet man inzwischen auch in den eher klassischen Planungstheorien ausgeprägtere Akteursbezüge vor. Die aufgaben- und akteursbezogene Perspektive ist überall dort zwingend erforderlich, wo Entwicklungen im Raum im Wesentlichen von privaten Akteuren geprägt werden. Hier können öffentlich Akteure nicht das Verhalten Dritter „planen“, sondern es bestenfalls beeinflussen. Wo diese Beeinflussung über das Setzen von Rahmenbedingungen der Bodennutzung hinausgeht, verlassen wir die Sphären des „Planens“ beziehungsweise hoheitlichen Handelns und begeben uns in die vielgestaltige Welt des Aushandelns, Vereinbarens, Kooperierens, des Zusammenführens verschiedener Akteure und des Bemühens, in den Schnittmengen ihrer Aktivitäten zu abgestimmtem Handeln zu kommen. Ein Beispiel mag verdeutlichen, was gemeint ist: Unter den Handlungsfeldern der Stadtentwicklung sind zum Beispiel alle auf Umstrukturierungen im Bestand bezogenen Aufgaben in hohem Maße von Eigenaktivitäten und Mitwirkungsbereitschaft privater Akteure geprägt. Ob es nun um die Wiedernutzung von Brachen, Qualitätsanpassungen in Wohnungsbeständen, Stabilisierung problematischer Quartiere oder Business Improvement geht – immer wird der forschende Blick zunächst auf die besondere Situation der jeweiligen Räume und die spezifischen Interessen und Handlungsoptionen der Akteure (oder Stakeholder) gerichtet sein, bevor sinnvolle Aussagen – zum Beispiel über die Mitwirkung öffentlicher Akteure an diesen Prozessen – getroffen werden können (vergleiche in diesem Sinne die Darstellung zum BrownfieldRedevelopment bei Koll-Schretzenmayr:2006). Das schließt wiederum nicht aus, dass in eine solche Analyse auch verfahrensbezogene Elemente (etwa zur Rolle der Bauleitplanung in diesem Kontext) eingelagert werden. Sie beziehen ihren Erklärungswert dann aber aus dem größeren – aufgaben- und akteursbezogenen – Untersuchungszusammenhang.
Governance… Aus der „Entdeckung der Akteure“ resultierte in den Politikwissenschaften eine Betrachtungsweise gesellschaftlicher Prozesse und Ordnungsmuster, die unter der (schwer zu übersetzenden) Bezeichnung „Governance“ bekannt wurde. Dies fand mittlerweile auch Eingang in die raumbezogenen Wissenschaften: „Regional“, „metropolitan“, „urban“ oder „local governance“ sind seither häufige Stichworte in der Fachdiskussion. Allerdings ist mit der Verbreitung des Begriffs auch dessen Verunklarung verbunden, so dass hier zunächst kurz auf die Vielfalt des Verständnisses von „Governance“ einzugehen ist, bevor jene Aspekte herausgearbeitet werden können, die für die aufgaben- und akteursbezogene Untersuchung von Stadtentwicklungsprozessen relevant sind.
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Governance – was ist das? Eine Antwort auf diese Frage ist nicht einfach, denn im Verlaufe der relativ kurzen Zeit haben sich bereits verschiedene Bedeutungen mit dieser Bezeichnung verknüpft. Dazu einige Illustrationen: Dietmar Braun und Olivier Giraud (2003:147148; vergleiche auch Haus/Heinelt 2004:172ff.) definieren Governance als „die ‚Art und Weise, die Methode oder das System’ […], mit dem eine Gesellschaft regiert wird. […] In diesem allgemeinen Sinn lässt sie sich dann von ‚Government’, dem eigentlichen Steuerungshandeln von Regierung und staatlicher Administration, abgrenzen“. Dieses, auf den ersten Blick verwirrende Verhältnis von „Government“ und „Governance“ hat Adalbert Evers (2004b:4) auf eine Kurzformel gebracht: „Regieren ist weit mehr als das, was die Regierung tut“. Weicht dieses Verständnis aber nicht bereits vom erstgenannten ab? Sind Governance und Government nach Braun und Giraud nicht zwei nebeneinander stehende, voneinander abgrenzbare „Methoden“ oder „Systeme“, während hier – bei Evers – das eine Teilmenge des anderen ist? Und wie verhalten sich diese beiden Deutungen zu der saloppen Definition von Lord Ralf Dahrendorf (Die Zeit vom 27. Januar 2005)? Seinem Verständnis nach kann Governance auch heißen: „Regiert werden ohne Regierung“. Und noch weitergehend: Es gibt auch „Entscheidungsprozesse, ohne dass irgendjemand Entscheidungen trifft“. Damit aber der Verwirrung nicht genug: Wer in den Unterlagen großer Aktiengesellschaften blättert oder die entsprechenden Internetseiten durchsieht, wird auch dort auf das Stichwort „Governance“ stoßen. Gelegentlich erhellt der Zusatz Corporate (und der genauere Blick ins Material), dass es sich hier im weitesten Sinne um Grundsätze der Unternehmensführung handelt. Offensichtlich kann der Governance-Begriff auch ohne jegliche Beziehung zu öffentlichen Akteuren Verwendung finden. Man sieht: Der Begriff gärt noch. Aber es wird doch schon erkennbar, dass hier eine deutliche Abkehr von jenem früheren Bild stattfindet, in dem eine zentrale Instanz alle wesentlichen Entscheidungen trifft, während die anderen Akteure vor allem als Steuerungsadressaten oder „Umsetzer“ erscheinen. Das neue Bild ist unübersichtlicher: Viele entscheiden, viele handeln und welche Rolle „die Regierung“ dabei spielt, ist nicht immer schon ausgemacht oder klar zu erkennen. Möglicherweise ist daher eine Definition wie die folgende als ein kleinster gemeinsamer Nenner zu verstehen: Governance ist danach die „Gesamtheit der zahlreichen Wege, auf denen Individuen und öffentliche wie private Institutionen ihre gemeinsamen Angelegenheiten regeln“ (Bundestagsdrucksache 14/9200, 415 mit Bezug auf den UN-Bericht „Our Global Neighbourhood“). Dieses „Regeln der gemeinsamen Angelegenheiten“ ist als kontinuierlicher Prozess zu verstehen, durch den, so wieder der Wortlaut des UN-Berichts, „kontroverse und unterschiedliche Interessen ausgeglichen werden und kooperatives Handeln initiiert werden kann. Der Begriff umfasst sowohl formelle Institutionen und mit Durchsetzungsmacht versehene Herrschaftssysteme
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als auch informelle Regelungen, die von Menschen und Institutionen vereinbart oder als im eigenen Interesse angesehen werden“. Dieses Verständnis lässt sich von der gesamtgesellschaftlichen Ebene direkt auf die Entwicklung des Raumes, der Städte und Landschaften übertragen. Peter Hall und Ulrich Pfeiffer haben das in ihrem „Expertenbericht zur Zukunft der Städte – Urban 21“ (2000:217 ff.; vgl. auch Benz/Fürst 2003:24; Benz 2004; Fürst 2007b; u.v.m.) deutlich gemacht. Für sie bedeutet (local oder urban) Governance die „vereinte Anstrengung von Seiten der Kommune, der Zivilgesellschaft und des privatwirtschaftlichen Sektors. […] Eine derartige Steuerung bleibt nicht auf die Schalthebel der Macht auf höchster Ebene beschränkt; sie hat sich von der Vorstellung verabschiedet, Städte und Länder nach feststehenden, im Voraus formulierten Plänen zu entwickeln“ (Hall/Pfeiffer 2000:226). Schon nach der Lektüre weniger Quellen zum Thema wird also deutlich, dass Governance verschieden interpretiert und verwendet wird. Der Begriff findet zudem in verschiedensten Zusammenhängen Verwendung: Wer etwa im „Handbuch Governance“ (Benz u.a. 2007) nachschlägt, findet Stichworte wie: Global Governance, Europäische Union, Multilevel Governance, Regional Governance, Corporate Governance… aber auch: Umwelt, Wissenschaft und so fort. Versucht man dieses Spektrum zu gruppieren, so könnte die folgende Dreiteilung sinnvoll sein (vgl. eine Variante bei Hutter 2007:12): • Handlungsebenen (global, EU, Nationalstaat, Region, Kommune etc.), • Handlungsfelder (Umwelt, Verkehr, Stadtentwicklung etc.) und • Organisationen (Organizational, Business beziehungsweise Corporate Governance) Zudem wird deutlich, dass die verschiedenen Governance-Begriffe unterschiedliche Bezüge zu den gesellschaftlichen Ordnungsmustern und Prozessen, die sie abbilden, aufweisen. Es lassen sich in diesem Sinne vergröbernd drei Arten von „Realitätsbezug“ unterscheiden (ähnlich: Geißel 2007:24; Holtkamp 2007:366): Governance als • Analyseinstrument beziehungsweise Forschungsperspektive um etwa Akteurskonstellationen und „Interdependenzbewältigung“ darzustellen und zu untersuchen; • Trendhypothese, Veränderungen von Akteurskonstellationen und Steuerungsmodi betreffend; • Norm, zum Beispiel als Vorstellung davon wie eine „gute Stadtpolitik“ gestaltet werden sollte. Im ersten Fall wird Realität auf neue Weise wahrgenommen, im zweiten wird angenommen, dass sich Realitäten selbst verändert hätten und im dritten Fall sollen sich Realitäten in Zukunft ändern, indem das Handeln an normativen Konzepten von „good governance“ orientiert wird.
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Gemeinsam ist allen diesen drei Vorstellungen, dass (um erneut am UNBericht anzuknüpfen) die „Wege, auf denen Individuen und öffentliche wie private Institutionen ihre gemeinsamen Angelegenheiten regeln“ zahlreicher sind als bisher angenommen und dass, wer heute politische Steuerung – oder Stadtentwicklung – verstehen will, dieser Vielfalt gerecht werden muss. Soweit zu den Gemeinsamkeiten – nun aber zu den Unterschieden:
1. Governance als Analyseinstrument Mit dem Begriff „Governance“ wird eine Veränderung der Wahrnehmungsweisen von sozialen Ordnungsmustern und der Bezüge zwischen Akteuren bezeichnet. Oder anders ausgedrückt: Nicht die Ordnungsmuster und Akteurskonstellationen etc. selbst haben sich verändert, sondern der (politikwissenschaftliche) Blick darauf: Stand früher einmal nur die „Regierung“ im Mittelpunkt, gerieten nach und nach weitere Akteure und gesellschaftliche Teilsysteme beziehungsweise -prozesse ins Blickfeld, bis deutlich wurde, dass diese sich vielfach selbst steuern und nur bedingt durch Regierungshandeln („Government“) zu beeinflussen sind. Aus einer so veränderten Wahrnehmung resultiert unmittelbar die Frage, welcher Art die Beziehungen zwischen den Akteuren und Teilsystemen ist und wie sie im Fall der Regelung gemeinsamer Angelegenheiten aufeinander abgestimmt werden (können). Das besondere Interesse eines solchen Untersuchungsansatzes ist also – sind die Akteure erst einmal identifiziert – darauf gerichtet, was zwischen ihnen geschieht oder geschehen kann. Mit den Worten des Politikwissenschaftlers Uwe Schimank (2007:29), der Governance ebenfalls in erster Linie als „analytische Perspektive“ versteht, geht es also vorrangig um die „Muster der Interdepenzbewältigung zwischen Akteuren“. Diese „Interdependenzbewältigung“ meine, so Schimank, zunächst „Handlungsabstimmung“ und die liege immer dann vor, wenn ein Akteur bei der Wahl des eigenen Handelns das schon geschehene oder für die Zukunft antizipierte Handeln anderer in Rechnung stellt: „Ein Akteur fragt sich also, was er angesichts des bereits erfolgten oder erwarteten Handelns seiner Gegenüber zur Realisierung seiner Intentionen am besten tut“ (S. 30). Dabei ist diesem Akteur bewusst, dass die anderen sich im Bezug auf ihn die gleiche Frage stellen. Die sich damit eröffnenden Interdependenzen können nun auf vielfältige Weise „bewältigt“ oder – vielleicht etwas absichtvoller ausgedrückt – gestaltet werden: Lediglich das Handeln der anderen beobachten, es zu beeinflussen versuchen, Verhandlungen aufzunehmen etc. wären, so Schimank, mögliche Modi der Interdependenzgestaltung. Für die Auseinandersetzung mit Stadtentwicklungsprozessen wurde ein analoger Wandel der Wahrnehmungsweisen schon in Kapitel zwei beschrieben: Über viele Jahre stand vor allem das hoheitliche, planende Handeln öffentlicher Akteure im Vordergrund. Erst jetzt geraten die vielen, im Raum selbständig handelnden Akteure und die Interdependenzen ihres Handelns in den Blick. Damit kann und muss – ganz im Sinne dieses Governance-
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Konzepts die Frage nach der „Interdependenzgestaltung“ – und damit die nach der Rolle öffentlicher Akteure in diesem Kontext – neu gestellt werden.
2. Governance als „Trendhypothese“ In vielen Beiträgen zum Thema Governance wird aber nicht nur davon ausgegangen, dass sich die Wahrnehmung von sozialen Wirklichkeiten verändert haben, sondern eine „weitgehende inhaltliche Veränderung der politischen Steuerung“ (Holtkamp 2007) selbst stattgefunden habe. So wird zum Beispiel angenommen, dass in den letzten Jahren eine deutliche Verlagerung von hoheitlichen zu nicht-hierarchischen Steuerungsformen zu beobachten gewesen sei. Für eben diese „neuen“ Steuerungsformen wird dann vor allem der „Governance“-Begriff verwendet. Im Kontext der räumlichen Planung und Entwicklung gibt es eine vergleichbare Diskussion ebenfalls schon seit einigen Jahren. Dabei zeigt sich aber, dass die Feststellung, eine Entwicklung sei „neu“ oder eine „Veränderung“, ein „Wandel“ habe stattgefunden, vielfach auf tönernen Füßen steht. Dies hat im Wesentlichen zwei methodische Ursachen: Zunächst muss gefragt werden, ob das, was Veränderung genannt wird, tatsächlich substanziell „Neues“ im kommunalen Handeln und in der Wirklichkeit vor Ort bezeichnet – oder ob sich in erster Linie die wissenschaftlichen Wahrnehmungsweisen und Begriffe ändern und die Wirklichkeit, nun aus veränderter Perspektive betrachtet, verändert wirkt. Oben wurde die „Entdeckung der Akteure“ beschrieben: Die scheinbar monolithischen Blöcke von „Staat“ und „Markt“ wurden mit anderen Augen betrachtet, lösten sich in „Sphären“ mit zahlreichen Einzelakteuren auf. Selbst zwischen diesen Sphären wurden Akteure sichtbar, die sich zunächst jeder Zuordnung zu entziehen schienen. Diese, dann „intermediär“ genannten Organisationen und die ihnen eigenen Funktionen des Vermittelns zwischen den Welten waren aber, wie sich dann herausstellte, keineswegs neu. Es gab beides bereits – die intermediären Arbeitsweisen wie die Organisationsformen – sie wurden aber erst jetzt „entdeckt“ und mit Begriffen belegt. „Neu“ war also die Betrachtungsweise. Das Beobachtete und Bezeichnete selbst gab es bereits vor dem wissenschaftlichen Begriff „avant la lettre“. Es ist nicht auszuschließen, dass ein Governance-Begriff der „inhaltliche Veränderungen“ bezeichnen soll, in ähnliche Probleme mündet. Denn viele Formen des Zusammenwirkens öffentlicher und privater Akteure gab es schon, bevor der wissenschaftliche Blick darauf fiel: Das gilt für informelle Absprachen ebenso wie für intensive Austauschbeziehungen (erinnert sei an die Entfaltung der Gemeinwirtschaft im Wohnungswesen vor und nach der Wende zum 20. Jahrhundert). Und in Kernbereichen der räumlichen Steuerung bestimmt seit Beginn der modernen Stadtplanung in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein enges, aufeinander bezogenes Handeln öffentlicher und privater Akteure zum Beispiel die Entwicklung von Siedlungsflächen. Und ist nicht das gesamte rechtliche Instrumentarium zur Regulierung von Art und Maß der Bodennutzung auf eben die Gestaltung dieser Interdependenz ausgerichtet? Solche Beispiele für Governance avant la lettre lassen sich fast beliebig
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mehren und nähren die Gewissheit, dass nicht alles „neu“ ist, für das es ein neues Wort gibt. Es spricht sehr viel dafür, dass hier also nicht das „Ob“ sondern bestenfalls das „Wie“ der Ausgestaltung öffentlich-privater Interdependenzen „neu“ sein könnte. Aber wenn man dieser Spur nachgeht, eröffnet sich ein weiteres methodisches Problem: Die präzise Kennzeichnung eines „status quo ante“. Wer etwa heutige Zustände mit denen vor dreißig Jahren systematisch vergleichen will, wird kaum auf verlässliche und begrifflich wie methodisch ähnlich angelegte Untersuchungen stoßen. Zudem besteht – siehe oben – die Gefahr, dass es früher durchaus den heutigen vergleichbare Phänomene gab, sie aber anders benannt wurden oder in anderem Gewand auftraten (können etwa die „Kooperationen“ der vorstaatlichen Wohnungswirtschaft mit staatlichen Akteuren in den 70er Jahren zu heutigen Formen der Zusammenarbeit in Beziehung gesetzt werden?). Legt man strenge Maßstäbe an, ist also „Wandel“, so ein Fazit, bislang nur in Ausnahmefällen empirisch eindeutig dingfest gemacht worden: Hier eröffnet sich – was Konstanz und Veränderungen betrifft – noch ein weites Betätigungsfeld zum Beispiel für eine historisch orientierte Governance-Forschung.
3. Governance als Norm Vielfach findet sich der Zusatz good wenn von Governance die Rede ist. So geben Hall/Pfeiffer (2000:224) an, dass good governance das „Bemühen um nachhaltige Entwicklung“ impliziere. Dies wird man als Soll-Vorstellung verstehen müssen: Eine Stadtpolitik, die als „good“ gekennzeichnet werden will, soll also nach Auffassung der Autoren auch nachhaltig sein. In anderen Zusammenhängen wird „die Frage nach der ‘richtigen’ Steuerung“ gestellt (Hamedinger u.a. 2008:27) und so fort. Auch viele der im Zuge der Verwaltungsmodernisierung (etwa von der Bertelsmann-Stiftung) bereitgestellten Arbeitshilfen verstehen sich als Anleitungen zu Good Governance: Sie geben an, wie Stadtpolitik gestaltet werden soll. Es werden Grundsätze entwickelt und anhand von Best Practices illustriert (insofern ist dieser Ansatz auch als „normativ“ und nicht als „präskriptiv“ zu bezeichnen, denn er impliziert bereits empirische Erkenntnisse). Und nicht zuletzt sind die Grundsätze der Corporate Governance, die man bei vielen Unternehmen und Organisationen findet, eben solche Soll-Vorstellungen, die sich die Organisationen geben, um ihr Handeln daran messen zu können. Die Entwicklung solcher Ziel- und Sollvorstellungen und auch die Diskussionen darüber sind zweifellos sinnvoll. Wenn dies allerdings mit einer Bezeichnung belegt wird („Governance“), die von anderen deskriptiv verstanden wird und die für Dritte mögliche Veränderungen in der Realität signalisiert, dann sind Missverständnisse in der wissenschaftlichen Diskussion vorprogrammiert. Und so hat gerade die Vermischung der normativen mit der Realitäten beschreibenden Bedeutung des Wortes bereits zu einigen hitzigen Debattenbeiträgen geführt.
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Damit wird einmal mehr unterstrichen, wie wichtig es ist, genau zu benennen, was gemeint ist und nicht nur die inzwischen sehr weit gewordene Worthülse „Governance“ zu verwenden. Dabei mag möglicherweise das folgende Schema helfen, dass sich dann ergibt, wenn man die drei Bedeutungen von Governance mit den zuvor erwähnten Anwendungsfeldern zusammenfügt (Abb. 2). Abb. 2: Anwendungsfelder von Governance
„Elementare“ analy tische Perspek tive Zum derzeitigen Stand der Diskussion über Stadtentwicklung liegt es nahe, den Begriff „Governance“ in erster Linie als ein sehr hilfreiches Mittel zur Schärfung des Blicks auf die Vielfalt realer Akteure, ihre Interdependenzen sowie ihr Einwirken auf die Entwicklung der Städte anzusehen. Um diesen spezifischen Verwendungszweck auszudrücken – und damit von den anderen oben genannten zu unterscheiden – scheint uns die Bezeichnung GovernancePerspektive recht treffend (vgl. Klemme und Selle 2008). Diese Perspektive ist für die Auseinandersetzung mit Prozessen der Stadtentwicklung deswegen von besonderer Bedeutung, weil sie hilft, Akteure, Interdependenzen und Raumbezüge „elementar“ zu verstehen. Damit ist Folgendes gemeint: In den (früheren) planungstheoretischen Diskussionen wurde vielfach mit sehr groben Kennzeichnungen von „Ordnungssystemen“ oder „Steuerungsmodi“, häufig in der Form von Gegensatzpaaren operiert – etwa: „Plan“ versus „Markt“, „hoheitlich“ versus „kooperativ“.
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Aber solche einfachen Gegensätze existieren nur in der Welt der Begriffe. Im wirklichen Steuerungshandeln (etwa kommunaler Stadtplanung) geht es sehr viel komplizierter und uneindeutiger zu. Daher war in der jüngeren Vergangenheit immer auch schon mit Begriffen wie „Steuerungsmix“ operiert worden – um zum Beispiel zum Ausdruck zu bringen, dass etwa öffentliche Akteure selbst in klassischen Aufgabenfeldern sowohl hoheitlich handeln wie auch in Netzen agieren, auf Persuasion und „weiche Instrumente“ bauen, formale Kooperationen ebenso wie lose Verbünde eingehen, marktförmig interagieren oder unternehmerisch tätig sind und so fort… Eben hier bietet Governance als analytische Perspektive eine Sichtweise an, mit der sehr viel feinkörniger auf diesen „Mix“, auf die Gesamtheit der „Interdependenzen“ zwischen Akteuren geschaut werden kann. Dazu wieder Schimank: Ordnungsmuster wie Staat, Markt, Gemeinschaft sind „analytisch betrachtet, noch nicht elementar genug, sondern stellen jeweils schon spezifische Kombinationen elementarer Mechanismen dar. In diesem Sinne ist zum Beispiel immer wieder darauf hingewiesen worden, dass reale Märkte in der modernen kapitalistischen Wirtschaft eben keineswegs allein auf dem […] elementaren Mechanismus des […] Tausches […] beruhen, sondern dass dieses Kernelement […] durch […] Beimischungen anderer elementarer Mechanismen wie Hierarchie und Netzwerk sowie ein- und wechselseitiger Anpassung gerahmt wird“ (Schimank 2007:34). Genauso verhält es sich, wie oben am Beispiel des „Mix“ schon angesprochen auch mit Blick auf die raumwirksamen Aktivitäten – zum Beispiel öffentlicher Akteure: Auch hier findet man zahlreiche „Kombinationen“ und „Beimischungen“. Das gilt auch für das Handeln der Akteure in anderen Sphären: So handeln natürlich auch Marktakteure „planförmig“ oder „strategisch“, weisen hierarchische Strukturen auf und können dennoch in Netzen agieren. Und auch zivilgesellschaftliche Organisationen kennen die marktlichen Mechanismen des Tausches (wenngleich sie sie zumeist not for profit einsetzen), kennen Planung und Hierarchie. Diese „Mischungen“ können am ehesten verstanden und in ihren Wirkungen begriffen werden, wenn sie in ihre „Elemente“ zergliedert und entsprechend untersucht werden. So verstanden ist Governance also in erster Linie eine spezifische Beschreibungs- und Analyseform, um hinreichend differenziert Muster sozialer Ordnung erkennen und die Modi der „Interdependenzgestaltung“ wahrnehmen zu können. Aus dieser „Governance-Perspektive“ lassen sich aktuelle Prozesse aber auch zurückliegende Etappen der Stadtentwicklung auf vergleichbare Weise untersuchen. Das allein wäre ein großer Fortschritt. Zudem eröffnet sich damit auch die Möglichkeit, jene Hypothesen zu untersuchen, die im Rahmen der Governance-Diskussion etwa zum Wandel der Akteurs-Rollen formuliert wurden (s.o.) – und so zu prüfen, welche Antworten heute auf die Frage „Wer entwickelt die Stadt?“ zu geben sind. Die feinkörnige Abbildung von Akteure, Relationen und den „Modi“ ihrer „Interdependenzgestaltung“ wird dann – im Vergleich mehrerer Fälle – zweifellos bestimmte „Muster“ erkennbar werden lassen, die Ähnlichkeiten und
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Unterschiede signalisieren. Das gilt diachron – also im Vergleich verschiedener Epochen der Stadtentwicklung – wie synchron – im Vergleich aktueller Governance-Prozesse. Um bei der letztgenannten Forschungsaufgabe anzuknüpfen: In eigenen empirischen Studien konnten wir zum Beispiel zeigen, dass bestimmte Aufgaben der Stadtentwicklung und Stadtplanung – etwa die Organisation von sozial orientierten Stadterneuerungsprozessen (Selle 1991) oder von Projekten nachhaltiger Stadtentwicklung (Selle 2000) beziehungsweise die „alltägliche“ Steuerung der Siedlungsflächenentwicklung (Klemme/Selle 2008) – auf verschiedene Weise bearbeitet wurden. Das klingt zunächst banal, denn es liegt nahe, dass man bei der bei der Suche nach Erklärungen für die Verschiedenheit insbesondere im internationalen Vergleich als erstes auf die unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stößt. Aber eben damit kann es nicht sein Bewenden haben. Denn auch bei sehr ähnlichen äußeren Bedingungen unterschieden sich die, wie man heute sagen würde, Muster der Interdependenzgestaltung in vielen Fällen signifikant. Das lenkt den Blick auf konkrete Akteurskonstellationen und „weiche“ Erklärungsansätze wie – zum Beispiel – spezifische lokale Politik- und Planungskulturen. Hier zeigt sich dann allerdings auch, dass es insbesondere für die lokale Ebene noch an Theorien fehlt (vgl. auch Geißel 2007: 25-26), die beim Aufhellen dieser Zusammenhänge helfen könnten. Diese Beispiele unterstreichen aber in jedem Fall den erheblichen Erkenntniszugewinn, den die Nutzung der „Governance-Perspektive“ gegenüber den früheren, in ihre Realitätsabbildung eher grob gerasterten Untersuchungsansätzen verspricht. Man darf gespannt sein, zu welchen Ergebnissen die historisch orientierte Stadtforschung kommt, wenn sie sich vermehrt auch dieser Untersuchungsperspektive zuwendet. Dass solche Forschungen nicht nur genaueres Wissen über die Kräfte der Stadtentwicklung erzeugen, sondern auch viele neue Fragen aufwerfen, versteht sich. Aber in der Wissenschaft gilt gerade das auch als Erkenntnisfortschritt.
Fürstenwille und Bürgerwille bei der Stadtplanung Zur Stadterweiterung von Hanau a. M. um 1600 Gerhard Fehl
Der erstarkende und von der katholischen Kirche gestützte Absolutismus, der den in seinem Land allein herrschenden erblichen Fürsten „von Gottes Gnaden“ hervorbrachte, forderte im 16. Jahrhundert im Deutschen Reich1 ebenso wie unter anderem in den Königreichen England, Frankreich und Österreich heftige Reaktionen und Widerstände heraus. Diese erfolgten zum Beispiel von Seiten des zurückgedrängten Adels, der zunehmend ihrer Selbstständigkeit beraubten Handelsstädte und der von Gedanken des Humanismus und der Aufklärung inspirierten religiösen Kreise. Gerade die sich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhundert neu formierenden, sich gegen die katholische Kirche wendenden und nach Autonomie und Selbstbestimmung drängenden Religionsgemeinschaften – vor allem Lutheraner und Calvinisten – wurden zu Sammelbecken auch des weltlichen Widerstands gegen den Zentralismus der Fürsten, des Papstes und deren oft geübter Willkürherrschaft: „Das Bedürfnis, frei zu wirtschaften, wollten die Calvinisten im Einklang mit ihrem Glauben leben dürfen, und sie wollten diesen Glauben für sich, ihre Familien und ihre Gemeinden politisch durchsetzen und langfristig behaupten“ (See 1997:207).
H INTERGRUND : D IE SO GENANNTEN „G L AUBENSKRIEGE “ IM 16. UND 17. J AHRHUNDERT Im Gefolge der Entdeckung der kugelrunden Welt, deren beginnender Kolonialisierung, der Seefahrt über die Weltmeere und des einsetzenden des Kolonialhandels, entwickelten sich vor allem in den Küstenländern England, Frankreich und Spanische Niederlande, neue frühkapitalistische 1 | Mit „Deutschem Reich“ ist im Weiteren das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ (962 - 1806) gemeint.
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Wirtschafts- und Produktionsformen2 . Diese wurden durch die Religionsreformer, insbesondere Jean Calvin (1509-1564), ideell unterstützt wurden. Calvin lehrte, dass „die Menschen alleine an ihrer Fähigkeit zu strengster Pflichterfüllung erkennen können, ob sie zur Gnade Gottes voraus bestimmt sind.“ (Calvin, IV. Buch, Kap. 20). Folglich war eines Calvinisten „tägliches Leben auf die göttlichen Gebote, die Vermeidung von Müßiggang und Schwelgerei, die Betonung von Pflichtbewußtsein und Arbeitsdisziplin ausgerichtet“ (See 1997:17). Ein Kirchenreformer wie Calvin stellte die Grundlage des von der römischen Kirche behaupteten „Gottesgnadentums“ in Frage, demzufolge ein Fürst von Gott in sein Amt als dessen „Stellvertreter“ eingesetzt sei, der sich deshalb alleine gegenüber Gott zu verantworten und sein „Wunsch und Wille“ kommt einem von Gott gesandten Gebot gleich (Bott 1971:119). Die Kugelgestalt der Welt vor Augen und als eine Frucht des Humanismus, jeden einzelnen Menschen als ein Wesen mit von Gott gegebener Würde verstehend, lösten sich Calvin und seine Anhänger dagegen von der seeligmachenden katholischen Glaubenslehre und verlangten von den Fürsten die weltliche Rechtfertigung ihres Handelns gegenüber deren Volk und zugleich den Wandel ihrer Rolle vom erhabenen Herrscher zum „Diener seines Volks“. Die Beziehungen zwischen Fürst und Volk und deren beidseitige Pflichten und Rechte sollten, so eine Forderung Calvins in seiner Institutio, schriftlich in einem gegenseitigen Vertrag festgelegt werden. Diese Art Verfassung, damals „Kapitulation“ genannt, sollten sich beide Seiten freiwillig unterwerfen. Insbesondere die Calvinisten galten folglich in der katholischen Welt als Unruhestifter und immanente Bedrohung jeder fürstlichen Herrschaft „von Gottes Gnaden“. So mancher zum Calvinismus übergetretene Fürst wurde in den päpstlichen Bann oder die kaiserliche Acht getan und galt in der Folge als vogelfrei.3 Um den durch konträre Glaubenslehren zunehmend bedrohten Frieden im Deutschen Reich wieder herzustellen, kamen Kaiser, Fürsten und Landstände 1555 beim Augsburger Reichstag zusammen, wo sie den „Augsburger Religionsfrieden“ vereinbarten und durch einen reichsweit geltenden „Landfrieden“ ergänzten. Das heißt: Unter Androhung von Reichsintervention hatte jeder Fürst und jede Reichsstadt auf Gewaltanwendung gegenüber andersgläubigen Fürsten und Reichsstädten zu verzichten. Ferner wurde die protestantische Glaubenslehre als gleich berechtigt neben der katholischen
2 | Teilweise auf Grundlage der unter anderem in Venedig, Genua und den Städten der Deutsche Hanse entstandenen frühkapitalistischen Wirtschaft. 3 | So wurde unter anderen Elisabeth I. von England 1570 und 1580 vom Papst in den Bann getan, ebenso Willem von Oranien-Nassau, Statthalter der Spanischen Niederlande; zwei vergebliche Attentate galten Elisabeth I., Willem fiel 1584 dem Dolch eines Jesuitenschülers zum Opfer und 1610 der dem Calvinismus zuneigende Heinrich IV. von Frankreich.
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anerkannt4; die Landesfürsten erhielten zudem das Recht, selbst über die Konfession ihrer Untertanen und die Kirchenordnung ihres Landes zu entscheiden. Die zu den protestantischen Glaubensgemeinschaften übergetretenen Fürsten5 wirkten in der Folge in ihrem eigenen Land mit mehr Sicherheit als Schutzherren gegenüber An- und Übergriffen Andersgläubiger, die sie jedoch im Fall des Ungehorsams des Landes verweisen konnten; umgekehrt konnten sie auch unangefochten Religionsflüchtlingen aus anderen Herrschaftsgebieten Schutz und Glaubensfreiheit gewähren.6 Als Folge solcher Abwendung von der römischen Kirche und angesichts der aus der Kirchenspaltung hervorgehenden wachsenden Zwietracht im Deutschen Reich hatte Papst Paul III. 1545 auf Drängen Kaiser Karls V. ein Konzil in Trient mit dem Ziel einberufen, die Reformation zurückzudrängen, die römische Kirche durch eigene Reformen zu stärken und so die Ruhe im Deutschen Reich wieder herzustellen.7 Die Gegenreformation nahm mit diesem Konzil ihren Anfang. Sie wandte sich gegen die aufkeimende Freiheit des Denkens und des Glaubens und brachte als scharfe Waffe gegen die protestantische Ketzerei den militärisch organisierten Jesuitenorden in Spanien hervor. Sie ließ zudem die mittelalterliche „Inquisition“ wieder aufleben, also die Gewissenserforschung in Händen der Kirche zwecks Reinhaltung des katholischen Glaubens bei gleichzeitiger Geständniserpressung (Folter, Kerker, Scheiterhaufen) in Händen weltlicher Obrigkeit. Die Zwietracht im Reich war indes auf diesem Weg nicht mehr beizulegen, sondern flammte auf zu den so genannten „Glaubenskriegen“, die bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges (1618 bis 1648) in Europa wüteten: Blutige Kriege gegen Glaubens- und Gedankenfreiheit und die Würde des 4 | Als „Protestanten“ galten seit 1529 zunächst nur Lutheranern; die später zum Protestantismus hinzukommenden Calvinisten blieben vom Augsburger Religionsfrieden 1555 ausgeklammert, sahen sich jedoch, den Lutheraner ein Ärgernis, ebenfalls als Protestanten an, was zu einem etwa hundertjährigen Konflikt zwischen beiden führte. Hier werden mit „Protestanten“ alle der Reformation zugehörigen Glaubensgemeinschaften bezeichnet. Dem gegenüber sehen sich Calvinisten selbst als „Reformierte“, die durch ihre „Zweite Reformation“ Luthers Reformation erst endgültig von Resten katholischer Glaubenslehre befreit hatten. Der Eindeutigkeit halber wird hier also zwischen einerseits „lutherisch“ und andererseits „calvinistisch“ als „reformiert“ unterschieden. 5 | Unter anderem trat 1525 Kurfürst Johann von Sachsen zum Luthertum über und 1526 Landgraf Philipp von Hessen; 1534 sagte sich König Heinrich VIII. vom Papst los; 1536 trat König Christian IV. von Dänemark zu den Lutheranern über, ebenso 1539 Kurfürst Joachim III. von Brandenburg; 1559 bekannte sich Kurfürst Friedrich III. von der Pfalz zum Calvinismus, ebenso1569 König Heinrich IV. von Frankreich und 1573 Willem von Oranien-Nassau. 6 | Zuvor hatte ein Landesfürst einen Landesflüchtling direkt zurückfordern können, wenn dieser ohne Erlaubnis und Zahlung des „Abzugsgeldes“ außer Landes gegangen war; nach 1655 musste er das Reichskammergericht anrufen. 7 | Das Konzil in Trient tagte in vier Phasen bis 1563 und geriet dabei zunehmend auf die unversöhnliche jesuitische Spur der Gegenreformation.
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Menschen. Die Calvinisten führten jedoch ihren Kampf nicht nur um den Glauben, sondern auch um die weltliche Freiheit des Produzierens und Handelns in Eigenverantwortung: Die Figur des von einem Fürsten alimentierten Untertanen sah sich nun konfrontiert mit der neuen Figur des freien, risikobereiten Unternehmers, der bestrebt war (ohne Einmischung seitens der in Merkantilismus, Zunftwesen und Zuteilungswirtschaft befangenen Fürsten), weit über enge Landesgrenzen hinweg zu denken und zu agieren. Unter seinen Händen entwickelte sich damals zum Beispiel in den Spanischen Niederlanden das Verlagswesen als eine neue Betriebsform mit ersten Ansätzen zur (noch nicht mechanisierten) manufakturellen arbeitsteiligen Produktion8, die den „Herbst des alten Handwerks“ ankündigte. Die leistungsfähigeren neuen Betriebs-, Produktions- und Vertriebsformen benötigten als Existenzvoraussetzung ein hoch entwickeltes, europaweites Kreditwesen, das sich, aus früheren Anfängen (zum Beispiel in Genua) heraus, nun insbesondere in den Spanischen Niederlanden und in England kräftig entwickelte.9 Protestanten kämpfen auch um neue institutionelle Formen des Zusammenwirkens von Fürsten, Kirchen und Bürgern, um mehr bürgerliche Befugnisse und um politische Teilhabe, was in einigen Ländern und Städten zu durchgreifenden zivilen Reformen staatlicher Verwaltung, des Aufbaus des Bildungswesens10 und zur Stärkung frühkapitalistischen Wirtschaftens führte – und im weiteren Verlauf zur Mehrung des Wohlstands in Stadt und Land (unter anderem Czok 1989:293, 297). Die fürstliche, von teils wirtschaftlichen, teils machtpolitischen Interessen getragene Bereitschaft, größeren Gruppen von, wie es damals hieß, „Glaubens8 | Verleger kauften auf ihre Rechnung Rohmaterialien und stellten sie, meist samt Werkzeug und Raum, den Handwerkern zwecks Veredelung gemäß Vorlage zur Verfügung; diese entlohnen sie nach Anzahl und Qualität der gefertigten Stücke (unter anderem Stoffe, Bücher); die veredelte Ware brachten die Verleger in den Handel oder aber zur weiteren Veredelung zu spezialisierten Betrieben. Im Rahmen des Verlagswesens ließen sich dergestalt mehrgliedrige proto-manufakturelle Produktionsketten vor allem bei der Herstellung von Luxusgütern, wie der Buchproduktion, Seiden- , Wolltuch- und Metallveredelung einrichten; gleichzeitig umgingen sie damit die in den alten Gewerken fortdauernde Zunftbindung. 9 | In Konkurrenz zur Deutschen Hanse war in Antwerpen 1460 die erste feste Warenbörse eröffnet worden, ferner Kreditbanken und in Amsterdam 1602 als Aktiengesellschaft die Niederländische Ostindische Kompanie. In Hanau wurde 1737, früh für Deutschland, die erste private „Leihbank“ (Kreditbank) gegründet. 10 | Lutheraner und Calvinisten hatten die „Heilige Schrift“ zu ihrem einzigen Glaubensfundament erklärt (sola scriptura!) und daher mussten sie diese in ihrer Landesprache lesen können, was verpflichtenden Schulunterricht voraussetzte; die unter ihnen breit vermittelte Kunst des Lesens und Schreibens befähigte sie auch zur weltlichen schriftlichen Kommunikation, also zur Abfassung und zum Verständnis von Streitschriften, politischen Informationen, Sartiren, Geschäftsbriefen etc., was zuvor nur der geringen Anzahl lateinisch Gebildeter möglich gewesen war; hinzu kam die Vermittlung der von Calvin als „Königin der Wissenschaften“ angesehenen Mathematik, deren Grundlagenkenntnis für den Handel unabdingbar war.
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verwandten“ Schutz zu gewähren, wurde zuweilen eingeschränkt durch die Erkenntnis, dass zu ihrer Aufnahme eine neue Stadt gegründet oder eine bestehende Stadt in angemessenem Umfang erweitert werden musste. Damit aber kam eine außerordentliche finanzielle Belastung auf die Fürsten zu. So lag es nahe, dass Fürsten einen Teil solcher Last auf die Schultern neu ankommender Religionsflüchtlinge zu übertragen suchten. Daraus gingen zwei sich diametral entgegenstehende Planungskulturen mit je eigenen Normen, Verfahren und Interaktionen zwischen den Beteiligten hervor: Die verbreitete „absolutistisch-zentralistische Planungskultur“ strebte nach Zentralisierung der Macht über alle Produzenten und Produktionsmittel, also nach Übernahme der gesamten Planung und Stadtproduktion in die Hände eines Fürsten, wodurch dieser in seinem Land seinem „Willen und Wunsch“ freien Lauf lassen konnte und zwar völlig „über die Köpfe seiner Untertanen hinweg“. Im Gegenzug für seine gnädige Fürsorge verlangte solcher Fürst von jedem neu gewonnenen Untertan, dass dieser sein eigenes Haus auf der ihm unentgeltlich zugewiesenen Bausstelle und oft auch mit unentgeltlich zugeteiltem Baumaterial erstelle; und zwar nach des Fürsten ganzheitlicher Vorstellung von einer einheitlich gestalteten Stadt, gemäß verpflichtend vorgegebenen „Hausmodellen“ und der von ihm als ausreichend angesehenen Infrastruktur.11 Dem gegenüber entwickelte sich zu jener Zeit eine noch kaum übliche „paternalistisch-partizipatorische Planungskultur“, die auf einem zwischen Fürst und Zuzugswilligen verhandelbaren und beide Seiten bindenden Normengerüst gründete; eben eine Kapitulation, in der die beidseitigen Rechte und Pflichten festgelegt, die anteiligen Lasten der Stadtproduktion unter allen Beteiligten vertraglich aufgeteilt und deren Freiräume des Planens und Handelns definiert waren, ebenso wie die Interaktionsmuster untereinander. Dieser Weg ließ einem Fürsten zwar weniger freien Spielraum bei Planung und Gestaltung einer neuen Stadtanlage, weniger Möglichkeit zur Selbstdarstellung und der Darstellung seiner Macht, es kostete ihn obendrein noch die Mühe, eine vertragliche Vereinbarung auf dem Verhandlungsweg mit den Ansiedlungswilligen bis hin zum Abschluss einer Kapitulation herbeizuführen. Jedoch gab dieser Weg, auf dem ein Fürst im Rahmen der miteinander abgeschlossenen Verträge seine Schützlinge als „Vater der christlichen Gemeinde“ (Bott 1971a:86) lenkte, die Gelegenheit, sich an Planung und Produktion einer Stadtanlage zu beteiligen, das heißt nicht nur seine Mittel, sondern auch seine
11 | Absolutistische Herrscher pflegten bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein bei neuen Stadtanlagen einen „Privilegienbrief“ in ihrem Land (und oft darüber hinaus) zu veröffentlichen, in welchem sie so genannten „Bauwilligen“ als eine Gnade und als Anreiz für die Ansiedlung bestimmte „Privilegien“ wie Religionsfreiheit zusicherten. Privilegienbriefe waren mit dem Fürsten, weil über Gnade nicht zu verhandeln ist, undiskutierbar und hatten den Charakter einseitiger fürstlicher Versprechen (Fehl 2007:19-43, 52-57).
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eigenen Vorstellungen von einer Stadt in ein räumliches, bauliches und funktionales Konzept einzubringen.12 In solchen Verhandlungen spielten freilich die mit Fernhandel, Kreditwesen, Verlag oder Manufaktur befassten wohlhabenden Bürger eine herausragende Rolle, wann immer es darum ging, ihre auf Status, Warenverkehr und Bodenverwertung gerichteten Interessen vorrangig vor anderen durchzusetzen (Bott 1971b:426 f.). Bei den durch ihren Glauben zur Fürsorge für ihre bedürftigen Glaubensverwandten verpflichteten Protestanten war in der Regel Verlass darauf, dass sie sich deren annahmen und einen Platz für sie innerhalb einer neuen Stadtanlage vorsahen.13
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Nur zwei Aspekte, die für die Aufnahme calvinistischer Glaubensflüchtlinge in Hanau durch den Grafen Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg und die Stadterweiterung von Hanau bedeutsam waren, sollen im Folgenden behandelt werden: Zunächst das calvinistische Umfeld, in das dieser Vorgang eingebettet war; danach die sowohl für die Aufnahme der Religionsflüchtlinge wie für den Bau der Stadterweiterung maßgeblichen Beziehungen des Grafen zum Calvinismus, zu den Spanischen Niederlanden und zu seinen Glaubensverwandten.
Das calvinistische Umfeld der in Hanau 1596 Schutz suchenden Glaubensflüchtlinge Planung und Produktion von Neu-Hanau14 sind kaum zu begreifen ohne das damals europaweite calvinistische Umfeld zu erkennen, in das sie eingebettet waren. Dabei unterschieden sich jedoch durch einige Besonderheiten die flämisch-wallonischen Calvinisten des ausgehenden 16. Jahrhunderts von den im 17. Jahrhundert in vielen Schüben ins Deutsche Reich drängenden französischen „Hugenotten“ (Heron 1986:29-34). Im Zug der Gegenreformation tat sich König Philipp II. von Spanien in den ihm 1556 aus dem Erbe seines Vaters, Kaiser Karl V., zugefallenen
12 | Insbesondere zur Festlegung des Standorts der Stadt oder Stadterweiterung, der Art der Bereitstellung des Bodens, den Graden der Freiheit beim Bau der Häuser etc.. 13 | Anders als beim absolutistisch-zentralistischen Stadtbau, wo Fürsten die Armen meist in elende, unbefestigte Vorstädte, weit „aus den Augen ihres Herren“, zu verweisen pflegten (unter anderem Kuhn 1981). 14 | So wurde in Alt-Hanau, der kleinen mittelalterlichen Residenzstadt, 17 Kilometer Main aufwärts von Frankfurt, die große Stadterweiterung genannt, die ab 1597 eine eigene physische und ab 1601 administrativ-konstitutionelle Einheit bildete. Auch war damals AltHanau überwiegend lutherisch, Neu-Hanau dagegen calvinistisch.
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„Spanischen Niederlanden“ durch Gewalttätigkeit besonders hervor.15 Zunächst waren dort Gemeinschaften protestantischen Glaubens schon im Entstehen von Kaiser Karl V. verboten worden und konnten folglich nur in Heimlichkeit ihre Gottesdienste abhalten. Philipp II. versuchte aus dem Verdacht heraus, dass sich protestantisches Denken dort dennoch weit verbreitet habe, den niederländischen Adel von den Staatsgeschäften des ihm neu zugefallenen Landes auszuschließen, die spanische Inquisition einzuführen, die niederländischen Bistümer neu zu ordnen und dabei die niederländischen Bischöfe durch spanische zu ersetzen (van Roosbroek 1959:20-23). Aber Adel, Klerus, Bürgertum, Handwerker und Bauern hielten in Flandern, Nordholland und Wallonie zunächst in passivem Widerstand zusammen, so dass Philipps II. Wunsch und Wille weitgehend ins Leere lief. 1567 entsandte er daher seinen Heerführer, Ferdinand Herzog Alba, nach Flandern mit dem Auftrag, wenn nicht eine „Ausrottung aller Protestanten“ möglich ist (van Roosbrook 1959:21; F. Schiller: Don Carlos), so doch des protestantischen Glaubens durch eine gewaltsame Rekatholisierung der Bevölkerung. Alba und seine Nachfolger wüteten als „spanische Furie“ (van Voet 1993:1617) 18 Jahre lang in den niederländischen Provinzen, äscherten Dörfer und Städte ein, insbesondere 1576 und erneut 1585 Antwerpen – damals durch den Fern- und Geldhandel reichste Handelsstadt nördlich der Alpen. Sie töteten, quälten und entwürdigten die Bevölkerung und stellten, wo immer sie mit ihren Heerzügen auftauchten, die Menschen vor die Wahl: Katholische Taufe oder die gewaltsame Vertreibung des Landes (van Roosbroek 1959:1819). Die wallonischen Provinzen im Süden der Spanischen Niederlande und in Flandern beugten sich schließlich der Gewalt, blieben katholisch oder wurden, nachdem die ihrem Glauben treuen Protestanten in Massen geflohen waren, gründlich rekatholisiert. Die in der Utrechter Union 1579 zusammengetretenen sieben nördlichen niederländischen Provinzen dagegen sagten sich 1581 von Philipp II. als Landesherrn los (van Roosbroek 1959:61) mit dem Argument Willems von Oranien-Nassau aus seiner Apologie: „Die Macht sei einem Fürsten von Gott zum Wohle der Untertanen gegeben. Der Fürst solle also sein Land väterlich und gerecht regieren. Wo dies nicht geschehe, sei es dem Volk erlaubt, den unwürdigen Fürsten abzusetzen.“ (zit. in van Roosbroek 1959:61). Sie erklärten sich gleichzeitig zur „Reformierten Republik“ der niederländischen
15 | Im Süden der Spanischen Niederlande lag die frankophone Wallonie mit unter anderem den Provinzen Brabant, Lüttich, Luxemburg; im Westen und Norden lag das germanophone Flandern und die sieben später sogenannten „Vereinigten Provinzen“ von unter anderem Friesland, Holland, Utrecht. Seine niederländischen Provinzen hatte Kaiser Karl V. 1548 als außerhalb des Deutschen Reichs stehend erklärt, sodass Philipp II. als Landesherr ab 1556 freie Hand hatte bei der Rekatholisierung und Bestrafung seiner eigensinnigen niederländischen Untertanen (Bott 1971a:3-29)
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„Generalstaaten“,16 eine Regierungsform, die Calvin ausdrücklich als Alternative zur Monarchie gebilligt hatte. (Calvin, IV. Buch, 20. Kapitel) Die Kampfhandlungen zwischen Spanien und der neuen niederländischen Republik dauerten indes an den Grenzen des Landes bis 1648 fort, bis schließlich im Westfälischen Frieden die Ablösung der Republik der Niederlande von den südlichen Spanischen Niederlanden anerkannt wurde.17 Im Licht der miterlebten „spanischen Furie“ sahen sich die wallonischen und flandrischen Calvinisten berechtigt, ihr Verhältnis zwischen Glaubensgemeinschaft und Obrigkeit, Volk und Fürst grundsätzlich neu zu definieren: Aus Calvins Institutio heraus interpretierten sie ein Naturrecht zum sowohl passiven, als auch kollektiven aktiven Widerstand, ebenso ihr Recht zur Aufkündigung des bei Regierungsantritt eines Fürsten von seinem Volk mit der Huldigung abgelegten Treueeids.18 Ihr abgrundtiefer Argwohn gegen das Hineinregieren eines Fürsten in ihre Kirchenangelegenheiten hatte gerade in diesem Erlebnis eine starke Wurzel, sodass sie stets bestrebt waren, sich in selbstbestimmten Kongregationen mit ihren selbst gewählten Predigern zur Andacht zusammen zu finden, jedoch Landeskirchen, auf die ein Fürst hätte Einfluss ausüben können, strikt abzulehnen (Conring 1965:80-86). Eine erste protestantische Flüchtlingswelle aus Wallonie und Flandern hatte schon vor dem Regierungsantritt Philipp II. eingesetzt und schwoll an, als die verfemten Andersgläubigen nun eine Verschlimmerung ihrer Lage befürchteten. Ihre Fluchtziele waren zunächst das reformierte England, aber auch Städte am Niederrhein (unter anderem Wesel), Handelsstädte wie Aachen, Bremen, Frankfurt am Main (Abk.: Frankfurt), Köln und die Kurpfalz, wo der calvinistische Kurfürst Friedrich III. ab 1562 eine bald rasch anwachsende Gruppe wallonischer Flüchtlinge im linksrheinischen Frankenthal, einem säkularisierten Kloster, ansiedelte. Die Entsendung von Herzog Alba 16 | Eine schon vor 1581 gebräuchliche Bezeichnung, wobei im niederländischen „Generaalstaat“ die Bedeutung von „Allgemeine Ständeversammlung“ (generaal = allgemein; staat = Stand) hat. 17 | Willem von Oranien-Nassau hatten seit 1565 die Grenzen zu Flandern stark mit Garnisonsund Festungsstädten befestigen lassen, unter anderem mit Willemstad in Noordbrabant. 18 | Nach Calvins Institutio sinngemäß: Er erlaubte „Widerstand gegen die Obrigkeit nicht der Individuen, sondern nur der Organe eines Staates“, also der Stände (Adel, Klerus, Bürger, Bauern) oder auch städtischer Magistrate (Conring 1965:180-181). Die niederländischen Calvinisten standen mit dieser Rechtsauffassung im Gegensatz zu den Hugenotten. Die niederländische Aufkündigung von 1581 stützte sich nicht nur auf Calvin, sondern auch auf ein Brabanter Privileg von 1356; (van Roesbrook, 89); anderswo nahmen Calvinisten ebenfalls solches Recht in Anspruch, wie zum Beispiel bei der „Emder Revolution“, wo die calvinistische Bürgerschaft der Stadt Emden 1595 ihren Fürsten davonjagte. In einigen Reichsstädten gelangte die Mehrheit in den Magistraten ohne Aufstand in protestantische Hände, zum Beispiel in Aachen, wo jedoch nach 24-jähriger Herrschaft der calvinistischen Ratsmehrheit das Deutsche Reich 1597 die Reichsacht über die Stadt verhängte und im Auftrag des Reichs 1598 spanische Truppen aus der Wallonie dem „reformierten Unwesen“ ein gewaltsames Ende bereiteten (Wynands 1986:50-51).
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nach Flandern löste 1567 eine zweite große Flüchtlingswelle aus Wallonie und Flandern aus, die unter anderem nach Ostfriesland, ins Emsland und erneut in die Kurpfalz und nach Frankfurt strömte. Mit beiden Wellen strömten, grob geschätzt, bis zu 40.000 Flüchtlinge ins Deutsche Reich. Eine dritte Welle resultierte aus der teilweisen Niederlegung von Antwerpen 1585, richtete sich vorwiegend auf Handelsstädte wie Aachen, Altona, Bremen, Frankfurt und Köln und trug an die 12.000 weitere Flüchtlinge ins Deutsche Reich hinein (Bütfering 1983:378-383). Der 1581 neu gewonnenen Unabhängigkeit der niederländischen Generalstaaten folgte schon bald eine starke Rückwanderung calvinistischer germanophoner Flüchtlinge in ihre Heimat, sodass von dort, anders als bei den Hugenotten, nach 1600 keine größeren calvinistischen Flüchtlingswellen mehr ins Deutsche Reich strömten (Bütfering 1983:355369). Im Unterschied dazu ebbte der Strom insbesondere der Calvinisten aus den rekatholisierten wallonischen Provinzen und Flandern nur langsam ab und eine nennenswerte Rückwanderung in ihre alte Heimat unterblieb, da sie sich auf einen dauerhaften Verbleib in Deutschland einrichteten. Dabei trachteten sie danach, sich den „Abzug“ zu einem ihnen gegebenenfalls genehmeren Landesherren offen zu halten.19 Kleinere wallonische und flämische Flüchtlingswellen resultierten indes aus erneuter Vertreibung innerhalb des Deutschen Reichs. Inzwischen hatten Fürsten und Magistrate im Verbot andersgläubigen Gottesdienstes und Schulunterrichts einen brauchbaren Hebel zur unblutigen Vertreibung Andersgläubiger erkannt.20 Zu den Opfern solch wiederkehrender Vertreibung gehörten auch jene wallonischen und flämischen Calvinisten, die nach einem Umweg über England21 ab 1554 in Frankfurt zunächst Aufnahme gefunden und sich im weiteren Verlauf in zwei Gemeinden zusammengefunden hatten.22 Nach weiterem Zustrom aus Antwerpen ab 1585 begann die flämische Gemeinde eine bedeutsame Rolle in der Frankfurter Kaufmannschaft zu spielen (Bott 1971a:30). In der ansässigen, überwiegend lutherischen Frankfurter Bürgerschaft jedoch machten sich in der Folge Missgunst und Unmut über die Calvinisten breit: So fühlten sich viele Altansässige latent bedroht durch deren 19 | Was berechtigt war, da sie bei jedem neu antretenden Fürsten mit dessen Glaubenswandel zu rechnen hatten; gleiches galt auch für die Reichsstädte, deren Magistrate, je nach konfessioneller Mehrheit, ihren Sinn, was den Aufenthalt Andersgläubiger anbelangte, zu ändern pflegten. Auch bot sich seit dem frühen 17. Jahrhundert bedrängten Calvinisten zunehmend der Ausweg in die „Neue Welt“ von Amerika (Reps 1992:115-132). 20 | Da die Calvinisten der niederländischen Republik sich bis etwa 1620 als unbarmherzig nicht nur gegen Katholiken, sondern auch gegen Lutheraner zeigten, gab es seit 1581 eine entsprechende Vertreibung – vereinzelt auch nach Alt-Hanau wie zum Beispiel Antonius van den Velden aus Hertogenbosch 1582. 21 | Die katholische Maria Tudor, als „Bloody Mary“ bekannt, ließ in ihrer Regierungszeit (1553-1558) alle bekennenden Protestanten verbrennen oder gewaltsam aus England vertreiben. 22 | Die wallonisch-frankophone Gemeinde war mehr von freien und abhängigen Handwerkern bestimmt, dagegen die flämisch-germanophone mehr von freien Unternehmern.
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bekannte Neigung zur „Rebellion“, wie etwa gegen Philipp II. (Bott 1971b:404 f.), und offen bedroht durch deren Geschäftstüchtigkeit, das von ihnen in Frankfurt eingeführte Verlagswesen23 und ihren rasch wachsenden Wohlstand. Der Magistrat beschloss also schon bald, als ersten Schritt die Zuwanderung von „unbemitteltem welschem Gesindel“ (Bott 1971a:35) zu unterbinden, womit die calvinistischen Gewerbetreibenden vom Zustrom von Facharbeitern abgeschnitten waren; als zweiten Schritt die Schulen der beiden calvinistischen Gemeinden schließen zu lassen und als dritten Schritt im Juli 1596 ihnen mit der Schließung ihrer Kirchen und einem Gottesdienstverbot den Stuhl gänzlich vor die Tür zu setzen (Bott 1971a:40 f.). Eine im August 1596 von 204 Frankfurter Calvinisten unterzeichnete Bitte um Aufhebung des Verbots (Bott 1971:Dok. 2a), da ihr Abzug nur schweren wirtschaftlichen Schaden über Frankfurt bringe, wies der Magistrat brüsk ab und krönte seine harte Entscheidung mit der Androhung des üblichen „Abzugsgelds“ (Bott 1971a:41; See 1997:214 f.). Aus dieser ihrer Misere heraus entschied sich eine teils wallonische, teils flämische Gruppe dazu, nach dem sich einige ihrer Leute schon mal in Hanau „die Gelegenheiten besehen“ (Bott 1971a:85) hatten, ihre „ehrwürdigsten Vertreter“ am 28. August 1596 zu Graf Philipp Ludwig II. von HanauMünzenberg zu entsenden, um mit ihm über Schutz, Niederlassungsrecht und Privilegien in der Stadt Hanau zu verhandeln. Sie baten, vermittelt durch einen ihrer Prediger, den Grafen am 21. August 1596 um eine baldige Besprechung. Hanau hatten sie als Zielort wegen des für sie wichtigen wirtschaftlichen Vorzugs der Nähe und guten Erreichbarkeit des Handels-, Messe- und Finanzplatzes Frankfurt ausgewählt, ferner wegen der Aussicht, dort günstig Unterkunft für ihre Facharbeiter und Flächen für ihr Gewerbe zu finden oder schaffen zu können. Zudem erhofften sie sich Steuerfreiheit für ihre Produkte und Sicherheit: „dass sie dort in einem reformierten Land unter einem reformierten Landesherren mit völliger Freiheit für ihre Lehre und ihren Gottesdienst rechnen könnten“ (Bott 1971a:42). Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Aspekt für die Verhandlungen war, dass sie, vermittelt über das inzwischen im Hanauer Land aufgenommene „unbemittelte welsche Gesindel“, genaue und aktuelle Kenntnis der wirtschaftlichen, politischen und religiösen Verhältnisse in der Grafschaft Hanau erworben hatten (MüllerLudolph, 235). Der gewichtige „Schatz“, den die Gruppe der Frankfurter Calvinisten in die angebahnte Verhandlung mit dem Grafen einzubringen gedachte, war von sechserlei Art: Ihr gemeinsamer unerschütterlicher calvinistischer Glauben, ihre überwiegend hohe fachliche Qualifikation, ihr beträchtliches Vermögen, sowie ihr altes und weit reichendes Netzwerk von Geschäfts-
23 | Die von den niederländischen Reformierten nach Frankfurt mitgebrachten neuen Gewerbe waren Verarbeitung von Seide, Wolltuch, Schmuck, Büchern und Gewürzen und der Handel damit (Bott 1971a: 31-32).
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beziehungen und Informationsquellen;24 das Wissen, dass man „bei ihnen eher und besser Geld entleihen könne, als bei den Juden“; (Bott 1971a:97) und schließlich die ihnen selbst bekannte Legende vom Reichtum, den ihnen Gott in seiner Gnade in die Hände lege. Mit Selbstvertrauen, der Hoffnung auf Religionsfreiheit und dem Interesse, nahe bei Frankfurt einen für ihre Erzeugnisse geringer besteuerten Ort zu finden (Bott 1971b:427), ging die Gruppe ihre Umsiedlung nach Hanau an. Sie konnten beim Grafen als ein Verhandlungspartner auftreten, der versprach, mit der Aufnahme in Hanau zugleich auch einige Probleme des Grafen in seiner Grafschaft zu lösen.
Beziehungen des Grafen Philipp Ludwig II. von HanauMünzenberg zum Calvinismus, zu den Niederlanden und zu den Umzugswilligen Die Aufnahme der teils wallonischen, teils flämischen Calvinisten aus Frankfurt in der Grafschaft Hanau und die für sie angelegte Stadterweiterung erfolgte nicht zufällig, vielmehr bestanden seit langem intensive und über die gemeinsame calvinistische Glaubenslehre hinausreichende persönliche und politische Beziehungen des hessischen Adels zur Wallonie, zu Flandern und den nördlichen niederländischen Provinzen vor und nach deren Loslösung von Spanien (Müller-Ludolph 1991:40-43, 117-126). Nach dem Tod seines Vaters 1580 übten die dem jungen Philipp Ludwig II. (1576-1612) zur Seite gestellten drei calvinistischen Vormunde – insbesondere Graf Johann IV. von Nassau-Dillenburg (Bruder von Willem von Oranien-Nassau) – prägenden Einfluss auf ihn aus. (Bott I, 127-143.) Er war also eingebunden in ein Netz enger familiärer Beziehungen innerhalb des überwiegend calvinistischen Hauses Hessen-Nassau und außerhalb zu anderen calvinistischen Fürstenhäusern, wie dem der Kurpfalz. Auf zwei mehrmonatigen Reisen in die republikanischen Generalstaaten, 1593 und 1599, lernte er diese aus eigenem Anschauen kennen, insbesondere aber eine damals bedeutsame Grundeinstellung der Niederländer, „die jeden Zwang hassten und nur durch geschicktes Entgegenkommen zu gewinnen waren“ (Bott 1971a:421). Schon 1593 war er vom lutherischen zum calvinistischen Glauben übergetreten und heiratete 1595 Katharina Belgia, Tochter von Willem von Oranien-Nassau; er übernahm Ende diesen Jahres im Alter von 21 Jahren, noch nicht ganz volljährig, die Regierungsgeschäfte in seiner Grafschaft Hanau-Münzenberg. Als calvinistischer Landesherr nahm er sein Recht wahr, seine noch überwiegend lutherischen Untertanen behutsam, also nicht mit Gewalt, sondern durch vorwiegend geduldige Überzeugungsarbeit dem
24 | Zu erwähnen sind alte Handelsbeziehungen zwischen Hessen und Antwerpen („Hessenhaus“); viele Flüchtlinge unterhielten weiterhin gute geschäftliche und familiäre Beziehungen zur alten Heimat (Bott 1971a:33).
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Calvinismus zuzuführen.25 Da solches indes Zeit seines Lebens nie vollständig gelang, blieb er, insbesondere mit den lutherischen Alt-Hanauern, unentwegt in Auseinandersetzungen verwickelt (Bott 1971a:64, 109). Aus all dem folgten zwei auch den Frankfurter Calvinisten gut bekannte Probleme des Grafen: Zum einen, dass nach seinem Regierungsantritt die calvinistischen Fürsten im Deutschen Reich besorgt beobachteten, was sich in Hanau abspielte und mit Rat, Unterstützung und Kritik nicht sparten (MüllerLudolph 1991:87-101, 279-299, 341-361). Zum anderen musste er, nach dem er den calvinistischen Glauben als Landesreligion eingeführt hatte, danach trachten, diesen in seinem Land auch wirklich zu festigen. Nur damit konnte er die Anerkennung der anderen calvinistischen Fürsten gewinnen. Daneben aber musste er auch, der in seinem Land nur über Dörfer und Kleinstädte regierte, seine Steuergrundlage und damit seine Finanzkraft durch Ansiedlung von städtischem Gewerbe aufbessern – drei Motive von großer Bedeutung für den jungen und pflichtbewussten Grafen mit der kleinen Grafschaft. Wenn Philipp Ludwig II. auch immer wieder – vor allem aus den Reihen seiner Verwandtschaft – Nachgiebigkeit und die fehlende harte Hand bei Verhandlungen vorgeworfen wurden, so behauptete er sich doch stets, wenn ihm jemand ins Regiment zu pfuschen wagte. „Was der Bürgermeister zu Frankfurt, das bin ich in meinem Land: Sie (Neu-Hanauer) sollen mir nicht nach dem Regiment greifen, sondern billigen Gehorsam und Respekt tragen!“ (Bott 1971b:156); nicht umsonst hatte er vom ersten Verhandlungstag an darauf bestanden, dass die eigensinnigen Frankfurter Zuzugswilligen, ehe er sie in seinen Schutz aufzunehmen bereit sei, ihm als Fürsten huldigen. Beim Zusammenwirken an dem großen Werk der Neustadt war jedoch der Graf, der aufrichtig „Diener seines Volks“ sein wollte, nicht hartleibig, sondern hatte für jeden Zuzugswilligen ein offenes Ohr und war umgänglich ohne Allüren gegenüber seinen Glaubensverwandten (Bott 1971b:418).
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Unter den vielen Aspekten, die mit der Aufnahme der Frankfurter Calvinisten in Hanau durch Philipp Ludwig II. verbunden waren, können hier nur zwei aus dem dichten Gespinst um die Stadterweiterung herum behandelt werden. Zunächst in geraffter Form das Zustandekommen des verfassungsartigen Rahmens der „Kapitulation“ samt dem sie ergänzenden „Transfix“, in welches die Interessen beider Seiten einflossen und in wichtigen Eckpunkten ihr Zusammenleben, die Macht-, Aufgaben- und Lastenverteilung geregelt waren.
25 | Neben der Überzeugungsarbeit ließ der Graf die Kirchen seines Landes so ausgestalten, wie es die calvinistische Lehre und Liturgie erforderte und ersetzte „uneinsichtige“ lutherische Pfarrer durch calvinistische; Vertreibungen des Glaubens wegen ließ er, von beharrlich lutherischen Pfarrern abgesehen, nicht zu (Müller-Ludolph 1991:200-201; Rauch 1997:19).
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Im Anschluss wird darzustellen sein, wie sich die gemeinsame Produktion der Stadterweiterung innerhalb dieses Rahmens vollzog.26
Der konstitutionelle Rahmen für die Neustadt: Kapitulation und Transfix Kapitulation: Philipp Ludwig II. war der Bitte der Frankfurter Umzugswilligen um eine Besprechung alsbald nachgekommen und hatte in der Zwischenzeit die Legende von der glücklichen Hand seiner Glaubensverwandten durch Rückfragen unter anderem im nahen Frankenthal (MüllerLudolph 1991, 219) bestätigt gefunden. Auch drängte ihn seine Dillenburger Verwandtschaft, besonders Graf Johann IV.27 dazu, „die herrliche occasion nicht vorübergehen zu lassen“ (Bott 1971a:102). Nachdem sich Philipp Ludwig II. 26 | Bei Eingrenzung auf nur zwei Aspekte müssen neben vielem anderen drei auf die Stadtproduktion einwirkende Nebenvorgänge unberücksichtigt bleiben: 1. Der Zuzug von Calvinisten nach Alt-Hanau vor 1598, die meist einzeln ankommend, wegen ihres Wohlstands oder Gewerbes aufgenommen worden waren; als ihre Anzahl zunahm, hatten sie schon 1595 den Grafen um „kirchliche, politische und wirtschaftliche Freiheiten“ ersucht und dieser hatte sich seither grundsätzlich mit der Frage vermehrter Ansiedlung von Calvinisten in seinem Land beschäftigt (Bott 1971a:70-73; Dok.1a). 2. Der Konflikt mit dem benachbarten Erzbischof von Mainz, der sich 1597 gegen eine befestigte Stadterweiterung in nur 2 km Entfernung von seinem Lustschloss Steinheim verwahrte und obendrein in einem Gebiet, das er als Jagdgebiet beanspruchte. Er erhob Klage beim Reichkammergericht – mit der Folge, dass bis zu einem gütlichen Vergleich 1599 für anderthalb Jahre der Bau von Wall und Graben stillgelegt war (Zimmermann 1919:657 f.). 3. Der folgenreichste, hier jedoch nur kurz berührte Konflikt hatte seine Ursache innerhalb der calvinistischen Gruppe, als es um die Entscheidung ging, doch in Frankfurt zu verbleiben oder aber sich lieber für einen Neuanfang in Hanau unter günstigeren und sichereren Bedingungen zu entscheiden. Es spaltete sich also die calvinistische Gruppe nach ihren jeweiligen gewerblichen Interessen, nachdem es anfangs so geschienen hatte, als gäbe es nur eine einzige große Gruppe mit 204 Familien (= Haushalten mit im Durchschnitt 7 Personen – also annähernd 1.500 Personen) (Bott 1971a: 92). Im weiteren Verlauf nahm die Anzahl der „Dableiber“ in Frankfurt zu und die der „Umzieher“ nach Hanau nahm ab (Bott 1971a:25). Wenn fortan von der Gruppe der „Zuzugswilligen“ gesprochen wird, dann sind damit die Umzieher gemeint, in der Mehrheit Wallonen und Handwerker (= Facharbeiter), die unbeirrt ihre Ziele in Hanau weiter verfolgten. 27 | Graf Johann IV. von Nassau-Dillenburg hatte als überzeugter Calvinist, Experte im niederländischen Festungsbau und Beteiligter am Zustandekommen der Utrechter Union, im jahrelangen Umgang mit calvinistischen Niederländern ein Bild von deren Stärken und Schwächen gewonnen. In einem „Pro et Contra“ zählte er 1596 Philipp Ludwig II. deren „Vorzüge“ auf: Ihren Glaubenseifer, Mildtätigkeit gegenüber anderen Verfolgten, Förderung des Schulwesens, Betriebsamkeit und Kunstfertigkeit in den Deutschen oft unbekannten Gewerben etc.. Er verwies aber auch auf deren „Schattenseiten“: Sie seien unter anderem unbeständig und leicht entschlossen ihren Wohnort zu wechseln, trügen nur widerwillig öffentlichen Lasten, neigten dem Eigennutz zu und nützten als Unternehmer die für sie arbeitenden Handwerker aus; folglich warnte er ihn „nur ja auf der Hut zu sein“ (Bott I, Dok. 7).
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unter anderem mit Graf Johann IV. beraten und die Kapitulationen anderer Calvinistenstädte wie Frankenthal und Diez an der Lahn studiert hatte (Bott 1971a:91), empfing er am 28. August 1596 mit Interesse die Delegierten der Calvinistengruppe (Bott 1971a:88). Dabei überreichte ihm der Prediger der Frankfurter wallonischen Gemeinde deren recht bescheidene „Forderungen“ in elf Punkten (Bott 1971a:Dok.3b), bei deren Erfüllung sie bereit wären, sich in Hanau anzusiedeln; von einer Stadterweiterung war noch keine Rede.28 Die Delegierten traten als Vertragspartner auf, die das Gewicht ihrer zahlreichen Gruppe und deren geschäftliche Erfahrungen und internationale Handels- und Bankkontakte im Tausch gegen gräflichen Schutz und einer ihren neuen Wirtschaftsformen angemessenen Niederlassung anboten. Sie betonten, dass die Erfüllung ihrer Forderungen beiden Seiten zum Nutzen gereichten: Dem Fürsten zu vermehrten Steuereinnahmen, Bevölkerungszuwachs und der Stärkung seiner reformierten Position im eigenen Land und unter den der reformierten Sache zugetanen deutschen Fürsten; den Ansiedlern aber zu religiösen und bürgerlichen Freiheiten und zu wirtschaftlichen Vorteilen, vorausgesetzt, dass „allein Angehörige der reformierten Kirche aufgenommen würden“ (Bott 1971a:Dok. 3b). Philipp Ludwig II. ließ ihnen schon Anfang September 1596 seine Anmerkungen zu ihren elf Punkten zugehen, akzeptierte einige, wies andere zurück und stellte einige zusätzliche wirtschaftliche Vergünstigungen in Aussicht: Unter anderem den Bau einer Stadtwaage, die Genehmigung von zwei Wochenmärkten, ferner ein Marktschiff, das wöchentlich einmal von Hanau nach Frankfurt verkehren könne, und zwei oder drei messeartige Jahrmärkte (Bott 1971a:Dok. 4a). Die Grundlage für weitere Verhandlungen war damit gelegt (Bott 1971a:93-94).
28 | Lediglich im 11. Punkt ist der Wunsch nach einer für die Wirtschaft bedeutsamen Infrastruktur formuliert, nämlich dass der Fluss Kinzig nahe der Stadt zu einem schiffbaren Wasser ausgebaut (= kanalisiert) werde.
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Abb. 1: Text der Forderungen der Calvinisten aus Frankfurt vom 26. August 1596 als Grundlage der Verhandlungen mit Graf Ludwig Philipp II (in hochdeutscher Übersetzung von H. Bott) Die 11 Forderungen der Fremden an den Grafen vom 28. August 1596 1.
Zusicherung des freien Gottesdienstes nach dem Bekenntnis der reformierten Kirche in Frankreich, sowohl für die in Hanau schon bestehende Französische (wallonische) Gemeinde , als auch für eine noch zu errichtende Gemeinde der Brabanter; ferner Zusicherung des freien Abzugs bei einem Religionswechsel der Herrschaft. 2. Freie Wahl und Berufung der Prediger und Schulmeister, die durch die Herrschaft bestätigt werden sollen. 3. Verbot der Aufnahme von Fremden, die nicht das Zeugnis einer reformierten Kirche vorlegen können. 4. Befreiung von der ortsüblichen Fron gegen eine festzusetzende Gebühr, jedoch Genuss aller bürgerlichen Rechte und Freiheiten. 5. Freiheit von allen Abgaben auf ihre Waren, ihren Handel und ihr Gewerbe für 20 Jahre. 6. Gewährung von freiem Abzug, falls sie sich an einen anderen Ort begeben wollen. 7. Befreiung von der Pflicht zum Feuerlöschen außerhalb der Stadt und beim Auszug zur Verteidigung oder ins Feld (= in den Krieg), es sei denn der Graf selbst zieht mit. 8. Erlaubnis für Kaufleute und Krämer, ihre Waren feilzuhalten, und für alle Bürger, nach Belieben Bier und Wein auszuschänken. 9. Erlaubnis, Färbereien und Brauhäuser aufzurichten und Kessel und Bütten einzumauern, auch Backöfen zu setzen, nicht nur für die Bäcker, sondern für alle Bürger, nach unserer Nation Gebrauch und Gewohnheit; ferner Genehmigung neue Gewerke einzuführen. 10. Unterstützung der Bauwilligen durch den Grafen, der erklären möge, wie teuer die Bauplätze zu erkaufen seien, wieviel Bodenzins (= Pacht) für die Häuser zu zahlen und wieviel Grundsteuer zu entrichten sei. 11. Der Graf möge das Wasser der Kinzig schiffbar machen, damit man Waren und anderes leichter zur Stadt führen könne.
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Abb. 2: Vom Verfasser stark gekürzter Text der sogenannten „Kapitulation“ vom 1. Juni 1597 als Ergebnis der Verhandlungen zwischen den Frankfurter Calvinisten und Philipp Ludwig II.
1. 2. 3.
4. 5. 6. 7. 8.
9.
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Zusicherung des freien und öffentlichen Gottesdienstes nach dem reformierten Bekenntnis. Freie Wahl der Fremden bei Berufung der Prediger und Schulmeister, die sie selbst besolden. Verbot für Fremde, sich in der Grafschaft Hanau häuslich niederzulassen, sofern sie nicht ihren calvinistischen Glauben durch Gutachten einer reformierten Kirche bezeugen können. Aufnahm nur von Fremden, die dem Grafen als Untertanen huldigen und ihm gehorchen. Der Graf wird die Fremden samt Hab und Gut, gleich anderen Bürgern, in Schutz nehmen. Den Fremden ist, wie allen Bürgern, jede Art von Jagd und Fischerei bei Strafe verboten. Den Fremden ist, bei Qualifikation, erlaubt, für Stadtrat und öffentliche Ämter zu kandidieren. Kaufleute und Händler dürfen mit ungefährlichen Dingen in ihrem Haus oder in Marktständen Handel treiben und, bei Zahlung der üblichen Abgaben, auch Wein und Bier ausschänken. Auf alle in die Stadt hereinkommenden und ausgehenden Waren und örtlichen Produkte wird keine Steuer erhoben; nur soll statt der üblichen Zölle und Wegegelder von jedem Ballen, Wollsack, Kiste, Korb oder Faß, das mehr als einen Zentner wiegt, pauschal ein Batzen (15 Batzen = 1 Gulden) bezahlt werden; Hausrat und Möbel sind ausgenommen. Auf jedes eingekellerte Fuder Wein ist eine Abgabe von zwei Gulden zu entrichten; für Schankwein aber die ortsübliche Abgabe. Die Fremden sind von aller Fron befreit, sofern sie diese jährlich mit 2 Gulden ablösen. Die Reichssteuer (auf Vermögen) hat jeder, der sich nicht erklären will, pauschal mit 12 Gulden jährlich zu entrichten. Jedem ist gestattet, sein Haus gemäß den Anforderungen seines Gewerbes zu bauen und auch Färber- und Braukessel und Backöfen darin zum eigenen Gebrauch und Nutzen vorzusehen; doch darf solches nicht mit Feuersgefahr, Gestank, Schmutz und Belästigung der Stadt verbunden sein und muss der Bauordnung entsprechen.
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14. Jedem in der Neustadt ist gestattet, jederzeit sein Hab und Gut zu verkaufen und, ohne ein Abzugsgeld zu zahlen, an einen anderen Ort zu ziehen. 15. Die Fremden sind freigestellt vom Feuerwehrdienst außerhalb der Stadt, müssen jedoch, wie alle Bürger, Wache auf dem Stadtwall halten, können sich aber davon, sofern sie einen Ersatz stellen, befreien lassen. 16. Wöchentlich werden zwei öffentliche Markttage für den Verkauf von Lebensmitteln abgehalten. Desgleichen werden zweimal im Jahr große Handelsmessen eingerichtet; ferner sollen 1 oder 2 Marktschiffe, gegen Entrichtung eins Fahrgeldes, täglich oder mindestens 2 bis 3 mal wöchentlich nach Frankfurt hin und zurück fahren. 17. Der Graf sichert zu, bei nächster Gelegenheit den Stichkanal vom Main her in die Stadt führen und mit einem Kran ausstatten zu lassen; für die Benutzung von Kanal und Kran ist ein Entgelt zu zahlen. 18. Der Graf erbietet sich, Wall und Graben um die Stadt herum, soweit im Allgemeininteresse nötig, samt Toren und Zugbrücken anlegen zu lassen. 19. Die Neustadt wird auf dem ausgewählten Standort (bei Kinzdorf) angelegt. Dort lässt der Graf Baugrundstücke gegen Entrichtung des Kaufpreises gemäß Taxe (von 100, 80 und 50 Gulden je Morgen) austeilen und jedem Käufer einen Kaufbrief ausstellen. Wer ein Gartengrundstück von einem Alt-Hanauer Bürger als Bauland erwerben möchte, der soll mit diesem um dasselbe, so gut er kann, handeln, wobei der Graf ihm dabei Unterstützung zukommen lassen wird. 20. Jeder soll vor seinem Haus die halbe Gasse auf seine Kosten pflastern lassen; die Obrigkeit übernimmt dann die Pflasterung von Markt und Anlegestelle beim Kran. 21. Der Graf ist bereit, sobald die Stadt groß genug sein wird, ein consulatus mercatorum einzurichten, wo Handels- und Gewerbeangelegenheiten mit juristischem Rat unterstützt werden, ohne in bestehene zivil- und strafrechtliche Befugnisse einzugreifen. 22. Bei einer Pestepidemie werden Leute, die sich angesteckt haben, nicht aus der Stadt gejagt, sondern bleiben in ihren Behausungen oder werden in Pesthäusern gepflegt [Geraffter Text der Kapitulation vom Juni 1597]
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Da die Verhandlungen indes alles andere als einen gradlinigen Verlauf nahmen, sollen hier zum Vergleich die anfänglichen „Forderungen“ vom 28. August 1596 und die für die Stadtproduktion relevanten Ergebnisse, die 1597 in die Kapitulation eingingen, einander gegenüber gestellt werden (Abb. 1 und 2), ergänzt um einen Abriss der Hauptzüge der Verhandlungen, in denen die beteiligten zuzugswilligen Geschäftsleute – das starke Interesse des Grafen richtig einschätzend – mit Geschick, Druck und Verführungskunst ihre Interessen durchzusetzen vermochten. Bis Oktober 1596 hatte Johann IV. für Philipp Ludwig II. einige Argumente zusammengetragen, „warum man die Fremden aufnehmen müsse“, wobei „nicht nur christliche Nächstenliebe eine Rolle spiele, sondern vor allem der Vorteil für die Herrschaft und das Land durch Verbesserung der Steuer(einnahmen)“. Auch legte er ihm nahe, später einige der Zuzugswilligen „in den (Stadt-)Rat zu nehmen oder ihnen gar einen eigenen (Stadt-) Rat zu gestatten“ (Bott 1971a:97-98). Soweit waren die Verhandlungen indes noch längst nicht gediehen. Zuvor waren sich beide Seiten allerdings schnell einig geworden, dass Alt-Hanau nicht genügend Raum für alle Zuwanderer aus Frankfurt und gegebenenfalls aus anderen Orten biete und daher nur eine mit Alt-Hanau zusammenhängende Stadterweiterung in Frage käme (Bott 1971a:95). In einer Verhandlung im Oktober sprachen die Zuzugswilligen folglich erstmals von der Anlage „einer neuen Stadt“, ergänzt um die Anregung, dass diese „mit Wassergräben und Pforten rundum bewahrt werden solle, wie es einer Stadt zustehe und diese ja wohl keine offene Vorstadt bleiben könne“ (Bott 1971a:Dok. 5). Philipp Ludwig II. war solche Anregung im Interesse der Sicherheit der Stadtbewohner „nicht zuwidder“; nur müssten wegen der enormen Kosten eines solchen Vorhabens die Zuzugswilligen „Handhilfe leisten und ein Drittel der Kosten tragen“. Zur Versüßung seines Vorschlags fügte er hinzu, dass er selbst den Boden in dem noch auszuwählenden Gelände der Stadterweiterung „aufkaufen und ihn nach der Absteckung der Gassen und Plätze in Bauplätze aufteilen wolle“; letztere aber seien nicht zu pachten, „sondern jeder habe seinen Bauplatz käuflich nach dem der Lage angemessenen Taxpreis zu erwerben.“ (Bott 1971a:100-105) – was Philip Ludwig II einerseits Mittel für den Bau der Stadtumwallung einbringen würde und andererseits die Zustimmung der Zuzugswilligen fand, da Pachtverträge bei Baugrundstücken mit ihrer langfristigen Bindung an einen Fürsten bekanntermaßen ein Druckmittel in dessen Hand waren, während ein Käufer über sein käuflich erworbenes Eigentum frei verfügen, es also auch wieder frei verkaufen konnte (Zimmermann 1919:419). Inzwischen kamen bis Mitte Dezember 1596 die Verhandlungen so gut voran, dass sich schon zum Jahresende ein Abschluss abzuzeichnen schien (Bott 1971a:105-106, Dok. 6a). Doch zu Anfang des Jahres 1597 rückten zwei neue Probleme in den Brennpunkt der Verhandlungen: Das Problem der Auswahl des Standorts der neuen, zu befestigenden Stadterweiterung, der zwischen den Parteien für ein Weile strittig war. Da dieses Problem im Interesse der Zuzugswilligen gelöst wurde, wird es weiter unten bei der Darstellung der Stadtproduktion behandelt werden.
