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German Pages 338 Year 2014
Andrea Adams Psychopathologie und »Rasse«
Andrea Adams (Dr. phil.) hat Neuere und Neueste Geschichte, Erziehungswissenschaften und Politologie in Berlin und Amsterdam studiert. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology an der Universität Bielefeld.
Andrea Adams
Psychopathologie und »Rasse« Verhandlungen »rassischer« Differenz in der Erforschung psychischer Leiden (1890-1933)
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung. Zugl.: Dissertation Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Geschichtswissenschaften, 2012.
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Inhalt
Einleitung | 7
Methodisch-theoretische Herangehensweise | 9 Forschungsstand | 16 Quellenauswahl | 26 Begriffe | 30 1
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6
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2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.4 2.4.1 2.4.2
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3.1
Die Naturalisierung der Differenz. Geschichte der (Psycho-)Pathologisierung des Anderen | 33
Differenzkonstruktionen im Mittelalter und der Vormoderne | 35 Wissenschaftliche Differenzkonstruktionen in der Moderne: Natur, Geschichte und Klima | 38 Die Debatte um den 6. US-Zensus und psychische Erkrankungen bei Afroamerikanern (1840) | 43 Irrenstatistiken und die »Psychopathologie der Juden« | 46 Vererbung, Degeneration, »Rasse« im Fin de Siècle | 51 Psychiatrische und neurologische Lehr- und Handbücher über Psychopathologie und »Rasse« | 57 Der Diskurs über Psychopathologie und »Rassen« – ein Überblick | 63
Orte und Konjunkturen des Diskurses | 63 Methoden | 66 Forschung – wozu? Inhalte psychiatrischer Differenzforschung | 68 Häufigkeit, Immunität, Rassenkrankheiten | 68 Mehr Wissen über »Rassen«, mehr Wissen über Krankheiten | 73 »Objekte« der Forschung. Über Schwaben, Juden und »Naturvölker« | 75 Konzepte über »Rasse« | 78 Wer spricht? Akteure im Diskurs über Psychopathologie und »Rasse« | 89 Prosopographischer Überblick über die Akteure des Diskurses | 89 Wissenschaft und jüdische Identität im Diskurs über Psychopathologie und »Rasse« | 96 Die Chronologie des Diskurses | 103
Die erste Phase: 1890-1914. Anfang und Etablierung des Diskurses über »Rasse« und Psychopathologie | 103
3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.2. 3.2.1 3.2.2
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4.1 4.2 4.3
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5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.3 6
Der »gesunde Wilde« – Kolonialmedizin und der Diskurs über »Rasse« und Psychopathologie | 105 Exkurs: »Nervöse Juden« und »gesunde Naturvölker« in der Debatte um »Kultur« und »Entartung« | 113 »Nervenjuden«? Die »Psychopathologie der Juden« zwischen Ausgrenzung und Selbstzuschreibung | 123 »Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen« – Deutsche Kolonisatoren und die Tropenneurasthenie | 135 Die zweite Phase 1914-1933 | 141 Kriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit | 141 Alte Argumente und neue Ansätze: Psychoanalyse, Konstitutionstypen und ein internationales Forschungsprogramm | 144 A Fascination with Numbers – Quantifizierende Methoden | 173
Der Umgang mit Zahlen in der Psychiatrie und Medizin | 174 Quantifizierung in der psychiatrischen Rassenforschung. Zahlen als Argument und Methode | 182 Prekäres Wissen? Zeitgenössische Kritik am Aussagewert der Erhebungen | 194 Diagnosen der Differenz | 205
Diagnostische Praxis | 205 Psychiatrische Diagnostik und die Etablierung der klinischen Methode | 205 Darstellungen von Diagnosen im Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie | 215 Emil Kraepelins Javareise | 219 Differente Symptome: rassische und andere Erklärungen | 233 Ausblick. Die rassenpsychiatrische Forschung nach 1933 | 269
Fazit | 285 Quellen- und Literaturverzeichnis | 299
Danksagung | 335
Einleitung
Gibt es einen Zusammenhang von »Rasse« und psychischen Leiden? Existieren psychische Leiden, die spezifisch für bestimmte »Rassen« sind? Zeigt sich das Krankheitsbild je nach »Rasse« unterschiedlich? Diese Fragen beschäftigten Wissenschaftler – Psychiater und andere Ärzte – im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit der Frage, wie Forschung über »Rasse« im psychiatrischen Feld betrieben wurde und welche Aushandlungs- und Stabilisierungsprozesse für die Entstehung des Wissens über »Rasse« nötig waren. Im Fokus stehen deutschsprachige Schriften, die sich zwischen den 1890er und 1930er Jahren mit der Frage nach dem Verhältnis von »Rasse« und Psychopathologie beschäftigten. Mittels eines wissenschaftshistorischen Ansatzes wird rekonstruiert, welches Wissen durch den Zugriff auf »Rasse« entstand und wie die Kategorie »Rasse« dazu beitrug, körperliche, kulturelle und psychische Differenzen zwischen Menschen festzuschreiben. Ferner interessiert die epistemische Wirkweise von »Rasse«: Wie funktionierte »Rasse« als wissenschaftliche Kategorie? Wie die historische Rassismusforschung gezeigt hat, entstand die Idee von der »Rasse« im Kontext des Projekts der europäischen Moderne und der Herausbildung der Wissenschaften.1 Eine zentrale Rolle spielte dabei die Abwendung von der theozentrischen Lehre im Zuge der Aufklärung: Von nun an sollte nicht mehr Gott, sondern Vernunft und »Natur« die Welt und ihre Menschen erklären. Zusätzlich schufen der Kolonialismus und die entstehenden bürgerlichen Sozialordnungen erstmalig Voraussetzungen, die gesellschaftliche Position von Menschen anders als religiös zu definieren. Weiterhin beförderten die große Autorität, die den Wissenschaften in diesem Prozess zukam, aber auch der Eurozentrismus, der den westli-
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CHRISTIAN GEULEN, Geschichte des Rassismus, München 2007, 44-75; ROBERT MILES, Rassismus. Einführung in Theorie und Geschichte eines Begriffs, Hamburg 1991, 19-56; GEORGE L. MOSSE, Die Geschichte des Rassismus in Europa. 2. Auflage, Frankfurt a. M. 1994, 28-42.
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chen Wissenschaften immanent war, das Entstehen rassischer und anderer hierarchischer Kategorisierungen.2 In diese Epoche fällt zugleich die »Geburt« der Psychiatrie, in welcher die Kategorie »Vernunft« ebenfalls von zentraler Bedeutung ist. Doris Kaufmann hat herausgearbeitet, wie die »Erfindung« der Psychiatrie um 1800 mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Selbstwahrnehmung und ihren Werten zusammenhing: So ging die gesteigerte Auseinandersetzung mit dem »Selbst« und dessen Gefährdungen mit einer zunehmenden Abgrenzung vom Wahnsinn als dem »Anderen der Vernunft« (Foucault) einher.3 Der Beginn des bürgerlichen Zeitalters bildete also sowohl für die Psychiatrie als auch für die Idee von der »Rasse« einen gemeinsamen Ausgangspunkt. Daran ansetzend stellt sich die Frage, wie sich die junge Disziplin und das neue wissenschaftliche Konzept in der Forschung über Psychopathologie und »Rasse« miteinander verschränkten. Mein Untersuchungszeitraum, das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert, kann als »[t]he high point in the idea of race« bezeichnet werden, in dem sich sowohl in der öffentlichen Meinung als auch in den Wissenschaften die Annahme etablierte, dass Menschen in »Rassen« einteilbar seien, die sich durch signifikante physische, psychische und charakterliche Differenzen unterscheiden ließen.4 Obwohl die Wissenschaften »Rasse« keineswegs einheitlich definierten und darüber stritten, durch welche Merkmale »Rassen« voneinander zu unterscheiden seien, blieb die Evidenz der Kategorie »Rasse« ebenso wie die Relevanz ihrer Erforschung in der Regel unhinterfragt. Die Akzeptanz der Kategorie »Rasse« durch die Wissenschaften bei gleichzeitiger Schwierigkeit, sich auf eine verbindliche Definition zu einigen, macht eine Untersuchung der epistemischen Wirkweise und Bedeutung von »Rasse« besonders fruchtbar. Denn gerade in dieser Divergenz liegt der Reiz der Thematik. Darüber hinaus war die Zeitspanne des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts genau jene Phase, in der sich die Psychiatrie als Wissenschaft institutionalisierte und als eine an modernen naturwissenschaftlichen Verfahren orientierte Lehre konstituierte. Vor dem Hintergrund dieser Verschränkungen von »Rasse« und Psychiatrie stellen sich weitere forschungsleitende Fragen: Wie hat sich die Kategorie »Rasse« im Kontext der Etablierung der Psychiatrie als wissenschaftliche Disziplin und deren Hinwendung zu einer naturwissenschaftlich orientierten Methodik entwi2
WALTRAUD ERNST und BERNARD HARRIS (Hg.), Race, Science and Medicine, 1700-
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MICHEL FOUCAULT, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter
1960, London 1999; GEULEN, Geschichte des Rassismus, 61ff. der Vernunft, Frankfurt a. M. 1973; DORIS KAUFMANN, Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die »Erfindung« der Psychiatrie in Deutschland 1770-1850, Göttingen 1995. 4
IVAN HANNAFORD, Race. The History of an Idea in the West, Baltimore 1996, 187.
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ckelt? Was für ein Wissen über »Rasse« und Psychopathologie ist daraus hervorgegangen? Auf welche Weise war die Zuschreibung von »Rasse« mit der Zuschreibung psychischer Erkrankung verknüpft? Wie beeinflusste die methodische und theoretische Neuorientierung der Psychiatrie um 1900 die Forschung über Psychopathologie und »Rasse«? Wie formten dabei neue wissenschaftliche Methoden und Praktiken – Empirie, Quantifizierung, die zunehmende Symptomorientierung und Diagnostik – das Wissen über »Rassen« und Psychopathologie?
M ETHODISCH - THEORETISCHE H ERANGEHENSWEISE Rassenforschung als Wissenschaft Die Untersuchung der wissenschaftlichen Funktionsweise von »Rasse« macht einen methodisch-theoretischen Ansatz notwendig, der epistemologische Fragen in den Vordergrund rückt. Daher orientiert sich meine Arbeit an den Ansätzen der in den 1970er Jahren entstandenen Wissenschaftsforschung in der Tradition der Science and Technology Studies. Diese grenzen sich von Ansätzen ab, welche die Geschichte der Wissenschaften als eine Teleologie des Fortschritts schrieben und betonen demgegenüber, dass Wissenschaften historisch kontingent und daher im Kontext ihrer spezifischen Entstehungsbedingungen zu betrachten sind.5 Der Wahrheitsgehalt von vergangener wissenschaftlicher Erkenntnis steht dabei nicht im Vordergrund. Statt aufklären zu wollen, ob wissenschaftliche Urteile früherer Zeiten richtig oder falsch sind, geht es um den Entstehungsprozess wissenschaftlicher Erkenntnisse und die Transformation wissenschaftlicher »Fakten« in Gewissheiten,
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Ludwik Fleck war ein früher Vordenker dieser Forschungsrichtung, bekam aber erst durch Kuhns Rezeption seiner Ideen größere Aufmerksamkeit. LUDWIK FLECK, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a. M. 1980 [1935]. Einschlägig sind ferner u. a. KARIN KNORR-CETINA, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1984; THOMAS KUHN, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 2003 [1969]; BRUNO LATOUR und STEVE WOOLGAR, Laboratory Life. The Social Construction of Scientific Facts, Beverly Hills 1979. Forschungsüberblicke bieten: JAN GOLINSKI, Making Natural Knowledge. Constructivism and the History of Science, Cambridge, UK 1998; MICHAEL HAGNER, Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. In: Ders. (Hg.), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a. M. 2001, 7-39. Für die Medizingeschichte: THOMAS SCHLICH, Wissenschaftliche Fakten als Thema der Geschichtsforschung. In: Norbert Paul und Thomas Schlich (Hg.), Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt a. M.; New York 1998, 107-129.
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die von der akademischen Gemeinschaft als »wahr« oder »plausibel« angesehen werden. Demnach bedürfen Forschungsergebnisse eines komplexen Stabilisierungsprozesses, in dem sie den Status einer wissenschaftlichen Tatsache erlangen. Anhand einer Analyse der materiellen Phänomene, der sozialen Regeln und Normen sowie der gesellschaftlichen Bedingungen, die mit diesem Prozess der Stabilisierung in Wechselwirkung stehen, lässt sich nachverfolgen, wie Wissenschaft überhaupt zu gültigen und allgemein anerkannten »Fakten« gelangt.6 Im Anschluss an diesen Ansatz der Wissenschaftsforschung geht es in meiner Arbeit also nicht darum nachzuweisen, ob die Aussagen, die über den Zusammenhang von »Rasse« und Psychopathologie getroffen wurden, richtig oder falsch sind, ob Juden – wie in den von mit untersuchten Schriften behauptet – »wirklich« häufiger unter Nervosität litten oder Javaner »tatsächlich« weniger ausgeprägte Symptomatiken zeigten als Europäer.7 Ich vertrete die Ansicht, dass psychiatrische Forschung über »Rasse« wissenschaftlich war, jedenfalls nach den Maßstäben der Zeit. »Rasse« ist und war zwar eine problematische Kategorie der Forschung, aber die Wissenschaftler, die mit »Rasse« arbeiteten, bewegten sich in einem innerhalb ihres Faches akzeptierten wissenschaftlichen Kanon. Ich schließe mich Nancy Stepan an, die anmerkt, dass man durch das Anerkennen von Rassenforschung als Bestandteil von Wissenschaft viel über das Wesen wissenschaftlicher Forschung erfährt: »The scientists who gave scientific racism its credibility and respectability were often firstrate scientists struggling to understand what appeared to them to be deeply puzzling problems of biology and human sciences. To dismiss their work as merely ›pseudoscientific‹ would mean dismissing an opportunity to explore something important about the nature of scientific inquiry itself.«8
Daher ist das primäre Ziel dieser Studie nicht, einen Nachweis zu erbringen, dass Forschung über »Rasse« voraussetzungsreich und wertend war.9 Mit der Analyse 6 7
FLECK, Entstehung, 53-70; GOLINSKI, Making, 27-45. Diese Fragestellung zu erläutern, unternehmen z. B. folgende Studien: MICHAEL TSCHOETSCHEL,
Die Diskussion über die Häufigkeit von Krankheiten bei den Juden bis 1920.
Med. Diss., Universität Mainz, Mainz 1990; MARIANNE TURMANN, Jüdische Krankheiten. Historisch-kritische Betrachtungen zu einem medizinischen Problem. Med. Diss., Universität Kiel, Kiel 1968. 8
NANCY STEPAN, The Idea of Race in Science. Great Britain, 1800-1960, London 1981, XVI.
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Thomas Potthast hat pointiert formuliert, dass wissenschaftlich korrekte Forschung nicht deckungsgleich ist mit wünschenswerter Forschung: »Zeitspezifisch oder aus heutiger Sicht methodologisch angemessene Forschung ist keineswegs stets moralisch oder politisch ›gut‹, selbst dann nicht, wenn sie dem wissenschaftlichen Berufsethos entspricht.«
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wird vielmehr dargelegt, welche historischen Kontexte Forschung über »Rasse« und Psychopathologie hervorgebracht haben und welche Aushandlungs- und Stabilisierungsprozesse an der Produktion von Erkenntnissen in diesem Forschungsfeld beteiligt waren. Mich interessiert, wie die Kategorie »Rasse« als »evidente« Kategorie innerhalb der psychiatrischen Wissenschaft funktionierte und welchen Beitrag sie leistete, essentielle Differenzen zwischen Menschen festzuschreiben. Für die Analyse der innerwissenschaftlichen Prozesse der Aushandlung und Stabilisierung von Wissen ist außerdem eine Rekonstruktion der Rassifizierungsprozesse10, wie sie unter anderem Robert Miles entworfen hat, relevant. Mit diesem gehe ich davon aus, dass dem Rassismus ein Prozess vorausgeht, in dem »Rassen« erst konstruiert werden müssen. Diese Rassifizierung besteht aus zwei Elementen, die Miles folgendermaßen beschreibt: »Der Begriff [der Rassifizierung, d. Verf.] bezieht sich von daher auf einen Kategorisierungsprozess, durch den ein Anderer (zumeist, doch nicht ausschließlich) hinsichtlich somatischer Merkmale definiert wird. Die so gebildete Gruppe bildet (so wird explizit und implizit behauptet) eine spezifische, naturgegebene Einheit, die sich biologisch reproduziert.«11
Der Markierung einer Gruppe als »anders« folgt also eine Entwicklung, in der diese Differenz naturalisiert, also als eine Differenz festgeschrieben wird, die angeblich in inhärenten Eigenschaften, der »Natur« des Kollektivs liege. Den modernen Wissenschaften kommt seit der Aufklärung eine bedeutende Rolle in diesem Prozess zu. In meiner Arbeit untersuche ich daher, wie die Rassifizierung, also die Fixierung und Naturalisierung rassischer Differenz, konkret von Statten ging: Mit welchen Praktiken wurden innerhalb der Psychiatrie spezifische Phänomene als rassische erkannt, ausgewiesen und gefestigt?
THOMAS POTTHAST, »Rassenkreise« und die Bedeutung des »Lebensraums«. Zur TierRassenforschung in der Evolutionsbiologie. In: Hans-Walter Schmuhl (Hg.), Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933, Göttingen 2003, 275-308, 305. 10 Miles benutzt den Begriff »Racialisation«, der in der deutschen Ausgabe als »Rassenkonstruktion« übersetzt wurde. Inzwischen hat sich jedoch auch im Deutschen der Begriff »Rassifizierung« durchgesetzt. Dem schließe ich mich im Folgenden an. 11 MILES, Rassismus, 101.
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Die Unschärfe und Unabgeschlossenheit von »Rasse« Auf die Produktivität unscharfer Kategorien für wissenschaftliche Forschung ist in der Wissenschaftsgeschichte vielfach hingewiesen worden.12 Ich stütze mich auf Untersuchungen, die zeigen, dass auch die Forschung über »Rasse« von der Unschärfe der Kategorie profitierte. 13 Die Widersprüchlichkeiten von »Rasse« – der Gebrauch der Kategorie trotz mangelndem Forschungskonsens, die unklare Bestimmung und Flexibilität des Konzeptes, kurz: die Unschärfe von »Rasse« – war sowohl charakteristisch für die Kategorie als auch produktiv für die Forschung über sie. Eine große Spannbreite unterschiedlicher Anwendungskontexte und historisch variabler Bedeutungen von »Rasse« zeigt der von Hans-Walter Schmuhl herausgegebene Sammelband Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933. An den untersuchten Disziplinen wird die Bedeutung der Unschärfe und Vielseitigkeit von »Rasse« für die »Scharnierfunktion« deutlich, die »Rasse« innerhalb wie außerhalb der Wissenschaften einnahm.14 Darüber hinaus sind die Überlegungen von Christine Hanke wichtig. In ihrem Buch über die deutsche Anthropologie adaptiert sie das Konzept der »boundary objects« nach Griesemer/Star15 für ihre Analyse von »Rasse« und Geschlecht. Sie möchte zeigen, dass die Offenheit in der Definition von »Rasse« ein spezifisches 12 ILLANA LÖWY, The strength of loose concepts: Boundary concepts, federal experimental strategies and disciplinary growth. The case of immunology, History of Sciences, 30/1992, 373-396. JAMES R. GRIESEMER und SUSAN LEIGH STAR, Institutional Ecology, »Translations« and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley's Museum of Vertebrate Zoology 1907-39. In: Social Studies of Science 19/1989, 387-420, 393. 13 CHRISTINE HANKE, Zwischen Auflösung und Fixierung. Zur Konstruktion von »Rasse« und »Geschlecht« in der physischen Anthropologie um 1900, Bielefeld 2007; HANSWALTER SCHMUHL (Hg.), Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm Instituten vor und nach 1933, Göttingen 2003, 7-37. Eine produktive Unschärfe von »Rasse« findet sich auch in Feldern außerhalb der Wissenschaft. Vgl. LAURA ANN STOLER, Carnal Knowledge and Imperial Power. Race and the Intimate in Colonial Rule, Berkeley, CA 2002. 14 HANS-WALTER SCHMUHL, Rasse, Rassenforschung, Rassenpolitik. Annäherungen an das Thema. In: Ders. (Hg.), Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm Instituten vor und nach 1933, Göttingen 2003, 7-37, hier: 22-33. 15 Nach Griesemer/Star sind boundary objects »those scientific objects which both inhabit several intersecting social worlds […] and satisfy the informational requirements of each of them. Boundary objects are objects which are both plastic enough to adapt to local needs and the constraints of the several parties employing them, yet robust enough to maintain a common identity across sites. [...] They have different meanings in different social worlds but their structure is common enough to more than one world to make them recognizable, a means of translation.« GRIESEMER und STAR, Institutional Ecology, 393.
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Merkmal dieser Kategorie war. In der Unschärfe von »Rasse« sowie in der Tatsache, dass ihre Erforschung unabschließbar blieb, sieht sie den Grund, dass Rassenforschung nie »gesättigt« war und »Rasse« stets weiter erforscht werden musste.16 Die Unschärfe und Unabschließbarkeit von »Rasse« waren kein Hemmnis der Forschung, sondern im Gegenteil ein Forschungsmotor. Diese produktive Unschärfe und die Vielfältigkeit des Sprechens über »Rasse« möchte ich innerhalb der Forschung zu »Rasse« und Psychopathologie aufzeigen. Dabei gehe ich davon aus, dass Unschärfe und Vielfältigkeit als Forschungsantrieb wirkten und das Interesse an dem Thema über einen langen Zeitraum hinweg und bei einer großen Zahl von Forschern wach hielten. Die Forschung über »Rasse« und Psychopathologie blieb dennoch prekär: es gab keinen Konsens über die Ergebnisse; die rassenpsychiatrische Forschung institutionalisierte sich nicht als eigene Teildisziplin oder als eigenständiges psychiatrisches Forschungsfeld. Zwar arbeiteten viele Forscher immer wieder an dem Thema, jedoch machte sich keiner zum wirklichen Experten auf diesem Gebiet. »Rasse« zwischen Natur und Kultur In der bisherigen Historiographie zur Geschichte des Rassismus überwiegt die Auffassung, dass die Entstehung des modernen Rassismus ab dem 18. Jahrhundert an das Aufkommen eines biologischen Rassebegriffs gekoppelt sei. So spricht z. B. Immanuel Geiß von einem »Proto-Rassismus« der vormodernen Ära, der sich durch den naturwissenschaftlich gedachten »Schlüsselbegriff Rasse« vom modernen Rassismus unterschieden habe.17 Neuere Studien zur Geschichte des Rassismus sowie Arbeiten, die durch postkoloniale Theorieansätze geprägt sind, betonen jedoch die Gleichzeitigkeit kultureller und biologischer Zuschreibungen bei der Konstruktion von »Rasse«.18 Auch ich gehe davon aus, dass »Rasse« immer der Stabilisierung durch sowohl biologische als auch sozial-kulturelle Argumente bedurfte, um als plausibel aufgefasst zu werden.19 Wie Lisa Gannett schreibt, sind rassische Klassi16 HANKE, Auflösung, 259. 17 IMMANUEL GEISS, Geschichte des Rassismus, Frankfurt a. M. 1988, 19. 18 GEULEN, Geschichte des Rassismus; WULF D. HUND, Rassismus im Kontext. Geschlecht, Klasse, Nation, Kultur und Rasse. In: Susanne Meinl und Irmtrud Wojak (Hg.), Grenzenlose Vorurteile. Antisemitismus, Nationalismus und ethnische Konflikte in verschiedenen Kulturen, Frankfurt a. M., New York 2002, 17-40; CHRISTIAN KOLLER, Rassismus, Paderborn 2009, 15; LAURA ANN STOLER, Foucaults Geschichte der Sexualität und die koloniale Ordnung der Dinge. In: Sebastian Conrad und Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geistes- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002. 19 Wie bereits Shulamith Volkov für den Antisemitismus festgestellt hat, sind biologische Argumente selten, wenn man sich bspw. die rassentheoretischen Hauptschriften im 19.
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fikationen in diesem Sinne als »intersections of the biological and the social« zu verstehen: »[S]ocial factors – difference in language, religion, nationality, etc. structure the distribution of genes and phenotypes in space and time. Second, biological factors – differences in genes, physiologies, morphologies, etc. – provide materials used to construct social reality«. 20
Die Verschränkungen zwischen Biologie und Sozialem, Natur und Kultur innerhalb des Forschungsfeldes um »Rasse« und Psychopathologie sind auch für meine Studie bedeutsam. Ich möchte zeigen, dass sich der Diskurs um »Rasse« auf einem Kontinuum zwischen Kultur und Biologie bewegte. Zwar wurde »Rasse« von der Definition her als biologisch gedacht, jedoch war dieses Konzept stets in kulturellen und weiteren nicht-biologischen Argumentationszusammenhängen platziert. Wichtig ist ferner, dass mit den Verhandlungen um »Rasse« und Psychopathologie immer auch gesellschaftliche Auseinandersetzungen verbunden waren. Welchen Stellenwert Biologie oder Kultur für die Erklärung sozialer Phänomene einnahm, war ebenso Thema, wie die Frage nach gesellschaftlichen Ein- und Aus-
Jahrhundert ansieht. Volkov meint einen geringen Einfluss »rassischer Elemente« (sie meint damit rassenbiologische) in diesen Schriften zu sehen. SHULAMIT VOLKOV, Das geschriebene und das gesprochene Wort. Über Kontinuität und Diskontinuität im deutschen Antisemitismus. In: Dies. (Hg.), Antisemitismus als kultureller Code, München 2000 [zuerst: 1985], 54-75, 61. Mein Argument dagegen lautet, dass der moderne Rassismus bzw. Antisemitismus auf der Behauptung einer vorgeblich biologischen rassischen Differenz beruhte, die aber biologisch nicht festgelegt werden konnte, zu unscharf war und mit kulturellen Elementen verschränkt war. Ferner erscheint mir eine treffendere Periodisierung in der Geschichte des Rassismus diejenige zu sein, die nach der Art und Weise fragt, mit der das Wissen über Differenzen plausibel gemacht wurde. Der »moderne Rassismus« basierte auf einer Legitimierung durch die moderne Wissenschaft und einem vorgeblichen Wissen über »Rasse«, vorherige Ausgrenzungstheorien bedienten sich z. B. einer einer theologischen Legitimierung von Ausgrenzung. Vgl. dazu auch Kapitel 1. 20 LISA GANNETT, Ontologies of Race and Ethnicity: Intersections of the Biological and the Social. Abstract. In: Abstract Booklet. The Tenacity of the Nature/Nurture Divide. Workshop am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin, 20.-21. März 2009 (2009), http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/PDF/NaNu_booklet_www.pdf Abschnitt 3 [letzter Zugriff 2. Juni 2013]. Vgl. ferner: LISA GANNETT, Questions asked and unasked: How by worrying less about the ›really real‹ philosophers of science might better contribute to debates about genetics and race. In: Synthese 177/2010, 363–385, 375.
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schlüssen. Dabei spielt auch eine Rolle, dass jüdische Wissenschaftler21, die einen Großteil der Schriften um »Rasse« und Psychopathologie verfassten, einen eigenen Standpunkt in der Auseinandersetzung vertraten. Auch für sie war »Rasse« zwar eine Kategorie mit einer biologischen Basis. Sie beurteilten die biologischen Grundlagen von »Rasse« jedoch häufiger als flexibel, durch die Umwelt beeinflussbar und wandlungsfähig. Die Praktiken von Rassenforschung Der »practical turn« in der Wissenschaftsforschung betont die epistemologische Bedeutung wissenschaftlicher Praktiken.22 Gingen frühere wissenschaftshistorische Ansätze davon aus, Theorien seien die wesentliche Antriebskraft im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess,23 rückt der »praxeologische Ansatz« nun die »Materialität von Forschung« in den Mittelpunkt.24 Dabei wird der Fokus auf die wissensgenerierende Funktion wissenschaftlicher Praxen gelegt. Daran anschließend gehe ich ebenfalls von der Annahme aus, dass wissenschaftliche Praktiken für die Konstitution von Wissen über »Rasse« und Psychopathologie bedeutsam waren. Aufgrund der Quellenlage arbeite ich indes mit einem eingeschränkten praxeologischen Ansatz: Aussagen über die Praktiken der psychiatrischen Rassenforschung werden aus ihren Ergebnissen, das heißt aus wissenschaftlichen Publikationen, abgeleitet. Zwei Praktiken, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Kontext der zunehmenden naturwissenschaftlichen Orientierung der Psychiatrie eine verstärkte Bedeutung erlangten, waren Quantifizierung und Statistik auf der einen Seite sowie die Symptomorientierung und Diagnostik auf der anderen. Inwieweit das Zählen, Beobachten und Kategorisieren das Wissen über »Rassen« und Psychopathologie formte, wird anhand der Bedeutung von Quantifizierung und Diagnostik nachgezeichnet.
21 Dieser Aspekt sowie der Begriff »jüdische Wissenschaftler« werden in Kapitel 2.4.2 ausführlicher diskutiert. 22 IAN HACKING, Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Stuttgart 1996; KNORR-CETINA, Die Fabrikation von Erkenntnis; BRUNO LATOUR, Science in Action. How to Follow Scientist and Engineers through Society, Cambridge, MA 2003; ANDREW PICKERING, From Science as Knowledge to Science as Practice. In: Ders. (Hg.), Science as a Practice and Culture, Chicago, IL 1992, 1-26. 23 HACKING, Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, 250. 24 HANS-JÖRG RHEINBERGER und MICHAEL HAGNER (Hg.), Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950, Berlin 1993, 9.
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F ORSCHUNGSSTAND Auch wenn die vorhandenen Publikationen noch keinen umfassenden Überblick über das Thema »Rasse« in der deutschen Psychiatrie ermöglichen, hat die Psychiatriegeschichtsschreibung diesen Aspekt vereinzelt aufgegriffen. Erste Einblicke in die Idee von der »Rasse« als implizite, konzeptionelle Denkstruktur unter der Oberfläche psychiatrischer Theorien gibt Andreas Heinz. Er erörtert, wie sich die Vorstellungen einer rassischen und zumeist hierarchisch gedachten Differenz zwischen Menschen in der Schizophrenieforschung niederschlugen. Heinz arbeitet diese »anthropologischen« und »evolutionären Denkmodelle« im Zusammenhang mit dem Konzept der Regression in Theorien zur Schizophrenie von den 1890er bis in die 1980er Jahre heraus: Er zeigt, dass das »regressive« Verhalten psychisch Erkrankter als »infantil« bezeichnet und mit dem Verhalten von »Primitiven«, »Wilden«, oder »Negern« gleichgesetzt wurde.25 Heinz demonstriert zwar implizite Wirkungsweisen rassischen Denkens in der psychiatrischen Theorie, mit der Beschränkung auf die Schizophrenie deckt er jedoch nur einen Teilbereich der Psychiatrie ab. Volker Roelcke liefert in zwei Aufsätzen eine erste aufschlussreiche Einschätzung der Bedeutung von »Rasse« für die deutschsprachige Psychiatrie. In seinem Artikel über Kultur, Religion und Rasse im psychiatrischen Diskurs um 1900 verweist er auf das Entstehen eines neuen psychiatrischen Arbeitsfeldes: das der »Ras-
25 Die Regression, die als ein zentrales Symptom in der Schizophreniediagnostik gilt, wird als ein Rückschlag auf eine frühere Entwicklungsstufe verstanden, also als Auftauchen von entwicklungsmäßig früheren Verhaltensweisen. Dieses wurde in den von Heinz analysierten Theorien als »primitives« Verhalten verstanden. ANDREAS HEINZ, Anthropologische und evolutionäre Modelle in der Schizophrenieforschung, Berlin 2002. Heinz kommt zu dem Schluss, die Assoziation von »Primitiven« und Schizophreniekranken sei mit der genozidalen deutschen Kolonialpolitik und der Sterilisierung von Psychiatriepatienten/-patientinnen sowie der »Rheinlandbastarde« im Nationalsozialismus verknüpft. Ein Zusammenhang ist zwar durchaus möglich, die von ihm aufgebaute Kontinuitätslinie erscheint aber als zu plakativ und hätte eine detailliertere Begründung verdient. Vgl. dazu: ANDREAS HEINZ, Die Anderen als Wilde und Wunschdenker. Zur Konstruktion von Rasse und Vernunft in der Schizophrenietheorie. In: Matthias Hamann und Hans Asbeck (Hg.), Halbierte Vernunft und totale Medizin. Zu Grundlagen, Realgeschichte und Fortwirkungen der Psychiatrie im Nationalsozialismus, Berlin 1997, 33-58; ANDREAS HEINZ, Zur Konstruktion von »gemeinschaftsfremdem Verhalten« und »Rasse«. In: Christoph Kopke und Walter Wuttke (Hg.), Medizin und Verbrechen. Festschrift zum 60. Geburtstag von Walter Wuttke, Ulm 2001, 22-43.
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senpsychopathologie« oder »Rassenpsychiatrie«.26 Das Auftauchen dieses Themenfeldes in der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie zeige, dass »Rasse […] ab Mitte der 1890er Jahre zu einem immer wichtigeren Referenzbegriff und Erklärungsfaktor für psychische Störungen« wurde. Roelcke schließt daraus, dass von nun an die »Biologie, nicht die moderne Gesellschaft oder Kultur […] am Anfang der Kausalketten [stand], die für die Entstehung der Krankheiten postuliert wurde«.27 Anhand zweier zeitgenössischer Artikel von Pieter C. J. van Brero und Emil Kraepelin macht er eine Verschiebung psychiatrischer Erklärungsmuster von der »Kultur« hin zur »Natur« aus und stellt diese in den Kontext einer »Biologisierung des Sozialen« innerhalb der Psychiatrie, die mit professionspolitischen Beweggründen der noch jungen Disziplin zusammenhingen: »Der in die Krankheitslehre integrierte Rasse-Begriff machte die Psychiater auch zu Experten für die Identifizierung und Bewertung von Rassemerkmalen und damit verknüpften Dispositionen, letztlich für soziale Inklusion und Exklusion. Dieses Thema und eine solche Expertise waren von großer Bedeutung in einer historischen Situation, die durch neu aufkommenden Nationalismus und die damit verbundenen Abgrenzungsbestrebungen gegenüber den europäischen Nachbarn, den kolonisierten Völkern außerhalb Europas, aber auch den innerhalb des Deutschen Kaiserreiches lebenden Juden gekennzeichnet war«. 28
Im zweiten Aufsatz verfolgt Roelcke scheinbar eine zunächst abweichende Argumentation. Anhand der Anwendung des Rassenbegriffs in den Forschungsarbeiten an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie (DFA) in München stellt er fest, »Rasse« sei zwar für den Leiter Ernst Rüdin und seine Mitarbeiter »sowohl im wissenschaftlichen Werk als auch in Bezug auf gesundheits- und sozialpolitische Aktivitäten konstitutiv«, jedoch in den »fachlichen Diskussionen innerhalb der Psychiatrie und der Erbbiologie/Humangenetik […] in analytischen Kontexten marginal« gewesen.29 Demnach ist nach Roelcke »Rasse« zwar »als Leit- oder Zielbe26 »Rassenpsychiatrie« ist der zeitgenössisch weitaus geläufigere Begriff. VOLKER ROELCKE,
Kultur, Religion und Rasse im psychiatrischen Diskurs um 1900. In: Céline Kaiser
und Marie-Luise Wünsche (Hg.), Die »Nervosität der Juden« und andere Leiden an der Zivilisation. Konstruktionen des Kollektiven und Konzepte individueller Krankheit im psychiatrischen Diskurs um 1900, Paderborn 2003, 30f. 27 Ebenda. 31. 28 Ebenda. 36. 29 VOLKER ROELCKE, Programm und Praxis der psychiatrischen Genetik an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie unter Ernst Rüdin. Zum Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Rasse-Begriff vor und nach 1933. In: Hans-Walter Schmuhl (Hg.), Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm Instituten vor und nach 1933, Göttingen 2003, 38-67, 48f. Rüdin war ab 1918 der Leiter der Genealogisch-Demographischen Abteilung der DFA
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griff« in der psychiatrischen und erbbiologischen Forschung der DFA verwendet worden und habe »im Sinne einer Bezugsgröße« stimulierend für Forschung gewirkt. Man habe »Rassen« jedoch nicht zum Gegenstand von Forschung gemacht:30 Die »Natur« der »Rasse« oder deren Eigenschaften hätten bei der Forschung der DFA also nicht im Fokus gestanden. Stattdessen habe »die Erbbiologie und Pathologie innerhalb einer Rasse« interessiert: Forschung habe darauf abgezielt, den Niedergang der jeweiligen »Rasse« zu verhindern sowie deren »Qualität« zu verbessern.31 Die Befunde Roelckes scheinen verwirrend. Wie kann es sein, dass »Rasse« um die Jahrhundertwende eine zunehmende Bedeutung in der Erklärung psychischer Erkrankungen übernahm und ein Arbeitsfeld entstand, dass sich der »Rassenpsychiatrie« widmete, jedoch in den zwanziger und dreißiger Jahren an einer der bedeutendsten psychiatrischen Forschungsstätten der Welt analytisch nur indirekt eine Rolle spielte? Trotz der scheinbaren Widersprüchlichkeit seiner Thesen stimme ich Roelcke mit Einschränkungen zu. Wie sich anhand meines Quellenmaterials zeigt, verlief die Biologisierung von Krankheitsursachen, die Roelcke anhand der beiden analysierten Publikationen der psychiatrischen Rassenforschung nachzeichnet, weniger gradlinig als in seinem erstgenannten Aufsatz dargestellt. Auch zeigen meine Quellen, dass »Rasse« innerhalb psychiatrischer Forschung durchaus präsent war. Trotzdem war die psychiatrische Rassenforschung kein so prominentes Gebiet wie beispielsweise die Zwillings- oder Erbforschung. Dies spricht jedoch nicht zwingend für eine geringe Bedeutung von »Rasse« in der Psychiatrie. Ziel dieser Studie ist es zu zeigen, wie die Eigenheit von »Rasse« als unscharfe wissenschaftliche Kategorie die spezifische Beschaffenheit des rassenpsychiatrischen Forschungsfelds formte und festigte und dass die von Roelcke aufgezeigten scheinbaren Widersprüche in dieser Eigenart der Unschärfe der Kategorie »Rasse« begründet sind. Zu den psychiatriehistorischen Arbeiten, die zum Verhältnis von »Rasse« und deutscher Psychiatrie erschienen sind, gehören auch einige Artikel über jüdische Psychiatriepatienten, Antisemitismus und die Wahrnehmung der Juden in der psychiatrischen Literatur. Die Aufsätze fokussieren jedoch hauptsächlich auf die Einordnung in die Nervositätsdebatte und geben insgesamt wenig Auskunft über das Rassenkonzept.32 Aufschlussreicher ist die Arbeit von Ann Goldmann. Aus der Perund wurde 1931 der Nachfolger Emil Kraepelins als geschäftsführender Leiter der DFA. Zur Biographie Rüdins vgl. MATTHIAS M. WEBER, Ernst Rüdin: Eine kritische Biographie, Berlin Heidelberg New York 1993, 302. 30 ROELCKE, Programm. 36. 31 Ebenda. 49f. 32 HANS-GEORG HOFER, Juden und Nervosität. In: Klaus Hödl (Hg.), Jüdische Identitäten. Einblicke in die Bewußtseinslandschaft des österreichischen Judentums, Wien 2000, 95119; EDWARD SHORTER, Women and Jews in a Private Nervous Clinic in 19th Century
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spektive der Patientengeschichtsschreibung zeigt sie anhand zweier Patientenakten, inwieweit die Wahrnehmung der Patienten als »jüdisch« die ihnen entgegengebrachte ärztliche Behandlung und Krankheitsdeutung beeinflusste.33 Trotz der geringen Fallzahl gibt Goldbergs Studie erste Hinweise darauf, dass antisemitische und rassistische Vorstellungen die psychiatrische Praxis prägten – ein Befund, der auch von der internationalen Historiographie bestätigt wird.34 Ferner ist an dieser Stelle die Studie von Rakefet Zalashik Das unselige Erbe. Die Geschichte der Psychiatrie in Palästina und Israel zu nennen. Zalashik untersucht die Anfänge der israelischen Psychiatrie, die maßgeblich durch emigrierte jüdische Psychiater aus dem deutschen Sprachraum geprägt wurde. In einem Kapitel zeigt sie, dass der im deutschen Sprachraum verbreitete Diskurs über die »psychoVienna. In: Medical History 33/1989, 149-183. Ferner zwei (Unter-)Kapitel der Bücher von Schott/Tölle und Radkau: HEINZ SCHOTT und REINER TÖLLE, Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen, München 2006. Kapitel 21 »Juden und Psychiatrie« sowie das Unterkapitel »Nationalismus und Nervosität. Deutsche und Juden in nervöser Nähe« in Kapitel 4, in JOACHIM RADKAU, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998. Eine wissenschaftshistorische Einordnung der Debatte um die »Nervosität der Juden« unternimmt ANDREA ADAMS, »Rasse«, Vererbung und »Jüdische Nervosität« – Über Reichweite und Grenzen wissenschaftlicher Paradigmen im psychiatrischen Diskurs Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. In: Transversal. Zeitschrift für Jüdische Studien 2/2003, 118-133. Über eine frühe kritische Sichtweise auf die »Nervosität der Juden« berichtet RAFAEL FALK, Nervous diseases and eugenics of the jews: A view from 1918. In: Korot. The Israel Journal of the History of Medicine and Science 17/2005, 23-46. 33 ANN E. GOLDBERG, The limits of medicalization: Jewish lunatics and nineteenth-century Germany. In: History of Psychiatry 7/1996, 265-285. Der Aufsatz entspricht im Wesentlichen Kapitel 8 ihrer Dissertation »Jews and the Criminalization of Madness« in ANN E. GOLDBERG, Sex, religion, and the making of modern madness: The Ebersbach Asylum and German society, 1815-1849, New York 1999. 34 Zumindest gilt dies für die Behandlung afroamerikanischer Patienten und Patienten sowie der autochthonen Kolonialbevölkerung. Vgl. zu afroamerikanischen Psychiatriepatienten: MATTHEW GAMBINO, »These strangers within our gates«: race, psychiatry and mental illness among black Americans at St. Elizabeths Hospital in Washington, DC, 1900-40. In: History of Psychiatry 19/2008, 387-408. MARTIN SUMMERS, »Suitable Care of the African When Afflicted with Insanity«: Race, madness, and Social Order in Comparative Perspective. In: Bulletin of the History of Medicine, 84/2010, 58-91, beschreibt die Verbindungen von kolonialpsychiatrischen Diskursen und solchen über Afroamerikaner in den USA. Auf den Einfluss von Rassismus auf die Behandlung der autochthonen Kolonialbevölkerung weisen die im folgenden Abschnitt behandelten kolonialpsychiatrischen Studien hin.
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pathologische Eigenart« der Juden auch in Palästina/ Israel gegenwärtig war – wenn auch in veränderter Form.35 Darüber hinaus beschäftigen sich eine Reihe kulturhistorischer Studien mit der Bedeutung des »Pathologischen« in der Gestaltung rassistischer Stereotype. Sander L. Gilman hat bereits seit den 1980er Jahren auf den Zusammenhang von (Psycho)Pathologisierung, Differenz und Antisemitismus/ Rassismus aufmerksam gemacht.36 Wie Gilman gezeigt hat, entstanden Bilder des »verrückten Juden« und des »manischen Negers« vornehmlich in jenen historischen Perioden, in denen diese Gruppen anfingen, sich gegen ihre Marginalisierung zu wehren und politische Forderungen stellten. Die Zuschreibung einer psychopathologischen Differenz, so Gilman, konnte als Argument zur Abwehr solcher Emanzipationsbestrebungen und als Rechtfertigung von Diskriminierung und Ausgrenzung dienen. Indem ihnen die Vernunft abgesprochen wurde, rechtfertigte man die Verweigerung staatsbürgerlicher Rechte.37 Gleiches galt auch für den »Schwarzen«. Auch hier zeichnet Gilman eine historische Verknüpfung mit dem Wahnsinn – »a nexus of blackness and madness« – nach und weist auf eine ähnliche Argumentation für die Verweigerung politischer Teilhabe hin.38 Gilmans Thesen sind von Klaus Hödl aufgegriffen worden. Dieser beschreibt in seinem Buch Die Pathologisierung des jüdischen Körpers, wie durch die Assoziation des »Jüdischen« mit dem »Pathologischen« tradierte Vorurteile über Juden in Medizin und Anthropologie übertragen und im ausgehenden 35 Zalashik zufolge erfuhr das Konzept der »psychopathologischen Eigenart« der Juden dabei eine neue Lesart. Dieses Konzept habe »die Besonderheit der [in den zwanziger und dreißiger Jahren eingewanderten, d. Verf.] Einwanderergruppe« betonen wollen und damit einen Gegensatz zu früheren jüdischen Einwanderern und Einwanderinnen sowie der arabischen Bevölkerung herstellen wollen. Rakefet Zalashik, Das unselige Erbe. Die Geschichte der Psychiatrie in Palästina und Israel, Frankfurt a. M.; New York, 2012, 53. 36 Das Thema wird in zahlreichen Schriften Sander L. Gilmans aufgegriffen, vor allem, aber nicht nur, im Kontext des Antisemitismus. Vgl. unter anderem SANDER L. GILMAN, Difference and Pathology. Stereotypes of Sexuality, Race and Madness, Ithaca, NY 1986; SANDER L. GILMAN, Jews and Mental Illness: Medical Metaphors, Antisemitism and the Jewish Response. In: Journal of the History of Behavioral Sciences 20/1984, 150-159; SANDER L. GILMAN, Disease and Representation, Ithaca, NY 1988; SANDER L. GILMAN, The Jew's Body, New York; London 1991. 37 GILMAN, Difference and Pathology, 162. Gilman gibt literarische Beispiele der Vorstellung vom »Black madmen«, der bereits historische Vorläufer in den britischen Legenden des Mittelalters hatte und den er bis zu den Romanen Mark Twains nachzeichnet. GILMAN,
Difference and Pathology, 132-136, 142-148.
38 Sklavereibefürworter in den USA benutzten das Stereotyp vom »Black madman«, um die Abschaffung der Sklaverei in den USA abzuwehren GILMAN, Difference and Pathology, 131-162.
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19. Jahrhundert verfestigt wurden. Durch die Verknüpfung bereits existierender antisemitischer Stereotype mit Krankheitssymptomen oder Verhaltensweisen, die angeblich vermehrt bei Juden aufträten, seien antisemitische Vorurteile in den »jüdischen Körper« eingeschrieben und durch die Wissenschaft als allgemeingültige »Wahrheit« fixiert worden.39 Hödl untersuchte ferner die Wechselwirkung von Zuschreibungen des »Gesunden« und »Pathologischen« bei Juden und »Schwarzen«.40 Wie sich jüdische Wissenschaftler in diesen Auseinandersetzungen positionierten, wird in kulturhistorischen Studien im Interpretationsrahmen der jüdischen Geschichtsschreibung behandelt.41 Diese Arbeiten decken den Beitrag von Anthropologie und Medizin in der Formierung von Wissen über Juden und Schwarze auf und ordnen sie in die Geschichte des Rassismus und Antisemitismus ein. Dabei arbeiten sie jedoch nicht mit einer wissenschaftshistorischen Analyseperspektive, die dieses Wissen in den zeitgenössischen Wissenschaftskanon situiert. In den weiteren Kontext dieser Arbeiten können auch Studien zur »Judenforschung« in der NS-Zeit gezählt werden. Die nationalsozialistische »Judenforschung« war jedoch vor allem kultur- und sozialwissenschaftliche Forschung, die auf einer biologistisch-rassistischen Grundlage basierte und das Ziel hatte, mithilfe wissenschaftlicher Legitimierungsstrategien den nationalsozialistischen Antisemitismus zu untermauern.42 Ferner sind Studien aus dem anglophonen Raum zu nennen, die stärker an wissenschaftshistorischen Fragestellungen interessiert sind und den Komplex »Psychiatry and Empire« zum Gegenstand haben. Diese beschäftigen sich vor allem mit den großen europäischen Kolonialmächten England und Frankreich.43 Ihr Fokus
39 KLAUS HÖDL, Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle, Wien 1997, 62-70. 40 KLAUS HÖDL, Gesunde Juden – kranke Schwarze. Körperbilder im medizinischen Diskurs, Innsbruck 2002. 41 Eine ausführliche Auseinandersetzung findet sich in Kapitel 2. 42 Rupnow untersucht vor allem »Judenforschung« in den Geschichtswissenschaften, während Steinweis‘ Studie zwar ein Kapitel mit dem Titel »Pathologizing the Jew« aufweist, das sich jedoch nicht mit medizinischen Themen, sondern mit Demographie und Gesundheitsstatistik befasst. DIRK RUPNOW, Judenforschung im Dritten Reich. Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie, Baden-Baden 2011; ALAN STEINWEIS, Studying the Jew. Scholarly Antisemitism in Nazi Germany. 2. Auflage, Cambridge, MA 2008. Vgl. ferner: NICOLAS BERG UND DIRK RUPNOW, Schwerpunktheft »Judenforschung« - Zwischen Wissenschaft und Ideologie. Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur, Bd. 6, Göttingen, 2006. Das Schwerpunktheft bietet einen Überblick über die an der »NS-Judenforschung« beteiligten Disziplinen. 43 Einen Überblick über das Forschungsgebiet findet sich RICHARD KELLER, Madness and colonization: psychiatry in the British and French empires, 1800-1962. In: Journal of so-
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liegt auf dem Zusammenhang von »Rasse«, Wissenschaft und (Kolonial-)Herrschaft. An dem Theoriengebäude Michel Foucaults und an postkolonialen Studien orientiert, entstanden Analysen, die koloniale psychiatrische Institutionen unter die Lupe nehmen und fragen, wie die koloniale Psychiatrie zur Etablierung und Festigung der Kolonialherrschaft beitrug. Die zentrale Bedeutung von »Rasse« im kolonialpsychiatrischen Diskurs ist dabei in verschiedenen Arbeiten deutlich gemacht worden: Psychiatrisches Wissen über die »eingeborenen Rassen« half den Kolonialherren bei der Legitimation von Herrschaft, denn kolonialpsychiatrische Diskurse, die die kolonialisierte Bevölkerung als minderwertig, schwach oder unzivilisiert darstellten, wurden als Rechtfertigung für die Vorherrschaft der Weißen in den Kolonien angeführt.44 Die Psychiatriegeschichte der deutschen Kolonien ist dagegen bislang noch weitgehend unerforscht.45 In Wolfgang Eckarts Standardwerk zur deutschen Kolonialmedizin wird das Thema Psychiatrie nur auf wenigen Seiten erwähnt.46 Es gibt einige Einzelstudien, wie z. B. Albert Diefenbachers Monographie von 1985 über die Etablierung der einzigen psychiatrischen Anstalt, die unter der deutschen Kolo-
cial history 35/2001, 295-326 und MEGAN VAUGHAN und SLOAN MAHONE (Hg.), Psychiatry and Empire, Basingstoke; New York 2007. 44 HARRIET DEACON, Racial categories and psychiatry in Africa: The asylum on Robben Island in the 19th century. In: Waltraud Ernst und Bernard Harris (Hg.), Race, science and medicine, 1700-1960, London 1999, 101-122; JOCK MCCULLOCH, Colonial psychiatry and the »African mind«, Cambridge, UK 1995; HANS POLS, The Nature of the Native Mind: Contested Views of Dutch Colonial Psychiatrists in the former East Indies. In: Megan Vaughan und Sloan Mahone (Hg.), Psychiatry and Empire, Basingstoke; New York 2007, 173-196; MEGAN VAUGHAN, Curing their ills: Colonial power and African illness, Stanford 1991. 45 Dies mag unter anderem auch damit zu tun haben, dass die zeitgenössische kolonialmedizinische Literatur das Thema Psychiatrie wenig behandelte. 46 Neben einigen kurzen Ausführungen zur psychiatrischen Anstalt in Lutindi (316, 370372), erfährt man über die koloniale Psychiatrie allein, dass im Marinelazarett in Tsingtau und in dem Missionskrankenhaus in Kiatschou jeweils Abteilungen existierten, die psychisch Erkrankte aufnahmen. WOLFGANG ECKART, Medizin und Kolonialimperialismus, München; Zürich 1997, 476, 493. Ferner veröffentlichte auch Walter Bruchhausen zum Thema Kolonialpsychiatrie einen Aufsatz: WALTER BRUCHHAUSEN, Sind die »Primitiven« gesünder? Völkerkundliche Perspektiven um 1900. In: Céline Kaiser und MarieLuise Wünsche (Hg.), Die »Nervosität der Juden« und andere Leiden an der Zivilisation. Konstruktionen des Kollektiven und Konzepte individueller Krankheit im psychiatrischen Diskurs um 1900, Paderborn 2003, 41-56.
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nialherrschaft in Deutsch-Ostafrika gegründet wurde.47 Darüber hinaus liegen Arbeiten über Nervosität und Neurasthenie in den Tropen aus literatur- bzw. kulturwissenschaftlicher Perspektive vor.48 Im angloamerikanischen Raum ist der Zusammenhang von »science and race« bereits früh thematisiert worden.49 Dagegen beschäftigt sich die deutsche Wissenschaftsgeschichte erst seit einigen Jahren mit der Frage nach den epistemischen Grundlagen der Forschung über menschliche Differenz.50 Vorarbeiten lassen sich in Texten finden, die sich zwar mit dem Rassebegriff in Eugenik, Rassenhygiene und Anthropologie beschäftigen, jedoch nicht nach der epistemischen Funktion von »Rasse« fragen.51 47 ALBERT DIEFENBACHER, Psychiatrie und Kolonialismus. Zur »Irrenfürsorge« in der Kolonie Deutsch-Ostafrika, Frankfurt a. M. 1985. Ferner berührt Christoph Benedikts Dissertation über die Javareise Emil Kraepelins den Themenbereich, auch wenn Kraepelin seine Untersuchungen in einer niederländischen, nicht deutschen Kolonialpsychiatrie unternahm. CHRISTOPH BENDICK, Emil Kraepelins Forschungsreise nach Java im Jahre 1904. Ein Beitrag zur Geschichte der Ethnopsychiatrie, Köln 1989. 48 STEPHAN BESSER, Pathographie der Tropen. Literatur, Medizin und Kolonialismus um 1900, Würzburg (im Erscheinen); THOMAS SCHWARZ, Robert Müllers Tropen (1915) als neurasthenisches Aufschreibesystem. In: Maximilian Bergengrün, Klaus Müller-Wille und Caroline Pross (Hg.), Neurasthenie. Die Krankheit der Moderne und die moderne Literatur, Freiburg i. Br. 2010, 139-155. 49 U. a. wegweisend waren die Arbeiten von Nancy Stepan und Stephen Jay Gould: STEPHEN JAY
GOULD, Der falsch vermessene Mensch, Frankfurt a. M. 1981; STEPAN, The
Idea of Race in Science. Im Gegensatz zu Stepan unterstützt Gould jedoch die These von der »Unwissenschaftlichkeit« der von ihm untersuchten Forschung. Für die amerikanische Psychiatriegeschichtsschreibung hat Andrew Fearnley ein Defizit zum Thema »Rasse« festgestellt ANDREW M. FEARNLEY, Primitive Madness: Re-Writing the History of Mental Illness and Race. In: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 63/2008, 245-257. Er arbeitet derzeit an einer Dissertation zu diesem Thema, die unter dem Titel Making Methods Work: American Psychiatry and Concepts of Race publiziert werden soll. 50 Dieses Forschungsdesiderat beschreibt auch Schmuhl: Vgl. HANS-WALTER SCHMUHL, Rasse, Rassenforschung, Rassenpolitik. Annäherungen an das Thema. In: Ders. (Hg.), Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm Instituten vor und nach 1933, Göttingen 2003, 7-37, 21. 51 So haben Gisela Bock und Gunter Mann den Rassebegriff in Rassenhygiene und Eugenik analysiert. Vgl. das Kapitel »Anthropologischer und hygienischer Rassismus« GISELA BOCK, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986, 59-76; GUNTER MANN, Rassenhygiene-Sozialdarwinismus. In: Ders. (Hg.), Biologismus im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1973, 73-93. Ein Überblick über
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Explizit mit der Kulturgeschichte des Wissens von der menschlichen Differenz beschäftigt sich seit 2010 die Nachwuchsforschergruppe Historicizing Knowledge about Human Biological Diversity in the 20th Century am Max-Plack-Institut für Wissenschaftsgeschichte unter der Leitung Veronika Lipphardts.52 Von Lipphardt liegen zahlreiche Publikationen zur Thematik vor, u. a. ein Buch über die Debatte um »Rasse«, Vererbung und die »Biologie der Juden« zu Beginn des 19. Jahrhunderts.53 Grundlegend sind darüber hinaus die bereits genannte Studie Christine Hankes über die Konstruktion von »Rasse« und Geschlecht in der physischen Anthropologie um 1900 und der von Hans-Walter Schmuhl herausgegebene Sammelband zur Geschichte der Forschungen über »Rasse« an den Instituten der KaiserWilhelm-Gesellschaft.54 Außerhalb dieser Arbeiten ist in der Vergangenheit durchaus zu Themen geforscht worden, die den Kontext »Rasse« betreffen. So liegt zur Geschichte der Rassenhygiene, Anthropologie und Vererbungsforschung eine große Bandbreite an
verschiedene Rassenkonzepte in der Anthropologie und Erbforschung findet sich in ANNE COTTEBRUNE,
Der planbare Mensch, Stuttgart 2008, 62-74; BENOIT MASSIN, Anthro-
pologie raciale et national-socialisme: heurs et malheurs du paradigme de la ›race‹. In: Josiane Olff-Nathan (Hg.), La science sous le Troisième Reich. Victime ou aliée du nazisme?, Paris 1993, 197-262. Über den Rassebegriff innerhalb der Rassentheorien des 19. Jahrhunderts PATRIK VON ZUR MÜHLEN, Rassenideologien. Geschichte und Hintergründe, Berlin 1977. Über das Rassekonzept im Nationalsozialismus veröffentlichte unlängst der Literaturwissenschaftler CHRISTOPHER M. HUTTON Race and the Third Reich. Linguistics, Racial Anthropology and Genetics in the Dialectics of Volk. Cambridge, UK, 2005. 52 Vgl. u.a. VERONIKA LIPPHARDT, Von der europäischen Rasse zu den Europiden. Wissen um die biologische Beschaffenheit des Europäers in Sach- und Lehrbüchern, 1950-1989. In: Lorraine Bluche, Veronika Lipphardt und Kiran Klaus Patel (Hg.), Der Europäer – ein Konstrukt. Wissensbestände, Diskurse, Praktiken, Göttingen 2009, 158-186; dies. Der Körper als Substrat des Unterscheidens: Vom Rassekonzept zur Humandiversität, in: Ernst Seidl, Philipp Aumann (Hg.), KörperWissen. Erkenntnis zwischen Eros und Ekel , Tübingen 2009, 104-111. Für einen Überblick über weitere Publikationen und die Themen der Nachwuchsforschergruppe: http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/en/research/projects/ NWGLipphardt [letzer Zugriff: 2. Juni 2013]. 53 VERONIKA LIPPHARDT, Zwischen »Inzucht« und »Mischehe«. Demographisches Wissen in der Debatte um die »Biologie der Juden«. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 35/2007, 45-66; VERONIKA LIPPHARDT, Biologie der Juden. Jüdische Wissenschaftler über »Rasse« und Vererbung 1900-1933, Göttingen 2008. 54 HANKE, Auflösung, SCHMUHL, Rassenforschung.
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Studien vor.55 Die Ermordung von Patienten und Patientinnen im Rahmen der sogenannten Euthanasie stellt ferner in der Psychiatriegeschichte ein bedeutendes Thema dar. Die Beschäftigung mit diesem Verbrechen setzte schließlich eine intensive Auseinandersetzung mit den Hintergründen sowie mit der Rolle eugenischen Denkens und der Vererbungslehre der Psychiatrie in Gang.56 Epistemologische Fra55 Die Literatur zu diesem Themenbereich ist mittlerweise zu umfangreich, um hier mehr als eine Auswahl aufzuführen. Einen Forschungsüberblick bieten: ALISON BASHFORD und PHILIPPA LEVINE (Hg.), The Oxford handbook of the history of eugenics, Oxford handbooks, Oxford 2010; ROBERT JÜTTE, WOLFGANG ECKART, HANS-WALTER SCHMUHL u. a., Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2011. Einschlägig sind darüber hinaus MARK B. ADAMS, The Wellborn Science. Eugenics in Germany, France, Brazil and Russia. Oxford; New York, 1990; ELAZAR BARKAN, The Retreat of Scientific Racism. Changing Concepts of Race in Britain and the United States between the World Wars, Cambridge 1992; PETER EMIL BECKER, Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und Völkischer Gedanke, Stuttgart 1990; UWE HOßFELD, Geschichte der biologischen Anthropologie in Deutschland. Von den Anfängen bis in die Nachkriegszeit, Stuttgart 2005; DORIS KAUFMANN, Eugenik – Rassenhygiene – Humangenetik. Zur lebenswichtigen Neuordnung der Wirklichkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Richard von Dülmen (Hg.), Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000, Wien, Köln und Weimar 1998, 347-365; HANS-PETER KRÖNER, Von der Rassenhygiene zur Humangenetik. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik nach dem Kriege, Stuttgart; Jena u. a. 1995; STEFAN KÜHL, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im zwanzigsten Jahrhundert, Frankfurt a. M.; New York 1997; GUNTER MANN, Die Natur des Menschen. Probleme der physischen Anthropologie und Rassenkunde (1750-1850), Stuttgart 1990; HANS-WALTER SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung des »lebensunwerten Lebens« 1890-1945, Göttingen 1987; HANS-WALTER SCHMUHL, Grenzüberschreitungen: Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 19271945, Göttingen 2005; GEORGE W. STOCKING (Hg.), Bones, Bodies, Behaviour. Essays on Biological Anthropology, Madison, WI 1988; REGINA WECKER, SABINE BRAUNSCHWEIG,
GABRIELA IMBODEN u. a. (Hg.), Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik?
Internationale Debatten zur Geschichte der Eugenik im 20. Jahrhundert, Wien; Köln 2009; PAUL J. WEINDLING, Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism 1870-1945, Cambridge 1989; PETER WEINGART, JÜRGEN KROLL und KURT BAYERTZ, Rasse, Blut und Gene, Frankfurt a. M. 1992. 56 Engstrom und Roelcke schreiben, dass die Psychiatriegeschichte der NS-Zeit seit den 70er Jahren einen »Forschungsimperativ ersten Ranges« bilde. ERIC J. ENGSTROM und VOLKER ROELCKE, Die »alte Psychiatrie«? Zur Geschichte und Aktualität der Psychiat-
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gen wurden allerdings selten behandelt. Von daher kritisiert Hans-Walter Schmuhl zu Recht, die Historiographie zur Rassenforschung sei immer noch zu sehr auf die Klärung der Frage nach der »Mittäterschaft, Mitwisserschaft, Mitverantwortung und Mitschuld der einzelnen Forscher oder Forschergruppen« gerichtet und beachte zu wenig den wissenschaftlichen Kontext.57 Angesichts der Verbrechen, die während der NS-Zeit von Medizinern im Namen der Gesundheit des »Volkskörpers« verübt wurden, erscheint es verständlich, dass sich die Geschichtsschreibung lange auf die Aufdeckung der anthropologischen, eugenischen und vererbungstheoretischen Grundlagen der nationalsozialistischen Erb- und Gesundheitspolitik und auf die Schuldfrage konzentrierte. Allerdings führte diese Interpretation häufig zu einer Sichtweise, die die Geschichte von Eugenik und Rassenhygiene, Anthropologie und Vererbungsforschung auf eine Vorgeschichte von Euthanasie und Holocaust reduziert. Folglich ist ein Teil dieser Arbeiten durch den Impetus geprägt, die schon tradierte Auffassung von der Unwissenschaftlichkeit und dem mangelnden Wahrheitsgehalt der Inhalte dieser Wissenschaften nachzuweisen. »Rasse« wird in diesen Studien zwar als Kategorie verstanden, mit der eine »wissenschaftliche« Legitimation des Rassismus betrieben wurde. Eine solche Perspektive greift indes zu kurz, da dabei die epistemischen Prämissen und ihre Umsetzung in der zeitgenössischen wissenschaftlichen Forschung außen vor bleiben.58 Die Historiographie, die sich mit der Geschichte von Anthropologie, Eugenik und Erblehre beschäftigte und gleichsam teleologisch die Vorgeschichte von Holocaust und »Euthanasie« nachzeichnete, besitzt zwar ihre aufklärerische Berechtigung, lässt jedoch die Normalität und die Vielschichtigkeit außer acht, mit der Forschung über »Rasse« betrieben wurde. Die Verwendung von »Rasse« als wissenschaftlicher Kategorie war auch vor 1933 kein Unterfangen weniger Irregeleiteter, sondern fand im Mainstream der Wissenschaften statt.
Q UELLENAUSWAHL Diese Studie beschäftigt sich mit der Frage, wie »Rasse« als wissenschaftliche Kategorie innerhalb der Psychiatrie wirksam wurde und welches Wissen über »Rassen« und die auf diese Weise Kategorisierten entstand. Zur Beantwortung dieser Fragen beschränkte ich mich auf Schriften, in denen kategorial differenzierte Men-
rie im 19. Jahrhundert. In: Eric J. Engstrom und Volker Roelcke (Hg.), Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur Geschichte von psychiatrischen Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum, Basel 2003, 9-25, 13. 57 SCHMUHL, Rasse, Rassenforschung, Rassenpolitik, 20. 58 Ebenda.
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schengruppen beschrieben werden, die zeitgenössisch mit dem Begriff »Rassen« bezeichnet wurden. »Rasse« war zwar in unterschiedlichen Formen innerhalb der Psychiatrie wirksam und stellte beispielsweise auch in psychiatrischer Erbforschung, Eugenik und Rassenhygiene eine zentrale Kategorie dar.59 Hier stand jedoch ein anderes Rassenkonzept als das von mir untersuchte im Zentrum. Es handelte sich um die »populationsgenetische Rasse«, die »Rasse« im Sinne der gesamten Erbeigenschaften eines »Volkes«, nicht um »Rasse« im Sinne eines typologischen oder anthropologischen Rassenbegriffs.60 Alfred Ploetz unterschied in diesem Sinne 1904 zwischen »Vitalrasse« und »Systemrasse«.61 Demnach, so Volker Roelckes Beschreibung dieser Differenzierung, richtete sich die Forschung in der Erbbiologie und Humangenetik »nicht auf die Frage der ›Natur‹ von Rasse allgemein oder […] auf die Eigenschaften einzelner Rassen (vielleicht ließe sich von einem ›außenpolitischen‹ Aspekt des Rassebegriffs sprechen), sondern auf die Erbbiologie und -pathologie innerhalb einer Rasse, mit dem Ziel, den Fortbestand und die ›Qualität‹ dieser Rasse zu erhalten, bzw. zu verbessern (dies wäre analog der ›innenpolitische‹ Aspekt des Rasse-Begriffs«.62
In meinem Projekt stehen jedoch die epistemische Funktion von »Rasse« und die Frage, welches Wissen über den untersuchten »Anderen« generiert worden ist, im Fokus. Daher werde ich mich auf Quellen beschränken, denen »Rasse« als anthropologisches, bzw. typologisches Konzept – also im Sinne eines »außenpolitisches Aspektes« – zugrundeliegt. Auch wenn ein Übergangsfeld zwischen dem »anthropologischen« und »populationsgenetischen« Rassenmodell und den daraus abgeleiteten Forschungsfeldern der Anthropologie und Eugenik/Rassenhygiene existiert und beides nicht scharf zu trennen ist63, macht eine Fokussierung auf Quellen, in 59 Weitere Forschungsfragen wären z. B., wie »Rasse« in der psychiatrischen Praxis wirkte. Ann Goldberg greift in ihrer Studie über die Ebersbacher Anstalt diese Frage auf, allerdings, wie schon erwähnt, anhand der sehr geringen Zahl von zwei Fällen. GOLDBERG, Sex, religion. Ein weiteres Forschungsthema ergäbe sich aus der Untersuchung dieser Frage anhand der Akten von tropenneurasthenischen und anders psychisch erkrankten Kolonialbediensteten. 60 Zur Unterscheidung dieser beiden Begriffe s. auch BOCK, Zwangssterilisation, 59-76 sowie SCHMUHL, Rasse, Rassenforschung, Rassenpolitik, 63f. 61 ALFRED PLOETZ, Die Begriffe Rasse und Gesellschaft und die hiervon abgeleiteten Disziplinen. In: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 1/1904, 2-26, 11. 62 Hervorhebung im Original, ROELCKE, Programm. 49f. 63 Zu diesen Überschneidungen: BOCK, Zwangssterilisation, 59-76; WEINGART, KROLL und BAYERTZ, Rasse, Blut und Gene, 91-103.
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denen es um die »anthropologische« oder »Systemrasse« geht, auch deswegen Sinn, weil der Bereich der Eugenik/Rassenhygiene bereits sehr gut untersucht worden ist. Die vier Dekaden zwischen den 1890er und den 1930er Jahren stehen im Zentrum der Untersuchung, gelegentlich werden jedoch Vor- und Nachgeschichte einbezogen. Mit dem Erscheinen der ersten Einzelstudie über Psychopathologie und »Rasse« bildet das Jahr 1894 den Ausgangspunkt der Publikationstätigkeiten über Psychopathologie und »Rasse«. 1933 wurde als Abschlussjahr gewählt, weil mich die Forschung über »Rasse« und Psychopathologie in einer Zeit interessiert, in der noch keine offensive politische Inanspruchnahme von »Rasse« zu verzeichnen ist, wie während des Nationalsozialismus. Auch wenn mittlerweile deutlich geworden ist, dass das Jahr 1933 in wissenschaftshistorischer Hinsicht keinen so grundsätzlichen Epochenbruch markiert, wie lange angenommen,64 wirkten sich die neuen politischen Entwicklungen auf den Diskurs aus. Die Forschung über »Rassen« hatte sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten insofern grundlegend verändert, als »Rasse« nun die Leitidee der Forschung und Politik darstellte.65 Erstaunlicherweise führte dies jedoch zu einem Rückgang der Publikationen über »Rasse« und Psychopathologie: Nach 1933 nahm die Anzahl der Forschungsarbeiten insgesamt ab. Dies lag wohl einerseits an den neuen Möglichkeiten psychiatrischer Forschung im Bereich der Erbpathologie und Zwillingsforschung, andererseits an dem erzwungenen Schweigen vieler Ärzte mit jüdischem Hintergrund, die vormals einen Großteil der Publikationen über psychische Erkrankungen bei Juden verfasst hatten. Insgesamt wurden für die vorliegende Arbeit 203 Texte identifiziert, die sich mit dem Zusammenhang von Psychopathologie und »Rasse« beschäftigen. Das Quellenkorpus entstand aus systematischen bibliographischen Recherchen in zeitgenössischen medizinischen und psychiatrischen Fachbibliographien sowie durch das Heranziehen ergänzender Quellen – vor allem psychiatrischer Lehrbücher und Einzelmonographien, tropenmedizinischer Literatur und medizinischer sowie allgemeiner Nachschlagewerke. Ergänzend fanden Quellen Beachtung, die mit dem 64 Beispielsweise fand eine stärkere Ausrichtung auf rassekundliche sowie rassenhygienisch-erbpathologische Fragestellungen in der Forschungsförderung der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft bereits Ende der 1920er Jahre im Rahmen der Gemeinschaftsarbeiten für Rassenforschung statt. Vgl. ANNE COTTEBRUNE, Der planbare Mensch. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die menschliche Vererbungswissenschaft 1920-1970. In: Karin Orth und Willi Oberkrome (Hg.), Die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1920-1970. Forschungsförderung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik, Stuttgart 2010, 263-277, 266. 65 Zur Verknüpfung nationalsozialistischer Rassenideologie und Forschungspolitik vgl. COTTEBRUNE, Der planbare Mensch (2008), 98-213; WEINDLING, Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism 1870-1945, 489-564; WEINGART,
KROLL und BAYERTZ, Rasse, Blut und Gene, 367-381.
E INLEITUNG
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thematischen Umfeld des Diskurses um Psychopathologie und »Rasse« Schnittmengen bildeten, wie z. B. Debatten zu »Selbstmord und Rasse«, »Kriminalität und Rasse«. Desweiteren wurde die Literatur zum Thema Psychopathologie und »Rasse« aus internationalen Zeitschriften herangezogen. Für die bibliographische Recherche habe ich mich auf die Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie gestützt, die ab 1881 ausführliche Literaturberichte veröffentlichte. Der Großteil der aufgeführten Literatur ist hier durch kurze Inhaltsangaben kommentiert, die ich bis 1939 ausgewertet habe. Dabei wurden solche Publikationen in das Quellenkorpus aufgenommen, die sich explizit mit »Rasse« beschäftigen sowie jene, die sich psychischen Erkrankungen bei einzelnen Bevölkerungsgruppen (»Juden«, »Javaner«, »Neger«) oder in einzelnen Ländern oder Regionen (»Tropen«, »Ägypten«) widmen, wobei die jeweiligen Abstracts die inhaltliche Zuordnung zum Quellenkorpus unterstützten. Für die Jahre vor und nach dem Untersuchungszeitraum habe ich die Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie (1844-1945) und das Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten (1868-1944) gesichtet. Ferner wurde der Index Medicus (1.1879-21.1898/99; 2. Ser. 1.1903-18.1920; 3. Ser. 1.19216.1926/27) stichprobenhaft durchgesehen, um zu gewährleisten, dass die Quellen so vollständig wie möglich erfasst wurden. Für die tropenmedizinische Literatur konnte vor allem das Archiv für Schiffs- und Tropenkrankheiten (1897-1944) und verschiedene tropenmedizinische Handbücher zu Rate gezogen werden. Hilfreich waren zudem zeitgenössische Bibliographien und Überblicke zum Themenfeld Psychopathologie und »Rasse«.66 Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Publikationen, die sich mit Psychopathologie und »Rasse« beschäftigen, ohne das Thema als ihren Hauptgegenstand zu behandeln. Ferner ist nicht bei allen Publikationen auf Anhieb ersichtlich, dass sie »Rasse« zum Gegenstand haben. So beschäftigt sich Eduard Reiss’ Studie Konstitutionelle Verstimmung und manisch-depressives Irresein mit der Frage einer Verbindung von »geistigen Störungen« mit dem »Volkscharakter«, »Stammeseigentümlichkeiten« sowie der »Rasse«.67 Soweit möglich wurden diese Publikationen durch die Literaturverzeichnisse der Quellen identifiziert. Damit konnten die im Diskurs relevanten Publikationen abgedeckt werden. 66 RAFAEL BECKER, Bibliographische Übersicht der Literatur aus dem Gebiete der Geisteskrankheiten bei den Juden. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 98/1932, 241-276; BÉLA RÉVÉSZ, Die rassenpsychiatrischen Erfahrungen und ihre Lehren. In: Beihefte zum Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene 15/1911, 175-224. Ferner verschiedene Kapitel in JOHANNES SCHOTTKY, Rasse und Krankheit, München 1937 und die Literaturberichte in der Zeitschrift Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete. 1.1929 - 16.1944. 67 EDUARD REISS, Konstitutionelle Verstimmung und manisch-depressives Irresein. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 1/1910, 347-368, 350, 354, 364.
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Zur Bewertung der institutionellen Bedeutung des Forschungsfeldes wurden zudem Archivbestände herangezogen. Die Bestände des Historischen Archivs der MaxPlanck-Gesellschaft in Berlin und der Aktenbestand der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft/Reichsforschungsrat im Bundesarchiv Berlin waren dafür aufschlussreich. Zum Teil konnte ich auch auf Bestände des Archivs des Max-PlanckInstituts für Psychiatrie, München zurückgreifen.
B EGRIFFE Der historische Gegenstand dieser Arbeit erfordert die Auseinandersetzung mit Begriffen, die heute überholt und deutlich negativ besetzt sind. Historiker und Historikerinnen stehen nicht nur bei den Themen Psychiatrie und Rassenforschung vor dem Dilemma, aufgrund des Gebots der historischen Genauigkeit auf die z. T. problematische Sprache der Zeit zurückgreifen zu müssen. Dagegen steht der aufklärerische Anspruch, die Problematik der Begriffe und zugrundeliegenden Konzepte deutlich zu machen und einer Gewöhnung oder Billigung, die durch eine unkritische Wiederholung droht, entgegen zu wirken. Ferner ergibt sich ein sprachliches Problem, dass ein Dilemma jeglicher historischer Darstellung bildet: die Inkongruenz des historischen Verständnisses von Begriffen mit ihrem heutigen Bedeutungsgehalt. Ich benutze für das untersuchte Forschungsfeld die Umschreibung »Diskurs um Psychopathologie und Rasse« sowie – als Synonyme – die Begriffe der »rassenpsychiatrischen Forschung« und der »psychiatrischen Differenzforschung«.68 Wie ich zeigen werde, war die Bandbreite des Verständnisses von »Rasse« im untersuchten Themenfeld durchaus breit und vielschichtig. »Rasse« war zwar als biologische Kategorie definiert. Jedoch wird in der Art und Weise, wie der Begriff in der Forschung benutzt wurde, deutlich, dass die sich Forscher dabei in einem Kontinuum stärker biologischer oder stärker sozio-kultureller Argumente und Bedeutungen bewegten. Aufgrund dieser Vielschichtigkeit verwende ich den Begriff der »rassenpsychiatrischen Forschung« auch für Arbeiten derjenigen Autoren, in deren Schriften der Versuch offenbar wird, eine rassisch-deterministische Deutung zu vermeiden. Dabei stütze ich mich in erster Linie auf die Zeitgenossen selbst, die ihre wissenschaftliche Arbeit auch dann mit dem Begriff »Rassenpsychiatrie« belegten, wenn sie »Rasse« als Erklärungsfaktor in Frage stellten, eine alternative, nicht-biologisch-deterministische
68 »Psychiatrische Differenzforschung« ist ein ungenauer Begriff, weil er beispielsweise auch Forschung über Differenzen zwischen Geschlechtern, Alters- oder Berufsgruppen einschließt. Dennoch benutze ich diesen Begriff in dieser Arbeit ausschließlich in der Bedeutung für rassische Differenzforschung.
E INLEITUNG
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Position der Erklärung von psychischen Erkrankungen bei unterschiedlichen »Rassen« vertraten oder sogar Kritik am Rassenbegriff äußerten.69 Aus heutiger Perspektive mag diese Begriffswahl erstaunen, da der Rassenbegriff im deutschen Sprachraum hauptsächlich mit intentionalen Rassismus und dem biologistischen Rassekonzept verbunden wird, das auch die Nationalsozialisten propagierten.70 Es geht mir nicht darum, die Debatte und ihre Akteure durch die Bezeichnung »rassenpsychiatrische Forschung« in diese Nähe zu rücken und aus einer Post-Holocaust-Perspektive ein vermeintlich lineares Narrativ aufzudecken, das direkt zu den nationalsozialistischen Massenverbrechen führt. Im Gegenteil wird deutlich werden, dass die historischen Gegebenheiten nicht so eindeutig waren und sich weder gradlinig noch unvermeidbar entwickelten. Insofern plädiere ich für ein historisches Verständnis von »Rasse«, das die zeitgenössische Bandbreite des Begriffs einschließt, jedoch zugleich gewahr bleibt, dass das Konzept »Rasse« deswegen nicht weniger problematisch ist. Ferner habe ich weitere Kompromisse gewählt: Was den Gebrauch der männlichen und weiblichen Schreibweise angeht, passe ich mich, sofern ich die Stimme der Diskursautoren widergebe, ebenfalls der zeitgenössischen Sprache an. Es ist mir bewusst, dass in den psychiatrischen Anstalten der Zeit sowohl Patientinnen als auch Patienten lebten, und die allesamt männlichen Autoren des Diskurses nicht nur über Männer sprachen, wenn sie über psychische Leiden bei »Juden«, »Javanern« oder »Germanen« schrieben. Außerdem ist mir durchaus bewusst, dass der Begriff der »Krankheit« im psychiatrischen Kontext ebenfalls nicht unproblematisch ist, auch wenn er dem historischen Verständnis und Sprachgebrauch entspricht. Bei einigen besonders schwierigen oder diffamierenden Begriffen (»Neger«, »Primitive«, »Rasse«) habe ich meine Distanzierung durch die Verwendung von Anführungszeichen zum Ausdruck gebracht.71 Beim verbleibenden Rest heikler Begriffe bitte ich um Nachsicht, dass diese Vorgehensweise durch die Fülle problematischer Begriffe und das Gebot der Lesbarkeit begrenzt ist.
69 Vgl. u. a. RAFAEL BECKER, Die Nervosität bei den Juden. Ein Beitrag zur Rassenpsychiatrie. Für Ärzte und gebildete Laien, Zürich 1919; RÉVÉSZ, Die rassenpsychiatrischen Erfahrungen, 20; MAX SICHEL, Die Geistesstörungen bei den Juden. Eine klinischhistorische Studie, Leipzig 1909, III. 70 Dagegen wird der Begriff »Race« im US-amerikanischen Raum als notwendige Kategorie (sozial)wissenschaftlicher Analyse verteidigt, die durch den Begriff »Ethnizität« nicht abgedeckt werden kann. MATHIAS BÖS, Rasse und Ethnizität: Zur Problemgeschichte zweier Begriffe in der amerikanischen Soziologie, Wiesbaden 2005, 19. 71 Um die Lesbarkeit nicht zu stark einzuschränken, sind aus diesen Begriffen zusammengesetzte Worte (»Rassenpsychiatrie«) sowie Nebenformen (»rassisch«) nicht mit Anführungsstrichen versehen.
1 Die Naturalisierung der Differenz. Geschichte der (Psycho-)Pathologisierung des Anderen
Am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde die wissenschaftliche Beschäftigung mit »Rasse« und Psychopathologie von Medizin und Psychiatrie aufgenommen. Der Topos eines Zusammenhangs von rassischer Differenz, Pathologie und Psyche hatte jedoch Vorläufer, die weiter zurückreichten. In diesem Kapitel beschreibe ich zunächst diese Vorgeschichte des Diskurses um »Rasse« und Psychopathologie, vor allem den Wandel der Erklärungen, mit denen Differenzen zwischen Menschen plausibilisiert wurden sowie die Rolle, die pathologisierende Zuschreibungen darin einnahmen. Darstellungen der Differenz des »Anderen« gehören seit Jahrtausenden zu den durch Warenproduktion, Handel und Kriegführung hervorgerufenen Migrationsbewegungen in Europa.1 In diesen Darstellungen wurde »der Andere«, sein Aussehen, seine Eigenschaften und Verhaltensweisen als different zum eigenen Selbst gezeichnet, wobei sich fiktive Elemente mit den beobachteten Verhaltensweisen, Traditionen und dem Erscheinungsbild des »Anderen« verflochten.2 Resultat war die Produktion von Repräsentationen des »Anderen«, d. h. von »Bildern und Vorstellungen, die gemessen am je eigenen Selbst, andere Menschen nach wirklichen oder zugeschriebenen Eigenschaften kategorisieren.«3 Dabei ist nach Robert Miles die Abgrenzung vom »Anderen« charakteristisch: In der Konstruktion eines Gegenbildes zum idealisierten Selbst ließ sich die eigene Identität vergewissern.
1
MILES, Rassismus, 19.
2
Ebenda, 23.
3
Ebenda, 53.
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Differenzdarstellungen des »Anderen« wurden historisch mit unterschiedlichen Erklärungen plausibilisiert, die auf die zeitgenössisch aktuelle Lesart der Vorstellung einer »selbstverständlichen Ordnung« zurückgriffen. Basierten diese Plausibilisierungen im Mittelalter auf der Ordnung Gottes, setzte die Moderne zunehmend auf eine Anrufung der Wissenschaften, auf die »Natur«, um Differenzen zwischen Menschen zu erklären und festzuschreiben. Lorraine Daston beschreibt diese Prozesse als »ways of fortifying various cultural, political, or economic conventions by presenting them as part of the natural order« und belegt sie mit dem Begriff der »Naturalisierung«.4 Sie legt dar, dass es dabei so etwas wie eine einheitliche Vorstellung der »natürlichen Ordnung« in der Moderne nicht gab, da sich die Vorstellung von »Natur« seit der Aufklärung stark wandelte: Die Idee einer strikten Trennung von Natur und Kultur, so Daston, habe sich in dieser Deutlichkeit erst im 19. Jahrhundert ausgebildet und sei daher nicht für die gesamte Moderne typisch.5 Während die Vorstellung von »Natur« in der Aufklärung z. B. Moral mit einschloss und Erziehung nicht als gegensätzlich zu Natur verstanden wurde, entwickelte sich im 19. Jahrhundert ein Konzept von Natur, das diese im Wesentlichen als materiell, ethisch neutral sowie komplett amoralisch verstand.6 Anschließend an Daston sollen hier Naturalisierungen als Plausibilisierungen von Wissen verstanden werden, die über einen von »Kultur« abgeschiedenen Naturbegriff des 19. und 20. Jahrhunderts hinaus gingen. Denn wenn man davon ausgeht, dass die Trennung von Natur und Kultur nicht ahistorisch, sondern ein Projekt der Moderne ist, müssen als Naturalisierungen auch solche Plausibilisierungen verstanden werden, die kulturelle, theologische und andere Argumente verwendeten, also solche, die sich nicht auf die »Natur« bezogen. Wie in diesem Kapitel gezeigt wird, weisen die Naturalisierungen (psycho-)pathologischer Differenz bereits vor der Aufklärung diese Bezugnahmen auf eine »natürliche« oder »selbstverständliche Ordnung« auf, die historisch unterschiedliche Formen annahmen. Die Differenzkonstruktionen unterliegen dabei einem Wandel hin zu stärker biologisch und naturwissenschaftlich basierten Vorstellungen der »selbstverständlichen Ordnung«, gleichzeitig zeigt sich ihr Mischcharakter in der Vermengung kultureller und biologischer Zuschreibungen, die diese Differenzkonstruktionen untermauern sollten.
4
Bei Daston geht es um »weibliche Differenz«, ihre Thesen lassen sich jedoch auch auf rassische Differenzzuschreibungen übertragen. LORRAINE DASTON, The Naturalized Female Intellect. In: Science in Context 5/1992, 209-235, 209.
5
Ebenda. Die Trennung von Kultur und Natur als Produkt der Moderne thematisieren auch Bruno Latour und Evelyn Fox Keller. EVELYN FOX KELLER, Mirage of a Space Between Nature and Nurture, Durham, NC, London 2010; BRUNO LATOUR, Wir sind nie modern gewesen, Frankfurt a. M. 2008 [1995].
6
DASTON, The Naturalized Female Intellect.
N ATURALISIERUNG
1.1
DER
D IFFERENZ
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D IFFERENZKONSTRUKTIONEN IM M ITTELALTER UND DER V ORMODERNE
Die Zuschreibung pathologischer Andersartigkeit war ebenso wie diejenige somatischer, charakterlicher oder kultureller Unterschiede Teil von Differenzkonstruktionen. Bereits im Mittelalter griffen Repräsentationen des »Anderen« häufig Vorstellungen auf, die darin bestanden, dem »Anderen« einen kranken oder abnormen Körper oder Geist zu bescheinigen. So vermutete man beispielsweise den Grund für die dunklere Hautfarbe von Afrikanern in einer Ansteckung mit Lepra, oder hielt die Ursache für die gekräuselte Haarstruktur der Afrikaner für eine Folge von Verbrennungen der Haare im Babyalter.7 Über vormoderne Pathologisierungen als Teil von Differenzkonstruktionen im Spanien nach der Reconquista schreibt Max Sebastián Hering Torres.8 Die Verfechter der Politik der »Limpieza de Sangre« (»Reinheit des Blutes«) legitimierten die Ausgrenzung konvertierter Juden, Mauren und deren Nachkommen, den Neuchristen, von kirchlichen und staatlichen Ämtern mit deren angeblicher »Unreinheit« und argumentierten ebenfalls mit der Vorstellung einer körperlichen und geistigen Andersartigkeit. Im Spanien nach der Reconquista wurde somit die Abstammung von einem »reinblütigen« Vorfahren zum ersten Mal in der Geschichte zum Ein- bzw. Ausschlusskriterium einer gesamten Gruppe.9 Die theologischen Texte, die die »Limpieza de Sangre« zu rechtfertigen suchten, schrieben den Neuchristen nicht nur differente Moralvorstellungen, Verhaltensweisen und das Beharren auf jüdischen religiösen Traditionen zu, sondern markierten sie auch durch behauptete somatische und pathologische Merkmale als anders. Dabei bedienten sich die Autoren einer theologischen Argumentation, nach der Juden aufgrund ihrer angeblichen Schuld am Tode Jesu mit vererbbaren sichtbaren und unsichtbaren Merkmalen am Körper gekennzeichnet seien.10 Humoralpathologische und anatomische Argumente untermauerten die theologische Argumentation, nach der die Neuchristen einen »biologisch« differenten menschlichen Typus darstellten.11 Die spanischen Limpieza-Autoren stützten ihre Argumente unter anderem auf das Werk des französischen Mönchs Bernard de Gordon (Bernadus Gordinius), dessen 1305 erschienenes Buch Lilium Medicinae 1495 ins Spanische übersetzt worden war und das bis ins 17. Jahrhundert in ganz Europa ein hochgeschätztes
7
HÖDL, Gesunde Juden, 22.
8
MAX SEBASTIÁN HERING TORRES, Rassismus in der Vormoderne. Die »Reinheit des Blu-
9
MARK TERKESSIDIS, Psychologie des Rassismus, Opladen 1998, 84.
tes« im Spanien der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2006. 10 HERING TORRES, Rassismus in der Vormoderne, 146f. 11 Ebenda, 172.
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medizinisches Standardwerk war.12 Das Werk fußte auf der Lehre der Humoralpathologie, die auf die griechische Antike zurückgeht und bis ins 19. Jahrhundert die bestimmende Krankheitslehre der europäischen Medizin darstellte. Die Humoralpathologie beruhte auf dem Grundsatz, dass für Gesundheit und Krankheit des Menschen die Ausgewogenheit der vier Körpersäfte Schwarze Galle, Gelbe Galle, Blut und Schleim bedeutsam seien.13 Eine gestörte »Balance der Säfte« galt in der Humoralpathologie als krankheitsverursachend und konnte durch Mangel oder Übermaß an einem der Säfte hervorgerufen werden. Die Unausgewogenheit der Säfte war denn auch für de Gordon der Grund für die dargestellte abweichende Pathologie der Juden. So litten Juden angeblich aufgrund einer Überproduktion an »schwarzer Galle« häufiger unter Hämorrhoiden und bluteten daher regelmäßig wie Frauen.14 De Gordon erwähnte auch als erster eine angeblich andersartige psychische Verfasstheit der Juden, die aufgrund der »fehlerhaften Säftemischung« zustande komme.15 Da die »schwarzen Galle« Überhand nehme, komme es auch zu einem Überfluss an Melancholie, zu einer »jüdischen Melancholie«. Letztendlich würde dies bei Juden häufiger zur Manie führen, denn durch die Wirkung der Hitze im Körper verbrenne die Melancholie und wandele sich in Cholera um. Auch der Einfluss des Teufels könne in diesen Fällen der Grund für ein Übermaß an Melancholie sein, so de Gordon.16 De Gordon beschreibt hier Stereotype, die in der Folge als antisemitischer Wissensbestand über die angebliche körperliche und geistige Andersartigkeit der Juden z. T. bis in die Moderne tradiert wurden. So nährte die Behauptung regelmäßiger Blutungen – einer männlichen Menstruation – das Stereotyp des »verweiblichten« Juden.17 Ferner findet sich hier auch schon die Vorstellung einer andersartigen psychopathologischen Beschaffenheit der Juden, die hier noch als Melancholie und Manie beschrieben wird, später dann als Nervosität oder generelle Disposition zu psychischen Erkrankungen.
12 Ebenda, 162. 13 Den Körpersäften wurden je ein Element (Erde, Feuer, Luft und Wasser), ein Organ (Milz, Leber, Herz, Gehirn), eine Qualität (kalt und trocken, heiß und trocken, heiß und feucht und kalt und feucht) sowie vier Temperamente (Choleriker, Melancholiker, Sanguiniker, Phlegmatiker) zugeordnet. WOLFGANG ECKART, Geschichte der Medizin: Fakten, Konzepte, Haltungen. 6. Auflage, Heidelberg 2008, 45f. 14 HERING TORRES, Rassismus in der Vormoderne, 163. 15 Ebenda. 16 Ebenda. 17 CHRISTINA VON BRAUN und LUDGER HEID (Hg.), Der ewige Judenhass. Christlicher Antijudaismus, Deutschnationale Judenfeindlichkeit, Rassistischer Antisemitismus, Studien zur Geistesgeschichte, Bd. 12, Berlin, Wien 2000; HÖDL, Pathologisierung, 210f.
N ATURALISIERUNG
DER
D IFFERENZ
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Die Gründe, die für die übermäßige Bildung von »schwarzer Galle« angeführt wurden, waren vielfältig. De Gordon schrieb sie dem Müßiggang zu, dem die Juden ergeben wären, sowie ihrem Leben in ständiger Angst und Verzweiflung. »Göttliche Rache« sah de Gordon als einen dritten Grund an, der nicht nur zu verstärkter Produktion von »schwarzer Galle«, sondern auch zu einem verlängerten Rückenmark führen würde.18 Andere Autoren, wie der spanische Mediziner Juan Huarte, argumentierten, das Übermaß an »schwarzer Galle« läge an dem langen Aufenthalt der Juden in Ägypten: Sie hätten das dortige Wasser sowie die Nahrung, die von »warmem Temperament« und »zarter Substanz« gewesen sei, nicht vertragen.19 In seiner Analyse der medizinischen Limpieza-Diskurse beschreibt Hering Torres, dass deren Autoren humoralpathologische und theologische Argumentationen vermengten.20 Insofern sei der Diskurs als ein Zeichen für eine vormoderne Tradition zu werten, »welche die traditionelle Wissenschaft mit der Theologie vereinte, aber in dieser Fusion nach wie vor dem theologischen Dogma unterstand.«21 Die Differenzkonstruktion der Limpieza-Apologeten beruhte demnach auf einer Interpretation, nach der erstens physiologisch und pathologisch verschiedene Gruppen existierten, die zweitens in Alt- und Neuchristen hierarchisch unterschieden wurden. Auch wenn keine modernen wissenschaftlichen Methoden angewandt wurden, um die Differenzen zwischen Neu- und Altchristen zu fixieren, sei dies als »ein ›rationales Unterfangen‹ mit theologischem Fundament«22 zu bewerten. Die Autoren begründeten in ihren Werken gleichwohl eine »als natürlich betrachtete und daher ›wahrhaftige Ungleichheit‹«.23 Die Analyse Hering Torres’ zeigt also Hinweise für den Wandel von religiösen und kulturellen zu »biologischen« Differenzkriterien auf, der mit dem Beginn der Moderne einsetzte. Theologische, medizinische und »biologische« Argumente verschränkten sich zu einem hybriden Narrativ, das in diesem Fall die Differenz zwischen Alt- und Neuchristen rechtfertigen sollte.
18 HERING TORRES, Rassismus in der Vormoderne, 162. S. dort auch die Zitate aus dem spanischen Original. 19 BRAUN und HEID (Hg.), Judenhass, 165. 20 HERING TORRES, Rassismus in der Vormoderne, 156-180. 21 Ebenda. 22 Ebenda, 179. 23 Ebenda, 248.
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1.2 W ISSENSCHAFTLICHE D IFFERENZKONSTRUKTIONEN IN DER M ODERNE : N ATUR , G ESCHICHTE UND K LIMA Die Limpieza-Diskurse werden für die Entstehung des Rassismus als wesentlich angesehen, ebenso wie die Bedeutung weiterer frühneuzeitlicher Ereignisse.24 In das ausgehende 15. und beginnende 16. Jahrhundert fallen mehrere Entwicklungen, die sowohl für den modernen Rassismus bedeutsam waren, als auch den Epochenbeginn der Frühen Neuzeit markieren. So erlaubte die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern eine früher nicht existierende Verbreitung von Druckschriften und förderte die Verbreitung der humanistischen Ideen der Renaissance. Der Abschluss der Reconquista und die »Entdeckung« Amerikas 1492 hatten die Vertreibung der Juden und Mauren aus Spanien und den Beginn der europäischen Kolonialisierung zur Folge. Ferner läutete die Reformation eine vermehrte Auseinandersetzung mit Glaubensinhalten ein, die schlussendlich in einer zunehmenden Säkularisierung der europäischen Gesellschaften resultierte.25 Für die Entstehung des modernen Rassismus waren diese Entwicklungen grundlegend. Die europäischen »Entdeckungsreisen« und die spätere europäische Kolonialisierungspolitik bewirkten eine verstärkte Konfrontation mit dem »Fremden«, wie sie im Mittelalter nicht stattgefunden hatte. Damit einher ging ab dem 16. Jahrhundert eine Welle von Publikationen, in denen diese Reisen, sowie die dabei beobachteten Länder und Menschen beschrieben wurden. Durch Neuerungen im Buchdruck und –vertrieb erreichten die Reiseberichte und die in ihnen transportierten Darstellungen des außereuropäischen »Anderen« eine wachsende Leserschaft.26 Die europäische Kolonialisierung bedeutete ferner, dass mit den für die Europäer neuen Kontinenten und ihren Menschen neue Erklärungen für die Beschreibung
24 Allerdings ist umstritten, ob die Limpieza-Diskurse zur Vorgeschichte oder bereits zur Geschichte des Rassismus zu zählen sind. Da die Erfindung des modernen Rassenkonzeptes durch die frühe Naturphilosophie in das 18. Jahrhundert datiert wird, werden von einigen Historikern Ausgrenzungspraktiken und -diskurse, wie diejenigen der Reconquista in Spanien sowie die transatlantische Sklaverei ab dem 16. Jahrhundert als »ProtoRassismus« bezeichnet, der zwar Parallelen zum modernen Rassismus aufweise, jedoch durch die Abwesenheit eines Rassenkonzeptes noch kein Rassismus sein könne. GEISS, Rassismus, 19; GEULEN, Geschichte des Rassismus, 32-38; HERING TORRES, Rassismus in der Vormoderne, besonders: 200-250; KOLLER, Rassismus, 15-23; KARIN PRIESTER, Rassismus. Eine Sozialgeschichte, Leipzig 2003, 17-42; TERKESSIDIS, Psychologie, 8488. 25 GEULEN, Geschichte des Rassismus, 32-38; KOLLER, Rassismus, 15-23; MILES, Rassismus, 29-42; PRIESTER, Rassismus, 17-42; TERKESSIDIS, Psychologie, 84-88. 26 GEULEN, Geschichte des Rassismus, 44ff.; MILES, Rassismus, 31.
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und Kategorisierung menschlicher Differenzen gefunden werden mussten.27 Zunächst begannen Geistliche, die ihnen unbekannten Völker als Teil der göttlichen Schöpfung zu beschreiben und teilten dabei bereits nach körperlichen und vermeintlichen moralischen Eigenschaften ein.28 Als ab dem 17. Jahrhundert auch außerhalb geistlicher Kreise Naturforscher und Philosophen begannen, aus diesen Beschreibungen ein System menschlicher Vielfalt mithilfe der Kategorie »Rasse« zu entwickeln, bezogen sie sich mit dem Konzept der »Naturgeschichte« auf eine moderne Struktur des Wissens.29 Bereits hier galt »Rasse« als Ausdruck kollektiver physiologischer, psychologischer und moralischer Eigenschaften.30 Desweiteren gilt die Frühe Neuzeit als jene Epoche, in der das theozentrische Weltbild, welches bis dahin Leben und Ansichten der Menschen bestimmt hatte, an Bedeutung verlor. Die Reformation hinterfragte bislang als selbstverständlich angesehene (Glaubens-)Grundsätze. So verloren auch akademische Argumentationen, die allein auf dem Glauben an göttliche Gesetze basierten, gegenüber Erklärungen, die auf Gesetzmäßigkeiten der Natur rekurrierten, zunehmend an Plausibilität. Diese sogenannte »wissenschaftliche Revolution« im 17. Jahrhundert hatte gleichfalls zur Folge, dass sich Konzepte, Praktiken und Inhalte von Wissenschaften grundlegend veränderten.31 Die Vorstellung, dass die »Natur« nicht ein einzelner Akt göttlicher Schöpfung war, sondern Gesetzmäßigkeiten folgte und daher auch empirischer Erkenntnis zugänglich sei, resultierte darüber hinaus in einem Wandel der wissenschaftlichen Praktiken: Beobachtung und Experiment galten zunehmend als der alten, scholastischen Methode überlegen.32 Die Naturgeschichte, das neue Paradigma, mit dem Wissen über menschliche Vielfalt plausibilisiert wurde, enthielt also die Vorstellung einer gesetzmäßigen Entwicklung der Natur. Die Geschichte der Menschheit wurde entsprechend als Fortschrittsprozess gedacht, in dem sich die Menschheit stetig weiter- und höher entwickelt habe. Die Europäer nahmen innerhalb dieses Systems die am höchsten entwickelte Stufe der Menschheit ein, während die Außereuropäer einerseits als die 27 GEISS, Rassismus, 15,121-123. 28 GEULEN, Geschichte des Rassismus, 45. 29 Ebenda, 45f. 30 MOSSE, Geschichte des Rassismus, 37. 31 Inzwischen wird die These einer »wissenschaftlichen Revolution« in der Frühen Neuzeit differenziert betrachtet. Wissenschaftshistoriker und -historikerinnen gehen mittlerweile davon aus, dass es sich nicht um einen linearen wissenschaftlichen Fortschritt handelte, sondern die »Revolution« eher als ein langfristiger und widersprüchlicher Prozess anzusehen ist. Vgl. STEVEN SHAPIN, The scientific revolution, Chicago 1996, 1-8. 32 STEVEN SHAPIN, Woher stammte das Wissen der wissenschaftlichen Revolution? In: Michael Hagner (Hg.), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a. M. 2001, 43103.