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Das ganze Projekt war jedoch ernsthaft gefährdet, als im Verlauf des Januar 1597 die Anzahl der Zuzugswilligen abzubröckeln begann, sobald es mehr und mehr Wohlhabende, vor allem aus dem Kreis der Flamen, vorzogen, aus geschäftlichen Gründen doch in Frankfurt zu bleiben und den calvinistischen Gottesdienst im nahen Bockenheim (unmittelbar außerhalb der Frankfurter Stadtgrenze im Hanauer Land) zu besuchen. Einerseits bestand der Graf des Überblicks wegen nun darauf, dass die Zuwanderungswilligen sich umgehend einzeln verpflichten sollten, nach Hanau zu ziehen und dort ihr Haus zu bauen, im Fall ihres Verbleibs in Frankfurt aber an den Grafen ein hohes Ausfallgeld zu zahlen schuldig seien. Dem Wunsch des Grafen kamen am 27. Januar zunächst immerhin 202 Zuzugswillige nach, indem sie sich zwar in eine Verpflichtungsliste eintrugen (Bott 1971a:12, Dok 11a), gleichzeitig aber darauf bestanden, dass eine derartige Verpflichtung erst gültig sein könne, sobald an dem von ihnen ausgewählten Standort „der Graf den Ort mit Gräben umfasst“, zumindest aber die Umwallung begonnen habe (Bott 1971a:112-114, 129). „Falls aber der Graf keine Mittel dafür finde, [...] wird jeder für sich seinen Vorteil suchen müssen, in Holland, in Heidelberg oder in Frankenthal, was ein sehr großer Schaden sein wird“; sie aber hofften, „aus Hanau einen Handelsplatz machen zu können, von dem man für alle Zeiten nur in Ehren sprechen wird“ (Bott 1971a:114). Dieser unterschwelligen Androhung der Zuzugswilligen vom 27. Januar, das Projekt gegebenenfalls platzen zu lassen, folgte am 29. Januar ihre (möglicherweise aus der Luft gegriffene) Warnung, dass „etliche andere Herren [= Fürsten] sich erbieten, sie mit weit mehr Privilegien bei sich aufzunehmen, als Hanau ihnen anbiete“ (Bott 1971a:115). Ein zeitgleicher Brief eines der Frankfurter Delegierten zählte dem Grafen erneut die Vorteile ihres Zuzugs auf, betonte, dass es ja nur noch wenige offene Fragen gäbe und dass „der Graf sich aber jetzt entschließen und den Anfang machen müsse“ (Bott 1971a:116). Kurz zuvor hatte Johann IV. in einem Gutachten Philipp Ludwig II. nochmals darauf hingewiesen, „dass man zu dergleichen occasonibus selten kommen kann“ und daher bedenken solle: „Wer spärlich sät, wird später spärlich ernten! “ (Bott 1971a:Dok. 8) Eine erneut am 1. Februar vom Grafen geforderte schriftliche Erklärung trug nur noch 58 Namen fest entschlossener Zuzugswilliger, die in Neu-Hanau ein oder auch mehrere Häuser (schließlich bis zu siebzehn! Bott 1971a:428) zu bauen bereit waren – „jeder einzelne nach seinem Vermögen und sobald es ihm möglich ist“ (Bott 1971a:119). Weitere 74 Zuzugswillige vermerkten, dass sie in Hanau zur Miete wohnen wollten, da sie im Zuge des Aufbaus ihres Geschäftes auf ihr knappes Kapital nicht verzichten und es daher nicht in den Hausbau stecken könnten (Bott 1971a:272). Der Graf verpflichtete sich endlich, Wall, Graben und drei Tore, „soweit zur Verteidigung des Platzes erforderlich, auf seine Kosten anzulegen“; ebenso den kurzen Schifffahrtskanal mit Hafen für Lastkähne und Kran bis in die Stadterweiterung hinein. Im Gegenzug verlangt er allerdings, dass die bisher verhandelte „Befreiung von sämtlichen Abgaben“ auf ihren Handel, auf alle Waren und auf alle ehrlichen Handwerke, „gänzlich fallen gelassen werde“, da er aus diesen ihm
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jährlich zufließenden Mitteln den absehbar langen Bau der Stadtumwallung zu zahlen gedenke (Bott 1971a:121-122, Dok.13). In der entscheidenden „Grundsatzversammlung“ am 13. und 14. Februar 1597 erklärten sich schließlich beide Seiten endgültig mit dem Vertrag unter diesen Bedingungen einverstanden (Bott 1971a:Dok. 15 a-c). Befriedigend für den Grafen war, dass die Zuzugswilligen endlich bereit waren, die von ihm geforderte Huldigung, wenn auch zähneknirschend, zu akzeptieren, denn ohne diese „könne er sie nicht in seinen Schutz nehmen“ (Bott 1971a:Dok. 15). In einem noch einmal überarbeiteten „Kapitulationsentwurf der Fremden“ vom 8. April griffen diese erstmalig einen alten Vorschlag von Graf Johann IV. auf, der, neu eingebracht, offensichtlich ohne weitere Diskussion dem Ergebnis der bisherigen Verhandlungen hinzugefügt wurde. Darin heißt es, dass „hinreichend Qualifizierte aus dem Kreis der Fremden in den bestehenden Stadtrat berufen“ werden sollten (Bott 1971a:Dok. 18a). Dass Alt- und Neuhanau einen gemeinsamen Stadtrat haben würden, wurde einstweilen stillschweigend unterstellt. Der Graf ließ, seiner Zusage treu, die Arbeiten an der Stadtbefestigung Ende April 1597 beginnen (Bott 1971a:198 f.). Angesichts der nun in der Neustadt einsetzenden Bautätigkeit setzte er, mit Sinn fürs Praktische und ergänzend zur Kapitulation, am 30. April 1597 einen an jedem Samstag zusammentretenden „Bautag“ ein, eine Art „Bauberatung und -aufsicht“, an dem alle aktuell anstehenden Baufragen zu behandeln waren: Allem vorweg Bauanträge von Bauherren anzunehmen und zu prüfen, diese mit den Bauherren zu beraten und das Vorhaben gegebenenfalls zu genehmigen; ferner die recht-zeitige Beschaffung von Baumaterial zu organisieren und die Materialpreise zu überwachen (Bott 1971a:134 f.). Gegen diese obrigkeitliche, durchaus zweckmäßige Institution erhob sich kein Widerspruch, da dem Gremium einerseits drei Vertreter der gräflichen Verwaltung angehören sollten, unter anderem der Proviantmeister und der Kämmerer, andererseits aber auch je ein kompetenter Delegierter der Wallonen und der Flamen aus der Neustadt und für beide Seiten, der wallonische Ingenieur Nicolas Gillet.29 Mit dem vermehrten Zuzug aus Frankfurt und von anderen Städten nahm die Bautätigkeit weiter zu und der Graf ergänzte die Institution der Bautage ab September 1598 durch das „Regiment beim Neuen Bau“, das, nun gänzlich in die Hände von drei Neustädtern gelegt, die Beaufsichtigung der Baustellen tags und nachts umfasste mit dem Ziel, Materialverschleuderung, unqualifizierte und schlampige Bauausführung, Diebstahl, Brandlegung und anderes zu verhindern (Bott 1971a:Dok. 22); auch die Organisation und Überwachung
29 | N. Gillet war der Neffe eines wohlhabenden Frankfurter Wallonen, der sich aktiv für den Umzug nach Hanau einsetzte: Gillet bezeichnete sich als Ingenieur und Maler; er war der Verfasser des Stadtgrundrisses für die Neustadt im Januar 1597 und wurden samt seinen drei Helfern seither vom Grafen als Bauberater unterhalten und ab August 1601 aus der Kasse der Neustadt bezahlt (Merk 1997:79; Bott 1971a:260).
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der Bauarbeiten am Stadtwall legte der Graf in die Hand eines kompetenten Neustädters (Bott 1971a:136). Die Kapitulation war endlich im Mai mit inzwischen 22 Artikeln unterschriftsreif (Bott 1971a:Dok.18 a) und am 1. Juni 1597 vollzog Philipp Ludwig II. die Unterschrift in aller Form und unter Zeugen. Zur Überraschung aller Beteiligten verweigerten jedoch die zur Unterschrift von ihrer Gruppe Bevollmächtigten die Gegenzeichnung – nicht ohne dem Grafen mündlich ihre Dankbarkeit, Treue und Unterstützung der Kapitulation zu versichern (Bott 1971a:145). Anlass dafür war ein Dekret des Frankfurter Magistrats vom 17. Mai 1597, das unter Berufung auf die „im Heiligen Reich ausgiebig publizierten constitutiones“ und dem Hinweis, dass die Umzugswilligen „uns als ihrer von Gott vorgesetzten Obrigkeit verpflichtet seien“, als de facto „Frankfurter Bürger in anderen Gebieten Wohnungen von neuem zu bauen und mit fremden Herrschaften insbesondere capitulationes abzuschließen“ (Bott 1971a:Dok. 19b). Das Dekret sollte das „Abzugsgeld“ erzwingen und war mit der Androhung einer Klage beim Reichskammergericht verbunden. So blieb die Kapitulation zwangsläufig zunächst nur ein einseitiger Vertrag, der allerdings von den calvinistischen Zuwanderern stillschweigend anerkannt und erst im Januar 1604 verbindlich von vier Neustädter Ratsherren gegengezeichnet wurde (Bott 1971b:412). Transfix: Binnen Jahresfrist hatte Philip Ludwig II. indes erkennen müssen, dass den beiden nicht nur im Glauben, sondern auch im Alltag zerstrittenen Bewohnerschaften von Altstadt und Neustadt ein gemeinsamer Magistrat nicht gerecht werden konnte (Bott 1971a:204). So griff er im Oktober 1600 die Bitte von Neustädtern um Einrichtung einer Selbstverwaltung mit eigenen Einnahmen und eigener Rechtsprechung in Zivilsachen auf (Bott 1971a:287 f.), ließ einen ersten Entwurf durch seine Rechtsberater anfertigen und lud die Neustädter Delegierten zur Besprechung. Jedoch kam er erst Anfang April 1601 darauf wieder mit dem ausgereiften Entschluss zurück, für die Neustadt einen eigenen Magistrat einzusetzen. Nun ging alles in strammerem Gang als zuvor: Die gräfliche Verwaltung erarbeitete eine „Ratsordnung“ (Bott 1971a:Dok. 35a) auf Grundlage des ersten Entwurfs. Dieser wurde am 20. April 1601 den vorgeladenen Delegierten der Neustadt vorgetragen; die „ließen sich’s wohl gefallen“ und auf Weisung des Grafen riefen sie gleich am nächsten Tag die Glaubensverwandten beider Neustädter Kirchengemeinden zusammen und trugen ihnen den Vorschlag des Grafen „zur Einsetzung einer guten Verwaltung und eines Magistrats in der Neustadt“ vor (Bott 1971a:298 f.). Im Anschluss schritten sie, bereits gemäß neuer Ratsordnung, zur Wahl von 16 qualifizierten Personen jeweils für die flämische und für die wallonische Gruppe, in der Mehrzahl Wohlhabenden aus der Gruppe der „Höchstbesteuerten“ (Bott 1971a:426). Der Graf bestimmte aus den Gewählten jeweils zwei, also insgesamt vier für das Bürgermeisteramt; die verbleibenden 28 bildeten den Rat der Neustadt. Von den vier Bürgermeistern sollten jeweils zwei für das erste Halbjahr und zwei für das zweite Halbjahr das Amt führen. Als Bindeglied zwischen dem Altstädter und dem Neustädter Rat sah die
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Ratsordnung die Einsetzung eines Schultheißen durch den Grafen vor (Bott 1971a:303 f.). Anfang Mai 1601 beantragten sechs der vorgesehenen Ratsherren eine ergänzende Regelung für eigene Einkünfte der Neustadt zur Erledigung jener Aufgaben, welche sie in Zukunft zu tragen habe (Bott 1971a:307). In einer Besprechung mit den Delegierten der Neustadt am 23. Mai las der Graf ihnen zu Anfang erst einmal gründlich die Levithen wegen ihrer Unbeständigkeit und ihrer Scheu, sich für das Allgemeinwohl zu engagieren; ihrer Art, das in den Verhandlungen gesprochene Wort in ihrem Interesse umzudeuten; im Übrigen habe bei der Abfassung der Kapitulation keiner je an eigene Finanzen der Neustadt gedacht (Bott 1971a:308-309). Im Anschluss legte er ihnen – weil ja ein Magistrat, ohne über Mittel zu verfügen, keine Beschlüsse fassen könne – drei mit seinen Bedingungen versehene Vorschläge für eigene Einnahmen der Neustadt zur Auswahl vor (Bott 1971a:309-310). Die Delegierten wählten am 6. Juni jene Alternative aus, bei welcher der Graf der Neustadt „künftig und auf alle Zeiten die Hälfte aller Einkünfte der Stadt als ständiges Einkommen überlasse und für absehbare Zeit jährlich 2.000 Florin (= Goldflorin, auch „Gulden“ genannt) zuschieße“ (Bott 1971a:309). Bei den damit verbundenen Bedingungen zog der Graf die Kandare allerdings deutlich fester an.30 Beide Seiten unterzeichneten am 1. August 1601 den „Transfix“ genannten beidseitigen Vertrag, der die Einsetzung des Stadtregiments, die Regelung der Einkünfte und Aufgaben der Neustadt samt Übernahme der zivilen Rechtsprechung enthielt (Bott 1971a:Dok. 35). Er galt ab sofort als Ergänzung, Erweiterung und teilweise Aktualisierung der Kapitulation und wurde ihr als Anhang beigefügt (Bott 1971a:149). Die Bürger der Neustadt huldigten (weiterhin ungern, doch einsichtig) Philipp Ludwig II. am 6. Oktober 1601 und gelobten ihm „getreu, hold und gehorsam zu sein“ (Bott 1971a:Dok. 41a). Der konstitutionelle Rahmen für die weitere Produktion der Neustadt war damit unter Dach und Fach und erfuhr bis zum frühen Tod des Grafen 1612 nur noch geringe Korrekturen unter anderem am Transfix 1602 (Bott 1971b:2930).
30 | Nämlich dass der Magistrat nichts in städtischen Angelegenheiten ohne Vorwissen des Grafen oder des Schultheißen ausführen dürfe; dass der Magistrat ferner einen Steuereinnehmer einstelle, der beiden Seiten verpflichtet sei und jährlich beiden Seiten über Einnahmen und Ausgaben Rechnung lege; dass die Neustadt es übernehme, Wall, Tore und Graben zu pflegen und zu erhalten. Schließlich dass aus dem gräflichen Zuschuss zum einen die Kosten für den Baumeister N. Gillet zu begleichen seien und zum anderen die Fertigstellung der Befestigung (Bott 1971a:315). Letzteres löste scharfe Dispute zwischen den Parteien aus, die erst kurz vor der Unterzeichnung beigelegt wurden, insofern die Kosten für die Befestigung gänzlich aus den laufenden jährlichen Einnahmen der Neustadt zu nehmen waren und der Graf nur 1.500 Florin jährlich zuschoss (Bott 1971a:310, Dok .40a).
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Gemeinsame „geteilte Produk tion“ der Stadter weiterung Die vom Grafen und den Zuzugswilligen aus Frankfurt betriebene Planung zur Produktion der Stadterweiterung reichte allerdings zurück bis in den Herbst 1596, als die Kapitulation noch längst nicht ausdiskutiert war, denn einige grundsätzliche Fragen zur Stadterweiterung waren schon vorzeitig gestellt, andere folgten erst im Prozess der Produktion. Beide forderten von Fürst und Zuzugswilligen jeweils kurzfristig aktuelle Antworten:
Ob überhaupt eine Stadterweiterung und in welcher Art sie angelegt werden solle? Eine eigene Stadterweiterung „mit Wall und Graben um und um“ hatten die Zuzugswilligen ja schon in ihrem Protokoll vom Oktober 1596 angeregt (Bott 1971a:Dok. 5) und der Graf hatte den Vorschlag in seinen ersten Entwurf einer Kapitulation im Dezember aufgenommen (Bott 1971a:Dok. 6a). Hier findet sich unter Punkt 19 auch des Grafen erste Skizze für eine „Bauordnung der Neustadt“, die eine geschlossene Bebauung „ohne Lücken“ auf der vorgegebenen Straßenfluchtlinie vorsieht, ferner eine, „möglichst gleich hohe Bebauung“ in jedem Straßenzug, aus Gründen des Brandschutzes die einzelnen Häuser durch „Brandmauern“ voneinander geschieden und mit Sockelgeschoss aus Stein gemauert. Auch solle “kein Neubau begonnen werden ohne Kenntnisnahme und Genehmigung der Obrigkeit.“31
An welchem Ort die Stadterweiterung angelegt werden könne und solle? Wie oben angedeutet, hatte die gräfliche Kanzlei wohl in Zusammenarbeit mit Graf Johann IV. als Festungsexperten unter anderem Ende Dezember 1596 drei alternative Standorte in Form von „Abrissen“ (= Umrissen) mit dem Zug der jeweiligen Befestigungslinien nach niederländischem Vorbild erarbeitet (Bott 1971a:103). Der Graf schied eine Alternative als völlig ungeeignet aus, eine andere sah er als weniger geeignet an und eine dritte als aus seiner Sicht wünschenswert. Wohl schon Ende Dezember ließ er diese zwei Abrisse den Delegierten der Zuzugswilligen zur Auswahl zukommen; diese wählten Mitte Januar indes nicht die vom Grafen bevorzugte Alternative jenseits der Kinzig, in südwestlicher Richtung der Altstadt nach Kesselstadt hin gelegen, mit schwierigem Zugang nach Alt-Hanau, in leicht ansteigendem Gelände, aber ein Terrain gänzlich im Eigentum des Grafen, mit einem relativ kleinen Innenbereich und daher im Vergleich eine kürzere und weniger kostenaufwändigere Befestigungslinie. Die Zuzugswilligen entschieden sich vielmehr für die andere Alternative südöstlich der Altstadt, nach Kinzdorf hin nahe am Main gelegen, in völlig ebenem Gelände mit ertragreichstem Boden, aber durchzogen von wichtigen Verbindungswegen nach Frankfurt, Kassel und Aschaffenburg (Bott 1971a:413), jedoch nur zu Zweidritteln in gräflicher 31 | Die Skizze zur Bauordnung wurde wohl nicht weiter ausgearbeitet, obwohl sie in der Kapitulation als verbindlich erklärt ist (Bott 1971a:Dok. 18a); entsprechend wurde sie von der 1597 eingerichteten Bauaufsicht fortlaufend praktiziert.
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Hand und darüber hinaus mit großer Innenfläche und folglich langer und daher teurer Befestigungslinie. Die Debatte über den Standort zog sich hin – begleitet von einer Nachtund Nebelaktion der Zuzugswilligen Mitte Januar, bei der sie, um den Grafen unter Druck zu setzen, in dem ihnen genehmen Gebiet schon mal provisorisch die Straßenzüge nach dem von N. Gillet entworfenen Stadtgrundriss absteckten (Bott 1971a:111). Schließlich drohten die Zuzugswilligen Ende Januar, die Verhandlungen abzubrechen, da der andere alternative Standort für sie nicht akzeptabel sei, weise er doch nicht die für sie als Gewerbetreibende bedeutsamen Vorteile guter Verkehrsanbindung zu Wasser und zu Land auf (Bott 1971a:Dok. 12) und war, insgeheim, wohl auch nicht groß genug für ihr Vorhaben großzügiger Gewerbeansiedlung. Schließlich stimmte der Graf „in Gottes Namen“ am 6. und erneut am 15. Februar 1597 sowohl dem von den Zuzugswilligen gewünschten Ort als auch dem von N. Gillet angefertigten Entwurf für die Aufteilung des Innenbereichs der Umwallung zu (Bott 1971:Dok. 13).
Wer den Boden der Stadterweiterung und in welcher Art innerhalb der Umwallung aufteile? Zur Beantwortung wird die Stufe der „ideellen Stadtproduktion“ betreten, also der Produktion von „akzeptablen und realisierbaren Plänen“. Kennzeichnend für jene Zeit, fiel der Entwurf einer Stadt oder Stadterweiterung in zwei Teile und in zwei Hände. Zum einen entwarfen Festungsingenieure den militärischen Festungsgürtel samt Gräben, Brücken und Toren, als das Primäre, ganz nach den Erfordernissen der Kriegsführung, der „Schießkunst“ und des Schutzes des Innenbereichs. Den Auftrag dazu erteilte in der Regel der Fürst. Zum anderen entwarfen vom Fürsten beauftragte Architekten/Baumeister den in den Festungsgürtel hineingelegten zivilen Innenbereich, als das Sekundäre, indem sie den Boden als einen aus öffentlichen Straßenzügen und Plätzen gebildeten sogenannten „Stadtgrundriss“ aufteilten. Dabei schieden so genannte „Straßenfluchtlinien“ den öffentlichen Raum vom Bauland auf den allseits umgrenzten Baublöcken. Die Fluchtlinien wurden im Gelände mit Pflöcken abgesteckt. Im Stadtgrundriss wurden ferner Standorte als weithin sichtbare Blickpunkte (= points de vue) gedachter Infrastrukturbauten vorgesehen (Fehl 1983:140-143). Bei der Hanauer Neustadt hatten allerdings, schon ehe über deren Standort entschieden war, einige wohlhabende Zuzugswillige in Frankfurt (ohne Wissen des Grafen) dem Ingenieur N. Gillet den Auftrag zum Entwurf eines Stadtgrundrisses innerhalb der Umwallung erteilt, sobald ihnen dieser Anfang Januar 1597 bekannt geworden war (Bott 1971a:119, Dok.13; Abb. 3). Ein Stadtgrundriss, bei dem sich der Verfasser völlig über die bestehende agrarische Flurteilung der Äcker und Bürgergärten im gewünschten Terrain hinweg setzte und dessen Boden völlig neu nach praktischen Gesichtspunkten und gemäß den Anforderungen der künftigen calvinistischen Bewohner aufteilte; lediglich die Trassen der Überlandwege nach Frankfurt, Aschaffenburg
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und Steinheim beachtete er, die er von außen her bis zu den neuen Stadttoren hin führte und dort in den Innenbereich einmünden ließ. Abb. 3: Entwurf von 1597 des N. Gillet für den Stadtgrundriss mit Eintrag der alphabetischen Kenn zeichnung der Baublöcke. Norden ist in etwa oben
Die Straßen im Inneren bildeten – abgesehen von Bereichen nahe der achtseitigen Umwallung – ein strenges rechtwinkliges Netzwerk gleichbreiter langer Straßen, die ein Feld rechtwinkliger Baublöcke mit dem Grundmaß von 220 auf 275 Fuß definierten. Von der Innenseite her wurde kein visueller Bezug genommen auf die zunächst geplanten drei – später vier – Stadttore. Es gab also nirgends ein großartiges räumliches Entrée in die Stadt. Vielmehr waren die zwischen den Toren und dem Straßengitter vermittelnden Straßen „auf dem kürzesten Weg“ schräg eingefügt. Eine Mittelachse war im Straßennetz wohl angedeutet, jedoch nicht als Blickachse ausgestaltet, da einerseits die Bauten der Börse und der Kirche den achsialen Blick verstellt hätten, andererseits ihr am einen oder auch anderen Ende bedeutungsvolle „points de vue“ fehlten. Dagegen sind aus dem Straßennetz die für die calvinistische Allgemeinheit wichtigsten Infrastrukturräume als bedeutungsvolle, unbebaubare zentrale Freiflächen ausgespart: Der Marktplatz (mit seinen vier Brunnen in den Platzecken) für die Wochen- und Jahresmärkte mit der Börse an der Stelle, an der erst 1725 das Rathaus erbaut wurde, betonte die topographische Mitte und das geschäftliche Zentrum der Stadtanlage. Das geistlich-religiöse Zentrum dagegen war am kleineren runden Kirchplatz mit der „Tempel“ genannten Kirche vorgesehen. Als Zentrum des Güterverkehrs war auf der Westseite, innerhalb der Stadtumwallung, das Hafenbecken mit Kran am Stichkanal zum Main eingeschnitten. Bei einer Überarbeitung des Stadtgrundrisses im Sommer 1597 wurde nach Abstimmung mit dem Grafen der
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ursprünglich kleine runde Kirchplatz in einen dem Marktplatz gleichenden, großen rechteckigen Platz umgewandelt (Bott 1971a:227), auf dem ab 1600 die große flämisch-wallonische Doppelkirche, gemäß Anregung des Grafen, entstand (Bott 1971a:228); dem Kirchplatz samt Gottesdienst wurde dergestalt gleiches Gewicht wie dem Marktplatz samt Handel beigemessen.32 Im Überblick entstand ein gleichförmiger, fast feldlagerartiger, pragmatischer Stadtgrundriss, der nach Außen hin weder eine visuelle Beziehung zur Altstadt noch zu irgendeiner bedeutsamen Institution aufnahm, sondern sich – anders als in Mannheim ab 1606 – allein nach innen an die calvinistische Gemeinschaft wandte. Im Stadtgrundriss wurde also keinem oberhalb oder außerhalb der Glaubensgemeinschaft Stehenden gehuldigt, sondern ganz allein deren Gleichheit und Einheitlichkeit in aller Kargheit zum Ausdruck gebracht. Der dennoch existierende große gesellschaftliche Unterschied zwischen den Glaubensverwandten trat erst in der topographischen Lage, der Parzellierung der höchst unterschiedlich großen Bauparzellen und deren Bebauung – zwischen Großbürgerhaus und Hütte – zu Tag.33
Wie der agrarische Boden innerhalb der Linie der Stadtumwallung in städtischen Boden umgewandelt werden könne und solle? Mit der Beantwortung dieser Frage wird die Stufe der „materiellen Stadtproduktion“ betreten, das heißt zunächst der „Produktion von städtischem Boden“, der aus agrarischem Boden durch dessen Neuordnung gewonnen wurde. Nachdem Philipp Ludwig II. nach der Grundsatzversammlung am 15. Februar sowohl dem von den Zuzugswilligen gewünschten Standort der Neustadt als auch dem Stadtgrundriss von N. Gillet zugestimmt hatte, ließ er dementsprechend die Straßenzüge und Plätze durch beauftragte Geometer im vorgesehenen Gelände abstecken und die so definierten Baublöcke – ähnlich wie wenige Jahre später in Mannheim – alphabetisch kennzeichnen. Auf dieser Grundlage erst ließ sich der in verschiedenen Händen liegende Boden des Gesamtterrains gemäß Kapitulation in der Hand des Grafen zusammenlegen und dann neu in Straßen und Bauparzellen für die einzelnen Zuzugswilligen aufteilen (Bott 1971a:130). Bei einem Teil der Äcker, die an das Althanauer Siechenhaus als Untereigentümer verpachtet waren, war der Graf Obereigentümer, so dass er hier nur die Pachten abzulösen brauchte, um über seinen Boden neu verfügen zu können. Ein anderer Teil der Äcker lag in privaten Händen herrschaftlicher Beamter, die bereit waren, ihr Land im Tausch gegen Boden in den stadtnahen gräflichen Küchengärten an den Grafen abzutreten. Schwieriger gestaltete sich die Bodenneuordnung beim 32 | Zur Idee des Stadtgrundrisses vergleiche Jakob 1990:189-194; die strukturelle Ähnlichkeit mit dem kleineren Stadtgrundriss von Willemstadt von 1565, den Philipp Ludwig II. wohl als vorbildlich kannte, ist groß und hat eventuell dazu beigetragen, dass er 1597 sein Plazet zu N. Gillets Stadtgrundriss von Hanau gab, ohne Änderungen zu verlangen. 33 | In der von C. Metzger 1666 angefertigten Vogelschau des neu befestigten Hanau ist die Bebauung der Neustadt viel gleichförmiger, gleichsam idealisiert, wiedergegeben, als sie in der Realität entstanden war (Merk, 61-85).
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Gartenland, das im Eigentum Althanauer Bürger und Adeliger lag. Die Ablösung der Eigentumsrechte gelang hier nur in mühseligen Einzelverhandlungen, die sich bis weit ins 17. Jahrhundert hinzogen; Eigentumswechsel bei den Gartengrundstücken gab es aber auch auf Grundlage direkter Verhandlungen zwischen alten Grundeigentümern und neuen Bauinteressenten (Bott 1971a:268).
Wie in Händen des Grafen zusammengelegter Boden an Zuzugswillige ausgeteilt werden solle? Das ausgewählte Terrain innerhalb der Umwallungslinie war 1597 gemessen an der inzwischen geschrumpften Nachfrage auf zunächst nur sechzig bis hundert bekannte Bauwillige aus Frankfurt, bei weitem zu groß: Schließlich bot es Platz für neunhundert Bauparzellen (Zimmermann 1919:336-337), sodass die erste Austeilung, unbeschwert durch die laufenden Verhandlungen zur Bodenneuordnung, in dem bereits in der Hand des Grafen liegenden Terrains vor sich gehen konnte. Für die erste Austeilung hatte der Graf den 7. April 1597 festgesetzt und zehn Baublöcke in der Umgebung des Marktplatzes freigegeben; ein öffentliches Plakat lud zur Besichtigung und zum Verkauf entsprechend den in der Kapitulation für die einzelnen Lagen festgesetzten Taxpreisen von hundert, achtzig und fünfzig Florin je Morgen ein (Bott 1971a:130). Mitte Mai 1597 wurden weitere fünf Baublöcke zur Austeilung freigegeben (Bott 1971a:134). Die Bauparzellen waren indes auf den Baublöcken noch nicht abgesteckt, da jeder „nach seinem eigenen Vermögen“ entscheiden sollte, in welcher Lage, in welcher Größe und in welcher Anzahl er Häuser zu bauen vermochte und gedenke (Abb. 4). Bei der Auswahl spielte bei den Kaufinteressenten nicht allein die Entscheidung über das eigene Wohnhaus (eventuell mit Werkstätte oder Kontor) eine Rolle, sondern auch die Spekulation auf steigende Boden- und Gebäudewerte, also die Erwartung eines absehbar starken Bevölkerungszuwachses und damit gesteigerter Bodennachfrage aus Ländern und Städten, wo die Vertreibung von Calvinisten anhielt (Bott 1971a:339 f.). Wer also früh kam und über ausreichende Mittel verfügte, konnte sich beim anfänglich großen Angebot mit Bauparzellen verschiedener Lage günstig und recht risikolos „eindecken“. So kam es, dass zwölf Wohlhabende als „Investoren“ auftraten, indem jeder einen ganzen Baublock in bester Lage als Bauland erwarb (Bott 1971a:Dok. 16 b), diesen nach eigenem Ermessen parzellieren konnte und je nach Art und Intensität der Nachfrage, zu verkaufen oder aber auch zur Vermietung zu bebauen gedachte (Bott 1971a:151, 428).34 Wessen Vermögen jedoch beschränkt war, konnte als einzelner „Häuslebauer“ nur ein schmales Grundstück in minderer Lage erwerben, das er mit nur einem kleinen Haus für den eigenen Bedarf bebauen konnten; wieder andere taten 34 | Um unerwünschter „Bodenspekulation“ entgegen zu treten und zu verhindern, dass Baugrundstücke unbebaut liegen blieben, beschloss der Stadtrat im Februar 1605: Ab Grunderwerb waren „Baugrundstücke noch in dem selben Sommer zu bebauen“, danach sei „der Bauplatz an den ersten Käufer, der gewiss bauen will, abzutreten“ (Bott 1971b:95).
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sich zu einer Baugemeinschaft von zwei oder mehreren zusammen, erwarben gemeinsam ein Grundstück und bauten gemeinsam ein Haus (Bott 1971a:458462). In jedem Fall vermaß der beauftragte Geometer bei der Austeilung die Bauparzellen gemäß dem vom Bauwilligen angegebenen Flächenbedarf und steckte deren Grenzen auf dem gewählten Baublock ab. Der Stadtschreiber hielt nach Bezahlung des vollen Kaufpreises die zugeteilte Parzellennummer, Name des Käufers, Lage, Flächengröße und geleistete Kaufsumme in einem grundbuchartigen „Vermessungsbuch“ fest (Bott 1971a:Dok.16b). Abb. 4: Östlicher Ausschnitt: Die von E. Zimmermann rekonstruierte Karte der Baugrundstücke der Neustadt auf dem Stand von 1750 mit numerischer Blockbezeichnung und den Jahreszahlen des ersten Ankaufs
Wie private Häuser gebaut und wie sie gestaltet werden sollen? Der Erwerber einer Bauparzelle in der Neustadt war, gemäß Kapitulation, verpflichtet, die Bürgerschaft zu erwerben, dabei das Bürgergeld von fünfzig Florin zu entrichten und (mindestens) ein Haus zu bauen. Seine Baufreiheit war nur begrenzt durch die Bindung jedes einzelnen Bauvorhabens an die Bauordnung, welche Bauweise, Geschosszahl und Baumaterial vorgab (Abb. 5, 6): Die Einhaltung der Vorgaben wurden durch die Beauftragten des Grafen an den „Bautagen“ überprüft und, sofern als gut erachtet, die Baugenehmigung erteilt. Insbesondere war es jedem Bauherren laut Kapitulation gestattet, in seinem Haus nach Bedarf auch gewerbliche Feuerstellen vorzusehen (unter anderem Backofen, Sud- und Färberkessel), wobei „solches mittels Einhaltung der Bauordnung geschehe“35, also „ohne Feuersgefahr, bösen Geruch und 35 | Eine die Bauordnung ergänzende „Brandordnung“ wurde 1602 im Rat behandelt; ihr Inhalt ist nirgends dokumentiert.
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Unreinlichkeit“ (Bott 1971a:435). Eine Vorschrift für die Gestaltung der Fassaden, die durch ein “Hausmodell“ vorgegeben gewesen wäre, ist nicht bekannt und auch nicht in der Vielfalt der auf alten Fotografien im 19. Jahrhundert abgelichteten Häuser aus der Gründungszeit (Scheffer-Hartmann 2006:40-43, 53-56) auszumachen.36 Die Beauftragung von Handwerkern aus Hanau oder dem Umland war gänzlich Sache der Bauherren.37 Um den Bau privater Häuser nicht durch Engpässe bei der Bereitstellung von Baumaterial aufzuhalten, hatte der Graf 1601 einen Bauhof einrichten lassen zur Lagerung von Back- und Hausteinen, Bauholz, Dachziegeln, Sand und Kalk, die, unter dem „Bauregiment“ stehend, nach voraussehbarem Bedarf auf dem Landoder Wasserweg herbeigeschafft und von den Bauherren gegen Barzahlung abgeholt wurden (Bott II 6). Abb. 6: Fassade des 1601 gebauten bürgerlichen Doppelhauses am Marktplatz von H. Schelkens und C.van Daele
Wie die nötige Infrastruktur in der Stadt geschaffen werden könne und solle? Für eine Übergangszeit von einigen Jahren war die noch geringe Anzahl Neustädter Bürger gezwungen, öffentliche Infrastrukturen, wie Spital, Gefängnis, Stadtwaage, Fleischmarkthalle etc. in der Altstadt zu benutzen; erst als ab 1605 die Steuereinnahmen stärker zu sprudeln anfingen, ließ der Neustädter Magistrat schrittweise zum Beispiel mit Wasser aus der Kinzig gespeiste öffentliche Brunnen auf dem Neustädter Markt bauen, auch eine Fleischmarkthalle, ein Gefängnis und einen Neustädter Friedhof anlegen.38 Die Pflasterung von Straßen war in der Kapitulation den privaten Hauseigentümern zugefallen, die Pflasterung der beiden großen Plätze und die Anlegestelle am Hafen 36 | Die strukturelle Ähnlichkeit der Hanauer traufständigen zwei- bis drei-geschossigen Häuser, deren Dächer oft mit Zwerchgiebeln versehen waren, beruhte, neben der Bauordnung, wohl vor allem auf der örtlichen Handwerkstradition. 37 | In den Ratsprotokollen werden zuweilen auch Bauhandwerker aus Frankfurt erwähnt (Bott 1971a,b). 38 | Von Abwasser- und Fäkalienentsorgung ist nirgends die Rede.
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zunächst dem Grafen, ab 1601 der Neustadt. In einem Bericht des Stadtschultheißen von 1604 wird indes angemerkt, dass die Hauseigentümer nur noch einen schmalen Streifen vor ihren Häusern pflasterten, sodass dem Magistrat die Pflasterung der restlichen Breite dazwischen zufalle (Bott 1971b:85); ferner dass dieser aus Geldmangel den Marktplatz nicht ganz pflastern könne, sondern die ungepflasterte Fläche einstweilen nur mit Kies aufschütten lasse (Bott 1971b:104 f.). Abb. 5: Fassade des 1599 gebauten Bürgerhauses am Marktplatz von C. Lescailliet; Bauaufnahme von 1914
Einige vermögende Bürger finanzierten immerhin einige wichtige Infrastrukturbauten durch Spenden: Zu Teilen zumindest die wallonisch-niederländische calvinistische Doppelkirche ab 1600,39 das Versammlungshaus „Die Arche“ 1599 und das Neustädter Siechenhaus ab 1603. Auch stiftete 1602 ein Bürger am Marktplatz zu dessen nächtlicher Beleuchtung eine „Pech-pfanne“ samt deren dauernden nächtlichen Betrieb (Bott 1971b:20).
39 | Die Idee zur Kirche hatte Philipp Ludwig II. aus den Niederlanden mitgebracht und in ihr pflegte er auch nach Fertigstellung (1608) am Gottesdienst teilzunehmen (Bott 1971b:120, 425).
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Ob und wie für die Armen Wohnraum geschaffen werden könne und solle? Beim Bau und im produzierenden Gewerbe wurden in zunehmendem Maß Hilfskräfte benötig, die auf Grund ihres niedrigen Lohns sich weder eine Unterkunft bauen, noch anmieten konnten. Die Verleger unter den Zuwanderern hatten schon 1596 die Bitte an den Grafen herangetragen, für ihre künftig dringend benötigten Arbeitskräfte in Hanau billige Wohnungen in ausreichender Zahl zu schaffen; etwas vorschnell hatte sich der Graf im Januar 1597 bereit erklärt, „wenn diese selbst den Armen beim Bauen helfen, wolle auch er sich in entsprechendem Umfang dazu bereit erklären und dafür nur bescheidene Mieten fordern“ (Bott 1971a:Dok.5). Doch jahrelang wurde die Frage nach der Bereitstellung der notwendigen Finanzmittel zwischen ihm und den Gewerbetreibenden hin und her geschoben (Bott 1971a:279, 280, Dok. 28a). Schließlich sah der Graf um 1605 eine Lösung darin, dass er das bislang praktisch wertlose schmale Gelände im Süden innerhalb der Neustadt-Umwallung, zinslos für den Bau von „Häusergen“ (= Hütten meist aus Holz; Abb. 7, 8) zur Verfügung stellte, die von den Gewerbetreibenden für ihre Hilfskräfte oder auch in Selbsthilfe zusammengezimmert wurden (Bott 1971b:94). Dies führte wegen der „großen Konfusion der Bebauung“ (Bott 1971b:183) und der Verschmutzung des Gebiets,40 der Ansammlung von „Gesindel“ (Bott 1971a:432) und der Beschädigung der Umwallung (Bott 1971a:99, 263, 301) zu öffentlichem Ärgernis und im März 1609 wurde der Ruf nach „Abriss“ laut (Bott 1971b:245). Dies unterblieb allerdings, da auch der Graf nicht wusste, wohin mit den armen Bewohnern. Diese vermochten indes ihre Hütten im Lauf der Jahrzehnte zu verbessern und teilweise auch mit Mauerwerk aufzubauen. Das den Calvinisten nachgesagte Pflichtbewusstsein gegenüber ihren armen Glaubensverwandten kam hier dennoch nicht recht zur Geltung.
40 | Das „Exkrementieren an und auf dem Wall“ wurde 1612 ausdrücklich verboten (Bott II, 338).
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Abb. 7: Vogelschauplan von Hanau von C. Metzger, 1663. Idealisierte Darstellung mit einheitlich zweigeschossiger Bebauung und an der Stadtmauer im Süden die eingeschossigen „Häusergen“ für die Armen
Abb. 8: Fotografie um1936 der Gärtnerstrasse längs der Umwallung mit den inzwischen massiv gebauten „Häusergen“ der Tagelöhner und Handlanger
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D REI B IL ANZEN Drei Bilanzen lassen sich – in groben Zügen – für die Anfangszeit bis 1612 aufmachen. Zunächst: In wieweit erfüllten sich die anfänglichen Erwartungen beider Vertragsseiten an die neue Stadterweiterung? Dann: Wie sah der geschäftliche Erfolg der Produktion der Stadterweiterung aus? Schließlich: Was und wie viel trug das Hanauer Beispiel zum Wandel der zeitgenössischen absolutistisch-zentralistischen Planungskultur im damaligen Deutschen Reich bei?
Zur Bilanz der Er füllung anfänglicher Vorstellungen von der Stadter weiterung und ihren Wirkungen Die großen Hoffnungen, die der Graf und die Zuzugswilligen sich zu Anfang selbst gemacht und gegenseitig als Versprechen für eine gemeinsame große Zukunft in ihre Verhandlungen eingebracht hatten, zerrannen bald nach Aufnahme der Stadtproduktion 1597: Allem voraus wurde Hanau in Konkurrenz zu Frankfurt kein „großer Handelsplatz (mit eigener Börse), von dem man für alle Zeiten nur in Ehren sprechen wird.“ Im Gegenteil: Sowohl der Graf, als auch die „Umzieher“ hatten sich mit der Stadterweiterung unter anderem beim Erzbischof von Mainz, der Stadt Frankfurt, den Alt-Hanauern und manchem „Dableiber“ in Frankfurt Feinde gemacht; eine Entwicklung, von welcher der Graf tief enttäuscht war (Bott 1971b:330). Jedoch ging aus der unvorhergesehenen Spaltung der Frankfurter Calvinisten von 1597 etwas unerwartet und nachhaltig Neues hervor. Zunächst war Hanau für die Religionsflüchtigen schon bald „kein Unterschlupf mehr, sondern eine endgültige Gründung“ (Bott 1971a:343). Auf dieser Grundlage aber wuchs Hanau nicht zur „Handelsstadt“ heran, sondern nach des Grafen Tod zu einer bedeutenden Gewerbestadt. Grundlage dafür waren in der Neustadt die investitionsbereite Verlegerschaft und die zunehmende, hoch qualifizierte Facharbeiterschaft, zunächst in der Textilherstellung (Wolltuch und Seite) in breiter, arbeitsteiliger Auffächerung (See 1997:216). Hierzu bot die von den Zuzugswilligen 1597 hart erkämpfte und damals ungewöhnliche Steuerbefreiung aller in Hanau erzeugter Waren einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Frankfurt und anderen Städten. Damit aber bildete sich im Zusammenspiel mit den Unternehmern der Messe-, Handels- und Finanzstadt Frankfurt ein räumlich zwischen Produktion und Distribution arbeitsteilig spezialisiertes StädteTandem in schon fast moderner Weise heraus.
Bilanz des geschäf tlichen Er folgs der Hanauer Stadter weiterung Eine den Grafen anfangs stark motivierende Hoffnung war auf gesteigerte Steuereinnahmen aus der Stadterweiterung gerichtet gewesen. In den ersten zwei Jahrzehnten des Aufbaus jedoch stieg der jährliche Steuerertrag des Grafen nur gering (Abb. 9, 10), von dem er zudem wieder, gemäß Transfix,
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der Neustadt als Investitionsbeihilfe jährlich 1.500 Florin zur Verfügung zu stellen hatte. Demgegenüber schwankte der Steuerertrag der Neustadt stark. Indem die Bevölkerung nämlich wuchs, stieg dort zwar die Jahreseinnahme aus Steuern (gemäß ihrer hälftigen Teilung) im gleichen Maß, wie beim Grafen; zugleich stieg aber auch der Kapitalbedarf für die Infrastruktur, der nur aus den verfügbaren Steuereinnahmen (plus dem Investitionszuschuss des Grafen) genommen, oder aber durch einen zusätzlich aufgenommenen Kredit zu finanzieren war. Vom Ertrag fraßen die Investitionen in die Infrastruktur also meist mehr als den jährlichen Zuwachs auf, sodass die jährlich auflaufenden Schulden „teils auf die nächste Rechnung vorgetragen, teils von den Ratsherren vorgestreckt oder (von ihnen) als Darlehn vergeben werden“ (Bott 1971b:31, 42, 67). So hatte die Neustadt bis Ende 1608 beachtliche 10.572 Florin an Darlehnsschulden „zu erträglichen Zinsen“ von fünf Prozent (Bott 1971b:34, 42) angehäuft (Bott 1971b:233). auch der Graf gewährte gelegentlich Kredit, stellte hin und wieder Boden zur Verfügung und für den Bau der Stadtumwallung saisonweise die minimal bezahlte Arbeitskraft seiner fronpflichtigen Untertanen aus der Grafschaft (Bott 1971b:211, 266, 287). Insgesamt stellte die Stadterweiterung also eher eine lang währende und riskante finanzielle Belastung dar als ein „gutes Geschäft“, was damals auf potentielle Nachahmer aus dem Kreis der Fürsten möglicherweise abschreckend wirkte. Die geringe Anzahl befestigter Stadtgründungen und –erweiterungen im 17. Jh. lässt dergleichen vermuten. Abb. 9: Jahresbilanzen von Neu Hanau (aus: Bott 1971 II, 31, 127, 165 f., 193, 233 f., 266, 285 f., 322 f.) Jahr
Halb-Einnahmen fl.
Ausgaben fl.
EigenErtrag fl.
Invest.Zuschuss des Grafen fl.
Verfügbarer Ertrag fl.
Anmerkungen
1602
1.530
3.327
- 796
1.500
+ 704
Negativer Ertrag erforderte Kreditaufnahme
1605
1.576
3.769
- 2.193
1.500
- 793
Halb-Einnahme = 50 % d.er Gesamteinnahme
1606
1.862
2.259
- 396
1.500
- 1.104
1607
1.607
1.516
+ 91
1.500
+ 1.591
1608
2.061
5.852
- 3.790
1.500
- 2.290
1609
2.564
5.141
- 2.577
1.500
- 1.077
1610
2.034
5.204
- 3.161
1.500
- 1.661
1611
1.786
2.408
- 622
1.500
+ 878
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Abb. 10: Daten zur Hanauer Neustadt Größe des Terrains innerhalb der Umwallung; ca. 265 Morgen = 66,25 ha; (wahrscheinlich 1 Hessischer Morgen = 0,25 ha (Trapp, 235), davon ca. 1/3 Gärten Alt-Hanauer Bürger und 2/3 Äcker ( Zimmermann, 636). Anzahl der auf dem Terrain eingeteilten Bauparzellen bis 1751: ca. 900 (Zimmermann, 636). Beginn und Fertigstellung: a) der Stadtumwallung: 1597 - 1618 ; Schleifung: 1767; b) des Kanals mit Hafenbecken und Kran: 1604 - 1619 (Bott II, 355) Zuschüttung Hafen : 1715 Jährlich aufgenommene Neubürger (= Haushalte) 1598-1600: 97; 1603-1606: 266; 1607: 170; 1608: 127; 1609: 204; 1610: 130 (ibid. 367) Steuerpflichtige Haushalte: 1605: 209; 1607: 328; 1610: 553; 1611: 595; 1620: 772 (ibid.) Bestand fertig gestellter Wohnhäuser: 1600: 18; 1618: 364; 1638: 668; 1736: 924 (ibid.). Gültigkeit der zwei getrennten Verfassungen für Alt-Hanau und NeuHanau: 1601- 1832. (Bott I, 344)
Bilanz des Wandels von Planungskultur Auch beim Aspekt des Wandels der Planungskultur ist die Bilanz ernüchternd, denn die in den Fürstentümern des „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“ vorherrschende absolutistisch-zentralistische Planungskultur änderte sich bis zu dessen Ende (1806) kaum, abgesehen von einigen wenigen punktuellen Ausnahmen und gelegentlichen Ausweitungen des Fächers der Privilegien, die ein Fürst Zuzugs- und Bauwillen gnädig gewährte.41 Einer paternalistisch-partizipatorischen Planungskultur jedoch, bei der die 41 | Unter anderem Frankenthal als eine etwa gleichzeitige, jedoch viel enger in den calvinistischen Absolutismus der Pfälzer Kurfürsten eingebundene Ausnahme; auch Erlangen ab 1686 als noch andersartige Ausnahme mit zwar vielen Privilegien, aber keiner Partizipation bei der Planung der Neustadt (Friederich, 123-127).
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Betroffenen nicht nur an der Stadtproduktion, sondern auch am Zustandekommen des dafür geltenden Normen- und Interaktions-Systems aktiv mitwirkten, stand damals die Furcht der Fürsten entgegen, dass sie mit deren Anerkennung ihr Gottesgnadentum in Frage stellen oder dessen Grundlagen erschüttern konnten – selbst noch als sie sich im 18. Jahrhundert selbst zu „aufgeklärten Absolutisten“ und „ersten Dienern ihres Staates“ erklärten. Denn bereits vor 1500 hatten die Beispiele der Republiken Venedig und Genua, vor 1600 die republikanische Schweiz und die Republik der niederländischen Generalstaaten und bald danach im 17. Jahrhundert das konstitutionell-parlamentarische England und die europäischen Glaubensflüchtlinge aus Europa, die die „Neue Welt“ von Amerika als „Geschenk Gottes“ ansahen und diese für sich beanspruchten, gezeigt, dass selbstständige, aufgeklärte, tatkräftige und humanistisch gebildete Menschen in Selbstbestimmung und Freiheit ihre Gemeinwesen – mit dem Volk als Souverän – aufzubauen in der Lage waren. Gleichzeitig aber wurden die auf der Grundlage ihres Feldherrentums und eines überholten Feudalismus stehenden Fürsten, die ihre Untertanen in Fronpflichtigkeit, Unselbständigkeit und Unbildung hielten, überflüssig. Große Gemeinwesen mit republikanischen oder konstitutionellen Verfassungen und Freiheiten reichten bei der Stadtproduktion bereits damals weit über das hinaus42 , was in Neu-Hanau um 1600 erreicht worden war. In dieser Hinsicht war die dortige Planungskultur zwar schon „moderner“ als die absolutistische, zugleich aber auch rückständiger als die gleichzeitige republikanische. So war mit der Hanauer Neustadt ein Paradigmenwechsel der Planungskultur lediglich erprobt, konnte aber als Vorbild weder erkannt noch anerkannt werden. Neu-Hanau blieb im Rahmen der Kapitulation und des Transfix einerseits eine erstaunliche Interimslösung für die sich darin entfaltende und die besonders günstigen Umständen in einem nur kurz geöffneten Zeitfenster nutzende Planungskultur, blieb jedoch unter den Städten des Deutschen Reichs ein Unikat, vielleicht, wäre es nicht langfristig so erfolgreich gewesen, ein Unikum.
42 | Als Beispiel sei nur die große Amsterdamer Stadterweiterung mit dem vierfachen Grachtenring von 1609 angeführt (Burke, 147 ff.).
Stadtbaupläne in der Rheinprovinz im frühen 19. Jahrhundert Formelle Planung und ihre Aushandelungsprozesse Hildegard Schröteler-von Brandt
Im Übergang zum 19. Jahrhundert wurde das Wachstum der Städte und die Fortentwicklung der Industrialisierung durch die veränderten politischen, gesellschaftlichen und bodenrechtlichen Verhältnisse neu geregelt. Privateigentum und privatwirtschaftlicher Umgang mit Grund und Boden setzten nun andere Maßstäbe und bilden bis heute den Rahmen der städtebaulichen Entwicklung und Stadtplanung. In der Übergangsphase von der alten landesfürstlichen Planung zum privatwirtschaftlichen Städtebau gingen die zentralen Rechte über die Nutzung und Gestaltung der Städte in die Hand des privaten Grundbesitzes über und die noch unter den Landesfürsten massiv wahrgenommenen öffentlichen Eingriffsmöglichkeiten wurden zurückgedrängt. Die öffentliche Planung verlor in dieser Übergangsphase an Bedeutung. Unter den neuen sozioökonomischen Verhältnissen wurde die Stadtentwicklung nun von einer Art Arbeitsteilung zwischen der sich herausbildenden öffentlichen Hand und den Privaten vorangetrieben (Fehl 1991). Die öffentliche Hand, das heißt die Gemeindeparlamente und Verwaltungen, übernahm zum Beispiel mit der Festsetzung der Straßen- und Baufluchtlinien oder durch bauordnungsrechtliche Festlegungen den Part der Planung. Die Umsetzung und das „Bauen“ erfolgten durch die privaten Haus- und Grundbesitzer. Durch den Verkauf des städtischen und staatlichen Besitzes wurde in nur wenigen Jahrzehnten (bis 1830) auch die Privatisierung des städtischen Bodens weitgehend vollzogen. In den großen Verfassungswerken wie dem Preußischen Allgemeinen Landrecht (1794) oder dem Code Civil (1804) wurden die Unantastbarkeit des privaten Bodeneigentums und die vom Grundsatz her private Baufreiheit festgeschrieben. Doch die großen Verkehrs-, Umwelt- und Wohnungsprobleme in den schnell wachsenden Industriestädten konnten zunehmend nur durch öffentliche Interventionen gelöst werden.
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In der preußischen Rheinprovinz wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitreichende Erfahrungen im Umgang mit den neuen Akteurskonstellationen bei der Stadtentwicklung und deren Interessen gesammelt (Schröteler-von Brandt 1998). Mit dem sich herausbildenden Instrument der „formellen“ Planung sollte eine indirekte, Rahmensetzende Steuerung der Stadtentwicklung erfolgen. Das in der Rheinprovinz praktizierte Verfahren wurde nicht nur Grundlage der formellen Planung in Deutschland, sondern es wurden zudem grundlegende Erfahrungen bei dem Zusammenspiel der staatlichen und der neuen privaten Akteure bei der städtebaulichen Planung gewonnen. Gleichzeitig zeigten sich die Grenzen der planerischen Vorgaben: Die notwendige Mitwirkung der privaten Akteure bei der Umsetzung und die Konfliktpunkte zwischen Planung und Umsetzung setzten sich als dauerhafte Problematik im modernen Städtebau durch. In diesem Sinne sind auch die neuen Steuerungsmodi im Rahmen von „Kooperativer Planung“ oder „Urban Governance“ bis heute Versuche, das alte Dilemma der städtebaulichen Planung zu lösen. Im Sinne der Betrachtung der historischen Herausbildung von Governance-Strukturen (Selle 2005:116-123) können die frühen Planungsprozesse im Anschluss an die napoleonische Planungsära ab 1816 im preußischen Rheinland als Beispiel gelten. Auf der Grundlage eines wachsenden Einflusses der lokalpolitischen Entscheidungsinstanzen und der kommunalen Selbstverwaltung bildeten sich Regelungssysteme für eine ordnungsorientierte Steuerung der Stadtentwicklung heraus, bei denen weitreichende Aushandlungsprozesse zwischen kommunaler Politik und Verwaltung sowie privaten Akteuren organisiert wurden. Die in Deutschland ausgeprägten öffentlichen Verwaltungen der Städte und Gemeinden mit ihren erheblichen Interventionsbefugnissen bauen auf der Tradition einer relativ starken städtischen Selbstverwaltung auf, deren Linien bis in die mittelalterliche Stadt zurückreichen (Häußermann/Helbrecht 2005). Den Kern der lokalen Politik- und Aushandelungsprozesse stellten die Gemeinderäte beziehungsweise Stadtverordnetenversammlungen dar (Evers 2004). Die Steuerungsmöglichkeiten von Stadtentwicklungsprozessen und die Beeinflussung marktwirtschaftlicher Prozesse zeigten sich lokal in sehr differenzierter Form und standen in direkter Abhängigkeit zu den jeweiligen lokalpolitischen Konstellationen. Steuernde Eingriffe in markt- beziehungsweise privatwirtschaftliche Prozesse konnten zumeist nur bei hohen öffentlichen Finanzzuweisungen Erfolge verzeichnen.
D IE PREUSSISCHE R HEINPROVINZ UND DIE A USGANGSL AGE FÜR DIE ÖFFENTLICHE P L ANUNG Mit der Eingliederung der Rheinprovinz erhielt Preußen eine ökonomisch starke und gewerblich weit entwickelte Region zugeteilt. Bereits im 18. Jahrhundert hatte im Rheinland – unterstützt durch die merkantilistische Wirt-
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schaftspolitik der kleinen Fürstentümer – eine gewerbliche Entwicklung begonnen, die durch die französische Herrschaft von 1794 bis 1815 bekräftigt worden war. Das Bürgertum als tragende Kraft konnte den im Grundsatz fortschrittlichen Charakter der französischen Besatzungsmacht für sich nutzen; insbesondere die Unterstützung der privatwirtschaftlichen Tätigkeit durch das Handels- und Aktiengesetz, durch Gewerbefreiheit und die Beseitigung grundherrlicher Abhängigkeit, sowie durch die Absicherung dieser Rechte im Code Civil (1804). Diese einmal errungenen Rechte wurden nach 1815 erfolgreich unter Preußen verteidigt und begünstigten die Sonderolle der Westprovinz. Die neben Sachsen ökonomisch am weitesten entwickelte Provinz verdankte ihren rasanten Aufschwung nicht zuletzt der Textil- und Montanindustrie. Das räumliche Wachstum erfolgte gleichermaßen im Zentrum der Städte und in den umliegenden Industriedörfern als eher weitläufige Urbanisierung. Viele Industriearbeiter beziehungsweise hausindustriell Tätige lebten in den Dörfern und betrieben nicht selten landwirtschaftlichen Nebenerwerb. Bedingt durch die Lage der neuen Industriestandorte in der Nähe der Rohstoffvorkommen und durch die hausindustrielle Organisation der Textilindustrie ergab sich eine breite gewerbliche Durchdringung von Stadt und Land. Es entstand ein dichtes Netz an kleinen Städten. Im Durchschnitt verdoppelte sich die Einwohnerzahl in den gewerblich ausgeprägten Städten bis 1850 (Lewald 1965). Begünstigt wurde diese Form des dezentralen Wachstums und der Verdichtung der bestehenden Zentren und Dörfer durch die Baufreiheit, nach der es in der Rheinprovinz grundsätzlich erlaubt war an bestehenden Straßen und Wegen zu bauen. Nur im Geltungsbereich der Stadtbaupläne regelten die hier getroffenen Festsetzungen den Bauprozess. In der Folge zeigten sich immer größere Probleme beim ungehinderten Wachstum der Städte, Dörfer und Fabrikstandorte. Vor allem die Befürchtungen über Behinderungen des Verkehrsflusses und die Sorge um fehlende Flächen für Marktplätze, Schulen, Kirchen oder Bahnhofsvorplätze wuchsen. Somit entstand ein wachsender Handlungsbedarf hinsichtlich einer städtebaulichen Steuerung bei den königlichen Bezirksregierungen und der Baubeamtenschaft in ihrer, der landesfürstlichen Tradition entsprechenden Funktion als Landespolizeibehörde. Sie mussten sich neben der dynamischen räumlichen Entwicklung nunmehr mit den Gesetzmäßigkeiten des neuen privaten Bau- und Bodenmarktes und mit den neuen Akteuren auseinandersetzen. So stellte sich die frühe Planung im Rheinland als intensive Lernphase dar, in der umfangreiche Erfahrungen gesammelt wurden: Die Planenden griffen dabei das Instrument des französischen Alignement-Plans auf und führten ihn als Rheinischen Stadtbauplan weiter. Dieser wiederum bildete die Grundlage für die Entwicklung des preußischen Fluchtlinien- und damit unseres heutigen Bebauungsplans (Schröteler-von Brandt 1998). Insbesondere im napoleonischen Frankreich hatte man sich schon früh auf die veränderten Bedingungen eingestellt: Das neu erlangte Eigentumsrecht sollte geschützt und gleichzeitig staatliche Interessen durchgesetzt werden. So
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wurden die staatliche Intervention beibehalten und im Sinne des „Allgemeinwohls“ Planungen von Straßen-, Kanal- und Deichbau sowie zur Trockenlegung von Sümpfen erstellt. Hier waren oft weitreichende Eingriffe in das Privateigentum notwendig. Um die Rechte der Privaten zu schützen, wurde daher ein umfassendes, dezidiertes Enteignungsrecht erlassen. Voraussetzung für eine Enteignung des so genannten „öffentlichen Nutzens wegen“ waren ein vorheriger Beschluss und die Festsetzung einer „gerechten“ Entschädigungssumme. Mit den französischen Enteignungsgesetzen von 1807 und 1810 wurde die Grundlage für alle folgenden Enteignungsgesetze in Europa gelegt (Schröteler-von Brandt 1998:84-100)1. Neben den Enteignungsgesetzen wurde mit den Alignement-Plänen das Instrument der städtebaulichen Planung fortentwickelt. Nach einem Dekret von Napoleon von 1808 erhielten auch im Rheinland die Bürgermeister den Auftrag Alignement-Pläne zwecks Verbreiterung von Altstadtstraßen und zur Steuerung der Stadterweiterung aufzustellen. Beim Übergang an Preußen 1816 wurden die napoleonischen Enteignungsgesetze und die Planungsdekrete im Wesentlichen beibehalten und mussten nur ins Deutsche übersetzt werden. So wurden die Arbeiten an den Alignement- bzw. Stadtbauplänen ungebrochen fortgeführt und zum Beispiel 1819 der Bauplan von Krefeld und 1831der Bauplan für Düsseldorf genehmigt (Abb. 1). Mit diesem Instrumentarium aus napoleonischer Zeit im „Rücken“ und dem Erfahrungshintergrund als landesfürstliche Baumeister begannen die neuen Regierungsbaubeamten die Arbeiten an den Stadtbauplänen. Einen Aufschwung erhielt die Planungstätigkeit 1834 mit der Anordnung des Oberpräsidenten der Rheinprovinz, dass alle wachstumsstarken Städte über 2.000 Einwohner für einen Entwicklungshorizont von 30 bis 40 Jahren einen Stadtbauplan erstellen sollten. Im Regierungsbezirk Düsseldorf erging diese Aufforderung zum Beispiel an 28 Städte. 1 | Die Trennung der Gewalten zwischen exekutiver und richterlicher Gewalt sah in den französischen Gesetzen vor, dass die Planung und die Festsetzung von Enteignungstatbeständen bei der Stadt verbleiben sollte und die Festlegung der Entschädigungssumme sowie Enteignungen in die Zuständigkeit der Gerichte fielen; ein Vorgehen, bei dem die negativen Erfahrungen mit der landesfürstlichen Willkür „verarbeitet“ wurden. Weil der königliche Städtebauer Gesetzgeber, Verwalter und höchster Richter in einer Person gewesen war, konnte er das Enteignungsrecht sehr weit fassen und damit die Entschädigungspflicht in seinem Sinne großzügig handhaben. Vor diesem Hintergrund wurde die Unverletzlichkeit des Eigentums in der Revolution 1789 besonders hervorgehoben und im § 545 des Code Civil 1804 abgesichert (Mayer 1886: 240). In den französischen Gesetzen wurde nicht nur die Möglichkeit zur Enteignung des Straßenlandes, sondern auch eine darüber hinaus gehende Zonenenteignung festgelegt – die Grundlage für die Kahlschlagsanierung in Paris ab 1853. Zudem wurde die Möglichkeit eingeräumt, eine Wertabschöpfung auf planungsbedingte Wertsteigerungen vorzunehmen. Mit diesen gesetzlichen Regelungen sollte der öffentliche Spielraum für die Umsetzung der Planung vergrößert werden. In der rheinischen Praxis wurden diese Bestandteile der Gesetze kaum angewandt – zu mächtig waren die Grundbesitzerinteressen und die sie stützende Politik.
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Abb. 1: Bauplan der Stadt Düsseldorf von 1831
Bis 1864 wurden hier 15 Pläne genehmigt und 13 Verfahren eingestellt. Von den genehmigten Stadtbauplänen wurden nur wenige umgesetzt; nicht zuletzt aus diesem Grund wurde lange Zeit davon ausgegangen, dass es keine nennenswerten städtebaulichen Planungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab. Erst 1875 löste der preußische Fluchtlinienplan den Stadtbauplan ab. Die Stadtbaupläne waren großflächige Planwerke und umfassten den Altstadtbereich und die Stadterweiterungsgebiete gleichermaßen. Sie legten den Verlauf der Straßenbegrenzungslinie ähnlich einem Straßen- bzw. Fluchtlinienplan fest. Der 1864 nach 28-jähriger Planung genehmigte Stadtbauplan von Mönchengladbach (Abb. 2) zeigt deutlich die beiden Kernelemente der Planung: Einerseits Festlegung des bestehenden Straßenverlaufes mit geringfügigen Straßenverbreiterungen oder -durchbrüchen und andererseits Projektierung von neuen Straßen im Erweiterungsgebiet zumeist in der Form einer „Rasterplanung“. Die Erweiterung der Stadt sollte nach einem umfassenden Plan erfolgen; entsprechend wurde auch der alte landesfürstliche Begriff des „Stadtbauplanes“ beibehalten. Einige Stadtbauplanentwürfe beschränkten sich allerdings weitgehend auf die Festlegung von Fluchtlinien für die bestehenden Straßen und sahen nur Straßenverbreiterungen und die Beseitigung von Engpässen vor (zum Beispiel nach den Skizzen für die Baupläne für Kleve, Solingen und Rheinberg) (Schröteler-von Brandt 1998:210-238; Abb. 3).
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Abb. 2: Bau-Plan der Stadt Mönchengladbach vom Jahre 1863
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Am Planungsprozess zur Erstellung der Stadtbaupläne waren zahlreiche Akteure beteiligt, die drei Instanzen zugeordnet werden können (Abb.4). Auf der oberen Ebene der Planungsgenehmigung waren der Oberpräsident der Rheinprovinz, der den fünf Regierungsbezirken Aachen, Düsseldorf, Koblenz, Köln und Trier vorstand, die Oberbaudeputation in Berlin und der preußische König zuständig. Eine zentrale Funktion kam der Mittelinstanz mit den fünf königlichen Regierungen und hier den fachlich zuständigen Regierungsbeamten zu, die die Pläne formal und inhaltlich prüften. Hinzu kamen die Landräte, die immer als „Durchgangsstation“ zwischen der königlichen Regierung und den Gemeinden fungierten sowie die Landbau-Inspektoren und Geometer als fachlich zuständige Regierungsbauräte. Auf der unteren konkreten Planerstellungsebene waren vor allem Bürgermeister, Baukommission und Gemeinderat bzw. Stadtverordnetenversammlung sowie schließlich die privaten Grundeigentümer eingebunden. Wer waren nun die unmittelbar an der Planerstellung vor Ort Beteiligten und wie sah ihr fachlicher Hintergrund aus?
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Abb. 3: Handzeichnung von den nivellierten Straßenzügen der Stadt Solingen mit der Figuration der Alignements aus dem Jahre 1845. Die Skizze aus den Vorarbeiten zum Bauplan zeigt den Altstadtbereich und die unmittelbare Umgebung. Im Altstadtbereich sollten die bestehenden Straßen übernommen und ein neuer Platz eingefügt werden. Die Schraffur deutet die bestehende Bebauung an.
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Abb. 4: Beteiligte Instanzen bei der Erstellung der Stadtbaupläne
Zu Beginn der Bauplanerstellung in der preußischen Rheinprovinz wurden der Bürgermeister auf der Grundlage der französischen Gemeindeordnung von 1800 noch von der Regierung ernannt. Mit der Ernennung des Bürgermeisters durch den Staat unterstanden die Städte und Landgemeinden einer starken staatlichen Bevormundung. Die Gemeinderäte in Gemeinden unter 5.000 Einwohner wurden ebenfalls ernannt; in größeren wurden sie zum Teil schon gewählt (Schröteler-von Brandt 1998:149). In Preußen wurde 1808 das Selbstverwaltungsprinzip für die Städte eingeführt. Diese Regelungen waren fortschrittlicher als die staatsautoritären Eingriffe durch die Ernennung des Bürgermeisters in der Rheinprovinz. Da aber die ständische Trennung zwischen Stadt und Land in Preußen selbst nach der Revidierten Städteordnung 1831 bestehen blieb, kämpften die Rheinländer für die Beibehaltung des französischen Rechts und damit für eine Gleichstellung von Stadt und Land. Die industrielle Entwicklung in den Landgemeinden war sehr weit fortgeschritten und die hier ansässigen Unternehmer wollten nicht in eine alte, ständische Bevormundung zurückfallen – selbst unter Inkaufnahme, dass der Gemeinderat erst auf Anordnung des „bestellten“ Bürgermeisters zusammentrat. Erst mit der Preußischen Gemeindeordnung für das Rheinland im Jahr 1845 wurde insgesamt eine Gleichstellung von Stadt und Land durchgesetzt und damit die Interessen der ökonomischen Führungsschichten auch auf dem Lande abgedeckt. Die Französische Gemeindeordnung von 1800 wurde aufgehoben und die Wahl des Gemeinderates in Stadt- und Landgemeinden ermöglicht. Über einen vor Ort festgelegten Zensus erfolgte die Wahl aus dem Kreis der Hochbesteuerten. David Hansemann, ein führender Aachener Unternehmer, soll bereits 1823 gesagt haben: „Wer am meisten bezahlt [soll] doch einigermaßen das meiste Recht haben.“ (Faber 1965:141) und diese Haltung der führenden liberal-industriellen Schicht ist deutlich bei allen
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Planungen und lokalpolitischen Auseinandersetzungen spürbar. Die Ernennung des Bürgermeisters wurde allerdings beibehalten. Auf kommunaler Ebene wurde im Rheinland zudem erstmals das Dreiklassenwahlrecht durchgesetzt, bei dem mindestens die Hälfte der Vertreter im Gemeinderat Hausbesitzer sein mussten. In der Kombination von Dreiklassenwahlrecht und Zensus sicherte sich die liberal-industrielle Schicht ihre lokale Macht ab. Noch 1868 waren zum Beispiel von den knapp mehr als 20.000 Einwohnern in Mönchengladbach nur etwa 1.400 wahlberechtigt. Die Verwaltung in den Gemeinden und kleinen Städten bestand in der Regel nur aus dem Bürgermeister sowie aus ein bis zwei ehrenamtlich tätigen Beigeordneten und Hilfskräften (wie Schreiber). Auch ehrenamtlich tätige Kommissionen, wie die Baukommission, wurden eingesetzt, in denen meist die Honoratioren der Gemeinden und Städte vertreten waren. Eine Abteilung mit fest angestellten technischen Mitarbeitern, wie Geometern, war nur in den größeren Städten vorhanden. Die größten Städte wie Aachen, Düsseldorf, Köln oder Krefeld hatten eigene Stadtbaumeister in ihren Diensten. Diese beamteten und ehrenamtlich tätigen Akteure wurden seitens der königlichen Regierung bei der Erstellung der Stadtbaupläne einbezogen. Die Gemeinderatsmitglieder und Mitglieder der Kommissionen konnten ihre Kenntnisse über das Planungsverfahren und über die Rechtslage jeweils auch für die eigenen Grundbesitzinteressen nutzen (Schröteler-von Brandt 1998:442, zu den Auseinandersetzungen im Rasterplangebiet von Mönchengladbach). Durch unqualifizierte Geometer waren schon sehr früh Missstände bei der Bau- oder Straßenherstellung entstanden und so versuchte man seitens der königlichen Regierungen schon ab 1835 nur geprüfte Feldmesser und Nivellierer einzusetzen; die Prüfungsvoraussetzungen und -inhalte wurden detailliert festgesetzt. Doch qualifiziertes Personal war knapp und die wenigen Fachleute – im Regierungsbezirk Düsseldorf standen nur drei Landbauinspektoren zur Verfügung – waren mit den anstehenden Aufgaben überfordert. Die bei der Regierung angestellten Baubeamten verfügten in der Regel über eine entsprechende Ausbildung an staatlichen Bauschulen oder Bauakademien und konnten – wie Adolph von Vagedes in Düsseldorf – auch gleichzeitig die Funktion eines Stadtbaumeisters einnehmen. Die Arbeit der anfänglich ihrer Herkunft nach landesfürstlichen Baubeamten nahmen zunehmend speziell ausgebildete Fachleute mit entsprechenden Erfahrungen (zum Beispiel als Wegebaumeister) ein (Schröteler-von Brandt 1998:281).
D ER A BL AUF
DES
P L ANUNGSVERFAHRENS
Das Planungsverfahren wurde zunehmend systematisiert und diverse Instruktionen für die Erstellung der Baupläne wurden in den Jahren 1829, 1836, 1839 und 1840 von der königlichen Regierung herausgegeben. In ihnen wurden genaue Angaben zu den Vermessungsarbeiten, zur Darstellungsweise,
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zu den Blattgrößen und Planmaßstäben etc. gemacht. Die Angaben zur Straßenund Entwässerungsplanung wurden zunehmend präziser, fachlich ausgereifter und detaillierter. Das Ablaufdiagramm zum Planungsverfahren (Abb. 5) bei der Stadtbauplanerstellung verdeutlicht die Verknüpfung der Beteiligten im Planungs prozess und die im Wesentlichen durchgängige Beteiligung aller Akteure in allen Planungsphasen von der Vorbereitung über Entwurf und Offenlage bis zur Genehmigung. Insbesondere die lokale Beteiligung wurde institutionalisiert und Kommunalpolitik, Verwaltung und private Grundbesitzer in das Verfahren einbezogen und ihnen die Möglichkeit zur Abgabe von „Reklamationen“ eröffnet. Die königliche Regierung und die „Fachleute“ mussten zu diesen Einwendungen dezidiert Stellung nehmen. Abb. 5: Ablaufdiagramm zum Planungsverfahren Abkürzungen: K – Preußischer König, OB – Oberbaudeputation, OP – Oberpräsident der Rheinprovinz, K – königliche Regierung, LR – Landrat, FL – Fachleute: Landbau-Inspektoren, Geometer etc., BM – Bürgermeister, BK – Baukommission, GR – Gemeinderat/Stadtverordnetenversammlung, PR – private Grundeigentümer
Die Initiative zur Planung erging durch den Oberpräsidenten der Rheinprovinz. Diese Aufforderung gelangte über die königliche Regierung und den Landrat an die Gemeinden. Dort wurde das Planungsgebiet im Detail festgelegt und die Parzellennummern aufgeführt, die die Grenze des Gebietes bildeten. Für die Festlegung des Planungsgebietes wurde bereits eine Baukommission gebildet. Im Offenlageverfahren zur Gebietsabgrenzung erhielten auch die Bürger eine Einspruchsmöglichkeit. Zugleich wurden die Landbau-
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inspektoren beauftragt, die örtliche Katasteraufnahme durchzuführen oder die Katasterpläne zu überprüfen sowie die Nivellements aufzustellen. Zu Beginn der Planungen gab es keine generelle Gegnerschaft vor Ort und somit ging es bei den folgenden Konflikten nie um das „Ob“, sondern immer nur um das „Wie“ der Planung. Erst als sich später Umsetzungsprobleme oder die Sorge vor hohen Entschädigungsleistungen mehrten, stellten sich die Gemeinden gegen die Erstellung der Pläne und „verschleppten“ zum Beispiel die Arbeiten an der Planung. Über den Landrat, der ein eigenes Gutachten über Ablehnung, Zustimmung oder Ergänzung der gemeindlichen Gebietsabgrenzung abgeben musste, wurde der Umfang des Planungsgebietes der königlichen Regierung mitgeteilt (Abb. 6). Abb. 6: Darstellung des Geltungsbereiches des Stadtbauplanes von Mönchengladbach im Jahr der Erstellung des ersten Entwurfes 1836 sowie im Jahr der Genehmigung 1863; Am Beispiel des Stadtbauplans für Mönchengladbach wird deutlich, wie umfangreich das Planungsgebiet gegenüber der bestehenden Baufläche sein konnte. Die gepunktete Fläche stellt den Geltungsbereich des genehmigten Stadtbauplanes dar. Die drei schraffierten Bereiche erweitern diesen Geltungsbereich um die ursprüngliche Flächenabgrenzung bei der Aufstellung des ersten Entwurfes
Nach dem Beschluss über die Gebietsabgrenzung wurde von den Landbauinspektoren und Geometern vor Ort gemeinsam mit dem Bürgermeister sowie dem Gemeinderat beziehungsweise der Baukommission der Entwurf des Stadtbauplanes erstellt und dieser im Gemeinderat beraten.
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Vorangegangen waren umfangreiche Katasteraufnahmen und Nivellementmessungen. Der Entwurf des Stadtbauplans wurde vor Ort erstellt und berücksichtigte die lokalen Rahmenbedingungen zum Beispiel der Topographie oder der Eigentumsverhältnisse. Durch die unmittelbare Einflussnahme von Bürgermeister, Baukommission und Gemeinderäten beziehungsweise Stadtverordneten auf die Arbeit der Geometer konnten entsprechende Weichenstellungen erfolgen. Wenn zwischen Gemeinde, Fachleuten und Landräten keine Einigung über den Entwurf herbeigeführt werden konnte, musste dies ausführlich schriftlich begründet und der königlichen Regierung vorgelegt werden. Von ihr aus konnte wiederum ein Rückverweis zur erneuten Bearbeitung erfolgen. Am Anfang waren die Rückmeldungen oft mehr technischer Art wie unzureichende Straßenbreiten, nicht berücksichtigte Entwässerung oder mangelhafte Plandarstellungen. Sehr oft wurden die Pläne mehrfach hin und her geschickt. Die königlichen Regierungen in ihrer Funktion als „Fachaufsicht“ ordneten Planungsinstruktionen an und schlugen Änderungen vor. Erst nach Vorlage eines endgültig abgestimmten Entwurfs, der durchaus einen Kompromiss zwischen den Beteiligten widerspiegeln konnte oder auch per „Machtwort“ von der königlichen Regierung bestimmt wurde, erfolgte die Einbeziehung der privaten Grundeigentümer. Die Pläne, Gutachten und Begründungen mussten acht Tage „zu jedermanns Einsicht“ auf dem Gemeindeamt öffentlich ausgelegt werden. Die Anmerkungen konnten zu Protokoll gegeben oder schriftlich verfasst werden. Die Frist für die Einwendungen betrug vier Wochen und die Bemerkungen konnten sich auch auf fremdes Eigentum beziehen. Es musste ein „Attest“ über die Offenlage abgegeben werden. Zu den Eingaben wurde der Gemeinderat gutachterlich „vernommen“ und die „Reklamationen“ der privaten und die Anmerkungen des Gemeinderates gelangten über den Landrat zur königlich Regierung. Vor der Entscheidung des Rates erfolgte die Beratung in der Baukommission unter Hinzuziehung der Landbauinspektoren, die aus fachlicher Sicht Stellung zu den Eingaben beziehen sollten. Bei der königlichen Regierung wurden der Stadtbauplan sowie alle Verhandlungen einschließlich der Protokolle der Baukommission und des Gemeinderates sowie alle Gutachten und Stellungnahmen der Planbearbeiter geprüft. Die fachliche Seite wurde vor allem dann besonders „vernommen“, wenn es aufgrund der Eingaben der Privatleute zu Änderungen gekommen war. Die Bedenken der Bürger, die zum Beispiel in Mönchengladbach in Relation zu der beträchtlichen Größe des Planungsgebietes gering waren, konnten weitestgehend geklärt oder zumindest doch durch die königliche Regierung eine Einvernehmlichkeit mit dem Gemeinderat hergestellt werden. Die Bedenken richteten sich in erster Linie gegen Straßenbreiten und Straßenführungen. So beschwerten sich betroffene Grundeigentümer, weil die
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Straßenverbreiterung ihre Grundstücksausnutzung mindere oder ihre Grundstücke gegenüber denen der Nachbarn durch die geplante Straßenführung benachteiligt seien. Andere Einwände betrafen zum Beispiel den Wasserabfluss auf dem Grundstück, Klagen über „einseitige“ Benachteiligungen sowie die Forderung nach zusätzlichen Wegeverbindungen zwecks Erschließung von Privatgrundstücken. Neben der Schriftform gehörten zu den Reklamationen durchaus auch Skizzen zur Verdeutlichung der Wünsche, wie die Einfügung einer weiteren Straße oder die Änderung eines Straßenverlaufes (Abb. 7). Abb. 7: Stadtbauplan Mönchengladbach: Skizze zu den Reklamationen von `Hollweg und Consorten` bei der 1. Plan offenlage 1856; Die Grundbesitzer wünschten die Einführung einer weiterer Straße zwecks Erschließung ihrer Grundstücke (siehe Straßenverlauf am rechten Bildrand). Die Eingabe wurde vollständig berücksichtigt
Wenn aufgrund der Reklamationen Änderungen vorgenommen wurden, erfolgte eine erneute Offenlage. Reklamationen durften dann nur zu den Änderungen abgegeben werden. Die letzte Planfassung wurde schließlich durch die königliche Regierung förmlich beschlossen und der Gemeinde über den üblichen Weg, das heißt über die Landräte, mitgeteilt. Der Bürgermeister musste das Ergebnis den „Reklamanten“ mitteilen; diese mussten die Benachrichtigung per Unterschrift in einem „Mitteilungsprotokoll“ bestätigen. Nach Abschluss des Aufstellungsverfahrens wurde das gesamte „Planpaket“ mit allen Beschlüssen, Gutachten, Reklamationen etc. zur Prüfung und Genehmigung bei der Oberbaudeputation in Berlin eingereicht. Die Oberbaudeputation, die bis zu ihrer Eingliederung in das Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten im Jahr 1850 als selbständige Behörde fungierte, prüfte alle Unterlagen und forderte gegebenenfalls weitere Gutachten an. Die Oberbaudeputation beziehungsweise das Ministerium forderte ein nachvollziehbares und durch formale Beschlüsse von Gemeinderat und kö-
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niglicher Regierung abgesichertes Planungsverfahren ein und kontrollierte zum Beispiel die Fristen oder die Form der Planoffenlage. Als sich im Falle der Ausweisung eines Marktplatzes am Bahnhof in Mönchengladbach eine Kontroverse zwischen der Stadt und der königlichen Regierung andeutete, verlangte man in Berlin eine schriftliche Zustimmung der Stadtverordnetenversammlung und die Zurücknahme ihres Einwandes gegen den Marktplatz, bevor man der Planung stattgeben wollte2 . Schließlich erfolgte die Genehmigung durch den König; der Beschluss wurde im Amtsblatt und in der örtlichen Presse veröffentlicht. Nach Abschluss des Verfahrens konnten die Städte und die privaten Grundbesitzer „Rekurs“ beim Oberpräsidenten der Rheinprovinz einlegen; insbesondere bei Konflikten mit der Mittelinstanz der Bezirksregierungen wurden Rekursverfahren bei der „nächst höheren“ Behörde angestrebt. Das von oben oktroyierte Planungsverfahren fand somit in der realen Planungspraxis weitgehend im Konsens unter Einbeziehung der örtlichen Akteure statt, die es verstanden ihre kommunalen Interessen durchzusetzen. Insgesamt wurde ein Verfahren entwickelt und durchgeführt, welches schon sehr weitgehend dem heutigen Vorgehen bei der Erstellung der Bauleitpläne (zum Beispiel Offenlage, Fristen, Abgabe von Bedenken und Anregungen, Abwägungsvorgang) entsprach. Bei der Untersuchung der Planungsprozesse trat deutlich zutage, dass das Selbstbewusstsein der Gemeinden im Umgang mit der königlichen Regierung zunehmend wuchs und inhaltliche Änderungswünsche vorgelegt wurden. Vor allem bei zu erwartenden hohen Entschädigungskosten und Kosten für die Straßenherstellung, die bis zum Preußischen Fluchtliniengesetz 1875 allein von den Gemeinden zu tragen waren, kam es zu Änderungswünschen bei der Planung oder gar zur Einstellung der Verfahren, wie dies explizit bei Lennep, Hückeswagen oder Rheydt der Fall war (Schröteler-von Brandt 1998:226-234). Auch die Grundeigentümer begriffen ihre Macht- und Rechtsposition. Sie äußerten ihre Bedenken gegen Straßendurchbrüche und Straßenführungen, vorgesehene Straßenbreiten oder die Ausweisung von Plätzen und drohten mit dem Klageweg. Neben den Regierungen und der Genehmigungsbehörde achteten auch die Bürger auf ein formal korrektes Verfahren. In Neuß beschwerten sich zum Beispiel die Bürger bei der Bauplanerstellung, dass die achttägige Offenlage-
2 | So wurde zum Beispiel die Inanspruchnahme von Grundstücken durch die Stadt für die Anlage von Marktplätzen bei der Offenlage bemängelt oder auch vorgesehene Straßenbreiten als zu groß erachtet. Die königliche Regierung Düsseldorf wies die Stadt Mönchengladbach immer wieder darauf hin, dass infolge der regen Bautätigkeit bei weiterer Verzögerung der Plangenehmigung die Marktplatzfläche bald ganz „zerstückelt“ würde und empfahl die Grundstücke auch schon vor der Plangenehmigung freihändig aufzukaufen. Diese Möglichkeit der Sicherung der Planung ist heute im BauGB durch die Veränderungssperre und durch Vorkaufsrechte gegeben.
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frist von dem Tag der Veröffentlichung in der Zeitung und nicht vom Datum der Bekanntmachung aus gerechnet werden dürfe. Während zum Beispiel in Mönchengladbach zu Beginn der Planungsarbeiten kaum Stellungnahmen zu inhaltlichen Planungsaussagen seitens der Gemeinde erfolgten, stellte sie sich zum Beispiel 1856 unmissverständlich gegen die königliche Regierung. Diese war aus pragmatischen Gründen von ihrem eigenen Leitziel der Schaffung von rechtwinkligen Bauplätzen abgewichen, um so die Planungsumsetzung zu beschleunigen. Die Stadt hielt dagegen an der Rasterplanung und dem rechtwinkligen Bauquartier im Nordosten fest, da sie sich hierdurch eine bessere Bebaubarkeit der Grundstücke versprach und diese Aufteilung den Ansprüchen eines „besseren“ Wohngebietes entsprach. Vor allem das Mittel der Prozessführung wurde von den Privaten um die Jahrhundertmitte häufiger eingesetzt. Die Angst der Gemeinde vor kostspieligen Prozessen und zunehmenden Entschädigungsleistungen wuchs, da die rheinische Rechtsprechungspraxis zumeist zu Lasten der Gemeinde ging. Die Gerichte im liberalen und grundbesitzerfreundlichen Rheinland hatten die napoleonischen Gesetze so interpretiert und ausgelegt, dass die Urteile zugunsten der Grundbesitzer ausfielen. Die Gemeinden mit ihrer nur geringen finanziellen Ausstattung gaben schließlich nach, suchten nach Kompromissen, nahmen Gebiete wie die Altstädte, in denen sich die Planung schwerer realisieren ließ, aus der Planung heraus oder stellten die Planungen ganz ein. Die Regelungen des französischen Enteignungsrechts zur Durchführung der Planung wurden immer seltener in Anspruch genommen.
D IE A K TEURSKONSTELL ATIONEN K ONFLIK TEBENEN
UND IHRE
Innerhalb des Planungsprozesses tauchten unterschiedliche Interessens- und Konfliktkonstellationen auf. So traten neben den Interessensunterschieden zwischen der öffentlichen Planung und den privaten Eigentümern auch Konflikte zwischen den beteiligten öffentlichen oder zwischen unterschiedlichen privaten Akteuren auf. Alle Einwände mussten im Rahmen der stattfindenden Begutachtung und der Stellungnahmen benannt sowie die jeweilige Entscheidung begründet werden. In diesem Verfahren sind Vorläufer des heutigen Abwägungsgebotes nach § 1 Abs.7 BauGB zu sehen: Alle öffentlichen und privaten Interessen müssen untereinander und gegeneinander abgewogen werden. Zu Beginn der Planungsarbeiten dominierte vor allem der Konflikt zwischen den Planungsideen der öffentlichen Planungsakteure und den realen Umsetzungsbedingungen, da die noch ganz im Sinne landesfürstlicher Planungstradition agierende öffentliche Planung noch nicht realisiert hatte, dass die Planungsideen nicht mehr per Dekret von oben bestimmt werden konnten. So wurde 1829 der Stadtbauplanentwurf für Mühlheim an der Ruhr vom Stadtbaumeister Adolph von Vagedes noch ganz in dieser Tradition und nach
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deren städtebaulichen Leitbildern entworfen. Die Stadterweiterung wurde in Form einer rasterförmigen Anlage mit nahezu quadratischen Baublöcken von 100 mal 100 Meter, Baumalleen und Sichtachsen geplant sowie öffentliche Plätze und repräsentative öffentliche Gebäude vorgesehen. Die Altstadt wurde am Rande „irgendwie“ angebunden. Ein zentraler Gesichtspunkt bei der Planung für Mühlheim an der Ruhr war der in der Planung vorweggenommene Kompromiss mit der Realität, den Stadtbaumeister Vagedes hier einplant (Abb. 8). Entlang der Ausfallstraße nach Norden akzeptierte er die vorhandene Bebauung und plante quasi um diese herum, da er ansonsten mit hohen Kosten für die Entschädigung der Grundeigentümer rechnen musste. Das rationale Ordnungssystem seiner „Rasterplanung“ wurde überall dort durchbrochen, wo er den Bebauungsbestand tangierte. Vagedes war bereits bei der Planung bewusst, dass die konsequente Durchführung seiner Planungsleitlinie die Umsetzung gefährden würde. Erst 1841 wurde der Bauplan nach vielem hin und her und örtlichen Protesten genehmigt; der ursprüngliche Planentwurf von Vagedes (1829) wurde allerdings nicht realisiert (Schröteler-von Brandt 1998:209). Die Planung in Mühlheim an der Ruhr verdeutlicht, wie sich ein kompromisslerisches Vorgehen in die Planung einschlich. Nach einigen Jahrzehnten des Umgangs mit dem Instrument „Stadtbauplan“ waren diese Kompromisse jedoch nur noch selten so deutlich im Planwerk sichtbar wie in Mühlheim an der Ruhr. Die Kompromisse wurden bereits vorab im „Kopf der Planenden“ vorweggenommen: Die mit zunehmendem städtischen Wachstum unregulierten Bebauungsansätze brachten vor der Aufstellung eines Bauplans bereits soviel Restriktionen hervor, dass eine durchgängige, klare Planungsidee oder rationale Verkehrserschließung erst gar nicht mehr versucht wurden. Die meisten Stadtbaupläne stellen so sich als ein Puzzle aus rasterförmiger Erweiterung, der Anwendung städtebaulicher Elemente wie Platz, Park oder Allee und der Nachzeichnung der bestehenden Bebauungsstruktur dar. Am Beispiel des Stadtbauplans von Mönchengladbach lassen sich nur wenige rationale Planungselemente identifizieren und im Wesentlichen wurde das bereits bestehende Straßennetz nachgezeichnet (siehe Abb. 2). In Dortmund wurde im Erweiterungsgebiet des Stadtbauplan das Wegesystem der bestehenden Gärten und Feldwege aufgegriffen, weil sich die Planung durch das Aufgreifen bestehender Straßenfluchten leichter realisieren ließ (Abb. 9). Umlegungsverfahren waren noch nicht vorhanden und die Zusammenlegung und Neuparzellierung von Grundstücken war nur im Zuge privater, freiwilliger Vereinbarungen möglich.
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Abb. 8: Plan zur Vergrößerung der Stadt Mühlheim an der Ruhr aus dem Jahre 1829
Die Konflik te zwischen den öf fentlichen und privaten Ak teuren Diese dargestellte generelle Konfliktlinie zwischen Planungsidee und Umsetzungsbedingungen verstärkte sich, als sich die Grundbesitzer mehr und mehr ihrer Rechte und Einspruchmöglichkeiten bewusst wurden. Besondere Konflikte ergaben sich diesbezüglich bei den Planungen für die Altstädte. Zu Beginn der Bauplanerstellung gingen die Planverfasser, die Landbauinspektoren und Geometer, noch davon aus, auch die Altstadtstraßen zu regulieren und zu begradigen. Doch dieses Ansinnen musste bald aufgegeben werden: Sobald die Bürgermeister und Gemeinderäte sich bewusst wurden, welche große Entschädigungsforderungen auf sie zukommen könnten, protestierten sie lautstark. In Duisburg wurde die Altstadt aufgrund der Proteste der Grundbesitzer aus der Planung ausgeklammert. Der Bauplan sollte auf Beschluss der Stadt nur für die Erweiterungsgebiete aufgestellt werden (Kastorff-Viehmann 1983:192-197). Die königliche Regierung Düsseldorf war mit dieser „Ausgrenzung“ nicht einverstanden, da sie an verkehrlichen Verbesserungen in der Altstadt interessiert war. Die Regierungsbaubeamten überarbeiteten sogar den Plan für die Altstadt, bei dem sie die bestehenden Häuserzeilen stärker berücksichtigten und so die Konfliktpunkte mit den Grundbesitzern zu minimieren suchten(Schröteler-von Brandt 1998:212). Im Stadterweiterungsgebiet
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berücksichtigte der Bauplanentwurf weitgehend die bestehenden Feldwege und Parzellenzuschnitte. Abb. 9: Ausschnitt des Entwurfes des Stadtbauplanes für die Stadt Dortmund und Umgebung aus dem Jahre 1857/1858; Die projektierten Straßen wurden zur besseren Verdeutlichung nachträglich schwarz angelegt. Im Erweiterungsgebiet orientierte man sich bei der Parzellierung einerseits an bestehende Feldwege und versuchte andererseits ein Rasternetz herzustellen. Die Altstadt wurde im Wesentlichen ausgeklammert.
Doch auch die Erweiterungsplanungen gerieten in Kritik: In Mönchengladbach wandten sich zum Beispiel einige Private gegen die Anlage eines weiteren Marktplatzes am Bahnhof, da sie diesen als „überflüssig“ ansahen. Die Stadt hätte zudem wertvolle Grundstücke aufkaufen und Gebäude abreißen müssen.
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Die Konflik te zwischen den privaten Ak teuren Der Eisenbahnbau als wichtigste Infrastrukturleistung des 19. Jahrhundert griff in allen Städten tief in die Entwicklung ein. Der Verlauf der Bahnstrecken produzierte neue Lagen und reorganisierte die räumliche Verteilung der städtischen Lagerenten. Bezüglich der hier zu treffenden Entscheidungen kam es häufig zu Konflikten auch innerhalb der Grundbesitzerfraktion einer Stadt. Bei der Erweiterung des Bauplanes für Krefeld 1850 kam es zum Beispiel zu einem lokalen Konflikt betreffend der Anlage des Bahnhofes im Osten der Stadt (Schröteler-von Brandt 1998: 200). Einigen Ratsmitgliedern wurde vorgeworfen, sich durch die Entscheidung über die Lage des Bahnhofes einen eigenen Vorteil zu verschaffen, da sie dort Grundstücke besaßen. Es wurde eine Prüfungskommission eingesetzt, die zu der Feststellung kam, dass sachgerecht entschieden worden sei. Bei der Anlage der Bahnstrecke in Mönchengladbach wurden zwei Strecken beraten, die mehr oder weniger weit von der Altstadt entfernt lagen und in unterschiedlicher Weise private Flächen tangierten. In einem Fall waren die Bleichwiesen eines bedeutenden Industriellen betroffen, der massiv gegen den Streckenverlauf protestiert3. Die Mehrheit der Fabrikbesitzer war an einen zügigen Ausbau der Bahnstrecke interessiert und unterstützte die partiellen Interessen eines Unternehmers gegenüber der Bahngesellschaft nur wenig. Die Mehrheit der Fabrikbesitzer war zur tatkräftigen Mithilfe bei den Grundstücksverhandlungen und bei der Klärung der Entschädigungssummen bereit. Selbst die Übernahme einer Garantieleistung bei den Entschädigungssummen wurde in Aussicht gestellt. Die Bahngesellschaft stellte eine Liste der von der Bahn benötigten Parzellen zusammen und ließ die Stadt die notwendigen Verhandlungen führen. Die Entschädigungssumme für die zahlreichen Einzelansprüche wurde der Stadt und einem Bevollmächtigten zur Verfügung gestellt, das heißt das gesamte personalintensive und zeitaufwendige Abtretungsverfahren wurde auf die Gemeinde abgewälzt4. Die Grundbesitzer erkannten schnell die immensen Lagewertsteigerungen durch den Eisenbahnbau. In Düsseldorf wurde vom „Sprecher“ der Altstadt3 | In Mönchengladbach hatten die „alten“ Familien Krall und Widenmann sowie einflussreiche Grundeigentümer versucht, die Eisenbahnstrecke zu verlegen und damit ihre Fabriketablissements zu schonen; selbst eine Petition beim König wurde eingereicht. Der Streit war auch dann noch nicht endgültig beigelegt, als die Eisenbahnarbeiter sich schon den Fabrikgrundstücken näherten und ankündigten, mit den Arbeiten auf dem Grundstück fortzufahren. Die Fabrikbesitzer baten den Bürgermeister um den Schutz ihres Eigentums und um die Aufrechterhaltung von „Recht und Ordnung“. Der Ausgang des Konfliktes konnte leider nach der Aktenlage nicht mehr nachvollzogen werden (Schröteler-von Brandt 1998:396-411). 4 | Die Stadt übernahm sogar eine vollständige Entschädigungsgarantie. Die Übernahme dieser Garantie führte in der Stadtverordnetenversammlung zu heftigen Auseinandersetzungen, da man befürchtete, dass die Stadt „draufzahlen“ würde.
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bevölkerung sogar vorgeschlagen, die Eisenbahnverbindung über die Königallee zu führen und den Bahnhof in den Hofgarten zu verlegen (Schrötelervon Brandt 1998:266). Neben den Grundbesitzern beziehungsweise der lokalen Grundbesitzerlobby traten mit den Eisenbahngesellschaften noch einflussreichere private Akteure auf. Die Eisenbahngesellschaften konnten unter Ausnutzung der Konkurrenz der Städte um einen Bahnanschluss ihre Interessen geschickt durchsetzen und spekulierten selber oft mit Grundstücken (Wennemann, J. 1983:205-229).
Die Konflik te zwischen den öf fentlichen Ak teuren Die größte Kritik der Städte an der Planungsarbeit der königlichen Regierungen, vor allem in den 1830 bis 1850er Jahren, war der Vorwurf der praxisfernen Planung vom „Grünen Tisch“ aus. Oft waren die neuen Baufluchtlinien ohne Berücksichtigung der Realisierungsbedingungen geplant worden. So wurden zum Beispiel auf der eine Seite einer Straße die Fluchtlinien zurückgesetzt und auf der gegenüberliegenden Straße vorgerückt. Bei einer ungleichzeitigen Bebauung der beiden Straßenseiten hätte dies zu großen Beeinträchtigungen geführt (Abb. 10). In anderen Fällen entstanden schlecht geschnittene Restgrundstücke. Vor Ort ging man von einer schrittweisen Realisierung der Fluchtlinien bei anstehenden Neubau- oder Umbaumaßnahmen aus. Die Planenden orientierten sich an fachlich optimalen Planungsvorgaben und sahen oft Fluchtlinienplanungen vor, die den Abriss von ganzen Häuserzeilen zur Folge gehabt hätten. Diese tiefgreifenden Eingriffe in den Bestand unter Zuhilfenahme der Zonenenteignung (wie bei der Sanierung von Paris) standen jedoch auch bei den planenden Verwaltungen nicht ernsthaft zur Debatte. In Mönchengladbach wollte die königliche Regierung Düsseldorf einen „Diagonalweg“ einziehen beziehungsweise aufheben, da der Weg die Bauquartiere durchschnitt und die Parzellierung der Grundstücke erschwerte. Die städtische Wegebaukommission sah den Weg als unverzichtbar an und folgte dabei den Reklamationen der Grundeigentümer, die sich vehement für die Beibehaltung der Straße eingesetzt hatten, da sie von der Vorderseite aus wegen der mittlerweile geschlossenen Bebauung keine Möglichkeit mehr hatten, auf ihr hinteres Grundstück zu gelangen. Bei der vorgelegten Planung für Uerdingen suchte dagegen die Stadt nach einer fachlich optimalen Lösung. Sie forderte von der königlichen Regierung, dass die für Bauplätze zu nutzenden Parzellen möglichst parallel durchschnitten werden sollten, weil dadurch der Erwerb von regelmäßigen Parzellen erleichtert werde und die Gemeinde so nur von einem oder zwei Eigentümern Flächen ankaufen müsse (Schröteler-von Brandt 1998:226). Allerdings lassen sich auch Fälle nachweisen, wo erst bei der Prüfung durch die Genehmigungsbehörde in Berlin dilettantische Planungen auffielen und von hier aus „Nachbesserungen“ angemahnt wurden.
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Abb. 10: Beispielhafte Darstellung für problembehaftete Baufluchtlinienfestsetzungen in Altstädten zum Zwecke der Straßenverbreiterung; A: Durch ein ungleichzeitiges Heranrücken der Neubebauung an die neue Fluchtlinie kann es zu unpassierbaren Engstellen kommen.
Die oft unsachgemäße beziehungsweise nicht an der Umsetzung orientierte Planung verzögerte die Planungsarbeiten oder führte zum Boykott der Planung. Zunehmend richteten sich die Gemeinderäte gegen alle die Bestandsstruktur verändernden Planentwürfe. Zwischen 1860 und 1863 verhinderte in Mönchengladbach die „Marktplatzfrage“ die Genehmigung des Stadtbauplanes. Über die Frage der Erwerbung des für den Marktplatz erforderlichen Terrains wurde sogar von der Stadtverordnetenversammlung ein Rechtsgutachten eingeholt und eine eigene Kommission eingesetzt. Einer der größten Konflikte zwischen den Städten und der königlichen Regierung wurde hier deutlich: Die alles entscheidende Frage lautete, ob eine Gemeinde bereits dann Entschädigungen zahlen müsse, wenn sie ein Baugesuch ablehnte, welches nicht den Festlegungen des Bauplanes entsprach.
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Selbst wenn die Stadt noch nicht beabsichtigte Planungen, wie zum Beispiel den umstrittenen Marktplatz zu realisieren, musste sie bei einem verweigerten Baukonsens bereits eine Entschädigung zahlen. Auch hinsichtlich dieser Regelung lassen sich wieder Parallelen zum heutigen Planungs- und Entschädigungsrecht ziehen. Die königliche Regierung Düsseldorf musste in ihrer Stellungnahme zugeben, dass es für die Städte sehr schwierig war, die Festlegungen in den Bauplänen auch durchzuführen, da die rheinischen Gerichte bei der Verweigerung des Baukonsens durch die Stadt meistens zugunsten der Eigentümer plädierten. Der Stadtrat in Mönchengladbach lehnte den Marktplatz schließlich ab und ging in dem Konflikt mit der königlichen Regierung sogar soweit, Rekurs beim Oberpräsidenten der Rheinprovinz einzulegen. Letztendlich ließ sie ihre Bedenken im Sande verlaufen; zu groß waren die Machtstellung der königlichen Regierung und des Berliner Ministeriums in dieser Frage. Die Möglichkeiten einer Stadt, die Planungsgenehmigung hinauszuzögern und gegenüber der königlichen Regierung Verzögerungsgründe anzuführen, waren sehr mannigfaltig und äußerst „kreativ“ wurden Begründungen konstruiert. Über viele Jahre konnten Planungen verschleppt werden, bis schließlich das „Planungsgebot“ der Bezirksregierungen sich durch die vielen Einzelfallentscheidungen längs überholt hatte: Der genehmigte Bauplan hätte nicht mehr eine regulierende, sondern nur noch eine Bebauungstatbestände zementierende Funktion gehabt. Bei der Erarbeitung der rheinischen Stadtbaupläne siegten die Umsetzungsinteressen vor der rationalen Planungsidee. In der Regel konnte nur eine mit vielen Akteuren abgestimmte und in einem differenzierten Planungsprozess erstellte Planfassung zur Genehmigung gebracht werden. Der Aushandelungsprozess und die Zusammenarbeit der Akteure bei der Erstellung der Stadtbaupläne als frühe Form der formellen Planung kann als Basis für das heutige planungsrechtliche Verfahren und die Beteiligung der Privaten angesehen werden.
Auf dem Weg zur idealen Stadt Die Ausprägung der lokalen Governance in Göttingen zwischen 1866 und 1918 Jan Volker Wilhelm
An der Erweiterung der Städte in der Phase der Hochindustrialisierung, die bis zum Ende des Ersten Weltkrieges dauerte, waren Wirtschaftsunternehmen maßgeblich beteiligt. In etlichen größeren Kommunen waren Terraingesellschaften aktiv, deren Geschäftsmodell darin bestand, einzelne Flächen aufzukaufen, zu größeren Arealen zu arrondieren, sie durch die Ausweisung von Straßen und Bauparzellen baureif zu machen und möglichst lukrativ an Baugesellschaften und Bauunternehmer weiterzuverkaufen. Die Größenordnung von Terrainprojekten reichte bis zur Konzeption und Entwicklung ganzer Stadtteile. Die weitaus meisten dieser Firmen arbeiteten in Berlin und München (Fisch 1989; Bernhardt 1997; Gribl 1999). Auch in Mittelstädten waren derartige kommerzielle Terrainumlegungen üblich, wenngleich in wesentlich kleinerem Maßstab; hier lag das Geschäft zumeist direkt in der Hand von Bauunternehmen. Mitverantwortlich für diesen Umstand waren Mängel im Bodenrecht, die die Städte insofern betrafen, als die geltenden Gesetzgebungen der meisten deutschen Staaten keine kommunale Umlegung von Bauland ermöglichten. Zwischen den diversen Bodengesetzen bestanden erhebliche Unterschiede, die sich auf die Praxis der Stadtplanung auswirkten: Während Sachsen schon seit 1900 ein vorbildliches Baugesetz besaß, das Umlegungsbestimmungen enthielt, verfügten die bayerischen Kommunen noch nicht einmal über die Möglichkeit der Enteignung von Straßenland (Breuer 1985). In Preußen veranlasste das Fehlen von Umlegungsbestimmungen für Bauland den Frankfurter Oberbürgermeister Franz Adickes 1892 zu einem entsprechenden Gesetzesvorstoß, der jedoch scheiterte. Zeitgenössische Stimmen machten die Lobby der Großbesitzer und damit auch die Terrainfirmen für das Scheitern des Gesetzes verantwortlich (Baumeister/Classen/ Stübben 1897:14). 1902 trat ein auf Frankfurt beschränktes Umlegungsgesetz in Kraft, und erst mit dem Erlass des Wohnungsgesetzes vom 28. März 1918 wurde die Baulandumlegung in ganz Preußen eingeführt.
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In der Regel waren die Stadtverwaltungen also auf die Zusammenarbeit mit Terrainfirmen angewiesen. Wie sich die lokale Governance – hier das in Bezug auf die Stadtplanung und die städtische Entwicklung vorhandene Steuerungs- und Regelungssystem – jeweils gestaltete, hing von diversen Faktoren ab. Neben den staatlichen Bau- und Bodengesetzen fielen die vorhandene Grundbesitzstruktur, die Wirtschaftsstruktur und -dynamik unter besonderer Berücksichtigung der Bauwirtschaft, die örtliche Topographie, die Zusammensetzung und Orientierung des Magistrats und nicht zuletzt die beruflichen Fähigkeiten des jeweiligen Stadtbaurates ins Gewicht. Gegenstand dieser Darstellung ist die Entwicklung und Wandlung der Governance in der Mittelstadt Göttingen.1 Im Vergleich zu anderen Städten dieser Größenordnung liegt insofern ein Sonderfall vor, als die Situation vor Ort durch eine grundlegende, innerhalb weniger Jahre durchgeführte Neuordnung nahezu der gesamten Wege- und Besitzstruktur des Außenbereichs gekennzeichnet wurde. Vor diesem Hintergrund stellt sich insbesondere die Frage, auf welchem Weg diese Maßnahme durchgesetzt werden konnte und inwiefern sie sich auf die Zusammenarbeit der Stadtverwaltung mit Bauwilligen, also auf die städtebauliche Praxis, auswirkte.
D IE A USGANGSSITUATION Im Jahr 1866 besaß Göttingen rund 13.000 Einwohner.2 Dank der Lage im weiten Leinetalgraben verfügte die Stadt über eine Fülle potentieller Erweiterungsflächen. Die Bebauung konzentrierte sich jedoch noch innerhalb der frühneuzeitlichen Wallbefestigung, welche seit 1764 zur Promenade umgestaltet worden war. Um die Stadt führte eine unregelmäßige, in mehreren Abschnitten angelegte Ringstraße. Außerhalb des Walles fanden sich nur wenige Häuser; gerade erst hatte man dort aus Mangel an adäquaten Bauplätzen das Auditorium als wichtigstes Gebäude der hannoverschen Landesuniversität errichtet und in diesem Zusammenhang das erste Stadttor abgebrochen. Bis zum Ersten Weltkrieg wurde aber weiterhin an allen Eingängen in die Stadt die Akzise, eine Warensteuer, erhoben. Von der Landeshauptstadt ausgehend, hatte die Hannoversche Südbahn 1854 Göttingen und zwei Jahre darauf Kassel erreicht. Als größter industrieller Arbeitgeber spielten die Ausbesserungswerkstätten der Bahn inzwischen eine wichtige Rolle. Ansonsten basierte die sich nur langsam entwickelnde Industrie hauptsächlich auf der Weiterverarbeitung örtlicher Agrarerzeugnisse. Der größte Betrieb der Textilbranche beschäftigte 113 Personen. Handwerk und Handel profitierten stark von der Anwesenheit der Studenten und Dozenten der Universität, deren Anteil etwa fünf Prozent der Bevölkerung ausmachte. Die Wohnungssituation 1 | Soweit nicht besonders gekennzeichnet, basieren die folgenden Ausführungen auf einer Studie zur Stadtplanungsgeschichte Göttingens (Wilhelm 2006). Weiterführende Quellen siehe dort. 2 | Die politische und wirtschaftliche Situation schildert ausführlich Wehber 1995.
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war angespannt, denn obwohl der Wohnungsbedarf verhältnismäßig langsam stieg, hielt die Bautätigkeit nicht damit Schritt. Das Amt des Stadtbaumeisters war nur kommissarisch besetzt. Eine staatliche Polizeidirektion verwaltete die Bauangelegenheiten und der jeweilige Polizeidirektor saß der Baukommission vor. Das Baugewerbe dominierten die drei großen, von Maurermeistern geleitete Baugeschäfte Conrad Rathkamp & Söhne, Eduard Freise und Gebrüder Krafft. Daneben existierten mehrere Zimmereibetriebe, die jedoch vor dem Hintergrund der Verdrängung der Fachwerk- durch die Massivbauweise zunehmend an Bedeutung verloren. Die Firmenbiographien können für die damalige Umbruchsituation als charakteristisch gelten: Eduard Freise stammte aus einer alteingesessenen Zimmererdynastie und war bereits seit Jahrzehnten in Göttingen tätig, Conrad Rathkamp entstammte einer norddeutschen Maurermeisterfamilie, war als Bauführer der Hannoverschen Südbahn in die Stadt gelangt und hatte sein Baugeschäft 1861 neu gegründet, und die Brüder Carl und Friedrich Krafft waren aus Teltow zugewandert und hatten 1865 das einst renommierteste Baugeschäft der Stadt übernommen, dessen Inhaber plötzlich verstorben war.
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DER
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Der Deutsche Krieg brachte 1866 das Ende des Königreichs Hannover. In einem vergeblichen Versuch, eine preußische Invasion zu verhindern, sammelten sich die hannoverschen Truppen in Göttingen. Nach ihrer in der Schlacht von Langensalza erlittenen Niederlage und der Annektion des Staates durch Preußen wurde dauerhaft eine starke Garnison in der Stadt einquartiert, um Unruhen zu verhindern. Der Mangel an Wohnraum weitete sich dadurch dermaßen aus, dass die Stadt eine wachsende Zahl an Obdachlosen zu betreuen hatte, woraufhin eine heftige öffentliche Debatte um Ursachen und Beseitigung des Problems entbrannte. Nicht zuletzt auf das Drängen des kommissarisch eingesetzten Polizeidirektors Albrecht wurde im September 1867 eine „Commission für Straßencommunicationen“ gewählt, die Vorschläge für die Anlegung neuer Walldurchbrüche, Straßenzüge und Bauplätze ausarbeiten sollte. Das Gremium blieb aber zunächst untätig – erst kurz zuvor war mit dem kommissarischen Stadtbaumeister die wichtigste Fachkraft ersatzlos entlassen worden, und im Oktober starb überraschend Bürgermeister Heinrich Wunderlich. Im Februar des darauffolgenden Jahres erzwang ein Bauantrag für ein landwirtschaftliches Anwesen im ehemaligen Stadtgraben, dessen Realisierung zukünftige Straßenverbindungen blockiert hätte, ein erneutes Zusammentreten der Straßenkommission. Auf Veranlassung Albrechts, der in diesem Fall eine Vermittlerrolle einnahm, fasste die Kommission den Beschluss, den Wall an vier Stellen zu durchbrechen und empfahl, das betreffende Grabensegment anzukaufen. Der erste Walldurchbruch wurde kurz nach Beginn des Jahres 1869 in Verlängerung der Nikolaistraße realisiert. Im Juni entschieden die städtischen Kollegien, auf einem städtischen Grundstück eine erste neue Straße (die heutige Leinestraße) im Stadterweiterungs-
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gebiet anzulegen und dort günstige Bauplätze für private Bauherren auszuweisen. Unterdessen hatten sich einige wesentliche personelle Neuerungen ergeben. Magistrat und Bürgervorsteher hatten die freigewordene Stelle des Syndikus mit dem 39-jährigen Verwaltungsbeamten Georg Merkel besetzt, der auf etliche Jahre Berufserfahrung in Kommunalverwaltungen verweisen konnte. Merkel setzte umgehend die Einstellung eines hauptberuflichen Stadtbaumeisters durch. Am 20. September 1869 wählten die städtischen Gremien den Ingenieur Heinrich Gerber (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen, in München tätigen Brückenkonstrukteur), der nach seinem Studium in Hannover ebenfalls am Bau der Hannoverschen Südbahn mitgewirkt hatte und anschließend zehn Jahre als Chefingenieur der brasilianischen Provinz Minas Gerais tätig gewesen war. Als Merkel nach dem plötzlichen Tod des bisherigen Amtsinhabers 1870 zum Bürgermeister gewählt wurde, waren die wichtigsten Führungspositionen mit ebenso hochqualifizierten wie tatkräftigen Personen besetzt. Ihren Vorhaben und Projekten stand allerdings eine traditionell-konservativ eingestellte Opposition äußerst kritisch gegenüber.
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H INDERNISSE
Immer mehr zeichnete sich das Fehlen eines Stadterweiterungsplanes ab. Der kommissarische Polizeidirektor Valerian Graf von Pfeil, Albrechts Nachfolger, bemängelte Ende 1869, die Baukommission habe in Ermangelung eines solchen Planes Bauten genehmigen müssen, die die zukünftige Entwicklung unter Garantie störten. Den einzigen Weg, das „wilde Bauen“ in der Feldmark zu kanalisieren und damit die freie Verfügung der Bürger über ihr Grundeigentum zu beschneiden, bildete ein rechtswirksamer Plan mit projektierten Straßen. Um eine verlässliche Grundlage zu schaffen, beauftragte die Stadt zunächst einen Geometer, die nähere Umgebung zu vermessen. Die Arbeiten stockten jedoch wegen des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71. Welche Dringlichkeit dem Projekt zukam, wurde der Stadtverwaltung im darauffolgenden Jahr erneut vor Augen geführt. Unzufrieden mit den Resultaten der städtischen Wohnungspolitik, trassierte der sozial engagierte Theologe und Geheime Regierungsrat Prof. Ernst Bertheau in Eigeninitiative eine private Stichstraße auf zu diesem Zweck erworbenen Grundstücken an der Weender Landstraße, beantragte Baugenehmigungen für mehrere einfache Mietwohnhäuser und begann mit dem Verkauf von Bauplätzen. Weder die Polizeidirektion noch der Magistrat sahen eine rechtliche Handhabe, das Vorhaben zu verhindern. Die Vorgänge um den ohne amtliche Genehmigung als „Bertheaustraße“ titulierte Weg sollten innerhalb kürzester Zeit die unbedingte Notwendigkeit einer öffentlich gesteuerten und rechtlich abgesicherten Planung aufzeigen. Zwar behielt der Professor das Eigentum am Straßenkörper, verweigerte aber aus finanziellen Gründen dessen weiteren Ausbau mit Straßendecke, Wasserführung und Kanalisation. 1876 rief der katastrophale
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Zustand der mit Morast bedeckten, von bis zu dreißig Zentimeter tiefen Wagenspuren zerfurchten Straße die Oberbehörde in Hildesheim auf den Plan. Zur Beseitigung der Mängel aufgefordert, verwiesen die Anwohner darauf, dass sich die Straße noch immer in Bertheaus Privatbesitz befinde und dieser dafür zuständig sei. Die Stadtverwaltung wiederum lehnte eine Übernahme der Straße in städtischen Besitz vor Durchführung des Ausbaus prinzipiell ab, um ein Exempel zu statuieren. Es sollte erst 1880 gelingen, den Professor wenigstens zur Chaussierung des Weges zu zwingen.3 1874 legte Stadtbaumeister Gerber der Baukommission einen ersten Entwurf des zukünftigen „Stadtbauplans“ vor.4 Der Magistrat entschied, dass sich Bauausschuss und Baukommission gemeinsam um die offizielle Feststellung bemühen sollten. Inzwischen war Polizeidirektor Graf von Pfeil in den Ruhestand getreten und durch Georg Dieterichs, den ehemaligen hannoverschen Innenminister, ersetzt worden. Wie seine Vorgänger übte auch Dieterichs, der das Amt bis zur Auflösung der Behörde im Jahr 1900 behielt, erheblichen Einfluss auf die Stadtentwicklung aus. Im Juni 1875 mahnte er erneut die Fertigstellung des Stadtbauplans an, da sich ein ungeduldiger Grundstücksbesitzer, dessen Gesuch auf Baugenehmigung vorläufig unerledigt blieb, bei der Oberbehörde in Hildesheim beschwert hatte. Als der Magistrat den Plan im September einreichte, verweigerte Dieterichs allerdings seine Genehmigung. Was veranlasste ihn zu diesem Schritt? Mit dem Inkrafttreten des Preußischen Fluchtliniengesetzes am 2. Juli 1875 hatten sich alle rechtlichen Grundlagen schlagartig geändert (Breuer 1982). Für die Gemeinden enthielt das Gesetz mehrere langersehnte Neuerungen, die ihnen Planung und Ausbau wesentlich erleichterten: Erstens ging das Recht zur Fluchtlinienfestsetzung von den Polizeibehörden an sie über, zweitens waren sie befugt, Anliegerbeiträge für den Straßenbau einschließlich des Grunderwerbs zu erheben, drittens durften sie ein Bauverbot für nicht ausgebaute Straßen erlassen und sich so gegen das „wilde Bauen“ wehren, das regelmäßig den Zwang zum Straßenausbau nach sich zog, und viertens durften sie sich des 1874 erlassenen Enteignungsgesetzes bedienen, um gegen Entschädigung Straßenland zu erwerben. Der Göttinger Magistrat setzte diese Vorgaben zügig um, indem er ein knappes Jahr später ein entsprechendes Ortsstatut erließ.5 Das darin ausgesprochene Bauverbot erstreckte sich nicht nur auf die projektierten, unfertigen Straßen, sondern auch – dies allerdings ohne ausreichende Rechtsgrundlage – auf sämtliche Wege der Feldmark. Bei allen unbestreitbaren Vorteilen wies das Fluchtliniengesetz jedoch einige Mängel auf. So enthielt es keine Bestimmungen zur Enteignung und Umlegung von Bauland, es begünstigte wegen des Dreiklassenwahlrechts die in den Gemeindevertretungen dominierenden Grundbesitzer und behinderte 3 | Stadtarchiv Göttingen Polizeidirektion 502, Die Bertheaustraße (1872-1884). 4 | Stadtarchiv Göttingen AHR I C 6 Nr. 2, Erstellung eines Stadterweiterungs- (Fluchtlinien-) Plans (1873-1933). 5 | Ein Exemplar des „Ortsstatuts, betreffend die Anlegung von Straße und Plätzen“ vom 7.6.1876 im Stadtarchiv Göttingen III A 13, 6.5.2.2.
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die kommunalen Planungen durch seine Entschädigungsvorschriften. Wie man in Göttingen erfuhr, standen seine zu eng gefassten Vorschriften auch der Erstellung von Gesamtbebauungsplänen im Wege. Polizeidirektor Dieterichs lehnte den Stadterweiterungsplan wegen zahlreicher Formfehler ab, unter denen das Fehlen eines Nivellements am schwersten wog. Vergeblich regte Gerber an, den Plan zumindest als Konzept zu akzeptieren – bis die zweistufige Planung in Preußen eingeführt wurde, sollten noch Jahrzehnte vergehen. Der Stadt blieb nichts anderes übrig, als mit der präzisen Vermessung der wichtigsten Straßen zu beginnen. Im Herbst 1876 brach man die Maßnahme jedoch schon wieder ab.
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DER STÄDTISCHEN
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Der Grund für den Abbruch lag in einem neuen Vorhaben, welches direkt in die Besitzstruktur des Stadterweiterungsgebiets eingriff. Die Durchführung einer Verkoppelung – modern ausgedrückt Flurbereinigung – beinhaltete die Aufteilung des Gemeinschaftsbesitzes, die Ablösung aller Weiderechte, die Anlage eines neuen Wegenetzes sowie die Zusammenlegung der über Jahrhunderte durch Erbteilung zersplitterten, in Gemengelagen verteilten und schlecht erreichbaren Äcker und Wiesen einer Feldmark mit dem Ziel, deren landwirtschaftliche Nutzbarkeit zu optimieren (Schubert 1997:384385; Seedorf/Meyer 1996:137-139). Göttingen war für eine solche Maßnahme prädestiniert: Jenseits des schmalen Gürtels bebauter Grundstücke und eingezäunten Gartenlandes war die insgesamt 1.710 Hektar umfassende Stadtfeldmark in etliche Gewanne mit teilweise sehr schmalen Parzellen aufgeteilt, von denen viele nur über die Nachbarfelder zugänglich waren (Abb. 1). Das Straßennetz des Wallvorlandes bestand aus den seit 1779 ausgebauten Ausfallstraßen sowie zahlreichen Wirtschaftswegen. Der Verlauf dieser schmalen, entsprechend den Bedürfnissen der Bürger strahlenförmig von der Stadt ausgehenden Wege war von topographischen Gegebenheiten und tradierten Besitzverhältnissen beeinflusst. Ein weiterer Faktor, der die bauliche wie die ökonomische Nutzung der Feldmark erschwerte, lag in den präzise geregelten Weiderechten. Die Feldmark setzte sich aus weidefreiem Gartenland, weidepflichtigem Ackerland, weidefreien Wiesen, weidepflichtigen Wiesen, Brachund Feldwiesen sowie reinen Weideflächen zusammen. Mit 852 Häusern der Innenstadt war das Recht verbunden, ein oder zwei Kühe täglich auf die westlich der Stadt gelegenen, 227 Morgen umfassenden Weiden Masch und Hufe zu treiben. Vor diesem Hintergrund fasste Bürgermeister Merkel den Entschluss, alle alten Rechte abzulösen und die Göttinger Stadtfeldmark durchgreifend neu zu strukturieren, um alle Missstände in einem Arbeitsgang zu beseitigen. Um das Verfahren bei der zuständigen Behörde, der Königlichen Generalkommission in Hannover, zu beantragen, bedurfte es eines förmlichen Mehrheitsbeschlusses der Grundbesitzer. „Das geschah nun, nachdem durch lebhafte Agitation im landwirthschaftlichen Vereine, in der Presse, in die ich [Merkel] entsprechende
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Artikel lenkte, durch persönliche Unterredung fast alle größeren Grundbesitzer gewonnen waren; die Besitzer kleiner Parzellen blieben renitent. Nachdem ich als Vertreter der Stadt die große Masse des städtischen Grund und Bodens in die Waagschale warf, da war der Sieg der Inangriffnahme des Unternehmens gesichert.“(Merkel 1897:33) Am 10. Juni 1876 erklärte die Kommission das Verfahren für eröffnet und verhängte ein Bauverbot für die betroffenen Flächen. Abb. 1: Die Göttinger Stadtfeldmark vor der Verkoppelung 1876
Die Ziele des Stadterweiterungsplans wurden in das Verkoppelungsverfahren einbezogen. Dies brachte entscheidende Vorteile mit sich: Die Enteignung von Straßenland nach § 1 des preußischen Enteignungsgesetzes von 1874 führte regelmäßig zu einer empfindlichen Belastung städtischer Haushalte, denn es wurde gefordert, dass der Wert der zu enteignenden Flächen „vollständig“ entschädigt werden solle. Diese Bestimmung verlangte eine Berücksichtigung jeder möglichen Ausnutzung des Grundstücks, so dass unter Umständen wertlose Ackerflächen als Bauland bewertet werden konnten und zunächst teuer erkauft werden mussten. Es konnte Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte dauern, bis die Grunderwerbskosten durch die neuen Anlieger wieder zurückerstattet wurden. Außerdem entstand durch Enteignungsverfahren ein erheblicher Zeitverlust. Im Verkoppelungsverfahren wurden dagegen alle Grundstücke einschließlich der alten Wege „eingeschmolzen“ und zuerst die zukünftigen Wirtschaftswege ausgeschieden. Auch die Grundbesitzer profitierten von dieser Vorgehensweise. Über die herkömmliche Festlegung eines Bebauungsplans konnte selbst bei geschicktester Straßenprojektierung nicht verhindert werden, dass Grundstücke ungünstig zerschnitten wurden, wodurch sogenannte „Sperrstreifen“ und unbebaubare
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„Schikanierzwickel“ entstanden oder Ungerechtigkeiten auftraten, weil die Parzellen ungleichmäßig von der Abtretung von Straßenland betroffen wurden. Im Fall der kompletten Absorption kleiner Grundstücke wären die Besitzer zwar vollständig entschädigt worden, hätten aber nicht mehr wie ihre Nachbarn von der allgemeinen Wertsteigerung des zukünftigen Baulands profitieren können. Um aus den traditionell kleinteiligen Parzellen bebaubare Grundstücke zu bilden, wären in vielen Fällen Parzellenumlegungen auf freiwilliger Basis nötig gewesen, die aber fast immer durch den Widerstand, den Eigensinn oder die Berechnung einzelner Personen zu scheitern pflegten (Ehlgötz 1917:230). Die Durchführung einer Verkoppelung garantierte dagegen eine gerechte Behandlung aller Eigentümer, denn erstens verlor niemand seinen Grundbesitz, zweitens wurden viele kleine Grundstücke unter Berücksichtigung ihres Ertragswertes zu größeren arrondiert, und drittens orientierten sich alle neu zugewiesenen Grundstücke am neuen Wegesystem, wodurch sich die spätere Umwandlung zu Baugrundstücken erheblich vereinfachte. In der Anpassung des landwirtschaftlichen Verfahrens an städtebauliche Bedürfnisse lag eine besondere Herausforderung. Zum einen war bei der Ausscheidung der Koppelwege darauf zu achten, dass eine möglichst optimale Verbindung des inneren mit dem äußeren Wegenetz hergestellt wurde. Bis auf wenige Ausnahmen gelang dies auch. Der Kontrast zwischen dem alten und dem neuen Wegesystem trat nur noch an wenigen Stellen zutage, wo die im ehemaligen Gartenland verlaufenden Wegstücke mit scharfen Brüchen in das rechteckige Raster des neuen Feldwegenetzes einmündeten. Zum anderen ließ sich die Stadt entlang ausgewählter Koppelwege schmale Grundstücksstreifen anweisen, um für den späteren Ausbau zu öffentlichen Straßen vorzusorgen. Schließlich nutzten Merkel und Gerber die einmalige Gelegenheit, um größere Areale für städtische Zwecke zusammenlegen zu lassen. Die Verkopplungskommission schied Flächen für einen Stadtfriedhof, ein Schlachthaus, zwei Schuttplätze und ein Kasernengelände aus. Weitere Grundstücke wurden als Baulandreserve für öffentliche Gebäude in Stadtnähe an den Hauptwegen geschaffen. Die verteilten Parzellen der Klosterkammer arrondierte das Gremium im Bereich des Nikolausberger Weges, um eine Erweiterung der Universität in der Nähe des Auditoriengebäudes zu ermöglichen. Ende 1879 wurden das neue Wegesystem, die Entwässerungsgräben und die neuen Parzellen an die Eigentümer überwiesen.6 Der neue Parzellenplan belegt den durchschlagenden Erfolg des Vorhabens (Abb. 2). Von der Verkoppelung ausgeschlossen blieben lediglich die hellgrau eingefärbten, bebauten oder eingezäunten Grundstücke nahe des Walles, also nur 10% der Stadtfeldmark. An dem Verfahren waren insgesamt 791 Grundeigentümer beteiligt. Die Anzahl der ursprünglich 5.261 Parzellen wurde auf 2.127 Parzellen reduziert. Die Verfahrens- und Folgekosten von etwa 173.000 Mark waren anteilig von allen Beteiligten zu tragen. Bürgermeister Merkel hatte einen Sonderweg zur 6 | Stadt Göttingen Fachdienst 62 Bodenordnung, Vermessung und Geoinformation, Recess, betreffend die Theilung und Verkoppelung der Feldmark der Stadt Göttingen (1875-1888).
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Regulierung des Stadterweiterungsgebietes beschritten, die bodenrechtlichen Mängel des preußischen Fluchtliniengesetzes neutralisiert und optimale Voraussetzungen für die Transformierung der agrarisch genutzten Flächen in Bauparzellen geschaffen. Das in seinem Umfang wohl reichsweit singuläre Verfahren wirkte sich auflockernd auf die Bebauungsstruktur aus und prägt den Stadtgrundriss bis heute. Auf Göttingen traf die Aussage, dass Zufälligkeit und Chaos der institutionalisierten Bodeneigentumsverhältnisse das Gesetz der Stadt bildeten (Rodriguez-Lores 1983:11), nicht mehr zu. Abb. 2: Die Stadtfeldmark Göttingens am 4. Oktober 1879
Auch andernorts wurden die Agrargesetze mehrfach zur städtebaulichen Regulierung kleinerer Areale herangezogen, so etwa in Nordhausen/Harz, Mühlhausen/Thüringen oder Heilbronn (Baumeister 1876:393). Da sich mit zunehmender Bebauung die Bodenbewertungskriterien änderten, war das Verfahren eigentlich nur auf vorwiegend landwirtschaftlich geprägte Terrains anwendbar. Nur wenige Städte griffen daher auch bei fortgeschrittener Bebauung auf die Flurbereinigungsgesetze als Notbehelf zurück, so etwa Dortmund 1901/1902 (Fahrenhorst 1903). Die Stadt Rixdorf/Neukölln zog sie in den Jahren 1902/1903 heran (Pagenkopf 1906), um sich von den Terraingesellschaften zu emanzipieren und eine unabhängige, aktive Bodenpolitik zu betreiben (Abb. 3). Das auf die Rüsterlaake angewendete Verfahren verlief so erfolgreich, dass die Stadt 1906 die nächste Umlegung im Bereich der Köllnischen Heide in Angriff nahm. Dieses Projekt scheiterte jedoch, da sich mehrere Grundeigentümer widersetzten und nicht die gesetzlich notwendige Mehrheit zur Einleitung zusammenkam. Daraufhin sah sich die Stadt gezwungen, die Zusammenarbeit mit einer Terraingesellschaft und damit ein sogenanntes „Public-Private-Partnership“ anzubahnen (Bernhardt 1998:239-
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240). Auch der Schöneberger Magistrat erkannte die Vorteile der Flurbereinigung. Nach heftigen Auseinandersetzungen mit dem bekannten Terrainunternehmer Georg Haberland musste die Stadt selbst zur Entwicklung von Baugrundstücken schreiten und schrieb 1910/1911 einen Wettbewerb aus. Der gewählte Bebauungsplan wurde mit Hilfe eines modifizierten Flurbereinigungsverfahrens durchgesetzt (Wolf 1926:127-128, 189).
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Mit dem 1876 auf Basis des Fluchtliniengesetzes erlassenen Ortsstatut sowie dem 1879 neustrukturierten Stadterweiterungsgebiet besaß Göttingen eine ideale Grundlage für die Zusammenarbeit mit Grundbesitzern und Bauunternehmern. Die Verwertung des privaten Grundbesitzes war nun für jedermann leicht möglich, eine Arrondierung des Baulandes durch Bau- oder Terrainunternehmer zumeist nicht mehr erforderlich. Eine Ausdehnung des Bebauungsgebietes erfolgte entweder über die Freigabe eines bei der Verkoppelung geschaffenen Weges oder die Herstellung einer neuen Straßenverbindung. Bremsend wirkte sich die Anliegerbeteiligung an den Straßenbaukosten aus. Legte die Stadt von sich aus eine neue Straße an, so wurden die Grunderwerbs- und Ausbaukosten aus der Stadtkasse vorgeschossen und von den angrenzenden Eigentümern zurückerstattet, sobald sie dort Gebäude errichteten. Beantragte allerdings ein Interessent die Freigabe eines Straßenabschnittes, so hatte er dessen gesamten Herstellungskosten vorzufinanzieren; wollte er gar die Anerkennung einer Privatstraße als öffentliche Straße erreichen, so hatte er außerdem erst das Eigentum am Straßenkörper an die Stadt zu übertragen. Gegen diese ebenso strengen wie sinnvollen Bestimmungen gab es immer wieder Proteste, die bis hin zu erbittert durch mehrere Instanzen geführten Prozessen reichten. Auch fehlte es nicht an Versuchen, die Bedingungen zu umgehen. So gelang es beispielsweise Maurermeister Conrad Rathkamp 1880, ein Areal entlang der noch nicht zur Bebauung freigegebenen Straße Am Steinsgraben sukzessive von den Grundstücksseiten her zu bebauen, da diese an Altstraßen grenzten (Abb. 4). Die halblegale Methode wurde erst zehn Jahre später durch eine ergänzende Polizeiverordnung unterbunden, welche eine Entfernung der Hausrückwand von mehr als dreißig Metern von der Straße genehmigungspflichtig machte. Der Bau von Gartenhäusern sorgte ebenfalls wiederholt für Probleme. Spätestens seit 1900 lehnte die Baukommission konsequent jeden Antrag auf Bau eines Gartenhauses ab, wenn dieses auch nur einen heizbaren Raum enthalten sollte. Ein anderer Versuch der Kostendämpfung ist von dem Maschinenfabrikanten Carl Friedrich Gustav Warnstorff überliefert. Mit der Begründung, er wolle durch den Bau von Arbeiterwohnungen die Wohnungsnot lindern, bat der Unternehmer 1899, ihm einen Teil der Baukosten für die geplante Emilienstraße zu erlassen. Der Antrag wurde abgelehnt, da die Wohnungen deutlich zu teuer für Arbeiter ausfielen. Warnstorff erklärte sich
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daraufhin anstandslos bereit, den üblichen Vertrag über die Straßenfinanzierung zu unterzeichnen. Am bewährten Prinzip der Anliegerbeteiligung hielt die Stadtverwaltung eisern fest, selbst in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, als die Wohnungsnot ein nie dagewesenes Ausmaß erreichte und sich die Anträge auf Ermäßigung oder Erlass der Straßenbaukosten häuften. Abb. 3: Baulandumlegung in Neukölln
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Abb. 4: Erschließung einer nicht freigegebenen Straße von den Seiten her
Der Magistrat genehmigte vorgeschlagene Trassen nur, wenn sie das Straßennetz sinnvoll ergänzten und sich ohne weiteres in das rechtwinklige Grundraster einhängen ließen. So entsprach zwar das 1889 vorgelegte Projekt des Bautechnikers Dröll und des Schlossermeisters Oberdieck, die ihre Grundstücke an der Reinhäuser Landstraße zu Bauplätzen parzellieren wollten (Abb. 5), der zweiten Forderung, scheiterte aber zunächst am Fehlen eines Bebauungsplans für das Gebiet. Die Grundeigentümer zogen ihren Antrag schließlich zurück, da sie sich nicht imstande sahen, die geplante Straße – wie gefordert – über zwei weitere Feldblöcke zur nächsten Haupterschließungsachse verlängern. Des Weiteren achtete die Stadtverwaltung darauf, dass das Bebauungsgebiet nicht zu stark expandierte. Vor dem Hintergrund des Nachlassens der Baukonjunktur lehnte sie 1906 das Gesuch des Arztes Baake und des Straßenaufsehers Hoppert auf Genehmigung einer Unternehmerstraße ab, weil ein Bedürfnis, mitten im freien Felde Baugelände zu erschließen, derzeit nicht vorläge und zudem in der letzten Zeit viele
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neue Straßen gebaut worden seien. Die einschlägigen Verhandlungen belegen, dass die Stadtverwaltung zwar sehr vorsichtig, aber prinzipiell offen und gesprächsbereit auf derartige Anfragen reagierte und den Unternehmern soweit wie möglich entgegenkam. Abb. 5: Privater Antrag auf Anlage einer Straße, 1889
D IE E INFÜHRUNG DES „ MALERISCHEN “ S TÄDTEBAUS UND IHRE F OLGEN Das scheidende 19. Jahrhundert sah eine Wiederholung der Ereignisse um den Bebauungsplan: Stadtbaurat Gerber erarbeitete 1899 ein neues Konzept, das Polizeidirektor Dieterichs – wie sein Kontrahent knapp vor dem Ende seiner beruflichen Laufbahn stehend – wiederum aus formalen Gründen ablehnte. Ob Gerber an dem zwanzig Jahre zuvor festgelegten Rechtecksystem festhielt, ist unbekannt, da der Plan ebenfalls verschollen ist. Am 4. Dezember 1900 wählten die städtischen Kollegien den Architekten Friedrich Jenner, der bereits in mehreren Kommunalverwaltungen gearbeitet hatte, zum neuen Stadtbaurat. Als Anhänger der von Camillo Sitte und Karl Henrici propagierten, künstlerisch-malerischen Richtung der Stadtplanung ging Jenner unverzüglich daran, die vorhandenen Teilbebauungspläne grundlegend zu überarbeiten. Das von den Vermessungstechnikern und Ingenieuren geschaffene Grundgerüst des Erweiterungsgebiets war nun als klassisches Zeugnis des „Geometerstädtebaus“ verpönt. Auf der Städteausstellung Dresden stellte die Stadt 1903 zwar ihre baulichen Errungenschaften vor, vermied aber jeglichen Hinweis auf die dreißig Jahre zuvor durchgeführte Flurbereinigungsmaßnahme, um nicht zukünftig als negatives Musterbeispiel angeführt zu werden (Wuttke 1904).
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In den folgenden Jahren schritt die Umgestaltung der Teilbebauungspläne weiter voran. Jenner, der 1908 zum hauptamtlichen Senator avancierte, bereitete gemeinsam mit seinem Nachfolger Otto Frey die Erstellung eines Gesamtbebauungsplanes vor. Insgesamt ein typisches Zeugnis des künstlerischen Städtebaus, vermittelt der 1914 fertiggestellte Plan den Eindruck einer radikalen Abkehr vom Rechtecksystem hin zu einer zellenartig-organischen Anordnung der neuen Straßen (Abb. 6). In einem konsequenten Versuch, die von der Verkoppelungskommission oktroyierte Gradlinigkeit zugunsten eines malerischen Stadtbildes zu durchbrechen, wirken die nur teilweise an Höhenlinien orientierten, gebogenen Straßenzüge allerdings etwas unruhig. Mit dem idealistischen Konzept nahm die Stadtverwaltung sowohl für sich als auch für die Grundeigentümer wesentliche Unannehmlichkeiten in Kauf. Das Abweichen der neuen Straßenführungen von den Koppelwegen zog nicht nur zahlreiche Ankäufe und Enteignungsverfahren, kostenintensive Investitionen in neue Wege und dadurch höhere Anliegerbeiträge, sondern auch die ungünstige Zerteilung der am alten Wegenetz orientierten Parzellen mit sich. Erleichtert wurde das Verlassen der Grundbesitzstrukturen einerseits durch die großen Flächen, die bei der Verkoppelung geschaffen worden waren, andererseits durch den großen Anteil des städtischen Grundbesitzes (Abb. 7). Um einen sauberen Anschluss zu gewährleisten, entwarf das Stadtbauamt auch die Bebauungspläne für die Nachbargemeinden Geismar, Grone und Weende. Wie flexibel und pragmatisch die Behörde diese Planungen umsetzte, verdeutlicht ein weiteres Beispiel. Auf Magistratsbeschluss wurden sämtliche Teilbebauungspläne geheim gehalten, um Vorratskäufe und Preissteigerungen für Bauland zu vermeiden. Die Firma Conrad Rathkamp & Söhne hatte 1909 ein 2,2 Hektar messendes Areal an der Herzberger Landstraße erworben und beantragte Einsicht in die Unterlagen. Da die vorgesehene, leicht gekrümmte Straße westlich am Grundstück vorbeiführte, schlug die Firma eine Verlegung in dessen Mitte vor, um die Bauplätze besser erschließen zu können. Das Stadtbauamt genehmigte die Planänderung anstandslos unter den üblichen Bedingungen.
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Abb. 6: Allgemeiner Bebauungsplan 1914
Abb. 7: Verteilung des Grundbesitzes 1913, Ausschnitt
Dieser Pragmatismus wurde sicherlich auch durch engste persönliche Kontakte begünstigt. Längst hatten sich die Angehörigen der drei alten Baugeschäfte gesellschaftlich etabliert, waren in die Oberschicht aufgestiegen und hatten zum Teil sogar politische Funktionen übernommen. Als der Architekt Alexander Freise 1912 kurze Zeit nach seiner Wahl zum bürgerlichen Senator starb, folgte ihm der Architekt Robert Rathkamp nach. Seine Aktivitäten als Mitinhaber eines Baugeschäfts waren mit der Mitgliedschaft in der Baudeputation offensichtlich vereinbar. Die personellen Verflechtungen spiegeln sich auch in der Momentaufnahme des durch Terraingeschäfte ausgelösten
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Göttinger Bankenkrachs von 1911 wieder. Auf dem 1902 erreichten Höhepunkt des Baubooms hatten mehrere Baugeschäfte gemeinsam mit Banken Terraingesellschaften gegründet und Grundstücke in großem Stil aufgekauft.7 Ihre Hauptmotivation lag aber nicht etwa – wie üblich – in der erwarteten Wertsteigerung für Bauland. Vielmehr hatte in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mit der Zahl der ortsansässigen Bauunternehmen die untereinander herrschende Konkurrenz derart zugenommen, dass der Erwerb von Vorratsflächen zur Sicherung künftiger Aufträge existenznotwendig geworden war. Eine dieser drei Gesellschaften setzte sich aus den Baufirmen Gebr. Krafft und Rudolf Hannig sowie dem Senator Adolf Kauffmann zusammen. Kauffmann nutzte seine Stellung, um der Gesellschaft einen hohen, nur mit einer zweitrangigen Hypothek abgesicherten Kredit der Städtischen Sparkasse zu beschaffen. Weitere umfangreiche Darlehen erhielt die Terraingesellschaft von der Göttinger Bank AG, deren Aufsichtsrat Kauffmann angehörte; Architekt Friedrich Krafft vertrat als Großaktionär der Bank ein Drittel der Stimmen bei der Hauptversammlung. Die Erträge der Gesellschaft deckten jedoch nicht einmal die Zinskosten, woraufhin die Göttinger Bank AG 1911 in Konkurs ging und das Baugeschäft Krafft mit sich zog.
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Der jahrzehntelang diskutierte Mangel an Kleinwohnungen für einkommensschwache Familien ebnete nicht nur den Weg für die Unterstützung sozialer Bauträger, sondern auch für neue Planungsideen. Ende 1913 engagierte sich die Stadt erstmals aktiv im sozialen Wohnungsbau, indem sie dem Spar- und Bauverein ein kostenloses Grundstück an der Weender Landstraße überließ und der Genossenschaft ein Darlehen von 140.000 Mark zur Ausführung eines Wohnhofs mit 115 Wohnungen einräumte. Der Erste Weltkrieg führte zu einem entscheidenden Umbruch im Städtebau. Ein großangelegter Propagandafeldzug für die Errichtung von Kriegerheimstätten bereitete den Boden für die Siedlungsbewegung, deren Ziel darin bestand, allen Bevölkerungsschichten den Erwerb von Kleinhäusern mit ausreichendem Landbesitz für die Eigenversorgung zu ermöglichen (Koinzer 2002:75-89, 145160). Schnell war man sich innerhalb des Göttinger Magistrats einig, den Bau derartiger Siedlungen mit allen Mitteln zu unterstützen. Zwecks Linderung der Wohnungsnot, die unmittelbar nach Kriegsende eintrat und ungeahnte Ausmaße erreichte, führte das Stadtbauamt nicht nur eine eigene Barackensiedlung aus, sondern betreute die neugegründeten Siedlungsgenossenschaften intensiv bis hin zur Übernahme der Planungen und der Überwachung des Bauablaufs. Wenngleich sich auch bald herausstellte, dass dieser Grad des Engagements vom Stadtbauamt nicht zu leisten und auch nicht zweckmäßig war, so sollte die Bekämpfung des Notstandes doch langfristig die Zusam7 | Zu dieser Zeit war der Immobilienmarkt in vielen deutschen Städten von einer kollektiven Euphorie beherrscht (vgl. Bernhardt 1998:145-148).
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ZUR IDEALEN
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menarbeit zwischen der Stadtverwaltung und Bauträgern aller Couleur verändern.
FA ZIT Die strenge obrigkeitliche Regelung der Stadtentwicklung, die die beschriebene Epoche des kaiserzeitlichen Baubooms in der Mittelstadt Göttingen kennzeichnete, war das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses. Zunächst nutzten private Eigentümer, Eigentümerinnen und Bauträger bestehende Freiräume zu ihren Gunsten aus und errichteten „wilde“ Bauten an der Peripherie, ohne sich um die Infrastruktur zu bemühen. Der Nachteil lag bei der Stadt, die die finanziellen Folgen zu tragen hatte und bemüht war, durch die Konzeption eines Bebauungsplanes und den Erlass entsprechender Vorschriften die notwendig entstehenden Kosten von der Allgemeinheit abzuwenden. Einerseits fungierte die Stadtverwaltung also als Kontrollinstanz zur Garantie der Einhaltung städtebaulicher Mindeststandards, andererseits aber auch als Dienstleister: Das Stadtbauamt konzipierte den Rahmen für städtebauliche Projekte, die von Architekten, Bauunternehmern oder Grundbesitzern ausgingen. Die zwischen 1876 und 1879 durchgeführte landwirtschaftliche Flurbereinigung, welche nahezu den gesamten städtischen Außenbereich erfasste, ist als eine besondere Dienstleistung dieser Art zu sehen. Zwar wurde die Maßnahme nicht vom Amt, sondern von einer staatlichen Verkoppelungskommission durchgeführt, jene aber integrierte wesentliche Ziele des Stadterweiterungsplanes, die auf anderem Wege in diesem Umfang nie durchsetzbar gewesen wären. Das in seiner Dimension vermutlich reichsweit einzigartige Projekt wurde auf Veranlassung des Bürgermeisters Merkel zunächst gegen den Willen etlicher Kleingrundbesitzer und Kleingrundbesitzerinnen durchgeführt, die erst spät realisierten, dass die ihnen neu zugeteilten Flächen sich prinzipiell zu Baugrundstücken eigneten und damit erheblich an Wert gewonnen hatten. Dem finanziell attraktiven Terraingeschäft war damit die Grundlage entzogen. Zwischen privaten und öffentlichen Akteuren kam eine musterhafte Partnerschaft zustande: Die anteilig umgelegten Kosten des Verfahrens trugen die Grundeigentümer und Grundeigentümerinnen, bei denen auch die durch Wertsteigerung erzielten Gewinne verblieben, welche sich direkt und je nach Bedarf realisieren ließen. In Folge stand auf lange Sicht genug Bauland zur Verfügung. Dieser Umstand wirkte sich dämpfend auf die Bodenpreise aus. Die durch die Flurbereinigung geschaffenen geordneten Verkehrs- und Besitzstrukturen wirkten sich auch insofern auf das Verhältnis der Stadtverwaltung zu den Grundeigentümern, Grundeigentümerinnen, Bauunternehmern und den spät gegründeten Terraingesellschaften aus, als sie der Stadt eine außerordentlich komfortable Position bei der Verfolgung ihrer Planungsziele sicherten. Zugleich minimierte das Modell die Reibungsverluste zwischen privaten Unternehmern und der öffentlichen Hand. Schwere Konflikte wie etwa in Oberhausen, wo eine Terraingesellschaft die Gestaltung des Stadt-
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zentrums um über zehn Jahre verzögerte (Reif 1993:402-403), konnten hier somit nicht auftreten. Auch die Gefahr einer planerischen Stagnation wie in Trier, wo sich Stadtverwaltung nach dem Scheitern des Stadterweiterungsplanes auf die Genehmigung von Baumaßnahmen beschränkte und eine extrem dichte Bebauung der Altstraßen zuließ (Reck 1990:323), war überwunden. Dank der gelungenen Neukonfiguration des Außenbereichs kann das „Göttinger Modell“ somit als städtebauliches Ideal der frühen Kaiserzeit gelten. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, die vor allem in der fehlenden Akzeptanz der durch das preußische Fluchtliniengesetz begründeten finanziellen Anforderungen an Bauherren lagen, setzte sich vor Ort zunehmend eine pragmatische Umgehensweise durch, begünstigt durch enge persönliche Kontakte und personelle Verflechtungen. Grundsätzlich war und blieb die Haltung des Magistrats gegenüber privaten und unternehmerischen Interessenten und Antragstellern jedoch von berechtigter Vorsicht gekennzeichnet, musste er doch immer wieder Vorstöße abwehren, die Erschließungskosten auf die Allgemeinheit abzuwälzen. Schwierigkeiten traten erst mit der steigenden Popularität neuer städtebaulicher Ideale etwa ab der Jahrhundertwende auf. Die geschwungenen Trassenführungen des „künstlerisch-malerischen“ Städtebaus standen in direktem Kontrast zu dem in Göttingen verwirklichten rechtwinkligen Raster. Die Abweichungen von bestehenden Besitzverhältnissen brachten jedoch altbekannte Probleme mit sich und wurden deshalb bis 1918 nur bruchstückhaft realisiert.
Governancestrukturen, Pfadentwicklungen und räumliche Auswirkungen auf das Verhältnis von Stadt- und Hafenentwicklung in London und Hamburg Dirk Schubert
Hafenbereiche waren und sind in Seehafenstädten Areale mit besonderen Akteurskonstellationen und Zuständigkeiten. Prozesse der Steuerung und Koordination von (semi-)staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteuren, Entscheidungsfindungen und -umsetzungen bilden ein komplexes Konstellationsgefüge. In diesem Beitrag sollen am Beispiel von Hamburg und London die Ursprünge, Besonderheiten, Entwicklungen und Auswirkungen dieser Governancestrukturen untersucht werden. Dabei kann ein dialektisches Prinzip von „choices and circumstances“ unterschieden werden. Wechselbeziehungen zwischen subjektiven Präferenzen oder Optionen von relevanten Stakeholdern („choices“) und objektiven, ökonomischen, rechtlichen, politischen Umständen („circumstances“) bilden jeweils die Hintergrundfolie für einen Kontext von institutionellen und organisatorischen Strukturen und Zuständigkeiten (Tetzlaff 2007:73). Intentionale (Steuerungs-) Aktivitäten einzelner Akteure mit Potentialen, Wirkungen und Beschränkungen sind in die Gesamtheit eines formellen und informellen Regelsystems eingebunden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts fielen in bedeutenden Seehafenstädten wirkungsmächtige und später irreversible Entscheidungen zur Stadtentwicklung(splanung) und zur Struktur und Ausformung des Hafenausbaus (Schubert 2009:108). Vor dem Hintergrund der Industrialisierung, der raschen Zunahme und Internationalisierung des Handels galt es unter erheblichem Zeitdruck Weichenstellungen vorzunehmen, deren Prinzipien bis heute für Stadt- und Hafenentwicklung nachwirken. Seehafenstädte waren dabei Kulminationspunkte von Neuerungen aus Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Sie können als Orte gelten, wo Phänomene der späteren Globalisierung
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vorweg genommen wurden. Globalisierung wird dabei als ein vielschichtiger und ambivalenter historischer Makroprozess verstanden, dessen Anfänge historisch weit bis ins Zeitalter der Entdeckungen zurückreichen (Osterhammel/Petersson 2003:14). Es galt also lokal institutionelle, rechtliche und organisatorische Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Umschlag eines Stromes wachsender Güterflüsse ermöglichte. Dabei wurde auf private oder öffentliche, gewählte oder ernannte Strukturen zurückgegriffen, die demokratisch legitimiert oder ernannt beziehungsweise eingesetzt waren, wiederum über unterschiedliche institutionelle Befugnisse verfügten und jeweils erforderliche Vorkehrungen (Infrastrukturen etc.) und Leistungen (Zollabfertigung etc.) zu erbringen hatten. Seehafenstädte weisen Nutzungszonen mit unterschiedlichen Spezialisierungen auf. Fährhafen, Fischerei, Schiffbau, Schiffsreparatur, Güterumschlag, Seehafenindustrien, Marine und Militär haben jeweils besondere Anforderungen an Infrastrukturen und unterschiedliche Bezüge zum städtischen Kontext. Es galt dabei, die Schnittstelle zwischen Anforderungen des See- und Landverkehrs, die Kais und Häfen, so zu planen und zu organisieren, dass sie immer neuen Herausforderungen der internationalen und schließlich globalen Verkehre angepasst werden konnten.
U RSPRÜNGE
DES
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London war schon um 1700 mit einer Bevölkerung von fast einer halben Million Menschen die größte Stadt der Welt. Die Keimzelle des Hafens war der „Pool of London“, ein östlich der London Bridge gelegener Bereich. London Bridge war die erste steinerne Flussquerung in London, die 1209 entstand. Sie trennte in den folgenden Jahrhunderten den Fluss- vom Seeschiffverkehr. Unter Königin Elisabeth wurde 1558 die Institution der „Legal Quays“ eingerichtet, zwanzig Umschlagplätze nördlich der Themse im Bereich der City Corporation. Hier mussten die zollpflichtigen Waren zwischen Sonnenaufund untergang umgeschlagen werden und hier lag auch der Sitz der Zollbehörde (Custom House). Die City Corporation nutzte dieses Monopol und erhob exorbitante Gebühren. Die Hauptumschlagstätigkeit war auf das Nordufer konzentriert, wobei die Nähe zur City und den Handelshäusern von großer Bedeutung war. Die Legal Quays zugleich auch als Märkte genutzt. Von größeren Schiffen, die in Blackwell ankerten, wurden Waren auch mittels kleinerer Einheiten dann zu den Legal Quais verbracht. Mit der Zunahme des Handels reichten die streng limitierten Umschlagplätze im Pool of London (circa 420 Meter Kailänge) bald nicht mehr aus und auch anderenorts wurden „semilegal“ Güter umgeschlagen. Zunächst wurden an diesen „geduldeten“ Kais vorwiegend billigere Waren umgeschlagen. Nicht selten ankerten die Schiffe auch monatelang im Strom, bevor sie be- und entladen wurden. Chaotische Zustände prägten die Schifffahrt und den Güterumschlag. Die Einrichtung der Legal Quays war nach 250 Jahren zunehmend obsolet geworden. Zur Überlastung des Flussbassins kam die landseitige Enge
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der Straßen hinzu. In Ermangelung an Lagerkapazitäten wurden Waren offen auf dem Kai oder in Leichtern gelagert. Verschärft wurde die Situation durch den saisonalen Charakter des Handels und durch das Konvoisystem der Seeschifffahrt. Entlang des Stromes entstanden direkt an der Themse Lager- und Speichergebäude. Die größeren Schiffe wurden vorwiegend im Strom auf Schuten be- und entladen. Von den Schuten wurden die Waren dann landseits verladen oder in Speicher verbracht (Schultze 1930:19). Es entstanden die ersten tideabhängigen Schiffsanlegeplätze, die Quays and Wharfs. Nur besondere Gilden und Zünfte durften nach einem besonderen Reglement Waren lagern und befördern. Da die Güter zwei Wochen auf den kleineren Schuten verbleiben mussten, bevor sie verkauft werden konnten, waren Diebstähle an der Tagesordnung.
N EUE R EGLEMENTS
UND DER
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DER
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Mit dem Bau der Docks (künstlich angelegte Hafenbecken mit Schleusen) Themse-abwärts wurde im Osten Londons seit 1800 der Grundstock für eine Reorganisation der überkommenen Struktur und damit für die weitere Expansion des Hafens gelegt. Die Revolutionierung der Hafeninfrastruktur während der napoleonischen Kriege sollte die Hafenpolitik der nächsten hundert Jahre bestimmen (White 2001:172). Die wertvollen Güter auf den Schiffen und an Land waren bis dahin nur unzureichend gegen Diebstahl geschützt. Spezialisierte Gangs, „River Pirates“, „Night Plunderers“ und „Mudlarks“ organisierten den Diebstahl. Die Verluste der Kaufleute und des Zolls wurden um 1800 auf 800.000 Pfund jährlich beziffert. Man schätzte, dass rund ein Viertel der 36.000 Menschen im Hafengebiet Kriminelle waren. Diebstahl, Bestechung und Plünderung nahmen überhand. Die Einrichtung einer River Police war 1801 ein erster Schritt, den Diebstählen Einhalt zu gebieten. Mit der Einrichtung der Docks war es zudem möglich, den großen Tidenhub von über sechs Metern auszugleichen, um das Be- und Entladen der Schiffe zu beschleunigen und zugleich sicherer zu machen (Bell 1934). Entsprechend dem Stand der Hafenbautechnologie und der Schiffsgrößen entstanden zunächst kleinere Docks, direkt an die City of London angrenzend, später wurden größere Dockkomplexe weiter flussabwärts gebaut (Bird 1957:73; Greeves 1980:10). Die bedeutendsten Handelsgesellschaften begannen vor dem Hintergrund der Unzulänglichkeiten des Hafenbetriebs und beim Güterumschlag eigene betriebliche Strategien zu entwickeln. So entstand die Konzeption, künstliche Hafenbecken als Einheit mit Speichern und Schutzmauern anzulegen. Die Schiffe mussten eine Schleuse passieren und konnten dann bei konstantem Wasserstand be- und entladen werden. Die Dockbereiche waren nur durch kontrollierte Tore erreichbar. Unbefugten war der Zugang zu dem Firmengelände verwehrt und alle Passanten und Hafenarbeiter wurden kontrolliert. Die Zollmodalitäten wurden an den Eingängen der Docks erledigt und die Firmen unterhielten
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eine eigene Polizei und Wachmannschaften. Die Docks übten zugleich eine Schutzfunktion für die Schiffe aus. Die konkurrierenden Dockgruppen hatten eigene Verwaltungen, die Bau, Finanzierung, Betrieb und Bewirtschaftung organisierten. Die City Corporation und die Eigner der Legal Quays opponierten gegen den Bau der Docks, aber wegen deren erheblichen Unzulänglichkeiten musste eine Abhilfe geschaffen werden. Das West India Dock Act von 1799 bildete die legislative Grundlage für eine Reihe ähnlicher Gesetze, die zeitlich befristet Monopole begründeten. Alle Waren, die von und nach Westindien ein- und ausgeführt wurden, durften nach Fertigstellung des Docks für einen Zeitraum von 21 Jahren nur hier umgeschlagen werden. Gegen die Zuwiderhandlung gab es hohe Strafgebühren (Broodbank 1921:96). Das Monopol sicherte der Gesellschaft eine gute Verzinsung des eingesetzten Kapitals. Durch das Warehousing Act von 1803 wurde die befristete Lagerung von Waren lukrativer. Die Dockgesellschaften konnten die Waren in ihren Speichern lagern und mussten die Zollgebühren erst beim späteren Verkauf entrichten. Mit dem West India Dock Act (1799) erhielt die City Corporation das Zugeständnis, einen Kanal durch die Isle of Dogs zu bauen. Der Kanal erleichterte die schwierige Umseglung der Halbinsel, wurde 1805 eröffnet und verkürzte die Wegstrecke zu den Kais der City Corporation. Obwohl er zunächst gebührenfrei benutzt werden konnte, ging die Anzahl der passierenden Schiffe umgehend wieder zurück und der Kanal wurde vorwiegend als Schiffsliegeplatz benutzt. Das Unternehmen erwies sich bald als Fehlschlag (Broodbank 1921:111), da die Schiffe zweimal zeitaufwendig eine Schleuse passieren mussten. 1803 erhielt die East India Company ein auf 21 Jahre befristetes Monopol für Im- und Exporte aus Indien und China. Die hochprofitable English East India Company war bereits 1600 gegründet worden, kontrollierte zeitweise die Hälfte des Welthandels und trug über zu entrichtende Zölle allein ein Zehntel zum britischen Staatsbudget bei (Keay 1991:454). 1806 eröffnete die East India Company ein Im- und Exportdock zur Sicherung und Lagerung von wertvollen Waren wie Gewürzen und Tees. Schwieriger und teurer gestaltete sich der Bau der 1805 eröffneten London Docks (Abb. 1). Hier mussten Wohnhäuser abgerissen und Entschädigungen bezahlt werden, um den Bau des Docks zu ermöglichen. Im Gegensatz zur East und zur West India Company hatte diese Gesellschaft kein Monopol für Waren aus bestimmten Herkunftsgebieten, sondern für bestimmte Warengruppen wie Alkoholika, Reis und Tabak. Deshalb wurden großzügige Lagerkapazitäten für Weine und Spirituosen vorgesehen. Das Monopol war wie bei den anderen Gesellschaften für 21 Jahre ausgelegt.
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Abb. 1: London Docks 1805 Wapping mit Speichern
Mehr Probleme und Widerstand warf schließlich das Projekt der St. Katherine Docks auf, für das 1824 die Gesetzgrundlage beschlossen wurde. Direkt angrenzend an die City und an den Tower mussten für das Vorhaben 1.250 Häuser mit 11.300 Bewohnern abgerissen und ihre Eigentümer entschädigt werden (Schubert 1997:27). Die Gesellschaft rühmte sich, mit dem Bau des Docks einige der unrühmlichsten Slums („Rookeries“) beseitigt zu haben. Die Speicher wurden hier direkt an die Kaimauern gebaut, um einen Umschlag vom Schiff in die Speicher zu ermöglichen. Die hohen Entschädigungen erzwangen enge Hafenbecken und eine schmale Schleuse. Bei Eröffnung der Anlage 1828 war sie von der Technikentwicklung schon überholt worden. Bei diesen Reglements bestanden die traditionellen Befugnisse der kleineren Schiffsführer („lightermen“) fort. Nach dem „Free Water Clause“ waren sie befugt, Güter von den Docks zu anderen Anlegestellen und umgekehrt zu transportieren, eine Art Monopol für die hafeninterne Beförderung von Gütern. Der nächste Dockbau am Nordufer der Themse erfolgte erst ein Vierteljahrhundert später. Mit dem von Prince Albert 1855 eingeweihten Victoria Dock betrat London das Dampfschiffzeitalter. Beim Bau wurden dampfbetriebene Maschinen eingesetzt und die Schleusen waren für Schiffe bis über 8.000 Bruttoregistertonnen ausgelegt. Es war das erste Dock, das direkt in das britische Eisenbahnnetz einbezogen war. Die Dockanlage erwies sich umgehend als finanzieller Erfolg, zumal das zum Bau des Docks erforderliche Land günstig erworben werden konnte. Südlich der Themse entstand der Komplex der Surrey Docks. Die Keimzelle bildete das Howland Great Wetdock, das schon kurz nach 1700 in Betrieb war (Broodbank 1921:67). Die Surrey Docks entstanden aus der Tätigkeit der Grand Surrey Canal Company, Commercial Dock Company, Baltic Dock Company und East Country Company. Diese Gesellschaften hatten jeweils Rechte, bestimmte Importwaren (wie Holz) anzulanden. Die Anlage und die chaotischen Erweiterungen der Surrey Docks bildeten ein Musterbeispiel für unabgestimmte Hafenplanung, die privaten Einzelinteressen folgten.
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Der Bau der Docks ermöglichte eine Beschleunigung des Güterumschlags. Dauerte die Entladung eines Schiffes zuvor häufig einen Monat, war sie nun in drei bis vier Tagen zu bewerkstelligen. Zudem waren die Waren gegen Witterungseinflüsse und Diebstahl geschützt. Die Dockgesellschaften suchten die Monopole zu verlängern. Aber eine vom Parlament eingesetzte Untersuchungskommission vertrat die Position des freien Wettbewerbs und Handels. So begannen die Gesellschaften untereinander zu konkurrieren und zu fusionieren. 1864 schlossen sich die Betreiber der Docks südlich der Themse zur Surrey Commercial Dock Company zusammen. Ähnliche Fusionierungen begannen auch bei den Gesellschaften nördlich der Themse. Obwohl sich bereits Mitte des 19. Jahrhunderts deutliche Überkapazitäten abzeichneten, ließ die Millwall Canal Company in den 1860er Jahren südlich der West India Docks ein weiteres Dock bauen. Das Unternehmen war kein finanzieller Erfolg und verschärfte die Konkurrenzsituation. 1874 entschloss sich die London St. Katherine Docks Company, dem Victoria Dock ein zweites Becken – das Albert Dock – anzuschließen; es war das größte Hafenbecken der Welt mit gerader Kaiführung. Dem Trend der Zeit folgend gab es keine Speicher mehr, sondern nur Transitschuppen. Dies wiederum ließ den größten Konkurrenten, die inzwischen zusammengeschlossene East & West India Dock Company nicht ruhen, und man begann 1882 bei Tilbury, 42 Kilometer flussabwärts von London, ein modernes Dock zu bauen. Für die seewärtige Verlagerung des Hafens und die räumliche Entkopplung von Stadt und Hafen war damit der Grundstein gelegt. 1900 war London der bedeutendste Hafen der Welt, verlor aber bereits an Bedeutung gegenüber Rotterdam und Hamburg (Schneer 1999:42). Der Hafenbetrieb war bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts unkoordiniert und privatwirtschaftlich organisiert. Verschiedene Handelsgesellschaften betrieben unabhängig voneinander Dockanlagen, bauten, erweiterten, betrieben und optimierten ihre Umschlags- und Lagereinrichtungen. Diese privatwirtschaftliche Organisation hatte zu erheblichen Unzulänglichkeiten geführt, die 1900 in einem Bericht der Londoner Handelskammer wie folgt zusammengefasst wurde (Broodbank 1921:282): • ungenügende und veraltete Hafeninfrastrukturen, • unzureichende Tiefe der Hafenzufahrten, • große Anzahl verschiedener, manchmal divergierende Interessen von Gesellschaften und Behörden, sowie • Verzögerungen beim Umschlag und Abtransport durch ein unbefriedigendes Leichtersystem und mangelhafte Bahnanschlüsse. Die Notwendigkeiten einer Reorganisation lagen auf der Hand. Vor allem der 1889 eingerichtete London County Council – eine nun für Groß-London zuständige Institution mit erweiterten Befugnissen im Bereich der Planung – unterstützte Initiativen für eine durchgreifende Reform des Hafenbetriebs und der Hafenverwaltung. Über fünfzig Institutionen hatten unterschiedliche
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Befugnisse im Hafen. Die ideologische Prämisse des „offenen Wettbewerbs“ nach Beendigung der Monopole hatte zu chaotischen Strukturen geführt. Einst modernster Hafen der Welt, war der Londoner Hafen durch überholte Strukturen und Vernachlässigung von Modernisierungen nicht mehr auf dem neuesten Stand der Technik und Organisation. Eine „Royal Commission“ legte 1902 einen umfangreichen Bericht mit Vorschlägen zur Reorganisation vor, der wie folgt endet: „In conclusion, we desire to say that our inquiry into the conditions of the Port of London has convinced us of its splendid natural advantages. Amongst these are the geographical position of the Port; the magnitude wealth, and energy of the population behind it; the fine approach from the sea; the river tides strong enough transport traffic easily to all parts, yet not so violent as to make navigation difficult; land along the shores of a character suitable for dock construction and all purposes. In addition to these advantages, London posesses docks which, though they are not in some cases upon the level of modern requirements, are yet capacious and capable for further development. The deficiencies of London as a port, to which our attention has been called, are not due to any physical circumstances, but to causes which may be easily removed by a better organization of administrative and financial powers” (Broodbank 1921:316). Nach Anhörungen und kontroversen Debatten wurde schließlich eine neue gesetzliche Grundlage geschaffen und dabei die Entwicklung des Londoner Hafens als eine Angelegenheit von nationaler Bedeutung eingestuft. 1908 wurden nach dem Port of London Act die Einrichtungen und Befugnisse der verbliebenen Dockgesellschaften auf die Port of London Authority (PLA) übertragen, die zusätzlich die Aufsicht über die Schifffahrt bis zur Mündung der Themse bekam. Die polizeilichen Kontrollen, die bisher von den diversen Dockgesellschaften vorgenommen wurden, mussten zusammengeführt werden. Die finanzielle Schwäche der konkurrierenden Dockgesellschaften hatte kaum Ausbau- und Modernisierungsmaßnahmen im Hafen gestattet. Die PLA musste nach der Übernahme der Docks nun erhebliche Summen zur Modernisierung der Kräne, Schuppen und Kaianlagen aufbringen. Neben organisatorischen Verbesserungen ging es vor allem um die Finanzierung der dringend benötigten modernen Infrastrukturen. Die Dockgesellschaften wurden insgesamt mit einem Betrag von 735.611 Pfund entschädigt (Broodbank 1921:352). Zur Refinanzierung der Modernisierungsmaßnahmen konnte die PLA nun die Kai- und Hafengebühren nutzen. Für die folgenden Jahre wurde ein Maßnahmenprogramm aufgestellt, das die Vertiefung der Themse und der Hafenbecken sowie neue Umschlagseinrichtungen vorsah. Die Anlagestellen entlang der Themse fielen nicht in die Zuständigkeit der PLA und auch die Rechte der kleineren Schiffsführer blieben unberührt. Das 1912 fertig gestellte markante Verwaltungsgebäude der PLA symbolisierte trefflich die Weltgeltung des Hafens. Flussabwärts der Tower Bridge war der größte Hafenkomplex der Welt entstanden (Bell 1937:64), ein Mikrokosmos, ein Gemisch aus Güterumschlag, Seehafenindustrien, Werften, Kneipen und Wohnungen der Hafenarbeiter. Zunehmend wurden aber auch
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Spannungen zwischen dem imperialen Glanz und den Schattenseiten der Metropole deutlich, die mit den Ausschreitungen auf dem Trafalgar Square und dem Dockarbeiterstreik 1889 (McCarthy 1988) kulminierten.
H AFENBETRIEB UND R ESTRUK TURIERUNGEN A RBEITSORGANISATION
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Mit dem Bau der Docks war auch eine neue Klasse von Hafenarbeitern entstanden: Die Docker und Stevedores1. Die Arbeit der Docker unterschied sich zwar zunächst qualitativ nicht von jener Arbeit, die zuvor darin bestanden hatte, Schiffe zu be- und entladen, aber Umfang und Intensität der Arbeit nahmen zu und die stadtfernere Lage der Docks brachte neue Entwicklungen der Lebens- und Arbeitswelt mit sich. Da der Arbeitsanfall im Hafen sehr unregelmäßig ausfiel, war es wichtig, in der Nähe der Docks zu wohnen, um häufiger je nach Arbeitsfall „vor Ort“ zu sein. Der saisonabhängige Umfang und die Art des Warenumschlages, bedingt durch Erntezeiten in Übersee, Winde, Gezeiten und Nebel, machten die Ankünfte der Schiffe kaum planbar und für die Hafenarbeiter eine Dauerbeschäftigung unmöglich. Die Überkapazitäten im Hafen und die Konkurrenzsituation der Dockgesellschaften wurden als Druckmittel auf die Hafenarbeiter benutzt, die Hungerlöhne erhielten. Um 1850 gab es hinreichend Beschäftigung für circa 4.000 Personen, aber circa 12.000 Personen waren auf Arbeit im und am Hafen angewiesen (Jones 1984:53). Mit dem fluktuierenden Arbeitskräftebedarf hatte sich ein entsprechendes Anstellungssystem herausgebildet. Dies bestand darin, dass die Arbeitswilligen („dock rats“) sich zwei- oder mehrmals täglich auf dem Dockgelände versammelten und dort bestenfalls von einem Vormann für eine Arbeit angeheuert wurden. Dieses „Call-on-System” machte es den Arbeitgebern bei der großen Zahl der Arbeitssuchenden leicht, die Löhne niedrig zu halten. Die Dockgesellschaften vergaben teilweise Arbeiten an Subkontrahenten, die wiederum die Arbeiter noch skrupelloser behandelten. Die Docker suchten sich gegen die schlechte Bezahlung und das willkürliche Anwerbesystem zu wehren. Die Unzulänglichkeiten der Arbeitsorganisation und die niedrigen Löhne hatten immer wieder zu Arbeitskonflikten im Hafen geführt. Der große Hafenarbeiterstreik 1889 hatte die Situation eskalieren lassen. Streikbrecher wurden von den Schifffahrtslinien und Dockgesellschaften nach London gebracht, um den Widerstand der Docker zu brechen. Die nach dem Streik erreichten Lohnverbesserungen und die verbesserte Stellung der Gewerkschaften hielten allerdings nicht lange an (Al Naib/Carr 1988:71). Auf dem Rücken des Prekariats
1 | Während in Deutschland Docks als Werftanlagen zur Trockenlegung von Schiffen bezeichnet werden, sind im Englischen die Kais zum Laden und Löschen von Schiffen damit umschrieben. Docker und Stevedores sind qualifizierte Hafenarbeiter an den Kais. Werft-arbeiter werden als „shipyard-worker“ bezeichnet.
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im East End, dem Mangel an Arbeit, den Slums und der Überbelegung von Wohnungen wurde (noch) die Konkurrenzfähigkeit des Hafens erkauft. Mit dem Größenwachstum der Schiffe, der Umstellung von der Segelschifffahrt zur Dampfschifffahrt wurden größere Dockanlagen erforderlich. Die Umstellung auf mechanische Entladungssysteme erfolgte in London äußerst langsam – nicht zuletzt wegen der billigen Arbeitskräfte. Viele alte Traditionen der Hafenarbeiter, die teilweise über drei Generationen hinweg ähnlichen Arbeiten nachgegangen waren, gehörten aber bald der Vergangenheit an.