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unentwickelte Vorstufe des Europäers, andererseits jedoch auch als im unverfälschten Naturzustand verhaftet imaginiert wurden.33 Die Verbindung von »Natur« und historischer Gesetzmäßigkeit fand auch in einem weiteren Konzept Verbreitung: Ab der Aufklärung wurde das Klima ein zunehmend beliebtes Erklärungsmodell für menschliche Differenz.34 Demnach war die Ursache der Unterschiede zwischen Menschen im Einfluss des Klimas zu sehen, das im Laufe der Zeit menschliche Differenzen in Körper und Geist produziert habe. Resultat dessen sei eine »moral climatology« gewesen, so David Livingston: Die Verknüpfung von Klima, moralischen Beurteilungen und rassischen und rassistischen Zuschreibungen.35 Die Grundprämisse der Klimatheorie, nach der warme Luft straffe, kalte dagegen schlaff mache, wurde für die Erklärung unterschiedlicher körperlicher, moralischer und geistiger Eigenschaften herangezogen.36 Das Klima ließ sich dadurch für die Erklärung einer angeblichen Trägheit und vermeintlichen sexuellen Triebhaftigkeit der Afrikaner und der Beschreibung der Nordeuropäer als tugendhaft, ehrlich, sexuell kontrolliert und arbeitsam heranziehen.37 Bis ins 19. Jahrhundert blieb die Rolle des Klimas für die Erklärungen menschlicher Differenz aktuell.38 Mit dem Aufkommen einer biologischen Begründung des Rassekonzeptes etwa Mitte des Jahrhunderts verlor die klimatische Erklärung der Entstehung der »Rassen« zwar an Bedeutung, überlebte aber als Idee vom Zusammenhang zwischen »Rasse«, moralischer Verfasstheit und Klima, unter anderem in der Medizin. Livingston zeigt die Medikalisierung der »moral climatology« seit dem frühen 19. Jahrhunderts an der Tropenmedizin auf.39 Ein Beispiel, das zeigt, wie sich das Klimamodell in psychopathologischen Zuschreibungen abzeichnete, findet sich in Franz Prunters Buch Krankheiten des Orients, das 1847 erschien. Er berichtete darin über seine Zeit in Ägypten als Leiter verschiedener Krankenhäuser und als Leibarzt in der Familie des Vizekönigs.40 Pruner beginnt sein Kapitel über die »Krankheiten des Nervensystems« folgendermaßen:
33 GEULEN, Geschichte des Rassismus, 51; MOSSE, Geschichte des Rassismus, 28-42. 34 GEULEN, Geschichte des Rassismus, 51; MILES, Rassismus, 40-42. 35 DAVID LIVINGSTONE, Race, space and moral climatology: notes toward a genealogy. In: Journal of Historical Geography 28/2002, 159-180, 165. 36 GEULEN, Geschichte des Rassismus, 51. 37 Ebenda, 53; LIVINGSTONE, Race, 164. 38 GEULEN, Geschichte des Rassismus, 51; MILES, Rassismus, 40-43. 39 LIVINGSTONE, Race, 168-171. 40 Franz Pruner (1808-1882) war in der Oberpfalz geboren, studierte in München und ging 1831 nach Ägypten, wo er bis 1860 lebte. Pruner, Franz. Deutsches Biographisches Archiv (DBA). World biographical information system - WBIS Online, München 2008.
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»Von allen Gebieten des Nervensystems ist es begreiflicherweise das Gehirn, welches in allen Zonen neben den Organen der vegetativen Sphäre […] ursprünglich leidet und sekundär mitleidet. Dieses allgemeine Gesetz behält auch in der von uns beobachteten Region seine Gültigkeit. Obwohl unter den Einflüssen einer gemässigten Temperatur und bei einem der Natur angemessenen Leben diese Disposition zu Gehirnkrankheiten sich mindert und verschwindet, so ist dies in warmen Klimaten bei Weitem weniger der Fall. Die Hitze, die mehr vertikale Richtung der Sonnenstrahlen, die elektrischen Verhältnisse, die Heftigkeit der Winde u.s.w. sind zu mächtig und zu andauernd, um nicht auf alles Organische, und auf das Gehirn noch im reiferen Alter insbesondere zu wirken. So lange derlei Einflüsse in gewissen Grenzen bleiben, wirken sie auf die Nervensphäre günstig für die Entwicklung, […]. Ja selbst im späteren Alter bemerkt man wenigstens an gut organisierten Menschenfamilien, wie z. B. an den Arabern und Indern, eine Lebhaftigkeit und Frische des Geistes, welche man vergebens in den Volksmassen des Nordens sucht. Wo aber die genannten Einflüsse übermässig, beständig und auf eine weniger günstige Organisation wirken, sey es im überspannten, blutreichen Europäer oder im biliösen und torpiden∗ Neger, da kann der Erfolg nur ein gefährlicher sein«.41
Pruners Ausführungen machen die Aktualität humoralpathologischer Deutungen noch Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich und die Rolle, die die Klimatologie darin spielte. Er beschrieb die Gefahren, die das Klima Ägyptens auf die »Balance der Säfte« haben könnte. In seinem Text wies Pruner den »blutreichen« Europäern und »galligen« und »trägen« »Negern« nicht nur unterschiedliche humoralpathologische »Ausgangslagen« zu, sondern behauptete auch, daraus resultiere eine andere Reaktionsweise auf das Klima. Das zu heiße Klima wirke sowohl auf das Gehirn des zugereisten Europäers, als auch auf das des »Negers« schlecht, und zwar aufgrund der Übermäßigkeit der Hitze, aber auch aufgrund ihrer »weniger günstigen Organisation« – womit er offensichtlich die physische Konstitution des jeweiligen Organismus meinte. In Pruners Text findet sich also bereits die in späteren Jahrzehnten ausführlich diskutierte Vorstellung einer Unterschiedlichkeit der Menschen, die durch ungünstige Umweltbedingungen zu einer erhöhten Krankheitsanfälligkeit führen kann. Trotz dieser Annahme einer pathologischen Differenz von Menschengruppen legte Pruner den Schwerpunkt seiner Erläuterungen zur Krankheitsentstehung jedoch auf die äußeren Bedingungen unter oder in denen die Menschen lebten. Die Beschreibung von Klima und Geographie in Ägypten nimmt in seinem Buch, das ja von den Krankheiten des Orients handeln soll, mit einem 35-seitigen ersten Kapitel breiten Raum ein.42 Ein Unterkapitel ist der Bevölkerung gewidmet, für die er zwar ∗
träge und gallig
41 FRANZ PRUNER, Die Krankheiten des Orients, Erlangen 1848, 293f. 42 Er beschreibt ausführlich die Gebirge, Seitenarme, Bewohner, Bodenbeschaffenheit sowie die Flora und Fauna der Nilumgebung. Dies mag aber eventuell auch dem Zweck ge-
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nicht den Begriff »Rasse« verwandte, die er aber entlang anthropologischer Merkmale wie Schädelform, Haar- und Hautfarbe ausführlich beschrieb. Die Beschreibung der »äußeren Bedingungen« der Krankheitsentstehung spielt jedoch auch in den Kapiteln eine große Rolle, in denen er die einzelnen Krankheiten behandelte. So beschrieb Pruner in einem Abschnitt die krankheitsverursachende Wirkung der Ernährung, der Verhaltensweisen und sogar der Kleidungsgewohnheiten der »Orientalen«, die er als schädlich für Nerven und Gehirn ansah.43 Seine Meinung, dass es letztendlich überall und nicht nur im Orient die Umwelt sei, die Nerven und Psyche beanspruche, machte er unmissverständlich deutlich: »So viel ist gewiss, dass die Natur im Oriente ebenso wie das Gemüth des Fremdlings zur beschaulichen Ruhe stimmt – wenigstens im Verlaufe der Zeit – als in Nordamerika der Ankömmling unwillkührlich in den Strudel der Thaten- und Spekulationslust hineingerissen wird.«44
Pruners Erkärung der beobachteten psychopathologischen und pathologischen Differenzen zwischen »Orientalen«, »Negern« und »Europäern« vermischt die Argumente: Sowohl »Umwelt« als auch eine gegebene Natur der Menschen zog er als Begründung heran, wobei er Klima und Lebensbedingungen den größeren Einfluss einräumte. Den Menschen schrieb Pruner einerseits mit dem Verweis auf die »Galligkeit« oder den »Blutreichtum« unterschiedliche physiologische Ausgangslagen zu, andererseits seien Körper und Nerven seiner Ansicht nach sowohl vom Klima als auch durch andere Lebensumstände beeinflussbar. Gegenüber Differenzerklärungen früherer Autoren ist nun ein Rückgriff auf eine theologische Begründung nicht mehr zu finden, stattdessen bediente sich Pruner mit den klima- und humoralpathologischen Argumenten einer wissenschaftlichen Plausibilisierung von Differenz. Auch wenn Pruner die anthropologischen Klassifikationsschemata mit der Beschreibung von Schädelmaßen und Haarfarben aufgriff, sind es keine rassenbiologischen Argumente, mit denen er die wahrgenommenen pathologischen Differenzen deutete. Trotzdem ist die humoralpathologische und klimatheoretische Erklärung menschlicher Varianz nicht frei von deterministischen Zügen: Ein gemäßigtes Klima galt es übermäßiger Hitze vorzuziehen, die Menschen, die im Kühlen lebten, hatten also in jedem Fall einen Vorteil. Als Grund für die angebliche »Trägheit« der »Neger« galt nicht die Biologie, sondern die Hitze und eine daraus im Verlauf entstandene Konstitution. Dieser Zuschreibung konnte man jedoch nicht entgehen, da sie bereits in die Körper eingeschrieben war. dient haben, dem Leser die Kompetenz des Autors für das orientalistische Fachgebiet zu versichern. 43 PRUNER, Die Krankheiten des Orients, 294. 44 Ebenda.
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1.3 D IE D EBATTE UM DEN 6. US-Z ENSUS UND PSYCHISCHE E RKRANKUNGEN BEI AFROAMERIKANERN (1840) Seit der Aufklärung waren die modernen Wissenschaften, wie dargelegt, wesentlich in der Etablierung des Rassenkonzeptes als vorherrschendes Konzept der Erklärung menschlicher Differenz. Zunächst stand dabei die Geschichte der Menschheit als Erklärungsmodell von »Rasse« im Fokus, wobei auf unterschiedliche historische Narrative Bezug genommen wurde. So wurde, wie im letzten Unterkapitel bereits beschrieben, unter anderem auf die Vorstellung der allmählichen Entfaltung der Menschheit vom unverfälschten Naturzustand bis zum Menschen der modernen Zivilisation rekurriert. Zudem diente ein evolutionärer Prozess der Anpassung an unterschiedliche klimatische Bedingungen als Erklärung der Entstehung unterschiedlicher »Rassen«. Waren die modernen Wissenschaften und ihre Vorstellung einer prozesshaften, historischen Entwicklung von Leben ein Motor für die Herausbildung der Idee von der »Rasse«, gab es für die Attraktivität des Rassenkonzepts in der Moderne noch weitere Ursachen. Entscheidend war nämlich, dass »Rasse« eine relevante Kategorie zu einem Zeitpunkt wurde, als der Widerspruch zwischen dem durch die Aufklärung versprochenen Gleichheitspostulat und den sozialen Realitäten offensichtlich wurde und man diesen zu rechtfertigen suchte. Wie erwähnt hatten Aufklärung und Reformation die vorherige Legitimation des auf einer von Gott gegebenen Ordnung beruhenden Systems gesellschaftlichen Ein- und Ausschlusses infrage gestellt. Die Kolonialpolitik und die Zwänge, die dortige Herrschaft über die autochthone Bevölkerung zu rechtfertigen, widersprachen dem aufklärerischen Anspruch auf Universalismus, der die Gleichheit und Freiheit aller Menschen zusagte. Hinzu kamen die Emanzipationsbestrebungen marginalisierter Gruppen innerhalb der europäischen Gesellschaften, wie der Juden, die ebenfalls politische Teilhabe und Gleichberechtigung forderten. Der Verlust bisheriger gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen, der mit der Aufklärung einherging, machte die Suche nach neuen Formen notwendig, die Ausgrenzung einzelner Gruppen zu legitimieren.45 Das Postulat des Universalismus forderte somit nicht nur die Begründungen einer Abgrenzung nach außen heraus, auch die Frage nach kollektiver Zugehörigkeit innerhalb der europäischen Gesellschaften wurde neu aufgeworfen: Gängige Begründungen durch Tradition oder Religion waren zwar nicht völlig obsolet, hatten jedoch an Durchschlagskraft eingebüßt. Neu verhandelt wurde, wer zu einem
45 GEULEN, Geschichte des Rassismus; KOLLER, Rassismus; MILES, Rassismus. Die Emanzipationsbestrebungen von Frauen resultierten in einer ähnlichen Entwicklung mit der Festschreibung ihrer angeblichen »natürlichen Ungleichheit«.
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Volk, einer Nation gehörte, wer die Berechtigung besaß, die neuen, als universell markierten Rechte der Freiheit und Gleichheit in Anspruch zu nehmen. Selbst die Frage, ob jemand Mensch war oder nicht, war Bestandteil von Diskussionen und Aushandlungsprozessen.46 Das Rassenkonzept versprach hier einen Ausweg aus der Unsicherheit, da es die nun als unzeitgemäß geltenden Zugehörigkeitsformen wie Stand oder Religion vermied und außerdem modern und wissenschaftlich erschien: »Rasse« versprach eine »verlässliche, objektive Begründung von Zugehörigkeit«, in einer Periode, in der kollektive Zugehörigkeiten nicht mehr in gleichem Maße wie früher feststanden.47 Der Zusammenhang zwischen den Erfordernissen, Ausgrenzung zu legitimieren und der Etablierung wissenschaftlicher Diskurse über »Rasse« wird unter anderem auch an einer Debatte deutlich, die Mitte des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten geführt wurde.48 1840 wurde im Rahmen der sechsten Volkszählung in den USA eine erste Erhebung der nordamerikanischen »Irren« durchgeführt. Die Ergebnisse der ein Jahr später publizierten Zählung schienen zu zeigen, dass die Zahl der psychisch Erkrankten unter der freien afroamerikanischen Bevölkerung des Nordens im Vergleich zu jener der in Sklaverei lebenden Afroamerikanern im Süden der Vereinigten Staaten elfmal höher lag. Die Statistiken wiesen im Süden der Vereinigten Staaten nur einen von 1558 Afroamerikanern als »geisteskrank« oder »idiotisch« aus, während im Norden die Quote bei 1:144,5 lag. Besonders deutlich traten die Unterschiede zwischen den Staaten im »tiefsten Süden«, in denen die Sklaverei fest etabliert war, und Neuengland hervor, wo es keine Sklaverei gab: Während die Angestellten der Volkszählung in Maine bei jedem 15. Afroamerikaner eine psychische Erkrankung oder eine geistige Behinderung festgestellt hatten, wurde für Louisiana nur ein »Irrer« oder »Idiot« unter 4310 Afroamerikanern in der Statistik ausgewiesen.49 Die Zählung unter den nordamerikanischen »Irren«, fand in einer gesellschaftlichen Stimmung statt, in der die Frage nach der Legitimation der Sklaverei gerade sehr heftig debattiert wurde. Die Jahrzehnte vor dem nordamerikanischen Bürgerkrieg standen im Zeichen einer andauernden Auseinandersetzung über die Frage, ob
46 GEULEN, Geschichte des Rassismus, 62f. 47 Ebenda, 63. 48 Auf die Bedeutung dieser Debatte für die Geschichte des Rassismus in den USA ist bereits mehrfach hingewiesen worden, u. a. in ALEXANDER THOMAS und SAMUEL SILLEN, Racism and Psychiatry, Secaucus, NJ 1976, 16-22. Ferner: GILMAN, Difference and Pathology, 131-149. Die ausführlichste Untersuchung dazu hat Albert Deutsch geschrieben: ALBERT DEUTSCH, The first U.S. Census of the Insane (1840) and its use as Pro-Slavery Propaganda. In: Bulletin of the History of Medicine 15/1944, 469-482. 49 DEUTSCH, U.S. Census, 472.
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die Sklaverei gerechtfertigt sei oder nicht.50 Auch die Wissenschaften lieferten ihren Beitrag zur Debatte: Theologen, Juristen, Philosophen, Wirtschaftswissenschaftler stritten auf beiden Seiten dafür und dagegen. Grundlage der Debatte war die Behauptung der geistigen und moralischen Minderwertigkeit von Afrikanern und Afroamerikanern, die Anthropologen an einer Vielzahl von Schädelmessungen festzumachen glaubten: Umfang, Volumen, Form der Schädel von »Negern«, so die Argumentation, seien geringer im Vergleich zu den Schädelmaßen von Europäern, woraus sich auch eine geringere Intelligenz, eine größere Triebhaftigkeit und eine schwächere Moral ableiten ließen.51 Daher schien auch die Schlussfolgerung über die Ergebnisse der Irrenzählung nahe zu liegen: Da die Ursache für eine psychische Erkrankung oder eine geistige Behinderung häufig auch in einer moralischen oder physischen Schwäche vermutet wurde, war der Grund für die angeblich größere Prävalenz∗ psychischer Erkrankungen bei Afroamerikanern in den Nordstaaten für die Zeitgenossen deutlich: »Neger« konnten die »Last der Freiheit« nicht ertragen und wurden daher häufiger psychisch krank.52 Die Zahlen wurden von den Befürwortern der Sklaverei so interpretiert, dass es dem Wesen der »Neger« entspräche, in Unfreiheit zu leben, da die Belastungen, die mit der Freiheit verbunden seien, sie in den Wahnsinn treiben würden. Durch diesen Umweg konnte erklärt werden, dass Afroamerikaner überhaupt in großen Zahlen psychisch erkrankten. Denn eigentlich herrschte die Vorstellung vor, die »Naturvölker« und ihre Nachkommen – als die Afroamerikaner gesehen wurden – seien psychisch gesund. Hatten Sklavereibefürworter vorher selten mit dem Wohl der Sklaven argumentiert, präsentierten sie die Sklaverei nun auch als das bessere System für Afroamerikaner, so Albert Deutsch: »The astonishing implications of the 1840 census enabled the slave-owners to wrap themselves in the sanctimonious cloak of philanthropy. Slavery was now become a benevolent institution«53. Einem aufmerksamen Arzt aus Massachusetts und seiner Bettruhe aufgrund eines Beinbruchs ist es zu verdanken, dass zu Tage kam, dass die Zählungen gravierende Fehler aufwiesen.54 Edward Jarvis verglich die Bevölkerungszahlen in Städten und Landkreisen mit den Zahlen der in der Irrenzählung angegebenen schwarzen und weißen »Irren«. Dabei fand er heraus, dass die Zählungen große Mängel zuungunsten der freien Afroamerikaner aufwiesen. Für einige der Städte im Norden der USA waren beispielsweise afroamerikanische »Irre« angegeben, obwohl die Bevölke50 CHRISTIAN DELACAMPAGNE, Die Geschichte der Sklaverei, Düsseldorf, Zürich 2002, 231-237. 51 GOULD, Mensch, 25-67. ∗
Prävalenz bezeichnet die statistische Krankheitshäufigkeit in einer Bevölkerung.
52 DEUTSCH, U.S. Census. 53 Ebenda, 473. 54 Ebenda.
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rungsdaten ergaben, dass in diesen Städten keine Schwarzen lebten, für mehrere andere Städte waren mehr schwarze »Irre« angegeben, als es afroamerikanische Einwohner gab: »Thus the town of Scarsboro, Maine, which had a lily-white population, found itself charged with six insane Negroes. The town of Dresden, Maine, which boasted but three Negro inhabitants, found census-takers crediting it with double that number of insane blacks.«55 Die These der höheren Prävalenz psychischer Erkrankungen unter den freien Afroamerikanern und die Vorstellung eines für Afroamerikaner belastenden Einflusses der Freiheit blieb jedoch vor allem in den öffentlichen Debatten um Sklaverei präsent.56 Sie hielt sich auch noch sehr lange im wissenschaftlichen Diskurs in den USA, auch über das Ende der Sklaverei hinweg, nun als Debatte über die angeblich gesundheitsschädliche Wirkung der Sklavenbefreiung. Obwohl ein Senatskomitee 1845 zugab, dass ein Großteil der Kritik an den statistischen Daten der Irrenzählung von 1840 berechtigt war, kam es nicht zu einem öffentlichen Widerruf oder einer Korrektur des Zensus.57 Dies führte dazu, dass sich die Mär von den psychopathologischen Auswirkungen der Freiheit auf Afroamerikaner noch Jahrzehnte in der Debatte hielt und sogar nach Europa exportiert wurde.58
1.4 I RRENSTATISTIKEN UND DIE »P SYCHOPATHOLOGIE DER J UDEN « Mit den Irrenstatistiken der deutschsprachigen Länder geschah Mitte des 19. Jahrhunderts etwas ähnliches, auch wenn diese Zahlen keine vergleichbar große Debatte außerhalb der Wissenschaften auslösten. Die Irrenstatistiken derjenigen Staaten, die Mitte des Jahrhunderts begannen, regelmäßig Daten über die Patienten psychiatrischer Anstalten zu erheben, schienen einen größeren Anteil jüdischer gegenüber christlichen Patienten und Patientinnen in den psychiatrischen Anstalten nachzuweisen. Auch hier wurden Statistiken mit bereits existierenden Vorurteilen über das »Wesen« der Juden vermischt, die eine Assoziation des »Jüdischen« mit körperlichen und geistigen Krankheiten nahelegten. Nun schien die neue Disziplin der Statistik die angeblich besondere Pathologie der Juden zu untermauern. Statistiker und
55 Ebenda, 475. 56 Ebenda. 57 Ebenda, 478. 58 Ebenda. Die Debatte wurde in deutschsprachigen Zeitschriften frühzeitig, vor den ersten eigenständigen rassenpsychiatrischen Publikationen zu diesem Thema rezipiert: FRÄNCKEL,
Bericht über die neueste amerikanische Literatur der Psychiatrie. In: Archiv für
Psychiatrie und Nervenkrankheiten 2/1870, 179-214, 192f.
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Mediziner meinten, durch ihre Daten nicht nur belegen zu können, dass Juden eine geringere Sterberate als Nichtjuden hätten und bei ihnen Tuberkulose seltener, dafür Diabetes häufiger aufträte, die Statistiken schienen auch zu zeigen, dass Juden häufiger unter psychischen Erkrankungen litten.59 Von staatlicher Seite wurden erste Zählungen über die Anzahl von »Irren« ab den späten 1860er Jahren in Europa durchgeführt.60 In den entstehenden amtlichen Irrenstatistiken wurden die in den privaten und öffentlichen Anstalten befindlichen Patienten und Patientinnen gezählt. Die Irrenstatistiken waren also im Grunde genommen Anstaltsstatistiken. Die wissenschaftliche Gemeinschaft der Psychiater kannte diese Irrenstatistiken und rezipierte deren Ergebnisse. Die Zählungen in den psychiatrischen Anstalten waren ein beständiges Thema in der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie (AZP). Überdies hatten die Literaturberichte der AZP, in der aktuelle psychiatrische Literatur referiert und bibliographiert wurde, einen eigenen Teil für Statistik, in denen man die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst finden konnte. Um die Klassifikation der Krankheiten und deren Benennung in den Zählungen gab es heftige Diskussionen.61 Dagegen scheint es nicht kontrovers gewesen zu sein, die Konfessionszugehörigkeit zu erfassen,62 die schon seit der Gründung der statistischen Ämter in den deutschen Staaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Teil der amtlichen Erfassungen gewesen war, z. B. in den Volkszählungen. Auch die Irrenstatistiken stellten hierbei keine Ausnahme dar und nahmen die Konfession der in den Anstalten lebenden Patienten und Patientinnen auf.63 Anzuneh59 TSCHOETSCHEL, Diskussion. 60 ALEXANDER PINWINKLER, Amtliche Statistik, Bevölkerung und staatliche Politik in Westeuropa. In: Peter Collin und Thomas Horstmann (Hg.), Das Wissen des Staates. Geschichte, Theorie und Praxis, Baden-Baden 2004, 195-215. 61 VOLKER ROELCKE, Unterwegs zur Psychiatrie als Wissenschaft: Das Projekt einer »Irrenstatistik« und Emil Kraepelins Neuformulierung der psychiatrischen Klassifikation. In: Eric J. Engstrom und Volker Roelcke (Hg.), Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur Geschichte von psychiatrischen Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum, Basel 2003, 169-188, 172f.; HEINZ-PETER SCHMIEDEBACH, Psychiatrie und Psychologie im Widerstreit: die Auseinandersetzung in der Berliner medicinisch-psychologischen Gesellschaft (1867-1899), Husum 1986, 75-84. Siehe dazu ausführlicher Kapitel 4. 62 In Frankreich war die Erfassung der Konfession ab dem Zensus von 1881 dagegen verboten. JAN GOLDSTEIN, The Wandering Jew and Problems of Psychiatric Anti-Semitism in Fin-de-Siècle France. In: Journal of Contemporary History 20/1985, 521-552. 63 WILHELM SANDER, Über Zahlblättchen und ihre Benutzung bei statistischen Erhebungen der Irren. Im Auftrage der Berliner medicinisch-psychologischen Gesellschaft. In: Vierteljahrsschrift für gerichtliche und öffentliche Medizin N.F. 15/1871, 245-270. Das Glau-
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men ist, dass die Konfession zu den damals für notwendig erachteten grundlegenden Personeninformationen gezählt wurde, wie auch der Zivilstand, Alter und Beruf, die ebenfalls bei der Aufnahme der Kranken erhoben wurden. In den als Rechenschaftsberichte oder zum wissenschaftlichen Austausch geschriebenen Berichten der ärztlichen Leiter einzelner psychiatrischer Anstalten waren Erwähnungen der hohen Quote jüdischer Patienten und Patientinnen zu finden.64 Auch die amtlichen Statistiken, die ab den späten 1860er Jahren publiziert wurden, verzeichneten einen höheren Anteil jüdischer Glaubensangehöriger unter den Patienten und Patientinnen der psychiatrischen Anstalten, verglichen mit ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung.65 Dies wurde z. T. auch in den Referaten, die in der psychiatrischen Wissenschaftspresse über die Irrenstatistiken erschienen, vermerkt.66 Manche derjenigen, die sich mit den statistischen Daten beschäftigten, gingen einen Schritt weiter, als allein den höheren Anteil jüdischer Patienten und Patientinnen in den Psychiatrien festzustellen. So verglich beispielsweise Eduard Croner in seinem Artikel über die Resultate der Berliner Irrenzählung vom Jahre 1867 für das Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten die Konfessionsverteilung in den psychiatrischen Anstalten mit der Konfessionsverteilung in der Gesamtbevölkerung. Er kam dann zu dem Schluss, es »scheinen also die Juden fast die doppelte Anzahl von Geisteskranken zu stellen, als ihnen ihrem Verhältnisse zur Gesammtbevölkerung nach zukommt.«67 Interessant ist an dieser Stelle, dass der Autor die statistische Häufigkeitsfeststellung aus der Zählung in den Berliner Psychiatrien auf die Gruppe der Juden als Ganzes überträgt. In der Diskussion um psychische Krankheiten bei Juden wurde von dieser erhöhten Quote von Juden und Jüdinnen in den psychiatrischen Anstalten eine psycho-pathologische »Neigung« der Juden allgemein abgeleitet. Hier wurde also zunächst von der Häufung der Anstaltsaufnahmen jüdischer Patienten und Patientinnen auf eine erhöhte Anzahl psychisch Erkrankter in der Gesamtgruppe geschlossen. In einem weiteren Schluss folgte dann die Behauptung einer kollekbensbekenntnis ist gleich nach Name, Geburtsdaten, Alter, Wohnort und Familienstand in dem von Sander vorgestellten »Zählblättchen« auf Seite 269 aufgelistet. 64 WILHELM TIGGES, Statistik der westfälischen Provinzial-Irrenanstalt Marsberg aus dem Jahre 1867. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 24/1867, 117, 155, 233. 65 EDUARD CRONER, Die Resultate der Berliner Irrenzählung vom Jahre 1867. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 1868/1869, 580-582, 582. 66 HEINRICH ULLRICH, Referat zu: Allgemeine statistische Ergebnisse der bayerischen Irrenanstalten im Jahre 1883. Generalbericht der Sanitäts-Verwaltung im Königreich Bayern. XVII Bd. In: Literaturberichte der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie 64/1886, 129-131, 130. 67 CRONER, Resultate, 582.
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tiven Anfälligkeit dieser Gruppe: So schrieb Heinrich Ullrich in einem Referat über Die Aufgaben und Leistungen der Statistik, dass trotz der Mängel, die die statistischen Daten aufwiesen, gesichert sei: »dass die Israeliten mehr Disposition zu solchen Erkrankungen [Geisteskrankheiten, d. Verf.] haben, als die Christen.«68 Einige der Statistiken wiesen außerdem Tabellen auf, in denen die Kategorien »Konfession« und »Erblichkeit« korreliert waren und aus denen sich entnehmen ließ, wie viele Juden, Katholiken, »Evangelische« und manchmal auch »Dissidenten« an einem psychischen Leiden erkrankt waren, das als erblich eingestuft worden war.69 Die Tatsache, dass diese Aspekte statistisch ausgewertet wurden, zeigt, dass ein Zusammenhang von Konfession und Erblichkeit psychischer Erkrankungen bereits gedacht wurde. Aber: Was sagt die Häufigkeit der Hospitalisierung über die Häufigkeit der Krankheit bei einer Bevölkerungsgruppe überhaupt aus? Tatsächlich hat die Anzahl der in den Anstalten aufgenommenen psychiatrischen Patienten und Patientinnen nur geringen Aussagewert in Bezug auf das tatsächliche Vorkommen psychischer Erkrankungen in einer Gesamtgruppe – ein Befund, den bisweilen auch Zeitgenossen geteilt haben. Grundsätzlich ist zu konstatieren, dass Statistiken und die darin »registrierten Irren« wie Dirk Blasius schreibt, »mehr über die Verwaltung des Wahnsinns aussagen als über den Wahnsinn selbst«.70 Die Zählung von »Irren« legt eine Hinterfragung des Vorgangs nahe, wie die Aufnahme und Registrierung psychisch Kranker vonstatten ging: »Erst die Frage: Wie kam jemand überhaupt in die Anstalt? – führt ins Zentrum der Verantwortlichkeiten und hebt auf unterschiedliche Toleranzschwellen bei Behörden und einzelnen gesellschaftlichen Gruppen ab.«71 Im Süden der USA gab es im 19. Jahrhundert nur wenige psychiatrische Anstalten, die Afroamerikaner überhaupt aufnahmen. Darin ist wahrscheinlich ein wesentlicher Grund dafür zu sehen, dass die Aufnahmezahlen für Afroamerikaner gering ausfielen. Ferner schreibt Albert Deutsch, dass die Sklavenhalter nur diejenigen gehen ließen, die nicht mehr arbeitsfähig gewesen seien oder für gefährlich gehalten wurden.72 Letztere wurden dann häufig in Gefängnissen und Armenhäusern unter68 HEINRICH ULLRICH, Referat zu: Wille, L. Die Aufgaben und Leistungen der Statistik der Geisteskrankheiten (Nach einem im Nov. 1879 in der Basler statistisch-volkswirtschaftlichen Gesellschaft gehaltenen Vortrag.) In: Literaturberichte der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie 37/1880, 133f., 134. 69 KÖNIGLICHES STATISTISCHES BUREAU (Hg.): Die Irrenstatistiken im preußischen Staate in den Jahren 1886-1888. Preußische Statistik. 111/1891, 52-65, ebenso in späteren Auflagen. Ferner: TIGGES, Statistik, S. 232f. 70 DIRK BLASIUS, »Einfache Seelenstörung«. Geschichte der deutschen Psychiatrie 18001945, Frankfurt a. M. 1994. 71 Ebenda. 72 DEUTSCH, U.S. Census, 479f.
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gebracht, nicht in einer psychiatrischen Anstalt, in der der Besitzer für die Unterbringungskosten hätte aufkommen müssen.73 Für einen eventuell tatsächlich höheren Anteil jüdischer Patienten und Patientinnen in psychiatrischen Anstalten lassen sich ähnlich »profane« Gründe annehmen. Zeitgenössisch führte man z. B. die Tatsache, dass die Mehrzahl der Juden in Städten wohnten, auf die höherer Quote zurück, denn Städte galten als intoleranter im Umgang mit psychisch Erkrankten als die ländliche Gesellschaft.74 Abschließend beantworten ließe sich die Frage, wie solche Zahlen und Verhältnismäßigkeiten zustande kamen, nur durch eine detaillierte Studie über die Aufnahme von Minderheitengruppen in psychiatrischen Anstalten, die den Rahmen dieser Studie jedoch bei weitem gesprengt hätte. Interessanter als die Frage, ob oder warum Angehörige von Minderheiten »tatsächlich« seltener oder häufiger in den Psychiatrien zu finden gewesen waren, erscheint mir allerdings, was mit den erhobenen und zu Wissen gewordenen Zahlen geschah. Wie das Beispiel der deutschen und US-amerikanischen »Irrenstatistiken zeigt, lag für die Zeitgenossen der Schritt von der Häufigkeitsfeststellung zu einer Kollektivzuschreibung nahe. Auch wenn es bereits zuvor Kollektivzuschreibungen gab, bedurfte es einer weiteren Komponente, bevor um die Wende zum 20. Jahrhundert ein eigenständiges Forschungsfeld um Psychopathologie und »Rasse« entstand: Die Entwicklung der Biologie zu einer Wissenschaft mit Erklärungsanspruch sowohl über das Wesen der Menschen als auch über deren gesellschaftliche Strukturen.
73 Ebenda, 480. 74 BECKER, Nervosität bei den Juden; MORITZ BENEDIKT, Der geisteskranke Jude. In: Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift 3/1918, 266-270; MAX SICHEL, Über die Geistesstörungen bei den Juden. In: Neurologisches Zentralblatt 27/1908, 351-367. Zur Vorsicht mit dieser These von der Toleranz der Landbevölkerung rät Dörner, auch wenn er einen Zusammenhang zwischen Bevölkerungszunahme in den Städten und der Zunahme der Anstaltspopulation sieht. DÖRNER, KLAUS, Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie, 3. Auflage, Frankfurt am Main 1995, 63-73.
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1.5 V ERERBUNG , D EGENERATION , »R ASSE « IM F IN DE S IÈCLE Für die Situierung der Diskussionen über »Rassen« sind drei Entwicklungen im ausgehenden 19. Jahrhundert bedeutsam.75 Die Debatte prägten die Entstehung der darwinschen Evolutionstheorie und deren Rezeption im Sozialdarwinismus, ferner ein erneutes Aufleben der Degenerationstheorie, und dann in diesem Zusammenhang die Zunahme von Erklärungen, die Kollektive, den Volkskörper, die »Rasse« oder das Volk, in den Mittelpunkt stellten. Das 19. Jahrhundert war von sozialen Umwälzungen geprägt, die in der Folge von Industrialisierung, Urbanisierung und demographischem Wandel auftraten und die Lebens- und Arbeitsbedingungen vor allem der städtischen Bevölkerung veränderten. Die Biologie gewann für die Deutung der durch diese Veränderungen verursachten gesellschaftlichen Probleme zunehmend an Autorität: Nicht nur in wissenschaftlichen Debatten, auch in politischen, sozialen und kulturellen Diskursen wurden biologische Kategorien für die Erklärung von Struktur und Funktionsweisen der Gesellschaft herangezogen. Dieser Prozess ist auch als »Biologismus« oder als »Biologisierung des Sozialen« bezeichnet worden.76 Trotz eines Bedeutungszuwachses der Biologie in dieser Periode soll die Einwirkung der Biologie auf das Soziale nicht als eine einseitige Einflussnahme missverstanden werden, vielmehr handelte es sich um komplexe Wechselwirkungen der gesellschaftlichen, sozialen und wissenschaftlichen Sphären.77 In diesem wechselwirkenden System erfolgte auch die Konstruktion rassischer Differenz: Trotz eines nunmehr biologischen Konzepts, in dem gemeinsame Erbeigenschaften »Rasse« definieren sollten, behielten kulturelle Zuschreibungen in Differenzkonstruktionen ihre Bedeutung.
75 Massin datiert das Ende eines liberalen Konzeptes von »Rasse« auf die Zeit um 1900. Demnach wurde die bis dahin dominante, von Rudolf Virchow geprägte liberale Anthropologie, die auf dem Vererbungskonzept Lamarcks und einer universellen Gleichheit der menschlichen Rassen beruhte, von einem starreren biologischen Erklärungsmodell abgelöst. BENOIT MASSIN, From Virchow to Fischer: Physical Anthropology and »Modern Race Theories« in Wilhelmine Germany. In: George Stocking, Jr. (Hg.), Volksgeist as Method and Ethics. Essays on Boasian Anthropology and the German Anthropological Tradition, Madison, WI 1996, 79-154. Zu den Veränderungen des Rassenkonzeptes nach 1900 s. auch Kapitel 2.3.4. 76 GUNTER MANN, Biologismus im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1973. 77 HEINZ SCHOTT, Zur Biologisierung des Menschen. In: Rüdiger vom Bruch und Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts 2002, 98-108.
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Wesentlich für die Übernahme biologischer Erklärungen für soziale Gegebenheiten waren theoretische Entwicklungen in der Biologie selbst: Der Evolutionsgedanke und die Theorie vom Wandel der Arten, die sich 1859 mit der Publikation von On The Origin of Species Charles Darwins durchzusetzen begannen, lösten das Narrativ der Naturgeschichte als Erklärungsinstanz für die Entstehung des Menschen ab. Eine wichtige Grundlage für die Evolutionsidee und das Konzept der Vererbung, wie es in der zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts diskutiert wurde, hatte der französische Zoologe und Botaniker Jean-Baptiste Lamarck mit seinem zweibändigen Werk Philosophie Zoologique (1809) gelegt. Er hatte die Ursachen der Artenvielfalt durch die Vererbung erworbener Eigenschaften erklärt, denn er erachtete die geistigen und körperlichen Eigenschaften von Lebewesen als Resultat direkter Anpassungen an die Umwelt.78 Eigenschaften entwickelten sich oder verkümmerten seiner Ansicht nach, je nachdem, ob die Umwelt deren Gebrauch oder Nichtgebrauch förderte. In der nächsten Generation käme es dann zu der Vererbung dieser ausgebildeten Eigenschaften.79 Diese Auffassung, dass Arten sich wandelten und nicht etwa seit der Schöpfung unverändert geblieben seien, floss in Darwins Gedanken zum Evolutionsprozess ein. Er betrachtete Eigenschaften von Lebewesen als Resultat von Ausleseprozessen. Zufällige Variationen, die in einer bestimmten Umwelt wiederum rein zufällig einen Vorteil für das Überleben oder den Fortpflanzungserfolg bedeuten könnten, bedingten nach seiner Vorstellung die Artenvielfalt sowie die Unterschiedlichkeit der Lebewesen. Diesen »natürliche Auslese« genannten Kerngedanken der Darwinschen Evolutionstheorie gebrauchte Darwin selbst nur für die Erklärung der Entstehung der Arten. In der späteren Rezeption im sogenannten Sozialdarwinismus wurde er aber auf gesellschaftliche Probleme und Erscheinungen übertragen und rechtfertigte in diesem Zusammenhang die Idee einer prinzipiellen Ungleichheit der Menschen. Daraus folgerte man (sich den Termini Darwins bedienend) einen generellen sozialen »Kampf ums Dasein« (struggle for life), in dem allein die Besten überlebten (survival of the fittest).80
78 Lamarck, Jean-Baptiste Antoine Pierre de Monet de. In: Rolf Sauermost und Doris Freudig (Hg.), Lexikon der Biologie in fünfzehn Bänden, Bd 8. Kapkastanie bis Lynx, Heidelberg 2002, 180. 79 Lamarckismus. In: Rolf Sauermost und Doris Freudig (Hg.), Lexikon der Biologie in fünfzehn Bänden, Bd 8: Kapkastanie bis Lynx, Heidelberg 2002, 180. Demnach sei der Hals der Giraffe z. B. so lang, weil sie sich immer nach den Blättern am Baum habe strecken müssen. 80 WEINGART, KROLL und BAYERTZ, Rasse, Blut und Gene.
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Der rassistische Gehalt von Darwins eigenen Theorien wird unterschiedlich beurteilt,81 nicht umstritten ist jedoch, dass die Lehre der natürlichen Auslese und vom Überleben des Tüchtigsten »ohne Schwierigkeiten als Leitlinie für rassische Klassifizierungen« verwendet werden konnte.82 Im Sozialdarwinismus wurden Darwins Theorien so rezipiert, dass sie eine Überlegenheit der eigenen »Rasse« und die Minderwertigkeit der anderen zu legitimieren halfen. Die Idee, dass man »weniger bewährte Formen« ausmerzen sollte, konnte so interpretiert werden, dass dies auch für »minderwertige Rassen« galt. So stellte das »Überleben des Tüchtigsten« sowie die vorrangigen Rechte derer, die gesund und stark waren, die Prinzipien dar, nach denen eine Gesellschaft gestaltet werden sollte.83 Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung um die Rezeption der Theorien Darwins stand das Konzept der Vererbung, welches in den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts zum vorherrschenden Erklärungsmodell für die Entstehung menschlicher Eigenschaften und zu einem »dominanten und allgegenwärtigen Schlagwort in den Lebenswissenschaften« wurde.84 Wesentlich für den Sozialdarwinismus war darüber hinaus ein weiterer Begriff, der auch in der psychiatrischen Diskussion breit Gehör fand: derjenige der Degeneration oder Entartung. Das Prinzip der Degeneration basierte auf der Theorie des französischen Psychiaters Bénédict Augustin Morel. Er nahm an, dass sich durch Vererbung psychischer und physischer Krankheiten das kollektive Erbgut von Generation zu Generation verschlechtere, bis es infolge von Unfruchtbarkeit zum Untergang der betroffenen Bevölkerung käme.85 Gegenüber bisherigen Vorstellungen war neu, dass er eine progressive Zunahme in der Vererbung von Krankheiten zugrunde legte und Degeneration negativ bewertete. Hatten frühere Theoretiker Degeneration wertneutral als etwas begriffen, das auf eine natürliche Varianz beim Menschen hinwies, basierte Morels Definition nun auf der Krankhaftigkeit der Veränderung.86 Nervöse und psychopathologische Leiden markieren die Stufen der fortschreitenden erblichen Entartung in Morels Konzept: In der ersten Generation tritt nach Morel Nervosität oder Neuropathie auf, in der zweiten seien intellektuelle, physische und moralische Defizite zu beobachten. Eine Generation später träten dann psychische Stö81 ADRIAN J. DESMOND und JAMES R. MOORE, Darwin's sacred cause: how a hatred of slavery shaped Darwin's views on human evolution, Chicago, IL 2009; GEISS, Rassismus, 170; GEULEN, Geschichte des Rassismus, 66-68; MOSSE, Geschichte des Rassismus, 95. 82 MOSSE, Geschichte des Rassismus, 95. 83 Ebenda, 95f. 84 HANS-JÖRG RHEINBERGER und STAFFAN MÜLLER-WILLE, Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts, Frankfurt a. M. 2009, 101. 85 VOLKER ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter (1790-1914), Frankfurt a. M.; New York 1999. 86 Ebenda.
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rungen auf sowie eine vermehrte Suizidgefahr. Die vierte Generation schließlich leide unter »angeborenem Blödsinn«, Missbildungen, die zu Sterilität und damit von selbst zum Aussterben dieser »Degenerierten« führten.87 Als Begriff und Theorie der Degeneration am Ende des 19. Jahrhunderts innerhalb und außerhalb der Wissenschaften populär wurden, wurde das Konzept im Kontext sozialdarwinistischer Theorien neu rezipiert.88 Sozialdarwinistische Denker verwandten das Konzept der Degeneration nun im Zusammenhang mit der Entartung des Kollektivs, eines Volkes, Nation oder »Rasse«. Sie begründeten damit die naturwissenschaftlich-biologische Untermauerung von Rassentheorien und die Notwendigkeit eines Kampfes zwischen »minderwertigen« und »höherwertigen« Rassen.89 Die Debatte um den Zusammenhang von Psychopathologie und »Rasse« war nicht nur im deutschsprachigen Raum und den USA ein Thema, auch beispielsweise in Frankreich und Großbritannien beschäftigte man sich um die Jahrhundertwende damit.90 So hatte die französische Académie de Médecine im September 1891 in einer Reihe von Sitzungen die »Pathologie der Juden« kontrovers diskutiert.91 Die Diskutanten sprachen dabei auch über die angeblich höhere Prävalenz von Geisteskranken unter den Juden, und rekurrierten sowohl auf die deutschen Irrenstatistiken als auch auf die Schriften Jean-Martin Charcots.92 Charcot gehörte zu den wohl be-
87 BÉNÉDICT AUGUSTIN MOREL, Traité des Maladies Mentales, Paris 1860, 258-261, ROELCKE,
Krankheit und Kulturkritik, 80ff.
88 EBENDA, 150ff. Eine weitere Folge dieser Rezeption war eine Ausweitung des Begriffs von den Naturwissenschaften auf die Ästhetik und Kunst, wie dies beispielsweise Max Nordau unternahm. S. auch: MARIANNE SCHULLER, »Entartung«. Zur Geschichte eines Begriffs, der Geschichte gemacht hat. In: Heidrun Kaupen-Haas und Christian Saller (Hg.), Wissenschaftlicher Rassismus. Analysen einer Kontinuität in den Human- und Naturwissenschaften, Frankfurt a. M.; New York 1999, 122-136. 89 HELMUT BERDING, Geschichte des Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, 145; MOSSE, Geschichte des Rassismus, 105. 90 GOLDSTEIN, Wandering Jew; BERNARD HARRIS, Pro-Alienism, anti-alienism and the medical profession in late Victorian and Edwardian Britain. In: Waltraud Ernst und Bernard Harris (Hg.), Race, Science and Medicine, 1700-1960, London 1999, 189-217. 91 ANONYM, Sur la race juive. Observation à l'occasion du procès-verbal. Séance du 1er Septembre 1891. In: Bulletin de l'Académie de Médecine 3ème Série, Tome 26/1891, 238-243, ANONYM, Sur la race juive et sa pathologie. Discussion. Séance du 8 Septembre 1891. In: Bulletin de l'Académie de Médecine 3ème Série, Tome 26/1891, 287309; ANONYM, Sur la pathologie de la race juive. Discussion. Séance du 15ème Septembre. In: Bulletin de l'Académie de Médecine 3ème Série, Tome 26/1891, 338-339. 92 Erwähnt werden u. a. die Bayerische, Württembergische und die Preußische Zählung. ANONYM, Sur la race juive. Séance du 8 Septembre 1891, 292.
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kanntesten Ärzten seiner Zeit und leitete die Salpêtrière, das berühmte Pariser Krankenhaus für Geistes- und Nervenkranke. Charcot ist vor allem durch seine Arbeiten zur Hysterie berühmt geworden. Er sei der eigentliche Urheber der »Formel der jüdischen Nervosität« gewesen, hieß es in einer der Schriften im Diskurs um Psychopathologie und »Rasse« einige Jahrzehnte später.93 Tatsächlich hatte Charcot in seinen »Dienstagsvorlesungen« wiederholt über die »nervöse Belastung« der Juden gesprochen.94 Die »Dienstagsvorlesungen« aus den Jahren 1887-1889, in denen Charcot Patienten und Patientinnen der Salpêtrière zu Lehrzwecken vorstellte, galten als Standardwerk. Sie wurden nur wenige Jahre nach ihrer französischen Veröffentlichung auch ins Deutsche übersetzt. Sigmund Freud, der bei Charcot studiert hatte, besorgte die Übersetzung des ersten Bandes.95 In den beiden Bänden der Dienstagsvorlesungen wird das Thema der »Nervosität der Juden« in verschiedenen Patientenvorstellungen angesprochen. In ihnen betonte Charcot das Jüdischsein seiner Patienten und Patientinnen. So war das erste, was die Zuhörer bei Charcots Sitzung vom 7. Februar 1888 über die vorzustellende Patientin erfuhren, dass sie Jüdin sei. Außerdem verknüpfte er diese Auskunft sogleich mit der Information, dass Juden angeblich zu einer »nervösen Pathologie« neigten. Er leitete die Falldarstellung mit den Worten ein: »Vous savez que les sémites sont riches au point de vue de la pathologie nerveuse. Cette malade a été déjà a l’hôpital Rothschild, c’est par conséquence une juive.«96 In einer zweiten Vorlesung zehn Monate später, in der er wieder auf diese Patientin zu sprechen kommt, rief er seinen Zuhörern ins Gedächtnis: »Je vous ai fait remarquer, dans ce temps-là, que notre malade, alors âgée de vingt ans, était israélite, et je relevais, à ce propos, combien, dans la race, les accidents nerveux de tous genre […] se montrent incomparablement beaucoup plus fréquents qu’ailleurs.«97
93 ZYGMUNT BYCHOWSKI, Eine Diskussionsbemerkungen zu Prof. Dr. Toby Cohns Aufsatz »Nervenkrankheiten bei Juden«. In: OSE-Rundschau. Zeitschrift der Gesellschaft zum Gesundheitsschutz der Juden 2/1926, 1-3, 1. 94 JEAN-MARTIN CHARCOT, Leçons du mardi à la Salpêtrière. Notes de Cours de MM. Blin, Charcot [fils] et Henri Colin. 1887-1888, Paris 1887 (sic!), 7, 131, 193, 521. JEANMARTIN CHARCOT, Leçons du mardi à la Salpêtrière. Policlinique 1888-1889. Notes de Cours de MM. Blin, Charcot [fils] et Henri Colin. Paris, 1889, 11, 347. 95 JEAN-MARTIN CHARCOT, Poliklinische Vorträge. Band 1, Schuljahr 1887-1888. Übersetzt von Sigmund Freud, Leipzig; Wien 1894. 96 CHARCOT, Leçons du mardi I, 193. 97 CHARCOT, Leçons du mardi II, 11.
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Charcot schien es offenbar besonders wichtig zu betonen, dass die Patientin jüdisch sei. Grundsätzlich verknüpfte er die Markierung seiner Patienten und Patientinnen als »jüdisch« in den in den Dienstagsvorlesungen geschilderten Fällen mit der Behauptung einer überdurchschnittlichen Häufigkeit »nervöse[r] Leiden« bei ihnen. Darüber hinaus verband er die Fälle seiner jüdischen Patienten und Patientinnen mit einem weiteren Topos: Im Sachregister seiner »Dienstagsvorlesungen« erscheinen die Fälle unter dem Eintrag »Juifs, (Hérédité nerveuse chez les)«. Charcot verwies damit auf den Kontext, in dem er die Leiden seiner Patienten und Patientinnen sah: den einer erblichen Disposition. Die Beispiele jüdischer Patienten und Patientinnen erwähnte er konsequenterweise auch mehrfach im Kontext mit dem Nachweis einer Erblichkeit der besprochenen Krankheit. So führte er beispielsweise in der Sitzung vom 17. Januar 1888 zwei Fälle an, die belegen sollten, dass die Ursache von Gesichtslähmung eher in einer hereditären Belastung läge und nicht in der bis dahin als wesentlich beurteilten Einwirkung des Luftzuges.98 Charcot schrieb, dass er schon eine Reihe solcher Fälle von Gesichtslähmung (»paralyse faciale«) beobachtet habe. Als Nachweis einer erblichen Belastung führte er eine jüdische Familie an und präsentierte deren Stammbaum, denn, so Charcot an seine Zuhörer: »vous savez que c’est surtout chez les Israélites qu’on peux bien étudier la pathologie nerveuse.«99 Damit stellte er einen deutlichen Zusammenhang zwischen Vererbung, nervöser Pathologie und seinen jüdischen Patienten und Patientinnen her. In der Familie, so wird aus dem abgebildeten Stammbaum deutlich, litten nicht nur alle drei Schwestern unter Gesichtslähmung, die sich angeblich vererbte. Ferner zeigte der Stammbaum auch eine Heirat zwischen Nichte und Neffe. Diese Heirat unter nahen Verwandten konnte im Kontext der häufig geäußerten Behauptung einer angeblichen »Inzucht« der Juden als Ursache ihrer Psychopathologie gelesen werden und bildete damit ein zusätzliches Argument für ihre angebliche vererbungsbedingte Entartung.100
98 CHARCOT, Leçons du mardi I, 131. 99 Ebenda. 100 Ebenda. Ähnlich argmentiert er beim Fall vom 15. November 1887. C HARCOT, Leçons du mardi I, 7. Zur Argumentationsfigur der »Inzucht« im Kontext von Vererbung und dem Diskurs um »Rasse« vgl. LIPPHARDT, Biologie der Juden, 102-109. Ferner: LIPPHARDT,
Zwischen »Inzucht« und »Mischehe«.
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1.6 P SYCHIATRISCHE UND NEUROLOGISCHE L EHR - UND H ANDBÜCHER ÜBER P SYCHOPATHOLOGIE UND »R ASSE « Charcots Überzeugung, dass es eine psychopathologische vererbte Neigung bei Juden gäbe, wird aus seinen Ausführungen deutlich. Diese Behauptung, wie auch die einer höheren Anzahl nervöser und psychischer Erkrankungen bei Juden, griffen im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert auch zahlreiche deutschsprachige Psychiater und Neurologen in ihren Lehr- und Handbüchern auf. Diese Autoren bezogen sich nicht explizit auf die Irrenstatistiken und deren Zählungen zur Konfessionsverteilung in den psychiatrischen Anstalten, es ist aber anzunehmen, dass die Gewissheit über die angeblich größere Quote psychischer Erkrankungen unter Juden aus diesen Statistiken stammte. Auch in diesen Schriften bestand ein enger semantischer Zusammenhang zwischen der angeblichen psychopathologischen Neigung der Juden und den Konzepten der Vererbung und Degeneration, so dass die »Psychopathologie der Juden«101 als eine vererbte Kollektiveigenschaft dieser Gruppe erschien. Über die Neigung der Juden zu nervösen Leiden schreib beispielsweise Richard von Krafft-Ebing 1895 in seinem Buch Neurasthenie und neurasthenische Zustände, dass Juden von diesen Krankheiten »unverhältnismässig schwer […] heimgesucht« seien.102 Auch Hugo Ziemssen schrieb 1887, dass »[s]peciell die semitische Race […] in hohem Grade zu Neurasthenie disponiert« sei. Es gehe ja »überhaupt ein neurotischer Zug durch den ganzen Volksstamm«.103 Ähnlich äußeren sich in Hinblick auf die angeblich hohe Prävalenz psychischer Erkrankungen bei Juden Otto Binswanger, Heinrich Schüle, Paul Enke, Oswald Bumke, Eugen Bleuler und Emil Kraepelin.104 Einige Autoren waren allerdings vorsichtig, dies allein »rassi-
101 Der Begriff »Psychopathologie der Juden« ist eine von mir gewählte Bezeichnung für die damals diskutierten Behauptungen einer nervösen oder psychopathologischen Disposition und der höheren Prävalenz psychischer Leiden unter Juden. Zeitgenössisch wurde dies auch unter »Nervosität« oder nervöser Disposition zusammengefasst, z. B. bei B ECKER, Nervosität bei den Juden. 102 RICHARD VON KRAFFT-EBING, Über Nervosität und neurasthenische Zustände, Wien 1895, 54. 103 HUGO WILHELM VON ZIEMSSEN, Die Neurasthenie und ihre Behandlung, Leipzig 1887, 7. 104 OTTO BINSWANGER, Die Pathologie und Therapie der Neurasthenie, Jena 1896, 46; BINSWANGER, Die Hysterie, Wien 1907, 82; EUGEN BLEULER, Lehrbuch der Psychiatrie. 2. erweiterte Auflage, Berlin 1918, 147; OSWALD BUMKE, Über nervöse Entartung. Referat gehalten auf der 41. Versammlung der südwestdeutschen Irrenärzte am 2. und
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schen« Eigenschaften der Juden zuzuschreiben. Häufig vermutete man, wie bereits auch Charcot, z. B. die angebliche »Inzucht« der Juden als Ursache. So schrieb Theodor Kirchhoff, dass bei der »verhältnismässig grösseren Veranlagung« der Juden zu psychischen Erkrankungen »ein anderer Grund vorliegen [mag], als eine Rasseneigenthümlichkeit. Bekanntlich heirathen die Juden vielfach in engem Familienkreisen, die Kreuzung ist ungenügend und darum führt die Vererbung durch Inzucht zu einer rasch wachsenden Anlage«.105
Auch Emil Kraepelin vermutete, dass angebliche Inzucht die Ursache der höheren Prävalenz von psychischen Erkrankungen unter Juden sei, allerdings stand dies für ihn nicht im Widerspruch mit der Annahme von Rasseneigenschaften der Juden. Er schrieb in der sechsten Auflage seines Lehrbuchs 1899, dass wenigstens in Deutschland »die Juden in erheblich höherem Maasse zu geistigen und nervöser Erkrankungen veranlagt sind, als die Germanen. Vielleicht spielt dabei eine gewisse Rolle die Vorliebe der Juden für Verwandtenheiraten, von denen wir wissen, daß sie eine bestehende Krankheitsanlage in bedenklicher Weise fortzubilden im Stande sind«.106
Kraepelin sieht hier die vermeintliche Prävalenz psychischer Erkrankungen bei Juden als gegeben an. Die Differenz zwischen den »Germanen« und den »Juden« begründet Kraepelin mit dem Verweis auf die »Verwandtenheiraten« als einem Beleg für die psychopathologische Belastung der Juden. Juden sieht er als eine von »Germanen« differente Gruppe, deren Andersartigkeit durch eine ererbte Anlage zustande kommt: Juden werden hier zu einer biologischen Gruppe, zu einer »Rasse« mit gemeinsamen Erbeigenschaften.
26. September 1911. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 1911, 879-892, 86f; EMIL KRAEPELIN, Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. Vierte Auflage, Leipzig 1893, 56; EMIL KRAEPELIN, Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. Fünfte Auflage, Leipzig 1896, 80; EMIL KRAEPELIN, Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. Bd. I Allgemeine Psychiatrie. 6. Auflage,1899, 86; EMIL KRAEPELIN, Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. 7. Auflage, Leipzig 1903-1904, 107; EMIL KRAEPELIN, Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. 8. Auflage, Leipzig 1909-1915, 154. 105 THEODOR KIRCHHOFF, Lehrbuch der Psychiatrie für Studierende und Ärzte, Leipzig und Wien 1892, 34; HEINRICH SCHÜLE, Handbuch der Geisteskrankheiten, Leipzig 1878, 217. 106 KRAEPELIN, Lehrbuch, 6. Auflage, 89.
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Die Frage der Verbindung von »Rasse« und psychischer Erkrankung behandelten die Autoren psychiatrischer und neurologischer Lehr- und Handbücher in der Regel im gleichen Abschnitt und in engem inhaltlichen Zusammenhang mit dem Thema der angeblichen psychischen Belastung der Juden. Das Beispiel der Juden diente sogar häufig dazu, ihre Meinung zum Thema »Rasse« und Psychopathologie zu verdeutlichen. Anders als die Behauptung der psychopathologischen Belastung der Juden galt der Einfluss von »Rasse« auf die Entstehung psychischer Erkrankung jedoch noch als nicht geklärt. So bemerkte beispielsweise Emil Kraepelin unter der Abschnittsüberschrift »Race und Nationalität« in der vierten Auflage seines Lehrbuches von 1893: »Sehr wenig Sicheres lässt sich bei dem jetzigen Stande der Statistik und der grossen Schwierigkeit der Frage über den prädisponierenden Einfluss der Race und Nationalität sagen. Man kann eben nicht ermitteln, wie weit die herausstellenden statistischen Unterschiede nicht vielmehr durch Verschiedenheiten socialen Unterschiede bedingt sind; jedenfalls sind die häufigen Angaben über die Seltenheit des Irreseins bei Naturvölkern aus dem genannten und vielen anderen Gründen nur mit grosser Vorsicht aufzunehmen. Jene Fehlerquelle fällt nur dann aus, wo verschiedene Racen unter annähernd gleichen Lebensbedingungen zusammenwohnen. So scheint sich für die Juden in der That eine grössere Neigung zu psychischen und nervösen Erkrankungen zu ergeben«.107
Kraepelin argumentierte zwar vorsichtig, jedoch schloss er einen Zusammenhang von »Rasse« und Psychopathologie nicht aus. Die bisherigen Zahlen schienen ihm unzuverlässig, aber zukünftige Forschung, so schrieb er, könne durchaus zeigen, dass sich »uns die Verschiedenheit der Volksstämme einmal auch in ihrer verschiedenen Neigung zu bestimmten Krankheitsformen kundgeben wird.«108 Kommende Untersuchungen sollten sich durch eine präzisere Vergleichsmethodik von den bisherigen unterscheiden, da man nur dort, wo ähnliche Lebensbedingungen herrschten, den Einfluss von »Rasse« oder Nationalität überhaupt beurteilen könne. Wie das angeführte Zitat deutlich macht, sah er es als gegeben an, dass sich die Lebensbedingungen für Juden wie für Nichtjuden nicht unterscheiden. Wie sich aus seinen späteren Publikationen ergibt befand er zudem die Umstände, unter denen javanische Kolonialuntertanen in Niederländisch-Indien lebten, seien sowohl mit jenen von »Europäern« vergleichbar als auch von Afroamerikanern und weißen Amerikanern in den USA.109 Er war also der Auffassung, dass sich die Lebensbedingungen
107 KRAEPELIN, Lehrbuch, 4. Auflage, 56. 108 KRAEPELIN, Lehrbuch, 5. Auflage, 80. 109 EMIL KRAEPELIN, Psychiatrie. Lehrbuch 8. Auflage, 1. Band: Allgemeine Psychiatrie, 154. In der Anstalt Buitenzorg auf Java in der Kolonie Niederländisch-Indien führte
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dieser Bevölkerungsgruppen in Deutschland, den USA und auf Java nicht wesentlich von der als jeweilige Vergleichsgröße gedachten nichtjüdischen oder weißen Bevölkerung unterschieden. Das weist darauf hin, dass er soziale Unterschiede entweder nicht wahrnahm oder, was wahrscheinlicher ist, diese Unterschiede nicht für erheblich für die Entstehung psychischer Krankheiten hielt. Generell ging Kraepelin davon aus, dass »äußere und innere Ursachen in einem gewissen Ergänzungsverhältnisse zueinander stehen« 110, jedoch der Veranlagung die bedeutendste ätiologische Bedeutung zukäme. So schrieb er in seinem Lehrbuch: »Je weniger ein Mensch zum Irresein veranlagt ist, um so stärker muss der äussere Reiz sein, der ihn krank macht, und umgekehrt giebt es Psychosen, die sich schon unter dem Einfluss oder kleinen Reiz des täglichen Lebens entwickeln, weil Widerstandsfähigkeit des Individuums zu gering ist, um selbst diese ohne tiefere krankhafte Störung ertragen zu können«.111
Den Umständen, in denen die Menschen lebten, sprach er ebenfalls eine ätiologische Bedeutung zu und widmete der Darstellung der »Lebensverhältnisse« in seinem Lehrbuch einen eigenen Abschnitt. Aus diesem wird ersichtlich, dass Kraepelin unter dem gesundheitsgefährdenden Einfluss der Lebensverhältnisse jedoch vor allem die negativen Auswirkungen der Industrialisierung und Urbanisierung in der westlichen Gesellschaft verstand. Es ging hierbei nicht um Lebensverhältnisse, die beispielsweise durch soziale Ungleichheit hervorgerufen wurden, sondern um Kritik am »modernen Leben«, die in dieser Periode auch in kulturkritischen oder kulturpessimistischen Weltdeutungen und Erklärungsansätzen zu finden war.112 Ob die »fortschreitende Häufigkeit des Irreseins in moderner Zeit« eine »wirkliche oder nur scheinbare« Erscheinung sei und inwiefern die »Civilisation« dafür verantwortlich wäre, thematisierte auch Richard von Krafft-Ebing in seinem Lehrbuch der Psychiatrie auf klinischer Grundlage einige Jahre zuvor.113 Dem Abschnitt über den »prädisponierenden Einfluss der Civilisation« folgte darin der zum Einfluss der »Nationalität«. Hier notiert Krafft-Ebing, dass man bedenken müsse, dass es sich hierbei um ein kompliziertes Gebiet handele, denn »speciell der Begriff der Nationalität vereinigt in sich Race, Lebens- und Beschäftigungsweise, Staats-
Kraepelin vergleichende Untersuchungen zwischen »Europäern«, »Javanern« und »Chinesen« durch. Kraepelins Javareise wird in Kapitel 5 ausführlicher behandelt. 110 KRAEPELIN, Lehrbuch, 5. Auflage, 14. 111 Ebenda. 112 Die Debatte um »Zivilisation« wird ausführlicher in Kapitel 3.1.2. behandelt. 113 RICHARD VON KRAFFT-EBING, Lehrbuch der Psychiatrie auf klinischer Grundlage für praktische Ärzte und Studierende, Stuttgart 1879, 133.
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und Religionsform, Civilisations- und speziell Sittlichkeitsstufe«.114 Auch KrafftEbing kritisiert die Statistiken der verschiedenen Länder, die zu unterschiedlich seien, um wirklich beurteilen zu können, ob die »Nationalität« eine Rolle spiele. Die Ausführungen Krafft-Ebings wie auch die Kraepelins sind typisch für die Art und Weise, wie in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts Psychiater und Neurologen in ihren Lehrbüchern über psychopathologische Differenz schrieben. Zunächst waren sich die Zeitgenossen zwar einig, dass es so etwas wie eine »Psychopathologie der Juden« wohl gäbe. Gleichzeitig legten diejenigen, die das behaupteten, in der Regel nicht offen, woher ihr Wissen über diese Annahme stammte. Weiterhin waren die im thematischen Kontext von »Rasse« beschriebenen Gruppen dennoch mit sehr unterschiedlichen Begriffen belegt. Eine Vermischung der Begriffe »Rasse«, »Volk« und »Nation«, wie bei Kraepelin und Krafft-Ebing, war in diesen Texten sehr verbreitet. Diese unklare Verwendung der Begrifflichkeiten spiegelte den Gebrauch dieser Wörter in- wie außerhalb wissenschaftlicher Debatten, in denen diese Begriffe ebenfalls nicht voneinander unterschieden oder differenziert verwendet wurden.115 Weiterhin betonten viele Autoren die Lücken im bisherigen Wissen, die Untersuchungen galten auch ihnen als unausgereift, und ob es einen Zusammenhang von »Rasse« und Psychopathologie gäbe, sei ebenfalls noch nicht geklärt. Wenn auch einige – trotz Zweifeln an Zahlen und Methode – wie Kraepelin einen Zusammenhang von »Rasse« und Psychopathologie vermuteten oder sich ambivalent dazu äußerten,116 gab es auch gegenteilige Meinungen.117 Die Frage nach dem Einfluss von »Rasse« war zwar nicht entschieden, jedoch zeigen die häufigen Bezugnahmen in psychiatrischen und neurologischen Lehr- und Handbüchern, dass Psychiater und Neurologen davon ausgingen, dass das Thema 114 Ebenda, 137. 115 Auch wenn eine Abgrenzung dieser Begriffe durchaus bekannt war, wurden vor allem »Volk« und »Rasse« im Sprachgebrauch häufig synonym oder untereinander austauschbar verwendet. 116 Neben Kraepelin z. B. BINSWANGER, Die Pathologie und Therapie der Neurasthenie, 46; LUDWIG HIRT, Pathologie und Therapie der Nervenkrankheiten für Ärzte und Studierende, Wien; Leipzig 1890, 431; HERMANN OPPENHEIM, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 2. Auflage, Berlin 1898, 726; ERWIN STRANSKY, Lehrbuch der allgemeinen und speziellen Psychiatrie. Zur Einführung für Studierende und als Merkbuch für in der allgemeinen Praxis stehende Ärzte, Leipzig 1914; 126f. WILHELM WEYGANDT, Altas und Grundriss der Psychiatrie, München 1902, 35; ZIEMSSEN, Die Neurasthenie, 7. 117 Z. B. KIRCHHOFF, Lehrbuch, 34; MAX LEWANDOWSKY, Die Hysterie, Berlin 1914, 767. Für größtenteils gescheitert sieht Theodor Ziehen die Versuche, einen Zusammenhang von Nationalität oder »Rasse« und der Anzahl psychischer Erkrankungen herzustellen: THEODOR ZIEHEN, Psychiatrie für Ärzte und Studierende bearbeitet, Leipzig, 1902, 226.
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Aufmerksamkeit verdiene. Psychopathologische Differenzzuschreibungen, wie beispielsweise die angebliche größere Prävalenz psychischer Erkrankungen bei Juden und deren »Belastung«, wurden zum einen häufiger diskutiert, auch wenn das Wissen darüber noch als ungesichert galt. Zum anderen ist zu beobachten, dass die Debatte zunehmend in einem Kontext stattfand, der von der Existenz rassischer Kollektive ausging und zunehmend biologische Erklärungen für die wahrgenommenen Differenzen unter diesen Gruppen annahm. Die Unsicherheit, die in den meisten Äußerungen anklingt, ob »Rasse« und Psychopathologie eine Verbindung hätten, konnte, zusammen mit der Klage über die Mängel an den empirischen Wissensgrundlagen, als Aufforderung gelesen werden, sich diesem Forschungsthema anzunehmen. In der Folge wurde die Frage, ob die »Rasse« einen Einfluss auf die Entstehung psychischer Erkrankungen habe, Thema wissenschaftlicher Studien: Der Beginn der Forschung über Psychopathologie und »Rasse«.
2 Der Diskurs über Psychopathologie und »Rassen« – ein Überblick
2.1 O RTE
UND
K ONJUNKTUREN
DES
D ISKURSES
Das Thema Psychopathologie und »Rasse« fand nicht nur durch die Erwähnung in Irrenstatistiken und in Lehrbüchern Eingang in den psychiatrischen und medizinischen Diskurs, sondern wurde schrittweise auch Thema wissenschaftlicher Beiträge in biowissenschaftlichen Fachzeitschriften. Dabei markiert das Jahr 1894 den Anfang der Publikationstätigkeit von Einzelstudien über »Rasse« und Psychopathologie im deutschen Sprachraum.1 In den folgenden knapp vier Dekaden bis ins Jahr 1933 erschien ein kleiner, aber konstanter Strom von Publikationen – in der Mehrheit Zeitschriftenartikel, einige Dissertationen2 und Buchkapitel – über das Thema
1
ABRAHAM H. WITMER, Geisteskrankheit bei der farbigen Rasse in den Vereinigten Staaten. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 50/1894, 669-676.
2
LUDWIG FRIGYES, Über Geistes- und Nervenkrankheiten und Gebrechlichkeiten unter den Juden. Neurologisches Institut, Universität Frankfurt a. M., Frankfurt a. M. 1927, Betreuer Kurt Goldstein; MOSES JULIUS GUTMANN, Über den heutigen Stand der Rassenund Krankheitsfrage bei den Juden. Eine Feststellung und neue Wege zu ihrer Lösung. Mit einer ausgedehnten Bibliographie. [Zugl. Med. Diss, Universität München, Betreuer: v. Müller), München 1920; ERICH GUTTMANN, Beitrag zur Rassenpsychiatrie. Medizinische Fakultät, Universität Freiburg i. Br., Freiburg i. Br. 1909, Betreuer: Alfred Hoche; ERNST HENKYS, Jugendirresein eines Negers. Medizinische Fakultät, Georg-AugustUniversität zu Göttingen, gedr. Königsberg i. Pr. 1910, Betreuer: Weber und Cramer; RUDOLPH NEUSTADT, Geistesstörungen der Juden. (Bearbeitet nach dem Material der Leipziger Psychiatrischen Klinik in den Jahren 1909-1913). Med. Fakultät, Universität Leipzig, Leipzig 1923, Betreuer: Oswald Bumke; MAX NUSSBAUM, Über die Geisteskrankheiten bei den Juden. Medizinische Fakultät, Universität Würzburg, Würzburg 1923, Betreuer: Martin Reichardt. Die 1918 publizierte Dissertation von JOHANNES JA-
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Psychopathologie und rassische Differenz, insgesamt 203 Veröffentlichungen.3 Monographien, die sich speziell mit dem Thema befassten, existierten einige wenige.4 Anzahl und Verteilung der Publikationen zu Psychopathologie und »Rasse« zeigen keine deutlichen Diskurshöhepunkte oder -flauten. Die Anzahl der Publikationen pro Jahr war allerdings sehr unterschiedlich, in den meisten Jahren lag sie zwischen zwei und sieben, manchmal wurde jedoch keiner oder nur einer, in einzelnen Jahren 14 oder 16 Aufsätze veröffentlicht. Grob verallgemeinert, weil immer durch Einbrüche unterbrochen, könnte man einen Anstieg in den Jahren bis 1908, dem Jahr mit den meisten Publikationen, feststellen, dem dann ein Abflauen während des Weltkriegs und ein erneuter, langsamer Anstieg in der Weimarer Republik bis zu einer wieder verstärkten Publikationstätigkeit 1923-1930 folgte. Über Psychopathologie und »Rasse« diskutierten Psychiater und andere Ärzte vorwiegend in psychiatrischen, medizinischen und anderen biowissenschaftlichen Zeitschriften: So druckten psychiatrische Zeitschriften knapp 40 Prozent der BeiCOB,
Ein Beitrag zur Frage nach psychischen Rassenunterschieden. Medizinische Fakul-
tät, Universität Leipzig, Leipzig 1918 wurde zwar mit Paul Flechsig von einem psychiatrischen Ordinarius betreut, es handelt sich jedoch um eine Vergleichsstudie zwischen Schulleistungen jüdischer und nichtjüdischer Kinder und passt vom Thema und der Methodik nicht zu den restlichen rassenpsychiatrischen Studien. Ferner blieb das Thema »Rasse« und Psychopathologie auch nach 1933 für Dissertationen interessant: Während der Zeit des Nationalsozialismus erschienen zwei weitere Dissertationen über »Rasse« und Konstitutionstypen: ALBERT HARRASSER, Rasse und Körperkonstitution bei Schizophrenen. zugl.: Med. Diss. Rassenhygienisches Institut, Betreuer: Ernst Rüdin, Universität München. Sonderabdruck. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 165/1939, 119-128; RUDOLF HERRMANN, Untersuchungen auf Rasse- und Körperbautypen bei Epileptikern. Medizinische Fakultät, Institut für Rassenhygiene, Universität München, München 1936, Betreuer: Ludwig G. Tirala. (Harrasser promovierte bei Ernst Rüdin, der die kommissarische Leitung des Instituts für Rassenhygiene von 1936-1944 innehatte, war zu diesem Zeitpunkt aber bereits promovierter Anthropologe). Nach 1945 erschien eine Dissertation, die sich im Sprachgebrauch, der Fragestellung und den Ergebnissen wenig von den vorherigen unterschied: GEORG UHRMANN, Psychosen bei den Juden. Psychiatrische Klinik, Medizinische Fakultät, Ludwig-Maximilian-Universität München, München 1949, Betreuer: Prof. Stertz. 3
Siehe dazu auch den chronologischen Überblick im Anhang.
4
Ausnahmen bilden folgende Monographien: RAFAEL BECKER, Die jüdische Nervosität. Ihre Art, Entstehung und Bekämpfung, Zürich 1918; ALEXANDER PILCZ, Beitrag zur vergleichenden Rassenpsychiatrie, Leipzig, Wien 1906; FELIX PLAUT, Paralysestudien bei Negern und Indianern. Ein Beitrag zur vergleichenden Psychiatrie, Berlin 1926; RÉVÉSZ, Die rassenpsychiatrischen Erfahrungen; SICHEL, Geistesstörungen bei den Juden.
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träge, weitere 10 Prozent erschienen in Zeitschriften, die an ein allgemeines ärztliches Publikum gerichtet waren, wie die Münchner Medizinische Wochenschrift oder die Deutsche Medicinische Wochenschrift. Etwas weniger als ein Drittel erschien in biowissenschaftlichen Fachzeitschriften anderer Fachgebiete (Archiv für Rassenund Gesellschaftsbiologie, Zeitschrift für Konstitutionslehre u. a.) oder als Monographien. Etwa 12 Prozent der Publikationen erschienen in jüdischen Wissenschaftszeitschriften wie der Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden und der OSE-Rundschau, Zeitschrift der Gesellschaft zum Gesundheitsschutz der Juden, die von jüdischen Organisationen herausgegeben wurden.5 Beide Zeitschriften waren zwar nicht nur an ein fachwissenschaftliches Publikum gerichtet, hatten aber trotzdem einen hohen wissenschaftlichen Anspruch. Die dort erschienen Aufsätze, ausnahmslos dem Thema »Juden« gewidmet, waren daher von medizinischen Fachautoren verfasst. Die übergroße Mehrheit der Publikationen wurde in Zeitschriften deutscher Verlage veröffentlicht, nur ein kleiner Teil der Publikationen erschien außerhalb des Deutschen Reiches.6 Wenn man Ludwik Flecks Interpretation darüber folgt, wie wissenschaftliche Erkenntnisse stabilisiert werden, kann man die Forschung über Psychopathologie und »Rasse« über diese 40 Jahre hinweg als Forschungsfeld bezeichnen, das nie eine Konsolidierung erfuhr. Fleck unterscheidet zwischen »Handbuchwissenschaft« und »Zeitschriftenwissenschaft«. »Handbuchwissenschaft« repräsentiere das, was 5
Die Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden (ZDStJ) wurde vom Berliner Bureau für Statistik der Juden herausgegeben und publizierte Beiträge zur demographischen und sozialen Lage von Juden, wozu auch anthropologische und medizinische Beiträge gezählt wurden. Dazu ausführlicher: MITCHELL HART, Social Science and the Politics of Modern Jewish Identity, Stanford 2000, Kapitel 2, 56-73. Der Titel der OSE-Rundschau. Zeitschrift der Gesellschaft zum Gesundheitsschutz der Juden gibt deren Herkunft bereits preis: Die Gesellschaft für den Schutz der Gesundheit der Juden, gegründet 1912 in St. Petersburg von »einer Gruppe jüdischer Ärzte und führender Persönlichkeiten«, machte sich die wissenschaftliche Erforschung und die Verbesserung der gesundheitlichen Situation von Juden zur Aufgabe sowie die Aufklärung über die gesundheitliche Situation. Die Buchstaben OSE ergaben sich aus den Anfangsbuchstaben der russischen Bezeichnung der Organisation. ANONYM, Die Entstehung der Gesellschaft Ose und ihre ersten Maßnahmen. In: OSE-Rundschau. Zeitschrift der Gesellschaft für Gesundheitsschutz der Juden 1/1926, 2-7, 2.
6
Es handelt sich dabei um unter 5 Prozent der Publikationen, wovon die Mehrzahl in der Wiener klinischen Rundschau erschien. Zwei Publikationen erschienen in deutschsprachigen Zeitschriften außerhalb der deutschsprachigen Länder, nämlich im Tung-Chi – Medizinische Monatsschrift, die von den am Paulun-Hospital in Shanghai tätigen deutschen Dozenten herausgegeben wurde sowie in der St. Petersburger Medizinischen Wochenschrift, der Zeitschrift der »Deutschen Medicinischen Gesellschaft« in Russland.
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über ein wissenschaftliches Feld gewusst werden kann, das gesicherte und autorisierte Wissen, kanonisierte Erkenntnisse, die in den Handbüchern der Zunft niedergeschrieben wurden. »Zeitschriftenwissenschaft« dagegen ist vorläufiges, unsicheres Wissen, das noch auf die Bestätigung des Denkkollektivs, auf die Kollektivierung der Erkenntnisse, wartet.7 In der psychiatrischen Differenzforschung funktionierte dieser Weg der Stabilisierung nicht. Wie im vorangegangenen Kapitel dargelegt, hatten die Lehrbücher der Psychiatrie das Thema »Rasse« zwar schon frühzeitig aufgegriffen, betonten jedoch gleichzeitig, dass das bisherige Wissen dazu noch nicht gesichert sei. Dies zeigt, dass Ärzte eine Beschäftigung mit »Rasse« als bedeutsam wahrnahmen, auch wenn es dazu noch keine wissenschaftlich soliden Erkenntnisse gab. Psychiatrische Differenzforschung blieb damit immer vorläufig, eine »Zeitschriftenwissenschaft«, da nicht nur die übergroße Mehrheit der Publikationen über Psychopathologie und »Rasse« aus Zeitschriftenaufsätzen bestand, sondern das Wissen nie eine klare Kontur besaß, immer unscharf blieb und niemals eine wirkliche Stabilisierung als »Handbuchwissen« erfuhr. Eine Ausnahme davon bilden die Schriften über die Tropenneurasthenie, die in der Mehrheit in tropenmedizinischen Handbüchern erschienen und einen parallelen Diskursstrang darstellten. In ihnen wurde die Frage behandelt, inwiefern das Leben in den Tropen für die »weiße Rasse« nervlich so belastend sei, dass diese neurasthenisch erkrankte. Die Schriften zur Tropenneurasthenie bildeten jedoch noch in anderer Hinsicht eine Ausnahme: Die Autoren waren häufig Tropenärzte, die oft keine psychiatrische Spezialisierung hatten. Darüber hinaus beschäftigten sich die Schriften zur Tropenneurasthenie vordergründig mit dem Einfluss von Klima und den kolonialen Lebensumständen auf die Psyche von Europäern, inwiefern die »Rasse« ätiologisch bedeutsam war, machten die Autoren in diesen Schriften jedoch nicht zu einer expliziten Fragestellung. 8
2.2 M ETHODEN Wissenschaftler, die sich mit psychiatrischer Differenzforschung beschäftigten, wandten unterschiedliche Methoden an, um zu ihren Aussagen zu kommen: Sie berichteten über ihre Erfahrungen und Beobachtungen aus der Praxis, fassten die bereits existierende Literatur zusammen, erhoben eigene statistische Daten oder beschrieben einen Fall. Typisch war die Verwendung von zwei oder drei methodischen Ansätzen in einer Publikation.
7
FLECK, Entstehung, 146-164, bes. 156-159.
8
Dazu siehe auch Kapitel 3.1.4
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In den ersten Jahren des Diskurses waren Beiträge häufig, die narrativ gestaltet waren. Sie beruhten auf der Wiedergabe eigener Beobachtungen und praktischer Erfahrungen oder auf der Zusammenfassung der bestehenden Literatur.9 So wurde z. B. der Stand der Forschung üblicherweise in allen Publikationen wiedergegeben, einige Autoren basierten ihren Beitrag sogar ausschließlich auf einer Diskussion der Literatur. Ferner berichteten einige Autoren, wie der Berliner Nervenarzt Hermann Oppenheim, häufig aus ihrer Praxis. Solche Beobachtungen fanden z. T. in Form narrativer Verallgemeinerungen Eingang in die Publikationen. Über den gesamten Zeitraum des Diskurses hinweg blieben diese beiden narrativen Modelle, der »Literaturbericht« wie auch der »Erfahrungsbericht«, populär. Während der vier Dekaden des hier beschriebenen Diskursverlaufes hielten neben diesen narrativen Modellen empirisch-statistische Verfahren in die psychiatrische Differenzforschung Einzug. Das entscheidende Jahr war 1901, als Alexander Pilcz seine Studie über Geistesstörungen bei Juden publizierte. Pilcz’ Untersuchung war die erste im deutschsprachigen Raum, die auf eigens erhobenen Zahlen aus der Psychiatrischen Universitätsklinik in Wien beruhte, in der er auch als Psychiater tätig war.10 Ab diesem Zeitpunkt ist eine kontinuierlich ansteigende Zahl solcher Studien zu beobachten, die wie jene von Pilcz auf selbst erhobenen statistischen Daten beruhten. Ein kleiner Teil der Publikationen, knapp 8 Prozent, enthielt auch Fallbeschreibungen. In der Regel wurden sie mit anderen Methoden kombiniert, nur eine einzige Dissertation basierte neben einem Literaturbericht hauptsächlich auf einem Fall.11 Gewöhnlich berichteten die Autoren nur beispielhaft über einen oder mehrere Patienten, gelegentlich nahm dies den Umfang einer ganzen oder halben Seite, häufig nur einiger Zeilen ein. Die Falldarstellungen beschränkten sich meist auf einen stichworthaften Überblick über die Symptome. Sie erscheinen eher illustrativ als erkenntnisleitend in den Studien. Auffällig ist, dass die Forschung über Psychopathologie und »Rasse« methodisch nicht die Möglichkeiten ausschöpfte, die zeitgenössisch geboten wurden. Es sind so beispielsweise keine Versuche auszumachen, sich experimentell der rassenpsychiatrischen Frage zu nähern oder nach den damaligen Standards der klinischen
9
Bevor es empirische Studien im deutschsprachigen Raum gab, handelte es sich dabei zumeist um die Diskussion von Zahlen der »Irrenstatistiken«, Volkszählungen sowie aus internationaler Literatur. Auf diese Methode, in der Zahlen als Argument verwandt wurden, komme ich ausführlich in Kapitel 4 zurück.
10 ALEXANDER PILCZ, Geistesstörungen bei den Juden. In: Wiener Klinische Rundschau 15/1901, 888-890; 908-910. 11 GUTTMANN, Beitrag zur Rassenpsychiatrie.
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Forschung Experimente durchzuführen, die einen »härteren« biologischen Nachweis ermöglicht hätten, wie z. B. Experimente an Tieren.12 Die Autoren vermischten zumeist mehrere der methodischen Ansätze – Literatur- und Erfahrungsbericht, empirische Studie und Fallbeschreibung. Ich habe mich in meiner Analyse der psychiatrischen Differenzforschung auf die zugrundeliegenden wissenschaftlichen Praktiken konzentriert, die diese verschiedenen Ansätze nach sich zogen: die Quantifizierung, die Beobachtung von Symptomen sowie die Narration über den Zusammenhang von Psyche und »Rasse«.
2.3 F ORSCHUNG – WOZU ? I NHALTE PSYCHIATRISCHER D IFFERENZFORSCHUNG Was waren die Ziele und Inhalte der Forschung über Psychopathologie und »Rasse«? Nur eine Minderheit der Wissenschaftler, die an dem Diskurs um »Rasse« und Psyche teilnahmen, gab ein ausformuliertes und konkretes Erkenntnisinteresse, eine Fragestellung oder eine Forschungsmotivation dafür an, warum sie sich für das Themengebiet interessierte. Die pathologischen Unterschiede, die die zeitgenössischen Forscher bei den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen wahrnahmen, scheinen in dieser Zeit, in der wissenschaftliche Frage nach »Rasse« als evident galt, als Movens für eine wissenschaftliche Beschäftigung so offensichtlich gewesen zu sein, dass es einer weiteren Erläuterung des Erkenntnisinteresses nicht bedurfte. Teilweise lässt sich aber, wenn man sich diejenigen Aspekte, die die Forscher in ihrer Arbeit aufgriffen, ansieht, indirekt auf die Motivationen der Forscher schließen. 2.3.1
Häufigkeit, Immunität, Rassenkrankheiten
Der zentrale Fokus aller Studien war die Frage nach der Häufigkeit psychischer Erkrankung bei unterschiedlichen »Rassen«, ein Thema, dem auch mein viertes Kapitel zur Quantifizierung in der psychiatrischen Differenzforschung gewidmet ist. Anhand der Zahlen schlossen zeitgenössische Wissenschaftler, dass psychische Erkrankungen in manchen Bevölkerungsgruppen häufiger auftraten, in anderen jedoch selten waren. So wiesen wie schon erwähnt z. B. die Anstaltsstatistiken einen höheren Anteil jüdischer gegenüber christlicher Patienten auf, was die Frage provozierte,
12 Vorstellbar wäre beispielsweise ein Experiment, welches den Einfluss von Gehirnveränderungen bei unterschiedlichen Tierrassen untersucht. Die Idee, dass man Ergebnisse aus der Forschung über Tierrassen auf Menschen übertragen könne, gab es in anderen Bereichen der Rassenforschung. Vgl. z. B. POTTHAST, Rassenkreise.
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ob die Anfälligkeit für psychische Erkrankungen »typisch jüdisch« sei. Ebenfalls rätselhaft schien es den Zeitgenossen, warum in Berichten aus den Kolonien so gut wie nie vom Auftreten psychischer Störungen in der autochthonen Bevölkerung die Rede war, während im gleichen Zeitraum die Aufnahmen in den psychiatrischen Anstalten Westeuropas einen rasanten Anstieg erfuhren. Auch wenn ein unterschiedlicher Verteilungsgrad von Krankheiten schon früher bekannt war, machte die Einführung der Medizinalstatistik diese Verteilungsunterschiede für die Zeitgenossen nun noch offensichtlicher. Anhand der neuen Irrenstatistiken konnten Psychiater und andere Ärzte z. B. die Zahl der Aufnahmen in den preußischen Psychiatrien mit den bayerischen, die der französischen mit den englischen vergleichen. Da die amtlichen Medizinalstatistiken nun neue Erkenntnisse über die Gesundheitsverhältnisse in verschiedenen Staaten, Regionen und verschiedenen Bevölkerungsgruppen lieferten, entstanden damit auch neue Fragestellungen: Wer wo mit welcher Krankheit behaftet war, wurde Teil wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses.13 Zunächst vermuteten die Forscher, dass »Rassenkrankheiten« und »Rassenimmunitäten« die Erklärung für die unterschiedliche Krankheitsanfälligkeiten darstellten. 1897 hatte Georg Buschan, Anthropologe, Nervenarzt und Herausgeber des Zentralblatts für Anthropologie in seinem Aufsatz noch von einer »absoluten Immunität« der »schwarzen Rasse« gegen Malaria und Gelbfieber gesprochen, ähnliches vermutete er auch bezüglich psychischer Erkrankungen.14 Um 1910 war diese Ansicht wieder obsolet, wie ein Eintrag über »Immunität« der Real-Encyclopädie für die gesamte Heilkunde zeigt.15 Doch der Zusammenhang zwischen »Rasse« und Immunität blieb ein Diskussionsthema in anthropologischen und anderen medizinischen Debatten, und zwar auch außerhalb der Forschung über Psychopathologie und »Rasse«. Er war bedeutsam, da man in ihm einen direkten pathologischen
13 Zur Einführung der Medizinal- und Irrenstatistiken vergleiche auch Kapitel 4. 14 GEORG BUSCHAN, Einfluss der Rasse auf die Form und die Häufigkeit der Geistes- und Nervenkrankheiten. In: Allgemeine medicinische Centralzeitung 9/1897, 104f., 117f., 131, 141-143. 15 »Wenn unter genau denselben Bedingungen ein Individuum von einem Krankheitsprozeß befallen wird, ein anderes aber gesund bleibt, so nennen wir das erstere empfänglich und das andere immun. […] Früher nahm man an, daß die verschiedenen Menschenrassen sich einzelnen Infektionskrankheiten gegenüber verschieden verhielten. Diese Ansicht kann nicht mehr aufrecht erhalten werden; denn die verschiedene Resistenz ist nur eine scheinbare, durch Beobachtungsfehler vorgetäuschte.« CARL ANTON EWALD, Immunität. In: Albert Eulenberg (Hg.), Real-Encyclopädie der gesamten Heilkunde. Medizinischchirurgisches Handwörterbuch für praktische Ärzte. (1907-1914) Bd. 7: Hypnon - Kondylom, Berlin 1909, 235-242, 235.
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»Marker« für Rassenunterschiede gefunden zu haben glaubte.16 So diskutierten die zeitgenössischen Wissenschaftler weiterhin, ob die »schwarze Rasse« gegen Malaria, Gelbfieber und Syphilis immun sei, ob die Diabetes oder eben die Nervosität eine »jüdische Krankheit« sei und ob die geringen Tuberkulosezahlen bei Juden rassenimmunologische Gründe hätten.17 Im Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie beschäftigte das Thema der »Immunität« und das der spezifischen »Rassenkrankheiten« die Beiträge über den gesamten Diskurszeitraum hinweg. Der Begriff der Immunität blieb als Schlagwort im Diskurs erhalten, man verstand ihn jedoch nur selten im Sinne einer absoluten Resistenz gegen eine Erkrankung. Zumeist war mit dem Schlagwort »Immunität« nur eine geringere Anfälligkeit gemeint. Ähnlich verhielt es sich mit dem Thema »Rassenkrankheiten«. So waren etwa »Amok« und »Latah« zwei Phänomene, deren Rassenspezifik die Forscher diskutierten.18 Ende des 19. Jahrhunderts galten Amok und Latah als rassenspezifische Krankheiten der Malaien,19 jedoch hatte sich die Meinung einige Jahre später bereits gewandelt: »[Es] gibt kein Volk, in welchem eine Psychose oder Neurose vorkommt, welche ausschliesslich bei diesem und keinem anderen beobachtet werden könnte«, so der siebenbürgische Psychiater Béla Révész in seiner Überblicksstudie Die rassenpsychiatrischen Erfahrungen und ihre Lehren. Man habe zwar eine Weile gedacht, dass z. B. Latah und Amok für die Malaien spezifisch seien, das sei jedoch widerlegt, da sich ähnliche Phänomene auch bei anderen »Rassen« fänden. 20 16 LIPPHARDT, Biologie der Juden, 123ff., 146ff. 17 HÖDL, Gesunde Juden, 112-172,143-146; LIPPHARDT, Biologie der Juden, 146ff. 18 »Amok« wurde in der damaligen Literatur als spontaner Wutausbruch beschrieben, wogegen Lattah durch eine völlige Willenlosigkeit gekennzeichnet war, in der die betroffene Person zwanghaft alles Nachmachen musste, was ihr vorgemacht wurde. Vgl. z. B. P ILCZ Beitrag (1906), 36. Heute gilt Lattah als »kulturspezifisches Syndrom«. Interessanterweise gibt es inzwischen (wenn auch umstrittene) Interpretationen, die Latah als Reaktion auf die Kolonialzeit interpretieren, da sich vor der kolonialen Periode in Südostasien so gut wie keine Belege für die Existenz des Leidens finden lassen. Vgl. dazu R. L. WINZELER, Latah in Southeast Asia: the history and ethnography of a culture-bound syndrome, Cambridge 1995, 25-32. 19 PIETER C.J. VAN BRERO, Einiges über die Geisteskrankheiten der Bevölkerung des malaischen Archipels. Beiträge zur vergleichenden Rassenpsychopathologie. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 53/1897, 25-73, 55; CHRISTIAN RASCH, Über Amok. In: Neurologisches Zentralblatt 13/1894, 550-554, hier: 551. 20 RÉVÉSZ, Die rassenpsychiatrischen Erfahrungen, 185. Ähnlich argumentierten ABRAHAM
GANS, Ein Beitrag zur Rassenpsychiatrie. (Beobachtungen an geisteskranken Java-
nern). In: Münchner Medizinische Wochenschrift 69/1922, 1503-1506, 1504; EMIL KRAEPELIN, Vergleichende Psychiatrie. In: Centralblatt für Nervenheilkunde und Psych-
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Auch bei anderen Gruppen beschäftigten die rassenpsychiatrisch Forschenden sich mit der Existenz von Rassenkrankheiten, z. B. mit der Frage, ob es eine spezifische »jüdische Psychose« gäbe.21 Auch hier wurde deren Bestehen ebenfalls gleichermaßen diskutiert wie bestritten. Als ausgemacht galt eine höhere Anzahl psychischer Erkrankungen oder eine Prävalenz einzelner Krankheitsformen unter Juden, aber, so der Wiener Psychiater Alexander Pilcz, eine »spezifische Psychosis Judaica« gäbe es »[g]ewiß nicht in dem Sinne, daß eine symptomatologisch wohl umschriebene Krankheitsform damit gemeint ist, die nur bei Juden vorkomme.«22 Allerdings fassten Pilcz wie auch andere rassenpsychiatrische Forscher einige Krankheitsphänomene sehr wohl als »typisch jüdisch« auf. Die höhere Anzahl psychischer Erkrankungen, die Juden zugeschrieben wurde, tauchte im Diskurs häufig als »nervöse Disposition«, »nervöser Zug« oder auch als »Nervosität der Juden« auf. Spezifisch für jüdische Patienten und Patientinnen sei, so eine durchweg geäußerte Meinung, dass bei ihnen häufig Symptome nicht eindeutig zuzuordnen seien und unklare Diagnosen sehr viel zahlreicher vorkämen als bei anderen Erkrankten. Pilcz schloss daraus, dass man wohl in diesem Sinne »nicht von einer ›Judenpsychose‹, sondern von ›Judenpsychosen‹« sprechen könne, wenn man damit meine, »daß bei den Juden viel häufiger durchaus atypische Bilder vorkommen«.23 Die »Progressive Paralyse«, eine Erkrankung, die im Tertiärstadium der unbehandelten Syphilis auftritt, war eine weitere Diagnose, die häufig in einem Kontext von Rassenkrankheit und -immunität erwähnt wurde. Die Paralyse nahm innerhalb des rassenpsychiatrischen Diskurses insofern eine Sonderstellung ein, als dass sie am häufigsten als Einzelthema für Publikationen gewählt wurde. Andere Diagnosen bildeten nur vereinzelt das Thema eines gesamten Artikels,24 denn die meisten rassenpsychiatrischen Publikationen beschäftigen sich mit einer vergleichenden Betrachtung mehrerer Krankheiten. Zur Paralyse finden sich jedoch rassenpsychiatrische Aufsätze über den gesamten Diskurszeitraum hinweg. Ein Grund dafür war sicher, dass die Paralyse mit der Entdeckung eines serologischen Nachweises des Syphiliserregers 1906 die erste psychische Erkrankung war, bei der eine somatische iatrie 25/1904, 433-437, 436f.; PILCZ Beitrag (1906), 35f.; ERNST RITTERSHAUS, Beitrag zur Frage: Rasse und Psychose. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 84/1926, 360379, 374. 21 GUTMANN, Rassen- und Krankheitsfrage, 46; PILCZ Beitrag (1906), 31; SICHEL, Geistesstörungen bei den Juden, 52. 22 PILCZ Beitrag (1906), 31. 23 Ebenda. Zur Diagnose der atypischen Krankheitsbilder bei Juden vgl. auch Kapitel 5.3.2. 24 Z. B. PIETER C.J. VAN BRERO, Über das sog. Latah, eine in Niederländisch-Ostindien vorkommende Neurose. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 51/1895, 939-950; JOHANNES
LANGE, Über manisch-depressives Irresein bei den Juden. In: Münchner Medi-
zinische Wochenschrift 68/1921, 1357-1359.
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Ursache belegt werden konnte. Sie bildete insofern »das Modell der körperlich begründbaren Psychosen«, aus dem die Erwartung resultierte, man könne für alle Psychosen eine somatische Begründung entdecken.25 Der weitere Grund für eine vorrangige Behandlung dieser Erkrankung in Veröffentlichungen war sicher die hohe Anzahl der Patienten und Patientinnen in den europäischen Anstalten, die unter Paralyse litten: In den europäischen Psychiatrien soll ein Fünftel der Anstaltsbevölkerung betroffen gewesen sein.26 Die Seltenheit paralytisch Erkrankter außerhalb der westlichen Welt fiel besonders auf, wie aus den Publikationen ersichtlich ist und war möglicherweise eine zusätzliche Motivation, sich mit den Ursachen zu beschäftigen. Auch im Kontext der Paralyse wurde von rassischen Krankheiten und Immunitäten gesprochen. Der Tenor der Diskussion war ebenfalls, dass das seltene Auftreten nicht mit einer Immunität gleichzusetzen sei, trotzdem griffen die Autoren das Schlagwort »Immunität« häufig auf. Im Großen und Ganzen wird in den Texten betont, dass es keine Rassenimmunität der Paralyse gäbe. Eine Ausnahme davon bildete in gewissem Sinn ein Aufsatz, der 1913 erschien und behauptete, die Paralyse wäre eine Rassenkrankheit. Der Autor, Dr. Westhoff, war Arzt in der Irrenanstalt in Lübeck. Er schrieb, die Paralyse sei eine Rassenkrankheit der Germanen. Der Text wurde in den folgenden zwei Dekaden regelmäßig zitiert, wenn es um die psychischen Erkrankungen bei »Germanen« ging.27 Die Mehrheit der Stimmen bestritt die Existenz des Phänomens der Rassenkrankheit oder -immunität, jedoch wurde eine angenommene Spezifik in Prävalenz und Ausformung von Krankheiten häufig mit den Begriffen »Immunität« und »spezifische Rassenkrankheit« belegt, ohne die Unterschiede deutlich zu machen. Die Idee von Rassenimmunitäten und -krankheiten blieb als Diskurselement haften, auch wenn die Mehrheit der Diskursteilnehmer deren Existenz bestritt und es dort, 25 SCHOTT und TÖLLE, Geschichte der Psychiatrie, 81. 26 Ebenda. 27 Der Aufsatz wurde innerhalb rassenpsychiatrischer Publikationen, aber auch mehrfach in Fachjournalen referiert, zumeist in Form einer neutralen Zusammenfassung, ohne damit eine deutliche Zustimmung oder Ablehnung der darin formulierten Thesen zu verbinden. Vgl. dazu z. B. die Literaturberichte der AZP. Positiv, jedoch mit einem Verweis auf die Unwissenschaftlichkeit seiner Beweisführung, beurteilte der Referent der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie den Aufsatz: »Daß die geistvoll und interessante, aber kühne These des Verf's – es geht ihm da ähnlich wie seinem ingeniösen Gewährsmann Chamberlain – sich nicht ohne kleine Vergewaltigungen beweisen lässt, liegt auf der Hand.« Rezension des Artikels von Westhoff, Die progressive Paralyse – eine Rassekrankheit (1913). In: Neurologisches Zentralblatt 32/1913, 111-222. Sichel hält die These Westhoffs dagegen für eigenartig: MAX SICHEL, Die Paralyse der Juden in sexuologischer Beleuchtung. In: Zeitschrift für Sexualwissenschaft 6/1919/1920, 98-104, 1031.
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wo man über Rassenkrankheiten und -immunitäten sprach, eigentlich um rassenspezifische Prävalenzen oder Ausprägungen von Krankheiten ging. Die anhaltende Rede von Rassenimmunitäten und Rassenkrankheiten – und damit die diskursive Umformung gradueller Krankheitsunterschiede in absolute – stärkte die Idee einer pathologischen Differenz der »Rassen«. 2.3.2
Mehr Wissen über »Rassen«, mehr Wissen über Krankheiten
Mit der Annahme einer Pathologie der »Rassen« war eine zweite Fragestellung verbunden, die die Psychiater und andere Ärzte beschäftige, die zum Diskurs publizierten. Neben der Wahrnehmung unterschiedlicher Anfälligkeiten für psychische Krankheiten bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen war der Transfer von Fragestellungen aus der Anthropologie ein weiterer Antrieb von Forschung über Psychopathologie und »Rasse«. Wenn die Anthropologie den rassisch-morphologischen Differenzen zwischen den Menschen auf den Grund gehe, so die Argumentation, wäre es folgerichtig, auch nach rassisch-pathologischen bzw. -psychopathologischen Differenzen zu suchen. Die Rassenpathologie wurde als ein Teil oder als Erweiterung der Anthropologie verstanden, es ging also darum, mittels der Analyse pathologischer Merkmale mehr über die Eigenschaften von »Rassen« zu erfahren. Die Anthropologie gehe davon aus, dass es einen rassischen Einflussfaktor auf die Pathologie gebe, so Léon Cheinisse 1910 in der Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden: »Ist sie [die »Rasse«, d. Verf.] von Einfluß auf die Pathologie, und ist dieser Einfluß ausgeprägt genug, um den anatomischen und physiologischen Eigenthümlichkeiten der verschiedenen menschlichen Rassen eine Art pathologisches Charakteristikum hinzuzufügen? Die Anthropologen sind geneigt, diese Frage zu bejahen«.28
Als »Naturgeschichte des Menschen und der menschlichen Rassen« interessiere sich die Anthropologie nicht nur für das »normale Verhalten des Menschen, sondern auch für seine Pathologie«, schrieb Béla Révész 1907 im Archiv für Anthropologie.29 Er wolle mit seinem Aufsatz Rassen und Geisteskrankheiten einen Beitrag zur Rassenpathologie liefern, die als »Zukunftswissenschaft« zwar noch nicht etabliert sei, an der aber bereits weltweit gearbeitet und so der »Rohstoff zu dieser Dis-
28 LEON CHEINISSE, Die Rassenpathologie und der Alkoholismus bei den Juden. In: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden 6/1910, 1-8, 1. 29 RÉVÉSZ, Rassen und Geisteskrankheiten, 180.
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ziplin« zusammengetragen würde.30 Andere Wissenschaftler explizierten das Verhältnis von Rassenpathologie und -anthropologie: Die Auseinandersetzung mit der Pathologie solle Antworten auf anthropologische Fragestellungen liefern, Erkenntnis darüber erbringen, was für »Rassen« spezifisch sei.31 So befand beispielsweise Felix Theilhaber, dass die Pathologie oder Nosologie∗ sogar besser darüber entscheiden könne, als die Anthropologie, ob »die Juden in gewissem Sinne eine Einheit darstellen«.32 Auch Heinrich Singer pflichtete dieser Ansicht bei, dass man in den Studien über rassische Merkmale neben den gesunden Eigenschaften auch das »Krankhafte, das Pathologische« untersuchen solle, denn dieses sei dem »Wesen nach nicht absolut anders geartet wie das Gesunde, Normale, sondern stellt nur eine qualitative oder quantitative Abweichung von der sogenannten mittleren Linie dar.«33 Am deutlichsten äußerte jedoch Georg Buschan die Hoffnungen, die mit der Rassenpathologie verbunden waren. Er war der Meinung, dass die Rassenpathologie die Probleme, die die Anthropologie mit ihren bisherigen Methode der Schädelmessung hatte, zu überwinden helfen könne.34 Deutlich seltener als das Interesse an rassischen Spezifika wurde ein Wissenszuwachs auf dem Feld der psychischen Erkrankungen als Forschungsmotivation von den beteiligten Ärzten benannt. Béla Révész formulierte als »Aufgabe einer Rassenpsychiatrie« psychiatrische Fragen, die die Ätiologie und Pathologie, wie auch die Prophylaxe und Therapie thematisierten. In erster Linie ging es ihm um die Universalität bzw. Rassenspezifik der Geistes- und Nervenkrankheiten. Gab es universelle psychische Erkrankungen oder Erkrankungen, die nur einzelne Bevölkerungsgruppen betrafen? Reagierte das Nervensystem überall gleich? Waren die Ursachen überall dieselben? Wie war der Einfluss des Milieus, wie derjenige der »Rasse«? Wenn psychische Erkrankungen nicht überall gleich seien und dies an der Umgebung läge, so schlussfolgerte er, könnte man aus diesem Wissen therapeu-
30 Ebenda. 31 HARALD SIEBERT, Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 73/1917, 493-535, 494. ∗
Die Pathologie ist das Teilgebiet der Medizin, das sich mit den durch Krankheiten hervorgerufenen organisch-anatomischen Veränderungen des Organismus beschäftigt, die Nosologie ist ein Teilgebiet der Pathologie, sie beschreibt Erkrankungen und ordnet diese systematisch ein.
32 FELIX THEILHABER, Beiträge zur jüdischen Rassenfrage. In: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden, 6 (3)/1910, 40-44, 44. 33 HEINRICH SINGER, Allgemeine und specielle Krankheitslehre der Juden, Leipzig 1904, 1. 34 GEORG BUSCHAN, Zur Pathologie der Neger. In: Archivio per l'Antropologia e la Etnologia 31/1901, 357-375, 357.
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tischen Nutzen ziehen, wie z. B. die Verlagerung erkrankter Menschen in die Länder, »von denen bekannt ist, daß das Nervensystem weniger reagiert.«35 Auch Emil Kraepelin ging es in seinen Studien darum, die Ursachen psychischer Erkrankungen zu erforschen. In seinem Aufsatz über die Ergebnisse seiner Javareise schrieb Kraepelin, dass seine Studie »vermutlich nach zwei Richtungen hin psychiatrische Aufschlüsse liefern, einmal für die Erkenntnis der Ursachen des Irreseins, dann aber für die Würdigung des Einflusses, welcher der Persönlichkeit∗ des Erkrankten auf die besondere Gestaltung der Krankheitserscheinung zukommt«.36
Besonders interessierte ihn und auch seinen Schüler Ernst Rüdin37 in diesem Zusammenhang die Frage nach der Zivilisation: Man könne aus der vergleichenden Untersuchung von »hochzivilisierten und primitiven Völkern« den Einfluss der Zivilisation beispielsweise auf die Paralyse ableiten.38 2.3.3
»Objekte« der Forschung. Über Schwaben, Juden und »Naturvölker«
Die Untersuchungen über Psychopathologie und »Rasse« beschäftigten sich mit einer Vielzahl unterschiedlicher Menschengruppen. So behandelten die verschiedenen Texte die »schwarze«, »javanische«, »jüdische«, »gelbe«, »weiße«, »rote«, »magyarische«, »germanische«, »südslawische«, »nordische«, »dinarische«, »osti-
35 RÉVÉSZ, Rassen und Geisteskrankheiten, 21. ∗
Kraepelin verstand unter »Persönlichkeit« nicht die Individualität des Patienten, sondern eine spezifische Eigenart der Person, die sich aus den Lebensumständen und den Erbanlagen ergab. Er führt dies umfassend in einer späteren Schrift aus: EMIL KRAEPELIN, Die Erscheinungsformen des Irreseins. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 62/1920, 1-29, 4-11.
36 KRAEPELIN, Vergleichende Psychiatrie, 433. 37 Ernst Rüdin (1874 - 1952), Nervenarzt und Genealoge, war ab 1901 bei Kraepelin an der Psychiatrischen Klinik in Heidelberg beschäftigt, später begleitete er Kraepelin an die Psychiatrische Klinik in München. In München arbeitete er auch ab 1917 an Kraepelins Deutscher Forschungsanstalt für Psychiatrie, wurde erst Leiter der Abteilung für Genealogie, 1928 Nachfolger Kraepelins in der Leitung der Forschungsanstalt. Rüdin war überzeugter Rassenhygieniker und wurde in der Zeit des Nationalsozialismus einer der einflussreichsten Psychiater und Wissenschaftsorganisatoren. Vgl. WEBER, Rüdin. 38 ERNST RÜDIN, Über die Paralysefrage in Algier. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 67/1910, 679-711, 706.
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sche« und »alpine« »Rasse«, »Kulturvölker« »Naturvölker«, »Neger«, »Schwaben«, »Araber«, »Baschkiren«, »Javaner«, »Deutsche«, »Nordslawen«, »Ungarn«, »Europäer«, »Esten«, »Letten«, »Russen«, »Litauer«, »Serben«, »Perser«, »Armenier«, »Kirgisen«, »Tartaren«, »Griechen«, »Israeliten«, »Juden«, »Schweden«, »Kabylen«, »kultivierte« und »unkultivierte Völker«, »Balkanvölker«, »Eingeborene«, »Farbige«, »Schwarze« »Orientalen« und »Indianer«. Diese Bezeichnungen zeigen eine Vielzahl unterschiedlicher Kategorisierungen auf. Neben Bezeichnungen, die auf eine rassentheoretische (»dinarische Rasse«) oder phänotypische (»Schwarze«) Einteilung verweisen, kommen auch Klassifizierungen vor, die auf den ersten Blick nicht rassenbiologisch begründet sind sondern Einteilungen entlang nationaler (»Schweden«, »Russen«), regionaler (»Schwaben«, »Baschkiren«) oder religiöser (»Juden«) Zugehörigkeit nahelegen. Die lange Liste der Begrifflichkeiten, mit der die untersuchten Bevölkerungsgruppen bezeichnet werden, zeigt, dass die »Forschungsobjekte« recht unterschiedlich waren. In zeitgenössischen Überblicksaufsätzen oder Bibliographien war eine solche umfassende Einschließung unterschiedlicher Gruppen unter dem Überbegriff »Rassen« oder »Rassenpsychiatrie« jedoch nicht ungewöhnlich.39 Quantitativ machten Publikationen über Juden mit etwas mehr als einem Drittel aller rassenpsychiatrischen Veröffentlichungen den größten Anteil aus, damit waren sie die mit deutlichem Abstand größte erwähnte Einzelgruppe. Etwa ein Fünftel der Publikationen beschäftigte sich mit der Bevölkerung Südostasiens und Afrikas sowie der afrikanisch-stämmigen Bevölkerung Nord- und Südamerikas, also mit denjenigen, die im Diskurs als »schwarz«, »farbig« »Neger« oder »Naturvölker« bezeichnet wurden. Am dritthäufigsten mit 12 Prozent gehen die Publikationen auf die »weiße Rasse« ein: es handelt sich um Schriften über den Gesundheitszustand der Kolonisatoren in den Tropen, Aufsätze, in denen »nordische«, »dinarische« und »ostische Rassen« betrachtet werden oder die Korrelation von Konstitution und »Rasse«, z. B. bei schwedischen Patienten. Einen kleinen Anteil machten die Publikationen über die Bevölkerung des Balkans und Osteuropas aus – knapp 5 Prozent. Vereinzelt erschienen darüber hinaus Studien über die Bevölkerung des Orients, zentralasiatischer Staaten und über andere Gruppen, wie die Ureinwohner Nordamerikas. In den meisten Fällen stand dabei eine Bevölkerungsgruppe im Mittelpunkt der Untersuchung. In nur 10 Prozent der Publikationen wurden mehrere »Rassen« verglichen. Implizit oder explizit war jedoch auch in den Texten, die sich allein mit Ju-
39 BUSCHAN, Einfluss der Rasse; HANS LUXENBURGER, Erblichkeit, Keimschädigung, Konstitution, Rasse 1929. In: Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie 2/1930, 373407, 400f; RÉVÉSZ, Die rassenpsychiatrischen Erfahrungen. Allerdings äußert Révész auch seinen Unmut über die Bezeichnung »Rasse«. Dazu siehe den Abschnitt weiter unten.
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den oder einer außereuropäischen Bevölkerungsgruppe beschäftigten, der Vergleich mit der nichtjüdischen, europäischen Bevölkerung gegenwärtig. In der Regel wurde in den Studien nicht erklärt, welche Einteilungskriterien den Zuschreibungen zugrunde lagen. Die Forscher problematisierten selten, wie sie die Objekte ihrer Forschung in verschiedene Kollektive einteilten. Zum Teil wurde diese Einteilung »nach Augenschein« zwar auch von den Zeitgenossen kritisiert. Jedoch wandten erst diejenigen Diskursakteure, die sich ab den 1920er Jahren mit dem Vergleich von Konstitutions- und Rassentypen und damit mit der »weißen Rasse« beschäftigten, systematisch anthropometrische Verfahren an und definierten, was sie unter »Rasse« verstanden. Wen die Ärzte aufgrund welcher Kriterien als »Neger«, »Slawen«, »Juden«, »Baschkire« oder »Javaner« einordneten, wurde in den restlichen Schriften nicht genau benannt. Es gab es jedoch ungenannte Kriterien, nach denen die Gruppenzuweisungen erfolgten.40 Bei den »Juden« in den Studien handelte es sich zumeist um diejenigen, die eine jüdische Konfessionszugehörigkeit besaßen. Dass dies bisweilen jedoch auch kein »hartes« Einteilungskriterium darstellte, machte Pilcz deutlich, der in seiner Studie nicht nur diejenigen Psychiatriepatientinnen und Psychiatriepatienten mit jüdischer Konfessionszugehörigkeit zur Gruppe der Juden rechnete, sondern auch diejenigen, von denen er wusste, dass sie getauft waren.41 Auch bei den anderen Autoren zeigt die Praxis der Einteilung deren Einteilungskriterien, auch wenn sie diese nicht explizierten. So teilten sie beispielsweise nach phänotypischen oder kulturell-sprachlichen Kriterien, wie z. B. nach »Farbigen« und »Negern«, der »magyarischen« oder »germanischen Rasse« oder nach »Javanern«, »Chinesen« »Europäern« ein.42 Die Autoren im Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie untersuchten eine große Bandbreite von Bevölkerungsgruppen, die sie in der Regel nicht nach eindeutigen Kriterien zu einzelnen »Rassen« zuordneten. Trotzdem ist der Begriff der »Rasse« in diesen Schriften präsent. Im folgenden muss daher die Begriffsverwendung von »Rasse« genauer beleuchtet werden.
40 Siehe zu diesem Punkt ausführlicher Kapitel 4.2.3. 41 PILCZ, Geistesstörungen (1901), 888. 42 PIETER C.J. VAN BRERO, Dementia Paralytica bei den Eingeborenen von Java und Madura. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 69/1912, 571-578; LADISLAUS EPSTEIN, Beiträge zur Rassenpsychiatrie. Vortrag gehalten auf dem XVI internationalen medizinischen Kongresse zu Budapest 1906 (Autoreferat). In: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 7/1910, 118-119; PLAUT, Paralysestudien; FRANCISCO FRANCO DA ROCHA,
Bemerkungen über das Vorkommen des Irreseins bei Negern. In: Allgemeine Zeit-
schrift für Psychiatrie 54/1898, 133-150.
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2.3.4
Konzepte über »Rasse«
Wie gebrauchten die Ärzte im Diskurs den Begriff »Rasse«? Buschan war mit seinem Aufsatz über den Einfluss der Rasse auf die Häufigkeit und die Formen der Geistes- und Nervenkrankheiten von 1897 der erste deutschsprachige Autor im Diskurs,43 der den Rassebegriff im Titel seiner Publikation nannte. In seinem Aufsatz stellte er nicht nur einen Überblick über die bisherige Forschung dar, sondern beschrieb auch eine Bestimmung des Forschungsfeldes. So schrieb Buschan: »Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß bestimmte Gruppen von Tieren und Menschen, die wir unter die Bezeichnung Species, Typus oder Rasse zusammenfassen, sowohl in physiologischer als auch in pathologischer Hinsicht sich im Vergleich zu anderen ähnlichen Gruppen oder Rassen ganz specifisch, eigenartig verhalten.«44
Nach einer Auflistung einer Reihe von Unterschieden, die er zum Teil beim Mensch und zum Teil bei Tieren in der Pathologie sah – unter anderem die »Immunität« der Katze gegen Milzbrand und die Disposition der »weißen Rasse« zu Malaria – kam er zu folgendem Schluss: »Aufgrund dieser und noch vieler anderer Argumente […] läßt sich mit Fug und Recht von einer Rassenpathologie sprechen. Es ist dies ein neues Gebiet der Medizin, das bisher noch ziemlich brach darnieder gelegen hat […]. Indessen lassen sich schon jetzt auf grund des immerhin zahlreich zu nennenden […] litteratischen Materials gewisse Gesichtspunkte aufstellen, die darthun, daß pathologische Momente die einzelnen Rassen in recht verschiedener Weise beeinflussen, und zwar nicht bloß das somatische, sondern auch das psychische Befinden derselben. Ueber den letzten Punkt will ich mir erlauben, im folgenden einige Angaben zu machen: nämlich den Einfluss der Rasse auf die Häufigkeit und die Form der Nerven- und Geisteskrankheiten«.45
Buschan fasste damit die Kernpunkte des Diskurses über die Verbindung von »Rasse« und Psychopathologie zusammen: Es ging um die Frage, inwiefern biologisch unterschiedliche Menschengruppen nicht nur physisch verschieden waren, sondern auch pathologische Differenzen aufwiesen, und zwar hinsichtlich ihrer psychischen und nervlichen Leiden. Ferner interessierte die Häufigkeit und die Form dieser Erkrankungen. Buschan ging von biologisch und (psycho-)pathologisch differenzier-
43 Vorher waren bereits Aufsätze amerikanischer, niederländischer und französischer Autoren in deutschsprachigen Zeitschriften erschienen. 44 BUSCHAN, Einfluss der Rasse, hier: 104. 45 Ebenda.
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ten Menschengruppen aus und erwähnte im weiteren Verlauf seines Artikels, dass er sich auf die Rassentheoretiker Paul Topinard und Jean Louis Quatrefages als Grundlage für seine nun folgende Rassenklassifikation der Psychopathologien stütze.46 Einen anderen Versuch, das rassenpsychiatrische Forschungsgebiet zu umreißen, unternahm 1911 Béla Révész, Oberarzt und späterer Chefarzt der psychiatrischen Anstalt im siebenbürgischen Hermannstadt im damaligen Ungarn. In der Einleitung seiner fast 200-seitigen Abhandlung Die rassenpsychiatrischen Erfahrungen und ihre Lehren, die in den Beiheften zum Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene erschien, schrieb er, unter dem Begriff »Rassenpsychiatrie« sei »a priori […] die Lehre von den einzelnen Rassen spezifischen Geisteskrankheiten – und im weitesten Sinne auch Nervenkrankheiten – zu verstehen«. Die spezifischen Erkrankungen bei einzelnen »Rassen« genau zu bestimmen, sei jedoch schwierig, denn »die Tatsachen der Anthropologie machen diese Definition illusorisch.« Denn: »es gibt keine reinen Rassen, und es hat deren vielleicht nie gegeben, denn schon in prähistorischen Zeiten mußten sich die Menschen vermischt haben.«47 Révész gibt ferner zu bedenken, dass es sinnvoller wäre, eine Untersuchung nach geographischer Zuordnung vorzunehmen, »denn erstens ist ein Land ein gut umschriebener geographischer Bezirk, oft mit ganz homogenen, klimatischen und sozialen Verhältnissen, während ›Rasse‹ ein ganz vager Begriff ist«. Ferner wäre z. B. ein Germane, nicht »nur Angehöriger seiner Gruppe, sondern auch Bewohner seines Landes, z. B. Zentralasiens, […] welches mit all seinen klimatischen und sozialen Verhältnissen den Germanen beeinflussen wird.« Die räumliche »Freizügigkeit und die Mischung der meisten Völker« sei zudem oft so groß, dass eine »einheitliche Beurteilung« einer Bevölkerungsgruppe nicht möglich sei. Ferner sei auch die Psychiatrie noch »zu weit entfernt davon, als eine abgeschlossenen Disziplin betrachtet werden zu können.«48 Schließlich stellte er die Frage, ob man unter diesen Umständen »überhaupt von Rassenpsychiatrie reden« dürfe: »Meiner Ansicht nach darf man das tun, aber unter […] Vorbehalt. […] [W]enn man von einer Rasse spricht, möge man nie an etwas Einheitliches, Unveränderliches, gut Umschrie46 Paul Topinard (1830-1911), französischer Anthropologe und Mediziner, und Jean Louis Armand de Quatrefages de Bréau (1810-1892), ebenfalls französischer Anthropologe sowie Naturforscher, unternahmen beide eine Klassifikation der menschlichen »Rassen« in die Großgruppen »schwarz«, »weiß« und »gelb«. Quatrefage de Bréau, Jean Louis Armand de. Archives biographiques Françaises (ABF). World biographical information system - WBIS Online, München 2008; Topinard, Paul. Archives biographiques Françaises (ABF). World biographical information system - WBIS Online, München 2008. 47 RÉVÉSZ, Die rassenpsychiatrischen Erfahrungen, 19. 48 Ebenda, 19f.
80 | P SYCHOPATHOLOGIE UND »R ASSE « benes denken, sondern an eine so sehr als möglich biologisch homogene Menschengruppe, deren Glieder, unter denselben physischen und sozialen Verhältnissen lebend, einer und derselben Noxe gegenüber auf gleiche Weise reagieren werden. Deshalb wäre es geratener, statt des Wortes ›Rasse‹, welches nur falsche Vorstellungen von Einheitlichkeit und Unveränderlichkeit erweckt, ein anderes, etwa ›ethnische Gruppe‹ zu gebrauchen. Doch hat auch hier der Brauch ein nicht richtig angewendetes Wort geheiligt, gerade wie man noch bewußt unrichtig sagt, die Sonne ›gehe auf‹. Und so ist man gezwungen, das Wort ›Rasse‹ beizubehalten«.49
Während Buschan Ende des 19. Jahrhunderts eine biologische Definition von »Rasse« verfocht, auf eine anthropologische Klassifikation verwies und sowohl physiologische als auch pathologische Differenzen annahm, die das neue Forschungsgebiet untersuchen sollte, listet Révész eine Reihe von Vorbehalten gegenüber dem Begriff »Rasse« und dem Forschungsfeld auf, mit dem er sich beschäftigte.50 Er hielt den Begriff der »Rasse« für ungeeignet, weil dieser die Vorstellung einer Fixiertheit und Unveränderlichkeit transportiere, die aber angesichts vergangener »Rassenmischungen« nicht gegeben sei. Ferner schien er »soziale und klimatische« Verhältnisse, also äußere Bedingungen, für die beobachteten Unterschiede in der Psychopathologie der verschiedenen Bevölkerungsgruppen für ebenso wichtig wie biologische Determinierungen zu halten. Trotzdem konnte er sich aber gleichzeitig nicht komplett von einer biologischen Bestimmung dieser Gruppen trennen: Er schlug vor, man solle nur dann den Begriff der »Rasse« verwenden, wenn man darunter eine »so sehr als möglich biologisch homogene Menschengruppe« verstehe, die auf die gleichen Einflüsse gleich reagiere. Damit propagierte er zwar ein flexibles Konzept einer biologischen Gruppe, die auch sozialen und klimatischen Veränderungen unterworfen sei. Er lehnte aber nicht eine grundsätzlich biologische Bestimmung, sondern die vermeintliche biologische Homogenität der Gruppen ab. Den Begriff der »ethnischen Gruppe«, den er als Alternative vorschlug, verwarf er sogleich mit dem Hinweis, dass »Rasse« nun mal üblicher sei. Tatsächlich findet sich das Wort »Ethnie« nicht in zeitgenössischen einschlägigen Lexika.51 Im Dis-
49 Ebenda, 20. 50 Er hatte bereits einige Jahre früher dazu einen Artikel geschrieben RÉVÉSZ, Rassen und Geisteskrankheiten. 51 Der Begriff Ethnie findet sich nicht im Brockhaus' Konversations-Lexikon. In 16 Bänden. 14. Jubiläumsausgabe, Berlin 1893-1897 und in Meyers Großes KonversationsLexikon, 6. Auflage, Leipzig 1905-1909. Der große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden, Band 5, Doc-Ez, Leipzig 1930, 713 enthält den Begriff „ethnisch“, der mit „volkisch, volkseigenthümlich“ übersetzt wird.
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kurs um »Rasse« und Psychopathologie taucht dieser Begriff auch nur sehr selten auf, und ist dann häufig ebenso wie bei Révész ebenfalls biologisch konnotiert.52 Diese beiden Beispiele bilden die zwei Pole dessen ab, was in den in der vorliegenden Arbeit untersuchten Schriften unter den Begriffen »Rasse« und »Rassenpsychiatrie« diskutiert wurde. Buschan verfocht die Position, dass es Rassenunterschiede gäbe, dass sie sich in physischer und pathologischer Hinsicht äußerten und dass die Unterschiede auch anhand einer Betrachtung psychischer Erkrankungen bei den verschiedenen »Rassen« abbildbar seien. Révész übte Kritik an der Kategorie »Rasse«, stellte aber die Prämisse, dass Menschen sich in biologische Kollektive einteilen ließen, nicht in Frage. Neben diesen deutlichen Positionierungen zum Rassebegriff war ein unklarer und undefinierter Gebrauch des Begriffs in den Schriften zu Psychopathologie und »Rasse« häufig. Buschans Verweis auf eine anthropologische Klassifikation war in rassenpsychiatrischen Publikationen eher selten, bevor in den 1920er Jahren die Konstitutions- und Rassetypenforschung systematisch sowohl Konstitutionstypen vermaß als auch Rassenklassifikationen als Methode einsetzte. Die Mehrheit der Ärzte, die über Psychopathologie und »Rasse« schrieben, benutzte im Gegensatz zu Buschan und Révész den Begriff jedoch ohne Referenz auf eine Rassenklassifikation und ohne eine genaue Definition dessen, was sie eigentlich darunter verstanden. Die unhinterfragte, aber gleichzeitig selbstverständliche Begriffsnutzung ist nicht überraschend, da »Rasse« über eine hohe Plausibilität verfügte. So fasst die Wirkmacht von »Rasse« für die bildungsbürgerlichen Schichten des späten Kaiserreich Werner Conze treffend zusammen: »Das Wort ›Rasse‹ war in Wortschatz und Vorstellungswelt tief eingedrungen. Der Begriff war freilich vage.«53 Die Unschärfe des Begriffs »Rasse« zeigt sich im Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie auch in den Begrifflichkeiten, mit denen in den Publikationen »Rasse« ersetzt wurde: »Rasse«, »Volk«, »Stamm« und »Nation« ließen in ihrer Verwendung in den Texten große Bedeutungsüberschneidungen erkennen und wurden häufig auch synonym benutzt. Auch dies stellt für die Zeitperiode nichts Unge-
52 So unterscheidet sich Révész‘ Definition von »ethnischer Gruppe« von dem heutigen Begriffsverständnis einer Ethnie als Gruppe mit gemeinsamer kultureller und/oder geographischer Herkunft. Auch Fishberg schreibt: »...als ethnische Merkmale kommen aber nur erbliche Erscheinungen in Betracht.« MAURICE FISHBERG, Die Rassenmerkmale der Juden: eine Einführung in ihre Anthropologie, München 1913, 501. Henckel verwendet den Begriff ebenfalls im engen semantischen Zusammenhang von »Rasse« und scheint ihn als Synonym zu »Rasse« verwendet zu haben, KARL OTTO HENCKEL, Konstitutionstypen und Europäische Rassen. In: Klinische Wochenschrift 4/1925, 2145-2148, 2147. 53 WERNER CONZE und ANTJE SOMMER, Rasse. In: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, 135-178, 168.
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wöhnliches dar,54 denn die Begriffe »Rasse«, »Volk« und »Nation« wiesen eine hohe Bedeutungskongruenz auf: So wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts die »Nation« bzw. das »Volk« als eine Rassengemeinschaft imaginiert.55 Im rassenpsychiatrischen Kontext zeigte sich die Vermischung von »Rasse«, »Volk« und/oder »Nation« bei einer Reihe von Autoren. Etwa sprach der Tübinger Psychiater und Assistent Robert Gaupps Eduard Reiss 1910 bei einer Untersuchung über Schwaben sowohl von »Rasse«, »Stamm« als auch von »Volk«. Die beiden österreichischen Regimentsärzte Martin Pappenheim und Viktor Kraus beschrieben die untersuchten türkischen Soldaten unter der Kategorie »Nation bzw. Rasse«.56 Ähnlich benutzen andere Autoren diese Begriffe gewissermaßen synonym.57 Diese mangelnde Präzision in der Begrifflichkeit und die damit verbundenen Probleme wurden zwar verschiedentlich auch angemerkt, das änderte aber wenig am übergreifenden Gebrauch der Begriffe. 58 Die Unschärfe der Kategorie »Rasse« im rassenpsychiatrischen Forschungsfeld ist als ein Abbild der generellen Unklarheit der Kategorie innerhalb der Wissenschaften zu sehen. Rassenanthropologen waren über wesentliche Aspekte des Konzepts von »Rasse« wie die Definition und die Anzahl menschlicher »Rassen« un54 MOSSE, Geschichte des Rassismus, 70. 55 CHRISTIAN GEULEN, Wahlverwandte. Rassismus und Nationalismus. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert, Hamburg 2004, 55 und 123; GEULEN, Geschichte des Rassismus, 79. 56 EMIL MATTAUSCHEK, Einiges über die Degeneration des bosnisch-herzegowinischen Volkes. In: Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 29/1908, 134-145, 135; MARTIN PAPPENHEIM und VICTOR KRAUS, Über Kriegsneurosen bei türkischen Soldaten. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 74/1918, 310-313, 311; REISS, Konstitutionelle Verstimmung, 350, 364. 57 Eine unklare, nicht abgegrenzte Verwendung der Begriffe »Rasse«, Volk und/oder Nation findet sich ebenfalls u. a. in folgenden Publikationen: RAFAEL BECKER, Weitere Ergebnisse über die Verbreitung der Geisteskrankheiten bei den Juden in Polen. In: Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift 32/1930, 410-413, KRAEPELIN, Vergleichende Psychiatrie; LANGE, Über manisch-depressives Irresein; GEORG LOMER, Die Beziehungen von Selbstmord und Geisteskrankheit zur Rasse. In: Politisch-Anthropologische Revue 5/1906, 28-38; SIEBERT, Psychosen und Neurosen. 58 Ernst Rüdin war einer der Autoren im Diskurs, die diesen Mangel an Präzision kritisierten. So warf er Alexander Pilcz in seiner vergleichenden Studie der Bevölkerung Wiens, eine »irreführende Terminologie« vor: »Eine vergleichende Rassen-Psychiatrie darf sich nicht mit dem Studium von Nationalitäten begnügen.« ERNST RÜDIN, Rezension: Alexander Pilcz, Beitrag zur vergleichenden Rassenpsychiatrie. Wien, 1906. In: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 3/1906, 594-596; In der Tat nahm er bei seiner eigenen Studie eine anthropologische Einordnung vor. RÜDIN, Paralysefrage.
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eins.59 Es gab zwar einen definitorischen Grundkonsens in den Biowissenschaften, auf den sich selbst Kritiker wie Révész stützten. Die Annahme, dass biologisch zusammengehörende Menschengruppen existierten, und diese eine gemeinsame Abstammung und gemeinsame Merkmale hatten, wurde von den meisten Ärzten und auch von anderen Personen, die in den biowissenschaftlichen Wissensgebieten arbeiteten und forschten, nicht in Frage gestellt. Zwar gab es Kritik am vorherrschenden Rassenkonzept, aber Stimmen, die »Rasse« als sinnvolle Kategorie einer biologischen Klassifikation der Menschheit grundsätzlich ablehnten, waren innerhalb der Biowissenschaften in dieser Zeit nicht zu finden. In ihrer Studie über die biowissenschaftliche Auseinandersetzung mit der »Biologie der Juden« geht Veronika Lipphardt auch auf die Positionen von Wissenschaftlern mit jüdischem Hintergrund hierzu ein. Sie stellt fest, dass diese versuchten, sich der biologistisch-deterministischen Logik zu entziehen, die mit dem Begriff »Rasse« verbunden war. Letztlich verließen diese dabei jedoch nicht den Rahmen einer biologischen Sichtweise auf das Kollektiv der Juden.60 Hans-Walter Schmuhl bemerkt, dass selbst der deutsch-amerikanische Anthropologe Franz Boas, der als Kämpfer gegen den wissenschaftlichen Rassismus und als Begründer der Kulturanthropologie gilt, eine Rassismuskritik betrieb, die die Idee von der »Rasse« nicht konsequent ablehnte, auch wenn er schlussendlich wesentlich dazu beitrug, die Bedeutung von »Rasse« für die Erklärung von Unterschieden zwischen Menschen zugunsten von »Kultur« zu relativieren.61 Aber auch diejenigen, die den Rassebegriff nicht in einer solchen Weise in Frage stellen, waren sich über wesentliche Aspekte des Rassenbegriffs nicht einig: Welche Merkmale genau waren rassenspezifisch und wie vererbten sich diese? Stammten alle Menschen von einer gemeinsamen »Urrasse« ab? Wie viele »Rassen« gab es überhaupt und wie ließen sie sich kategorisieren? Mit dem Aufkommen der Theorien Darwins stellten sich ferner neue Fragen nach dem Einfluss des Wandels der Arten, die die vorherige Annahme der Konstanz und Homogenität von »Rassen« infrage stellten und den Fokus auf Fragen nach Rassenmischung und Rassenreinheit richteten.62 So gab es eine Vielzahl unterschiedlicher Rassenkonzepte, deren Komplexität und Unterschiedlichkeit ab 1900 noch zunahm.63 Hans59 HUTTON, Race, 23. 60 LIPPHARDT, Biologie der Juden, 53-186, 306. 61 HANS-WALTER SCHMUHL, Feindbewegungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik und seine Auseinandersetzung mit Franz Boas, 1927-1942. In: Ders. (Hg.), Kulturrelativismus und Antirassismus: der Anthropologe Franz Boas (1858-1942), Bielefeld 2009, 187-209, 206. 62 LIPPHARDT, Biologie der Juden, besonders 40-48, 71-88. 63 Zum wissenschaftlichen Rassekonzept nach 1900 vgl. ferner MASSIN, Anthropologie raciale; MASSIN, From Virchow to Fischer; SCHMUHL (Hg.), Rassenforschung; HANS-
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Walter Schmuhl stellt fest, dass sich im Laufe der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts die Vorstellung der »Rasse« als fixierte, stabile Einheit zugunsten einer Vorstellung wandelte, die nicht mehr von »reinen Rassen« ausging, sondern von »Mischrassen«, die »in stetem Wandel begriffene Fortpflanzungsgemeinschaften mit gemeinsamen erblichen Merkmalen« waren.64 Trotzdem blieben ältere und neuere Konzepte von »Rasse« gültig: Sie seien keinesfalls »fein säuberlich getrennt« gewesen, »sondern gingen – trotz aller Spannungen und Widersprüche – mannigfaltige Verbindungen ein, so daß ein breit gefächertes Spektrum von Rassenkonzepten entstand.«65 Generell wurde in Schriften über Juden häufiger als in anderen Publikationen die Definition und Zuverlässigkeit der Kategorie »Rasse« zum Thema gemacht. Die Frage der Rassenreinheit, die auch in Révész’ Kritik des Rassenbegriffs zentral war, wurde häufig in diesem Kontext diskutiert und führte zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg publizierte beispielsweise Johannes Lange, Assistent bei Emil Kraepelin an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München, einen Artikel Über das manisch-depressive Irresein bei den Juden. Langes Text ist ein Beispiel für die Position innerhalb des Diskurses, die von der Vorstellung einer »jüdischen Rasse« als biologische Einheit ausging. So schrieb er, dass Juden zwar aus anthropologischer Sicht keine »reine Rasse« darstellten, doch »unterscheiden sie sich […] allenthalben in ihrer Rassenzusammensetzung weit von den umgebenen Völkern und sind, auch wenn sie überall fremdes Blut aufgenommen haben, allem Anschein nach unter sich einheitlich geartet«.66 Trotz der Vermischung mit Nichtjuden seien die Übereinstimmungen der Juden untereinander so groß, dass sie als Objekte rassenpsychiatrischer Forschung gut geeignet seien.67 Die »jüdische Rasse« präsentierte er somit als biologische Entität, die trotz Vermischungen mit anderen »Völkern« eine für sie typische rassische Einheit bewahrt habe. Mit dem Argument der Rassereinheit argumentierte auch ein weiterer Autor: Rafael Becker, zu dieser Zeit Assistenzarzt in einer psychiatrischen Einrichtung im schweizerischen Kanton Aargau, erfasste die Gruppe der Juden ebenfalls als biologische Einheit. Im Gegensatz zu Johannes Lange sah er aber die Existenz der »jüdischen Rasse« durch ihre angebliche »Reinheit« als erwiesen an. Die »jüdischen Rasse« sei durch die Isolation im Ghetto und das Heiraten unter Verwandten WALTER SCHMUHL, »Neue Rehoboter Bastardstudien«. Eugen Fischer und die Anthropometrie zwischen Kolonialforschung und nationalsozialistischer Rassenpolitik. In: Gert Theile (Hg.), Anthropometrie. Zur Vorgeschichte des Menschen nach Maß, München 2005, 277-306. 64 SCHMUHL, Rasse, Rassenforschung, Rassenpolitik. 23f. 65 Ebenda. 66 LANGE, Über manisch-depressives Irresein, 1357. 67 Ebenda.
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»rein« geblieben.68 Dadurch habe sie sich durch äußere Umstände nicht verändert oder geformt, sondern in ihrer Ursprünglichkeit bewahrt.69 Diese Position betrachtete bestimmte psychische und physische Merkmale als Charakteristika der Juden, die entweder aus der »jüdischen Rasse« selbst oder als Folge ihrer historischen Entwicklung entstanden seien. Demgegenüber wehrte sich Max Sichel, Arzt an der »Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Frankfurt am Main« und Autor einer Reihe von Schriften über die »Psychopathologie der Juden«, gegen diese klassische Sichtweise auf »Rasse«. In seiner Schrift Zur Ätiologie der Geistesstörungen bei den Juden, die 1918 erschien, distanzierte er sich vom Versuch, »Rasse« als Erklärung für die »Psychopathologie der Juden« zu verwenden und bediente sich des Arguments der angeblich mangelnden Rassereinheit. Hinsichtlich der »Geistesstörungen der Juden« habe man bislang überall »den Rassenfaktor als ursächliches Moment« angeführt, so Sichel. »Rasse« sei aber »ein Verlegenheitsprodukt«, das nur dann angeführt würde, wenn man keine andere Erklärung habe.70 Die mangelnde Homogenität der »jüdischen Rasse« sei ein Grund, Zweifel anzumelden: Es schiene ihm »als ob die Anhänger des rassenätiologischen Standpunktes zu wenig Gewicht auf die Tatsache legen, daß die Reinheit der jüdischen Rasse nur eine sehr relative ist«. Es sei zu allen Zeiten zu Vermischungen zwischen den »Rassen« gekommen »dafür ist die Bibel mit ihren immer wiederkehrenden Warnungen und Ermahnungen einwandfreier Kronzeuge […] zu welch drastischen Mitteln man zur Erhaltung der Stammeseigenart zeitweise seine Zuflucht nahm.«71 Juden hätten sich im Laufe der Jahrhunderte »seit den Zeiten der Bibel« durchaus geändert, denn »ein ackerbaubetreibendes und freiheitsliebendes Volk, […] erträgt nicht Zwang und Erniedrigung von Jahrhunderten, ohne daß hierdurch in sein Charakterbild sich wesensfremde Züge einschleichen. In offenkundiger Verkennung ihres Ursprungs wollte man in ihnen Rasseneigentümlichkeiten erblicken«.72
Sichel stellte hier angeblich »ursprüngliche« Rasseneigenschaften der Juden denjenigen Eigenschaften gegenüber, die im Laufe der Jahrhunderte dazu gekommen seien. Diese Eigenschaften, die in einer »völkischen Eigenart« resultierten, seien 68 BECKER, Nervosität bei den Juden, 22. Becker unterstützte zwar das Konzept von der »jüdischen Rasse«, erklärte im Gegensatz zu Lange die psychischen Erkrankungen, unter denen Juden angeblich besonders häufig litten, jedoch nicht als rassisch bedingt. 69 Ebenda. 70 MAX SICHEL, Zur Ätiologie der Geistesstörungen bei den Juden. In: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 44/1918, 246-264, 246f. 71 Ebenda. 72 Ebenda.
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auch für die vermeintliche psychopathologische Disposition der Juden verantwortlich: »Gleichwohl kann die Berechtigung, die Juden in psycho-pathologischer Hinsicht gesondert zu betrachten und ihre dabei zuweilen abweichenden Verhältnisse aus einer gewissen völkischen Eigenart zu erklären, nicht gänzlich in Abrede gestellt werden; sie dürfte vor allem und hauptsächlich daraus herzuleiten sein, daß es sich bei den heutigen Bekennern der jüdischen Religion um eine Glaubens- und Schicksalsgemeinschaft handelt«. 73
Der Bezug auf die Glaubens- und Schicksalsgemeinschaft der Juden lässt zunächst vermuten, dass Max Sichel die »völkische Eigenart«, mit der er die vermeintlich abweichende psychopathologische Besonderheit der Juden erklärte, durch eine nicht-biologische Erklärung unterfüttern wollte. Er beschrieb dann auch den Einfluss des Diasporalebens auf die angeblich spezifischen Eigenschaften der jüdischen »Glaubens- und Schicksalsgemeinschaft« näher: »Für den, der sich in die Geschichte des jüdischen Volkes vertieft, liegt es nahe, die Wurzel für die Disposition der Juden zu den psychisch-nervösen Erkrankungen in den durch die ständigen Verfolgungen und Seelenqualen, durch die ewigen Kämpfe um das nackte Leben und das tägliche Brot unausbleiblich bedingten Schädigungen des Nervensystems zu suchen. Zwar hat der große Krieg gelehrt, daß Erschöpfung und Emotion auch in stärkstem Grade noch nicht notwendig zu psychischen Alterationen führen müssen […]. Doch handelt es sich […] um Einwirkungen begrenzter Dauer, während die Erschütterungen des seelischen Gleichgewichts bei den Juden des Mittelalters bis in die neuere Zeit ganze Generationen, oft in unmittelbarer Aufeinanderfolge in Mitleidenschaft zogen und die Ungewißheit des Schicksals auch in ruhigeren Zeiten das Nervensystem schwer belastete«.74
Das Zitat zeigt, dass Sichel den schädigenden Einfluss des vergangenen Lebens der Juden auf die Nerven als Grund für die Prävalenz psychischer Erkrankungen bei Juden ansah. Dieser Einfluss war nach seiner Ansicht verantwortlich dafür, dass Juden eine »völkische Eigenart« ausgebildet hatten. Im Folgenden beschreibt Sichel in seinem Artikel noch andere Aspekte, die auf das durch die historischen Entwicklungen bereits angegriffene Nervensystem der Juden zusätzlich belastend eingewirkt hätten. Auch in weiteren Publikationen argumentierte er mit dem Einfluss der Umwelt, wie beispielsweise mit den Wohnverhältnissen im Ghetto und mit den plötzlichen Veränderungen, mit denen Juden nach der Emanzipation zu kämpfen gehabt hätten.75 Für die neueste Zeit machte er für die Zunahme der Paralyse den 73 Ebenda, 247. 74 Ebenda, 247f. 75 SICHEL, Über Geistesstörungen, 360f; SICHEL, Geistesstörungen bei den Juden, 75.
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Prozess der zunehmenden Angleichung der Juden an ihre nichtjüdische Umwelt verantwortlich, denn, so Sichel, Juden wären dabei, im Laufe ihres Akkulturationsprozesses ihre vorher hohen sittlichen Normen und Moralvorstellungen zu verlieren und so ihre »biologischen Vorteile« zu verspielen.76 Sichel beschrieb also die Entstehung der »völkischen Eigenart« der Juden als Resultat einer gemeinsamen Abstammung und eines gemeinsamen Schicksals. Er benutzte lamarckistische Argumente der Vererbung erworbener Eigenschaften, um die Entstehung der »nervösen Anlage« der Juden zu erklären. Wie bereits ausgeführt, war Jean-Baptiste Lamarck, ein französischer Naturforscher des frühen 19. Jahrhunderts, davon ausgegangen, dass sich durch Umweltanpassung erworbene geistige und körperliche Eigenschaften von Individuen biologisch vererbten. Mit der Übernahme dieser Vererbungstheorie wich Sichel von der Vorstellung eines biologischen Kollektivs der Juden nicht ab. Zwar erfuhr der Allgemeinplatz einer angeblichen »psychopathologischen Anlage der Juden« hier eine Abschwächung, indem Sichel die Disposition nicht aufgrund einer als »ursprünglich« angesehenen psychopathologischen Rasseneigenschaft annahm, sondern von einer Veranlagung ausging, die aufgrund von vergangenen äußeren Belastungen entstanden war. Damit und mit der Kritik am Rassenbegriff wehrte er jedoch eine traditionell-deterministische Deutung der angeblichen psychopathologischen Anlage der Juden ab. Er erklärte die angebliche Disposition der Juden zu psychischen Erkrankungen also nicht mit »ursprünglichen Rasseneigenschaften«, sondern mit Charakteristika, die erst mit der Zeit und auch nur durch die Verfolgung von Christen entstanden sei. Damit verschob er die Verantwortung für die vermeintlichen gemeinsamen Charakteristika der Juden von einer starren Rassenbiologie auf die Lebensumstände und vermied so die Vorstellung unveränderbarer Eigenschaften. Max Sichels Beispiel zeigt, dass die Verwendung des Begriffs »Rasse« allein nichts darüber aussagt, ob der Autor auf ein Rassenkonzept rekurrierte, das von biologisch-deterministischen Voraussetzungen ausging. Trotz der Ablehnung des Rassenbegriffs bewegte er sich im Interpretationsrahmen von Biologie und Vererbung: Sichel brachte für die Erklärung psychischer Krankheiten Argumente an, die sich auf die vergangene Lebenssituation der Vorfahren der damals lebenden Juden bezogen. Damit schrieb er die angebliche Disposition der Juden für psychische Krankheiten immer noch einer biologischen Zugehörigkeit zu der Gruppe der Juden zu. Mit der Verwendung des Begriffs »völkische Eigenart« mag Sichel versucht haben, den Rassenbegriff zu vermeiden. In früheren Publikationen benutzte er zwar den Begriff »Rasse« auch zur Bezeichnung des Kollektivs der Juden, aber auch hier übte er Kritik am Konzept der unveränderlichen, »reinen« »jüdischen Rasse« und versuchte, andere als rassische Gründe für die vermeintliche »Psychopathologie der
76 SICHEL, Ätiologie, 250.
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Juden« anzubringen.77 In dem hier zitierten Aufsatz überwiegt jedoch die Distanz zum Rassebegriff. Dennoch spricht die Art und Weise, wie Sichel das Kollektiv der Juden beschrieb und ihre angebliche »nervöse Disposition« erklärte, dafür, dass er zwar den Rassenbegriff sprachlich vermied, sich konzeptionell jedoch nicht von der Idee der Juden als biologischer Gruppe verabschiedete. Die zitierten Beispiele Buschans, Révész‘, Langes und Sichels belegen, wie komplex das Begriffsfeld »Rasse« in dieser Zeit war. Es zeigt sich, dass das Paradigma der »Rasse« – also die Vorstellung biologisch kategorial differenzierter Menschengruppen mit gemeinsamer Abstammung und gemeinsamen Merkmalen – dominant war, auch bei jenen, die das Rassekonzept eigentlich kritisierten oder den Begriff »Rasse« zu vermeiden versuchten. Dennoch gab es Unterschiede. Die eine Position in der Debatte – mit einer essentialistischen Tendenz – betonte die Existenz fester Rassenmerkmalen, die sich angeblich auch anhand psychopathologischer Unterschiede zeigen ließe. Die andere Position – mit einem flexibleren Rassenkonzept – unterstrich die Gewordenheit und Flexibilität der biologischen Kategorie »Rasse«, stand der rassenspezifischen Erklärung psychopathologischer Differenzen skeptisch gegenüber und führte als Erklärung stattdessen Milieubedingungen an. Ferner sind auch Mischvarianten zu finden, bei denen die Autoren beispielsweise eine Rassenreinheit behaupteten, aber die psychopathologische Besonderheiten trotzdem nicht auf rassische Umstände zurückführten.78 Die meisten Autoren benutzten jedoch den Begriff der »Rasse«, ohne ihn zu erläutern oder sich weiter dazu in Beziehung zu setzen. Dies kann ebenfalls als Zeichen gewertet werden, dass das unscharfe Konzept »Rasse« dennoch als wissenschaftliche Kategorie Gewicht besaß. Dennoch ist auch bei solchen Autoren deutlich, dass sie unter »Rasse« etwas verstanden, das zwar im Verlauf der Zeit auch Umwelteinflüssen ausgesetzt gewesen war, das jedoch eine im Grunde biologische Kategorie darstellte: Die Frage nach dem Einfluss von »Rasse« wurde nämlich stets mit der nach dem Einfluss anderer Faktoren kontrastiert. So beschrieb beispielsweise der Nervenarzt Harald Siebau in seiner Abhandlung über Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands die Probleme, die mit einer wissenschaftlichen Betrachtung der »Völkerschaften bzw. Rassen« verbunden seien. Bei der Betrachtung dieser »Völkerschaften bzw. Rassen« könnten Bildung und Wohlstand der einen Gruppe das Bild gegenüber der anderen verzerren. In diesen Fällen würden häufig »rein soziale Auswüchse und Schattenseiten aus Gründen mangelhafter Kritik fälschlicherweise als nationale Eigenthümlichkeiten der einen oder anderen Volksart angesprochen werden.« Dennoch schrieb er im Folgenden:
77 SICHEL, Über Geistesstörungen; SICHEL, Geistesstörungen bei den Juden. 78 Ein Beispiel dafür ist Rafael Becker BECKER, Nervosität bei den Juden.
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»Trotz aller solcher Bedenken bleibt sicherlich eine ganze Reihe von Eigenschaften bestehen, welche der einen oder anderen Rasse oder Nationalität als spezifisch angesehen werden muss und gerade auf diesem Gebiet erscheinen die psychisch-nervösen Krankheiten insofern ein recht dankbares Objekt darzustellen«.79
Rasse war also als eine Kategorie mit einer biologischen Grundlage gedacht, die mehr oder weniger fixiert oder flexibel war. Das »flexiblere« Konzept von »Rasse« findet sich jedoch fast ausschließlich in den Publikationen, in denen die »Psychopathologie der Juden« verhandelt wird. Die Gründe dafür sind höchstwahrscheinlich mit den Personen verbunden, die diese Texte schrieben: bei einem Großteil der Autoren, die über »Psychopathologie der Juden« publizierten, ist davon auszugehen, dass sie jüdisch waren oder aus jüdischen Familien stammten, wie im übrigen auch Max Sichel. Bevor ich auf diesen Aspekt ausführlicher eingehe, soll ein Überblick diejenigen biographisch beleuchten, die an dem Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie beteiligt waren.
2.4 W ER
SPRICHT ? AKTEURE IM D ISKURS ÜBER P SYCHOPATHOLOGIE UND »R ASSE «
2.4.1
Prosopographischer Überblick über die Akteure des Diskurses
Das Interesse am Thema Psychopathologie und »Rasse« war breit gestreut und beschäftigte eine große Menge Forscher, auch wenn das Thema für die überwiegende Mehrheit in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit keinen Schwerpunkt bildete. Bei den meisten war die Forschung über »Rasse« und Psychopathologie ein Thema, dem sie sich nur mit wenigen Veröffentlichungen widmeten: Im Durchschnitt veröffentlichte jeder Diskursteilnehmer nur anderthalb bis zwei Aufsätze zum Thema Psychopathologie und »Rasse«. Eine größere Anzahl von Publikationen, die auf einen tatsächlichen Interessens- oder Forschungsschwerpunkt in diesem Bereich schließen lassen, sind nur von Rafael Becker, Max Sichel, Alexander Pilcz und P.J.C. van Brero bekannt.80 Daneben gab es eine Gruppe von Autoren, die ebenfalls häufiger
79 SIEBERT, Psychosen und Neurosen, 494. 80 Rafael Becker veröffentlichte zwischen 1918 und 1932 18 Publikationen, Max Sichel in den Jahren 1908-1924 elf Artikel, beide hauptsächlich zu psychischen Erkrankungen bei Juden. Alexander Pilcz publizierte zwischen 1901 und 1927 vier Aufsätze über die rassenpsychiatrische Thematik und die »Psychopathologie der Juden« und P.J.C van Brero schrieb zwischen 1895 und 1914 vier Schriften, in denen es um die psychischen Erkran-
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in der rassenpsychiatrischen Literatur erwähnt wurden, dazu gehörten neben den bereits genannten Autoren, Béla Révész, Emil Kraepelin und Ernst Rüdin, die jedoch nur einzelne Publikationen verfassten. Für eine werkbiographische Analyse ist die Anzahl der Akteure im Diskurs – insgesamt über 120 – zu groß. Auch sind biographische Informationen teilweise nur sehr eingeschränkt vorhanden.81 Trotzdem sollen im Folgenden einige biographische Angaben über die Sprecher im Diskurs gemacht werden. Die Personen, die über das Verhältnis von Psychopathologie und »Rasse« schrieben, waren alle männlich. Ferner besaßen fast alle eine medizinische Ausbildung, oder hatten zumindest einige Semester Medizin studiert. Der Großteil der Forscher war jedoch nicht nur Mediziner, sondern »vom Fach«: Für deutlich über die Hälfte konnte ermittelt werden, dass sie als Psychiater oder Neurologe tätig waren oder eine entsprechende fachpraktische Qualifikationsphase durchlaufen hatten. Die restlichen Autoren waren als Allgemeinärzte oder in einem anderen Gebiet als der Psychiatrie oder Neurologie als Fachärzte tätig, beispielsweise als Tropen- oder Militärärzte. Einige besaßen auch Doppelqualifikationen, etwa als Psychiater und Anthropologe oder als Psychiater und Tropenmediziner.82 Auch der konkrete Tätigkeitsbereich der Autoren unterschied sich: Der Diskurs um die Psychopathologie von »Rassen« war keine rein universitäre Debatte, viele Autoren, die mitwirkten, kungen auf Java ging und zwei Artikel im Handbuch für Tropenkrankheiten, in denen er sowohl die psychischen Erkrankungen der kolonisierten Bevölkerung, als auch die Tropenneurasthenie behandelte. 81 Die folgenden biographischen Angaben beruhen auf einer Auswertung von biographischen Nachschlagewerken. Die Qualität der Quellenbasis variiert stark. Für den Großteil der Wissenschaftler konnten biographische Informationen zu ihrer Berufslaufbahn und persönlichen Biographie aus zumeist zeitgenössischen Biographien ermittelt werden. Jedoch waren etliche derer, die sich an dem Diskurs um »Rasse« und Psyche beteiligten, nicht bekannt genug, als dass ihre Biographien überliefert wären. So konnten bei 10% der »Diskursteilnehmer« keine biographischen Einträge in biographischen Nachschlagewerken gefunden werden. Bei einigen weniger bekannten Autoren, die nicht in den Nachschlagewerken verzeichnet waren, konnte allein über die den Publikationen beigefügten Angaben biographische Hinweise ermittelt werden, z. B. über die berufliche Stellung und den Ort und das Land der Anstellung. Teil des Quellenkorpus sind auch die Lebensläufe, die sich in einigen Dissertationen fanden und die teilweise Aufschluss über die Konfession der Verfasser geben. Das Ausmaß der zur Verfügung stehenden Informationen ist also recht unterschiedlich. Hauptquelle für die biographischen Angaben waren die nationalen Biographical Archives, die in der Datenbank World Biographical Information System Online (WBIS Online), München kumuliert sind. 82 Von einem Fünftel der Diskursteilnehmer fehlen Informationen über ihre fachliche Qualifikation.
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arbeiteten als praktische Ärzte. Psychiater in Nervenheilanstalten, Assistenz- und Oberärzte wie auch Anstaltsdirektoren beteiligten sich daran neben niedergelassenen Ärzten, Medizinern aus der staatlichen Gesundheitsadministration, reputierten Universitätsprofessoren und Privatdozenten und Assistenten an Forschungsinstituten und Universitäten. Wie bereits erwähnt waren auch acht Diskursteilnehmer Studenten: Sie verfassten zu diesem Thema ihre Dissertationsschriften. Innerhalb der Gruppe der Psychiater und Neurologen ist der hohe Anteil an »Praktikern« auffällig: Die Hälfte derjenigen, die über die Psychopathologie von »Rassen« forschte, war zum Zeitpunkt ihrer Publikation hauptberuflich in psychiatrischen Anstalten beschäftigt, viele auch in leitenden Funktionen. Darüber hinaus ließen sich von zehn Prozent der Diskursakteure keinerlei biographische Informationen finden, was nahe legt, dass sie keine universitären Wissenschaftler waren, da sonst ihre Biographien auffindbar gewesen wären. Es ist daher wahrscheinlich, dass auch sie eher zu den praktisch Tätigen gehörten. Die hohe Beteiligung von »Praktikern« lässt jedoch nicht darauf schließen, dass der Diskurs um die Psychopathologie von »Rassen« deshalb prinzipiell als weniger »wissenschaftlich« oder fachlich qualifiziert zu gelten hat. Die Anstalten bildeten lange den »Erfahrungsraum«, in dem sich der Konstitutionsprozess der Psychiatrie als Wissenschaft« vollzog.83 Zu dem Zeitpunkt, als der Diskurs um die Psychopathologie der »Rassen« entstand, hatte zwar eine neue Generation naturwissenschaftlich und universitär orientierter Psychiater längst begonnen, diese Tradition in Frage zu stellen,84 die Anstalten blieben jedoch nach wie vor Orte, an denen man auch forschend tätig war. Das Deutsche Reich sowie die deutschsprachigen Teile der Schweiz und Österreich-Ungarn können bezogen auf das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert nach Benoît Massin als »scientific nation« gefasst werden.85 Die Mehrheit der Diskursbeteiligten – zwei Drittel – lebte innerhalb des Deutschen Reiches und Österreichs, einige wenige in der Schweiz. Darüber hinaus hatte der Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie eine internationale Dimension: Ein weiteres Drittel der im Diskurs publizierten Beiträge stammte von Personen, die außerhalb dieser deutschsprachigen »scientific nation« wohnten. So kamen aus dem russischen Zarenreich inklusive der damals zugehörigen Teilstaaten Polen (bis 1918) und Lettland etwa ein Viertel der »internationalen« Diskursteilnehmer, die restlichen For-
83 BLASIUS, Seelenstörung, 46. 84 ERIC J. ENGSTROM, Clinical Psychiatry in Imperial Germany. A History of Psychiatric Practice, Ithaca, NY 2004, 88f. 85 MASSIN, From Virchow to Fischer, 84.
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scher kamen aus den Niederlanden, der Türkei, Brasilien, Italien, den USA und Ungarn.86 Bei einigen wenigen Publikationen ist anzunehmen, dass es sich um Übersetzungen handelt, weil die Forscher die gleichen Aufsätze jeweils in einer anderen Sprache einige Jahre früher veröffentlicht hatten, wie z. B. Maurice Fishberg, Abraham Witmer und Franco da Rocha. Diese Publikationen, in denen sich in der Regel keine Angaben darüber finden, dass es sich um Übersetzungen handelte, sind jedoch die Ausnahme. Es gibt nur eine »geographische Häufung« von Diskursakteuren, die eigentlich ohnehin eher eine personengebundene ist: Im Umkreis Emil Kraepelins und seiner Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München sowie seines Nachfolgers Ernst Rüdin gab es einige Forscher, die an der Debatte um Psychopathologie und »Rasse« beteiligt waren. Emil Kraepelin selbst ist auch einer jener Autoren, die zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung um das Verhältnis von »Rasse« und Psychopathologie beitrugen. Vielfach wird er sogar als Begründer dieser Forschungsrichtung betrachtet,87 auch wenn er – wie die meisten anderen Diskursakteure – nur wenige Publikationen veröffentlichte.88 Jedoch erwähnte er die Befunde häufig in seinen Publikationen wie auch in seinem Lehrbuch.89 Kraepelin hatte zwar im deutschsprachigen Raum früh über »Rasse« und Psychopathologie publiziert, aber er war nicht der erste. 86 Viele von ihnen hatten in einem deutschsprachigen Land studiert. So studierte der in Russland geborene Rafael Becker in Zürich, ebenso wie Pieter C.J. Brero aus Niederländisch-Ostindien, dem heutigen Indonesien. Der ebenfalls in Russland geborene Léon Cheinisse studierte in Bern, Berlin und Montpellier, Béla Révész und Lajos Frigyes aus Ungarn in Wien bzw. Frankfurt am Main und Abraham Gans aus den Niederlanden in Berlin und Paris, Harald Siebert aus Lettland in Würzburg und Maurice Urstein aus Polen in Berlin und München. Weitere bereisten erst nach ihrem Studium das deutschsprachige Ausland, wie z. B. Fahreddin Kerim Bey und Rashid Tahssin Bey aus der Türkei sowie Juliano Moreiro aus Brasilien, von denen jeder ausgedehnte Studienreisen zu verschiedenen psychiatrischen Anstalten im deutschsprachigen Raum und in Europa unternahm. 87 BENDICK, Kraepelins Forschungsreise; ANA MARIA G. RAIMUNDO ODA, CLAUDIO EDUARDO M. BANZATO
und PAULO DALGALARRONDO, Some origins of cross-cultural psy-
chiatry. In: History of Psychiatry 16/2005, 155-169. 88 KRAEPELIN, Vergleichende Psychiatrie; EMIL KRAEPELIN, Psychiatrisches aus Java. In: Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie 27 (=N.F.15)/1904, 468-469; EMIL KRAEPELIN, Zur Entartungsfrage. In: Zentralblatt für Nervenheilkunde 31/1908, 745751. 89 Die Auswirkungen von Kraepelins Javareise auf sein Lehrbuch und seine weiteren Forschungsansichten beschreibt Bendick: BENDICK, Kraepelins Forschungsreise, 71-75 und 93-98. Siehe dazu auch Kapitel 5.2.2.
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Kraepelins besaß ein gesteigertes Interesse an der Thematik, die bei ihm unter dem Begriff »vergleichende Psychiatrie« fungierte.90 So lässt sich in Kraepelins Lebenserinnerungen nachlesen, dass er auf seinen sommerlichen Erholungsreisen in viele europäische Länder stets die dortigen Psychiatrien besuchte und die Patienten untersuchte.91 Außer der Reise nach Java 1904, bei der er rassenpsychiatrische Untersuchungen unternahm, plante Kraepelin eine Reihe weiterer Forschungsreisen, die nur z. T. verwirklicht wurden. Eine Reise durch Sibirien, Japan, China, Burma, Indien und Ägypten war 1913 bereits in Vorbereitung gewesen, scheiterte jedoch am Kriegsausbruch.92 Ferner unternahm Kraepelin 1925 mit seinem Mitarbeiter Felix Plaut eine Amerikareise, bei der er und Plaut vergleichende rassenpsychiatrische Untersuchungen machten. Plaut veröffentlichte seine Ergebnisse über die Paralyse 1926.93 Zu einer Publikation von Kraepelins Forschungsergebnissen kam es nicht mehr, ebenso wenig wie zu einer geplanten Reise nach Ceylon und Indien mit seinem oben erwähnten Schüler Johannes Lange, da Kraepelin vorher starb (1927).94 Er verfügte jedoch, dass Lange seine Materialien erhalten und die Reise übernehmen solle. Er ließ der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, der Vorläuferorganisation der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die als Finanzierer der Reise angesprochen worden war, noch von seinem Totenbett ausrichten, sie möge »die Sache mit der Indienreise nicht als endgültig gescheitert ansehen«95. Dies war ein wohl vergeblicher Wunsch, da von Lange eine solche Reise nicht 90 Kraepelin verwendete den Begriff der »vergleichenden Psychiatrie« z. B. in seinen Publikationen über die Forschungen auf Java. Dies ist wohl eher als Oberbegriff für eine vergleichende Forschungsrichtung zu verstehen, nicht als Alternative zum Begriff rassenpsychiatrische Forschung. So rief Kraepelin zur »vergleichenden Psychiatrie« des Alters, der Geschlechter etc. auf. KRAEPELIN, Erscheinungsformen, 6-10. Es ist möglich, aber unwahrscheinlich, dass er sich mit diesem Begriff von dem der »Rassenpsychiatrie« distanzieren wollte. Er nutzte den Rassenbegriff in seinen Publikationen und hatte auch sonst keine Berührungsängste mit dem Rassenbegriff. So verstand er auch die vergleichende Psychiatrie u. a. als Forschung über »Rassen«. 91 Beispiele für diese Reisen finden sich: EMIL KRAEPELIN, Lebenserinnerungen. Hrsg. von Hanns Hippius, Gerd Peters, Detlev Ploog unter Mitarbeit von Paul Hoff und Alma Kreuter, Berlin 1983, 160-166. Vgl. auch B ENDICK, Kraepelins Forschungsreise, 19. 92 KRAEPELIN, Lebenserinnerungen, 185f. 93 PLAUT, Paralysestudien. 94 BENDICK, Kraepelins Forschungsreise, 19. Der Urlaub von Kraepelin und seinem Mitarbeiter Lange war schon genehmigt. MPG-Archiv, Abt. II, Rep. 1a, 2443 Protokoll der Sitzung des Stiftungsrates der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie vom 22.2.1926, S. 3, 1926. 95 MPG-Archiv, Abt. 1, Rep 1a, 1 A 2430 Abschrift eines Briefes von Antonia SchmidtKraepelin an Dr. Krupp von Bohlen und Halbach vom 23.11.1926, 1926.
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überliefert ist. Lange veröffentlichte jedoch zwei Aufsätze im Themenbereich und hielt, zumindest im kleinen Kreise, darüber hinaus auch Vorträge über das Thema. 96 Neben Plaut und Lange trugen noch weitere Personen aus dem Umfeld Kraepelins und der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie (DFA) zu der Debatte um Psychopathologie und »Rasse« bei. Ernst Rüdin, Kraepelins Nachfolger an der DFA, folgte Kraepelin auch in diesem Forschungsinteresse. Bereits als Kraepelins Assistent in der psychiatrischen Klinik in München hatte er eine Reise nach Algerien unternommen, deren Ergebnisse er 1910 veröffentlichte.97 In den darauffolgenden Jahren verfolgte Rüdin das Thema nur indirekt, in dem er Studien rezipierte und andere Forscher ermunterte, rassenpsychiatrisch zu forschen.98 1930, auf der Konferenz der Internationalen Federation Eugenischer Organisationen (IFEO), initiierte Rüdin dann ein Forschungskommittee zur Rassenpsychiatrie, dessen Vorsitzender er wurde. In einem programmatischen Vortrag legte er das Forschungskonzept vor, das ihm für die Forschung in internationalem Ausmaß vorschwebte.99 Auffällig ist ferner, dass einige der »internationalen« Forscher, die über das Thema Psychopathologie und »Rasse« publizierten, für Emil Kraepelin gearbeitet haben oder zumindest persönlich mit ihm in Kontakt gestanden. Maurice Urstein, Abraham Gans, Raschid Tahssin Bey und Fahreddin Kerim Bey arbeiteten bei Kraepelin. 1906 hatte Kraepelin mit Juliano Moreiro Kontakt aufgenommen, um sich über die Möglichkeiten rassenpsychiatrischer Untersuchungen in Brasilien zu erkundigen. Diese Reise kam aber nicht zustande, aber Moreiro machte Station bei ihm auf seiner Europareise.100 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass diese Forscher 96 LANGE, Über manisch-depressives Irresein; JOHANNES LANGE, Fragestellungen der vergleichenden Psychiatrie. Entwicklungspsychiatrie. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 127/1930, 667-683; MPG-Archiv Abt. I Rep.1a 2436/3 Einladungskarte zu der öffentlichen Sitzung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie, Kaiser-Wilhelm-Institut in München am Freitag dem 9. Mai 1930. Vortrag: Prof. Dr. Lange Fragestellungen der vergleichenden Psychiatrie, 1930. 97 RÜDIN, Paralysefrage. 98 ERNST RÜDIN, Rezension: Krause, Karl Christ Friedrich. Vorlesungen über psychische Anthropologie; RÜDIN, Rezension: Alexander Pilcz, Beitrag zur vergleichenden Rassenpsychiatrie. Wien, 1906; ERNST RÜDIN, Rezension: Max Sichel, Über die Geistesstörungen bei den Juden. In: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 5/1908, 419f. 99 ERNST RÜDIN, Zu einem Programm der internationalen Erforschung der Rassenpsychiatrie. In: Report of the ninth conference of the International Federation of Eugenic Organisations. Farnham, Dorset, September 11-15 1930, 27-36. 100 Siehe die Briefe von Moreiro an Emil Kraepelin vom 10.4.1905 und 30.7.1905 in: EMIL KRAEPELIN, Kraepelin in München I 1903-1914. Herausgegeben von Wolfgang Burgmair, Eric J. Engstrom und Matthias Weber, München, 206 und 228f., ferner: ULYSSES VIANNA, Nachruf: Professor Dr. Juliano Moreira. In: Zeitschrift für die Gesamte Neuro-
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durch ihren Aufenthalt an der DFA auf die Thematik aufmerksam wurden. So erwähnt Rashid Tahssin Bey in einem Kommentar zum Themenfeld seinen »lieben Chef Prof. Kraepelin« und Fahreddin Kerim Bey bemerkt, dass er die Anregung für den Artikel über die Paralyse in der Türkei von Felix Plaut bekam. 101 Weitere Autoren, die sich mit dem rassenpsychiatrischen Thema beschäftigten und für die oder im Umfeld der DFA arbeiteten, waren Hans Luxenburger, KarlOtto Henckel und Theo Lang. Luxenburger trug in den ab 1929 jährlich erscheinenden Fortschritten der Neurologie, Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete u. a. das Sammelreferat und die Literaturübersicht über das Thema »Rasse« im Kontext mit psychischen Erkrankungen zusammen.102 Er veröffentlichte keine selbstständigen rassenpsychiatrischen Forschungsbeiträge, schrieb jedoch über »rassische Belastung« in einer seiner Publikationen.103 Karl-Otto Henckel war eigentlich Anatom und Anthropologe.104 Er arbeitete sowohl mit dem Münchner Professor für Anthropologie Rudolf Martin als auch mit Rüdin und seiner GenealogischDemographischen Abteilung zusammen.105 Auch unterstützte Rüdin den Forschungsantrag, den Henckel 1925 bei der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft stellte und in dem er den Zusammenhang von »Rasse«, Psychose und Konstitution erforschen wollte.106 Als Henckel 1930 einen Ruf nach Chile bekam, verlogie und Psychiatrie 149/1934, 429-432, 429f; BENDICK, Kraepelins Forschungsreise, 81f. 101 FAHREDDIN KERIM BEY, Der gegenwärtige Stand der progressiven Paralyse in der Türkei. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 98/1931, 430-445, 430; RASCHID TASSHIN BEY, Kommentar zur Diskussion der 1. Sitzung [Zivilisation und Geisteskrankheit]. In: Prof. Dr. Boedeker und Dr. Falkenberg (Hg.), IV. Internationaler Kongress zur Fürsorge für Geisteskranke. Berlin, Oktober 1910. Offizieller Bericht, Halle a. d. Saale 1911, 119120, hier: 119. 102 Zunächst erschien der Abschnitt der Literaturschau über »Rasse« jährlich, ab 1933 alle zwei Jahre. LUXENBURGER, Erblichkeit 1930; HANS LUXENBURGER, Erblichkeit, Keimschädigung, Konstitution, Rasse 1930. In: Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete 4/1932, 1,49; HANS LUXENBURGER, Erblichkeit, Keimschädigung, Konstitution 1931. In: Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie 5/1933, 1-30, 1. 103 HANS LUXENBURGER, Erbliche Belastung. In: Volk und Rasse 6/1931, 160-165. 104 HERMANN A.L. DEGENER (Hg.), Wer ist's. Unsere Zeitgenossen. 10. Ausgabe, Berlin 1935. 105 So schreibt er selbst in seiner Publikation KARL OTTO HENCKEL, Körperbaustudien an Geisteskranken II. Der Habitus der Zirkulären. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 92/1924, 614-633. 106 BAB, Notgemeinschaft R 73/ 16802, KARL OTTO HENCKEL, Denkschrift »Über die Notwendigkeit das Verhältnis von Konstitution und Rasse innerhalb einer im wesentlichen unvermischten Bevölkerung zu erforschen.« [Antrag für eine Forschungsreise nach
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sprach er, Rüdins Aufforderung Folge zu leisten, in Chile rassenpsychiatrische Untersuchungen anzuregen.107 Außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses platzierte der DFA-Mitarbeiter Theo Lang 1932 einen Beitrag, der in den Nationalsozialistischen Monatsheften erschien. Lang war der einzige in der DFA, der auch schon vor 1933 öffentlich für die Nationalsozialisten eintrat.108 Der Artikel stellt eine Ausnahme von den anderen Publikationen zu »Rasse« und Psychopathologie innerhalb der wissenschaftlichen Debatte dar. Er unterhält einen explizit antisemitischen Grundton und geht den vermeintlichen Gefahren nach, die die Juden aufgrund ihrer vermeintlichen psychopathologischen Belastung für ihre Umgebung darstellten.109 Zudem waren die Nationalsozialistischen Monatshefte das zentrale Parteiblatt der NSDAP, der Artikel erschien also in einer politischen Zeitschrift, die keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit stellte. 2.4.2
Wissenschaft und jüdische Identität im Diskurs über Psychopathologie und »Rasse«
Ob und wie Biographie und Identität die wissenschaftliche Betätigung von Wissenschaftlern prägt, ist seit langem ein populäres Thema der Wissenschaftsgeschichte. Auch bei denjenigen Wissenschaftlern, die sich mit Rassenforschung beschäftigten, wurden die kulturellen, sozialen oder religiösen Prägungen sowie die politischen Überzeugungen und Interessen unter die Lupe genommen. Das betraf nicht nur die Forscher, die den »rassisch Anderen« in diesen Texten zu beschreiben suchten, sondern auch diejenigen, die durch Fremdzuschreibung oder Selbstdefinition als Teil einer so abgegrenzten Gruppe galten. So war der Beitrag von Wissenschaftlern jüdischen Glaubens oder mit jüdischen Vorfahren zur medizinischen, biologischen,
Schweden]. 11.12.1924, 1924; BAB, Notgemeinschaft, B 73/ 16802, KARL OTTO HENCKEL,
Anschreiben an die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft wegen eines An-
trags auf eine Forschungsreise nach Schweden (Konstitutions-anthropologische Forschungsreise nach Schweden) vom 5.1.1925, 1925. 107 MPI-HA GDA 862, Karl Otto Henckel an Ernst Rüdin vom 19.6. 1930, 1930. 108 Lang trat schon 1923 in die NSDAP ein und war 1929 Mitbegründer des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes. 1933 trat er aus der NSDAP aus, behielt jedoch seine guten Kontakte zu NS-Funktionären und seine rassistischen und antisemitischen Einstellungen SUSANNE ZUR NIEDEN, Erbbiologische Forschungen zur Homosexualität an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie während des Nationalsozialismus. Zur Geschichte von Theo Lang, 2005, 15f., 37-41. 109 THEO LANG, Die Belastung des Judentums mit Geistig-Auffälligen. In: Nationalsozialistische Monatshefte 3/1932, 119-126.
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sozialwissenschaftlichen oder anthropologischen Forschung über Juden bereits Thema mehrerer kulturhistorischer Untersuchungen110 und wurde zuletzt noch einmal detailliert und aus wissenschaftshistorischer Perspektive von Veronika Lipphardt in ihrer Studie Die Biologie der Juden. Jüdische Wissenschaftler über »Rasse« und Vererbung 1900-1935 nachgezeichnet.111 Auch die anglophone Kolonialgeschichtsschreibung hat sich damit beschäftigt, wie Kolonialisierte auf kolonialmedizinische oder –psychiatrische Theorien der westlichen Kolonisatoren reagierten.112 Beide Perspektiven – die der Kolonialgeschichte und die der jüdischen Geschichte – verbindet die Frage nach dem Ausmaß von »Widerstand« oder den Möglichkeiten, dieser gesellschaftlich marginalisierten Wissenschaftler, sich gegenüber wissenschaftlichen Positionen, die sie qua zugeschriebener Gruppenzugehörigkeit als minderwertig oder zumindest »anders« darstellten, abzugrenzen. Die anglophone Kolonialgeschichte konnte in den letzten Jahren zunehmend aufzeigen, dass koloniale Eliten Alternativen zur oder Widerstandsmöglichkeiten gegenüber westlichen medizinischen Praktiken und Theorien entwickelten, vor allem für die Zeit, in der die nationalen Unabhängigkeitsbewegungen in den Kolonien erstarkten.113 Demgegenüber gibt es in der Geschichts110 JOACHIM DORON, Rassenbewusstsein und naturwissenschaftliches Denken im deutschen Zionismus in der Wilhelminischen Ära. In: Jahrbuch des Instituts für Geschichte an der Universtität Tel Aviv 9/1980, 339-427; JOHN M. EFRON, Defenders of the Race. Jewish Doctors and Race Science in Fin-de-Siècle Europe, New Haven, CT; London UK 1994; RAFAEL FALK, Zionism and the Biology of the Jews. In: Science in Context 11/1998, 587-607; GILMAN, Difference and Pathology; MITCHELL HART, Racial Science, Social science and the Politics of Jewish assimilation. In: ISIS 90/1999, 268-297; HÖDL, Pathologisierung. 111 LIPPHARDT, Biologie der Juden. 112 Eine Kritik und Zusammenfassung der rezenten Forschungsthemen der anglophonen Historiographie zur Kolonialmedizin insbesondere auch im Hinblick auf den Fokus auf »Widerständiges« findet sich in WALTRAUD ERNST und PROJIT B. MUKHARJI, From History of Colonial Medicine to Plural Medicine in a Global Perspective. Recent Works on History of Medicine in Colonial/ Postcolonial Contexts (Sammelrezension). In: NTM – Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin N.S. 17/2009, 447-458. Vgl. ferner DAVID ARNOLD, »An ancient race outworn«. Malaria and Race in Colonial India, 1860-1930. In: Waltraud Ernst und Bernard Harris (Hg.), Race, Science and Medicine, 1700-1960, London 1999, 123-143; RICHARD KELLER, Colonial Madness: Psychiatry in French North Africa, Chicago, IL 2007; MCCULLOCH, Colonial psychiatry and the »African mind«; POLS, Native Mind; VAUGHAN, Curing their ills. 113 Für die deutsche Kolonialpsychiatrie gilt das nicht, einerseits da diese bis zum Ende der deutschen Kolonialherrschaft ein Schattendasein führte und generell wenig Publikationen zum Thema psychische Gesundheit aus den deutschen Kolonien vorliegen, anderseits,
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schreibung, die sich mit dem Beitrag jüdischer Wissenschaftler zu Theorien über Biologie und Pathologie der Juden im deutschen Sprachraum beschäftigt, unterschiedliche Bewertungen, ob jüdische Wissenschaftler bei dem Unterfangen, einen Gegenpunkt zu setzen, erfolgreich waren oder nicht.114 Zunächst mag die Bewertung dieser Frage von der heutigen Irritation darüber getragen gewesen sein, dass jüdische Wissenschaftler in der Regel die Behauptung akzeptierten, dass biologische und pathologische Differenzen zwischen Juden und Nichtjuden existierten – wie überhaupt die Annahme einer »jüdischen Rasse« oder auch die einer speziellen psychopathischen Disposition der Juden. Auch unterschieden sich die Beiträge jüdischer Wissenschaftler auf den ersten Blick weder sprachlich noch theoretisch grundlegend von denen der nichtjüdischen Wissenschaftler.115 Eine deutlich positive Bilanz des Wirkens jüdischer Wissenschaftler zieht John Efron in seinem Buch Defenders of the Race: »Jewish race science« sei als ein Teil jüdischer Selbstverteidigung zu sehen, womit jüdische Wissenschaftler ein »new scientific paradigm and agenda for Jewish self-definition and self-perception« definiert hätten.116 Auch wenn andere Historiker und Historikerinnen den Beitrag jüdischer Wissenschaftler kritischer beurteilen, betonen sie in der Regel trotzdem deren Versuche, Positionen einzunehmen, die sich gegen eine essentialistische Definition der »jüdischen Rasse« wandten. Die entsprechenden Wissenschaftler hätten versucht, für die behaupteten Differenzen zwischen Juden und Nichtjuden andere als rassenbiologische Begründungen heranzuziehen, wie etwa die ungünstigeren Lebensumstände, die für Juden seit Jahrhunderten bestanden hätten.117 Die Artikulation dieser Ansichten sei jedoch nur innerhalb des vorherrschenden wissenschaftlichen Denkstils möglich gewesen: Die Akzeptanz der Vorstellung einer jüdischen Andersartigkeit sowie die Übernahme der damaligen Sprache und der Konzepte der Wissenschaft seien notwendig gewesen, um überhaupt innerhalb der wis-
weil die deutsche Kolonialpolitik auch nicht wie andere auf die Etablierung lokaler Eliten setzte und daher auch keine Ärzte ausbildete, die ihre Stimme hätten erheben können. Dass es Alternativen zur westlichen Medizin gab, beschreibt jedoch WALTER BRUCHHAUSEN,
Medizin zwischen den Welten. Geschichte und Gegenwart des medizinischen
Pluralismus im südlichen Tansania, Göttingen 2006. 114 LIPPHARDT, Biologie der Juden, 314. Ferner: WALTER ZWI BACHARACH, Ignaz Zollschans »Rassentheorie«. In: Walter Grab (Hg.), Jüdische Integration und Identität in Deutschland und Österreich 1848 bis 1918, Tel Aviv 1984, 179-197; DORON, Rassenbewusstsein; EFRON, Defenders; GILMAN, Jews and Mental Illness; HÖDL, Pathologisierung. 115 LIPPHARDT, Biologie der Juden, 308. 116 EFRON, Defenders, 5. 117 LIPPHARDT, Biologie der Juden, 13.
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senschaftlichen Debatte eine glaubhafte Position einnehmen zu können.118 Klaus Hödl erklärt dies als »Wissenschaftsgläubigkeit«, als »berufsbedingten und sozialstatusmäßigen Anpassungsprozesses einiger (jüdischer) Individuen, der auch bei anderen (Nichtjuden) gegeben war, wenn sie in eine bestimmte Berufsgruppen – im konkreten Fall in jene der Ärzte – aufstiegen.«119 Im Kaiserreich war diese Überzeugung von der Beweiskraft der Wissenschaften und ihrem konstanten Fortschritt in den bildungsbürgerlichen Schichten weit verbreitet.120 Demgegenüber beschreibt Lipphardt, dass gerade mit der Verlagerung der Debatte in den wissenschaftlichen Raum Hoffnungen verbunden waren: »Außerhalb des imaginierten Diskursraumes der Wissenschaft […] fand die Vorstellung von den Juden als einer unabänderlichen, fremdartigen und minderwertigen Rasse zunehmend Anklang. Vor allem die Debattenteilnehmer mit jüdischem Hintergrund fassten daher die wissenschaftliche Debatte als Gegenbewegung zu diesen pejorativen Redeweisen über die ›jüdische Rasse‹ auf«.121
Wissenschaftler mit jüdischem Hintergrund hätten dabei zwar ein aus heutiger Sicht rassistisches Vokabular benutzt, jedoch machten sie »keine Anleihen bei Akteuren, die damals als rassistisch galten, sondern bei einer wissenschaftlichen Fachsprache, die nicht als rassistisch galt.«122 Sie hätten sich damit einerseits im Kontext der zeitgenössischen Biowissenschaften bewegt sowie gleichzeitig mit ihren Forschungen »Versuche der jüdischen Selbstvergewisserung« unternommen, die sie für »wirksame und zukunftsweisende Maßnahmen im Interesse des Judentums und der Menschheit« hielten.123 Auch am deutschsprachigen Diskurs über Psychopathologie und »Rassen« beteiligte sich eine Reihe von Autoren, die selbst- oder fremddefiniert zur Gruppe derjenigen »Anderen« zählten, über die sie forschten. In erster Linie galt dies für diejenigen Wissenschaftler, die in den Augen ihrer Zeitgenossen als »jüdisch« galten, entweder weil sie selbst Angehörige dieser Konfession waren oder ihre Vorfahren 118 EFRON, Defenders, 8f; HÖDL, Pathologisierung, 313. Lipphardt beschreibt treffend, dass die Tatsache, dass einige jüdische Biowissenschaftler an der »biologischen Bestimmung des Jüdischen« teilhatten und diese auch in ihrer Identitätssuche aufgriffen, sei »keine für Juden typische Form der Identitätssuche, sondern typisch für Biowissenschaftler« gewesen LIPPHARDT, Biologie der Juden, 239. 119 HÖDL, Pathologisierung, 313. 120 RÜDIGER VOM BRUCH, Der wissenschaftsgläubige Mensch. In: Ders. (Hg.), Bürgerlichkeit, Staat und Kultur im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2005, 11-25. 121 LIPPHARDT, Biologie der Juden, 13f. 122 Ebenda, 314. 123 Ebenda.
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dieser angehört hatten. Tatsächlich verfassten vor allem Wissenschaftler aus dieser Gruppe »mit jüdischem Hintergrund« den Großteil der Publikationen über »Geisteskrankheiten bei Juden« und stellten ungefähr ein Viertel der Autoren im gesamten Diskurs um den Einfluss der »Rasse« auf die Psychopathologie. In der Auseinandersetzung um Psychopathologie und »Rasse« nahmen sie häufig eine Position ein, die Juden zwar eine nervöse Disposition wie auch eine überdurchschnittliche Quote von psychiatrischen Erkrankungen zuschrieb, jedoch argumentierte, diese seien nicht rassisch bedingt, sondern aufgrund von vergangenen und gegenwärtigen Lebensumständen der Juden entstanden. Trotz dieser Befunde habe ich darauf verzichtet, diese Analyseebene, die auf die Beantwortung der Frage zielt, inwiefern eine »jüdische Identität« der Wissenschaftler Auswirkungen auf ihre Positionierung im Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie besaß, in den Fokus meiner Untersuchung zu stellen. Dies hat methodische und quellentechnische Gründe. Historiker und Historikerinnen haben sich – wie ich finde, zu Recht – meist schwer getan, zu bestimmen, wer eigentlich der »Gruppe der Juden« zugerechnet werden kann. Sie laufen damit nämlich immer Gefahr, mit einer Definition entweder Ausgrenzungskategorien zu reproduzieren oder Personen auszuschließen.124 Eine verlässliche Antwort, wer sich als jüdisch definierte, was derjenige darunter verstand oder inwiefern Identität oder Fremdzuschreibung als »jüdisch« Auswirkungen auf die eigene Person und inhaltliche Position hatte, kann es letztlich nur durch eine Selbstauskunft oder zumindest durch Ego-Dokumente geben. Leider existieren von den Autoren im Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie so gut wie keine Selbstzeugnisse, die über diese Frage Aufklärung geben könnten und auch in den Texten selbst nehmen Autoren nur selten Bezug auf ihr Verhältnis zum Judentum. Somit ist die Frage, wer im Diskurs um Psychopathologie und »Rasse« ein jüdischer Autor war, nicht zufriedenstellend zu beantworten.125 124 Eine Bestimmung allein nach konfessioneller Zugehörigkeit vernachlässigt, dass es heute wie damals Personen gab, die ihre Zugehörigkeit zum Judentum eher als kulturelle Prägung denn als alleinige Religionszugehörigkeit verstanden. Auch gab es umgekehrt in dem Zeitraum, den diese Arbeit umfasst, auch eine Reihe von Personen, die selbst oder deren Eltern zum christlichen Glauben konvertiert waren, aber von ihrer Umwelt trotzdem als »jüdisch« wahrgenommen und behandelt wurden. Zu dieser Problematik MOSHE ZIMMERMANN, Die Juden in Deutschland. 1918-1945, Tübingen, 80-84, hier: 81- 83. 125 Leider existiert für keinen der hier erwähnten Wissenschaftler mit jüdischem Hintergrund ein Nachlass oder andere autobiographische Quellen. Die einzige Ausnahme davon bildet Moritz Benedikt, der in seiner Biographie seine jüdische Herkunft aber nur sehr am Rande erwähnt. MORITZ BENEDIKT, Aus meinem Leben: Erinnerungen und Erörterungen, Wien, 1906. Becker und Singer erwähnen ihr Judentum jedoch in ihren Texten und halten sich gerade deshalb für befähigt, etwas dazu zu schreiben. Vgl. die Vorworte (ohne Seitenzahlen) von BECKER, Die jüdische Nervosität. Ferner SINGER, Krankheitslehre.
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Angesichts der großen Aufmerksamkeit, die diese Frage in der Historiographie bislang bekommen hat, soll dieser Aspekt jedoch auch nicht komplett ignoriert werden. Auch wenn keine Aussagen darüber gemacht werden können, wer sich selbst als Jude verstand, so gibt es dennoch eine große Anzahl von Autoren im Diskurs, bei denen anzunehmen oder zu vermuten ist, dass sie jüdisch waren oder aus einer jüdischen Familie stammten: Einige wenige erwähnen ihre Konfessionszugehörigkeit in ihren Texten.126 Ein größerer Teil wird in den zeitgenössischen jüdischen Nachschlagewerken aufgeführt, wie z. B. in Winingers National-Biographie, dem Kaznelson, oder dem Jüdischen Lexikon, wobei hier zumeist eine Fremdzuordnung zugrundeliegt.127 Bei einer weiteren Gruppe konnte ich durch biographische Recherchen in Nekrologen, der Sekundärliteratur sowie in Nachschlagewerken ermitteln, dass sie Mitglied einer jüdischen Gemeinde waren, oder dass sie von den Nationalsozialisten »rassisch« verfolgt wurden.128 Wenn man sich die Publikationen dieser Gruppe von Wissenschaftlern, mit diesem sehr diversen »jüdischem Hintergrund« ansieht, dann bestätigt sich innerhalb des Diskurses um »Rasse« und Psychopathologie die von der bisherigen Forschungsliteratur herausgearbeitete These einer eigenen Positionierung dieser Wissenschaftler. Auch für die Wissenschaftler mit solchem »jüdischem Hintergrund«, die sich zum Thema Psychopathologie und »Rasse« äußerten, trifft das zu, was Lipphardt für die Debatte um die »Biologie der Juden« beschrieben hat: »Die Positionen der jüdischen und nichtjüdischen Debattenteilnehmer unterschieden sich weniger durch prinzipiell verschiedene Narrationen, vielmehr verwendeten sie unterschiedliche Narrativkombinationen. Die meisten Biowissenschaftler mit jüdischem Hintergrund versuchten, die Juden der biologischen Logik des Rassenbegriffs zu entziehen, sie einem anderen Bereich unterzuordnen, ohne den Rahmen der Biologie zu verlassen. Ihre Argumentationen rich126 MARTIN ENGLÄNDER, Die häufigsten Krankheitserscheinungen der jüdischen Rasse, Wien 1902, 4; FRIGYES, Geistes- und Nervenkrankheiten (Diss.). o. S. [Lebenslauf]; SINGER,
Krankheitslehre, III.
127 Encyclopedia Judaica. Das Judentum in Geschichte und Gegenwart. Bd 1-10, Berlin 1928-1934 [mehr nicht erschienen]; GEORG HERLITZ und BRUNO KIRSCHNER, Jüdisches Lexikon. Eine enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden, Berlin 1927-1930; SIEGMUND KAZNELSON, Juden im deutschen Kulturbereich. 3. Auflage, Berlin 1962; S[ALOMON] WININGER, Große jüdische National Biographie mit mehr als 8000 Lebensbeschreibungen nahmhafter jüdischer Männer und Frauen aller Zeiten und Länder. Ein Nachschlagewerk für das jüdische Volk und dessen Freunde, [Czernowitz] 19251935. 128 CLAUS-DIETER KROHN (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945, Darmstadt 1998; Yad Yashem Holocaust Victim’s Database. http://www.yadvashem.org/wps/portal/IY_HON_Welcome, [letzter Zugriff 2. Juni 2013].
102 | P SYCHOPATHOLOGIE UND »RASSE « teten sich gegen das Narrativ der reinen, fremden, unabänderlichen ›Rasse‹ mit minderwertigen Eigenschaften, aber nicht gegen die Zuständigkeit der Biologie in dieser Streitfrage«.129
In meinen Quellen bestätigt sich, dass Wissenschaftler mit jüdischem Hintergrund häufiger als andere versuchten, für die von ihnen ebenfalls angenommene psychopathologische Differenz der Juden eine andere Erklärung als die der rassischen Eigenschaften stark zu machen. Das Beispiel Max Sichels habe ich bereits geschildert. In der Regel lehnten diese Wissenschaftler »Rasse« als Erklärung zwar nicht komplett ab, versuchten aber, durch eine Argumentation, die die besonderen Lebensumstände der Juden in Vergangenheit und Gegenwart betonte, die Veränderlichkeit und Umweltabhängigkeit der behaupteten »Psychopathologie der Juden« zu betonen. Diese Erklärungen begründeten die angenommene psychopathologische Differenz der Juden aufgrund einer Mischung aus vergangenen und gegenwärtigen Lebensumständen. Damit zogen sie eine Erklärung vor, in der die »Kultur« gegenüber der »Anlage« betont wurde. Dies stellte zwar eine Alternative zu einer Position dar, die Rassenunterschieden als Grundlage einer psychopathologischen Differenz stark machte. Andererseits blieb ein Großteil der Argumentationen einer Sichtweise verhaftet, die eine Häufung psychischer Krankheiten bei Juden aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu der Gruppe der Juden bestätigte. Letzteres betraf insbesondere die Auslegungen, die das biologische Prinzip der Vererbung hinzuzogen. Es lassen sich aus den Positionen der Wissenschaftler mit jüdischem Hintergrund zwar nicht-rassische Deutungsversuche ablesen. Insbesondere die Tatsache, dass sie die Juden als Kollektiv wahrnahmen, und diesem Kollektiv psychische Krankheiten zuschrieben, unterstützte jedoch die These der Andersartigkeit der Juden.
129 LIPPHARDT, Biologie der Juden, 314.
3 Die Chronologie des Diskurses
3.1 D IE ERSTE P HASE : 1890-1914. ANFANG UND E TABLIERUNG DES D ISKURSES ÜBER »R ASSE « UND P SYCHOPATHOLOGIE Der Diskurs um Psychopathologie und »Rasse« besaß eine lange Vorgeschichte. Die Veröffentlichung eigenständiger wissenschaftlicher Publikationen, die das Verhältnis von »Rasse« und Psychopathologie thematisierten, begann jedoch erst im Jahrzehnt vor der Wende zum 20. Jahrhundert. Dem voran ging die Rezeption internationaler Literatur. So konnte der interessierte Leser beispielsweise die internationale Forschung in den Literaturberichten der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie bereits ab den 1880er Jahren durch die dort referierten Aufsätze nachvollziehen. Das Thema war in anderen Ländern schon einige Jahrzehnte früher wissenschaftlich bearbeitet worden. Insbesondere die medizinische Zunft der europäischen Kolonialmächte Großbritannien, Frankreich und Niederlande scheinen mit ihren Publikationen über »Rasse« und Psychopathologie Vorreiter gewesen zu sein.1 Diese Literatur fand ihren Niederschlag auch in den Literaturberichten, also den Besprechungen, der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie. Während in den Jahren 1880 bis 1890 fünf internationale Aufsätze referiert wurden, stieg diese Anzahl im darauffolgenden Jahrzehnt deutlich: Zwischen 1890 und 1900 wurden 21 solcher Aufsätze in den Literaturberichten erwähnt und besprochen. Die Tatsache, dass die internationalen Forschungsergebnisse in der deutschsprachigen Psychiatrie rezipiert wurden, kann als Zeichen für ein starkes Interesse an der Thematik gewertet wer1
Ferner fand die Debatte vor allem im kolonialen Kontext statt WALTRAUD ERNST, Mad Tales from the Raj: Colonial Psychiatry in South Asia, 1800-1858; WALTRAUD ERNST, Colonial policies, racial politics and the development of psychiatric institutions in early 19th-century British India. In: Dies. und Bernard Harris (Hg.), Race, science and medicine, 1700-1960, London 1999, 80-100; KELLER, Colonial Madness; POLS, Native Mind. Einen Überblick bieten VAUGHAN und MAHONE (Hg.), Psychiatry and Empire.
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den. Es ist davon auszugehen, dass diese Veröffentlichungen auch dazu beitrugen, dass das Thema »Rasse« von Psychiatern und Neurologen in ihren Lehr- und Handbüchern aufgegriffen wurde, auch wenn diese sich nicht explizit darauf beriefen. Die ersten Originalien zu Psychopathologie und »Rasse« im deutschen Sprachraum wurden im letzten Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende publiziert: Zwischen 1890 und 1900 erschienen sechs Veröffentlichungen, davon vier von internationalen Autoren.2 Bis zur Jahrhundertwende überwog in diesen Texten ein argumentativ-narrativer, zuweilen fast anekdotischer Stil eines Erfahrungsberichtes, bei dem selbst gewonnene Beobachtungen einflossen und auch Zahlen präsentiert wurden. Rassenpsychiatrische Literatur, die nichteuropäische Bevölkerungen zum Thema hatte, beschäftigte sich in dieser Phase hauptsächlich mit Bevölkerungsgruppen aus Nordund Südamerika und Südostasien. Auch Texte über die Tropenneurasthenie erschienen, in denen es um die nervliche Belastung der »weißen Rasse« in den Tropen ging und die von Tropenmedizinern veröffentlicht wurden. Ab der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert intensivierte sich die Publikationstätigkeit in der Auseinandersetzung über Psychopathologie und »Rasse« im deutschen Sprachraum. Gleichzeitig waren die Ergebnisse der internationalen Literatur zum Thema weiterhin von Interesse für das deutschsprachige psychiatrische Fachpublikum: In den Literaturberichten der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie wurde von 1900 bis 1914 zum Teil ausführlich über 24 Aufsätze aus nordamerikanischen, französischen, niederländischen und US-amerikanischen Zeitschriften referiert. Ab 1900 entstanden vermehrt Aufsätze und systematische empirische Untersuchungen, in denen eigens erhobene Patientendaten ausgewertet wurden. Die Studie des österreichischen Psychiaters Alexander Pilcz, Geistesstörungen bei den Juden von 1901, war die erste, die mit eigens erhobenen Daten aus dem deutschen Sprachraum arbeitete und damit mit den Juden eine bislang nicht separat behandelte Gruppe in die Auseinandersetzung um Psychopathologie und »Rasse« miteinschloss. In den folgenden Jahren nahm die rassenpsychiatrische Beschäftigung mit Juden zu. Sie machte im Diskurs um Psychopathologie und »Rasse« bald den Schwerpunkt in den Publikationen aus. Bis zum Ersten Weltkrieg wurde die Frage nach dem Zusammenhang zwischen »Rasse« und Psychopathologie verstärkt behandelt. Zwischen 1908 und 1911 stieg die Anzahl an Publikationen an – es erschienen mehr rassenpsychiatrische Publikationen als jemals zuvor – um dann vor dem Ersten Weltkrieg wieder zu sinken. 2
WITMER, Geisteskrankheit, BRERO, Latah; BRERO, Geisteskrankheiten; BUSCHAN, Einfluss der Rasse; CHRISTIAN RASCH, Über die Amokkrankheit der Malayen. In: Neurologisches Zentralblatt 14/1895, 856-859; ROCHA, Bemerkungen.
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1911 publizierte Béla Révész einen Beitrag, der auch eine erste umfassende Bibliographie und Sammelrezension zum Thema rassenpsychiatrische Forschung enthielt.3 Auch in die breitere Öffentlichkeit sickerte das Wissen um einen angeblichen Zusammenhang von Psychopathologie und »Rasse« ein. 1906 ist in Meyers Konversationslexikon unter dem Eintrag »Menschenrassen« neben der pathologischen auch die psychopathologische Konstitution von Menschen als Rassenmerkmal angeführt. Dort ist zu lesen, dass »Anlage und Neigung zu bestimmten Erkrankungen und die Immunität gegen andere zu den Rassenmerkmalen gerechnet werden« müssen. So neigten »die nordischen Völker […] mehr zu Schwermut und Selbstmord«, die südeuropäischen »mehr zu Manie und Tobsucht.« Und schließlich sei auch bei den »semitischen Völkern […] die Neigung zu Nerven- und Geisteskrankheiten besonders groß.«4 3.1.1
Der »gesunde Wilde« – Kolonialmedizin und der Diskurs über »Rasse« und Psychopathologie
Kolonialpsychiatrie in den deutschen Kolonien Die internationale Literatur, die in den deutschsprachigen psychiatrischen Zeitschriften auftauchte, beschäftigte sich wie betont häufig mit dem psychischen Zustand der kolonisierten Bevölkerung. Davon wich die deutschsprachige Auseinandersetzung um »Rasse« und Psychopathologie ab: Es fällt auf, dass kaum Beiträge über die deutschen Kolonien erschienen.5 Emil Kraepelin fuhr wie schon erwähnt 1904 in eine niederländische Kolonie, nämlich auf die Insel Java in NiederländischIndien, um dort über »fremde Rassen« zu forschen. Auch deutsche Kolonialmediziner schienen sich für dieses Thema zunächst nur am Rande zu interessieren. Ein Blick etwa in das Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene, der maßgeblichen kolonialmedizinischen Zeitschrift der Zeit, ergibt nur wenige Publikationen zu diesem Thema. Zumindest was die psychische Gesundheit der »einheimischen« Bevölke-
3 4
RÉVÉSZ, Die rassenpsychiatrischen Erfahrungen. Menschenrassen. Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Bd. 13, Lyrik – Mitterwurzer, 6. Auflage Leipzig 1906, 611-614, 611.