N EUE TECHNIKEN IM G ÜTERUMSCHL AG , D EREGULIERUNG UND P RIVATISIERUNG Um 1914 arbeiteten circa 20.000 Personen täglich in den Docks, die Zahl der weiter mittelbar vom Hafen abhängigen Arbeitsplätze ist schwierig zu beziffern. Schon nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich die unzulängliche und veraltete Infrastruktur des Londoner Hafens herausgestellt. Das Docksystem wurde auch bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kaum verändert. Die Kräne waren veraltet und genügten nicht den modernen Ansprüchen des Güterumschlags. Vielfach war kein direkter Umschlag vom Schiff zum Kai möglich und Leichter mussten eingesetzt werden. Um 1930 wurden über 9.000 Schuten im Hafen gezählt (Abb. 2). Ihre Besitzer waren in der Waterman’s Company organisiert, die ihre altverbrieften Rechte verteidigten (Schultze 1930:35). Diese verteuerten und verlangsamten den Güterumschlag durch ihre manuell dominierte Arbeit. Viele Docks hatten keinen Eisenbahnanschluss und auch die Straßenanbindungen waren unzulänglich. Abb. 2: London: George V Dock 1930
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Erst während des Zweiten Weltkrieges wurde eine Anmeldepflicht für Hafenarbeiter eingeführt (Abb. 3). 1947 folgte dann die Einführung des National Dock Labour Scheme, das in 83 größeren Häfen Großbritanniens angewandt wurde. Es gab damit eine Eintragungspflicht für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, was eine Begrenzung der Gesamtzahl der Hafenarbeiter ermöglichte. Nur die registrierten Docker durften Hafenarbeit verrichten. Ein wöchentlicher Mindestlohn für alle Docker, die sich regelmäßig zur Arbeit einfanden (auch wenn keine Arbeit vorhanden war) wurde festgelegt, medizinische Versorgung gesichert und eine zentrale Vermittlungsstelle eingerichtet. Die Mechanisierung des Hafenumschlags – zunächst mit Gabelstaplern – führte zu einem schnellen Rückgang der Arbeitsplätze der Docker. Die Anzahl der Dockarbeiter ging von 23.000 im Jahr 1969 bis auf 12.000 1973 zurück. Ende der 1970er Jahre zahlte die PLA über 1.000 Dockern Löhne von insgesamt über einer Millionen Pfund jährlich, ohne dass noch hinreichend Arbeit vorhanden war. Abb. 3: Kontrollen von Hafenarbeitern am Eingang zum Dockbereich
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Viele Hafenarbeiter hatten allerdings auch Schwierigkeiten, sich an geregelte Arbeitszeiten zu gewöhnen und geliebte Gewohnheiten aufzugeben. Nach dem Zweiten Weltkrieg beförderte die Containerisierung des Güterumschlags den raschen Niedergang des Londoner Hafens. Zwischen 1945 und 1955 gab es 37 Streiks der Hafenarbeiter, die sich vor allem gegen den Abbau der Arbeitsplätze richteten. 1964 wurde mit 63 Millionen Tonnen der höchste Güterumschlag im Londoner Hafen verzeichnet. Danach setzte ein dramatischer Rückgang des Güterumschlags ein und die Docks wurden – nahezu in umgekehrter Reihenfolge ihrer Entstehung, die ältesten zuerst – geschlossen. Die Schließung der Hafenanlagen zog den Konkurs von Industrien, Werften, Reparaturbetrieben, Schiffsausrüstern und weiterer Gewerbe nach sich (Palmer 2000:160). Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Perspektivlosigkeit prägten das East End, den Hinterhof Londons, wo einst der Wohlstand Londons und Englands erwirtschaftet worden war (Foster 1999). Die besonderen Sozialbeziehungen und Netzwerke der Hafenarbeiter wurden bedeutungslos. Die Bevölkerung im East End (Palmer 2000; Cox 1994), einst mit der boomenden Weltökonomie und dem Aufstieg des Hafens verbunden, fühlte sich durch die mit der raschen Globalisierung verbundene Revolutionierung der Transporttechnologien isoliert, vergessen, verlassen und einer ungewissen Zukunft ausgesetzt.
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DURCH
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Neue Terminals waren bereits seit den 1920er Jahren von der London Port Authority in Tilbury an der Themsemündung gebaut worden (Abb. 4). Alte Hafenanlagen wurden verkauft und umgenutzt, um neue Infrastrukturen zu refinanzieren (Hebbert 1998:186). Die PLA suchte ihren Landbesitz zu verwerten, um einem drohenden Konkurs zu entgehen. Die Vorstellung des vormals größten Hafens der Welt ohne Hafennutzungen erschien schlichtweg undenkbar (Turnbull 1991). Aber Investoren waren nicht in Sicht. Der Niedergang des Hafens weitete sich rasch auf die benachbarten Stadtteile aus. Das East End bot keine Perspektive mehr. Abb. 4: Der Hafen von London 1934
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Die vormaligen Hafenareale wurden in den 1970er Jahren zu den Docklands, einem Konstrukt mit willkürlich festgelegten Grenzen, das 22 Quadratkilometer umfasste und Bereiche aus fünf Bezirken einschloss (Page 1987:62). 1974 wurde das Dockland Joint Committee (DJC) gegründet, das sich aus acht Vertretern des (damals konservativ regierten) GLC und acht Vertretern der fünf betroffenen Stadtteile sowie acht Beigeordneten – vier davon von der Regierung ernannt – zusammensetzte. Nach Protesten der lokalen Interessengruppen wurde das Gremium durch zwei Mitglieder erweitert, die dem „Docklands Forum“, der Dachorganisation der East End Bevölkerung, angehörten. Der 1976 veröffentlichte „London Docklands Strategic Plan“ (LDSP) reagierte auf die Defizite in den Docklands und sah vor allem sozialen Wohnungsbau und Flächen für Gewerbe vor. Der Plan blieb eine Vision und wurde nicht implementiert. Die PLA als größter Landbesitzer – mit großen Liquiditätsproblemen – veräußerte Flächen nur nach dem Höchstgebot (McIntosh 1993:135). Zwei Jahre später wandelten sich mit dem Wahlsieg der Konservativen 1979 die Perspektiven. Die Konservativen suchten das DJC aufzulösen. Für Margaret Thatcher und Vordenker Michael Heseltine bildeten die Docklands das Schlüsselexperiment der Reetablierung der freien Marktwirtschaft. Die Londoner Docklands sollten zum Flagschiff ihrer deregulierten, marktorientierten Planung werden (Schubert 1993). Früher und radikaler wurde damit auf die neuartigen Macht- und Konkurrenzverhältnisse im Kontext der Globalisierung reagiert. Dem Wahlsieg der Konservativen folgte eine Deregulierungs-, Liberalisierungs- und Privatisierungspolitik. Mit der Abschaffung des Greater London Council (GLC) im März 1986 wurde von den Konservativen die für Gesamt-London zuständige Verwaltungs- und Planungsinstitution abgeschafft (Schubert 2003). Seitdem produzierte jeder der 33 Londoner Bezirke eigene Pläne mit Beratung des London Planning Advisory Committee (LPAC). Für Bezirke mit großen Strukturproblemen, hoher Arbeitslosigkeit und überdurchschnittlichen Anteilen einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen ergab sich im ehemaligen Hafengebiet ein kumulativer Kreislauf von Desinvestition, Verslumung, steigenden Sozialausgaben und geringeren Ressourcen. Der GLC war inzwischen zum Spielball einer Stopp-and-Go-Politik zwischen Bezirken und Zentralregierung wie auch zwischen parteipolitischen Interessen und innerparteilichen Machtbalancen geworden. Mit der Regierungsübernahme von Margaret Thatcher 1979 wurde die Auseinandersetzung zwischen Labour und Konservativen und um den GLC radikalisiert. Eine bespiellose Demontage von Staatsaufgaben und öffentlichen Zuständigkeiten wurde durchgesetzt. Die Abschaffung des GLC war eine Maßnahme, die erforderliche Ersetzung durch andere Zuständigkeiten und Arrangements sowie die Aufteilung der Erbmasse eine andere. Nach der Abschaffung des GLC entstand ein Machtvakuum und eine fragmentierte Organisationsstruktur mit vielfältigen neuen freiwilligen Zusammenschlüssen und Partnerschaften sowie von der Zentralregierung eingesetzten Ausschüssen (Newman/Thornley 1997:988). Wenige Kompetenzen waren
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„nach unten“ zu den Bezirken verlagert, deutlich mehr aber „nach oben“ konzentriert worden. Die Zentralregierung kontrollierte diese Organisationen beziehungsweise ernannte die Mitglieder für die neuen in der Regel für GroßLondon zuständigen Einrichtungen wie die Port Authority of London, London Transport und die Metropolitan Police. Die Konservativen begriffen die Umstrukturierung der Docklands als nationale Aufgabe, die von lokalen Institutionen nicht möglich sei. Die Planungshoheit für die Docklands wurde nach Abschaffung des GLC 1986 auf die London Docklands Development Corporation (LDDC) übertragen, während andere Ressorts wie Bildung, Gesundheit und Wohnungswesen bei den Bezirken verblieben (Barnes/Colenutt/Malone 1996:18). Über 240 Hektar Land wurden von den Bezirken und dem GLC auf die LDDC übertragen, die durch Enteignung den Grundbesitz bis 1994 auf weitere 800 Hektar ausweiten konnten und damit über circa ein Fünftel des Bodens in den Docklands verfügte. Nun veränderte sich der Charakter der Docklands in einem Jahr schneller als in den letzten 50 Jahren. Die überkommenen Strukturen im Hafengebiet sollten dabei bald nicht nur städtebaulich modernisiert werden, sondern mit einem radikalen sozialen Strukturwandel einhergehen. Der einzigartige Charakter der Docklands mit seinen fragmentierten räumlichen (Teil-)Strukturen wurde ohne Masterplan und Aufnahme der Bezüge zum Wasser in ein modernes Büroviertel mit Eigentumswohnungen umgeformt. Die angeblich ineffektive, bürokratische GLC- und Bezirksverwaltung sollte mittels von Urban Development Corporations (UDCs) umgangen werden2 . Die für London 1981 eingerichtete LDDC sollte eine moderne, unbürokratische, schlanke, effiziente Organisation sein, die flexibel auf die Bedürfnisse der Investoren reagieren konnte (Thomas 1992). Entscheidungsprozesse der LDDC waren für die Öffentlichkeit nicht transparent, Haushalt und Beschlussprotokolle blieben geheim. Die Bezirke waren an vielen Entscheidungen nicht beteiligt. Die von den Konservativen seit 1979 gefahrene politische Strategie setzte auf Zentralisierung und Privatisierung (Merrifield 1993:1250). Die finanzielle und politische Autonomie der lokalen Ebene wurde zunehmend eingeschränkt, während unter dem Deckmantel der Dezentralisierung gleichzeitig eine Vielzahl von (nicht gewählten) Organisationen (sogenannten Qualgos und Quangos) eingesetzt wurde. Unter dem Vorwand schnelleres und flexibleres Handeln zu ermöglichen, wurden damit häufig demokratisch gewählte Körperschaften mit ihren Aufgabenzuweisungen 2 | Die Strategie Konflikte und Probleme durch Einsetzung von nicht gewählten Institutionen zu lösen, sogenannten „Qualgos“ (Quasi autonomous local government organizations) und „Quan gos“ (Quasi autonomous non governmental organizations), hat in Großbritannien eine lange Tradition. Bei beiden Organisationsformen werden die Mitglieder direkt ernannt und nicht gewählt, die Mittelzuweisung erfolgt nicht über einen kontrollierbaren öffentlichen Haushalt, sondern über Sonderbudgets und die Institutionen entziehen sich damit der öffentlicher Kontrolle.
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umgangen. Die Governancestrukturen wurden vielfach unüberschaubar (Hebbert/Travers 1988). Die Politik der LDDC führte zu einer rasanten, chaotischen und brutalen Strukturveränderung in den Docklands (Schubert 2002). Die LDDC war zeitlich befristet eingerichtet worden und wurde 1998 „abgewickelt“. Die Befugnisse wurden danach wieder von den Bezirken übernommen, wie auch diverse planerische „Altlasten“. Mit dem Greater London Authority Act von 1999 hatte die nationale Labour-Regierung nach 18 Jahren konservativer Regierung und der Abschaffung des LCC nun erstmals einen Bürgermeister und eine Stadtverordnetenversammlung für London erhalten. Die Reorganisation der Verwaltung für Groß-London durch New Labour war ein außerordentlich komplexer Vorgang (Schubert 2003). Die Überwindung der bisherigen Balkanisierung von Zuständigkeiten und Planungskompetenzen kann nur ein erster Schritt zur Einlösung der lange entbehrten, neuen strategischen Planung durch den GLA sein. Die Machtbalancen nach „oben“ (Central Government) und „unten“ (Boroughs) werden neu austariert. Stadt und Hafen sind daher in London räumlich entkoppelt. Im Stadtgebiet Londons gibt es nur noch wenige Anlegeplätze entlang der Themse. Die Hafenaktivitäten sind Richtung Themsemündung verlagert worden. Die über siebzig Terminals und Einrichtungen sind Eigentum von privaten Firmen und die PLA ist nur noch für Hochwasserschutz, Lotsendienste, Ausbaggerung des Fahrwassers etc. zuständig. Im Port of London (der geographisch längst außerhalb Londons liegt) – 1960 noch der größte Hafen der Welt – werden heute nur noch circa zehn Prozent des britischen Seehandels abgewickelt. Suboptimale Terminaleinrichtungen, unkoordinierte, betrieblich begründete Einzelentscheidungen und komplexe Governancestrukturen haben die skizzierten Entwicklungen befördert. Abb. 5: Stakeholder Panorama Thames Gateway 2007
Inzwischen wurden die Schnittstellen zwischen Land und Wasser, zwischen Stadt und Hafen entlang der Themsemündung in eine regionale Entwicklungsstrategie eingebunden. Damit sind diverse Städte, Counties
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und Häfen in eine komplexe Governancestruktur einbezogen (Schopen 2004:40; Abb. 5). Im Bereich von London bis zur siebzig Kilometer entfernten Themsemündung sind prioritäre Entwicklungsgebiete („growth areas“ and „zones of change“) festgelegt und kooperative Planungsverfahren zwischen den Akteuren verabredet worden. Öffentliche Institutionen auf nationaler und lokaler Ebene, Private Public Partnerships, Quangos, der private Sektor wie diverse Entwicklungspartnerschaften sind involviert und sogar die lange Zeit diskreditierten UDCs erleben eine Renaissance.
U RSPRÜNGE
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Geographisch und institutionell andere Ausgangs- und Rahmenbedingungen prägten die Entwicklung der Stadt und des Hafens in Hamburg. Der Hafen entstand hier an der Einmündung der Alster in die Elbe. Der Alsterhafen bot vielen Schiffen Platz und Schutz. Im 13. Jahrhundert entstand um den in die Befestigung einbezogenen Hafen am Nicolaifleet das Stadtzentrum mit Rathaus, Gericht, Börse, Zoll und Waage. Im 15. Jahrhundert lagerten größere Seeschiffe dann auch außerhalb der Stadt auf Reede vor Anker. Das Löschen und Laden der Schiffe geschah von Hand und mit dem Ladegeschirr der Schiffe. Als 1816 das bewunderte erste Dampfschiff die Elbe befuhr, kündigte sich ein neues Zeitalter an (Teuteberg 1972:271). Für die Ausweitung, Verdichtung und Beschleunigung weltweiter Beziehungen eröffneten sich neue Optionen. Eisenbahnverbindungen von Altona nach Kiel wurden 1844 und die Verbindung zwischen Hannover und Harburg wurde 1847 fertig gestellt. Dies wiederum zog eine rasante Zunahme des lokalen Schiffsverkehrs zwischen Harburg und Hamburg nach sich. Die Segelschifffahrt hatte 1866 ihren Höhepunkt erreicht und ging von da an absolut und relativ zurück. Mit der Ausweitung der Dampfschifffahrt „wurde eine Festlegung nicht nur der Schiffsabfahrten, sondern auch der ungefähren Ankunftszeiten möglich und dadurch alle Kalkulation erleichtert sowie der Spekulation ein neues Feld eröffnet“ (Reincke 1926:258). Ähnlich wie in London erfolgte auch in Hamburg der Güterumschlag zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch vorwiegend im Strom. Die Schiffe ankerten in der Elbe oder wurden an Pfählen festgemacht, die Waren dann mittels Schuten befördert und zu den Speichern transportiert. Der Stromumschlag erfolgte mittels der seeschiffseigenen Geräte und durch schwere und gefahrvolle körperliche Arbeit. Die Waren vom Seeschiff wurden auf ein kleineres Wasserfahrzeug verbracht und dann landseits zu den Lager- und Kaufmannshäusern befördert. Zunächst existierten wenig Möglichkeiten, Waren direkt vom Schiff an Land zu verbringen. So gab es spezielle Schwergutkräne an denen die Stadt einen Kranmeister und Kranknechte beschäftigte. Der Umschlag im Strom war dagegen das Betätigungsfeld privater Unternehmen. Mit den Veränderungen in der Seeschifffahrt bildeten sich arbeitsteilige und risikomindernde Strukturen heraus. So wurde innerhalb weniger Jahre
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die Schiffsreederei zu einem neuen selbständigen, rein kapitalistisch organisierten Wirtschaftsbereich. Mit der Zunahme des Güterumschlags mussten auch in Hamburg Überlegungen für organisatorische Neuerungen und Hafenerweiterungen angestellt werden. Es war nahe liegend, sich dabei an den Vorhaben im größten Hafen der Welt, London, zu orientieren. Dies umso mehr, als seit Jahren in Hamburg Stadtplanungs-, Hafenbau- und Infrastrukturingenieure aus England tätig waren, deren Expertise genutzt werden konnte. Die ersten Vorschläge zum Hafenausbau zielten daher auf einen Dockhafen nach Londoner Vorbild ab. Bald wurde aber eindeutig Position für einen offenen Tidehafen ohne Schleusen und andere organisatorische Strukturen bezogen. Der zwischen 1859 und 1866 entstandene Sandtorkai (Abb. 6) bildet die erste moderne Kaianlage nach dieser Grundsatzentscheidung, bei der ein neues künstliches Hafenbecken entstand. Fortschritte beim Bau der Kaimauern ermöglichten einen direkten Umschlag vom Schiff an Land und direkte Eisenbahnanschlüsse. Der Sandtorkai machte es auch größten Seeschiffen möglich, am Kai festzumachen. Einstöckige Kaischuppen, wo die Waren kurzfristig gelagert werden konnten, bewegliche Kaikräne, mit denen Waren geladen und gelöscht werden konnten, und Transportanschlüsse für binnenländische Verkehrsträger waren integraler Bestandteil der Anlage. Schuten und Ewer konnten wasserseits Güter von den Seeschiffen übernehmen (Kludas/Maass/Sabisch 1988:22, Hansen 1989, Wendemuth/Böttcher 1928). Nach dieser Richtungsentscheidung für offene Tidehäfen in Stromrichtung wurden später weitere Hafenbecken angelegt. Abb. 6: Der Sandtorhafen um 1876, vor dem Bau der Speicherstadt
S TADTRÄUMLICHE R ESTRUK TURIERUNGEN A K TEURSKONSTELL ATIONEN
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Grundsätzlich wurde entschieden, dass Hafenbaumaßnahmen als Infrastrukturmaßnahmen auf Staatskosten durchzuführen waren. Der Kaiumschlag war zunächst auch ausschließlich kommunal organisiert, später wurde auch Verpachtung von Kaistrecken zugelassen. Im Lagergeschäft gab es
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kommunale Speicher, die vermietet und verpachtet wurden, wie auch private Speicher. Bei gepachteten Kaistrecken konnten die Reedereien ihre Schiffe nach eigenem Belieben abfertigen, bei von der Stadt betriebenen Kais gab es eine Platzzuweisung, die eine gleichmäßige Ausnutzung gewährleisten sollte. Die staatliche Kaiverwaltung organisierte den Güterumschlag am Kai, die Verladung auf Bahn, Fuhrwerke, Binnenschiffe und Schuten, übernahm die Aufsicht über Kräne, Schuppen und Kais und zog Gebühren für die Kaibenutzung, Lager- und Wägegelder ein. Die Leitungsaufgaben übernahm ein beamtetes Personal. Die erste Phase der Hafenerweiterung bis 1880 erfolgte in Hamburg nach der Grundsatzentscheidung für einen offenen Tidehafen und der Notwendigkeit, den zunehmenden Güterumschlag zu organisieren. Die folgende Phase stand unter der Notwendigkeit des Zollanschlusses von Hamburg an das Deutsche Reich (vgl. auch Lafrenz 1994; Maak 1985; Emmerich 1960). Hamburg war seit Jahrhunderten Freihafen gewesen und hatte damit die Möglichkeit, Waren zollfrei zu lagern und zu bearbeiten. Erst wenn die Waren aus Hamburg – meist in kleinen Mengen – ausgeführt wurden, musste Zoll entrichtet werden. Diese für Kaufleute und Reeder vorteilhafte Situation stellte sich für Gewerbebetriebe als erheblicher Nachteil dar. Sie mussten Zoll wie ausländische Unternehmen entrichten, wollten sie ihre Waren außerhalb Hamburgs verkaufen. Nach ersten informellen Vorgesprächen zur Freihafenfrage zwischen Hamburg und dem Reich kristallisierte sich als Lösung heraus, Hamburg nicht insgesamt als Freihafenstadt beizubehalten, sondern einen kleineren Freihafenbezirk innerhalb des Hafengebietes vorzusehen. Kontrovers war dabei die Finanzierung, Größe und Lage des Freihafenbezirks. Verschiedene Alternativen wurden erwogen. Der Freihafenbezirk sollte möglichst innenstadtnah liegen und durfte nicht bewohnt sein (Eberstadt 1981:33). Schließlich verständigte man sich auf eine Lösung, die ein Areal nördlich und südlich der Elbe einbezog und als Speicherbezirk die Wandrahminsel vorsah. In dem Vertrag zwischen Hamburg und dem Reich war weiter vorgesehen, dass die Zollverwaltung in hamburgischer Hand blieb, die zollfreie Zufahrt über die Unterelbe bis Hamburg gesichert war und im Freihafenbezirk Firmen angesiedelt werden sollten, die zollfrei Rohstoffe lagerten oder Halbfertigprodukte herstellten. Das Reich gewährte einen finanziellen Zuschuss zu den baulichen Umgestaltungsmaßnahmen. Die bestehende Bebauung in diesem Bereich wurde abgerissen, um Platz für neue Speicher zu schaffen. Insgesamt mussten circa 20.000 Menschen weichen und sich nach einer neuen Bleibe umsehen, um den Bau der Speicherstadt zu ermöglichen. Die Speicherstadt war zur Lagerung von hochwertigen Gütern vorgesehen. Direkter Umschlag von Seeschiffen in die Speicher war nicht möglich. Die Waren wurden mit Schuten zu den Speichern gebracht. Landseitig konnten die Waren per Fuhrwerk oder Eisenbahn angeliefert oder abgeholt werden. Zunehmend wurden Umschlagsarbeiten durch Kräne mechanisiert (Rath 1988).
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M ODERNISIERUNG
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Auch in Hamburg mussten die Hafenarbeiter um die schwankende Zahl der Arbeitsplätze kämpfen (Lee 1998:150). Es stand ein ständiges Überangebot an nicht spezialisierten Arbeitskräften zur Verfügung, je nach Bedarf wurden Arbeitskräfte eingestellt und entlassen. Die Arbeitssuche („Umschau“) erfolgte auf den Straßen am Hafen (Abb. 7) oder in Gaststätten. Die Wirte hatten entsprechend ein Interesse an hohen Zechen und einer verzögerten Vermittlung – bei der die Zechschulden den Arbeitssuchenden direkt vom Lohn abgezogen wurden. Auch die Lohnauszahlung fand häufig in Wirtschaften statt. Die langen Wartezeiten setzten die Arbeiter „sittlichen Gefahren“ aus und verführten zu „Müßiggang und Trunk“ (Rath 1988:185). Erst 1906 wurden Löhne und Arbeitszeiten tarifvertraglich geregelt. Für die Mahlzeiten wurden Speisehallen („Kaffeeklappen“) eingerichtet, wo kein Alkohol ausgeschenkt wurde. Die Arbeit erfolgte in Gruppen („Gängen“) von acht bis zehn Arbeitern. Abb. 7: Auf Abruf wartende Hafenarbeiter in Hamburg am Baumwall
Da Wohnungen im Hafen und Freihafen nicht zugelassen waren, musste die im Hafen beschäftigten Arbeiter am Hafenrand „zusammenrücken“ oder sich in weiter vom Hafen entfernten Gebieten eine neue Bleibe suchen (Grüttner 1984). Durch Wartezeiten im Hafen sowie die Abhängigkeit von Kneipenwirten für die Arbeitsvermittlung erhöhten sich die Kosten für Essen und Trinken. 1892 brach in Hamburg eine Choleraepidemie aus, bei der über 8.600 Menschen starben. Die Cholera lenkte vor allem den Blick auf die Lebensverhältnisse der (Hafen-)Arbeiterschaft (Evans 1990). Die Unzulänglichkeiten der Strukturen der Hamburgischen Verwaltung waren durch die Epidemie offengelegt worden, hatten Veränderungen ermöglicht und den
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politischen Wandel forciert. Unzufriedenheit über stagnierende Löhne bei steigender Arbeitsintensität und höheren Lebenshaltungskosten sowie Unterdrückung der Bildung von Gewerkschaften beförderten die Unzufriedenheit unter den Hafenarbeitern. Für die betroffenen Hafenarbeiter war diese „Modernisierung“ ihrer Wohn- und Lebensverhältnisse entweder mit höheren Mietbelastungen verbunden, oder sie bewirkte einen zwangsweisen Umzug in die Mietpreisgünstigeren, aber vom Hafen abgelegeneren Wohnquartiere. Bei den engen Hamburger Landesgrenzen und dem immer dynamischeren Prozess der tertiären City-Bildung wurden damit zunehmend mehr Wohnmöglichkeiten in Hafennähe aus der inneren Stadt an den Stadtrand verdrängt. Für die Hafenarbeiter blieb nur die Alternative, schlecht ausgestattete, ungesunde, teure, dafür aber hafennahe Wohnungen gegebenenfalls. mit Untermietern und Schlafgängern anzumieten oder aber in den neueren gründerzeitlichen Mietskasernen, die die innere Stadt umgaben, eine Bleibe zu finden.
K OOPERATIONEN UND P FADABHÄNGIGKEITEN OFFENEN TIDEHAFENS
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Die folgenden Erweiterungen des Hamburger Hafens umfassten bald auch das Südufer der Elbe. Der Generalplan von 1908 richtete den Blick zudem auch auf preußische Gebietsteile. In Kuhwerder, Steinwärder, später in Neuhof und Waltershof entstanden dann nach dem Hamburgisch-Preußischem Köhlbrandvertrag neue Liegeplätze und Umschlagsmöglichkeiten auch für die Flussschifffahrt (Maass 1990:180). Der Erste Weltkrieg unterbrach das stetige Wachstum des Güterumschlags im Hafen (Abb. 8). Die Hafenbecken waren leergefegt, Schiffe mussten an die Siegermächte ausgeliefert werden. Dem Aufschwung der 1920er Jahre folgte umgehend die Weltwirtschaftskrise mit einem erneuten Einbruch im Handel (Wendemuth/Böttcher 1928:164). Wohnsiedlungen in der Marsch waren wegen gesundheitlicher Bedenken nur in Ausnahmefällen errichtet worden. Da die Marschbereiche und die Elbinseln dagegen naheliegender Weise für Gewerbeansiedlungen, Hafen-, Werft- und Seehafenindustrien prädestiniert erschienen, verschärften die topographischen Gegebenheiten die Entkopplung von Wohn- und Arbeitsstätten. Das Problem der Notwendigkeit der Bereitstellung hafennaher Wohnungen für die am und im Hafen Beschäftigten sollte sich erst mit dem Groß-Hamburg-Gesetz 1937 entspannen. Damit konnte auf vormalig preußisches Staatsgebiet zurückgegriffen werden und eine bessere Zuordnung von Wohn- und Arbeitsstätten gewährleistet werden. In der Nähe des Hafens und der kriegswichtigen Werften entstanden neue Wohnquartiere für deutsche Hafenarbeiter (und Lager für Zwangsarbeiter).
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Abb. 8: Der Hafen von Hamburg (nicht genordeter Plan; 1928)
Schließlich folgten die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg. 1945 waren nur noch knapp zehn Prozent der Hafenanlagen funktionsfähig (Heitmann 2006; Grobecker 2004). Obwohl mit der Teilung Deutschlands und Europas große Bereiche des Hinterlandes verloren gingen, gewann der Hafen bald seine Bedeutung zurück. Der Wiederaufbau wurde mit einer Modernisierung vieler Anlagen verknüpft. Anstelle alter Holz- und Eisenkonstruktionen traten Stahlbetonkonstruktionen. Bahnanschlüsse im Hafen wurden verbessert, Straßenverbindungen ausgebaut und neue Elektrokräne eingeführt. Der Hafen wuchs und dehnte sich weiter in südliche und westliche Richtung aus. Mit dem Hafen besitzt Hamburg bis heute einen zentralen ökonomischen Standortfaktor (Abb. 9). Die Mitte des 19. Jahrhunderts getroffenen – damals heftig umstrittenen – Entscheidungen, den Hafen Hamburgs als offenen Tidehafen auszubilden überlagerten bis heute alle Entscheidungen der Hafenplanung. Überlegungen, einen neuen (Hamburger) Hafen bei Cuxhaven zu
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bauen, wurden verworfen, wie auch der Bau eines Elbsperrwerkes, dass die Schifffahrt hätte behindern können. Abb. 9: Entwicklung der Stückgutanlagen im Hamburger Hafen bis 2002
N EUE G OVERNANCESTRUK TUREN UND U NVERTRÄGLICHKEITEN Z WISCHEN C ONTAINERBOOM UND A NFORDERUNGEN DER S TADTENT WICKLUNG Im Kontext neuer logistischer Anforderungen und der Containerisierung des Güterumschlags sind ältere, innenstadtnahe vormals hafengenutzte Bereiche auch in Hamburg („Perlenkette“) anderen Nutzungen zugeführt worden und stadtauswärts neue Terminals mit Seeschiff-tiefer Belegenheit (Altenwerder) entstanden. Werden diese Transformationen von der Stadtentwicklung und Immobilienwirtschaft als Chancen gesehen, problematisiert die Hafenwirtschaft die unmittelbare Nähe von hafenfremden Nutzungen. Die weltweit ähnlichen Nutzungskonflikte in Seehafenstädten – in Hamburg durch unterschiedliche institutionelle Zuständigkeiten befördert – werden, wiederum durch globale Entwicklungstrends im Bereich der Logistik verstärkt, zukünftig eher zu- als abnehmen. Architekturvisionen und von Medien unterstützte Begehrlichkeiten der Immobilienwirtschaft und Stadtentwicklung, Hafen- und Uferzonen zu Flanierzonen und attraktiven Wohn-, Büro- und Kulturstandorten umzunutzen, werden zunehmend durch Anforderungen der Logistik und Hafenwirtschaft konterkariert. Die Abwägung von hafenwirtschaftlichem und stadtstrukturellem Nutzen erfolgt dabei von den Akteuren nach unterschiedlichen Parametern.
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Der Hafen in Hamburg ist noch einer der wenigen „Stadthäfen“ weltweit, bei dem auch die „peripheren“, neuesten Terminals – anders als in London, Rotterdam, Marseille, Los Angeles (San Pedro), Shanghai etc. – immer noch relativ innenstadtnah gelegen sind (2007). Das Hafengebiet nimmt circa zehn Prozent der Stadt Hamburg ein. Nach dem Hafenentwicklungsgesetz (HafenEG) von 1982 (letzte Fassung 2006) sind Hafenflächen nach BauGB Gegenstand von Sonderplanungen (§5 Absatz 4). Das planungsrechtlich definierte Hafennutzungsgebiet umfasst 7.332 Hektar; davon circa 1.600 Hektar Freihafen und circa 1.100 Hektar Hafenerweiterungsgebiet. Im Geltungsbereich des Hafenentwicklungsgesetzes sind nur Nutzungen für Hafenzwecke, wie Hafenverkehr, hafengebundener Handel und Hafenindustrie zulässig (Bonz 2006:40). Daneben sind Flächen für Hochwasserschutz, Verund Entsorgung, Naturschutz und Landschaftspflege sowie Hafenerweiterungsflächen vorzuhalten. Nach diesem Konzept der „Hafenordnung“ erstellt die Hafenverwaltung die Infrastruktur, während Pächter und Betreiber die Suprastruktur für das operative Geschäft (Hochbauten, Umschlagsgerät etc.) in eigener Verantwortung übernehmen. Eigentümer der Grundstücke im Hafen ist vorwiegend die Stadt. Flächen und nutzerspezifische Infrastrukturen werden dann im Rahmen einer Gebrauchsüberlassung vermietet oder längstens bis dreißig Jahre verpachtet. Nur in Ausnahmefällen gibt es privates Grundeigentum im Hafengebiet. Das Hafenentwicklungsgesetz dient der Hafenerweiterung und der Weiterentwicklung des vorhandenen Hafens. Es legt die Grenzen des Hafens und des Hafenerweiterungsgebiets fest. Die Vergabe von Hafengrundstücken erfolgt nach hafenwirtschaftlichen und -politischen Aspekten, der Hamburg Port Authority (HPA) steht an allen Flächen im Hafengebiet ein Vorkaufsrecht zu. Das HafenEG ist nicht nur ein Planungsgesetz sondern auch ein Gesetz zur Organisierung der öffentlichen Einrichtung Hafen. Die HPA ist im Hafengebiet die planende Behörde. Um den neuen Herausforderungen gerecht zu werden, waren 2005 die hafenbezogenen Ämter der Stadt zur HPA zusammengefasst worden. Derzeit betreibt der Hamburger Senat die Teilprivatisierung bisher stadteigenen Hafenbetreibers Hamburger Hafen- und Logistik AG (HHLA). Die HHLA ist einer der führenden HafenlogistikKonzerne zwischen Hamburg und Le Havre und neben den betriebenen Terminals und Hinterlandtransporten unter anderem für Verkauf und Vermietung diverser Immobilien mit Wasserbelegenheit (wie zum Beispiel der Speicherstadt und der Fischmarkt Hamburg-Altona) zuständig. Der Zyklus von Verfall, Vernachlässigung, Planung, Implementierung und Revitalisierung von älteren Hafenbereichen sowie die erforderliche Erstellung neuerer Hafeninfrastrukturen sind in ein komplexes Akteurs- und Interessensgeflecht eingebunden (Schubert 2002). Dabei ist es erforderlich, jeweils Bereiche aus dem Hafengebiet zu „entlassen“, um „normale“ planungsrechtliche Bestimmungen und Zuständigkeiten herbeizuführen und um die Entwicklung durch Bebauungspläne zu sichern. Bei dem bedeutendsten Umnutzungsvorhaben in Hamburg, der „HafenCity“, lag das Areal vollständig im Hafen- und Freihafengebiet. Beginnend mit
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dem Komplex der Kehrwiederspitze erfolgte eine schrittweise „Entlassung“ aus dem Hafengebiet. Die östlichen Bereiche der HafenCity (ab Magdeburger Hafen) sind nach derzeitigem Planungsrecht noch Hafengebiet. Hier sind im Flächennutzungsplan festgelegte Bahnareale noch zu entwidmen. Um Planungssicherheit zu schaffen und um die Entwicklung zu beschleunigen, können im Bereich der HafenCity bereits Bebauungsplanverfahren eingeleitet werden, bevor der Flächennutzungsplan geändert wurde. Um die Rechtsgültigkeit der Bebauungspläne zu sichern, ist dann allerdings die Flächennutzungsplanänderung Voraussetzung. Ist für die HafenCity eine eigenständige Entwicklungsgesellschaft gegründet worden (HafenCity Hamburg GmbH), ist für den Bereich südlich die HPA und nördlich im Bereich der Speicherstadt die HHLA zuständig. Nördlich des Zollkanals gibt es wiederum „normale“ Zuständigkeitsregelungen. Neben hafenplanungsrechtlichen Restriktionen sind im abgegrenzten Freihafenbereich das Zollrecht der Europäischen Union und das Zollverwaltungsgesetz (ZollVG) zu beachten. Freihafenzonen sind vollständig durch besondere Zäune zu sichern. Eine Verlegung der Freizonengrenze muss im Benehmen mit der Zollverwaltung erfolgen. Im Bereich der HafenCity ist diese Verlegung bereits mehrfach erfolgt. Die Ressourcen und Machtpositionen zwischen Terminalbetreibern und Logistikunternehmen als „global player“ und den Städten und Häfen als „local actor“ sind zunehmend ungleicher verteilt. Während erstere die Optimierung globaler Logistikketten betreiben und Renditeinteressen verfolgen, müssen die (Seehafen-)Städte mittel- bis langfristige lokale Perspektiven der Hafen- und Stadtentwicklung berücksichtigen. Bedeutende Terminalbetreiber wie Port of Singapore (PSA) oder Dubai Ports World agieren längst global, setzen auf horizontale und vertikale Integration und bieten für Kunden maßgeschneiderte Logistikdienstleistungen an. Die Entwicklung des Hafens ist längst keine Hamburgensie mehr. Der (geplanten) Elbvertiefung haben die Nachbarländer zuzustimmen, und letztlich entscheiden die global agierenden Reedereien, welche Infrastrukturen, Häfen und Terminals zur Optimierung der unternehmerischen Logistikkette am günstigsten lokalisiert sind.
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Die irreversible Entscheidung, in London Dockhäfen mit Schleusen, von privaten Gesellschaften betrieben, zu bauen, sollte bald zu einem Entwicklungsengpass werden. Konkurrenzen zwischen den Betreibern, unzureichende Bahnanbindungen und Modernisierungsstaus haben den Londoner Hafen in der Konkurrenz mit anderen Häfen zurückfallen lassen und schließlich zum Niedergang und zur vollständigen Schließung des Hafens geführt (Pudney 1975:10). In London ist in wenigen Dekaden ein Welthafen mit tausendjähriger Geschichte zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft, die vormals engen Beziehungen zwischen Stadt und Hafen haben einen grundlegenden Bedeutungswandel erfahren (Schubert 2002:215, Brownill 1990). Der
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fast drei Jahrzehnte dauernde Strukturwandel ist inzwischen weitgehend abgeschlossen. Bezüge zwischen Stadt und Hafen, Hafenarbeit und hafennahen Wohnungen, die über zwei Jahrhunderte den Osten Londons prägten und zum Aufstieg Londons zur bedeutenden Metropole entscheidend beitrugen, sind verloren gegangen. Hamburg schlug Mitte des 19. Jahrhunderts nach kontroversen Debatten eine andere Pfadentwicklung als London ein. Die Entscheidung für den offenen Tidehafen hat sich dabei – anders als die Entscheidung in London für den Dockhafen – als zukunftsfähig erwiesen. In Hamburg wurde der Hafen (noch) nicht zum Spielball privater Interessen. „Was dem Hafen nützt, nützt auch Hamburg“ galt als Leitlinie für die Hafenerweiterungen. Der Hafenbetrieb verblieb in der Hand der Stadt. Land und Infrastrukturen wurden von der Stadt verpachtet und nur ausnahmsweise verkauft. Neue, modernere Hafenanlagen konnten ohne den Schiffsverkehr hemmende Schleusen erstellt werden. Während in London Wohnquartiere um die Docks herum entstanden und zu einer Vernetzung und Abhängigkeit zwischen Wohnen und Hafenarbeit führten, ist im Hafenbereich in Hamburg die Wohnnutzung im Hafengebiet planungsrechtlich nicht zugelassen. Die Wohnquartiere der im Hafen Beschäftigten liegen daher im Umfeld des Hafens, und die Umnutzung von Hafenbereichen setzt immer eine planungsrechtliche „Entlassung“ des Bereiches aus dem Hafengebiet voraus. Die enge räumliche und funktionelle Vernetzung zwischen Hafen und umliegenden Quartieren gehört in allen Seehafenstädten der Vergangenheit an. Die modernen Terminals liegen stadtferner und sind schon aus Sicherheitsgründen vom Stadtgebiet abgetrennt. Die Hafengebiete bildeten Besonderheiten im Stadtgefüge: Zwischenräume und Austausch- und Übergangszonen zur bürgerlichen Normalität, Diasporen (Kokot 2002:97), Andersartigkeiten mit besonderen (Sub-) Kulturen und sozialen Netzwerken. Eine Internationalität auf „kleinstem Raum“ nahmen die Hafenviertel vorweg, zugleich beförderten die hier dominanten Milieus von Kaufleuten, Industriellen und Reedern immer internationale und schließlich globale Vernetzungen und Austauschbeziehungen. Die „Globalisierung der Meere“ ist wechselseitig mit den lokalen infrastrukturellen Voraussetzungen in Häfen vernetzt. Die Hafenstädte sind zu modernen Dienstleistungs- und Logistikzentren geworden (Schubert 2002:22). Austauschbarkeit und Beliebigkeit kennzeichnen sowohl die neuen Containerterminals als auch die umgenutzten Hafenviertel und früheren Lebens- und Arbeitswelten der Hafenarbeiter. Die zuvor skizzierten Prozesse der Entscheidungsfindung und Umsetzung sowie der Ausweitung des Akteursspektrums mit ihren Spezifika in Seehafenstädten sind im Kontext der Restrukturierung von Staatlichkeit zu verorten. Neue Stakeholder, die global agieren, sind zu den lokalen Akteuren hinzugekommen. Diese Unübersichtlichkeit erschwert die Erstellung eines lokalen beziehungsweise regionalen Stakeholderpanoramas (Abb. 10). Die Konzepte des Urban und Regional Governance gehen als Analysemodell über die gewählten, legitimierten Politikstrukturen und
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formalisierten „top down“-Verfahren und Politiken („Urban Government“) hinaus und bieten ein attraktives theoretisches Konzept der Vernetzung des regulations-theoretischen Ansatzes mit der Organisationstheorie (Pierre 1999:391). Es klammert den Privatsektor, der ohnehin längst viele Entwicklungen und Vorhaben dominiert, sowie weitere Akteurskonstellationen, Netzwerke und Bündnisse nicht mehr aus, sondern sucht die komplexen realen Machtpositionen, Interessen und Bündnisse zwischen den Akteuren abzubilden. Urban Governance ersetzt nicht Urban Government, sondern bildet ein komplementäres Element, das vor dem Hintergrund neuer Probleme die realen Interessens-, Macht- und Entscheidungsstrukturen realistischer erfasst (Rhodes 1996:653). Abb. 10: Stakeholderpanorama HafenCity Hamburg (Stand 2008)
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Konkrete Utopie Peter Rehders Gutachten „Die bauliche und wirtschaftliche Ausgestaltung und Nutzbarmachung der lübeckischen Hauptschiffahrtsstraßen“ Otto Kastorff
U TOPIE Planung ist die Konstruktion von aus Symbolen zusammengesetzten Modells und deren Projektion zusammen mit der Formulierung von Handlungsanweisungen in eine zukünftige Wirklichkeit. Es ist also eine Auswahl der in der Zukunft enthaltenen Möglichkeiten von Veränderungen. Die Wahl der unterschiedlich komplexen Symbole (Elias 2001:119-125) aus dem Fundus von Fach- und Allgemeinwissen und ihre Setzung in den Zusammenhang besonderer Modelle charakterisieren die unterschiedlichen Entwürfe in der Planung. Die Reflektion über die Formfindung und Formgebung der Modelle, über ihre gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und ästhetischen Grundlagen ist der Gegenstand der Planungstheorie. Und, soweit es sich um historische Planungen, Bau- und Gesellschaftsentwürfe handelt, befasst sich die Wissenschaft der Planungsgeschichte mit diesen Modellen und ihren Grundlagen. Hier nun wird auf eine Frage nach Beurteilungsgründen für den Zukunftsgehalt von Entwürfen eine Antwort gesucht; oder warum im jeweils ausgetragenen Gegensatz von konservativen mit Avantgarde-Modellen „das schlechte Neue gegen das gute Alte“ (Müller, 1978:288) mit besseren Argumenten antritt. Zur Bestimmung sind die Begriffe zu untersuchen, die zur Charakterisierung des Zukunftsgehaltes gedachter beziehungsweise geplanter Welten oft vermengt gebraucht werden:
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• Science-Fiction • Phantasie • Utopie Science-Fiction beschreibt, wie der Begriff sagt, fiktive mögliche Entwicklungen und Zustände, wie sie aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und ihre Umsetzung in der Technik hervorgehen. Bedingung sine qua non sind wirklichkeitskongruente Erkenntnis von Naturgesetzen, die außerhalb historischer Zeiten angesiedelt sind. Die Zeit in der Science-Fiction verläuft in einer unbestimmten Zukunft; Jahreszahlen und andere Daten sind ebenso Fiktion wie die stattfindenden Pseudoereignisse. Eine realistische Anbindung an die Gegenwart existiert nur in technischer Hinsicht. Die Stories sind nicht geschichtlich, allenfalls enthalten sie Hinweise in Form von Legenden. Doch gibt es in diesem Genre, das mit den Texten J. Vernes, E. A. Poes und H.-G. Wells seinen Anfang nahm und ab 1926 von Hugo Gernsback (Merzbach 2005:12) in „Amazing Stories“ seinen Begriff fand, bewundernswerte Formfindungen – insbesondere in den Raumfahrtserien. Gernsbacks Illustrator F. R. Paul (Weber 2005:3, Wu 1998-2006), ein ausgebildeter Architekt, trug zu dem Erfolg der Hefte wesentlich bei. Algorithmen, die zur Beschreibung dynamischer Formen in Raumfahrzeug- und Flugzeugbauentwürfen verwendet werden, finden in jüngster Zeit Eingang in die Architekturentwürfe, um zu freierer Gestaltung zu gelangen. Phantasie, der zweite zukunftshaltige Begriff, beschreibt assoziative Figurationen, die bei schweifender Einbildung entstehen, darunter Traumgesichter (Elias 2001:92). Letztere verraten etwas über die Herkunft aus der Magie, der Zusammensetzung von Wunschbildern aus empfangenen Eindrücken. Der Realitätsgehalt von phantastischen Figurationen kann sehr gering sein, auch gegen die Logik– Alice im Wunderland läuft durch Spiegel. Wie überhaupt der Spiegel fast symbolisch für die erzeugten Illusionen in der Phantasie stehen. Erinnert sei nur an den Mythos von Narziss. Wenn man das Feld nennen sollte, wo Phantasie zuerst gefragt ist, ist es die Mode – auch die Architekturmode. Phantasie begegnet den Anforderungen nach ständigem Wechsel der äußeren Erscheinung durch die Produktion von Neuheiten und Einfällen gegen die Langeweile vor dem Hintergrund des „Ewiggleichen“ oder es gäbe „nichts Neues unter der Sonne“. Phantasie hat großen Unterhaltungswert und ist Voraussetzung zur Produktion von Erlebniswelten, wobei von Ereignis zu Ereignis neue Inszenierungen veranstaltet werden. Zukunft und Vergangenheit müssen nicht geschieden sein, werden im Traum, in die Phantasie versetzt, mitunter auch aufgehoben. Utopie, die Vorstellung möglicher zukünftiger Wirklichkeit im Entwurf, abgeleitet aus bestehender Realität und deren gedachter Transformation in eine nahe oder ferne Zukunft, einen nahen oder fernen Ort, erweist sich als der substanzreichste Begriff. Thomas Morus Buchtitel „Utopia“ gab der Romangattung den Namen und uns den Begriff.
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Doch finden wir zeitlich vor Morus, wenn wir Hermann Bauer (1965) folgen – ausführlich in seiner Habilitation „Kunst und Utopie“ dargestellt – in Leon Battista Albertis Gesamtwerk noch vor dem Begriff eine früheste Utopie. Seine Texte in Gesamtheit enthalten den Entwurf einer zukünftigen, harmonischen Gesellschaft, entwickelt auf der Grundlage seiner wissenschaftlichen Forschung. Albertis Bücher über das Bauen – „De Re Aedificatoria“ – waren und sind innerhalb der Projektionen nur ein praktischer Teil. Möglich waren diese Projektionen auch durch neuere Erkenntnisse zum Sehvorgang und daraus von Alberti abgeleiteten Modellkonstruktionen. Er sagte, die wirklichen Körper seien unter der Oberfläche verborgen, unser Sehen stieße an eine Grenze. An dieser Grenze zwischen Sinneswahrnehmung und Intellekt stehe die Imagination, ohne die weder Erkenntnis noch Modellkonstruktion möglich sei. „Konkrete Utopie“ wird von Bloch (1967:256 - 288, 723 - 729) mit und gegen Marx noch als Sicht auf eine unentfremdete Ordnung in der besten aller möglichen Gesellschaften formuliert, gegen bloße Träumerei oder Aufgabe der Hoffnung gesetzt, um eine bessere Welt gestalten zu können. Nur: Die Erkenntnis, dass die Geschichte allgemein und politische Aktionen im Besonderen keinen Naturgesetzen folgen, stellt die Marxsche Theorie und ihren eschatologischen Inhalt in Frage. Erhalten bleibt die gesetzmäßige Tatsache, dass die Entwicklung der Produktivkräfte Veränderungen in der menschliche Gesellschaft bewirkt und das sie fortwährend chaotisch zu ungewollten oder mit Einsicht zu gewollten und geplanten Anpassungen zwingt. Konkrete Utopien haben einen realen Anteil: Die gegenwärtige Welt mit ihren natürlichen Gegebenheiten in gesetzmäßigem Verlauf, einer gegebenen Sozialordnung und einen imaginären Anteil: Neue soziale und technische Organisationen der Gesellschaft, die in ihr als Imagination einer veränderten Welt entstehen. Die Verbindung von Realanteil und Imaginäranteil in der Modellkonstruktion einer konkreten Utopie bedarf neben Wissen vor allem der Vorstellungskraft zur utopischen Projektion (Mannheim 1995:169 - 184). Es gibt einen berühmten Ausspruch Albert Einsteins, ihm von Georges Viereck (Taylor 2002) zugeschrieben: „Ich bin Künstler genug, mich auf meine Vorstellungskraft zu verlassen. Die Vorstellungskraft ist wichtiger als Wissen. Wissen ist begrenzt. Vorstellungskraft umfasst die ganze Welt.“
G OVERNANCE UND DIE MODERNE S TADTPL ANUNG DER F REIEN UND H ANSESTADT L ÜBECK
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Die Freie und Hansestadt Lübeck kennt in ihrer Geschichte mehrfach Planungsphasen. Bereits die Gründung der Stadt im Verlauf der Kolonisation im 12. Jahrhundert geschah mit rationalem Grundriss und weitem Rechteckmarkt nahezu in Insellage geplant und die Stadt hat diese Form bis in die Gegenwart nahezu unverändert behalten.
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Die Befestigung mit Wallanlagen im 17. Jahrhundert gaben und geben der Stadt eine Topographie mit eigener Rationalität im Umfeld: Zuerst massiger Schutz der Stadt, engten die Erdmassen der Wälle dann im 19. Jahrhundert die städtebauliche Entwicklung ein und wurden teilweise abgetragen. Abb. 1: Hafenausfahrt um 1842: Links sind die Befestigungen auf der Wallhalbinsel und rechts die Wälle vor dem Burgtor sichtbar
Lübeck wurde als reichsfreie Stadt seit Beginn des 13. Jahrhunderts von einem sich selbst ergänzenden Rat regiert. Seine Mitglieder, die aus der Kaufmannsschicht stammten, waren Mitglieder der städtischen Gemeinschaft, in welche alle Bürger (mit Bürgerecht) „durch den Bürgereid als das formalrechtliche Band der Stadt“ (Graßmann 1988:444) eingebunden und zu Gehorsam verpflichtet waren. Abgestuft gab es eine informelle Beteiligung der Bürger, die auch im Laufe der Zeit eine Berücksichtigung in der jeweiligen Konstitution des Stadtstaates fand. Für den hier behandelten Zeitraum galt die im April 1848 angenommene Verfassung. Das Kyrion, die gemeinsame Herrschaftsausübung von der jetzt Senat genannter Regierung und der Bürgerschaft, wurde beibehalten, die Mitwirkung letzterer bei Senatsergänzung und Verabschiedung von Gesetzen geregelt (Ahrens 1988:612). Mit dem Rats-Eid schwor das neue Ratsmitglied: „[...] dieser Stadt Nutzen und Bestes, nach meinem höchsten Verstande und Vermögen fördern und fortsetzen“ (Ahrens 1988:603, Abb. 192) und dabei unbestechlich und vorurteilsfrei zu handeln. Damit waren Grundsätze einer guten Regierung benannt, aber nicht die jeweils konkret zu verfolgenden Ziele vorgegeben. Folglich gab es ihretwegen kontroverse Diskussionen, die im Rahmen der neuen Verfassung öffentlich ausgetragen wurden. „Im staatlichen Leben“ heißt es 1855 in Ritter‘s geographisch-statistischem Lexikon mit kritischem Blick auf die Lübecker Verhältnisse, „stehen sich zwei
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Partheien gegenüber, eine am Althergebrachten hangend, ist an Zahl überwiegend, die andere, die mit der Vergangenheit gebrochen hat, zwar schwächer an Zahl, aber vorwiegend an Intelligenz, Reichthum und Einfluß.“ (Ahrens 1988: 617). Spät, weil vom Nachbarn Dänemark gehindert, erhielt Lübeck 1848 bis 1851 den Anschluss an das Eisenbahnnetz. Teile der Wallanlagen wurden abgetragen, um nach Plänen der Baudirektoren Scheffler (Stadt und Bahn) und Müller (Hafen) den Bahnhof mit einem Eisenbahnhafenbassin und einen Holzhafen anzulegen; der erste bedeutende Eingriff in die bis dato bestehenden Strukturen. Baudirektor Krieg vereinte 1863 als Nachfolger beide Ämter, setzte die Planungen zum Hafenausbau und zur Stadterweiterung fort und regte Diskussionen zwischen Rat, Bürgerschaft und Baudeputation an, aus denen Planungsgrundsätze und Handlungsmaximen hervorgingen. Eine dieser Maximen des Senates bestand darin, die Kontrolle der Entwicklung von Infrastruktur und Hafen zum Wohl des gemeinen Ganzen nicht aus der Hand zu geben, was konkret bedeutete, dass alle in Frage kommenden Flächen freihändig erworben wurden. Die Aufhebung der Torsperre nach dem deutsch-dänischen Krieg 1864 veranlasste Baudirektor Krieg in einem Schreiben an den Senat, den Entwurf eines Bebauungsplanes anzuregen: Einer ungeregelten Bebauung an Strassen und Wegen und „ [...] den hieraus sich ergebenden, und freilich erst in den späteren Jahren rechtfühlbaren Übelständen ließe sich durch Aufstellung eines Bebauungsplanes für die Vorstädte wirksam entgegentreten. [...] Den für Berlin vorhandenen, auf Jahrhunderte voraus berechneten Bebauungsplan kann ich bei dieser Gelegenheit als mustergültig empfehlen“ (AHL, Tiefbau: J II No.1). Der Entwurf Kriegs ist nicht erhalten. Aus späteren Unterlagen lässt sich aber ein System von Radialstraßen (Torstraßen) und zwei Ringen erschließen. Da das ganze Instrumentarium zur Ausarbeitung des Bebauungsplanes, angefangen bei der Vermessung des Gebietes und Erstellung der Planzeichnung bis zum formalen, rechtlichen Beschluss erst erarbeitet werden musste, zogen sich die Aufstellung und die Beschlussfassung bis 1894 hin. Untrennbar eingewoben in die Entwicklung des Bebauungsplanes war die Frage des Ausbaus von Hafen, Kanal und Trave als Schifffahrtsstraßen. Die reichlich kontroversen Diskussionen zwischen den oben beschriebenen Parteien zermürbten Baudirektor Krieg und er nahm eine Kürzung seines Gehaltes zum Anlass, den Dienst zu quittieren.
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Abb. 2: Hafenerweiterung der 1870er Jahre vor dem Burgtor (siehe Abb. 1 – Gegenrichtung) mit erweiterten Gleisanlagen
1875 wurde Luis Martiny, Leiter des Marine-Bauamtes in Kiel, als Nachfolger Kriegs zum Wasser-Baudirektor erwählt. Sein Mitarbeiter, der 32-jährige Baumeister Peter Rehder folgte ihm, um „interimistisch“ die Bearbeitung der Lübecker Hafenbaupläne und der Pläne zur zweiten Travencorrection zu übernehmen. Rehder, 1843 in Oster-Jork bei Stade geboren, studierte 1861 bis 1867 an der Polytechnischen Schule Hannover (heute TU) das Baufach, speziell Wasserbau. Er trat nach Ablegung einer Prüfung in den preußischen Staatsdienst ein und sammelte praktische Erfahrungen als Bauführer auf Borkum, arbeitete anschließend nach einer Bewerbung im neu eingerichteten Marine-Bauamt Kiel an Plänen zum Bau des dortigen Marinehafens und legte die Prüfung zum Regierungsbaumeister ab. Die Hafenerweiterung mit Grunderwerb und Umlegung bearbeitete Rehder schnell und schloss daran die Ausarbeitung und Ausführung der zweiten Travencorrection umsichtig planend und kostenbewusst an. Rehder erhielt anschließend den Auftrag, ein Gutachten für den Ausbau der Seehäfen als Stellungnahme zu dem von Baudirektor Krieg angeregten Bebauungsplan der Vorstädte zu erstellen. Gründlich prüfte er alle Vorgaben aus Vorarbeiten und Kommissionsberichten. Ein Grundlagenwerk der Planung wurden seine Arbeiten zu hydrologischen und geologischen Gegebenheiten im Einzugsgebiet der Trave. Damit lagen die Erkenntnisse über Topographie und Wasserhaushalt vor, um sachgemäße Eingriffe zu planen. Zugleich beobachtete Rehder die technische Entwicklung seiner Zeit in Schiff-, Eisenbahn- und Hafenbau, wie aus seinen Aufzeichnungen und Unterlagen in den Archivalien hervorgeht.
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Rehder lieferte dann einen Entwurf zum Ausbau der Seehäfen in zwei Bauabschnitten. Als Zeithorizont zur Realisierung nahm er circa dreißig Jahre an. Die außerordentlichen Qualitäten der Pläne und der darin enthaltene Vorstellungen zeigt sich hierin: Rehder konnte in den verbleibenden Jahren seines Lebens beobachten, wie aus den Plänen ohne Änderungen Wirklichkeit wurde. Und: Die Anlagen erfüllten für mehr als neunzig Jahre ihren Zweck. Schritt um Schritt erweiterte Rehder in den folgenden Projekten seinen Planungshorizont: • Der Elbe-Trave-Kanal, vorher mit verschiedenen Trassen Jahrzehnte in der Diskussion, wurde ein Meisterstück. Hätte Rehder das „Europaschiff “ gekannt – seine Vorstellungen waren nahe genug daran – entspräche der Kanal den heute gültigen Planungsstandards. • Die dritte Travencorrection brachte in der ersten Ausbaustufe bis 1907 und dem endgültigen Ausbau bis 1912 die Tiefen des Fahrwassers auf ein Maß, das dem Ausbau des Nord-Ostsee-Kanals folgte. Abb. 3: Der Blick geht in den 1920er Jahren über die Seehäfen im Vordergrund, weiter über den Vorwerker Hafen – fertig gestellt doch kaum genutzt – dann im Mittelgrund Trave abwärts
DAS R EHDER -G UTACHTEN 1906 folgte das Gutachten über „Die bauliche und wirtschaftliche Ausgestaltung und Nutzbarmachung der lübeckischen Hauptschiffahrts-Strassen“ (Rehder 1906). In dem Gutachten verlässt Rehder das städtische Umfeld und bezieht den gesamten Unterlauf der Trave bis Travemünde in seine Planungen ein. Es stellt eigentlich eine frühe Landesplanung dar, denn, ausgenommen die lübeckischen Enklaven im Holsteinischen und Lauenburgischen, ist nahezu das gesamte Staatsgebiet überplant. Hafenplanung, Planung der städtebaulichen
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Erweiterung und Industrieansiedlung in Kombination sind in der Zeit ohne Parallele. Es verlangte außerordentliche Vorstellungskraft, diese Pläne zu entwickeln. Garniers Entwurf zu einer „Cité Industrielle“ von 1904 ist zwar gleichfalls komplex und ausgedehnt, blieb aber auf ein Stadtgebiet mit Stadtteilen beschränkt und unpubliziert. Abb.4: Gutachten, Übersicht über Industriebezirke
Das Gutachten hatte eine eigene Vorgeschichte: Es gab eine zunehmenden Diskussion über Gefährdungen durch industrielle Anlagen in Wohngebieten – bereits seit 1896 war ein Wohngebiet in der Vorstadt St. Jürgen abgegrenzt, in der solche Anlagen ausgeschlossen wurden (Begründung §16 der Gewerbeordnung). Der Lübecker Industrie-Verein hatte in demselben Jahr, angeregt von Hinweisen aus Altona, einen Beirat eingesetzt, der, um zukünftig derartige Konflikte zu vermeiden, die Erschließung von Industrieansiedlungsflächen bearbeiten sollte. Neben einer Umfrage zur Anlage solcher Flächen unter deutschen Städten mit zehn positiven Rückläufen, blieb es bei der Formulierung eines Entwicklungsprogramms (Kreutzfeldt 1969:63-65). Rehder, vom Senat zur Ausarbeitung von entsprechenden Planungen aufgefordert, griff diese vorliegenden Arbeiten auf, erneuerte die Umfrage und überarbeitete das Entwicklungsprogramm und die Grundsätze. Weitere Vorgaben waren seine vorhandenen Planungen, der Bebauungsplan für die Vorstädte und im Wohnungsbau ein Haustyp mit Mindeststandard, den eine Senatskommission 1897 festgelegt und der Eingang in die Wohnungsbauproduktion gefunden hatte. Rehder stellte zuerst fest, dass die Lübecker Anlagen generell den Größenänderungen am Nord-Ostsee-Kanal folgen müssten, wollten sie nicht Wettbewerbsnachteile erleiden. Das Modellschiff seiner Planung für die Schifffahrtsstraßen nahm Rehder mit maximal 15.000 Tonnen Tragfähigkeit an und rechnete mit einem Tiefgang von circa neun Meter in der Zukunft, was einer Tiefe des Fahrwassers von mindestens 9,5 Metern entsprach. Der Zeithorizont war auf circa 50 Jahre gelegt. Seine Annahmen erwiesen sich als weitgehend richtig.
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Welche Bestandteile hat te das Modell? Erstens die Stadt als Verwaltungs- und Handelszentrum (Kontore) blieb unverändert der Traditionskern in der Planung. Ansätze zur Erneuerung gab es im Stadtkern, zum Beispiel mit der Königsstraße ein Straßenverbreiterungsprojekt, das nur teilweise realisiert wurde. Die Vorstädte enthielten Flächen für Erweiterungen der Wohnbebauung. Für sie war der bereits erwähnte Bebauungsplan entworfen und beschlossen worden. In der Bebauung überwog anfangs der Anteil der dreiachsigen Reihenhäuser wie er, aus preußischen Musterentwürfen im späten 18. Jahrhundert hervorgegangen ist, überall in Deutschland gebaut wurde: Ohne abgeschlossene Wohnungen. In geringerer Zahl entstanden Einzelhäuser, mitunter als „Villen“ bezeichnet. Veranlasst durch die Feststellung ungesunder Wohnverhältnisse in der Stadt und den Vorstädten, gab es seit 1898 einen Musterentwurf des Baudirektors Schaumann, der als Mindeststandard festgelegt worden war. Bereits um 1904 fand der Übergang zum modernen Landhausbau statt. Ursächlich war die Verbindung zum preußischen Oberbaudirektor Hinkeldeyn, einem gebürtigen Lübecker, und damit zu Muthesius, der bereits 1904 und 1905 Häuser in Lübeck plante. Die jüngeren Architekten, die zur selben Zeit ihre Büros in Lübeck eröffneten, fanden eine entsprechend modern eingestellte Klientel vor: Die oben genannte, an Intelligenz und Reichtum hervortretende Bevölkerungsgruppe. Abb. 5: Gutachten, Ausschnitt aus Blatt VII
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Zweitens die Fabrikstadt (Bezirk II im Gutachten) als Gegenpol zur bürgerlichen Stadt mit Flächen für Industrie und Gewerbe, erschlossen über Straßen und Eisenbahnen mit zahlreichen Bahnhöfen, Ladegleisen und Umschlagplätzen. Ein Vorbild hatte Rehder in den Unternehmungen des Dr. Heine in Leipzig-Plagwitz gefunden, wo seit 1854 Industriegebiete durch private Initiative entstanden waren, welche Ende des 19. Jahrhunderts schließlich vom sächsischen Staat übernommen wurden. Sie hatten charakteristische Erschließungsmerkmale durch mittige Gleis- und parallele Straßenanbindung, zudem einen Elster-Kanalhafen (Bischof/Boltze 1909: 31-32). Abb. 6: Gutachten, Ausschnitt aus Blatt VII
In Rehders gezeichneter technischer Ausarbeitung war der Planteil sehr konkret – Brückenhöhen waren bis auf Zentimeter bedacht, doch blieb die langfristige Realisierung utopisch. Es fehlte ein entsprechendes Entwicklungspotential. Die später entstandenen Gewerbegebiete besitzen andere Formen und wurden an anderen Standorten angelegt. Der zugehörige Vorwerker Hafen wurde 1920 fertiggestellt, jedoch erst ab den 1950er Jahren richtig genutzt und spielt heute – hundert Jahre später – eine wichtige Rolle im Hafenumschlag.
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Abb. 7: Zentralblatt der Bauverwaltung 1895
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Abb. 8: Zeitschrift für Bauwesen 1909
Drittens der westliche und südliche Kanalhafen (Bezirk I im Gutachten) mit Kaianlagen und angebunden Industrieflächen, erschlossen durch Bahn und Straße, nicht unähnlich der Fabrikstadt. Die Anleger im Kanal wurden mehrere Dekaden genutzt, sind jedoch heute aufgegeben, da der Binnenschiffsverkehr keine so bedeutsame Rolle mehr spielt. Am südöstlichen Kanalufer entwickelte sich ein umfangreiches Gewerbegebiet; das nordöstliche Ufer blieb naturnah liegen und fiel aus der Entwicklung heraus. Viertens, der neue Hauptbahnhof in der Vorstadt St. Lorenz in Tieflage beendete die Staus an niveaugleichen Kreuzungen der alten Anlage. Ein Anschluss an den Hafen und weiträumige Gleisanlagen entlang des nördlichen Traveufers bis Travemünde zur Erschließung der geplanten Kaianlagen und anzusiedelnden Industrien ließ sich leicht herstellen. Der neue Bahnhof wurde umgehend gebaut und 1908 in Betrieb genommen.
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Die Seehäfen mit Hafenbahnhof waren nach Rehders Entwürfen im Ausbau begriffen. Für den Hafenbahnhof hatte das Duisburger Beispiel Pate gestanden. Mitte der 1890er Jahre war der Duisburger Hafen modernisiert worden. Durch die Anlage von Gleisen an der Wasserseite und von Zu- und Abfahrts- sowie Ladegleisen nebeneinander auf der Landseite, kombiniert mit einem neuen Hafenbahnhof, aufgeteilt in Rangier- und Übergabebahnhof, zu einem System ergänzt, ließen sich die Verkehre überaus schnell abwickeln (Hirsch, A. 1895:341 - 343). Abb. 9: Gutachten, Blatt I
Für den Lübecker Hafenbahnhof wurden bis zu seiner Realisierung fast hundert Jahre Zeit benötigt. Abb. 10: Gutachten, Ausschnitt aus Blatt II
Fünftens ein Freihafen in den Israelsdorfer Wiesen, der die vorhandenen Hafenanlagen an Größe übertraf und für dessen Realisierung eigentlich kein Potential vorhanden war. Er hätte wohl Güterumschlag aus dem Hamburger Hafen abziehen sollen und wenigstens einen Teil der zu erwarteten Umschlagszuwächse im Nord-Süd-Verkehr auf sich zu ziehen. Es blieb bei diesem utopischen Planungsstadium. Doch solange Lübecks Selbstständigkeit
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bestand, wurde an der Planung festgehalten. In den 1930er Jahren wanderte der Standort flussabwärts.
Abb. 11: Gutachten, Blatt X
Sechstens, die Kais entlang des nördlichen Traveufers bis Travemünde waren als Umschlagstellen für Massengüter der großen Industrien vorgesehen, dazu Plätze für Werften. Schifffahrtsweg, Bahngleise und ErschließungsStraßen bildeten eine industrielle Bandstruktur für die zu erschließenden Gebiete (Bezirke III bis V im Gutachten), von denen Teile erst zu späterer Zeit nach Bedarf einbezogen werden sollten. Struktur und Zeithorizont sind außergewöhnlich und die Bandstruktur findet erst später vergleichbare Nachfolger in Schumachers „Palmwedel“ (Keil 1959:2), bei Christaller (Meyer-Lindemann 1951:183) und Corbusier (1945). Abb. 12: Gutachten, Plan Blatt VII
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Das 1903 in der Planung befindliche Projekt einer großen Schiffswerft der Gutenhoffnungshütte zerschlug sich. Gleichwohl ist der Standort für eine derartige Anlage aufgenommen und später mit Werften besetzt worden. Ebenfalls geplant war auch ein Hochofenwerk nahe Travemünde, welches dann auch an einem anderen Standort weiter flussauf von 1905/06 gebaut und bis zum Konkurs 1981 betrieben wurde. Die großen Flächen bei Travemünde (Bezirk V im Gutachten), denen erst zukünftig eine Entwicklung beschieden sein sollte, sind heute für die Erweiterung des Fährhafens ausgebaut und weitgehend in Gebrauch genommen. Diesen Hafen laufen Schiffe mit über 40.000 Bruttoregistertonnen Tragfähigkeit an. Rehder trat 1910 hochgeehrt in den Ruhestand und arbeitete auf Bitten des Senats noch ein weiteres großes Projekt aus: Ein Nord-Süd-Kanal Lauenburg-Hannover, welches er im Mai 1911 abschloss. Für dieses Projekt warb er in den letzten Lebensjahren. Er verstarb 1920 in Lübeck.
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Zur Governance der Gartenstadt Magdeburg zwischen „Rotenburg“ und „Protzenheim“ Friedhelm Fischer
Die Wandlungen im Zusammenspiel der öffentlichen und privaten Akteure im Städtebau während der letzten gut 100 Jahre und die zugehörigen Deutungsmuster bilden sich – wie sollte es anders sein – auch in der Entwicklung der deutschen Gartenvorstädte deutlich ab. Der Erkenntnisstand zum Thema Gartenstadt gilt als gesichert, nachdem die große bundesdeutsche Welle der wissenschaftlichen Aufarbeitung des „Phänomens Gartenstadt“ zwischen Kristiana Hartmanns „Deutsche Gartenstadtbewegung“ (1976) und dem Sammelband „Im Grünen wohnen – im Blauen planen“ (Bollerey /Fehl/Hartmann 1990) sich dieses Themas angenommen hat. Allerdings haben die Öffnung der Grenzen der einstigen DDR und damit die verbesserte Erschließung zuvor unzugänglicher Archive unser Bild von den städtebaulichen Entwicklungen auf lokaler Ebene bereichert und differenziert. Zudem legt der Blick aus dem „Betrachtungsfenster Governance“ Veränderungen in der Gewichtung der bis dato dominanten Einordnungskriterien nahe. In diesem Sinne setzt sich der Beitrag mit einer Gruppe von Siedlungen auseinander, die um 1909 in Magdeburg in unmittelbarer Nachbarschaft zu einander entstanden und städtebaulich sowie von den Governance-Strukturen her unterschiedliche Typen von Gartenvorstädten repräsentieren: 1. Bruno Tauts klassische Arbeitersiedlung „Reform“ (Abb. 1), 2. eine teilweise eher pompöse Werkssiedlung für die höheren Angestellten von Krupp (Abb. 2) und 3. die mittelständische „Gartenstadt Hopfengarten“ (Abb. 4). Der Dialektik von „öffentlich und privat“ in den Akteursstrukturen und Strategien dieser Siedlungen entsprachen typische Gegensätze in Architektur und Städtebau, interpretiert als Polarität zwischen „Gemeinschaft und Individualität“ und zugleich als Ausdruck unterschiedlicher Klasseninteressen und -strategien: Der „gemeinschaftsbildenden“ Architektur schlichter, sparsamer Reihenhäuser mit seriellen Grundrissen (Abb. 4), die im gleichartigen Erscheinungsbild kollektive Arbeitersolidarität zelebrierten und Gemeinschaft in Wohnhöfen (Abb. 5) inszenierten, so wie in „Reform“, stand der individualistische Charakter repräsentativ gestalteter Villen gegenüber, die
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dem „Bürgertraum vom Adelsschloss“ nachhingen, den die Terraingesellschaften und Villenkolonien bedienten, selbst in Hellerau. Abb. 1: Arbeitersiedlung Reform, Luftbild
Abb. 2: Werkssiedlung Krupp Gruson
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Abb. 3: mittelständische Gartenstadt Hopfengarten
Abb. 4: Gartenstadt Reform (B. Taut): Schlichte, sparsame Reihenhäuser mit seriellen Grundrissen...
Abb. 5: ...und „gemeinschaftsbildenen Wohnhöfen“
Auch die Siedlung Hopfengarten schien in dieses Muster zu passen. Zwar galt sie „im Anfange der Gartenstadtbewegung als Musterkolonie“ (Göderitz
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1922:35) und wurde in der Zeitschrift „Der Städtbau“ als „vorbildliches Beispiel“ (Schmidt 1911:77) der Gartenstadtbewegung gepriesen. Doch von den 20er Jahren an verblasste die Vorbildwirkung. Zur Bewältigung der immensen Probleme des Massenwohnungsbaus der Zeit schien der Ansatz weniger geeignet. Zudem verband sich das Anliegen der Arbeiteremanzipation häufig mit einer Geringschätzung des Mittelständischen als „bourgeois“, das heißt als gesellschaftspolitisch irgendwie defizitär, eine Einstellung, die wohl nirgends stärker ausgeprägt ist als bei den mittelständischen Linken. Ohne diesem Syndrom hier weiter nachzugehen, lässt sich, konkret auf das Beispiel des Hopfengarten bezogen, durchaus feststellen, woher dieses Unbehagen stammt: Auf den ersten Blick erinnern nämlich Erscheinungsbild, mittelständischer Charakter und Eigenheimideologie an jene Mehrheit von „Erwerbshausgenossenschaften“ (Novy 1983:28), die es, zum Ärger der Deutschen Gartenstadtgesellschaft (Gartenstadt 1910:69), überall in Deutschland verstanden haben – meist unter Inanspruchnahme öffentlicher Gelder, Leistungen und Grundstücke – ihr privates „Schäfchen ins Trockene“ zu bringen, und die sich in den meisten Fällen recht bald nach der Gewinnmitnahme durch Privatisierung der öffentlich subventionierten Bauten und Grundstücke wieder auflösten – nicht gerade ein Vorbild für den später in öffentlicher Regie betriebenen Massenwohnungsbau. Erst bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass im Falle von Hopfengarten die durchaus zu konstatierende individualistische Gestaltungsvielfalt und der mittelständische Charakter des Siedlungsexperiments den Blick auf die Besonderheiten des Ansatzes verstellt haben. Um diesen Besonderheiten auf die Spur zu kommen, müssen wir in das Jahr 1909 zurückgehen. Ihren Ausgang nahmen diese Entwicklungen mit der Gründung einer Ortsgruppe der Deutschen Gartenstadtgesellschaft 1908 in Magdeburg (Frankhaenel 1909:15) und der fast zeitgleichen Gründung mehrerer neuer Genossenschaften im folgenden Jahr (1909). Im gleichen Jahr wurden eine neue Bauordnung und ein neuer Zonenplan für Magdeburg verabschiedet (SArch MD:1909), der mit der Einführung des neuen Typus‘ der „Landhausviertel mit offener Bebauung“ überhaupt erst die Grundlage für die Anlage von gartenstadtähnlichen Gebilden lieferte. Die darin vorgeschriebene niedrige Bebauungsdichte und hohe Baustandards waren jedoch einseitig auf „sogenannte bessere Wohnviertel“ ausgerichtet (Rühl/Weißer 1922:8). Schließlich wollte man sich den innerstädtischen Wohnungsmarkt nicht durch die Genehmigung billiger Ausweichquartiere am Stadtrand verderben: „Wenn sie draußen 500 Wohnungen auf billigem Gelände bauen, so werden dadurch die Mieten in der Altstadt sinken. Dazu bieten wir nimmermehr unsere Hand.“ (zit. in: Beims 1927:7). Ganz in diesem Sinne machten die Stadtverwaltung und die Lobby der Haus- und Grundeigentümer es in erster Linie der Arbeitergenossenschaft „Reform“ schwer, Baugelände überhaupt erst zu kaufen. Im „Hase-und-IgelSpiel“, in dem unbekannte Investoren immer wieder den „Reformern“ ihr Grundstück vor der Nase weg schnappten, half erst eine List zum Erfolg. „Unter Verdeckung der Firma und… mit Hilfe von Agenten“ konnten nach
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zwei Jahren zwölf Hektar Bauland westlich der Leipziger Chaussee gekauft werden, auf dem im März 1912 das erste Haus bezogen werden konnte (GWG Reform 1935, o. S ). Zu diesem Zeitpunkt hatte die mittelständische Genossenschaft Hopfengarten bereits über 100 Häuser fertig gestellt. Ihrer Lobby-Arbeit war es auch zu verdanken, dass nach langen Auseinandersetzungen mit der Stadt die Bauordnung um einen Absatz zur Gartenstadtbebauung ergänzt und damit eine Bresche für die Kleinhausbebauung in ganz Magdeburg geschlagen wurde. Nun durfte es Nutzgärten statt Ziergärten geben, und anstelle von Einzelhausvillen mit großen Raumhöhen waren Reihenhausbebauung bis zu vier Häusern und geschlossene Straßenfronten bis zu 50 Meter zugelassen (Stadtarchiv Magdeburg 1909). Davon profitierte auch die dritte Genossenschaft im Cluster an der Leipziger Straße, der „Bauverein der Krupp-Gruson-Werkbeamten“, wenngleich den höheren Wohnansprüchen dieser Zielgruppe entsprechend vor allem der „Bau von Einzelwohnhäusern mit Gärten“ anvisiert wurde. Das Werk stellte ein Darlehen von 200.000 Mark zur Verfügung, mit dem ein Baugeschäft in der Regie des Bauvereins freistehende Häuser im Villenstil und Hausgruppen errichtete – eine klassische Werkssiedlung, in der Arbeits- und Mietvertrag gekoppelt waren. Das soziale Image trug den gegensätzlichen Siedlungen eindeutige Benennungen im Volksmund ein (Amann/Neumann-Cosel 1984:15). Dem privilegierten ‚Protzenheim‘ der gehobenen Werksbeamten mit seinen Villen standen die Reihenhäuser der oppositionellen Arbeitersiedlung, tituliert als „Rotenburg“, polar gegenüber – eine Siedlung ganz im Sinne der Deutschen Gartenstadtgesellschaft. Zwar waren die „Reformer“ an der Ortsgruppe Magdeburg vorbei zur Eintragung ins Genossenschaftsregister gelangt, doch erfuhren sie die Unterstützung von Galionsfiguren der Gesellschaft wie Hans Kampffmeyer und Hans Bernoulli, die den Bebauungsplan ausarbeiteten, bevor Bruno Taut ab 1913 die Leitung übernahm. Während seiner Zeit als Stadtbaurat ab 1921 wurde „Reform“ zum ältesten Vorzeigestück des „Neuen Bauwillens“ in Magdeburg. Ähnlich aussagekräftig wie das Erscheinungsbild dieser beiden Siedlungen schien das Bild der benachbarten Gartenstadt Hopfengarten: Anstelle gleichartiger Reihenhäuser entstanden zunächst vorwiegend Einzel- und Doppelhäuser, von einer Reihe freier Architekten vielfach auf ein Höchstmaß an Individualität getrimmt. Durch ihre bauliche Zusammenfassung entsprachen auch die kleinen Doppelhäuser dem Erscheinungsbild kleiner Villen. Mit Nutzflächen in der Größenordnung von zum Teil nicht viel mehr als 50 Quadratmeter pro Haus sind sie jedoch deutlich dem Kleinhaustypus zuzuordnen. Handelte es sich aber auch wirklich um „billige Eigenheime“ wie diese Broschüre von 1911 (Gartenstadt Hopfengarten 1911:o. S.; Abb. 6) anpreist?
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Abb. 6: „Billige Eigenheime“: Verkaufsbroschüre der Gartenstadt Hopfengarten mit Kaufpreisen
Dieser Frage bin ich nachgegangen, und habe Baupreise und Standards zwischen Hopfengarten und Reform verglichen (Archiv GWG Reform/ Stadtarchiv Magdeburg Rep 35 Hm 62-69). Die überraschende Erkenntnis: Die Untergrenze der Baukosten (1911: 5.000 M) lag bei den Doppelhäuschen im Hopfengarten noch unter der der kleinsten Reihenhäuser in der Gartenstadt Reform (1912: 7.500 M). Mietwohnungen und Eigenheime, deren Spektrum jeweils vom kargen Stube-Kammer-Küche-Typ bis zum Fünfzimmer-Kleinhaus reichte, boten darüber hinaus eine Grundlage für die angestrebte soziale Mischung. Denn dieses war das Grundkonzept: Das ursprüngliche Vorhaben, eine „Mietsgenossenschaft“ zu gründen, war angesichts der ablehnenden Magdeburger Stadtverwaltung dem Gartenstadtgedanken gegenüber und angesichts der frustrierenden Erfahrungen von Reform aufgegeben worden. Stattdessen entschied man sich für eine Mischform von Eigenheim- und Mietwohnungsbau.
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Das dabei verfolgte Prinzip könnte man als eine Art „Anschubfinanzierung“ bezeichnen, wobei private Bauherren durch die Vorfinanzierung der Kosten für Landkauf, Straßen- und Kanalisationsarbeiten eine Grundlage für einen nicht spekulativen und nicht öffentlich geförderten Mietwohnungsbau schufen. Dieser wurde darüber hinaus über Genossenschaftsanteile und die Hypothekenanleihen der Landesversicherungsanstalt finanziert. Für alle Immobilien wurde im Grundbuch ein Wiederkaufsrecht der Genossenschaft im Falle der Weiterveräußerung eingetragen (Abb. 7). Im Gegensatz zu vielen Gartenstädten der Zeit wurden also (ähnlich wie im Falle der Genossenschaft Reform) in dieser Phase keine öffentlichen Zuschüsse oder subventionierten Kredite zur Verfügung gestellt, keine Vergünstigungen beim Landerwerb gewährt. Auch die Kosten für Straßenbau und Kanalisation für die gesamte Siedlung wurden von den privaten Bauherren der Genossenschaft getragen, die der Stadt dafür das Gelände unentgeltlich übereignete. Abb. 7: „Anschubfinanzierung“: Genossenschaftsbauten und Quadratmeterpreise der Privatgrundstücke
Erklärtes Planungsziel war „weder eine reine Arbeitersiedlung noch eine Beamtensiedlung, sondern auf alle Fälle eine Siedelung mit starker“ sozialer Mischung (Frankhaenel 1909:15). So gab es auch weder getrennte Siedlungsbereiche für Eigenheime und Mietwohnungen, noch sollte dieser besitztechnische Unterschied an Erscheinungsbild oder Standard der Häuser ablesbar sein. Miete und Eigentum war vielfach sogar in derselben Doppel- oder Dreihausgruppe vereint. Dabei war häufig das Mietshaus sogar größer als das Eigenheim – ein fast schon widersinniges Bemühen darum, Statusunterschiede eher zu nivellieren als zu inszenieren (Abb. 8).
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Abb. 8: Planungsziel: Feinkörnige Mischung von Miete und Eigentum
Jedenfalls konnten auf dieser Grundlage bis zum Ersten Weltkrieg neben den Eigenheimen immerhin 27 Mietwohnungen gebaut wurden: Einzelhäuser, Doppelhäuser und Hausgruppen zwischen drei und sechs Häusern – sozusagen in Privatregie entstandene Sozialwohnungen – bevor in den 1920er Jahren der öffentlich geförderte Wohnungsbau zum Durchbruch kam. Der von dem Magdeburger Architekten Fritz Amelung entworfene Bebauungsplan in der Tradition Sittes oder auch Unwins ist im Bereich des Hauptstraßenzuges und nördlich davon auf ein „romantisches“, abwechslungsreiches Erscheinungsbild orientiert. Geschwungene oder abgeknickte Straßenzüge und versetzte Einmündungen verraten das Bemühen, „malerische Wirkung“, Spannung auf „das, was hinter der Kurve liegt“, zu erzielen. Platzartige Effekte entstehen durch die geschickte Anordnung der Häuser auch an Stellen sparsamen Parzellenzuschnitts und geringer öffentlicher Flächenanteile. Relativ sparsam ist auch die Straßenführung, die nur 13,6% des Geländes in Anspruch nimmt. Die Entwicklung des Bebauungsplanes wurde von Anfang an als Prozess begriffen: „Als das Wichtigste erschien, nicht für alle Zeiten schon jetzt die Straßen festzulegen, sondern nur das jeweilig der Bebauung erschlossene Stück nach den vorhandenen Bedürfnissen aufzuteilen und den vorläufigen Plan je nach den veränderten Bedürfnissen und Erfahrungen abzuändern.“ Da die Stadt auch durch die im Umgang mit den Behörden durchaus gewiefte mittelständische Genossenschaft nicht zu Investitionen in die Frei-
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raumgestaltung zu bewegen war, erfolgten die ersten Baumpflanzungen und damit die Grundzüge der öffentlichen Freiraumgestaltung in Privatregie der Genossenschaft (SArchMD 1911), was als durchaus ungewöhnlicher Vorgang zu bewerten ist (Abb. 9). Abb. 9: Ungewöhnliches Muster der Governance: Anpflanzung von Linden im öffentlichen Straßenraum in privater Regie, 1913
Unter den Rahmenbedingungen des kommunalen Wohnungsbaus der Weimarer Republik gelangte in den 1920er Jahren der genossenschaftliche Mietwohnungsbau als dominante Form der Siedlungserweiterung zum Durchbruch. Zu Beginn der 1930er Jahre machten die Mietwohnungen mehr als die Hälfte des Wohnungsbestandes aus. In den 20er Jahren wandelte sich die gestalterische Grundnote. Noch einmal folgten 1920 die Entwürfe für ein Ortszentrum und für eine Mietshausgruppe am Lindenplan der Formensprache der klassischen Gartenstadtarchitektur
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der Kaiserzeit. Doch ab 1922 wurden die Anklänge an die romantischen Vorbilder aus Hellerau oder England durch die nüchterne Formensprache des ‘neuen bauens‘ ersetzt. Die Genossenschaft Hopfengarten hatte sich mit sechs weiteren Genossenschaften zum Verein für Kleinwohnungswesen zusammengeschlossen, dessen Architekten in Zusammenarbeit mit dem Stadterweiterungsamt künftig für die Entwürfe der Mietshäuser verantwortlich waren. Da diese in der Architektursprache der 20er Jahre, großenteils in Zeilenbauweise, an städtebaulich markanten Stellen (in den Eingangsbereichen und an dem zentralen Platz der Siedlung) errichtet wurden, veränderte sich das Erscheinungsbild der Gartenstadt maßgeblich. 1932 wurden das Vorkaufsrecht der Genossenschaft und die Pflichtmitgliedschaft auch der Privateigentümer aufgehoben. Damit endete das ursprüngliche Konzept der gemeinschaftlich handelnden Genossenschaft. Diese zog sich auf den Mietshausbestand zurück, und der Hopfengarten entwickelte sich aus der Summe unkoordinierter einzelner Bauentscheidungen heraus wie jeder andere Vorort. Eine Welle der Privatisierung von Genossenschaftsbauten hat es aber weder nach 1932 noch nach 1989 gegeben sondern erst spät in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Ein interessanter und außergewöhnlicher Ansatz also. Um so bemerkenswerter ist, dass von den 1920er Jahren an die Siedlung in der fachlichen Beurteilung immer wieder als Negativ-Folie herhalten musste – ein Umstand, dessen Untersuchung möglicherweise hilfreich ist bei dem Versuch, Scheuklappen auf die Spur zu kommen, die ein Thema unserer Tagung sind. Die verzerrte Interpretation des Hopfengarten begann zu Anfang der 20er Jahre, mit der Kritik beispielsweise von Stadtbaurat Göderitz an der Siedlung Hopfengarten, in der, so Göderitz, im Gegensatz zu Reform „noch der alte Fehler begangen wurde, villenartige Häuser an zu aufwendige Straßen zu stellen“ (Göderitz 1922:35). Angesichts einer Fahrbahnbreite von nur 5 m in den Wohnstraßen – exakt das gleiche Maß wie in Reform – ist dieses Urteil nicht stichhaltig (wenngleich die Hauptstraße breiter ausgelegt wurde). Auch die Kritik am villenartigen Charakter der Häuser ist zu relativieren. Sie zielt ja implizit vor allem auf die Annahme hoher Baukosten ab. Dass auch diese – durchaus naheliegende – Annahme jedoch der Realität nicht gerecht wird, wurde ja eingangs angesprochen. Die Befunde des Hopfengarten legen also eine differenziertere Betrachtung dieser und anderer Grundannahmen und -bewertungen des modernen Siedlungsbaues nahe: Serielle Reihenhausgrundrisse (wie in Reform) sind anscheinend nicht eine notwendige Voraussetzung (oder gar Garantie) für billiges Bauen. (Ein Befund, der ähnlich überraschend sein mag, wie einst die Erkenntnis, dass industrialisiertes Bauen nicht unbedingt billiger ist als konventionelle Bauweisen.) Die Kritik an der villenartigen Bebauung hat neben dem ökonomischen einen sozialpolitischen Hintergrund: Sie deutet das individualistische Erscheinungsbild der Häuser als Ausdruck einer eher gemeinschaftsfeindlichen,
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„besitzindividualistischen“ Einstellung (selbst wenn dieser Begriff im Falle der individuell gestalteten Mietshäuser keinen Sinn macht). Doch auch hier sind die Lehren der Gartenstadt Hopfengarten deutlich: Soziale Gemeinschaft ist offensichtlich nicht an soziale und gestalterische Einheitlichkeit, an eine „gemeinschaftsbildende Architektur“ gleichartiger Reihenhäuser geknüpft. Sie ist auch nicht von der Frage „Eigenheim oder Miethaus“ abhängig. Die Tradition der – kontrastierend zu Reform – negativen Bewertung des Hopfengartens setzt sich bis in die 1990er Jahre hinein fort. Die „Reformer“, so heißt es immer wieder in den Veröffentlichungen der 1980er und 1990er Jahre, hätten „ohne staatliche Unterstützung auskommen müssen“ (GWG 1995:8) – was freilich auf die anderen Siedlungen vor dem 1. Weltkrieg ebenso zutrifft – während die Gartenstadt Hopfengarten als „reine Erwerbshausgenossenschaft“ fehlinterpretiert (Brenne et al. 1995:15) und für ihr „räumlich unausgewogenen Verhältnis von privatem und genossenschaftlichem Eigentum“ kritisiert wird – eine Kritik, die einfach das von der Genossenschaft erfolgreich verwirklichte Ziel der sozialen Mischung und das Prinzip der feinkörnigen Mischung von Besitzformen verkennt und zum Defizit umdeutet (Amann/ Neumann-Cosel 1984:32, 40, 50). Tendenziell addieren sich diese Urteile zum Befund einer kulturellen Entwertung der Siedlung Hopfengarten – eben als bourgeois und daher minderwertig – ein Urteil, das nahe liegender Weise in der Zeit des Arbeiterund Bauernstaates der DDR besonderes Gewicht hatte. So erfuhr Reform als Repräsentant der Arbeiterbewegung insbesondere seit den 1980er Jahren öffentliche Würdigung und Unterstützung in Form von Sanierungsmaßnahmen, die auch Bruno Tauts Farbkonzept betrafen. Für Hopfengarten hingegen blieben mal grade die Farbabfälle aus diesen Aktionen. Tatsächlich stammt die Farbe der ursprünglich hell verputzten Genossenschaftshäuser „Im Grünen“ aus einer solchen Verwertungsaktion. Aber besser ein bunter Anstrich als gar keiner. Von stärker nachhaltigem Schaden waren die Unterstellung der Genossenschaft Hopfengarten unter die von Reform und die damit verbundene Verlagerung des Archivs, erst in Außenlager, dann ins Archiv von Reform – ein Vorgang, der, auch über die Jahre hinweg, zu einer Dezimierung der Bestände führte. Schlussfolgerung an dieser Stelle: Ideologische Scheuklappen für „richtig und falsch“, auch in den Bereichen wie „Öffentlich und Privat, Gemeinschaft und Individualität“, können zu materiellen Schäden auf unterschiedlichen Ebenen führen. Vielleicht leistet die Fallstudie einen Beitrag zur Erklärung der verengten, aber verbreiteten Sicht auf Vorgänge der Governance, die Gegenstand unserer Tagung waren.
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Deutsche Unternehmer und ihre Arbeiterkolonien im 19. und frühen 20. Jahrhundert Steffen Krämer
Schon seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts entstanden vorwiegend in England kollektive Wohngebäude in unmittelbarer Nähe größerer Fabrikanlagen für die werktätigen Arbeiter und ihre Familien. Die Bauträger waren in der Regel die Unternehmer selbst, die dadurch das notwendige Potential an Arbeitern an die Fabrik binden konnten. Aus diesen eher bescheidenen Anfängen des von privaten Unternehmern getragenen kollektiven Wohnungsbaus entwickelten sich in England im Verlauf des 19. Jahrhunderts große Arbeitersiedlungen oder Industriedörfer in räumlicher Nachbarschaft zu den Fabriken mit teilweise mehreren tausend Einwohnern. Ein berühmtes Beispiel ist die Siedlung Saltaire des Textilfabrikanten Sir Titus Salt, der seine Fabrik mitsamt dem angegliederten Arbeiterdorf mit über 4.000 Einwohnern ab 1851 auf dem Land in der Nähe der mittelenglischen Stadt Bradford errichten ließ (Posener 1968:22-27; Reinborn 1996:35); (Abb. 1). Was diese englischen Unternehmersiedlungen aus dem 19. Jahrhundert so außerordentlich interessant macht, ist die in der Regel bewusst kalkulierte Verbindung von wirtschaftlichen Erwägungen mit sozialreformerischen Ideen. Nur kurze Zeit nach ihren englischen Vorläufern erkannten auch deutsche Unternehmer den hohen Wert solcher Wohnsiedlungen für ihre Werksarbeiter und deren Familien.
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Abb. 1: Saltaire bei Bradford, Arbeitersiedlung der Textilfabrik, ab 1851, Grundriss der Gesamtanlage
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Die zweifellos bekanntesten Beispiele im Verlauf des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellen die so genannten „Arbeiterkolonien“ der Gussstahlfabrik Krupp in Essen und Umgebung dar (Günter 1970:128-174; Schlandt 1970:95-111; Kastorff-Viehmann 1981:153-158; Kieß 1991:373-392); (Abb. 2). Zwar gab es bereits vor den Krupp-Kolonien eine nicht geringe Anzahl von paternalistischen Arbeitersiedlungen vor allem auch im Ruhrgebiet, doch war die Firma Krupp das erste deutsche Unternehmen, das seit den frühen 1860er
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Jahren Werksunterkünfte in einem erstaunlich umfassenden Maße zu errichten begann. Abb. 2: Essen, Arbeiterkolonien der Gussstahlfabrik Krupp, 1902, Übersichtskarte
1874, also ungefähr zehn Jahre nach dem Beginn der Kruppschen Wohnbautätigkeit, waren bereits 2.358 Arbeiterwohnungen größtenteils in direkter Nähe zum Fabrikgelände fertiggestellt (Wohlfahrtseinrichtungen I 1902:4-5). In der englischen Arbeitersiedlung Saltaire wurden in einem vergleichbaren Zeitraum dagegen nur etwa 850 Wohneinheiten errichtet (Posener 1968:26). Allerdings war es nicht die damalige Firmenleitung, sondern der Fabrikbesitzer Alfred Krupp (1812-1887) persönlich, der dieses ehrgeizige Siedlungsprogramm bereits Ende der 1850er Jahre zu initiieren begann und es bis zu seinem Tod 1887 über mehrere Jahrzehnte hinweg systematisch vorantrieb. Die historischen Ursachen und Motive, die sich dahinter verbergen, sind vielschichtig und im Vergleich zu den etwa zeitgleichen Wohnbaukonzepten der englischen Unternehmer durchaus auch ambivalenter. Wenn man sich mit diesem ambitionierten Siedlungsprogramm näher beschäftigen möchte, ergibt sich aber das grundsätzliche Problem, dass alle Arbeiterkolonien, die unter Alfred Krupp errichtet wurden, heute nicht mehr erhalten sind. Schon in den 1930er Jahren wurden die meisten fabriknahen Siedlungen abgerissen,
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weil man die Produktionsstätten auf dem Werksgelände vergrößerte (Essen und Umgebung 1938:42). Die folgende Analyse beruht demnach ausschließlich auf historischem Abbildungs- und Planmaterial. Vor dem Hintergrund der desolaten Wohnungsmisere in Essen, die in den 1860er Jahren mit etwa 23 Bewohnern pro Arbeiterhaus ihren dramatischen Höhepunkt fand (Wohlfahrtseinrichtungen I 1902:3; Kieß 1991:374), war die Beschaffung von Wohnraum eine dringende Notwendigkeit für die Firma Krupp. Derart schlechte Lebensbedingungen führten fast zwangsläufig zu einem häufigen Ortswechsel der Beschäftigten, was sich wiederum ungünstig auf den Betrieb und dessen Produktion auswirkte. Vor allem die spezialisierten Arbeiter sollten durch die Bereitstellung von Wohnraum an das Unternehmen angebunden werden. Demzufolge begann die Kruppsche Wohnbautätigkeit 1861 mit dem Bau von zwei so genannten „Meisterhäusern“ mit vier beziehungsweise sechs Wohnungen für höhere Betriebsangestellte. Natürlich konnte damit die katastrophale Wohnungslage in keinster Weise entschärft werden, und so entschloss man sich nur zwei Jahre später zur Errichtung der ersten Arbeiterkolonie, der Kolonie Westend, im südlichen Randbereich des Firmengeländes (Abb. 3). Abb. 3: Essen, Arbeiterkolonie Westend, 1863/1871, Grundriss der Gesamtanlage
Schon bei dieser ersten Arbeiterkolonie war die Lage in unmittelbarer Nähe zu den Produktionsstätten außerordentlich wichtig. Die geringe Entfernung sollte garantieren, dass der Arbeiter über Mittag nach Hause ging, um danach sofort wieder im Betrieb zu erscheinen. Sein gesamter Tagesablauf war somit ausschließlich auf die Fabrik ausgerichtet. Für die Planung der Arbeiterkolonie wurde bereits ein firmeneigenes Baubüro eingerichtet, das zunächst neun parallel angeordnete Häuserzeilen mit insgesamt 136 Wohnungen errichtete. In der Regel hatten diese Wohnungen zu Anfang nur 35 Quadratmeter
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und waren in zwei Räume aufgeteilt: in eine Küche, die gleichzeitig Wohnraum war, und in ein Schlafzimmer. Noch während der Bauzeit erhöhte man allerdings zum Teil die Wohngrundfläche auf bis zu 57 Quadratmeter. Der Außenbau dokumentiert demgegenüber den geringen Aufwand in der Planung und Ausgestaltung der Häuserzeilen. Über einem massiven Sockelgeschoss, das lediglich durch die Abfolge der Zugänge und Fenster unterteilt war, erhob sich ein Obergeschoss mit simpler Fachwerkgliederung (Abb. 4). Abb. 4: Essen, Arbeiterkolonie Westend, 1863, Häuserzeile aus dem ersten Bauabschnitt
1871 entschloss sich die Firma, die Kolonie Westend zu erweitern. Fünf neue Häuserzeilen wurden zur bestehenden Bebauung in einer Doppelreihe quer angeordnet, wobei man den mittleren Bereich aussparte und bepflanzte, wodurch sich ein kleines begrüntes Zentrum für die Arbeiterkolonie ergab. Um deren Eigenständigkeit zu erhöhen, wurden zwei Versorgungseinrichtungen am südwestlichen Rand erbaut, eine so genannte „Konsumanstalt“, also ein Geschäft für die Waren des täglichen Gebrauchs, und eine Bierhalle. 96 Wohnungen wurden in diesem zweiten Bauabschnitt errichtet. Wiederum waren es entweder kleine Zweizimmerwohnungen mit einer Wohnküche oder aber eine etwas erweiterte Variante mit nunmehr drei Räumen (Abb. 5). Die Häuserzeilen selbst waren gegenüber ihren Vorläuferbauten insgesamt größer dimensioniert, wobei das Dach zu einem eigenen Stockwerk ausgebaut und mittels großer Dachgauben eigenständig belichtet wurde. Wie schon im ersten Bauabschnitt war der Außenbau wenig gestaltet und nur durch die strenge Abfolge der Fensterachsen gegliedert. Anstelle des ursprünglich bevorzugten Fachwerkbaus favorisierte man nun einfache, vermutlich unverputzte Ziegelfronten, deren einziger architektonischer Anspruch in der Verwendung von Dreiecksgiebeln für die Dachgauben und von Segmentbögen für die Fensteröffnungen bestand. Ebenso anspruchslos wie die ursprüngliche Planung war demnach auch die zweite Bauphase in der Arbeiterkolonie Westend.
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Abb. 5: Essen, Arbeiterkolonie Westend, 1871, Häuserzeile aus dem zweiten Bauabschnitt
Dennoch war man in diesem neuen Bauabschnitt daran interessiert, den Außenraum deutlicher zu artikulieren. Was ursprünglich als eine reine Addition von Häuserreihen angelegt war, sollte nun zu einer kleinen, in sich geschlossenen Siedlungseinheit umgestaltet werden. Die neuen kollektiven Wohngebäude schlossen die Arbeiterkolonie zur anliegenden Straße ab, und durch die mittlere Freifläche entstand ein zentraler Platz, auf den die Wohnbebauung nun ausgerichtet war. Überdies boten die neuen Sekundäreinrichtungen der Arbeiterkolonie eine gewisse wirtschaftliche Teilautonomie. Für beide Bauabschnitte blieb aber der geometrisch streng angeordnete Zeilenbau prägend. 1872, und damit nur ein Jahr später als der zweite Bauabschnitt in der Kolonie Westend, wurde die Arbeiterkolonie Cronenberg am westlichen Rand der Gussstahlfabrik begonnen und 1874 fertiggestellt. In Bezug auf die räumliche Ausdehnung und den Umfang der für die Siedlung bereitgestellten Infrastruktur übertraf diese Kolonie alle übrigen Wohnbauunternehmungen der Firma Krupp, die Anfang der 1870er Jahre geplant und erbaut wurden. Das Bebauungsareal für Cronenberg umfasste allein 19 Hektar (Abb. 6). Errichtet wurden knapp 1.400 Wohnungen, wiederum in den schon vom zweiten Bauabschnitt der Kolonie Westend bekannten Varianten mit zwei respektive drei Räumen. Auch wurde der strenge Zeilenbau übernommen, allerdings nicht mehr in der monotonen Reihung, sondern nunmehr aufgelockert durch die Unterschiede in Größe, Lage und Ausrichtung der Häuserzeilen. Auf dem Raster eines rechtwinkligen Wegesystems mit Haupt- und Nebenstraßen wurden die Häuserzeilen gleichmäßig und vor allem mit einer gegenüber den anderen Arbeiterkolonien eher niedrigen Bebauungsdichte auf dem Areal verteilt.
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Abb. 6: Essen, Arbeiterkolonie Cronenberg, 1872-74, Grundriss der Gesamtanlage
Zeitgenössische Photos illustrieren sehr gut, dass man auf die großflächige Bepflanzung mit Baumalleen und Vorgärten durchaus Wert legte (Abb. 7). Dementsprechend positionierte man im zentralen Bereich der Arbeiterkolonie einen Park mit organisch verlaufenden Spazierwegen. Diese Siedlungsmitte umfasste aber nicht nur einen begrünten Freiraum, sondern auch einen öffentlichen Marktplatz und die kollektiven Versorgungseinrichtungen, wie Konsumanstalt oder Magazinbau, und Gemeinschaftsgebäude, wie Bierhalle und Musikpavillon. Zwei Schulgebäude schlossen diese mittlere
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Achse zur östlichen Schmalseite ab. Was die Konzeption der Arbeiterkolonie Cronenberg somit entscheidend prägte, war ihre Analogie zu einer Kleinstadt, schließlich bot sie etwa 8.000 Personen Wohnraum und verfügte zudem über einen zentralen Ortskern mit all jenen Sekundäreinrichtungen, die ein hohes Maß an wirtschaftlicher und kultureller Autonomie garantierten. Abb. 7: Essen, Arbeiterkolonie Cronenberg, 1872-74, historisches Photo, ca. 1903
Entsprechend den Unterschieden in Größe und Ausrichtung der Häuserzeilen gab es auch Variationen in deren Außengestaltung. Insgesamt herrschte aber jener nüchterne und in der Detailgliederung äußerst reduzierte Habitus wie schon in der Arbeiterkolonie Westend vor. Hauptsächlich bei den mehrteiligen Zeilengebäuden wurden die Außenfronten etwas differenzierter gestaltet (Abb. 8). Durch verschiedene Formate oder Gruppierungen der Fenster wurden einzelne Achsen hervorgehoben, während unterschiedliche Giebelformen die Dachlandschaft belebten. Durch Lisenen und Rahmungen erhielt die Wand demgegenüber ein flaches und in verschiedene Farbtöne aufgeteiltes Oberflächenrelief. Hierin zeigte sich der Anspruch, über die reine Zweckgestalt der Arbeiterhäuser einen erhöhten Wohnstandard am Außenbau zu dokumentieren. Schließlich war die Kolonie Cronenberg eine weithin sichtbare Siedlungsanlage der Firma Krupp, die ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre eine zumindest optisch wichtige Dominante im Essener Stadtbereich darstellte. Abb. 8: Essen, Arbeiterkolonie Cronenberg, 1872-74, Häuserzeile
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Die beiden untersuchten Arbeiterkolonien sind Musterbeispiele für einen paternalistischen Wohnungsbau, wie er unter Alfred Krupp in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts propagiert wurde. Unter seiner Ägide entstanden insgesamt fünf größere Werksiedlungen in unmittelbarer Nachbarschaft zum Fabrikgelände. Die Zielsetzungen, die diesem umfangreichen und vom Firmenleiter persönlich initiierten Wohnbauprogramm zugrunde lagen, sind außerordentlich vielschichtig und lassen sich demzufolge auch nicht auf einen Erklärungsansatz reduzieren. Karitative und möglicherweise sogar soziale Intentionen standen den wirtschaftlichen und politischen Erwägungen fast gleichberechtigt gegenüber. Trotz dieses breiten Spektrums von unterschiedlichen Motiven und Zielsetzungen ließ sich Alfred Krupp stets von einem pragmatischen Grundsatz leiten, der auf dem Wechselverhältnis von Leistung und Gegenleistung basierte: Wenn die Firma für ihre Arbeiter Wohnraum und einen bestimmten Lebensstandard in den Siedlungen zur Verfügung stellte, dann erwartete sie im Gegenzug deren unbedingte Bereitschaft, als loyale Lohnkräfte in den Produktionsbetrieben zu arbeiten. Zwar half der Arbeiterwohnungsbau der Firma Krupp, „die individuellen Wohnungsverhältnisse der Beschäftigten zu verbessern“, wie es Renate Kastorff-Viehmann (1981:153) hervorgehoben hat, „aber dennoch nicht unmittelbar mit dem Ziel, Wohlfahrt zu üben, sondern um Arbeitskräfte zu binden und politisch zu disziplinieren [...].“ Die Kruppschen Arbeiterkolonien waren demnach vor allem ein Sinnbild für das vom Firmenleiter intendierte enge Abhängigkeitsverhältnis der Arbeiterschaft zu ihrem Unternehmen. Dabei war Alfred Krupp in seinen persönlichen Entscheidungen, was die Lage, Größe und Struktur seiner Arbeiterkolonien betraf, weitgehend autonom. Das großflächige Gelände seiner Gussstahlfabrik mitsamt dem für die Arbeiterkolonien vorgesehenen Außenbereich gehörte damals noch zu der eigenständigen Bürgermeisterei Altendorf. Erst 1901, und damit mehr als ein Jahrzehnt nach dem Tode Alfred Krupps, wurde dieses Dorf in die Stadt Essen eingemeindet (Günter 1970:134). Auf kommunale Vorgaben oder Richtlinien, die sich auf sein ambitioniertes Wohnbauprogramm hätten auswirken können, musste der Firmenleiter somit nicht achten. Zudem war sein persönlicher Führungsstil alles andere als kooperativ. In einem von ihm persönlich verfassten Aufruf an die „Arbeiter der Gußstahlfabrik“, der am 24. Juli 1872, folglich im Zeitraum seiner ehrgeizigsten Wohnbautätigkeit, erlassen wurde, versicherte Alfred Krupp, „daß ich in meinem Hause wie auf meinem Boden Herr sein und bleiben will“ (Baedeker 1912:101-102). Und noch 1887, in seinem Todesjahr, ließ er in einem Brief folgenden Leitsatz verlauten: „In unseren Colonien darf niemals ein Anderer einen Besitz haben und grundsätzlich sollten keine Anderen als Arbeiter der Fabrik (und Meister) dort wohnen“ (Berdrow 1928:427). Was in diesen zwei kurzen Sequenzen bereits unmissverständlich zum Ausdruck kommt, ist das außerordentlich stark ausgeprägte Selbstverständnis eines Fabrikbesitzers, der sich im traditionellen Sinne als Territorialherr mit beinahe schon uneingeschränkter Verfügungsund Entscheidungsgewalt verstand. Paternalismus war für Alfred Krupp also eine rein patriarchalische Handlungsstruktur, auf welche die Arbeiterschaft
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seiner Gussstahlfabrik wiederum pflichtbewusst reagierte oder reagieren musste, indem sie sich selbst in der Regel als „Kruppianer“ bezeichnete. Kaum deutlicher als in einem 1887 veröffentlichten Gedenkblatt zum Tode Alfred Krupps hätte man dieses paternalistische Abhängigkeitsprinzip formulieren können: „Ihr [das heißt die Kruppschen Arbeiter, Anmerkung des Verfassers] wußtet, was Ihr an Eurem Herrn hattet, und, als derselbe mit warnenden und mahnenden Worten zu Euch sprach, da fühltet Ihr Alle, daß nicht ein stolzer Besitzer zu Euch sprach, sondern wie ein Vater zu seinen Kindern redet, so klangen Euch seine Worte [...]“ (Sturm 1977:197). Das hohe Maß an sozialer Reformtätigkeit, das sich in den zu Anfang erwähnten Siedlungskonzepten der englischen Unternehmer artikulierte, erreichte das Wohnbauprogramm von Alfred Krupp demnach nicht. Dennoch waren es genau diese englischen Modellvorstellungen, die ihn persönlich beeinflusst haben. Seit 1838/39 hatte Alfred Krupp mehrfach die britische Insel besucht, den gesamten Herbst und Winter 1871/72 im englischen Seebad Torquay/Devonshire verbracht und während dieser Aufenthalte eine Fülle von Anregungen für seine spätere Wohnbautätigkeit erhalten (Berdrow 1927:202-216, 1937:223-224; Klapheck 1930:11-17; KastorffViehmann 1981:154). Schon ein kurzer Vergleich zwischen der bereits genannten englischen Siedlung Saltaire von 1851 bis 1860 und der Kolonie Cronenberg von 1872 bis 1874 zeigt eine Vielzahl formaler Übereinstimmungen: Man muss diesbezüglich nur auf das orthogonale Straßenraster, den strengen Zeilenbau oder die unterschiedlichen Versorgungseinrichtungen verweisen, um die Analogien zu verdeutlichen. Zudem wurde in beiden Siedlungen ein großer Wert auf öffentliche Grünzonen gelegt, die vor allem der Erholung der Arbeiter und ihren Familien dienen sollten. Folglich stellen die Wohnkolonien der Firma Krupp keine städtebaulichen Inventionen dar. Ihre Vorbilder waren jene englischen Arbeitersiedlungen, die vorwiegend von philanthropischen Unternehmern errichtet worden waren, um ihren Angestellten ein angemessenes Maß an Lebensqualität im Wohnumfeld zu garantieren. Das große Verdienst der Kruppschen Wohnbautätigkeit liegt eher darin, bestimmte Reformansprüche wie formale Merkmale dieser englischen Siedlungen in ihren eigenen Arbeiterkolonien konsequent verarbeitet zu haben, und dies über Jahrzehnte hinweg. Anlagen wie die Kolonie Cronenberg in Essen standen fortan für einen zwar aus England übernommenen, aber für deutsche Verhältnisse durchaus neuen Standard von werkseigenen Arbeitersiedlungen, die das Unternehmen über die firmeninternen Publikationen der Öffentlichkeit als so genannte „Wohlfahrtseinrichtungen“ fortwährend präsentierte und dadurch werbewirksam vermarktete (Wohlfahrtseinrichtungen I-III 1902; Müller 1911; Baedeker 1912; Krupp 1912; Klapheck 1930).
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D IE A RBEITERKOLONIE DER TEX TILFABRIK U LRICH G MINDER IN R EUTLINGEN Ähnlich wie bei der Gussstahlfabrik Krupp waren es auch bei der Textilfabrik Ulrich Gminder in Reutlingen zunächst wirtschaftliche Erwägungen, die zum Bau einer werkseigenen Arbeiterkolonie, dem so genannten „Gmindersdorf “, führten (Howaldt 1982:329-360; Nerdinger 1988:114-118, 211-213; Reinborn 1996:87-88). Nach 1900 wuchs die Produktion in der Firma enorm an und erreichte 1903 ihren Höchststand. Aus dem Grunde entschloss sich die Firmenleitung noch im selben Jahr zur Errichtung einer Arbeitersiedlung in unmittelbarer Nähe zu den Fabrikanlagen, so dass der Erhalt des bereits vorhandenen Stammpersonals und die Gewinnung neuer Arbeitskräfte durch die Bereitstellung von Wohnraum gesichert werden sollten (Baer 1923:2); (Abb. 9). Abb. 9: Reutlingen, Arbeitersiedlung Gmindersdorf, 1903-15, Grundriss der Gesamtanlage
In Analogie zur Firma Krupp waren es auch bei der Textilfabrik Ulrich Gminder zuerst der Seniorchef des Unternehmens, Louis Gminder (18431904), und nach seinem Tod dessen Neffe und nachfolgender Firmenleiter, Emil Gminder (1873-1962), welche die Initiative zum Bau der Arbeiterkolonie persönlich einleiteten und deren Fertigstellung bis 1915 konsequent vorantrieben. Und schließlich betonte man auch in diesem Fall die karitativen Beweggründe der Firmenleiter, die zum Entschluss für die Errichtung einer Arbeiterkolonie geführt hatten. So wurde in einem Artikel zur Arbeitersiedlung von 1908 explizit hervorgehoben, „dass die soziale Frage vornehmlich eine Wohnungsfrage“ sei (Kuhn 1908:314; Baer 1923:3). Das Hauptmotiv für die Gründung dieser Arbeiterkolonie bestehe deshalb darin, „den Arbeitern [...] gesunde Wohnungen gegen billige Miete gewähren zu können“
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(Kuhn 1908:314; Baer 1923:3). Eine mögliche Übereignung der Wohnungen an die Arbeiter und ihre Familien im Sinne kostengünstiger Ratenzahlungen oder dergleichen wurde jedoch von der Firmenleitung von vornherein ausgeschlossen: „Die Häuser bleiben im Besitz von Ulrich Gminder G.m.b.H.“ (Kuhn 1908:314; Baer 1923:3). Jene rigiden Vorstellungen von einem außerordentlich engen Abhängigkeitsverhältnis der Arbeiterschaft von ihrem Unternehmen, wie sie noch Alfred Krupp besaß, scheinen die Firmenleiter der Ulrich Gminder Textilfabrik allerdings nicht vertreten zu haben. Dennoch galt auch in dieser Arbeitersiedlung das Gebot, „dass deren Bewohner in zufriedenem Sinne nach den Fabrikkaminen hinüberschauen, deren Rauch für sie menschliches Glück bedeutet, da er identisch ist mit Arbeit, Lohn und Nahrung“ (Kuhn 1908:314). Für die Planung der Siedlung wurde der Münchner Reformarchitekt Theodor Fischer beauftragt, der bis 1908 insgesamt 48 Wohngebäude in 19 verschiedenen Gebäudetypen mit etwa 150 Arbeiterwohnungen zwischen 56 und 92 Quadratmetern, die meisten davon mit zwei oder drei Räumen, erbaute. 1915 fügte er noch ein Altenheim für die pensionierten Arbeiter am nördlichen Rand der Siedlung hinzu. Wenn man die schriftlichen Aussagen des Architekten (Fischer 1908:313) berücksichtigt, dann war Fischer eher daran interessiert, die Arbeiterkolonie in der Form einer geschlossenen Reihenhausanlage zu errichten, wie man es damals vor allem von den Krupp-Siedlungen aus den 1860er und 1870er Jahren her kannte. Die Firmenleiter forderten hingegen eine Kolonie aus Einzelhäusern, erbaut im offenen System mit angeschlossenen Gartenflächen. Was ihnen wiederum vorschwebte, war ein „Gartendorf “, wie sie die Arbeitersiedlung selbst nannten und wie es in deren offiziellen Bezeichnung – „Gmindersdorf “ – unmissverständlich zum Ausdruck kommt (Kuhn 1908:314; Howaldt 1982:333). Theodor Fischer entsprach dieser Forderung und konzipierte unterschiedliche Einzel- und Doppelhäuser sowie kurze Häuserreihen aus drei beziehungsweise vier zusammengesetzten Einzelhäusern. Diese waren nicht nach einem streng geometrischen Verteilungssystem auf dem Bauareal disponiert, sondern wurden gestaffelt gegeneinander versetzt, um „keine klaffenden Durchblicke zu[zu]lassen“, wie es der Architekt (Fischer 1908:313) selbst bezeichnete. Dadurch entstand der Eindruck einer organisch gewachsenen Dorfanlage, der durch das leicht geschwungene Straßennetz noch verstärkt wurde. Im nördlichen Bereich gestaltete der Architekt einen kleinen Marktplatz mit den notwendigen Versorgungs- und Sekundäreinrichtungen. Vervollständigt wurde die Gesamtanlage durch das Altenheim, das mit seiner halbkreisförmigen Außenkontur und seinem repräsentativen Mitteltrakt das Siedlungsareal an der nördlichen Anhöhe auch heute noch optisch begrenzt. Bei der Planung der Wohnhäuser legte Fischer demgegenüber größtmöglichen Wert auf die Variation in der Außengestaltung. Zum Teil ließ er sich dabei von der örtlichen Bautradition schwäbischer Land- und Bauernhäuser beeinflussen (Abb. 10).
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Abb. 10: Reutlingen, Arbeitersiedlung Gmindersdorf, 1903-15, Einzelhäuser
Die städtebauliche Vorlage für die Arbeitersiedlung Gmindersdorf stammte dagegen aus England. Wie schon Alfred Krupp besuchte auch Emil Gminder die britische Insel und hielt sich dort 1893 für einen längeren Zeitraum auf (Howaldt 1982:334). Wahrscheinlich hat er währenddessen die damals modernsten englischen Arbeitersiedlungen kennengelernt. Seine präzisen Vorstellungen hinsichtlich der Planung von Gmindersdorf scheinen diese Annahme jedenfalls zu bestätigen. Man braucht nur die Gesamtanlage von Gmindersdorf dem Organisationsschema der englischen Arbeitersiedlung Bournville in der Nähe von Birmingham gegenüberzustellen, die von den Unternehmern George und Richard Cadbury ab 1887 in unmittelbarer Nachbarschaft zu ihrer Schokoladenfabrik errichtet wurde (Weißbach/Mackowsky 1910:123-126; Posener 1968:29-35; Howaldt 1982:334); (Abb. 11). Vergleichbar ist unter anderem die lockere Bebauung mit Einzel-, Doppel- oder kurzen Reihenhäusern, die weiträumige Anlage von Gartenflächen und die teilweise geschwungene und damit organisch wirkende Straßenführung. Wie schon bei den früheren Krupp-Siedlungen sind auch bei der Planung für die Arbeiterkolonie der Textilfabrik Ulrich Gminder die modernsten Tendenzen des englischen Siedlungsbaus vom Ende des 19. Jahrhunderts eingeflossen. Schon 1908 bezeichnete J. Altenrath (1908:24, 27) die Arbeitersiedlung Gmindersdorf dementsprechend als „neueste und vielleicht vollendetste Arbeiterkolonie“ und umschrieb deren Bedeutung am Ende seines Artikels mit folgenden Worten: „Arbeitgeber und Künstler haben sich hier ein bleibendes Denkmal gesetzt.“ Zwei Jahre später betonten Karl Weißbach und Walter Mackowsky (1910:273) in ihrer bekannten Schrift über die historische Entwicklung des Arbeiterwohnhauses, dass die Kolonie Gmindersdorf „in künstlerischer Beziehung unter die besten derartigen Schöpfungen zu rechnen ist“ und diese deshalb „den berühmten Kruppschen und englischen Kolonien ebenbürtig an die Seite gestellt werden muß.“
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Abb. 11: Bournville bei Birmingham, Arbeitersiedlung der Schokoladenfabrik Cadbury, ab 1887, Grundriss der Gesamtanlage
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Eine weitere Arbeiterkolonie von Theodor Fischer ist die Siedlung Alte Heide in München von 1918 bis 1929 (Gut 1919:410-413; Nerdinger 1988:121-123, 286-288; Reinborn 1996:88). Der Bauträger war zwar eine „Gemeinnützige Baugesellschaft“, doch wurde diese Ende August 1918 von mehreren bekannten Münchner Unternehmen gegründet, darunter die Bayerische Motorenwerke AG, die Löwenbräu AG, die Lokomotivfabrik Maffei und die Bayerischen Geschützwerke München Krupp (Krause 1991:260-263; Lutzenberger 2004:25). Ihr primärer Zweck bestand in der Schaffung von Wohnraum für die Arbeiter dieser Unternehmen, so dass die Siedlung Alte Heide bereits während ihrer Errichtung als so genannte „erste Werksiedlung der Münchner Industrie“ (Krause 1991:261) bekannt wurde. Ihre Lage
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im nördlichen Randbereich der Stadt entsprach einer räumlich günstigen Anbindung an die Betriebs- und Produktionsstätten jener an der Gemeinnützigen Baugesellschaft beteiligten Unternehmen. Erbaut wurden insgesamt 786 Wohnungen mit Wohnflächen zwischen 49 und 60 Quadratmetern, aufgeteilt in zwei bis vier Räumen, für maximal 4.000 Bewohner (Abb. 12). Abb. 12: München, Arbeitersiedlung Alte Heide, 1918-29, Grundriss der Gesamtanlage
Das Anlageschema ist mit den bereits genannten Krupp-Siedlungen durchaus zu vergleichen, was nicht weiter erstaunt, wurden doch bei dem übergeordneten Bebauungsplan externe Anregungen verarbeitet, die von dem damaligen Leiter des Kruppschen Baubüros, dem Regierungsbaumeister Robert Schmohl, stammten (Gut 1919:411). So wählte Fischer als zugrunde liegenden Wohnbautypus den einfachen Zeilenbau, der nunmehr streng parallel angeordnet, auf dem gerasterten Areal gleichmäßig verteilt ist. Die Freiflächen zwischen den Häuserzeilen wurden den Bewohnern als Kleingärten zur Verfügung gestellt, während ein breiter Grünstreifen entlang der mittleren Hauptachse öffentlich genutzt werden konnte. Für den Gemeinschaftsbedarf wurden noch mehrere Sekundäreinrichtungen, wie Kindergarten oder Badeanstalt, auf dem Siedlungsareal verteilt.
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Ebenso nüchtern wie das Anlageschema ist auch die Außengestaltung der Häuserzeilen; im Grunde handelt es sich um einfache Putzfassaden, deren Detailgliederung durch den Rhythmus unterschiedlich gestalteter Fensterachsen differenziert wird. Die Betonung der Mitte wie der Flanken ist das Resultat, wodurch der Eindruck monotoner Achsenreihung verhindert werden sollte (Abb. 13). Abb. 13: München, Arbeitersiedlung Alte Heide, 1918-29, Häuserzeilen
Dass bei dem Projekt für die Münchner Werksiedlung Alte Heide spezielle Vorstellungen firmeninterner Entscheidungsträger verarbeitet wurden, ist eher unwahrscheinlich. Schließlich handelte es sich bei dem Auftrag zur Siedlungsplanung um die kollektive Entscheidung eines Konsortiums mehrerer, an der Gemeinnützigen Baugesellschaft beteiligter Unternehmen, und nicht um den persönlichen Entschluss eines Firmenleiters wie etwa im Falle Alfred Krupps und seiner Arbeiterkolonien für die Essener Gussstahlfabrik. Zudem beschäftigte sich Theodor Fischer in dem Zeitraum, als er mit der Planung und Ausführung der Münchner Werksiedlung betraut wurde, vorwiegend mit besonderen Fragestellungen zum modernen Kleinwohnungsbau, woraus zunächst seine Grundsätze zu Typus und Norm im Bauwesen und daran anschließend seine theoretischen Vorstellungen zum städtischen Wohnungsbau resultierten (Fischer 1919:50, 1922:30-39). Fischer scheint somit präzise Vorstellungen sowohl von der zugrunde liegenden Bebauungsstruktur und der Gesamterscheinung der Werksiedlung als auch von der Grundrissdisposition und Außengestalt der einzelnen Wohnzeilen gehabt zu haben. Demzufolge mussten weder die Unternehmen, noch die Baugesellschaft eigene Vorstellungen diesbezüglich formulieren, sondern konnten vielmehr alle fachspezifischen Entscheidungen einem in dieser Hinsicht außerordentlich kompetenten Architekten überlassen. Schon 1919 bezeichnete der Münchner Stadtbaudirektor Albert Gut (1919:411) die Siedlung Alte Heide dementsprechend als „ein in sich geschlossenes Spiegelbild innerer Wahrheit.“
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D EUTSCHE A RBEITERKOLONIEN VON DER Z WEITEN H ÄLF TE DES 19. BIS IN DIE Z WANZIGER J AHRE DES 20. J AHRHUNDERTS Wenn man die genannten deutschen Arbeiterkolonien im Gesamten betrachtet, ergeben sich in vielerlei Hinsicht Gemeinsamkeiten: Zunächst einmal waren es keineswegs nur wirtschaftliche oder ausschließlich karitative Erwägungen, die zur Errichtung dieser Siedlungen führten. Für ihre teilweise umfassenden Wohnbautätigkeiten zogen die privaten Unternehmen stets beide Aspekte in Betracht, und lediglich in der Frage ihres jeweiligen Stellenwertes gab es graduelle Unterschiede. Damit verbunden war eine meist geschickt kalkulierte Außenwirkung jener Siedlungsmaßnahmen, die der Öffentlichkeit als Einrichtungen privater Wohlfahrt präsentiert wurden, um die sozialen Ambitionen des jeweiligen Unternehmens ausdrücklich hervorzuheben. Paternalistische Grundsätze blieben dennoch wirksam, schließlich weigerten sich die Unternehmen konsequent, ihren Arbeitern in irgendeiner Weise – und sei es in genossenschaftlicher Form – die Wohnungen zu übertragen. So wurde erst 1916 eine Siedlungsgenossenschaft der Kruppschen Werksangehörigen in Essen gegründet (Schlandt 1970:98). Vermutlich wollte man dadurch dem Verlust eigener Kompetenzen im Sinne freier Unternehmensentscheidungen vorbeugen. Jene ungewöhnlich stark ausgeprägten Kontroll- und Befugnisgewalten, wie sie Alfred Krupp für sich persönlich in Anspruch nahm, stellen aber ohne Zweifel eine Ausnahme dar. Derart patriarchalisch ausgerichtete Handlungsweisen können lediglich bei dem Firmenleiter der Essener Gussstahlfabrik und nicht bei den anderen genannten Unternehmern nachgewiesen werden. In dieser Hinsicht war Alfred Krupp mit seinem äußerst ambitionierten Wohnungsbauprogramm sicherlich ein Sonderfall. Hinsichtlich des Umfangs und der Struktur der einzelnen Siedlungsmaßnahmen ließen sich die Unternehmen in der Regel von bereits realisierten Siedlungsprojekten, mitunter sogar von englischen Modellen, beeinflussen. Hier galt natürlich das Leitprinzip moderner Effizienz, konnte man doch an diesen schon bestehenden Siedlungsanlagen deren tatsächliche Leistungsfähigkeit überprüfen. Die Bereitstellung von Sekundäreinrichtungen sollte überdies ein hohes Maß an Siedlungsautonomie garantieren, so dass einige Arbeiterkolonien beinahe schon den Status von Dörfern oder Kleinstädten innerhalb des teilweise urbanen Umfeldes erlangten. Und letztlich gab es auch eine Vielzahl formaler Analogien: Nicht selten wurde der strenge Zeilenbau gewählt. Den Außenraum gestaltete man häufig als begrünte Freifläche, die sowohl der Erholung als auch der privaten Selbstversorgung dienen konnte. Die Wohngrundrisse waren zumeist auf wenige standardisierte Typen reduziert. Bei den größeren Arbeitersiedlungen wurde die Außengestaltung vorwiegend durch ein äußerst begrenztes Formenrepertoire bestimmt, das Variationen oder reichere Detailgliederungen nur in beschränktem Maße zuließ. Hier offenbarte sich ein Purismus in der architektonischen Formgebung, der nicht nur von wirtschaftlichen Erwägungen
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getragen wurde. Die Bauaufgabe Arbeiterkolonie verlangte zumindest in der damaligen Zeit nach nüchternen und vor allem reduzierten Lösungsmustern. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs fanden viele Gestaltungsprinzipien, die bei der Planung dieser Arbeiterkolonien erarbeitet worden waren, Eingang in den kommunalen Siedlungs- und Wohnungsbau der Weimarer Republik. Man muss diesbezüglich nur auf die Siedlung Westhausen in Frankfurt verweisen, die von Ernst May zwischen 1929 und 1931 errichtet wurde (Reinborn 1996:38, 107-108); (Abb. 14). In ihrer strengen Zeilenbauweise mit der teilweise unterschiedlichen Ausrichtung der Häuserzeilen vor allem im Randbereich der Siedlung ähnelt sie dem Anlageschema der Kruppschen Arbeiterkolonie Cronenberg in Essen von 1872 bis 1874. Die von Bruno Taut zwischen 1925 und 1927 errichtete Großsiedlung Britz in Berlin wurde demgegenüber von der Arbeitersiedlung Gmindersdorf beeinflusst, was nicht weiter erstaunlich ist, war doch Taut von 1904 bis 1908 in Theodor Fischers Architekturbüro angestellt gewesen und hatte bei der Planung für die Gmindersdorfer Anlage mitgearbeitet (Howaldt 1982:333; Nerdinger 1988:118; Reinborn 1996:115116). Der halbkreisförmige Baukomplex des Altenheims, den Fischer als nördlichen Abschluss der Gmindersdorfer Siedlung konzipierte, wurde von Taut bei seinem Entwurf für den zentralen hufeisenförmigen Wohnring in seiner Berliner Siedlung offenkundig verarbeitet (Abb. 15). Diese strukturellen wie formalen Analogien zeigen wiederum, dass die deutschen Arbeiterkolonien ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen außerordentlich wichtigen Beitrag für die weitere Entwicklung der modernen Stadt- und Siedlungsplanung im 20. Jahrhundert geleistet haben. Vor allem aber trugen sie, und dies hat Walter Kieß (1991:392) ausdrücklich hervorgehoben, „zu einem Zeitpunkt, als es noch keine geordnete Siedlungstätigkeit der Städte gab, im Rahmen einer urbanen Dezentralisation zur Verbesserung der Lebensqualität und des persönlichen Lebenszuschnitts der Arbeiter bei.“ Abb. 14: Frankfurt, Siedlung Westhausen, 1929-31, Grundriss der Gesamtanlage
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Abb. 15: Berlin, Großsiedlung Britz, 1925-27, Grundriss der Gesamtanlage
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Die Stadt der Unternehmer Oder: Das diskrete Geschäft der kleinen Bourgeoisie Renate Kastorff-Viehmann
„Jeder Raum im Hause war in der denkbar weitesgehendsten Weise zu Wohnraum ausgenutzt, kleine, nur als Kammern zu bezeichnende Räume dienten Familien mit mehreren Kindern zum Aufenthalt. Zugänge zu mehreren Wohnungen waren gegen Erhöhung des Mietpreises der einen Familien als Schlafraum überlassen. Wo zwei Räume vorhanden waren, war die Anzahl der Bewohner noch vergrößert, so dass gleiche oder ähnliche Zustände in ihnen, wie in den einräumigen Wohnungen, obwalteten. Solche Verhältnisse habe ich nicht nur in sogenannten Kasernen, sondern auch in kleinen Häusern vorgefunden und musste vielfach die Überzeugung gewinnen, dass nicht nur verwahrloste, sondern auch ordentliche Familien, welche durch unglückliche Zustände in Noth geraten waren, die Bewohner waren“, schrieb 1891 der Regierungsassessor Bredow im Vorfeld des Erlasses einer Polizeiverordnung zur Kontrolle von Familienwohnungen im RegierungsBezirk Arnsberg (Bredow 1891). Im gleichen Jahr merkte der damalige Bochumer Oberbürgermeister an, es seien ihm Fälle bekannt, „daß der Kreissyndikus Räume, in denen s. E. kein guter Hund sich aufhalten sollte, für menschenwürdig erklärt habe“ (Regierungsbezirk Arnsberg 1891:4). Trotzdem: Im Vergleich zu den Metropolen und den großen Städten schienen die Wohnverhältnisse im rheinisch-westfälischen Industriebezirk während der Phase der Hochindustrialisierung von 1890 bis 1914 undramatisch. Die Steuerung der Produktion von einfachen Wohnungen schien zu funktionieren. Es gab keine mit den Mietkasernenstädten vergleichbaren Bebauungsund Belegungsdichten. Die Behausungsziffer (also die Zahl der Bewohner pro Haus) lag im Stadtdurchschnitt ansteigend bei rund zehn um 1860, bei 13 (in Essen um 1880 oder in Duisburg um 1900), 20 (in Dortmund um 1910) bis hin zu 23 (in Wanne um 1900 oder in Gelsenkirchen um 1910). Durchschnittswerte vermögen jedoch die Verhältnisse zu beschönigen. Für Arbeitermiethäuser zum Beispiel in Essen und Duisburg müssen um circa einhundert
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Prozent höhere Behausungsziffern angenommen werden (Kastorff-Viehmann 1980:87 ff.). Was die Zahlen aber richtig anzeigen, ist Folgendes: Die Wohnsituation in den Städten der Kernzone des Reviers mit den dicht bebauten Arbeiterquartieren in der Nachbarschaft der Eisen- und Stahlwerke musste keineswegs schauriger sein als diejenige in den Bergbaugemeinden auf dem „platten Land“. Dort befanden sich im Umkreis der Schachtanlagen zwar ausreichend unbebaute, landwirtschaftlich genutzte Flächen und dort hätte man andere beziehungsweise kleinere Häuser vermuten können. Die Differenzen in den Behausungsziffern resultierten jedoch kaum einmal aus einer Art Stadt-LandGegensatz, sondern erstens aus der sich mit der Zeit, den Vorgaben der Bauordnungen und den Leitbildern für den Werkswohnungsbau wandelnden Größe des durchschnittlichen Arbeiterwohnhauses. Sie entwickelten sich zweitens in Abhängigkeit der Grundstückspolitik des Bergbaus, der um 1890 schon über 25 bis 30 Prozent der Flächen in den Bergbaugemeinden verfügte, der ab 1890 den Ankauf landwirtschaftlicher Flächen noch ausdehnte und damit diese Flächen der Verwertung durch den privaten Immobilienhandel entzog. Sie waren drittens abhängig von den Renditeerwartungen und der durchweg beschränkten Leistungsfähigkeit der regionalen Bau- und Immobilienwirtschaft. Um eins vorweg zu sagen: Hauptstädtische Terraingesellschaften agierten nur im Ausnahmefall im Ruhrgebiet. Differenzen in den Behausungsziffern resultieren viertens aus der spät und ungleichzeitig einsetzenden Wohnungs- und Städtebaureform im rheinischwestfälischen Industriebezirk. Deren Aktionsfeld lag zunächst in den Städten der Hellwegzone (also in Duisburg, Mülheim, Essen, Bochum und Dortmund), sowie in einer Stadt wie Gladbeck mit Zechen im Eigentum des preußischen Bergfiskus. Eine Situation, die aus heutiger Sicht als strukturell und als städtebaulich defizitär zu beschreiben ist, wurde um 1860 oder auch um 1890 und in den Landgemeinden noch nach 1900 nicht als Problem wahrgenommen. Die „Herstellung“ von Bauland und die marktkonforme Produktion von Wohnraum funktionierten ohne viel staatliche oder gemeindliche Steuerung. Man könnte auch sagen, gerade weil es kaum regulierende Eingriffe und Steuerung auf dem Handlungsfeld „Produktion von Stadt“ und Produktion von einfachem Wohnraum gab, war die Form der „Governance“ erfolgreich. Jedoch darf nicht übergangen werden, dass die relative Liberalität auf dem Sektor der Wohnungsproduktion flankiert wurde durch strikte Werksreglements (in den Betrieben) und eine deutliche Polizeipräsenz in den Gemeinden. Schwerpunkt der folgenden Ausführungen ist die Form der „Produktion von Stadt“ und Wohnraum vor 1914 unter der Regie der nicht werksgebundenen regionalen Bau- und Immobilienwirtschaft – der „Spekulation“ nach damaliger, keineswegs abwertender Bezeichnung. Also nicht dem Werkswohnungsbau, der als typisch für das Ruhrgebiet gilt, der in weiten Teilen (im Umkreis von Schachtanlagen auf dem „platten Land“) seit den 1890er Jahre die Siedlungstätigkeit beherrschte und der – exemplarisch das Kruppsche Baubureau unter seinem Leiter Robert Schmohl – sich frühzeitig durch
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Rationalisierungen und (wieder bezogen auf das Kruppsche Baubureau) eine erstaunliche Professionalität und sogar Reformorientierung aufwies. Im Ruhrgebietsdurchschnitt lebten aber nur die wenigsten Berg- und Hüttenarbeiter in Werkswohnungen. Familienväter, Söhne und Untermieter eingerechnet, wurde auf die Belegschaftszahlen bezogen, um 1900 das Maximum der Versorgung mit 22 Prozent erreicht (ermittelt nach Hundt 1902:Tab. I-III). Abweichungen vom Durchschnitt aufgrund lokaler Besonderheiten waren nach unten wie nach oben möglich. Bei der Darstellung der „Produktion von Stadt“ durch die Bau- und Immobilienwirtschaft, die „Spekulation“, werde ich mich auf folgende drei Fragen konzentrieren: • Wer waren die Akteure? • Welches waren die signifikanten bau- und planungsrechtlichen Rahmenbedingungen? • Wie sahen die Standards aus? Ohne viel ins Detail zu gehen, ist vorab festzustellen, dass die „Spekulation“ sich nicht viel um Standards scherte. Sie baute, wo sich die Gelegenheit fand: Nicht nur entlang alter Landwege oder in geordneten Erweiterungsgebieten, sondern auch auf freiem Feld und in feuchten, von Hochwasser gefährdeten Niederungen. Schaurige Zustände herrschte im Öderich bei der Duisburger Altstadt, in Hörde am Ufer der Emscher und in der so genannten „Krim“ in der Dortmunder Nordstadt. Die Orte, auf die ich den forschenden Blick werfe, sind Duisburg mit dem Hochfeld als frühem Stadterweiterungsgebiet, Gelsenkirchen-Rotthausen, die Dortmunder Nordstadt sowie der Essener Segeroth. Im Rahmen meiner Doktorarbeit über den Arbeiterwohnungsbau im Ruhrgebiet habe ich mich vor vielen Jahren sowohl dem Werkswohnungsbau als auch der „privaten Produktion von Stadt“ im Ruhrgebiet gewidmet, exemplarisch in Duisburg und in Gelsenkirchen bzw. in Rotthausen. Auf die damaligen Forschungsergebnisse konnte ich bei der Vorbereitung dieses Textes zurückgreifen. Zur Entstehung bzw. zur Planung in der Dortmunder Nordstadt haben außerdem Manfred Walz und ich mehrere Aufsätze veröffentlicht. Zum Essener Segeroth – Essens so genanntem „wilden Norden“ – liegt eine von Frank Bajohr und Michael Gaigalat herausgegeben kombinierte Sozial- und Kulturgeschichte vor. Darüber hinaus konnte ich mich sowohl auf einige wenige Erhebungen aus dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zur Wohnungsfrage im rheinisch-westfälischen Industriegebiet stützen als auch auf Arbeiten, die seit Ende der 1980er Jahre erschienen sind und die – zumeist exemplarisch – die Migration, die Gesundheitspolitik oder die StadtwerdungsProzesse der ehemaligen Industriedörfer thematisieren. Zum Segeroth, den ich seit meiner Kindheit mit der Bezeichnung „Nachtjackenviertel“ verbinde, habe ich übrigens eine persönliche Beziehung. Im Sommer 1914 wurde meine Mutter in der dortigen Maschinenstraße geboren. Ihre Eltern waren Besitzer eines Miethauses auf dem Segeroth, wohnten dort und betrieben im Erdgeschoss einen kleinen Laden. Damals typisch für die
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erste Sprosse auf einer Leiter, die den Zuwanderern der zweiten Generation gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufstieg versprach.
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Meine Großeltern Weber waren zwar nicht Träger der „Spekulation“, aber auch sie gehörten zu den Akteuren: Nämlich als Käufer eines viergeschossigen, bescheiden ausgestatteten Arbeitermiethauses, das nur sehr geringe Renditen abwarf, als Vermieter und als kleine Gewerbetreibende, die sich mit dem Laden eine selbstständige Existenz aufbauten. Treibenden Kraft des Arbeitermietwohnungsbaus und mittelbar auch der spezifischen Form der Urbanisierung war seit Mitte des 19. Jahrhunderts die „Spekulation“. Es handelte sich nach damaligem Sprachgebrauch um die so genannte „geordnete Spekulation“, die aufgrund der Unberechenbarkeit des Marktes als notwendig angesehen wurde, wie selbst Rudolf Eberstadt im Handbuch des Wohnungswesens vermerkte, während die „wilde Spekulation“ allein auf Wertzuwachs spekulierte (Eberstadt 1920:96-97). Zur „Spekulation“ zählten alle diejenigen, die • aus Bauerwartungsland (das im weiträumigen, polyzentral aufgebauten Industriegebiet fast überall vorhanden war) Bauland machten, • indem sie die förmliche Fluchtlinienfeststellung betrieben, • dann – soweit opportun – die Flächen für die Erschließung absteckten, • danach die „Unternehmerstraße“ Schritt für Schritt bzw. entsprechend dem Baufortschritt behelfsmäßig befestigten – von einer regelrechten Straße konnte nur ausnahmsweise gesprochen werden –, • die manchmal aber auch die Straße ausbauten • und parallel dazu die Baugrundstücke entweder mit Baubindung verkauften oder in eigener Regie für den Markt bebauten und dann sowohl Baustellen als auch fertige Häuser zum Kauf anboten. „Warum wollte ihr nach Amerika auswandern, wenn hier das Geld auf der Straße liegt?“, ließ Horst Mönnich im Roman „Ein Dortmunder Agent: Der Mann der Karlchen Richter hieß“ (1974) den Bauunternehmer Studenski fragen. Das Spekulieren mit Boden und Bau konnte recht wohlhabend machen, vorausgesetzt, man musste die Rendite, die der Gesamtprozess abwarf, nicht auf zu viele Akteure verteilen. Die genannten Tätigkeiten der „Spekulation“ lagen in der Regel in einer Hand oder in maximal zwei Händen: In der der des Bauunternehmers (meist war es ein Mauer- oder Zimmermeister mit leistungsfähigem Betrieb), der preiswert Land gekauft hatte, um es zu bebauen, oder der sich mit einem Bauern – dem landwirtschaftlichen „Urbesitzer“ – zusammen tat, und dann mit diesem gemeinsam das Investment anging. Anders hätte sich die private Produktion von Wohnraum nicht rentiert. Denn bedingt durch die Grundstückspolitik des Bergbaus lagen die Preise für landwirtschaftliche Flächen im Industrierevier
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überdurchschnittlich hoch; Bauern konnten schnell zu „Millionenbauern“ werden. Während gleichzeitig die durchschnittlichen Preise für Bauland, je nach Lage und Ort, um 25 bis 40 Prozent niedriger waren als im nahen Düsseldorf (Kastorff-Viehmann 1980:133). Die zu erzielenden Mieten lagen wiederum, bedingt durch die niedrigen Familieneinkommen und in der Konkurrenz zum Werkwohnungsbau, unter denen vergleichbarer Wachstumsregionen. Wie der Prozess der „Produktion von Stadt“ im Einzelfall aussah, möchte ich am Beispiel der Steinfurtstraße in der Landgemeinde Rotthausen erläutern (um 1900 zur Bürgermeisterei (Essen-) Stoppenberg gehörig, 1924 nach Gelsenkirchen eingemeindet). Die Steinfurtstraße wurde ab 1899 bebaut. Dort hatte sich der Bauer Steinfurt zunächst mit dem Bauunternehmer Laubrock zusammengetan, um ein Feld nahe beim alten Landweg nach Essen-Schonnebeck zu Bauland zu machen, zu parzellieren und zu bebauen (Kastorff-Viehmann 1980:156 ff.). Das Investment war schließlich so groß, dass Grundstücke an weitere Bauunternehmer abgegeben wurden. Die Steinfurtstraße war eine „Unternehmerstraße“ par excellence. Sie wurde im Mai 1899 auf Vorschlag und auf Antrag der Grundbesitzer vom Gemeinderat förmlich festgestellt und blieb im Eigentum der Unternehmer. Es handelte sich um eine bloße Festsetzung der Fluchtlinien, die dann an Ort und Stelle abgesteckt wurde. Die Gemeinde wurde nicht weiter tätig. Für Kanalisation beziehungsweise den Anschluss an Grabensysteme oder für den Straßenausbau zu sorgen, war den Unternehmern übertragen beziehungsweise überlassen. Der reguläre Ausbau der Straße wurde in der Regel und im Einverständnis mit der Gemeinde unterlassen. An eine Straßenbeleuchtung wurde ebenfalls nicht gedacht. Da am jeweiligen Ort verschiedene „Urbesitzer“ und Bauunternehmer ähnlich agierten und die Interessen der Grundbesitzer in der jeweiligen Gemeindevertretung gut abgesichert waren, kam Widerspruch allein von Vertretern des Bergbaus. Denen ging es aber auch nicht um akzeptablen Städtebau oder um Stadthygiene, sondern um die Abwendung möglicher Bergschadensforderungen und damit um Bauverbote auf definierten Flächen (Kastorff -Viehmann 1985:221-222). Auch den Gemeinden lag daran, von Folgekosten zum Beispiel für den Straßenbau befreit zu sein. Mit dem „Erlass, die Aufstellung und Ausführung städtischer Bau- und Retablissements-Pläne betreffend“ von 1855 und dem „Preußischen Fluchtliniengesetz“ von 1875 war ihnen die Planungshoheit übertragen worden, so dass Grundeigentümer nicht mehr ohne jegliche gemeindliche Steuerung „Straßen“ anlegen und dann hemmungslos mit dem Straßenbauland spekulieren konnten. Soziale Folgekosten, zum Beispiel für Schulen und Polizeidiener, ließen sich jedoch nicht auf die Träger einzelner privaten Wohnungsbaumaßnahmen abwälzen (im Gegensatz zu den Siedlungen des Werkswohnungsbaus im westfälischen Ruhrgebiet, für die Ansiedlungsgebühren zu entrichten waren). Die oben kurz skizzierte Form der „privaten Produktion von Stadt“ – typisch für weite Teile des Ruhrgebiets – hatte gravierende Folgen für das Bild, die technischen Infrastrukturen und die Baustruktur der jeweiligen Orte: Zusammenhanglos errichtete, drei- bis viergeschossige Zeilen mit Miet-
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häusern an primitiven Zuwegen und ohne Anschluss an eine Kanalisation wurden typisch für Orts- und Stadterweiterungen. Schätzungen besagen, dass um 1913 rund die Hälfte aller Wohnhäuser im Ruhrgebiet an nicht ausgebauten Straßen standen (Wedelstedt 1913:1001 ff.). Wenn das Straßenland solcher „Unternehmerstraßen“ in den Besitz der Gemeinde überging, was nach Erlass des Preußischen Fluchtliniengesetzes im Jahr 1875 in der Regel unendgeldlich geschah, dann blieben der Gemeinde die Lasten des Straßenausbaus. Dies betraf nicht nur den Wohnungsbau der „Spekulation“ sondern auch den Werkswohnungsbau. Vereinzelte unbefestigte Straßen in den Kolonien, nur mit einer Aschendecke, mit Gruben und mit einer Rinne für die offene Kanalisation habe ich mehrfach in den 1970er Jahren im nördlichen Revier angetroffen – im Norden der Stadt Essen genauso wie in Gelsenkirchen und in Oberhausen. Zurück zur Steinfurtstrasse: Das Maß der Bebauung und die Ausnutzung der Grundstücksfläche wurde dort durch die jeweils geltende BaupolizeiOrdnung für die Landkreise im Regierungs-Bezirk Düsseldorf (zunächst durch die von 1894, später durch die revidierte von 1903) geregelt, • die eine minimale Hoffläche verlangte, • die maximale Gebäudehöhe in Abhängigkeit zur Straßenbreite definierte (13 Meter beziehungsweise 16 Meter bei Straßen, die breiter als acht Meter waren) und • die Zahl der Vollgeschosse mit maximal drei festsetzte. Parallel zu den Zonenbauordnungen, die ab 1900 für die Stadtgemeinden heraus kamen, wurde dort der Bau von Arbeiterwohnhäusern über eigens aufgelegte Erlasse hinsichtlich zulässiger Gebäudehöhen, minimaler Raumhöhen und notwendiger Treppenbreiten sogar noch erleichtert. Auf dieser Basis wurden einfachste traufständige Häuser mit fünf bis sieben Räumen pro Geschoss, aber ohne abgeschlossene Wohnungen errichtet. Pro Etage ließen sich aus den Räumen zwei bis drei Wohnungen machen, die in der Regel aus Wohnküche und Stube bestanden. Ein Wasseranschluss befand sich im Treppenhaus. Die Aborte waren Plumpsklos; sie lagen entweder an den Treppenabsätzen oder bei den Ställen für Schweine oder Ziege auf dem Hof. Der Hof selbst war nicht gärtnerisch gestaltet, sondern planiert und mit einer Decke aus Asche versehen. Er war oft durch eine Tordurchfahrt, manchmal nur durch einen Dunggang von der Straße aus zugänglich. Auf dem Hof befanden sich die Waschküchen, manchmal auch ein Anbau für gewerbliche Nutzungen. Die Kinder spielten auf dem Hof, auf der „Straße“, am Feldrand und im „Büschken“. In den Stadtgemeinden war die Situation nicht grundsätzlich anders; jedoch waren dort seit den 1890er Jahren aufgrund der Bauordnungen vier Vollgeschosse zulässig. Diejenigen Arbeitermiethäuser, die nicht verkauft werden konnten, blieben im Eigentum der „Urbesitzer“ oder der Bauunternehmer. Die Erstellungskosten waren so niedrig kalkuliert, dass über die Mieten die Hypotheken
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abbezahlt wurden. Eine Firma ging also nicht zwingend bankrott, wenn das Geschäft schleppend verlief. Umgekehrt: Man sammelte Hausbesitz. Meine Mutter hatte Mitschülerinnen, deren Väter Bauunternehmer waren und die oftmals aus Bauernfamilien stammten. Da gab es Mitgiften von zehn, zwanzig, ja bis zu vierzig Miethäusern.
W ELCHES WAREN DIE PL ANUNGSRECHTLICHEN R AHMENBEDINGUNGEN ? Das Beispiel Steinfurtstraße zeigt, dass es nur geringe bau- und planungsrechtliche Anforderungen an den Arbeitermiethausbau gab. Sie resultierten vor allem aus der jeweils geltenden Bauordnung. Notwendig war zwar immer die Fluchtlinienfestsetzung; aber städtebauliche oder stadtplanerische Erwägungen spielten kaum einmal eine Rolle. Die Gemeinden in den Landbürgermeistereien beschränkten bis in die Zeit nach 1900 ihre Vorgaben und Eingriffe auf ein Minimum. Alles andere hätte die Produktion von preiswerten Arbeitermiethäusern und -wohnungen nur verlangsamt und verteuert. Die relative Abwesenheit von Steuerung gehörte insofern zum System. Erste Bebauungspläne wurden in den Landgemeinden nach 1900 und vermehrt um 1910 aufgestellt. Die „Unternehmerstraße“, wie am Beispiel Steinfurtstraße kennen gelernt, stellte also den Normalfall der Baulanderschließung im Ruhrgebiet dar. Die Einzelausweisung von Straßen auf Antrag von Privaten war sowohl in den Gemeinden der Landbürgermeistereien als auch in den Städten üblich. Nach §5 des Preußischen Fluchtliniengesetzes von 1875 konnte zwar die Ausweisung verweigert werden, wenn polizeiliche Belange dagegen sprachen oder wenn abzusehen war, dass nur ein unvollständiger Ausbau der Straße zu erwarten war. In der gemeindlichen Praxis wurde von diesem Verweigerungsrecht wenig Gebrauch gemacht. Die Gemeinden in den Landbürgermeistereien nutzten ihre Eingriffsmöglichkeiten kaum und überließen den Prozess der Ortsentwicklung den privaten Investoren: Dem Bergbau und der „Spekulation“. Entlang der alten Landwege und Chausseen gab es sowieso keinen Grund für die Ablehnung eines Bauantrags. Die Folge war, „[...] dass überall im Landgebiet isolierte Häuser und Häuserreihen aus dem bisherigen Ackerboden wuchsen, die bis zu einer Höhe von drei bis vier Stockwerken empor geführt wurden“, wie in der Rheinisch-westfälischen Zeitung 1907 anlässlich der Forderung nach einem General-Siedlungsplan agitiert wurde (Rheinisch-Westfälische Zeitung vom 13.7.1907). Aber auch in denjenigen Arbeiterquartieren in Duisburg, Mülheim, Essen, Bochum, Gelsenkirchen oder Dortmund, für die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemeindlich Bebauungs- oder Stadterweiterungspläne aufgestellt worden waren, herrschte die Praxis der „Unternehmerstraße“. Oder anders ausgedrückt: Die Stadtplanung setzte zwar räumliche Grenzen für den Prozess der „Produktion von Stadt“ durch Private, sie behinderte ihn aber kaum einmal. Umgekehrt: die Bebauungspläne gaben großflächigen
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Entwicklungsspielraum. Im Zweifelsfall konnte der Bebauungsplan sogar als Ersatz für eine förmliche Fluchtlinienfeststellung herhalten. Was die Stadtgemeinden aber in der Regel forderten (und was über den Bebauungsplan gesichert werden sollte), war ein Nachweis der Ableitung der Abwässer. Vor dem Ausbau der Kanalisation musste man sich mit Gruben, die geleert wurden, und mit offenen Gräben begnügen. Aber aller guter Wille half nicht viel: Die Dortmunder Nordstadt soll noch in den 1880er Jahren während heißer Tage im Sommer „in den Himmel gestunken“ haben. Denn trotz Bebauungsplanung und trotz Auflagen hinsichtlich der Abwasserentsorgung gab es das so bezeichnete „wilde Bauen“. Das in den 1890er Jahren in Duisburg-Hochfeld beklagte „wilde Bauen“ meinte sowohl den Bau von Miethäusern an zwar festgestellten aber noch nicht ausgebauten Straßen als auch den Bau an zwar geplanten, aber noch nicht über eine Fluchtlinienfestsetzung festgestellten und in ein Straßennetz einbezogenen Straßen. Ein Zeitgenosse berichtete über Hochfeld: „Überall in der Feldmark wachsen neue Häuser aus der Erde, ohne dass ein geregeltes Straßennetz sie verbindet, ohne daß für Beleuchtung, Ableitung des Wassers etc. gesorgt werden kann. Die Bewohner nehmen daher ihren Weg, wo sie ihn finden, über die Felder und zertreten die Frucht; sie lassen das Pumpen-, Regen- und Spülwasser aus den Häusern laufen, wohin es will, es entstehen dadurch sumpfige, stinkende Kloaken“ (zit. nach Schöbel 1922:46-57). Damit wären die Standards wieder Thema. Martin Weyer-von Schoultz stellt auf der Basis seiner Untersuchungen über Gelsenkirchen fest, dass die Wohnung das industriestädtische Gesundheitsrisiko par excellenz darstellte (Weyer- von Schoultz 1994:107): Die Säuglingssterblichkeit war hoch, Infektionskrankheiten wie Thyphus, Cholera und Tuberkulose bedrohten die Bewohner in Quartieren mit defizitären stadthygienischen Anlagen noch bis in die Zeit vor 1914 (Weyer- von Schoultz 1994:99). Als überbelegt galten diejenigen Wohnungen, in denen pro Bewohner beziehungsweise Bewohnerin weniger als zehn Kubikmeter Luftraum zur Verfügung standen. Umgerechnet auf die Fläche hätte dies drei bis 3,5 Quadratmeter bedeutet. Im Durchschnitt lebten jedoch 1,8 bis zwei Personen pro Raum (und die Raumgrößen lagen bei zwölf bis 16 Quadratmetern), Wohnküchen eingerechnet (Kastorff-Viehmann 1980:87 ff.). Aber es gab auch den Einzelfall wo sich acht oder neun Familienmitglieder eine Stube und eine Kammer teilen mussten. Was die Wohnverhältnisse betrifft, kam noch erschwerend hinzu, dass oft Grundstücke in feuchten Niederungen bebaut wurden, die für eine Bebauung nicht geeignet waren. Waren die Häuser aus Fachwerk, wie die der so genannten „Krim“, zwei parallelen „Unternehmerstraßen“ nahe des Dortmunder Bahnhofs, die ab der Mitte der 1850er Jahre bebaut wurden, dann mussten sie schon in den 1890er Jahren abgerissen und durch dauerhaftere Gebäude ersetzt werden. Bewohner der Baugebiete im Einwirkungs-Bereich der Emscher, des Abwassersammlers im Revier, wurden bis zum Bau eines funktionierenden Entwässerungssystems zusätzlich und regelmäßig von Rückstau- und Abwasserüberschwemmungen heimgesucht. Häuser, Gärten und Bergwerke ertranken dort regelrecht in den Abwasserfluten.
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Das „ganze Ruhrgebiet“ ein Slum? Diese Frage taucht schnell auf, wenn man sich die Verhältnisse um 1880, 1900 oder 1910 vor Augen führt. Denn abgesehen von der massiven Bauweise der Häuser, die – wenn es sich um Neubauten handelte und nicht um umgebaute Ställe oder Scheunen – • je nach Baualter und Standort zwei bis viergeschossig waren, • ab den 1860er Jahren in der tragenden Struktur durchweg aus Ziegelmauerwerk bestanden, • und die oftmals eine aufgeputzte Schaufassade erhielten, die einem italienischen Palazzo nachempfunden war, • erinnern die Zustände in vielen Punkten an Verhältnisse, wie sie in den Slums der Megastädte der Zweiten oder Dritten Welt herrschen: • nicht nur was die mangelhafte Stadthygiene und die Minimierung der Kosten für die Infrastruktur, • die armselige Ausstattung der Baugebiete, • die oftmals zur Bebauung ungeeigneten Baugebiete und den Raubbau an Freiflächen, • das Gesundheitsrisiko der Bewohner, • deren prekäre Lebensverhältnisse • und das „wilde Bauen“ betrifft, • sondern insbesondere hinsichtlich der in Summe chaotisch geregelten „Produktion von Stadt“. In den Megacities ist erfolgreiche „Governance“ eine aktuelle Aufgabe. Die Hütte aus Blech und Pappe ist nicht das alleinige Charakteristikum des Slums. • Auch in den Slumgebieten der Megacities gibt es bzw. entwickelt sich privates Grundeigentum, • auch dort wird mit Grund und Boden spekuliert, • auch dort bildet sich eine für den jeweiligen Ort spezifische Form der „Produktion von Stadt“ heraus, die einigen Beteiligten relativen Wohlstand verspricht, • die gleichzeitig einen essentiellen Bestandteil der jeweiligen Ökonomie bildet • und die auf der Basis minimaler Standards und unter weitgehender Abwesenheit von Stadtplanung agiert, jedoch den Anlass für Planungs-, und Hilfs- bzw. Sozialprogramme unterschiedlichster Art abgibt. Zu erwägen, dass in einem der größten europäischen Industriegebiet in der zweiten Hälfte des 19. und noch im beginnenden 20. Jahrhundert die Produktion von Wohnraum unter ähnlichen Bedingungen ablief wie heute in jenen Teilen der Megacities, die wir unter der Bezeichnung Slum subsumieren, ist sicher befremdlich. Um aber noch einmal auf meine Forschungen vor Jahren über den Arbeiterwohnungsbau zurückzukommen. Während des Prozesses der Themen-
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findung für meine Doktorarbeit fragte mich Albrecht Mann, mein Doktorvater, wo sich denn die Slums im Ruhrgebiet befänden. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es diese nicht gab oder gegeben hätte. Ich machte mich dann auf den Weg um sie zu suchen – und fand sie nicht. Zwar wusste ich vom Segeroth, zwar gab es die Erhebung vom Hörder Landrat Spring aus den 1890er Jahren über die schaurigen Verhältnisse in den Bauten entlang der Emscher, zwar schrieb Li Fischer-Eckert 1913 ihre Dissertation über die armseligen Lebensbedingungen der „Frauen von Hamborn“, zwar wurde hier und da in der zeitgenössischen Literatur über die problematische Situation in den alten Reihenhäusern – D-Züge oder Kasernen genannt – berichtet. Aber Slums konnten das eigentlich nicht sein, denn dort zu leben war doch für viele Menschen im Ruhrgebiet normal. Und die Bilder von Slums, die ich im Kopf hatte, sahen auch ganz anders aus. Den Stadtbürgern des 19. und den Angestellten und Aufsteigern des 20. Jahrhunderts waren jedoch schon immer die großen proletarischen Viertel im Ruhrgebiet suspekt. Aber dass ganz Duisburg-Hamborn – das „Reich der August-Thyssen-Hütte“ – ein Slum gewesen wäre, das konnte nicht zutreffen. Auch Duisburg-Hochfeld war kein Slum sondern ein großes Arbeiterviertel. Und der Segeroth – „Essens wilder Norden“ – war das Quartier: • mit stabiler linker Basis, • war in Essen während des Dritten Reichs eine wichtige Basis der „Edelweisspiraten“ (junger Widerständler gegenüber dem NS-Regime) und • derjenige Stadtteil, in dem die erste freie Schule eröffnet wurde. • Ähnliches lässt sich über die Dortmunder Nordstadt sagen. Seit Beginn der 1990er Jahre werden die alten Arbeiterquartiere als Viertel mit „erhöhtem Erneuerungsbedarf “ eingestuft: mit vielen Wohnungen mit niedrigem Ausstattungs-Standard, mit städtebaulichen Defiziten und mit einem hohen Anteil alter, armer und zugewanderter Bevölkerung. Die Zeilen mit dreigeschossigen Arbeitermiethäusern, die sich unvermittelt auf dem „platten Land“ an den alten Landstraßen erheben, findet man nur noch im nördlichen Ruhrgebiet. Sie beherbergen keine hochwertigen Wohnungen. Andere sind entweder abgerissen oder von der Bebauung des urban sprawls eingeholt worden.
Haberland und Sommerfeld Akteure und Strukturwandel in der Berliner Stadtentwicklung vor und nach dem Ersten Weltkrieg Celina Kress
Die Immobilien- und Bauunternehmer Georg Haberland (1861-1933) und Adolf Sommerfeld (1886-1964) waren zentrale Akteure und treibende Kräfte der Berliner Stadtentwicklung vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Hier richtet sich der Blick auf zwei von ihnen initiierte Wohnungsbau-Entwicklungsprojekte, die jeweils im Verlauf von rund zehn Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin-Wilmersdorf und Berlin-Zehlendorf geplant, verhandelt und realisiert wurden. In erster Linie werden die städtebaulicharchitektonischen Konzepte dieser Projekte sowie Strukturen und Formen ihrer Aushandlung und Durchsetzung dargestellt und diskutiert. Fokussiert werden die Akteure, vor allem die privaten Unternehmer, Investoren und Entwickler dieser Projekte. Ihr gesetzlicher, institutioneller und gesellschaftlicher Handlungsrahmen, sowie wechselseitige Interaktionsmuster im Rahmen des jeweiligen Projekts werden dargestellt und analysiert. Von besonderem Interesse ist dabei die Frage nach dem Anteil der Immobilienunternehmer an der funktionalen Bestimmung und räumlichen sowie formalen Ausgestaltung der Projekte und damit auch an der Entwicklung städtebaulicher Leitbilder für die Stadt vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Der direkte Vergleich der beiden Projekte macht den grundsätzlichen Leitbildwandel, sowie veränderte gesetzliche, wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen vor und nach dem Ersten Weltkrieg sichtbar. Der Blick auf die Akteure macht aber zugleich auch bisher weniger beachtete Kontinuitäten in Bezug auf Handlungsstrukturen, Beziehungen sowie Einfluss und Wirkungsmacht der Bauunternehmer in der Stadtproduktion im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts deutlich. Am Beispiel der Entwicklung von zwei städtebaulichen Großprojekten in Berlin werden damit Muster und Dynamiken lokaler Governance im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts beleuchtet. Die Verwendung des zunächst gegenwartsbezogenen Begriffs der Governance ermöglicht es, die historischen Fallbeispiele auf aktuelle Vorstellungen von politisch-gesellschaftlichen Koordinations-
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und Regelungsstrukturen bei der Aushandlung lokaler Entwicklungsprozesse zu beziehen. Die Untersuchung gliedert sich in vier Abschnitte: Die planungsgeschichtliche Folie dieser Untersuchung bilden Ausprägung und Wandel der städtebaulichen Leitbilder Berlins vor und nach dem ersten Weltkrieg. Daher wird ein Überblick zum Inhalt und zur bauordnungsrechtlichen Absicherung der grundsätzlichen, Rahmen setzenden räumlichen und sozialen Leitbilder der Berliner Stadtentwicklung vorangestellt. Es folgt die Darstellung der beiden Fallbeispiele: Das Immobilienunternehmen Georg Haberlands und die Entwicklung des „Rheinischen Viertels“ in Wilmersdorf 1905-1915 sowie das Unternehmen Adolf Sommerfelds und die Entwicklung der Großsiedlung in Zehlendorf-Nord 1922-1932. Abschließend werden beide Projekte in Bezug auf ihre räumliche, formale, soziale, ökonomische und infrastrukturelle Ausgestaltung miteinander verglichen, und es wird versucht, unternehmerische Handlungsstrukturen und Formen lokaler Governance zu identifizieren und vergleichend zu bewerten. Am Ende steht die oben skizzierte Frage nach dem inhaltlichen Anteil der Unternehmer an der Gestaltung und Durchsetzung der Projekte sowie ihrem damit verbundenen Beitrag zur Ausprägung konzeptioneller Leitbilder der Stadtentwicklung.
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VORAUSSETZUNGEN
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sahen private Investoren die Entwicklung der rasant wachsenden Reichshauptstadt Berlin vor allem in südwestlicher Richtung voraus. Als bevorzugte Entwicklungsgebiete galten Gelände zwischen den vorhandenen Schienenwegen nach Potsdam und Anhalt, sowie die reizvollen Landschaftsstreifen entlang der Havelseen zwischen Potsdam und Berlin (Carstenn 1892:8; Haberland 1931:47). Für die Entwicklung Berlins standen sich dabei zwei grundsätzlich divergierende räumliche Leitvorstellungen gegenüber: Auf der einen Seite das Prinzip der kompakt bebauten Mietshausstadt, das sich – angesichts der beschleunigten baulichen Verdichtung der Stadt und der damit verbundenen sozialen und hygienischen Probleme – schon während des 19. Jahrhunderts scharfer Kritik ausgesetzt sah; auf der anderen Seite die offene Baustruktur der Villenkolonien. Diese sozial homogenen, gehobenen Einfamilienhausgebiete wurden zum privaten Fluchtraum des wohlhabenden Bürgertums und entwickelten sich seit Ende der 1860er Jahre parallel zur Mietshausstadt (vgl. Posener 1982:51; Bodenschatz 2001).1 Der Immobilien-Unternehmer und Stadtentwickler Johann Anton 1 | Wohnungsreformer wie Julius Faucher oder Emil Sax plädierten bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Rahmen der lebhaften Diskussion der „Wohnungsfrage“ für einkommensschwächere Schichten für das Prinzip der Kleinhaussiedlungen nach englischem Vorbild („Cottage System“, Voigt 1901:113; Teuteberg 1987). Vor dem Ersten Weltkrieg wurden diese Siedlungsformen jedoch kaum realisiert und waren daher in der Siedlungsstruktur der Stadt noch nicht ablesbar.
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Wilhelm von Carstenn verfolgte sogar das Ziel, private Einfamilien-LandhausKolonien zum Entwicklungsmodell für die gesamte Stadt zu machen. In seiner Vision einer Berlin-Potsdamer Gartengroßstadt scheinen bereits Vorstellungen und Elemente disperser Stadtentwicklungsmodelle des 20. Jahrhunderts auf. (Abb. 1) Abb.1: Der 1892 publizierte Plan J. A. W. von Carstenns dokumentiert dessen Zukunftsvision von Berlin als einer Gartengroßstadt, die südwestlich bis Potsdam reicht und den Grunewald als zentralen Stadtpark umschließt.
Zunächst entwickelte sich die Raumstruktur Berlins jedoch in anderer Weise: Relativ ungezügelt vollzog sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der nachholende Industrialisierungsprozess der Stadt – besonders beschleunigt und wirtschaftlich angetrieben durch den militärisch-politischen Erfolg im Krieg gegen Frankreich und nach der Reichsgründung 1871. Bis 1910 vervierfachte sich die Einwohnerzahl auf dem Gebiet Groß-Berlins und erreichte vor dem Ersten Weltkrieg nahezu die 4-Millionen-Grenze (Zur Entwicklung Groß-Berlins vor dem Ersten Weltkrieg vgl. insbes.: Escher 1985; Bodenschatz 2009). Dieser Wachstumsschub vollzog sich für jeweils zwei Jahrzehnte in zwei unterschiedlichen räumlichen Zonen des Gesamt-Gebiets: Zwischen 1871 und 1890 wuchsen vor allem die sechs Innenstadtbezirke Berlins, zwischen
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1890 bis 1910 verschob sich der Bevölkerungszuwachs auf die Vororte.2 Demographische Wachstumsdynamik, Festlegungen der Baupolizeiordnungen zu Höhe und Dichte der Bebaubarkeit und die tatsächliche bauliche Entwicklung der Stadtgebiete standen in Korrelation zueinander. 1887 wurde der Geltungsbereich der Berliner Bauordnung auf die Vororte ausgeweitet und damit die zuvor für diese Gebiete geltenden Vorortregelungen außer Kraft gesetzt (Voigt 1913:127). Auch in den umliegenden Gemeinden war damit die fünfgeschossige, geschlossene Bauweise mit einer maximalen Traufhöhe von 22 Metern möglich. Entsprechend begann sich zu dieser Zeit die demographische Wachstumsdynamik im Großraum Berlin auf die Vorstädte zu verlagern. Über die damit bauordnungsrechtlich eingeführte umfassende räumliche Verdichtungsmöglichkeit der Stadt wurde auf kommunaler Ebene unter den Experten für Städtebau und Städtetechnik heftig diskutiert. In der Folge wurden abgestufte oder Zonen-Bauordnungen entwickelt. So differenzierte die Berliner Bauordnung von 1892 das Maß der baulichen Nutzung und begrenzte die Verdichtungsmöglichkeit sektoral. Diese erste abgestufte Berliner Bauordnung beschränkte die geschlossene, fünfgeschossige Bauform in etwa auf die Fläche innerhalb des 1877 fertig gestellten S-Bahnringes.3 Für das Vorortgebiet außerhalb der Ringbahn dagegen erfolgte eine Herabzonung auf drei- und viergeschossige geschlossene sowie sukzessive offene Bauweise bis hin zur landhausmäßigen Bebauung. In diesen Bereichen ging das Tauziehen um das Maß der baulichen Nutzung jedoch auch nach 1900 weiter. Für verschiedene, in der Nähe der Ringbahnlinie gelegene Gebiete ließen sich auch erneut Heraufzonungen durchsetzen (vgl. Kress 2011: 64-65). Die aufeinander folgenden bauordnungsrechtlichen Bestimmungen der Jahrzehnte um 1900 machen das harte Ringen verschiedener Interessengruppen um eine möglichst hohe Überbaubarkeit des Bodens sichtbar. Sie spiegeln zugleich die Konkurrenz der beiden oben skizzierten räumlichen Leitbilder für Berlin. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden im politisch gewandelten Umfeld der Weimarer Zeit gesetzliche Grundlagen geschaffen, die eine umfassende Umsetzung des ideell lange vorbereiteten grundsätzlichen Leitbildwandels hin zu einer ausgedehnten und möglichst offen bebauten Raumstruktur gewährleisteten. Die Bauordnung von 1925 reduzierte in allen Bauzonen die zulässige 2 | Die Stadt Berlin umfasste bis 1920 lediglich die sechs innerstädtischen Bezirke Mitte, Kreuzberg, Tiergarten, Wedding, Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Die Bevölkerungszunahme um etwa genau 1 Million zwischen 1871 und 1890 bezog sich zu 75 Prozent auf die Innenstadtbezirke, zu 25 Prozent auf die Vororte. Zwischen 1890 und 1910 drehte sich dieses Verhältnis nahezu exakt um: Nur mehr 28 Prozent des Bevölkerungszuwachses (um insgesamt rd. 1,8 Millionen) bezog sich auf die Innenstadtbezirke und 72 Prozent auf die Vororte. Dementsprechend verteilte sich der Anteil der Einwohner: 1871: Innenstadtbezirke: 89 Prozent, Vororte: 11 Prozent; 1910: Innenstadtbezirke: 56 Prozent, Vororte: 44 Prozent. (Eigene Berechnungen auf der Grundlage des Statistischen Jahrbuchs der Stadt Berlin 1927, S. 5.) 3 | Im Norden ging der Bereich über den S-Bahnring hinaus und folgte der Grenze des Stadtkreises Berlin.
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Gebäudehöhe, die bebaubare Fläche sowie die Ausnutzungsziffern, und verringerte in Bezug auf das Gesamtgebiet der Stadt die Zonen mit geschlossener Bebauung zugunsten derjenigen mit offener und landhausmäßiger Bebauung. Etwas mehr als drei Jahrzehnte nach ihrer Veröffentlichung hatte Carstenns Vision von der Gartengroßstadt Berlin damit bestimmenden Einfluss auf das Leitbild der Stadtentwicklung gewonnen. Die Zielvorstellung einer aufgelockerten, funktional gegliederten und durchgrünten Stadt lenkte die weitere Entwicklung bis in die 1970er Jahre.