5
Béla Révész‘ Publikation behandelt zwar auch die Kolonien, vor dem Ersten Weltkrieg erschienen jedoch nur einzelne Publikationen, die sich mit den psychischen Zustand der kolonisierten Bevölkerung beschäftigten. Die Aufsätze, die erschienen, behandelten durch exogene Faktoren ausgelöste psychische Leiden, wie etwa MAX LUBENAU, Katatonie bei einem Neger nach Leistenbruchoperation. In: Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene 12/1908, 698-702; ADALBERT RÄBIGER, Geisteskrankheit bei einem Kamerunneger, bedingt durch Porocephaliasis. In: Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene 14/1910, 170-174.
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rung anging, schwiegen die Psychiater und Kolonialmediziner. Wie noch zu zeigen sein wird, waren dagegen die Auswirkungen der Tropen auf die »weiße Rasse« ein wichtigeres Thema. Die Indifferenz der Kolonialmediziner gegenüber den Geisteskranken in den afrikanischen Kolonien wird von Walter Bruchhausen damit erklärt, dass die deutsche Tropenmedizin sich an den Prioritäten der Kolonialpolitik ausrichtete, die allein an der Arbeitskraft der afrikanischen Kolonialbevölkerung interessiert gewesen sei. Da psychische Krankheiten die Arbeitskraft der kolonialen Bevölkerung nicht in einem solchen Maße bedrohten wie Infektionskrankheiten – das Hauptbeschäftigungsfeld deutscher Tropenmediziner – sei die Motivation, sich damit zu beschäftigen, gering gewesen.6 Bruchhausen folgt hier einer verbreiteten Auffassung der Kolonialhistoriographie, die die ökonomische Nutzbarmachung der kolonialen Bevölkerung als wesentlichen Motor der späteren deutschen Kolonialpolitik und -medizin auffasst.7 Zu einer anderen Einschätzung kommt Albert Diefenbacher. Er meint, Kolonialmediziner hätten zunächst die Vorstellung vertreten, psychische Erkrankungen bei den »Naturvölkern« Afrikas seien selten oder gar nicht vorhanden.8 Um 1900 setzte nach Diefenbacher jedoch ein Umdenken ein: Nun berichteten Kolonialärzte häufiger über Geisteskrankheiten auch bei der kolonialisierten Bevölkerung. Der Tenor lautete nun, dass die Annahme, afrikanische »Eingeborene« blieben von psychischen Leiden verschont, falsch gewesen sei.9 Ein Resultat dieser veränderten Wahrnehmung, so Diefenbacher, sei die Gründung der ersten (und einzigen) Irrenanstalt in den deutschen Kolonien gewesen: 1905 wurde die psychiatrische Anstalt Lutindi in Westusambara in Deutsch-Ostafrika errichtet.10 Die Initiative sei von der Kolonialverwaltung ausgegangen, die, obwohl es keinen wirklich dringenden Bedarf für die Unterbringung psychiatrischer Patienten gegeben habe, die Notwendig6
BRUCHHAUSEN, Sind die »Primitiven« gesünder?, hier: 43-45.
7
Diese Interpretation der Kolonialgeschichte gilt allerdings erst für die Periode ab der Einsetzung von Bernhard Dernburg als Gouverneur der deutschen Kolonien ab 1907. SEBASTIAN
CONRAD, Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008, 36ff. Den Zusammen-
hang von wirtschaftlichen Motiven und einer rassistischen Begründung der Kolonialmedizin, die medizinische Maßnahmen in erster Linie mit einer besseren ökonomischen Verwendung bzw. Ausbeutung der Kolonialisierten rechtfertigte, beschreibt auch ECKART, Medizin und Kolonialimperialismus, 57-72. Eine umfangreiche und differenziertere Analyse dazu bietet PASCAL GROSSE, Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft 1850-1918, Frankfurt a. M.; New York 2000. 8
DIEFENBACHER, Psychiatrie und Kolonialismus, 148.
9
Ebenda.
10 Ebenda. Darüber hinaus existierten in den chinesischen Kolonien Tsingtau und Kiatschou jeweils Abteilungen in Krankenhäusern, die psychisch Erkrankte aufnahmen. ECKART, Medizin und Kolonialimperialismus, 316f., 476, 493.
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keit und das »längst empfundenen Bedürfnis« nach einer solchen Anstalt postulierte.11 Das vermehrte Interesse an den »kolonialisierten Geisteskranken«, das sich allerdings auf die Ärzte in den Kolonien sowie die Kolonialverwaltung beschränkte, habe dann zum Bau von Lutindi geführt, die wie gesagt die einzige deutsche kolonialpsychiatrische Anstalt blieb. In der deutschsprachigen medizinischen Fachpresse stießen allerdings sowohl die Gründung der Anstalt wie auch die psychiatrische Situation in den deutschen Kolonien nach wie vor auf keine Resonanz.12 Es bleibt offen, ob die Beschäftigung mit »Rasse« und Psychopathologie einerseits und das Engagement der Kolonialverwaltung an der »Disziplinierung der kolonialen Irren« andererseits langfristig zu einem stärkeren Interesse deutschsprachiger Ärzte an der Kolonialpsychiatrie geführt hätte, wäre die deutsche Kolonialherrschaft nicht durch den Ersten Weltkrieg beendet worden. Die Entwicklungen in den anderen afrikanischen Kolonien sprechen dafür, dass das Fehlen der deutschen Kolonialpsychiatrie viel mit der kurzen Kolonialherrschaft des Deutschen Reiches zu tun hatte. Frankreich und Großbritannien verstärkten ihr psychiatrisches Engagement in Afrika in den Jahrzehnten ab der Jahrhundertwende. So fanden 1908 und 1912 erste Tagungen der Vereinigung französischer und französischsprachiger Psychiater und Neurologen statt, die sich explizit mit der kolonialpsychiatrischen Situation beschäftigten, der zweite davon in Tunis, um die kolonialpsychiatrische Situation vor Ort zu beleuchten.13 Auch der Bau von Psychiatrien begann in Afrika erst in den 1910er und 1920er Jahren in größerem Maßstab, zu einem Zeitpunkt, an dem die deutsche Kolonialherrschaft schon dem Ende entgegen ging bzw. beendet war. 14
11 DIEFENBACHER, Psychiatrie und Kolonialismus, 46-53, Zitat 49. 12 Ebenda, 141-143. Im Deutschen Koloniallexikon, dass vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben, jedoch erst 1920 gedruckt wurde, war Lutindi zumindest erwähnt: HEINRICH WERNER, Geisteskrankheiten. In: Heinrich Schnee (Hg.), Deutsches Koloniallexikon, Leipzig 1920, 688-690, 689. Erst 1934 erschien ein Bericht über die Arbeit in Lutindi in der psychiatrischen Fachpresse: G. P. RICHARD BRACHWITZ, Dreissig Jahre Geisteskrankenbehandlung in Deutsch Ostafrika. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 102/1934, 362-369. 13 Der Congrès des médecins aliénistes et neurologistes de France et des pays de langue française beschäftigte sich 1908 in Dijon erstmals mit der Kolonialpsychiatrie und tagte daraufhin 1912 mit diesem thematischen Fokus in Tunis. KELLER, Colonial Madness, 29. 14 Die erste psychiatrische Anstalt auf dem afrikanischen Kontinent entstand an der Wende zum 20. Jahrhundert in Cairo. KELLER, Madness and colonization: psychiatry in the British and French empires, 1800-1962, 304f. Zur Entwicklung kolonialer Psychiatrien im 20. Jahrhundert vgl. auch KELLER, Colonial Madness; MCCULLOCH, Colonial psychiatry and the »African mind«; VAUGHAN, Curing their ills. Vor allem in Indien war allerdings bereits Anfang des 20. Jahrhunderts ein Netzwerk psychiatrischer Institutionen etabliert.
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Ein weiterer Grund für das fehlende Interesse an der Existenz von Lutindi wird wohl im Charakter der Einrichtung zu suchen sein. Zunächst war Lutindi eher klein: bei der Gründung 1905 gab es Platz für bis zu 15 Patienten und Patientinnen. 1916, als das britischen Militär Deutsch-Ostafrika besetzte, war Lutindi auf 86 Plätze angewachsen.15 Träger der Anstalt war der Evangelische Afrikaverein, der eng mit den Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel verbunden war und der im Rahmen der Bethelschen Missionsarbeit gegründet worden war.16 Das Personal, d. h. die Diakone, die die Anstalt leiteten, wurden in den Bodelschwinghschen Anstalten ausgebildet und von dort entsandt, auch war die therapeutische Ausrichtung der Irrenpflege in Lutindi an dem dortigen Vorbild orientiert.17 Lutindi war damit also eine Institution der christlichen »Irrenseelsorge« und Missionsarbeit, die unter der Leitung eines Theologen stand und keine medizinische Anstalt unter der Oberaufsicht eines Arztes.18 Dies und die generelle Skepsis der medizinischen Zunft gegenüber den Bodelschwinghschen Anstalten, die primär an dem Ideal der christlichen Nächstenliebe und weniger an medizinisch-wissenschaftlichen Prämissen orientiertet waren, dürften der Grund gewesen sein, dass die Existenz von Lutindi sowohl in psychiatrischen wie auch tropenmedizinischen Fachkreisen nicht zur Kenntnis genommen wurde.19 Dazu kam noch, dass Lutindi über keinen psychiatrisch interessierten oder ausgebildeten Arzt verfügte, der Berichte über die Arbeit in Lutindi in der psychiatrischen oder tropenmedizinischen Fachpresse hätte unterbringen können.20 Es zog daraufhin auch niemand die »Irrenanstalt« Lutindi als Ort für rassenpsychiatrische Untersuchungen in Betracht.21 Der evangelische Afrikaverein hatte Vgl. WALTRAUD ERNST, Psychiatry and Colonialism: Lunatic asylums in British India, 1800-1858. In: Society for the Social History of Medicine Bulletin 39/1986, 27-31. 15 DIEFENBACHER, Psychiatrie und Kolonialismus, 66,75. 16 Der Evangelische Afrikaverein wurde 1893 in Berlin unter der Mitwirkung von Friedrich von Bodelschwingh, der später auch im Vorstand agierte, gegründet. Ebenda, 53. 17 Ebenda, 78-83. 18 Ebenda, 93-96. 19 Ebenda, 145. 20 Eine Ausnahme führt Diefenbacher an: den Aufsatz des Leiters des Tübinger Deutschen Instituts für Ärztliche Mission: GOTTLIEB OLPP, Englische und deutsche MissionsKrankenanstalten in den Tropen. In: Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene 16/1912, 184-197, DIEFENBACHER, Psychiatrie und Kolonialismus, 147. 21 Der Bericht über die Anstalt Buitenzorg auf Java, den der dortige Leiter der Anstalt Hofmann 1902 auf Deutsch und explizit in der Hoffnung auf wissenschaftliches Interesse publiziert hatte, war einer der Gründe, warum sich Kraepelin dazu entschloss, dorthin seine Forschungsreise zu unternehmen. Vgl. Johan Wilhelm HOFMANN, Bericht über die Landesirrenanstalt in Buitenzorg (Java, Niederländisch-Ostindien) von 1894 bis Anfang Juli 1901, Batavia 1902. KRAEPELIN, Lebenserinnerungen, 123.
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zwar einen Arzt nach Lutindi entsandt, dieser besaß jedoch keine psychiatrische Fachausbildung und sah seine Aufgaben selbst hauptsächlich in allgemeinmedizinischen Tätigkeiten für die restliche Kolonialbevölkerung, nicht in der Beschäftigung als »Irrenarzt«.22 Er übernahm die Oberaufsicht für Lutindi zwar formell, wohnte jedoch in einem benachbarten Ort und seine dokumentierten Tätigkeiten bei den gelegentlichen Besuchen beschränkten sich auf das Ausstellen von Attesten.23 Der »gesunde Wilde« im Diskurs Obwohl also innerhalb der deutschsprachigen Psychiatrie die »kolonialen Geisteskranken« in den deutschen Kolonien auf geringes Interesse stießen, existierte durchaus Literatur, die aus anderen europäischen Kolonien stammte oder die Psychopathologie anderer »nichtweißer« Bevölkerungen behandelte. Auch hier war die Vorstellung grundlegend, dass diese Gruppen wenig oder überhaupt nicht unter psychischen Erkrankungen litten. In diesen Publikationen verfestigten sich zwei Topoi, die sich durch die gesamten Publikationen um Psychopathologie und »Rasse« ziehen, aber bereits ältere Wurzeln besaßen. Zunächst wurden die nichtweißen, außereuropäischen »Rassen« in Gänze als »primitiv« bzw. »Naturvölker« portraitiert.24 Dazu zählten in den Publikationen des Diskurses erstens sogenannte farbige oder schwarze »Rassen« unter dem Oberbegriff »Neger«, wozu sowohl Afrikaner als auch die afrostämmigen ehemaligen Sklaven Nord- und Südamerikas gezählt wurden. Als »primitiv« oder »Naturvölker« erschienen im Diskurs zweitens die Bewohner tropischer Gegenden, wie die Malayen und andere Bevölkerungsgruppen aus dem Raum des heutigen Südostasiens und Indonesiens. Die beiden Topoi, die sich im Zusammenhang mit den genannten Zuschreibungen durch den Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie zogen, sind folgende: Der erste war die Behauptung, dass diese »Rassen« »ursprünglich« und »naturnah« seien, womit die Zuschreibung einherging, es mangele ihnen an intellektuellen Fähigkeiten sowie Moral oder Charakterstärke. Das führte zum zweiten Topos vom »gesunden Wilden«. Die vorherrschende Meinung war, dass die geringe Quote an psychischen Leiden bei den »Naturvölkern« ihrem naturnahen Leben fern der Zivilisation zuzuschreiben war. »Bei den noch im ursprünglichen Zustande lebenden Negern sind Geisteskrankheiten sehr selten«, so Botho Scheube in seinem Handbuch Die Krankheiten der warmen
22 DIEFENBACHER, Psychiatrie und Kolonialismus, 93-96. 23 Ebenda. 24 Die Zuschreibung der Primitivität in dieser Absolutheit galt hauptsächlich Außereuropäern, wurde aber auch z. T. auf Europäern angewandt, beispielsweise auf die »Balkanvölker« MATTAUSCHEK, Einiges über die Degeneration.
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Länder. Auch seien ihre geistigen Fähigkeiten zu unterentwickelt, als dass sie eine ausgefeilte psychische Symptomatik entwickeln könnten.25 Das Bild des »gesunden Wilden« vereinigt also zwei Vorstellungen, die beide auf die Aufklärung zurückgehen: Die des »edlen Wilden« und die des Zusammenhangs zwischen Zivilisation und Krankheit.26 Das Konzept der Zivilisationskrankheit wurde im deutschen Sprachraum mit der rapiden Urbanisierung und Industrialisierung im späten Kaiserreich neu aufgegriffen, wobei die Sorge um die krankheitsverursachende Wirkung der »Zivilisation« nun besonders den nervösen und psychischen Leiden galt.27 Die Entfremdung von der Natur, die urbane Lebensweise, Lärm, Hektik, häufige intellektuelle, statt körperlicher Arbeit – diese Phänomene wurden als negative Einflüsse auf Gehirn und Nerven gedeutet. Zu viel von dem, was als Inbegriff des »modernen Lebens« wahrgenommen wurde, galt als schädlich.28 Als Gegenbild des übermodernen Menschen galt der »Primitive« oder »Naturmensch«, der ohne Entfremdung von der Natur und ohne Zivilisation lebte und insofern auch nicht die zivilisationsbedingten Leiden von Nerven und Psyche erdulden musste. Das Konzept vom »gesunden Wilden« war dabei äußerst ambivalent: Es glorifizierte zwar einerseits die geringe Entfremdung des »Naturmenschen« von einer als ursprünglich, unverfälscht und gesund angenommenen Lebensweise, sprach ihm jedoch gleichzeitig ab, »zivilisiert« und damit dem »Kulturmenschen« gleichwertig zu sein. Die angebliche Primitivität des »Naturmenschen« – zivilisatorische und kulturelle Rückständigkeit, geringere Intelligenz und moralische Minderwertigkeit – bildet den Grundtenor in den rassenpsychiatrischen Publikationen bei der Beschreibung aller nichtweißen »Rassen«. Zehn Jahre, nachdem die Sklaverei in Brasilien endgültig abgeschafft worden war,29 notierte z. B. der brasilianische Psychiater da
25 BOTHO SCHEUBE, Die Krankheiten der warmen Länder. Ein Handbuch für Ärzte, Jena 1903, 773. 26 Zum »edlen Wilden« URS BITTERLI, Die »Wilden« und die »Zivilisierten«: Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1991, 367-425; KARL-HEINZ KOHL, Entzauberter Blick: das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation,1986. Zum Topos der Zivilisationskrankheit VOLKER ROELCKE,
Zwischen individueller Psychotherapie und politischer Intervention: Strategien
gegen Zivilisationskrankheiten zwischen 1920 und 1960. In: Das Gesundheitswesen 57/1995, 443-451; ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik, 112-165. 27 ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik, 112-165. 28 Ebenda. 29 Die endgültige Abschaffung der Sklaverei fand in Brasilien erst 1888 statt. Zum Verhältnis von Sklaverei und Rassismus und dem brasilianischen Mythos der »Rassenharmonie«, welche angeblich in Brasilien geherrscht habe s. PRIESTER, Rassismus, 125-145.
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Rocha die vermeintlich unterschiedlichen psychopathologischen Rasseneigenschaften, die er bei seinen afro-brasilianischen Patienten beobachtet hatte: »Das Irresein muss bei einer merklich niederen Rasse, wie es die Negerrasse vom geistigen Standpunkt aus wirklich ist, Erscheinungen darbieten, welche im Allgemeinen sie von dem der höheren Rassen auszeichnen. Es ist dies so klar, dass es keiner weiteren Erörterung bedarf. Die tiefere geistige Stellung bietet bei den krankhaften Erscheinungen des Gehirns solche Unterschiede, wie wir dieselben leicht und in allgemeinen Zügen bei den Kindern beobachten können«.30
Auch Pieter C.J. Brero, ein Psychiater, der in der Anstalt Buitenzorg auf Java tätig war, greift bei seiner Beschreibung der javanischen Bevölkerung die angebliche »Primitivität« der Javaner auf. Er beschäftigte sich mit dem Vorkommen von »Latah«, als deren Kennzeichen eine völlige Willenlosigkeit galt, in der die Personen gezwungen seien, Bewegungen und Wörter unkontrolliert zu imitieren. Brero diagnostiziert eine »Schwächung des Willens«, der diese Symptome erkläre. Die Symptome seien ein »Beweis für die gebrechliche Herrschaft des Willens über die niedrigen Centren« und: »[d]er Sitz dieser Processe muss in der Hirnrinde gesucht werden«.31 Zwar macht er später noch eine Einschränkung, dass der Wille sowohl »Resultante erblicher Eigenschaften und jahrelanger Erfahrung« sei, und diese »Inferiorität« des Willens bei seinen autochthonen Patienten auch durch die Tatsache bedingt sei, dass sie »immer als Unmündige betrachtet worden« seien. Trotzdem schließt er, dass »[v]on sehr überwiegendem Einfluss […] gewiss ein labiles Nervenleben diesem Volke eigen« sei.32 Aber wie kam es, dass man überhaupt psychische Erkrankungen bei den sogenannten »Naturvölkern« thematisierte, wo man eigentlich doch annahm, dass sie aufgrund ihrer vermeintlichen Zivilisationsferne davon verschont geblieben seien? Wie bereits erwähnt hatten die Kolonialärzte feststellen müssen, dass psychische Erkrankungen nicht so selten vorkamen, wie es die Idee von den vermeintlich zivilisationsfernen »gesunden Naturvölkern« vorzugeben schien, auch wenn immer noch häufig von der Seltenheit psychischer Erkrankungen bei nichteuropäischen »Rassen« die Rede war. Einige meinten zwar, im Vorkommen psychischer Erkrankungen bei »Naturvölkern« den Beleg zu sehen, »dass nicht eine hochstufige Civilisation allein Geisteskrankheiten schafft«.33 Häufiger waren jedoch Stimmen zu hören, die die Erklärung darin suchten, dass durch die Kolonisierung die westliche 30 ROCHA, Bemerkungen, 134. 31 BRERO, Latah, 944f. 32 Ebenda, 945. 33 KARL DÄUBLER, Die Grundzüge der Tropenhygiene. Zwei Theile in einem Band: Tropenhygiene - Tropenpathologie, München 1900, 362.
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Kultur auch die ursprünglich »primitiven Rassen« erreicht hätte. Über die Situation in Südafrika hieß es z. B. 1895, dass die »Hottentotten«, welche in Afrika wohl am längsten dem Kontakt mit der westlichen Zivilisation ausgesetzt gewesen seien, »sogar eine größere Erkrankungsziffer als die Weißen der Kapkolonie« besessen hätten.34 Und auch ein weiterer Autor machte die Berührung mit der Zivilisation für das Auftreten einer psychischen Erkrankung, nämlich der Hysterie verantwortlich: diese fände sich »fast nur bei denjenigen Negervölkern, die am meisten und längsten mit den Weißen in Berührung gekommen sind.«35 Die schädlichen Auswirkungen der Zivilisation auf »Naturvölker« zeigte sich nach der vorherrschenden Meinung auch in Nordamerika unter den dortigen ehemaligen Sklaven. 1894 versuchte Abraham Witmer Erklärungen für die von ihm konstatierte Zunahme psychischer Erkrankungen bei Afroamerikanern nach der Sklavenbefreiung auszumachen. Witmer argumentierte nun, dass es vor dem Bürgerkrieg nur wenig Geisteskranke unter den Afroamerikanern gegeben habe, sowie dass deren Zahl nach der Sklavenbefreiung zugenommen habe.36 Dafür führte Witmer charakterliche Unterschiede an: Die nordamerikanischen »Neger« seien »von Natur aus furchtsam und argwöhnisch [...], sowie erregbar und empfindlich für die Unglücksfälle des Krieges, die politischen Ereignisse und die Einflüsse der Religion«.37 Daher hätten sie besonders unter den Umwälzungen der letzten Zeit gelitten, unter der Sklavenbefreiung, die ihnen »aufregende Zeiten« eine »unregelmässige Lebensweise« sowie »neue, ungewohnte Forderungen« beschert hätte: »das freie Leben und die vorschreitende Civilisation«.38 Vererbung sei für die größere Anzahl psychischer Leiden unter den Afroamerikanern nicht verantwortlich zu machen, denn »die Geschichte ihrer Freiheit ist noch zu jung, als dass sich die degenerierenden Einflusse der Civilisation in der Nachkommenschaft der eben erst befreiten Sklaven schon äussern könnte«.39 Waren vor der Emanzipation »Gesundheit und Sittlichkeit der Sklaven sorgsam behütet«, sowie »Trunkenheit sowie geschlechtliche Ausschweifungen und Krankheiten nach Kräften gesteuert«, seien sie nun »dem Ansturm dieser so fruchtbaren Ursachen des Irreseins erlegen«.40 Durch »Weltunerfahrenheit«, und ohne »gesunde Philosophie und Religion«, die den 34 LOMER, Beziehungen, 36. 35 GEORG BUSCHAN, Einfluss der Rasse auf die Form und Häufigkeit pathologischer Veränderungen. Ein Beitrag zur Rassenpathologie. In: Globus 67/1895, 21-24, 143. 36 Witmer bezieht sich in seinen Ausführungen nicht auf die Volkszählung von 1840, sondern nur auf die folgenden Zählungen von 1860, 1880 und 1890. WITMER, Geisteskrankheit, 669-674. 37 Ebenda, 674. 38 Ebenda. 39 Ebenda, 675. 40 Ebenda, 674.
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»Aufregungen« hätten gegensteuern können, sei das Gehirn von vielen unter ihnen »der dauernden Anspannung, welche ihre fortschreitende Civilisation an sie stellte, unterlegen«.41 Das Beispiel von Witmer zeigt, dass er den Grund für die angebliche Zunahme psychischer Leiden unter Afroamerikanern nicht in der »plötzlichen« Zivilisation an sich sah, sondern in der vermeintlichen charakterlichen und verhältnismäßigen Unfähigkeit der ehemaligen Sklaven, sich auf die veränderte Lebenssituation in einem Leben in Freiheit einzustellen. Witmer bediente sich etablierter rassistischer Stereotypen, indem er die ehemaligen Sklaven als ängstlich, leicht durch äußere Einflüsse erregbar, nicht in der Lage, sich sexuell zu mäßigen oder dem Alkohol zu enthalten und ohne geistige oder sittlich-moralische Festigung zeichnete. Mit dieser Zuweisung schob er den ehemaligen Sklaven selbst und ihren angeblichen moralischen und charakterlichen Mängeln die Verantwortung für das Scheitern an den neuen Anforderungen der Zivilisation und an ihren gesteigerten Erkrankungszahlen zu. 3.1.2
Exkurs: »Nervöse Juden« und »gesunde Naturvölker« in der Debatte um »Kultur« und »Entartung«
Die »Zivilisation« war einer der Topoi, der innerhalb der rassenpsychiatrischen Debatte eine wesentliche Bedeutung besaß. Daher wird die Debatte um die Zivilisation und ihrem vermeintlichen Einfluss auf die Entstehung psychischer Leiden im Folgenden ausführlicher behandelt. Die Auseinandersetzung mit der »Zivilisation«, den Veränderungen, die das »moderne Leben« mit sich brachte, hatte um 1900 zu einer kulturkritischen Bestandsaufnahme der Gesellschaft in- und außerhalb der Wissenschaften geführt. Urbanisierung und Industrialisierung, aber auch dadurch bedingte Veränderungen in Sozialstruktur und Lebensweise führten zu pessimistischen Gegenwarts- und Zukunftsdeutungen.42 Auch die Psychiatrie war Schauplatz der Verhandlungen über »Zivilisation« bzw. die »moderne Kultur« und deren schädlichen Einfluss auf die Gesundheit.43
41 Ebenda, 675. 42 RÜDIGER VOM BRUCH, FRIEDRICH WILHELM GRAF und GANGOLF HÜBINGER, Einleitung. Kulturbegriff, Kulturkritik und Kulturwissenschaft um 1900. In: Dies. (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaft um 1900, Bd. 1: Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, Stuttgart 1989, 9-24; THOMAS NIPPERDEY, Deutsche Geschichte. Erster Band: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1991, 824-832. 43 ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik.
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Die Vorstellung, dass die Lebenssituation eine Auswirkung auf den Gesundheitszustand hat, geht bereits auf die Antike zurück.44 Ende des 18. Jahrhunderts, als das Konzept »Zivilisation« aufkam, amalgamierte diese Idee mit dem ebenfalls bereits vorhandenen Konzept von »Kopfarbeit und Sitzberuf«.45 Nun galt intellektuelle Arbeit bei fehlender körperlicher Betätigung und den Bedingungen des »modernen« Lebens als Ursache einer Disposition für nervöse und psychische Leiden. Körperliche Fitness und demnach auch psychische Gesundheit galten als Privileg früherer Generationen oder der »Naturvölker«, die noch ohne die Anfechtungen der Moderne lebten oder gelebt hatten.46 Volker Roelcke argumentiert, dass dieser gesamte Diskurs um Kultur und Krankheit zentral für das neu entstehende bürgerliche Selbstverständnis war: Es zeige sich, »dass die neue Kategorie Zivilisationskrankheit vor einem sich im Laufe des 19. Jahrhunderts veränderten Horizont bürgerlicher Verständigung über die Seele, über das Selbst, und über die Position des Individuums gegenüber der sozialen Umwelt entsteht«.47 Roelcke stellt sich mit seinem Buch in die Tradition der Analysen, die im Anschluss an Michel Foucault einen Zusammenhang zwischen der Institutionalisierung der Psychiatrie als medizinischer Disziplin und der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft herstellen.48 Dabei argumentiert er, dass die gesellschaftliche und psychiatrische Auseinandersetzung um die »krankmachende Zivilisation« ein Kristallisationspunkt für die bürgerliche Wahrnehmung des gesellschaftlichen Wandels charakterisierte und darüber hinaus die gesellschaftliche Legitimierung und professionelle Institutionalisierung der noch jungen psychiatrischen Disziplin unterstützte.49 Für das ausgehende 19. Jahrhunderts macht Roelcke eine Veränderung der Idee vom Zusammenhang zwischen Zivilisation und Krankheit aus. Dafür seien zwei Elemente zentral gewesen: Eine andere Auffassung des Konzeptes der Degeneration und die Entstehung des Krankheitsbildes der Neurasthenie, die ab 1869 durch den US-amerikanischen Nervenarzt George M. Beard weite Verbreitung fand.50 Die 44 Ebenda, 15. 45 WERNER F. KÜMMEL, Kopfarbeit und Sitzberuf: Das früheste Paradigma der Arbeitsmedizin. In: Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung 6/1987, 53-70. 46 ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik, 16f. 47 Ebenda, 20. 48 Ebenda. Dargelegt hat Foucault dies in seinem Buch Wahnsinn und Gesellschaft. Weiterhin hat er dies in MICHEL FOUCAULT, Die Macht der Psychiatrie. Vorlesungen am Collège de France 1973-1974, Frankfurt a. M. 2005 weiterentwickelt. 49 ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik, 19f. 50 Ebenda, 138-179. GEORGE M. BEARD, Neurasthenia, or nervous exhaustion. In: The Boston Medical and Surgical Journal 1869, 217-221. 1880 folgte die Monographie, in der
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bisherige Auffassung von der Zivilisation als Krankheitsrisiko wurde damit durch die Vorstellung abgelöst, es existiere eine einzige Zivilisationskrankheit.51 Beard sah in der Zivilisation, in den »modernen Lebensbedingungen« die Erklärung für eine »Nervenschwäche«. Die Neurasthenie galt als eine durch die Lebensumstände der Industrialisierung und Urbanisierung verursachte Krankheit: Die Aufregung und Schnelllebigkeit der Zeit, Lärm, aber auch beispielsweise neue technische Erfindungen wie die Eisenbahn und der Telegraph und die neuen Arten der Vergnügung, führten, so Beard, zu einer Erschöpfung der Nervenkraft.52 Dies war buchstäblich gemeint, denn die Neurasthenie galt als eine somatische Krankheit. Im Nervensystem zirkuliere eine bestimmte Menge an Nervenkraft, die als elektrisch wahrgenommen wurde. Diese Nervenkraft konnte, so die Vorstellung der Zeit, durch Erschöpfung »aufgebraucht« werden, womit bestimmte Funktionen zum Erliegen kämen, was unter anderem das Gehirn beeinträchtigen würde.53 Die Diagnose Neurasthenie erfreute sich im ausgehenden 19. Jahrhundert in Deutschland und anderen westlichen Nationen besonderer Beliebtheit.54 Ab den 1880er Jahren in Deutschland als Krankheitsdiagnose etabliert,55 war sie nicht ausschließlich negativ konnotiert, sondern konnte im Kontext von Dekadenz und Moderne des Fin de Siècle auch als ein Zeichen einer besonderen kulturellen Verfeinerung gelten.56 Dabei bildete das Phänomen Neurasthenie um die Jahrhundertwende in besonderer Weise den Schauplatz gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, wie
Beard die Neurasthenie erstmals umfassend bearbeitete. Sie wurde nur ein Jahr später ins Deutsche übersetzt. GEORGE M. BEARD, A Practical Treatise on Nervous Exhaustion (Neurasthenia), New York 1880; GEORGE M. BEARD, Die Nervenschwäche (Neurasthenia), ihre Symptome, Natur, Folgezustände und Behandlung, Leipzig 1881. 51 ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik, 205. 52 GEORGE M. BEARD, American Nervousness, its causes and consequences. A supplement to Nervous Exhaustion (Neurasthenia), New York 1881, Kapitel 3, 96-192; ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik, 114. 53 Grundlegend für dieses Modell des »Nervenaufbrauchs« war das 3. Gesetz der Thermodynamik (Energieerhaltungsgesetz) ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik, 114. 54 Ebenda, 122-124. 55 DORIS KAUFMANN, Neurasthenia in Germany. Culture, Sexualtity, and the Demands of Nature. In: Marijke Gijswijt-Hofstra und Roy Porter (Hg.), Cultures of Neurasthenia. From Beard to the First World War, Amsterdam; New York 2001, 161-176, 161f. 56 HEINZ-PETER SCHMIEDEBACH, The Public's View on Neurasthenia in Germany: Looking for a New Rhythm of Life. In: Marijke Gijswijt-Hofstra und Roy Porter (Hg.), Cultures of Neurasthenia. From Beard to the First World War, Amsterdam; New York 2001, 219238, 224f.
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in einer Vielzahl von Büchern zum Thema dargelegt wurde.57 Wie die neuere Forschung zur Neurasthenie gezeigt hat, lag der »Erfolg« dieser Krankheitsdiagnose darin, dass sie ein Ventil für die Bewältigung gesellschaftlicher Umbrüche im Kontext der Modernisierungsprozesse im ausgehenden 19. Jahrhundert bildete.58 Ab Mitte der 1890er Jahre trat eine Veränderung in der Konzeption der Neurasthenie ein: Sie wurde zunehmend im Kontext der Degeneration, als Folge einer »Entartung« gesehen. Durch den aufkommenden Sozialdarwinismus und popularisiert durch Max Nordaus Buch Entartung verankerte sich ein neuer, auf die Zivilisation als Ganzes angewandter Degenerationsgedanke, in dessen Folge Degeneration im Zusammenhang mit der Entartung eines Kollektivs, also eines Volkes, einer Nation oder einer »Rasse« verstanden wurde.59 Dadurch habe sich auch das Konzept der Zivilisationskrankheit Neurasthenie verändert, schreibt Roelcke. Er erklärt die Neuformulierung von Emil Kraepelins Krankheitslehre als wesentlich dafür, die Neurasthenie in den Erklärungskontext von degenerationsbedingten, vererbten Faktoren zu bringen. Diese Umdeutung der Neurasthenie unter der Zuhilfenahme der Idee der Degeneration interpretiert Roelcke als eine Politisierung und Kollektivierung der Idee von der Zivilisationskrankheit. Die Neurasthenie als »Degenerationskrankheit« habe einerseits eine politisch-moralische Aufladung erfahren, zweitens waren nun nicht mehr Individuen sondern durchaus auch als »Rassen« imaginierte Kollektive Träger dieser Pathologie. 60
57 MARIJKE GIJSWIJT-HOFSTRA und ROY PORTER (Hg.), Cultures of Neurasthenia. From Beard to the First World War, Amsterdam; New York 2001; HANS-GEORG HOFER, Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880-1920), Wien; Köln 2004; PAUL LERNER, Hysterical Men. War, Psychiatry, and the Politics of Trauma in Germany, 1890-1930, Ithaca, NY 2003; RADKAU,
Zeitalter der Nervosität; ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik; ANDREAS STEINER,
Das »nervöse Zeitalter«. Der Begriff der Nervosität bei Laien und Ärzten in Deutschland und Österreich um 1900, Zürich 1964. 58 MARIJKE GIJSWIJT-HOFSTRA, Introduction: Cultures of Neurasthenia from Beard to the First World War. In: Dies. und Roy Porter (Hg.), Cultures of Neurasthenia. From Beard to the First World War, Amsterdam; New York 2001, 1-30; HANS-GEORG HOFER, Nerven, Kultur und Geschlecht. Die Neurasthenie im Spannungsfeld von Medizin- und Körpergeschichte. In: Frank Stahnisch und Florian Steger (Hg.), Medizin, Geschichte und Geschlecht. Körperhistorische Rekonstruktionen von Identitäten und Differenzen, Stuttgart 2005, 225-244. Vgl. auch HOFER, Nervenschwäche und Krieg, 45-88. 59 MAX NORDAU, Entartung, Berlin 1892. Zum Konzept der »Degeneration« vgl. ROELCKE,
Krankheit und Kulturkritik, 80-100 sowie 138-179. Ferner SCHULLER, »Entartung«.
60 ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik, 166.
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Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entstand eine psychiatrische Debatte um die Idee eines Zusammenhangs von Kultur und Entartung.61 Emil Kraepelin publizierte zwischen 1904 und 1908 zu diesem Themenbereich einige Artikel, in denen er eine Zunahme psychischer Erkrankungen in der deutschen Gesellschaft postulierte und diese in den Kontext einer zivilisationsbedingten Degeneration stellte.62 Er bezog sich in diesen Schriften stets auch auf die Forschungsergebnisse, die er auf seiner Javareise gewonnen hatte.63 In dem Artikel Zur Entartungsfrage zeigte sich Kraepelin besorgt über die wachsende Zahl von Aufnahmen in psychiatrischen Anstalten, die er als Zeichen zunehmender Geisteskrankheiten in der Bevölkerung aufgrund einer progressiven Entartung des Volkskörpers sah.64 Neben Alkoholmissbrauch und Syphilisinfektion machte Kraepelin dafür vor allem eine fortschreitende »Domestikation, die Loslösung aus den natürlichen Lebensbedingungen« verantwortlich.65 Dazu zählte er unter anderem die Gefahr der »Verweichlichung« durch die »Abhängigkeit von den Kultureinrichtungen«, die zu einer »Abschwächung der Lebenszähigkeit […] und einer Abnahme der Fruchtbarkeit« führen würde.66 Entfremdet von der Natur sei vor allem auch das städtische Proletariat. Nicht nur Mangelernährung, sondern insbesondere der »Verlust von frischer Luft, Licht und Sonne und Bewegungsfreiheit« sowie die »sittlichen Schäden« des engen Zusammenlebens und »die breite Großstadtverführung« führten zu »Verelendung, Verkümmerung und Lebensschwäche«.67 Ferner beklagte er, dass »die einseitige Züchtung geistiger Eigenschaften« zur Vernachlässigung des Körpers führe. Eine
61 Beschreibung dieser Debatte auch bei VOLKER ROELCKE, Biologizing Social Facts: An early 20th century debate on Kraepelin's concept of culture, neurasthenia, and degeneration. In: Culture, Medicine and Psychiatry 21/1997, 283-403. Ferner ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik, 165-179. 62 KRAEPELIN, Vergleichende Psychiatrie; EMIL KRAEPELIN, Psychiatrisches aus Java. Protokoll der zweiten Jahresversammlung des Vereins Bayerischer Psychiater zu Ansbach am 24. Mai 1904. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 61/1904, 882-884; KRAEPELIN, Zur Entartungsfrage. Eric Engstrom interpretiert Kraepelins Zur Entartungsfrage als Entwurf eines epidemiologisch-lamarckistischen Forschungsprogramms ERIC J. ENGSTROM, »On the Question of Degeneration« by Emil Kraepelin (1908). In: History of Psychiatry 18/2007, 389-398. 63 KRAEPELIN, Vergleichende Psychiatrie; KRAEPELIN, Psychiatrisches aus Java; KRAEPELIN,
Zur Entartungsfrage.
64 KRAEPELIN, Zur Entartungsfrage, 747. 65 Ebenda, 748. 66 Ebenda. 67 Ebenda, 749.
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»Abschwächung natürlicher Triebe« durch die Domestikation sehe man unter anderem an der hohen Suizid- und der niedrigen Geburtenrate.68 Kraepelins Ansicht eines Zusammenhangs von Kultur und Entartung fanden vor allem in die öffentliche Debatte Eingang.69 Innerhalb der Psychiatrie wurden seine Ansichten allerdings kontrovers diskutiert. Reaktionen kamen von Alfred Hoche,70 seit 1902 Professor an der psychiatrischen Universitätsklinik Freiburg und Oswald Bumke,71 seinem Schüler.72 Bumke entfaltete schließlich ein umfangreiches alternatives Modell zu Kraepelins Krankheitsansatz, das zwar innerpsychiatrisch rezipiert wurde, in den Debatten außerhalb der psychiatrischen Zunft jedoch nicht viel Wirkung zeigte.73 Die Kontroverse um Kultur und Entartung wurde auch auf dem Internationalen Kongress für die Fürsorge der Geisteskranken 1910 in Berlin ausgetragen. Der italienische Psychiater Augusto Tamburini74 und Ernst Rüdin, zu diesem Zeitpunkt Assistent Kraepelins in München, hielten zu diesem Thema die Eröffnungsreferate.75 Tamburini bestritt wie auch Bumke und Hoche einen Zusammenhang von Zi68 Ebenda. 69 ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik, 178. 70 Alfred Hoche (1865-1943) wurde 1902 auf den Lehrstuhl nach Freiburg i. Br. berufen und Leiter der dortigen Psychiatrischen und Nervenklinik. Gemeinsam mit Karl Binding schrieb er 1920 die Schrift Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Freiburg i. Br., 1920. Sie wird als gedanklicher Vorgriff auf die Ermordungen von Geisteskranken während der Nazizeit gesehen. BLASIUS, Seelenstörung, 145f. Vgl. ferner Hoche, Alfred Erich. Deutsches Biographisches Archiv (DBA). World biographical information system - WBIS Online, München 2008. 71 Oswald Bumke (1877-1950), später Ordinarius in Rostock, Breslau, Leipzig und wurde 1924 als Nachfolger Emil Kraepelins auf den Lehrstuhl für Psychiatrie der Münchner Universität berufen. GUSTAV W. SCHIMMELPENNING, Oswald Bumke (1877–1950): His life and work. In: History of Psychiatry 16/1993, 483-497. 72 OSWALD BUMKE, Über nervöse Entartung, Berlin 1912; ALFRED HOCHE, Geisteskrankheit und Kultur. Eine akademische Rede, Freiburg i. Br. 1910. 73 ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik, 177, 214. 74 Prof. Dr. Augusto Tamburini (1848-1922) wurde auf dieser Konferenz zum Ehrenpräsidenten ernannt. Er war Professor der psychiatrischen Klinik in Modena und Direktor des psychiatrischen Instituts der Region Reggio-Emilia. Augusto Tamburini. Archivio Biografico Italiano (ABI). World biographical information system - WBIS Online, München 2008. 75 ERNST RÜDIN, Über den Zusammenhang zwischen Geisteskrankheit und Kultur. In: Prof. Dr. Boedecker und Dr. Falkenberg (Hg.), IV. Internationaler Kongress zur Fürsorge für Geisteskranke, Berlin, Oktober 1910. Offizieller Bericht, Halle a. d. Saale 1911, 79-113; AUGUSTO TAMBURINI, Les rapports entre la civilisation et la folie. In: Prof. Dr. Boede-
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vilisation und »Entartung«. Dagegen verteidigte Rüdin die Auffassungen seines Lehrers Kraepelin in seiner Rede, die im gleichen Jahr noch als Aufsatz im Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie erschien.76 Die Kritik an Kraepelin und Rüdin entspann sich im Wesentlichen an der Frage, ob es tatsächlich eine Zunahme der Geisteskrankheiten in den westlichen Ländern gegeben habe, und wenn ja, ob sie in Abhängigkeit von einer fehlentwickelten Zivilisation geschehen und als Zeichen der Degeneration der Völker oder »Rassen« zu werten sei. In seiner Verteidigung gab Rüdin die Unzuverlässigkeit der Statistiken zu. Die meisten Experten gingen jedoch von einer Zunahme der »Grenzzustände ker und Dr. Falkenberg (Hg.), IV. Internationaler Kongress zur Fürsorge für Geisteskranke. Berlin, Oktober 1910. Offizieller Bericht, Halle a. d. Saale 1911, 67-78. Auf dem Kongress sprachen noch einige weitere Psychiater zu Themen, die sich im weiteren Kontext ebenfalls mit der Forschung über unterschiedliche »Rassen« beschäftigten, so z. B. Raschid Tashin Bey und Wilhelm Weygandt RASCHID TASSHIN BEY, Die Geisteskrankheiten und die Psychiatrie in der Türkei. In: Prof. Dr. Boedeker und Dr. Falkenberg (Hg.), IV. Internationaler Kongress zur Fürsorge für Geisteskranke. Berlin, Oktober 1910. Offizieller Bericht, Halle a. d. Saale 1911, 510-519; WILHELM WEYGANDT, Die ausländischen Geisteskranken. Vortrag. In: Prof. Dr. Boedecker und Dr. Falkenberg (Hg.), IV. Internationaler Kongress zur Fürsorge für Geisteskranke. Berlin, Oktober 1910. Offizieller Bericht, Halle an d. Saale 1911, 630-631. 76 Tamburini, Hoche und Bumke stellten Kraepelins These von einem Zusammenhang von »Kultur und Entartung« grundsätzlich infrage. Sie bezweifelten, dass überhaupt eine Zunahme der Geisteskrankheiten in den westlichen Gesellschaften nachweisbar sei, denn diese ließe sich anhand der vorhandenen Anstaltsstatistiken nicht belegen. Selbst wenn es eine Zunahme gäbe, stelle sich die Frage, ob man dies als ein Zeichen der Degeneration werten könne. Beziehungen zwischen Zivilisation und geistigen Erkrankungen. Bericht über die Vorträge von Augusto Tamburini und Ernst Rüdin auf dem IV. Internationalen Kongress zur Fürsorge für Geisteskranke, Berlin, 3.-7.10.1910, im Hause des Abgeordneten. In: Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift 30/1910, 289-290. Vgl. ferner: BUMKE, Über nervöse Entartung; HOCHE, Geisteskrankheit und Kultur. Besonders Bumke widerlegte in seiner fast 120-seitigen Schrift ausführlich die einzelnen Argumente Kraepelins und betonte die sozialen Ursachen der von ihm beobachteten Phänomene. Rüdin gab – wie auch Kraepelin – zu, dass die Statistiken in der Frage der Zunahme von Geisteskrankheiten unzuverlässig seien, meinte aber, dass der »fast einmütige Eindruck bei den Sachkundigen« eine solche Zunahme bestätige. Unbestritten sei, dass Alkoholmissbrauch und die Ausbreitung der Syphilis zugenommen hätten, demnach wäre es auch nur folgerichtig, auf eine Zunahme psychischer Erkrankungen zu schließen. Rüdin veröffentlichte den Vortrag im gleichen Jahr: Vgl. ERNST RÜDIN, Über den Zusammenhang zwischen Geisteskrankheit und Kultur. In: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 7/1910, 722-748, hier: 723.
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psychischer Gesundheit« aus, dieser Meinung schloss er sich an.77 Im Folgenden konzentrierte sich Rüdin mehr auf die rassenhygienischen Maßnahmen, die er deswegen für notwendig hielt und weniger auf einen Nachweis seiner Grundannahmen.78 So unterschiedlich die Positionen über »Kultur und Entartung« in der Kernfrage waren, so auffallend ist, dass beide Seiten in ihrer Argumentation von einem »wir« sprechen, dessen Bedrohung durch die Moderne verhandelt wird und dem sie ein Bild eines »Anderen« gegenüberstellen. Dieser »Andere« erscheint entweder als zu »primitiv« oder zu modern. Kraepelin benutzt in seinem Text Zur Entartungsfrage durchgängig das Wort »wir«, er spricht von »unserer ganzen Rasse« oder von »unserem Volk«,79 das einer Gesundheitsgefährdung ausgesetzt sei. Ebenso Rüdin, der in seinem Text Geisteskrankheit und Kultur betont, dass es ihm um die »moderne Kultur« der »europäischen und nordamerikanischen Völker« ginge.80 Beide erwähnen auch wiederholt die weitestgehende Abwesenheit psychischer Erkrankungen bei den als zivilisationsfern geltenden »Naturvölkern«.81 So vermerkt Kraepelin, dass die »Geisteskrankheiten nach den übereinstimmenden Berichten der Forschungsreisenden bei Naturvölkern recht selten zu sein [scheinen]«.82 Und auch Rüdin bemerkt, dass zwar »genaue Zahlen über die wirkliche Menge Geisteskranker bei primitiven Völkern genauso wenig existieren als bei höheren Kulturvölkern«, jedoch die »Eindrücke aller wirklichen Kenner durchaus für unsere Annahme der verhältnismäßigen Seltenheit geistiger Störung bei primitiven Völkerschaften« sprächen.83 Bei dieser zivilisatorischen Begründung für das Entstehen psychischer Erkrankungen klingt die Vorstellung einer Höher- und Minderwertigkeit einzelner »Rassen« an. In seiner im gleichen Jahr erschienen Studie Über die Paralysefrage in Algier vertrat Rüdin die Ansicht, dass es einen Zusammenhang zwischen Zivilisation oder Kultur und der Paralyse gäbe. Vergleichende Untersuchungen an »hochzivilisierten und primitiven Völkern« hätten gezeigt, dass die Paralyse besonders unter ersteren zu finden sei, damit sei »unbestreitbar« das, »was wir Kultur oder Zivilisation nennen« der Grund für die ungleichgewichtige Verteilung der Paralyse. Die »Eingeborenenparalyse« sei deshalb so selten, weil durch die größere Auslese unter den »Naturvölkern«, »nur die Stärksten überleben würden«, auch weniger Abhärtung bei den »Kulturmenschen« führe zur häufigeren Paralyse. Aber auch die Bean77 RÜDIN, Geisteskrankheit und Kultur, 723. 78 Ebenda. 79 KRAEPELIN, Zur Entartungsfrage, 750, 751. 80 RÜDIN, Geisteskrankheit und Kultur, 722. 81 Ebenda, 725f.,733f.,737f. KRAEPELIN, Zur Entartungsfrage, 746, 748. 82 KRAEPELIN, Zur Entartungsfrage, 745. 83 RÜDIN, Geisteskrankheit und Kultur, 726.
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spruchung des Gehirns spiele eine Rolle, denn bei den »Naturvölkern« partizipiere bei Erkrankungen »das Zentralnervensystem in auffallend geringer Weise«, für Rüdin ein Zeichen, dass die »Biologie und Pathologie der nordafrikanischen, speziell der algerischen Bevölkerung die Merkmale einer primitiven Bevölkerung« trügen.84 Rüdin deutet hier einen Zusammenhang zwischen Gehirntätigkeit und –entwicklung, Zivilisation und Mangel an Paralyse bei den Nordafrikanern an. Die »Primitivität« der algerischen Bevölkerung misst er in deren angeblich geringerer »Gehirnbeanspruchung«, ferner konstatiert er bei ihnen eine weniger entwickelte Kultur, die zu einer stärkeren Auslese geführt habe. Beides resultiere in einer geringeren Paralyserate. Andere Autoren sind deutlicher in ihrer Formulierung eines Zusammenhangs von Zivilisation, »Rasse« und Krankheit. So sei auch eine erhöhte Selbstmordrate – die damals als pathologisches Merkmal galt – abhängig vom höheren kulturellen Entwicklungsstand sowie von der »Rasse«: »Diese Zivilisation ist aber – nach neueren Forschungen – durchaus von der Rasse abhängig; und indem die Zunahme der Selbstmorde zugleich die Höhe […] der Kultur dokumentiert, wird der Ruhm einer Rasse zugleich ihr Verderben«. 85
Aber auch die Gegner der These vom Zusammenhang von »Kultur« und »Entartung« bemühten den Topos vom »unzivilisierten Naturmenschen«. Bumke stimmte der Idee zu, »auf verschiedener Kulturstufe lebende Völker in bezug auf ihren nervösen Gesundheitszustand« miteinander zu vergleichen, um den Einfluss der Zivilisation auf die Entstehung psychischer Erkrankungen zu ergründen.86 Er gab aber zu bedenken, dass bisherige Studien noch nicht aussagekräftig genug seien, um zu entscheiden, ob »wirklich das Milieu, der Kulturzustand oder ob nicht vielmehr die Disposition, die Rassenzugehörigkeit maßgebend gewesen« sei.87 Auch Tamburini sprach von der Bevölkerung in »wilden« oder »weniger zivilisierten« Ländern, nahm aber nicht an, dass die dortigen Menschen von psychischen Erkrankungen verschont blieben.88 Im Gegenteil: Tamburini stellte in seiner Tagungsrede fest, dass Neurosen und Psychosen in Afrika und Asien aufgrund von Aberglauben sehr häufig seien und sich sogar öfter epidemisch verbreiteten.89 Auch wenn Autoren kein explizites Urteil über die »Naturvölker« formulierten, so ist augenfällig, dass mit »Naturnähe«, »Ursprünglichkeit« oder »Primitivität« in der Regel keine positive Wertung verbunden war. Zwar galt die Lebensweise 84 RÜDIN, Paralysefrage, 726. 85 LOMER, Beziehungen, 30. 86 BUMKE, Über nervöse Entartung, 83. 87 Ebenda. 88 TAMBURINI, Les rapports. 73. 89 Ebenda.
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des nichtwestlichen »Naturmenschen« als vorbildlich, weil dieser sich angeblich von einem gesunden ursprünglichen Naturzustand des Menschen noch nicht weit entfernt hätte. In dieser Zuschreibung schwang jedoch eine Konnotation mit, die die so Kategorisierten kulturlos, minderentwickelt und damit letztendlich minderwertig erscheinen ließ. Am anderen Ende der Skala von Gesundheit und Krankheit, Ursprünglichkeit und Zivilisation stand die Figur des hypermodernen »nervösen Juden«. Anatole Beaulieu-Leroy hatte schon 1893 den Juden zum »nervösesten und in dieser Beziehung modernsten Menschen«90 erklärt. Diese Verknüpfung der angeblichen hohen Prävalenz von psychischen Krankheiten unter Juden und der Annahme einer höheren »Modernität« diente der Stabilisierung eines Zusammenhangs von Kultur, Entartung und Entstehung von psychischen Erkrankungen. Die Verknüpfung »des Jüdischen« mit Nervosität und Modernität benutzt auch Rüdin in jenem genannten Aufsatz, den er zur Debatte um Kultur und Entartung veröffentlichte. Er schrieb, dass man die Auswirkungen der Zivilisation am besten anhand einer Gegenüberstellung »durch Völker höchster Kultur einerseits, durch Völker niedrigster Kultur andererseits« ermitteln könne: »Am klarsten geht das wohl aus einer Gegenüberstellung des nervösen Gesundheitszustandes des jüdischen Kulturvolkes mit demjenigen irgendeines primitiven […] Volkes der Gegenwart hervor. Da sind die Unterschiede so groß, daß sie jedem in die Augen springen müssen«.91
Rüdin ging wie auch andere davon aus, dass das Übermaß an Moderne bei Juden bereits zu einem negativen Ergebnis geführt habe: zu einer hohen Anzahl von psychischen Erkrankungen. Auch Kraepelin formulierte die degenerative Gefahr, für die das Beispiel der Juden stand, deutlich: »Immerhin lehrt uns das bekannte Beispiel der Juden mit ihrer starken Veranlagung zu nervösen und psychischen Erkrankungen, daß die bei ihnen besonders weit gediehene Domestikation schließlich doch auch der Rasse deutliche Spuren aufprägen kann.«92
Auch wenn in der Debatte um »Kultur und Entartung« zwei verschiedene Positionen über den Einfluss der Zivilisation auf die Entstehung psychischer Erkrankungen bestanden, gemeinsam war beiden, dass sie als Antithese zu einem vermeintlich bedrohten »wir« zwei »Antitypen« setzten: den »überkultivierten Juden« und die »un90 ANATOLE LEROY-BEAULIEU, Israel chez les Nations. Les Juifs et l'antisemitisme, Paris 1893, 198. Übersetzung durch die Verfasserin. 91 RÜDIN, Geisteskrankheit und Kultur, 725. 92 KRAEPELIN, Zur Entartungsfrage, 750.
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zivilisierten Naturmenschen«, die jeweils die Gefahren der Zivilisation bzw. einen ursprünglichen Naturzustand versinnbildlichten. An diesem Punkt kreuzte sich die Debatte um »Kultur« und »Entartung« mit dem rassenpsychiatrischen Diskurs: Häufigkeiten von Krankheiten bei unterschiedlichen »Rassen« wurden in Bezug auf ihren angeblichen Zivilisationsgrad diskutiert, gleichzeitig diente die angenommene Häufigkeit oder Abwesenheit von Krankheiten als Beleg für oder gegen die These eines möglichen Zusammenhangs von psychischen Erkrankungen und Zivilisation. 3.1.3
»Nervenjuden«? Die »Psychopathologie der Juden« zwischen Ausgrenzung und Selbstzuschreibung
Wie gezeigt wurde war das Bild vom degenerierten »nervösen Juden« als Gegenbild zum ursprünglichen »gesunden Wilden« in unterschiedlichen Kontexten um die Jahrhundertwende etabliert. Bereits vor der Debatte um »Kultur« und »Entartung« galt die Konfessionsverteilung in den Irrenstatistiken als Beleg für eine höhere Prävalenz von Geisteskranken unter den Juden und war im Kontext einer erblichen Degeneration der Juden als »Rasse« in psychiatrischen Lehrbüchern diskutiert worden. Mit dem Begriff der »Nervosität der Juden« schwang stets die Vorstellung einer »Psychopathologie der Juden«93 mit: Die angebliche »nervöse Disposition« der Juden wurde als Ursache für einen häufigeren Ausbruch von Geisteskrankheiten unter Juden verstanden. Aufmerksamen Lesern psychiatrischer Lehrbücher wird es jedoch nicht entgangen sein, dass die Prävalenz der Juden für psychische und nervöse Leiden zwar als feststehende Tatsache präsentiert wurde, die Frage, ob es sich darum um ein Rassenmerkmal handelte oder ob »Rasse« überhaupt Einfluss auf psychische Erkrankungen habe, noch nicht wirklich untersucht war. Während es in den Jahren vor 1900 keine rassenpsychiatrischen Studien gab, die sich den Juden im Einzelnen widmeten, änderte sich das nach der Jahrhundertwende. Nun kam es zu einem wahren »Publikationsboom«, in dessen Folge auch die Anzahl systematischer empirischer Untersuchungen stieg. Über die nächsten drei Dekaden machten die Publikationen über Nerven- und Geisteskrankheiten bei Juden mit dem Anteil von einem Drittel den größten Teil an rassenpsychiatrischen Publikationen aus. Die Gründe, warum die »Nervosität« oder »Psychopathie« der Juden ab 1900 zu den am meisten diskutierten Themen innerhalb der psychiatrischen Rassenforschung wurde, sind vielfältig. In Fachkreisen betrachtete man es als an der Zeit,
93 Der Begriff »Nervosität der Juden« ist ein zeitgenössischer, während, wie ich bereits ganz zu Anfang ausführte, »Psychopathologie der Juden« ein von mir gewählter Begriff ist, der die damals undifferenziert und vermischt diskutierten Behauptungen einer nervösen oder psychopathologischen Disposition der Juden, wie auch die Annahme einer höheren Prävalenz von psychischen Leiden unter Juden umfasst.
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Untersuchungen zu diesem Thema durchzuführen. Wie neben Alexander Pilcz auch andere Autoren bemerkten, seien zum Thema der psychischen Krankheiten bei Juden bisher »erst verhältnismässig wenig Angaben in der Literatur« zu finden: Die »Anschauungen« aus der Fachliteratur beruhten wohl auf »dem subjektiven Eindruck der meisten Beobachter«.94 Natur vs. Kultur und die »Psychopathologie der Juden« Wie bereits erläutert suchte der mit Abstand überwiegende Teil der Autoren, die sich mit der »Psychopathologie der Juden« beschäftigte, nach alternativen Erklärungsmodellen zu dem Argument, die Ursache für die vermeintliche nervöse Disposition der Juden läge in degenerativen Rassenmerkmalen. Diese Autoren bestritten nur höchst selten die Behauptung einer nervösen Disposition oder der höheren Anfälligkeit für psychische Erkrankungen bei Juden. Allerdings betonte die Mehrheit der Autoren in ihren Schriften die aktuelle und vergangene Lebenssituation der Juden, die zu dieser erhöhten Anfälligkeit geführt hätte. Die vorgebrachten Argumente ähnelten denen aus der Diskussion um »Kultur« und »Entartung«. Juden, so der implizite Gedankengang, hätten in der voremanzipatorischen Zeit im Ghetto quasi unter einer Vorform der städtischen, nervositätsfördernden Lebensbedingungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts gelitten. Die »nervöse Belastung« wurde durch die schwierige Wohn- und Arbeitssituation von Juden vor der Emanzipation begründet. So sah Max Sichel die aktuelle nervöse Anlage von Juden durch die »aller Hygiene Hohn sprechenden Verhältnisse« in den einstigen beengten Ghettos bedingt.95 Die dortigen Lebensumstände seien »zweifellos dazu angetan, ein Nervensystem, sei es von Haus aus noch so widerstandsfähig, zu erschüttern«.96 Zwar seien die westeuropäischen Juden seit über hundert Jahren aus ihrer »mittelalterlichen Abgeschlossenheit« herausgetreten, ihre »körperliche und psychische Widerstandskraft« hätte aber aus dieser Zeit schweren Schaden genommen.97 Ebenfalls bereits in der voremanzipatorischen Zeit hätten Juden unter einem weiteren »modernen« Phänomen gelitten: unter »geistiger Überanstrengung«.98 Die Entfremdung von Natur habe den durch das Leben im Ghetto geschädigten gesund-
94 PILCZ, Geistesstörungen, 1901, 888, 902. 95 SICHEL, Über Geistesstörungen, 360. 96 SICHEL, Geistesstörungen bei den Juden, 75. 97 Ebenda. 98 BENEDIKT, Der geisteskranke Jude, 268; HERMANN OPPENHEIM, Zur Psychopathologie und Nosologie der russisch-jüdischen Bevölkerung. In: Journal für Psychologie und Neurologie 13/1908, 2-9, 3; SICHEL, Geistesstörungen bei den Juden, 62,79f.
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heitlichen Zustand der Nerven weiter verschlechtert.99 Auch sei ihnen die Arbeit des Landwirtes, eine »nervenkrafterhaltende Beschäftigung«, verwehrt geblieben. 100 Auch in der Gegenwart, so führten verschiedene Autoren an, litten Juden besonders unter der nervenbelastenden Moderne. Einige soziale Umstände, wie die Enge des Ghettos, hätten sie zwar hinter sich gelassen. Der plötzliche Wandel, der mit dem Ende der Isolation von Juden in Westeuropa eingetreten sei, habe allerdings neue Probleme aufgeworfen.101 Für die Juden Westeuropas galt, dass ihre »psychischen Belastungen« hauptsächlich dem aus der jüdischen Emanzipation resultierenden erschwerten »Kampf ums Dasein« erwachsen seien. Max Sichel fasste die Gefahren wie folgt zusammen: »Mit der neuen Ära begann für [Juden, d. Verf.] das große Wettrennen im Kampfe ums Dasein; unter doppelten Anstrengungen sollte das eingeholt werden, was sie jahrhundertelang teilweise ganz entbehren, teilweise nur vorübergehend ihr eigen nennen durften: Bildung und Besitz. Die seit langem aufgespeicherte Spannkraft setzte sich zu plötzlich in kinetische Energie um, der Übergang war zu schroff, als daß er ohne Schaden von statten gehen konnte. Kein Wunder, daß gerade jetzt mancher unterlag und auf der Wahlstatt (sic) liegen blieb, dessen Einsatz an Nervenkraft nicht im entsprechenden Verhältnis zu dem angestrebten Ziele stand. Es ist fraglich, ob nicht gerade diese plötzliche Bewegungsfreiheit, dieses ungestüme Jagen nach materiellen und ideellen Gütern von viel nachteiligerem Einfluß auf einen Organismus war, dessen Nervensystem auf äußere Reize viel feiner reagieren, im Kampf gegen feindliche Gewalten viel leichter unterliegen mußte«.102
Sichel bediente sich hier dem Energieerhaltungssatz, um die nervöse Belastung der Juden zu erklären, ein zeitgenössisches Argument, das die Funktionsweise des Nervensystems aus den Sätzen der Thermodynamik begründete.103 Er verknüpfte dies mit dem schon bekannten Erklärungsansatz, wonach ein jäher Übergang in die Emanzipation und Moderne negative Einflüsse gehabt habe. Der plötzliche, viel zu 99 BENEDIKT, Der geisteskranke Jude, 506. 100 Ebenda, 268. 101 Es wurde angenommen, dass die Lebenssituation der osteuropäischen Juden im Wesentlichen der voremanzipatorischen Zeit der Juden in Westeuropa entspräche, daher war die »nervöse Disposition« auch der osteuropäischen Juden erklärbar. Ebenda, 269; OPPENHEIM,
Psychopathologie, 3.
102 SICHEL, Geistesstörungen bei den Juden, 74. Sichel hatte im vorhergehenden Abschnitt dargelegt, dass die voremanzipatorische Zeit die Nerven der »Juden« ebenfalls belastet hatte, daher seine Annahme der besonderen Reizbarkeit des Nervensystems. 103 Vgl. JOACHIM RADKAU, Die wilhelminische Ära als nervöses Zeitalter, oder: Die Nerven als Netz zwischen Tempo- und Körpergeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 20/1994, 211-241, 232-234; ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik, 114.
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schnelle Wandel von der Zeit der Diskriminierung in die der Emanzipation galt demnach als schwere Belastung für das Nervensystem. Daneben habe die ungewohnte Freiheit und das plötzliche Bestreben, vorher versagt gebliebener Güter wie weltliche Ausbildung und materiellen Besitz zu erringen, einem bereits in der Zeit des Ghettos geschwächtem Nervensystem weiteren Schaden zugefügt. Skeptisch betrachtete er den vermeintlichen Einfluss der »Inzucht«, womit er die Blutsverwandtenehe meinte, dem seiner Meinung nach »eine weit über das Maß hinausgehende Bedeutung beigelegt worden« war und der seinen Erfahrungen nach keine Relevanz für die erhöhten Ziffern von Geisteskrankheiten bei Juden beizumessen war.104 Aber auch die gegenwärtige Situation habe Auswirkungen auf psychische Erkrankungen, so Sichel. Es zeige sich beispielswese bei Juden aus Russland aktuell die »Wirksamkeit des äußeren Drucks auf das Seelenleben«, da sie bis vor kurzem unter der »Pogrompolitik des zaristischen Regimes« zu leiden gehabt hätten.105 Ferner stand weiterhin die »geistige Arbeit« durch die Ausübung der unter Juden stark verbreiteten akademischen und kaufmännischen Berufe im Ruf des nervlichen Kräfteverbrauchs. So erklärte beispielsweise Maurice Fishberg in seiner Studie Die Rassenmerkmale der Juden die vermeintlich hohe Anzahl jüdischer Neurastheniker: »Hierzu kommt, daß die Juden seit Jahrhunderten Stadtbewohner sind […]. Die Neurasthenie ist ein Großstadtleiden; die Geschäftseile, der Lebenswirrwarr der Großstadt zehren an den Nerven mächtig; Geschäftsleute, Spekulanten, Bankiers fallen am meisten den Nerven zum Opfer. Da die Juden zumeist vom Handel leben, dabei oft mit geringen Kapital ins Geschäft sich stürzen und nicht selten über ihre Mittel leben, so ist es nicht überraschend, daß viele unter der Abspannung, die das ewige Spekulieren auf Gewinn erzeugt, verlieren«.106
Die traditionellen Berufsfelder, in denen sich Juden betätigten, zeichnete Fishberg demnach nicht nur als geistig belastend, er erklärte auch, dass sie zusätzlich einem verschärften Wettbewerb unterlägen. Auch ein weiterer Autor erklärt, die Gründe für den Anstieg psychischer Erkrankungen unter Juden lägen an der »Anlage« der Juden für »Kopfarbeit« und der »Erschwerung des sozialen Existenzkampfes«.107 Zwar seien die Juden als Volk seit der Zeit Moses stärker auf »Kopfarbeit« ausgerichtet gewesen. Diese Veranlagung habe »seit der Epoche der ersten Diaspora« noch zugenommen, »als die nervenkrafterhaltende Beschäftigung mit dem Ackerbau und der Landwirtschaft aufhörte«.108
104 SICHEL, Ätiologie, 249. 105 Ebenda, 248. 106 FISHBERG, Rassenmerkmale, 147. 107 BENEDIKT, Der geisteskranke Jude, 268, 269 108 BENEDIKT, Der geisteskranke Jude, 268.
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Die Quellen zeigen, dass die Debatte um die »Psychopathologie der Juden« zwar primär von Wissenschaftlern getragen wurde, die alternative, nicht auf »Rasse« rekurrierende Erklärungen für die Andersartigkeit von Juden in ihre Überlegungen aufnahmen und zum Teil auch Zweifel an der Stichhaltigkeit der bisherigen Äußerungen über psychische Krankheiten bei Juden äußerten. Dies führte jedoch nicht zu einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der Annahme, Juden seien anfälliger für psychische Erkrankungen als Nichtjuden. Dennoch tauchte auch hier die Degeneration als Erklärungselement auf: Grundlegend war die Annahme, dass eine durch »geistige Überanstrengung« und Entfremdung von der Natur entstandene »nervöse Disposition« vererbt werden und sich in der nächsten Generation progressiv zu einer schwereren Nerven- oder Geisteskrankheit entwickeln könnte. Die angenommene psychopathologische Anfälligkeit der Juden wurde mit in der Vergangenheit liegenden Ursachen erklärt: Die »Ghettozeit« der Juden habe sich negativ auf die psychische Gesundheit ausgewirkt und so eine nervöse Disposition verursacht. Ein weiteres Argument war die veränderte Berufs- und Wirtschaftsstruktur der modernen Zivilisation, die für die Entwicklung psychischer Krankheiten förderlich sei. Bei dieser Deutungsfigur wurden einerseits Gründe angebracht, die auf vergangene Zeiten hinwiesen, wie der zu schnelle Übergang der Juden in die Emanzipation. Andererseits wurden auch Ursachen benannt, die mit der aktuellen Lebenswelt der zeitgenössischen Juden zusammenhingen, wie ein verschärfter wirtschaftlicher Wettbewerb. Die Betonung der Vergangenheit hat in diesem Zusammenhang zwei Seiten. Zwar erfährt der Allgemeinplatz der »nervösen Anlage der Juden« eine Verschiebung, indem nicht mehr die »Rasse«, sondern vergangene Lebensbedingungen als wesentliche Erklärung fungiert. Damit konnte eine streng rassisch-deterministische Deutung einer »jüdischen Psychopathologie« abgewehrt werden. Trotzdem bewegte sich diese Deutung innerhalb der damals allgemein anerkannten Theorien der Degeneration und der Vererbung. Die Begründung der psychischen Krankheiten bei Juden blieb zu einem großen Teil innerhalb des Erbparadigmas. Zwar brachten die Autoren für die Erklärung psychischer Krankheiten Argumente an, die Umweltfaktoren verantwortlich machten. Sie meinten damit aber die vergangene Lebenssituation der Vorfahren der damals lebenden Juden, die sich schädigend auf das Erbgut ausgewirkt hätte. Dadurch hätten die heute, also Anfang des 20. Jahrhunderts, lebenden Juden eine nervöse Disposition ererbt. Dieses degenerative Konzept der Vererbung entfernte sich zwar von einem rassischen Muster, blieb aber deterministisch. Die angebliche nervöse Disposition der Juden kam nicht durch den direkten Einfluss der Umwelt zustande, sondern war auch ererbt. Juden wurden zwar nicht aufgrund einer rassischen, wohl aber aufgrund ihrer biologischen Zugehörigkeit zu der Gruppe der Juden eine Disposition für psychische Krankheiten zugeschrieben. Obwohl dieses Konzept einen biologischen Determinismus barg, eröffnete es zumindest eine Möglichkeit für eine Regeneration zukünftiger Generationen.
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Neben den erbgutschädigenden Umweltfaktoren, durch die die westeuropäischen Juden eine Disposition für psychische Krankheiten geerbt hätten, existierten in der Vorstellung der Autoren der Beiträge zur »Psychopathologie der Juden« auch direkte Einflüsse auf die Entstehung von Geistes- und Nervenkrankheiten, die u. a. unter dem Begriff des »Kampfes ums Dasein« auftraten. Die Umstände der Emanzipation und Industrialisierung wurden als psychisch belastendes Ringen mit der »Moderne« eingestuft. Dem aus der »Moderne« resultierenden verschärften Wettbewerb und der veränderten Berufsstruktur unterlagen zwar im Prinzip auch Nichtjuden. Die Autoren sahen Juden jedoch als durch ihre spezifische Situation besonders von den veränderten Umständen betroffen und gleichermaßen als den Inbegriff des »Opfers« der Moderne. Diese sozialdarwinistischen Theorien entlehnte Auslegung des »Kampfes ums Dasein« kann man als Idee einer sozial-kulturellen Determinierung der Juden für psychische Krankheiten interpretieren, nach der es ebenfalls kein Entrinnen aus einer spezifisch »jüdischen Disposition« für psychische Krankheiten gab. Trotzdem: War bislang die »Psychopathologie der Juden« hauptsächlich im Kontext erblicher Veranlagung und rassischer Degeneration erschienen, öffneten die Beiträge, die die Lebensumstände als Ursache betonten, die Debatte. Die Autoren, die sich zum Thema »Psychopathologie der Juden« äußerten, versuchten die deterministische, rassische Erklärung für die vermeintliche psychopathologische Disposition der Juden entweder ganz zu vermeiden oder sie wurde zumindest als eine Ursache von vielen dargestellt. Stärker als die »Rasse«, so die entsprechenden Autoren, seien die Lebensumstände der Diaspora zu gewichten. Die innerjüdische Diskussion Anhand einer kleinen Kontroverse, die 1902 in drei jüdischen Zeitschriften109 ausgeführt wurde, möchte ich zeigen, dass diese innerwissenschaftlichen Erwägungen von einer Reihe weiterer Entwicklungen begleitet wurden, die zum besonderen Interesse an der Thematik der vermeintlichen »Psychopathologie der Juden« auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft führten. Karl Jeremias, ein Arzt und Nervenarzt aus Posen, forderte 1902 in der Allgemeinen Zeitung des Judentums (AZJ) »[e]ine öffentliche Irrenanstalt für Juden«, wie der Titel seines Beitrags lautete. Mit Bezug auf die bayerischen und preußischen Irrenstatistiken verwies er auf die »nervöse Entartung« der heute lebenden Juden, die durch die »jahrhundertelange physische Deprivation durch das Ghettole-
109 Die Zeitschriften waren: Die Allgemeinen Zeitschrift des Judentums, die sich gemäß ihres Untertitels als »unparteiisches Organ für alles jüdische Interesse« verstand, die Zeitschrift der Zionistischen Organisation Die Welt und das Organ des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens mit dem Titel Im deutschen Reich.
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ben und die […] geistige Überlastung« entstanden sei.110 Daher, so Jeremias, sei die große Zahl der »Nervösen« und »außerordentlichen Zahl von Geisteskranken« unter »uns« zu erklären.111 Die zur Verfügung stehenden öffentlichen und privaten Einrichtungen könnten die Wahrung der jüdischen Gebräuche und Sitten nicht gewährleisten, auch seien die »jüdischen Irren vielfach antisemitischen Rohheiten« sowohl vom Wachpersonal als auch von den Mitpatienten ausgesetzt.112 Aufgrund der hohen Anzahl »jüdischer Geisteskranker« wie auch ihrer »religiösen und gemüthlichen Eigenart« sei also eine eigene Anstalt für »jüdische Irre« notwendig, so Jeremias.113 Vier Wochen später erschien in der zionistischen Welt, ein »Offener Brief von Jeremias an den Vorstand des Zentralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens«. Jeremias antwortete darin auf einen Brief, den ihm der Verein aufgrund seines Artikels in der AZJ geschickt hatte.114 Der General-Sekretär des Vereins, Alphons Levy, hatte Jeremias in diesem Brief gebeten, Jeremias als »jüdischer Nervenarzt« möge doch davon absehen, »lediglich um das Bedürfnis besonderer Irrenanstalten für Juden nachzuweisen« von der »nervösen Entartung« der Juden zu sprechen, da diese Behauptung »in dieser Allgemeinheit aufgestellt, sicher unzutreffend und nur geeignet ist, die Antisemiten zu veranlassen, daraus Kapital zu schlagen.«115 Levy führte ferner aus, dass Jeremias in der Deutschen Zeitung aus Wien zitiert worden sei: »Sie, geehrter Herr Doktor, haben durch Ihren in der ›Allgemeinen Zeitung des Judentums‹ […] veröffentlichten Artikel […], natürlich unbeabsichtigt, den Antisemiten einen dankbaren Stoff geliefert.« Die Deutsche Zeitung habe Jeremias’ Worte über die »physische Deprivation« der Juden im Ghetto und die höhere Anzahl von Geisteskranken unter den Juden zitiert und wie folgt kommentiert: »Wir haben dem Bedürfnis nach Irrenanstalten für verrückte Juden oder sogar für solche, die es nur vor dem Strafgesetze wohlweislich sein wollen, nichts entgegenzuhalten; für die in
110 KARL JEREMIAS, Eine öffentliche Irrenanstalt für Juden. In: Allgemeine Zeitschrift des Judentums 66/1902, 256-257, 257. 111 Ebenda. 112 Ebenda. 113 Ebenda. 114 Der Brief ist in dem Artikel von Jeremias in der Welt abgedruckt, wie auch in: Vereinsnachrichten. In: Im deutschen Reich. Zeitschrift des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 8/1902, 459-465, 459f. Im Folgenden wird der Brief in der Zeitschrift Im deutschen Reich zitiert. 115 Ebenda.
130 | P SYCHOPATHOLOGIE UND »RASSE « wahrem Sinne ›gesunden Juden‹ halten wir aber das Ghetto für durchaus nicht depravierend. Woher denn? Probieren wir’s übrigens einmal, ob sie dadurch schlechter werden!«116
Außerdem äußerte Levy den Wunsch, man möge doch, selbst wenn Forderungen wie die von Jeremias gerechtfertigt seien, diese nicht so begründen, »dass von christlicher Seite Schlüsse gezogen werden können, welche das antisemitische Ziel der Absonderung der Juden rechtfertigen.«117 Jeremias nutzte den größten Teil seines Antwortbriefs für eine gründliche Abrechnung mit den Zielen des Zentralvereins, die er als Zionist, als der er sich nun in der Welt bezeichnete, zutiefst ablehnte. Er müsse seine »Spottlust zügeln« schrieb er, da der Brief satirische Züge aufweise. Den Zentralverein griff er für die »Unklarheit in Grundanschauungen« an und seine politische Uneindeutigkeit. Der Verein würde Zeit und Geld mit »Bagatellen« verschwenden, mit »Sisyphusarbeit«, die darin bestünde, »jede Dummheit eines antisemitischen Tintenkuli aufzuspüren und ernsthaft zu widerlegen«. Außerdem kritisierte Jeremias die politische Haltung des Centralvereins in seiner Heimat Posen, besonders zur »Germanisierungspolitik«, die nicht nur die Polen, sondern auch Juden treffe.118 Sichtlich genüsslich begann Jeremias seinen Artikel jedoch mit »einer kurzen sachlichen Klarstellung«. »Aus der Tiefe des deutschen Gemüts heraus« habe Levy die Behauptung einer »nervösen Entartung« der Juden als »sicherlich unzutreffend« bezeichnet. Hätte er jedoch die »einschlägigen Daten an die Hand« genommen, wie z. B. die in dem Artikel erwähnten Irrenstatistiken, hätte er sich von der Richtigkeit von Jeremias Aussage überzeugen können. Schließlich verwies der auf weiteres Fachwissen: »Endlich gestatten Sie, dass ich Ihrer kühnen Hypothesenmacherei und selbstsicheren Autorität noch die Namen von Charcot, Krafft-Ebing, Erb, Wernicke, Oppenheim entgegenstelle; diese bedeutenden Neurologen und Psychiater unserer Zeit stimmen darin überein, dass den Juden schlechthin eine ausserordentliche neuropathische Disposition zukomme«.119
Dies zeige, so Jeremias, dass er mit seiner »Behauptung auf dem Boden wissenschaftlicher Erfahrung stehe« und demnach nur »wissenschaftliche Kritik« zu fürchten habe.120 Er verstünde nicht, »was in aller Welt […] mit diesem biologischen Problem die Rücksicht zu tun [hat], was wohl die Antisemiten dazu sagen 116 Ebenda. 117 Ebenda. 118 KARL JEREMIAS, Offener Brief an den Vorstand des Zentralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. In: Die Welt 6/1902, 4-6, 5. 119 Ebenda, 4. 120 Ebenda, 4f.
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möchten?!«121 Er lehne es ab, zu schweigen und forderte »rücksichtslose Wahrheit« ein.122 Die Antwort des Centralvereins folgte nur einige Wochen später in der Zeitschrift des Vereins Im deutschen Reich und ging nur am Rande auf die eigentliche Streitursache, die Behauptung einer »nervösen Entartung« der Juden, ein. Dafür standen die politischen Angriffe Jeremias’ im Zentrum. Der Centralverein begründete diesen Fokus damit, dass der »sachliche Theil […] zu einer Erwiderung nicht Veranlassung giebt«.123 Mit Bezug auf die Germanisierungspolitik, für die Jeremias eine politische Einflussnahme von jüdischer Seite gefordert hatte, schrieb der Centralverein, dass Juden gewiss nicht als geeignete Vertreter für die deutschen politischen Interessen gesehen werden würden, wenn er seine Behauptung über die nervöse Disposition der Juden Aufrecht erhielte: »Die maßgebenden deutschen Kreise wird man mit solchen ›wissenschaftlichen‹ Ergebnissen nicht dazu führen, in den Juden der Ostmarken die besten Pioniere des Deutschthums und die geeigneten Förderer eines friedlichen Ausgleichs mit der polnischen Bevölkerung zu sehen«.124
Der Briefwechsel zeigt die große Spannbreite auf, in der die Auseinandersetzung um die »Nervosität« oder »Psychopathologie« der Juden situiert war. Jeremias’ Ausführungen offenbaren zunächst einmal mehr, dass der Analogieschluss von der angeblich höheren Anzahl von Juden mit psychopathologischen Leiden zu der »nervöse Entartung« der Juden, durchaus üblich war. Es zeigt deutlich, dass diese Diskussion im Kontext von Degeneration und Entartung begriffen und diskutiert wurde. Ferner präsentiert sich Jeremias als absolut überzeugt davon, dass er sich mit seinem Standpunkt auf rein wissenschaftlichem Gebiet bewegte. Die These der »nervösen Entartung« war für ihn statistisch und durch die Stimmen von psychiatrischen Fachautoritäten abgesichert und hatte nichts mit Antisemitismus zu tun. Jeremias fast arrogante Selbstsicherheit in dieser Frage zeigt die große Autorität und Plausibilität, die die Wissenschaft für ihn als Arzt besaß. Der Centralverein schien demgegenüber unsicher in seiner Einschätzung, ob es nun an der wissenschaftlichen Haltbarkeit der These etwas auszusetzen gäbe oder nicht. In jedem Fall wiesen seine Vertreter darauf hin, dass es der politischen Sache schade, würde man die Juden öffentlich als »nervös entartet« bezeichnen, da dies als Legitimierung für Ausschluss und Ausgrenzung von Juden gelesen werden konnte. Das Zitat aus der Deutschen Zeitschrift zeigt deutlich, dass diese Gefahr 121 Ebenda, 5. 122 Ebenda. 123 Vereinsnachrichten, 460. 124 Ebenda, 464.
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ernst zu nehmen war. Um die Jahrhundertwende hatte der rassische Antisemitismus durch zwei Veröffentlichungen, die deutsche Übersetzung von Gobineaus Über die Ungleichheit der Menschenrassen (1898) und Chamberlains Die Grundlagen des 20. Jahrhunderts (1899) neuen Aufwind gekommen.125 Vor allem Chamberlains weit verbreitete Grundlagen regten eine breite Rezeption seiner antisemitischen Auffassungen auch unter Wissenschaftlern an, die sie z. T. als Anregung aufgriffen, auch wenn die Wissenschaftlichkeit seiner Thesen umstritten war.126 Außerdem verschärfte die weite Verbreitung und Popularität des aufkommenden eugenischen Gedankenguts die Brisanz der Diskussion um die Jahrhundertwende. Die Eugenik hatte nach ihrem Begriffsschöpfer Francis Galton die Verbesserung der angeborenen Eigenschaften einer »Rasse« zum Ziel.127 Dies sollte durch die Förderung »höherwertiger« und die Ausgrenzung »minderwertiger« Personen, z. B. durch die Steuerung der Fortpflanzung erreicht werden.128 Die »Minderwertigkeit« wurde nach der Belastung des Individuums mit vermeintlichen moralischen, körperlichen, psychischen oder sozialen »Mängeln« bemessen.129 Im Mittelpunkt standen dabei Krankheiten und deviante Verhaltensweisen, von denen angenommen wurde, dass sie erblich seien.130 Die angebliche erbliche Belastung der Juden mit psychischen Leiden und damit ihre »Degeneration« standen damit in der Gefahr, als Argument für Ausgrenzungs- und Abgrenzungsbestrebungen und für die Ablehnung von Mischehen herangezogen zu werden. 125 Gobineaus Werk wurde vor allem in der Rezeption zum Klassiker antisemitischen Denkens. Er fand in Deutschland erst durch die Gründung der Gobineau-Vereinigung 1894 durch Ludwig Scheemann und dem Bayreuther Wagner-Kreis, dem Scheemann angehörte, weite Verbreitung. In der Rezeption seiner Theorie waren vier Elemente maßgeblich für den Einfluss auf den rassischen Antisemitismus: die Bedeutsamkeit der »Reinheit« der »Rasse«, die unterschiedliche Wertigkeit der »Rassen«, die Bevorzugung der »weißen Rasse« und schlussendlich die Einbeziehung geschichtsphilosophischer Gesichtspunkte, in denen er »Rasse« zum Schlüssel für das Verständnis der Weltgeschichte machte. MOSSE, Geschichte des Rassismus, 77,80. 126 LIPPHARDT, Biologie der Juden, 63. Chamberlain selbst stützte sich auf die Ergebnisse der zeitgenössischen Wissenschaft in seinem Buch, wollte sein Werk jedoch nicht als eingeschränkt fachwissenschaftlichen Beitrag verstanden wissen. Er habe zwar Achtung vor der Wissenschaft und sei auch nicht ohne wissenschaftliche Ausbildung, plädiere aber für ein universelleres Wissen, das vom »Leben selbst« geprägt sei. HOUSTON STEWART
CHAMBERLAIN, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, München 1899, [Vorwort]
XIII. 127 KAUFMANN, Eugenik – Rassenhygiene – Humangenetik, 347. 128 Ebenda. 129 Ebenda. 130 Ebenda, 352.
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Die Kontroverse zeigt jedoch auch, wie stark die Auseinandersetzung um die »Psychopathologie der Juden« nicht nur im Kontext von Antisemitismus, Degenerationstheorie und Eugenik, sondern auch von Fragen nach jüdischem Selbstverständnis, jüdischer Identität und Politik durchdrungen war. Auch macht sie den tiefen Graben zwischen Zionisten und den Vertretern des Centralvereins in diesen Themengebieten deutlich. Der Centralverein, der die Meinung der Mehrheit der deutschen Juden verkörperte, sah seine Aufgabe im Kampf gegen den Antisemitismus und stand für eine Politik der Integration sowie der Gleichstellung von jüdischen und nichtjüdischen Deutschen. Ihrem Selbstverständnis nach besaßen deutsche Juden zwar eine andere Religion, unterschieden sich ansonsten jedoch nicht von anderen Deutschen.131 Die Darstellung der Juden als »fremd«, »anders« und »entartet« wiedersprach daher diesen Auffassungen. Demgegenüber stand das Selbstverständnis der Zionisten. Sie sahen den Kampf gegen den Antisemitismus als aussichtslos an und verwarfen die Politik der »Assimilation«, die sie dem Centralverein vorwarfen. Stattdessen kämpften sie für ein neues jüdisches Selbstbewusstsein und die nationale Regeneration der Juden in einem eigenen Staat.132 Wie bei Jeremias deutlich wird, akzeptierten die Zionisten die Auffassung des medizinischen Mainstreams, der die Juden als krank darstellte.133 Sie verbanden damit jedoch nicht die Vorstellung, dass dies dauerhaft der Fall sein würde: Die Zionisten gingen davon aus, dass Juden »nicht von Natur aus minderwertig, sondern bloß entartet« seien.134 Ein Prozess der Regeneration war damit nicht ausgeschlossen.135 Sie betonten außerdem die Gründe, die ihrer Meinung nach zur spezifischen »Pathologie der Juden« geführt hätten: Das Leben unter den Bedingungen des andauernden Exils. Damit, so der Historiker Mitchell Hart, hätten die Zionisten einen wissenschaftlichen Beleg dafür gefunden, dass »Jews literally had no future in the Diaspora«.136 Die Zionisten knüpften an den aktuellen Zeitgeist an, in dem sie die Grundlage für einen starken Nationalstaat in Zusammenhang mit der Gesundheit seiner Bevölkerung setzten.137 Demnach sollte der Zionismus nicht nur einen neuen Staat, sondern auch eine neue Art von Juden erschaffen, die gesund an Körper und Geist wa131 Zum Centralverein vgl. AVRAHAM BARKAI, »Wehr Dich!«: der Centralverein Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens (C.V.) 1893-1938, München 2002, besonders 86-100. 132 MICHAEL BRENNER, Geschichte des Zionismus, München 2002, 21-49. 133 HART, Social Science, 21. 134 MOSHE ZIMMERMANN, Muskeljuden versus Nervenjuden. In: Michael Brenner und Gideon Reuveni (Hg.), Emanzipation durch Muskelkraft. Juden und Sport in Europa, Göttingen 2006, 15-28, 17. 135 Ebenda. 136 HART, Social Science, 21. 137 ZIMMERMANN, Muskeljuden, 16f.
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ren.138 Max Nordau hatte in einer Rede auf dem Zweiten Zionistenkongress in Wien 1898 dafür den Begriff des »Muskeljuden« geprägt, der das zionistische Zukunftsideal darstellen und den bisherigen »Nervenjuden« ersetzen sollte.139 Damit war diese Dichotomie zwischen zukünftigen »Muskeljuden« und zu überkommenden »Nervenjuden« der zionistischen Bewegung in die Wiege gelegt: Nach Moshe Zimmermann war so die »Überwindung der für das Bild vom Juden so charakteristischen Neurosen […] zu einem erklärten Ziel des Zionismus« geworden.140 Nordaus Kongressrede und das Konzept des »Muskeljuden« führten in der jüdischen Öffentlichkeit zu einer großen Debatte um die physische und psychische Beschaffenheit der Juden, die auch außerhalb zionistischer Kreise geführt wurde.141 Nicht alle stimmten dem Standpunkt der Zionisten zu, nach dem das Leben in der Diaspora für die Gesundheitslage der Juden verantwortlich war. Die als schlecht verstandene gesundheitliche Situation der Juden nahmen hingegen auch einige zum Anlass, für eine Reformierung der Lebensumstände der Juden in der Diaspora zu streiten.142 Gleichzeitig war die Zuschreibung einer »Nervosität« für viele Juden nicht nur negativ konnotiert. Die Neurasthenie oder Nervosität hatte bereits bei Beard einen ambivalenten Charakter und behielt diesen auch bei: Mit ihr war nicht nur das einer krankhafte Veränderung assoziiert, sondern auch eine kulturelle Verfeinerung, eine hohe Modernität und Zivilisiertheit.143 Viele jüdische Künstler und Literaten bezogen sich in Selbstzeugnissen und in ihren literarischen Werken um die Jahrhundertwende in diesem positiven Sinne auf die Nervosität. Eine neue Generation verstand die Nervosität als Zeichen ihres besonderen Lebensstils, so Hans-Georg Hofer: »Unruhe, Hast und Erregung, Wandelbarkeit und Standpunktwechsel wurden zu Synonymen für Jugendlichkeit und Aufbruch, zu Stimulanzien einer jungen, rebellischen Befindlichkeit«144 Diese »(jüdischen) Repräsentanten der Moderne«, die zumeist dem städtischen Bürgertum angehörten, hätten sich den ästhetischkünstlerischen Idealen der »Dekadenz« nahe gefühlt und die »Nervosität« oder 138 Ein Mittel dafür war bis zur Erlangung einer eigenen Nation die Gründung von Turn- und Sportvereinen. Vgl. Ebenda. 139 MAX NORDAU, Kongreßrede. In: Stenographisches Protokoll des Verhandlungen des zweiten Zionistenkongresses gehalten zu Basel, Wien 1898, 14-29, 24., ferner MAX NORDAU, Muskeljudentum. In: Jüdische Turnzeitung 3/1902, 10-11. 140 ZIMMERMANN, Muskeljuden, 19. 141 Vgl. dazu ausführlicher HART, Social Science, 138-168 sowie LIPPHARDT, Biologie der Juden, 121-129,143-148. 142 HART, Social Science, 138-168. Die Auswirkungen dieser Debatte auf den Zionismus in Palästina/ Israel beschreibt Rakefet Zalashik, Unseliges Erbe. 143 SCHMIEDEBACH, Public's View. 144 HOFER, Juden. 102f.
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»Neurasthenie« als Zeichen ihrer Modernität empfunden. Nervös zu sein hätte für sie »quasi zum guten Ton gehört, ja gewissermaßen sogar eine Art Distinktionsfunktion« erfüllt.145 Eine solch explizit positive Bezugnahme ist in den psychiatrischen Quellen um die »Nervosität der Juden« nicht zu finden. Möglich ist es, dass das positive Bild von der »Nervosität als exklusives Gefühlsrefugium der Modernen«146 zwar in literarischen und auch öffentlichen Kontexten präsent war, nicht jedoch in einem explizit psychiatrisch-medizinischen Rahmen.. Dort erschien die »nervöse Disposition« der Juden als ein ernstes Problem, nicht als ein erstrebenswerter Zustand. 3.1.4
»Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen« – Deutsche Kolonisatoren und die Tropenneurasthenie
Die Nervosität oder Neurasthenie war noch in einem weiteren Kontext Gegenstand der Diskussion: dem der sogenannten Tropenneurasthenie, einer Krankheit, die Ärzte ausschließlich bei Europäern, die in den Tropen gelebt hatten, diagnostizierten. Dem begrenzten Interesse deutschsprachiger Ärzte an den psychischen Leiden der autochthonen Bevölkerung der deutschen Kolonien stand dabei das Interesse an der psychischen Befindlichkeit in »eigener Sache« entgegen. Nerven und Psyche der deutschen Kolonisatoren bekamen eine breite Aufmerksamkeit in den Jahren zwischen Fin de Siècle und Erstem Weltkrieg und sie behielten es noch, auch nach dem Verlust der deutschen Kolonien.147 Aus einer heutigen Perspektive ist die »Tropenneurasthenie« in den Kontext der Auseinandersetzung über Psychopathologie und »Rasse« zu situieren, ging es doch um die psychische Gesundheit der »weißen Rasse« in den Tropen. In den damaligen Diskussionen bildete sie jedoch einen parallelen Diskursstrang zur rassenpsychiatrischen Debatte, denn die Zeitgenossen selbst stellten keine Querverbindungen her. So nahm die rassenpsychiatrische Diskussion so gut wie keine Notiz von der Tropenneurasthenie und auch umgekehrt sind Bezugnahmen auf die rassenpsychiat-
145 Ebenda, 99. 146 Ebenda. 147 Vgl. u. a. HELMUT EVERS, Erkrankungen von Nervensystem und Psyche in den Tropen. In: Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene 35/1931, 654-659; ERWIN POLECK, Über die eigentlichen Ursache und über das Wesen der sogenannten Tropenneurasthenie. In: Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene 28/1924, 193-205; ERWIN RODENWALDT, Die seelische Belastung des Europäers in tropischer Umwelt. In: Zeitschrift für psychische Hygiene. Beilage der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch- gerichtliche Medizin 14/1942, 33-41; HEINRICH TÖBBEN, Totschlag bei Tropenkoller. In: Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 1936, 375-383.
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rische Forschung in der Literatur um die Tropenneurasthenie nicht zu finden. Ferner war auch der Duktus der Publikationen ein anderer: Es ging um die Belastung der deutschen Kolonisatoren und anderer Europäer mit der tropischen Umwelt.148 Die Frage nach einem Zusammenhang von »Rasse« und der Ausprägung von Tropenneurasthenie wurde nicht gestellt.149 Der Einfluss der Tropen auf Psyche und Nerven von Deutschen und anderen Europäern war vornehmlich ein Thema der Kolonialmedizin. Auffällig ist, dass nicht nur Fachaufsätze, sondern auch eine Reihe tropenmedizinischer Handbücher die Tropenneurasthenie behandelten. Darüber beschäftigten Literatur und Populärkultur sich mit der Tropenneurasthenie, hier vor allem unter Begriff des sogenannten »Tropenkollers«.150 Damit unterschied sich die Debatte um die Tropenneurasthenie ebenfalls von den anderen rassenpsychiatrischen Publikationen. Die Hintergründe des Interesses an der Tropenneurasthenie legten die Beteiligten offen: Die Frage nach dem pathologischen Einfluss der Tropen auf die Gesundheit »des Europäers« stand im direkten Zusammenhang mit den Plänen der deutschen Kolonialpolitik: Welche gesundheitsschädlichen Auswirkungen die Tropen auf die weiße Kolonialbevölkerung besaßen und wie diese vermieden werden konnten definierte die Tropenmedizin und -hygiene als ihre Aufgabe. »Aus der Tropenhygiene kann man lernen, wie man es schafft, dass die Weißen sich in den Kolonien
148 In der Regel unterschieden die Texte nicht zwischen deutschen und europäischen Tropenneurasthenikern. 149 Allerdings gab es in der Frage der »Tropentauglichkeit« Überschneidungen mit Argumenten aus der Rassenpathologie. Mense erwähnt z. B., dass Afrikaner widerstandsfähiger seien als andere »Rassen« CARL MENSE, Tropische Gesundheitslehre und Heilkunde, Berlin 1902, 23. 150 Der Tropenkoller galt als eine hochgradige Überreizung der Nerven, die bei Europäern angeblich zu übermäßigem und irrationalem gewalttätigen Handeln führte. Die meisten medizinischen Autoren lehnten die Existenz dieses spezifischen Krankheitsbildes im Gegensatz zu dem der Tropenneurasthenie jedoch ab. Vgl. PIETER C.J. VAN BRERO, Die Nerven- und Geisteskrankheiten in den Tropen. 2. Auflage. In: Carl Mense (Hg.), Handbuch der Tropenkrankheiten, Leipzig 1914, 679-726, 682-684; MENSE, Tropische Gesundheitslehre, 22. Zum Tropenkoller in der Literatur vgl. u. a. den Roman von HENRY WENDEN, Tropenkoller, Leipzig 1904. Eine kulturwissenschaftliche Analyse sowohl der medizinischen als auch literarischen Behandlung der »Tropenneurasthenie« und des »Tropenkollers« basierend auf seiner Dissertation ist schon seit 2010 von Stephan Besser angekündigt: BESSER, Pathographie der Tropen. (Im Erscheinen). Sie lag bei der Abfassung dieses Buches leider noch nicht vor.
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ansiedeln können«, so fasste es beispielsweise der Tropenmediziner Karl Däubler zusammen.151 Vor allem am Klima lag es, so die zeitgenössische Meinung, dass »kein Europäer gefunden [werden konnte, d. Verf.], der nicht Klagen über das Ergriffensein des Nervensystems führte«.152 Schließlich wandele »niemand ungestraft unter Palmen« – wie das von Kolonialärzten angeführte Zitat aus Goethes Wahlverwandtschaften pointiert formulierte.153 Bei einigen Kolonisatoren wurden über die bei allen Europäern vermutete allgemeine Schwächung der Nerven hinaus schwerere Leiden diagnostiziert, die unter dem Krankheitsbild der »Tropenneurasthenie« firmierten. Die Tropenneurasthenie war die koloniale Form der Neurasthenie oder Nervenschwäche, die mit ihr eine Fülle ähnlicher, eine große Bandbreite absteckender Symptome gemeinsam hatte.154 So war für die Tropenneurasthenie eine allgemeine Schwächung auf einer Reihe von Gebieten typisch: die Patienten litten unter überreizten Nerven, Schlaflosigkeit, Energiemangel, Interesselosigkeit, man beschrieb sie als empfindlicher, aggressiver und leichter reizbar, außerdem nähmen ihre intellektuellen Fähigkeiten ab.155 Der Tenor der Begründungen für die extreme Belastung des europäischen Nervensystems in den Tropen sah im Klima die Ursache. Die Bedeutung von Erkrankungen wie der Malaria oder der Amöbenruhr wurde zwar ebenfalls diskutiert, nahm aber einen geringeren Raum ein.156 Zunächst stand die Ursachenerklärung in der Tradition der Beardschen Erklärung der Neurasthenie: Das Klima wirke negativ auf die Nerven, eine Nervenschwäche entstehe mit schädigenden Auswirkungen auf das Gehirn. So schreibt beispielsweise Rasch: 151 DÄUBLER, Grundzüge der Tropenhygiene, 3. Die kolonialpolitische Bedeutung erwähnt ebenfalls CHRISTIAN RASCH, Ueber den Einfluss des Tropenklimas auf das Nervensystem. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 54/1898, 745-775, 745. 152 RASCH, Einfluss, 773. 153 Das Zitat findet sich u. a. bei RASCH, Einfluss, 769. Ferner ERWIN POLECK, Tropenneurasthenie. Vortrag, gehalten auf der 13. Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte in Leipzig vom 12.-16. September 1923 in Danzig. In: Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde 81/1924, 210-216, 214. 154 Beard füllte mit der Aufzählung der zur Neurasthenie gehörenden Symptome fast zwei Seiten und bemerkte dann, dass diese Auflistung noch nicht vollständig sei. BEARD, American Nervousness, 7f. 155 RASCH, Einfluss, 771f. 156 BRERO, Nerven- und Geisteskrankheiten (1914). 211f; RASCH, Einfluss, 769; SCHEUBE, Kosmopolitische Krankheiten, 770. Plehn hielt bei den meisten neben den äußeren Bedingungen eine nicht ausgeheilte Malaria für ursächlich. ALBERT PLEHN, Über die Hirnstörungen in heißen Ländern und ihre Beurteilung. In: Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene 10/1906, 220-257, 225-228.