G EORG H ABERL AND UND DIE E NT WICKLUNG DES R HEINISCHEN V IERTELS IN B ERLIN -W ILMERSDORF 19051915 Am 24.02.1890 gründeten Salomon Haberland (1836-1914), zuvor Tuchfabrikant in Charlottenburg, und der Hamburger Kaufmann Arthur Booth gemeinsam mit dem Bankhaus Delbrück, Leo & Co die „Berlinische BodenGesellschaft“. Direktoren der neuen Terraingesellschaft wurden die Söhne der Mitbegründer, Arthur Booth jr. und Georg Haberland (1861-1933). Bereits drei Jahre später – nach einem Reitunfall des Partners Arthur Booth jr. – wurde diese Zusammenarbeit beendet. Die Haberlands wechselten zur Dresdner Bank und bauten eine belastbare und lang anhaltende Kooperationsstruktur mit jenem Bankhaus auf. Die Dresdner Bank übernahm Aktienanteile der Terraingesellschaft in Höhe etwa eines Drittels des Stammkapitals. In den Aufsichtsrat traten neben Salomon Haberland und seinem Freund und Teilhaber Jakob Dannenbaum zwei Vertreter der Dresdner Bank ein. Eugen Gutmann, Leiter der Bank, übernahm den Vorsitz im Aufsichtsrat (Berlinische Boden-Gesellschaft 1921:11; Stier/Krauß 2005:213). Die neue Bank-Kooperation erweiterte den finanziellen Handlungsspielraum der Gesellschaft und führte zum Ausbau ihres Geschäftsfeldes: Die Berlinische Boden-Gesellschaft begann von da an, neben ihren ursprünglichen Makler- und Beteiligungsaktivitäten im Immobiliengeschäft, in größerem Maßstab selbst Terrainentwicklungen durchzuführen. Das bedeutet, die Gesellschaft erwarb größere Gelände, ließ Bebauungspläne erstellen und genehmigen, legte auf dieser Basis Straßen und technische Infrastrukturen an, parzellierte und verkaufte baureife Terrains an Bauunternehmer oder Privatanleger (Haberland 1913:5; Fisch 1989:35-36). Diese Form der Geländeerschließung führten Salomon und Georg Haberland ab Ende der 1890er Jahre in den schnell anwachsenden südwestlichen Vororten Berlins durch, zuerst in Schöneberg und Charlottenburg.4 Von Anfang an zielten sie auf die Umsetzung städtebaulicher Großprojekte (Berlinische Boden-Gesellschaft 1921:13). Bereits bei der Aufstellung des 4 | Einwohnerzahlen vor Beginn der Entwicklungsaktivitäten der Berlinischen Boden-Gesellschaft: Charlottenburg: 1880: 20.562 1890: 76.859, 1900: 189.305; Schöneberg 1885: 11.180, 1890: 28.721 1895: 62.695 (Stat. Jahrbuch Berlin 1927; Viergutz 1988:14).
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neuen Bebauungsplans für das Schöneberger Westgelände durch Stadtbaurat Friedrich Gerlach arbeiteten die Terrainunternehmer eng mit der Gemeinde zusammen (Haberland 1931:51-52). Unternehmer und die neue Stadtverwaltung Schönebergs5 waren sich einig in der Absicht, im direkten Anschluss an die wohlsituierten Berliner und Charlottenburger Stadtviertel hier ebenfalls „die Erbauung von herrschaftlichen, vornehmen Wohngebäuden zu fördern und damit steuerkräftige Miether heranzuziehen.“ (Erster Verwaltungsbericht des Magistrats der Stadt Schöneberg 1899 zit. in Zwaka 1987:114). Bevor die projektierten Straßen und Plätze realisiert und die Aufteilung des Geländes in Bauparzellen vorgenommen werden konnte, musste Haberland mit einer Vielzahl landwirtschaftlicher Einzelbesitzer verhandeln, um den fragmentierten Schöneberger Grundbesitz in der Hand der Berlinischen Boden-Gesellschaft zusammenzuführen (Haberland 1931:48-50). Am Beginn der dann anschließenden städtebaulichen Erschließungstätigkeit stand die Herstellung äußerst aufwändig gestalteter Platzanlagen, die zum Herzstück der umliegenden Wohnviertel werden sollten. Die mit Brunnen, dekorativen Skulpturen und grünen Schmuckelementen ausgestatteten öffentlichen Plätze und Straßen zentrierten diese Projekte räumlich wie auch gesellschaftlich und sicherten ihnen bereits während der Start- und Verkaufsphase allgemeine Sichtbarkeit und Publicity. Sie erhöhten den Anreiz für Käufer der Bauparzellen und steigerten das Attraktivitätspotenzial der neu entstehenden Wohngebiete für Interessenten der nachfolgend errichteten Mietwohnbauten in gehobenem Standard. Die großzügig angelegten Stadtplätze waren somit Initialzünder für die anschließende Entwicklung dieser städtebaulichen Großprojekte und Katalysatoren für die schnelle Realisation von Wohnbauten auf den umliegenden Bauparzellen. Auch die gezielte Inszenierung lokaler Groß-Events rückte den privatwirtschaftlich realisierten öffentlichen Raum ins Zentrum des gesellschaftlichen Interesses. So organisierte Haberland anlässlich der Einweihung und Übergabe des Viktoria-Luise-Platzes an die Stadt im Jahr 1900 ein großes Stadtfest (Abb. 2). Große öffentliche Aufmerksamkeit weckten neben aufwändigen Dekorationen und elektrischer Beleuchtung des Platzes und der Wasserspiele auch die Anwesenheit des Bürgermeisters, zahlreicher Gemeindevertreter und weiterer wichtiger Akteure in der Stadtentwicklung von Schöneberg und Berlin (Vossische Zeitung, 09. Juni 1900, abgedruckt in Berlinische Bodengesellschaft 1921:70). Haberland hatte den Platz nach einem prämierten Entwurf des namhaften und 1899 gerade zum Königlichen Gartenbaudirektor berufenen Gartenarchitekten Fritz Encke realisieren lassen. Damit wurde zugleich der Blick des Kaisers auf das Projekt gelenkt (Haberland 1931:52-53). Nacheinander und teilweise parallel realisierte die Berlinische BodenGesellschaft im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mehrere Stadtentwicklungsprojekte in Schöneberg, Charlottenburg und Friedenau: Das „Bayerische Viertel“ (1898-1908), das Gelände zwischen Kurfürstendamm und Ringbahntrasse, das „Historikerviertel“ um die Sybelstraße (1898-1911) sowie das 5 | Schöneberg hatte 1898 Stadtrechte erhalten.
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„Wagnerplatzviertel“ (ab 1904). Diese Projekte wurden während der allgemeinen Boomphase des Berliner Immobilienhandels zu Beginn des Jahrhunderts umgesetzt. Allein in Schöneberg verkaufte die Berlinische Boden-Gesellschaft vor 1910 mehr als fünfhundert Baugrundstücke und sicherte sich damit besonders gute Geschäftsergebnisse (Stier/Krauß, 2005:225). Auch der enorme Einwohnerzuwachs der Stadt Schöneberg zwischen 1895 (62.695) und 1910 (172.823) liefert ein Indiz für den Erfolg der Haberlandschen Projekte. Abb. 2: Viktoria-Luise-Platz mit Festschmuck und -beleuchtung anlässlich der feierlich inszenierten Übergabe des Platzes durch die Berlinische Boden-Gesellschaft an die Stadt Schöneberg am 8. Juni 1900.
Hier seien noch einmal allgemeine strukturelle Merkmale zusammengefasst, durch die sich die Aktivitäten Haberlands von einer Vielzahl konkurrierender Erschließungsprojekte unterschieden. Sie kennzeichnen die Planungskonzepte selbst wie auch Strategien ihrer Durchsetzung und Realisation, beziehen sich also auch auf Formen lokaler Governance: Georg und Salomon Haberland führten entschiedenermaßen städtebauliche Großprojekte durch. In gezielter Zusammenarbeit mit renommierten Planern wurden innovative Gestaltungskonzepte entwickelt. Dies umfasste neben der oben beschriebenen Anlage und Ausstattung des öffentlichen Stadtraums die Beachtung zentraler Grundsätze des modernen Städtebaus: Ein hierarchisiertes Straßensystem (Unterscheidung von Wohn- und Verkehrsstraßen), Straßenaufweitungen und deren Möblierung, die kontrollierte Anordnung von Ladenlokalen an Hauptstraßen und in Eckgebäuden, Entdichtung durch Verzicht auf tiefgestaffelte Quer- und Rückgebäude zugunsten besserer Durchlichtung und Durchlüftung, Begrünung und Zusammenfassung aneinandergrenzender Hofflächen, Formulierung von Gestaltungsregeln mit dem Ziel einer Vereinheitlichung des Straßenbildes, Modernisierung stadttechnischer Infrastrukturen, zum Beispiel durch die Einführung elektrischer Straßenbeleuchtung (Berlinische Bodengesellschaft 1921:12-14). Charakteristisch für die Arbeitsweise Haberlands war die möglichst enge Abstimmung zwischen Finanzierungstechnik, baurechtlichen Rahmenbedingungen sowie bautechnischen Fragen. Die entscheidende Basis dafür bildeten intensive Kommunikations- und Kooperationsbemühungen Georg Haberlands. Der Unternehmer hielt engen persönlichen Kontakt
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und Austausch mit allen an der Stadtproduktion beteiligten Akteursgruppen: Dazu gehören die gefestigte, persönliche Kooperation mit seiner Bank sowie privaten Geldgebern auf der einen Seite und die gezielte Analyse von Bedarfsstrukturen der Städte und Gemeinden, sowie die wechselweise Kooperation mit kommunalpolitischen und staatlichen Akteuren zur Durchsetzung der eigenen Interessen auf der anderen Seite. Außerdem pflegte Haberland vielfältige persönliche Kontakte zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen, also – in der Perspektive lokaler Governance – zu Teilen der Zivilgesellschaft. Diese konnten als private Terrainverkäufer, als Interessenten oder als Vermieter zu wichtigen Multiplikatoren seiner Botschaften werden. Als relevante Zielgruppe seiner Projektentwicklungen hatte Georg Haberland von Anfang an das gehobene Bürgertum fokussiert. Inhaltlich auf dieses Feld spezialisiert, war die Arbeit der Berlinischen Boden-Gesellschaft darauf gerichtet, das Nachfrageprofil dieser Interessentengruppe möglichst präzise zu ermitteln und die Produkte optimal darauf abzustimmen. Um dies in der Praxis zu gewährleisten, stellte die Gesellschaft ihren Interessenten umfassende Bauberatung zur Verfügung, erstellte Rentabilitätsberechnungen und vermittelte günstige Kredite. Sie unterhielt von Anfang an auch ein eigenes Konstruktionsbüro, das den Bauinteressenten Grundriss- und Fassadenentwürfe lieferte und zugleich eine enge Vernetzung zu den Bauunternehmungen der Stadt herstellte (Winz 1964:110). 1906 gründete Haberland für diesen Tätigkeitszweig ein eigenes Bauunternehmen, die „Berlinische Bau-Gesellschaft mbH“. Diese bebaute auch Teile der eigenen Terrains selbsttätig und übernahm Bauleistungen für andere Auftraggeber (Stier/Krauß 2005:223). Die gute Kooperation zwischen der privatwirtschaftlichen Geländeerschließung und den Gemeinden im Großraum Berlin um die Jahrhundertwende beruhte auf mehreren Faktoren: Vor dem Hintergrund des allgemein rapiden Bevölkerungsanstieg Groß-Berlins konkurrierten die unabhängigen, benachbarten Gemeinden um zuziehende, möglichst wohlhabende Einwohner, denn mit diesem Bevölkerungsgewinn verband sich die Aussicht auf wachsende Steuereinnahmen sowie auf die Möglichkeit, möglichst rasch das Stadtrecht zu erlangen (vgl. Fisch 1989:57). Der erwünschte Einwohnerzuwachs machte aber zugleich die forcierte Baulanderschließung und Errichtung von Wohngebäuden erforderlich. Genau dabei waren die Gemeinden in zweierlei Hinsicht auf die Zusammenarbeit mit den Terraingesellschaften angewiesen: Erstens war der finanzielle Handlungsspielraum der Kommunen begrenzt, und zweitens fehlte ihnen das professionelle Knowhow auf dem Gebiet der Terrainerschließung und -vermarktung. Darüber hinaus verbrieften Dreiklassenwahlrecht und die Grundbesitzerklausel die dominante Position der Grundbesitzer im Gemeinderat beziehungsweise in der Stadtverordnetenversammlung. Der Terrainunternehmer Georg Haberland verstand es in besonderer Weise, die Kooperationsstrukturen auf kommunaler Ebene kreativ mitzugestalten und für die Realisierung wirtschaftlich und konzeptionell erfolgreicher, privater Städtebauprojekte einzusetzen. Die dabei entwickelten – noch um 1900 relativ stabilen – Routinen und Handlungsstrukturen begannen sich
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in den folgenden Jahren immer deutlicher aufzulösen. Gleich von mehreren Seiten geriet das Terraingewerbe unter Druck: Zunehmend überlagerte eine parteipolitische Ausrichtung der Akteure das bisher praktizierte und erprobte Prinzip der persönlichen, interessegeleiteten Koalitionsbildung. Die immer dominanter werdenden sozialpolitischen Zielsetzungen wollte man durch erhöhte steuerliche Belastungen der Immobilienwirtschaft finanzierbar machen (Erhöhung der Grundsteuer, erhöhte Abgaben und Gebühren, Einführung einer „Wertzuwachssteuer“). Sozialreformerische Ideen dominierten auch den sich gerade erst zur Fachdisziplin entwickelnden Städtebau. Allgemeines Ziel der Stadtplaner war es, die Bebaubarkeit von Grundstücken herabzusetzen, um besser durchlichtete und durchlüftete Wohnungen zu schaffen. In immer schärferer Weise wurde mit den Vertretern der Terrainwirtschaft um die entsprechenden Festlegungen in der Baupolizeiordnung gerungen. Und genau zu dieser Zeit schwächte sich die allgemeine wirtschaftliche Konjunktur des Berliner Terrainhandels ab.6 Georg Haberland reagierte auf das sich verändernde Handlungsumfeld zunächst ausschließlich durch lokale Verlagerung seiner Aktivitäten. 1905 hatte sich die Berlinische Boden-Gesellschaft mit einer Kapitalerhöhung an der 1895 zur Erschließung eines größeren Geländes in Wilmersdorf gegründeten „Terraingesellschaft Berlin-Südwesten“ beteiligt, und Haberland war in den Vorstand eingetreten (Stier/Krauß 2005:218). Nachdem die Stadtverordnetenversammlung in Schöneberg 1907 eine Verdoppelung der Grundsteuer beschlossen hatte (Bernhardt 1998:189) und wenig später – nach einem politischen Machtwechsel im Stadtrat und unter dem führenden Einfluss des Bodenreformers Adolf Damaschke – das neue finanzpolitische Instrument einer Wertzuwachssteuer eingeführt wurde (ebd.: 196-197), beendete Haberland seine Tätigkeit in Schöneberg. Der Terrainunternehmer wandte sich mit besonderer persönlicher Energie der Erschließung des in Wilmersdorf gelegenen „Südwest-Geländes“ zu – obwohl die Berlinische Boden-Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt noch einen erheblichen Vorrat unbebauter Terrains in Schöneberg besaß. Wenngleich die verschärfte kommunale Abgabepolitik in Schöneberg ganz allgemein auf die Gewinne des Terraingewerbes zielte – so richtete sie sich offenbar in besonderem Maße gegen die immobilienwirtschaftliche Monopolstellung Haberlands und dessen starken politischen Einfluss in der Stadt (Haberland 1931:51, 83-89). Ein Bericht des Schöneberger Bürgermeisters Alexander Dominicus macht auch persönliche Aspekte des Konflikts deutlich, und zeigt auf, welche wirtschaftlichen Gefahren für die Stadt mit dem Streit verbunden waren: „Haberland, ungeheuer eitel, liebte es, von Zeit zu Zeit sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, umgeben von möglichst viel bekannten Namen. Zu diesem Zweck veranstaltete er jeweils bei Beendigung größerer Bauarbeiten 6 | Indikatoren dafür waren: Steigende Leerstandszahlen, sinkendes Mietniveau, Absatzschwierigkeiten bei Bauparzellen, Kapitalknappheit, sinkende Ertragschancen (Kapitalverzinsung), Schwierigkeiten der Kapitalbeschaffung (vgl. Fisch 1989:42-43; Bernhardt 1998:145-160).
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Einweihungsfeierlichkeiten und Festessen zu denen er dann alle irgendwie in Frage kommenden Behörden und so weiter einlud. Ein solches Fest im größten Rahmen wollte Haberland mit der Einweihung des Bayerischen Platzes in Schöneberg verbinden. Hierzu hatte er außer den städtischen Behörden von Schöneberg u.a. auch den preußischen Eisenbahnminister v. Breitenbach eingeladen, dessen Ressort die oberste staatliche Instanz für die Fragen der Bauordnung und Bebauungspläne darstellte. Es war Haberland gelungen: Herr v. Breitenbach hatte sein persönliches Erscheinen zugesagt. [...] Nun beschloss aber, zwei Tage vor diesem Fest, die Schöneberger Stadtverordnetenversammlung, [...], zu dieser Feier nicht hinzugehen, und forderte ihren Magistrat auf, sich ebenfalls der Teilnahme zu enthalten, und der Magistrat beschloss in diesem Sinne [...] und der Minister sagte ebenfalls ab. Dies empfand Haberland als tödliche Beleidigung – und deshalb erklärte er der Stadt Schöneberg den Krieg. Und dieser Krieg war durchaus ernst zu nehmen. Denn im Besitz von Haberlands Gesellschaft befand sich fast das ganze noch unbebaute Gelände von Schöneberg. Und dies blieb jetzt tot liegen!“ Der Stadt Schöneberg entgingen damit Umsatzsteuereinnahmen von nahezu eine Millionen Mark pro Jahr, sodass man sich nach einiger Zeit erneut zu einigen suchte (Alexander Dominicus zit. in Winz 1964:113). Auf der anderen Seite bewahrte die kommunalpolitisch verursachte Verringerung der Bautätigkeit Schöneberg vor gravierenden Auswirkungen der heraufziehenden Immobilienkrise (Bernhard 1989:193-195). Der Kommunalpolitiker Dominicus blieb ein großer Kritiker der terraingewerblichen Handlungsformen und Bebauungsweise. Um ein abgestimmtes Vorgehen der Nachbarstädte bei planungs- und baupolitischen Entscheidungen zu ermöglichen und den Einfluss der Terraingesellschaften auf diesem Gebiet zurückzudrängen, engagierte sich der Schöneberger Bürgermeister in besonderer Weise für die Bildung der Einheitsgemeinde Groß-Berlin (Winz 1964:114). Die finanzpolitischen und persönlichen Auseinandersetzungen Haberlands mit den kommunalpolitischen Akteuren in Schöneberg markieren um 1908 den beginnenden allgemeinen Wandel von Governancestrukturen in der Stadtentwicklung. Durch eine Verlagerung seiner Aktivitäten nach Wilmersdorf wich Haberland diesem Wandel der politisch-gesellschaftlichen Regelungsstrukturen zunächst aus. Mit seinen Gesellschaften entwickelte er in den folgenden Jahren in Wilmersdorf, westlich des Südwestkorsos, das „Rheinische Viertel“. Dabei handelt es sich um ein kompakt bebautes bürgerliches Wohnviertel „aus einem Guss“ (Bodenschatz 2004:17). Die konzeptionellen Besonderheiten dieses Projekts gaben dem bürgerlichen Wohnungs- und Städtebau kurz vor Ende des Kaiserreichs noch einmal neue, richtungweisende Impulse. Als Haberland 1905 die Leitung der Terraingesellschaft Berlin-Südwesten übernahm, bildete deren Gelände am Südrand von Wilmersdorf noch einen toten Winkel der Terrainerschließung. Die positiven Entwicklungserwartungen, die Haberland an das Gelände knüpfte, gründeten auf der Tatsache, dass der Fiskus seit 1901 damit begonnen hatte, sein Domänengelände in Dahlem zu einer exklusiven Villenkolonie und zum Wissenschafts- und Innovationsstandort zu entwickeln. Mit besonderer Dynamik wurde daher die
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verkehrliche Erschließung dieses Bereichs von staatlichen Akteuren vorangetrieben. Als Entwickler des nördlich an Dahlem grenzenden Verbindungsbeziehungsweise Transitgeländes in Wilmersdorf war Georg Haberland von vornherein ein wichtiger Mitstreiter und Verhandlungspartner beim Tauziehen um einen direkten Schienenanschluss an die Innenstadt (ausführlich zum Verhandlungsprozess vgl. Haberland 1931:59-69; Abb. 3). Abb. 3: Geplante Linienführung der Wilmersdorf-Dahlemer Untergrundbahn im Netz der Berliner Schnellbahnen um 1910.
Durch die Bauordnung von 1903 war das Gelände der Terraingesellschaft Berlin-Südwesten außerdem deutlich aufgewertet worden: Es schied aus der Landhauszone aus und konnte viergeschossig bebaut werden, womit sich eine Steigerung der Bebaubarkeit um rund 20 Prozent ergab (vgl. Bernhardt 1998:201). Durch weitere Geländezukäufe im östlich angrenzenden Friedenau sicherte sich Haberland die Möglichkeit, das städtebaulich noch völlig isolierte Gelände mit den bereits bebauten Teilen Friedenaus baulich-räumlich zu vernetzen. Der profilierte Städtebauer Josef Stübben überarbeitete den bis dahin noch schematisch-rechtwinkligen Bebauungsplanentwurf der Terraingesellschaft Berlin-Südwesten (Abb. 4). Der 1909 förmlich festgestellte Plan (Wilmersdorfer Blätter 1911:149) weist eine signifikant geschwungene Straßennetzstruktur auf. Die Haupterschließungsstraße des Gesamtgebiets bildet der Südwestkorso. Seine Verlaufsrichtung stellt die optimale Verbindung nach Dahlem und nach Schöneberg sowie zum Bahnhof Wilmersdorf-Friedenau an der Ringbahn her.
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Abb. 4: Bebauungsplan für das Gelände der Terraingesellschaft Berlin-Südwesten, 1909.
Auch die Durchsetzung dieses Boulevards erforderte großes Verhandlungsgeschick und ist zugleich Beleg der politischen Einflussmöglichkeit des privaten Stadtentwicklers, denn vor allem Hausbesitzer an der Kaiserallee fürchteten die Konkurrenz durch eine Produktion von repräsentativen Lagen in direkter Nachbarschaft und opponierten in den kommunalpolitischen Gremien gegen eine Bewilligung des Plans (vgl. Berlinische Boden-Gesellschaft 1930:26). Abb. 5: Rüdesheimer Platz mit Siegfriedsbrunnen
Das Rheinische Viertel wurde als städtebauliches Gesamtensemble konzipiert. Ähnlich wie in Schöneberg bildet auch hier ein großzügig angelegter, mit Grünanlagen und einer künstlerisch gestalteten Brunnenanlage ausgestatteter
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Stadtteil-Platz (Rüdesheimer Platz; Abb. 5) das Zentrum und Erkennungszeichen des dicht bebauten, großbürgerlichen Wohnquartiers. Um auch angesichts eines parzellenweisen Verkaufs des Geländes an Einzelbesitzer die möglichst einheitliche architektonische Gestaltung des Gesamtprojekts zu gewährleisten, sicherte sich die private Entwicklungsgesellschaft Haberlands durch grundbuchliche Eintragungen und vertragliche Auflagen weitreichende Einflussmöglichkeiten auf die Gestaltung der Häuser sowie auf Pflege und Erhalt der umfangreichen, Stadtbild prägenden gärtnerischen Elemente (Zentralblatt der Bauverwaltung, 19. Juni 1912, abgedruckt in Berlinische Bodengesellschaft 1921:69). Innovatives, baulich-räumliches Kernelement des städtebaulichen Konzepts bilden die sanft ansteigenden, variantenreich gestalteten, nicht eingezäunten Vorgartenzonen, die so genannten „Gartenterrassen“ des Rheinischen Viertels. Diese erweiterten den Straßenraum nahezu auf das Doppelte und verringerten die Bautiefe der Parzellen (Abb. 6). Allerdings war die städtebauliche Novität mit erheblichen bauordnungsrechtlichen Regelwidrigkeiten verbunden. Vor allem waren beim Gruppenhausbau in Bauklasse A, zu der das Gelände gehörte, jeweils nach zwei Parzellen 10 Meter breite Bauwiche gefordert. Dadurch sollte ein räumlicher Übergang zur offenen, landhausmäßigen Bauweise hergestellt werden. In der Realität wurden die Zwischenräume mit 16 Meter hoch aufgehenden Nachbarfassaden häufig eher als zugige Bauschluchten empfunden. Haberland setzte sich mit Beharrlichkeit für die baurechtliche Durchsetzung seines städtebaulichen Konzepts der geschlossenen, dafür aber hinter die breite Gartenterrassenzone zurücktretenden Bebauung ein.
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Abb. 6: Gartenterrassen im Rheinischen Viertel, Wilmersdorf. Niedrig gehaltene Granitschwellen vertreten die oft störenden Vorgartengitter. Vorgeschobene Terrassenlauben und besonders betonte Hauseingänge beleben das Straßenbild.
Nachdem er sich gleich nach der Bewilligung des Bebauungsplans der sachlichen Zustimmung des Berliner Bezirksausschusses versichert hatte, ging es in den folgenden zwei Jahren vor allem darum, einen formaljuristischen Weg für die baurechtliche Absicherung des Projekts zu finden. Mit dem Erlass einer polizeilichen Zusatzverordnung zur geltenden Bauordnung, die 1912 in Kraft trat, gelang dem Unternehmer hier noch einmal die optimale Abstimmung seiner Interessen mit allen zuständigen kommunalen und staatlichen Entscheidungsträgern (Landesarchiv Berlin, A Pr. Br. Rep. 03007 Nr. 100). Die zeitgenössische negative Fachkritik zum Rheinischen Viertel (Benke 2007:166) macht allerdings auch klar, dass sich zu diesem Zeitpunkt „die Vertreter einer kompakten, urbanen Etagenhausbebauung bereits in der kulturellen Defensive“ (Bodenschatz 2007:126) befanden. Das Projekt erhielt aber auch hohes Lob in der Fachpresse. Beispielsweise brachte der renommierte Berliner Architekturkritiker Max Osborn in der Bauwelt 1911 seine Begeisterung zum Ausdruck und nannte den Unternehmer als geistigen
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Urheber des innovativen Konzepts: „Man hat ein Mittel gefunden, das Unfreundliche und Starre der geschlossenen Bauweise durch nicht verzettelten, sondern zusammenhängenden gärtnerischen Schmuck zu bekämpfen [...]. Der Gedanke dieser höchst originellen und reizvollen Neugestaltung stammt von dem Kommerzienrat Georg Haberland, dem Direktor der Terrain-Gesellschaft Berlin-Südwest, in deren Auftrage Architekt Paul Jatzow die Entwürfe ausgeführt hat“ (Osborn 1911). Die Grundrissgestaltung übernahmen jeweils andere, von den einzelnen Bauherren beauftragte Architekten. Während Paul Jatzow für die Terraingesellschaft Berlin-Südwesten ausgesprochen innovative und interessante innere Organisationen wie zum Beispiel MaisonnetteWohnungen entwickelte, weist die Mehrheit der für private Auftraggeber realisieren Häuser zwar großzügige, aber völlig konventionelle Wohnungen auf (vgl. Berlin und seine Bauten 1974:248-257). Wie von Haberland geplant, wurden im Rahmen des Gesamtprojekts zuerst Geländeteile beiderseits des Südwestkorsos in direkter Nachbarschaft zum bereits erschlossenen Gebietsteil Friedenau relativ zügig verkauft und bebaut. Das eigentliche Rheinische Viertel – als Wohngebiet „aus einem Guss“ konzipiert – erforderte dagegen einen deutlich höheren Anschubaufwand für die Terraingesellschaft. Obwohl an dem Prinzip des Verkaufs von Einzelparzellen an private Bauherren festgehalten wurde, bebaute die Gesellschaft hier einige Grundstücke auch selbst. Somit entstand bis 1912 in einem Zug zuerst das bauliche Gesamtensemble der Landauer Straße und direkt anschließend jenes um den Rüdesheimer Platz. Die damit in Gang gesetzte Entwicklungsdynamik, verstärkt durch die U-Bahn-Eröffnung 1913, kurbelte den Verkauf von Parzellen an und führte zur Bebauung weiterer Grundstücke in benachbarten Straßen. Kurz darauf kam das erfolgreich gestartete Stadtentwicklungsprojekt kriegsbedingt zum Stillstand. In seiner kurzen Entfaltungszeit vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich das Wohngebiet um den Rüdesheimer Platz zu einer der begehrtesten Adressen der Berliner Elite.7 Die weitere Nachverdichtung des Viertels verlief jedoch eher schleppend, da das kaiserzeitliche, großbürgerliche Wohnmodell nach dem Ersten Weltkrieg für obsolet erklärt und nicht weiterentwickelt wurde. Erst seit den späten 1970er Jahren erfährt das Ensemble erneute kulturelle Aufwertung. 1979 wurde seine städtebauliche und architektonische Gestaltung in der Wettbewerbsausschreibung für ein Grundstück an der Wiesbadener Straße ausführlich gewürdigt und zur verbindlichen Grundstruktur für die neuen Entwürfe erklärt (vgl. Conrads,U. / Sack, M. 1985:53), 1983 wurde es als „geschützter Baubereich“ ausgewiesen. Das nur als Torso realisierte, einheitlich gestaltete, repräsentative Wohnquartier weist bis heute eine erstaunliche bauliche und soziale Kontinuität auf (vgl. Benke 2007:1966169).
7 | Signifikant dafür sind zum Beispiel die extrem geringen Leerstandsziffern vor allem bei großen Wohnungen im Jahr 1913 nach Fertigstellung der U-Bahn (Wilmersdorfer Blätter 1913:87).
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Erwartungsvoll hatte Max Osborn bereits 1911 geschrieben: „Das Rheinische Viertel (...) dürfen wir vielleicht als den Beginn einer besseren Berliner Bauära begrüssen.“ (Osborn 1911) Die Entwicklung des großbürgerlichen Berliner Mietwohnhausbaus war jedoch mit diesem Projekt vor dem Ersten Weltkrieg in konzeptioneller und formaler Hinsicht zu ihrem Abschluss gekommen.
A DOLF S OMMERFELD N ORDS 1922-1932
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E NT WICKLUNG Z EHLENDORF -
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs boten sich auf Grund der gewandelten gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland für die reformerischen Kräfte und Ideen der Vorkriegszeit tatsächliche Entfaltungs- und Durchsetzungsmöglichkeiten. Die Berliner Stadtentwicklung kehrte nicht zu ihren alten Mustern und Strukturen zurück. Die Ausprägung neuer Leitbilder und Handlungsstrukturen wurde bestimmt durch Merkmale der gewandelten wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen; dazu gehörten: die verfassungsmäßige Verankerung des Rechts auf gesunde Wohnungen für alle, die Bildung der Einheitsgemeinde Berlin im Jahr 1920, veränderte baurechtliche Rahmenbedingungen, vor allem die allgemeine Reduzierung zulässiger Baudichte und Bauhöhe im Rahmen der Bauordnung von 1925, ein erlahmter Grundstückshandel in Kombination mit niedrigen Grundstückspreisen, fehlende Finanzierungsmöglichkeit, Mietpreisbindung und hohe Baukosten, sowie die besondere öffentliche Förderung gemeinnütziger Akteure. Auch die Akteurskonstellationen im Wohnungsbaugewerbe und der Stadtentwicklung hatten sich grundlegend verändert. Wie bereits angedeutet, hatte das „System Terraingewerbe“ seit Beginn der 1910er Jahre mit wachsenden Schwierigkeiten zu kämpfen. Die negativen Folgen der Immobilienkrise wirkten zusammen mit schwindendem politischen Einfluss. Danach gelang es nur wenigen Terraingesellschaften, die Konkurswelle in Folge der Immobilienkrise um 1912 und die völlige Stagnation im Wohnungsbaubereich während des Krieges durch Ausweichen auf andere Bereiche des Bau- und Immobilienmarktes zu überbrücken. Dazu gehörten neben den Unternehmen Georg Haberlands auch die Terraingesellschaften des späteren Sommerfeldkonzerns, die „Allgemeine Häuserbau-Actien-Gesellschaft“ (AHAG) und die „Terraingesellschaft am Neuen Botanischen Garten“. Adolf Sommerfeld (1886-1964) war Anfang des 20. Jahrhunderts aus Kolmar/ Posen nach Berlin gekommen und hatte 1910 nach Abschluss einer Zimmermannslehre und der Baugewerkeschule in Rixdorf eine erste eigene Baufirma „Adolf Sommerfeld Bauausführungen“ gegründet. Er repräsentiert eine neue Generation im Berliner Bau- und Immobiliengewerbe, deren professionelle Handlungsstrukturen durch andere Erfahrungen geprägt worden waren als die der vorangegangenen, zu der Georg Haberland gehörte. Um 1910 hatten sich bereits wirtschaftliche und gesellschaftliche Themen und
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Problemlagen konkretisiert, die nach dem Krieg die Stadtentwicklung, das Bauwesen sowie politische Aushandlungsstrukturen nachhaltig bestimmten: Zum einen die Kritik an der überkommenen, verdichteten und sozial wie funktional gemischten Stadt und zum anderen die Suche nach Rationalisierungsmöglichkeiten der Wohnungsproduktion. Während und nach dem Ersten Weltkrieg erhielt der Rationalisierungsgedanke besondere Brisanz. Der Bauunternehmer Adolf Sommerfeld machte die Suche nach rationellen Entwurfs- und Herstellungsverfahren von Anfang an zur entscheidenden Triebfeder seiner Tätigkeit. So entwickelte er während des Krieges besonders billige und schnell montierbare Hallenkonstruktionen aus Holz, die ihm ein großes Auftragsvolumen sicherten. Nach dem Krieg investierte Sommerfeld sein Vermögen in den Erwerb der Aktienmajorität mehrerer Terraingesellschaften im Berliner Südwesten sowie ein rund 200 Hektar großes Bauerwartungsgelände in Zehlendorf-Nord (zum Einfluss und den Projekten des Bauunternehmers vgl. Kress 2011). Das ehemals Pasewaldtsche Gelände liegt zwischen Dahlem und den Zehlendorfer Villenkolonien der Jahrhundertwende. Um das Gelände baulich erschließen zu können, ging der Unternehmer zuerst daran, unter den völlig veränderten wirtschaftlichen Bedingungen der Nachkriegszeit neue, potentielle Zielgruppen zu suchen und deren Bedarfsstrukturen zu ermitteln. Dafür ließ er von verschiedenen Architekten Testentwürfe anbieten und realisierte auf eigene Rechnung zwei kleine, angerartige Versuchssiedlungen an der Onkel-Tom-Straße (ehemals Spandauer Straße), die auf jeweils ganz unterschiedlichen Typenhausentwicklungen basierten. Sommerfeld versuchte zunächst, an erprobte Vermarktungsstrategien der Terraintechnik der Vorkriegszeit anzuknüpfen, dabei aber neue, an die Erfordernisse der Zeit angepasste Wohnhaustypen zu entwickeln (Abb. 7). Seine teilweise extravaganten Produkte erregten zwar publizistische Aufmerksamkeit, es fanden sich aber für das noch weit von öffentlichen Verkehrs- und Infrastrukturen entfernte Gelände kaum Käufer. Zu wichtigen Akteuren in der Stadtentwicklung der Nachkriegszeit wurden die genossenschaftlichen und gewerkschaftlichen Wohnungs- und Baubetriebe mit ihren verschiedenen Organisationen. Die Leitfigur dieser Unternehmen und ihrer Organisation war Martin Wagner. Nachdem 1926 der Bau der Hufeisensiedlung in Britz im Südosten Berlins erfolgreich in Gang gesetzt worden war, suchte Wagner nach Anschlussprojekten für seine Baugesellschaften. In dieser Situation gelang es Adolf Sommerfeld, Wagner als Kooperationspartner für eine abschnittweise Gesamt-Entwicklung seines ausgedehnten Zehlendorfer Geländes zu gewinnen (Jaeggi 1987:137). Mit Wagner und den großen gemeinnützigen Wohnungsunternehmen, der GEHAG (Gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft) und GAGFAH (Gemeinnützige Aktien-Gesellschaft für Angestellten-Heimstätten) fand Sommerfeld Anschluss an die zentralen Akteurskonstellationen der 1920er Jahre.
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Abb. 7: Wohnhaus mit Drehbühne, realisiert in Berlin-Zehlendorf, Onkel-Tom-Straße (ehem. Spandauer Straße). Entwurf: Richard Neutra im Atelier von Erich Mendelsohn 1922/23.
Entscheidendes Kriterium für den Start eines Großprojekts in ZehlendorfNord in der Nähe des Ausflugslokals Onkel-Toms-Hütte, war die Erschließung des Geländes mit öffentlichen Verkehrsmitteln. In den Verhandlungen über eine Verlängerung der Wilmersdorf-Dahlemer Schnellbahnlinie nach Zehlendorf galt das Interesse des Bezirks einer südlichen Weiterführung dieser Linie nach Zehlendorf-Mitte (Berliner Tageblatt, 4. April 1928). 1926 war Martin Wagner als Stadtbaurat in den Berliner Magistrat eingetreten, um dieselbe Zeit wurde Ernst Reuter Stadtrat für Verkehr und Betriebe. Beide Kommunalpolitiker arbeiteten auf ihrem jeweiligen Fachgebiet an der Idee, Berlin zu einer rationell geplanten, wirtschaftlich funktionierenden Weltstadt machen. Sie zielten dabei auf die Realisierung von städtebaulichen Großprojekten, insbesondere den Bau suburbaner Großwohnsiedlungen, sowie den Ausbau eines modernen Verkehrsnetzes, vor allem der U-Bahn (Kress 2011: 144-147).
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Abb. 8: Plan und Schnitt Bahnverlängerung Thielplatz – Krumme Lanke
Adolf Sommerfeld sicherte sich mit dem Projekt einer genossenschaftlichen Großsiedlung in Zehlendorf-Nord einflussreiche Koalitionspartner im Berliner Magistrat für sein zentrales Ziel, die U-Bahnstrecke nicht nach Zehlendorf-Mitte sondern nördlich über das von ihm entwickelte Gelände zu leiten. Ausschlaggebend für die Entscheidung zugunsten der nördlichen Trassenführung war schließlich sein Angebot, der Bahn das benötigte Gelände kostenlos zur Verfügung zu stellen und den Rohbau der Strecke sowie des Bahnhofsgebäudes auf eigene Rechnung zu übernehmen, während die Hochbahngesellschaft im Gegenzug die Bürgschaft für benötigte Hypotheken gewährte (Jaeggi 1987:149). Das umfassende Leistungsangebot des privaten Unternehmers basierte auf der Tatsache, dass Sommerfeld hohe Entwicklungserwartungen an das Herzstück seiner Planung knüpfte: er wollte den U-Bahnhof OnkelToms-Hütte zum Kern eines neuartigen Multifunktions-, Konsum- und Wohn-Komplexes machen, zum suburbanen Ortszentrum und Transmitter ins Zentrum der Metropole Berlin (Abb. 9 und 10). Die GEHAG erwarb 1926 den ersten östlichen Geländeteil und beauftragte die Architekten Bruno Taut, Hugo Häring und Otto Rudolf Salvisberg mit der Entwicklung des Bebauungsplans und auf dessen Basis mit der Projektierung umfangreicher zwei- bis dreigeschossiger Reihen- und Mehrfamilienhauszeilen. Auf Bezirksebene wurde das sozial engagierte und formal hochmoderne Großprojekt in südwestlich-suburbaner Villenlage auf verschiedene Weise torpediert. Bereits in der Vorplanungsphase versuchte man, das Projekt auszuhebeln, indem der aus lokalen Architekten gebildete Gestaltungsbeirat ausdrücklich seine Zustimmung versagte (Jaeggi 1987:138). Die Lokalpresse wetterte, die Häuser würden wie „orientalische Gefängnisse von Palästina oder Italien“ anmuten und „mit ihren flachen Dächern und kitschigen Fassaden den Gipfel der Geschmacklosigkeit“ bilden (Berliner Stadtblatt, 5. September 1926, zit. in Jaeggi ebd.). Neben „Gestaltungsfragen“ riefen vor allem die geplanten Dimensionen einer unter der Regie der gewerkschaftsnahen Wohnungsunternehmen realisierten Satellitenstadt mit 15.000 bis 20.000 Einwohnern Besorgnis beim gehobenen Bürgertum in Zehlendorf hervor (vgl. Siedler 1926:956). Anfang 1927 versuchten 20 Vereine, die in einer „Nationalen Arbeitsgemeinschaft“ zusammengeschlossen waren, eine Resolution zu
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verabschieden, mit der die Waldvernichtung durch den Bau der Siedlung aufs schärfste verurteilt und die Einstellung des Bauvorhabens gefordert wurde. Das Schreiben, das an höchste Berliner Planungsstellen geschickt werden sollte, wurde auf der entscheidenden Bezirksversammlung jedoch mit Stimmenmehrheit abgelehnt. Vermutet wurde, dass die dafür notwendigen Gegenstimmen etwa hundert Bauarbeiter geleistet hätten, die Sommerfeld selbst auf die Versammlung geschickt hatte (Zehlendorfer Anzeiger, 10. Februar 1927). Abb. 9: U-Bahnhof Onkel-Toms-Hütte, projektiert als suburbanes Ortszentrum, multifunktionales Versorgungs- und Dienstleistungszentrum: Blick in die Bahnsteig-Einkaufspassage. Grafik: Alfred Schild
Abb. 10: U-Bahnhof Onkel-Toms-Hütte, geplante Restaurantbrücke über dem Eingang. Grafik: Alfred Schild
Immer wieder wurde in verschiedenen Bauabschnitten der Start der Bauarbeiten durch eigenmächtiges Handeln der Akteure erzwungen (vgl. Jaeggi 1987:139, 147). Dass das Zehlendorfer Großsiedlungsprojekt entgegen aller
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lokalen Widerstände doch relativ zügig innerhalb von wenigen Jahren in vollem Umfang realisiert wurde, basiert in hohem Maße auf informellen Koalitionen zwischen einflussreichen städtischen und staatlichen Akteuren und dem privaten Unternehmer (zu informellen Räumen politischer Entscheidungsfindung und sozialpolitischen Konfliktlagen bei Projektentwicklungen Adolf Sommerfelds in den 1920er Jahren vgl. auch Kress 2011: 112-162; Abb. 11). In Bezug auf Formen lokaler Governance wird damit sichtbar, dass bei diesem Beispiel lokale Wünsche und Interessen sowie deren institutionelle Sanktionierung mit Hilfe programmatischer, städtebaulicher Ziele und politisch abgestützter Koalitionen auf gesamtstädtischer und staatlicher Ebene dominiert wurden. Abb. 11: Südlicher Bereich der Großsiedlung Onkel-TomsHütte: Siedlung der GEHAG (Flachdachhäuser rechts) und der GAGFAH (Steildachhäuser links), um 1928.
Auch Georg Haberland war während der 1920er Jahre mit seinen Terrainund Bau-Unternehmen vor allem als Bauträger und Bauunternehmer erfolgreich im Wohnungsbau tätig. Der südliche Teil des Rheinischen Viertels wurde überwiegend im Auftrag der Siedlungsgesellschaft „Heimat“ als einheitlich geplantes Ensemble errichtet (Abb. 12). Das Prinzip der Gartenterrassen verfolgte Haberland offenbar mit Nachdruck weiter, denn diese leicht angeschrägten Vorgartenzonen finden sich bei vielen der von seinen Gesellschaften während der 1920er Jahre realisierten Wohnsiedlungen wieder. Den veränderten politischen und städtebaulichen Leitbildern passte Haberland sich jedoch lediglich so gut als möglich an. Eine eigene, prägende Richtung konnte er ihnen nicht geben. Seiner Überzeugung nach blieb Haberland den bauwirtschaftlichen und kommunalpolitischen Strukturen der Vorkriegszeit verhaftet. Nach dem Krieg war er überzeugt davon, dass man die „Zwangswirtschaft“ wieder abbauen und zur Privatwirtschaft sowie zu „unpolitischen“, kommunalen Entscheidungsstrukturen zurückkehren werde, da diese sich als der beste Weg zur Wohnungsversorgung herausgestellt hätten (Berlinische Boden-Gesellschaft 1921:8). Haberlands Begeisterung darüber, „ganze Stadt-
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teile aus der Erde wachsen zu sehen“, war verbunden mit seiner positiven Selbsteinschätzung, als Privatunternehmer aus freien Stücken nicht nur „den eigenen wirtschaftlichen Interessen, sondern zugleich den Interessen der Allgemeinheit“ gedient zu haben (Haberland 1931:202). Aus dieser Sicht hielt er Eingriffe der öffentlichen Hand in die Regelungsstrukturen des freien Marktes für überflüssig und schädlich. Abb. 12: Weitere Bebauung des „Südwestgeländes“ am Südwestkorso durch die Gemeinnützige Siedlungsgesellschaft „Heimat“ 1928-1933. Entwurf des Bebauungsplans und mehrerer Bauteile: Jean Krämer.
V ERGLEICH
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FA ZIT
Beim Vergleich der beiden Stadtentwicklungs-Projekte fallen vor allem ihre städtebaulich-räumlichen, architektonischen und funktionalen Unterschiede auf: Die Projekte sind Ausdruck der beiden eingangs beschriebenen, sich diametral gegenüberstehenden städtebaulichen Leitbilder: Der gründerzeitlichen, vier- bis fünf-geschossig bebauten Miethausstadt mit kompakter Raumstruktur und der funktionalistischen, flach und offen bebauten und damit aufgelockerten Siedlungsstadt mit disperser Raumstruktur, die nach dem Ersten Weltkrieg zum übergreifenden Leitbild der Stadtentwicklung wurde. Betont sei dabei, dass sich das Konzept des „Rheinischen Viertels“ baulich-räumlich, sozial, und in Bezug auf Akteurskonstellationen und Finanzierungstechnik bereits deutlich von der vorangegangenen Praxis der parzellenweise privat errichteten Mietshäuser des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der sogenannten Berliner „Mietskasernen“ unterschied: Zentrale Merkmale des Projekts waren die umfassende Gesamtensemble-Bildung, die Anlage von Stadtteilplätzen, Straßenaufweitungen und raumgestaltenden Vorgärten,
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die Aufteilung des Geländes in flache Bauparzellen mit dem Ziel, geringere Bautiefen und damit eine bessere Belichtung und Belüftung der Wohnungen zu ermöglichen, die Absicherung einheitlicher Fassadengestaltungen durch Gestaltungs- und Erhaltungsvorschriften, die Ausrichtung des Projekts auf eine bestimmte soziale Zielgruppe und, daraus abgeleitet, die soziale und funktionale Entmischung des Wohngebiets. Das letztgenannte Strukturmerkmal fand im Siedlungsbau der 1920er Jahre seine kontinuierliche Fortsetzung. Auch die genannten formalen urbanistischen Gestaltungsmittel behielten trotz allgemein veränderter Raumstrukturen vor allem im konservativen Städtebau der Weimarer Zeit Gültigkeit. Mit Blick auf die unternehmerischen Handlungsformen Haberlands und Sommerfelds in den Planungs- und Abstimmungsprozessen der Stadtproduktion vor und nach dem Ersten Weltkrieg überwiegen die Ähnlichkeiten: Ihre Tätigkeit ist gekennzeichnet durch Anpassung an vorhandene politische, wirtschaftliche und soziale Strukturen als gegebene Rahmenbedingungen sowie gleichzeitig durch ihre aktive und dominante Rolle in lokalen GovernanceProzessen, die das eigene Projektinteresse berühren (Grenzen der Bebaubarkeit, Linienführung von Schnellbahnsystemen etc.). Die Handlungsweise beider Unternehmer ist dabei geprägt durch weitgehenden persönlichen Einsatz bei Aufbau und Pflege persönlicher Kooperationsstrukturen. Beide sehen in städtebaulichen Großprojekten die Basis optimaler baulicher und wirtschaftlicher Entfaltungsmöglichkeiten. Sie sind bereit zum Einsatz weitgehender eigener Ressourcen zur Finanzierung moderner Mobilitätsangebote. Auf der Grundlage genauer Bedarfsanalysen zielen beide Unternehmer auf die möglichst präzise Anpassung ihrer Produkte an das festgestellte Nachfrageprofil. Sie nehmen kreative Potentiale von fachlichen Experten auf (Architekten, Städtebauer sowie innovative Bauingenieure) und binden diese in den Gesamtprozess ein. Beide Beispiele machen deutlich, dass nicht nur die perfekte Anpassung an gegebene Rahmenbedingungen und Nachfragesituationen für den nachhaltigen Erfolg ihrer Projekte ausschlaggebend waren. Es war und ist bis heute das innovative Potential, mit dem bei diesen Projekten in komplexer Weise auf allgemeine Bedarfslagen und Möglichkeitsstrukturen der jeweiligen Zeit reagiert wurde, welches ihnen wirtschaftlichen Erfolg, architektur- und kunstkritische sowie historische Würdigung und schließlich, für bestimmte zeitliche Phasen, leitbildprägende Wirkung verlieh. Ihr konzeptioneller Surplus entstand in der Zusammenarbeit der privaten Investoren mit besonders engagierten und namhaften Planern und Architekten, wobei die Unternehmer in vielen Phasen der Projektentwicklung und jeweils im Kernstück der Projekte impulsgebenden und richtungweisenden Anteil an der Konzeptionierung hatten. An den Planungs- und Aushandlungsprozessen dieser Projekte waren Politiker, Banker, Stadtplaner und Architekten sowie zivilgesellschaftliche Akteure beteiligt. Lokale Governance-Prozesse beruhten vor und nach dem Ersten Weltkrieg in hohem Maße auf persönlichen Kooperationsstrukturen. Über die Durchsetzung, Änderung oder Verhinderung von Stadtentwick-
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lungs- und Bauprojekten wurde im direkten, persönlichen Austausch der Akteure entschieden. In der Weimarer Zeit wurden Planungsstrukturen und die gesetzliche Regelung von Genehmigungsverfahren komplexer. Grundstücksbesitzer verloren durch die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts ihr Entscheidungsgewicht in den kommunalen politischen Gremien. Nach wie vor aber waren persönliche Kontakte und Verbindungen entscheidend. Adolf Sommerfeld war als Bauunternehmer in besonderer Weise integriert in die neu entwickelten gesellschaftlichen Netzwerke der sozialdemokratischen kulturellen Elite der Weimarer Zeit. Verbindende Basis der persönlichen Handlungskoalitionen in der Berliner Stadtentwicklung der 1920er Jahre war die gemeinsame Suche der Akteure nach Formen und Möglichkeiten der Rationalisierung und Modernisierung auf allen Gebieten der Wirtschaft, vor allem aber im Städtebau, im Verkehrswesen und im Bauprozess. Georg Haberland gelang es ebenfalls, seine Firmengruppe in den 1920er Jahren erfolgreich weiterzuentwickeln. Den Höhepunkt seiner Stadt gestaltenden Entwicklungsarbeit und seiner persönlichen Netzwerktätigkeit markieren jedoch die Quartiers- und Wohnungsbauprojekte in Schöneberg, Charlottenburg und Wilmersdorf während der Kaiserzeit.
Kommunale Wohnungsversorgung als Tätigkeitsfeld der „Bürgerlichen Frauenbewegung“ in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg Ulla Terlinden
In der gegenwärtigen Debatte um die Akteure der Stadtplanung wird das Verhältnis zwischen kommunalen und privaten Akteuren neu geordnet. Den privaten Akteuren werden immer mehr Spielräume in der Stadtentwicklung eingeräumt. Wie diese angeblich neue Entwicklung einzuschätzen ist wird in verschiedenen wissenschaftlichen Diskursen reflektiert. Die gegenwärtige Debatte dreht sich um das theoretische Konstrukt „Zivilgesellschaft“ und um die Steuerungsform Governance. „Zivilgesellschaft“ beschreibt darin einen Raum jenseits von Staat und Markt, in dem zwei unterschiedliche Interpretationen der „Zivilgesellschaft“ zu erkennen sind. Zum einen wird „Zivilgesellschaft“ verstanden im Sinne der republikanischen Idee als eine aktive Bürgergesellschaft mit Teilnahme an politischen Prozessen, zum anderen im Sinne des Liberalismus eher als das Streben nach Freiräumen, die der Staat garantiert. Mit dem Begriff Governance bezeichnet man politische Strategien außerhalb des politisch-administrativen Systems. Ein anderer, seit den Sechziger Jahren laufender und durch die neuere Debatte um „Zivilgesellschaft“ und Governance in den Hintergrund geratener Diskurs, behandelt „Soziale Bewegungen“. Sie werden als alternative Form einer neuen Öffentlichkeit gesehen, welche zunächst in Konfrontation mit den staatlichen Stellen, später aber auch in Kooperation agiert und politische Ziele verfolgt. Diese „Sozialen Bewegungen“ sind relativ unstrukturierte Kollektive. Gegenstand aller dieser Überlegungen in den verschiedenen Diskursen sind Bürgerinnen und Bürger, die sich außerhalb des politischen Systems für die Belange der Gesellschaft beziehungsweise der Gemeinde engagieren. Eine starke Präsenz privater Aktivitäten auf dem kommunalen Terrain der Stadtentwicklung findet man bereits in den Jahren der wirtschaftlichen Expansion bis zum Ersten Weltkrieg. Waren es damals auf der einen Seite
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private Unternehmer, die oft rücksichtslos die Städte verbauten, gab es auf der anderen Seite auch soziales Engagement, um die so entstandenen Missstände zu verringern. Wichtig waren damals die verschiedenen „Sozialen Bewegungen“, wie die „Hygienebewegung“ mit dem „Verein für öffentliche Gesundheitspflege“, die für hygienische Mindeststandards im Wohnungsbau, für Kanalisation und anderes kämpfte, oder die Sozialreformbewegung des „Vereins für Sozialpolitik“ und des „Deutschen Vereins für Armenpflege“, die sich besonders für die Wohnungsversorgung der Arbeiterklasse einsetzte, oder die „Bodenreformbewegung“ mit dem „Bund Deutscher Bodenreformer“, die für den kommunalen Besitz des städtischen Bodens eintrat, um nur einige zu nennen. In diesem Spektrum bewegte sich die „Alte Frauenbewegung“. Die „Alte Frauenbewegung“ wird von Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Auflösung ihrer Organisationen 1933 datiert (als „Neue Frauenbewegung“ wird die feministische Bewegung seit den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts bezeichnet). Betrachtet man sie vor dem Hintergrund des Konzepts der „Zivilgesellschaft“, so ist zu sagen, dass es den Frauen vorrangig um die republikanische Idee der Zivilgesellschaft ging, neben dem philanthropischen Engagement kämpften sie für Teilhabe und Partizipation an politischen Entscheidungen und am öffentlichen Leben. Als Teil der zahlreichen „Sozialen Bewegungen“ im 19. Jahrhundert, waren ihre Wurzeln im freiheitlich gesinnten Bürgertum zu finden. In diesen damaligen zivilgesellschaftlichen Gruppen, Assoziationen und Vereinen konnten die Bürger und Bürgerinnen ihre Anliegen artikulieren und in eine weitere Öffentlichkeit tragen (Schmidt 2007). Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg hat es aus Kreisen der „Alten Frauenbewegung“ viel ziviles Engagement auf dem Feld der Wohnreform gegeben. Die Frauen waren dort als Stifterinnen und als Ehrenamtliche, aber auch als Berufstätige erfolgreich tätig. Sie haben neue Ideen entwickelt, über Strategien diskutiert, und sie haben Kooperationen mit den Wohn- und Sozialreformern der damaligen Zeit geschlossen (Terlinden/ von Oertzen 2006). Mit ihren philanthropisch geprägten Anliegen, aber auch mit konkreten materiellen Hilfen zur Milderung sozialer Härten trugen diese Gruppen unter anderem zur besseren Wohnungsversorgung in den Städten bei und haben mit bewirkt, soziale Konflikte in städtischen Gemeinden zu mildern. Gerade in den obrigkeitsstaatlich verwalteten Gemeinden des 19. Jahrhunderts hat dieses bürgerschaftliche Engagement dazu geführt, dass die gesellschaftliche Realität heutigen Vorstellungen einer Zivilgesellschaft näher kam.
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1865 schlossen sich erstmals Frauen zusammen, um sich für die Anliegen der weiblichen Bevölkerung einzusetzen. Sie kamen aus dem bürgerlichen Lager und standen den liberalen Parteien nahe. Später spaltete sich die „Bürgerliche Frauenbewegung“ in einen gemäßigten und einen radikalen
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Flügel, gemeinsam waren sie jedoch in der Wohnungsfrage tätig. Die unterschiedlichen Positionen der beiden Flügel lassen sich kurz an ihrer Einstellung zum Verhältnis der Geschlechter skizzieren. Während der eine Flügel von der Gleichheit der Geschlechter ausging und die Ausdehnung allgemeiner „Menschenrechte“ auf die Frauen forderte – dabei bezogen sie sich auf die Schriftstellerin und Feministin Hedwig Dohm und ihr Postulat: „Menschenrechte haben kein Geschlecht“ (Gerhard 1990) –, betonte der andere Flügel die „weibliche Eigenart“ und den „ besonderen Kulturauftrag der Frau“. Einig waren sie sich in der Zuständigkeit der Frau für Haus und Heim, dies wurde als Kern der weiblichen Mission empfunden. Daraus folgerten sie, dass Frauen besonders kompetent seien, um erfolgreich an der Lösung der Wohnungsfrage mitzuwirken. Die „Sozialistische Frauenbewegung“ gehörte ebenfalls zur „Alten Frauenbewegung“ hatte aber andere Wurzeln. Sie entwickelte sich aus der Arbeiterbewegung und stand ihr auch immer politisch nahe (Evans 1979). Die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft war Mittelpunkt ihres Kampfes, die Wohnungsfrage zweitrangig. Sie publizierte in anderen Zeitschriften, zunächst in „Der Arbeiterin“, die später in „Die Gleichheit“ umbenannt wurde. In der Weimarer Zeit kam „Die Genossin“ hinzu. Während die ersten beiden eher die Arbeiterinnen und Arbeiterfrauen ansprach, behandelte „Die Genossin“ Themen für die Parteigenossin, die berufstätig und politisch aktiv war. Dort wurden deutliche Abgrenzungen zu den bürgerlichen Frauenrechtlerinnen gezogen. Berühmt ist der Artikel von Clara Zetkin in der Zeitschrift „Die Gleichheit“, in dem sie von der “reinlichen Scheidung zwischen bürgerlicher Frauenrechtelei und Arbeiterinnenbewegung“ spricht (Zetkin 1894:63). Zetkin gehörte zu den radikalen Vertretern einer am revolutionären Marxismus festhaltenden Gruppe, die den Massenstreik als einziges politisches Mittel akzeptierten. Zetkin dominierte jahrelang die Frauenpolitik der Arbeiterbewegung, so kamen andere Stimmen nicht zu Wort, wie die Stimmen von Lily Braun, Henriette Fürth und Anna Blos. Diese Frauen forderten nicht allein die Revolution der Produktionsverhältnisse, sondern auch den Kampf um eine Veränderung im privaten Bereich, der Ehe, der Familie oder der Sexualmoral. Doch Zetkin und ihre Anhängerinnen sahen darin eine Ablenkung vom Kampf gegen das Ausbeutungsverhältnis im Produktionsbereich. Sehr deutlich wird diese Position in der mit Lily Braun geführten Debatte um Zentralhaushaltung und Einküchenhaus im Jahr 1901. Braun hatte ein Modell für eine kollektive Haushaltsführung für die Arbeiterklasse entworfen, mit dem sie den Frauen die Hausarbeit erleichtern wollte (Braun 1901). Zetkin wies diese Idee zurück mit dem Argument, dass dadurch der Klassenkampf in den Fabriken beeinträchtigt würde (Zetkin 1901). Für die Gruppe um Zetkin war der Reproduktionsbereich nachrangig, das betraf sowohl die privaten Wohnverhältnisse wie auch die kommunalen Angelegenheiten. Erst 1913 wies Anna Blos in einem mehrteiligen Artikel angesichts des fehlenden Frauenwahlrechts auf die politische Bedeutung der Gemeindearbeit durch proletarische Frauen hin (Blos 1913). Dies war der Hintergrund für die bis zum Ersten Weltkrieg bei der „Sozialistischen Frauenbewegung“ vorherr-
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schende Ignoranz gegenüber dem vorhandenen und täglich zu ertragenden Wohnungselend der Arbeiterklasse. Hier engagierte sich aber die „Bürgerliche Frauenbewegung“, sowohl ihr gemäßigter als auch ihr radikaler Flügel.
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Zusammen mit dem „Verein für Sozialpolitik“, dem „Verein für öffentliche Gesundheit“, dem „Institut für Gemeinwohl“ und weiteren privaten Organisationen diskutierten die Frauen die Wohnungsfrage. Allerdings spielte in dieser Zeit die Wohnungsnot bürgerlicher allein stehender Frauen keine Rolle. Erst in der Weimarer Republik mit Zunahme der Erwerbsarbeit auch bei bürgerlichen Frauen befasste man sich mit der Wohnungsversorgung dieser berufstätigen Frauen. Vor dem Ersten Weltkrieg waren es die proletarischen Schichten, denen ihre Aufmerksamkeit galt. Neben der Fürsorge für die Menschen stand dahinter auch die Sorge um den Zerfall der Gesellschaft . Die Wohnungsnot bedeute eine nationale Gefahr, so Gustav Schmoller, Volkswirtschaftler und Mitbegründer des „Vereins für Sozialpolitik“, in seinem „Mahnruf zur Wohnungsfrage“. Dieser Auffassung waren auch die bürgerlichen Frauen. Angeregt durch die englischen surveys führte der „Verein für Sozialpolitik“ 1885 eine Enquete zur Wohnungssituation durch. Erst dadurch trat das ganze Ausmaß des Wohnungselends offen zu Tage. Zwei Forderungen standen bei den Wohnreformern im Vordergrund: Eine einheitliche Wohnungsgesetzgebung und eine Wohnungsaufsicht nach dem Vorbild der damals tätigen Gewerbeinspektoren, dem Vorläufer der heutigen Gewerbeaufsicht. In der folgenden Debatte verknüpften sich die beiden Forderungen immer wieder, zuletzt jedoch gab es in einigen Städten die Wohnungsaufsicht, nicht jedoch eine im Reich einheitliche gesetzliche Regelung. Insgesamt gab es viele Vorstellungen zur Wohnreform, eines der ältesten Konzepte aber war das der Wohnungsaufsicht. Die Wohnungsaufsicht beziehungsweise Wohnungsinspektion (diese Begriffe wurden zunächst synonym benutzt) hatte ihre Vorgängerinnen seit Mitte des 19. Jahrhunderts zum einen in den Hausbesuchen der Armenpflege1, zum anderen in der gesundheitsund baupolizeilichen Kontrolle von Gebäuden (die allerdings noch keinen systematischen Charakter trug) sowie in den staatlichen und kommunalen Polizeiverordnungen, die die Wohnverhältnisse von Schlafgängern und Landarbeitern regelten. Im Zuge der Debatte um eine gesetzliche Regelung des Wohnungswesens bildete sich dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Wohnungsaufsicht als Überbegriff heraus. Während unter der Wohnungsinspektion die Kontrolle des technisch-baulichen Zustandes der Wohnung 1 | Das „Elberfelder System“ beruhte auf der Zuweisung der Armen eines Stadtbezirkes an jeweils einen (ehrenamtlichen) Armenpfleger, der möglichst im selben Quartier wohnen sollte und die Aufgabe hatte, sich über Notlagen, Lebenswandel und Unterstützungsbedürftigkeit der ihm anvertrauten Armen durch regelmäßige Hausbesuche ein Bild zu machen.
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verstanden wurde (zum Beispiel Feuchtigkeit, die Einhaltung von Mindeststandards bei Toiletten, Fenstern, Öfen und Herden), bezog sich die Wohnungspflege dagegen auf die Überwachung beziehungsweise Beeinflussung der Benutzung der Wohnung. Hier ging es um Überfüllung, Geschlechtertrennung, Kontrolle beziehungsweise Zurückdrängen des Schlafgängerwesens sowie um die Erziehung zu Ordnung, Sauberkeit, moderner Hygiene und gesundheitsbewusstem Verhalten. Bis zur Verabschiedung des preußischen Wohnungsgesetzes von 1918 (zu einem Reichswohnungsgesetz und einer reichseinheitlichen Bauordnung ist es auch in der Weimarer Republik nicht gekommen) bot sich im Deutschen Reich, sowohl was die rechtlichen Grundlagen der Wohnungsaufsicht als auch was Zuständigkeiten und Organisation ihrer Durchführung anbetraf, ein „buntes Bild“ (von Kalkstein 1908). Nach Zimmermann existierten im Reich 1907 „wenigstens 228 Wohnungs- und Einlogierordnungen, die höchst unterschiedliche Standards, Regelungsbreiten und Zuständigkeiten der Wohnungsinspektionen festschrieben“ (Zimmermann 1991:113). Beispielsweise war in Hessen seit 1893 per Landesgesetz die Wohnungsaufsicht für Orte über 5000 Einwohnern vorgeschrieben. Auch in Württemberg, Bayern und Hamburg waren um die Jahrhundertwende Wohnungsaufsichtsregelungen vorgesehen, überall jedoch war die Kontrolle mangelhaft. In den übrigen Ländern war den Gemeinden die Wohnungsaufsicht teils „empfohlen“ (Sachsen), teils beruhte sie auf eigener Initiative der Gemeinden. Mit der Durchführung waren so unterschiedliche Organe wie Wohnungskommissionen, Gesundheitskommissionen, technische Beamte, Polizeibeamte, Baupolizei, Wohlfahrtspolizei, Gemeindeärzte, Armenärzte, Armenvorsteher, Baumeister, Stadtbauräte, Feuerbeschauer, Kaminfegermeister und ehrenamtliche Bürger betraut. Das Ziel der Wohnungsaufsicht, eine Verbesserung der (Arbeiter-) Wohnverhältnisse in gesundheitlicher und moralischer Hinsicht, sollte durch eine doppelte Orientierung erreicht werden: Die Verbesserung des baulichtechnischen Zustands der Wohnungen, was eine Einwirkung auf den Vermieter beziehungsweise die Vermieterin bedeutete, und eine verbesserte Benutzung der Wohnräume durch die Mieter und Mieterinnen, die „Hebung der Wohnsitten“. Diesen letzten pädagogisch-pflegerischen Aspekt vor allem, der einen persönlichen Kontakt zu den proletarischen Hausfrauen voraussetzte, reklamierte die „Bürgerliche Frauenbewegung“ von Anfang an als ihr Aufgabengebiet. Dies war auch der Blickwinkel, der das Interesse der „Bürgerlichen Frauenbewegung“ am Thema „Wohnungsnot der unteren Schichten“ in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg wesentlich bestimmte: Die Wohnungspflege als zunächst ehrenamtliches, bald aber auch bezahltes Tätigkeitsfeld für Frauen aus dem Bürgertum. Die Diskussionen um Wohnreform wurden vorangetrieben durch veröffentliche Entwürfe des preußischen Wohnungsgesetzes, die seiner Verabschiedung 1918 vorausgingen (Zimmermann 1991:208-214; Niethammer 1979:363-384). In diesem Zusammenhang standen auch die ersten konkreten Vorstellungen von einer Tätigkeit von Frauen in der Wohnungspflege. 1903, als der erste preußische Wohnungsgesetzentwurf inoffiziell bekannt geworden war, bezog
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mit Anna Pappritz eine bekannte Vertreterin der Frauenbewegung ausführlicher Stellung zur „Wohnungsfrage“ und diesmal auch zur Frage der weiblichen Wohnungsaufsicht. Für sie war das „Wohnungselend die Hauptursache der sozialen Not und sittlichen Verwahrlosung“, es waren die elenden Wohnverhältnisse, die Überfüllung der Räume und das Fehlen von Betten, die Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten und sexuellen Missbrauch („Blutschande“) zu Massenphänomenen machten. Es seien die hohen Mieten für jämmerliche Unterkünfte, die oft bis zu dreißig Prozent des kärglichen Lohns eines Arbeiters verschlängen und die Arbeiter dazu zwängen, Schlafgänger und Untermieter aufzunehmen. Ihre Position zu der im Wohnungsgesetzentwurf vorgesehenen Wohnungsaufsicht war daher differenziert. Sie begrüßte, dass in dem Gesetzentwurf Mindestanforderungen für Wohnungen festgelegt waren, was Qualität, Größe, Benutzung und Belegungsdichte anging und dass gewisse Mindeststandards von den Wohnungsaufsichtsbeamten, wenn gütliche Belehrung und Ermahnung keinen Erfolg hatte, im Zweifelsfall auch mit polizeilichen Mitteln durchgesetzt werden konnten. Sie versprach sich vor allem Erfolg vom Einsatz weiblicher Beamter, denn „der Erfolg des Gesetzes wird größtenteils von der Tüchtigkeit, vom Takt, der Einsicht der Aufsichtsbeamten abhängen, und wir hoffen darum, dass zu diesem Posten auch in erster Linie Frauen verwendet werden möchten.“ Bei aller positiven Einschätzung der Wohnungsaufsicht war sie sich allerdings darüber im Klaren, „dass – wie die Wohnungen heute beschaffen sind und wie die Verhältnisse heute liegen – die strenge Durchführung des Gesetzes Tausende von Menschen obdachlos machen würde!“ (Pappritz 1903:641-646). Eine wirklich durchgreifende Verbesserung der Wohnungssituation sei nur zu erwarten, wenn zum einen neue Bauordnungen die Bildung hoher Monopolpreise für Grund und Boden verhinderten, die Bebauungsdichte herabsetzten, für ausreichende Belichtung und Belüftung sorgten und nur noch die Errichtung von Wohnungen zuließen, die den hygienischen und wohnungskulturellen Mindestnormen entsprächen, zum anderen Staat und Gemeinden selbst „Wohnungspolitik im großen Stil“ trieben, also die fehlenden gesunden Kleinwohnungen entweder selbst bauten oder deren Bau finanziell massiv förderten. Auf dem deutschen Wohnungskongress in Frankfurt 1904 (auf dem ebenfalls der preußische Wohnungsgesetzentwurf im Mittelpunkt der Debatten stand) waren Vertreter des Haus- und Grundbesitzes, der verschiedenen Richtungen der Wohnungsreform sowie von Staat, Ländern und Gemeinden vertreten. Er war vor allem bestimmt von dem wütenden Widerstand des „Zentralverbandes der Haus- und Grundbesitzer“ gegen jede Art von Wohnungsreform, der sich nach dem Bericht von Else Lüders offenbar teilweise zu wüster Krakeelerei steigerte, vor allem als die ebenfalls anwesende Lily Braun das kommunale Wahlrecht auch für Frauen forderte (Lüders 1904:161-162). Eine Wohnungsnot existiere nicht und der private Bau- und Bodenmarkt erfülle alle Wohnbedürfnisse vollständig. Die Delegierten des „Verbandes Fortschrittlicher Frauenvereine“ wiesen in der Diskussion immer wieder auf die Notwendigkeit weiblicher Wohnungsinspektion hin (Schreiber 1904:116-117).
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Mit dem preußischen Wohnungsgesetz als rechtlicher Grundlagen für eine allgemeine Einführung der Wohnungsaufsicht im größten Staat Deutschlands war es nicht vorangegangen. Der Widerstand kam zum einen direkt von den gut organisierten Haus- und Grundbesitzern, die „die Ministerien mit im Schneeballsystem produzierten Denkschriften“ eindeckten, zum anderen von den Gemeinden, die um ihr Selbstverwaltungsrecht fürchteten und in denen nach den meisten Gemeindeordnungen Preußens den Haus- und Grundbesitzern mindestens die Hälfte der Stadtverordnetensitze vorbehalten war (Niethammer 1979:373). Es fällt auf, dass sich in diesen Jahren besonders die Frauen des radikalen Flügels der „Bürgerlichen Frauenbewegung“ und die „Grenzgängerinnen“ zwischen radikaler, gemäßigter und „Sozialistischer Frauenbewegung“ wie Henriette Fürth oder Adele Schreiber mit der Wohnungsfrage befassten. Insbesondere Else Lüders und der Berliner „Verein Frauenwohl“ waren hier mit Versammlungen und Vortragsabenden aktiv, 1906 veranstalteten sie einen „Kursus zur Wohnungsfrage“, für den der Verein die Hauptfiguren der deutschen Wohnungsreform-, Bodenreform- und Gartenstadtbewegung gewonnen hatten: Adolf Damaschke, Rudolf Eberstadt und Bernhard Kampffmeyer (Lüders 1906:51-52). Inzwischen waren die Frauenverbände auf Fachkonferenzen akzeptiert. Auf der Wohnungskonferenz in Frankfurt 1906 (eine Konferenz von Sozialpolitikern und Wohnungsreformern, nach den Erfahrungen von 1904 diesmal ohne die Vertreter der Haus- und Grundbesitzes) waren offiziell zwei Delegierte des „Verbandes fortschrittlicher Frauenvereine“ anwesend (Bröll 1906:65-66). Auch der „Bund Deutscher Frauenvereine“, der Zusammenschluss fast aller Frauenvereine, griff die Wohnungsfrage auf seinen Generalversammlungen 1905 und 1906 auf. Auch hier betonte Anna Pappritz die Notwendigkeit nach weiblicher Wohnungsaufsicht. Unterstützung fanden die Frauenverbände auch bei Parteien und anderen Vereinen der „Wohnreformbewegung“. Marianne Weber, die Frau Max Webers, und Marie Baum, beide sowohl im „Bund deutscher Frauenvereine“ wie auch in der „National-Sozialen Partei“ Badens aktiv, beantragten, die Heranziehung weiblicher Beamten zur Wohnungsaufsicht in das Parteiprogramm aufzunehmen (Die Frau 1907:249). Und der renommierte „Verein für Sozialpolitik“ forderte 1907 auf seiner Generalversammlung eine Reform der Gemeindeverfassung und schlug den Einsatz von Frauen in der ehrenamtlichen Wohnungsaufsicht vor (Dokumente des Fortschritts 1907/1908:77). Das Ringen um weibliche Wohnungsaufsicht wurde immer drängender. Die Frauen der Frauenbewegung traten auf Kongressen auf, verfassten Petitionen und veröffentlichten Broschüren.
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Abb.1: Titel der Zeitschrift „Die Frau. Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit“ 1913
Der Höhepunkt der Diskussion vor dem Kriege war der Kongress für Wohnungsaufsicht und Wohnungspflege, den die „Zentralstelle für Volkswohlfahrt“ im Dezember 1913 in Berlin abhielt. Schon in den Vorankündigungen wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass das Thema der Beteiligung der Frauen an der Wohnungsaufsicht und Wohnungspflege einen wesentlichen Raum einnehmen werde, die Veranstalter forderten insbesondere Frauen, die sich für eine ehrenamtliche Tätigkeit in diesem Bereich interessierten, zur Teilnahme auf (Altenrath 1912/1913:249-251).
A RMENPFLEGE
UND
H AUSPFLEGE
Die wichtigste Vorläuferin für eine Frauentätigkeit in der Wohnungspflege ist in der Armenpflege nach dem „Elberfelder System“ zusehen, zum einen was die Arbeitsmethode (systematische Überprüfung der Familienbeziehungsweise Wohnverhältnisse durch Hausbesuche und individuelle Beratung und Betreuung), zum anderen was die wachsende Überzeugung von
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einer besonderen weiblichen Eignung für diese Tätigkeit betraf. Die ehrenamtliche Tätigkeit als Armenpfleger in der öffentlichen Armenfürsorge war traditionell Männern vorbehalten, da nur sie über die kommunalen Bürgerrechte verfügten. Dieser Ausschluss der Frauen wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert sowohl in der männlichen Fachöffentlichkeit wie von Seiten der Frauenbewegung immer kritischer gesehen. Vor allem der „Allgemeine Deutsche Frauenverein“ beschäftigte sich schon früh mit der Armenpflege als sinnvollem und notwendigem Betätigungsfeld für bürgerliche Frauen. Die Mitarbeit der Frau in der Gemeinde und die Zulassung zu kommunalen Ehrenämtern wie der Armen- oder Waisenpflege erschien insbesondere dem Frauenverein als wichtiger Schritt auf dem Weg zu gleichen Bürgerrechten für Frauen und wurde höher eingeschätzt als das allgemeine Wahlrecht (Schröder 2001:118-136). Bereits auf der Generalversammlung von 1868 hatte Henriette Goldschmidt, eine der Protagonistinnen der „geistigen Mütterlichkeit“ als ehrenamtliche Arbeit in den Gemeinden, diese aufgefordert, Frauen zur Armenpflege mit heranzuziehen. Seit den 1880er Jahren waren diese Aufrufe immer lauter geworden (Neue Bahnen 1880:110-111, 1881:15, 1882:7, 1884:144). Begründet wurde die Forderung meistens mit einer „natürlichen“ Eignung der Frauen für soziale Hilfsarbeit wegen ihrer Vertrautheit mit Belangen der Familie und des Hauses: „Der Blick der Frau (dringt) leichter in das Hauswesen der Armen ein, (erkennt) leichter, welches die Ursache der Noth sei und wie ihr abgeholfen werden könne.“ Diese frühen Berichte und Aufrufe vertraten überwiegend den Ansatz einer ehrenamtlichen Arbeit über Frauenvereine, die mit der öffentlichen Armenpflege zusammenarbeiten sollten (Schmidt 1887:188192). Auch auf der Ebene der männlichen Fachöffentlichkeit war seit den 1880er Jahren einiges in Bewegung gekommen. Bereits auf seiner Gründungsversammlung 1880 beschäftigte sich der „Deutsche Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit“ mit dem Thema „Beteiligung der Frauen an der Armen- und Wohltätigkeitspflege“. In den Verhandlungen war das Klima allgemein wohlwollend, wenngleich die Debatte von launigen Bemerkungen über „Damen“ im Allgemeinen und Besonderen begleitet war und häufig „Heiterkeit“ protokolliert wurde. Aus Berlin berichtete der renommierte Sozialpolitiker Emil Münsterberg lobend von der Gründung der „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“, bei denen er Kurse über Armenwesen gab. Letztlich wurde bei den Delegierten zwar kein offener Widerstand, aber auch kein positives Engagement festgestellt. Wie zutreffend Pessimismus war, zeigte sich an den Berliner Armenpflegern, die 1896 drohten, bei gleichberechtigter Zulassung von Frauen ihre Ämter niederzulegen – was sie dann allerdings doch nicht taten, als der Fall vier Jahre später eintrat. Minna Cauer, die langjährige Herausgeberin der Zeitschrift „Die Frauenbewegung“, erinnerte sich 1907: „Es erregte seinerzeit einen Sturm der Entrüstung, wenigstens hier in Berlin, als man von der Einstellung der Frau in die Waisenpflege sprach. Spott und Hohn traf uns, als wir in Berlin diese Frage aufrollten. Den Armenkommissionsvorstehern bangte vor der „Dame“, vor dem „Wohltätig-
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keitssport“, den diese triebe etc. Jedoch mit dem Beginn dieses Jahrhunderts ist ein entschiedener Fortschritt der Frauentätigkeit auf diesem Gebiet zu bemerken.“ (Cauer 1907:343). 1900 gab es in den „Schriften des deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit“ einen Überblick über die Fortschritte, die „thatkräftige Weiterentwicklung“ der Frauenarbeit in der Armenpflege in deutschen Städten (Kayser 1900:19). Insgesamt wurde die Frauenarbeit in der kommunalen Armenpflege in der Zeitschrift „Soziale Praxis“, im „Kommunalen Jahrbuch“ und im „Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft“ – ab 1913 „Schmollers Jahrbuch“ – mit Interesse und Sympathie für die Frauenforderungen verfolgt. Die Generalversammlung des „Vereins für Sozialpolitik“ forderte 1907 eine Reform der Gemeindeverfassung, die den ehrenamtlichen Einsatz von Frauen in Armenpflege und Wohnungsaufsicht ermöglichte. Eine Form der sozialen Arbeit, die im Überschneidungsbereich von Gesundheitsfürsorge und Wohnungspflege angesiedelt war, war die Hauspflege, in Vereinen von bürgerlichen Frauen für proletarische Frauen organisiert und von proletarischen Frauen ausgeführt (wenn auch zuweilen von bürgerlichen Männern nach außen vertreten). Der älteste und berühmteste Hauspflegeverein entstand 1892 in Frankfurt am Main, gegründet von Hella Flesch, Frau von Prof. Dr. med. Max Flesch und Schwägerin des bekannten sozialdemokratischen Sozialpolitikers und Frankfurter Stadtrats Karl Flesch, Mitbegründer der berühmten Frankfurter AG für kleine Wohnungen (Klausmann 1997). Die Fleschs waren eine in Frankfurt alteingesessene jüdische Familie und gehörten zu dem großen Kreis des sozial engagierten Frankfurter Bürgertums. Obwohl bei Erwähnung des Frankfurter Hauspflegevereins häufig von Karl Flesch die Rede ist und Max Flesch 1901 ein Buch über dieses Thema veröffentlichte (Flesch 1901), wird in sämtlichen Beiträgen zur Geschichte des Vereins Hella Flesch als Gründerin und Vorsitzende genannt (Edinger 1895; Fürth 1911). In ihrem Bericht in der Zeitschrift „Die Frau“ von 1895 schilderte Anna Edinger, eine der führenden Figuren der Frankfurter Frauenbewegung, die Arbeitsweise des Vereins: Die Hauspflege bestand darin, bei Krankheit oder Wochenbett von ärmeren Frauen die Hausarbeit zu übernehmen, damit das Familienleben durch den Ausfall der Hausfrau und Mutter nicht zerrüttet würde beziehungsweise die kranke oder genesende Frau oder Wöchnerin sich die nötige Erholungszeit gönnen konnte. Eine andere Frau aus derselben Schicht (häufig eine Witwe oder erfahrene ältere Hausfrau) wurde vom Verein ausgewählt und bezahlt und übernahm für die bewilligte Zeit und im bewilligten Umfang Hausarbeit und Kinderbetreuung. Die bürgerlichen Vereinsdamen prüften die häuslichen Verhältnisse, die gründlichen Hausbesuche wurden mit einem Erhebungsformular systematisiert und durch die Zusammenarbeit mit dem Armenverein, anderen wohltätigen Vereinen und den Krankenpflegeorden versuchte man Doppelunterstützung zu verhindern und Aufgaben sinnvoll zu verteilen – die „Frankfurter Schule“, die wissenschaftlich systematisierte Armenpflege um Wilhelm Merton und sein „Institut für Gemeinwohl“, war hier Vorbild (Sachße 1994).
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Ein weiterer Hauspflegeverein ist der „Hauspflegeverein Charlottenburg“, gegründet 1898, der nach denselben Prinzipien arbeitete wie in Frankfurt. Die Leitung hatte Hedwig Heyl, eine „Macherin“ aus der älteren Generation der „Bürgerlichen Frauenbewegung“. Wie bei vielen ihrer anderen Unternehmungen (sie war Autorin zahlreicher Koch- und Hauswirtschaftslehrbücher) systematisierte sie ihre Erfahrungen in einem „Hilfsbuch für die Hauspflege“ für Pflegerinnen und Aufsichtsdamen. Mitbegründerin des Hauspflegevereins war „Frau Stadtrat Weber“, Helene Weber, die Mutter von Max und Schwiegermutter von Marianne Weber, eine in der sozialen Arbeit sehr aktive Frau, die 1904 (bereits als ältere Dame) als erste Frau in Preußen Stadträtin wurde. In der Charlottenburger Stadtverwaltung (Charlottenburg war damals noch eigenständige Großstadt und nicht ein Bezirk Berlins) war sie für die Armenverwaltung zuständig (Weber 1926:515). Schon ein Jahr vor den Charlottenburgerinnen hatten die Berlinerinnen einen Hauspflegeverein als Abteilung des Berliner Frauenvereins gegründet . Beide Vereine entwickelten eine ausgedehnte Kooperation beziehungsweise schlossen Verträge mit großen Betrieben (Siemens, AEG usw.) und öffentlichen Arbeitgebern wie Gemeindeverwaltung, Polizei, Post und Bahn, die die Hauspflege in ihre betrieblichen Sozialleistungen aufnahmen beziehungsweise eigene Hauspflegekassen für ihre Beschäftigten einrichteten. Der Hauspflegeverein war sehr beliebt bei den Arbeiterfamilien, weil Hauspflege sich individuell auf die Bedürfnisse einstellte. Das „verständnisvolle Eingehen auf jeden besonderen Fall“ ermöglichte den Einsatz der Hauspflegerin für ganze oder halbe Tage, stundenweise oder nur für die „große Wäsche“, zuweilen wurde sogar das Versorgen der Untermieter und Kostgänger übernommen, damit der Familie während Krankheit oder Wochenbett der Mutter diese Einkünfte erhalten blieben. Und dadurch, dass es durch eine Hauspflegekasse oder Betriebsvereinbarung einen geregelten Anspruch auf die Leistungen gab, entfiel auch das den selbstbewussten Berliner Facharbeitern verhasste Odium der Wohltätigkeit. Es gab außer in Berlin, Charlottenburg und Frankfurt am Main Hauspflegevereine in Danzig, Gotha, Jena, Magdeburg, Breslau, Stuttgart und „manchen anderen Groß- und Mittelstädten“ (Soziale Praxis 1904/05). 1908 nahm Alice Bensheimer, langjähriges Mitglied im Vorstand des „Bundes Deutscher Frauenvereine“, das Beispiel der Hauspflegevereine zum Anlass, eine Mitarbeit der Frau in allen Gemeindeangelegenheiten zu fordern: Die „Muttersorge im öffentlichen Leben“, in Armenpflege und Schulverwaltung, aber auch in der Wohnungsfrage. Vom Haus verstehe die Frau mehr als der Mann, deshalb seien Wohnungsfrage und Wohnungsfürsorge ihre Sache. Bensheimer forderte die Zulassung von Frauen zu kommunalen Kommissionen, auch Baukommissionen, denn „warum sollten Frauen nicht gehört werden, wenn es sich um den Bau von gemeinnützigen Anstalten, von Verkaufsläden oder ganz einfach von Wohnhäusern handelt?“ (Bensheimer 1908:193).