138 | P SYCHOPATHOLOGIE UND »RASSE « »Wenn man in kurzen Worten eine Erklärung des Zustandes des Nervensystems in den Tropen geben wolle, so könnte man sagen, es handelt sich um eine reizbare Schwäche des Centralnervensystems, um eine cerebrale Erschöpfung. [...] Offenbar liegen hier Inanitionszustände∗ oder Erschöfungszustände vor: Erleidet der gesammte Körper des Europäers in den Tropen während der Acclimationsarbeit eine bedeutende Umwälzung, so kann das Gehirn selbstverständlich nicht unbetheiligt bleiben«.157
Dazu kommen auch Positionen, die die erbliche Disposition als wichtige Ursache für eine Tropenneurasthenie betonen.158 Häufig wird hier erwähnt, dass man durch eine geeignete Auswahl des Kolonialpersonals, in dem man auf nervöse Leiden und psychische Erkrankungen in der Familie des Bewerbers achte, bereits präventiv arbeiten könnte.159 Neben der Darstellung der klimatischen und erblichen Ursachen der Tropenneurasthenie nehmen die Lebensumständen in den Kolonien einen großen Raum ein: die Entfernung zur Heimat, die Einsamkeit und der Mangel an zivilisatorischen Errungenschaften führten zur Tropenneurasthenie: Nun war also ein Mangel an Zivilisation, nicht der Überfluss davon wie bei der ursprünglichen Form der Neurasthenie, der Auslöser. Statt in der »altgewohnten und teuer gewordenen« Umgebung nun in einer fremden leben zu müssen, griffe die Nerven an, so van Brero.160 So sei das »Gefühl von Gesundheit und Kraft, die daraus resultierende Lebens- und Schaffensfreude […] in jenen Gebieten stark herabgesetzt. Ohne Zweifel stellt das Tropenklima, weil das Nervensystem sich in einem reizbaren Schwächezustand befindet, an Pflichttreue und Nächstenliebe schwierigere und stetigere Anforderungen, als es im kühlen Klima der Fall ist«.161
Ebenfalls schien es die weißen Kolonisatoren zu belasten, dass sie zwar eine herausgehobene Stellung gegenüber der autochthonen Bevölkerung einnahmen, jedoch häufig unter ihnen in der Minderzahl waren. So schrieb Rasch, dass die gestiegene Verantwortung trotz tropisch bedingter »geringerer Leistungsfähigkeit« sowie die exponierte Stellung unter »einer inferior betrachteten Bevölkerung und Rasse« dem Europäer zu schaffen machten: »Die Verantwortung, welche er trägt, ist eine grös∗
inanis= leer
157 RASCH, Einfluss, 775. 158 BRERO, Nerven- und Geisteskrankheiten (1914). 211; SCHEUBE, Kosmopolitische Krankheiten, 771. 159 ADALBERT RÄBIGER, Psychose und Induktionspsychose. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift 35/1909, 1024-1025, 1095. 160 BRERO, Nerven- und Geisteskrankheiten (1914). 681. 161 Ebenda. 680.
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sere als in Europa, wo Jedermann sich zu allen Zeiten Rath und Unterstützung in kürzester Frist verschaffen kann.«162 Die Entfernung von der Heimat, die Langeweile und die Einsamkeit des kolonialen Lebens galten als ein weiterer Grund für die tropische Nervenschwäche: »Verstimmungen, Melancholien infolge des einsamen Lebens auf entlegenen Niederlassungen können bei solchen leicht auftreten, welche die Trennung von Europa, der Mutter unserer Kultur und Spenderin unserer geistigen Nahrung, schwer empfinden«.163
In den Tropen fehle die korrektive Wirkung der Zivilisation, es sei für »schwache Charaktere […] drüben unter den Palmen die Gelegenheit, aus dem moralischen Gleichgewichte zu geraten größer als in Europa, wo das Auge des Gesetzes und der Gesellschaft wachen und die gute Sitte dem Lebenswandel engere Schranken zieht. Dieselben Menschen aber, welche in den Kolonien am sogenannten Tropenkoller leiden, werden überall, selbst am Nordpol, zu Excessen geneigt sein, sobald nur die aus tausend Rücksichten gewebte Zwangsjacke der Kultur gelockerter wird«.164
Dass die koloniale Einsamkeit selbst beim Ausbruch einer Psychose eine Rolle spielen konnte, das behauptete der Kameruner Kolonialarzt Adalbert Räbinger. Er beschrieb eine »Induktionspsychose« bei einem Europäer in Kamerun, der sich bei seinem Chef, einem ebenfalls weißen Siedler, »angesteckt« habe. Zwar glaubte Räbinger, dass die erbliche Belastung, auch wenn er sie in diesem Fall nicht nachweisen konnte, die Hauptursache war. Jedoch spiele die Umgebung, »die Gesamtheit der äußeren Verhältnisse« eine »Rolle von nicht zu unterschätzender Bedeutung«: »Die an sich nachdenklich stimmende Einsamkeit des afrikanischen Urwaldes wird einem psychisch nicht gerade robusten Menschen, der allein, als einziger Weißer mit einem Geisteskranken zusammenleben muß, selbstverständlich leichter über die Grenze psychischer Gesundheit hinweggleiten lassen als die heimische europäische Umgebung, die auch unter denkbar unkultivierten Verhältnissen, stets mannigfaltige Gelegenheit zu geistiger Ablenkung bietet«.165
Diese – in den Texten wiederholt thematisierte – Einsamkeit und die »unzivilisierten« Lebensbedingungen, so die Auffassung der Ärzte, führten bei vielen Europäern
162 RASCH, Einfluss, 762. 163 MENSE, Tropische Gesundheitslehre, 23. 164 Ebenda, 22f. 165 RÄBIGER, Psychose und Induktionspsychose, 1094.
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dazu, dass sie noch viel eher zu einem Verhalten geneigt wären, das ihr Nervenkostüm weiter angriffe. Wenn »der Europäer« aufgrund der »erschlaffenden Wirkung des tropischen Klimas auf das Nervensystem […] Anregung im Alkohol sucht oder gar den Exzessen in baccho noch Exzesse in venere∗ hinzufügt, so arbeitet er gründlich an der Zerrüttung seines Nervensystems und seines ganzen Körpers«.166
Die beste Prävention gegen die Einsamkeit und Langeweile in den Tropen sei es, wenn man sich bereits zuhause vorbereite und »Ablenkung in selbstgewählten und beruflichen Tätigkeiten« suche: Zeit für solche »Liebhabereien« sei genug, wenn man in den Kolonien lebe, denn dort »vergehe die lange Tageszeit noch nicht in der modernen Hetzjagd von Arbeit und Vergnügen«. Mense konnte der Einsamkeit auch positive Seiten abgewinnen, weil »[m]ancher, der in Europa geistig stark überanstrengt war […] das ruhiger und langsamer dahingleitende Leben auf einer Station in den Kolonien als eine Wohlthat« empfinde und für so »machen blasierten und übersättigten Sohn des 19. und 20. Jahrhunderts die Tropen, vor allem die entlegenen Gebiete, eine Stätte geistiger Gesundung werden.«167 Die Kolonien waren damit beides: sowohl eine Gefahr für die (geistige) Gesundheit als auch ein möglicher Schutz. Die erste Phase des Diskurses um Psychopathologie und »Rasse« zeigt die Breite an Themen, anhand derer die Auseinandersetzung geführt wurde, vor allem aber auch die zentrale Bedeutung und die Widersprüchlichkeit, die die »Zivilisation« in diesem Kontext besaß. Während der »Naturmensch« aufgrund eines Mangels an Zivilisation angeblich weniger häufig eine psychische Erkrankung erlitt, war es bei den europäischen Kolonisatoren nicht nur das Klima, sondern eben genau dieser Mangel an Zivilisation, der sie in den Wahnsinn trieb. Besonders das Herausgerissensein aus den gewohnten sozialen und kulturellen Kontexten, so der Gedanke, machte den Europäern in den Kolonien zu schaffen. Die westliche Zivilisation galt dabei als »kulturelle Zwangsjacke«, die nicht zuletzt durch soziale Kontrolle »Zivilisiertheit« gewährleistete. Insofern ging man davon aus, dass der Verlust an äußerer Zivilisation häufig auch zum Verlust der inneren Zivilisiertheit führe. Dem Juden als Sinnbild des modernen Menschen wiederum wurde angeblich sein Übermaß an Zivilisation zum Verhängnis. In ihm galt bereits das als verwirklicht, was dem nichtjüdischen Bewohner der westlichen Welt ebenfalls zu drohen schien: die kollektive Degeneration.
∗
in baccho et venere = im Trinken und in der Liebe
166 MENSE, Tropische Gesundheitslehre, 23. 167 Ebenda, 22,23.
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3.2 D IE 3.2.1
ZWEITE
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P HASE 1914-1933
Kriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit
Während des Krieges erschienen nur wenige Publikationen über den Zusammenhang von »Rasse« und Psychopathologie. Die mit dem Weltkrieg in Zusammenhang stehenden Ereignisse hinterließen jedoch Spuren in den Schriften jener Zeit. Einzelne Ärzte nutzten ihren militärärztlichen Einsatz, um später über die im Krieg gewonnen rassenpsychiatrischen Einsichten zu publizieren. So hatten die Balkankriege 1912/1913 bereits 1914 zu einer Publikation über Geisteskrankheiten in den Heeren Serbiens, Bulgariens, Griechenlands und Montenegros geführt, andere Artikel mit Erkenntnissen aus den Kriegslazaretten des Ersten Weltkrieges folgten.168 Aktuelle Diskussionen färbten dabei auf die rassenpsychiatrische Literatur ab und beeinflussten ihre Fragestellungen. So auch die Kontroverse über die sog. Kriegsneurose, in der Mediziner besonders in den ersten Kriegsjahren diskutierten, inwiefern Traumata oder Erschöpfung u. a. des Krieges eine solche Neurose bedingten.169 Wie im vorigen Kapitel schon erwähnt untersuchten Subotitsch sowie Pappenheim und Kraus im Kontext rassenpsychiatrischer Forschung diese Frage für die »Balkanvölker« und türkischen Soldaten. So wies für Pappenheim und Kraus die geringe Anzahl von »Kriegszitterern« unter den türkischen Soldaten auf die psychogenen Ursachen der Erkrankung hin: Sie nahmen an, dass der »weniger kultivierte Orientale« generell phlegmatischer, fatalistischer und weniger »zu theatralischen Erscheinungsformen seines Leidens« geneigt sei als der Mensch des Westens. Daher falle auch seine Neurose unauffälliger aus.170 Max Sichel wiederum argumentierte, dass die geringe Zahl von Aufnahmen jüdischer Patienten während des Krieges zei-
168 PAPPENHEIM und KRAUS, Über Kriegsneurosen, 312; ALEXANDER PILCZ, Beitrag zur vergleichenden Rassenpsychiatrie. In: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 23/24;25/26/1919/1920, 157-162; 178-182; W.M. SUBOTITSCH, Geisteskrankheiten in den Heeren Serbiens, Bulgariens, Griechenlands und Montenegros während und infolge der Balkankriege 1912 und 1913 (Vortrag gehalten vor dem 5. Internationalen Kongreß zur Fürsorge für Geisteskrankheiten in Moskau, Januar 1914. In: Medizinische Klinik 12/1914, 525-529. Rückblickend und eher analytisch: MAX SICHEL, Die psychischen Erkrankungen der Juden in Kriegs- und Friedenszeiten. In: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 60/1923, 207-227. 169 Zur Kontroverse über die »Kriegsneurosen« vgl. HOFER, Nervenschwäche und Krieg, 209-252; LERNER, Hysterical Men, 61-85. 170 PAPPENHEIM und KRAUS, Über Kriegsneurosen; SUBOTITSCH, Geisteskrankheiten in den Heeren, 527.
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ge, dass der Weltkrieg Juden nicht so viel habe anhaben können, da sie Ähnliches durch ihre Vergangenheit in der Diaspora bereits gewohnt seien: »Der Weltkrieg war, wenn auch ein gewaltiger, doch nur einer der vielen Stürme, die im Laufe der Jahrtausende über das jüdische Volk dahingebraust sind. Die heutigen Bekenner der jüdischen Religion verdanken ihre seelische und körperliche Widerstandsfähigkeit dem ihren Vorfahren aufgezwungenen harten Kampf ums nackte Dasein«.171
Deutlicher war die Kriegsthematik in einem anderen Diskussionszusammenhang. Im November 1914 veröffentlichte der Münchner Nervenarzt Leopold Löwenfeld die Abhandlung Über den Nationalcharakter der Franzosen und dessen krankhafte Auswüchse (die Psychopathia gallica) in ihren Beziehungen zum Weltkrieg.172 Wie der Titel schon verrät, versuchte Löwenfeld die aktuellen Kriegsereignisse im Kontext eines angeblich pathologischen Nationalcharakters der Franzosen zu erklären. Den »Nationalcharakter« erklärt Löwenfeld durch die rassenbiologische Herkunft der Franzosen: Sie bestünden zwar aus einem Rassengemisch aus der »mittelländischen, dunkelhaarigen Langköpfe, der alpinen Kurzköpfe und der germanischen, blonden Langköpfe«, hätten sich jedoch von den Germanen entfernt, weil sich in der Vererbung die Eigenschaften der »alpinen Kurzköpfe« gegenüber denen der germanischen durchgesetzt hätten.173 Diese Charaktereigenschaften machten die Franzosen krankhaft eitel, sehr schnell erregbar, ferner seien sie einfach beeinflussbar und sehr leicht gekränkt. Außerdem zeichneten sie sich durch Grausamkeit aus.174 Die beschriebenen »drei Züge des französischen Nationalcharakters: erhöhte Emotivität, Suggestibilität und Eitelkeit« würden eine »psychopathische Disposition« bei den Franzosen begründen: »Sie bedingen, dass […] Vorgänge von untergeordnetem Interesse bei den Massen eine gemüthliche Erregung hervorzubringen vermögen, die erheblich über das Normale hinausgeht 171 SICHEL, Krieg und Friedenszeiten, 220. Sichel wies ausdrücklich darauf hin, dass die geringe jüdische Hysterikerrate nicht an der geringeren Beteiligung der Juden im Krieg gelegen habe. Dies war ein verbreitetes Vorurteil, welches während des Krieges durch die sogenannte »Judenzählung«, die den Anteil der Juden in der Armee ermitteln sollte, auch von Regierungsseite gefördert worden war. Vgl. VOLKER ULLRICH, »Drückeberger«. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg. In: Julius H. Schoeps und Joachim Schlör (Hg.), Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, München 1995, 210-217. 172 LEOPOLD LÖWENFELD, Über den Nationalcharakter der Franzosen und dessen krankhafte Auswüchse (Die Psychopathia gallica) in ihren Beziehungen zum Weltkrieg, Wiesbaden 1914. 173 Ebenda, 2f. 174 Ebenda, 8f.
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und die Urteilsfähigkeit derart beeinträchtigt, dass die Unterscheidung von Trug und Wahrheit unmöglich wird, womit ein krankhafter Geisteszustand gegeben ist«.175
Löwenfeld war überzeugt davon, dass die Franzosen sich durch den Verlust des Krieges von 1870/71 so in ihrer Ehre gekränkt gefühlt hätten, dass sie im Folgenden aufgrund ihrer erhöhten Erregbarkeit und Suggestibilität die Idee entwickelt hätten, sich unbedingt an Deutschland rächen zu müssen.176 Auch wenn er meint, dass nicht alle Franzosen »geisteskrank im wissenschaftlichen Sinne« seien, so bewertet er die »seelischen Anomalien« der Franzosen als einen »Mittelzustand«, der »alle jene zahlreichen seelischen Störungen umfasst, die nicht als Symptome von Geisteskrankheiten wissenschaftlich betrachtet werden« die man jedoch als »Psychopathie, psychopathische Minderwertigkeiten, psychopathische Zustände« bezeichne.177 Löwenfelds Beitrag war Teil einer Reihe von ähnlichen Artikeln.178 Unter anderem beteiligte sich Hans Laehr 1916 und 1917 mit zwei langen Beiträgen – 25 und 66 Seiten – in der von ihm herausgegebenen Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie. In ihnen beschäftigte er sich eingehend mit Löwenfelds »Psychopathia Gallica« und einem Artikel von Benda, der ein ähnliches Argument verfolgte, sowie mit der daraus abgeleiteten Frage nach der Suggestibilität und Beeinflussbarkeit von Massen bzw. Völkern. In seinem ersten Artikel lobte Laehr die Herangehensweise Löwenfelds an das Thema und setzte sich im Detail mit dessen Argumenten auseinander.179 Laehr blieb in der Bewertung, ob es die »Psychopathia Gallica« wirklich gäbe, letztlich jedoch uneindeutig. Er lehnte die Zuschreibung eines pathologischen 175 Ebenda, 10. 176 Ebenda, 22f., 32f. 177 Ebenda, 38. 178 THEODOR BENDA, Ist das französische Volk zurechnungsfähig? In: Kölnische Zeitung vom 26.8.1915 1915, 865-868; E. HESS, Nochmals Psychopathia gallica. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 71/1916, 372-373; HANS LAEHR, Psychopathia gallica. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 72/1916, 250-275; HANS LAEHR, Wahnideen im Völkerleben. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 73/1917, 234-300. Der Aufsatz Wahnideen im Völkerleben nahm im letzten Teil ausführlich Bezug auf den Weltkrieg. Als Reaktion auf einen entsprechenden Artikel aus Frankreich erschien ferner: SCHULZE, »Die heutigen Deutschen sind Alkoholiker, Verrückte und Verbrecher« (Besprechung). In: Deutsche Medizinische Wochenschrift 42/1916, 1170-1171. Ähnliche Artikel waren auch schon im Krieg 1870/71 veröffentlicht worden: CARL STARK, Die psychische Degeneration des französischen Volkes, ihr pathologischer Charakter, ihre Symptome und Ursachen: ein irrenärztlicher Beitrag zur Völkerpathologie, Stuttgart 1871. 179 Laehr bespricht in diesem Artikel ebenfalls BENDA, Ist das französische Volk zurechnungsfähig?
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»Zustands« der Franzosen nicht gänzlich ab, betonte aber, dass dieser vorübergehend und das Verhalten der Franzosen aus ihrer Sicht teilweise durchaus nachvollziehbar sei.180 Die Artikel von Laehr erschienen trotz ihrer Länge in der Rubrik »Kleine Mitteilungen« in der AZP. Auch Löwenfelds Psychopathia Gallica erschien in einer Reihe, die Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens bezeichnet war. In ihr publizierten zwar anerkannte Wissenschaftler, jedoch größtenteils zu Themen, die auch Interesse in einem breiteren Publikum wecken konnten.181 Einerseits weist die Bezeichnung »Grenzfragen« darauf hin, dass diese Auseinandersetzung auch von den Zeitgenossen nicht als eine streng wissenschaftlich gewertet wurde, auch wenn sich die Beteiligten einer wissenschaftlichen Sprache und wissenschaftlicher Erklärungen bedienten. Ferner deutet diese Bezeichnung darauf hin, dass diese auch Themen außerhalb des psychiatrischen Faches ein interessiertes Publikum fanden. Schließlich kann die Heranziehung psychiatrischer Expertisen zur Bestimmung von Kriegsursachen zudem als Anspruch der psychiatrischen Profession gewertet werden, Deutungsmacht auch über gesellschaftliche Themen zu erlangen. 3.2.2
Alte Argumente und neue Ansätze (1918-1933): Psychoanalyse, Konstitutionstypen und ein internationales Forschungsprogramm
In der Periode zwischen dem Kriegsende und dem Beginn der NS-Zeit fächerte sich das Forschungsfeld »Rasse« und Psychopathologie weiter auf. Einen neuen Ansatz stellte etwa die Verknüpfung mit der Konstitutionslehre dar, also mit der Lehre von den Körperbautypen, auf die ich in diesem Kapitel noch näher eingehen werde. Darüber hinaus führten Wissenschaftler die rassenpsychiatrischen Debatten, die in der ersten Phase des Diskurses bereits Raum eingenommen hatten, fort. Dies teilweise mit veränderten Schwerpunkten: Während die »Psychopathologie der Juden« ein beachtetes Thema blieb, reduzierten sich die Publikationen zu psychischen Erkrankungen bei den »primitiven Rassen« und zur Tropenneurasthenie,182 waren aller-
180 LAEHR, Psychopathia gallica, 256-266. 181 Unter anderem: Paul Näcke, Alfred Hoche, Werner Sombart, Albert Eulenburg, Karl Birnbaum, Erwin Stransky. 182 Dies lag sicher auch an den begrenzten Möglichkeiten deutscher Wissenschaftler, zu reisen, vor allem in der unmittelbaren Zeit nach dem Krieg, als der »Aufruf der 93« noch Nachwirkungen zeigte. Im von deutschen Künstlern und Gelehrten 1914 unterzeichneten Aufruf »An die Kulturwelt« war versucht worden, Vorwürfe gegen die deutsche Kriegsführung und deutsche Kriegsverbrechen in Belgien zurückzuweisen. Der Aufruf war im Ausland als Zeichen für die militaristische Überzeugung und nationalistisch-arrogante
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dings nach wie vor im Diskurs präsent. Die Argumente, die in der Diskussion um »Rasse« und Psychopathologie vertreten wurden, ähnelten sowohl bei den Kolonialthemen als auch bei den Publikationen über Juden denen der Vorkriegsjahre, bekamen jedoch zuweilen einen aktualisierten »Anstrich«. Ein Beispiel für die gleichbleibende Aktualität des Bildpaares vom »gesunden Wilden« und dem »kranken Zivilisierten« ist ein Aufsatz aus dem 1925 von Friedrich Otto Ludwig Külz, einst Kaiserlicher Regierungsarzt in den deutschen Kolonien Togo, Kamerun und Deutsch-Neuguinea. In diesem Aufsatz wurde die »koloniale Sehnsucht« der Deutschen nach dem Verlust der Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg deutlich: einerseits der Wunsch nach Kolonialbesitz, andererseits aber der zivilisatorischen Auftrag, den sie damit verbunden glaubten. So schrieb Külz in seinem Artikel Krankheitsbilder, die dem reinrassigen Naturmenschen fehlen, und die Nutzanwendung daraus für den Kulturmenschen: »Mit bitterer Wehmut wird jeder ehemalige Kolonial-Deutsche aus den gegenwärtigen trüben Wolkentagen der Heimat seine Gedanken gar oft zurück in die hellen Zeiten des einstigen Tropensonnenscheins flüchten lassen; […] die Arbeit war schwer, aber der Mensch war frei. Jeder […] schlug Bresche in seinen finsteren, dichten Urwald, war es nun ein Urwald der Baumriesen oder ein Urwald der Unkultur. Jeder arbeitete, was er wollte, und nicht, was er mußte, und der Erfolg blieb nicht aus. Politik kannten wir nicht, Steuern gab es nicht, wir waren deutsch und damit gut. Wir liebten unseren Beruf, unsere Adoptivheimat und unsere farbigen Schutzbefohlenen, die primitiven Naturkinder. Überall, selbst bei den Kannibalen des Kameruner Urwaldes und den kulturell auf der tiefsten Stufe noch verharrenden Papuas im fernen Neu-Guinea, gelang es gerade dem Arzte am leichtesten, die Brücke des Verstehens und Vertrauens zum Kulturmenschen zu schlagen«.183
Külz idealisierte nicht nur die Situation der deutschen Kolonisatoren, deren Verhalten und vermeintlichen Schutzauftrag in den Kolonien, sondern im weiteren Verlauf seines Artikels auch das »naturnahe« Leben der kolonisierten Bevölkerung. Er bediente sich dabei des etablierten Bildes vom »gesunden Wilden«: Dort, wo »mit der Kultur auch zugleich die Überkultur« fehle, suchte man unter den »Naturmenschen« die »meisten unserer Psychosen und Neurosen […] vergeblich; GeistesSelbstüberschätzung der deutschen Wissenschaft und Kulturwelt verstanden worden. RÜDIGER VOM BRUCH, Geistige Kriegspropaganda. Der Aufruf von Wissenschaftlern und Künstlern an die Kulturwelt. In: Ders. (Hg.), Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006, 162-166. 183 FRIEDRICH OTTO LUDWIG KÜLZ, Krankheitsbilder, die dem reinrassigen Naturmenschen fehlen, und die Nutzanwendung daraus für den Kulturmenschen. In: Beihefte zum Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene 1/461-475, 461.
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krankheiten gehörten zu den allergrößten Seltenheiten.« Denn, so schloss Külz: »Irrenhäuser brauchte der Naturmensch nicht.«184 Die gesundere Psyche der »Naturmenschen« ist für Külz nicht nur auf die fehlenden pathogenen Kultureinflüsse zurückzuführen, sondern vor allem auf das »Walten der natürlichen Auslese im Daseinskampfe«, der durch »das durch schonungsloses Vernichten der Schwächeren« verhindere, dass »mindere Anlagen« vererbt würden.185 Der »Naturmensch« übe »eine primitive Rassenhygiene« aus, die »auf die Beseitigung minderwertigen Nachwuchses (Kindesmord) oder Verhütung eines solchen (Eheverbote, Stammesbräuche wie Totemismus und ähnliche)« gerichtet sei.186 Während das Bild vom gesunden »Naturmenschen« und die »krankmachenden Einflüsse der Überkultur« ältere Erklärungsmuster darstellen, wird in Külz’ Studie das Argument der positiven Wirkung der natürlichen Selektion stärker betont als in früheren Publikationen. Die Primitivität der »Naturmenschen« ist auch in Felix Plauts Monographie über Die Paralyse bei Negern und Indianern präsent. Die Erfindung der Wassermannreaktion, die einen Bluttest für den Syphiliserreger ermöglichte, hatte die Erforschung der Paralyse in neue Bahnen gelenkt. In den zwanziger Jahren nahm die rassenpsychiatrische Beschäftigung mit der Paralyse im Vergleich zur vorangehenden Zeit zu. Wie schon erwähnt reisten Emil Kraepelin und Felix Plaut, Neurologe und Abteilungsleiter der Serologischen Abteilung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie, im Frühjahr 1925 in die USA, nach Kuba und Mexiko. Der Hauptgrund dieser Vortragsreise war es, Gelder für die Forschungsanstalt einzuwerben, aber sowohl Kraepelin als auch Plaut führten darüber hinaus auf der Reise rassenpsychiatrische Untersuchungen durch.187 Zu der Publikation von Kraepelins Ergebnissen kam es wie gesagt aufgrund seines Todes nicht mehr. Die geringe Paralyseprävalenz, die Plaut bei den Indianern Nordamerikas festzustellen glaubte, konnte er nicht erklären. Er verfüge über zu wenige Daten und müsse daher das Problem der zukünftigen Forschung überlassen.188 Bei den »großstädtischen mexikanischen Indianern« könne er dagegen keine Unterschiede im Vorkommen der Paralyse im Vergleich mit den »großstädtischen Anstalten Nordamerikas und Europas« feststellen. Auch unterscheide sich die Paralysehäufigkeit der »Neger« in den USA wenig von denen der »weißen Rasse«. Plaut drehte daraufhin die Frage um:
184 Ebenda, 467. 185 Ebenda, 474. 186 Ebenda, 475. 187 BENDICK, Kraepelins Forschungsreise, 154. 188 EMIL KRAEPELIN: Mein sehr verehrter Herr Doktor Loeb! (Danksagung). In: Plaut, Paralysestudien, o.S.
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»Man hat nicht zu erforschen, welche inneren oder äußeren Faktoren bewirken bei den Negern ein abweichendes Verhalten hinsichtlich der Paralysemorbidität, sondern wird die Frage so formulieren: Trotz welcher Verschiedenheiten ist die Empfänglichkeit für Paralyse bei den nordamerikanischen Negern die gleiche wie bei den Weißen?«189
Er stellte im Folgenden fest, dass für die Entstehung der Paralyse die bislang angebrachten Momente wohl irrelevant seien. Er schloss aus, dass »seelische Einflüsse« der Paralyse den »Boden bereite«. Da die »nordamerikanischen Neger« eine stets »sorglos heitere Stimmungslage« besäßen und ihre »gemütliche Stumpfheit« sie »gegen äußere und innere seelische Bedrückung« schütze, sei die ebenso große Häufigkeit der Paralyse bei ihnen und »bei den gemütlich so viel stärker auf Lebensschicksale reagierenden Weißen« ein Zeichen, dass seelische Nöte keine Rolle spielen würden.190 Ferner würde auch das vorwiegen von handarbeitenden Tätigkeiten gegen den Einfluss »geistiger Überanstrengung« sprechen wie auch »ihre Neigung, sich geistig anzustrengen […] als besonders gering« angegeben würde.191 Und zuletzt scheine auch die »überaus lebhafte, schon im frühen Lebensalter beginnende sexuelle Betätigung der Neger […] sie nicht häufiger paralytisch werden zu lassen als es die geschlechtlich weit zurückliegenden Weißen werden«.192 Rafael Becker, die »jüdische Nervosität« und die Psychoanalyse Einige Argumentationsmuster blieben konstant, neben dem »gesunden Wilden« und der »krankmachenden Zivilisation« galt das auch für die Publikationen über die »Psychopathologie der Juden«. Die »Geisteskrankheiten bei Juden« wurden nach wie vor in dem Kontext der Vererbung und Degeneration der Juden als »Rasse« verhandelt. Im Baur-Fischer-Lenz, dem Standardwerk der Vererbungslehre aus den zwanziger Jahren stand z. B., dass »die jüdische Bevölkerung […] übrigens auch an den angeborenen Zuständen von Geistesschwäche und ebenso auch an den später auftretenden (Dementia Praecox) stärker als die sonstige Bevölkerung beteiligt« sei. Dies erkläre sich durch die »größere Häufigkeit blutsverwandter Ehen« unter ihnen.193 Ferner betonte Johannes Lange, Assistent bei Kraepelin in München, 1921 in seinem Aufsatz die »rassische Eigenart« der Juden, die für ihn die Neigung der Juden zu Geisteskrankheiten erklärte.194 Lange argumentierte, dass die spezifische Eigenart der Juden nicht nur in deren größerer Neigung zu psychischen Krankheiten zu sehen sei, sondern sie sich auch durch die spezifische Ausbildung der Krank189 Ebenda, 45. 190 Ebenda. 191 Ebenda. 192 Ebenda, 46. 193 ERWIN BAUR, Menschliche Erblichkeitslehre, München 1923, 288. 194 LANGE, Über manisch-depressives Irresein, 1357.
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heitsbilder unterschieden, wie etwa, der »enormen Bedeutung hypochondrischer Vorstellungen«, sowie häufigerem »Nörgeln« und »Quengeln«.195 Dieses von den Nichtjuden unterschiedliche Krankheitsbild weise, so Johannes Lange, auf einen »Ausdruck rassischer Eigentümlichkeiten« hin.196 Den Einfluss sozialer oder kultureller Faktoren, sowie die Rolle von weiteren nicht vererbten Faktoren lehnte er ausdrücklich ab.197 Parallel dazu blieb jedoch die ebenfalls in den Vorkriegsjahren bereits geäußerte Ansicht erhalten, die gesundheitsgefährdenden Lebensumstände, in denen Juden in Vergangenheit und Gegenwart lebten, beförderten ihre angebliche Disposition zu psychischen Erkrankungen. Diese Auffassung bildete zumindest in den Aufsätzen, die sich ausschließlich den Geisteskrankheiten der Juden widmeten, auch die Mehrheitsmeinung. Darüber hinaus fanden vereinzelt Stimmen Gehör, die neue Argumente in die Debatte einbrachten: So führte Rafael Becker mit seinen Publikationen ein psychoanalytisches Erklärungsmuster ein. In seinen frühen Schriften entwickelte Becker eine Deutung, die ein aus dem Antisemitismus resultierendes Minderwertigkeitsgefühl hauptverantwortlich für die nervöse Disposition der Juden machte. Becker war aus Russland zum Studium in die Schweiz gekommen und arbeitete nach seiner Promotion 1917 in einer kantonalen psychiatrischen Einrichtung in Königsfelden bei Brugg.198 Er war durch den späteren Direktor des Burghölzlis, Hans W. Maier, mit psychoanalytischen Theorien in Kontakt gekommen. 199 Zu195 Ebenda, 1358. 196 Ebenda. 197 Ebenda, 1357. 198 BECKER, Nervosität bei den Juden, [Vorwort] 5. Becker kam aus dem russischen Saratow an der Wolga, wie er selbst in seiner Dissertation angab. Es ist anzunehmen, dass Becker jüdisch war und vielleicht auch deswegen in der Schweiz studierte, da zu dieser Zeit an russischen Universitäten nur eine beschränkte Anzahl Juden zum Studium zugelassen wurden. Aus seinen Publikationen lässt sich entnehmen, dass er zwischen 1920 und 1925 nach Polen ging, um dort die private jüdische Heilanstalt für psychisch Kranke Zowjòwka in Otwock bei Warschau zu gründen, deren Direktor er wurde. Es ist wahrscheinlich, dass er im Holocaust ermordet wurde. Ein Gedenkblatt in der Central Database of Shoah Victims' Names ist für den Arzt Rafael Bekker aus Polen hinterlegt worden: http://db.yadvashem.org/names/nameDetails.html?itemId=1714691&language=en [letzter Zugriff 2. Juni 2013]. 199 Dies lässt sich aus seinem Dank an H.W. Maier im Vorwort der Schrift Nervosität bei den Juden entnehmen. BECKER, Nervosität bei den Juden, [Vorwort] 5. Das Burghölzli Zürich war unter der Leitung von Eugen Bleuler die erste an eine Universität angebundene Klinik, die psychoanalytische Methoden in einer psychiatrischen Anstalt einsetzte. Maier war 1905 als Assistenzarzt an das Burghölzli gekommen und folgte Bleuler ab 1927 als Direktor der Anstalt und Ordinarius an der Universität Zürich. MANFRED BLEU-
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nächst veröffentlichte er unter dem Titel Jüdische Nervosität einen Vortrag, den er vor dem Zionistischen Verein Hechawer in Zürich gehalten hatte, später eine Version, die an »Ärzte und gebildete Laien« gerichtet war und mit Statistiken und Literatur eine wissenschaftliche Ausrichtung bekam.200 Becker schrieb, dass er aufgrund »neue[r] psychiatrisch-psychologische[r] Studien« zu dem Schluss gekommen sei, dass neben der Erblichkeit noch andere Faktoren in der Krankheitsätiologie berücksichtigt werden müssten, »daß also mit dem einen Worte Degeneration noch nicht alles erklärt« sei.201 Er bezog sich in seinen Erläuterungen auf die Arbeiten von Sigmund Freud und C.G. Jung,202 die bewiesen hätten, dass auch bei Psychosen »somatische Ursachen nicht die einzige Rolle spielen, sondern dazu noch eine ganze Reihe Momente, und zwar rein psychischer Natur, kommen.«203 Becker ging davon aus, dass die Juden der voremanzipatorischen Periode »glücklicher als die modernen von heutzutage« gewesen seien, da sie einen festen Glauben gehabt hätten.204 Die Juden vor der Emanzipation seien davon ausgegangen, dass Gott sie als Strafe für ihre Sünden in die Diaspora geschickt habe, lebten aber in der Hoffnung, dass »die Zeit kommen werde und mit ihr der Messias, und dass die Juden wieder in ihrem alten Heimatland glücklich sein würden«.205 Den zeitgenössischen Juden fehle diese Aussicht auf das »nationale Wiederaufleben« des Judentums.206 Die Hoffnungslosigkeit, so Becker, löse ein Gefühl der Minderwertigkeit aus: »Der Jude, ob er ein bewusster Assimilant ist, oder sogar ein nationaler Jude, der sieht, wie schlecht es um seine Wiedergeburt steht, fängt zu glauben an, was ihm die Antisemiten sagen: dass sein Gott ein schlechter Gott sei, dass seine Sitten schlechte Sitten seien, dass seine ganze Rasse keine vollwertige sei und zu nichts tauge.«207 Dieses Minderwertigkeitsgefühl habe seinen Ursprung allein in der »rechtlich-politische[n] und soziale[n] Minderstellung« der Juden: jeder Jude habe ein durch seine Stellung in der »Kulturwelt« bedingtes »Unlustgefühl«: »Der Assi-
LER,
Geschichte des Burghölzlis und der psychiatrischen Universitätsklinik. In: Zürcher
Spitalgeschichte 2/1951, 377-426, hier: 417-423. 200 BECKER, Die jüdische Nervosität; BECKER, Nervosität bei den Juden. 201 BECKER, Die jüdische Nervosität, 14. 202 Beckers Literaturliste weist folgende Werke auf: Sigmund Freud, Vorlesungen zu Einführung in die Psychoanalyse. 3 Teile, Leipzig und Wien, 1916-1917; C.G. Jung, Die Psychologie der unbewussten Prozesse. Zürich, 1917. 203 BECKER, Nervosität bei den Juden, 20. 204 Ebenda, 23. 205 Ebenda. 206 Ebenda. 207 Ebenda.
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milationsjude – weil man ihn noch zum Juden zählt, der Nationale – weil man ihn als Juden zu wenig achtet.«208 Becker führte als Beispiel den Fall eines jüdischen Patienten an, der mit einer »zirkulären Form des manisch-depressivem Irreseins« belastet sei.209 Der Patient schilderte, dass er als Kind häufig verspottet und ausgegrenzt wurde.210 Aus diesen Diskriminierungen sei ein »menschliches Herabsetzungsgefühl« hervorgegangen, welches ihm seit frühester Kindheit anhafte.211 Um »Provozierung« zu vermeiden, verschwieg er als Erwachsener seine Herkunft, worauf er ein Schamgefühl wegen seines Jüdischseins entwickelte.212 Als Erwachsener habe er ein einsames Leben geführt, habe sich sehr zurückhaltend gegenüber anderen Menschen verhalten, sei oft traurig gewesen und habe unter Überforderung im Beruf gelitten.213 Becker schloss aus diesem Fall, dass die Krankheit, die sich bei seinem Patienten entwickelt habe, vielleicht auf einer Disposition beruhe, dass aber der »seelische Konflikt, der besonders für die jüdische Psyche spezifisch ist, […] bei ihm das prädisponierende Moment vielleicht frühzeitiger und schwerer zur Entfaltung gebracht [habe], was bei den anderen, Nichtjuden, vielleicht gar nicht der Fall gewesen wäre.«214 In einer Rede vor der Zionistenvereinigung Hechawer in Zürich ging Becker genauer auf die Gründe ein, warum er den Zionismus für die einzige Lösung hielt, die die Lage der Juden verbessern könnte. Becker begriff Antisemitismus und religiösen Judenhass als aus wirtschaftlicher Rivalität erwachsen: Die »Unfähigkeit der Christen, auf friedliche Weise mit dem Juden zu konkurrieren, hat sie dazu gebracht, gegen ihn andere Waffen zu gebrauchen.«215 Der Konkurrenzkampf an sich war für Becker nicht kritikwürdig, man könne nichts dagegen einwenden, denn »in der Brotfrage, in der Magenfrage« stünde »der Fremde immer zuletzt.«216 Der Ausweg aus dieser Situation sei nun entweder der Weg der »Assimilation«, also »in ihnen aufzugehen« oder der Zionismus.217 Den Versuch der Assimilation bezeichnete Becker als fehlgeschlagen, habe aber »das Gesundeste im jüdischen Volke« gezeigt: seinen »Selbsterhaltungstrieb«.218 Durch den Besitz eines »gesunden Instinkt[s]« hätten sich die Juden gegen die Assimilation gewehrt, denn »ein gesundes 208 Ebenda, 24. 209 Ebenda, 28. 210 Ebenda. 211 Ebenda. 212 Ebenda. 213 Ebenda. 214 Ebenda, 30. 215 BECKER, Die jüdische Nervosität, 16. 216 Ebenda, 17. 217 Ebenda, 18. 218 Ebenda.
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Volk wird nicht durch eigene Schuld untergehen, es wird sich lieber ausrotten lassen, als sich selbst das Todesurteil aussprechen.«219 Das Ziel müsse es sein, ein »neues jüdisches nationales Leben« zu begründen.220 Beckers Position innerhalb der Schriften über die »Psychopathologie der Juden« ist eine Ausnahme. Innerhalb der wissenschaftlichen Debatte ist er der einzige, der eine explizit psychologische Erklärung gab und emotionale Konflikte sogar zu einem der Hauptfaktoren erhob.221 Becker charakterisierte das Minderwertigkeitsgefühl als aus den Umständen der Diaspora erwachsen. Diese seien für den »Assimilationsjuden« wie für den Zionisten gleichermaßen von einem Gefühl der Missachtung geprägt, der aus der Gegebenheit entspringe, dass Juden von ihrer Umgebung als Fremde wahrgenommen werden. Dem Gefühl der Geringschätzung und der Verfolgung durch die nichtjüdische Umgebung hätten Juden in früheren Zeiten eine religiöse Hoffnung auf die Rückkehr nach Israel entgegensetzen können, heute fehle ihnen dieses Bewusstsein. Die schwindende Hoffnung auf die »Wiedergeburt« eines jüdischen Staates und ein mangelndes nationales Selbstbewusstsein kennzeichnen den von Becker beschriebenen Minderwertigkeitskomplex. Beckers Argumentation lässt sich auch aus der von ihm geschilderten Krankengeschichte ableiten, in der der Patient ein »Herabsetzungsgefühl« anführe, welches er in engem Zusammenhang mit einem Schamgefühl aufgrund seiner jüdischen Herkunft erwähnt. Die einzige Hoffnung Beckers auf Veränderung lag also im Zionismus. Becker begründete den Antisemitismus mit einem wirtschaftlichen Wettbewerb, der sich durch das Unvermögen der Nichtjuden auszeichnete, anders als feindselig zu konkurrieren. Er schien die Zuschreibung der Juden als »Fremde« anzuerkennen und deren Diskriminierung als Ausdruck eines fast normalen Egoismus zu verstehen. Die einzige Lösung – abgesehen von der »Assimilation«, die er mit Selbstmord gleichsetzte – bestand folglich in einem eigenen jüdischen Staat. Die Rezeption von Beckers Ideen innerhalb der Fachwissenschaft scheint nur mäßig gewesen zu sein. Eine Rezension in der Psychiatrisch-Neurologischen Wo219 Ebenda. 220 Ebenda, 19. 221 Vereinzelt erwähnen Autoren jedoch auch psychologische Momente, bspw. MOSES JULIUS
GUTMANN, Geisteskrankheiten bei Juden. In: Zeitschrift für Demographie und Sta-
tistik der Juden N.F. 3/1926, 103-117, 103. In jüdischen Zeitschriften wurde der Aspekt des Antisemitismus häufiger thematisiert. In der Zeitschrift Im deutschen Reich des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens beschrieb beispielsweise der Göttinger Medizinalrat Cramer, dass antisemitische Diskriminierung zur »Nervosität der Juden« beitrage CRAMER, Nervosität und Antisemitismus. In: Im deutschen Reich. Zeitschrift des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 15/1909, 273-279, 277-279.
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chenschrift – in Stichworten – klingt eher ablehnend.222 Ebenso wurden seine Ansichten im Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten zwar kurz referiert, lösten aber keine weiteren Auseinandersetzungen über dieses Thema aus.223 Nur wenige andere Autoren rassenpsychiatrischer Schriften reagierten auf seine Ausführungen. Johannes Lange erwidert einige Jahre später abweisend, keiner seiner Patienten habe einen »jüdischen Komplex« gezeigt, und dieser spiele demnach keine Rolle in der Krankheitsätiologie.224 Moritz Benedikt dagegen ging auf Beckers Lösungsvorschlag ein: Obwohl er der zionistischen Idee gegenüber eigentlich aufgeschlossen sei, halte er die Verwirklichung einer Massenemigration von Juden für zu aufwändig für die »relativ kleine Frucht einer rassenhygienischen Besserung«.225 Vorsichtige Zustimmung äußerte Toby Cohn. Er stimmte Becker in der Bedeutung des Minderwertigkeitsgefühls für die Krankheitsätiologie zu: »die hohe Anzahl der Juden unter den Hysterikern und Neurasthenikern« könne damit erklärt werden.226 Becker war der Erste innerhalb der Auseinandersetzung um die »Nervosität der Juden«, der eine an psychoanalytische Konzepte angelehnte Interpretation entwickelte, und er war der Einzige, bei dem eine deutliche spätere Abkehr von dieser zuerst geäußerten Meinung zu beobachten ist. In einem seiner letzten Aufsätze von 1932, nun als Leiter einer jüdischen psychiatrischen Privatanstalt bei Warschau, revidierte er seine frühere Auffassung vom Minderwertigkeitsgefühl als Auslöser von schweren psychischen Krankheiten, wie Schizophrenie und manisch-depressives Ir-
222 Die vollständige Rezension lautete folgendermaßen: »Ursache angeblich unnormale rechtliche Lage der Juden unter anderen Völkern und daraus entstehende seelische Konflikte, Bevorzugung der für die Nerven schädlichen Berufe, durch Bevorzugung dieser Berufe bedingtes anormales geschlechtliches Leben der Juden. Abhilfe: In zionistischen Sinne durch Schaffung eigenen Heims und Landes.« B., Buchbesprechungen. Becker, Dr. Rafael, Assistenzarzt in Zihlschlacht, Schweiz: Die Nervosität, ihre Art, Entstehung und Bekämpfung. Nach einem Vortrag im Akademischen Verein »Hechawer« am 4. März 1918 in Zürich. Zürich 1918, Speidel & Wurzel. In: Psychiatrisch- Neurologische Wochenschrift 39/1919, 40, 256f. 223 ERNST SIEMERLING, Referate: Rafael Becker, Die jüdische Nervosität. Ihre Art, Entstehung und Bekämpfung. Zürich 1918. Verlag von Speidel und Wurzel. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 60/1919, 360; ERNST SIEMERLING, Referate: Rafael Becker, Die Nervosität bei den Juden. Ein Beitrag zur Rassenpsychiatrie für Ärzte und gebildete Laien. Zürich 1919. Verlag von Orell Füssli. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 61/1920, 477. 224 LANGE, Über manisch-depressives Irresein, 1358. 225 BENEDIKT, Der geisteskranke Jude, 270. 226 TOBY COHN, Nervenkrankheiten bei den Juden. In: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden N.F. 3/1926, 71-85, 81.
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resein. Er sei »jetzt von der organischen Grundlage dieser Erkrankungen zu sehr überzeugt.«227 Die Abkehr Beckers von der Psychoanalyse und seine Hinwendung zu Vererbungstheorien machte sich auch in anderen von ihm in den späten zwanziger Jahren veröffentlichten Publikationen zur Eugenik bemerkbar, in der er Aufklärung über die Rassenhygiene für die jüdische Bevölkerung einforderte.228 »Vom Standpunkte der modernen Wissenschaft ist es gewiß ungenügend, nur die Kinderpflege und die Kindererziehung als die einzige Form der Rassenzüchtung und Rassenverbesserung zu betrachten«, schrieb er in dem Artikel Die Bedeutung der Rassenhygiene für die jüdische Familie. Die rabbinischen Gesetze in der Geschichte des Judentums hätten eugenische Maßnahmen bereits vorgegeben: »man muß sagen, daß die Rabbiner in gewißer Beziehung Galton um 1600 Jahre zuvorgekommen sind.«229 Diese Gesetze, nach denen die religiösen Juden gelebt hätten, hätten den »Hauptwert auf die geistigen Eigenschaften der Heiratenden und ihrer Eltern gelegt«. So sei unter den »Ghettojuden ein Geistesadel« entstanden. Jedoch habe dieser Fokus auf die intellektuellen Eigenschaften bedeutet, dass Eltern selbst Schwiegersöhne auswählten, die ein »körperliches Gebrechen« besessen hätten, »wenn nur der Bräutigam ein bedeutender, vielversprechender Gelehrter war«.230 Auch die jüdische Tradition, dass jeder Jude und jede Jüdin verheiratet sein sollte, habe negative Konsequenzen gehabt: »Man vereinigte einen blinden Jüngling mit einem lahmen Mädchen. Taube und Stumme paarten sich. Sozial gesinnte Juden, besonders aber Jüdinnen, sammelten Geld, um diese Unglücklichen mit einer Aussteuer, mit Möbeln und Geld zu versehen. Diese Ungesunden zeugten zweifelsohne in höherem Maße als gesunde Individuen eine degenerierte Nachkommenschaft, welche eine Bürde für die Gemeinde blieb«.231
Becker blieb also hinsichtlich der bisherigen rassenhygienischen Maßgaben innerhalb des Judentums zwiespältig. In seinem Text referierte er auch die Möglichkeit von Sterilisation und Eheverboten, äußert sich aber nicht eindeutig negativ oder 227 RAFAEL BECKER, Die Geisteserkrankungen bei den Juden in Polen. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 96/1932, 47-66, 52. 228 RAFAEL BECKER, Die Bedeutung der Rassenhygiene für die jüdische Familie. In: Jüdische Familienforschung 4/1928, 2-6; RAFAEL BECKER, Über die Verbreitung der Geisteskrankheiten bei den Juden in Polen und die Frage derer Versorgung (Vortrag). In: OSE-Rundschau. Zeitschrift der Gesellschaft zum Gesundheitsschutz der Juden 3/1928, 8-11. 229 BECKER, Bedeutung der Rassenhygiene, 4. 230 Ebenda. 231 Ebenda.
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positiv zu dieser Möglichkeit. Er war der Meinung, dass diese Maßnahmen dem Staat vorbehalten seien und nicht von Juden selbst vorangetrieben werden könnten. Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft helfe nur Aufklärung und Propaganda gegen das »rassenhygienisch unbedachte« Heiraten.232 Konstitutionstypen und rassenpsychiatrische Forschung Die spärliche Rezeption von Beckers Ideen war auch in der geringen Akzeptanz begründet, die die Psychoanalyse innerhalb der psychiatrischen Zunft genoss. Die meisten psychiatrischen Theoretiker lehnten die Psychoanalyse ab, allerdings floss sie z. T. in psychiatrische Therapieansätze ein.233 Außerdem war die deutschsprachige Psychiatrie durch große inhaltliche Differenzen unter den Psychiatern geprägt. Zwar hatte sie sich nach dem Ersten Weltkrieg auf der Grundlage der Nosologie Kraepelins konsolidiert, aber die Kritik daran und die Diskussionen insbesondere um Kraepelins Modell der Krankheitseinheit rissen nicht ab und offenbarten grundlegende Meinungsverschiedenheiten. Den geringen Konsens innerhalb der deutschsprachigen Psychiatrie macht ein Bericht eines holländischen Psychiaters plastisch, der sich zwischen 1920 und 1922 für Forschungs- und Arbeitszwecke in verschiedenen psychiatrischen Zentren in Deutschland aufhielt. Dieser Psychiater schilderte die große Distanz, die die psychiatrischen Schulen voneinander hielten: Bei Eugen Bleuler sei er auf große Ablehnung der Ideen Karl Jaspers gestoßen, die Heidelberger um Karl Wilmanns und Japsers hätten nichts von Kraepelin in München sowie Kretschmer und Gaupp in Tübingen gehalten und in Tübingen wiederum hielt man nichts von Heidelberg.234 Allerdings lieferte die Krankheitslehre Kraepelins trotz der großen Divergenzen zunächst erst einmal eine Basis, auf der 232 Ebenda, 6. 233 Eine wichtige Ausnahme bildete wie erwähnt Eugen Bleuler. Die psychiatrische Zunft lehnte die Psychoanalyse zwar weitgehend als »metaphysisch« und zu wenig naturwissenschaftlich ab, jedoch waren Psychoanalytiker besonders mit der Behandlung der Kriegsneurosen im Ersten Weltkrieg gegenüber den traditionellen Therapien erfolgreich gewesen. Psychoanalytische Therapieansätze waren demnach in der psychiatrischen Praxis durchaus angewandt worden, auch wenn es nach wie vor bei der geringen Anerkennung von Freuds Theorien blieb. HANNAH S. DECKER, The Reception of Psychoanalysis in Germany. In: Comparative Studies in Society and History 24/1982, 589-602; KARL FALLEND, WERNER KIENREICH, JOHANNES REICHMAYR u. a., Psychoanalyse bis 1945. In: Mitchell G. Ash und Ulfried Geuter (Hg.), Geschichte der deutschen Psychologie im 20. Jahrhundert. Ein Überblick, Opladen 1985, 113-145, 122ff.; LERNER, Hysterical Men, Kap. 6, 163-190. 234 BERNHARD PAULEIKHOFF, Das Menschenbild im Wandel der Zeit. Ideengeschichte der Psychiatrie und der klinischen Psychologie. Bd. IV Die Zeit bis zur Gegenwart, Hürtgenwald 1987, 151f.
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die deutschsprachige Psychiatrie in der Lage war, über Spezifisches zu diskutieren und zu streiten.235 Einig war man sich über die Notwendigkeit einer naturwissenschaftlichen Ausrichtung der Psychiatrie und über die primäre Bedeutung des Erbeinflusses für die Entstehung psychischer Erkrankungen. Bereits seit der Jahrhundertwende bestand die Auffassung, dass psychische Erkrankungen im Wesentlichen erblich bedingt seien, auch wenn man über den genauen Erbgang noch nicht viel wusste. Im Verlauf der zwanziger Jahre verstärkte sich die Überzeugung der Vererbung als hauptsächliche Ursache in der Ätiologie psychischer Erkrankungen.236 Als wegweisend galt die Studie von Ernst Rüdin über die Vererbung von Dementia Praecox, die 1916 erschien.237 Sie behandelte nicht nur das wichtige Feld der Vererbungsforschung, sondern arbeitete auch mit einer an der Naturwissenschaften orientierten empirischen Methode: Rüdin stützte sich auf ein statistisches Verfahren zur Erhebung von Daten zum Vorkommen der Dementia Praecox in den Familien von 700 psychiatrischen Fällen aus der Münchner Klinik. Obwohl er den eigentlichen Nachweis der rezessiven Vererbung der Dementia Praecox nicht erbringen konnte, wurde seine Forschungsarbeit als Pionierleistung angesehen.238 Er etablierte damit die Methode für die empirische Erbprognose, ein Forschungsansatz, der in den zwanziger und dreißiger Jahren sehr erfolgreich wurde und zu einer großen Anzahl von Studien führte.239
235 ROELCKE, Entwicklung der Psychiatrie, 112. Vgl. für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg BERNHARD MATZ, Die Konstitutionstypologie von Ernst Kretschmer. Ein Beitrag zur Geschichte von Psychiatrie und Psychologie des Zwanzigsten Jahrhunderts. Med. Diss., Freie Universität, Berlin 2000, Betreuer Gerhardt Baader. 33-36. 236 VOLKER ROELCKE, Naturgegebene Realität oder Konstrukt? Die Debatte über die »Natur« der Schizophrenie 1906 - 1932. In: Fundamenta Psychiatrica 2/2000, 45-53; VOLKER
ROELCKE, Die Entwicklung der Psychiatrie zwischen 1880 und 1932. Theoriebil-
dung, Institutionen, Interaktionen mit zeitgenössischer Wissenschafts- und Sozialpolitik. In: Rüdiger vom Bruch und Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts., Stuttgart 2002, 109-124. 237 ERNST RÜDIN, Studien über Vererbung und Entstehung geistiger Störungen, I. Zur Vererbung und Enstehung der Dementia Praecox, Berlin 1916. 238 ANNE COTTEBRUNE, Zwischen Theorie und Deutung der Vererbung psychischer Störungen: Zur Übertragung des Mendelismus auf die Psychiatrie in Deutschland und in den USA, 1911-1930. In: NTM International Journal of History and Ethics of Natural Sciences, Technology 17/2009, 35-54, 43f. 239 Ebenda, 49.
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Abb.1: Der asthenische/leptosome, athletische und pyknische Konstitutionstypus nach Ernst Kretschmer.
Aus: Ernst Kretschmer, Körperbau und Charakter. Untersuchungen zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den Temperamenten. 7. u. 8. Auflage, 1929, S. 18, 23, 27. 1921 erschien ein weiteres Buch, das in der Psychiatrie breit rezipiert wurde: Ernst Kretschmers Körperbau und Charakter machte seinen Autor berühmt und erlebte bis in die 1970er Jahre 26 Neuauflagen.240 In Körperbau und Charakter entwickelte Kretschmer seine Lehre, die darauf fußt, dass Menschen in bestimmte Körperbautypen einteilbar seien. Er unterschied den Pykniker (rundlich und untersetzt), den Athletiker (groß und muskulär) und den Leptosomen bzw. Astheniker (hager und schlank) (Abb. 1).241 Nach Kretschmer korrelierten diese Körperbautypen mit spezifischen Temperamenten: So zeichne sich die »zykloide« Wesensart des Pyknikers durch Geselligkeit, Lebhaftigkeit und Gemütlichkeit, aber auch durch »Schwermüthigkeit« aus, Athletiker und Leptosomen seien dagegen »schizothym«: kühl, distanziert, eher zurückgezogen und analytisch denkend.242 Kretschmer rekurrierte damit auf altes Wissen vom Zusammenhang von Aussehen und Charakter, dass sowohl von der Humoralpathologie und der Phrenologie stammte, aber auch im Alltagsverständnis verankert war, wie er gleich zu Anfang des Buches vermerkte:
240 Die letzten beiden Auflagen wurden nach Ernst Kretschmers Tod von seinem Sohn Wolfgang bearbeitet und herausgegeben. Vgl. ERNST KRETSCHMER, Körperbau und Charakter. Untersuchungen zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den Temperamenten, Berlin 1977. 241 ERNST KRETSCHMER, Körperbau und Charakter. Untersuchungen zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den Temperamenten, Berlin 1921, 10-27. 242 Das Konzept Kretschmers ist weitaus differenzierter, kann hier aber nicht umfassend dargestellt werden. Eine umfassende Darstellung gibt: MATZ, Konstitutionstypologie Kretschmers. 18-28.
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»der Teufel des gemeinen Volkes ist zumeist hager und hat einen dünnen Spitzbart […]. Der Intrigant hat eine Buckel und hüstelt. Die alte Hexe zeigt ein dürres Vogelgesicht […] Die Frau aus dem Volk mit gesundem Menschenverstand zeigt sich untersetzt kugelrund und stemmt die Arme in die Hüften«.243
Die Konstitutionstypen seien ferner mit einer Disposition zu spezifischen Krankheiten verbunden: die pathologische Form, eine überspitzte Variante des schizothymen Temperaments, fände sich häufig bei Schizophrenen, ein zyklothymes Temperament eher bei Manisch-Depressiven. Kretschmer verband die aktuellen Forschungsergebnisse der Psychiatrie, der klinischen Medizin und der Endokrinologie, zusätzlich bediente er sich der Messmethoden der Anthropologie, mit deren Hilfe er die Körperdaten zur Erstellung der Körperbautypen ermittelte.244 Kretschmer ging wie andere Psychiater seiner Zeit davon aus, dass psychische Erkrankungen im Wesentlichen durch die Erbanlage bedingt seien. Für Kretschmer, der gemeinsam mit Robert Gaupp die Tübinger psychiatrische Schule geprägt hatte, bestand jedoch kein Widerspruch darin, die psychologischen Aspekte, das persönliche Erleben des Patienten und das »Einfühlen« in den Patienten ebenfalls in der Beurteilung und Behandlungen von Krankheiten einfließen zu lassen.245 Körperbau und Charakter war der Versuch, seine Überzeugung einer multifaktoriellen Ätiologie mit einer methodisch-theoretischen Fundierung in der Biologie und den Naturwissenschaften zu verbinden. Die Kritik an seiner Habilitationsschrift Der sensitive Beziehungswahn wird als Grund für die intensive Beschäftigung Kretschmers mit dem Themenkomplex von Körperbau und Charakter und dessen naturwissenschaftlicher Ausrichtung gesehen.246 Kretschmers Habilitationsschrift war nach dem Erscheinen 1918 aus dem Umfeld Kraepelins scharf für ihre nicht-biologischen Grundannahmen kritisiert worden: Kretschmer habe sich »vom Biologischen« zu weit entfernt.247 Daraufhin sei Kretschmer sehr bemüht gewesen, seine weiteren Arbeiten in einen explizit empirischnaturwissenschaftlichen und biologischen Kontext zu stellen.248 In der Verknüpfung von Temperament, Krankheit und Körperbau wird Kretschmers auf biologische Erklärungen ausgerichtete Theorie psychischer Erkrankungen bereits deutlich. Darüber hinaus verstand Kretschmer Charakter und 243 KRETSCHMER, Körperbau und Charakter, 1. 244 Ebenda, 10-28; MICHAEL HAU, The Holistic Gaze in German Medicine 1890-1930. In: Bulletin of the History of Medicine 74/2000, 495-524, 515. 245 MATZ, Konstitutionstypologie Kretschmers. 79. 246 Ebenda. 93; PAULEIKHOFF, Menschenbild, Bd. IV, 165f. 247 MATZ, Konstitutionstypologie Kretschmers. 93; PAULEIKHOFF, Menschenbild, Bd. IV, 165f. 248 PAULEIKHOFF, Menschenbild, Bd. IV, 165f.
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Temperament aber auch als maßgeblich durch biologische Prozesse bestimmt. So betonte er in seiner Definition der Temperamente, dass diese »wie wir empirisch sicher wissen blutchemisch, humoral mitbedingt« seien, ihr »körperlicher Repräsentant […] der Gehirn-Drüsenapparat« sei und sie »derjenige Teil des Psychischen« seien, »der, wahrscheinlich mit auf humoralem Weg, mit dem Körperbau in Korrelation steht«.249 Kretschmers Lehre stand konzeptionell den Rassentypologien nahe, wie Bernhard Matz gezeigt hat.250 Sie war zwar nicht auf die Einteilung von Systemrassen ausgelegt, nahm aber trotzdem eine soziale Gliederung vor und zeigte so den fließenden Übergang zwischen Rasse- und anderen Typologien auf.251 Durch diese konzeptionelle Nähe, die biologische Fundierung der Konstitutionslehre und die Anlehnung an anthropologische Methoden erscheint es demnach als folgerichtig, dass es die Zeitgenossen Kretschmers interessierte, ob und wie Konstitutionstypen mit Rassentypen zusammenhingen. Im Februar 1923 erschien der erste von vier Aufsätzen, in denen Ludwig SternPiper, zu dieser Zeit Assistenzarzt bei Max Meyer in den Nervenheilanstalten in Frankfurt am Main, sich theoretisch mit dem Zusammenhang von Rassen- und Konstitutionstypen auseinandersetzte. Er sah Ähnlichkeiten zwischen Rassentypen und Kretschmers Konstitutionstypen: So sei der asthenische Typ dem nordischen Rassentypus ähnlich, der pyknische dem alpinen. Den athletischen Typus fand er sowohl bei der dinarischen als auch bei der nordischen »Rasse« vertreten. Nicht nur bei den Körperformen, auch bei den Charakteren meinte er, Übereinstimmungen zu finden: »Wir sehen [...] daß parallel den Körperbauformen die zyklothymen und schizothymen Charakterzüge, so wie sie Kretschmer als normale seelische Gruppenmerkmale aus der zykloiden und schizoiden Wesensart entwickelt, mit der seelischen Eigenthümlichkeit der alpinen und nordischen Rasse viel (sic) Berührungspunkte aufweisen, so daß es wohl möglich erscheint, die betreffenden psychophysischen Typen als Rassenformen anzusprechen«.252
So sei das Temperament der Zykloiden, wie es Kretschmer definiere »gesellig, gutmütig, menschenfreundlich anpassungsfähig« und demnach den Eigenschaften der alpinen »Rasse« ähnlich, die gutmütig, bequem, fröhlich und unkompliziert sei, genießen und ihren Emotionen freien Lauf lassen könne.253 Der Schizoide dem249 KRETSCHMER, Körperbau und Charakter, 185. 250 MATZ, Konstitutionstypologie Kretschmers. 568. 251 Ebenda. 252 LUDWIG STERN-PIPER, Kretschmers psycho-physische Typen und die Rassenformen in Deutschland. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 67/1923, 568-599, 596. 253 Ebenda, 586, 592f.
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gegenüber sei »gleichzeitig überempfindlich-reizbar und kühl«, distanziere sich gegenüber der Umgebung, sei prinzipienhaft und sachlich.254 Er folgerte, dass für den Fall, dass es eine wirkliche Übereinstimmung von Temperament, rassischem und konstitutionellem Körperbau gäbe, das »Problem ein rassenpsychiatrisches« wäre.255 Es müsse – natürlich an größerem Material – geprüft werden, ob sich auch eine entsprechende Disposition der einzelnen »Rassen« zu Krankheitstypen zeige, also ob die alpine Rasse zum »manisch-depressiven Irresein« neige und die nordische zur Schizophrenie.256 Die Koppelung von konstitutions- und rassenpsychiatrischer Forschung hält Stern-Piper für sinnvoll, da damit die Frage nach der »Bedeutung der Rasse für die Art der geistigen Erkrankung« beantwortet werden könne. Er meinte, wenn man die europäischen Völker in ihre »rassenmässigen Bestandteile« aufteile und diese getrennt analysiere, habe man »gute Forschungsobjekte« vor sich. Entweder könne man Völker oder Volksteile, deren rassenbiologische Zusammensetzung stark voneinander abweiche, miteinander vergleichen, oder einzelne Personen, die »durch ihre Rasse gut gekennzeichnete Persönlichkeiten« darstellten, vergleichend betrachten.257 Kretschmer setzte sich deutlich gegen die These Stern-Pipers vom Zusammenhang zwischen Konstitutions- und Rassentypen zur Wehr. Er bezog sich dabei jedoch nicht direkt auf den genannten Artikel, sondern auf den Bericht eines Vortrags von Stern-Piper. Kretschmer war der Ansicht, dass sich »Rassen« und Konstitutionstypen grundlegend unterschieden, weil bei den Rassentypen »historische Radikale« untersucht würden: »Rassen« entstünden durch »langandauernde urgeschichtliche Züchtungsvorgänge, d. h. durch Wechselwirkung der Organismen mit ihrem Milieu«258. Konstitutionstypen dagegen beschrieben »Merkmalstypen mit gemeinsamer chemischer oder organfunktioneller Grundlage«259, daher seien die »Radikale« der Konstitutionsforschung »physiologische Radikale«.260 Weiterhin würde die Rassenforschung sich den »Durchschnitt der gesunden Bevölkerung zum Ausgangspunkt« nehmen, die Konstitutionsforschung dagegen »gerade bestimmte Krankheitsdispositionen«, sie würde vom »Krankhaften« ausgehen und erst von da aus »in das Gebiet des gesunden Normalmenschen« sich vortasten.261 Kretschmer betont in dem Artikel zunächst die grundsätzliche Unterscheidung von »Rassen«254 Ebenda, 589. 255 Hervorhebung im Original Ebenda, 597. 256 Ebenda. 257 Ebenda, 598. 258 ERNST KRETSCHMER, Konstitution und Rasse. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 82/1923, 139-147, 140,141. 259 Ebenda, 141. 260 Ebenda. 261 Ebenda, 143.
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und Konstitutionsforschung: Konstitutionstypus und Rassetypus seien »grundsätzlich voneinander zu trennen«, zwischen ihnen stünde »nicht nur keine Identität, sondern (allerdings mit starken Einschränkungen) eine gewisse Gegensätzlichkeit«262. Nachdem Kretschmer viele Argumente aufgebracht hatte, um die Unterschiede zwischen den beiden Forschungsbereichen sowie deren Fragestellungen, Untersuchungsgegenstand und Herangehensweise zu beschreiben, stellte er sich im weiteren Verlauf des Artikels dann jedoch doch die Frage, wie »Konstitutionstypen und Rassetypus im Einzelfall zueinander in Beziehung treten« könnten.263 Er kam schließlich zu dem Resultat, dass sich die Typen, die der Untersuchungsgegenstand der Rassenforschung und Konstitutionsforschung sind, überschnitten, jedoch nicht deckten. Schließlich meinte er jedoch trotzdem, dass die »Rassenlehre in der Tat schöne Bestätigung für die Resultate der Konstitutionsforschung« böte: »Die Zusammenhänge zwischen Körperbau und Charakter, wie sie die psychiatrische Morbiditätsstatistik zeigt, scheinen in den Rassentypen recht deutlich durchzukommen«: Die nördliche »Rasse« sei durchschnittlich im nördlichen Norddeutschland, die alpine in süd- und mitteldeutschen Landschaften stärker vertreten. »Ganz entsprechend finden wir, daß durchschnittlich auch auf der psychischen Seite die Süddeutschen für relativ cyclothymer, die Norddeutschen für relativ schizothymer gehalten werden.«264 Kretschmer konnte letztlich also doch seine Auffassung über eine absolute Unterschiedlichkeit zwischen »Rasse-« und Konstitutionstypen nicht beibehalten, er gab zu, dass es Ähnlichkeiten gäbe. Er blieb bei seiner Ablehnung einer Verbindung von »Rassen-« und Konstitutionsforschung, auch wenn die Unterschiede zwischen seiner Position und der Stern-Pipers nicht deutlich auszumachen sind, wie Stern-Piper selbst in einem seiner Folgeaufsätze notierte.265 Kretschmer nahm das Thema im Jahr 1937 wieder auf, indem er seine Meinung von der strengen Abgrenzung von Rassen- und Konstitutionsforschung erneut bestärkte, in einer Zeit, als der Rassenbegriff eigentlich sehr hoch im Kurs stand.266 In seinem Artikel von 1923 erklärte er, der Rasseforscher wäre »kein kompetenter Beurteiler von Konstitutionstypen, noch umgekehrt.«267 Es scheint so, als wollte Kretschmer das Alleinstellungsmerkmal seiner Lehre betonen und möglicherweise die Vereinnahmung seiner 262 Ebenda, 142,143. 263 Ebenda, 144. 264 Ebenda, 145. 265 LUDWIG STERN-PIPER, Konstitution und Rasse. (Bemerkungen zu der gleichnamigen Arbeit von E. Kretschmer in Bd. 82 dieser Zeitschrift. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 86/1923, 265-273. 266 ERNST KRETSCHMER, Konstitution und Rasse. In: Münchner Medizinische Wochenschrift 1937, 1414-1416. 267 KRETSCHMER, Konstitution und Rasse (1923), 142.
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Lehre durch die Rassenforschung verhindern, auch wenn er argumentativ gegen die Ergebnisse nicht viel ins Feld brachte. Die Abgrenzung von der Rassenforschung wird auch in einem anderen Punkt deutlich: Der Anthropologe Walter Scheidt hatte Kretschmer kurz nach dem Erscheinen von Körperbau und Charakter für die zu ungenaue Anwendung anthropometrischer Messmethoden kritisiert.268 In seiner Replik machte Kretschmer deutlich, dass er sich zwar der anthropologischen Messmethoden bediene, es ihm jedoch um einen abgewandelten methodischen Ansatz und um andere Fragestellungen ginge, auch wolle er nicht die »Rivalitäten zwischen den Einzeldisziplinen« befördern.269 Die kombinierte Rassen- und Konstitutionsforschung ist darüber hinaus der Bereich, in dem am erfolgreichsten Drittmittel eingeworben wurden. 1925 und 1938 bewilligte die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, respektive der Reichsforschungsrat, jeweils Forschungsgelder für Projekte, die sich mit dem Zusammenhang von »Rasse« und Konstitutionsforschung beschäftigten. Beide Forschungsanträge kamen aus der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie (DFA). Der Antrag an die Notgemeinschaft aus den zwanziger Jahren war für Mittel für eine Reise nach Schweden bestimmt, bei der Konstitutionsforschung in psychiatrischen Anstalten unternommen werden sollte. Der offizielle Antragsteller war Ernst Rüdin, dessen Abteilung für Genealogie und Familienforschung der DFA für das Projekt mit dem Anthropologischen Institut der Universität München unter Rudolf Martin kooperierte.270 Als Bearbeiter war Karl-Otto Henckel vorgesehen, ein ausgebildeter Anthropologe, der bereits ein Stipendium der Rockefeller-Stiftung271 für seine Le268 WALTER SCHEIDT, Anthropometrie und Medizin. In: Münchner Medizinische Wochenschrift 68/1921, 1653-1654. 269 In seiner Antwort schreibt Kretschmer, dass für die Konstitutionsforschung eine präzise anthropologische Messtechnik nicht notwendig sei und eine solche auch in der ärztlichen Praxis nicht zu realisieren sei. Das Messen sei in der Konstitutionsforschung nur »Kontrolle dessen, was er [Anm.: der klinische Konstitutionsforscher] zuerst gesehen und getastet hat.« KRETSCHMER, Die Anthropologie und ihre Anwendung auf die ärztliche Praxis. In: Münchner Medizinische Wochenschrift 1922, 121, 121. 270 ANONYM, The International Federation of Eugenic Organisations. Tenth Meeting, NY 1932 Detailed minutes of the Business Meeting, August 23, 1932. In: Eugenical News 18/1933, 15-17. 271 Darüber hinaus gibt es keine Belege für eine Förderung rassenpsychiatrischer Forschung durch die Rockefeller Foundation. Zwar förderte die Rockefeller Foundation die deutsche medizinische und psychiatrische Forschung breit, das Geld floss jedoch in andere Forschungsprojekte. Vgl. COTTEBRUNE, Der planbare Mensch (2008), 74-90; WEBER, Rüdin, 161f; PAUL J. WEINDLING, The Rockefeller Foundation and German Biomedical Sciences, 1920-1940: from Educational Philanthropy to International Science Policy. In: Giuliana Gemelli, Jean-François Picard und William H. Schneider (Hg.), Managing med-
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benshaltungskosten besaß.272 Neben der Unterstützung von Martin sicherten Henckel und Rüdin sich positive Referenzschreiben von Karl Bonhoeffer, Ernst Kretschmer und den Leitern der schwedischen psychiatrischen Einrichtungen, ferner bat Rüdin um persönliche Fürsprache von Schmidt-Ott, dem Präsidenten der Notgemeinschaft.273 In der Denkschrift Über die Notwendigkeit das Verhältnis von Konstitution und Rasse innerhalb einer im wesentlichen unvermischten Bevölkerung zu erforschen begründete Henckel seinen Antrag bei der Notgemeinschaft. Die Forschung in Deutschland, so Henckel, stehe vor dem Problem, dass die »Rassenverhältnisse in Mitteleuropa eben außerordentlich verwickelt liegen«, da die drei mitteleuropäischen »Rassen« – die nordische, alpine und dinarische – sich »im Laufe der Zeit mannigfach und auf das innigste untereinander vermischt« hätten.274 Da sich aber in Schweden die »nordische Rasse« in manchen Gebieten verhältnismäßig rein erhalten habe, könnte man die Konstitutions- und Rassefragen am besten anhand der schwedischen Bevölkerung klären.275 Henckels Erkenntnisinteresse war im Grunde ein anthropologisches, auch wenn er für seine Untersuchungen Patienten psychiatrischer Kliniken in Schweden einplante: »Wert und Bedeutung […][der] Nachprüfung der Befunde Kretschmers (1921) an einer Bevölkerung einer anderen, weniger gemischten Rasse« bringe »lichtvollen Aufschluss über das Wesen der konstitutionellen Habitustypen überhaupt.« Damit wäre die »Lösung der Frage verbürgt, inwieweit konstitutioneller und rasslicher Habitus miteinander in Beziehung stehen, wie sich konstitutionelle und rassliche Merkmale zu einander verhalten, ob die beiden Begriffe vielleicht ganz oder zum teil zusammenfallen und die konstitutionelle dadurch zu einer Rassendisposition wird.«
Außerdem sei es
ical research in Europe: the role of the Rockefeller Foundation, Bologna 1999, 119-140, 126-131. 272 BAB, Notgemeinschaft, R 73/ 16802 Brief der Rockefeller Foundation (H. O. Eversole, European Office, Paris vom 3.3.1925 über die Höhe des von der Notgemeinschaft bewilligten Reisekostenzuschusses vom 6.3.1925.), 1925. 273 BAB, Notgemeinschaft, R 73/ 16802 Vorgang Henckel, Forschungsreise Schweden 11.12.1924 - 12.4.1926, 1924-1926. 274 BAB, Notgemeinschaft, B 73/ 16802, Henckel Denkschrift. 275 Ebenda.
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»vom theoretischen Standpunkt aus wichtig, über das gegenseitige Verhältnis so wichtiger Begriffe ins Klare zu kommen – zu einer Erkenntnis, die allgemein biologisch und damit auch allgemein menschlich von höchstem Belang ist«.276
In einem späteren Artikel in dem er seine Ergebnisse darstellte, vermerkte Henckel jedoch, dass auch die psychiatrische Forschung von seiner Forschung nutznieße. Wenn die These von der Übereinstimmung von Habitustypen und Rassenformen stimmen würde, so wachse damit »die wechselnde Disposition der verschiedenen konstitutionellen Körperbauformen zu einzelnen geistigen Erkrankungen allgemein zu einer Rassendisposition heraus.«277 Auffällig ist, dass Henckel die naturwissenschaftliche Ausrichtung seiner Forschung betonte. Die Konstitutionsforschung habe in den letzten 20 Jahren einen »ungeahnten Aufschwung« erlebt, ihrer Ansätze hätten sich »alle Teilgebiete der klinischen Heilkunde […] zu eigen gemacht.« Zwar schien es einige Zeit lang so, »als ob sich ausschliesslich die Spekulation des Konstitutionsgedankens bemächtigt«, jedoch sei das »von jeglicher Anschauung losgelöste, rein deduktive Vorgehen« inzwischen ersetzt worden. »Waren es doch ganz andere Methoden, die Induktion und das Experiment, denen die Naturwissenschaft seit Bacon von Verulam∗ ihre Ergebnisse verdankte« und die nun auch in die Medizin Eingang gefunden hätten. So habe man sich »der reinen Spekulation entschlagen; der anatomischen und physiologischen Grundlagen würde man sich wieder bewusst. Die Konstitutionslehre betrachtet es heute […] als Aufgabe, ihre Gegenstände und Zusammenhänge aus der Sphäre mehr künstlerischen Intuition, in der sie jedem guten Arzte von jeher zu Bewusstsein kam, in das Gebiet wissenschaftlicher Erforschung hinüberzuleiten«.278
Die Notgemeinschaft bewilligte die Reise nach Schweden und Henckel publizierte drei Artikel, die die Ergebnisse seiner Forschungen darstellen.279 Er hatte in fünf 276 Ebenda. Eine ähnliche Argumentation verfolgt er auch in KARL OTTO HENCKEL, Über Konstitution und Rasse. Nach Körperbaustudien an Geisteskranken in Schweden. In: Zeitschrift für Konstitutionslehre 12/1926, 215-243, 241f. 277 KARL OTTO HENCKEL, Körperbaustudien an Geisteskranken. III Konstitutioneller Habitus und Rassenzugehörigkeit. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 93/1924, 27-35, 27. ∗
Gemeint ist Sir Francis Bacon (1561-1626), der auch den Titel Lord Verulam trug.
278 BAB, Notgemeinschaft, B 73/ 16802, Henckel Denkschrift. 279 HENCKEL, KARL OTTO, Schizophrenie und nordische Rasse, in: Zeitschrift für Konstitutionslehre, 1926, Nr. 12 H.5, S. 525-527, HENCKEL, Konstitutionstypen, HENCKEL, Über Konstitution und Rasse.
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psychiatrischen Anstalten in Schweden, von denen er annahm, dass sie in Gebieten lägen, wo das »nordische Rassenelement am reinsten angetroffen« würde, 350 als Schizophrene und 49 Manisch-Depressive diagnostizierte männliche Patienten auf ihre Verteilung zu den Konstitutionstypen untersucht. Seine Ergebnisse verglich er mit Daten von 173 Patienten, die er zuvor in Oberbayern gewonnen hatte.280 Henckel kam aufgrund der Forschungsaktivität in Schweden zu dem Schluss, dass seine Forschung zwar die Ergebnisse Kretschmers stützten, nach denen die Schizophrenen häufig einen leptosomen Typus darstellten und Manisch-Depressive vorwiegend pyknisch seien. Jedoch wiesen Patienten mit Schizophrenien, die in Schweden ungefähr genauso häufig verbreitet seien wie in Deutschland, »die nordischen Rassenmerkmale nicht ausgesprochener auf als die schwedische Bevölkerung im Ganzen: Eine besondere Disposition der nordischen Rasse zur Schizophrenie […] existiert nicht.«281 Henckel sah dies als Belege für eine nichtrassische Erklärung der unterschiedlichen Krankheitsprävalenzen. Es ergäbe sich die Notwendigkeit zu überprüfen, ob die »vermehrte Krankheitsanfälligkeit mancher ethnischer Gruppen, die unzweifelhaft besteht, wirklich auf ihre Rassenzugehörigkeit zu beziehen ist. Es könnten auch akzidentelle Faktoren (soziale und regionale Momente, Expositionsverhältnisse, durch Inzucht, im betreffenden Rassegebiet verbreitete besondere Erbanlagen) hier den Ausschlag geben«.282
Andere Autoren sahen dagegen durchaus eine Verbindung von Konstitution, »Rasse«, Temperament und Krankheitsdisposition. Zwar vermerkte etwa Henckel 1925 in einem Aufsatz, »die mehr spekulative, theoretisierende Forschungsrichtung« behaupte »Korrelationen, sogar Übereinstimmungen zwischen Konstitution und Rasse [...] während die messenden und beschreibenden Forscher das Gegenteil nachweisen«.283 Es gab jedoch durchaus empirisch arbeitende Forscher wie beispielsweise Ernst Rittershaus, die eine Verbindung von »Rasse«, Konstitution, und einer Krankheitsdisposition sahen. Rittershaus kam nicht nur zu anderen Ergebnissen, er nutzte auch ein anderes Forschungsdesign als Henckel. Innerhalb einer Anstalt sortierte er 400 Patienten entlang der Rassenklassifikation von Rudolf Martin, wobei er alle diejenigen, die »stärker aus dem Rahmen der Rasse herausfielen« aus dem Sample ausschloss.284 Zur Bestimmung der »Rasse« nutzte er eine Vielzahl von phänotypischen Merkma280 HENCKEL, Konstitutionstypen, 2145f. 281 Ebenda, 2147. 282 Ebenda. 283 FRIEDRICH VON ROHDEN, Über Beziehungen zwischen Konstitution und Rasse. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 98/1925, 255-278, 255. 284 RITTERSHAUS, Beitrag, 367.
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len wie Augenfarbe und Größe sowie auch Angaben zum Geburtsort der Patienten und deren Eltern.285 Wichtig sei die Kombination von verschiedenen Rassenmerkmalen, denn nur ein Merkmal wie z. B. Augenfarbe oder Größe könne bei mehreren »Rassen« auftreten. Es ginge darum, herauszufinden, welche Rasse vorwiege, denn es seien »die Mehrzahl aller Menschen eben Mischlinge«.286 Auch wenn die Prozentzahlen kein wirklich eindeutiges Ergebnis zeigten, schloss er, »daß die Schizophrenie bei der nordischen Rasse bedeutend häufiger vorkommt als bei den übrigen, insbesondere bei der ostischen Rasse, während es bei der Paralyse umgekehrt ist«.287 Die Schwierigkeiten, die er mit einer Reihe von unklaren Diagnosen hatte, erklärte er als Resultat von Rassenmischung: »Es wären dann die einfachen und unkomplizierten Psychosen vielleicht diejenigen bei verhältnismäßig noch reinerbigen Menschen, während die Schwierigkeit unserer ganzen psychiatrischen Diagnostik dann als Folge unserer Rassenmischung zu erklären wäre. Die Dekadenz wird ja überhaupt vielfach als Folge einer Rassenmischung aufgefasst, und gerade bei schwer degenerierten Psychopathen finden wir jenes Schillern auch allen möglichen Krankheiten hin [sic], das eine genaue Diagnose im einzelnen Falle oft überhaupt unmöglich macht«.288
Rittershaus verband seine Forschungsergebnisse explizit mit rassenpsychiatrischen Fragestellungen. Wie bei Henkel und der Mehrheit der Untersuchungen, die rassenpsychiatrische Forschung und Konstitutionsforschung vermischten, stand auch bei Rittershaus die »weiße Rasse« im Fokus der Untersuchungen.289 Dies war ungewöhnlich, vor allem, weil die Forscher ihre Ergebnisse explizit in einen rassenpsychiatrischen Kontext einordneten. Denn auch wenn bereits in der Literatur zur Tropenneurasthenie die nervöse und psychische Belastung der Weißen behandelt worden war, verorteten deren Autoren ihre Arbeit doch nicht im Kontext rassenpsychia-
285 Ebenda. 286 Ebenda, 366. 287 Ebenda, 373. 288 Ebenda, 375. 289 Es gab nur wenige Ausnahmen: PETRUS HENRI MARIE TRAVAGLINO, Die Konstitutionsfrage bei der javanischen Rasse. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 110/1927, 437-492. Ein Artikel von Matecki und Szpidbaum erläutert zwar, man habe mit Absicht ein anderes »Rassenmaterial« genommen, als bei den bisherigen Studien, kommt aber zu dem Ergebnis, dass die Juden ebenfalls zu der hellhäutigen, der »weißen Rasse« zu zählen seien. W LADISLAW MATECKI und HENRYK SZPIDBAUM, Die Konstitution der schizophrenen Juden. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 109/1927, 62-78, 63.
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trischer Forschung.290 In der Auseinandersetzung um die Frage nach der Beziehung zwischen Konstitution, »Rasse« und psychopathologischer Disposition dagegen stellten die Forscher in ihren Schriften ihre Untersuchungen nun explizit als Teilbereich rassenpsychiatrischer Forschung dar und äußerten den Wunsch, das Wissen dazu zu erweitern.291 Neu war ebenfalls die Verwendung anthropometrischer Methoden. Hatte die vorherige rassenpsychiatrische Forschung zumeist die Einteilung nach »Rasse« entweder nach Konfession oder nach Augenschein vorgenommen oder die Kriterien ihrer Einteilung überhaupt nicht erläutert, bedienten sich die Ärzte nun einer ausgefeilten Messtechnik mit vielen Körperdaten, nach denen sie ihre Einteilungen in Konstitutions- und Rassentypen unternahmen. Es ist zu vermuten, dass das größere rassenpsychiatrische Interesse an der weißen »Rasse« mit neuen Entwicklungen auch in der Anthropologie zusammenhing. Die Anthropologen hatten nach dem Verlust der Kolonien im Ersten Weltkrieg nicht komplett mit der Erforschung von »fremden Rassen« aufgehört, jedoch ist eine Schwerpunktverschiebung in Richtung der europäischen und der deutschen »Rassen« auszumachen.292 Ferner war die Anthropologie inzwischen von der Vorstellung von reinen »Rassen« abgekommen. Man ging nun davon aus, dass es nur mehr oder weniger rein erhaltene Rassenmischungen gäbe: Der Grad der »Reinheit« hing davon ab, wie weit zurück in der Vergangenheit sich die »Rassen« vermischt und ob seitdem weitere Mischungen stattgefunden hätten. Dabei galt: je länger diese Vermischungen her waren, desto »reiner« die Rasse.293 Die Feststellung, dass die deutsche Bevölkerung ebenfalls aus verschiedenen Rassengemischen bestünde, war die Voraussetzung, auch innerhalb der »mitteleuropäischen Rassen« Vergleiche anzustellen. Kretschmers Krankheitslehre war der Versuch, neue und innovative Wege zur Erforschung psychischer Erkrankungen zu gehen. Seine Ansätze spiegelten sich daher auch innerhalb der Debatte um »Rasse« und Psychopathologie wider. Auch wenn zeitgleich immer noch Aufsätze erschienen, die die Milieubedingtheit einer 290 Auch umgekehrt fand die Tropenneurasthenie Erwähnung zwar in kolonialmedizinischer, aber nicht in der rassenpsychiatrischer Literatur. Das war auch nicht verwunderlich, weil es ja nicht um eine Anlage der »Rasse« zu psychischer Erkrankung, sondern um die Auswirkungen der tropischen Umwelt auf Europäer ging. 291 Vgl. u. a. JOSEF BERZE, Beiträge zur psychiatrischen Erblichkeits- und Konstitutionsforschung. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 87/1923, 94-166; HEINRICH MOEBIUS, Beiträge zur Kenntnis der Beziehung zwischen Rasse, somatischer und psychischer Konstitution. In: Zeitschrift für Konstitutionslehre 14/1929, 470-486; LUDWIG STERN-PIPER, Konstitution und Rasse. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 86/1923, 265-273. 292 MASSIN, Anthropologie raciale, 221f. 293 LIPPHARDT, Biologie der Juden, 78.
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unterschiedlichen Prävalenz von Krankheiten betonten, ist der Diskursstrang der Konstitutionsforschung als ein Zeichen zu sehen, dass biologische Erklärungen über die sozialen und kulturellen an Einfluss gewannen. Durch die Kombination konstitutions- und rassenpsychiatrischer Forschung orientierte sich der Diskurs über »Rasse« und Psychopathologie jetzt verstärkt an einer biologischen Erklärung. Der Nachweis einer Disposition zu psychischen Erkrankungen wurde gleich mehrfach biologisch abgestützt: Sie sei aufgrund von Vererbung und Endokrinologie entstanden, man könne sie nicht nur am Konstitutionstypus, sondern am Rassentypus erkennen, nicht nur körperliche, auch charakterliche Merkmale seien rassisch vererbt. Trotzdem blieben die Forscher geteilter Meinung hinsichtlich der Beurteilung, ob Rassentypen mit Konstitutionstypen zusammenhingen und wenn ja, ob dieser Zusammenhang sich in der Diagnostik zeige.294 Hans Luxenburger schrieb 1929 in einem Aufsatz, der die neuesten Forschungsergebnisse der psychiatrischen Erblichkeitsforschung zusammenfasste: »Für das Problem der Beziehung zwischen Körperbau und Rasse sind auch in den vergangenen Jahren keine Fortschritte zu konstatieren. Man wird nicht fehlgehen, wenn man den Hauptgrund dafür in dem unbefriedigenden Stande der Rassenbiologie, wie er sich heute darbietet, zu sehen sich entschließt. […] Daß zwischen Körperbautypen und den unseres Erachtens vorerst noch allzu ungenügend bekannten Rassentypen Zusammenhänge bestehen müssen, ist ebenso sicher wie die Tatsache, dass die Kretschmerschen Formen mit der Rassenquadrias Europas, wie sie augenblicklich in Mode ist, nichts zu tun haben. […] Daß unter die-
294 Für einen Zusammenhang von »Rasse«, Konstitutionstypus und psychischer Erkrankung sprechen sich aus: BERZE, Beiträge; WALTHER P LATTNER, Über Rassenmischung und die Beziehungen zwischen Rasse- und Konstitutionstypus bei Schizophrenen. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 99/1933, 410-431; RITTERSHAUS, Beitrag; E.D. WIERSMA, Körperbau verschiedener Rassen und Konstitutionen im Zusammenhang mit psychologischen und physiologischen Eigenschaften. In: Zeitschrift für angewandte Psychologie und Sammelforschung 33/1929, 136-185. Zu dem Ergebnis, dass kein Zusammenhang besteht, kommen: CHRISTOPH ROESLER, Ein Beitrag zu der Frage »Zusammenhänge zwischen Rasse- und Konstitutionstypen«. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 95/1925, 108-119; ROHDEN, Beziehungen; ARTUR SCHÖNFELD,
Konstitution und Psychose. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 91/1929,
182-205. Zu uneindeutigen Ergebnissen kommen: HERRMANN, Untersuchungen; MATECKI
und SZPIDBAUM, Die Konstitution der schizophrenen Juden; OLAF FREIHERR VON
SCHWERIN, Rasse und Körperbau bei 100 Schizophrenen aus Baden. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 105/1937, 121-129.
168 | P SYCHOPATHOLOGIE UND »RASSE « sen Umständen auch alle Erörterungen über die Beziehung zwischen psychischer Erbkonstitution und ›Rasse‹ ein Streit um des Kaisers Bart bleiben müssen, ist klar«.295
Internationalsierung: Das rassenpsychiatrische Forschungsprogramm Ernst Rüdins In den letzten Jahren vor dem Ende der Weimarer Republik entstand aus der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie heraus eine weitere Richtung rassenpsychiatrischer Forschung. Ernst Rüdin war mittlerweile Emil Kraepelin auf den Posten des Direktors der DFA gefolgt. Deutlicher als Kraepelin versuchte er, die DFA zu einer Forschungsinstitution zu formen, die an Fragen der Eugenik und psychiatrischen Vererbungsforschung ausgerichtet war. Rüdin trieb seine Forschungsinteressen auch international weiter. So war er 1929 auf Vorschlag von Alfred Ploetz als Mitglied in die International Federation of Eugenic Organizations (IFEO) aufgenommen worden und wurde drei Jahre später zu ihrem Präsidenten gewählt.296 Rüdin legte bei der neunten internationalen Konferenz der IFEO vom 11.-15. September 1930 in Farnham, Großbritannien, den Plan für ein umfangreiches rassenpsychiatrisches Forschungsvorhaben vor. In seinem Vortrag Zu einem Programm der internationalen Erforschung der Rassenpsychiatrie schlug Rüdin vor, innerhalb der Organisation ein Komitee für Rassenpsychiatrie zu gründen, um langfristig ein umfassendes internationales Forschungsprojekt ins Leben zu rufen.297 Rüdin, der in seinem Vortrag bemerkte, dass er »die rassenpsychiatrische Forschung [...] schon lange mit Interesse verfolge«, stellte fest, dass man trotz der vielen Publikationen, die schon über die »angebliche Zunahme und Abnahme von Geistesstörungen, über Geistesstörungen bei diesen und jenen Rassen, über die gesundheitliche Gefahr oder Gleichgültigkeit von Rassenmischungen« erschienen seien, noch am Anfang der Forschung stehe.298 Die empirische Basis der bisherigen Studien hielt er nicht für zuverlässig, daher sei eine »grundlegende wissenschaftliche Gemeinschaftsuntersuchung […] unbedingt erforderlich«.299 Rüdin skizzierte in seinem Vortrag 295 HANS LUXENBURGER, Die wichtigsten neueren Fortschritte der psychiatrischen Erblichkeitsforschung. In: Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete 1/1929, 82-101, 99f. 296 ANONYM, Tenth Meeting minutes [1933]. Die International Federation of Eugenic Organizations war 1925 mit dem Ziel gegründet worden, eine zentrale Organisation zu etablieren, die nationale eugenische Unternehmungen international vernetzen und vorantreiben sollte. Zunächst durften nur europäische, US-amerikanische und von »Weißen« dominierte Organisationen, wie z. B. die niederländisch-ostindische eugenische Gesellschaft, Mitglied werden. KÜHL, Die Internationale der Rassisten, 71-75. 297 RÜDIN, Programm. 298 Ebenda, 27, 29f. 299 Ebenda, 30.
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ein umfassendes internationales Forschungsprojekt, das über einen Vergleich vorhandener Studien oder Statistiken hinausging. Es sollte eine komplett neue empirische Grundlage für die rassenpsychiatrische Forschung erstellt werden. Die rassenpsychiatrischen Untersuchungen sollten dabei mithilfe der Kontakte und Kompetenzen der IFEO weltweit durchgeführt werden, er stellte sich Forschungsprojekte sowohl unter den »farbigen Rassen« als auch unter den »Rassen und Rassengemischen innerhalb der weissen Rasse« sowie unter »Rassenmischungen« zwischen der »weissen« und den »farbigen Rassen« vor.300 Den Gegenstand seines Forschungsprogramms, die »vergleichende Rassenpsychiatrie«, definierte Rüdin als »die Lehre, in welchem Masze und in welcher nosologischen Weise die verschiedenen Rassen und Rassengemische der Welt von geistigen Störungen (Krankheitsprozessen) und Abnormitäten (geistigen Defekten) befallen sind.«301 Als ausdrückliches Ziel formulierte er, »mehr Licht auf die Frage der rassengenetischen Basis der verschiedenen Psychosen« zu werfen.302 Die Eugenik, so erklärte er, sei »eng verbunden mit dem Leben dessen, was wir Rassen nennen, seien diese nun rein oder gemischt innerhalb der Völker, Nationen und Staaten vorhanden«.303Man dürfe wohl »als sicher« annehmen, dass »bei den verschiedenen Rassen und Rassengemischen sowohl die Erbanlagen der Begabung, als auch der körperlichen und geistigen Gesundheit verschieden sind.«304 Diese seien aber noch nicht ausreichend erforscht, vor allem »fehlt uns noch eine Grundlage der Vergleichbarkeit der Befunde aus den verschiedenen Gegenden der Welt.«305 Rüdin schrieb, dass die bisherige Methode, nach der man sich mit dem Material aus einzelnen Ländern und auf bereits publizierte Studien stütze, wissenschaftlich nicht zuverlässig genug sei.306 Für eine verlässliche Rassenpsychiatrie wären daher gemeinsam von Anthropologen und Psychiatern erarbeitete Forschungsrichtlinien sinnvoll. Innerhalb der Psychiatrie stelle der mangelnde Konsens über Diagnosekriterien und -benennungen unter den Psychiatern ein Hindernis dar, da es sowohl weltweit, aber zum Teil auch innerhalb einzelner Länder in dieser Hinsicht unterschiedliche Vorgehensweisen gäbe. Er schlug daher die Kraepelinsche Klassifikation als Grundlage der zukünftigen Erhebungen vor, da diese »zweifellos« die »bekannteste und weitest verbreitete klinische Klassifikation« sei.307 Um zu gewährleisten, dass es weltweit genügend Psychiater gäbe, die Kraepelins Diagnosemetho300 Ebenda, 27f. 301 Ebenda, 29. 302 Ebenda, 27. 303 Ebenda, 28f. 304 Ebenda. 305 Ebenda. 306 Ebenda, 28. 307 Ebenda, 32.
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den anwandten, schlug er ein Austauschprogramm vor: Entweder könnten aus den Ländern, in denen es noch keine moderne klinische Psychiatrie gäbe, interessierte Ärzte zu einem Forschungsaufenthalt in solche Kliniken geschickt werden, in denen die Kraepelinsche Methode bereits verbreitet sei. Oder es wäre auch möglich, auf Wunsch Psychiater aus »Centren mit im wesentlich Kraepelinscher psychiatrischer Einstellung« in die Länder zu delegieren, in denen eine moderne klinische Psychiatrie erst aufgebaut werden sollte.308 Auch die Inhalte und Schritte eines solchen Forschungsprojektes stellte Rüdin in seinem Vortrag vor. Zunächst müsste man die bisherigen Arbeiten, Materialien und Methoden der Rassenpsychiatrie kritisch prüfen, um dann davon ausgehend neue Forschungsarbeiten zu entwickeln. Dabei ginge es besonders um eine Kritik an den bisherigen statistischen Zahlen, und um die Frage danach, wie diese entstanden seien.309 Rüdin schwebte eine Gesamterfassung eines Gebietes nach einem noch gemeinsam zu erarbeitenden rassenpsychiatrischen Forschungsdesign vor. Psychiater und Anthropologen sollten jeweils überlegen, welche Gebiete für eine Gesamterfassung von Psychosen einerseits, für eine anthropologische Bestandsaufnahme andererseits sinnvoll seien, bzw. wo solche Untersuchungen bereits durchgeführt seien.310 Als ersten Schritt schlug Rüdin vor, ein »weltweit arbeitendes Fachkomitee« zum Thema Rassenpsychiatrie innerhalb der IFEO zu bilden.311 Es sollte die Forschungsrichtlinien erarbeiten, die Literatur aufarbeiten und Informationen über für das Projekt geeignete Anthropologen und Psychiater sammeln. Darüber hinaus sollte sich das Komitee um die mögliche finanzielle Förderung des Programms kümmern.312 Das Committee on Race Psychiatry wurde noch auf dem gleichen Kongress ins Leben gerufen, Rüdin wurde der Vorsitzende. Allerdings schwand das Interesse Rüdins schnell. In den Jahren 1930 bis 1932 finden sich noch Hinweise auf einzelne Vorschläge zur Umsetzung von Rüdins Ideen313, allerdings ist auf keinem der Folgetreffen der Organisation 1932, 1934 oder 1936 das Thema präsent, noch wird über die Arbeit dieses Komitees für Rassenpsychiatrie berichtet.314 308 Ebenda, 32f. 309 Ebenda, 33. 310 Ebenda, 34. 311 Ebenda. 312 Ebenda. 313 MPG-Archiv, Abt. I Rep. 2, 23 IFEO Akte, Korrespondenz Emil Fischer mit Cora Hudson. 314 ANONYM, Tenth Meeting minutes [1933]; The Eleventh Federation Meeting held in Zürich, 18-21 Juli 1934. In: Eugenical News 19/1934, 107; JACOB SANDERS, The 12th meeting of the IFEO. Meeting 15-20 Juli 1936 in The Hague, Netherlands. In: Eugenical News 21/1936, 106-114.
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Man könnte das nur kurz währende Interesse Rüdins an dem von ihm in die Organisation gebrachten Thema damit erklären, dass er diesen Entwurf für das Forschungsprogramm allein aus Reputationsgründen entwarf. Möglich ist es, dass Rüdin mit dieser programmatischen Rede und dem Aufruf für eine Komiteegründung, die er kurz nach seiner Aufnahme als Mitglied und kurz vor seiner Wahl zum Präsidenten der Organisation hielt, hauptsächlich die anderen Teilnehmer beeindrucken wollte. Allerdings ist es wahrscheinlicher, dass das rasche Nachlassen seines Interesses eher mit den veränderten politischen Bedingungen in Deutschland zu tun hatte, und er deshalb seine Forschungsprioritäten neu ausrichtete. Der NS-Staat ermöglichte ihm durch den Zugriff auf Patientendaten eine völlig neue Grundlage, seine empirische Erbprognostik auszubauen. Rüdin hatte bereits vor 1933 bei den staatlichen Stellen mehrfach vergeblich um die Möglichkeiten gebeten, in umfangreichen Maße Einsicht in Sozial- und Versicherungsakten, aber auch in Gerichts-, Fürsorge-, Invaliditätsakten sowie in Strafregisterauszüge zu erhalten, um statistische Auswertungen vornehmen zu können.315 Durch das neue Regime wurde ihm dies ermöglicht. Ein weiterer Grund könnte sein, dass Rüdin bereits Ende der 1920er Jahre immer mehr zum Wissenschaftsorganisator geworden war, der die Forschung zunehmend seinen Mitarbeitern überließ und sich nur noch wenig um inhaltliche Belange kümmerte.316 Es spricht einiges dafür, dass Rüdin es mit seinem visionären Entwurf eines weltweiten rassenpsychiatrischen Großprojektes tatsächlich ernst meinte. Auffällig ist die Nähe von Rüdins rassenpsychiatrischem Programm zu den Programmen der Erbprognostik. In ihnen spielte eine anthropologische Bestandsaufnahme ebenfalls eine Rolle. So versuchte Rüdin innerhalb der Gemeinschaftsaufgaben für Rassenforschung, die die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft finanzierte, seine Idee von einer flächendeckenden Erfassung der psychopathologischen Beschaffenheit der deutschen Bevölkerung umzusetzen.317 Er warb hier für die Umsetzung seiner Ideen und forderte viel Geld für sein Projekt. Ähnlichkeiten zu seinem rassenpsychiatrischen Forschungsprojekt besaß die von ihm mit initiierte Studie, die er 1929 bei der Notgemeinschaft und der Rockefeller Foundation beantragte.318 Er projektierte einen »anthropologisch-psychiatrischen Census«319, eine Vollerhebung aller psychisch und körperlich »Erbkranken« in vier süddeutschen Landkreisen, die
315 Rüdin erbittet in einem Brief die Unterstützung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in diesem Bereich: MPG-Archiv 1, Rep 1a, 1 A 2430 Brief an den Präsidenten der KaiserWilhelm-Gesellschaft vom 20.9.1927, 1927. Vgl. auch WEBER, Rüdin, 237f. 316 WEBER, Rüdin, 170-174. 317 COTTEBRUNE, Der planbare Mensch (2008), 74-91. 318 Ebenda, 80-91; WEBER, Rüdin, 161-162. 319 WEBER, Rüdin, 162.
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auch anthropologisch erfasst werden sollten.320 Wie auch in seinem rassenpsychiatrischen Forschungsprojekt vorgeschlagen, war eine Zusammenarbeit mit Ärzten, Anthropologen und Psychiatern geplant. Allerdings fiel das Projekt schließlich sehr viel kleiner aus, als es geplant worden war.321 Zwar fand eine medizinische und anthropologische Bestandaufnahme statt, jedoch wurden deren Ergebnisse nicht korreliert, was erforderlich gewesen wäre, um eine Aussage über den Zusammenhang von »Rasse« und Psychopathologie zu machen.322 Ferner verschob sich Rüdins Interesse zunehmend in Richtung der Erbpathologie und Genetik, die anthropologischen Aspekte rückten in den Hintergrund.323 Möglich ist, dass Rüdin hier eine epidemiologische Fragestellung verfolgte, in der der rassenpsychiatrische bzw. anthropologische Aspekt nur einer unter mehreren Fragestellungen war.
320 COTTEBRUNE, Der planbare Mensch (2008), 80-91; WEBER, Rüdin, 161-162. 321 COTTEBRUNE, Der planbare Mensch (2008), 82-84. 322 Carl Brugger war gemeinsam mit Rüdins Mitarbeiter Theo Lang mit diesen Zählungen beschäftigt. In seiner Publikation zählte Brugger zwar die Ergebnisse der Zählung nach Diagnose, Alter, Geschlecht, Geburtsort, Beruf und Zivilstand und berichtete auch von anthropologischen Messungen, er verband diese Zahlen jedoch nicht. CARL BRUGGER, Psychiatrische Ergebnisse einer medizinischen, anthropologischen und soziologischen Bevölkerungsstatistik. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 146/1933, 489-524. 323 COTTEBRUNE, Der planbare Mensch (2008), 81; HANS JAKOB RITTER und VOLKER ROELCKE,
Psychiatric Genetics in Munich and Basel between 1925 and 1945: Programs –
Practices – Comparative Arrangements. In: Carola Sachse und Mark Walker (Hg.), Politics and Science in Wartime: Comparative International Perspectives on Kaiser Wilhelm Institutes, Chicago, IL 2005.
4 A Fascination with Numbers – Quantifizierende Methoden
In diesem Kapitel werden die Bedeutung von und der Umgang mit Zahlen für die rassenpsychiatrische Forschung untersucht. Bereits im vorigen Kapitel wurde die Rezeption der Irrenstatistiken innerhalb der psychiatrischen Zeitschriften Mitte des 19. Jahrhunderts thematisiert: Die Wahrnehmung einer psychopathologischen Differenz unterschiedlicher »Rassen« nahm in diesen Statistiken ihren Ausgangspunkt. Die Wiedergabe der Konfessionsverteilung in den Psychiatrien bot Anlass, über einen Zusammenhang zwischen »Rasse« und Psychopathologie nachzudenken: Die unterschiedliche Verteilung von Juden und Christen innerhalb der Anstalten galt als Nachweis einer größeren Prävalenz psychischer Erkrankungen unter Juden, gleichzeitig wurde »Rasse« aus der Konfession abgeleitet. Die parallel geführte Debatte über die erste Zählung »Geisteskranker« 1840 in den USA bestärkte den Eindruck, dass »Rasse« und Psychopathologie verknüpft seien, da deren Ergebnisse ebenfalls eine Rassenspezifik in der Ausprägung psychischer Erkrankungen nahezulegen schienen. Die Statistiken, und damit die Frage nach der Quantität psychischer Erkrankungen bei verschiedenen »Rassen«, standen somit am Anfang des Interesses an der Thematik. Es ist demnach nur folgerichtig anzunehmen, dass Häufigkeitsverteilungen und deren methodische Erfassung durch Quantifizierung innerhalb der ab der Jahrhundertwende einsetzenden rassenpsychiatrischen Auseinandersetzung bedeutsam blieben. Tatsächlich wurde in den meisten rassenpsychiatrischen Publikationen die Frage der Häufigkeit psychischer Erkrankungen bei den untersuchten »Rassen« gleich zu Anfang aufgegriffen. Das vorliegende Kapitel widmet sich daher der Darstellung der Bedeutung von »Häufigkeit« als Argument und der Statistik als Methode in der psychiatrischen Rassenforschung. Um die Bedeutung von Zahlen innerhalb des Diskurses um »Rasse« und Psychopathologie historisch einordnen zu
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können, folgt zunächst eine Darstellung der Geschichte der Statistik und quantifizierender Verfahren innerhalb der Medizin und Psychiatrie.
4.1 D ER U MGANG MIT Z AHLEN IN DER P SYCHIATRIE UND M EDIZIN Zahlen begannen ab dem 19. Jahrhundert eine bedeutende Rolle als Mittel der wissenschaftlichen Argumentation und Forschung zu spielen.1 Der von Theodore Porter als Trust in Numbers charakterisierte Glaube an die wissenschaftliche Beweiskraft quantifizierender Methoden ist im Kontext des Strebens nach objektiven Verfahren der Wissensproduktion seit der Aufklärung zu sehen.2 Die hohe wissenschaftliche und gesellschaftliche Autorität, die die Argumentation mit statistischen Zahlen dabei erlangte, so argumentiert Alain Desrosières, habe auf der Herkunft der Statistik aus der Interaktion zweier »Autoritätsformen« beruht: der der Wissenschaft und der des Staates.3 Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts begannen europäische Staaten, systematisch Zahlen über die Bevölkerung zu sammeln.4 Diese Entwicklung ist mit der Entstehung moderner Nationalstaaten im 19. Jahrhundert verbunden: Neben den verwaltungspraktischen Funktionen der Bevölkerungszählungen war die statistische Erfassung und Kategorisierung der Bevölkerung be-
1
Zur Entstehung der statistischen Methode und des zugrundeliegenden Wandels wissenschaftlichen Denkens liegt eine breite Literaturgrundlage vor, u. a. ALAIN DESROSIÈRES, Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin, Heidelberg 2000; IAN HACKING, The Taming of Chance, Cambridge, UK 1990; LORENZ KRÜGER, LORRAINE DASTON und MICHAEL HEIDELBERGER (Hg.), The Probabilistic Revolution, Bd. I und II: Ideas in History, Ideas in the Sciences, Cambridge, MA 1987; THEODORE M. PORTER, The Rise of Statistical Thinking, Princeton 1986; THEODORE M. PORTER, Trust in Numbers. The Pursuit and Objectivity in Science and Public Life, Princeton 1995; STEPHEN M. STIGLER, The History of Statistics. The Measurement of Uncertainty before 1900, Cambridge, MA, London 1986.
1
THEODORE M. PORTER, Statistics and Statistical Methods. In: Ders. und Dorothy Ross (Hg.), The Cambridge History of Science. Vol. 7: The Modern Social Sciences, Cambridge, UK 2003, 238-250, 240.
2
PORTER, Trust, ix.
3
DESROSIÈRES, Politik, 20.
4
PINWINKLER, Statistik.
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deutsam für die Definition dessen, was eine Nation überhaupt ausmacht: ihre Staatsbürger.5 In seinem wegweisenden Buch The Taming of Chance beschäftigt sich Ian Hacking unter anderem mit der normierenden und normalisierenden Funktion von Statistik. Zählungen setzen demnach immer eine Einteilung des zu Zählenden voraus. Dies habe wiederum Auswirkungen darauf, wie die so Gruppierten wahrgenommen werden. Er nennt dieses Phänomen »making up people«: »enumeration requires categorization, and […] defining new classes of people for the purpose of statistics has consequences for the ways in which we conceive of others«.6 Besonders Körper- und Gesundheitsdaten hätten dazu beigetragen, dass aus den Daten über »durchschnittliche Menschen« eine Definition darüber abgeleitet werden konnte, was »normal« und was »abnormal« sei.7 Mit der Gründung statistischer Ämter im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts setzte das ein, was Hacking eine »Lawine gedruckter Zahlen« nennt: Die Erhebung und Publikation einer überwältigenden Anzahl von Bevölkerungsdaten.8 Neben Daten zur Wirtschaft und zum Arbeitsleben sowie zu Eheschließungen und Kriminalität gehörten hierzu insbesondere Gesundheitsdaten: Geburten- und Suizidraten, Zahlen über Todesfälle und -ursachen sowie die sogenannten Irrenstatistiken. Medizinische Zahlen machten quantitativ einen großen Anteil an der »Zahlenlawine« der amtlichen Statistik im 19. Jahrhundert aus und bestimmten einen wesentlichen Teil des Erkenntnisinteresses.9 5
Ebenda. 204. Die Geburt des modernen Staates ist eng mit der Entstehung kollektiver Identitäten verbunden. Der Nationalismus als neues Erklärungsmoment politischer Legitimation benötigte eine Interpretation dessen, was dieses nationale Kollektiv definierte, wer dazu gehören sollte und wer nicht. Ein vermeintlich homogenes nationales Kollektiv konnte durch die Kategorisierung der Bevölkerung und durch Grenzziehungen zwischen vorher eher fluiden Gemeinschaftszugehörigkeiten geschaffen werden. Zum Zusammenhang von Statistik und Nation vgl. auch: BENEDICT ANDERSON, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Begriffes. 2. Auflage, Frankfurt a. M. 1996, Kap. 10, S. 163-186; DAVID I. KERTZER und DOMINIQUE AREL (Hg.), Census and Identity. The Politics of Race, Ethnicity, and Language in National Censuses, New Perspectives on anthropological and social demography, Cambridge 2002; SYBILLA NIKOLOW, Die Nation als statistisches Kollektiv. Bevölkerungskonstruktionen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. In: Ralph Jessen und Jakob Vogel (Hg.), Wissenschaft und Nation in der europäischen Geschichte, Frankfurt a. M.; New York 2002, 235-259.
6
HACKING, Taming of Chance, 6.
7
Ebenda, Kapitel 19, S. 160-170.
8
Ebenda, 2.
9
Als erste medizinische Statistik gilt die von Graunt 1661 veröffentlichte Londoner Mortalitätsstatistik Natural and Political Observations Made upon the Bills of Mortality,
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Obwohl es bereits im 18. Jahrhundert Versuche gegeben hatte, mit quantifizierenden Methoden medizinische Fragestellungen zu lösen10, blieben die Mediziner lange skeptisch, was die Relevanz statistischer Argumente für therapeutische und diagnostische Entscheidungen betraf.11 Im deutschsprachigen Raum erschien 1865 mit dem Handbuch der medizinischen Statistik das erste Standardwerk der Medizinstatistik.12 Die Statistik habe in der Medizin »im Ganzen wenige Freunde bis auf den London 1661. Vgl. dazu ferner FRIEDRICH PRINZING, Handbuch der medizinischen Statistik, Jena 1906, 12. 10 GEORGE WEISZ, From Clinical Counting to Evidence-Based Medicine. In: Gérard Jorland, George Weisz und Annick Opinel (Hg.), Body Counts. Medical Quantification in Historical and Sociological Perspective, Montreal, Kanada 2005, 377-393, 378-380. 11 Einige dieser frühen Anwendungen von medizinischer Quantifizierung und darauf bezogene Debatten werden in folgenden Aufsätzen beschrieben: HARRY M. MARKS, When the state counts lives. Eighteenths Century Quarrels over Innoculation. In: Gérard Jorland, Annick Opinel und George Weisz (Hg.), Body Counts. Medical Quantification in Historical and Sociological Perspective, Montreal, Kanada 2005, 51-64; ANDREA RUSNOCK, Quantifying Infant Mortality in England and France, 1750-1800. In: Gérard Jorland, Annick Opinel und George Weisz (Hg.), Body Counts. Medical Quantification in Historical and Sociological Perspective, Montreal, Kanada 2005, 65-88; ULRICH TRÖHLER, Quantifying Experience and Beating Biases: A New Culture in Eighteenth-Century British Clinical Medicine. In: Gérard Jorland, Annick Opinel und George Weisz (Hg.), Body Counts. Medical Quantification in Historical and Sociological Perspective, Montreal, Kanada 2005, 19-50. 12 Die deutschsprachigen Standardwerke zur Medizinalstatistik schrieben Friedrich Oesterlen (1865) und Friedrich Prinzing (1906, in zweiter Auflage 1930). Anhand von Osterlens Buch lassen sich die Vorbehalte der Mediziner gegenüber der Quantifizierung Mitte des 19. Jahrhunderts ebenfalls ablesen. In seiner Einleitung schrieb er sehr ausführlich über 17 Seiten eine Rechtfertigung der Statistik als Methode, in der er die Kritik an der Statistik widerlegte und die Bedeutung der Statistik für die Medizin hervorhob. Eine solche ausführliche Rechtfertigung der statistischen Methode hält Prinzing 40 Jahre später offenbar nicht mehr für erforderlich. Vgl. FRIEDRICH OSTERLEN, Handbuch der medicinischen Statistik, Tübingen 1865, 1-17; PRINZING, Handbuch der medizinischen Statistik. Leider ist die Forschungsliteratur über die Bedeutung der Quantifizierung für die Medizin im deutschen Sprachraum noch sehr lückenhaft. Die existierende Literatur beschäftigt sich vornehmlich mit der Medizinalstatistik als Teil der amtlichen Statistik, weniger mit der Geschichte der statistischen Methode in der Medizin. Vgl. ROBERT W. LEE und MICHAEL
C. SCHNEIDER, Medizinalstatistik in Deutschland (ca. 1800 bis 1874). In: Jörg
Vögele, Heiner Fangerau und Thorsten Noack (Hg.), Geschichte der Medizin – Geschichte in der Medizin – Forschungsthemen und Perspektiven, Hamburg 2006, 55-62; MICHAEL C. SCHNEIDER,
Medizinalstatistik im Spannungsfeld divergierender Interessen. In:
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heutigen Tag« und auch »die Zahl ihrer Gegner« sei »nicht eben eine geringe«, schrieb der Autor Friedrich Oesterlen 1865.13 Das Selbstverständnis der Mediziner spielte in der Ablehnung der Methode eine wichtige Rolle. Einerseits glaubte man, sich von älteren philosophisch-spekulativen Ansätzen abgrenzen zu müssen: Stattdessen sollten klinische Erfahrung, gekoppelt mit pathologischem und physiologischem Wissen die Grundlage medizinischer Entscheidungen bilden. Andererseits wurde die Quantifizierung aber auch als Angriff auf die etablierten Konzepte der Diagnose und Therapie gesehen.14 Die große Mehrheit der Mediziner, so John Warner, habe es abgelehnt, »to discard existing therapeutic beliefs and practices, validated both by tradition and their own experience, on account of somebody else’s numbers«.15 Die Vorbehalte von Ärzten gegenüber quantifizierenden Methoden blieben bestehen, trotzdem etablierte sich der Umgang mit Zahlen unter Medizinern in der zweiten Jahrhunderthälfte.16 Die Zahlen dienten in den seltensten Fällen als alleiniges Mittel der Beweisführung, jedoch war die Datenerhebung in der ärztlichen Praxis nun zur Routine geworden.17 Quantifizierende Methoden unterstützten das praktische medizinische Urteil der Ärzte, indem sie eine Formalisierung von Erfahrung und Wahrnehmung ermöglichten.18 Die statistische Methode besaß gegenüber anderen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert jedoch noch wenig Ansehen: »The Herwig Czech, Axel C. Huentelmann und Johannes Vossen (Hg.), Gesundheit und Staat. Studien zur Geschichte der Gesundheitsämter in Deutschland, 1870-1950, Husum 2006, 49-62. 13 OSTERLEN, Handbuch, 3. 14 WEISZ, Clinical Counting. 379. 15 JOHN HARLEY WARNER, The Therapeutic Perspective: Medical Practice, Knowledge and Identity in America 1820-1885, Princeton, NJ 1997, 201. Diese Kritik findet sich auch bei WEISZ, Clinical Counting. 378. 16 Weisz schreibt, dass er mit seiner Einschätzung, Quantifizierung habe sich bereits im 19. Jahrhundert unter Medizinern verbreitet, der allgemeinen Auffassung in der Historiographie widerspreche. Diese gehe nämlich davon aus, dass Quantifizierung im 19. Jahrhundert von Medizinern aufgrund technischer Unzulänglichkeiten ablehnt wurde. In der Medizin sei die Ablehnung quantifizierender Methoden erst Anfang des 20. Jahrhunderts geschwunden, als durch eine fortgeschrittene mathematische Statistik eine quantifizierende Evaluation von Therapien möglich wurde. Diese Sichtweise sei zuerst von Major Greenwood, einem der »Väter« der mathematisch-statistischen Verfahren in der Medizin, vertreten worden. Weisz selbst ist allerdings der Ansicht, dass die Gesundheitsreformbewegung die Quantifizierung aufgegriffen und mit ihr Grundlagen für die heutige Epidemiologie geschaffen habe. WEISZ, Clinical Counting. 379. 17 Ebenda. 379. 18 Ebenda. 379f.
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mark of science […] was the laboratory […]. A doctor did not achieve a reputation by presenting clinical results in a quantified form.«19 Ende des 19. Jahrhunderts setzte die Ausdifferenzierung der statistischen Methoden ein: Neben der Bevölkerungsstatistik, die sich mit Verhältnis- und Durchschnittszahlen beschäftigte, entwickelte sich in Großbritannien eine neue mathematische Medizinstatistik, die mit den Namen Major Greenwood und Austin Bradford Hill verbunden war.20 In den ersten dreißig Jahren des 20. Jahrhunderts wuchs deren Einfluss auf die medizinische Forschung jedoch nur langsam21 und stieß nach wie vor auf Vorbehalte bei Medizinern.22 In Deutschland blieb die Medizinstatistik der Zwischenkriegszeit ebenfalls den Methoden der Bevölkerungsstatistik treu, wie die zweite Auflage von Prinzings Handbuch der Medizinischen Statistik von 1930 zeigt.23 Erst die Artikelserie Austin Bradford Hills 1936 in der Zeitschrift The Lancet und sein im Folgejahr erschienenes Buch The Principals of Medical Statistics markieren die Geburtsstunde der international kanonisierten klinischen Forschungsmethoden auf medizinstatistischer Basis.24
19 Ebenda, 380. 20 EILEEN MAGNELLO, The Introduction of Medical Statistics into Medical Research: the Roles of Karl Pearson, Major Greenwood and Austin Bradford Hill. In: Eileen Magnello und Anne Hardy (Hg.), The Road to Medical Statistics, Amsterdam 2002, 95-104. 21 WEISZ, Clinical Counting. 380. 22 Porter schreibt, dass Hill in den Vorträgen vor Medizinstudenten in den 1940ern und 1950ern häufig von den Vorbehalten der Mediziner gegenüber der Statistik sprach: »He tried to appease his audiences, promising that statisticians didn’t scorn clinical judgement, and wouldn’t want to lose the benefits of individual medical experience until they were in a position to replace it with something more deliberate and objective.« PORTER, Trust, 204. 23 Prinzing schrieb in seinem Handbuch 1930, dass die Methode der medizinischen Statistik »im Allgemeinen die der Bevölkerungsstatistik« sei. FRIEDRICH PRINZING, Handbuch der medizinischen Statistik. 2. Auflage, Jena 1930, 4. 24 AUSTIN BRADFORD HILL, Principles of Medical Statistics, London 1937; PORTER, Trust, 204-208; WEISZ, Clinical Counting. 381. Der Bonner Medizinprofessor Paul Martini hatte bereits 1932 in seiner Methodenlehre der therapeutischen Untersuchung ähnliche Ideen wie Hill formuliert, sie wurden jedoch zu dieser Zeit international kaum rezipiert und konnten von Martini während des Nazizeit auch nicht in eigenen Studien umgesetzt werden. P AUL MARTINI, Methodenlehre der therapeutischen Untersuchung, Berlin 1932. Zu Autor, Werk und Rezeption: M.P. BAUR und J.H. SHELLEY, Paul Martini. The first clinical pharmacologist? In: The Lancet 353/1999, 1870-1873.
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Quantifizierung in der Psychiatrie Die Psychiatriegeschichtsschreibung berichtet dagegen von einer früheren Akzeptanz und Nutzung quantifizierender Methoden in der psychiatrischen Profession. Unbestritten ist die Präsenz von Zahlen in den Fachpublikationen und Fachdebatten: Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts findet man in den psychiatrischen Zeitschriften eine Fülle numerischer Informationen zu fast allen Aspekten des Anstaltslebens.25 Über die Frage, wie eine »Statistik der Geisteskranken« zu bewerkstelligen sei, gab es intensive Auseinandersetzungen unter Psychiatern. So wurde die amtliche Preußische Irrenstatistik Ende der 1860er Jahre von der von Medizinern dominierten Berliner medicinisch-psychologischen Gesellschaft26 gemeinsam mit dem Preußischen Statistischen Bureau initiiert.27 Psychiater waren dabei an der Entwicklung der inhaltlichen Kriterien beteiligt und berieten das Bureau. Zeitgleich fand auf dem internationalen Psychiaterkongress 1867 in Paris eine ausführliche Diskussion über eine internationale Statistik statt.28 Im Mittelpunkt der Kontroversen in Preußen wie auch auf dem Pariser Kongress standen die Erhebungskriterien sowie die Terminologie und Einteilung der Krankheiten.29 Heinz-Peter Schmiedebach macht anhand der deutschen Diskussionen über die Erfassungskriterien deutlich, dass die Psychiater mit dieser Statistik wissenschaftliche Absichten verfolgten. Neben der Auskunft über die Anzahl der »Irren« in Preußen erhoffte man sich vor allem Aufklärung über die soziale Herkunft der Kranken sowie über ätiologische Momente.30 Weiterhin spielten Statistiken in den Diskussionen über die Überfüllung der psychiatrischen Anstalten und der damit verbundenen Wahrnehmung einer Zunah-
25 ENGSTROM, Clinical Psychiatry, 30. 26 In der Gesellschaft waren nichtärztliche Mitglieder nur in den ersten Jahren am aktiven Vereinsleben beteiligt. SCHMIEDEBACH, Psychiatrie und Psychologie, 19. 27 Es ist nicht ganz klar, wer genau den ersten Anstoß für eine Irrenstatistik gegeben hat. Engstrom und Schmiedebach schreiben der Gesellschaft die Initiierung der Irrenstatistik zu. ENGSTROM, Clinical Psychiatry, 30; SCHMIEDEBACH, Psychiatrie und Psychologie, 75. Nach Albert Guttstadt, Medizinstatistiker und Medizinaldezernent im Bureau, regte dagegen der erste Direktor des Bureaus, Karl Friedrich Wilhelm Dieterici, bereits 1851 in einem Brief an den Kultusminister Karl Otto von Raumer, der auch für Medizinalangelegenheiten zuständig war, eine Erfassung der »Irren« an. ALBERT GUTTSTADT, Die Geisteskranken in den Irrenanstalten während der Zeit von 1852 bis 1871 und ihre Zählung vom 1. Dezember 1871 nebst Vorschlägen zur Gewinnung einer deutschen Irrenstatistik. In: Zeitschrift des königlich Preußischen Statistischen Bureaus 14/1874, 201-248, 207. 28 ROELCKE, Psychiatrie. 172f. 29 Ebenda. 30 SCHMIEDEBACH, Psychiatrie und Psychologie, 75.
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me psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung eine Rolle.31 Volkszählungen, Irrenstatistiken und statistische Erhebungen aus den Anstalten zeigten, dass die Zahl derjenigen, die in psychiatrischen Institutionen lebten, zugenommen hatte.32 Eric Engstrom bemerkt, dass die statistische Objektivierung des »Irrenproblems« Vorteile für die psychiatrische Disziplin hatte. Die Diskussionen um die Überfüllung der Anstalten und deren statistische Evidenz »helped to define a core professional problem and to demarcate boundaries of consensus within the profession.« Ferner hätten Psychiater durch die psychiatrischen Zahlen ihren Forderungen nach besserer Ausstattung mehr Nachdruck verleihen können, denn durch die Zahlen sei die Wahrnehmung verstärkt worden, dass der Wahnsinn ein soziales Problem darstelle.33 Schmiedebach konstatiert, dass es zwar auch kritische Stimmen gegenüber den Statistiken gegeben habe. Aus dem Verein für Psychiatrie, in dem vornehmlich Anstaltspsychiater organisiert waren, seien Einwände gegen die »empirisch sozialwissenschaftliche ausgerichtete Untersuchungsmethode« formuliert worden, besonders auch hinsichtlich der Arbeitsbelastung, die die Erhebung der Daten für die Anstaltsärzte bedeute.34 Schmiedebach ordnet diese Einwände aber nicht einer Kritik an der empirischen Methode zu, sondern sieht sie als vorgeschoben an. Die eigentliche Kritik der Statistikgegner habe den Erhebungskriterien gegolten: Sie wollten diejenigen Kategorien streichen, die Aussagen über die soziale Herkunft der Patienten und Patientinnen sowie deren ätiologische Auswirkungen ermöglicht hätten.35 Den Befürwortern und Unterstützern der Irrenerhebungen, Mitglieder der Berliner medicinisch-psychologischen Gesellschaft, bescheinigt er dagegen, dass die »rege Anteilnahme […] an der Initiierung und Ausarbeitung der statistischen Erhebung der Irren in Preußen […] eine Aufgeschlossenheit gegenüber der Anwendung neuer Methoden in der psychiatrischen Forschung« dokumentiert habe.36 Auch Volker Roelcke streicht die innovativen Aspekte der Kontroverse um die Irrenstatistiken hervor. Er ordnet die Quantifizierung in die Bemühungen der Psychiater um eine moderne, naturwissenschaftlich orientierte Psychiatrie ein.37 Die Debatten um die Irrenstatistiken in Berlin und Paris hätten zu einer intensiven Beschäftigung der Psychiater mit der Klassifikation und Benennung psychischer Krankheiten geführt, die die großen Mängel und die geringe fachliche Einigkeit in diesem Bereich offengelegt habe. Die Folge dieser Auseinandersetzung war letzt31 ENGSTROM, Clinical Psychiatry, 30. BLASIUS, Seelenstörung, 61-80. 32 ENGSTROM, Clinical Psychiatry, 30. BLASIUS, Seelenstörung, 61-80. 33 ENGSTROM, Clinical Psychiatry, 31. 34 SCHMIEDEBACH, Psychiatrie und Psychologie, 84. 35 Ebenda. 36 Ebenda, 75. 37 ROELCKE, Psychiatrie. 172.
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lich, dass man sich der Notwendigkeit eines Konsenses über die psychiatrische Terminologie und Klassifikation bewusst geworden sei.38 Ferner habe Quantifizierung auch bei der Entwicklung der Krankheitslehre Emil Kraepelins eine Rolle gespielt, die zu einer Neukonzeption der Klassifikation und Terminologie in der Psychiatriege führt habe.39 Anders als in der Medizin, in der lange Zweifel herrschten, ob therapeutische oder diagnostische Schlüsse aus den Zahlen zu ziehen seien, also inwiefern die Statistik eine erkenntnisleitende Funktion einnehmen sollte, lässt sich annehmen, dass die Akzeptanz quantifizierender Methoden in der deutschen Psychiatrie bereits Mitte des 19. Jahrhundert stärker ausgeprägt war. Ein Beispiel dafür sind die Diskussionen über die Irrenstatistiken: Die methodischen Auseinandersetzungen der Psychiater über die Erfassungskriterien sowie über die Durchführung der Erhebung zeigen, dass sie erkenntnisleitende Absichten verfolgten. Trotz der Auseinandersetzung um die genaue methodische Umsetzung ging es ihnen darum, ihr Wissen über Diagnose und Klassifikation psychischer Krankheiten zu vermehren. Auch an rassenpsychiatrischen Publikationen lässt sich die Bedeutung von Zahlen für die Psychiatrie ablesen, da die Frage nach der Häufigkeit psychischer Erkrankungen beständig im wissenschaftlichen Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie aufge38 Ebenda. 39 Volker Roelcke beschreibt in seinem Aufsatz den Zusammenhang von Quantifizierung und Normierung für die Krankheitsklassifikation Emil Kraepelins. Die Quantifizierung habe bei Kraepelin dazu beigetragen, dass eine Krankheitsnorm geschaffen werden konnte, die Kraepelins Krankheitsauffassung stützte. Vgl. VOLKER ROELCKE, Quantifizierung, Klassifikation, Epidemiologie: Normierungsversuche des Psychischen bei Emil Kraepelin. In: Werner Sohn und Herbert Mehrtens (Hg.), Normalität und Abweichung. Studien zur Theorie und Geschichte der Normalisierungsgesellschaft, Opladen 1999, 183200. Die Bedeutung der Quantifizierung für die Neuformulierung der Krankheitslehre Emil Kraepelins durch die Nutzung von Zählkarten wurde weiterhin von Eric Engstrom und Matthias Weber untersucht. Mit den Zählkarten schuf Emil Kraepelin demnach ein eigenes, den Verfahren der Volkszählungen ähnelndes empirisches Erfassungssystem seiner Patienten und Patientinnen. Einerseits zeige die Verwendung der Zählkarten die explizit quantitative Dimension von Kraepelins Forschung. Trotzdem sei der Zweck der Karten in der Forschung Kraepelins nicht ganz deutlich, denn die Karten enthielten zu wenige Informationen, um für Kraepelins spätere nosologische Ergebnisse die ausschließliche Grundlage zu liefern. Weber und Engstrom legen den Schluss nahe, dass die Karten eher einen symbolischen als praktischen Wert genossen, und z. B. den Zweck hatten, die Modernität von Kraepelins Methode zu unterstreichen. MATTHIAS M. WEBER und ERIC J. ENGSTROM, Kraepelin's »diagnostic cards«: the confluence of clinical research and preconceived categories. In: History of Psychiatry 8/1997, 375-385 383. Vgl. ebenfalls ENGSTROM, Clinical Psychiatry, 141f.
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griffen wurde. Im folgenden Unterkapitel wird daher die Quantifizierung in der rassenpsychiatrischen Forschung ausführlicher dargestellt. Dabei wird untersucht, wie Quantifizierung angewandt wurde und funktionierte: In welcher unterschiedlichen Art und Weise wurde mit Zahlen argumentiert? Wie wurden Zahlen erhoben? Was wurde gezählt und welche Schlüsse leitete man aus den Zahlen ab? Ferner werden die wiederkehrenden Auseinandersetzungen über die Aussagekraft und Zuverlässigkeit der statistischen Angaben innerhalb des Diskurses um »Rasse« und Psychopathologie thematisiert.
4.2 Q UANTIFIZIERUNG IN DER R ASSENFORSCHUNG : Z AHLEN ALS ARGUMENT UND M ETHODE Wie bereits gezeigt spielte die Frage nach der Quantität psychischer Krankheiten bei unterschiedlichen »Rassen« von Anbeginn der Debatte eine wichtige Rolle: Die Thematisierung der Prävalenz verschiedener Krankheiten in verschiedenen Teilen der Welt brachte die Vorstellung einer rassenpsychiatrischen Differenz hervor: Reiseberichte verbreiteten die vermeintliche Seltenheit psychischer Krankheiten in verschiedenen nichtwestlichen Ländern, Irrenstatistiken zählten einen hohen Anteil von Psychiatriepatienten und -patientinnen jüdischer Konfession und die Volkzählung in den USA schuf eine Debatte, in der »Rasse«, psychische Erkrankungen und Sklaverei miteinander in Beziehung gesetzt wurden. Die rassenpsychiatrischen Publikationen widmeten sich der wissenschaftlichen Ergründung der dadurch aufgeworfenen Fragen und nutzten quantifizierende Methoden zu ihrer Lösung. Wie im Folgenden herausgearbeitet wird, finden sich dabei zwei Verwendungsarten von Quantifizierung: Erstens die rhetorische Verwendung bereits vorhandener Zahlen. Dabei wurden Zahlen als Argumente angeführt, die nicht eigens für die rassenpsychiatrische Fragestellungen erhoben, sondern aus amtlichen, städtischen Statistiken und Anstaltsstatistiken sowie aus anderen Quellen zusammengestellt worden waren. Der Gebrauch vorhandener Zahlen korrelierte mit einem eher deskriptiven Stil und mit wenigen oder gar keinen Belegen.40 Es lässt sich keine deutliche zeitliche Zäsur setzen, jedoch nahm die deskriptive Form des Argumentierens und Schreibens nach dem Ende des Ersten Weltkriegs langsam ab. Von dieser rhetorisch-argumentativen Verwendung der Quantifizierung in rassenpsychiatrischen Studien durch bereits existierendes Zahlenmaterial lässt sich zweitens der Gebrauch von Statistik als methodisches Werkzeug der Forschung unterscheiden. Hier wurden Statistiken mit dem Ziel erhoben, eine als Forschungsfrage definierte rassenpsychiatrische Problemstellung zu beantworten. Diese empirisch ausgerichteten Schriften finden sich
40 Vgl. z. B. BECKER, Nervosität bei den Juden; SINGER, Krankheitslehre.
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schon zu Beginn des Forschungszeitraumes, nehmen aber ab den 1920er Jahren deutlich zu. Im Folgenden stelle ich die beiden genannten Arten der Quantifizierung als »Argument« und als »Methode« dar. Es wird sich zeigen, dass Quantifizierung in der rassenpsychiatrischen Forschung zunächst eine kumulative Sammlung heterogener Zahlen bedeutete und sich zunehmend zu eigens unternommenen empirischen Studien fortentwickelte. Kategorien und Ergebnisse der Zählungen blieben jedoch zugleich undeutlich und bisweilen umstritten. Zahlen als Argument Im ersten Kapitel wurde ausgeführt, dass die von den amtlichen Behörden erhobenen Volkszählungen und Irrenstatistiken bei der Etablierung der Vorstellung einer psychopathologischen Differenz der »Rassen« bedeutsam waren. Auch in den Publikationen zur rassenpsychiatrischen Forschung wurde auf diese Zahlen aus den Statistiken zurückgegriffen. Die Publikationen über Krankheitshäufigkeiten in den Kolonien und anderen Teilen der nichtwestlichen Welt unterschieden sich dabei von jenen, die psychische Krankheiten bei Juden zum Thema hatten. Letztere basierten überwiegend auf amtlichen Irrenstatistiken aus den deutschsprachigen Ländern, dem restlichen Europa und Nordamerika, die nach dem Anteil der Patientinnen und Patienten in den Psychiatrien mit jüdischer Konfessionszugehörigkeit ausgewertet wurden. Außerhalb des Westens gab es dagegen diese ausdifferenzierten Statistiken nicht, so dass sich die Publikationen hauptsächlich auf die empirischen Arbeiten anderer, häufig internationaler Autoren, Reiseberichte und vereinzelt auch auf Medizinalberichte aus den Kolonien bezogen.41 Zumeist leitete eine solche Zusammenstellung der Zahlen die Publikationen ein; einige Veröffentlichungen bestanden fast ausschließlich aus einer Zusammenstellung amtlicher Statistiken. Georg Buschans Artikel Einfluß der Rasse auf die Häufigkeit und die Form der Geistes- und Nervenkrankheiten von 1897 war der erste im deutschsprachigen Raum, der einen Überblick über das existierende internationale Zahlenmaterial über psychische Krankheiten bei verschiedenen »Rassen« präsentierte.42 Dieser Text soll hier exemplarisch für diese Art der Zahlensammlung behandelt werden. Der Artikel
41 Geisteskranke wurden in den deutschen Kolonien nicht amtlich gezählt. Sie tauchen in der psychiatrischen wie kolonialmedizinischen Literatur in der Regel nur als Einzelfälle auf, zumeist in Form eines Hinweises, dass Geisteskrankheiten unter Afrikanern doch nicht so selten seien. So z. B. in ANONYM, Rezension von: Medizinalberichte über die deutschen Schutzgebiete für das Jahr 1909/1910. Herausgegeben vom Reichskolonialamt. Berlin, 1911, Mittler & Sohn. In: Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene 13/1909, 659-662, 659. 42 BUSCHAN, Einfluss der Rasse.
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stellt eine Mischung aus Forschungsüberblick und einer Art »Vorform« der statistischen Metaanalyse dar. Die Zahlen, die Buschan verwendete, waren in der überwältigenden Mehrheit Publikationen entnommen, die nicht mit der Absicht erstellt worden waren, Aussagen über die Verbindung von »Rasse« und Psychopathologie zu treffen. Die Zahlen über psychische Krankheiten und »Rassen« trug er aus staatlichen Irrenstatistiken und Anstaltszählungen einzelner Staaten, Regionen oder Städten zusammen. Er gab darüber hinaus Einzelpublikationen an, in denen die Verteilung psychischer Erkrankungen in einer Region oder in einer Bevölkerungsgruppe erwähnt oder thematisiert wurde und berief sich vereinzelt auf Volkszählungen wie den US-amerikanischen Zensus, in denen neben der Bevölkerung auch die Anzahl der »Irren« gezählt wurde.43 Die Zusammenstellung von Zahlen in Buschans Aufsatz hatte jedoch nicht nur zum Ziel, Angaben über die jeweilige Größenordnung der Anstaltsbevölkerung zu machen. Bei Juden stellte Buschan zwar eine vergleichsweise hohe Zahl psychischer Erkrankungen gegenüber der jeweiligen Restbevölkerung fest.44 Auch machte er Angaben über die Häufigkeit psychischer Krankheiten bei »Negern«, von denen er meinte, solange sie »sich noch im ursprünglichen Zustande« befänden, würden sie außerordentlich selten psychisch erkranken.45 Buschans hauptsächliches Interesse richtete sich jedoch auf die Krankheitsformen: Wo häuften sich welche Krankheitsformen oder fehlten gänzlich? Hauptfokus dabei war die Häufigkeit von Manie und Melancholie. Während er bei dem »blonden, hellen Typus« des »germanischskandinavischen Elements« häufiger Depressionen diagnostizierte, meinte er, dass der »brünette dunkle Typus«, die »Angehörigen des keltisch-iberisch-ligurischen Elements« eher zur Manie neige.46 »Exaltationszustände«, Tobsucht und Manie seien auch bei der »gelben Rasse« und bei den »Culturnegern« häufiger, bei Juden hob Buschan ihren angeblich hohen Anteil an Neurasthenikern hervor.47 Buschan war davon überzeugt, es gebe rassische Differenzen zwischen menschlichen Gruppen.48 Zwar äußerte er Kritik gegenüber den bisherigen rassenpsychiatrischen Erkenntnissen, denn er hielt die Forschungslage in diesem Bereich für noch nicht ausreichend. Trotzdem ließen sich bereits auf der Grundlage der bisherigen Forschung »gewisse Gesichtspunkte aufstellen, die darthun, daß pathologische Momente die einzelnen Rassen auf Recht verschiedene Weise beeinflussen, und zwar nicht bloß das somatische, sondern auch das psychische Befinden derselben.« 43 Buschan zitierte die Zahlen der US-Volkzählung nur indirekt nach PAUL TOPINARD, Anthropologie, Leipzig 1887, 413. 44 BUSCHAN, Einfluss der Rasse, 118. 45 BUSCHAN, Einfluss der Rasse, 142. 46 Ebenda, 104. 47 Ebenda, 105, 131, 142. 48 Ebenda, 104.
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Die mangelhafte Forschungslage war für ihn kein Grund, die Idee rassenpathologischer Unterschiede an sich in Frage zu stellen, von deren Existenz er sich überzeugt zeigte. Er gab mehrere Beispiele für eine spezifische Pathologie aus der Tierwelt an, beispielsweise die Immunität des Huhns gegen Tetanus und die »Empfänglichkeit des Kaninchens für Milzbrand« und folgerte: »Eine ähnliche Verschiedenheit im dem Verhalten gegen pathologische Einflüsse besteht aber auch innerhalb des Genus Mensch. So besitzt die schwarze Rasse eine absolute Immunität gegen Malaria und Gelbfieber, die weiße dagegen disponirt in auffällig hohem Grade für diese beiden Krankheiten […] Auf grund dieser und noch vieler anderer Argumente […] lässt sich mit Fug und Recht von einer Rassenpathologie sprechen.«49
Die Existenz rassenpsychiatrischer Unterschiede leitete Buschan aus den postulierten rassenpathologischen Differenzen der Menschen ab. Der Analogieschluss von körperlichen Krankheiten auf »Geisteskrankheiten« weist darauf hin, dass Buschan biologisch bedingte Ursachen psychischer Erkrankungen für primär hielt. Ebenso betonte er mit dem Hinweis auf die Nähe zwischen Mensch und Tier, dass sich das psychische Befinden des Menschen aus Naturvorgängen, aus der Biologie, aufklären ließe. Der Verweis auf »Culturneger« und seine Annahme der geringen Krankheitshäufigkeit bei denjenigen Afrikanern, die noch »ursprünglich« lebten, zeigt jedoch, dass er auch der Umwelt eine ätiologische Auswirkung zumaß. Buschan benannte die Rassentheoretiker Paul Topinard und Jean Louis Quatrefages50 als Grundlage für die Aufteilung in die »weiße«, »gelbe« und »schwarze Rasse«, die er noch in Unterrassen aufteilte. Für die der »weißen Rasse« zugeordneten »europäischen Indogermanen« präsentierte er Zahlen aus den deutschen Staaten, aus Dänemark, Schweden und Norwegen. Teils stammten diese Zahlen direkt aus regionalen Zählungen, wie beispielsweise über die Anstalten in der Rheinprovinz51 oder über die norwegischen Anstalten52, teils waren sie Anstaltsberichten entnommen, die in der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie referiert wurden.53 Ähnlich 49 Ebenda. 50 Paul Topinard (1830-1911) französischer Anthropologe und Mediziner und Jean Louis Armand de Quatrefages de Bréau (1810-1892), ebenfalls Franzose und Anthropologe sowie Naturforscher unternahmen beide eine Klassifikation der menschlichen »Rassen«. 51 Die Provinzial-Irren-, Blinden- und Taubstummen-Anstalten der Rheinprovinz in ihrer Entstehung, Entwicklung und Verfassung, dargestellt auf Grund eines Beschlusses des 26. Rheinischen Provinzial-Landtages vom Mai 1879, Düsseldorf 1880. 52 Norges officiella statistik; oversigt over sindssyge verkomshed i Aahred 1883, Christiania 1884. 53 Die Berichte über die Anstalten in Hildesheim, Wehnen, Königslutter, Würzburg und Dänemark sind den Referaten in der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie der Jahrgän-
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stellte Buschan die Angaben über »Slaven« und über die »keltische Rasse« zusammen.54 Letztere umfasste nach Buschan die »kurzköpfige, brünette, kleingewachsene Rasse«, die er sowohl im Mittelmeerraum als auch in Irland verortete.55 Ebenfalls zur »weißen Rasse« zählte er die »Semito-Hamiten«, »deren Hauptvertreter der Jude« sei.56 Die Zahlen über Juden unterscheiden sich von den anderen Statistiken, da sie nicht auf Erhebungen innerhalb eines geographischen Raums beschränkt waren, sondern über die jüdische Konfessionsverteilung in psychiatrischen Anstalten Auskunft gaben. Buschan zitierte Statistiken aus verschiedenen deutschen Staaten sowie aus Großbritannien, Dänemark, Italien, Russland und den Vereinigten Staaten von Amerika.57 Neben den Statistiken belegte er seine Aussagen auch mit Einzelpublikationen, etwa mit Hugo von Wilhelm Ziemssens Neurasthenie,58 Cesare Lombrosos Genie und Irrsinn59 oder Jean-Martin Charcots Poliklinische Vorträge.60 Gemeinsam ist diesen Publikationen, dass sie keine rassenpsychiatrische Hauptthematik haben. Zudem stützte sich Buschan auf Aussagen, die lediglich ein paar Sätze lang sind. Über die »gelbe Rasse«, die er in »Mongolen« und »Rothäute« einteilte, konnte Buschan nur wenige Zahlen anführen. In den Kolonien gab es keine mit Europa und Nordamerika vergleichbaren Statistiken. Für die Quantifizierung der Krankheiten der »gelben Rasse« griff Buschan auch auf Reiseberichte und Einzelpublikationen zurück, in denen Aussagen über das Vorkommen psychischer Erkrankungen in einzelnen Ländern Erwähnung fanden. Ähnlich geschah dies bei den Zahlen über die »schwarze Rasse«, unter die er die »Neger« Nord- und Südamerikas, sowie »Afrikaner«, »Australier«, »Negritos« und »Melanesier«61 zählte. Außer über die nordamerikanischen ehemaligen Sklaven, die durch die US-Volkzählungen erfasst wage 40 (1884), S. 705; 42 (1882), S. 464 und 705 sowie den Berichten über die psychiatrische Literatur im Jahre 1885 in der AZP 43 (1887), S.102 entnommen. 54 BUSCHAN, Einfluss der Rasse, 117. 55 Er zitiert eine Monographie über Irland und eine Statistik aus Paris in dem Abschnitt. Ebenda. 56 Ebenda, 117. 57 Ebenda, 131. 58 ZIEMSSEN, Die Neurasthenie und ihre Behandlung, 5. 59 CESARE LOMBROSO, Genie und Irrsinn in ihren Beziehungen zum Gesetz, zur Kritik und zur Geschichte, Leipzig 1887, 76. 60 CHARCOT, Poliklinische Vorträge, Bd 1. 61 Es handelte sich hierbei um Sammelbegriffe für indigene Bevölkerungsgruppen. »Australier« bezeichnete die indigene Bevölkerung Australiens, »Negritos« einige der indigenen Bevölkerungsgruppen der Philippinen, Malaysias und Thailands und »Melanesier« bezeichnete ebenfalls Ureinwohner der westpazifischen Inselgruppe nordöstlich von Australien (u. a. Neuguinea, Fidschi-Inseln, Bismarck-Inseln)
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ren,62 existierte auch hier nur wenig statistisches Material. Folglich griff Buschan auch hier auf Einzelpublikationen und Überblicksartikel zurück.63 Es fällt auf, dass Buschan zwar die Herkunft seiner Rassenkategorisierung offenbarte – eine Ausnahme innerhalb rassenpsychiatrischer Publikationen, die wahrscheinlich seiner Ausbildung sowohl als Nervenarzt als auch als Anthropologe geschuldet war –, jedoch explizierte er nicht, wie er die vorhandenen Zahlen der »weißen«, »gelben« und »schwarzen« Rasse zuordnete. Implizit ging er davon aus, dass die geographische Region im Prinzip auch die Ausdehnung der »Rassen« markiere: Für die verschiedenen »Rassen« präsentierte er Zahlen aus dem geographischen Gebiet, die er dieser »Rasse« zugeordnet hatte. Ausnahme bildeten auch hier die Juden und die Afroamerikaner, deren jeweilige Einteilung als Juden und »Neger« bereits während der Erhebung der Statistiken stattgefunden hatte. Allen Gruppen gemeinsam war jedoch, dass ihre Eingruppierung nicht weiter reflektiert wurde und quasi natürlich erschien. Buschans Daten stellen eine Mischung aus quantifizierten Angaben aus Irrenzählungen, Volkszählungen, Anstaltsstatistiken, Einzelartikeln, Reiseberichten und Monographien dar. Die Verwendung von Zahlen sehr unterschiedlicher Herkunft scheint unproblematisch gewesen zu sein. Methode und Umfang der Zählung waren vernachlässigbar, es interessierte allein die quantifizierende Aussage: Zahlen, egal welcher Herkunft, dienten als Argumente, um die jeweiligen Ausführungen zu stützen. Diese Art der Kumulation und rhetorischen Nutzung der Zahlen ist die häufigste Art der Quantifizierung in rassenpsychiatrischen Publikationen. Sie wurde in der überwiegenden Anzahl der Publikationen verwendet – sogar in Berichten, die forschungsspezifisch erhobene empirische Daten vorweisen konnten, nutzte man zumindest einleitend solche »zusammengewürfelten« Zahlengrundlagen. Typischerweise wurde diese kumulativ-quantitative Argumentation durch andere Methoden ergänzt, etwa durch Fallbeispiele, eine deskriptive Darstellung eigener Beobachtungen oder einen Verweis auf historische Vorbilder. Manche Diskursteilnehmer erwähnten auch die Zahlen nur kurz am Anfang, um sich anschließend allein einer argumentativen Darstellung der untersuchten Phänomene zu widmen.64
62 Diese werden von Buschan jedoch auch nicht direkt zitiert, sondern indirekt aus dem Buch von TOPINARD, Anthropologie, 413. 63 Unter anderem zitiert Buschan die Werke von GILLES DE LA TOURETTE, Die Hysterie, Wien 1894. Ferner WILLIAM RICHARD GOWERS, Handbuch der Nervenkrankheiten, Bonn 1892. 64 Ein Beispiel dafür ist die1919 publizierte Schrift BECKER, Nervosität bei den Juden.
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Zahlen als Methode Diejenigen Studien über »Rasse« und psychische Krankheiten, die nicht bestehende Zahlen argumentativ nutzten, sondern denen eigens erhobene empirische Daten zugrunde gelegt wurden, beruhten in der Regel auf Auswertungen von Krankendaten der Klinik, an der die Autoren beschäftigt war. Die Anzahl der untersuchten Fälle war dabei recht unterschiedlich und schwankte zwischen etwas über einem Dutzend und ein paar Tausend.65 Es kam auch vor, dass ausschließlich die Ergebnisse der Anstaltszählungen als Statistiken oder Kurzberichte (z. B. in einer Rubrik Mitteilungen) veröffentlicht wurden, ohne dass die Ergebnisse ausgeführt oder interpretiert wurden.66 Bereits in den ersten rassenpsychiatrischen Publikationen in deutschsprachigen Zeitschriften wurden selbst erhobene empirische Daten veröffentlicht: 1894, 1897 und 1898 erschienen drei Artikel, die Zahlen über die Aufnahmen und die Verteilung der Krankheitsdiagnosen der afroamerikanischen Patienten und Patientinnen im Government Hospital for the Insane in Washington D.C., der »Chinesen«, »Europäer« und »Inländer« der Staatsirrenanstalt Buitenzorg in der niederländischen Kolonie Java und der »Neger« und »Mulatten« in der Irrenanstalt von Sao Paulo in Brasilien vorlegten.67 Zählungen aus psychiatrischen Anstalten wurden auch aus anderen geographischen Regionen vorgelegt, wobei neben der Türkei 68 vor allem das russische Zarenreich und die Habsburgermonarchie mit ihrer vielfältigen Bevölkerung einen reichen Betätigungsgrund boten.69 Die Zählungen führten
65 So untersuchte beispielsweise Pilcz 7540 psychiatrische Fälle, während Martin Pappenheim und Victor Kraus nur 14 Fälle zur Verfügung hatten, was sie allerdings auch als sehr wenig einschätzten. PILCZ, Beitrag (1919/1920). PAPPENHEIM und KRAUS, Über Kriegsneurosen. 66 Z. B. GEORG ADAM, Zur Rassenpsychiatrie. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 60/1903, 281-283; HUGO HOPPE, Juden in Wiener Irrenanstalten. In: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden 10/1910, 15-16; OTTO WOLFF, Psychiatrisches aus Syrien. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 64/1907, 469-478. HUGO HOPPE, Juden in Irrenanstalten Österreichs. In: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden 3/1907, 160; HUGO HOPPE, Die Geisteskrankheiten bei den Juden in Algier. In: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden 3/1907, 64. 67 BRERO, Latah; WITMER, Geisteskrankheit; ROCHA, Bemerkungen. 68 KERIM BEY, Stand; AHMED SCHÜKRI, Über das Vorkommen der progressiven Paralyse in der Türkei. In: Münchner Medizinische Wochenschrift 73/1926, 64; TASSHIN BEY, Geisteskrankheiten. 69 ADAM, Rassenpsychiatrie; NAUM BALABAN, Progressive Paralyse bei den Bevölkerungen der Krim. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 94/1931, 373-383; EMIL MATTAUSCHEK,
Beitrag zur Prognose der Dementia Precox. In: Jahrbücher für Psychiatrie
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in den meisten Fällen Psychiater durch, die in den Anstalten beschäftigt waren, andere Autoren publizierten Zahlen, die sie auf Reisen gesammelt hatten. Zum Teil waren Kriege Anlass für rassenpsychiatrische Studien. In diesen Fällen erhoben die Forscher ihre Daten unter ihren Patienten in den Lazaretten. 70 Die erste Studie eines deutschsprachigen Autors, für die systematisch Patientendaten ausgewertet wurden, also Statistik als Methode verwandt wurde, verfasste 1901 der Österreicher Alexander Pilcz.71 Mit seiner Untersuchung Geistesstörungen bei den Juden, für die er die Aufnahmen und Diagnosen der jüdischen Patienten und Patientinnen der Wiener Universitätsklinik zählte, schob Pilcz eine Reihe von empirischen Untersuchungen zum Thema »Psychopathologie der Juden« an. In den folgenden Jahren publizierte vor allem der Frankfurter Psychiater Max Sichel eine größere Anzahl von Studien zu diesem Thema, die er auf Daten der städtischen psychiatrischen Anstalt, an der er beschäftigt war, stützte.72 Max Sichel und andere Psychiater führten zudem – aus heutiger Sicht mehr oder weniger repräsentative – Umfragen durch. Sichel schickte für seine 1909 veröffentlichte Studie Die Geistesstörungen bei den Juden Fragebögen an die 460 öffentlichen wie privaten psychiatrischen Anstalten des Deutschen Reiches, von denen 395, also 85% antworteten.73 Moses J. Gutmann führte eine ähnliche Studie 1926 in Bayern durch, in der er die Anzahl der behandelten jüdischen Patienten und Patientinnen und deren Diagnosestellung erfragte.74 Ernst Rüdin hatte für seine Studie
und Neurologie 30/1909, 69-112; A. MOLOTSCHEK und A. OWANESSOW, Psychosen bei Karaimen. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 100/1933, 27-36; PILCZ, Beitrag (1919/1920); ALEXANDER PILCZ, Über vergleichend-rassenpsychiatrische Studien. (Vortrag, gehalten im XXIV. internationalen Fortbildungskursus der Wiener medizinischen Fakultät, 1927). In: Wiener Medizinische Wochenschrift 77/1927, 311-314; SIEBERT, Psychosen und Neurosen; MORITZ URSTEIN, Ein Beitrag zur vergleichenden Psychiatrie. In: Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie 29/1906, 629-637. 70 PAPPENHEIM und KRAUS, Über Kriegsneurosen; PILCZ Beitrag (1906); SUBOTITSCH, Geisteskrankheiten in den Heeren. 71 PILCZ, Geistesstörungen (1901). 72 SICHEL, Über Geistesstörungen; SICHEL, Geistesstörungen bei den Juden; MAX SICHEL, Die progressive Paralyse bei den Juden. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 52/1913, 1030-1042; MAX SICHEL, Nervöse Folgezustände von Alkohol und Syphilis bei den Juden. In: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden 15/1919, 137-141. 73 SICHEL, Geistesstörungen bei den Juden, 29f. Die amtlichen Irrenstatistiken verzeichneten nur die öffentlichen Anstalten, was von den Akteuren des Diskurses als Fehlerquelle gewertet wurde. 74 Über methodische Fragen, wie z. B. die Durchführung der Umfrage oder die Rücklaufquote gibt Gutmann keine Auskunft. Er schreibt, dass in Bayern in der Zeit vom 1.1.1908
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über die Paralyse in Algerien von den Ärzten der französischen Kolonie immerhin 68 Rückantworten bekommen.75 Hermann Strauss und Toby Cohn wählten einen anderen Zugang und stützten sich auf Umfragen unter Kollegen. Cohn gab an, dass seine Ausführungen auf der »schätzungsmäßige[n] Antwort« von acht Kollegen basierten76, während Strauss aus den Antworten dreier ihm bekannter Ärzte mit Privatpraxis in Moskau, Warschau und Vilnius weitreichende Ergebnisse ableitete.77 Bis nach dem Ersten Weltkrieg überwogen jene Publikationen im Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie, die Quantifizierung argumentativ und nicht methodisch verwandten: Nur ein kleiner Teil der Wissenschaftler erhob selbst eigene Zahlen, die Mehrheit der Autoren beschränkte sich auf Daten, die anderweitig erhoben worden waren. Visualisierungen von Zahlenverhältnissen waren, mit Ausnahme von Tabellen, die absolute Ausnahme. Auch quantifizierten die Autoren ihre Beobachtungen selten, sondern publizierten sie meist in Form einer narrativen Verallgemeinerung oder seltener in Form von Fallgeschichten. Anfang der 1920er Jahre nahm die Menge der Publikationen zu, für die eigens Zahlen erhoben wurden, wenn auch »narrative« Publikationen weiterhin einen großen Anteil der Veröffentlichungen ausmachten. In diese Zeit fallen gründlichere und aufwändigere Studien wie beispielsweise Alexander Pilcz‘ Abhandlung über psychische Krankheiten unter den Soldaten der Donaumonarchie im Ersten Weltkrieg78 sowie der Bericht über die USA-Forschungsreise Felix Plauts und Emil Kraepelins.79 Die Zunahme statistischer Erhebungen in der Debatte um »Rasse« und Psychopathologie lief parallel zur Genese der medizinischen Statistik als eigenständiges Fach, das in den ersten dreißig Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ebenfalls an Bedeutung zunahm und methodisch ausreifte. Darüber hinaus lag es in erster Linie an einer neuen Forschungsrichtung, dass die Forscher begannen, mehr selbst zu zählen: Ernst Kretschmers Buch Körperbau und Charakter hatte 1921 den Anstoß für Arbeiten gegeben, rassenpsychiatrische Fragestellungen mit der Erforschung
bis 31.9.1921 von 87486 Behandelten 1375 Juden gewesen seien. GUTMANN, Geisteskrankheiten bei den Juden. 75 Rüdin, Paralysefrage, S. 685. Es scheint so zu sein, als ob die Rücklaufquote 100% betragen hätte, Rüdin sagt das jedoch nicht ausdrücklich, auch erwähnt er nicht, dass ein Arzt nicht geantwortet hätte. 76 COHN, Nervenkrankheiten, 74. 77 HERRMANN STRAUSS, Erkrankungen durch Alkohol und Syphilis bei den Juden. In: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden N.F. 4/1927, 33-39. 78 PILCZ, Beitrag (1919/1920). 79 Kraepelin und Plaut teilten sich die Arbeit so auf, dass Plaut die syphilitischen, Kraepelin die nichtsyphilitischen Krankheiten untersuchte. Nur Plaut veröffentlichte seine Ergebnisse. PLAUT, Paralysestudien, 1.
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von Konstitutionstypen zu verbinden.80 Im Vergleich mit den bisherigen empirischen Untersuchungen, in denen nur Daten zur Anzahl der Patienten und Patientinnen sowie zu deren Diagnosen erhoben worden waren, erhöhten sich die Zahlen in den neuen Studien über Konstitutions- und Rassentypen um ein Vielfaches, da nun anthropologische Erhebungsmethoden zum Einsatz kamen. Die Durchführung der Zählungen in der rassenpsychiatrischen Forschung »Die Seele der Statistik ist der Vergleich, ohne diesen ist sie ein lebloser Körper« schrieb Friedrich Prinzing 1906 in seinem Handbuch der medizinischen Statistik.81 Auch in den rassenpsychiatrischen Forschungen war der Vergleich die Grundlage quantifizierender Studien: Die Aussage über eine größere oder geringere Häufigkeit psychischer Krankheiten wurde in der Regel mittels eines Kontrasts zwischen den betrachteten Bevölkerungsgruppen hergestellt. Zumeist wurde der Anteil berechnet, den die verschiedenen »Rassen« an der Anstaltsbevölkerung ausmachten und dieser mit ihrem Gesamtbevölkerungsanteil ins Verhältnis gesetzt. Francisco Franco da Rocha etwa verglich die Aufnahmen von »Farbigen« und »Negern« in der Anstalt von Sao Paulo mit deren Anzahl an der Gesamtbevölkerung Brasiliens.82 Siebert zählte Juden, Letten, Litauer und Russen in der psychiatrischen Anstalt in Libau im heutigen Lettland, und setzte sie in Beziehung zu ihrem jeweiligen Bevölkerungsanteil.83 Abraham Wittmer stellte den Anteil der psychischen Erkrankungen bei Afroamerikanern in Washington D.C. der Restbevölkerung der USA gegenüber.84 In den Studien über Juden wurde ebenfalls die Anzahl der in den Kliniken aufgenommenen Juden mit dem Anteil der Juden an der Bevölkerung in der jeweiligen Region oder Stadt verglichen.85 Manchmal
80 KRETSCHMER, Körperbau und Charakter. 81 PRINZING, Handbuch der medizinischen Statistik, 10. 82 Er schreibt, dass dieser Aussage wenig Wert zuzumessen sei, wenn man die »Häufigkeit der Krankheit der Rasse nach« ermitteln wolle, aber zieht dann einige Zeilen später doch aus den Zahlen den Schluss, dass »in Bezug auf das Irresein, die weisse Rasse vor der schwarzen oder farbigen keinen Vorteil hat« ROCHA, Bemerkungen, 135. 83 SIEBERT, Psychosen und Neurosen. 84 WITMER, Geisteskrankheit. 85 Beispielsweise verglich Erich Gutmann in seiner Dissertation den Anteil der »Juden« in der Freiburger psychiatrischen Klinik mit dem jüdischen Bevölkerungsanteil Südbadens GUTTMANN, Beitrag zur Rassenpsychiatrie. 9. Sichel setzte den Anteil der »Juden« an der Anstaltspopulation mit ihrem Anteil der an der Bevölkerung Frankfurts, Pilcz ähnlich mit demjenigen Wiens ins Verhältnis. PILCZ, Geistesstörungen (1901); SICHEL, Über Geistesstörungen; SICHEL, Geistesstörungen bei den Juden.
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scheint auch ein Vergleich der unterschiedlichen »Rassen« innerhalb der Anstalt alleinigen Aussagewert gehabt zu haben. So vermerkte Brero den Anteil der »Inländer« und »Chinesen« in der psychiatrischen Anstalt der niederländischen Kolonie Java ohne einen Verweis auf die Gesamtbevölkerung, zog daraus aber ähnliche Schlüsse wie seine Kollegen.86 Einige Autoren merkten an, dass die unterschiedlichen Diagnosen, die diese Gruppen aufwiesen, interessanter und aussagekräftiger als die Verhältniszahlen seien. Daher findet sich in allen Publikationen sowohl eine Aufstellung der Patientenzahlen als auch eine der Diagnosen. Gemeinsam sind den »argumentativen« wie den »methodischen« Studien zur psychiatrischen Rassenforschung die wenigen und nur indirekten Auskünfte über die Art der Klassifikationskriterien. Die Psychiater beschränkten sich auf die Zählungen der Anstaltspopulation, der Verteilung der Diagnosen und – seltener – der Anzahl der Sterbefälle und Entlassungen. Diese Daten waren entweder von den Psychiatern selbst erhoben oder von ihnen aus den Krankenakten oder anstaltsinternen Statistiken gezogen worden. Über die Erstellung der Daten finden sich in den Publikationen indes so gut wie keine Informationen. Wie die Einteilungen verliefen, nach denen die Autoren die »Rassen« zuordneten, thematisierten sie nicht. In der Regel wurde in den Studien nicht erklärt, welche Einteilungskriterien den Zuschreibungen zugrunde lagen. Die Forscher problematisierten selten, wie sie die Objekte ihrer Forschung in verschiedene Kollektive einteilten. Zum Teil wurde diese Einteilung »nach Augenschein« zwar auch von den Zeitgenossen kritisiert. Jedoch wandten erst diejenigen Diskursakteure, die sich seit den 1920er Jahren mit dem Vergleich zwischen Konstitutions- und Rassentypen beschäftigten, systematisch anthropometrische Verfahren an und definierten, was sie unter »Rasse« verstanden. Wen die Ärzte aufgrund welcher Kriterien als »Neger«, »Slawen«, »Juden«, »Baschkire« oder »Javaner« einordneten, wurde in den restlichen Schriften nicht expliziert, jedoch lassen sich aus den Kategorien implizite Kriterien ablesen.87 Bei der Gruppe der Juden sind diese Kriterien am offensichtlichsten: Die Zugehörigkeit zur rassisch und biologisch gedachten Gruppe der Juden wurde aus der Konfessionszugehörigkeit abgeleitet. Das Religionsbekenntnis wurde in der Regel bei der Aufnahme in die psychiatrische Anstalt in der Akte vermerkt und in den Anstaltsstatistiken ausgewertet. Deshalb war eine Zählung einfach. Innerhalb des zeitgenössischen biowissenschaftlichen Diskurses galt es als plausibel, dass Juden seit der Zeit der Tempelzerstörung eine relativ stabile biologische Gruppe gebildet 86 Er schreibt in einer Fußnote, dass er unter »Inländern« die »Einwohner von Java und Madura« verstehe. BRERO, Geisteskrankheiten, 24. 87 In den Studien, die ab den 1920er Jahren über den Zusammenhang von Konstitutionsund Rassenforschung geschrieben wurden, gab es in der Regel eine Nennung der anthropometrischen Methode, nach der die »Rassen« vermessen wurden. Siehe Kapitel 3.2.2.
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haben und diese durch Endogamie auch »rein« geblieben sei.88 Daher schien es schlüssig, von der Konfession auf die »Rasse« zu schließen. Auf die Problematik der nur in jüngster Vergangenheit als relevant erachteten Mischehen zwischen Juden und Christen machte nur ein Forscher aufmerksam: Pilcz ist der einzige, der offenlegte, wie er die Gruppe der Juden »bildete«. Studien wie seine, so schreibt er, krankten an dem Problem, dass »die Sichtung des Krankenmaterials […] im Grossen und Ganzen nur nach dem Nationale [sic], d. h. der Confession der Kranken« geschehen könne, »eine Sichtung der Rassen nach in Juden und Arier, worauf es hauptsächlich ankäme«, jedoch nicht möglich sei.89 Das sei deswegen schwierig, weil nicht alle Christen »der arischen Bevölkerung zugehörig« seien, da sich hierunter auch konvertierte Juden befinden könnten. Um diesem Problem zu begegnen habe er »getaufte Juden unter der Rubrik der jüdischen Pfleglinge geführt«, wenn dies aus der Kenntnis der Lebensgeschichte bekannt war.90 Trotzdem konnte Pilcz damit nicht das Problem der Unzuverlässigkeit seiner Zahlen lösen, da er keine »rassischen« Zuordnungskriterien benennen konnte und er somit für die Einteilung nach Juden und Nichtjuden nach wie vor auf die Konfession angewiesen blieb. Auch bei anderen Autoren verweisen die Ordnungskategorien auf ihre Einteilungskriterien. Bei »Negern« und »Farbigen« Nord- und Südamerikas beispielsweise in den Aufsätzen des brasilianischen Psychiaters Francisco Franco da Rocha und bei Felix Plaut, Psychiater und Abteilungsleiter der DFA in München, ist die phänotypische Zuschreibung offensichtlich.91 Die Einteilung von Ladislaus Epstein, der als Anstaltsdirektor in Siebenbürgen seine Patienten und Patientinnen nach »Széklern (magyarische Rasse)«, »Sachsen (germanische R[asse])« und »Rumänen (wahrscheinlich südslawische R[asse] mit romanischem Einschlag)« einteilte, lässt auf die Wahl kulturell-sprachlicher Kriterien schließen.92 Pieter C.J. van Breros Aufteilung in »Europäer«, »Chinesen« und »Javaner« in seiner Untersuchung über Niederländisch-Ostindien zeigt eine weitere Gruppierungsart, in der sich phänotypische und kulturell-sprachliche Merkmale vermischten.93 Nur wenige Autoren thematisierten, dass sie auf Probleme bei der Einteilung in Rassenkategorien stießen. Das obige Beispiel von Alexander Pilcz zeigt die Schwierigkeiten bei der Definition der Patienten und Patientinnen »jüdischer Rasse«. Francisco Franco da Rocha, machte ebenfalls die Vermischung der »Rassen« 88 Vgl. dazu die Studie von Veronika Lipphardt, die sich umfassend mit der wissenschaftlichen Debatte um die »jüdische Rasse« und der Vorstellung, dass Juden ein »reines Rassengemisch« dargestellt hätten, beschäftigt: LIPPHARDT, Biologie der Juden, hier S. 76. 89 PILCZ, Geistesstörungen (1901), 888. 90 Ebenda. 91 PLAUT, Paralysestudien; ROCHA, Bemerkungen. 92 EPSTEIN, Beiträge Rassenpsychiatrie (Vortrag). 93 BRERO, Dementia Paralytica.
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als zentrales Problem der rassenpsychiatrischen Forschung aus. Er schrieb, dass »die Vermischung der verschiedenen Rassen […] eine solche Verschiedenartigkeit unter der Bevölkerung des Irrenhauses [erzeugt hat], dass es schwer fällt, den Antheil, welcher einer jeden Rasse zukommt, genauer festzustellen.«94 Es hat darüber hinaus den Anschein, als ob auch Franco da Rocha grundsätzlich Schwierigkeiten hatte, die Patienten und Patientinnen in rassische Kategorie einzuteilen. Diese Schwierigkeiten bildete er jedoch in seiner Statistik nicht ab. Hier trennte er dennoch nach »Farbigen« und »Negern« ohne dies weiter zu kommentieren oder die Einteilungskriterien offen zu legen. Es zeigt sich also deutlich, dass die Autoren im Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie eine große Bandbreite von Bevölkerungsgruppen untersuchten und dass ihrer Einteilungspraxis in den meisten Fällen keine präzisen Definitionen bzw. keine eindeutigen Kategorien zu deren Abgrenzung zugrunde lagen. Auch über die Art und Weise ihrer Diagnoseerstellungen verloren die Akteure des Diskurses nur wenige Worte. Diejenigen, die empirische Daten für ihre rassenpsychiatrischen Publikationen erhoben, erstellten die Diagnosen anscheinend zum Teil selbst, da es sich ja um ihre eigenen Patienten und Patientinnen handelte. Einige mischten jedoch die Daten ihrer aktuellen Fälle mit Zahlen, die sie aus älteren Anstaltsstatistiken oder Krankenakten erhalten hatten und mussten sich dabei auf die Diagnosen ihrer Vorgänger verlassen. In ihren eigenen Studien thematisierten sie weder, dass bei der Benennung und Eingrenzung der Diagnosen je nach Schule weitreichende Unterschiede existierten noch gaben sie an, nach wem sie sich bei der Klassifikation gerichtet hatten.95
4.3 P REKÄRES W ISSEN ? Z EITGENÖSSISCHE K RITIK AM AUSSAGEWERT DER E RHEBUNGEN Ausmaß und Umfang des Themas Quantifizierung innerhalb rassenpsychiatrischer Publikationen zeigen, dass Zahlen für die rassenpsychiatrische Erkenntnisproduktion und Beweisführung bedeutsam waren. Gleichzeitig wussten die Forscher von der Unsicherheit dieser Zahlen: Rassenpsychiatrisches Wissen war prekäres Wissen. Tatsächliche Erläuterungen zu den Voraussetzungen und Methoden waren zwar insbesondere in der Phase bis zum Ende des Ersten Weltkrieges rar. Allerdings sparte man nicht mit Kritik (auch Selbstkritik) an den Erhebungen und wusste um die Vorläufigkeit des bisher Erkannten. Die Kritik an eigenen und fremden Zahlen bildete in der Mehrheit der Publikationen neben der kumulativen Aufreihung
94 ROCHA, Bemerkungen, 133. 95 PILCZ, Geistesstörungen (1901), 889.
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von Statistiken den Einstieg in das rassenpsychiatrische Thema, gewissermaßen als eine Art Reflektion des Forschungsstandes. Dies führte jedoch nicht dazu, dass die Grundprämisse vom Vorhandensein rassenpsychopathologischer Unterschiede ernsthaft in Frage gestellt wurde: Durchaus üblich war es in einer Publikation sowohl die hohe Wahrscheinlichkeit der Existenz rassenpsychiatrischer Differenzen zu bemerken als auch Kritik an den bereits existierenden Zahlen zu üben. Auch von denjenigen, die selbst Daten erhoben, waren also selbstkritische Stimmen über die generierten Zahlen und den Aussagewert ihrer Erkenntnisse zu vernehmen. Da Rocha verstand seine Studie, in der er die 2146 Aufnahmen der vergangenen 16 Jahre seiner Anstalt in Sao Paulo untersuchte, als »Vorläufer für künftige Studien«, denn »[w]ir haben nicht die Absicht, die Forschungen in diesem so schwierigen Theile der Medizin systematisch darzustellen und wählen deshalb den bescheidenen Titel ›Bemerkungen‹ für unsere Arbeit, denn es sind in Wirklichkeit nur in der Praxis gesammelte Beobachtungen, die auf Vollkommenheit keinen Anspruch erheben, nicht systematisch behandelt sind«.96 Auch Johannes Lange verstand die Ergebnisse seiner Untersuchung unter 500 Münchner Juden als vorläufig: »Man wird nicht verkennen, dass es uns in den voranstehenden Ausführungen in der Tat gelungen ist, zu einer Reihe von für die Fragestellung wichtigen Ergebnissen zu gelangen. Auf der anderen Seite wird man sich aber nicht verbergen können, dass es sich dabei nur um Vorläufiges handelt. Sieht man davon ab, dass wir manche wichtige Frage überhaupt nicht berührt haben, dass unsere Ergebnisse zum Teil im Gegensatz zu früheren stehen und wir manche Schwierigkeiten nicht zu lösen vermochten, so wird vor allem die Kleinheit des verarbeiteten Materials, das allerdings im Vergleich zu früheren Veröffentlichungen immer noch riesengroß erscheint, zu Bedenken Anlass geben«.97
Die am häufigsten geäußerte Kritik galt jedoch den Zahlen aus Anstalts- und Irrenstatistiken.98 Kontrovers war beispielsweise, ob über die Zahl der Anstaltsaufnahmen und -bewohner Aufklärung über die Prävalenz psychischer Erkrankungen innerhalb einer Bevölkerung zu erlangen sei. Während diese Zahlen einerseits als Grundlage für rassenpsychiatrische Aussagen angeführt wurden, und einzelne Autoren von der Zahl der Psychiatrien in einem Land auch Aussagen über die Häufigkeit psychischer Erkrankungen dort ableiteten,99 hörte man auch Skepsis: »Was soll die Angabe bedeuten, dass sich in Java nur einer von etwa 50 000 Einwohnern in
96 ROCHA, Bemerkungen, 133. 97 LANGE, Über manisch-depressives Irresein, 1349. 98 Kritik an der Aussagekraft dieser Statistiken äußerten auch Psychiater außerhalb rassenpsychiatrischer Publikationen. KRAFFT-EBING, Lehrbuch, 134. 99 URSTEIN, Ein Beitrag zur vergleichenden Psychiatrie, 630.
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einer Anstalt befindet? Die Zahl sagt nur, dass es zu der Zeit der Angabe so viel Plätze gab«, so der Psychiater Abraham Gans.100 Da die hohe Anzahl jüdischer Patienten und Patientinnen in den Anstalten besonders häufig in den Statistiken erwähnt wurde und da der Großteil rassenpsychiatrischer Publikationen sich dem Thema der psychischen Krankheiten bei Juden widmete, nahm die Frage der Reliabilität und Aussagekraft der gefundenen Zahlen, die Juden betrafen, naturgemäß einen großen Anteil ein. Es war umstritten, ob die als spezifisch wahrgenommene Lebenssituation und die Traditionen der Juden die Statistiken verfälschten: Konnte die höhere Quote jüdischer Patienten und Patientinnen in den psychiatrischen Anstalten durch die jüdischen Sitten und die Lebenssituation erklärt werden? Oder legte es die spezifische Situation von Juden möglicherweise sogar nahe, dass unter ihnen eine noch höhere Prävalenz psychischer Erkrankungen wahrscheinlich war als bislang aus den Anstaltszahlen ersichtlich? So kam Alexander Pilcz in seiner 1901 erschienen Studie über die Wiener Universitätsklinik zu dem Ergebnis, die Zählung unter den jüdischen Patienten und Patientinnen biete ein falsches Bild des tatsächlichen Umfangs psychischer Erkrankungen bei Juden. Er zählte 11 % jüdische Patienten und Patientinnen in der Anstalt versus 8 % Jüdinnen und Juden in der Wiener Bevölkerung: der Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden im Verhältnis von Anstaltsinsassen zur Bevölkerung sei also »nicht übermässig gross, wenn auch vorhanden«.101 Man könne jedoch auf diese allgemeinen Zahlen wenig Wert legen, so Pilcz, denn »die oben angegeben Zahlen, welche immerhin schon ein stärkeres Befallensein der jüdischen Rasse von Psychosen gegenüber dem Verhältnisse zur Gesamtbevölkerung darthun, sind absolut nicht im Stande, von der wirklichen Häufigkeit der Geistesstörungen unter den Juden ein richtiges Bild zu geben.«102 Pilcz meinte den Fehler ausgemacht zu haben: Nicht mitgezählt seien diejenigen Kranken, die in der Familie verblieben oder sich in Privatanstalten befänden. Darüber wer in einer öffentlichen und wer in einer privaten Anstalt oder in der Familie verpflegt werde, entschieden »vor Allem sociale Factoren«.103 Folglich sei anzunehmen, dass die wirkliche Zahl der psychischen Erkrankungen unter Juden um einiges größer sei als die in seiner Wiener Anstalt gefundenen, denn »[g]erade unter dem nach vielen Tausenden zählenden Proletariate der Grossstadt findet man aber die wenigsten Juden, während andererseits in den Privatanstalten die jüdischen Geisteskranken nicht nur absolut, sondern auch relativ eine erschreckend hohe Frequenz haben.«104 Ferner müsse man die »Alkoholpsychosen« aufgrund der »in der Literatur über den Alkoholismus mehrfach hervorge100 GANS, Ein Beitrag zur Rassenpsychiatrie, 1504. 101 PILCZ, Geistesstörungen (1901), 889. 102 Ebenda. 103 Ebenda. 104 Ebenda.
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hobene[n] Thatsache, dass der Alkohol als ätiologischer Factor von Psychosen bei Juden nahezu gar nicht in Betracht kommt«, aus den Zahlen heraus rechnen: »Ziehen wir […] die Alkoholiker ab, so rücken die Procentzahlen der jüdischen Geisteskranken um ein nicht Unbeträchliches in die Höhe […]. Wir erhalten nun 14,73% Juden unter den Männern, 11,18% unter den Frauen.«105 Die These, dass die Prävalenz psychischer Erkrankungen bei Juden aufgrund angeblicher Abstinenz und Vorliebe für Privatanstalten noch höher ausfallen müsse als bislang an den Statistiken ablesbar, war umstritten. Vor allem Max Sichel argumentierte, dass es sehr wohl ein jüdisches Proletariat gebe.106 Andere Autoren argumentierten nuancierter, so z. B. Jakob Thon: »Wir wissen zunächst nicht, ob von geisteskranken Christen und Juden […] Heilanstalten in prozentual gleichem Maße aufgesucht werden. Die allgemeine größere Sorgfalt und Pflege der Gesundheit der Juden, die häufigere Anwendung des Arztes in Krankheitsfällen läßt es wahrscheinlicher sein, daß auch für geisteskranke Juden häufiger Rettung in Heilanstalten gesucht wird als für geisteskranke Christen. Andererseits jedoch entspricht der bei den Juden ausgeprägte Familiensinn, der die Kranken lieber einer häuslichen Pflege als einer öffentlichen im Krankenhause unterzieht, auch dafür, daß man ungefährliche Geistesverstörte aus Zartgefühl lieber im Kreise der Angehörigen und nicht fremder Obhut überläßt. Diese zwei einander aufwiegenden Momente mögen vielleicht die Voraussetzung, daß Christen und Juden in einem dem Vorkommen von Geisteskrankheiten überhaupt nicht entsprechenden Prozentsatze öffentliche Heilanstalten aufsuchen, als richtig gelten lassen«.107
Wieder andere kritisierten jene Zahlen, die gegen die These einer höheren Zahl von Juden unter den psychisch Erkrankten sprachen. J. Dreyfuß etwa, ein Arzt aus Kaiserslautern, mahnte eine Statistik nach Altersgruppen an. Da das Durchschnittsalter unter der jüdischen Bevölkerung höher sei als bei Nichtjuden, psychische Erkrankungen jedoch zumeist in höherem Alter aufträten, sei auch der Anteil der Juden unter den Anstaltspatienten und -patientinnen größer.108 Tobias Cohn, Nervenarzt
105 Ebenda. 106 Dagegen unterstütze z. B. Becker das Argument der Privatunterbringung jüdischer Patienten und Patientinnen. Er verfolgte in seinen frühen Publikation eine klassisch zionistische Argumentation, die das Argument einer angeblich höheren Prävalenz von psychischen Erkrankungen unter Juden in der Diaspora dazu nutzte, die Notwendigkeit eines eigenen Staates zu legitimieren. BECKER, Die jüdische Nervosität; BECKER, Nervosität bei den Juden. 107 JAKOB THON, Die Juden in Österreich, Berlin 1908, 151f. 108 Trotzdem betont er, dass er »keineswegs die Giltigkeit (sic) obiger Tatsache [Anm.: von der höheren Prävalenz von Geisteskrankheiten unter den Juden] umzustoßen versuchen«
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und Dozent für Elektrotherapie in Berlin, schlug eine Aufteilung nach Berufen vor, da Juden häufig besonders nervenbelastende Berufe ausübten.109Auch der amerikanische Anthropologe Maurice Fishberg, dessen Buch Die Rassenmerkmale der Juden 1913 auf Deutsch erschien, versuchte die höhere Anzahl jüdischer Patienten und Patientinnen in den Anstaltsstatistiken zu erklären: Juden lebten häufiger in der Stadt, wo die Möglichkeiten und die Toleranzschwelle für die Betreuung psychisch Erkrankter zu Hause weit geringer seien als auf dem Land.110 Neben der Kritik an der Reliabilität der Anstaltszahlen und ihrer Aussagekraft hinsichtlich der Prävalenz psychischer Erkrankungen unter Juden und anderen Bevölkerungsgruppen machten die Wissenschaftler als weiteres schwerwiegendes Problem der Zuverlässigkeit der Statistiken den mangelnden Konsens über die Diagnostik psychischer Erkrankungen aus. Zum rassenpsychiatrischen Forschungsfeld trugen unterschiedliche Disziplinen bei: »Ein Hauptfehler«, so der siebenbürgische Psychiater Béla Révész, »besteht darin, daß die Beobachter so verschieden vorgebildet sind. Der eine hat zwar mit ausgezeichnetem Erfolge eine Schule für Tropenhygiene absolviert, doch hat er nie einen Geisteskranken zu Gesicht bekommen. Der andere belegte zwar für ein Semester das psychiatrische Kollegium, ist aber in der Praxis bei Beurteilung eines Geisteskranken ganz ratlos«.111
Abgesehen von der unterschiedlichen Ausbildung war problematisch, dass auch die psychiatrische Disziplin selbst noch zu keinem Konsens über die Klassifikation und Diagnose der psychischen Leiden gekommen war. So galt Kraepelins Neuformulierung der Krankheitslehre, die er in der 6. Auflage seines Lehrbuchs der Psychiatrie von 1899 entwickelt hatte, in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts als wegweisend, führte jedoch in den Folgejahren zu einer umso grundlegenderen Auseinandersetzung um theoretische Vorbedingungen und Methoden der Psychiatrie.112 Auch Kraepelin war sich der Problematik um die Krankheitseinteilungen bewusst. In seiner Veröffentlichung über Java von 1904 betonte er, rassenpsychiatrische Untersuchungen seien »wegen der Verschiedenheit der klinischen Auffassungen« für die nächste Zeit nur dann möglich, wenn sie »von einem und demselben Beob-
wolle. J DREYFUß, Jüdisch-Statistisches (Irrenstatistik). In: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden 4/1908, 90-91, 90. 109 COHN, Nervenkrankheiten, 78. 110 FISHBERG, Rassenmerkmale, 147. 111 RÉVÉSZ, Die rassenpsychiatrischen Erfahrungen, 161f. 112 Besonders Alfred Hoches äußerte Kritik an Kraepelins Konzept der abgrenzbaren und empirisch fassbaren Krankheitseinheiten, der Grundlage seiner Klassifikation. Vgl. dazu und zu den theoretischen Diskussionen ROELCKE, Entwicklung. 110-116.
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achter durchgeführt« würden.113 Die »heillose Verwirrung in der Nomenklatur«114, »schwankende psychiatrische Vorstellungen und Begriffsformulierungen«115 nannten viele als das zentrale Problem, das die Beurteilung und Vergleichbarkeit der Ergebnisse erschwere. Kritisch sei, dass »jeder auf einen andern Meister schwört und nur die Normen seiner ›Schule‹ anerkennt. Z. B. sind die Grenzen der Amentia, die der Melancholie verschieden, bei einem Schüler Meynerts, Kraepelins, bei einem Engländer, einem Franzosen.«116 Neben den Meinungsverschiedenheiten über Diagnostik und Klassifikation war den Wissenschaftlern ferner »das Individuelle in der Beobachtung und Auffassung« bei rassenpsychiatrischen Beurteilungen bewusst.117 Toby Cohn betonte dies am deutlichsten: Besonders bei einem Teil der Nervenkrankheiten, nämlich bei den »Psychoneurosen und den Grenzzuständen nach den Geisteskrankheiten hin (Psychopathien)«, sei das Problem, dass »die Diagnostik in den nicht grade sehr ausgeprägten Fällen in einem gewissen Grade der ärztlichen Willkür unterliegt«.118 An anderer Stelle spitzte Cohn diese Aussage noch zu: »Ob in einem konkreten Falle eine beginnende Lungenentzündung, eine leichte Zuckerkrankheit oder ein Herzfehler usw. vorliegt oder nicht, ist oft leichter zu entscheiden, als ob man es bei einem bestimmten Falle mit einer schwachen Form von Neurasthenie, von Hysterie, von Psychopathie oder dergl. zu tun hat, oder ob die zu Grunde liegenden Störungen noch ›in den Grenzen des Normalen‹ liegen«.119 Eine grundsätzliche Infragestellung der Statistik als Methode für die Ermittlung der Prävalenz von Krankheiten formulierte keiner der Autoren rassenpsychiatrischer Publikationen. Kritik gab es jedoch in jüdischen Zeitschriften und Wissenschaftsjournalen, die sich mit der »Statistik der Juden« aus einer emanzipatorischen Zielsetzung heraus beschäftigten.120 In der Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden erschien z. B. 1912 ein Aufsatz von Berthold Baneth, in dem dieser deutliche Kritik an der Statistik und deren Aussagewert äußerte: 113 KRAEPELIN, Vergleichende Psychiatrie, 433. 114 PILCZ Beitrag (1906), III. 115 GUTMANN, Geisteskrankheiten bei den Juden, 103. 116 RÉVÉSZ, Die rassenpsychiatrischen Erfahrungen, 161f. Pilcz beschreibt das Problem für seine eigenen Untersuchungen, dass er unter anderem »als langjähriger Schüler v. Wagners eben die Amentia viel weiter zu fassen gelernt habe« PILCZ Beitrag (1906), Fußnote, 3. 117 RÉVÉSZ, Die rassenpsychiatrischen Erfahrungen, 161f. 118 COHN, Nervenkrankheiten, 78. 119 Ebenda, 72. Eine ähnliche Kritik äußert GUTMANN, Geisteskrankheiten bei den Juden, 103. 120 Zum Projekt einer »Jüdischen Statistik« vergleiche HART, Social Science. sowie STEINWEIS,
Studying the Jew, bes. Kapitel 5.
200 | P SYCHOPATHOLOGIE UND »RASSE « »Die Statistik ist in der heutigen Zeit ein so wichtiger Hilfszweig fast aller Wissenschaften geworden, daß kein Werk, das Behauptungen aufgestellt, die sich auf Tatsachen beziehen und auch nur durch diese stützen lassen, ihrer zum Beweise eintreten kann, wenn es als vollwertig gelten will. […] Bei vielen steht sie in keinem guten Rufe, da sie zu leicht dazu mißbraucht werden kann, alles zu beweisen, was man will. Und das ist besonders in der Medizin. Es laufen die widersprechensten Angaben friedlich nebeneinander her […]. [L]etzten Endes [können] alle seine Zahlen nur ein schiefes Bild des wahren Sachverhaltes geben […]; denn ob jemand gesund bleibt, krank wird oder gar stirbt, ist kein Resultat aus zwei oder drei Faktoren, sondern es ist eine Unsumme von Gesichtspunkten […]. Alle diese Gesichtspunkte aufzufinden oder gar ein großes Material nach ihnen zu ordnen, geht über menschliches Vermögen […]. Daher wäre es zweckmässiger und instruktiver, einzelne Fälle herauszuheben und diese nach vielen Richtungen zu erforschen, als ein riesiges Material nach wenigen geordnet vorzulegen«.121
Interessant ist, dass Banetz sich hier für die Analyse von Fallgeschichten aussprach und damit einer traditionelleren Methode des medizinischen Erkenntnisgewinns den Vorzug gab. Trotz dieser Kritikpunkte stellte selbst er die These einer Veranlagung der Juden zu nervösen Leiden nicht infrage und beschäftigte sich mit denselben Zahlen, die zur Erhärtung der Behauptung der höheren Prävalenz psychischer Erkrankungen unter Juden publiziert worden waren. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass trotz der z. T. grundlegenden Kritik an den vorhandenen Zahlen keiner der Diskursteilnehmer von seinem rassenpsychiatrischen Forschungsvorhaben Abstand nahm oder sich gegen die These rassenpsychiatrischer Differenzen der thematisierten Bevölkerungsgruppen aussprach. In den Publikationen über psychische Krankheiten bei Juden wird zwar der Wunsch nach einem differenzierten Umgang mit Zahlen und einer Beschäftigung mit den Gründen für die Anstaltsaufnahmen deutlich, der mehrheitlich als Versuch zu sehen ist, die Vorstellung von der »Psychopathologie der Juden« abzuschwächen oder zu erklären. Dass es jedoch das Problem einer »nervösen Disposition der Juden« gäbe,
121 BERTHOLD BANETH, Zur Krankheitsstatistik der Juden. In: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden 8/1912, 17-25, 20. Eine ähnliche Kritik an zu kleinen Zahlen, die eine grundsätzliche Kritik an der statistischen Methode vermuten lässt, formuliert Heinrich Singer in seiner an ein Laienpublikum gewandten Allgemeinen und speziellen Krankheitslehre der Juden: »Es ist immer sehr misslich mit so kleinen Zahlen zu operieren und unmöglich vergleichende Schlüsse daraus zu ziehen. […]. Der Statistiker von reinstem Wasser berechnet für ein Dorf in dem Jahre 50% Selbstmorde, wenn innerhalb dieses Zeitraumes ein Mann sich erhängt hat und ein Kind gestorben ist.« SINGER, Krankheitslehre, 88.
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bezweifelten nur wenige.122 Die Ärzte stellten die Methoden der Forschung infrage, bzw. zweifelten, ob diese zu befriedigenden Ergebnissen führen könnten. Auch die Interpretation der Resultate war umstritten, jedoch wurden die Inhalte der Studien nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Die geäußerte Kritik macht deutlich, dass sich die Autoren der Grenzen ihres Wissens bewusst waren: weder die Aussagekraft hinsichtlich der Prävalenz von Krankheiten bei unterschiedlichen »Rassen« noch die Diagnostik und Klassifikation der gefundenen Krankheiten wurden als gesichertes Wissen angesehen. Ein häufig wiederkehrender Topos war, dass man bislang zwar nur »Eindrücke« versammelt habe, diese aber durchaus als »wahr« angesehen werden könnten.123 Das mangelhafte Zahlenmaterial sah man eher als Grund für weitere Forschung an denn als eine Infragestellung der These psychopathologischer Differenzen. Die Kritik an den Zahlen war mit einem Fortschrittsvertrauen verbunden: Die Betonung lag darauf, dass die Forschung noch nicht weit genug, der psychiatrische Konsens noch nicht ausgereift, die Untersuchungen noch zu vorläufig seien, um Endgültiges auszusagen. Dies jedoch, so der Tenor, werde sich im Zuge weiterer Forschungen ändern. Egal, wie Forscher sich dem Thema Psychopathologie und »Rasse« quantitativ näherten – ob durch die Zusammenstellung von anderweitig erhobenen oder durch die Erstellung eigener Daten, ob also durch die »argumentative« oder »methodische« Nutzung von Zahlen – die Feststellung von Quantität generierte Schlussfolgerungen über »Rassen« und psychische Krankheiten. Die Forscher zogen Erkenntnisse aus der geringen oder hohen Quantität von Krankheiten, die sie bei verschiedenen »Rassen« annahmen. Wie erwähnt, weist Ian Hacking darauf hin, dass jeder Prozess des Zählens bedeutet, die zu Zählenden in Kategorien einzuteilen. Dies schafft wiederum Bedeutungen über die so Gruppierten.124 Um psychische Krankheiten bei unterschiedlichen »Rassen« quantitativ erfassen zu können, mussten »Rassen« erst aus dem vorhandenen Material herausgelesen werden. Die Konsequenz des Kategorisierens, das, was aus den Zahlen abgeleitet wurde, verfestigte die Vorstellung der Existenz und Differenz von »Rassen«. Gleichzeitig blieb die Bestimmung dessen, was »Rasse« sei, überaus schwammig. Die Grundlage des Zählens, die Einteilung in »rassische« Kategorien, wurde selten explizit thematisiert. Wie aufgezeigt, offenbarten 122 Zweifel formulierten in einer seiner früheren Schriften: Max Sichel SICHEL, Über Geistesstörungen, darüber hinaus auch COHN, Nervenkrankheiten; TOBY COHN, Nervenkrankheiten bei Juden. In: OSE-Rundschau. Zeitschrift der Gesellschaft zum Gesundheitsschutz der Juden 2/1927, 20-23; MAURICE FISHBERG, Nervenkrankheiten bei den Juden. In: Internationale Medizinische Monatshefte 2/1913, 223-227. 123 So z. B. RÜDIN, Geisteskrankheit und Kultur, 723. 124 HACKING, Taming of Chance, 6.
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die implizit verwendeten Kriterien eine große Bandbreite dessen, was unter »Rasse« alles verstanden werden konnte: Das rassische Kollektiv wurde bestimmt über eine angenommene gemeinsame soziokulturelle Herkunft, eventuell markiert durch eine gemeinsame Sprache, durch ähnliche äußerliche Merkmale wie die Pigmentierung der Haut, die Haar- und Gesichtsform, durch eine geographische Region oder durch die Konfessionszugehörigkeit sowie manchmal auch durch eine Mischung dieser Kriterien. Die Tatsache, dass die Einteilungskriterien zumeist nicht explizit erwähnt wurden, verweist darauf, dass die Rassenklassifikation dem Einteilungsprozess vorgängig war und damit darauf, dass den Wissenschaftlern die Einordnungen selbstverständlich erschienen. Die Kategorie »Rasse« erscheint hier zugleich flexibel und starr, sowohl uneindeutig als auch offensichtlich. Während die Konstituierung der Kategorie »Rasse« in diesen Texten implizit geschah, zeigen die Auseinandersetzungen um die Statistiken, dass den Wissenschaftlern durchaus bewusst war, dass das von ihnen generierte Wissen über psychische Krankheiten und »Rassen« unsicher war und keinen abschließenden Forschungsstand darstellte. Quantifizierung in den rassenpsychiatrischen Publikationen ähnelte tatsächlich eher – um es in Anlehnung an Theodore Porter zu formulieren – einer Fascination with numbers, einer Faszination für Zahlen, als einem wirklichen Trust in Numbers: Die Produktion von und die Beweisführung mit Zahlen lief parallel zu dem Bewusstsein des prekären und vorläufigen Status des Wissens; eine Kritik an den Zahlen diente dabei der Legitimation weiterer Forschung und stellte die Ergebnisse nicht grundsätzlich infrage. Dies bestätigt die These, dass gerade die Unschärfe von »Rasse« für den Erfolg dieser Kategorie verantwortlich war, oder in der Zuspitzung von Christine Hanke ausgedrückt, dass die Kritik und die ständige Infragestellung konstitutiv für Rassenforschung war.125 Zudem wird das stete Schwanken zwischen den als dichotom verstandenen Polen »Natur« und »Kultur« auf mehreren Ebenen deutlich. Außerwissenschaftliche Diskurselemente, die kulturellen oder politischen Ursprungs sind, durchdringen die Auseinandersetzung um »Rasse« und Psychopathologie. Bei der Thematisierung der Lebensweisen von Juden zeigen sich deutlich verallgemeinernde oder stereotype Vorstellungen, beispielsweise die Annahme ihrer angeblich häufigeren Zugehörigkeit zu wohlhabenderen Klassen, ihrer Vergeistigung, ihrer Abstinenz oder ihres Familiensinns. Diese Darstellungen sind äußert ambivalent. Einige Argumentationsfiguren bedienen sich klar antisemitischer Ressentiments bzw. Klischees. Darüber hinaus hinterlassen manche Argumentationsfiguren den Eindruck, dass Zahlen, die der ursprünglichen Erklärung widersprechen, der vorher gefassten Meinung angepasst werden. Dazu zählt beispielsweise die Annahme von Pilcz, psychische Erkrankungen seien bei Juden höher als in den Statistiken ausgewiesen, da die Zahl der alkoholbedingten Psychosen alleine den Nichtjuden zuzuschreiben sei. Ande125 HANKE, Auflösung, 20.
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rerseits sind einige der Texte, die Juden thematisieren, auch dem Versuch zuzuordnen, für die angebliche Häufigkeit psychischer Erkrankungen bei Juden eine Erklärung außerhalb des rassischen Determinismus zu finden. So greifen die Protagonisten in der Darstellung der krankmachenden Lebenssituation der Juden z. T. auf stereotype und verallgemeinernde Erklärungen zurück. Ähnliche Argumentationsfiguren sind aber in der sich damals gerade etablierenden Sozialmedizin zu finden, die ausdrücklich »Krankheit und soziale Lage« zusammenbringen wollte (wie der Titel des entsprechenden Standardwerks lautete).126 Ferner zeigen sich auch hier Debattenelemente aus der innerjüdischen Auseinandersetzung um die Situation der Juden, die im 2. Kapitel beschrieben worden sind. Quantifizierung war wichtig für die Forschung über »Rasse« und Psychopathologie: Zahlen waren nicht nur konstitutiv für die Entstehung eines rassenpsychiatrischen Erkenntnisinteresses, der Erhebung von Zahlen kam innerhalb rassenpsychiatrischer Forschungen eine erhebliche erkenntnisleitende Funktion zu – ob als Argument oder als Methode. Zahlen spielten sogar dann eine Rolle, wenn ihre Herkunft und Aussagekraft umstritten war.
126 GEORG VOSS, Der Einfluss der sozialen Lage auf Nerven- und Geisteskrankheiten, Selbstmord und Verbrechen. In: Max Mosse und Gustav Tugendreich (Hg.), Krankheit und soziale Lage, München 1913, 266-307.