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Die argumentativen Strategien der „Bürgerlichen Frauenbewegung“ in der Debatte um die weibliche Wohnungsaufsicht sind nicht vollständig zu verstehen ohne den Hintergrund der Ideen von der grundsätzlichen Verschiedenartigkeit der Geschlechtscharaktere, der „weiblichen Kultur“ und ihrem besonderen „Kulturauftrag“ beziehungsweise der „organisierten Mütterlichkeit“ (Stoehr 1990; Greven-Aschoff 1981). Schon früh hatten sich in der „Bürgerlichen Frauenbewegung“ zwei unterschiedliche Auffassungen von Emanzipation entwickelt. Die eine Auffassung vertrat die Gleichberechtigungsstrategie, die, in der Aufklärung verwurzelt und naturrechtlich argumentierend, von einer Gleichheit der Geschlechter ausging, eine Ausdehnung allgemeiner „Menschenrechte“ auf die Frauen und von daher für sie dieselben Rechte, Bildungs- und Erwerbsmöglichkeiten und Teilhabe am öffentlichen und politischen Leben forderte, wie die Männer sie schon hatten. In der „Bürgerlichen Frauenbewegung“ bestimmend wurde allerdings eine andere, von Luise Otto-Peters und Mathilde Weber (nicht verwandt mit Helene, Max und Marianne Weber) vertretene Auffassung, die von der „weiblichen Eigenart“, den „besonderen Kulturaufgaben der Frau“ (Marianne Weber) und einer erweiterten „Mütterlichkeit“ ausging (Schröder 2001). Sie beruhte auf der Annahme einer grundsätzlichen Verschiedenartigkeit des männlichen und weiblichen „Geschlechtscharakters“, „gemessen am Gattungszweck“ seien aber beide gleichwertig. Die Aufteilung der Fähigkeiten und Zuständigkeiten folgte dem Schema, das den Frauen den Bereich des Sozialen und Emotionalen, Altruismus und Mitleid, den Sinn für das Konkrete und Individuelle, das Versorgen und Erziehen zuschrieb, dem Mann das Abstrakte, Systematische, Unpersönliche, den Intellekt und den Sinn für Technik, aber auch Machtstreben, Rücksichtslosigkeit, Materialismus und wirtschaftliche Selbstsucht. Als „Rechtfertigungstheorie“ gegenüber den Angriffen der männlichen Emanzipationsgegner, die befürchteten, dass Frauen „wie Männer“ werden wollten, hatte diese Auffassung gewiss auch defensive Anteile. Sie nahm die Vorstellung eines „natürlichen“ Unterschieds der Geschlechter auf, in einem zweiten Schritt wendete sie sie allerdings gegen das herrschende Geschlechterverhältnis. Sich gleich den Männern in die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse einzugliedern, lehnte die „Bürgerliche Frauenbewegung“ ab, da diese einseitig von der „männlichen Kultur“ geprägt seien, die „die Sache“ über „das Leben“ stelle. Nur die Frau könne aufgrund ihrer Verschiedenartigkeit den fehlenden Kulturanteil beitragen, um die zerrissene moderne Gesellschaft wieder „ganz“ und den modernen Staat zu einem „Kulturstaat“ zu machen. Nur in ihrer Weiblichkeit könne sich die Frau wirklich emanzipieren, dafür allerdings brauche sie Entwicklungsmöglichkeiten frei von der Fremdbestimmung durch Männer. Diese Überzeugung wurde auch von vielen „Radikalen“ geteilt, die in der Frage des Stimmrechts oder der sexuellen Ethik eher „Gleichheits-orientierte Positionen“ vertraten: „Nein, nein, nicht Mann sein wollen, oder wie ein Mann sein wollen, oder mit ihm verwechselt werden können: Was sollte uns das helfen! Unser Gewissen
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spricht jetzt: ‚Werde, die du bist.‘ Alle in uns liegenden Kräfte zu entwickeln, den Mut zu uns selber, zu unserer eigenen weibmenschlichen Natur zu haben [...]“ (Stöcker 1906:14). Letztlich scheint bei vielen Vertreterinnen des „weiblichen Kulturauftrags“ die Überzeugung durch, dass die „weibliche Kultur“ und das „Prinzip der Mütterlichkeit“ (unabhängig von individuell realisierter Mutterschaft) dem „männlichen Prinzip“ nicht nur gleichberechtigt, sondern – zumindest moralisch – überlegen seien. Kulturmission der Frauenbewegung und Ziel der Emanzipation sei es, das „weiblich-mütterliche Prinzip“ aus der Gebundenheit des Hauses zu befreien und ihm in der Gesellschaft wieder mehr Einfluss und öffentliche Geltung zu verschaffen. Andererseits hieß das auch, dass Frauen sich von den als „männlich“ begriffenen Bereichen der Technik, der (Natur-) Wissenschaft und der Industrie fernhielten (neben der Gefährdung der Hausfrauen- und Mutteraufgabe ein Grund, weshalb die Frauenbewegung weibliche Erwerbstätigkeit in der „entseelten“ und „der Familie entfremdeten“ Welt der industriellen Produktion nicht als Fortschritt begrüßte): „Wer wäre unter uns, die nicht weit lieber zum sittlichen als zum industriellen oder politischen oder selbst rein intellektuellen Fortschritt der Menschheit beitrüge; die nicht lieber Menschen als Maschinen leiten möchte, die nicht lieber mit Personen als mit abstrakten Ideen verkehrte?“ (Lange 1928). Aber eine Frau wie Marie-Elisabeth Lüders wurde von keinerlei Berührungsängsten gehindert, in die „männlichen“ Domänen von Architektur und Bautechnik einzudringen – wenn auch immer unter der Fahne der „weiblichen Kulturmission“ (Lüders 1963). Um die Jahrhundertwende hatte Helene Lange, eine der Führerinnen der „Bürgerlichen Frauenbewegung“, bereits ihre Vorstellung von einer „organischen“ Arbeitsteilung der Geschlechter entwickelt, wonach sich keine festgelegten Arbeitsbereiche für Männer und Frauen abgrenzen ließen, sondern die Frau ihre besondere Eigenart in alle Kulturgebiete einbringen solle. Ihre besonderen Kräfte würden sie dann von selbst auf bestimmte Gebiete hinweisen. „Mit dieser Formulierung machte Helene Lange beides möglich: Zum einen das Zusammenwirken von Mann und Frau gleichberechtigt nebeneinander, zum anderen aber erhob sie einen Anspruch auf exklusives Wirken von Frauen in Bereichen, die ihnen aufgrund ihres besonderen Wesens besonders nahe lägen.“ (Clemens 1988:84). Diese doppelte Argumentation lässt sich auch in der Frage der weiblichen Wohnungsaufsicht beobachten. Die Zuständigkeit der Frau für Haus und Heim wurde als Kern der Weiblichkeit hervorgehoben und in einer strategischen Wendung daraus gefolgert, dass die Frau als Expertin gerade in Wohnungsdingen kompetent und zur Mitwirkung bei der Lösung der Wohnungsfrage besonders berufen sei. Das konnte herausfordernd formuliert sein, wie bei Alice Bensheimer: „Wohl hat es eine Zeit gegeben, in der das Wort ‚Das Weib schweige in der Gemeinde‘ das Maßgebende für die Beurteilung aller Frauenwünsche geworden war, aber grade diesem Wort wurde eine Ergänzung geschaffen, in jenem anderen ‚die Frau gehört ins Haus‘. Zugegeben, dass dort das wichtigste Gebiet unserer Tätigkeit liegt, die logische Konsequenz muss doch dann sein, dass wir vom Hauswesen am meisten verstehen“ (Bensheimer 1912:35). Oder es klang eher
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defensiv, mit dem Untertext: Das war schon immer Frauensache, dagegen können die Männer doch nichts haben, wir nehmen ihnen doch nichts weg: Die Wohnungsaufsicht „ist ein Frauenberuf eigenster Art, in dem die Frau mit ihrer ganzen weiblichen Persönlichkeit wirken kann, wo sie nicht in Konkurrenz mit dem Manne tritt.“ (Neue Bahnen 1910:94). „Wohnungspflege ist Familienpflege. Wesentlich aber für die Pflege der Familie ist eine geordnete und gesundheitsgemäße Haushaltsführung. Da hierfür die Frau verantwortlich ist, bei den Wohnungsaufsichtsbesuchen meist nur sie anzutreffen ist und mit ihr alles, was Wohnen und Haushalten angeht, zu besprechen ist“, sei Wohnungspflege notwendigerweise Sache der Frau (Kröhne 1912:16). Diese Argumentation stand in der Tradition des Konzepts der weiblichen Haus- und Armenpflege. Alice Salomon hat 1901 alle Argumentationsstränge für die weibliche Armenpflege zusammengeführt, die auch für die weibliche Wohnungsaufsicht galten: Die Bedeutung der Haushaltsführung beziehungsweise das Versagen der proletarischen Hausfrau als Ursache für elende Lebensverhältnisse, daher das Ansetzen der sozialen Arbeit im „häuslichen Leben“, die Zuständigkeit der bürgerlichen Frauen für Haushalt und Familie und aus all diesem der Schluss, dass sie daher zur sozialen Arbeit prädestiniert seien. So nützlich das Argument von der „besonderen weiblichen Eignung“ auch sein mochte und so subjektiv überzeugt die Vertreterinnen der „Bürgerlichen Frauenbewegung“ vom „besonderen Kulturauftrag der Frau“ auch waren, auf die rein pflegerische Tätigkeit für die proletarische Hausfrau wollten sich die promovierten Akademikerinnen in der Wohnungsaufsicht nicht beschränken. Und diese Gefahr bestand durchaus, denn viele männliche Wohnungsreformer und Kommunalbeamten stürzten sich begierig auf die Möglichkeit, mit Hilfe der von „Frau-zu-Frau“-Argumentation die unerwünschte Konkurrenz in ein eng umgrenztes Gehege „weiblicher“ Aufgaben abzudrängen und einzuzäunen. Immer wieder betonten sie, dass der Aufgabenbereich von Frauen in der Wohnungspflege vor allem zu verstehen sei als die Beratung, Erziehung und Disziplinierung „lässiger Hausfrauen“. Bei Marie-Elisabeth Lüders ist im Laufe ihrer eigenen Erfahrungen als Wohnungspflegerin in Charlottenburg eine gewisse Verschiebung der Argumentation zu beobachten: Sah sie zunächst noch in der Pflege das soziale Schwergewicht der Wohnungsinspektion, so weitete sie die weibliche Kompetenz wenig später deutlich bis in die gesamte Wohnungspolitik und auch auf das architektonische Gebiet aus (Lüders 1913:177 - 178).
WOHNUNGSPFLEGE
ALS
WOHLFAHRTSAUFGABE
Der Ansatz, Wohnungspflege als Wohlfahrtsaufgabe zu sehen, prominent vertreten vor allem von Marie Kröhne, aber auch von vielen anderen Frauen (zum Beispiel Marie Baum, Alice Salomon, Jenny Apolant) unterstützt,
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betrachtete die Wohnungsaufsicht vorwiegend als erzieherische Aufgabe zur Heranbildung „besserer Wohnsitten“ in der (ärmeren) Bevölkerung. Die von der Frauenbewegung entwickelte Konzeption der Wohnungspflege bedeutete für die betroffenen Bewohner und Bewohnerinnen, besonders für die Hauptadressatin, die proletarische Hausfrau und Mutter, zum einen sicherlich individuelle Zuwendung, Unterstützung und Hilfe. Zum anderen aber wurde in dieser Konzeption gerade den Frauen die Hauptverantwortung beziehungsweise Schuld für die elenden Wohnungsverhältnisse zugeschrieben („selbstverschuldete Wohnungsnot“), was den Interventionen der Wohnungspflege einen disziplinierenden Charakter gab. Im Zuge der Beschäftigung mit den Wohnbedingungen und -sitten der Unterklassen fiel den Wohnungsaufseherinnen auf, dass viele der besichtigten Behausungen ein sinnvolles, hygienisches und sparsames Wirtschaften erschwerten, wo nicht unmöglich machten. Marie Kröhne hob hervor, dass in den vorhandenen Wohnungen „eine zweckmäßige Raumeinteilung eine schwere Kunst“ sei. „Wie schwer sich in solch engen und dürftig ausgestatteten Wohnungen haushalten lässt, das muss man sehen! Hier die Grundsätze der Lüftungs-, Heizungs- und Reinigungshygiene auch nur anzusprechen, [...] das ist oft ein Hohn auf die Verhältnisse und die Lebensbedingungen!“ (Kröhne 1912:25). Marie-Elisabeth Lüders (Abb. 2) ging von der Kritik häufig gleich zum Verbesserungsvorschlag über: „So könnten zum Beispiel die Frauen der immer wiederholten Aufforderung zum Lüften leichter nachkommen, wenn die Kleinwohnungen in der Küche und in den Stuben obere Kippflügel (Klappfenster) besäßen, die ohne Gefahr für die Kinder offen sein können.“ (Lüders 1915:45). Das Wäschewaschen in den Wohnungen, eine Quelle der gefürchteten Feuchtigkeit, war ständiger Anlass für Ermahnungen und Konflikte, aber, so Lüders: „Gegen das Waschen und Trocknen größerer Stücke in Küchen und Korridoren wird man so lange ziemlich vergeblich eifern – wenigstens in kinderreichen Familien – als 20 und mehr Parteien auf eine Waschküche und einen Trockenboden angewiesen sind, für deren Benutzung noch ein besonderer Entgelt erhoben wird.“ (Lüders 1915: 45) Die Belehrung über Körperpflege und Säuglingshygiene musste scheitern angesichts fehlender Badegelegenheiten und Waschmöglichkeiten. Fehlende Nebenräume zur sachgerechten Unterbringung von Haushaltsgegenständen, Reinigungsgeräten und Kleidung verstärkten die Überfüllung und Unordnung in den ohnehin schon zu engen Räumen, fehlende Möglichkeiten zur Aufbewahrung von Nahrungsmitteln, Vorräten oder Speiseresten verhinderten ein planvolles, sparsames Wirtschaften. Schon früh verknüpften die Vertreterinnen der Frauenbewegung die Wohnungsnot mit dem Begriff der „Sittlichkeit“. Unter diesem Begriff wurde zum einen sexueller Missbrauch von Kindern, vor allem Mädchen (durch männliche Verwandte, Schlafburschen und Untermieter) verstanden, aber auch die Gefahr der sexuellen Verführung Jugendlicher und junger Erwachsener durch die Überfüllung von Räumen und den Mangel an Betten mit den befürchteten Folgen von unehelichen Schwangerschaften, Geschlechtskrankheiten und dem Abgleiten in die Prostitution. Nicht zufällig
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waren etliche der Frauen, die sich in der Wohnungsfrage engagierten, auch in der „Abolitionistischen Bewegung“, die gegen die staatliche Duldung der Prostitution kämpfte, und in der „Bewegung für Mutterschutz“ aktiv, wie zum Beispiel Anna Pappritz, Henriette Fürth, Lily Braun und Adele Schreiber (Evans 1976:115-143; Epple 1996:79-93). In beiden Bewegungen wurde für Sittlichkeit und Moral gestritten. Die Vertreterinnen der Frauenbewegung waren nicht die alleinigen Erfinderinnen des Wohlfahrtsansatzes in der Wohnungspflege. Seit der Jahrhundertwende hatte sich auch in den Kreisen der männlichen Wohnungsreformer die Überzeugung durchgesetzt, dass eine sozial wirksame Wohnungsaufsicht nicht als rein bautechnisches Problem oder als polizeiliche Funktion begriffen werden könne, sondern als soziale Aufgabe aufgefasst werden müsse. Abb.2 (links): Marie-Elisabeth Lüders Abb.3 (rechts): Jenny Apolant
Auf dem Kongress für Wohnungsaufsicht und Wohnungspflege 1913 wurde zwar von den männlichen Teilnehmern übereinstimmend festgestellt, dass der Wohlfahrtsansatz sich als Konzept weitgehend durchgesetzt habe, es kam aber auch Kritik aus der „linken“ wohnungspolitischen Ecke. Der Wohlfahrts- beziehungsweise Erziehungsaspekt der Wohnungspflege werde vor allem deshalb hervorgekehrt, um den Hausbesitzern die Wohnungsaufsicht schmackhaft zu machen. Interessant ist allerdings, dass die politische Kritik an solchen Positionen von männlicher Seite gleichzeitig eingebunden war in den „Geschlechterkampf “ um das Berufsfeld Wohnungsaufsicht beziehungsweise die Debatte um weibliche und männliche Aufgabengebiete. Die Seite der Wohnungsaufsicht, in der es um die wohnungspolitische Machtprobe mit den Hausbesitzern, um die technisch-baulichen Fragen und daraus resultierenden Kosten ging, sollte ausschließlich männlichen Beamten vorbehalten sein. Die Wohnungspflege als Aufgabe der Frau dagegen, „wird den vorhandenen Bestand, wie er nun einmal ist, wird die ungünstigsten Verhältnisse als etwas
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Gegebenes hinnehmen und durch persönliche Beeinflussung des Wohnungsinhabers versuchen müssen, für die Gesundheit der Bewohner zu retten, was noch zu retten ist, insbesondere aber dafür zu sorgen, dass die Mängel einer Wohnung, deren Behebung die Sache der Wohnungsaufsicht ist, nicht durch ungeeignete Benützung noch verschärft werden.“ (Busching 1918:66) Eine der erfolgreichen Aktivitäten der „Bürgerlichen Frauenbewegung“ auf dem Gebiet der Wohnungsreform war die „Auskunftsstelle (später: Zentralstelle) für Gemeindeämter der Frau“ Mitte September 1907 nahm die Auskunftsstelle unter der Leitung von Jenny Apolant (Abb. 3) ihre Arbeit auf. Sie sammelte Informationen und gab Auskünfte zu den Themen der ehrenamtlichen und besoldeten kommunalen Frauenarbeit in Deutschland und im Ausland sowie über das Gemeindewahlrecht der Frau. Das Zahlenmaterial und die Informationen aus dem Ausland dienten als Argumentationshilfe für eine Beteiligung der Frau an der Gemeindearbeit in Deutschland. Die Auskunftsstelle sah ihre Aufgabe unter anderem in der Vermittlung geeigneter Kandidatinnen für die Wohnungspflege und offenbar bedienten sich interessierte Gemeinden und andere öffentliche Körperschaften dieser Quelle. 1910 veröffentlichte Jenny Apolant auf der Grundlage des Materials der Zentralstelle die Broschüre „Stellung und Mitarbeit der Frau in der Gemeinde“ (Abb. 4), die wegen der großen Nachfrage 1913 eine überarbeitete zweite Auflage erlebte (Apolant 1910). Auch in den Blättern der Wohnungs- und Sozialreform fanden die Zentralstelle, ihre regelmäßigen Berichte und Jenny Apolants Schrift zunehmend Interesse (Terlinden/von Oertzen 2006:36-38). Im Frühjahr 1913 schlugen mehrere Berliner Frauenvereine, die Wohnungspflege des Wohnungsamts mit einem unentgeltlichen Wohnungsnachweis für die betroffenen Mieter und Mieterinnen zu verbinden. Damit wurde die Konsequenz aus den Erfahrungen der ersten Jahre der Wohnungspflege gezogen, denn Inspektion und die Durchsetzung von Mindestnormen hatten nur dann einen wohlfahrtspflegerischen Sinn, wenn man auch Alternativen anbieten konnte. Ausführlich legte Marie-Elisabeth Lüders Stellungnahme und Kritik der Frauenbewegung zu dem Berliner Wohnungsamtsentwurf dar und bezog sich auf eine erfolgreiche Tätigkeit und die Erfahrungen von Marie Kröhne in Worms und Auguste Lange in Halle (Lüders 1913:177-178).
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Abb.4: Werbeanzeige für die Broschüre „Stellung und Mitarbeit der Frau in der Gemeinde“ von Jenny Apolant. Centralblatt des „Bundes Deutscher Frauenvereine“ 1912
K L ASSENUNTERSCHIEDE
UND
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Die Klagen über den Unverstand, die Unwissenheit und das hauswirtschaftliche Versagen der proletarischen Hausfrau durchzogen viele Äußerungen der bürgerlichen Frauen zu diesem Thema. Dennoch ergab sich aus der praktischen Erfahrung mancher Wohnungspflegerin eine gewisse Einfühlung in die soziale Situation ihrer Klientinnen und damit auch eine differenziertere Beurteilung. So warnte Marie Kröhne davor, bürgerliche Standards von Wohnen und Haushalt einfach auf die unteren Schichten zu übertragen. Auch bezüglich der Auflagen und Maßnahmen plädierte sie für ein differenziertes Eingehen auf den Einzelfall: So dürfe man zum Beispiel nicht wegen Verstoßes gegen die Norm des Mindest-Luftraums pro Person eine Familie zum Auszug
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aus einer Wohnung zwingen, in der die Kinder während der Fabrikarbeit der Mutter durch die Nachbarin einen besonders zuverlässigen Schutz hätten. Henriette Fürth und Anna Pappritz hatten das Missverhältnis zwischen Löhnen und Mieten ausführlich belegt (Fürth 1904:660-677; Pappritz 1908:1-2). Auch Marie Bernays, Else Conrad, Li Fischer-Eckert, Rosa Kempf, Dora Landé und Rose Otto hatten insbesondere die niedrigen Frauenlöhne beklagt und die Tatsache, dass in Familien ungelernter Arbeiter das Einkommen in den meisten Fällen nicht einmal für eine ausreichende Ernährung reichte (Bernays 1910; Conrad 1909; Fischer-Eckert 1913; Fürth 1902; Kempf 1911; Lande 1910; Otto 1910). Sämtliche Wohnungspflegerinnen machten die Erfahrung, dass mit steigender Kinderzahl die Wohnsituation der Familien sich notwendigerweise verschlechterte, da die Mutter nicht mehr erwerbstätig sein konnte, das neue Kind neue Kosten für Ernährung und Kleidung bedeutete, und somit häufig die Familie gezwungen war, in eine kleinere, schlechtere Wohnung umzuziehen und mit noch weniger Betten noch enger zusammenzurücken. Aus Geldmangel fehlendes Heizmaterial war ein Grund, das Lüften zu scheuen und in der Küche alle Verrichtungen des Haushalts, einschließlich der Wäsche, mit dem Wohnen zusammenzudrängen, auch wenn noch ein anderer Raum zur Verfügung stand. In Zusammenhang mit diesem eher „politischen“ Ansatzes, der den Klassenunterschied in den Vordergrund rückte, gehörte auch die Forderung nach einer Wohnungsaufsicht für alle Wohnungen, auch die „bürgerlichen“ und „herrschaftlichen“, vor allem was die Schlafräume der Dienstboten und der Lehrlinge oder die „Portierslogen“ anging. Diese Forderung, die von allen mit der Wohnungsaufsicht befassten Frauen unterstützt wurde, hat MarieElisabeth Lüders folgendermaßen begründet: „Erstens wird dadurch die Wohnungspflege vor dem Rufe bewahrt, eine schikanöse Spezialschnüffelei gegen arme Leute zu sein, und sodann sind auch in Wohnungen mit mehr als zwei Stuben und Küche Mängel genug vorhanden. [...] sobald wie nur irgend möglich müssen die Wohnungen der Dienstboten und der beim Arbeitgeber wohnenden Arbeitnehmer folgen.“ (Lüders 1913:133). Lüders schlug auch vor, gleich bei Abschluss eines Lehrvertrages die Verpflichtung mit aufzunehmen, dass die dem Lehrling gestellte Wohnung den Anforderungen der Wohnungsaufsicht entsprechen müsse. Das Thema der Wohnbedingungen der Dienstboten war, wie die Dienstbotenfrage überhaupt, in der Frauenbewegung immer wieder umstritten, hatten doch viele bürgerliche Frauen selbst Dienstboten und standen damit auf der Arbeitgeberseite (Ichenhäuser 1900). Über den „egoistischen“ und „bourgeoisen“ Dienstherrinnen-Standpunkt haben sich sowohl sozialpolitisch fortschrittliche Führerinnen der „Bürgerlichen Frauenbewegung“ wie Helene Lange, Gertrud Bäumer, Alice Salomon oder Eliza Ichenhäuser immer wieder kritisch geäußert wie auch natürlich die Vertreterinnen der „Sozialistischen Frauenbewegung“. Als Reaktion auf die Verhältnisse der Dienstboten hatte sich der „Bund Deutscher Frauenvereine“ bereits 1905 mit einer Petition zur „Reform der Gesindeordnung und zur Einführung eines Reichsdienstbotengesetzes“ an den Reichstag gewandt und zumindest moderate
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Forderungen für die häuslichen Angestellten erhoben: Neben einer gewissen Einschränkung der Arbeitszeit und einer Kranken- und Unfallversicherung wurde eine eigene Wohnungsaufsicht für die Dienstbotenschlafräume verlangt. In zwei Enqueten, einmal einer (vermutlich 1907/1908 durchgeführten) Erhebung der „Arbeiterinnenschutzkommission“ zur Dienstbotenfrage sowie einer späteren Erhebung (1910) der „Dienstbotenkommission“, beides Untergruppen des „ Bundes Deutscher Frauenvereine“, setzte sich die „Bürgerliche Frauenbewegung“ mit der Wohnsituation der Dienstboten gründlich auseinander und jedes Mal war die Forderung nach einer wirksamen Wohnungsaufsicht eine der Folgerungen (Terlinden/von Oertzen 2006:50-51). Polemisch reagierte die sozialistische Zeitschrift „Die Gleichheit“ 1908 auf die Enquete: Das „geschwollene Gerede bürgerlicher Frauenrechtelei von dem sozialen Verständnis und dem sozialen Pflichtgefühl bürgerlicher Damen“ diene nur dazu, das Ausbeutungsverhältnis zwischen Dienstherrinnen und Dienstboten zu verschleiern. Die Kritik an den festgestellten Missständen in den Wohnungsverhältnissen der Dienstboten sei nicht weitgehend genug, und letztlich seien nur vom „Kampfe der Arbeiterklasse“ wirkliche Erfolge zu erwarten (Die Gleichheit 1908:21-22).
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Die jüngere Generation der „Bürgerliche Frauenbewegung“, geboren in den 1870er und 1880er Jahren und bereits mit akademischer Ausbildung, stand der ehrenamtlichen Tätigkeit von Frauen in der sozialen Arbeit grundsätzlich mit gemischten Gefühlen gegenüber. Einerseits hatte die Ehrenamtlichkeit in der weiblichen Armenpflege eine lange und ehrenvolle Tradition und auch die Organisationen der Frauenbewegung selbst beruhten selbstverständlich auf ehrenamtlicher Arbeit. Ein Argument für eine skeptische Haltung, gerade bei den ledigen Akademikerinnen, die auf berufliche Tätigkeit auch ökonomisch angewiesen waren, ging aber andererseits dahin, dass die ehrenamtliche Übernahme von Arbeit die Frauenlöhne herabdrücke. Ein anderer Einwand war die mangelnde Professionalität und die nur zeitlich beschränkte und nicht zuverlässige Verfügbarkeit der ehrenamtlichen Kräfte. Grundsätzlich erschien die ehrenamtliche Arbeit als eine „gute Vorschule“. Marie-Elisabeth Lüders unterschied zwischen leitenden Wohnungspflegerinnen, Hilfskräften und ehrenamtlich tätigen Frauen. Es sei vor allem die „objektive“ Eignung „von Bildungs- und Verstandes wegen“, die „geistige Durchdringung“ der gesamten Frage der Wohnungsreform und Wohnungspolitik in volkswirtschaftlicher, technischer, organisatorischer und sozialer Hinsicht gefragt. Ihre ideale Kandidatin war daher eine „Architektin mit sozialer Praxis und mit nationalökonomischen Kenntnissen.“ (Lüders 1913:129-137). Rose Otto warnte vor der verbreiteten Tendenz, Frauen allein die Wohnungspflege und dies in untergeordneter Position zuzuweisen. Diese Frauen, die in untergeordneter Stellung ausschließlich mit der sozialpädagogischen Seite der Wohnungspflege befasst seien, könnten dann „auf
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Grund ihrer geringeren Verantwortung, der einseitigeren Arbeit auch nur auf geringeren materiellen Entgelt [...] rechnen“ (Otto 1913:187-189).
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Am Beispiel der Wohnungspflege lässt sich gut zeigen, wie erfolgreich eine Governance-Strategie sein kann. Zunächst von den Kommunen als reine polizeiliche Wohnungsinspektion konzipiert, hat die „Bürgerliche Frauenbewegung“ in Kooperation mit anderen Wohn- und Sozialreformern es geschafft, dieser Ausrichtung eine soziale, auf Familien orientierte Facette hinzuzufügen, so dass sich auch bei den Behörden die Überzeugung durchsetzte, dass eine wirksame Wohnungsaufsicht nicht allein als bautechnisches Problem und polizeiliche Aufgabe begriffen werden konnte. Jenny Apolant, die Leiterin der „Zentralstelle für Gemeindeämter der Frau“ berichtete im „Kommunalen Jahrbuch“, dass 1915 17 Wohnungspflegerinnen bei den Kommunen beschäftigt waren und weitere 64 ehrenamtlich in der Wohnungspflege arbeiteten. In der Zeit der wohnungspolitischen Aktivitäten der Frauenbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte staatliches Handeln vorwiegend aus einem liberalen und ordnungspolitischen Staatsverständnis heraus. Ausschließlich renditeorientiertes Wachstum der Wirtschaft und die Beschränkung staatlichen Handels auf polizeiliche Maßnahmen prägten die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse. So war es den vielen „Sozialen Bewegungen“ zu verdanken, dass sich zwischen der obrigkeitsstaatlichen Kontrolle und der ungebremsten Kapitalentfaltung eine dritte Kraft entwickelte, die ein staatliches Handeln des sozialen Ausgleichs einforderte und sich selbst ehrenamtlich dafür engagierte. Die Akteurinnen der „Bürgerlichen Frauenbewegung“ waren Teil dieser dritten Kraft. Insbesondere auf der kommunalpolitischen Ebene trugen sie zur Verbesserung der städtischen Wohnverhältnisse bei.
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Der „Regional Plan for New York and Its Environs“ und die Macht zivilgesellschaftlicher Kompetenz in Zeiten gesellschaftlicher Krise Barbara Schönig
Wenn heute die Frage gestellt wird, wer die Stadt entwickeln soll, dauert es meist nicht lange, bis die Zivilgesellschaft als Akteur genannt wird.1 Die „Zivilgesellschaft“ als solche meint dann zunächst einmal nicht normativ, sondern bereichslogisch all jene Akteure, die weder den gesellschaftlichen Sphären Markt, Staat oder Privatem unmittelbar zuzuordnen sind: Zum Beispiel Vereine, Kirchen, Verbände, Nonprofit-Organisationen oder Stiftungen.2 Im 19. und frühen 20. Jahrhundert war das Engagement solcher Akteure, insbesondere aber der zivilgesellschaftlichen Eliten ein selbstverständlicher Bestandteil der Stadtentwicklung. Sie engagierten sich im sozialen Wohnungsund Reformwohnungsbau, bei der städtebaulichen Gestaltung der Städte oder agierten als Stifter und Mäzenaten sozialer, kultureller oder wohltätiger Einrichtungen. Dies galt für Deutschland, aber in sehr hohem Maße auch für die USA. (Vgl. hierzu zum Beispiel Adam 2004; Putnam 2000:393-395; Skocpol 2001:621-622) Dort hat zivilgesellschaftliches Engagement die planerische Disziplin sowie die Stadtentwicklung stark geprägt. (Fishman 2000a:6) Eines 1 | So stellt beispielsweise der Städtebauliche Bericht der Bundesregierung 2004 fest, dass es im Kontext neuer Aufgaben und eines stetig wachsenden Problemdrucks insbesondere in den Städten notwendig sei, die Aufgabenverteilung zwischen Staat, Wirtschaft, Bürger und Bürgerinnen zu reorganisieren (Bundesministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen 2005:8), und zu überlegen, welche Aufgaben in diesem Zusammenhang Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft übernehmen könnten. Eine Darstellung der aktuellen Diskussion um Zivilgesellschaft in Planungstheorie und -praxis findet sich in Schönig/Hoffmann 2007. 2 | Mit dem Begriff „Zivilgesellschaft“ werden in der Planungstheorie und -praxis zahlreiche unterschiedliche Hoffnungen und Ansprüche verknüpft, ebenso vielfältig sind die Ansichten darüber, was der Begriff Zivilgesellschaft umfasst. Diese Diskussion kann hier nicht weiter verfolgt werden, wird jedoch ausführlich dargestellt in: Schönig (2007:138-139).
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der berühmtesten Beispiele hierfür ist der „Regional Plan of New York and Its Environs“. Dieser Plan wurde von einer Stiftung, der Russel Sage Foundation finanziert. Er wurde kurz vor Beginn der Weltwirtschaftskrise im Mai 1929 veröffentlicht. Seine größte Wirksamkeit aber entfaltete er ab 1933 – mit dem Beginn der Phase starker staatlicher Planung unter Franklin D. Roosevelts New Deal. Oftmals wird in der Diskussion um die Stärkung der Zivilgesellschaft vermutet, dass zivilgesellschaftliches Engagement durch staatliche Aktivitäten schlicht ersetzt werde. Der Grad staatlicher Regulierung gilt in konservativneoliberaler Argumentationen als entscheidender Faktor für den Grad gesellschaftlicher Selbstorganisation: „Je größer die politische Gesellschaft, das heißt je umfangreicher der durch Zwang organisierte Bereich menschlicher Tätigkeit ist, um so kleiner und schwächer ist die Zivilgesellschaft, jener Teil der menschlichen Gesellschaft also, der sich nach Prinzipien der Freiwilligkeit ordnet.“ (Zum Beispiel Raeder 2000:42) Der unterschiedliche Grad gesellschaftlicher Selbstorganisation in Europa und den USA wird in dieser Argumentation erklärt als ein Ergebnis unterschiedlich weitreichender staatlicher Regulation. Folgerichtig ließe sich eine Stärkung der zivilgesellschaftlichen Organisation über den Rückzug des Staates erzielen, staatliche Regulierungen hingegen kommen quasi einer Entmachtung der Zivilgesellschaft gleich. Diese These wird sowohl von aktuellen empirischen Forschungen, die die Non-profit-Sektoren von Staaten mit stark und schwach ausgebautem Sozialstaat vergleichen als auch von historischen Studien, die die Entwicklung des Non-profit-Sektors in Abhängigkeit von der Entwicklung des Sozialstaats in den USA untersuchen, überzeugend widerlegt (vgl. zum ersten Salamon, 1999 und zum zweiten Skocpol: 2001). Historische Non-profit-Forscher sehen zwar in der Tat die Blütezeit der Gründung zivilgesellschaftlicher Organisationen in den USA zwischen 1860 und 1910 – in jener Zeit also, in der die industrielle Revolution und das rasante Stadtwachstum soziale Probleme und Unruhen generierten, die nicht von staatlichen Programmen aufgefangen wurden. Sie belegen aber zugleich ein sehr starkes Engagement dieser Organisationen gerade für die Schaffung staatlicher Regulierungen und zeigen zudem, dass sie ihre stärkste Professionalisierung und Wirksamkeit in der Phase der Kooperation mit staatlichen Institutionen erfuhren.3 3 | Der internationale Vergleich zeigte, dass von elf Ländern der Vergleichsstudie, die einen vergleichsweise stark ausgebauten öffentlichen Sozialstaat hatten, fünf nur vergleichsweise schwache Non-profit-Sektoren, während sechs sehr große Non-profit-Sektoren hatten (jeweils gemessen am Anteil der Beschäftigten). Umgekehrt gab es in acht der elf Ländern mit schwachem Sozialstaat auch einen sehr schwachen Non-profit-Sektor. (Salamon 1999:1415) Auch die historischen Konjunkturen zivilgesellschaftlicher Organisationen zeigen, dass die von konservativen Zivilgesellschaftstheoretikern immer wieder geäußerte These, dass der moderne soziale Versorgungsstaat ehrenamtliche Betätigung verdrängt habe, nicht zu halten ist. Zahlreiche von jenen Organisationen, die sich zwischen 1860 und 1910 gründeten, versuchten zwar tatsächlich, die (sozialen) Folgen von Marktversagen und nicht existenter staatlicher Steuerung zu kompensieren. Sie wirkten aber andererseits auf die Entwicklung
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Dies belegt für den Bereich der Regionalplanung auch der Fall des „Regional Plan of New York and Its Environs“. An seinem Beispiel lässt sich zeigen, dass zivilgesellschaftliche Akteure im planerischen Bereich für die Entstehung staatlicher Planung von großer Bedeutung waren, und wie zivilgesellschaftliche und staatliche Akteure gemeinsam die planerischen Paradigmen einer Stadtregion in komplexer gegenseitiger Ergänzung beeinflussen können. Eine Betrachtung dieses historischen Plans und des Versuchs, ihn zu implementieren, kann insofern auf die Potentiale der jeweiligen Akteure in einer solchen Kooperation aufmerksam machen. Umgekehrt demonstriert das Beispiel aber auch, welche Schwierigkeiten ein solches Ineinanderwirken zivilgesellschaftlicher und staatlicher Akteure mit sich bringt.
B USINESS C LUBS UND S TADTENT WICKLUNG IN DER US- AMERIK ANISCHEN S TADT UM DIE J AHRHUNDERT WENDE Zwischen 1850 und 1920 waren die Metropolenregionen der USA mit einer rasanten Industrialisierung und einem explosionsartigen, ungeplanten und ungesteuerten Stadtwachstum konfrontiert. Infolge dieser staatlich nicht regulierten kapitalistischen Expansion der Städte entstand eine urban crisis: Verkehrs- und Infrastrukturprobleme, soziale Unruhen und mangelhafte hygienische Zustände beeinträchtigten den reibungslosen Ablauf industrieller Produktion sowie den Transport von Gütern und die Lebensqualität in den Städten. Die meist mangelhafte, oft korrupte Stadtpolitik in den Metropolen war in keiner Weise dazu in der Lage, die Folgen der rasanten Entwicklungen zu steuern – hierzu fehlten nicht zuletzt die rechtlichen und planerischen Instrumente. (Boyer 1983:121) Mit der urban crisis waren Standortfaktoren bedroht, die im nationalen Wettbewerb um die Stellung als Umschlagsort von Gütern, um Industrieund Gewerbeansiedlung sowie Einwohner für die Städte von entscheidender Bedeutung waren.4 Es bedurfte daher tiefgreifender Reformen, mit denen die Funktionalität der Stadt und der Stadtregion wiederhergestellt, beziehungsweise staatlicher Programme hin, die ihre Aufgabe übernehmen sollten und drängten von Anfang an auf öffentliche Programme. Ihre Blütezeit im Hinblick auf den Grad gesamtgesellschaftlicher Organisation gemessen an der Zahl der Mitglieder hatten die Organisationen jedoch zu jener Zeit, als staatliche Regulierung durchgesetzt war und sie die staatlichen Behörden bei der Durchführung von Sozial- oder Dienstleistungen für Menschen unterstützen. (Skocpol 2001:635) Gerade zu jener Zeit aber, als auch staatliche Deregulierung in den USA begann, in den 1980er Jahren, setzte der Mitgliederschwund der großen Mitgliedsorganisationen ein. 4 | Fishman bezeichnet die Phase von 1830 bis 1930 als „urbanen Merkantilismus“. „During our urban century from 1830-1930 the power to shape the American economic system lay not with the federal government or the states but with the cities. These cities operated in ways that recalled the independent city-states of the Middle-Ages: they pursued their separate economic interests in intense competition with other cities.” (Fishman 2000a:6)
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bewahrt werden und damit ökonomisches Wachstum langfristig gesichert werden sollte. Während die Städte in Reaktion auf die mangelhaften Zustände öffentliche Dienstleistungen wie zum Beispiel Wasserver- und -entsorgung, Abfallentsorgung etc. aufbauten, um Arbeitskräfte und Unternehmen von Abwanderungen abzuhalten, entstanden von Seiten der Zivilgesellschaft vielerorts Initiativen, die Lösungen für die drängendsten Fragen der urban crisis im Bereich Stadtentwicklung, Städtebau und Planung suchten. Diese Initiativen richteten beispielsweise erste Formen des sozialen Wohnungsbaus ein (Putnam 2000:393-395), gründeten Kindergärten (Skocpol 2001:621), traten für die Gründung von Gartenstädten ein (Schaffer 1993:93), engagierten sich für die Verschönerung des Stadtraums, drängten auf die staatliche Bereitstellung öffentlicher Grünflächen oder die Verbesserung der Stadtregierung. Sie wurden mehrheitlich von der städtischen und regionalen (oberen) Mittelklasse, zum Teil auch von der urbanen Oberklasse getragen.5 (Wilson 1989:41) In diesem Kontext entstanden auch planerische Initiativen der ökonomischen Eliten, der die mit der urbanen Krise einhergehenden Wettbewerbsnachteile in besonderem Maße Sorgen bereitete. Den Unternehmern und Grundstücksbesitzern, die sich in diesem Sinne engagierten, ging es nicht zuletzt um ihre eigenen ökonomischen Interessen, die eng mit der Prosperität der Metropole verbunden waren: Die urban crisis bedrohte die städtischen Standorte ihrer Unternehmen, (Boyer 1983:121) da deren Wirtschaftlichkeit und Profitabilität auf funktionierende Verkehrs- und Infrastruktursysteme sowie ausreichend gesunde und geeignete Arbeitskräfte angewiesen war. Der flächendeckende Niedergang urbaner Quartiere verhinderte zugleich einen Wertzuwachs der Bodenpreise und weiteres ökonomisches Wachstum würde nur dann generiert werden können, wenn durch stabile Bodenpreise und hohe Lebensqualität die derzeitigen Einwohner der Stadt gehalten und neue Einwohner und Investoren angelockt werden würden. (Moskowitz 1998:313) Diesen Zielen aber standen die verheerenden und ungesunden Lebensbedingungen, die sozialen Unruhen, die mangelhafte Verkehrsinfrastruktur und mangelhafte Stadtstruktur der Städte, ebenso wie ihre Unfähigkeit, diese Probleme zu beheben, entgegen. Aus diesen Gründen schlossen sich Vertreter der ökonomischen Eliten in zivilgesellschaftlichen Vereinigungen der lokalen Wirtschaftselite chambers 5 | Dabei stand diese Bewegung in enger Verbindung zum inhaltlich sehr viel breiteren progressive movement: „Middle-class and upper middle class people inspired and staffed the widely ranging progressive movement. Their aims included the spreading of the middle-class values through the uplift of the unfortunates and the establishment of their own cultural hegemony. They promoted the adoption of business efficiency in government and in private, nonbusiness realms such as reform and philantropic organizations. They wished to tame the apparently disorganized, wildly growing city and to establish or restore a sense of community – that is feelings of civic responsibility, of commitment to a common purpose, and of municipal patriotism. […] They believed that they could reform through succesive approximations of their urban ideal – a clean, beautiful, well-governed city – and eventually achieve a heaven on earth […].” (Wilson 1989:41)
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of commerce merchants committees oder commercial clubs zusammen. Durch diese Einrichtungen erhoffte sich die ökonomische Elite einerseits, ihren politischen Einfluss in den Kernstädten der Metropolenregionen zu stärken und auch jenseits der offiziellen politischen Wege stadtpolitische Entscheidungen in den Kernstädten im Sinne einer prosperitätsorientierten Stadtentwicklung mitzugestalten, da sie sich als Einwohner suburbaner Gemeinden in den Stadtparlamenten nicht ausreichend vertreten sahen. (Boyer 1983:122) Andererseits wollten sie durch das Engagement in ihren Klubs und Vereinen der urbanen Krise auch unmittelbar selbst gemeinsam entgegen treten. (Boyer 1983:121) Durch Civic improvement-Maßnahmen sorgten sie für die attraktive Gestaltung und Ordnung des öffentlichen Raums und öffentlicher Einrichtungen. (Talen 2005:76; Wilson 1989:41-42) Sie befassten sich mit Fragen städtischer Infrastruktur, öffentlicher Hygiene oder institutioneller Organisation städtischer Verwaltung. In besonderem Maße stellte sich angesichts der urbanen Krise für Akteure der ökonomischen Eliten jedoch die übergeordnete Frage, auf welche Weise das urbane Wachstum und seine Folgen in der Kernstadt und der Stadtregion so organisiert werden könnte, dass es auch mittel- und langfristig nicht zum Kollaps des urbanen Systems kommen würde. Dieses Interesse an einer langfristigen Erhaltung der Funktionalität und Prosperität der Metropolen als Grundlage der individuellen ökonomischen Existenz machte es notwendig, den Blick über die Kernstadt hinaus in die Metropolenregion zu wenden, deren Entwicklung mit einzubeziehen und brachte schließlich erste Formen zivilgesellschaftlich getragener Metropolenplanung hervor. Die Geschäftsmänner und Planer, die auf diese Weise die Entwicklung der gesamten Metropolenregion in den Blick nahmen, prägten durch ihr Engagement die wesentlichen Leitbilder metropolenweiter Planung der USA und hoben die metropolenweite Entwicklungsplanung als solche in den USA aus der Taufe. Es entstanden Pläne, die Visionen für die Entwicklung der Metropolregion entfalteten, deren Erstellung durch professionelle Planer die finanzstarken lokalen Eliten finanzierten und für deren Implementierung sie öffentlich um Unterstützung warben.6 Ähnlich wie vom Commercial Club in seinem BurnhamPlan formuliert, agierten die Business Clubs bei der Suche nach Strategien zur Gestaltung der Metropolenregionen nach der Überzeugung, dass urbanes, marktgesteuertes Wachstum allein langfristig nicht die richtige Strategie sein würde: „[T]he formless growth of the city is neither economical nor satisfactory; and that overcrowding and congestion of traffic paralyze the vital functions of the city.” (Burnham 1909 [1993]:1). Unter diesen Plänen hat neben dem berühmten Plan of Chicago von Daniel Burnham, finanziert durch den Commercial Club of Chicago, 1909 im Stil des city beautiful movements, der „Regional Plan of New York and Its Environs“ die größte Berühmtheit erlangt. 6 | Produziert wurden beispielsweise die folgenden Pläne: Commercial Club of Chicago: Plan of Chicago, 1909; Regional Plan Association: Regional Plan of New York and its Environs, 1927-1933; Los Angeles Chamber of Commerce’s Citizens Committee: Parks, Playgrounds and Beaches for the Los Angeles Region, 1930.
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„M ASTERING THE M ETROPOLIS “: D ER „R EGIONAL P LAN OF N EW YORK AND ITS E NVIRONS“ Entwicklung und Finanzierung des Plans Die Initiative für die Erarbeitung eines Regionalplans für die Metropolitan Area New York ergriff Charles Dyer Norton, der seit 1911 in New York lebte und Vizepräsident der First National Bank of New York war (Hays 1965:7). Norton hatte die Erarbeitung des Burnham-Plans in Chicago angestoßen und war durch diese Erfahrung in vielfacher Hinsicht geprägt. Nachdem seine Versuche, einen Regionalplan in Zusammenarbeit mit der öffentlichen Hand zu erarbeiten 1917 gescheitert waren, startete er, als er 1918 Schatzmeister und Trustee der Russell Sage Foundation wurde, einen erneuten Versuch.7 Es gelang Norton den Vorstand der Russell Sage Foundation, der angesichts der regionalen Dimension des Projektes zögerlich war, davon zu überzeugen, das über mehrere Jahre projektierte Unternehmen eines Regionalplans für die Metropolenregion zu finanzieren. (Hall 1996:165) Von der ersten Voruntersuchung bis zur Veröffentlichung des Plans 1929 stellte die Russell Sage Foundation – ohne die Ausgaben für Büronutzung und außerplanmäßige Mitarbeiter – 1.196.768 Dollar für das Projekt zur Verfügung (Hays 1965:15). Ein zehnköpfiges Committee on the Regional Plan leitete die Arbeiten am Regionalplan. Neben inhaltlichen Experten versammelte das Komitee Mitglieder aus dem Kuratorium der Stiftung sowie einflussreiche Persönlichkeiten aus der Region (Hays 1965: 15-16). Ein interdisziplinäres Team von Architekten, Planern, Landschaftsarchitekten, Ökonomen und Ingenieuren sollte den Plan erarbeiten. Diesem Stab stand ab 1923 der schottische Planer und Mitbegründer der britischen Garden City Association Thomas Adams als General Director of Plans and Surveys vor (Hall 1996:165). Die Aufgabe war es, einen Plan zu entwerfen, der als Grundlage für die stadtregionale Entwicklung der nächsten vierzig Jahre taugen würde. Der Plan sollte ein Gebiet von fast 13.000 Quadratkilometern abdecken, in dem etwa neun Millionen Menschen lebten. Das Plangebiet erstreckte sich über drei verschiedene Bundesstaaten, 21 Counties und 400 Gemeinden.
Wachstum er wünscht: Metropolitanism als planerisches Leitbild und Planungsziele des RPNYE Der „Regional Plan of New York and Its Environs“ (Abb. 1) wurde zwischen 1927 und 1933 in Form von acht Forschungsstudien und zwei Plan-Bänden veröf-
7 | Die Russell Sage Foundation war (und ist bis zum heutigen Tag) eine Stiftung, die sich per Satzung verpflichtet hat, mindestens 25 Prozent ihres Budgets für das Wohlergehen der Region New York aufzuwenden (Hays 1965:11). Sie finanzierte unter anderem diverse Projekte des Reformwohnungsbaus wie zum Beispiel Sunnyside Gardens und Forrest Hills in Brooklyn sowie die Siedlung Radburn in New Jersey.
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fentlicht. Die acht so genannten survey volumes lieferten sektorale regionalräumliche Untersuchungen in den Bereichen Ökonomie, Siedlungsbau und Grünflächen, Wohnungsbau sowie Individual-, Fracht- und Nahverkehr.8 Die beiden Plan-Bände enthielten Karten, Pläne sowie detaillierte Beschreibungen für die insgesamt 470 Einzelprojekte des Regionalplans. In ihren Plan integrierten die Autoren neben eigenen Vorschlägen zahlreiche Planungen öffentlicher Behörden, einzelner Kommunen oder anderer Personen oder Gruppen. Der Plan reklamierte insofern nicht in erster Linie Originalität, sondern war vielmehr die Vision einer integrierten regionalen Gesamtplanung. Als solche war er nicht nur dazu gedacht, reale Entwicklungen zu beeinflussen, er sollte als Katalysator regionaler Planungsstrategien dienen und das Bewusstseins für die Interdependenz regionaler Entwicklung stärken. Der „Regional Plan of New York and Its Environs“ (RPNYE) prognostizierte ein enormes Wachstum der Stadtregion. Von 1920 bis 1965 sollte die Bevölkerung der Region von 8,9 Millionen auf über 21 Millionen steigen (Johnson 1988:178). Um diese Expansion zu bewältigen, waren nach Ansicht der Planer eine koordinierte stadtregionale Planung sowie gravierende städtebauliche und planerische Maßnahmen notwendig, die angesichts der diffusen Governance-Struktur der Stadtregion schwerlich umgesetzt werden konnten, denn in der Metropolenregion beeinflusste eine Vielzahl von Akteuren die räumliche Entwicklung: Quasi-staatliche Behörden, Einzelkommunen und auch private Akteure, wie private Bahnunternehmen. Zudem existierte auch innerhalb der einzelnen Kommunen überwiegend keine institutionalisierte Planung. Dieser Situation zum Trotz sollte der RPNYE die Möglichkeit einer integrierten Regionalplanung beweisen. Zudem sollte er für die Institutionalisierung von Planung werben: In der Öffentlichkeit, gegenüber den privaten und staatlichen Akteuren sowie gegenüber den Kommunen (Hays 1965:5455).
8 | Folgende sektorale Studien wurden veröffentlicht: Band 1: Major economic factors in metropolitan growth and arrangement (Robert Murray Haig, 1927), Band 2: Population, land values and government; Studies of the growth and distribution of population and land values and of problems of government (Thomas Adams et al., 1929); Band 3: Highway Traffic (Harold M. Lewis, 1927); Band 4: Transit and transportation and a study of port and industrial areas and their relation to transportation (Harold M. Lewis, 1928); Band 5: Public recreation (Lee F[ranklin] Hanmer, 1928); Band 6: Buildings, their uses and the spaces about them, darin enthalten drei Bände zu den Einzelthemen: The Character, bulk & surroundings of buildings (Thomas Adams, 1931), Housing conditions in the New York region (Thomas Adams und Wayne D. Heydecker, 1931), Control of building heights, densities and uses by zoning (Edward M[urray] Bassett, 1931); Band 7: Neighborhood and community Planning (Clarence Perry, 1929); Band 8: Physical conditions and public services (Harold M[acLean] Lewis, 1929)
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Abb. 1: Plangebiet des „Regional Plan of New York and Its Environs”, definiert 1921 durch das Committee of the Regional Plan
Inhaltlich folgte der RPNYE dem planerischen Leitbild des metropolitanism, das darauf zielte, die Metropolen als ökonomische Wachstumszentren zu stärken. Entsprechend lehnte der metropolitanism urbanes Wachstum nicht ab, sondern war darauf ausgerichtet, selbiges durch technischen Fortschritt, Städtebau, Planung und baurechtliche Regulierungen zu organisieren, um aus der chaotischen, schmutzigen und gefährlichen Großstadt des 19. Jahrhunderts einen langfristig leistungsfähigen Organismus zu machen (Vgl. hierzu Fishman 2000b:68-69). Entsprechend entwarfen die metropolitanists integrierte Planungen für Städtebau, Flächennutzung, Verkehr sowie regionale Grünflächenplanungen. Im Sinne des city beautiful movements legten sie auch Wert auf die städtebaulich attraktive Gestaltung solcher technischen Innovationen. Die metropolitanists dachten die Stadtregion als System konzentrischer Kreise, deren Bezugspunkt und Kern downtown darstellt. Deren baulichräumliche und funktionale Reorganisation stand daher auch im Zentrum der Aufmerksamkeit (Abb. 2). Downtown sollte nicht nur das kulturelle, wirtschaftliche und politische Zentrum der Region sein, sondern auch zum identitätsstiftenden civic center werden, das als Zentrum und Wahrzeichen
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der Stadt und ihrer Bürgerschaft baulich-räumlich ausgezeichnet werden würde. Durch ein flächendeckendes Verkehrssystem sollte downtown für alle Bewohner der Metropolenregion erreichbar sein. Abb. 2: Zonierung der metropolitan area, gezeigt im Volume 1 des RPNYE „Major economic factors“. (Quelle: Fishman 1992:108)
Der RPNYE sieht entsprechend eine umfangreiche städtebauliche und architektonische Umgestaltung des Stadtzentrums, das heißt Lower Manhattans und Midtown Manhattans, inklusive repräsentativer öffentlichen Gebäude in einem neuen civic center und aufwendig gestalteter Uferzone vor (Abb. 3). Zusätzlich aber empfiehlt der Plan auch eine weitgehend funktionale und folgerichtig auch soziale Neuordnung dieses Stadtbereichs (Fishman 2000b:66). Die Bevölkerungsdichte in Downtown Manhattan sollte verringert und die produzierende Industrie weitgehend verlagert werden. Downtown Manhattan sollte quasi zum ersten „post-industrialisierten“ Zentrum umgebaut und sozial wie ökonomisch aufgewertet werden. Diese Umgestaltung und Aufwertung sollte neben baulichen und infrastrukturellen Maßnahmen vor allem durch baurechtliche Regulierungen durchgesetzt werden: Der RPNYE enthielt umfangreiche Studien über notwendige und wünschenswerte Zoning-Regulierungen, das heißt Regulierungen, mit denen Nutzung, Art und Maß der Bebauung, Bebauungsdichte und Höhe festgelegt werden.
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Abb. 3: Vorschlag aus dem RPNYE für die Neugestaltung der Uferzone in Downtown Manhattan entlang des East Rivers mit Uferpromenade, zweistöckiger Verkehrstrasse (getrennt nach Geschäftsverkehr auf der unteren und Spazierfahrten auf der oberen Trasse) und prächtigen Wohnbauten
Industrie und Industriearbeiterschaft sowie die Mittelschicht sollten stattdessen in der breiten Industrial Zone angesiedelt werden, die sich als breiter Gürtel um Downtown legte. Anders als die Slums der Großstadt des 19. Jahrhunderts aber sollte die industrial zone städtische Quartiere umfassen, in denen Wohnen und eine modernisierte industrielle Produktion nebeneinander existieren sollten, ohne dass das Wohnen durch die Produktionsstätten beeinträchtigt werden sollte. Gleichzeitig sollte die industrial zone ausreichend dicht sein, um eine weitere Zersiedelung der Stadtregion aufzufangen. Die industrial zone sollte nicht nur wirtschaftlich produktiv, sondern auch ein angenehmer Wohnort für die Mehrheit der Bevölkerung sein (Fishman 2000b:66). Jenseits dieser Zone, am Rand der Metropolenregion sahen die Autoren des RPNYE Grünzonen mit Farmen, Wäldern und Wiesen, in die einzelne Wohnvororte eingestreut sein sollten, die einer relativ kleinen Elite vorbehalten bleiben sollten (Fishman 2000a:14). Trotzdem sollte gewährleistet sein, dass diese so genannte outer zone als Erholungsraum der Stadtregion erhalten bliebe. Zu diesem Zweck durchzogen parkways und Grünzüge die Stadtregion und sollten die wohnortnahe Existenz von Naherholungsräumen sichern. Das regionale Bahnnetz (Abb. 4) und das Straßen-System (Abb. 5) mit parkways und highways sowie neuen Brücken und Tunneln sollten die suburbs und entfernteren Zentren der outer zone, aber auch die industrial zone mit Manhattan verbinden. Durch einen Ring aus Schienen und Straßen wurden aber auch die äußeren Teile der Stadtregion miteinander verbunden.
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Abb. 4: Planung des RPNYE für das regionale Bahnnetz
Die im RPNYE sichtbare Zonierung der Stadtregion beschreibt Robert Fishman als Essenz des konzeptionellen Stadtverständnisses der metropolitanists, die die Grundlage der geordneten Expansion und des funktionierenden stadtregionalen Organismus im Sinne des metropolitanism bilden sollte. Um die baulich-räumlich, sozial und ökonomisch aufgewertete downtown legen sich in konzentrischen Ringen zwei weitere Zonen der Stadtregion, denen jeweils eine eigene Funktion und räumliche Gestaltung sowie auch eine bestimmte Bevölkerungsgruppe im Gesamtsystem der Stadtregion zugewiesen werden. Diese funktional, sozial und baulich-räumlich neu geordnete Stadtregion sollte jedoch durch ein regionales, auf das Zentrum Midtown Manhattan orientiertes Verkehrsnetz vernetzt werden. Insgesamt standen im RPNYE Strategien zur räumlichen Entwicklung der Region gegenüber sozialen und politischen Strategien deutlich im Vordergrund (Hays 1965:29). Der letztlich veröffentlichte Plan klammerte – ebenso wie Burnhams Plan für Chicago – die Auseinandersetzung mit den drängenden sozialen Problemen und den verheerenden Wohnungsbedingungen der Arbeiterschicht insbesondere in New York vollkommen aus, obgleich dazu sogar Forschungen durchgeführt wurden.
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Abb. 5: Highway-Planung des RPNYE mit Kennzeichnung der planerischen Übernahmen von Straßenplanungen anderer Institutionen
Vom Plan zur Wirklichkeit: Rezeption und Implementierung des RPNYE Am 27. Mai 1929 wurde der Plan im Rahmen eines Dinner-Treffens mit ausgewählten Repräsentanten der Stadt New York und den drei beteiligten Staaten offiziell überreicht. Die zweistündige Zeremonie wurde im Radio übertragen. Im Anschluss an das Dinner wurde der Plan bei einer Anhörung, an der über 2.000 Personen teilnahmen, einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt und die Gründung der Regional Plan Association verkündet (Johnson 1996:175). Zwar hatte das Committee on the Regional Plan schon 1925 ein Regional Council gegründet, in dem einflussreiche Personen aus der gesamten Region versammelt waren und das als Vehikel zur Verbreitung der Planvorschläge durch Multiplikatoren und Führungsfiguren aus der Region fungieren sollte (Johnson 1996:175), die nun neu gegründete Organisation sollte jedoch als eigenständige und operative Organisation für die Implementierung der Vorschläge des Planes werben. Um eine breitere öffentliche Resonanz in der Stadtregion zu sichern, wurde 1930 das von dem Journalisten R. L. Duffus verfasste Buch „Mastering a Metropolis“ über den Regional Plan veröffentlicht, in dem die wesentlichen Grundlagen und Planungen des zehnbändigen Werkes für Laien verständlich zusammengefasst und bebildert waren (Duffus 1930).
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Der Plan wurde von der Unternehmerschaft und der öffentlichen Hand inhaltlich unterstützt. Er erntete aber auch heftige Kritik, unter anderem von dem Journalist und Stadthistoriker Lewis Mumford. Mumford brandmarkte vor allem die affirmative Haltung des Plans gegenüber einem weiteren Wachstum der Metropolregion. Er warf den Autoren vor, ihren Plan nach den Interessen der Business Community, das heißt der Finanziers des Planes, ausgerichtet zu haben. Sie seien einem „konservativen Pragmatismus” gefolgt: „The Russell Sage Planners did not take advantage of their theoretical freedom: they were so eager to fasten to a viable solution, a solution acceptable to their committee full of illustrous names in financial and civic affairs, to the business community generally, to the public officials of the region, that they deliberately restricted the area of their question.” (Mumford, zit. nach Johnson 1996:191). Tatsächlich bleiben viele der Planungen aus sozialer Perspektive und im Vergleich mit den radikalen Visionen der städtebaulichen und planerischen Moderne erstaunlich konservativ. Insgesamt will der Plan die räumlichen Grundlagen für ökonomische Prosperität schaffen und folgt damit in der Tat den Interessen der unternehmerischen Elite der Stadtregion. Auch räumlich ist der Plan auf das ökonomische Zentrum der Region und die Wohnorte der oberen Schichten und der Mittelklasse am Rand der Stadtregion konzentriert. Einen Ansatz zur Lösung der verheerenden Wohnungsbedingungen der Arbeiterschicht blieb der Plan schuldig – trotz der geplanten Entdichtung der Arbeiterquartiere in Manhattan. Verzichtet wurde auch auf die Forderung einer stadtregionalen Planungsbehörde (Vgl. hierzu Johnson 1996:175). Der Generaldirektor des Plans, Thomas Adams, betrachtete hingegen gerade diese pragmatische und konservative inhaltliche Ausrichtung als Schlüssel einer erfolgreichen planerischen Intervention in der metropolitan area. Nur auf diese Weise könne der Plan seiner Meinung nach auf Akzeptanz stoßen und von den einflussreichen Multiplikatoren aus der Oberschicht, den politischen Akteure sowie durch die breite Öffentlichkeit der Mittelschicht unterstützt werden und damit die Bedingung für die Umsetzung der im Plan genannten Projekte schaffen.
Bedeutung des RPNYE für die Transformation der Stadtregion Wie die Bedeutung des RPNYE für die räumliche Entwicklung von New York und Umgebung einzuschätzen ist, ist äußerst umstritten. Die Prognosen hinsichtlich der Bevölkerungsentwicklung und ihrer räumlichen Verteilung, zur Siedlungsentwicklung und zum Motorisierten Individualverkehr waren schon nach etwa einem Jahrzehnt widerlegt: Die Bevölkerung in der Stadtregion wuchs wesentlich langsamer als prognostiziert. 1965 hatte die Metropolenregion erst 17,3 Millionen statt der anvisierten 21 Millionen Einwohner (Johnson 1988:178). Die Fläche urbanisierten Landes hatten die Planer zwar in etwa richtig eingeschätzt, doch verteilte sich die Bevölkerung räumlich nach anderen Mustern, eher entlang der Highways statt entlang der Bahntrassen
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und erheblich weniger dicht als erwartet (Johnson 1996:259). Mit Blick auf die Automobilisierung prognostizierten die Planer zwar recht realistisch, dass 1965 jeder dritte Einwohner der Region ein Automobil besitzen würde, sie rechneten aber nicht damit, dass das Auto den Öffentlichen Nahverkehr auch als Verkehrsmittel für den Arbeitsverkehr weitgehend ersetzen sollte (Johnson 1996:262). Die unbestrittene Leistung des Regional Plan ist sicher, dass er die Vielzahl sektoraler oder teilräumlicher Planungen in einen umfassenden regionalen Gesamtplan gegossen hat. Damit schuf er ein visualisiertes Ideal stadtregionaler Entwicklung, das auch für die zentralen Akteure der Region verständlich war und damit auch den geplanten Einzelprojekten Bekanntheit verschaffte. In den USA gilt der Plan außerdem als erster sektoral und räumlich integrierter Regionalplan. Wie erwähnt wurden zahlreiche Projekte aus Planungen anderer Institutionen in den Plan integriert. Die Ideen für diese Projekte gehen also nicht originär auf den Plan zurück. Trotzdem hatten der Plan und die Regional Plan Association, die für die Sache des RPNYE nun in der Stadtregion warb, eine wichtige Bedeutung für ihre Realisierung. In ihrem ersten Implementationsbericht „From Plan to Reality“ konnte die Regional Planing Association 1932 auf eine stolze Reihe von Projekten aus dem Plan verweisen, die implementiert worden waren (Johnson 1996:245-246). 1932 waren 28 von 51 Projekten, die im Plan als dringend eingestuft worden waren, vollendet oder im Bau, insbesondere im Bereich Straßen- und Grünflächenplanung; sechs County Planning Commissions und 44 neue lokale Planungsbehörden waren eingerichtet worden. Der größte Teil der realisierten Projekte war allerdings schon vor 1929 durch staatliche Behörden beschlossen und finanziert worden. Doch 1932 hatte sich die ökonomische Krise verstetigt und die ökonomische Prosperität, mit der der Plan kalkulierte, schien in der Stadtregion New York endgültig beendet. Damit versiegten die Quellen privater Investition, die der Plan voraussetzte (Johnson 1996:246). Letztlich jedoch wurde gerade die in Reaktion auf diese Krise installierte nationalstaatliche Regulierung und die auch nach dem Zweiten Weltkrieg andauernde nationalstaatliche Intervention in Stadt- und Regionalentwicklung in den USA zum Katalysator des RPNYE: Ab 1933 setzte die Bundesregierung unter Franklin D. Roosevelt im Rahmen des New Deal erhebliche Gelder für die Durchführung großer öffentlicher Infrastruktur frei, mit deren Einsatz die Wirtschaft nach der Depression stimuliert werden sollte. Entsprechend waren die Förderinteressen der Roosevelt-administration – trotz der ihr allgemein attestierten Sympathie für räumliche Planung – auf die ökonomische Auswirkung planerischer Maßnahmen fokussiert. Diese folgten keinem ausformulierten und einheitlichen planerischen Leitbild (Vgl. hierzu Hancock 1988; Fishman 2000a:15-16). Vielmehr ignorierte die Politik des New Deal weitgehend die planerischen Probleme der Metropolenregionen: Jene der Kernstädte ebenso wie jene des Umlands, denn: „The New Deal never developed a policy for cities or urban regions.“ (Hancock 1988:218). Einzelne planerische Strategien, wie zum Beispiel Wohnungsbau, Straßenbau, Brückenbau etc.
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wurden als „ökonomisches Adrenalin“ eines nationalökonomischen Programms genutzt, doch verkörperten sie kaum für sich genommen ernsthafte Ziele der Roosevelt Administration (Sussman 1976:42). Entsprechend fragmentarisch – wenn auch in der Summe der Projekte und der räumlichen Bedeutung für die Metropolenregion nicht unerheblich – ist das, was von der Vision des RPNYE mit Hilfe der Gelder des New Deal realisiert wurde. Gefördert wurden vor allem Infrastrukturplanungen, Straßenplanungen, Brücken- und Tunnelbauten (Johnson 1996:246-250). 1942 waren beispielsweise 37 Prozent der im Plan vorgesehenen Highway-Planungen realisiert, der metropolitan loop war zu 41 Prozent fertig gestellt, die Lincoln und Queens Midtown Tunnel sowie die Whitestone Bridge waren eröffnet. Weitere Tunnel und Straßenplanungen waren beschlossen (Johnson 1996:249250). Einfluss in diesem Sinne zeitigte der RPNYE auch nach 1945 wieder, der durch die Ausschüttung nationaler Fördermittel im Rahmen des urban renewal und des Highway-Baus entstand: Voran getrieben wurden nicht nur zahlreiche weitere der Highway- und Straßenplanungen des RPNYE (Abb. 6), sondern auch der funktionale Umbau und die Entdichtung von Downtown und Midtown Manhattan (Vgl. hierzu Johnson 1996:266 und 269). Abb. 6: Expressways, parkways und state highways, Bestand 1965
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Im Gegensatz zum Straßennetz wurde hingegen das Nahverkehrssystem nicht ausgebaut (Abb. 7), da Mittel der Bundesregierung nur für Projekte der Öffentlichen Hand zur Verfügung standen nicht aber für den Ausbau des privat betriebenen Nahverkehrs und des dazu gehörigen Schienennetzes. Zudem behinderte die Konkurrenz der acht Eisenbahngesellschaften der Region eine koordinierte Expansion des Netzes (Johnson 1996:159). So wurden zwar relevante Teile der Straßen- und Autobahnplanungen des RPNYE umgesetzt, die Planungen zum Ausbau des Schienenverkehrs blieben hingegen Makulatur (Yaro 2000:56). Aus Rentabilitätsgründen wurden stattdessen zahlreiche Linien nach 1945 still gelegt. Auch die geplanten Parks und Grünzüge blieben überwiegend Ideen auf dem Papier, da der staatliche Ankauf von Grünflächen nach der Depression weitgehend zum Erliegen kam, insoweit er nicht geeignet schien, wirtschaftliche Aktivität zu steigern und Arbeitsplätze zu schaffen (Johnson 1996:247). Folgenlos blieben auch die Planungen zur Konzentration von Siedlungsentwicklung in suburbanen Zentren (Johnson 1996:268). Mit Blick auf die Institutionalisierung und Akzeptanz von Planung war der Plan hingegen sehr erfolgreich: Die planungsfreundliche Roosevelt Administration machte die Finanzierung von Infrastrukturprojekten durch Bundesmittel von der Existenz kommunaler Planungsbehörden und planungsrechtlicher Standards abhängig. Damit erhielt der Ruf nach institutionalisierter öffentlicher Planung durch die Bundesregierung Unterstützung und die Zahl der kommunalen und County-weiten Planungsbehörden in der Stadtregion wuchs (Hays 1965:28; Johnson 1996:248 und 250). Da die Regional Plan Association bei der Institutionalisierung von Planung über konkurrenzlose technische Expertise verfügte, wurde sie zu einer bedeutenden Beratungsinstitution für die Kommunen in der Stadtregion (Hays 1965:57). Zugleich stieg das Interesse an regionaler, integrierter Planung. Denn die Bundesbehörden stellten Gelder nur für Projekte bereit, die in einen umfassenden Masterplan eingebunden waren. Allein die RPA und die Autoren des Plans aber hatten mit integrierten regionalen Planungsstrategien Erfahrung. Sie stellten ihre Expertise auch in diesem Sinne für die Kommunen und zur Fortbildung kommunaler Akteure zur Verfügung. Zudem ließen sie sich selbst in die Arbeit der Kommunen und die öffentlichen Verwaltungen einbinden. Auf diese Weise konnten sie den RPNYE und seine planerischen Prämissen als Grundlage der Planungen in den einzelnen Kommunen vermehrt zum Tragen bringen. Diese Beteiligung der Autoren und Träger des RPNYE an kommunalen Planungsprozessen aber verstärkte zusätzlich das Bewusstsein für die Interdependenzen der Stadtregion und erhöhte die Bekanntheit des Plans (Hays 1965:54-55). Zugleich förderte der Plan insgesamt ein Klima der Akzeptanz nicht nur für staatlich institutionalisierte Planung, sondern auch für Großprojekte der Stadtplanung gerade innerhalb der ökonomischen und politischen Elite, das die massiven Stadtumbauprojekte der 1930er bis 1960er Jahre ermöglichte (Johnson 1996:269).
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Abb. 7: Regionales Schnellbahnsystem, Bestand 1965
FA ZIT Das Beispiel des „Regional Plan of New York and Its Environs“ zeigt mit Blick auf die Frage nach dem Verhältnis staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure und ihre jeweilige Rolle bei der Entstehung sozialstaatlich geprägter Planungssysteme das Folgende: Der Aufbau staatlicher Planung wurde von den planerisch engagierten, zivilgesellschaftlichen Akteuren gewünscht und unterstützt, da staatliche Planung als Schlüssel zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der Stadtregion galt. Für diese Sichtweise warben die Autoren und Träger des RPNYE schon während der Planerarbeitung in der breiten Öffentlichkeit und vor allem bei den sozialen Eliten der Stadt. Doch erst die historisch spezifische politische und institutionelle Konstellation, die aus der Depression heraus im New Deal entstand, ermöglichte eine breite Wirkung dieser Reformbestrebungen: Es gab eine planungsfreundliche Bundesregierung, die die Vergabe von Bundesmitteln an die Existenz von Gesamtplänen und von Planungsbehörden koppelte. Ebenso bedurfte die Umsetzung ihrer konkreten Planungsprojekte schlagkräftiger staatlicher Institutionen. Solche Institutionen entstanden aber gerade zu jenem Zeitpunkt, in der die Ausnahmephase starker nationalstaatlicher Steuerung in den USA begann, mit dem New Deal unter Franklin D. Roosevelt.
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Umgekehrt aber griff die staatliche Planung beim Aufbau planerischer Institutionen in New York und Umgebung auf den RPNYE und die Kompetenzen seiner Träger und Autoren zurück: Sie profitierte von der zivilgesellschaftlichen Fähigkeit, für gesellschaftliche Hegemonie von Reformen zu werben. Denn die Akteure des RPNYE hatten über Jahre hinweg staatlich institutionalisierte Planung, wie sie im New Deal geschaffen wurde, propagiert. Auch das durch den Plan zivilgesellschaftlich geschaffene Wissen und die Kompetenzen der beteiligten zivilgesellschaftlichen Akteure in planerischen Feldern, waren für die neue staatliche Planung von großem Nutzen. Wie beschrieben nahmen staatliche Institutionen diese Kompetenzen vielfach in Anspruch. Nur mittelbar bestand der Einfluss der zivilgesellschaftlichen Eliten, die den RPNYE stützten und propagierten, also darin, einzelne Projekte durchzusetzen, sondern vielmehr darin, ihrer Vision von stadtregionaler Entwicklung nachhaltig Gehör zu verschaffen. Dies gelang ihnen vor allem durch technische Expertise und Beratung, Bildung und Aufklärung der Öffentlichkeit über die Bedeutung und mögliche Strategien von Planung sowie durch die Vernetzung mit potentiellen, einflussreichen Multiplikatoren der Region. Aufgrund des großen sozialen, kulturellen und finanziellen Kapitals, das ihnen für ihren Versuch zur Verfügung stand, die eigene Planungsvision zum hegemonialen Leitbild stadtregionaler Entwicklung zu machen, konnten sie auf diesem mittelbaren Weg Planung und Planungsstrategien in der Stadtregion wesentlich beeinflussen. Allerdings gelang es ihnen trotz ihrer aktiven Einbindung in staatliche Planungsaktivitäten nicht, ihre Gesamtvision umzusetzen. Vielmehr wurden wesentliche Aspekte der Gesamtvision ihres Plans angesichts der allein (national-)ökonomisch ausgerichteten Förderstrategie des Bundes und der lokalen staatlichen Akteure nicht realisiert. Nimmt man trotzdem diese indirekte Weise, Einfluss zu nehmen ernst, wird nicht nur deutlich, dass das Potential elitärer Non-profits wie der Regional Plan Association gerade in ihrer Fähigkeit zur (mindestens teilweise) diskursiven Verschiebung hegemonialer planerischer Leitbilder besteht. Es offenbart sich auch das Problem, das mit dieser Fähigkeit verbunden ist und dessen Aktualität auch heute angesichts der Finanznot öffentlicher Akteure und dem Wunsch nach stärkerem zivilgesellschaftlichen Engagement nicht zu unterschätzen ist – beispielsweise wenn Kölner Unternehmer der Stadt Köln einen „Masterplan Innenstadt“ schenken:9 Wenn die Öffentliche Hand ihr Wirken auf zivilgesellschaftlichem Engagement aufbaut, integriert sie zwangsläufig Akteure, die mit ihrem Engagement – legitimer Weise – eigene Interessen verfolgen. Das wird des „Regional Plan of New York and Its Environs“ und der Blindheit 9 | Der Verein „Unternehmer für die Region Köln“ bezahlt die Erarbeitung eines Masterplans für die Kölner Innenstadt durch Frankfurter Architektur- und Stadtplanungsbüro Albert Speer & Partner und stellt hierfür 500.000 Euro bereit. Die Stadt Köln hat dieses Engagement als Geschenk entgegen genommen und hat sich dazu verpflichtet, Materialien und Personal für die Erarbeitung des Plans bereit zu stellen. Informationen des Vereins unter: http://www. masterplan-koeln.de (zuletzt eingesehen am 11.04.2008)
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seiner Träger für die sozialen und wohnungspolitischen Fragen der Stadt- und Regionalentwicklung ganz deutlich. Zugleich aber sind die Möglichkeiten und Fähigkeiten, den eigenen Interessen durch zivilgesellschaftliches Engagement Nachdruck und Gehör zu verleihen, gesellschaftlich ungleich verteilt: Aus diesem Grund aber muss sich die öffentliche Hand darum bemühen, diese Ungleichheit durch faire Verfahren auszugleichen. Anderenfalls wird durch eine stärkere Einbindung zivilgesellschaftlichen Engagements in staatliche Planung einer Stärkung klientelorientierter Planungspolitik Tür und Tor geöffnet.
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Die Rotterdamer Projektgruppen Ein Beispiel für lokale Governance beim behutsamen Umbau der Stadt in den 1970er und 1980er Jahren. Ingrid Lübke
1. D ER G OVERNANCE -D ISKURS UND ERPROBTE M ODELLE ZUR D EMOKRATISIERUNG DER P L ANUNG Der Diskurs über „Governance“ wird in den Planungswissenschaften von Einigen als neuer Anstoß für eine „Politisierung des Denkens über Planung“ begriffen1. Assoziativ drängt sich damit die Frage nach den Erfahrungen und Modellen auf, die mit Ansprüchen einer Demokratisierung der Planung in den 1970er/1980er Jahren in verschiedenen europäischen Ländern entwickelt und praktiziert wurden2 . Denn viele der Modelle, die zwar größtenteils lokal und temporär wirksam waren, zeichneten sich dadurch aus, dass hier mit neuen Strukturen der Arbeitsteilung und Wechselwirkungen zwischen dem politisch-administrativen System, privaten Unternehmen und den verschiedensten Gruppen und Organisationen der Zivilgesellschaft experimentiert wurde. Die meisten Modelle partizipativer und kooperativer Planung waren und sind – wenn sie über die allgemeine Information, Anhörung oder Diskussion hinausgehen – auf die Quartiers- oder Stadtteilebene begrenzt. Sie entfalteten ihre Wirksamkeit für sehr unterschiedliche Zeiträume, auch abhängig von ihrer Aufgabenstellung sowie der politischen Kultur in der Stadt oder dem Stadtteil. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie sich einordnen in den politischen Rahmen der kommunalen Strukturen der repräsentativen Demokratie 1 | Nuissl, H., Heinrichs, D.: Zwischen Paradigma und heißer Luft: der Begriff der Governance als Anregung für räumliche Planung; in: Sparsamer Staat – Schwacher Staat?, Hrsg. Altrock, U. et al.: Planungsrundschau 13, 2006 2 | Die Autorin arbeitete von 1981 bis 1993 als Projektkoordinatorin für Stadterneuerung in verschiedenen Stadtteilen von Rotterdam. In diesem Beitrag werden also auch eigene Erfahrungen reflektiert.
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und des nationalen und kommunalen Planungsrechtes, deren Spielräume sie jedoch innovativ und extensiv nutzten. Die Erfahrungen mit diesen Planungsprozessen trugen gleichzeitig zur behutsamen Veränderung oder Anpassung des Planungsrechtes bei. In den seltensten Fällen bewirkten die Modelle jedoch systematische Veränderungen der ressortorientierten Verwaltungsund Entscheidungsstrukturen auf gesamtstädtischer Ebene. So verweisen Evers und Wiesner auch in der aktuellen Evaluation des Programms „soziale Stadt“ darauf, dass die intendierte Verwaltungsmodernisierung durch die Praxis des „Anbauens“ an bestehende Strukturen kaum gefördert wurde3. Abb. 1: Die 22 Stadterneuerungsgebiete des 1. und 2. Ringes
Das Rotterdamer Projektgruppen-Modell stellt jedoch eine Ausnahme dar, weil es als eine neue Planungs- und Entscheidungsstruktur für den städtischen Stadterneuerungsprozess konzipiert wurde und in großen Teilen des gesamten Stadtgebietes erfolgreich praktiziert werden konnte. In der Zeit von 1974 bis 1992, also über fast 20 Jahre, bewiesen die Kooperationen mit den 3 | Evers, A; Wiesner, C.: Eine neue Kultur des Regierens und Verwaltens? Zur weiteren Entwicklung des Programms Soziale Stadt, In Theorie und Praxis der sozialen Arbeit, 57. Jg. Heft 6, 2006, S. 4-12.
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Akteuren auf Stadtteilebene und die Verwaltungsreform ihre Qualität und Effizienz (Abb. 1 und 2) Abb. 2: Das Projektgruppen-Modell 1974 -1988
Wenn wir „urban und regional governance“ mit Benz4 definieren als „Steuerungs- und Regelungsstruktur, die staatliche wie gesellschaftliche Akteure zusammenführt (…), formelle wie informelle Elemente beinhaltet, durch hierarchische, kompetitive und kooperative Akteursbeziehungen geprägt wird…“, gibt uns der Governance-Begriff Ansätze, Planungsprozesse in ihrer gesellschaftspolitischen Breite zu beschreiben, zu analysieren und zu bewerten. Insofern sehe ich in der Governance-Debatte einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der Planungstheorie und die Chance, die Erfahrungen der 1970er bis 1980er Jahre in einem neuen Licht zu sehen. Denn die Planung und Entwicklung unserer Städte war und ist immer von einem Zusammenspiel von kommunalen Regeln und Interessen der verschiedensten gesellschaftlichen 4 | Benz, A.: Vom Stadt-Umland-Verband zu „regional governance“ in Stadtregionen, in: Deutsche Zeitschrift für Kommunalwissenschaften 40 (2), 2001, S. 55 - 71
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Gruppierungen gekennzeichnet, nur mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Machtkonstellationen. Das Rotterdamer Stadterneuerungsmodell in diesem Kontext erneut zu betrachten, dafür sprechen vier Gründe: 1. Mit dem Projektgruppen-Modell wurde in den 1970er bis 1980er Jahren eine Stadtumbaustrategie in 22 Rotterdamer Stadtteilen praktiziert, in der basisdemokratische Strukturen auf Stadtteilebene mit den traditionellen lokalen Politikstrukturen der parlamentarischen (Parteien)-Demokratie auf gesamtstädtischer Ebene eng verknüpft waren. 2. Durch eine Reform der städtischen Verwaltungsstruktur konnte eine ressortübergreifende integrierte Planung und Durchführung des Prozesses durch „mandatierte“ VertreterInnen der städtischen Fachämter auf Stadtteilebene sichergestellt werden. Die integrierte Planung und die Zusammenarbeit mit den BewohnerInnen koordinierten relativ unabhängige StadtteilkoordinatorInnen, die dem Senator für Stadterneuerung direkt unterstellt waren. 3. Die Planung wurde in unterschiedlichsten Projekten (Wohnungsbau, Sozialeinrichtungen, Stadtteilzentren, Gewerbeflächen, öffentliche Freiflächen, Verkehrs- und technische Infrastruktur) mit den jeweiligen Akteuren umgesetzt und war Teil des in den Projektgruppen über Planungs- und Bauteams gesteuerten Stadtteilentwicklungsprozesses. 4. Eine qualifizierte Mitbestimmung der StadtteilbewohnerInnen und NutzerInnen gewährleisteten sogenannte Externe Sachverständige, die als ständige Berater der BewohnerInnen von der Kommune bezahlt, aber von den BewohnerInnen ausgewählt wurden. Bei der kurzen Darstellung der Entwicklung und Wirkungsweise des Rotterdamer Projektgruppenmodells wird deutlich, unter welchen Vorraussetzungen die relativ systematische Verknüpfung von formellen und informellen Planungs- und Entscheidungsstrukturen einen behutsamen und demokratischen Erneuerungsprozess auf städtischer und Stadtteilebene befördern kann. Denn ohne die Ziele einer behutsamen Stadterneuerung und das Projektgruppenmodell, das die Mitentscheidung der BewohnerInnen bei der Planung und Durchführung des Stadterneuerungsprozesses gewährleistete, sähe die Stadt heute ganz anders aus: Die historische Mischstruktur der Altstadtquartiere des 1. und 2. Ringes wäre nicht erneuert worden, sondern teilweise weiter verslumt, teilweise abgerissen und durch großmaßstäbliche Neubauten ersetzt worden, die für Bewohner mit niedrigen Einkommen nicht bezahlbar wären. Da die Rotterdamer Stadtstruktur sich historisch in nahezu konzentrischen Ringen um das Zentrum entwickelt hatte, beeinflussen die Gebiete des 1. und 2. Ringes, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden waren, die Qualität der gesamten Stadt in besonderer Weise (Abb. 3).
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Abb. 3: Die Stadtstruktur in historischen Ringen
Das Rotterdamer Projektgruppenmodell entwickelte sich stufenweise und ist nur zu begreifen als Teil der sozialen Bewegungen gegen die Auswirkungen der technokratischen Stadtumbaukonzepte der 1960er Jahre. Im Folgenden kann nur verkürzt auf die Ziele und Funktionsweise des Modells im historischen Kontext eingegangen werden.5
2. D ER P ROTEST DER B EWOHNER I NNEN GEGEN DIE F OLGEN DER P L ANUNG „VON OBEN“ ALS M OTOR FÜR EINE D EMOKRATISCHERE P L ANUNG DER S TADT In den 1960er Jahren wollte die Rotterdamer Stadtpolitik mit ihren offiziellen Sanierungsplanungen für die Zeit von 1960 bis 1990 ca. 33.000 Altbauwohnungen, d.h. ca. 1/3 des damaligen Altbaubestandes aus der Zeit vor 1930 abreißen zugunsten von: Cityfunktionen, den Ausbau des am Individualverkehr orientierten Verkehrsnetzes und von Neubauwohnungen für die höheren Einkommensgruppen. Die Rotterdamer Bevölkerung disqualifizierte diese Sanierungsplanungen als das „zweite Bombardement“. Denn beinahe ebenso viele Wohnungen (ca. 28000) waren 1940 mit der totalen Bombardierung des historischen Zentrums durch die deutsche Wehrmacht im Faschismus zerstört worden. (Abb. 4 und 5)
5 | Eine detaillierte Darstellung und Analyse der Funktionsweise, Rahmenbedingungen und Ergebnisse des Rotterdamer Modells sind in den diversen Veröffentlichungen der Autorin, insbesondere von 1985, 1987 und 1994, zu finden.
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Abb. 4: Rotterdam vor 1940 – schwarz: die zerstörte Innenstadt (u.a. 28 000 Wohnungen zerstört)
Abb. 5: Die Verkehrs- und Sanierungsplanungen der 1960er/70er Jahre (7000 Wohnungen abgerissen, Abriss von 33 000 Wohnungen geplant)
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Rotterdam, eine moderne Hafen-, Industrie- und Handelsstadt mit ca. 600 000 Einwohnern auf einer Fläche von ca. 300 qkm, die zweitgrößte Stadt der Niederlande, verfügte 1970 über einen Bestand von ca. 240 000 Wohnungen, davon waren ca. 64 % Altbauwohnungen, in der Zeit vor 1930 gebaut. Dieser private Altbaubestand von 100 000 Mietwohnungen war größtenteils im Besitz von vielen kleinen Privateigentümern oder deren weit verstreuten Erben. Er konzentrierte sich vor allem in den Stadtteilen, die um die Jahrhundertwende als erste Stadterweiterungsgebiete rund um das damalige Zentrum entstanden waren, also in den Gebieten des 1. und 2. Ringes (Abb. 6). Unter der Regie von privaten Bauspekulanten wurden diese Quartiere im Zuge der industriellen Revolution als Arbeiterwohnquartiere in sehr hoher Dichte und teilweise schlechter Bauqualität errichtet. Deshalb waren diese holländischen „Mietskasernen“ in den 1970er Jahren dringend instandsetzungs-, modernisierungs- und ersatzbedürftig. Die Eigentümer oder ihre Erben waren im Allgemeinen an der dringend notwendigen Modernisierung nicht interessiert, sei es aus finanziellen oder organisatorischen Gründen. Nicht wenige erwarteten auch Spekulationsgewinne, welche die kommunalen Sanierungsplanungen ermöglichen würden. Abb. 6: Die Baustruktur der Gebiete des 1. und 2. Ringes aus der Zeit der „industriellen Revolution“
Seit Ende der 1960er Jahre protestierten die BewohnerInnen der älteren Stadtviertel in Rotterdam – wie auch die BewohnerInnen anderer holländischer Städte – gegen die Ziele und Folgen der offiziellen Kahlschlagsanierungspolitik, gegen die zunehmende Verslumung ihrer Quartiere und die drohende Vertreibung aus ihrer sozialen Umgebung in Neubauviertel am
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Stadtrand mit wesentlich höheren Mieten. In den alten Stadtvierteln schlossen sie sich zu Bewohnerorganisationen und Aktionsgruppen zusammen und organisierten den Protest, teilweise landesweit, gegen die „Weg“-Sanierungspolitik. Sie forderten die behutsame Erneuerung ihrer Stadtteile und ein Mitentscheidungsrecht bei der Planung. Denn die großflächigen Kahlschlagsanierungsplanungen, die von Städtebauern und Politikern „von oben“ über die Köpfe der Bevölkerung hinweg entwickelt wurden, beschleunigten den Verslumungsprozess mit den bekannten Symptomen des baulichen, funktionalen und sozialen Verfalls. Die technokratischen Sanierungsplanungen stagnierten nicht nur wegen der ökonomischen Rezession Anfang der 1970er Jahre, sondern erwiesen sich auch als völlig ungeeignet, um Veränderungsprozesse in bestehenden Stadtstrukturen mit einer großen Diversität von Funktionen, NutzerInnen und EigentümerInnen zu strukturieren und zu steuern. Die Folgen dieser großflächigen aber größtenteils ineffektiven Sanierungsplanungen waren sehr komplex und hatten soziale, ökonomische, aber auch politische Aspekte, wie zum Beispiel: • den Abriss von 7000 Wohnungen für City-Erweiterungen und den Ausbau des autofreundlichen Verkehrsnetzes, • einen weiteren Anstieg der Wohnungsnot, • die Abwanderung der mittleren und höheren Einkommensgruppen aus der Stadt, • einen zunehmenden Segregationsprozess im Stadtgebiet, • den weiteren Verfall der Altstadtquartiere, • einen kontinuierlichen Verlust an Einwohnern und Steuereinnahmen für die Kommune, • und nicht zuletzt einen Vertrauensverlust bei großen Teilen der Stadtbevölkerung in die Ziele und Praxis der politischen Parteien. Die Einwohnerzahl der Stadt Rotterdam sank im Zeitraum von 1960 - 1976 von ca. 700.000 auf ca. 615.000. Die spezifische stadträumliche Struktur Rotterdams in historisch gewachsenen Ringen um das Zentrum förderte eine negative Ausstrahlung dieser Problemgebiete auf die Wohn- und Lebensqualität, das Image und das Investitionsklima der Gesamtstadt. Denn diese Stadtquartiere lagen zwischen der modernen City des Wiederaufbaus und den Stadtteilen des Mittelstandes, wie den neuen Stadterweiterungsgebieten aus den 1950er bis 1970er Jahren (siehe auch Abb. 3).
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3. D EMOKRATISCHE P L ANUNG UND I NTEGRIERTE S TADTERNEUERUNG ALS Z IEL EINER NEUEN K OALITION VON S TADTPOLITIK UND B EWOHNERORGANISATIONEN Nach den fast zehn Jahre währenden Protestaktionen der Bewohnerorganisationen in den alten Stadtvierteln entschied sich (erst) 1974 der neu gewählte mehrheitlich sozial-demokratische Senat zu einer radikalen Änderung der Stadtentwicklungspolitik: Statt technokratischer „Planung von oben“ wurden die Grundlagen für eine neue Stadterneuerungspolitik mit den Bewohnerorganisationen, die sich gesamtstädtisch zusammengeschlossen hatten, in einem Agreement ausgehandelt und in einer kommunalen Verordnung (VOS) festgelegt. Ziel dieser Politik war die Verbesserung der Wohnund Lebensbedingungen für die Bewohner der Altstadtquartiere. Die Nutzer, größtenteils Mieter, erhielten Mitentscheidungsrechte bei der Planung und Durchführung der Stadterneuerungsmaßnahmen. Sie sollten als Mitglieder der Projektgruppe oder der Planungsteams mitentscheiden über die Ziele und Maßnahmen der Planungen für die Erneuerung ihres Stadtteils insgesamt und ihre Wohnungen im Besonderen. Speziell hierfür war das Rotterdamer Projektgruppenmodell von Fachleuten, Politikern und Bewohnerorganisationen inzwischen entwickelt worden. Stadterneuerung wurde zur höchsten Priorität der Stadtpolitik erklärt und die ersten elf Stadterneuerungsgebiete wurden angewiesen – sicherlich nicht zufällig in den Quartieren, wo die Aktionsgruppen gegen die Kahlschlagsanierung aktiv geworden waren (Abb. 7 und 8). Projektgruppen wurden eingesetzt und der Verwaltungsapparat entsprechend den Erfordernissen der integrierten stadtteilorientierten Planung grundlegend reorganisiert. Die Bewohnerorganisationen, die basisdemokratischen Ideen verpflichtet waren, wurden für den neuen Senator für Stadterneuerung zu seriösen Verhandlungspartnern und erhielten in den Projektgruppen für Stadterneuerung ein Mitentscheidungsrecht bei der Vorbereitung, Planung und Durchführung der Erneuerung ihres Stadtteils oder Quartiers. In der Zeit von 1974 - 1982 wurden alle Altbaugebiete des 1. und 2. Ringes als Stadterneuerungsgebiete angewiesen und mit den Einrichtungen der Projektgruppenstruktur ausgestattet. (siehe auch Abb. 1) Zu den Vorraussetzungen für die materielle Umsetzung dieses ambitionierten Stadterneuerungsprogramms gehörte die sogenannte „Ankaufaktion“, eine Initiative des ersten Senators für Stadterneuerung, Jan v. d. Ploeg. In den ausgewiesenen Stadterneuerungsgebieten konnten sich die Alteigentümer entscheiden, ob sie ihre Häuser und Grundstücke – im Allgemeinen vier bis fünf Meter breite und zwölf Meter tiefe viergeschossige Reihenhaus-Typen mit stiegenartigen Treppenhäusern und 1-2 Wohnungen pro Geschoß (Abb. 9) – zu einem taxierten Preis an die Kommune verkaufen oder das Risiko einer Instandsetzungsverpflichtung eingehen wollten. Die Instandsetzungsverpflichtung konnte entsprechend der kommunalen Bauordnung den Hauseigentümern auferlegt werden. Diese Rechtsgrundlage war jedoch bis dahin selten in kommunales Handeln umgesetzt worden.
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Abb. 7: Die ersten 11 Stadterneuerungsgebiete (1974)
Abb. 8: Die Gebiete der Aktionsgruppen in den 1970er Jahren
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Abb. 9: Die „Vor-zwischen-hinter-Wohnung“, der Rotterdamer Arbeiterwohnungsbautyp (Alkovenwohnung ) aus dem 19. Jahrhundert (Grundriss) Hinterhofseite
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4. D AS R OT TERDAMER P ROJEK TGRUPPEN M ODELL ALS O RGANISATIONS - UND E NTSCHEIDUNGS STRUK TUR IM S TADT TEIL UND IN DER S TADTPOLITIK In den 22 Stadterneuerungsgebieten, die den Grenzen der historischen Rotterdamer Quartiersstruktur folgten, oblag die Steuerung der gesamten Planung und Durchführung des Stadterneuerungsprozesses den jeweiligen Projektgruppen. Die Stadterneuerungsgebiete waren in Größe, Einwohnerzahl, Grundfläche und Industriebesatz sehr unterschiedlich: von Katendrecht mit 2 500 Einwohnern und 57 ha Grundfläche bis zum „Alten Norden“ mit 22 000 Einwohnern und 109 ha Fläche reichte das Spektrum. Alle Projektgruppen hatten zwei Hauptaufgaben: • 1. Die Vorbereitung und Planung des Stadterneuerungsprozesses und die Festlegung der Maßnahmen – Dazu wurde ein Stadtteilentwicklungsplan erarbeitet, auf dem dann der Bebauungsplan, sowie die Maßnahmen- und Ablaufpläne aufbauten. • 2. Die Koordination der Durchführung der einzelnen Maßnahmen in allen Bereichen: Wohnungsbau, Wohnfolgeeinrichtungen, Verkehrs- und Freiraumplanung, aber auch die Umsetzung oder Integration und Modernisierung von Gewerbebetrieben und Läden. In der sog. Kleinen Projektgruppe waren zwei entscheidende Akteursgruppen mit Sitz und Stimme vertreten: • Die Vertreter der Bewohner mit ihren „externen Sachverständigen“, • Die „mandatierten“ Beamten der verschiedenen Fachabteilungen der Planungsbehörde. Der Vorsitz lag bei einem/einer Projektkoordinator/in, einem/einer relativ unabhängigen Beamten/in der Projektorganisation für Stadterneuerung, die von dem jeweiligen Stadtteilbüro aus mit Sekretariat und Assistenten/innen den Prozess steuerten. Vorraussetzung für die funktionierende Projektgruppen -Struktur war eine Verwaltungsreform, die alle am Prozess beteiligten Fachämter zusammenfasste und die Mandatierung für die Projektgruppen regelte. Nur das Liegenschaftsamt behielt eine Sonderrolle. Den komplizierten Umbau der Planungsverwaltung von einer traditionellen linearen Struktur zu einer Matrixorganisation leitete ein interdisziplinäres Direktorium. Der erste Leiter der Projektorganisation, Wim van Es – ein erfahrener Planer, zugleich quer denkend und pragmatisch – konnte als Mitglied des Direktoriums die Verwaltungsreform entscheidend mitgestalten. (Abb. 10 und 11)
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Abb. 10: Die „kleine“ Projektgruppe genauer betrachtet
Abb. 11: Die Verwaltungsreform: von der linearen Struktur zur Matrixorganisation
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Seit 1988 wurde eine dritte Akteursgruppe in die Projektgruppen aufgenommen, die auch schon in der 1. Phase eine wichtige Rolle als AuftraggeberInnen für Modernisierungs- und Neubauprojekte gespielt hatten: die Wohnungsbaugesellschaften. Sie verwalteten die Wohnungen des sozialen Wohnungsbaus und die angekauften Wohngebäude im Stadtteil. Mit ihnen und allen anderen betroffenen Akteuren, wie Gewebetreibenden, Industrieund Dienstleistungsunternehmen, LadenbesitzerInnen, LeiterInnen von Schulen und Sozialeinrichtungen, aber auch ArchitektInnen und Bauunternehmen wurde seit Einführung der Projektorganisation in Planungsteams, Bauteams und Arbeitsgruppen kooperiert. Da die Projektgruppen direkt dem Senator und dem Ausschuss für Stadterneuerung unterstellt waren, konnten viele Probleme, wie auch Konflikte zwischen Beamten und Bewohnern, relativ schnell auf politischer Ebene diskutiert und entschieden werden. So entstand langsam wieder ein Dialog zwischen PolitikerInnen und Bevölkerung. Das Vertrauen in die politischen Entscheidungsträger wuchs. Das Rotterdamer Projektgruppenmodell ist im Prinzip ein basisdemokratisches Modell, das in die politischen Entscheidungsstrukturen der parlamentarischen Demokratie auf kommunaler Ebene eingebettet ist. (Abb. 12) Abb. 12: Die Projektgruppen in der städtischen Politik- und Verwaltungsstruktur
Eine qualifizierte Mitentscheidung der NutzerInnen wurde durch das Organisationsmodell, die Anerkennung der Bewohnerorganisation als Interessenvertretung der NutzerInnen und die finanzielle Unterstützung der Bewohnerorganisation mit Personal- und Sachmitteln gewährleistet. Für eine integrierte Planung und Durchführung der Erneuerung des gesamten Viertels, der Wohnungen, aber auch der Läden und der Gewerbestruktur, der Wohn-
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folgeeinrichtungen, Grün- und Spielflächen sowie der Verkehrsstruktur ist die Mitarbeit der verschiedenen Ämter und Fachressorts von essentieller Bedeutung. Deshalb waren alle Fachämter, die für den komplexen Erneuerungsprozess erforderlich sind, mit „mandatierten“ Beamten in der Projektgruppe vertreten. Die Finanzierung der Planungs- und Realisierungskosten erfolgte auf der Grundlage des Stadtteilentwicklungsplans im Antragsverfahren aus den Mitteln des Stadterneuerungsfonds der durch kommunale Mittel und hohe Subventionen der Reichsregierung gespeist wurde. Denn auf nationaler Ebene hatten die Aktionen von Bewohnerorganisationen in allen großen, aber auch vielen mittelgroßen Städten der Niederlande dafür gesorgt, dass die behutsame Stadterneuerung eine hohe Priorität auch auf der politischen Agenda der Reichsregierung erhielt und ein Stadterneuerungsfond eingestellt wurde.
5. E INIGE R ESULTATE DES I NTEGRIERTEN UND D EMOKRATISCHEN P ROZESSES VON 1974 BIS 1992 Nach dem Start der Rotterdamer Stadterneuerungsstrategie sind in den innerstädtischen Altbauquartieren ca. 60 000 Wohnungen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus entstanden, größtenteils durch Ankauf und Modernisierung von ehemals privaten Mietwohnungen und durch Neubau in Baulücken sowie auf ehemaligen Industrie- und Hafenstandorten. Eine dauerhafte Umwandlung der verfallenen privaten Mietwohnungen in sozialen Wohnungsbau war eine Konsequenz der wohnungspolitischen Forderungen nach bezahlbaren guten Wohnungen für die BewohnerInnen der Quartiere und eine Vorraussetzung für ihre Mitarbeit am Prozess. Gleichzeitig wurden damit erneute Spekulation und Verdrängung verhindert. Für die spezielle Bautypologie des Rotterdamer Arbeiterwohnungsbaus entwickelte ein Team von Architekten die Drei-Häuser-Modernisierungsmethode, um Wohnungen nach modernen Standards modernisieren und erschließen zu können (Abb.13). Auch dies geschah auf Initiative des Teams um den sehr erfahrenen und weitsichtigen Senator für Stadterneuerung J. v. d. Ploeg, sowie des Leiters der Projektorganisation W. v. Es. Mit der „Sozialisierung von Privateigentum“ hatten sich die Eigentumsverhältnisse stark verändert: 60.000 ehemals private Mietwohnungen wurden durch die Kommune angekauft und sind größtenteils erneuert. Insgesamt entstanden bis 1992 ca. 30.000 modernisierte und 26.000 neue Sozialwohnungen auf kommunalem Grund und Boden, die inzwischen entweder im Besitz von Wohnungsbaugesellschaften oder wieder reprivatisiert sind. Außerdem wurden 4.500 Wohnungen instandgesetzt und ca. 2000 Wohnungen durch private Eigentümer mit öffentlichen Subventionen modernisiert.
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Abb. 13: Die Drei-Häuser-Modernisierungsmethode in Ansicht und Perspektive
Ausgehend von den Zielen der integrierten Erneuerung wurde jedoch nicht nur der Wohnungsbestand sondern auch die Versorgung mit Wohnfolgeeinrichtungen, Grünanlagen, das Wohnumfeld und die Verkehrsstruktur grundlegend verbessert. (Abb. 14, 15, 16, 17) Die Modernisierung oder die Umsetzung von Gewerbebetrieben gehörte ebenso zu den Stadterneuerungsmaßnahmen. Denn viele Stadterneuerungsgebiete waren durch eine starke Funktionsmischung von Wohnungsbau, Gewerbe- und Ladenflächen, aber auch Kleinindustrie in den Innenbereichen der Blöcke gekennzeichnet. In einigen Quartieren bestanden und bestehen größere Industrieareale, was bei der Planung auf Stadtteilebene auch die Zusammenarbeit mit der Geschäftsführung internationaler Konzerne, wie „Unilever“ oder „Nestlé“ erforderte. Abb. 14: Erneuerte Häuser nach der „kleinen Modernisierung“
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Abb. 15: Straßenzeile nach der Drei-Häuser-Modernisierungsmethode mit Läden und Büros
Abb. 16: Jugendzentrum im alten Gasometer: ein Initiativprojekt beim Start des Stadterneuerungsprozesses
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Abb. 17: Neue Wohnungen mit Läden nach Abriss in einer Baulücke
6. D ER
DEZENTRALE P L ANUNGSPROZESS MIT DEN N UTZER I NNEN ALS G RUNDL AGE FÜR Q UALITÄT, M IT VERANT WORTLICHKEIT UND E FFIZIENZ IN DER S TADTENT WICKLUNG
Die Rotterdamer Stadterneuerungsstrategie und die Arbeitsweise der Projektgruppen basierte auf politischem Konsens und Zusammenarbeit: • auf dem politischen Konsens zwischen den gewählten Stadtpolitikern und den Bewohnerorganisationen der alten Stadtteile über die Ziele der Stadterneuerung; • auf der Zusammenarbeit von Beamten der verschiedenen Verwaltungsressorts, Architekten, Wohnungsbaugesellschaften und Nutzern bei der Planung und Durchführung des gesamten Erneuerungsprozesses auf gesamtstädtischer, Stadtteil- und Projektebene Hiermit wurde ein in sich konsistentes dezentrales und demokratisches Modell entwickelt, in welchem Politiker, Wohnungsbaugesellschaften und Bauverwaltungen nicht mehr stellvertretend für die NutzerInnen der Stadtteile die Bauherrenfunktion übernehmen. Sie haben die Planungsentscheidungen und Verantwortlichkeiten mit den BewohnerInnen und NutzerInnen geteilt und ihnen damit die Möglichkeit gegeben, als mündige, politische Bürger mit zu entscheiden. Ein Teil der gewählten Politiker ging 1974 mit den Interessenorganisationen der Bewohner eine Koalition über die Ziele zur Erneuerung der Stadt ein und delegierte Planungsbefugnisse auf die Stadtteilebene, weil sie die „direkte Demokratie“ nicht als Bedrohung, sondern wichtige Ergänzung der parlamentarischen Demokratie auf lokaler Ebene begreifen konnten.
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Da die Ergebnisse nicht nur qualitativ sondern auch quantitativ beeindruckend sind, wird deutlich, dass das Rotterdamer Projektgruppenmodell nicht nur ein demokratisches sondern auch sehr effizientes breit angelegtes Planungs- und Politikmodell, also ein Governance-Modell war. Der Planungsprozess und die Ergebnisse lassen sich durch fünf Merkmale beschreiben: • Eine rationale, effiziente und integrierte Planung, weil die verschiedenen Fachdisziplinen wieder zur Kooperation gezwungen sind und gemeinsame Lösungen für die komplexen Probleme und Konflikte auf Stadtteilebene erarbeiten können und müssen. • Eine Planung mit der Bevölkerung, mittels derer die Bedürfnisse der tatsächlichen Nutzer besser berücksichtigt werden und die Chancen für einen höheren „Gebrauchswert“ sowie die Vermeidung von Planungsfehlern erhöht werden. • Eine Mitverantwortlichkeit durch Mitentscheidungsbefugnis der Bewohner und ihrer Organisationen, die sich auf die Verbesserung der Lebensqualität des gesamten Stadtteils richtet, wodurch verschiedene Interessen gegeneinander abgewogen werden können und müssen. • Ein transparenter und damit für alle Beteiligten kontrollierbarer Prozess in aller Öffentlichkeit, wodurch Bestechungen und ökonomisch-politische Verwicklungen verhindert werden. • Eine hohe technische, funktionale und ästhetische Qualität, wenn Architekten und Planer bereit sind, ihre Fachkompetenz in die Zusammenarbeit mit den NutzerInnen einzubringen und diese als seriöse MitBauherrInnen zu akzeptieren.
7. DAS P ROJEK TGRUPPENMODELL IM R AHMEN DER GESAMTSTÄDTISCHEN E NT WICKLUNG Mit der speziellen Stadterneuerungsstrategie in den Rotterdamer Stadtteilen wurde erreicht, dass große Teile billigen Wohnraums in den innerstädtischen Altbaugebieten für niedrige Einkommensgruppen verbessert und erhalten geblieben sind. Durch Verbesserungen der sozialen, ökonomischen und technischen Infrastruktur wurde die Wohn- und Lebensqualität in diesen Stadtteilen wesentlich erhöht. Damit ist die gesamte Stadt als Wohnort und Standort auch für private Investoren wieder attraktiv geworden. Durch die zunehmende Konzentration von sozialem Wohnungsbau nahmen jedoch gleichzeitig in einigen Stadtteilen die sozialen Segregationsprozesse weiter zu. Mit dem integrierten Stadterneuerungsprozess konnten wesentliche Vorraussetzungen geschaffen werden für die Realisierungschancen von Revitalisierungsstrategien im Citybereich, die Umstrukturierung von Industrie- und Hafenbrachen und die Entwicklung attraktiver Wohngebiete für höhere Einkommensgruppen. Das bekannte innerstädtische Umstrukturierungsprojekt „Kop van Zuid“ (Abb. 18). und die aktuelle Modernisierung der Rotterdamer
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City (Abb. 19) mit ihren exklusiven Wohnhochhäusern sind ohne die Ergebnisse dieses Stadterneuerungsprozesses nicht denkbar. Abb. 18: Luftbild „Kop van Zuid“, Neubau eines innerstädtischen City- und Wohngebietes auf alten Hafenflächen (seit Ende der 1980er Jahre geplant und gebaut)
Abb. 19: Die Entwicklung des neuen Stadtzentrums
Die Projektgruppenstruktur hat sich im Laufe des Prozesses verändert – bedingt durch Erfahrungen und politische Schwerpunktverschiebungen. Nach fast 15 jähriger erfolgreicher Praxis wurde erst die „Kleine“ Projektgruppe in eine Drei-Parteien-Projektgruppe (1988) umgewandelt. Aber schon
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1992 entschied sich die Rotterdamer Stadtpolitik, dieses sehr innovative, flexible Projektgruppenmodell lebendiger Demokratie zu transformieren in ein konventionelles dezentrales Modell mit einer neuen Gliederung der Stadt in 11 Stadtteile mit „Stadteilbeiräten“, die alle fünf Jahre gewählt werden. (Abb. 20) Diese Veränderung erfolgte nach den ersten Umbauversuchen des Projektgruppenmodells Ende der 1980er Jahre dann ohne nennenswerten Widerstand der Bewohnerorganisationen im Jahre 1992. Abb. 20: Die neue politisch-administrative Gliederung des Stadtgebietes in 11 Stadtteile mit gewählten „Stadtteilbeiräten“ (Bei den Kommunalwahlen haben in NL die MigrantInnen schon seit mehreren Jahren unter bestimmten Bedingungen Stimmrecht, auch wenn sie nicht über die NL-Staatsbürgerschaft verfügen.)
Die seit 1974 mühsam durchgesetzte Umwandlung der linear organisierten Verwaltungsstruktur in eine Matrix - Organisation (siehe auch Abb. 11) wurde mit der Beendigung des Projektgruppenmodells wieder rückgängig gemacht. Ständige Reorganisationen dienten seit den 1990er Jahren der „Verschlankung“, aber auch der wieder zunehmender Hierarchisierung der Verwaltungsstruktur. Über „mandatierte Beamte“ können die gewählten „Stadtteilbeiräte“ nicht verfügen, sie haben aber einen kleinen unterstützenden Verwaltungsapparat. Über Fragen der Stadtteilentwicklung und Projekte wird jetzt im „Stadtteilbeirat“ diskutiert und durch Mehrheitsbeschlüsse entschieden, die stark von den Positionen der politischen Parteien bestimmt sind. Einen Senator für Stadtteilentwicklung auf gesamtstädtischer Ebene, der dem früheren Senator für Stadterneuerung entsprechen würde, gibt es nicht.
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Damit ist die Verknüpfung von Stadtteilinteressen und gesamtstädtischen Konzepten kompliziert. Warum die Chance, das in der Stadterneuerung erprobte Modell einer lebendigen Demokratie für die Stadtteil- und Stadtentwicklung weiter zu entwickeln, nicht genutzt wurde, hatte m.E. weniger ökonomische als vor allem politisch-ideologische und verwaltungsorganisatorische Gründe. Eine Analyse der Ursachen und Hintergründe wartet nach meiner Kenntnis noch immer auf eine komplex angelegte Forschung. Noch besteht die Chance, viele der damals einflussreichen Akteure zu befragen. Die Erfahrungen mit dem Rotterdamer Projektgruppenmodell können m.E. für die Entwicklung von Governance-Modellen sehr gute Ansatzpunkte liefern: für die Entwicklung einer innovativen, demokratischen und effizienten Planungs- und Entscheidungsstruktur auf lokaler Ebene, die von der Mitverantwortlichkeit der BürgerInnen ausgeht und sie weiter fördert. Denn die Institutionalisierung und rechtliche Absicherung partizipativer Strukturen und Prozesse fördert nicht nur eine kontinuierliche, verständigungsorientierte Dialogkultur einer Stadt6, sondern ist nach meiner Erfahrung auch die Voraussetzung für eine bedarfsorientierte nachhaltige Stadtentwicklung und demokratische Planung.
6 | Diebäcker, M.: Governance und Demokratie – Die Frage nach dem Wer steuert wen und warum? in: Strategieorientierte Planung im kooperativen Staat, Hrsg. Hamendinger, A. et al, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008, S. 266 - 281
Urbane Governance in historischer Perspektive Resultate, Forschungsperspektiven und Ausblick Uwe Altrock / Grischa Bertram
E IN NEUER B LICK 1975?
AUF DIE
S TADTPRODUK TION
VOR
In den Beiträgen zu diesem Band ist deutlich geworden, dass schon mit einem einfachen, für die Governance-Perspektive geschärften Blick auf Fallstudien aus unterschiedlichsten Epochen vielfältige Hinweise auf ein Zusammenwirken unterschiedlichster Kräfte der Stadtproduktion weit über den Staat hinaus erkennbar sind. Dies gilt – wie bis zu einem gewissen Grad zu erwarten war – vor allem für die Zusammenarbeit zwischen dem (lokalen und überlokalen) Staat in seinen verschiedenen historischen Ausprägungen und privaten Unternehmen, aber auch für das Verhältnis der verschiedenen staatlichen Ebenen. Gerade in Zeiten dynamischer Stadtentwicklung wie etwa in der Industrialisierung kam dem Staat eine wesentliche Rolle bei der Schaffung der rechtlichen Voraussetzungen für städtisches Wachstum zu. Aber ohne privates Kapital war mit Ausnahme der spätfordistischen Periode vor allem der Ausbau der erforderlichen Infrastruktur kaum denkbar. Wesentlich eindrucksvoller oder gar überraschender sind aber die Erkenntnisse, die sich aus einer Untersuchung von gemeinhin als staatszentriert bekannten Epochen ergeben. Sie verdeutlichen, dass es selbst in diesen (etatistischen?) Kontexten einzelnen Unternehmen immer wieder gelungen ist, einen so starken Einfluss auf die Stadtentwicklung zu gewinnen, dass eine Kooperation des Staats mit ihnen wesentlich dazu beitrug, politische Schlüsselziele zu erreichen. Es ist also nicht damit getan, sich auf einen einfachen Zusammenhang zu beschränken, nach dem eine enge Kooperation zwischen Staat und Markt im Sinne einer „Wachstumskoalition“ letztlich für Zeiten oder Orte eines schwachen Staats stehe. Wenngleich nicht alle in den Beiträgen versammelten Erkenntnisse in gleicher Weise auf eine Governance-Per-
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spektive zugespitzt werden konnten, so stellt doch diese Beobachtung bereits eine wesentliche Erkenntnis dar, die sich aus dem veränderten Blick auf das Verhältnis zwischen den an der Stadtproduktion potentiell beteiligten Akteuren ergeben können. So wird deutlich, dass Governance-Analyse nicht etwa bedeutet, überall eine enge Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Sphären entdecken zu wollen und zu können, sondern alternative Phänomene näher in den Blick zu nehmen, Nebenäste der Stadtplanungsgeschichte auszuleuchten oder bislang kaum wahrgenommene Kontinuitäten für die Formulierung ergänzender Erklärungsmuster heranzuziehen. Ungeachtet dieser Einschränkung bleibt festzuhalten, dass die Geburtsstunde von Governance in der Stadtentwicklung nicht auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts verlegt werden kann, sondern die in der jüngeren Vergangenheit erfolgten Umbrüche und Erscheinungen zwar eindrucksvoll, aber keineswegs völlig ohne Vorgänger sind. Zwar kann ein autoritärer Staat insbesondere für einen breiten Einfluss der Zivilgesellschaft als deutliches Hemmnis angesehen werden, so dass – bei allen Einschränkungen ihrer Wirkmächtigkeit – die Demokratisierungstendenzen der Stadtpolitik der letzten Jahrzehnte nach wie vor als bemerkenswerte Errungenschaft angesehen werden können, für deren Verstetigung sich gerade in einer Zeit neuerlicher wirtschaftlicher Umbrüche ein weitergehender Einsatz lohnt. Daraus rückzuschließen, dass in früheren Zeiten – etwa im in Europa stadtentwicklungspolitisch vielerorts sehr dynamisch verlaufenen 19. Jahrhundert – gar kein Einfluss zivilgesellschaftlicher Kräfte geherrscht hätte, wäre aber sicher ein Fehlschluss. Vor dem Hintergrund der vielfältigen Zugänge dieses Bandes lassen sich die unterschiedlich intensiven Möglichkeiten des Einflusses und der Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte in die Stadtproduktion vielmehr vor dem Hintergrund der herrschenden Rahmenbedingungen anders bewerten. In Zeiten starker Zuwanderung verfügt ein großer Teil der örtlichen Bevölkerung über so ein geringes Maß an Verwurzelung, dass weder das in minimalem Umfang aufgebaute Sozialkapital noch andere Schlüsselressourcen zur Verfügung ständen, die es den erst kurz zuvor Zugewanderten erlauben würden, zum Akteur der Stadtentwicklungspolitik zu werden. Analogien zu heutigen schnellen Urbanisierungsphänomenen in asiatischen Städten drängen sich bei aller Unterschiedlichkeit auf. Doch welche Beobachtungen und welche neuen Sichtweisen lassen sich aus den Beiträgen dieses Bandes in Bezug auf die verschiedenen Akteursgruppen ableiten? Darauf soll im Folgenden vor einem Blick auf mögliche Forschungsperspektiven kurz eingegangen werden.
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S TA AT UND PRIVATE U NTERNEHMER : S PANNUNGSVERHÄLTNIS , S YMBIOSE ODER UNABHÄNGIGE S PHÄREN ? Aus den Beiträgen dieses Bands wird in aufschlussreicher Weise deutlich, welche Schlüsselrolle privaten Unternehmen für die Stadtproduktion in den unterschiedlichsten Zeiten zugekommen ist. Sie sind Geldgeber für Landesherren, beeinflussen so Stadtgründungen und Stadterweiterungen mit und sie nehmen wesentlichen Einfluss auf die Möglichkeiten der Wohnungsproduktion gerade, aber nicht ausschließlich in liberalistischen Systemen. Neben ihrer Rolle als vorrangig am eigenen Profit interessierten Spekulanten oder Bauträgern sind sie aber interessanterweise in bestimmten Konstellationen auch in der Lage, stadtpolitischen Innovationen mit zu prägen und durchzusetzen. Sie werden so selbst in Zeiten stärker staatlich dominierter Stadtproduktion zu entscheidenden Akteuren bei der Durchsetzung von Reformen, ohne die bisweilen dem Staat trotz hohen politischen Anspruchs die Mittel zu einer Umsetzung alternativer stadtpolitischer Ansätze fehlen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass neben durch den Staat, innovative Einzelpersonen oder bestimmte gesellschaftliche Bewegungen vorangetriebenen städtebaupolitischen Reformen – die gerne zum Roten Faden einer leitbildorientierten Städtebau-Geschichtsschreibung gemacht werden – in weniger innovativen Städten, an Stellen, für die die Ressourcen zu Reformansätzen (noch) nicht zur Verfügung stehen oder für Zielgruppen und städtische Nutzungen, für die auch in Reformzeiten aufgrund bestimmter politischer, ökonomischer oder rechtlicher Rahmenbedingungen gemäß einem „alten Modell“ Stadtentwicklungspolitik betrieben wird, vielfach parallel private Unternehmer auf eigene Faust im staatlich gesetzten Rahmen oder in enger Zusammenarbeit mit dem lokalen Staat Stadtentwicklung betreiben und dabei ganz anderen als den ex post herausgehobenen reformorientierten Leitbildern folgen. Sie nachzuzeichnen, ergäbe eine ganz andere stadtentwicklungspolitische „Reformgeschichte“, die sich auf der Seite der gesellschaftlichen Voraussetzungen genau mit den engen Beziehungen zwischen staatlichpolitischen Rahmenbedingungen einerseits und ökonomischen Möglichkeiten andererseits beschäftigen, aber dabei zusätzlich einbeziehen müsste, wie in diesem Umfeld der jeweilige Wandel breitenwirksam werden konnte. Hieraus ergeben sich vielfältige Fragen, die nicht immer den Ursprung gesellschaftlicher Innovationen in den Mittelpunkt stellen würden, die später zum hegemonialen Leitbild werden, sondern vielmehr darauf abstellen, wie Hegemonie sich auch unter den jeweiligen ökonomischen Verwertungsbedingungen herausbildet und mit welcher Rolle auf welchem Weg sich Unternehmer diese Veränderungen zu eigen machen: im Nachvollzug von gesellschaftlichem Wandel und diesbezüglichen Bedürfnissen, als paternalistisch-innovative visionäre Städtebaureformer, bei der massenhaften Verballhornung von Reformideen auf der Suche nach neuen Vermarktungsstrategien und so weiter.
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J ENSEITS VON S TA AT UND M ARK T : G ESELLSCHAF TLICHE E INFLÜSSE VOR
DEM A UFKOMMEN EINER GESELLSCHAF TLICH UMFASSEND ANERK ANNTEN Z IVILGESELLSCHAF T ? Wie bereits aus den obigen Ausführungen deutlich wurde, sind die Anzeichen für einen Einfluss der Zivilgesellschaft weniger deutlich ausgeprägt, doch gibt es sie in verschiedenen Ausprägungen. In einer Analyse stellt sich in aller Breite die Frage nach dem Begriff von Zivilgesellschaft, die hier nicht erörtert werden kann, sich aber zum Beispiel im Beitrag über Chicago geradezu aufdrängt. Hier verbergen sich hinter den zivilgesellschaftlich verfassten Akteuren doch wieder in der Mehrheit private Unternehmer. Welche Spielräume sich für die Vertretung schwacher Interessen bieten, lässt sich an dem Beitrag über die bürgerliche Frauenbewegung vor dem Ersten Weltkrieg genauer studieren. Sind es bei den privaten Unternehmen vor allem die finanziellen Ressourcen, die sie zu Schlüsselakteuren auch in früheren Zeiten haben werden lassen, die teilweise mit umfangreichen Vollmachten zur Regelung stadtentwicklungspolitischer Detailfragen ausgestattet werden, gerade in Konstellationen, in denen der lokale Staat über geringe Kompetenzen und wenig ausgeprägte Regelungsmechanismen und Verwaltungen verfügt, wird hier eine für diesen Bereich sehr typische lose Verbindung zwischen den Akteursgruppen deutlich. Zivilgesellschaftlicher Einfluss auf die Ziele der Stadtentwicklungspolitik kommt (bis heute) nicht selten indirekt zustande, indem einflussreiche Akteure, etwa Vertreter der Staatsmacht, Berater oder Politiker, auch in einem Umfeld nur schwach institutionalisierter demokratischer Kommunikation und Kontrolle in ihrem Handeln bis zu einem gewissen Grad Bedürfnisse antizipieren und zum Gegenstand ihrer Entscheidungsprozesse machen. Den zivilgesellschaftlichen Akteuren kommt dann insbesondere die Aufgabe zu, fehlende staatliche Expertise zu ergänzen, während sie sich, zumindest solange sie sich mit Reformvorhaben in Opposition zum Staat befinden, etwa in den Fällen der Frauen-, Hygiene- und Umweltbewegungen, in zumeist geringerem Umfang auch in eigener Regie um eine Umsetzung ihrer Ziele bemühen. Wenngleich die Adressaten von Stadtentwicklung mächtige Interessengruppen sein mögen, so ist doch auch in weniger demokratischen Epochen das „Funktionieren“ von Städten an eine gewisse Berücksichtigung von Bedürfnissen auch der weniger einflussreichen Bevölkerung gekoppelt. Diese können zwar von unternehmerisch geprägten Städten wie Hamburg im 19. Jahrhundert vernachlässigt werden, aber im ungünstigen Fall – vergleiche die Cholera-Epidemie – erhebliche negative Auswirkungen zeitigen. Die Notwendigkeit der antizipatorischen Einbeziehung von Bedürfnissen einer wachsenden Stadtbevölkerung stellt also eine – wenn auch nur rudimentär ausgeprägte – Schlüsselressource dieser Bevölkerungsteile dar. Über welche gesellschaftlichen Prozesse, Institutionen und Machtstrukturen diese Bedürfnisse stadtpolitisch gefiltert werden, wie sie durch gesellschaftliches Engagement bürgerlicher Reformer oder auch proletarisch-protorevolutionärer Aktivisten
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gestärkt werden können oder wie den tatsächlichen Bedürfnissen einer weitgehend von den Mächtigen vernachlässigten Bevölkerung in deren Politikkonzepten Gehör verschafft werden kann, dazu hat die historische Urbanisierungsforschung bereits eine Fülle von Ergebnissen gebracht. Sie einzuordnen und vor dem Hintergrund der hier eingenommenen Perspektive neu zu interpretieren würde gegebenenfalls ein neues Licht auf die Reformbewegungen beispielsweise des Kaiserreiches werfen. Welche Rolle dabei die stadtbezogene Seite von Reformbewegungen spielt, ist möglicherweise noch gar nicht in vollem Umfang gewürdigt worden, obwohl dies angesichts der sich gerade im Rahmen der schnellen Urbanisierung einstellenden gesellschaftlichen Probleme nahe liegt und die Verbindung von infrastrukturellen und hygienischen Standards mit der industriellen Verstädterung sehr eng ist.
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DAS SCHON
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Wenn Klaus Selle im ersten Tagungsbeitrag deutlich macht, dass alle an der Entwicklung der Stadt beteiligt sind und Governance in Bezug auf Stadtentwicklung somit die Verteilung dieser Tätigkeit sowie der damit verbundenen Macht, Ressourcen und Befugnisse meint, so stellt sich die Frage, ob die Anwesenheit, Mitwirkung oder Beteiligung anderer Akteure als des (lokalen) Staates bereits ausreicht, um einen Governance-Ansatz auszumachen. Von den von Selle referierten drei bekannten Governance-Begriffen eignet sich eigentlich nur der trendhypothetische für den historischen Vergleich beziehungsweise die Suche nach historischen Parallelen und Vorläufern eines zeitgenössischen Phänomens. Der analytische setzt ohnehin eine zeitlose Anwendbarkeit voraus, in der selbst ein vollständig autoritärer Staat lediglich eine andere Governance-Form darstellen würde, ein normativer Blick in die Vergangenheit wäre hingegen müßig. Doch gerade die Trendhypothese, die davon ausgeht, dass seit etwa dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ein vermehrter akteurs-, ebenen- und disziplinübergreifender Ansatz das lokalstaatliche Handeln bestimmt habe, gerät beim Blick auf die Stadtproduktion in früheren Epochen insofern ins wanken, als sehr bald auffällt, dass solche Ansätze bereits lange zuvor bestanden und – mehr noch – für die Kooperation verschiedener Akteure bei der Stadtproduktion auch Situationen deutlich werden, in denen zumindest Unternehmer nicht nur vom Staat beteiligt werden, sondern vielmehr selbstständig innerhalb eines erst in Aufbau befindlichen staatlichen Ordnungsrahmens der Stadtentwicklung agieren, wie auch das Beispiel der Rheinprovinzen als auch Göttingens verdeutlicht haben. Hier deutet sich vielmehr an, dass es entweder keinen durchgehenden Trend, sondern vielmehr eine phasenartige Entwicklung von stärker staatszentrierten und eher akteursbezogenen Epochen geben könnte, die sich möglicherweise wellen- oder pendelartig ablösen, oder – und dies scheinen die wenigen Beispiele des vorliegenden Bandes, obwohl ganz wesentliche Epochen außen vor bleiben mussten, eher anzudeuten – es könnte sinnvoll erscheinen, doch wieder einen analytischen Governance-Begriff
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zu verwenden, um einen jeweils epocheneigenen Governance-Modus zu bestimmen. Diese dann wesentlich komplexeren Modi könnten anschließend verglichen werden, um feinere Veränderungen und Trends aufzuspüren und innerhalb des historischen Kontexts zu analysieren.
F ORSCHUNGSPERSPEK TIVEN Trotz der Vielzahl der hier versammelten Beiträge – oder gerade wegen der von ihnen bislang nur punktuell aufgeworfenen Fragen – kann das Feld der urbanen Governance in historischer Perspektive keineswegs als ausgeleuchtet gelten. Seine genauere Beforschung kann wesentliche Beiträge zu einem besseren Verständnis des Zusammenhangs von Kommunalverfassung, Rolle der Planung und Stadtentwicklung in der Gesellschaft und den Möglichkeiten zu stadtentwicklungspolitischem Handeln beitragen, wie bereits in der Einführung angedeutet wurde. Ein hierfür geeignetes Forschungsprogramm zeichnet sich nunmehr in seinen Grundlinien ab. Auf wesentliche Forschungsfragen und methodische Rahmenbedingungen soll im Folgenden kurz eingegangen werden. Im geschichtlichen Rückblick sind die Grundkonstellationen der städtischen Governance-Forschung neu auszuloten, um Antworten auf Fragen nach dem Ursprung akteursgruppenübergreifender Zusammenarbeit auf die Spur zu kommen. Mehrere Schlüsselbegriffe drängen sich hierbei auf: Mindestens dem des Städtischen und des Staats, dem der Stadtpolitik, dem der Zusammenarbeit beziehungsweise Kommunikation und natürlich dem – eng verwoben mit dem Begriff vom Städtischen beziehungsweise des Staats – nach den Akteursgruppen. An dieser Stelle kann nur ganz andeutungsweise auf sie eingegangen werden – und weitere Begriffe, die forschungsleitend sein könnten, ließen sich sicherlich ergänzen. Im Hinblick auf das Städtische und den Staat ist aufzuklären, inwieweit sich unter verschiedenen Graden der kommunalen Selbstverwaltung voneinander abweichende und möglicherweise für bestimmte Verfassungswirklichkeiten typische Governance-Konstellationen ergeben. Bereits in den hier versammelten Fallstudien spielte die Tatsache eine nicht zu unterschätzende Rolle, dass im 19. Jahrhundert Stadtentwicklung etwa in Preußen im engeren Sinn nicht von Kommunen betrieben werden konnte, sondern erheblichen staatlichen Einflüssen ausgesetzt war. In den vorausgehenden Epochen kam es stark auf den Status der jeweiligen Stadt an, die als Reichsstadt, Residenz oder Provinzstädtchen im Absolutismus ganz unterschiedliche Möglichkeiten hatte, als verfasste Gebietskörperschaft oder ähnliches Gebilde auf den Plan zu treten. Zieht man die Finanzausstattung in den jeweiligen Konstellationen hinzu, ergeben sich noch weitaus komplexere Überlagerungen und Muster. Sie systematisch und vergleichend zu analysieren, hat bislang bei allen bekannten geschichtswissenschaftlichen Forschungsresultaten, etwa zur Auseinandersetzung zwischen Städten und Landesherren über die Jahrhunderte, unter stadtentwicklungspolitischen Gesichtspunkten nie stattgefunden. So scheinen
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allgemeinere Aussagen zu den längerfristigen Hintergründen des Auf- oder Abstiegs bestimmter Städte doch häufig sehr oberflächlich, ja, bisweilen lässt sich nicht einmal sauber auseinanderdividieren, wie viel an der Blüte einer Stadt in einer Epoche wirklich weitsichtigen Herrschern und wie viel einer günstigen Standortfaktorenausstattung zugeschrieben werden muss. Zu allem Überfluss wird die Angelegenheit noch komplizierter, wenn man sich vergegenwärtigt, dass auch die Konzeption des Staats und seines Einflusses auf die städtischen Gemeinwesen völlig unterschiedlich ausgeprägt war. Insgesamt könnte eine vergleichende Analyse aber sehr viel genauere Hinweise auf die Rolle städtischen Handelns unter verschiedener Trägerschaft geben – ein Gesichtspunkt, dem bis heute bei internationalen Vergleichen zu wenig Beachtung geschenkt wird. Governance-Analysen amerikanischer, britischer oder deutscher Städte gehen zwar nicht automatisch davon aus, dass das Verhältnis von Staat, Stadt und Politik jeweils ähnlich ist, aber eine explizite Hinterfragung, wie stark etwa die unterschiedlichen territorialen Einflussmöglichkeiten des Staats oder die finanziellen Rahmenbedingungen zu je unterschiedlichen Governance-Mustern führen, könnte durch Resultate aus den – in ihren Ausgangsbedingungen noch stärker polarisierten – geschichtlichen Vergleichsbeispielen an zusätzlicher Schärfe gewinnen. Es wurde bereits angedeutet, dass das Verständnis von Stadtpolitik keineswegs als konstant angesehen werden kann. Beschränken wir uns hier auf Stadtentwicklungspolitik in einem raumbezogenen Sinn, dann kann die Vergangenheit deutlich lehren, wie die Verfügung über Grund und Boden beziehungsweise über Territorien die Möglichkeiten und die Merkmale von Stadtentwicklungspolitik beeinflusst. Hinzu kommt die Notwendigkeit, andere Politikfelder zu bearbeiten, die die Handlungsspielräume und Erforderlichkeit raumbezogener Politikprogramme stark beeinflussen. Hier ist wiederum bereits der Blick auf das 19. Jahrhundert in vielerlei Hinsicht aufschlussreich, wenn man sich vergegenwärtigt, wie stark sich Wohnungsfrage, Flächenwachstum durch Aufgabe von Befestigungsanlagen oder Ausbau von Infrastrukturen auf das städtische Handeln ausgewirkt haben. Als Beispiel für das völlig andere Verständnis von Territorialität mag das unternehmerische Wirken städtischer Gemeinwesen gelten, die sich, von den Hauptverkehrsrouten abgeschnitten, verzweifelt um Anschluss an die Eisenbahn bemühen und eine solche entweder selbst betreiben oder finanzieren, sei es als Kommune oder durch die Gründung einer Gesellschaft, die im Eigentum wichtiger Unternehmerpersönlichkeiten betrieben wird, die ihrerseits zentralen Einfluss auf die Stadtpolitik besitzen. Mannigfache Fragen schließen sich an, die im Zeitalter der industriellen Urbanisierung schnell auf die Frage nach der Veränderung von städtischen Grenzen und Eingemeindungen hinführen. Auch hier wird schnell deutlich, wie aufschlussreich die systematische Aufarbeitung der Einflüsse der genannten Faktoren auf die räumliche Stadtentwicklung unter Governance-Gesichtspunkten sein können, wenn es etwa darum geht, heutige schnelle Urbanisierungsphänomene außerhalb der „westlichen Welt“ unter Governance-Gesichtspunkten besser zu verstehen. Der Rückblick bietet wohl aber auch für aktuelle Tendenzen innerhalb der europäischen Stadtentwick-
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lungspolitik neue Zugänge und Möglichkeiten der Untersuchung innerhalb eines breiteren Zusammenhangs, wenn man etwa an heutige public-private partnerships oder die Verlagerung von Infrastrukturunterhalt und weiteren bislang lokalstaatlichen Aufgaben der Daseinsvorsorge in die Sphäre des Marktes innerhalb einer liberalistischen Stadtpolitik denkt. Ähnliches lässt sich auch für die Zusammenarbeit und die Akteure erforschen. Auch hier gilt, dass die Konzepte von Staat, Markt und Gesellschaft, die Merkmale der Akteure wie etwa der Unternehmen oder der Zivilgesellschaft und ihrer Beziehungen untereinander Gegenstand empirischer Untersuchungen sein müssen, um fruchtbare vergleichende Untersuchungen zu Governance-Fragen durchführen zu können. Wie stark sich unterschiedliche Konzepte von den genannten Akteuren in bestimmten Gesellschaften auf die Sinnhaftigkeit und Aussagekraft von Governance-Analysen auswirken, bleibt noch zu ergründen gerade wieder bei einer Übertragung des Governance-Konzepts auf andere als westlich-kapitalistische Gesellschaften. Auch hier erlauben historische Analysen Aufschluss darüber, wie stark der Einfluss unterschiedlicher Akteurskonzepte wirklich ist. Über diese Meta-Fragen, die vor allem für die zeitgenössische Governance-Forschung von Interesse sind, ergibt sich ein Satz von Fragen, die auf die Vertiefung des Verständnisses historischer Stadtphänomene zielen. Aus diesem Band hat sich vor allem die Hypothese ergeben, dass eine enge Kooperation zwischen (lokalem) Staat und Unternehmen vor allem in Zeiten des Strukturwandels von besonderer Bedeutung ist. Lediglich in Zeiten relativer Stabilität scheinen die Anreize für Städte, sich um eine enge und systematische Kooperation mit Unternehmen zu bemühen, geringer zu sein. Dies gilt auch für etatistische Systeme, in denen der Staat über hinreichende Ressourcen für Stadtentwicklung verfügt. Dagegen gilt dies offenbar nur sehr eingeschränkt für die Epoche des Fordismus. Viel weniger klar stellt sich der Erkenntnisstand für den Einfluss der Zivilgesellschaft auf die Stadtentwicklung dar, wie oben angedeutet wurde. Auch hier konnten deutliche Hinweise für die Zeit vor dem Aufkommen des Governance-Konzepts zusammengetragen werden. Welche Ressourcen die Zivilgesellschaft in die Zusammenarbeit einbringt und welche Anreize für den (lokalen) Staat bestehen, auf sie einzugehen und wie weit, ist aber eingehend und differenzierter zu analysieren. Methodische Grenzen stellen nach wie vor eine wesentliche Barriere für eine fruchtbare historisch gewendete Governance-Forschung dar. Politikwissenschaftliche Analysen zeitgenössischer Stadtentwicklungsphänomene können sich auf zweierlei methodische Säulen stützen, die im historischen Vergleich eher als wackelig anzusehen sind. Erstens vertrauen sie auf eine gewisse Stabilität der gesamtpolitischen Rahmenbedingungen – wenn sie sich nicht explizit der Transformationsforschung zuwenden – und müssen sich daher im Zuge einer Untersuchung nicht damit auseinandersetzen, dass der Zusammenhang zwischen politischem System und Stadtentwicklung selbst unaufgeklärter Forschungsgegenstand ist. Zweitens können sie auf eine Vielzahl von Ansätzen der Erkenntnisgewinnung setzen, die für die Vergangenheit nur sehr eingeschränkt vorliegen. Die Auslotung des Verhältnisses zwischen den
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beteiligten Akteuren, Gegenstand politikwissenschaftlicher Analysen bereits seit der frühen Community-Power-Forschung und erst recht der GovernanceForschung, nutzt vielfach qualitative Interviews mit Verfahrensbeteiligten neben einer Analyse von verwaltungsinternen Dokumenten, um überhaupt genauer verstehen zu können, wie Entscheidungsvorbereitungsprozesse in der Stadtentwicklung abgelaufen sind. Hier stößt eine Analyse der Zwischenkriegszeit bereits auf erhebliche Probleme, denn die meisten Zeitzeugen leben nicht mehr und interne Dokumente sind nur mit Einschränkungen zugänglich oder in der Genauigkeit vorhanden, die für die hier zu beforschenden Zusammenhänge aufschlussreich sein könnten. Historische Analysen machen Gebrauch von interpretationsfähigen Quellen, doch ist deren Aussagekraft für die Beziehungen zwischen den Akteuren gegenüber einer Analyse zeitgenössischer Phänomene viel gröber. Hier haben die Fallstudien dieses Bands deutlich gemacht, welche Erkenntnisse dennoch zu gewinnen sind, aber auch, wo eine Untersuchung zwangsläufig an Grenzen stößt. Offensichtlich lässt sich aus den Nachweisen über das Handeln von bedeutenden Unternehmerpersönlichkeiten auf deren politische Verbindungen zurück schließen. Hier zeigen sich beinahe zwangsläufig auch systematische Governance-relevante Interaktionsformen. Sie sind aber auf wenige ausgewählte Zeugnisse begrenzt, sagen häufig wenig über den Verlauf von Interaktionen und erfordern eine sorgfältige Interpretation, wenn aus ihnen Aussagen über Machtverhältnisse destilliert werden sollen.
A USBLICK Für eine systematische Erschließung von Formen der urbanen Governance in historischer Perspektive ergeben sich trotz aller methodischen und praktischen Beschränkungen vielfältige Zugänge und Anwendungsbereiche. Eine interdisziplinäre Verschränkung der lokalen Politikforschung, der Urbanisierungsforschung und der Planungswissenschaften ist hierfür aber erst dauerhaft zu etablieren. Mit dem vorliegenden Band sind erste tastende Schritte in diese Richtung gegangen worden. Es gilt aber zukünftig, nicht nur die eingeschränkte Governance-Perspektive zu überwinden, die zumindest in breiten Planerkreisen den wesentlichen Ursprung erwähnenswerter systematischer stadtentwicklungsrelevanter Interaktionen zwischen dem lokalen Staat und anderen gesellschaftlichen Kräften in dem Aufkommen zivilgesellschaftlicher Beteiligung an der Planung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ansiedelt. Darüber erkennt die Planungswissenschaft zwar die bedeutende Rolle von privaten Unternehmen für die Stadtentwicklung in der Industrialisierungszeit an, ist aber trotz einer latenten kapitalismuskritischen Haltung häufig nicht angemessen in der Lage, die Zusammenhänge zwischen der Verfasstheit des Staats und dem Einfluss anderer Akteure auf die Stadtentwicklung zu verstehen. Über einen stärker historisch ausgerichteten Blick, so bleibt zu hoffen, können sich hier Verbesserungen einstellen, die dazu beitragen, Handlungsspielräume der Planung und Ansätze einer Weiterent-
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wicklung des Planungssystems vor einem umfassenderen Hintergrund zu reflektieren.
Autorinnen und Autoren Prof. Dr.-Ing. Uwe Altrock ... geb. 1965. Stadtplaner und Mathematiker; seit 2006 Professor für Stadtumbau und Stadterneuerung in Kassel, zuvor 2003-2006 Juniorprofessor für Urban Structures an der BTU Cottbus; Arbeitsschwerpunkte: Planungstheorie, Planungsgeschichte, Stadterneuerung.
Dipl.-Ing. Grischa F. Ber tram … studierte von 1999 bis 2006 Stadtplanung mit der Vertiefungsrichtung Stadtentwicklungsplanung in Kassel und London (Bartlett School of Planning, UCL). In seiner Diplom-II-Arbeit beschäftigte er sich mit der erfolgreichen englischen planning policy zur Einzelhandels- und Zentrensteuerung als Vorbild für Deutschland. Seit 2007 ist er in unterschiedlichen Forschungsprojekten sowie in der Lehre als Wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Fachgebiet Stadterneuerung_Stadtumbau tätig. Er promoviert zur Bedeutung bürgerschaftlicher Opposition gegen Planungsvorhaben der urban renaissance. Seine wesentlichen Arbeitsschwerpunkte sind städtische Transformationsprozesse, Nachhaltige Stadtentwicklung, Baukultur und Zusammenhänge von Verkehrs- und Stadtentwicklung.
Gerhard Fehl, Dr. Ing., MCD (Master of Civic Design) ... geb. 1934 in Heidelberg, Studium der Architektur in Stuttgart und Karlsruhe, Studium der Stadtplanung in Liverpool (UK) und Harvard (USA). Seit 1971 Univ.-Professor für Planungstheorie an der Architekturfakultät der Rheinisch Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH-Aachen), 1996 emeritiert. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Stadtplanung, des Städtebaus und der Urbanisierung unter den Aspekten „Produktion von Stadt“ und „Planungskulturen“.
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Dr. Friedhelm Fischer Nach Studium in Aachen, Berkeley, Canberra: Lehre & Forschung an der RWTH Aachen (Planungstheorie), der T.U. Hamburg-Harburg (Stadterneuerung), in Berkeley, Canberra und Sydney. 2007/08 Vertretungsprofessur für Kultur und Geschichte der Metropole an der HafenCity Universität Hamburg. Seit 1993 Akademischer Rat an der Universität Kassel (Stadtbaugeschichte, Stadterneuerung/ Stadtumbau). Forschungsschwerpunkte: Planungsgeschichte, internationaler Vergleich.
Dipl.-Ing. Ot to Kastor f f ... 1968 - 1976 Studium von Architektur, Städtebau, Planung und Baugeschichte an der RWTH Aachen. Praktische Tätigkeit als Architekt (in allen Leistungsphasen) und Stadtplaner (in allen räumlichen Bereichen) und als Denkmalpfleger im Weltkulturerbe ‚Hansestadt Lübeck‘. Interessenschwerpunkte: Bau- und Stadtgeschichte, Architektur- und Planungstheorie und Theorie der symbolischen Formen.
Prof. Dr. Renate Kastor f f-Viehmann ... geb. 1949, hat an der RWTH Aachen Architektur studiert und als Stadtplanerin und Denkmalpflegerin gearbeitet. Sie ist Dozentin für Bau- und Städtebaugeschichte an der Fachhochschule Dortmund und im Master-Programm Städtebau NRW. Im Rahmen der akademischen Selbstverwaltung hat sie das Amt der Dekanin am Fachbereich Architektur sowie der Gleichstellungsbeauftragten und der Prorektorin der Fachhochschule Dortmund bekleidet. Ihre Forschungen und Publikationen betreffen die Bau- und Städtebaugeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, dies wiederum mit dem Schwerpunkt Industriestadt bzw. Ruhrgebiet.
PD Dr. habil. Stef fen Krämer ...studierte Kunstgeschichte, Klassische Archäologie, Philosophie und Vorund Frühgeschichte an den Universitäten in Frankfurt/M., Heidelberg und München. Von 1995 bis 2000 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kunstgeschichte der Universität München, von 2003 bis 2007 wissenschaftlicher Lehrbeauftragter an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Seit 2005 ist er Privatdozent am Institut für Kunstgeschichte der Universität München und seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kunstund Baugeschichte der Universität Karlsruhe. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der mittelalterlichen Baukunst, der Architektur und Architekturthe-
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orie sowie dem Städte- und Siedlungsbau vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. In diesen Forschungsbereichen hat er zahlreiche Publikationen veröffentlicht.
Dr.-Ing. Celina Kress ... ist Architekturhistorikerin und Architektin. Sie arbeitete als Architektin in Berlin, München und Wien. 2008 wurde sie mit der Arbeit »Zwischen Bauhaus und Bürgerhaus – Die Projekte des Berliner Bauunternehmers Adolf Sommerfeld« an der Technischen Universität Berlin promoviert. Sie ist am Center for Metropolitan Studies der TU Berlin als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig und lehrt im Masterstudiengang Historische Urbanistik/Historical Urban Studies. Einen Schwerpunkt ihrer Publikationen zur Architektur-, Planungs- und Städtebaugeschichte bildet Berlin als Stadtregion im 19. und 20. Jahrhundert. Ihr besonderes Forschungsinteresse gilt dem Stadtumbau, Akteuren der Stadtproduktion sowie Dynamiken und Entwicklung von Metropolregionen.
Prof. Ingrid Lübke ... geb. 1942, Dipl.-Ing. Architektur und Städtebau an der TU Berlin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Berlin und der TU Eindhoven/ NL. Von 1981 bis 1995 Koordinatorin und Planerin beim Amt für Städtebau und Wohnungswesen in Rotterdam/ NL in verschiedenen Stadterneuerungsgebieten und der Stadtentwicklungsplanung, Vorstandsmitglied bei der Wohnungsbaugesellschaft „Stichting Volkswoningen Rotterdam“. Von 1995 bis 2007 Univ.-Professorin für Stadtentwicklungsplanung und Stadtmanagement am Fachbereich Architektur, Stadtplanung, Landschaftsplanung (ASL) der Universität Kassel. Seit 1997 Mitglied der deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung (DASL), 2007 Stadtmedaille der Stadt Kassel, Vorstandsmitglied beim KulturNetz Kassel. Veröffentlichungen zu: Stadterneuerung, Stadtentwicklung 1950er Jahre, Wechselwirkung von Stadt- und Projektentwicklung, Herausgeberin des Buches „Kooperative Stadtentwicklung durch kooperative Planung“, Reimer Verlag Berlin 2010, z. Zt. Beratungsbüro für nachhaltige, kooperative Planung und Projektentwicklung.
Dr.-Ing. Barbara Schönig M.A. ... studierte an der TU Berlin, der Humboldt Universität Berlin sowie der Ohio State University, Columbus, Ohio USA, Stadt- und Regionalplanung, Neuere deutsche Literatur und Kunstgeschichte. 2009 Promotion an der TU Berlin „Pragmatische Visionäre. Zivilgesellschaft und stadtregionale Planung in den USA“. 2002-2005 Mitglied im Ladenburger Kolleg der Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung „Mitten am Rand: Zwischenstadt. Zur Qualifizierung der
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verstädterten Landschaft“, 2003 bis 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Planungs- und Architektursoziologie der TU Berlin, seit 2009 wissenschaftliche Assistentin am Fachgebiet Raum- und Infrastrukturplanung der TU Darmstadt. Forschungsschwerpunkte: Stadt- und Metropolenentwicklung in den USA, Suburbanisierung und nachhaltige Stadtentwicklung, Zivilgesellschaft und Governance
Prof. Dr.-Ing. Hildegard Schröteler-von Brandt ... studierte von 1971-1975 an der FH-Aachen und von 1975-1980 an der RWTH Aachen Architektur mit Studienschwerpunkt Städtebau. Sie arbeitete in verschiedenen Stadtplanungsbüros und war zwischen 1982 und 1996 in Lehre und Forschung an der RWTH Aachen am Lehrstuhl für Planungstheorie beschäftigt. 1998 promovierte sie zum Thema: „Rheinischer Städtebau – Die Stadtbaupläne in der Rheinprovinz von der napoleonischen Zeit bis zum Kaiserreich – insbesondere das Fallbeispiel Stadtbauplan Mönchengladbach“. Seit 1998 ist sie Professorin für Stadtplanung und Planungsgeschichte an der Universität Siegen. Aktueller Forschungsschwerpunkt ist die Entwicklung Ländlicher Räume unter besonderer Berücksichtigung der städtebaulichen Auswirkungen des demographischen Wandels.
Prof. Dr. rer. pol. Dirk Schuber t ... geb. 1947, Studiendekan Masterstudiengang Stadtplanung an der HafenCity Universität Hamburg; Studium der Architektur und Soziologie, bis 1981 Wiss. Ass. an der FU Berlin, dann Akad. O-Rat an der TU Hamburg-Harburg, Arbeitsschwerpunkte und zahlreiche Buch- und Zeitschriftenpublikationen in den Bereichen Wohnungswesen, Stadterneuerung und Stadtplanungsgeschichte, Umbau von Hafen- und Uferzonen in deutschen und diversen ausländischen Fachzeitschriften. (Mit-)Herausgeber von Planning Perspectives, Jahrbuch Stadterneuerung, Portus und urban.
Dr. Klaus Selle … hat Städtebau (in Aachen) studiert, als Raumplaner (in Dortmund) promoviert und sich mit einer Arbeit zur Bestandspolitik eben dort habilitiert. Nach seiner Tätigkeit in Dortmund war er ab 1987 als Professor in Hannover tätig bevor er 2001 den Lehrstuhl für Planungstheorie und Stadtentwicklung an der RWTH Aachen übernahm. Seine wissenschaftliche Arbeit ist darauf gerichtet, Prozesse der Stadtentwicklung aus dem Handeln der Akteure heraus verstehen und beeinflussen zu können. In diesem Zusammenhang sind zahlreiche Veröffentlichungen entstanden (u.a. in der edition stadt|entwicklung: Planen, Steuern, Entwickeln; Planung neu denken; Siedlungsflächen entwi-
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ckeln; Plätze, Parks & Co etc.). In der Praxis unterstützt Klaus Selle seit 35 Jahren Initiativen, Kommunen, Verbände etc. bei der kommunikativen Gestaltung von Planungsprozessen und Projektentwicklungen (u.a. im Bürgerbüro Stadtentwicklung Hannover und im »netzwerk stadt | forschung, beratung, kommunikation«)
Prof. Dr. Ulla Terlinden Soziologin mit den Schwerpunkten historische Stadtforschung und Genderstudies Fachbereich Architektur Stadtplanung Landschaftsplanung Universität Kassel
Dr.-Ing. Jan Volker Wilhelm ... studierte von 1990 bis 1999 Historische Geographie, Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Ur- und Frühgeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. In den Jahren 2000/01 absolvierte er das Aufbaustudium Denkmalpflege an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und wurde 2005 am Institut für Baugeschichte, Architekturtheorie und Denkmalpflege der TU Berlin promoviert. Seitdem ist er für unterschiedliche Auftraggeber in den Bereichen Denkmalpflege, Stadtplanung, Dorferneuerung, Museumswesen und Stadtgeschichte tätig. Besondere Schwerpunkte bilden Stadtplanungsgeschichte, Städtebau und Städtebaurecht.
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Abbildungen Abb. 1: Stadtentwicklung als Resultat des Handelns von Akteuren aus drei „Sphären“ (Markt, Staat, Gesellschaft) Abb. 2: Anwendungsfelder von Governance Abbildungen sind eigene Dartsellungen des Autors
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Abbildungen Abb. 1: Text der Forderungen der Calvinisten aus Frankfurt vom 26. August 1596 als Grundlage der Verhandlungen mit Graf Ludwig Philipp II (in hochdeutscher Übersetzung von H. Bott). Aus: H. Bott 1970 I Abb. 2: Vom Verfasser stark gekürzter Text der sogenannten „Kapitulation“ vom 1. Juni 1597 als Ergebnis der Verhandlungen zwischen den Frankfurter Calvinisten und Philipp Ludwig II. Aus: H. Bott 1970 I Abb. 3: Entwurf von 1597 des N. Gillet für den Stadtgrundriss mit Eintrag der alphabetischen Kenzeichnung der Baublöcke. Norden ist in etwa oben. Aus: H. Bott 1970 I Abb. 4: Östlicher Ausschnitt: Die von E. Zimmermann rekonstruierte Karte der Baugrundstücke der Neustadt auf dem Stand von 1750 mit numerischer Blockbezeichnung und den Jahreszahlen des ersten Ankaufs. Aus: Zimmermann 1919 Abb. 5: Fassade des 1599 gebauten Bürgerhauses am Marktplatz von C. Lescailliet; Bauaufnahme von 1914. Aus: Bott II,1970 Abb. 6: Fassade des 1601 gebauten bürgerlichen Doppelhauses am Marktplatz von H. Schelkens und C.van Daele; Bauaufnahme von 1914. Aus Bott II, 1970 Abb. 7: Vogelschauplan von Hanau von C. Metzger, 1663. Idealisierte Darstellung mit einheitlich 2-geschossiger Bebauung und an der Stadtmauer im Süden die 1-geschossigen „Häusergen“ für die Armen. Aus: Archiv G. Fehl Abb. 8: Fotografie um1936 der Gärtnerstrasse längs der Umwallung mit den inzwischen massiv gebauten „Häusergen“ der Tagelöhne. Aus: Schaub 2002
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Abb. 9: Jahresbilanzen von Neu Hanau. Aus: Bott 1971 II, 31, 127, 165 f., 193, 233 f., 266, 285 f., 322 f. Abb. 10:: Daten zur Hanauer Neustadt. Eigene Zusammenstellung.
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Abbildungen Abb. 1: Bauplan der Stadt Düsseldorf von 1831; Spohr. E. (1978:376) Abb. 2: Bau-Plan der Stadt Mönchengladbach vom Jahre 1863; Nachdruck des Originals; Schröteler-von Brandt (1998: 487) Abb. 3: Handzeichnung von den nivellierten Straßenzügen der Stadt Solingen mit der Figuration der Alignements aus dem Jahre 1845; Schröteler-von Brandt (1998: 236) Abb. 4: Beteiligte Instanzen bei der Erstellung der Stadtbaupläne; eigene Abbildung Abb. 5: Ablaufdiagramm zum Planungsverfahren; eigene Abbildung Abb. 6: Darstellung des Geltungsbereiches des Stadtbauplanes von Mönchengladbach im Jahr der Erstellung des ersten Entwurfes 1836 sowie im Jahr der Genehmigung 1863; Schröteler-von Brandt (1998: 385) Abb. 7: Stadtbauplan Mönchengladbach; Schröteler-von Brandt (1998: 449) Abb. 8: Plan zur Vergrößerung der Stadt Mühlheim an der Ruhr aus dem Jahre 1829; Günter (1994:98) Abb. 9: Ausschnitt des Entwurfes des Stadtbauplanes für die Stadt Dortmund und Umgebung aus dem Jahre 1857/1858; Fehl/Rodriguez-Lores (1983:71) Abb. 10: Beispielhafte Darstellung für problembehaftete Baufluchtlinienfestsetzungen in Altstädten zum Zwecke der Straßenverbreiterung; Schröteler-von Brandt (1998:245)
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DEM W EG ZUR IDEALEN S TADT. D IE A USPRÄGUNG DER LOK ALEN G OVERNANCE IN G ÖT TINGEN Z WISCHEN 1866 UND 1918
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Abbildungen Abb. 1: Die Göttinger Stadtfeldmark vor der Verkoppelung 1876; eigene Umzeichnung Abb. 2: Die Stadtfeldmark Göttingens am 4. Oktober 1879; eigene Umzeichnung Abb. 3: Baulandumlegung in Neukölln; Pagenkopf (1906:Tafel 81/82) Abb. 4: Erschließung einer nicht freigegebenen Straße von den Seiten her; Stadt Göttingen Fachdienst 63, Bauakten Am Steinsgraben 1 und 3 Abb. 5: Privater Antrag auf Anlage einer Straße, 1889; Stadtarchiv Göttingen AHR I C 8 Nr. 25 Abb. 6: Allgemeiner Bebauungsplan 1914; Stadtbauamt Göttingen Abb. 7: Verteilung des Grundbesitzes 1913, Ausschnitt; Stadtbauamt Göttingen
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G OVERNANCESTRUK TUREN , P FADENT WICKLUNGEN UND RÄUMLICHE A USWIRKUNGEN AUF DAS V ERHÄLTNIS VON S TADT- UND H AFENENT WICKLUNG IN L ONDON UND H AMBURG Literatur Al Naib, S. K. / Carr, R. J. M. (1988): Dockland. An illustrated historical survey of life and work in East London. Dagenham. Barnes, John, / Colenutt, Bob / Malone, Patrick (1996): London: Docklands and the State. In: Malone, Patrick (ed.): City, capitol and water. London/New York. Bell, Alan (1934): Port of London 1909-1934, London. Bird, James (1957): The Geography of the Port of London, London. Bonz, G. (2006): Die wirtschaftspolitische Bedeutung des Hafens für Hamburg. In: Jahrbuch der Hafentechnischen Gesellschaft, 55. Bd., Hamburg, 39-42. Borscheid, Peter (2004): Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung. Frankfurt am Main. Broodbank, Joseph G. (1921): History of the Port of London. Vol. I, London. Brownill, Sue (1990): Developing London’s Docklands – Another great planning disaster? London. Cox, Jane (1994): London’s East End. Life Traditions. London. Eberstadt, Hermann (1981): Hamburgs Anschluß an das deutsche Zollgebiet. Hamburg. Emmerich, Walter (1960): Der Freihafen. Hamburg. Evans, Richard (1990): Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830-1910. Reinbek. Foster, Janet (1999): Docklands Cultures in Conflict, Worlds in Collision. London. Greeves, Ivan S. (1980): London Docks 1800-1980. A civil engineering history. London. Grobecker, Kurt (2004): Hafen Hamburg, Sechs Jahrzehnte Erfolgsgeschichte. Hamburg. Grüttner, Michael (1984): Arbeitswelt an der Wasserkante. Sozialgeschichte der Hamburger Hafenarbeiter 1886-1914. Göttingen. Hafenentwicklungsgesetz (HafenEG) vom 25. Januar 1982, zuletzt geändert 13.6.2006, HmbGVBl. 2006. Hansen, Helmut F. H. (1989): Im Auf und Ab der Gezeiten. Die wechselvolle Geschichte des Hamburger Hafens. Herford. Hebbert, Michael (1998): London, More by Fortune than Design. Chichester. Heitmann, Jan (2006): Hamburgs Hafen in der „Stunde Null“. Hamburg. Jones, Gareth Stedman (1984): Outcast London: A Study in the Relationship between Classes in the Victorian Society. London. Keay, John (1991): The Honourable Company. A History of the English East India Company. London. Kludas, Arnold / Maass, Dieter / Sabisch, Susanne (1988): Hafen Hamburg.
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Wendemuth / G. Böttcher, Der Hafen von Hamburg, Hamburg 1928, Kartenbeilage) [getauscht] Abb.9: Entwicklung der Stückgutanlagen im Hamburger Hafen bis 2002 (Quelle HPA, Hamburg 2005) Abb. 10: Stakeholderpanorama HafenCity Hamburg (Quelle: Eigene Darstellung)
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K ONKRETE U TOPIE – P ETER R EHDERS G UTACHTEN „D IE BAULICHE UND WIRTSCHAF TLICHE A USGESTALTUNG UND N UTZBARMACHUNG DER LÜBECKISCHEN H AUPTSCHIFFAHRTSSTRASSEN “ Literatur AHL, Tiefbau: J II, No.1 = Archiv der Hansestadt Lübeck, 4.66 Tiefbau-Akten, Bestand 1956, Packen 19, Akte J II 109 Bd. II Bebauungsplan für die Vorstädte 1865 - 1884, No.1: Schreiben vom Baudirektor Dr. Krieg vom 9. Februar 1865. Ahrens, G. (1988): Von der Franzosenzeit bis zum Ersten Weltkrieg 1816 1914: Anpassung an die Forderungen der neuen Zeit. In: Graßmann, A. (Hrsg.): Lübeckische Geschichte. Lübeck: Schmidt-Römhild. Ahrens, G. (1988) zu Ritter: Ritter, B. (1855): Ritter‘s geographisch-statistisches Lexikon über die Erdtheile, Länder, Meere, Buchten, Häfen,. Seen, Flüsse, Inseln, Gebirge, Staaten etc. 4., umgearbeitet, stark verm. u. verb. A. von W. Hoffmann, C. Winderlich u. C. Cramer. Leipzig: Wigand. Bauer, H. (1965): Kunst und Utopie. Berlin: Walter de Gruyter. Bischof, P. / Boltze (1909): Die Umgestaltung der Bahnanlagen in und bei Leipzig. In. Zeitschrift für Bauwesen 59. Jg. , 223 - 232 und 371 - 384 mit Tafeln 31 - 37 im Atlas. Bloch, E.(1967, 1.Aufl. 1959): Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Elias, N. (2001): Symboltheorie. Frankfurt am Mai: Suhrkamp. Graßmann, A. (1988): Lübeck im 17. Jahrhundert: Wahrung des Erreichten. In: Graßmann, A. (Hrsg.): Lübeckische Geschichte. Lübeck: SchmidtRömhild. Hirsch, A. (1895): Die Erweiterung der Duisburger Hafenanlagen. In: Zentralblatt der Bauverwaltung 32, 341 - 343. Keil, G. (1959): Raumordnung zwischen Hamburg und SchleswigHolstein. In: Raumforschung und Raumordnung, 17 Heft 2, 1-7. Kreuzfeldt, B. (1969): Der Lübecker Industrie-Verein. Eine selbsthilfeeinrichtung lübeckischer Bürger 1889 - 1914. Lübeck, Schmidt-Römhild. Bei Kreuzfeldt fehlt der Bezug zur Stadtplanung. Le Corbusier / Jeanneret, Pierre und ASCORAL (1945): Les trois établissements humains. Denoel, Paris. Mannheim, K. (1995, 1. Auflage Bonn 1929): Ideologie und Utopie, 8. Auflage, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann. Meyer-Lindemann, H.U. (1951): Typologie der Theorien des Industriestandortes. Veröffentlichung der Akademie für Raumforschung und Landesplanung. Bremen-Horn: Dorn. Merzbach, S. (2005): Vortrekking Utopia – Geistesgeschichtliche Bezüge, Soziokulturelle Phänomene, Pädagogische Aspekte der Fernsehserie STAR TREK®. Dissertation Hamburg 2005. http://www.merzbach.de/ (Zugriff: 28. Januar 2008). Müller, M. (1978): Architektur für das „Schlechte Neue“. In: Lindner, B.
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Abbildungen Abb. 1: Hafenausfahrt um 1842: Links sind die Befestigungen auf der Wallhalbinsel und rechts die Wälle vor dem Burgtor sichtbar; Museum für Kunstund Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck Abb. 2: Hafenerweiterung der 1870er Jahre vor dem Burgtor (siehe Abb. 1 – Gegenrichtung) mit erweiterten Gleisanlagen; Museum für Kunst- und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck) Abb. 3: Der Blick geht in den 1920er Jahren über die Seehäfen im Vordergrund, weiter über den Vorwerker Hafen – fertig gestellt doch kaum genutzt – dann im Mittelgrund Trave abwärts; Museum für Kunst- und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck Abb.4: Übersicht über Industriebezirke; Rehder (1906) Abb. 5: Gutachten, Ausschnitt aus Blatt VII; Rehder (1906) Abb. 6: Gutachten, Ausschnitt aus Blatt VII; Rehder (1906) Abb. 7: Zentralblatt der Bauverwaltung 1895 Abb. 8: Zeitschrift für Bauwesen 1909 Abb. 9: Gutachten, Blatt; Rehder (1906) Abb. 10: Gutachten, Ausschnitt aus Blatt; Rehder (1906)II Abb. 11: Gutachten, Blatt X; Rehder (1906) Abb. 12: Gutachten, Plan Blatt VII; Rehder (1906)
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Abb. 3: mittelständische Gartenstadt Hopfengarten Abb. 4: Gartenstadt Reform (B. Taut): Schlichte, sparsame Reihenhäuser mit seriellen Grundrissen... Abb. 5: ...und „gemeinschaftsbildenen Wohnhöfen“ Abb. 6: „Billige Eigenheime“: Verkaufsbroschüre der Gartenstadt Hopfengarten mit Kaufpreisen Abb. 7: „Anschubfinanzierung“: Genossenschaftsbauten und Quadratmeterpreise der Privatgrundstücke Abb. 8: Planungsziel: Feinkörnige Mischung von Miete und Eigentum Abb. 9: Ungewöhnliches Muster der Governance: Anpflanzung von Linden im öffentlichen Straßenraum in privater Regie, 1913 Alle Abbildungen aus Fischer (1996)
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Abb. 6: Essen, Arbeiterkolonie Cronenberg, 1872-74, Grundriss der Gesamtanlage; Wohlfahrtseinrichtungen II (1902:17) Abb. 7: Essen, Arbeiterkolonie Cronenberg, 1872-74, historisches Photo, ca. 1903; Baedeker (1912:105) Abb. 8: Essen, Arbeiterkolonie Cronenberg, 1872-74, Häuserzeile; Wohlfahrtseinrichtungen II (1902:18-19) Abb. 9: Reutlingen, Arbeitersiedlung Gmindersdorf, 1903-15, Grundriss der Gesamtanlage; Nerdinger (1988:211) Abb. 10: Reutlingen, Arbeitersiedlung Gmindersdorf, 1903-15, Einzelhäuser; eigenes Foto Abb. 11: Bournville bei Birmingham, Arbeitersiedlung der Schokoladenfabrik Cadbury, ab 1887, Grundriss der Gesamtanlage; Weißbach/Mackowsky (1910:122) Abb. 12: München, Arbeitersiedlung Alte Heide, 1918-29, Grundriss der Gesamtanlage; Gut (1919:411) Abb. 13: München, Arbeitersiedlung Alte Heide, 1918-29, Häuserzeilen; eigenes Foto Abb. 14: Frankfurt, Siedlung Westhausen, 1929-31, Grundriss der Gesamtanlage; Dreysse (1988:19) Abb. 15: Berlin, Großsiedlung Britz, 1925-27, Grundriss der Gesamtanlage; Walther (1979:391)
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Abbildungen Abb.1 Titel der Zeitschrift : Die Frau. Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit 1913 (Quelle: Archiv der deutschen Frauenbewegung Kassel) Abb.2 Marie-Elisabeth Lüders (Quelle: Archiv der deutschen Frauenbewegung Kassel) Abb.3 Jenny Apolant (Quelle: Archiv der deutschen Frauenbewegung Kassel) Abb.4 Werbeanzeige für die Broschüre von Jenny Apolant: Stellung und Mitarbeit der Frau in der Gemeinde. In: Centralblatt des Bundes Deutscher Frauenvereine 1912 (Quelle: Archiv der deutschen Frauenbewegung Kassel)
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D IE R OT TERDAMER P ROJEK TGRUPPEN – EIN B EISPIEL FÜR LOK ALE G OVERNANCE BEIM BEHUTSAMEN U MBAU DER S TADT IN DEN 1970 ER UND 1980 ER J AHREN Weitere Literatur zum Rot terdamer Modell Wim van Es: Vorgeschichte und Zeit des Umdenkens, in: Bauwelt 1980, Heft 19 Helga Fassbinder und Jürgen Rosemann: Stadterneuerung als kommunale Strategie – die Prinzipien des Rotterdamer „Aanpak“, in: Bauwelt 1980, Heft 19 Ingrid Lübke: Rotterdam – Stadterneuerung mit und für die Bewohner, in: Hrsg. E. v. Einem: Die Rettung der kaputten Stadt, Internationale Bauausstellung Berlin, 1985 Ingrid Lübke: Stadterneuerung mit den Bewohnern für die Bewohner in Rotterdam – Erfahrungen aus der Projektgruppe Feijenoord-Noordereiland, in: Hrsg. H. Harms et al.: Stadterneuerung in Holland – Beispiele aus Amsterdam und Rotterdam, TU Hamburg - Harburg, 1987 Klaus Selle: Mit den Bewohnern die Stadt erneuern … Beobachtungen aus sechs Ländern, Dortmund/ Darmstadt 1991 Ingrid Lübke: Bürgerbeteiligung bei der Stadterneuerung in Rotterdam, in: AK Standpunkte Bürgerbeteiligung aber wie?, Tagungsbericht AK Wien, 1993 I. Lübke, G. Schuhmacher, O. Beugels: Stadterneuerung Rotterdam in: Hrsg. H.Bodenschatz, et al.: Stadterneuerung im Umbruch, Arbeitshefte ISR TU Berlin, 1994
Abbildungen Abb. 1: DROS Rotterdam: Stadsvernieuwing Rotterdam 1974 - 1984, Deel 2: 134 Sociale woningbouwprojekten, Uitgeverij 010, Rotterdam 1985 Abb. 2: Eigene Darstellung auf der Grundlage von einem Schema der Stadt Rotterdam. In: Broschüre: Dit was het begin, Rotterdam 1982 Abb. 3: Rotterdam City-Plan, The City Council of Rotterdam, July 1992 Abb. 4: Broschüre der Stadt Rotterdam: Dit was het begin, Rotterdam 1982 Abb. 5: Broschüre der Stadt Rotterdam: Dit was het begin, Rotterdam 1982 Abb. 6: J. v. Dieten, H. Moscoviter: Bakstenen kun je tellen, leefbarheid niet, Gemeente, Rotterdam 1994 Abb. 7: Broschüre der Stadt Rotterdam: Dit was het begin, Rotterdam 1982 Abb. 8: Eigene Darstellung auf der Grundlage einer Zeichnung der Stadt Rotterdam Abb. 9: Eigene Darstellung Abb. 10: Eigene Darstellung auf der Grundlage von einem Schema der Stadt Rotterdam Abb. 11: Eigene Darstellung auf der Grundlage von einem Schema der Stadt Rotterdam Abb. 12: Eigene Darstellung
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Abb. 13: Stadsvernieuwing Rotterdam 1974 - 1984, Deel 3: Woningverbetering, uitgeverij 010, Rotterdam 1985 Abb. 14: Broschüre der Stadt Rotterdam: De stad vernieuwd, DROS Rotterdam 1987 Abb. 15: Broschüre der Stadt Rotterdam: Verbouwen aan de stad, DROS Rotterdam 1989 Abb. 16: Foto der Autorin Abb. 17: DROS Volkshuisvesting: Spijkers met koppen 1985 - 1990, Rotterdam 1990 Abb. 18: Kop van Zuid 2, uitgeverij 010 publishers, Rotterdam 1999 Abb. 19: Rotterdam City-Plan, The City Council of Rotterdam, July 1992 Abb. 20: Stadt Rotterdam: deelgementen jpg, von Autorin bearbeitet
Urban Studies Ralph Buchenhorst, Miguel Vedda (Hg.) Urbane Beobachtungen Walter Benjamin und die neuen Städte (übersetzt von Martin Schwietzke) 2010, 230 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1524-1
Thomas Dörfler Gentrification in Prenzlauer Berg? Milieuwandel eines Berliner Sozialraums seit 1989 2010, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1295-0
Florentina Hausknotz Stadt denken Über die Praxis der Freiheit im urbanen Zeitalter 2011, 366 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1846-4
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Nikolai Roskamm Dichte Eine transdisziplinäre Dekonstruktion. Diskurse zu Stadt und Raum 2011, 380 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1871-6
Eberhard Rothfuss Exklusion im Zentrum Die brasilianische Favela zwischen Stigmatisierung und Widerständigkeit Juni 2012, ca. 320 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2016-0
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