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Diagnosen der Differenz
5.1 D IAGNOSTISCHE P RAXIS Neben Zahlen waren Diagnosen das Thema rassenpsychiatrischer Schriften. Die Forscher interessierte nicht nur, welche Diagnosen bei welchen »Rassen« selten oder häufig gestellt wurden, sie beschäftigten sich auch mit der Spezifik der Symptome. Die Mehrheit der Publikationen über »Rasse« und Psychopathologie beinhaltete eine Besprechung der gestellten Diagnosen, häufig machte sie sogar einen Hauptteil der Veröffentlichung aus. Dieses Kapitel zeigt, auf welchem Weg die Diagnosen im Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie erstellt worden sind. Es wird die Art und Weise des Diagnostizierens beleuchtet und gefragt, welche Wechselwirkungen zwischen der Art und Weise der Diagnoseerhebung, den dabei zugrundeliegenden Prämissen der Diagnoseerstellung und den Ergebnissen der Diagnostik zu beobachten sind. Dabei interessiert, welchen Beitrag diagnostische Methoden bei der Definition von »Rasse« besaßen: Welches Wissen über »Rasse« wurde durch die Diagnostik etabliert oder stabilisiert? Zunächst wird dabei die methodische Entwicklung der Psychiatrie in den Fokus genommen. Die Entstehung und Entwicklung der klinischen Methode, die in der Psychiatrie gegen Ende des 19. Jahrhunderts vorherige Formen des Wissenserwerbs ersetzte, bildete die Folie für das Nachdenken über und das Beschreiben von Symptomen und Diagnosen in der psychiatrischen Forschung und wird im Folgenden näher beleuchtet.
5.2 P SYCHIATRISCHE D IAGNOSTIK UND DIE E TABLIERUNG DER KLINISCHEN M ETHODE Die Evidenz des Sehens besaß auch vor der Moderne einen hohen Stellenwert in der Medizin: Neben den Patientenaussagen waren Ärzte vor allem auf visuell wahrnehmbare Zeichen angewiesen, um sich ein Bild von der Krankheit zu machen und
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eine Therapie vorzuschlagen.1 Zentrale Bedeutung gewannen empirische Verfahren in den Wissenschaften ab dem 17. Jahrhundert: Hatte das Beobachten von Phänomenen bislang hauptsächlich zur Bestätigung bereits bestehender Theorien und Erkenntnisse gedient, sollte nun das Beobachtete selbst neues Wissen generieren.2 Der Prozess der Ablösung scholastischer Traditionen der Wissensverifikation ab der Renaissance3 führte zu einem größeren Einfluss von gezielter Wahrnehmung und Beobachtung in der Verifikation medizinischen Wissens.4 An der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert entstanden in der Medizin neue Formen des Erwerbs und der Produktion von Wissen. Die Bedeutung des Sehens veränderte sich: Nach Michel Foucault entstand eine neue Art des medizinischen Beobachtens, der »ärztliche Blick« (»regard médical«), wie Foucault in seinem Buch Die Geburt der Klinik darlegt.5 Dieser »ärztliche Blick« veränderte das Verständnis sowohl von der Wesenheit von Krankheiten als auch vom Arzt-Patient-Verhältnis: Patienten und Patientinnen wurden nicht mehr als kranke Subjekte gesehen, sondern als Objekte, an denen sich Krankheiten manifestierten.6 Hatten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts subjektive Krankheitsäußerungen der Patienten und Patientinnen zumindest teilweise in Krankengeschichten Eingang gefunden, so verringerte sich danach zunehmend
1
Die genaue Beobachtung am Krankenbett, die Darlegung der Krankheitszeichen und der Umgebungseinflüsse waren beispielsweise in der der hippokratischen Medizin bedeutsame Aspekte. Dabei interessierte jedoch weniger die diagnostische Bestimmung der Erkrankung, Hauptziel war die Prognostik ECKART, Geschichte der Medizin, 30-32.
2 3
SHAPIN, Wissenschaftliche Revolution, 43-60. Dies ist vielfach dem Wirken von Andreas Vesal (1514-1564) und Theoprast von Hohenheim (Paracelsus) (1493-1541) in Zusammenhang gebracht worden. Beide gelten als Vorläufer der Ablösung von der hauptsächlichen Autorität von Schriften klassischer antiker und arabisch-mittelalterlicher Gelehrter. ECKART, Geschichte der Medizin, 119f.; WOLFGANG ECKART,
4
Geschichte der Medizin. 5. Auflage, Heidelberg 2005, 100.
ECKART, Geschichte der Medizin. 5. Auflage, 100. Die Etablierung klinischer diagnostischer Methoden ging jedoch nicht abrupt vor sich, sondern war ein Prozess, bei dem ältere Theorien und Methoden in die Entstehung neuerer Ansätze einflossen. Eine ideengeschichtliche Rekapitulation dieser Entwicklung findet sich bei VOLKER HESS, Von der semiotischen zur diagnostischen Medizin: die Entstehung der klinischen Methode zwischen 1750 und 1850, Husum 1993. John H. Warner hat die Etablierung klinischer Verfahrensweise in den Praktiken von Ärzten in den USA nachvollzogen. WARNER, Therapeutics.
5
MICHEL FOUCAULT, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks,
6
Ebenda, 121-136.
München 1973.
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die Bereitschaft der Ärzte, diese Aspekte in ihrer Beschreibung und Analyse der Krankheit zu integrieren.7 Die »Geburt« der Psychiatrie wird um die Wende zum 19. Jahrhundert datiert, erst in den folgenden Jahrzehnten etablierte sie sich als Teilgebiet der Medizin. In der Folge griff sie ebenfalls medizinische Theorien und die von den Naturwissenschaften übernommene empirische Methode auf. So hielten unter anderem das Sammeln statistischer Daten, mikroskopische Gehirnuntersuchungen und schließlich die gezielte »Beobachtung am Krankenbette«8 Einzug in die psychiatrische Forschung. Eine Zusammenführung von naturwissenschaftlicher Ausrichtung der Methodik und psychiatrischer Forschung unternahm der bereits mehrfach zitierte Emil Kraepelin. Kraepelin war einer der einflussreichsten deutschsprachigen Psychiater des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, dessen Krankheitslehre in den Jahrzehnten nach 1900 zum dominierenden Modell des Faches wurde.9 Er gilt als derjenige, der mit dem Versuch einer Objektivierung psychiatrischer Krankheitsbeschreibungen danach strebte, die Psychiatrie auf der Grundlage eines naturwissenschaftlichen Programms zu erneuern.10 Kraepelin arbeitete seine nosologischen Auffassungen konsekutiv in den verschiedenen Fassungen seines Lehrbuchs der Psychiatrie aus, dessen Erstausgabe 1883 erschien.11 In der sechsten Auflage von 1899 präsentierte Kraepelin erstmals seine Krankheitslehre, die eine ein7
So griffen Ärzte vorher in den Krankengeschichten die Sichtweise von Patienten und Patientinnen in indirekter und direkter Rede auf. Diesen Einschnitt in das ArztPatientenverhältnis, in dessen Folge der Patient als handelndes Subjekt aus dem Blickfeld der Ärzte verschwandt, datierte die Forschung bislang für die Zeit um 1800. Nach Karen Nolte findet dieser Wandel jedoch erst Mitte des 19. Jahrhunderts statt. KAREN NOLTE, Vom Verschwinden der Laienperspektive aus der Krankengeschichte: Medizinische Fallberichte im 19. Jahrhundert. In: Sibylle Brändli, Barbara Lüthi und Gregor Spuhler (Hg.), Zum Fall machen, zum Fall werden. Wissensproduktion und Patientenerfahrung in Medizin und Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M.; New York 2009, 33-61, 33f.
8
KRAEPELIN, Lehrbuch, 8. Auflage, 3.
9
ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik, 152-164. FRANZ ALEXANDER und SHELDON T. SELESNICK, Geschichte der Psychiatrie. Ein kritischer Abriß der psychiatrischen Theorie und Praxis von der Frühgeschichte bis zur Gegenwart, Zürich 1969, 214-217.
10 KARL BIRNBAUM, Geschichte der psychiatrischen Wissenschaften. In: Oskar Bumke (Hg.), Handbuch der Geisteskrankheiten, Berlin 1928, 11-49, 11-49, 43-45. ENGSTROM, Clinical Psychiatry, 128. 11 Die erste Auflage erschien unter dem Titel Compendium der Psychiatrie zum Gebrauche für Studirende und Aerzte, Leipzig, 1883. Ab der zweiten Auflage von 1887 wurde es dann unter dem Namen Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studirende und Aerzte veröffentlicht. Die neunte Auflage 1927 erschien postum, vervollständigt von Johannes Lange.
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heitliche Sprachregelung und sowie Konzepte zur Erklärung und Methoden zur Diagnose von psychischen Erkrankungen versprach. Diese waren in ihrer repräsentativen Form an den Naturwissenschaften orientiert.12 Nach Kraepelin besaß jede Krankheit drei spezifische Kennzeichen: erstens eine spezifische pathologische Veränderung des Gehirns oder des Nervengewebes, zweitens eine für diese Krankheit typische Ätiologie und drittens ein charakteristisches klinisches Erscheinungsbild, welches aus der Symptomatik und dem langfristigen Verlauf der Krankheit abzulesen war.13 Da Kraepelin davon ausging, dass jede einzelne dieser Komponenten spezifisch für eine Erkrankung war, war es nach seinem Verständnis also möglich, sowohl entweder durch die Krankheitsursache, durch hirnpathologische Analysen oder durch klinische Beobachtung des Krankheitsbildes zu einem befriedigenden Nachweis einer Krankheit zu kommen.14 Da über die ersten zwei Wege – die Neuropathologie und die Ätiologie – zu Kraepelins Zeit keine wesentlichen neuen Ergebnisse zu erwarten waren, hielt er den dritten Weg, die systematische klinische Beobachtung der Symptome und des Krankheitsverlaufs, für den vielversprechendsten.15 Wie Eric Engstrom gezeigt hat, begründete die Etablierung der klinischen Methode im ausgehenden 19. Jahrhundert neue wissenschaftliche Praktiken in der Psychiatrie.16 Die Umsetzung der klinischer Methode bedeutete nicht nur, dass Psychiater lernen mussten, ihre Patienten korrekt zu beobachten, »it was equally important that psychiatrists see the right phenomena and especially, that they see a lot of them«.17 Eine neue Praxis der Beobachtung etablierte sich, wobei es galt, möglichst viele »Fälle« zu sehen, zu diagnostizieren und zu dokumentieren. Dem positivistischen Geist der Zeit folgend sollte Quantität Präzision und Objektivität in der Forschung garantieren.18 So ermöglichten beispielsweise die Wachabteilungen, die Ende des 19. Jahrhunderts bereits zum Standard jeder größeren psychiatrischen Einrichtung gehörten, das Verhalten einer hohen Anzahl von Patienten und Patientinnen durch die Ärzte und das Wach- und Pflegepersonal rund um die Uhr zu überwachen, zu beobachten und zu dokumentieren.19 12 ROELCKE, Entwicklung. 111. Es ist in der Kraepelinforschung kontrovers, ob Kraepelin seine Nosologie aufgrund seiner empirischen Erkenntnisse oder vorangegangener theoretischer Überzeugungen entwickelte. Vgl. WEBER und ENGSTROM, Diagnostic Cards. 13 KRAEPELIN, Lehrbuch, 6. Auflage. ROELCKE, Entwicklung, 110, sowie ausführlicher ROELCKE,
Krankheit und Kulturkritik, 152-179.
14 ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik, 157f. 15 Ders., Entwicklung. 110f, ROELCKE, Psychiatrie, 186. 16 ENGSTROM, Clinical Psychiatry, 121. 17 Ebenda. 18 Ebenda. 19 Ausführlicher zu den Wachabteilungen: Ebenda, 132f.
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Die Etablierung der klinischen Methode und der Beobachtung von Patienten und Patientinnen führte zu einer Zunahme der Bedeutung quantifizierbarer Krankheitsäußerungen. Um Symptome und Diagnosen besser dokumentieren, systematisch erfassen und quantifizieren zu können, entwickelte Emil Kraepelin für die Dokumentation seiner Patientendaten ein neues Instrument der klinischen Forschung, die Zählkarte, auf der die wesentlichen Daten eines Patienten und seiner Diagnose erfasst werden konnten.20 Die Zählkarte ist als Beispiel für ein Forschungsinstrument zu sehen, welches die neuen theoretischen Vorgaben Kraepelins mit seiner wissenschaftlichen Praxis verband.21 Volker Roelcke deutet diese Art der Datenaufnahme als Einengung der Wahrnehmung der Psychiater auf einen eingeschränkten Bereich der Persönlichkeit des jeweiligen Patienten sowie seines Krankheitsbildes: »Durch die Struktur der Zählkarten, den darauf vermerkten Fragen und impliziten Gewichtungen, wurde der Blick des Forschers auf beobachtete, im Idealfall auch quantifizierbare Krankheitsäußerungen (z. B. Haltungsanomalien, Motorik, formale Aspekte der Sprache) gelenkt, während die psychologische Dimension mit der Subjektivität des Kranken (so etwa auch die Inhalte von Halluzinationen oder Wahnideen) marginalisiert oder völlig ausgeblendet wurden«.22 20 Auf den Zählkarten konnten neben den persönlichen Patientendaten und Angaben zu Aufnahmedatum und -dauer stichworthaft Angaben zu den psychiatrischen Erkrankungen gemacht werden, so u. a. über Vererbung und Ätiologie, frühere Erkrankungen und die Krankengeschichte, den psychopathologischen Status, Beginn und Verlauf der Symptome, Dauer der Behandlung, die anatomische Diagnose und ggfs. die forensische Beurteilung. Die tatsächliche forschungspraktische Relevanz der Karte haben Matthias Weber und Eric Engstrom relativiert. Kraepelin habe seine Nosologie nicht allein aus dem Studium seiner Zählkarten empirisch erarbeitet, sondern bereits vorher gefasste theoretische Prämissen hätten auf seine Erkenntnisse eingewirkt. Vgl. WEBER und ENGSTROM, Diagnostic Cards, 378. Zwei Beispiele für die Zählkarten sind auf S. 380 und 381 des Aufsatzes von Weber und Engstrom abgedruckt. 21 Die Etablierung von Wachabteilungen, ein regulierter Zugang zu Patientendaten, eine stetige Aufnahme neuer Patienten in die Klinik und die Verlegung von chronischen Patienten aus ihr und schließlich die Nutzung der Zählkarten – diese Neuerungen, die Kraepelin in seiner Heidelberger Klinik umzusetzen suchte, bezeichnet Engstrom als Teil einer »Wissensökonomie der Klinik«. Seiner Meinung nach zielte diese darauf ab, eine möglichst effektive und im Zeichen klinischer Methoden stehende Forschung zu ermöglichen. ERIC J. ENGSTROM, Die Ökonomie klinischer Inskription. Zu diagnostischen und nosologischen Schreibpraktiken in der Psychiatrie. In: Cornelius Borck und Armin Schäfer (Hg.), Psychographien, Zürich; Berlin 2005, 219-240. 22 ROELCKE, Unterwegs zur Psychiatrie, 186;VOLKER ROELCKE, Laborwissenschaft und Psychiatrie. Prämissen und Implikationen bei Emil Kraepelins Neuformulierung der psy-
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Roelcke beschreibt Kraepelins Zählkarten als Exempel für dessen Versuch, Krankheitssymptome zu quantifizieren und auf diese Weise zu objektivieren, was sich mit seinen theoretischen Auffassungen deckte: Kraepelin habe eine psychiatrische Lehre begründet, »die durch eine somatisch-biologische Perspektive dominiert war« und mit der die »biographisch-psychologische und die soziokulturelle Dimension systematisch marginalisiert« wurde.23 Die individuelle Sicht des Patienten auf seine Krankheit war für Kraepelin demnach nicht relevant, auch das »Einfühlen« des Psychiaters in den Patienten lehnte er als nicht objektive Herangehensweise ab.24 Ferner hielt er die sozialen und gesellschaftlichen Umstände für die Entstehung von Erkrankungen für nachrangig. Im Gegenteil: für ihn waren äußere Umstände sogar eine Folge biologischer Anlagen, eine Sichtweise, die aus dem Sozialdarwinismus kam und zu dieser Zeit weit verbreitet war.25 Trotz seiner Bekanntheit und trotz der Aufmerksamkeit, die Kraepelin für seine Krankheitslehre bekam, war die Etablierung seines Theorie- und Forschungsprogramms weniger stringent und eindeutig, als durch seine spätere theoretische Dominanz retrospektiv häufig wahrgenommen wird. Auch wenn Kraepelins Konzepte auf breite Zustimmung stießen und die klinische Ausrichtung als methodisch innovativ wahrgenommen wurde, gab es auch Kritik, die sich vor allem gegen die Idee der Krankheitseinheit richtete.26 Kraepelins Krankheitslehre habe sogar, so Roelcke, chiatrischen Krankheitslehre. In: Christoph Gradmann und Thomas Schlich (Hg.), Strategien der Kausalität. Konzepte der Krankheitsverursachung im 19. und 20. Jahrhunderts, Pfaffenweiler 1999, 93-116; ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik. 23 ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik, 169. 24 KRAEPELIN, Erscheinungsformen, 4f. Vgl. auch ALEXANDER und SELESNICK, Geschichte, 217; BLASIUS, Seelenstörung, 122-129. 25 ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik, 169f. Andere Beispiele für diese Auffassung Kraepelins finden sich bei HANS-GEORG GÜSE und NORBERT SCHMACKE, Psychiatrie zwischen bürgerlicher Revolution und Faschismus, 2 Bde., Kronberg 1976, 133. Trotzdem glaubte auch Kraepelin an die Notwendigkeit sozialpolitischer Interventionen, die er ebenfalls propagierte, z. B. in KRAEPELIN, Zur Entartungsfrage, 745-751, vgl. auch ERIC J. ENGSTROM, On Eugenic Practices and Professional Politics: Emil Kraepelin's »Social Psychiatry«. In: F. Funtenebro de Diego, R. Huertas Garcías-Alejo und C. Valiente Ots (Hg.), Historia de la Psiquiatría in Europa. Temas y Tendencias., Madrid 2003, 477-490. Beides bedeutete keinen Widerspruch, denn auch die Eugenik propagierte sozialpolitische Maßnahmen zur Umsetzung ihrer Ziele. WEINGART, KROLL und BAYERTZ, Rasse, Blut und Gene, 161-176. 26 Nach der Analyse von Silke Feldman war die Kraepelins Forschungsprogramm zunächst stark umstritten, war aber um 1912 bereits allgemein verbreitet. SILKE FELDMANN, Die Verbreitung der Kraepelinschen Krankheitslehre im deutschen Sprachraum zwischen 1893 und 1912 am Beispiel der Dementia Praecox. Justus-Liebig Universität, Gießen
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durch die theoretische und methodische Konsolidierung der Disziplin »eine größere Offenheit für grundsätzliche Diskussionen über theoretische Prämissen und Methoden des Faches« erst ermöglicht.27 Dass die Psychiatrie eine naturwissenschaftliche Basis haben sollte, blieb unbestritten. Sowohl ätiologische als auch diagnostische Ansätze differenzierten sich so unter dem Dach einer grundsätzlichen Orientierung am naturwissenschaftlichen Modell aus. Jedoch versuchten etliche Psychiater, geisteswissenschaftliche oder psychologische Ansätze zu integrieren, favorisierten Theorien, die neben biologischen auch psychische und soziale Faktoren in die Ätiologie psychischer Erkrankungen miteinschlossen oder hielten diagnostische Methoden für notwendig, die eines »Eindenkens« in den Patienten bedurften.28 Insofern ist die Geschichte der Psychiatrie im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts einerseits zwar als eine Geschichte der zunehmenden Biologisierung und Etablierung naturwissenschaftlichen Denkens zu begreifen. Dafür spricht, dass Ende der zwanziger Jahre einige Psychiater, die vormals »multilaterale« Auffassungen zur Ätiologie vertreten hatten, nun dem Mainstream einer biologischen Erklärung der Vererbung dieser Erkrankung zustimmten.29 Wie etwa Oswald Bumke, der Ende der zwanziger 2005, Betreuer Volker Roelcke und Wolfgang Milch. Ebenso: ROELCKE, Realität, 45-53. Vgl. auch Kapitel 3. 27 ROELCKE, Entwicklung. 112. 28 Alternative Modelle kamen beispielsweise von Oswald Bumke, Karl Jaspers und Eugen Bleuler. Eugen Bleuler ließ als erster und als einer der wenigen deutschsprachigen Psychiater der Zeit psychoanalytische Ideen in seine Arbeiten einfließen. So sah er in der psychologischen Analyse des Patienten den Weg dafür, Erkenntnisse über das Wesen von psychischen Erkrankungen wie der Schizophrenie zu erlangen. Dafür lehnte er sich an die Begriffe, Methoden und Theorien der Psychoanalyse an. In seiner Forschung über die Schizophrenie interessierte sich Bleuler weniger für die Frage nach der Ursache einer Krankheit, ihren Verlauf oder das anatomische oder klinische Krankheitsbild, sondern stellte die psychopathologische Symptomatik in den Vordergrund, anhand derer er die Krankheit definierte. Zu Bleuler: BERNHARD PAULEIKHOFF, Das Menschenbild im Wandel der Zeit. Ideengeschichte der Psychiatrie und der klinischen Psychologie. Bd. III Die Zeit vor und nach 1900, Hurtgenwald 1987, 206-228. Jaspers: PAULEIKHOFF, Menschenbild, Bd. IV, 13-50. Bumke: GUSTAV W. SCHIMMELPENNING, Oswald Bumke (18771950) His life and work. In: History of Psychiatry 4/1993, 483-497. Ferner: BURKHART BRÜCKNER, Geschichte der Psychiatrie, Bonn 2010, 114-116; SCHOTT und TÖLLE, Geschichte der Psychiatrie, 134-145, 154-160 ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik, 173179. ROELCKE, Entwicklung. 110-116. 29 Ein weiteres Beispiel dafür innerhalb des rassenpsychiatrischen Diskurses ist Rafael Becker, der ebenfalls zunächst eine psychoanalytische, später eine erbbiologische Verursachung psychischer Erkrankungen annahm. BECKER, Die Geisteserkrankungen bei den Juden in Polen, 52.
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Jahre von der Erblichkeit der Schizophrenie überzeugt war eine Ansicht, gegen die er sich noch Anfang der zwanziger Jahre ausgesprochen hatte.30 Parallel zu dieser Entwicklung tolerierte und integrierte die Psychiatrie jedoch andererseits über längere Zeit auch andere Auffassungen, sofern sie dem biologischen und naturwissenschaftlichen Modell nicht offenkundig widersprachen.31 Hier standen wohl pragmatische Erwägungen, die sich aus der Praxis ergaben, einer möglichen theoretischdogmatischen Ausrichtung entgegen. Kraepelins Krankheitslehre und die Etablierung der klinischen Methode stellten insofern ein neues psychiatrisches Modell dar, dem die Mehrheit der Psychiater zustimmte, das sich jedoch erst allmählich durchsetzte und auch nicht alternativlos war. Eine ähnliche Varianz und Bandbreite von Ansichten zeigt sich auch in den Schriften über »Rasse« und Psychopathologie: Einerseits ist ein Fokus auf Symptome, eine Objektivierung und Quantifizierung von Krankheitsäußerungen sowie eine Tendenz zu biologischen Erklärungen ihrer Ätiologie zu beobachten. Gleichzeitig lassen sich jedoch vereinzelt auch andere Auffassungen finden. Diese Positionen, die soziale oder gesellschaftliche Ursachen für die Entstehung von Erkrankungen mitdachten, waren zwar die Ausnahme. Sie zeigen jedoch, dass die Diskussion nicht uniform und gradlinig war und dass es zu einer biologisch-somatischen und quantifizierenden Behandlung der rassenpsychiatrischen Frage divergierende Möglichkeiten gab, selbst wenn der naturwissenschaftliche Denkstil immer noch die theoretische Basis der möglichen Argumente bildete und quantifizierende Argumente in der Diagnostik bedeutsam waren. Wie Diagnosen in den Schriften über »Rasse« und Psychopathologie dargestellt wurden und inwiefern sich darin die Breite theoretischer Ansätze widerspiegelt, wird im Folgenden dargestellt.
30 VOLKER ROELCKE, Auf der Suche nach der Politik in der Wissensproduktion: Plädoyer für eine historisch-politische Epistemologie. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 33/2010, 176-192, 187f., ROELCKE, Entwicklung, 121. 31 Die Psychoanalyse war eine solche Lehre, die für die meisten Psychiater zu weit vom naturwissenschaftlichen Modell abwich. Sie wurde – zumindest in der theoretischen Psychiatrie – nicht akzeptiert, auch wenn durchaus therapeutisch mit ihren Ansätzen gearbeitet wurde. DECKER, The Reception of Psychoanalysis in Germany; FALLEND, KIENREICH, REICHMAYR u. a., Psychoanalyse bis 1945, 122ff.
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Darstellungen von Diagnosen im Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie
Quantifizierte Diagnosen – Statistiken, Überblicke, Fallgeschichten Wie auch schon in den vorigen Kapiteln angeklungen ist, beschrieben Ärzte in ihren Publikationen zum Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie Symptome bei unterschiedlichen von ihnen untersuchten Bevölkerungsgruppen, die sie z. T. als rassenspezifisch ansahen. Bevor ich mich den Inhalten dieser Symptombeschreibungen widme, möchte ich darlegen, wie die Ärzte zu diesen Einschätzungen kamen. Zunächst stellt sich hier die Frage, wie Diagnosen und Symptome in den Schriften beschrieben wurden. Wie bauten die Forscher ihre Schriften auf und auf welche Art und Weise widmeten sie sich der Diagnose von Symptomen? Die überwiegende Mehrheit von Publikationen über »Rasse« und Psychopathologie beinhaltete eine statistische oder narrative Darstellung, die Diagnosen bei einer oder mehreren »Rassen« vergleichend behandelte. Diese Überblickschriften machten drei Viertel der Publikationen aus und waren z. B. mit Geistesstörungen bei den Juden oder Rassen und Geisteskrankheiten betitelt.32 Das verbliebene restliche Viertel der Publikationen beschäftigte sich mit einzelnen Leiden bei bestimmten Bevölkerungsgruppen, wie z. B. die Artikel Das manisch-depressive Irresein bei den Juden oder Paralysestudien bei Negern und Indianern, die ihre inhaltliche Ausrichtung bereits im Titel deutlich machen.33 Der größte Anteil dieser Studien zu einzelnen Diagnosen beschäftigte sich wiederum mit der progressiven Paralyse (ca. 10%), die verbleibenden Publikationen hatten hauptsächlich die Dementia Praecox bzw. Schizophrenie, die Tropenneurasthenie sowie Amok und Latah zum Inhalt. In Überblicksaufsätzen, die mehrere Krankheiten umfassten, summierten die Ärzte ihre diagnostischen Ergebnisse in der Regel in nach Diagnosen geordnete Übersichten. In diesen beschrieben sie die Häufigkeit einer Diagnose, die als charakteristisch wahrgenommenen somatischen und psychischen Symptome sowie die Besonderheiten im Krankheitsbild und z. T. auch den Verlauf der jeweiligen Erkrankung. Diese epidemiologischen Darstellungen waren unabhängig davon, ob die Autoren über eigene Erhebungen berichteten, mit den Statistiken Anderer arbeiteten oder Beobachtungen aus ihrer Praxis darstellten. Bei letzteren war die Schilderung
32 RÉVÉSZ, Rassen und Geisteskrankheiten; SICHEL, Über Geistesstörungen. 33 Nicht immer konnte aufgrund des Titels auf den Inhalt geschlossen werden: BECKER, Nervosität bei den Juden behandelte nicht nur die »Nervosität«, sondern psychische Leiden bei den Juden im Allgemeinen. In Anbetracht der Häufigkeit, mit der über »Nervosität« bei Juden gesprochen wurde, wäre anzunehmen, dass es dazu separate Publikationen gegeben habe. Tatsächlich ist mir keine Publikation bekannt, die sich ausschließlich der »Nervosität« oder »Neurasthenie« der Juden widmete.
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häufig allgemeiner gehalten, in den Texten mit eigenen empirischen Daten wurde die textliche Beschreibung häufig durch eine Liste oder eine Tabelle von Zahlen komplettiert, die die Quantität von Diagnosen und die Patientenzahlen zeigten (Abb. 2 und 3). Weitere Visualisierungen wie Grafiken waren äußerst selten, manchmal findet sich ein Diagramm zur Darstellung der Zahlen.34 Abb. 2: Tabellarische Übersicht über Diagnosen bei Juden und Nichtjuden
Aus: Neustadt, Geistesstörungen (1924), 2.
34 Auch außerhalb des Bereichs der Darstellung von Zahlenverhältnissen blieb grafische Illustration selten. So finden sich etwa Fotographien nur bei PLAUT, Paralysestudien. Felix Plaut veröffentlichte insgesamt elf Fotographien von indianischen Patientinnen und Patienten der von ihm und Kraepelin besuchten psychiatrischen Anstalten in Canton, South Dakota und Mexiko-Stadt. Darunter waren zwei Portraits, vier Ganzköper- und fünf Gruppenfotos. Die letzteren dienten der Illustration der von ihm untersuchten »Rassen«, so schrieb er, »Die Gruppenaufnahmen mögen einen Eindruck von den dortigen Menschentypen vermitteln« (63). Drei der Ganzkörperaufnahmen dienten wohl dazu, spezifische Symptome dazustellen, sie zeigen Lähmungserscheinungen der Paralyse, bzw. die daraus resultierende Körperhaltungen (86). Die Portraits begleiten den Abschnitt über den Zusammenhang von Pockeninfektion und Paralyse (91). Auf einem weiteren Ganzkörperfoto wirkt der Patient »dandyhaft« portraitiert: Er sitzt mit überschlagenen Beiden und mit einem Anzug mit Krawatte und Reversblume bekleidet vor dem Fotographen, was ihn von den anderen schlichter gekleideten Patienten deutlich unterscheidet. Dies könnte als bildliche Unterstützung der begleitenden Fallbeschreibung gedacht gewesen sein. Plaut bemerkt, dieser Patient sei »Alkoholiker und Don Juan ersten Ranges, […] in zahlreiche Liebeshändel verstrickt«, auch die Beschreibung seiner Größenwahnideen (Reichtum, Allmacht, Auserwähltheit von Gott, Krankheitsuneinsichtigkeit) passen zum Bild. Ferner sei er »ziemlich sauber in seiner äußeren Erscheinung« (70f.).
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Einige wenige Autoren beschränkten sich in ihren Publikationen auf die Angabe der statistischen Informationen, in der Regel folgten der Aufstellung der Diagnostiken weitere Erläuterungen, in denen die Autoren ihre aus den Zahlen abgeleiteten Schlüsse zusammenfassten und ihre Ergebnisse erklärten (Abb. 3 u. 4). Diese Art und Weise der überblicksartigen Diagnosedarstellung ist für den gesamten Untersuchungszeitraum typisch. Abb. 3: In der Tabelle listet Brero die Zahlen für »Inländer« (Javaner) und »Chinesen« (von der niederländischen Kolonialverwaltung nach Java gebrachte Arbeitskräfte aus China) auf.
Aus: Brero, Geisteskrankheiten, 41.
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Abb. 4 und 5: Diagnosedarstellungen im Überblick
Aus: Brero, Geisteskrankheiten, 41.
Aus: Pilcz, Beitrag (1919/1920), 160.
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Einzelne Autoren griffen neben diesen epidemiologischen Daten in ihren Publikationen zusätzlich auf Fallgeschichten zurück. Dies war jedoch sehr selten in den Veröffentlichungen über »Rasse« und Psychopathologie: Nur etwa 8% der Publikationen weisen Fallbeschreibungen auf. Damit sind es sind zu wenig, um daraus weitreichende Schlüsse ableiten zu können. Jedoch lässt sich anhand der wenigen Publikationen ablesen, dass deren Beschreibung nicht unbedingt bedeutete, dass zwangsläufig mehr über den individuellen Patienten oder sein Leiden deutlich wurde. Dies ließe die Möglichkeit der Fallgeschichte mit einen Fokus auf eine Person und eine ausführlichere Beschreibung der Diagnose eigentlich vermuten.35 In den wenigen Fallgeschichten, die in den Publikationen auftauchten, überwog eine entpersonalisierte, objektivierende Darstellungsart. Die Kasuistiken sind durch einen stichpunkthaften Abriss der wesentlichen Punkte des Falls und eine knappe Darstellung gekennzeichnet. Diese Beschreibungen umfassten zwischen 5-20 Zeilen, in denen Name, Alter, Beruf oder – bei Frauen – der Beruf des Ehemannes sowie der Aufnahmezeitpunkt vermerkt war. Dem folgten eine kurze Beschreibung des Krankheitsbildes und -verlaufs sowie eventuelle Entlassungen und Wiederaufnahmen. Die Darstellung des Krankheitsbilds bestand dabei aus der Auflistung des beobachteten Verhaltens des Patienten, der diagnostizierten somatischen (z. B. Syphilisbefund, körperlicher Zustand, »Degenerationszeichen«) und z. T. auch der psychischen Symptome (»Wahnvorstellungen«, »Angstzustände«). Einige Autoren gingen kurz näher auf die psychischen Symptome ein und beschrieben die von den Patienten geäußerten Inhalte (»Hat 75 Millionen Dollar«, »Sie fühle sich vom Arzt beeinflusst«36). Etwas umfassender, jedoch ähnlich objektivierend, sind die im Folgenden näher besprochene Krankengeschichten: eine stammt aus dem Aufsatz von Pieter C.J. van Brero, der an der psychiatrischen Anstalt Buitenzorg auf Java tätig war; eine weitere aus der Doktorarbeit des Göttinger Medizinstudenten Ernst Henkys und die dritte aus einem Artikel des Hamburger Psychiaters Hans Burkhardt. Brero und Henkys Fallbeschreibung unterscheiden sich nur durch die Länge und nicht durch die Qualität von den weiter oben genannten Falldarstellungen: Breros Fokus lag eindeutig auf den somatischen Symptomen und dem Verhalten seiner Patienten sowie auf der Darstellung eines chronologischen Krankheitsverlaufs.37 Henkys Doktorarbeit, die 35 Die individuelle Sicht von Patienten und Patientinnen auf das eigene Leiden war bis Mitte des 19. Jahrhunderts häufig ein Bestandteil von Krankengeschichten. Eine ausführliche Krankengeschichte hätte zumindestens theoretisch mehr Einsicht in die subjektive Lage des Patienten oder der Patientin ermöglicht als eine statistische Angabe. NOLTE, Vom Verschwinden der Laienperspektive, 56f. 36 HANS BURKHARDT, Studie über endogene Psychosen bei Juden. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 135/1931, 733-766, 37; PLAUT, Paralysestudien, 39. 37 BRERO, Geisteskrankheiten, 47-63.
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auf der Krankengeschichte eines einzelnen Patienten basierte, wies einen vergleichbaren Aufbau auf. Seine Fallgeschichte, die sechs der dreißig Seiten seiner Arbeit einnimmt, fokussierte auf die Verhaltensweisen und Angstzustände seines Patienten über mehrere Monate hinweg.38 Er nannte einige wenige Punkte zur Biographie des Patienten, die jedoch insgesamt unklar blieb.39 Auch wenn man mit einbezieht, dass die Ängste des Patienten – dieser äußerte die Befürchtung, getötet zu werden – es Henkys schwierig gemacht haben könnten, auf den Patienten einzugehen, ist ein Interesse an der Biographie des Patienten aus der Fallbeschreibung nicht herzuleiten. Dieser objektivierende Gestus ist jedoch nicht überraschend, denn eine »einfühlende« Haltung besaß keinen Wert an sich in der damaligen Medizin.40 Eine Ausnahme von solchen Fallgeschichten stellt allein die bereits aufgegriffene Krankengeschichte dar, die Rafael Becker in einem seiner Beiträge schilderte. In ihr kam der Patient selbst zu Wort: Becker zitierte aus der vom Patienten selbst geschrieben Lebensgeschichte. Er leitete daraus seine These eines aus dem Antisemitismus resultierenden »Minderwertigkeitsgefühls« der Juden ab, das für die höhere nervöse Belastung der Juden verantwortlich sei. Becker war, wie geschildert, in der Schweiz mit psychoanalytischen Verfahren in Kontakt gekommen, woraus sich seine im Diskurs abweichende Falldarstellung erklärt.41 In seinen weiteren Publikationen griff er jedoch auf die Art der überblicksartigen Diagnosedarstellung zurück, die auch von anderen Autoren favorisiert wurde. In der Darstellung von Diagnosen in den Schriften zu Psychopathologie und »Rasse« zeichnete sich also der Trend zur Objektivierung und zur Orientierung an Empirie und klinischer Methode ab, dem auch die Medizin der Zeit verpflichtet war. Eine weniger starke Objektivierung und Vereinheitlichung wiesen die von den Autoren gebrauchten Begriffe und Klassifizierungen auf. Auf die Vielfalt und den Wandel nosologischer Auffassungen in der damaligen Psychiatrie weist die Unterschiedlichkeit der Diagnosebenennungen und -klassifikationen in den Schriften über »Rasse« und Psychopathologie hin. Die Forscher verwendeten nicht nur unterschiedliche Bezeichnungen für ihre Diagnosen, vielmehr waren auch die Krankheiten unterschiedlich gruppiert oder besaßen Unterkategorien, die andere Klassifikationen nicht aufwiesen. Dabei waren, wie im vorigen Kapitel dargelegt, den Zeitgenossen die Probleme durchaus bewusst, die diese unterschiedlichen Begrifflichkeiten für die Forschung über »Rasse« und Psychopathologie mit sich brachten. Hier zeigt sich wiederholt die »Begriffsverwirrung«, unter der die Psychiatrie zu leiden hatte: Die Unterschiedlichkeit der Klassifikationen und Benennungen stellte ein allgemein bekanntes Problem der Psychiatrie dar. Wie Robert Evan Kendell schreibt, 38 HENKYS, Jugendirresein eines Negers. 21-27. 39 Ebenda. 21f. 40 Sie wurde erst durch Karl Jaspers konzeptuell formuliert. 41 BECKER, Nervosität bei den Juden, 28-30.
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hatte im 19. Jahrhundert »jeder Irrenarzt, der was auf sich hielt, und schon gar jeder Professor, […] seine eigene Klassifikation.«42 Die Versuche, sich auf ein einheitliches System zu einigen, fanden in Deutschland erst 1933 mit der Einigung über die Klassifikation mithilfe des »Würzburger Schlüssels« einen vorläufigen Abschluss.43 Über die Art und Weise, wie die Ärzte ihre Diagnosen erhoben und wie die Verlaufs- und Symptombeschreibungen entstanden, sind die Quellen zurückhaltend, auch wenn diagnostische Probleme, wie ich weiter unten darstellen werde, vereinzelt thematisiert wurden. An einigen Stellen gaben Autoren an, an welchem Autor sie sich bei der Klassifikation ihrer Diagnosen orientiert hatten, diese Herangehensweise war aber die Ausnahme.44 Daher liegt über die Art und Weise der Anamnesen wenig Quellenmaterial vor. Um einige Probleme, auf die Forscher in ihren Studien zu »Rasse« und Psychopathologie bei ihren Anamnesen stoßen konnten, deutlich zu machen, wird im Folgenden auf die Forschungsreise Emil Kraepelins nach Java genauer eingegangen.45 5.2.2
Emil Kraepelins Javareise
Kraepelins Durchführung der Explorationen Der Javareise Kraepelins kam eine wichtige Rolle innerhalb der Diskussionen um »Rasse« und Psychopathologie zu, und auch Kraepelin selbst schätzte den Erkenntnisgewinn seiner Reise hoch ein.46 Zwar entstanden letztlich nur ein Aufsatz und ein Bericht über einen Vortrag vor dem Verein Bayerischer Psychiater, in denen er die Ergebnisse dieser Reise ausführlicher beschrieb; er griff seine Reise jedoch
42 ROBERT E. KENDELL, Die Diagnose in der Psychiatrie, Stuttgart 1978, 88. 43 Die ab 1901 geltende Klassifikation der Reichsirrenstatistik konnte aufgrund fehlender neuer Krankheitskategorien wie der Schizophrenie keine reliable Statistik mehr produzieren. Vgl. zum Prozess der Entstehung des »Würzburger Schlüssels« ANDREA DÖRRIES, Der Würzburger Schlüssel von 1933. Diskussionen um die Entwicklung einer Klassifikation psychischer Störungen. In: Thomas Beddies und Andrea Dörries (Hg.), Die Patienten der Wittenauer Heilstätten in Berlin 1919-1960, Husum 1999; ANDREA DÖRRIES und JOCHEN VOLLMANN, Medizinische und ethische Probleme der Klassifikation psychischer Störungen. In: Fortschritte der Neurologie und Psychiatr 65/1997, 550-554. 44 Z. B. BRERO, Geisteskrankheiten; PILCZ, Geistesstörungen (1901); PILCZ, Beitrag (1906). 45 Sie wurde von Kraepelin selbst durch Reisebriefe gut dokumentiert und von Christoph Bendick in seinem Buch rekonstruiert: BENDICK, Kraepelins Forschungsreise. Im Anhang zu Bendicks Buch sind ferner einige Dokumente der Javareise ediert, u. a. Teile seiner Korrespondenz. 46 KRAEPELIN, Lebenserinnerungen, 132.
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auch in späteren Schriften auf, wie z. B. in der achten Ausgabe seines Lehrbuches.47 Innerhalb des Diskurses um »Rasse« und Psychopathologie wurde darüber hinaus von Anderen regelmäßig darauf Bezug genommen, nicht zuletzt aufgrund des Ansehens des Reisenden innerhalb des Faches.48 Die Forschungssituation Kraepelins unterschied sich jedoch von derjenigen anderer rassenpsychiatrischer Forscher und kann daher keine wirkliche Repräsentativität für die Forschungspraxis rassenpsychiatrischer Untersuchungen beanspruchen. So beschäftigten sich zwar ein Viertel aller Publikationen mit »fremden Rassen« in »fremden Ländern«, jedoch basierten viele von ihnen auf Statistiken, oder die Autoren summierten narrativ eigene oder fremde Beobachtungen und erhoben keine eigene Empirie. Nur knapp 20% der gesamten Publikationen über »Rasse« und Psychopathologie stützten sich auf empirische Erhebungen, die die Autoren auf Reisen, im Kriegseinsatz oder während Aufenthalten in den Kolonien, z. B. als Kolonialärzte selbst erhoben hatten. Die Mehrheit der Forscher publizierte über die Gruppen, die leichter zugänglich waren und die sie in unmittelbarer Nähe fanden: die Patienten und Patientinnen der Kliniken, in denen sie, z. T. auch nur vorübergehend, beschäftigt waren.49 Unter den Forschern, die außerhalb des eigenen Landes forschten, war jedoch immerhin etwas über die Hälfte in einer ähnlichen Forschungssituation wie Kraepelin, d. h. sie arbeiteten empirisch in einem ihnen fremden Land mit einer ihnen fremden Sprache. Kraepelin reiste 1904 auf die Insel Java, damals ein Teil der Kolonie Niederländisch-Indien, dem heutigen Indonesien. Er hatte sich für Java entschieden, weil ihm der Jahresbericht der Irrenanstalt Buitenzorg auf Java in die Hände gefallen war. Sie erschien ihm geeignet, da dort seiner Ansicht nach »völlig europäische Verhältnisse herrschten.«50 In seinem Urlaubsgesuch für die Reise an den bayerischen Kultusminister schrieb er, der Zweck der Reise sei es, herauszufinden »ob gewisse, bei uns geradezu den Hauptinhalt unserer Anstalten bildende Formen des Irreseins auch unter ganz anderen Lebensbedingungen und bei ganz anderen Volksstämmen in gleicher Weise und in gleicher Häufigkeit auftreten wie bei uns. Die Antwort auf diese Fra47 KRAEPELIN, Lehrbuch, 8. Auflage. S. dazu auch weiter unten. 48 Kraepelins Forschungsreise wird unter anderen erwähnt in: GANS, Ein Beitrag zur Rassenpsychiatrie; JULIANO MOREIRA, Die Nerven- und Geisteskrankheiten in den Tropen. In: Carl Mense (Hg.), Handbuch der Tropenkrankheiten, 3. Auflage, Band 4, Leipzig 1926, 295-354; PILCZ Beitrag (1906); RÜDIN, Paralysefrage; EMIL FRANZ SIOLI, Geisteskrankheiten bei den verschiedener Völkern. Festschrift zur 39. Allgemeinen Versammlung der Deutschen anthropologischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1908; WEYGANDT, Die ausländischen Geisteskranken. Vortrag. 49 S. dazu auch Kap. 2. 50 Kraepelin, Lebenserinnerungen, 123.
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gen […] wird, wie ich hoffe, nicht ganz ohne Ergebnis für die Aufhellung der Ursachen jener verbreitetesten psychischen Krankheitsformen führen, deren Entstehungsbedingungen für uns bis jetzt noch vollkommen dunkle sind. Jedenfalls wird sich ergeben, ob jene Ursachen ganz allgemeine sind, oder ob sie in irgendeiner Beziehung zu Rasse oder Klima, zu Lebensverhältnissen und Lebensweise stehen, zumal ich auch Gelegenheit haben werde, die psychischen Erkrankungen der Europäer in den Tropen kennen zu lernen«.51
Wie viele andere erläuterte Kraepelin an keiner Stelle seinen Begriff von »Rasse« genau, vielmehr lässt sich auch bei ihm eine unscharfe Benutzung des Begriffs konstatieren. Es ist davon auszugehen, dass auch Kraepelin unter »Rassen« Bevölkerungsgruppen mit gemeinsamen biologischen Merkmalen und gemeinsamer Herkunft verstand; es lässt sich kein Hinweis darauf finden, dass er dem damals geltenden Zeitgeist ablehnend oder kritisch gegenüber stand. In dem oben genannten Zitat trennte er den Einfluss der Lebensverhältnisse, des Klimas und der »Rasse«, es ist daher wahrscheinlich, dass er sie als unterschiedliche oder gar gegensätzliche Einflüsse gelesen hat. Wie schon im ersten Kapitel beleuchtet, schlug sich eine ungenaue Begriffsverwendung auch in seinem Lehrbuch nieder.52 Hier meint er, dass eine Aussage über die psychischen Erkrankungen bei unterschiedlichen Gruppen nur dort möglich sei, »wo verschiedene Racen unter annähernd gleichen Verhältnissen zusammenwohnen«, wie dies beispielsweise bei den Juden der Fall sei.53 Er ging also davon aus, dass sich ein grundsätzlicher Unterschied zwischen »Rassen« zeige, der sich äußere, wenn die Lebensverhältnisse die gleichen seien. Unterschiedliche »Rassen«, die unter den gleichen Lebensumständen lebten, meinte er auch auf Java zu finden. Hier untersuchte er während seines dreiwöchigen 51 EMIL KRAEPELIN, Urlaubsgesuch Kraepelins an das Kulturministerium in München vom 2.10.1903. In: Christoph Bendick (Hg.), Emil Kraepelins Forschungsreise nach Java im Jahre 1904. Ein Beitrag zur Geschichte der Ethnopsychiatrie (Anhang), Köln 1989, 167f. 52 So schrieb er in der 4. Auflage von 1893 einen Abschnitt, in dem er den »prädisponierenden Einfluss der Race und Nationalität« beleuchtet, in der 5. Auflage hieß der gleiche Abschnitt »Volkscharakter und Klima«, und in diesem verwendete er die Begriffe »Volksstamm« »Stamm« und »Race« synonym. KRAEPELIN, Lehrbuch, 4. Auflage, 56. KRAEPELIN, Lehrbuch, 5. Auflage, 79. Vgl. dazu auch Kapitel 1.6. 53 Das gesamte Zitat lautet: »Sehr wenig Sicheres lässt sich bei dem jetzigen Stande der Statistik über die Neigungen der einzelnen Volksstämme zu geistiger Erkrankung aussagen. Man kann eben nicht ermitteln, wie weit die sich herausstellenden Unterschiede nicht vielmehr durch Verschiedeneheiten in den äusseren Lebensbedingungen verursacht sind. Nur dort können wir vergleichen, wo verschiedene Racen unter annähernd gleichen Verhältnissen zusammenwohnen. Wirklich verwerthbar sind daher nur die Angaben über das Verhalten der Juden gegenüber der umgebenen Bevölkerung anderen Stammes.« KRAEPELIN,
Lehrbuch, 5. Auflage, 80.
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Aufenthaltes in der psychiatrischen Anstalt Buitenzorg 225 Personen – 100 Europäer, 100 »Eingeborene« und 25 »Chinesen«54, also im Schnitt 12 Personen pro Tag.55 Christoph Bendick hat anhand der Reisebriefe, Publikationen und der Eintragungen in die auf Java aufgenommenen Zählkarten die Vorgehensweise Kraepelins bei den Explorationen der psychiatrischen Patienten nachvollzogen. Zum Dolmetschen standen ihm, wie er in einem Brief an seine Tochter Antonia schreibt, der »Oberwärter Blume aus Sachsen-Altenburg« sowie ein »javanischer Arzt mit Kopftuch, Sarong und nackten Füßen« zur Seite.56 Bei letzterem handelte es sich um Raden Soemeroe, der in Kraepelins Aufzeichnungen als »Doktor Djawa« bezeichnet wird, der Bezeichnung für einen in Java ausgebildeten »einheimischen« Arzt.57 Kraepelin hatte sich einige Kenntnisse des Malayischen als auch des Niederländischen angeeignet.58 Seine übliche Vorgehensweise beim Erlernen von Sprachen bestand darin, mithilfe eines Wörterbuchs einen Text zu übersetzen und sich so Lesekenntnisse anzueignen, vor allem für die Rezeption fremdsprachiger Fach-
54 Angehörige der von den holländischen Kolonialherren als Arbeitskräfte in die Kolonie gebrachten chinesischen Minderheit auf Java. 55 BENDICK, Kraepelins Forschungsreise, 45. 56 EMIL KRAEPELIN, Brief an seine Tochter Antonia aus Buitenzorg vom 28. 2.1904. In: Christoph Bendick (Hg.), Emil Kraepelins Forschungsreise nach Java im Jahre 1904. Ein Beitrag zur Geschichte der Ethnopsychiatrie. (Anhang), Köln 1989, 170-171, 171. 57 »Raden« ist ein javanischer Adelstitel. Der Name »Doktor Djawa« bezieht sich wahrscheinlich auf die Ausbildungsstätte der javanischen Ärzte, auf die Sekolah Dokter Jawa, die Schule für »einheimische« Ärzte. Die »Dokter Jawa« Schule, gegründet Mitte des 19. Jahrhunderts, 1900 umbenannt in STOVIA, School Tot Opleiding van Inlandsche Artsen (Schule zur Ausbildung einheimischer Ärzte), ermöglichte Angehörigen der javanischen Oberklasse eine medizinische Ausbildung, die der der niederländischen Ärzte aber nicht gleichgestellt war. Die Schule war die Keimzelle der späteren indonesischen Unabhängigkeitsbewegung JOHN D. LEGGE (Hg.), Intellectuals and Nationalism in Indonesia. A Study of the Following recruited by Sutan Sjahrir in Occupation Jakarta, Cornell Modern Indonesia Project, Ithaca, NY 1988, 19. MATHEOS VIKTOR MESSAKH, History of Stovia: Home to national change. In: The Jakarta Post (2008), http://www.thejakartapost.com/news/2008/05/30/history-stovia-home-national-change.html, [letzter Zugriff 2. Juni 2013]; MATHEOS VIKTOR MESSAKH, It's all started with an epidemic. In: The Jakarta Post
(2008),
http://www.thejakartapost.com/news/2008/05/27/it039s-all-started-with-
epidemic.html, [letzter Zugriff 2. Juni 2013]. BENDICK, Kraepelins Forschungsreise, 109, Anmerkung 37. 58 Kraepelin hatte die Überfahrt von Genua nach Ceylon dazu genutzt, sich mit dem Malayischen vertraut zu machen. BENDICK, Kraepelins Forschungsreise, 44.
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texte.59 Ein Brief des Leiters der Anstalt Buitenzorg, Johan Wilhelm Hofman, legt nahe, dass sein Verständnis des Schriftniederländisch gut war, ob dies auch für das Hörverständnis und Sprechen des Niederländischen gilt, bleibt ungewiss.60 Zumindest berichtet Kraepelin selbst davon, auf Übersetzungshilfen angewiesen zu sein. Bei der Exploration wie z. T. auch beim Lesen der Krankenakten unterstützten ihn der Oberpfleger Blume und Raden Soemeroe. Oberpfleger Blume half bei den Übersetzungen vom Niederländischen ins Deutsche, Soemeroe dann, wenn die Patienten kein Niederländisch und nur eine der lokalen Sprachen Sudanesisch, Malayisch oder Javanisch sprachen.61 Blume war auch bei der Verständigung von Soemeroe und Kraepelin behilflich, was nahe legt, dass Kraepelin kein Niederländisch sprach, da Soemeroe des Deutschen nicht mächtig war.62 Die Explorationen wurden also wahrscheinlich auf Niederländisch geführt, wenn die zu untersuchenden Personen Niederländisch sprachen, wobei Blume übersetzte, oder in Javanisch, Malayisch oder Sudanesisch; Soemeroe übersetzte wiederum ins Niederländische, was gegebenenfalls von Blume wieder ins Deutsche übertragen wurde. Auch wenn man in Betracht zieht, dass das Niederländische dem Deutschen verwandt ist und daher Kraepelin eventuell einiges ohne Beherrschung der niederländischen Sprache verstehen konnte, machen die sprachlichen Umwege mit teilweise zweifachen Übersetzungen, Verständigungsfehler wahrscheinlich. Ferner bemerkt Bendick: »Bedenkt man, daß es unter den Patienten etliche gab, deren Dialekte auch dem Doktor Djawa nicht immer geläufig waren, kann man sich vorstellen, daß die Exploration nicht in allen Fällen ergiebig war – sei es, daß Kraepelin die Patienten nicht verstand, sei es, daß diese ihn nicht verstanden«.63
Kraepelin schien sich der Sprachschwierigkeiten zwar bewusst gewesen zu sein,64 leitete jedoch davon keine Konsequenzen hinsichtlich der Ergebnisse seiner Explorationen ab. Auch bei seiner Reise in die USA 21 Jahre später berichtete er in einem
59 Seine Fremdsprachenkenntnisse und die Art und Weise des Fremdsprachenerlernens schildert er in »Persönliches«, hier taucht das Malayische nicht auf WOLFGANG BURGMAIR,
ERIC J ENGSTROM und MATTHIAS M. WEBER, Emil Kraepelin: »Persönliches«.
Selbstzeugnisse, München 2000, 27. 60 Brief von Johan Wilhelm Hofmann an Emil Kraepelin vom 15.9.1904, in: WOLFGANG BURGMAIR, ERIC J ENGSTROM und MATTHIAS M. WEBER, Kraepelin in München I. 1903-1914, MÜNCHEN 2006, 211. 61 BENDICK, Kraepelins Forschungsreise, 44. 62 Ebenda, 57. 63 Ebenda. 64 Ebenda, 44.
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Brief über die »Schwierigkeit der sprachlichen Verständigung und der Zurückhaltung der Kranken« im Umgang mit den von ihm untersuchten »Indianern«: »Verhältnismäßig wenige der Kranken sprachen einigermaßen geläufig Englisch, viele kein Wort, sondern nur eine der zahllosen, auch dem Pflegepersonal unbekannten Indianersprachen. In einzelnen Fällen konnte etwa ein des Englischen etwas besser mächtiger, die gleiche Sprache beherrschender Leidensgefährte aushelfen; vielfach blieb nur die Zeichensprache übrig«.65
Einige Zeilen darunter notierte er, dass es ihm jedoch gelungen sei, »wenigstens in groben Zügen ein Bild von der Art der Kranken zu gewinnen«.66 Er scheint die Sprachschwierigkeiten also zwar als Hindernis bei der Erhebung seiner Daten verstanden, nicht jedoch reflektiert zu haben, dass dies ein methodisches Problem mit Auswirkungen auf die Ergebnisse seiner Forschung oder Diagnosestellung hätte darstellen können. Möglicherweise war er sich seiner diagnostischen Fähigkeiten auch unabhängig von einer sprachlichen Verständigung sicher, so dass für ihn Phänomene, die er beobachten konnte, wohl bedeutsamer waren als andere. Die konkrete Forschungssituation Kraepelins unterschied sich von der Situation vieler anderer Forscher, die sich mit Psychopathologie und »Rasse« beschäftigten, da diese in der Regel keine Forschungsreisen für rassenpsychiatrische Untersuchungen unternahmen, sondern in ihrem direkten – manchmal jedoch auch fremden – Umfeld forschten. Nicht alle stießen daher auf ähnliche Probleme mit der sprachlichen und kulturellen Verständigung. Die Javareise ist jedoch einerseits ein Beispiel dafür, wie stark Kraepelin von der klinischen Methode überzeugt war. Ferner zeigt sich die Bedeutung der praktischen Herangehensweise an die Forschung. Nicht nur die äußeren Forschungsumstände, die persönlichen Kenntnisse und Voraussetzungen des Arztes sowie die Individualität des Kranken beeinflussten die Ergebnisse. Der Modus, wie die Explorationen durchgeführt wurden – die Praxis der Forschung also – formte ebenfalls die Forschungsergebnisse. Kraepelin benutzte für die Erhebung der Patienten und Patientinnen in Java Zählkarten von ihm in Heidelberg eingeführte Bögen mit standardisierten krankheitsrelevanten Erhebungskategorien.67 Erste Informationen über die Kranken, per65 EMIL KRAEPELIN, Aus den Reisebriefen der USA/ Mexiko/ Kuba-Reise 1925. Brief vom 5. Mai 1925. In: Christoph Bendick (Hg.), Emil Kraepelins Forschungsreise nach Java im Jahre 1904. Ein Beitrag zur Geschichte der Ethnopsychiatrie. (Anhang) 1989, 172-178, 173. 66 Ebenda. Auch Plaut berichtet von Sprachschwierigkeiten und dass er Unterstützung bei der Kommunikation mit seinen Patienten brauchte. PLAUT, Paralysestudien, 34. 67 Die Zählkarten, die Kraepelin auf Java gebrauchte und in die er die Ergebnisse des Aktenstudiums und der Explorationen einfügte, trugen die Überschrift »Grossh[erzogliche]
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sönliche Daten, Aufnahmetag und -umstände, Vorgeschichte und Vorerkrankungen stellte er aus den Krankengeschichten zusammen und vermerkte sie auf den Zählkarten. Bendick rekonstruiert anhand einer Analyse der Zählkarten, dass Kraepelin als erstes die Orientierung, Wahrnehmung und Konzentrationsfähigkeit der Patienten und Patientinnen prüfte, indem er beispielsweise fragte, ob das Personal der Klinik bekannt sei, oder aufforderte, Münzen zu zählen oder einen Text vorzulesen.68 Denkstörungen wie Verwirrtheit vermerkte Kraepelin hin und wieder auf den Karten, nach Verfolgungsideen fragte er regelmäßig, da diese ein Hauptsymptom von Psychosen darstellen. Es ist wahrscheinlich, dass er nach Sinnestäuschungen und deren Inhalten fragte, auch wenn diese Thematik nicht viel Wiederklang in den Zählkarten fand: »Sicherlich hat Kraepelin die Frage nach dem Inhalt gestellt, aber ob er keine Antwort darauf erhielt oder ob er die Antwort – bedingt durch Verständnisschwierigkeiten – nicht begriff, muß offen bleiben.«69 Affekte, Stimmungen und Selbstmordgedanken interessieren Kraepelin dagegen besonders. Auch psychomotorische Störungen wie übersteigerter Beschäftigungsdrang, beständig wiederholte Bewegungen und die dauerhaften, erstarrten Körperhaltungen, wie sie bei schizophrenen Erkrankungen häufig sind diese »im Gegensatz zu Störungen des Ichs und der Persönlichkeit leichter erkennbaren Veränderungen« habe Kraepelin »sehr häufig zur Kenntnis genommen und notiert.«70 Abschließend folgte noch eine körperliche und neurologische Untersuchung, bei der er u. a. Narben, Schilddrüsenschwellungen, Reflexe und Nervenlähmungen protokollierte. Bendick unternimmt auch eine Analyse der Krankheitsbilder, die Kraepelin auf seinen Zählkarten notiert hatte. Kraepelin hatte schon in einem seiner ersten Briefe an seine Frau darauf hingewiesen, dass die javanesischen Patienten ein weniger ausgeprägtes Krankheitsbild zeigten, als er dies aus Europa gewohnt war.71 Nach Bendick bestätigt sich dieses Ergebnis anhand der Zählkarten eigentlich nicht. Aufgrund der Auszählung der Krankheitsbilder auf den Kraepelinschen Zählkarten äußerte er Zweifel: es sei kein Zeichen einer geringeren Symptomausprägung zu finden: »Obwohl Kraepelin sich sicher um eine sorgsame Exploration bemüht hat, muß man wohl doch davon ausgehen, daß die von ihm konstatierte weniger reiche Symptomatik der DemenUniversitäts-Irrenklinik Heidelberg«. Einige Exemplare der Karten, die er auf Java benutzte, sind bei Bendick abgebildet: BENDICK, Kraepelins Forschungsreise, 160-165. 68 Ebenda, 61. 69 Ebenda. 70 Ebenda, 62. 71 EMIL KRAEPELIN, Brieftagebuch. Brief an seine Frau Ina vom 13.3.1904. In: Christoph Bendick (Hg.), Emil Kraepelins Forschungsreise nach Java im Jahre 1904. Ein Beitrag zur Geschichte der Ethnopsychiatrie. (Anhang), Köln 1989, 148.
226 | P SYCHOPATHOLOGIE UND »RASSE « tia Praecox-Bilder auf dem Irrtum beruht, daß die Angehörigen ›primitiver‹ Völker automatisch auch ein weniger reiches Seelenleben haben müßten«.72
Auch merkt Bendick Kraepelins »kulturelle und Sprachbarriere« sowie die zeitliche Enge an, die ihn wohl daran gehindert habe, dass er »sich wirklich so effektiv in die Psyche seiner Patienten einarbeiten konnte, wie dies nötig gewesen sei, um einen so differenzierten Sachverhalt wie die Wahnbildung und deren Systematisierung beurteilen zu können«.73 Bendick benennt und kommentiert diese Aspekte von Kraepelins Forschung zwar, interpretiert sie jedoch als einen »Irrtum«, einen unbeabsichtigten Fehler Kraepelins, der an »seinen geringen Erfahrungen im Umgang mit ausländischen Geisteskranken« gelegen habe, aber auch an »seinem naturwissenschaftlichen Zugang zu psychischen Krankheiten«.74 Ich denke, dass das von Bendick rekonstruierte Forschungsvorgehen Kraepelins nicht als versehentlicher Lapsus zu bewerten ist. Ich möchte das Argument Bendicks stärken, dass es Kraepelins naturwissenschaftlich orientierte Forschungsweise war, die zu diesem Ergebnissen führte. Seine Sichtweise fußte auf den methodischen und theoretischen Überzeugungen, die seinem Forschungsprogramm zugrunde lagen. So wird anhand von Bendicks Analyse der Zählkarten deutlich, dass Kraepelin bei den Untersuchungen auf bestimmte Krankheitszeichen fokussierte, die eher in seine theoretischen Annahmen passten. Bendick zeigt, dass bei Kraepelin Phänomene, die durch Beobachtung erkannt werden konnten, im Fokus standen. Währenddessen registrierte er zwar Symptome, von denen die Patienten und Patientinnen selbst berichteten, sie wurden jedoch – wohl angesichts der Sprachschwierigkeiten und der nur kurzen Zeit, die ihm pro Patient zur Verfügung stand – nicht näher untersucht – ein Zeichen dafür, dass er ihnen weniger Relevanz zumaß. Die Tatsache, dass er Sprachprobleme zwar bemerkte, diese jedoch nicht als wesentlich beurteilte, weist darauf hin, dass Kraepelin beobachtbaren Phänomenen mehr Gewicht einräumte als den von Patienten geschilderten. Dem widerspricht auch nicht, dass sich Kraepelin schließlich wohl von den Ergebnissen seiner Zählkarten in seinen Auffassungen über die Psychiatriepatienten nur unwesentlich irritieren ließ: dass er seine Auffassungen nicht in erster Linie von seinen Zählkarten ableitete, sondern sich von theoretischen Vorannahmen leiten ließ, wurde schon anhand anderer Beispiele, z. B. der Entwicklung seiner Nosologie, gezeigt.75 Es ist nebensächlich, ob man Kraepelin hier einen Bruch mit der »reinen Lehre« einer an Naturwissenschaften orientierten Methode nachweisen kann oder nicht. 72 BENDICK, Kraepelins Forschungsreise, 66. 73 Ebenda. 74 Ebenda, 68. 75 WEBER und ENGSTROM, Diagnostic Cards.
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Bedeutsam ist vielmehr, dass er selbst davon ausging, sich weitestgehend an ein naturwissenschaftlich-empirisches und von exakter Beobachtung bestimmtes Vorgehen gehalten zu haben. Wie Lorraine Daston und Peter Gallison nachgezeichnet haben, ist die Vorstellung davon, wie »richtige« – und das heißt ab der Mitte des 19. Jahrhundert »objektive« – Wissenschaft gemacht wird, eng mit der Vorstellung vom »wissenschaftlichen Selbst« verknüpft. Um Wissenschaftlichkeit zu gewährleisten, hatten Wissenschaftler bestimmte Verhaltensweisen und »epistemische Tugenden« zu verinnerlichen, ohne die sie die Anerkennung ihrer Erkenntnisse in der wissenschaftlichen »Community« riskierten.76 In der Zeit, in der Kraepelin studierte, seine ersten beruflichen Erfahrungen machte und damit wohl auch seine grundlegende wissenschaftliche Prägung erfuhr, gab die »mechanische Objektivität«77 die epistemischen Tugenden vor, an denen sich das »Wissenschaftlerideal« ausrichtete. Demnach sollte der Wissenschaftler sein Selbst weitestgehend »zügeln« und aus dem Forschungsprozess heraushalten: Durch Askese und Willensstärke sollten alle subjektiven Faktoren bewusst ausgeschlossen werden.78 Die sachliche und vorurteilsfreie Beobachtung, verbunden mit einem detaillierten Aufschreibsystem, galt als Mittel, um den Ausschluss von Subjektivität möglichst sicherzustellen.79 Nicht nur Kraepelins Forschungsweise und die Verwendung der Zählkarten entspricht diesem Verhaltenscodex, auch seine autobiographische Skizze Persönliches, in der Kraepelin seine »seelische Persönlichkeit« darstellen wollte, zeigt, dass er die epistemischen Tugenden der mechanischen Objektivität verinnerlicht hatte. So schrieb er, er habe »von jeher danach gestrebt […], die Herrschaft über meine Gefühlsäußerungen zu behalten« und lege Wert auf »Selbstzucht, die Fähigkeit, die eigenen Wünsche höheren Rücksichten unterzuordnen«. Dies galt auch in Bezug auf die Wissenschaft, denn für einen »Mann der Wissenschaft« als welcher er sich sah, sei es »selbstverständlich, dass sein höchstes Ziel die Erforschung der Wahrheit bildet, dass er also jede Beeinflussung seiner Arbeit durch Wünsche und Erwartungen auf das strengste ablehnen muss.«80 76 LORRAINE DASTON und PETER GALISON, Objektivität, Frankfurt a. M. 2007. 77 Daston und Gallison beschreiben in ihrem Buch die Entstehung der wissenschaftlichen Objektivität vom frühen 18. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts: Demnach sind epistemische Wertvorstellungen über das, was »gute« Wissenschaft ausmachte, historisch kontingent. Die Vorstellung von Objektivität entstand Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Herausbildung der »mechanischen Objektivität«, die das »entschlossene Bestreben« kennzeichnet, »willentliche Einmischungen […] zu unterdrücken und statt dessen eine Kombination von Verfahren einzusetzen, um die Natur, wenn nicht automatisch, dann mit Hilfe eines strengen Protokolls sozusagen aufs Papier zu bringen.« Ebenda, 127. 78 Ebenda, 201-246. 79 Ebenda, 247-260. 80 BURGMAIR, ENGSTROM und WEBER, Persönliches, 43,59,61.
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Es ist nicht verwunderlich, dass Kraepelin gar nicht auf die Idee kam, dass er oder seine Erhebungsmethode Auswirkungen auf seine Forschungsergebnisse hätten haben können, denn seine Arbeitsweise entsprach schon seiner Vorstellung hochgradiger Neutralität. Die Idee vom Einfluss subjektiver Faktoren auf seine Forschungsmethode hätte für ihn nicht nur die Infragestellung seiner Forschungserkenntnisse bedeutet, sondern auch seinem wissenschaftlichen Selbstbild widersprochen, nachdem das, was er und wie er es tat, neutral und objektiv war. In der Einordnung von Kraepelins Javareise in dessen weitere wissenschaftliche Überzeugungen kommt Bendick schließlich zu einer grundsätzlich anderen Einschätzung als ich.81 Erstaunlicherweise folgert er aus Kraepelins Äußerungen, dass dieser »in Java den Grundstein für seine Hinwendung von einer anatomischstatistischen zu einer eher psychologisch-dynamisch orientierten Sicht der Ätiologie psychopathologischer Zustände« gelegt habe.82 Bendicks Fehleinschätzung beruht darauf, dass er in den Begriff der »Persönlichkeit« bei Kraepelin den heutigen Bedeutungsgehalt hineinliest. Kraepelin habe sich »mit dem prägenden Einfluß der Persönlichkeit auf das Bild der jeweiligen Geistesstörung« beschäftigt: »Hierin fließen auch Dinge wie Erziehung, gesellschaftliche Umstände, Familie, also alles, was man im weitesten Sinne als Sozialisation bezeichnen könne.«83 Anhand einer vertieften Analyse der Quellen, in denen Kraepelin sich über seine Javareise geäußert hat, werde ich im Folgenden darlegen, dass er mit seinen Ausführungen über den Einfluss der »Persönlichkeit« – oder, wie Kraepelin sich ausdrückte, des »Wesens«, nicht die Sozialisation gemeint hat, sondern dass er von einem spezifischen, rassischen »Wesen« der Javaner ausging. Vom Wesen der Javaner Ergebnisse von Kraepelins Forschungsreise Über die Ergebnisse von Kraepelins Reise erschienen 1904 ein Aufsatz, ein Bericht und ein Protokoll über den Vortrag Kraepelins auf einer Versammlung des Vereins 81 Denkbar ist, dass Bendick zwar Kraepelins »Fehler« benennen wollte, dies aber nicht in das Bild von Kraepelin als Begründer der modernen Psychiatrie passte, das er ebenfalls zeichnet. Jedenfalls ist das Schwanken zwischen einer Benennung der vorurteilsgeladenen Struktur von Kraepelins Forschung und dem wiederholten fast schon zur Apologetik neigenden Versuch auch die Forschungen Kraepelins auf dem Gebiet der »vergleichenden Psychiatrie« als wesentlichen Beitrag für den Fortschritt der Wissenschaften darzustellen, in der Arbeit sehr auffällig. Vgl. u.a BENDICK, Kraepelins Forschungsreise, 6668, 98-101. 82 Ebenda, 98. 83 Bendick merkt zwar an, dass Kraepelin den Begriff der Sozialisation selbst gar nicht benutzt habe, aber den Ausführungen über den psychopathogenen Einfluss der Lebensumstände in der 8. Ausgabe des Lehrbuches viel Raum gegeben habe. Ebenda.
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Bayerischer Psychiater.84 In dem Artikel beschäftigte sich Kraepelin eingangs mit dem Einfluss des Klimas und der damit verbundenen Ernährung. Beides habe keine Auswirkungen auf die europäischen Kranken, denn »die in Buitenzorg verpflegten Europäer [wiesen] im grossen und ganzen die gleichen Krankheitsbilder auf, wie wir sie bei uns kennen.«85 Sodann beschrieb er die »äußeren Schädigungen, welche Geisteskrankheiten erzeugen«: Die Wirkung von Alkohol und Syphilis könne man bei den europäischen Erkrankten für entsprechende Leiden verantwortlich machen, unter den »eingeborenen Geisteskranken« der Anstalt dagegen fehlten diese Krankheiten jedoch völlig.86 Hier rekurriert Kraepelin auf die Vorstellung des »gesunden Wilden«: Als Grund vermutete er »Rasseneigentümlichkeiten« bei Europäern und Javanern oder Schädigungen, die den »Europäer weniger widerstandsfähig gegen die Einwirkungen der Lues auf Hirn und Hirngefässe machen, als den Eingeborenen. Ausser den Einflüssen des Tropenklimas könnte hier wohl auch der Alkohol in Betracht kommen.«87 Ferner gäbe es keine Hinweise darauf, dass es Erkrankungen auf Java gebe, die in Europa unbekannt seien, auch die beiden »der malaiischen Rasse besonders zugeschriebenen Krankheitsformen des Amok und Látah« seien »eigenartige Gestaltungen« bereits bekannter Krankheiten.88 Diejenigen Erkrankungen, »für die wir, zunächst wenigstens, bestimmte äussere Umstände nicht verantwortlich machen können«, kämen ebenfalls vor: Demnach sei die Dementia Praecox bei Javanern »überaus häufig«, das manisch-depressives Irresein dagegen seltener, während die psychische Epilepsie ebenfalls »verhältnismässig häufig« auftrete.89 Den wesentlichen Unterschied zwischen den europäischen und den javanischen Kranken sah Kraepelin allerdings nicht in der Anfälligkeit für einzelne Leiden, sondern in der unterschiedlichen Ausprägung eines Krankheitsbildes bei der gleichen Diagnose: »Das wesentliche Ergebnis ist, daß die Psychosen der Europäer hier ganz genau unseren Erfahrungen in Europa entsprechen, während das Bild bei den Eingeborenen in vieler Beziehung wesentlich abweicht.«90 Bei den »zahlreichen Ver84 KRAEPELIN, Vergleichende Psychiatrie; KRAEPELIN, Psychiatrisches aus Java. KRAEPELIN,
Psychiatrisches aus Java (Protokoll). Kraepelin benutzte den Begriff »Vergleichen-
de Psychiatrie« unter der er auch die vergleichende Forschung nach Alter, Beruf oder Geschlecht fasst, wie er in seinem Aufsatz KRAEPELIN, Erscheinungsformen, 7f. darlegt. 85 KRAEPELIN, Vergleichende Psychiatrie, 434. 86 Ebenda. Kraepelin bezog sich hierbei auf die gesamte Anstaltspopulation von 370 »Eingeborenen«. 87 Ebenda, 435. 88 Ebenda, 436. 89 Ebenda, 435. 90 Aus einem Brief Kraepelins an seine Frau, zit nach: BENDICK, Kraepelins Forschungsreise, 55f.
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blödungsformen im Sinne unserer Dementia Praecox« z. B. fehle bei den Javanern »kein einziges der uns geläufigen Krankheitszeichen«, jedoch sei deren »Ausprägung […] eine weit weniger reiche, als bei uns.«91 Insbesondere seien »katatonische Erscheinungen bei den Eingeborenen sehr dürftig«, die sonst häufigen Gehörstäuschungen sehr selten, »zusammenhängende Wahnbildungen fehlten ganz oder waren nur angedeutet.«92 Ebenfalls vermisste er »ausgeprägte Depressionszustände«. Depressionen seien bei den Javanern, wenn überhaupt, nur kurz und weniger schwer aufgetreten. Versündigungsideen fehlten ganz und auch die Symptome der Manie seien »ungleich dürftiger und einförmiger« als er sie sonst beobachtete.93 Alles in allem sei das gesamte Krankheitsbild dem in Europa bekannten vergleichbar, allerdings mache es den Anschein, »als ob nur eine gewisse Verschiebung in der Häufigkeit der einzelnen klinischen Unterformen stattgefunden habe: die Fälle, die bei uns die Hauptmasse bilden, sind dort verhältnismässig seltener und umgekehrt.«94 Aus dieser Beobachtung folgerte Kraepelin: »Gerade darum ist eine Zurückführung dieser Unterschiede auf die verschiedenartige Reaktionsweise der erkrankten Gehirne nicht ganz unwahrscheinlich. Insbesondere könnte etwa die Geringfügigkeit der Wahnbildungen mit dem niedrigen Stande der geistigen Entwicklung und die Seltenheit der Gehörstäuschungen mit dem Umstande in Beziehung stehen, dass die Sprache für das mehr in Sinnesvorstellungen sich bewegende Denken nicht die Bedeutung hat, wie bei uns«.95
Kraepelin kam hier zu dem Schluss, dass die von ihm beobachteten Differenzen in der Symptomausprägung damit in Zusammenhang zu bringen seien, dass die Gehirne von Javanern und Europäern unterschiedlich reagierten. Die von ihm konstatierten verschiedenen Gehirnreaktionen bei den Javanern sah er auch in den geringeren intellektuellen Fähigkeiten sowie in der angeblich weniger großen Bedeutung der Sprache für das Denken bestätigt, welches bei den Javanern stärker durch die »Sinne« bestimmt sei. Kraepelin ging hier nicht nur von unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten aus, sondern legte auch nahe, dass dafür eine grundsätzlich differente Funktionsweise und Struktur des Gehirns die Ursache sei. Kraepelin kam in dem Aufsatz ferner zu der Auffassung, dass keine »neuen, uns bekannten Formen des Irreseins bei den Eingeborenen Javas« zu finden seien. Die Abweichungen von den »uns bekannten« Krankheitsbildern, so Kraepelin, könne man dagegen »mit einer gewissen Berechtigung auf Rasseeigentümlichkeiten der 91 KRAEPELIN, Vergleichende Psychiatrie, 435. 92 Ebenda. 93 Ebenda, 436. 94 Ebenda. 95 Ebenda.
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Erkrankten zurückführen.« Die »Eigenart eines Volkes«, so weiter, käme auch »in der klinischen Gestaltung seiner Geistesstörungen zum Ausdruck«, besonders in der Gestaltung derjenigen psychischen Erkrankungen, »die aus inneren Bedingungen hervorgehen«.96 Was beschreibt Kraepelin hier? Der Idee, dass es spezifische Erkrankungen der javanischen Bevölkerung, also so etwas wie »Rassenkrankheiten« der Javaner gäbe, erteilte er eine Absage. Bei denjenigen Erkrankungen, die »aus inneren Ursachen« hervorgingen, also somatisch-biologischen Ursprungs sind, sah er jedoch eine Spezifik des Symptombilds, die er aus der angeblichen Rasseneigentümlichkeit erklärte. An anderer Stelle formuliert er diesen Gedanken einer in der »Rasse« gelegenen Symptomausprägung für die Dementia Praexoc deutlicher: Seine Untersuchungen auf Java hätten gezeigt, die Dementia Praecox könne »nicht auf äußere Ursachen zurückgeführt werden, sondern scheint aus Bedingungen hervorzugehen, die allgemein im menschlichen Organismus gelegen sind.« Nicht die Krankheit an sich sei unterschiedlich, sondern das Krankheitsbild sei »im einzelnen durch die Rasse etwas verändert«.97 Darüber hinaus zeigte sich Kraepelin jedoch noch von einer weiteren Verbindung von »Rasse« und der Ausprägung von Krankheiten überzeugt, die er auch mit der Kultur und der Lebensweise der Javaner in Zusammenhang bringt. Die Ausbeute vergleichender psychiatrischer Untersuchungen, so Kraepelin, läge genau in diesen Einsichten, die man über die »Erkenntnis der psychischen Krankheitserscheinungen« gewinnen könne. Denn die »psychiatrische Kennzeichnung eines Volkes« vermöge das »Verständnis seiner gesamten psychischen Eigenart« zu fördern.98 Die »Eigenart eines Volkes« zeige sich »in seiner Religion und seinen Sitten, in seinen geistigen und künstlerischen Leistungen, in seinen politischen Taten und in seiner geschichtlichen Entwicklung«, also wäre es nur folgerichtig, dass sie sich auch in der »Gestaltung seiner Geistesstörungen« zeige.99 Kraepelin behauptet hier eine Verbindung von Rasse, ihrer Psychopathologie und den kulturellen Errungenschaften. Dabei geht er von innewohnenden Wesensmerkmalen der Javaner aus: Diese Charakteristika, die in ihrem »Wesen« lägen, formten nicht nur die Krankheitsausprägung, sondern auch die Lebenssituation, kulturellen Leistungen und Handlungen. Damit beschreibt Kraepelin einen engen Zusammenhang zwischen rassischbiologisch-pathologischen und kulturellen Eigenarten der Javaner. War Kraepelin dem ursprünglich geäußerten Erkenntnisinteresse seiner Forschungsreise nähergekommen? Er selbst schätzte die Bedeutung der Reise hoch ein, hatte sie ihm doch, wie er in seinen Lebenserinnerungen schrieb, »wichtige neue 96 Ebenda, 437. 97 KRAEPELIN, Psychiatrisches, 883f. 98 KRAEPELIN, Vergleichende Psychiatrie, 437. 99 Ebenda.
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Ergebnisse« im Hinblick auf das »Verständnis von Volksart und Geistesstörung« geliefert.100 Auch griff er das Thema und die Ergebnisse seiner Javareise in den folgenden Jahren häufig in seinen Schriften auf, u. a. in einer ausführlichen Behandlung in der nächsten Ausgabe seines Lehrbuches.101 Auf die in seinem Urlaubsgesuch geäußerten Fragen nach der Bedeutung, die »allgemeine Ursachen«, »Rasse«, Klima oder die Lebensverhältnisse bei der Entstehung psychischer Erkrankungen hätten, ging er in seinen Publikationen über Java jedoch nur zum Teil ein. Es liegt allerdings nahe, dass er die Ergebnisse seiner Reise als Bestätigung seiner Auffassungen ansah. Als äußere Einflussfaktoren pathogener Relevanz hatte er allein den Einfluss von Alkohol sowie die Syphilis bei den Europäern auf Java identifiziert. Dies entsprach seiner Auffassung von der großen Bedeutung beider Faktoren, neben denen andere »äußere Schädigungen« zurücktraten. Die weitgehende Abwesenheit von alkohol- und syphilisbedingten Leiden, die er bei den Javanern diagnostizierte, passte zu seiner Überzeugung, dass das »ursprüngliche« und »naturnahe« Leben der Javaner gesundheitsfördernd sei.102 Die Beobachtung, dass das Spektrum der Krankheiten auf Java sich nicht grundlegend von dem europäischen unterschied, ebenso wie die Tatsache, dass es keine spezifische, nur auf Java vorkommende »Javanische Psychose« gab, konnte er als Beleg für die Universalität der Erkrankungen lesen. Im damaligen Verständnis lag es nahe, dies auch als Beleg für die Endogenität der Erkrankungen zu interpretieren: Gezeigt wurde das Vorkommen bei allen Menschen, was eine anthropologische Grundgegebenheit und damit, nach zeitgenössischer Auffassung, eine biologische Basis nahelegte. Die pathogene Bedeutung der Lebensumstände griff Kraepelin in seinen zwei Publikationen über die Javareise ebenfalls nur indirekt auf, er beschäftigte sich jedoch wie schon erwähnt in anderen Schriften damit. In seinem Lehrbuch ging er auf die Frage »ob der Fortschritt unserer Gesittung tatsächlich mit einer Einbuße an geistiger Gesundheit einhergeht« ausführlicher ein, da es ein Thema war, das »für das Dasein der gesamten Kulturvölker die allergrößte Tragweite besitzt«.103 Für Kraepelin stand die Beantwortung dieser Frage in einem direkten Zusammenhang mit dem Phänomen der »Seltenheit des Irreseins bei den Naturvölkern«. Diese Auffassung sah er wiederum dadurch bestätigt, dass das Verhältnis der Psychiatriepa-
100 KRAEPELIN, Lebenserinnerungen, 132. 101 In seinem Lehrbuch beschäftigte er sich auf 17 Seiten mit dem Thema »Volksart« und, damit argumentativ verbunden, »Klima« sowie mit »Allgemeinen Lebensumständen« KRAEPELIN, Lehrbuch, 8. Auflage, Bd. 1, 152-159; Vgl. zu den Änderungen in den Lehrbuchauflagen auch: BENDICK, Kraepelins Forschungsreise, 57 ,75-77 ,80-92. 102 Er erwähnt ferner auch eine geringere Paralyserate unter »Eingeborenen« im Heer. KRAEPELIN, Vergleichende Psychiatrie, 434. 103 KRAEPELIN, Lehrbuch, 8. Auflage, Bd. 1, 161.
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tienten pro Einwohner »bei uns« das auf Java um das 100-fache übersteige.104 Das Bild vom »gesunden Naturmenschen« war nach wie vor in seinen Publikationen präsent, auch wenn er sich uneindeutig darüber äußerte, was seine Forschungen in Buitenzorg zu dieser Frage ergeben hatten. Seine Forschungsergebnisse auf Java hatten hinsichtlich der Krankheitshäufigkeit zwischen »Eingeborenen« und »Europäern« keine so großen Divergenzen gezeigt, um einen eindeutigeren Schluss nahezulegen. So schrieb er, dass es zwar Hinweise darauf gäbe, dass die »Gefährdung durch psychische Erkrankungen mit steigernder Gesittung zunimmt«, andererseits schienen auch »psychische Epidemien, deren Spielraum sich bei uns seit den Zeiten des Mittelalters doch wesentlich eingeengt hat« bei den »Naturvölkern« häufiger zu sein.105 Schließlich meinte er auch, dass die Beurteilung der Häufigkeit von Geisteskrankheiten in unterschiedlichen Ländern sowie die Klärung der Bedeutung der einzelnen Faktoren schwierig seien unter anderem aufgrund des »Zusammenwirkens einer Reihe von sehr verschiedenartigen Ursachen«.106 Einen Grund für diese Schwierigkeiten sah Kraepelin darin, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der »Eigenart des Volkscharakters« und den »äußeren Lebensbedingungen« gäbe. Wie auch aus der Publikation seiner Javareise ersichtlich, ging er davon aus, dass beide sich gegenseitig bedingten und es daher für die Frage nach dem Einfluss auf die Prävalenz psychischer Erkrankungen keine eindeutige Antwort gab.107 Jedoch sah Kraepelin ein deutlicheres Ergebnis, wenn man sich mit der Ausprägung dieser Erkrankungen beschäftigte. Hier argumentiert er für einen Einfluss von »Rasse«, den er in der unterschiedlichen Formung sowohl der Symptome, und, damit verbunden, aufgrund der angeblich geringeren intellektuellen Fähigkeiten und Leistungen der Javaner sah. Diese Auffassung, wonach Ausprägung und Häufung bestimmter Symptome für »Rassen« spezifisch seien, teilten auch andere rassenpsychiatrische Forscher, wie im Folgenden deutlich werden wird.
5.3 D IFFERENTE S YMPTOME : RASSISCHE UND ANDERE
E RKLÄRUNGEN
Von differenten Symptomen bei den »primitiven Rassen« Die große Mehrheit der rassenpsychiatrischen Forscher war zu ähnlichen Ergebnissen gekommen wie Kraepelin. Auch sie hielten das Krankheitsbild bei außereuro-
104 Ebenda. 105 Ebenda. 106 Ebenda, 153. 107 Ebenda.
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päischen Patienten und Patientinnen generell für weniger ausgeprägt. Besonders Wahnvorstellungen galten als selten, und zudem seien diese bei »primitiven Rassen« weniger komplex. So vermisste ein Autor bei der »schwarzen Rasse« ein »systematisches Gebäude von Wahnideen«, ein anderer befand, dass ihre Größenideen, »nicht so ausgeprägt wie bei Weißen« seien, wieder ein weiterer meinte feststellen, zu können, dass die Geisteskrankheiten »in viel einfacheren Formen verlaufen, sodaß es sich gleichsam nur um rudimentäre Formen« handele.108 Auch die Auffassung, dass das Krankheitsbild die »wahre Natur« der »Rasse« darstelle, wurde im Diskurs von anderen Forschern der Auseinandersetzung um »Rasse« und Psychopathologie geteilt. Die als different wahrgenommenen Symptomausprägungen der einzelnen »Rassen« galten ihnen nicht als Krankheitsäußerungen, sondern als eine Art überspitzte Form rassetypischen Verhaltens: das »Wesen«, die »Eigenart« oder der »Charakter« einer »Rasse« hing demnach mit der von den Autoren beobachteten rassenspezifischen Symptomausprägung zusammen. 109 Fehlende paranoide Zustände konstatierte beispielsweise Révész bei »Syrern«, »Zentralasiaten« und »anderen primitiven Völkern«.110 Zu einem ähnlichen Schluss war Brero bei seinen Untersuchungen der javanischen Bevölkerung gekommen. Er war der Meinung, dass, sofern paranoide Zustände bei Javanern überhaupt aufträten, dies ausschließlich bei Personen der Fall sei, »welche durch die Art ihres Gewerbes einen weiteren Wahrnehmungskreis sich geöffnet haben, wie Soldaten, Concubinen und Bediente bei Europäern«.111 Aber auch hier zeige sich die Psychose different: »das Wahnsystem ist nicht so umfangreich und vielseitig entwickelt, die Beziehungen des Ichs zu Personen und Sachen der Umgebung sind nicht so zahlreich, so ausgebreitet, wie beim Europäer.«112 Bei den Javanern seien die »Wahnvorstellungen spärlich, das Wahnsystem […] so wenig tief, so sparsam verzweigt und so locker eingewurzelt, dass man im gleichen Fall beim Europäer eine heranrückende Dementia vermuthen würde.«113 Ähnliche Beobachtungen vermerkte Urstein über seinen Aufenthalt in Zentralasien:
108 BUSCHAN, Einfluss der Rasse, hier: 143; RÉVÉSZ, Die rassenpsychiatrischen Erfahrungen, 191. DR. WESTHOFF, Die progressive Paralyse - eine Rassekrankheit. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 15/1913, 100 -106, 105. 109 STRANSKY, Lehrbuch der allgemeinen und speziellen Psychiatrie; BRERO, Geisteskrankheiten, 36. LANGE, Über manisch-depressives Irresein. BRERO, Geisteskrankheiten, 36; FRIGYES, Geistes- und Nervenkrankheiten (Diss.). 24f; GUTMANN, Geisteskrankheiten bei den Juden, 103. BURKHARDT, Studie über endogene Psychosen bei Juden. 110 RÉVÉSZ, Die rassenpsychiatrischen Erfahrungen, 192f. 111 BRERO, Geisteskrankheiten, 41. 112 Ebenda. 113 Ebenda, 36.
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»Krankheitsbilder, die mir nicht geläufig waren, habe ich nicht beobachtet. […]Allerdings lassen sich Unterschiede bezüglich der Reichhaltigkeit, der Stärke und dem Grade der Ausbildung sowie der Häufigkeit der Symptomgruppen zweifellos feststellen. Die Zustandsbilder sind im allgemeine dürftig, inhaltsarm; man findet bei den einzelnen Krankheitsformen höchstens einige Symptome, fast nie ganze Komplexe vor. Die Manien verlaufen unproduktiver, Rededrang kommt vor, ist aber selten mit Ideenflucht verbunden. Depressionen sind weniger tief, ohne allzu viel Affekt und überhaupt seltener. Die Stimmung ist nie so trübe niedergeschlagen, hoffnungslos. Über die Hemmung wurde weder subjektiv geklagt, noch konnte ich sie objektiv nachweisen. Untauglichkeitsgefühl, Neigung zu Selbstmord, mikromanische, nihilistische und Versündungsideen sind äussert selten oder fehlen überhaupt. Bei der Dementia Praecox begegnete man den katatonischen Symptomenkomplexen viel seltener. Auch hier reichte das Krankheitsbild niemals jene Stärke, wie wir sie bei unseren Patienten zu sehen gewohnt sind. Der Inhalt dessen, was vorgebracht wurde, war plump, öde leer. Physikalischen Wahn, Gedankenlautwerden, Willensbeeinflussung habe ich vermisst. Stupor, Negativismus, Stereotypien, Impulsivität oft beobachtet. Halluzinationen und Verfolgungsideen kamen vor, allein die Kranken verhielten sich ihnen gegenüber ganz gleichgültig. Die Endzustände manifestierten sich durch stumpfe, faselige Verblödung«.114
Brero verband darüber hinaus den Mangel an Symptomausprägung mit einem Übermaß an Bewegungen. In seinem Beitrag für das Handbuch der Tropenkrankheiten behauptete er, dass dem wenig ausgeprägten Krankheitsbild seiner javanischen Patienten und Patientinnen »eine große Ausbreitung und starke Entwicklung der animalen Funktionen« gegenüberstünde: »Das letzte Glied der psychischen Dreieinigkeit ›Empfindung, Association und Handlung‹ tritt besonders in den Vordergrund. Sind physiologisch schon in einem Gespräch mit einem Inländer Hand- und Kopfbewegungen oder andere Andeutungen beinahe unvermeidliche Beimischungen, viel stärker noch treten diese Bewegungen bei pathologischen Fällen auf«.115
Révész schreibt, dass für das Latah bei den Malaien die »hohe Suggestibilität« verantwortlich sei, die von dem »labilen Seelenleben und dem schwach entwickelten Charakter der Malaien« herrühre: eine Schwächung des Willens sei daran schuld, dass sie auf der »Entwicklungsstufe des Kindes oder des Naturmenschen stehen«. Daher seien Kranke nicht imstande, die »Äußerung von Bewegungen und Wörtern, welche sie selbst nicht zu äußern wünschen, zu verhindern«.116 Den Grund für diese Willensschwäche erläutert Brero: das »labile Nervenleben, welches diesem Volke eigen« sei, sei »von sehr überwiegendem Einfluss«. Zwar spiele die »Unmündig114 URSTEIN, Ein Beitrag zur vergleichenden Psychiatrie, 630f. 115 BRERO, Geisteskrankheiten, 36. 116 RÉVÉSZ, Rassen und Geisteskrankheiten, 183.
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keit« in welcher die »Eingeborenen« leben müssten und die sie davon abhielten, dass »sie sich nie zu einem selbstständig denkenden und handelnden Volke« entwickeln könnten, ebenfalls eine Rolle. Dennoch könnten »beide Factoren, welche ineinandergreifen, als Ursachen der gebrechlichen Bildung des Ichs, des Willens angemerkt werden.«117 An anderer Stelle wird er deutlicher: Resultat der Willensschwäche der Malaien sei die »Inferiorität, welche in erster Linie eine natürliche, eine angeborene ist, und welche ohne Zweifel der Grund war, daß sie so leicht von eigenen und fremden Herrschern unterworfen wurden und blieben.«118 In Symptomen und Krankheitsverläufen fanden die Autoren weitere angeblich rassendifferente Zeichen der Krankheiten. Bei den als unzivilisiert geltenden »Rassen« stellten sie die Erregungszustände besonders hervor, so dass die Patienten und Patientinnen als impulsiv, gewalttätig und unkontrolliert erschienen. Dies passte zur Diagnose, manische Zustände seien bei diesen »Rassen« generell häufiger anzutreffen, wohingegen die Melancholie selten sei. So schrieb beispielsweise Da Rocha, dass bei Afro-Brasilianern »Manie häufig vorkommt«, Buschan urteilte, dass »beim Culturneger« – damit meinte er die afrostämmige Bevölkerung Nordamerikas – »nach statistischen Erfahrungen die Manie unter den psychischen Alterationen die erste Stelle« einnehme und auch bei Arabern hielt man die Manie für häufiger als andere Krankheiten.119 Ferner sei der »niedrige Geisteszustand« Ursache häufiger »Raserei« bei psychisch Erkrankten der »farbigen Rasse«, und bei Arabern sei eine »Neigung zur Gewalttätigkeit« während der Krankheit zu beobachten.120 Auch einige mongolische Stämme zeigten »eine erhöhte Anlage zu Wutanfällen« und generell sei bei der »gelben Rasse« eine »Neigung zu Exaltationszuständen« zu beobachten.121 Brero versuchte durch eine Statistik nachzuweisen, dass die »inländischen« und »chinesischen« Anstaltsbewohner häufiger fremdgefährdend gewalttätig gewesen seien als die Europäer und Indoeuropäer: knapp 10% der »Inländer« und »Chinesen« standen in seiner Statistik nur etwas über ein Prozent der Europäer und Indoeuropäer gegenüber.122 An anderer Stelle schrieb er diese angeblich leichtere Erregbarkeit 117 BRERO, Latah, 945. 118 PIETER C.J. VAN BRERO, Die Nerven- und Geisteskrankheiten in den Tropen. In: Carl Mense (Hg.), Handbuch der Tropenkrankheiten, Leipzig 1905/1906, 210-235, 217. 119 BUSCHAN, Einfluss der Rasse, 142; LOMER, Beziehungen, 34; ROCHA, Bemerkungen.. 120 DÄUBLER, Grundzüge der Tropenhygiene, 363. LOMER, Beziehungen, 34. BUSCHAN, Einfluss der Rasse, 142. 121 LOMER, Beziehungen, 36, BUSCHAN, Einfluss der Rasse, 142. 122 Diese zehn Prozent gewalttätiges Verhalten – »Mord oder ernstliche Verwundung« – zählte er bei der javanischen Bevölkerungsgruppe und den Angehörigen der chinesischen Minderheit auf Java. Getrennt davon fasste er Europäer und Indoeuropäer (damit waren javanisch-europäische Patienten und Patientinnen gemeint) zusammen, bei denen die
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des Tropenmenschen einem »abnorm erregbaren Nervenleben« zu, »welches in mancher Beziehung die Merkmale einer psychopathischen Minderwerthigkeit« annähme.123 Auch ein ehemaliger Kolonialarzt, der in Tsingtau seinen Dienst getan hatte, schrieb, dass selbst wenn es bei einem Chinesen ja eigentlich »ganz charakteristisch« sei, seine Gefühle zu verbergen, es merkwürdig sei, dass dieser »bei manchem Anlässen, wo uns das ganz unerwartet erscheint, oft in einer Weise reagiert, die wir als typisch hysterisch bezeichnen würden. Es ist mir öfters aufgefallen, wie Chinesen, und zwar wohlgemerkt Männer, bei kleinen Unfällen auf der Strasse mit den prachtvollsten hysterischen Symptomen reagierten«.124
Ein starker Sexualtrieb war eine weitere Variante rassenspezifischer Symptomdarstellungen. Das ausführliche Referat des französischen Aufsatzes L’aliénation chez les Arabes. Étude de nosologie comparée in der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie präsentierte arabische Erkrankte nicht nur als besonders unbeherrscht und gewalttätig, sondern auch als stark sexualbetont. So ist dort zu lesen: »Auch der gesunde Eingeborene ist geschlechtlich erregt, neigt zu geschlechtlichen Excessen. Ebenso der geisteskranke. Unter den 83 Kranken fanden sich 18 Päderasten […], 16 Onanisten, 8 Exhibitionisten. – Die Päderastie ist vom Koran wiederholt verboten und doch ist eine starke Neigung dazu vorhanden. Den Exhibitionismus schiebt Verf. nicht auf Degeneration, sondern auf Intoxikation mit Kiff (einem Alkohol)«.125
Der Rezensent betonte besonders die gewalttätigen und sexualisierten Verhaltensweisen der Erkrankten: Bei den arabischen Manikern fielen »aggressive neben den impulsiven Handlungen« auf: »Der Kranke ist fast immer gefährlich. Oft finden sich Grössenideen, geschlechtliche Erregungen, religiöse Wahnideen.«126 »Toxische Geistesstörungen« bei Arabern führten angeblich zu »geschlechtlichem Erethismus* mit Tendenz zu obscönen und impulsiven Handlungen«.127 Einer der Fälle Gewalttätigen eher selbstgefährdend (»Selbstverwundung oder Versuch zum Selbstmord«) gewesen seien. BRERO, Geisteskrankheiten, 33f. 123 BRERO, Nerven- und Geisteskrankheiten (1914). 703. 124 WALTHER FISCHER, Einfluß der Rasse in der Pathologie. In: Beihefte zum Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene 1/1929, 88-99, 91. 125 Rezension von Meilhon, L'alienation chez les Arabes. In: Bericht über die psychiatrische Literatur. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 52/1896, 239*-249*, 247*. Wahrscheinlich kannte der Rezensent den Ausdruck »Kiff« nicht und hielt es daher für Alkohol. 126 Ebenda, 244*. *
Reizbarkeit, gesteigerte Erregbarkeit
127 Rezension Meilhon, 247*.
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unter den Haschischkonsumenten habe »wollüstige Hallucinationen« gehabt, er sei »nach Belieben zum 7. Himmel empor[gestiegen], zeigte grosse Heiterkeit mit Geilheit, hatte sich vor der Aufnahme nackt auf öffentlicher Strasse umhergetrieben.« Ein anderer Patient mit der Diagnose »Idiotie, Imbecillität«, »hat fast kein Zeichen von Intelligenz, äussert geschlechtliche Erregung, umarmt auf der Strasse nackt Frauen (weshalb Verf. Verdacht auf Kiff hat), in der Anstalt Onanie, Sodomie.«128 Auch unter den Epileptikern wurden »wieder Aufregungszustände mit den grössten Thätlichkeiten« festgestellt, Reizbarkeit, Aggressivität »bis zu Wuthanfällen«.129 Bei einem Erkrankten hätten die epileptischen Anfälle »angeblich in Folge Onanie« zugenommen.130 Weitere Publikationen betonten besonders den Fatalismus und die Trägheit der erkrankten Araber. Martin Pappenheim und Victor Kraus, 1917 Regimentsärzte im Reservespital im ostböhmischen Pardubitz, kamen in ihrer neurologischen Studie über die »Kriegsneurosen bei türkischen Soldaten« zu einem widersprüchlichen Bild des »Orientalen«.131 Unter den 6000 in ihrem Lazarett aufgenommenen türkischen Soldaten von der ostgalizischen Front fanden sich nur 14 neurologische Fälle. Auch wenn diese Zahlen für eine »statistische Verwertung zu klein« seien, so die Autoren, gäbe es »eine anscheinend auffällig geringe Prozentzahl von Neurosen bei den türkischen Mohammedanern.«132 Auffällig erschien ihnen, dass sich unter den türkischen Soldaten keine der sonst so häufig diagnostizierten »Kriegszitterer« befanden: Es fehlten durchweg »Schütteltremores, Myotonoclonia trepidans∗ und dergl. unter dem – allerdings kleinen – Materiale.«133 Pappenheim und Kraus schrieben den Grund dafür »gewissen Unterschieden des Temperamentes und der Weltanschauung« zu: »Man spricht ja dem Türken ein gewisses Phlegma und eine fatalistische Lebensauffassung zu. Man wird aber zu ihrer Erklärung wohl in erster Linie die Annahme heranziehen dürfen, daß dem weniger kultivierten Orientalen die Neigung zu theatralischen Erscheinungsformen seines Leidens in verhältnismäßig geringerem Grade eignet. Die Kultur des Westens, die neben allen Fortschritten auch viel des Unwahren und Marktschreierischen an den Tag bringt, scheint auch in der Neurose das In-die-Augen-Springende, Effekthaschende zu fördern«. 134 128 Ebenda, 249*. 129 Ebenda. 130 Ebenda. 131 PAPPENHEIM und KRAUS, Über Kriegsneurosen. 132 Rein psychische Störungen oder vasomotorische Störungen wurden ausgeschlossen. *
Tremor = Zittern, Myotonoclonia trepidans = wörtlich: zitternder Muskelkrampf, typisches Symptom der sog. Kriegszitterer
133 PAPPENHEIM und KRAUS, Über Kriegsneurosen, 312. 134 Ebenda.
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Die Betrachtung von körperlichen Symptomen als rassetypisch, in diesem Fall das Fehlen des Kriegszittern, ist ein seltener Befund. Noch ein weiterer Autor meinte, eine typisch »türkische Knieknickung« bei einem Patienten beobachtet zu haben,135 ansonsten stehen Reflexreaktionen, Katatonien, motorische Störungen und Sprachstörungen nicht im Vordergrund rassenspezifischer Zuschreibungen. Das ist insofern bemerkenswert, da körperliche Symptome eine »harte« Argumentation hinsichtlich der biologischen Grundlage der Erkrankungen und ihrer Spezifik ermöglicht hätten. Dies hielt die Autoren im Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie jedoch nicht davon ab, körperliche Symptome zum Teil sehr detailliert zu benennen und zu beschreiben. So sind beispielsweise bei der Progressiven Paralyse Körpersymptome und -befunde durchweg ein Thema.136 Auch die Syphilisinfektion (und in den 20er Jahren verstärkt das Ergebnis der Wassermann-Reaktion) führten die Wissenschaftler auf.137 Allein in der Publikation von Pappenheim und Kraus wird jedoch ein körperliches Symptom, bzw. die Abwesenheit desselben, als typisch für die untersuchte Bevölkerungsgruppe bewertet. Auch wenn die »weniger kultivierten« Türken mit dem Befund, sie seien weniger »theatralisch« und in der Art und Weise ihrer Krankheitsäußerungen beherrschter, positiver als die westeuropäischen Erkrankten erscheinen, transportieren Pappenheim und Kraus eine stereotype Zuschreibung des »Orientalen« als phlegmatisch und schicksalsergeben. Die kulturpessimistischen Aussagen über die »Kultur des Westens« relativieren diese Behauptung nicht völlig, auch wenn die »Orientalen« hier in einem etwas positiveren Licht erscheinen als bei anderen Autoren. Eindeutiger dagegen äußert sich z. B. Rüdin über die »Araber« und »Kabylen« in seinem Aufsatz über die Paralyse in Marokko:
135 Die Argumentation ist hier allerdings umgedreht: Nicht die untersuchte Gruppe hat rassenspezifische Symptome, sondern der beobachtete Patient hat angeblich Symptome, die bei »manchen orientalischen Völkern, z. B. bei den Arabern, insbesondere bei den Türken« typisch seien und auch »verhältnismäßig oft, bei Geisteskranken« vorkämen: »[E]ine morphologische Eigentümlichkeit«, die »in einer leichten Knieknickung« besteht. JOHAN SUSMAN GALANT, Über rassenmorphologische Eigentümlichkeit und über ihr Vorkommen bei Geisteskranken. In: Anatomischer Anzeiger 69/1930, 358-362, 359. 136 Eine ausführliche Thematisierung der körperlichen Symptomatiken von Paralytikern findet sich beispielsweise bei BRERO, Geisteskrankheiten, 571. 137 BURKHARDT, Studie über endogene Psychosen bei Juden; MOSES JULIUS GUTMANN, Die Paralysefrage bei den Juden. (Ein Beitrag zur vergleichenden Psychiatrie). In: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 16/1924, 67-84; MAXIMILIAN PFISTER, Die syphilidogenen Erkrankungen des Nervensystems in China. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 103/1926, 455-486; PLAUT, Paralysestudien.
240 | P SYCHOPATHOLOGIE UND »RASSE « »Die genannten Formen der Geistesstörungen bieten in ihrer Symptomatologie nichts Abweichendes von denen der weißen Bevölkerung. Nur macht sich beim hebephrenen oder sonst wie chronisch geistesgestörten Araber und Kabylen noch mehr wie anderswo der grenzenlos fatalistische Hang zur Faulheit und Schmutz geltend, und es hat, da Arbeitstherapie nicht eingeführt ist, die pathologische Neigung zu Tics, Manieren, Haltungs- und BewegungsStereotypien, negativistischen Zuständen usw. hier zu den schönsten Kunstblüten geführt, wie man sie selbst in einer alten, schlecht geleiteten Irrenanstalt schöner kaum sehen dürfte. Schließlich sind die geringe Einschätzung des menschlichen Einzellebens, die misstrauische Haltung gegenüber dem Rumi [hier: Christen, d. Verf.] und speziell dem Franzosen, die Sucht zu lügen und zu stehlen, der meditative Zug im ganzen Verhalten Rassenmerkmale, welche auch den Kranken ihren besonderen Stempel aufdrücken«.138
Bei Rüdin wird explizit, was bei anderen bereits angeklungen ist: die moralische Minderwertigkeit der als unzivilisiert geltenden »Rassen«. Auf die Spitze getrieben wurde diese Argumentation von Hans Gudden, Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik und außerordentlicher Professor für Psychiatrie in München. Gudden wollte in seinem 1908 im Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten erschienenen Aufsatz den Beleg dafür erbringen, dass die »moral insanity«139 ein angeborener Zustand sei, ähnlich dem »geborenen Verbrecher« von Cesare Lombroso. Dafür schlug er einen Vergleich zwischen »moralisch Schwachsinnigen« und »Negern« vor. Als Beispiel für die »Fähigkeiten, Sitten und Gebräuche aller tiefstehenden Völkerrassen« genüge es, »wenn wir allein die Negerrassen herausgreifen«.140 Der »natürliche« Geisteszustand der »Neger« sei tiefstehend, also mit der Regression eines »moralisch Schwachsinnigen« vergleichbar. Wenn also die Wesenszüge von »Negern« denen der »moralisch Schwachsinnigen« entsprächen, wäre der Beweis erbracht, dass »moral insanity« eine angeborene Krankheit sei, so Gudden. Unter Zuhilfenahme von Karl Oetkers Publikation »Über die Negerseele« beschrieb er die angeblich typischen Eigenschaften »des Negers«:141 Dabei stellte er insbesondere zwei Eigenschaften der »Negerpsyche« heraus: die »ausgesprochene Beeinflussbarkeit« sowie das »prompte Abreagiren (sic) aller Affecte; sobald und soweit diese 138 RÜDIN, Paralysefrage, 699f. 139 James Cowles Prichard (1786-1848) prägte den Krankheitszustand der moral insanity, der in seiner Definition durch einen Mangel an moralischen Charaktereigenschaften wie Ehrgefühl, Reue oder Gewissen gekennzeichnet war. Die moral insanity bestand als eigenständige, wenn auch heftig diskutierte Diagnose bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Moral Insanity. In: Uwe Henrik Peters (Hg.), Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie, München; Wien 1984, 357, 357. 140 HANS GUDDEN, Das Wesen des moralischen Schwachsinns. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 44/1908, 376-389, 380. 141 Ebenda.
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in Erscheinung treten.«142 Der »natürliche Zustand« des »Negers« würde bei Europäern wohl als »psychisch minderwerthig« gelten, denn »Zuneigung, Dankbarkeit, Mitleiden, Ehrfurcht und welche sonstigen zu den ethischen Seelencomponenten gehörigen Eigenschaften des Culturmenschen man noch nennen könnte, kennt der Neger nicht oder aber sie sind in so kümmerlichen Ansätzen vorhanden, dass sie gar nicht in Betracht kommen«.143
Ferner neige der »Neger« zu »Confabulation und zur Lüge«: Gudden hielt ihn zwar nicht hinsichtlich der intellektuellen Fähigkeiten für minderwertig, wohl aber hinsichtlich der moralischen: Zu einer »höheren Culturstufe« lasse sich »der Neger« nicht erziehen.144 Welches Bild wurde von den »Naturvölkern« durch die Zuschreibung einer rassenspezifischen Symptomatik gezeichnet? Es wird deutlich, dass in die Symptombeschreibungen herrschende Vorurteile über diese »Rassen« mit einflossen: die »Naturvölker« wurden als leicht erregbar, impulsiv, gewalttätig, mit geringerer Moral und in ihren Symptomen als weniger komplex dargestellt, das Bild »des Orientalen« entsprach ebenfalls klassischen Klischees, dass dieser faul und schicksalsergeben sei. Die Symptome und ihre spezifischen Ausprägungsformen sind im Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie der Ort, an dem rassische Differenz am deutlichsten festgemacht wird: Die Symptome erscheinen in Form der überblickhaften, summarischen Erfassung als Kollektivsymptome der einzelnen »Rassen«. Dieser Befund wird dadurch gestützt, dass Forscher die wahrgenommene Spezifik in der Symptomatik nicht nur als typisch für diese Gruppe beschrieben, sondern als rassisch definierten. Damit waren die Symptome keine Folgen der Erkrankungen, sondern nur ein Extrem dessen, was dem »Wesen« oder der »Natur« nach den Eigenschaften und dem Verhalten dieser »Rasse« entsprach. Im Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie galten die beschriebenen Symptomatiken der Menschen des »Orients«, Asiens und Afrikas als rassetypisch. So zogen die rassenpsychiatrischen Forscher die angebliche intellektuelle Minderwertigkeit der »unzivilisierten Rassen« heran, um das Krankheitsbild, das sich für sie als weniger weit entwickelt, abgeflacht und simpler darstellte, zu erklären. Die Darstellungen spiegelten generelle Auffassungen wider, die Europäer vom außereuropäischen »Anderen« hatten. Die »primitiven Rassen« erschienen als leicht zu beeinflussen, willensschwach, unkontrolliert und gewalttätig, triebhaft, faul, fatalistisch und moralisch minderwertig. Damit zeichnen die Symptomschilderungen ein AntiBild zu den zeitgenössischen Leitvorstellungen des Bürgertums, was gesellschaft142 Ebenda. 143 Ebenda, 380f. 144 Ebenda, 381, 383.
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lich akzeptierte Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften betraf. Vernunft, Selbstbeherrschung, Willensstärke und Durchsetzungsvermögen entsprachen dabei nicht nur den Eigenschaften, die einen weißen Bürger auszeichnen sollten, sondern vor allem auch den Vorstellungen von idealer Männlichkeit. Differenzdiagnosen bei Juden Demgegenüber zeigten Publikationen, die sich mit psychischen Erkrankungen bei Juden beschäftigten, neben Unterschieden durchaus Gemeinsamkeiten der Juden mit »Naturvölkern« auf. So wurde auch bei Juden eine Spezifik der Symptome angenommen. Während die Krankheitsbilder der »Naturvölker« allerdings als simpel und einförmig wahrgenommen wurden, waren den Ärzten die Symptome bei jüdischen Patienten und Patientinnen zu uneindeutig und verschwommen: Nach Ansicht vieler Zeitgenossen war das Typische an der Symptomatik der Juden, dass sie so atypisch war. Die Forscher berichteten auffallend häufig (und über den gesamten in der vorliegenden Arbeit untersuchten Zeitraum hinweg) über »Mischzustände«, Symptome, die nicht zu den gestellten Diagnosen »passten«, sowie über »atypische Krankheitsbilder« bei Juden.145 So äußerte sich Pilcz in der ersten Publikation über Geistesstörungen bei den Juden aus dem Jahr 1901 noch vorsichtig. Man wisse noch nicht genau, ob bei den Juden »sogenannte atypische Fälle […] häufiger zur Beobachtung kommen […]. Ich meine, dass wir in der Symptomatologie der Psychiatrie heute noch zu wenig vorgeschritten sind, nun an die Frage von typischen und atypischen Fällen herantreten zu können.«146
Fünf Jahre später war er bereits überzeugt davon, dass
145 FRIGYES, Geistes- und Nervenkrankheiten (Diss.). 30; GUTMANN, Rassen- und Krankheitsfrage, 45; OPPENHEIM, Psychopathologie, 9; PILCZ, Beitrag (1906), 15; PILCZ, Beitrag (1919/1920), hier: 182; MAX SICHEL, Die Geistesstörungen bei den Juden. In: Umschau, Wochenschrift für Fortschritte in Wissenschaft und Technik 12/1908, 507-509, 365; SICHEL, Geistesstörungen bei den Juden, 45; URSTEIN, Ein Beitrag zur vergleichenden Psychiatrie, 363f. BURKHARDT, Studie über endogene Psychosen bei Juden, 750; HANS GÜNTHER, Rassenkunde des jüdischen Volkes, München 1930, 271f; GUTMANN, Geisteskrankheiten bei den Juden, 108; LANGE, Über manisch-depressives Irresein, 1358. OTTO BINSWANGER, Betrachtungen über Volksart, Rasse und Psychose im Thüringer Lande. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 74/1925, 218-240, 218; PILCZ, Beitrag (1906), 15. 146 PILCZ, Geistesstörungen (1901), 909.
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»bei den Juden viel häufiger durchaus atypische Bilder vorkommen, die in keine der bekannten Formen sich einreihen wollen, die jeder sicheren Prognose spotten, welche die bunteste Kombination degenerativer Züge bei erworbenen ›exogenen‹ Geistesstörungen darbieten, u.s.w«.147
Dieser Befund Pilcz’ hielt sich in den folgenden Dekaden im Diskurs und wurde vielfach von anderen Autoren aufgegriffen.148 Jüdischen Patienten und Patientinnen wurden noch weitere rassenspezifische Symptome zugeschrieben: einer weit verbreiteten Meinung zufolge quengelten und nörgelten, sie besonders häufig und zeigten hypochondrische Züge.149 Ein »eigentümlich räsonierender Zug« träte »ungemein häufig« in der Symptomatologie der psychischen Erkrankungen bei Juden zutage, so ein weiterer Autor.150 Wieder ein anderer diagnostizierte gleich eine »Quängelsucht«, die »von allen Beschreibern jüdischer Psychosen vermerkt worden« sei. Diese äußere sich bei Gebildeteren als überzogene Selbstreflektion oder Hypochondrie.151 Dass Juden häufiger als andere unter Hypochondrie litten oder ihre Krankheitsbilder hypochondrische Züge aufwiesen, stellte überhaupt eine weit verbreitete Ansicht unter den Diskursakteuren dar. So liest man in den Quellen von der »enormen Bedeutung hypochondrischer Vorstellungen«152 oder von den »besonders häufigen Bildern von hypochondrischer Färbung«. 153 Oppenheim schrieb von der »Nosophobie« russischer Juden, die eine so starke Angst davor hätten, krank zu werden, dass man ihre häufigen Besuche verschiedener Ärzte schon als »Ärztesucht« bezeichnen könne. Auch er sah »Mischformen« zwischen organischen Nervenkrankheiten und funktionellen Nervenleiden häufiger bei russischen Juden.154 Das Bild der jüdischen Kranken als Hypochonder und Nörgler war nicht unproblematisch. Zunächst konnten atypische Krankheitsbilder eine größere Bedrohung für die Macht psychiatrischen Wissens bedeuten, denn sie erschwerten die Diagnose, verhinderten Eindeutigkeit und führten damit zu einer größeren Unsicherheit in Bezug auf Therapie und Prognose. Darüber hinaus ließen sich diese Charakterisierungen aber in anderen Diskussionen der Zeit durchaus instrumentalisieren. So konnte die Beschreibung von Juden als stets unzufrieden, vorwurfsvoll 147 PILCZ, Beitrag (1906), 31. 148 COHN, Nervenkrankheiten, 75; GUTMANN, Rassen- und Krankheitsfrage, 45; NUSSBAUM,
Über die Geisteskrankheiten bei den Juden, 7; OPPENHEIM, Psychopathologie, 9.
149 LANGE, Über manisch-depressives Irresein, 1358. 150 SICHEL, Über Geistesstörungen, 366. 151 BURKHARDT, Studie über endogene Psychosen bei Juden, 764. 152 LANGE, Über manisch-depressives Irresein, 1358. 153 SICHEL, Über Geistesstörungen, 366. 154 OPPENHEIM, Psychopathologie, 9.
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und ängstlich um sich selbst besorgt als Bestätigung des Stereotyps des feigen, lamentierenden Juden gelesen werden. Die Diagnose der Atypik und Mischformen weckte ähnliche Assoziationen. So wurde eine Vorstellung evoziert, etwas an Juden entspräche nicht »dem Normalen«, dem Üblichen, etwas sei nicht klar zuzuordnen, sei ambivalent, gehöre zu keiner Kategorie. Diese Vorstellung spielte in den zeitgenössischen politischen Diskurs hinein, denn dort lautete der Vorwurf, Juden seien zu fremd und zu uneindeutig, um Teil des nationalen Kollektivs sein zu können.155 Diese Uneindeutigkeit konnte auch als Hinweis gelesen werden, dass Juden etwas verbargen, hinterhältig und heimtückisch seien. Das Narrativ der Mischung besaß eine weitere Bedeutung in der biowissenschaftlichen Debatte, die sich unter anderem mit der Frage beschäftigte, ob Juden eine – potentiell minderwertige – »Mischrasse« darstellten.156 Diese Art von Beschreibungen spezifischer Symptome bei Juden war quantitativ gesehen um einiges seltener als in jenen Veröffentlichungen, in denen es um außereuropäische »Rassen« ging. Die Autoren, die über psychische Erkrankungen bei Juden schrieben, fanden die Frage nach der Krankheitsprävalenz und deren Begründung offensichtlich schwerwiegender oder von größerer Bedeutung und thematisierten sie häufiger als eine etwaige typische Symptomausprägung.157 Eine Ausnahme bei den Publikationen über Juden bilden die Aufsätze von Johannes Lange und Hans Burkhardt, die 1921 und 1931 erschienen.158 In beiden ist der Zugriff auf antisemitische Stereotype sehr viel explizierter als in den bislang beschriebenen Aufsätzen. Lange war Mitarbeiter Kraepelins an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München und Hans Burkhardt arbeitete zu dieser Zeit als Assistent Wilhelm Weygandts in der psychiatrischen Anstalt Friedrichsberg in Hamburg. Beide versuchten sich an einer Deutung des Phänomens der »Mischbilder« bei den Juden und griffen die Argumentation auf, die in den rassenpsychiatrischen Schriften über außereuropäische »Rassen« die vorherrschende war: dass das Wesen der »jüdischen Rasse« die Ursache für die differente Symptomatologie sei.
155 Ebenda, 32. 156 LIPPHARDT, Biologie der Juden, 74-88. Siehe dazu auch weiter unten. 157 Dazu siehe auch Kapitel 5. 158 Burkhardt veröffentlichte in den Jahren 1932-36 noch weitere rassenpsychiatrische Aufsätze, u. a. in der eher an ein nichtwissenschaftliches Publikum gerichteten Zeitschrift Volk und Rasse, HANS BURKHARDT, Rassenforschung und Psychiatrie. In: Volk und Rasse 7/1932, 4-8; HANS BURKHARDT, Endogene Psychosen bei der nordischen Rasse. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 153/1935, 165-181; HANS BURKHARDT, Psychiatrische Beiträge zur Rassenseelenkunde. In: Volk und Rasse 7/1936, 85-103.
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In seiner Studie Über das manisch-depressive Irresein bei den Juden aus dem Jahr 1921 behauptete Johannes Lange neben den erwähnten atypischen Symptomen weitere Merkmale in den Krankheitsbildern von Juden beobachtet zu haben, die sich von denen von Nichtjuden unterschieden. Selbstvorwürfe seien bei Juden häufiger, Ängste vor Verarmung seien gegenüber den bei Nichtjuden häufigen »Versündigungsideen« vorherrschend, ferner seien »hysterische Beimengungen« im Krankheitsbild zahlreicher, eine Differenzialdiagnose werde dadurch erschwert.159 Die atypischen Symptome bei Juden erklärte er aus dem Vorhandensein unterschiedlicher Erbanlagen: Bei Juden seien schon seit Generationen Geisteskrankheiten verbreitet, die unterschiedlichen Formen verschiedener Krankheiten hätten sich vermischt, vererbt und dann zu den uneindeutigen Krankheitsbildern geführt.160 Lange rekurrierte mit dieser Erklärung auf im Diskurs präsente Vorstellungen über die »rassische Beschaffenheit« der Juden. Erstens griff er die These von der überdurchschnittlichen Häufigkeit der Geisteskrankheiten bei den Juden auf. Zweitens vermengte er diese These mit der Vorstellung einer fortschreitenden Degeneration der Juden. Darüber hinaus knüpfte er drittens an die Behauptung an, die Juden seien eine »unreine Mischrasse«, deren zu unterschiedlichen Erbanlagen negative gesundheitliche Implikationen besäßen. Er griff damit auf eine biowissenschaftliche Position über »Rassenmischung« und »Bastardisierung« zurück, wonach die Vermischung unterschiedlicher »Rassen« zur Inkompatibilität der Erbanlagen und letztlich zur Degeneration führe.161 Den Schlüssel zum Verständnis der Andersartigkeit der Juden sah Johannes Lange in deren »typischen« Wesen: Man müsse das verschiedenartige Krankheitsverhalten der psychisch kranken Juden mit den »normalen Wesenseigentümlichkeiten dieses Volkes« in Beziehung setzen, um die abweichenden Krankheitsbilder verstehen zu können:162 »So wird man bei dem Vorwiegen hypochondrischer Klagen an die bekannte Arztbedürftigkeit und Aengstlichkeit der Juden, vielleicht auch an ihre mangelnde körperliche Ertüchtigung denken. Das Vorherrschen der Verarmungsideen liesse sich im Sinne der charakteristischen Einstellung auf materiellen Gewinn deuten. Bei dem Fehlen religiöser Verfehlungsvorstellungen wird man sich der Eigenart der jüdischen Religion und der daraus wohl begreiflichen Tatsache des ›entweder orthodox oder ganz indifferent‹ (dies trifft auf die meisten meiner Kranken zu) erinnern. Die Eintönigkeit der Krankheitsbilder könnte auf dem oft hervorgehobenen Phantasiemangel beruhen, das so häufige Nörgeln und Querulieren mit der unbestreitbaren vorwiegend kritischen Einstellung der Juden allen Problemen gegenüber zusam159 LANGE, Über manisch-depressives Irresein, 1358. 160 Ebenda. 161 LIPPHARDT, Biologie der Juden, 102-113. 162 LANGE, Über manisch-depressives Irresein, 1359.
246 | P SYCHOPATHOLOGIE UND »RASSE « menhängen. Vielleicht kann man auch bei den übertriebenen Ausdrucksbewegungen und bei der Häufigkeit schwerer Erregungen an die normale Agilität und Lebhaftigkeit in den pantomimischen Bewegungen erinnern. Von der Vorliebe fürs Extreme wurde schon gesprochen«.163
Ähnlich argumentiert Burkhardt in seiner Studie über endogene Psychosen bei Juden aus dem Jahr 1931.164 Burkhardts Aufsatz ist einer der wenigen, in denen überblickshafte Fallbeschreibungen vorkommen. Bei 45 von 55 der Beschriebenen handelt es sich um Frauen, eine Tatsache, die vom Autor weder explizit gemacht noch kommentiert wird.165 Das Symptomenspektrum, welches Burkhardt benennt, umfasst größtenteils die bereits als typisch für Juden markierten Phänomene. Hypochondrie, Selbstkritik, Unruhe und Unzufriedenheit, herrisches, lärmendes und theatralisches Verhalten ziehen sich durch die Falldarstellungen der Patienten und Patientinnen, die er den Diagnosen »manisch-depressives Irresein«, Depression und Schizophrenie zuordnet. Sieben Fälle seien »diagnostisch schwer einzuordnen« bei ihnen seien »die atypischen Züge […] noch ausgeprägter«. Gerade bei diesen atypischen Fällen findet er diese Symptome besonders interessant, weil die »für jüdische Psychosen charakteristischen Züge hier am deutlichsten herauskommen.«166 Bei einer Patientin, die er als schizophren diagnostiziert, vermisst er das »Hauptsymptom der Schizophrenie […], die Entfremdung und den kühlen Autismus.« Stattdessen zeige sie »noch heute eine gewisse Wärme und Lebendigkeit in ihren ruhigen und einen saftig-temperamentvollen Affekt in den erregten Zeiten. Viele Einzelzüge, die wir bei 163 Ebenda, 1358. 164 BURKHARDT, Studie über endogene Psychosen bei Juden, 739. 165 Die Fallbeschreibungen beinhalten eine »vergeschlechtlichte« Perspektive auf die Patientinnen und Patienten. Bei den Männern ist der berufliche Erfolg oder die Erwerbslaufbahn bedeutsam, während bei Frauen, die die Mehrheit bilden, die Lust an der Hausarbeit, die Abneigung gegenüber dem Ehemann oder den Verwandten benannt wird. Sehr auffällig ist, dass bei mehreren Frauen eine Gesichts- oder verstärkte Körperbehaarung (z. B. »ausgeprägte linea alba«) erwähnt wird, da andere körperliche Merkmale in der Beschreibung so gut wie keine Rolle spielen. Es ist wahrscheinlich, dass dies als geschlechtsatypisch gelesen wurde und daher aufgenommen wurde. Ebenfalls könnte es sein, dass es Burkhardt auffiel, weil dem Klischee von der »vermännlichten Jüdin« entsprach. S. JEANETTE JAKUBOWSKI, Vierzehntes Bild: »Die Jüdin«. Darstellungen in deutschen antisemitischen Schriften von 1700 bis zum Nationalsozialismus. In: Julius H. Schoeps und Joachim Schlör (Hg.), Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, Augsburg 1999, 196-209. 166 BURKHARDT, Studie über endogene Psychosen bei Juden, 739.
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schon bei anderen Fällen herausgestellt haben, zeigt die Kranke [...]: Flüchtige paranoide Züge, Einstellung gegen den Ehemann, Quängelsucht, Unruhe.«167
Burkhardt schrieb, die Atypik der Diagnosen sei am besten mit der Annahme zu erklären, dass »bei den jüdischen Psychosen in besonderen Ausmaße Teilkomponenten mitwirkend sind, die weder in den manisch-depressiven, noch in den schizophrenen Kreis gehören.« Suche man nach diesen Teilkomponenten, so Burkhardt, sei es am besten, »zunächst naiv und unabhängig von jeder Theorie Psychose und Charakter möglichst als Einheit zu betrachten.« Demnach fänden sich drei gemeinsame Punkte: »1. So gehören sicher folgende Züge irgendwie zusammen: das reiche Ausdrucksregister [...], der bei unseren depressiven Fällen sehr auffallende Mangel an echter Hemmung, das Erhaltenbleiben der Ansprechbarkeit bei vielen unser Schizophrenen und, ganz allgemein gesagt, die starke Bezogenheit auf die Mitmenschen, die wir bei der Mehrzahl der Juden (Begabung für alle Berufe, bei denen es mehr auf den Umgang mit Personen als mit Sachen ankommt) feststellen können. Die meisten unserer Kranken haben etwas Aufgeschlossenes und kennen nicht die dem echten Autisten, häufig vor wohl dem nordischen Menschen eigene Fremdheit zwischen Mensch und Mensch. 2. stattdessen aber die Kehrseite der Symptome: Unruhe und Unzufriedenheit. Dieser Zug kann sich bei manischem Grundcharakter unerfreulich äußern in der Neigung zum Hetzen und Beleidigen (es sei daran erinnert, dass auch in der Kriminalität der geistesgesunden Juden die Beleidigung eine besonders große Rolle spielt), bei depressiver Grundfärbung in der gehetzten Ängstlichkeit und dem Gefühl des Benachteiligtseins. Beide Möglichkeiten erscheinen vereint in der bekannten ›Quängelsucht‹.«168
Als dritten Punkt führte Burkhardt eine »Farblosigkeit und Phantasiearmut« der »vielen Psychosen« bei Juden an. Den Grund hierfür sah er in einer »Elastizität«, die für den jüdischen Kranken eher bezeichnend sei: »die stärkere Bezogenheit auf den Menschen und eine geringere Bezogenheit auf die unpersönliche Idee. (Der Jude ist, ganz schematisch gesagt, mehr Rechtsanwalt als Staatsanwalt – ein Gedanke, den ich hier nur andeuten, nicht ausführen kann.«)169
Burkhardt machte, wie Lange, die »Wesenszüge« der Juden für ihre angeblich besondere Symptomatik verantwortlich. So sah er die charakterlichen Rasseneigen-
167 Ebenda, 750. 168 Ebenda, 763. 169 Ebenda.
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schaften der Juden auch in der Ausformung ihrer psychischen Krankheiten offenbart: »Es ist daher auch das Wesen der charakteristischen jüdischen Psychosen nicht mit der Feststellung einer die Grundlage bildenden Psychopathie erfasst. Die Teilkomponenten, die dieser Psychopathie das Gepräge geben, sind vielleicht […] nur übersteigerte Wesensrichtungen, die in ihrer Grundform biologischen Wert haben. Es ist z. B. denkbar, daß der von uns herausgestellte Zug von unzufriedener Unruhe verwandt ist der jüdischen Aktivität, die ihre Träger über alle Länder der Erde getrieben und ihnen einen wesentlichen Teil ihrer Schätze erobert hat«.170
Kritik an den Differenzdiagnosen Burkhardts und Langes Ansicht, nach der die »Natur«, das »Wesen« einer »Rasse« in direktem Zusammengang mit der Ausprägung der Krankheit stünde, wurde von Autoren, die über Juden schrieben, weit seltener geteilt und weniger umfangreich thematisiert als von denjenigen Autoren, die über außereuropäische »Rassen« schrieben. In den Schriften über Juden waren zudem kritische Positionen gegenüber dem Deutungsmuster der angeblich rassenspezifischen »abweichenden Symptome« weit häufiger. Besonders Max Sichel bestand in seinen Publikationen darauf, die symptomatischen Unterschiede, die bei Juden wahrgenommenen wurden, differenziert zu betrachten. Zwar erklärte auch er die »Neigung der Juden zum Räsonieren«, die auch in ihrem »psychischen Normalcharakter« zu finden sei, resultiere aus einer »merkwürdig ›kritischen Veranlagung‹«, die sie dazu treibe, »zu allen Vorkommnissen und Fragen der Umgebung Stellung zu nehmen.«171 Jedoch sei das »Quengeln« oder »Räsonieren« kein spezifisch »jüdisches« Symptom, sondern Teil eines allgemeinen Krankheitsbildes beispielsweise des »manischen Stadiums des zirkulären Irreseins« und der »paranoiden Zustandsbilder«. Da die Anzahl an Juden unter den so Diagnostizierten höher sei als bei Nichtjuden, sei es naheliegend, dass diese Symptome bei Juden häufiger beobachtet würden.172 Ferner wirke sich die soziale Stellung auf die Art der psychischen Erkrankung aus. So sei das manischdepressive Irrsein frequenter in bessergestellten Kreisen, denen Juden überproportional angehörten. Auch bestätigte er die angebliche Häufigkeit atypischer Bilder bei Juden, interpretierte sie jedoch nicht als Zeichen einer Differenz. Stattdessen machte er darauf aufmerksam, dass dadurch die »Gefahr der Verkennung, der Fehldiagnosen sehr nahe« liege und somit die Zahlen über Juden verfälscht sein könn-
170 Ebenda, 765. 171 SICHEL, Über Geistesstörungen, 365. 172 Ebenda.. Ebenfalls: SICHEL, Geistesstörungen bei den Juden, 53. Ähnlich argumentiert: GUTMANN, Rassen- und Krankheitsfrage, 46.
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ten, da für uneindeutige Krankheitszustände »mit Vorliebe die VerlegenheitsDiagnosen ›Neurasthenie‹ und ›Hysterie‹ in Anspruch genommen« würden.173 Einen Zusammenhang zwischen sozialer Stellung, Beruf und den atypischen Symptomen stellte auch Ludwig Stern her. Er führte in seiner Studie zu Kulturkreis und geistiger Erkrankung die hohe Anzahl jüdischer Psychiatriepatienten auf ihren höheren Anteil an »geistigen« Berufen und an Stadtbewohnern zurück. Stern brachte die unklaren Diagnosen mit dem bereits bekannten Argument zusammen, nach dem das Krankheitsbild umso ausgeprägter sei, je »höher stehend« die betrachtete »Rasse« sei: »Im schärfsten Gegensatz zu den niederen Völkern zeigt das Symptomenbild der Psychosen bei dem hochstehenden Kulturvolke der Juden eine mannigfaltige, bunte Zusammensetzung. Bei einer und derselben Krankheit vermischen sich oft die verschiedensten Symptomenkomplexe und lösen sehr schnell einander ab, so daß man von den degenerativen Zügen der jüdischen Psychosen gesprochen hat. Auch fällt auf, daß die Geisteskrankheiten der Juden häufig einen eigentümlich querulierenden Charakter tragen, daß also der Intellekt sich in hohem Maße bei ihnen geltend macht«.174
Der Münchner Psychiater Moses Gutmann vertrat eine andere Auffassung. Auch er beschrieb in seiner empirischen Studie aus dem Jahr 1926 abweichende Symptome bei Juden: seltener depressive, aber häufiger »megalomane Komponenten« bei jüdischen Paralytikern, eine größere Anzahl dementer Formen der Psychosen bei der Diagnose manisch-depressives Irresein, häufigere »hypochondrische Vorstellungen« und »atypische Bilder mit katatonen, stereotypen Einschlag, häufig mit erotisch-sexueller Beimischung«, die er für »bezeichnend« hielt.175 Jedoch stellte er die Inhalte beispielsweise der Größenideen nicht in den Kontext eines »rassischen Wesens« sondern bezeichnete sie als »im Wesentlichen Assimilationsgedanken«: der Wunsch nach »Gleichberechtigung, Besitz, Geld, Titel, Orden, Fürst oder Hoheit zu sein, daneben bestehen Welterlöserideen.«176 Den nörgelnden Zug einiger Kranker erklärt er damit, dass bei vielen jüdischen Paralytikern die Persönlichkeit (»Charakteranlage«) im Kern länger erhalten bliebe als bei anderen und diese Kranken deswegen »nörgelten«, weil sie mehr unter ihrer Krankheit litten. Nur wenige zögen sich in ihre Krankheit zurück, sonder kämpften stattdessen – »ein Zug, der auch sonst den Juden eigen ist, sich gegen den Verfall oder gar gegen den Tod anzustemmen«.177 173 SICHEL, Geistesstörungen bei den Juden, 45. 174 LUDWIG STERN, Kulturkreis und Form der geistigen Erkrankung, Halle 1913, 6. 175 GUTMANN, Geisteskrankheiten bei den Juden, 108f. 176 Ebenda. 177 Ebenda.
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Trotzdem beschreibt er eine differente Psychologie der Juden als Ursprung unterschiedlicher Krankheitsbilder: »Das psychologische Geschehen des geistig normalen Juden, sein Charakter, sein Temperament sind oft weit verschieden von dem seiner nichtjüdischen Umgebung; diese Züge des Anderssein schleichen sich ein in die Bilder der Krankheit, die die Ausschläge des Charakters oft nur noch vergrößern, so daß Krankheitsbilder zustande kommen, die eine Analogie in der Umgebung nicht haben. Fällt so der jüdische Kranke an und für sich schon auf, so in noch größerem Maßstabe der seelisch Erkrankte, der nun Ziel und Mittelpunkt besonderer Beobachtung wird«.178
Dennoch hielt Gutmann den Versuch, die »pathologischen Züge im Krankheitsbild« der Juden aus der »Normalpsyche« zu erklären, für verfrüht, »weil die sogenannten normalen psychologischen Eigenschaften der Juden noch nicht so klargelegt sind, um eine brauchbare Vergleichsbasis zu schaffen.«179 Diese alternativen Deutungen einer angeblich rassenspezifischen Symptomatik der Juden waren Teil des bereits behandelten Diskursstrangs, der generell weniger mit »Rasse« als mit den spezifischen Lebensumständen von Juden argumentierte. Diese Erklärungen waren zwar auch nicht frei von Klischeevorstellungen über Juden und blieben ebenfalls einem Differenz-Diskurs verhaftet, der Kollektiveigenschaften zuschrieb, auch wenn diese eher kulturalistisch als rassenbiologisch begründet waren. Trotzdem ist auch hierin der Versuch einer nicht-essentialistischen und nicht-deterministischen Auslegung zu sehen, die in einzelnen Fällen auch soziale und soziologische Erklärungsmuster heranzog. Zuletzt hielt Sterns Erklärung der Verschiedenheit der Juden durch deren höhere Kultur und größeren Intellekt sogar das Angebot bereit, eine ursprünglich negative Fremdzuschreibung in eine positive Selbstzuschreibung zu wenden. Abweichende Meinungen und Kritik an der rassischen Deutung der Differenzdiagnosen gab es vereinzelt auch auf Seiten derjenigen, die sich mit außereuropäischen »Rassen« beschäftigten. Eine umfassende Kritik an der Durchführung und den Ergebnissen der Forschungen Kraepelins auf Java äußerte 1922 Abraham Gans, der zu diesem Zeitpunkt als Psychiater in den Anstalten Buitenzorg und Lawang auf Java arbeitete.180 Der Zeitpunkt dieser Publikation – fast 20 Jahre nach der Reise
178 Ebenda, 103. 179 Ebenda, 109. 180 Abraham Gans, (1885-1971), wurde in eine jüdisch-orthodoxen Familie in Aalten, Niederlande, geboren. Gans lebte vier Jahre als Psychiater auf Java und war neben seiner Tätigkeit in den Anstalten Lawang und Buitenzorg der erste Dozent für Psychiatrie an der Schule für einheimische Ärzte (STOVIA) auf Java. Gans, Abraham. Biografisch Archief
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Kraepelins – erklärt sich womöglich aus der Anfrage Kraepelins an den Leiter der Anstalt Buitenzorg, J. Scholten, aus dem Jahr 1920. Da der Krankheitsverlauf in Kraepelins Auffassungen eine wesentliche Bedeutung für die Diagnoseverifizierung besaß, hatte Kraepelin um die Katamnesen∗ der bei dem Forschungsaufenthalt von 1904 untersuchten Patienten und Patientinnen gebeten.181 Wahrscheinlich hat Gans als dort tätiger Arzt von dieser Bitte erfahren. Zudem war Kraepelin in einem Aufsatz von 1920 erneut ausführlich auf seine Forschungsergebnisse aus Java eingegangen, was Gans eventuell Anlass zur Replik gab.182 Gans führte zunächst generelle Kritikpunkte an Kraepelins Vorgehensweise an. So war er der Auffassung, dass die Anzahl der Anstaltsinsassen nichts über die Gesundheitssituation der Bevölkerung aussage: Die Anzahl von Javanern, die unter psychischen Erkrankungen litte, würde »gewaltig unterschätzt«, so auch von Kraepelin. Beispielsweise sei Kraepelin, als er in der Psychiatrie Buitenzorg war, nur deswegen auf wenige »Eingeborene« mit der Diagnose Paralyse gestoßen, weil diese vorher in eine andere Psychiatrie auf Java verlegt worden seien.183 Ferner äußerte Gans Bedenken hinsichtlich der Sprachkenntnisse Kraepelins, eine Kritik, die auch schon Alfred Hoche angebracht hatte.184 Gans betonte, dass nicht nur die Kenntnis der Sprache, sondern auch die der kulturellen Gebräuche vor Ort zur korrekten Diagnosebestimmung erforderlich seien: »Was namentlich die Untersuchungen bei Javanern betrifft, so halte ich es für unerlässlich, dass man sie selbst anstellt und deshalb wenigstens die Sprache, welche als Umgangssprache wohl von den meisten Eingeborenen verstanden wird, das Malaische, einigermassen beherrscht. Es ist sehr gefährlich ohne die Kenntnis der Seelenart der Javaner zu versuchen, von ihnen über so subtile Angelegenheiten, wie es psychopathologische Symptome sind, Auskunft zu erlangen. Schon das Feststellen einfachster Verhältnisse nach den Angaben Eingeborener kann durch eine eigentümliche, den Europäern unverständliche Höflichkeit sehr schwierig sein. Der Antwortende versucht fortwährend zu vermeiden, irgend etwas zu sagen, was dem Fragenden unangenehm sein könnte. Jede Frage kann da zu einer Suggestivfrage werden
van de Benelux (BAB). World biographical information system - WBIS Online, München 2008. ∗
Katamnesen sind Berichte über den Krankheitsverlauf, die der Arzt nach der Behandlung erstellt, bspw. nachdem der Patient das Krankenhaus verlassen hat. Sie dienen dazu, den Behandlungserfolg zu dokumentieren.
181 In Bendicks Buch findet sich ein Abdruck der Antwort von Scholten an Kraepelin BENDICK,
Kraepelins Forschungsreise, 198f.
182 KRAEPELIN, Erscheinungsformen, 10. 183 GANS, Ein Beitrag zur Rassenpsychiatrie, 1504. 184 HOCHE, Geisteskrankheit und Kultur, 29; ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik, 169.
252 | P SYCHOPATHOLOGIE UND »RASSE « und was bei uns ein gewöhnliches Gespräch leicht herausbringen würde, kann dort zu unglaublich umständlichen und vorsichtigen Nachfragen nötigen«.185
Aus Höflichkeit leugneten die Sundanesen aus Westjava z. B. gegenüber den Holländern stets, eine eigene Sprache zu sprechen und kommunizierten daher mit den Kolonialherren stets auf Malaiisch.186 Diese Art von Höflichkeit erschwere die Diagnose deutlich: »Sich dem ›grossen Herrn‹ gegenüber als nichtwissend oder weniger wissend zu stellen, ist dem Javaner in Fleisch und Blut übergegangen. Ihn zur Aussprache über das eigene Seelenleben zu bringen, gelingt nur mit grossem Takt. […] Es ist unglaublich in wieviel Ausdrücken ein Eingeborener sein Nichtwissen bezeugen kann! Wenn nun dazu noch der Autismus, die Gleichgültigkeit des Schizophrenen kommt [...] dann begreift man, wie vorsichtig man mit Urteilen über das Fehlen von wirklich psychotischen Erscheinungen sein muss«.187
Generell widerspricht Gans der Auffassung Kraepelins, es gebe weniger Wahnvorstellungen bei Javanern: Er habe nicht feststellen können, dass Wahnzustände bei Javanern selten seien.188 Allerdings stellt auch Gans Besonderheiten im Krankheitsbild der Javaner fest, wobei er jedoch von einer kulturellen Ursache ausgeht: Der Inhalt der Wahnvorstellungen stünde mit den »gesunden religiösen und abergläubischen Auffassungen der Javaner in inniger Verbindung«, diese seien demnach entsprechend geprägt.189 So glaubten Javaner beispielsweise, »von einem Teufel besessen zu sein oder eine andere Seele bekommen zu haben«.190 Außerdem wies er auf generelle diagnostische Schwierigkeiten in der Beurteilung eines Mangels von Symptomen hin: »Das mühevollste waren die Fälle, wo ich schliesslich keine Halluzinationen annehmen konnte, denn da – wie stets, wo man etwas über das Fehlen von Erscheinungen aussagen will – musste man doch wohl immer und immer wieder danach fragen. Bei den Kranken aber, wo ich Halluzinationen fand, war es oft gerade auffällig, wie leicht die Untersuchung zum Resultat führte«.191
185 GANS, Ein Beitrag zur Rassenpsychiatrie, 1503. 186 Ebenda. 187 Ebenda. 188 Ebenda, 1505. 189 Ebenda. 190 Ebenda. 191 Ebenda.
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Die Verständigung mit Patienten und Patientinnen stellte Psychiater überall da vor ein besonderes Problem, wo diese nicht die gleiche Sprache wie der Psychiater sprachen (was übrigens nicht immer der Reise in ein fremdes Land bedurfte192). Andere Berichte rassenpsychiatrischer Forscher weisen ebenfalls darauf hin, dass Kraepelin nicht der einzige mit diagnostischen Schwierigkeiten war. Brero z. B. teilte Gans’ Auffassung, dass »mangelnde Sprach- und ethnologische Kenntnis bei dem Beobachter« aber auch »Mißtrauen und Angst auf Seiten der Bevölkerung« den europäischen Ärzten bei ihren Untersuchungen im Weg stehen könnten.193 Er beschrieb ebenfalls, dass Javaner aus Höflichkeit beispielsweise Fragen falsch beantworteten, auch wenn sie die richtige Antwort wüssten, was unter anderem der Beurteilung der geistigen Fähigkeiten genesender Patienten und Patientinnen im Wege stehen würde. Es bestünde »die Neigung, Europäern gegenüber aus Höflichkeit besonders wenn sie sich von diesen abhängig glauben, Unwissenheit oder Dummheit vorzuschützen, sich kleiner und geringer zumachen mit dem Zweck, den Vorgesetzten desto mehr zu erheben«.194
Von Mühen der diagnostischen Erhebungen berichtete auch der Warschauer Psychiater Moritz Urstein, der auf seinen Reisen durch Russland und die zentralasiatischen Provinzen Turkistan und Transkarpatien rassenpsychiatrische Untersuchungen durchgeführt hatte. In seiner 1906 veröffentlichten Studie über Turkmenistan schrieb er, dass »die Eruierung der Frage nach der Verbreitung von Geisteskrankheiten unter den Eingeborenen viel schwieriger ist, als dies für den ersten Blick er192 So gibt es Beispiele, dass auch anderswo Mitpatienten in die Anamnesen mit eingebunden waren. So z. B. in der Irrenanstalt Friedrichsberg, in der viele »geisteskranke Rückwanderer« aus ganz Europa Patienten waren, die bei der Einreise in die USA gescheitert waren. Die »Patienten-Dolmetscher« waren in erheblichem Maß an den Anamnesen beteiligt. HEINZ-PETER SCHMIEDEBACH und STEFAN WULF, Ver/rückte Anamnesen à la Friedrichsberg. Explorationen ausländischer Patienten durch mehrsprachige Mitpatienten in einer deutschen Irrenanstalt um 1900. In: Medizinhistorisches Journal 45/2010, 341-367. Ferner: STEFAN WULF und HEINZ-PETER SCHMIEDEBACH, »Die sprachliche Verständigung ist selbstverständlich recht schwierig.« Die »geisteskranken Rückwanderer« aus Amerika in der Hamburger Irrenanstalt Friedrichsberg 1909. In: Medizinhistorisches Journal 43/2008, 231-63, 248-251. 193 Als auf Java geborener Sohn niederländischer Eltern hatte Brero den Vorteil, dass er gewisse Einblicke in die Kultur auf Java bekommen hatte, die einem Forschungsreisenden wohl verborgen bleiben mussten. Aufgrund seiner Äußerungen ist ferner anzunehmen, dass er Kenntnisse zumindest einer lokalen Sprache besaß. BRERO, Nerven- und Geisteskrankheiten (1914). 698. 194 Ebenda. 703.
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scheinen könnte«, denn über vererbte Krankheiten in der Familien der Kranken erführe man »kaum etwas Sicheres, wie denn überhaupt anamnetische Erhebungen zu nichts führen.«195 Dazu komme noch, dass man auf Dolmetscher angewiesen sei, »die meist auf einem so geringen geistigen Niveaus stehen, dass es oft schwer wird, ihnen klarzumachen was man eigentlich von dem zu Untersuchenden wissen möchte.«196 Psychisch Kranke seien in Zentralasien selten, dennoch habe er einige »Dutzend Trottel« gefunden, die ihn »lebhaft an die Endzustände der Dementia praecox erinnerten«. 197 Jedoch müsse man mit einer solchen Diagnose vorsichtig sein, »einmal weil man von Leuten, die auf der niedrigsten Kulturstufe stehen, in intellektueller Hinsicht nicht viel erwarten darf, und dann, weil man mir versicherte, dass die Betreffenden immer so gewesen, nie Erregungen oder sonstige katatonische Symptome dargeboten haben«.198
Auf der Krim traf er in der Anstalt Semferopol auf russische Patienten und Patientinnen, bei denen er auf ähnliche Schwierigkeiten stieß: »Erhebliche Störungen lassen sich leicht feststellen, allein, die Leute namentlich russische Dorfbewohner, erscheinen mir geistig derart beschränkt, dass sie selbst im Vergleich mit ganz mittelmässig entwickelten Städtern für schwachsinnig gelten müssten. Schon das kleine Einmaleins oder die elementarsten Fragen waren für die Leute ein schwieriges phylosophisches (sic) Problem. Von unserem Standpunkt aus betrachtet, würde man, bei Ausschluss der Simulation oder des Vorbeiredens ein solches Versagen bei den primitivsten Forderungen als Zeichen hochgradigen geistigen Defektes ansprechen und doch wäre es voreilig, das Individuum a priori für imbessil zu erklären«.199
Die Erkenntnis, dass mangelnde Bildung die Beurteilung der geistigen Fähigkeiten der Patienten und Patientinnen beeinflussen konnte, bemerkte Franco da Rocha in seinem Aufsatz bereits 1898: »Es ist sehr leicht sich zu vergewissern, ob ein Individuum in Blödsinn gefallen ist, sobald es sich um einen gebildeten Menschen handelt. Es ist indessen bei den Negern, die in Folge der erst seit einiger Zeit verschwundenen Einrichtung der Sklaverei sich noch in einer Stellung befinden, die weit unter dem gewöhnlichen Niveau sich befindet, nicht so ganz leicht«.200 195 URSTEIN, Ein Beitrag zur vergleichenden Psychiatrie, 629. 196 Ebenda. 197 Ebenda, 630. 198 Ebenda. 199 Ebenda, 635. 200 ROCHA, Bemerkungen, 138.
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Die Beispiele zeigen, dass die Autoren den Einfluss von Sprach-, Kultur- und Bildungsunterschieden auf die Durchführung der psychiatrischen Explorationen wahrnahmen. Ob sie etwas für ihre Forschung daraus ableiteten, und was, dazu finden sich auch bei denen, die überhaupt auf diese diagnostischen Schwierigkeiten eingehen, keine Angaben. Dabei konnte das Urteil fehlender Bildung oder »Kultur« sehr unterschiedlich begründet sein: Entweder ging der jeweilige Sprecher oder Autor von einer generell »niedrigeren Entwicklungsstufe« der entsprechenden »Rasse« aus, oder er suchte den Grund für die mangelnden intellektuellen Kenntnisse in gesellschaftlichen Umständen.201 Wie Kraepelin scheinen die Ärzte außerdem die diagnostischen Schwierigkeiten zwar als Forschungshindernis erkannt zu haben, dies veranlasste sie aber offensichtlich nicht zu einer gezielten Reflexion über die Methodik. Allein da Rocha berichtete, dass er für die Frage nach der »Blödsinnigkeit« seiner afrobrasilianischen Patienten und Patientinnen andere Beurteilungsmethoden heranzöge. Statt »geistige Fähigkeiten« zu untersuchen, schien ihm die Frage nach den »Gemüthsbewegungen« und moralischen Empfindungen für die Beurteilung aussagekräftiger. 202 Während im Diskurs um eine angeblich spezifische Psychopathologie bei Juden soziale Erklärungen rassenbiologischen gewissermaßen »gleichwertig« gegenüberstanden, wurden gesellschaftliche Umstände innerhalb des Diskursstrangs um »unzivilisierte« »Rassen« nur in Ausnahmefällen ins Feld geführt. Zwar hatte z. B. da Rocha mangelnde Bildung als Problem bei der Beurteilung kognitiver Fähigkeiten und damit bei der Diagnose beispielsweise der »Idiotie« identifiziert. Nur vereinzelt zog man jedoch daraus den Schluss, die soziale Lage der Untersuchten könnte mit dem niedrigen Bildungsgrad in Zusammenhang stehen. Eindeutig widersprach eigentlich nur der Brasilianer Juliano Moreira einer rassischen Erklärung: »Außer den individuellen Varianten, mit denen wir immer rechnen müssen, haben ohne Zweifel die Verhältnisse der sozialen Umgebung, namentlich die der Bildung eine starke Einwirkung nicht nur auf die größere oder geringere Häufigkeit dieser Störungen sondern auch auf den Verlauf derselben, So sind viele klinische Erscheinungen, welche man der Rasse zuschreibt, nichts mehr als eine Folge der sozialen Lage der Kranken. In Brasilien z. B. reagieren auf gleicher Bildungsstufe stehenden und in gleichen sozialen Verhältnissen lebenden Individuen in Falle einer Erkrankung trotz verschiedener Rassenangehörigkeit geistig auf ähnliche Weise«.203 201 Urstein war der einzige von den hier angeführten, der sich hier deutlich positionierte: »Die Schuld liegt eben nicht an ihnen, sondern an den Verhältnissen, in denen sie aufgewachsen (sic). Die Leute besuchen keine Schule, haben oft mit Geld oder Rechnungen nichts zu tun.« URSTEIN, Ein Beitrag zur vergleichenden Psychiatrie, 635. 202 ROCHA, Bemerkungen, 138. 203 MOREIRA, Die Nerven- und Geisteskrankheiten in den Tropen, 299.
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Differenzsymptome bei der »weißen Rasse« Rassenpsychiatrische Schriften beschäftigten sich jedoch nicht nur mit Juden oder den als »primitiv« geltenden »Rassen«, sie behandelten auch die westeuropäische, die »weiße Rasse«. Natürlich bildeten die »europäischen Verhältnisse« in jeder rassenpsychiatrischen Publikation implizit die Vergleichsgröße, jedoch untersuchten einige Autoren auch explizit vermeintlich psychopathologische Besonderheiten der »weißen Rasse«. In diesen Aufsätzen stand zumeist der Vergleich verschiedener »Rassen« im Fokus: Sie boten entweder einen Gesamtüberblick der »Rassen« weltweit oder behandelten Staaten mit gemischter Bevölkerung, wie z. B. Österreich-Ungarn oder das Zarenreich.204 In diesen Publikationen stand der Vergleich verschiedener Diagnoseformen im Vordergrund. So fand sich z. B. die Auffassung, die Depression sei etwas Typisches für die »Angehörigen des skandinavischgermanischen Elements«.205 Dies war eine komplementäre Einschätzung zu der Vorstellung, die »primitiven Rassen« litten häufiger unter Manie und Erregungszuständen. In Texten zur Tropenneurasthenie vor dem Ende des Ersten Weltkriegs behandelten rassenpsychiatrische Forscher häufiger die Symptome der »weißen Rasse«. Diese bildeten während der ersten Hälfte des Diskurses die einzigen Publikationen, die sich mit der »weißen Rasse« beschäftigten ohne eine vergleichende Perspektive einzunehmen. Wie bereits beschrieben unterschieden sich diese Texte von anderen rassenpsychiatrischen Publikationen. Die Autoren interessierte in erster Linie die Auswirkung von Klima und fehlender Zivilisation auf die Psyche der Europäer. Dabei stellten sie zwar implizit auch Fragen nach dem Zusammenhang von »Rasse« mit dem psychischen Befinden der weißen Kolonisatoren, sie machten ihn jedoch nicht explizit zum Bestandteil der Auseinandersetzung.206 Nach dem Ersten Weltkrieg thematisierte die Konstitutionsforschung den Zusammenhang von »weißer Rasse« und psychischer Erkrankung. Hier stand zumeist die deutsche Bevölkerung
204 Dazu zählten z. B. H. BUDUL, Beitrag zur vergleichenden Rassenpsychiatrie. Auszug aus den Untersuchungsergebnissen einer Dissertation [russisch]. In: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 37/1915, 199-204; BUSCHAN, Einfluss der Rasse; LADISLAUS EPSTEIN,
Beiträge zur Rassenpsychiatrie. In: Neurologisches Zentralblatt 28/1909, 1120-
1125; EPSTEIN, Beiträge Rassenpsychiatrie (Vortrag); LOMER, Beziehungen; PILCZ Beitrag (1906); PILCZ, Beitrag (1919/1920); RÉVÉSZ, Die rassenpsychiatrischen Erfahrungen; SIEBERT, Psychosen und Neurosen; SIOLI, Geisteskrankheiten. 205 BUSCHAN, Einfluss der Rasse, 117. Dem entspricht auch, dass Buschan auch den Angehörigen »des keltisch-iberisch-germanischen Elements, oder allgemein gesagt, die Vertreter des brünetten dunklen Typus« eine Neigung zu den »manikalischen Formen« zuspricht. 206 Vgl. auch Kapitel 2
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und ihre rassische, psychische und konstitutionelle Beschaffenheit im Fokus. Wie bereits an anderer Stelle dargelegt ging es darum, inwieweit Körperbau, Charakter und »Rasse« eine Einheit bilden. Ludwig Stern-Piper stellte 1923 die These auf, es gebe eine Korrelation zwischen »Rasse«, Charakter und Körperbau, wobei er innerhalb der deutschen Bevölkerung zwischen »nordischer« und »alpiner Rasse« unterschied.207 Diese Unterteilungen rekurrierten auf eine Ausdifferenzierung innerhalb der Anthropologie, die ab den zwanziger Jahren die Vorstellung von »reinen Rassen« infrage stellte und sich dem Vergleich verschiedener »Rassen« innerhalb der »weißen Rasse« widmete. Stern-Piper meinte, viele Gemeinsamkeiten bei den seelischen Eigenschaften der »alpinen und nordischen Rassen« mit den durch Ernst Kretschmer definierten »zyklothymen« und »schizothymen Charakterzügen« gefunden zu haben.208 Ebenso wie die »alpine Rasse« sei der Zykloide »gesellig, gutmütig, menschenfreundlich, anpassungsfähig« und könne seinen »Emotionen freien Lauf lassen«.209 Dagegen sei der Schizoide kühl und distanziert gegenüber seinen Mitmenschen sowie prinzipientreu und sachlich.210 Der »echte Norddeutsche«, so Stern-Piper, sei diesem ähnlich, auch er sei »kalt, steif, formell, abgemessen. Auch daß er einen langweiligen oder faden Eindruck mache, wird häufig von Süddeutschen behauptet. Er gibt sich nicht so frei, hat immer etwas Zurückhaltendes, eine gewisse Reserve. Auch ist ihm seiner ganzen Haltung nach sehr häufig etwas Straffes, Militärisches zu eigen«.211
Wie in anderen rassenpsychiatrischen Publikationen wurden also auch bei der »weißen Rasse« bestimmte Symptome mit rassischen Eigenschaften verknüpft. Auch bei der »weißen Rasse« sind diese »Rassensymptomatiken« nicht wertneutral. In der Darstellung Stern-Pipers besitzt der Süddeutsche seelische Eigenschaften, die weiblich konnotiert sind, so ist er emotionaler, sozialer und in der Lage, gut mit Menschen umzugehen. Dagegen wird der »echte Norddeutsche« in einer Weise charakterisiert, die dem männlichen Ideal der Zeit entspricht.212 Diese verschiedenen psychopathologischen Zuschreibungen waren jedoch nicht nur geschlechtlich konnotiert, sondern auf einer weiteren Ebene mit der Idee einer unterschiedlichen kulturellen Wertigkeit verknüpft. So sei die »Beherrschung der Affektäußerungen 207 STERN-PIPER, Kretschmers psycho-physische Typen. 208 Ebenda, 596. 209 Ebenda, 586, 592f. 210 Ebenda, 589. 211 Ebenda, 593. 212 Ähnliche Darstellung rassenspezifischer Symptomatiken finden sich u. a. in: BERZE, Beiträge; BINSWANGER, Betrachtungen über Volksart, Rasse und Psychose; BURKHARDT, Rassenforschung und Psychiatrie; WIERSMA, Körperbau.
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ein Gradmesser der Kultur« wie der Psychiater Erwin Stransky 1918 schreibt. Der Deutsche sei durch »Affekteinsparung, Affektbeherrschung, ›Affektsparkasse‹« mehr der Logik zugewandt. Nur deshalb sei es sei ihm gelungen, »den harten und spröden Kolonialboden Preußens [in] ein festes Staatsgebilde« zu verwandeln.213 Auch Hans Burkhardt dachte ähnlich: Die Charaktereigenschaften ähnelten dem Charakter der Krankheit. Demnach sei »eine gewisse Fremdheit zwischen Mensch und Mensch […] ein bedeutsamer nordischer Zug. Nichts scheint mir verkehrter als eine Wertung, die jeden Zug von Autismus für krankhaft anzusehen geneigt ist. Die nordische Rasse ist ursprünglich wohl weniger auf geselliges Dasein als auf sachliche und selbstständige Leistung gezüchtet und ihr Autismus ist ihre biologische Stärke und Wurzel ihrer Führereigenschaften.«214
Auf dieses Argumentationsmuster, das psychische Erkrankungen mit einer höheren kulturellen Entwicklungsstufe verknüpft, habe ich in früheren Kapiteln bereits mehrfach aufmerksam gemacht. Im Kontext der Diagnostik entstand eine weitere Variante dieses Topos. Nun war es nicht die psychische Erkrankung selbst, sondern es waren die Symptome und die diesen zugrundeliegenden rassenspezifischen Charaktereigenschaften, die die angebliche Stärke der »weißen Rasse« belegen und einen Führungsanspruch legitimieren sollten. In den Texten zur Tropenneurasthenie behandelten die rassenpsychiatrischen Forscher die Symptomfrage auf eine andere Art und Weise. Das Leiden selbst besaß eine gewisse Widersprüchlichkeit: Galten die Verhältnisse der modernen Zivilisation als Ursache neurasthenischen Leidens in der westlichen Welt, wurde dem Tropenneurastheniker gerade ein Mangel an Zivilisation zum Verhängnis. Wie ebenfalls bereits in vorhergehenden Ausführungen dargestellt, erklärten Ärzte das Vorhandensein dieses Leidens zwar auch mit dem Klima, vor allem aber mit der Abwesenheit des westlichen Lebensstils und der westlichen Gewohnheiten. Wie wirkten die »unzivilisierten« Lebensumstände auf die Europäer in den Tropen? Christian Rasch fasste in einem Aufsatz in der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie 1898 die Symptome der Tropenneurasthenie in folgender Weise zusammen: »In erster Linie wird von fast allen Autoren eine mehr oder minder hartnäckige und andauernde Schlaflosigkeit […] constatiert. […] Weitere Erscheinungen sind: Erschlaffung, geistige Indifferenz, Abnahme der Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten, Unlust zu körperlicher und geistiger Anstrengung, Verlust an geistiger Elasticität, Einbusse an Energie. Sodann 213 ERWIN STRANSKY, Krieg und Geistesstörungen. Feststellungen und Erwägungen zu diesem Thema vom Standpunkte angewandter Psychiatrie, Wiesbaden 1918, 12f.,15. 214 BURKHARDT, Rassenforschung und Psychiatrie, 5.
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macht sich ein hoher Grad von Empfindlichkeit kleinen Leiden oder unbedeutenden Eingriffen gegenüber geltend und es kommt zu einer stetig zunehmenden und unaufhaltsamen fortschreitenden Abstumpfung der geistigen Fähigkeiten. Auch wird eine auffallende Abnahme des Gedächtnisses constatiert [...]. Ferner zeigt sich theils eine Aufregung, theils eine Erschlaffung (Excitation und Depression) des Nervensystems, eine reizbare Schwäche, Rührseligkeit, Steigerung der gemüthlichen Erregbarkeit, hochgradige Reizbarkeit bis zur brutalen Explosivität. Durchaus ruhige und besonnene Leute, welche über grössere Selbstbeherrschung verfügten, haben mir oft geklagt, dass sie zu gewissen Zeiten – nicht immer – bei geringfügigen Anlässen in eine maasslose, früher nicht gekannte Erregung gerieten, so dass sie sich gegen ihre Willen zu Thätlichkeiten hinreissen liessen. […] Labile Gemüthsstimmung, Disposition zu Hypochondrie und Melancholie, wurden in allen Graden festgestellt. Maniakalische Exaltion, Neigung zu impulsiven Handlungen während der Akklimatisationsperiode konnte ich selbst constatieren«.215
Diese Symptome der Tropenneurasthenie ähnelten denen ihrer europäischen »Schwester«, der Neurasthenie. Außer in symptomatischer Hinsicht besaßen Neurasthenie und Tropenneurasthenie eine weitere Gemeinsamkeit: Beiden war das Konzept der »Rasse« immanent. So war die Neurasthenie von Anfang an als eine »weiße Krankheit« konzeptioniert: Beard, der »Vater« der Neurasthenie konzeptionierte die Neurasthenie als eine Erkrankung des weißen, männlichen und zunächst auch vornehmlich bürgerlichen Menschen, der unter dem Wandel der modernen Zeit litt. So schrieb er etwa, dass Afroamerikaner sowieso von der Neurasthenie verschont blieben, da sie ein unreifes Nervensystem besäßen. 216 So sei es nicht verwunderlich, schreibt Anna Crozier, dass die Kolonialmedizin die Neurasthenie aufgriff: »Indeed, it could be argued that neurasthenia’s home-grown preoccupation with ideas about white masculinity and racial robustness made it ripe for export to the colonial setting.«217 Bei der (Tropen-)Neurasthenie handelte es sich um ein Leiden, das sehr verschieden wahrgenommen wurde. Neurasthenie wurde einerseits als psychische Erkrankung problematisiert, die beispielsweise von Max Nordau und Emil Kraepelin in den Kontext von Erblichkeit sowie einer drohenden Entartung gesetzt wurde.218 Jedoch gab es auch Zeitgenossen, die es als Auszeichnung, als zum guten Ton ge215 RASCH, Einfluss, 771f. 216 BEARD, American Nervousness, 188-190. Zuerst bei: A. LUTHRA und S. WESSELY, Unloading the trunk: neurasthenia, CFS and race. In: Social Science & Medicine 58/2004, 2363-2369, 2364. 217 ANNA CROZIER, What Was Tropical about Tropical Neurasthenia? The Utility of the Diagnosis in the Management of British East Africa. In: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 64/2009, 518-548, 12. 218 KRAEPELIN, Lehrbuch, 5. Auflage, 89; NORDAU, Entartung, 15.
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hörend verstanden, unter Neurasthenie zu leiden.219 So berichtet z. B. Oswald Bumke, es gebe das Bonmot »nur die Neurastheniker leisten etwas«, eine Auffassung, die vielen zur Legitimation diene, »um eigene nervöse Mängel – eingebildete oder wirkliche – hervorzukehren statt, wie früher, zu verdecken.«220 Die Neurasthenie wurde also nicht ausschließlich negativ bewertet. Wie kam das? Die Neurasthenie war eine schillernde Diagnose, die seinen Träger nicht nur bzw. nicht zwingend stigmatisierte. Es galt durchaus auch als Zeichen von Distinktion, nervös zu sein, denn Nervosität wurde als Zeichen kultureller Verfeinerung angesehen.221 Der Grund für die anhaltende Beliebtheit der Diagnose Neurasthenie im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert lag darin, dass sie den Kristallisationspunkt einer Reihe gesellschaftlicher Kontroversen bildete.222 Damit stellte sie eine von verschiedenen Möglichkeiten dar, gesellschaftliche Wandlungsprozesse im ausgehenden 19. Jahrhundert zu »bewältigen«.223 So versteht Hans-Georg Hofer die Neurasthenie als »sinnstarkes Konstrukt«, »mit dem sich die bedrohlichen und unakzeptablen Entwicklungen des modernen Lebens benennen und ordnen ließen.«224 Das Leiden spiegelte eine »Debatte über geschlechtsspezifische Belastungen der Moderne« wider, »die Männer als deren erschöpfte Leistungsträger thematisierte.«225 So habe die Neurasthenie als eine Folge der neuen Anforderungen der modernen urbanen (Arbeits-)Welt gegolten: der moderne Mann litt unter der modernen Technologie wie dem Telegrafen und der Eisenbahn, der neuen Schnelligkeit, der Notwendigkeit entfremdeter Arbeit und dem verschärftem wirtschaftlichen Wettbewerb. Die Neurasthenie, so Hofer, war also »das Leiden von Männern, die Erfolg hatten, die angesehene Berufe ausübten und am ›Puls der Zeit‹ waren.« Insofern waren sie nicht negativ zu beurteilen: Im Gegenteil, ihre Anstrengungen waren anzuerkennen, mit der Erkrankung zeigten sie sowohl Modernität als auch Leistungsbereitschaft, da sie ihre Nerven über die Ma-
219 HOFER, Nerven, Kultur und Geschlecht. 220 BUMKE, Über nervöse Entartung. Zuerst bei: HOFER, Nerven, Kultur und Geschlecht. 241. 221 SCHMIEDEBACH, Public's View. 222 GIJSWIJT-HOFSTRA und PORTER (Hg.), Cultures of Neurasthenia; HOFER, Nervenschwäche und Krieg; LERNER, Hysterical Men; RADKAU, Zeitalter der Nervosität; ROELCKE, Krankheit und Kulturkritik; STEINER, Nervöse Zeitalter. 223 GIJSWIJT-HOFSTRA, Introduction; HOFER, Nerven, Kultur und Geschlecht. Vgl. auch HOFER, Nervenschwäche und Krieg, 45-88. 224 HOFER, Nervenschwäche und Krieg, 244. 225 HOFER, Nerven, Kultur und Geschlecht. 225.
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ßen beansprucht hatten und damit »Opfer ihrer rastlosen Tätigkeit« geworden waren.226 Es liegt nahe zu überprüfen, ob ähnliches auch für die Tropenneurasthenie galt. In der Tat zeigen Studien über britische und amerikanische Kolonien, dass die Tropenneurasthenie eine positive Selbstidentifikation und Bewältigung des kolonialen Lebens ermöglichte.227 Zwar sei die Tropenneurasthenie auch als Bedrohung für die Männlichkeit der Kolonisatoren wahrgenommen worden und damit auch als Gefahr, die koloniale Autorität aufrechtzuerhalten, schreibt Anne Crozier. Jedoch war sie darüber hinaus »a means of stressing white civility, by constructing the work of Empire (and by implication trying to rule and administer Africans) as particularly stressful, ›harassing in nature‹ and entailing ›much mental effort‹.«228 Waren es bei der Neurasthenie die Herausforderungen und die Härte der Zivilisation, die die Ursache für das Leiden bildeten, waren es bei der Tropenneurasthenie also die große psychische und körperliche Belastung durch das Leben in den Kolonien. In den untersuchten deutschsprachigen Quellen finden sich solche positiven Sichtweisen der Tropenneurasthenie nicht. Möglicherweise ließe sich die Interpretation der Tropenneurasthenie als positives Signum für die Belastungen des modernen Kolonisators auch auf die deutsche Debatte übertragben, jedoch fehlen in den untersuchten Quellen eindeutige Aussagen. Hier wäre mitunter eine Analyse nichtmedizinischer Quellen, z. B. Autobiographien oder anderer Schriften, die generell mehr über das individuelle Erleben der Tropenneurasthenie aussagen könnten, sinnvoll; dies hätte aber zu weit von der Fragestellung der vorliegenden Arbeit weggeführt.229 Die Fokussierung auf die diagnostizierten Symptome der Tropenneurasthenie, welche die hier besprochenen Quellen nahe legen, ergeben auf jeden Fall eine andere Lesart der Tropenneurasthenie. Denn es ist auffällig, dass die europäischen Tropenneurastheniker Verhaltensweisen und Charakteristika zeigten, die 226 Ebenda. 241. Bereits Karen Nolte wies auf die geschlechterspezifischen Zuschreibungen hin, die mit den Diagnosen Neurasthenie und Hysterie verbunden waren: Der neurasthenische Mann sei »in seiner Funktion als Ernährer der Familie infolge der Widrigkeiten der Moderne im ›Kampf ums Dasein‹« erkrankt. Die hysterische Frau dagegen litt aufgrund ihrer Reproduktionsorgane oder Reproduktionsfolgen, also ihrer »Natur«, an der Hysterie. KAREN NOLTE, Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900, Frankfurt a. M.; New York 2003, 149-162, hier: 161. 227 WARWICK ANDERSON, Colonial Pathologies. American Tropical Medicine, Race, and Hygiene in the Phillippines, Durham, NC 2006; CROZIER, Tropical Neurasthenia. 228 CROZIER, Tropical Neurasthenia, 29. 229 So könnte z. B. eine Untersuchung über das Schicksal von nervös (oder psychisch) erkranktem Kolonialpersonal über die Wahrnehmung der Tropenneurasthenie hierfür Erkenntnisse bringen. Dies ist bislang aber noch nicht Teil einer Untersuchung gewesen.
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denen ähnelten, die die Ärzte auch den »primitiven Rassen« zuschrieben. Neben der »allgemeinen Nervenschwäche« äußerte sich die Tropenneurasthenie durch eine Verlangsamung und Abnahme von Willensstärke, Energie und Können: die Kolonialmediziner portraitierten Tropenneurastheniker als schwächer, als weniger zur Selbstbeherrschung fähig, als psychisch labiler und gereizter und als unter dem Verlust körperlicher und geistiger Kräfte leidend. Die Tropenneurastheniker zeigten damit Charakteristika, die dem männlichen Ideal der Zeit widersprachen, es fehlte ihnen an Vernunft, Stärke, Konsequenz und Selbstkontrolle. Dies waren genau jene Eigenschaften, die auch bei den rassenpsychiatrischen Diagnosen der »primitiven Rassen« fehlten: Man könnte sagen, die Tropenneurastheniker hatten sich an die Kolonialsubjekte angenähert. Die Wahrnehmung einer Gefahr der Assimilation der Europäer an die autochthonen Einwohner der Kolonien existierte auch in anderen kolonialen Kontexten und wurde unter dem Schlagwort der »Verkafferung« in vielen Facetten diskutiert.230 Das deutsche Koloniallexikon fasste unter »Verkafferung« »das Herabsinken eines Europäers auf die Kulturstufe des Eingeborenen«, welche durch einen zu engen Kontakt mit den »Eingeborenen« hervorgerufen werde: »Einsames Leben im Felde, in stetem Verkehr mit Farbigen, ganz besonders aber die Mischehe mit jenen begünstigt diese bedauerliche Entartung weißer Ansiedler. Der verkafferte Europäer ist trotz bisweilen vorhandener persönlicher Intelligenz stets ein verlorenes Glied der weißen Bevölkerung, da ihm selbst in diesem besten Falle eine der wesentlichsten Förderungen der heimischen Kultur, das energische Wollen und das Festhalten an einem bestimmten Plane, völlig abgehen«.231
Die Parallelen zwischen den Symptomen der Tropenneurasthenie und den Krankheitsäußerungen, die die rassenpsychiatrischen Forscher den »primitiven Rassen« zuschrieben, machen es denkbar, dass die Tropenneurasthenie als eine Art psychische »Verkafferung« der »weißen Rasse« wahrgenommen wurde. Die Tropenneurasthenie konnte dabei als Warnung vor den Gefahren des kolonialen Lebens und der Propagierung eines möglichst »zivilisierten Lebens« auch in den Kolonien dienen. Vor allem die Bedeutung und Betonung der »Zivilisation« im Kontext mit Darstellungen der Tropenneurasthenie, die ich bereits ausführlicher dargelegt habe, macht diese Lesart wahrscheinlich. Tropenärzte machten die koloniale Umgebung und den
230 FELIX AXSTER, Die Angst vor dem »Verkaffern«. Politiken der Reinigung im deutschen Kolonialismus. In: Werkstatt Geschichte 39/2005, 39-53, 53. 231 Weitere Aspekte des »Verkaffern« seien das »Nachlassen der inneren Energie« und eine daraufhin drohende »Resignation«. KARL DOVE, Verkafferung. In: Heinrich Schnee (Hg.), Deutsches Koloniallexikon, Leipzig 1920, 606, 606.
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Mangel an zivilisatorischen Errungenschaften für die Tropenneurasthenie verantwortlich. So schrieb der ehemalige Kolonialarzt Erwin Poleck, dass »die tropische, die koloniale Neurasthenie lediglich durch die engere Umgebung in vielseiteigen harten Kampfe ums koloniale Dasein bedingt ist. […] Wo immer hier annehmbare bis gesunde soziale und allgemeine Lebensbedingungen obwalten, entsteht und gedeiht keine Neurasthenie«.232
Galt die Rückkehr in die europäische Zivilisation als einzige wirksame Therapie der Tropenneurasthenie, rieten die Ärzte zur Prophylaxe für verschiedene Elemente einer »zivilisierten« Lebensführung und warben vor allem für einen gemäßigten, zurückhaltenden Lebenswandel.233 Neben möglichster Abstinenz von Alkohol und Sexualkontakten (mit der autochthonen Kolonialbevölkerung) und der Ausübung beispielsweise eines Hobbys, um die Langeweile zu vertreiben, galt diese Werbung auch der Herstellung möglichst »zivilisierter« Lebensumstände in den Kolonien.234 So schlug z. B. ein Autor vor, dies durch eine größere Anzahl deutscher Frauen in den Kolonien zu bewerkstelligen, die durch »gute deutsche Häuslichkeit« zu einem gesitteten und gesunden Leben beitragen sollten.235 Darüber hinaus wird in den Schriften Erwin Polecks besonders eindrücklich deutlich, dass es auch um die Erhaltung einer »inneren Zivilisiertheit« ging, um den Ausbruch der Tropenneurasthenie zu vermeiden.236 Poleck stellte seine Erfahrungen in den Kolonien Samoa und in Südwest- und Ostafrika gegenüber. In Samoa habe eine allgemeine Kultur des neurasthenischen »Sichgehenlassens« geherrscht, in der die dortige Kolonialgesellschaft sich nicht mehr an die Gepflogenheiten und Sitten Europas gehalten habe. Dagegen habe er beobachten können, dass die Soldaten der Schutztruppe in Afrika trotz großer körperlicher und nervlicher Anstrengung keine Anzeichen von Neurasthenie zeigten. Dies sei vor allem der »Ertüchtigung und Festigung« zuzuschreiben, die »trotz aller Gefährdung gerade kriegerische Betätigung«237 bedeutet: »Als Truppenarzt der in der Heimat leidlich vorher gesiebten Schutztruppe hat der Vortragende während des 3 1/2jährigen, ungeahnte Strapazen und dauernde Erregung des Nerven232 POLECK, Ursache, 203. 233 Ebenda, 202. 234 MENSE, Tropische Gesundheitslehre, 22. 235 PAUL SCHMIDT, Über die Anpassungsfähigkeit der weißen Rasse an das Tropenklima. In: Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene 14/1910, 397-417, 399. 236 Den Begriff der »inneren Zivilisiertheit« im Kontext der Tropenneurasthenie entlehne ich hier BRUCHHAUSEN, Sind die »Primitiven« gesünder?, 46. 237 POLECK, Ursache, 194.
264 | P SYCHOPATHOLOGIE UND »RASSE « systems mit sich bringenden Kolonialkrieges in Südwestafrika 1904-1907 erstaunt vor der Tatsache gestanden, daß […] die eigentlich erwarteten Neurasthenien kaum auftraten. Er hat dies vor allem auf die stählenden glücklichen Lebensbedingungen, vor allem aber auf den guten Geist der Truppe, auf die herrliche Kameradschaft […] beziehen wollen. Die gleiche Beobachtung ist dann auch später im Weltkrieg bei der ostafrikanischen Schutztruppe gemacht worden«.238
Im nächsten Abschnitt legte er dar, dass ein weiterer Kolonialarzt festgestellt habe, »wie der feste Wille durchzuhalten, der heilige Eifer für die große Sache, das uns Deutschen eingepflanzte Pflichtgefühl trotz der ungeheuren körperliche Anstrengungen und der andauernden Nervenanspannung« dazu geführt habe, dass Neurasthenien sogar »abebbten und verschwanden.«239 Gute soziale Lebensbedingungen, die die Tropenneurasthenie verhinderten, bedeuteten bei Poleck in erster Linie also ein gutes soziales Miteinander, die Kameradschaft und die gemeinsame kriegerische Aufgabe. Die Debatte um die Tropenneurasthenie beschreibt die Notwendigkeit, so scheint mir, eine innere Stabilität aufrechtzuerhalten, um die koloniale Ordnung zu gewährleisten. Laut Felix Axster kann man die Auseinandersetzung um die angebliche »Verkafferung« dahingehend verstehen, dass sich im Kolonialdiskurs ein »Wissen von der Anfälligkeit und Verletzlichkeit eben auch der weißen Körper« – oder im hier interessierenden Fokus der weißen Psyche – etablierte. Damit liefen die deutschen Kolonisatoren Gefahr, »ihren Status der Überlegenheit gegenüber den kolonialen Anderen zu verlieren.«240 Die Thematisierung dieser Gefährdung diente der Implementierung einer Reihe von Gegenmaßnahmen, die die rassische Ordnung in den Kolonien garantieren sollte. Sie sei aber gleichzeitig auch ein Zeichen für die »prinzipielle Unabschließbarkeit« der Konstruktion der »weißen Rasse«, die auf eine beständige Selbstvergewisserung angewiesen gewesen sei.241 Bezogen auf die Tropenneurasthenie bedeutet dies, dass der »weiße Mann« acht darauf geben musste, diese rassische Ordnung auch mittels charakterlicher Zivilisiertheit und gesitteter Lebensführung zu bewahren. Die damit verbundene potentielle Auflösung von Rassengrenzen, die »Gefahr« der zu großen Annäherung der Europäer an die kolonisierte Bevölkerung bedeutete, dass es notwendig war, sich diese Grenzen stets aufs Neue zu versichern. Dieses Kapitel resümierend kann festgestellt werden, dass die Orientierung an empirischen naturwissenschaftlichen Verfahren in der Psychiatrie zur Etablierung der 238 POLECK, Tropenneurasthenie, 211. 239 Ebenda, 212. 240 Hervorhebung im Original, AXSTER, Die Angst vor dem »Verkaffern«, 53. 241 Ebenda.
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klinischen Methode führte, in deren Folge sich der Blick auf die Symptomatologie der Erkrankungen wandelte. Durch die klinische Methode, wie Emil Kraepelin sie propagierte, gewannen objektivierbare Krankheitszeichen gegenüber den von Patienten geäußerten Symptomen an Bedeutung. Zu ersteren zählten in der psychiatrischen Praxis vor allem jene Symptome, die der Arzt ohne die Unterstützung des Patienten erheben konnte: beobachtbare Krankheitsäußerungen wie somatische Symptome und Verhaltensweisen des Patienten. Der Fokus auf empirische Verfahren bedeutete weiterhin, dass quantifizierte Belege an Aussagekraft gewannen. Wie sich an rassenpsychiatrischen Schriften zeigen lässt, erscheinen Diagnosen und Symptome dort vor allem kumuliert: Die Forscher registrierten welche Symptome häufiger, welche seltener bei einzelnen »Rassen« vorlagen und erstellten Statistiken und Tabellen über die zahlenmäßige Verteilung der Diagnosen. Die auf diese Weise quantifizierten Symptome erschienen dadurch als kollektive Eigenschaften einer Gruppe. Emil Kraepelins Forschungsreise nach Java ist ein Beispiel für die Hinwendung zur klinischen Methode und für die Folgen dieser Herangehensweise für das Wissen, welches damit produziert wurde. Kraepelins Glaube an die Macht sachlicher Beobachtung und empirischer Methoden stellte wahrscheinlich den Grund dafür dar, dass er die Einflüsse, die seine mangelnden Kenntnisse der Kultur und der Sprachen auf Java auf seine Forschungsergebnisse hatten, nicht reflektierte. Seine Exploration der Patienten und Patientinnen in der javanischen psychiatrischen Anstalt Buitenzorg führte ihn zur Annahme einer rassenspezifischen Ausformung der Symptome bei Javanern und zur Überzeugung, diese besäßen aufgrund ihrer angeblich geringeren kognitiven Fähigkeiten »wenig ausgeprägte Wahnvorstellungen«. Ob er sich unter den gegebenen Umständen überhaupt eine Meinung über die Ausformung dieser Krankheitsbilder hätte bilden können, erscheint fraglich. Es liegt nahe, dass gerade sein Streben, sich seinem Forschungsobjekt neutral und objektiv zu nähern, der Grund dafür gewesen ist, dass er die Vorstellung ablehnte, sprachlich-kulturelle Ursachen könnten einen Einfluss auf seine Ergebnisse haben. Denn auch wenn seine Zeitgenossen die mangelnden kulturellen und sprachlichen Kompetenzen Kraepelins bereits zu seiner Zeit kritisiert hatten, nahm er von seiner Meinung eines rassenspezifischen Mangels an Wahnvorstellungen keinen Abstand. Die Annahme, dass das »Wesen« bzw. die »Natur« der »Rassen« auf die Art und Ausprägung von Symptomen einwirkten, teilten auch weitere Forscher innerhalb des Diskurses um »Rasse und Psychopathologie«. Die Diagnosen sind dabei der Ort, an dem »Rasse« am deutlichsten fixiert werden konnte: Rassenkrankheiten, so hatte man festgestellt, also Leiden, die vermeintlich nur bei einzelnen »Rassen« vorliegen und gegen die andere immun sind, gab es nicht. Einzig bei der Häufigkeit einzelner Diagnosen und in der Gestalt ihrer Symptome glaubten die Forscher, Merkmale rassischer Differenz identifizieren zu können. Sie rekurrierten dabei auf Stereotype über die untersuchten »Rassen«. So erschienen Außereuropäer in den
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Symptomdarstellungen als übermäßig erregbar, gewalttätig, weniger intelligent, konnten sich nicht beherrschen und waren willensschwach. Dagegen fokussierten die meisten Publikationen über Juden weniger auf die Frage der unterschiedlichen Symptome. Zwar stellten viele Texte ebenfalls die Behauptung gruppenspezifischer Symptome auf, wie z. B. das angeblich häufigere Quengeln bei jüdischen Patienten und Patientinnen, sie bildete jedoch nicht deren Zentrum. Die Publikationen von Hans Burkhardt und Johannes Lange waren in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Beide glaubten in den Symptomen ihrer Patienten und Patientinnen Charakterzüge und Verhaltensweisen wiederzuerkennen, die ihre Vorurteile über Juden bestätigten. Die Tatsache, dass ihre jüdischen Patienten und Patientinnen angeblich typisch »jüdische« Eigenschaften zeigten, galt ihnen als Beweis, dass es sich hierbei um rassische Eigenschaften handelte. Der Diskurs über »Rasse« und Psychopathologie weist neben diesen Aspekten jedoch auch andere Positionen auf, die die Ursache für differente Symptome nicht in den Eigenschaften der »Rasse« sahen. Diese Gruppe von Autoren – bestehend zumeist aus den denjenigen, die sich mit der »Psychopathologie der Juden« beschäftigen – vertrat eine divergierende Meinung. Die Erklärung der differenten Symptome bei Juden lag demnach nicht in deren »Wesen«, sondern in der beruflichen Stellung und Bildung der Mehrheit der Juden, die sie für bestimmte Symptome disponiere. Als Gründe wurden ferner die Wünsche nach Gleich- oder Höherstellung oder der Exotenstatus angeführt, der das »Anderssein« jüdischer Patienten in einer nichtjüdischen Klinikumwelt steigere. Diese Erklärungen beruhten ebenfalls auf der Vorstellung einer prinzipiellen Andersartigkeit der Juden, bemühten dafür aber eher psychologische und soziale-kulturelle als rassenbiologische Argumente. Damit konnten Positionen in den Diskurs integriert werden, die psychologisch-soziale Erklärungen der Krankheitsentstehung zuließen und alternative psychiatrische Erklärungen »sagbar« machten. Während die Darstellungen von »Rassensymptomen« bei Juden und Außereuropäern größtenteils abwertende und klischeehafte Aussagen beinhaltete, zeigen Beschreibungen von Symptomen bei der »weißen Rasse« ein mehrdeutiges Bild. Im Rahmen der Konstitutionsforschung beinhalteten solche Schriften Vorstellungen rassischer Höherwertigkeit: der »nordische Mensch« erscheint noch in seiner Psychopathologie als überlegen. Die in seinen Symptomen gespiegelten Charaktereigenschaften – Beherrschtheit, Distanziertheit, Kühle, Stärke – lassen ihn zwar nicht unbedingt als »sympathisch« erscheinen. Sie können aber als positive Darstellung gelesen werden, da sie dem bürgerlichen Ideal eines vernunftorientieren Menschen bzw. Mannes entsprachen und gleichzeitig Führereigenschaften signalisierten. Der »Stellenwert« der Tropenneurasthenie war dagegen vielfältiger und uneindeutiger. Ähnlich wie die Neurasthenie in Europa ermöglichte das Krankheitsbild der Tropenneurasthenie wahrscheinlich eine Auseinandersetzung mit den Proble-
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men, Belastungen und Gefahren, die das Leben in den Kolonien und der koloniale »Kampf ums Dasein« bedeuteten. Damit war eine positive Selbstaneignung des Krankheitsbildes möglich. War in der Debatte um die Neurasthenie thematisiert worden, wie der westliche Mann mit den Neuerungen der modernen Zivilisation zurechtkommen konnte, hatte der Kolonialist nun die Möglichkeit, die Probleme und Ängste kolonialer Herrschaft mithilfe der Tropenneurasthenie zu verarbeiten. Eine genaue Analyse des Krankheitsbildes der Tropenneurasthenie zeigt darüber hinaus jedoch noch einen weiteren Aspekt der Debatte. Der Tropenneurastheniker galt als reizbarer, neigte ebenfalls zu unkontrollierten Gefühls- und Gewaltausbrüchen, verlor seine Selbstkontrolle. Die Tropenneurasthenie führte damit zu Symptomen, die im rassenpsychiatrischen Diskurs auch den »primitiven Rassen« zugeschrieben wurden. Diese Angst, sich der autochthonen Kolonialbevölkerung zu sehr anzugleichen, spiegelt sich in der Debatte um die »Verkafferung«, die zeitgleich in verschiedenen Feldern des kolonialen Diskurses diskutiert wurde. Nach der zeitgenössischen Auffassung bedeutete die »Verkafferung« eine Angleichung des Europäers an die »primitiven« Lebens- und Verhaltensweisen der autochthonen Bevölkerung und damit eine Aufgabe der »Zivilisiertheit«. Im Diskurs um die Tropenneurasthenie gab es dazu eine Parallele, denn als deren Hauptursache galt der Mangel an »zivilisierten« Lebensumständen, die zu einem Verlust der »inneren Zivilisiertheit« führe. Prophylaktisch warben die Ärzte daher für die Erhaltung eines Lebensstils, der diese »innere Zivilisiertheit« aufrechterhielt. Die Debatte um die Tropenneurasthenie diente somit dazu, auch in den Kolonien die Notwendigkeit einer bestimmten Art der »zivilisierten« Lebensführung nachzuweisen.
6 Ausblick. Die rassenpsychiatrische Forschung nach 1933
Michael Burleigh und Wolfgang Wippermann haben den NS-Staat als »Racial State« beschrieben, in dem »Rasse« eine zentrale Stellung eingenommen hat. Demnach bildeten der rassistische Antisemitismus und die Vorstellung von der Notwendigkeit einer Erneuerung der »arischen Rasse« die Basis für den ideologischen und politischen Handlungsrahmen des NS-Staates.1 Man könnte daher annehmen, dass die rassenpsychiatrische Forschung in der NS-Zeit einen Boom erlebte. Dies war jedoch nicht der Fall. Im Gegenteil nahmen die Publikationen über »Rasse« und Psychopathologie ab, so daß bis Kriegsbeginn 1939 lediglich ein bis drei, höchstens jedoch sechs Aufsätze pro Jahr erschienen. Danach versiegten die Publikationen fast vollständig.2 Sowohl die Themen als auch die Positionen waren dabei nicht
1
MICHAEL BURLEIGH und WOLFGANG WIPPERMANN, The Racial State: Germany 1933-
2
1940 erschien noch ein Aufsatz von WALTER HORN, Untersuchungen und Beobachtun-
1945, Cambridge 1991, 304f. gen an geisteskranken Juden. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 117/1941, 167180. 1949 erschien dann eine Dissertation von Georg Uhrmann in München, die in Duktus und Argumentation an die zwanziger Jahre nahtlos anschließt. Georg Uhrmann erwähnt in der Abhandlung mit keinem Wort die Verfolgung und Vernichtung der Juden während des Nationalsozialismus. Die Arbeit besteht im Wesentlichen aus einer Zusammenfassung der Literatur von vor 1933 zum Thema, ergänzt um eine eigene Zählung »unter den Gesamtaufnahmen der Münchner Psychiatrischen Klinik«. Uhrmann erwähnt den Zeitpunkt der Zählung nicht, nur die Diagnosestellung und das Verhältnis der jüdischen Patienten und Patientinnen im Vergleich zu ihrem Anteil am Bevölkerungssatz. Aufgrund der hohen Anzahl von 153 jüdischen Patienten und Patientinnen ist es nicht
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grundsätzlich neu, jedoch verlagerte sich der thematische und argumentative Schwerpunkt der Forschung. Die Abnahme der Publikationen über »Rasse« und Psychopathologie spiegelt die allgemeine Entwicklung im Bereich der »Rassen«-und Erbforschung nach 1933 wider. Die Bedeutung von »Rasse« für den NS-Staat führte zu einer Institutionalisierung von Rassenkunde und Rassenhygiene an den Universitäten nach 1933. Im Zuge der Institutionalisierung und Etablierung dieser Fächer an den Universitäten stellte sich jedoch heraus, dass der ideologisch motivierte Versuch, unter dem Label »Rassenbiologie« eine Verbindung beider Forschungsrichtungen zu schaffen, nicht gelang.3 Die Ausdifferenzierung der Fächer hatte schon vor 1933 begonnen und führte in den folgenden Jahren zur Marginalisierung klassischer anthropologischer Forschung und zur Dominanz eugenisch orientierter Vererbungsforschung.4 Zwar fand auch nach 1933 rassenanthropologische Forschung statt.5 Doch konnte sich die Rassenanthropologie gegenüber der starken Konkurrenz durch die Rassenhygiene nicht durchsetzen – nicht zuletzt weil die Erbforschung durch die Entwicklung neuer Methoden eine Reihe von weiterführenden Erkenntnissen vorweisen konnte.6 Auch in der Psychiatrie waren erbpsychiatrische Fragestellungen bereits in den späten zwanziger Jahren vor allem von Ernst Rüdin vorangetrieben worden.7 Erst mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten jedoch schwengte das gesamte Fach auf Forschung in diese Richtung um.8 Rassenpsychiatrische Fragestellungen auszuschließen, dass sich diese Erhebung auf Zahlen vor dem Krieg bezieht. Einzig Uhrmanns Schlussworte weisen darauf hin, dass es sich doch um eine Nachkriegserhebung gehandelt haben könnte, denn er schreibt, dass durch »die Verschiebung des Bevölkerungssatzes der Juden durch Ein- und Auswanderungen« die Zahlen ungenau seien, man aber daher annehmen könne, dass eine »noch grössere Beteiligung der Juden an Geisteskrankheiten« gegeben sei, weil ausschließlich Juden von den »Ein- und Auswanderungen« betroffen seien. UHRMANN, Psychosen bei den Juden. 21f. 3
WEINGART, KROLL und BAYERTZ, Rasse, Blut und Gene, 424-434.
4
COTTEBRUNE, Der planbare Mensch (2008), 209-213; WEINGART, KROLL und BAY-
5
ACHIM TRUNK, Zweihundert Blutproben aus Auschwitz. Ein Forschungsvorhaben zwi-
ERTZ,
Rasse, Blut und Gene, 424-434.
schen Anthropologie und Biochemie (1943-1945), Berlin 2003; IRMTRUD WOJAK, Das »irrende Gewissen« der NS-Verbrecher und die deutsche Rechtsprechung. Die »jüdische Skelettsammlung« am Anatomischen Institut der »Reichsuniversität« Straßburg. In: FritzBauer-Institut (Hg.), »Beseitigung des jüdischen Einflusses.« Antisemitismus, Forschung, Eliten, Karrieren (Jahrbuch des Fritz-Bauer Instituts) 1998/1999, 101-130. 6
COTTEBRUNE, Der planbare Mensch (2008), 209.
7
Ebenda, 62-91; ROELCKE, Entwicklung. 121-124.
8
VOLKER ROELCKE, Psychiatrische Wissenschaft im Kontext nationalsozialistischer Politik und »Euthanasie«. Zur Rolle Ernst Rüdins und der Deutschen Forschungsanstalt für
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scheinen dabei angesichts der Forschungsmöglichkeiten, die sich etwa in der statistischen Erbprognose, Kriminalpsychiatrie oder Zwillingsforschung boten, weniger attraktiv gewesen zu sein. Für Rüdin und andere war die Ausrichtung auf die Erbforschung zudem mit der Bereitstellung erheblicher finanzieller Mittel verbunden.9 »Rasse« als Leitidee spielte in dieser Forschung zwar ebenfalls eine Rolle, jedoch ging es um die rassische Optimierung der deutschen Bevölkerung, nicht so sehr um den Vergleich der »Rassen« untereinander. Rüdin, der ja erst 1929 einen Versuch unternommen hatte, ein Forschungsprogramm zur Rassenpsychiatrie auf internationaler Ebene zu lancieren, unterstütze zwar weiterhin einzelne seiner DFA-Mitarbeiter mit ihren rassenpsychiatrischen Forschungsfragen. Die Schwerpunkte der Forschungstätigkeiten der DFA lagen jedoch im Bereich psychiatrisch-genetischer Fragen. Auch die im Rahmen der Gemeinschaftsarbeiten für Rassenforschung von der DFA bereits Ende der 1920er Jahre begonnenen medizinisch-anthropologischen Großstudien wurden nicht weitergeführt und liefen 1933/34 aus.10 Diese Studien, die als Gesamterhebung der Bevölkerung zweier bayerischer Bezirke geplant waren, erhoben zwar sowohl psychiatrische als auch anthropologische Daten, eine Auswertung in Hinsicht auf deren Korrelation und damit auf den Zusammenhang zwischen »Rasse« und psychischer Erkrankung fand jedoch nicht statt.11 Den Schwerpunkt der wenigen Publikationen zu »Rasse« und Psychopathologie bildeten Untersuchungen, die rassenpsychiatrische Fragen mit Fragen zur Konstitutionsforschung verbanden. Auch hierbei blieben die Themen im Wesentlichen denen ähnlich, über die bereits vor 1933 geforscht worden war. Hauptsächlich interessierte die Forscher der Zusammenhang von Konstitutions- und Rassentypen bei den »endogenen« Erkrankungen wie Schizophrenie und manisch-depressivem Irresein innerhalb der deutschen Bevölkerung. So untersuchte beispielsweise Walter Plattner 1933 einhundert Schizophrene danach, wie diese auf die nordische, alpine und dinarische »Rasse« sowie auf den leptosomen, athletischen und pyknischen Konstitutionstyp verteilt waren.12 Er stellte eine Korrelation von »Rassen«- und Konstitutionstypus nach dem Muster nordisch-asthenisch, alpin-pyknisch und dinarisch-athletisch fest.13 Mehrere Publikationen aus der Zeit stammen von Albert Harrasser, einem Mitarbeiter Rüdins, der sowohl eine medizinische als auch eine anthPsychiatrie/ Kaiser-Wilhelm-Institut. In: Doris Kaufmann (Hg.), Geschichte der KaiserWilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2000, 95-111, 117f. 9
COTTEBRUNE, Der planbare Mensch (2008), 142-145.
10 Ebenda, 100. 11 Vgl. dazu auch Kap 3.2.2. 12 PLATTNER, Rassenmischungen. 13 Ebenda, 429.
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ropologische Ausbildung besaß.14 Seine Ergebnisse zur Korrelation von »Rasse«und Konstitutionstypus bei 900 Schizophrenen zweier oberbayerischer Anstalten blieben jedoch vage.15 Ernst Rittershaus, der schon vor 1933 über das Konstitutionsproblem geforscht hatte, brachte unter anderem 1936 das Buch Konstitution oder Rasse? heraus. Darin vertrat er die These, dass jede »Rasse« ihren eigenen Konstitutionstypus habe und nahm ausführlich zu rassenpsychiatrisch-konstitutionstypologischen Fragen Stellung.16 Gegen die Schriften, die einen Zusammenhang von »Rasse« und Konstitution herstellten, positionierte sich 1937 noch einmal Ernst Kretschmer, der wie bereits in seiner Publikation von 1923 unterstrich, beide Kategorien seien unterschiedliche Dinge.17 Die rassenpsychiatrisch-konstitutionstypologische Forschung wurde zurückhaltend rezipiert. So bewertete ein Rezensent beispielsweise die Ergebnisse von Rittershaus 1935 als »alles andere als neu«.18 Johannes Schottky, der 1937 ein umfassendes Buch über »Rasse« und Krankheit herausbrachte, streifte in seinem Überblick über »Rasse« und Geisteskrankheiten die Thematik nur kurz.19 Nachdem in den Jahren 1936/37 insgesamt sieben Publikationen hierzu erschienen waren, hielt in den Folgejahren allein Albert Harrasser am Thema fest. Neben der konstitutions- und rassentypologischen Forschung wurden weitere Themengebiete der rassenpsychiatrischen Forschung fortgeführt. So griffen einige Autoren das Thema der psychischen Gesundheit der Kolonialbevölkerung auf. Kolonialpsychiatrische Themen verschwanden also auch nach dem Ende der deutschen 14 ALBERT HARRASSER, Konstitution und Rasse, 1933, 1934, 1935, 1936. In: Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie 9/1937, 471-490; ALBERT HARRASSER, Konstitution und Rasse bei oberbayrischen endogenen Psychotikern. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 158/1937, 471-480; ALBERT HARRASSER, Zur Methode der Konstitutions- und Rassendiagnose bei Schizophrenen. In: Zeitschrift für menschliche Vererbungs- und Konstitutionslehre 22/1938, 441-455; HARRASSER, Rasse und Körperkonstitution; ALBERT HARRASSER, Zur Bedeutung und Methode der Anthropologie bei erbbiologischen Untersuchungen in schizophrenen Sippen. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und ihre Grenzgebiete 110/1939, 168-178; ALBERT HARRASSER, Wege und Ausblicke im Konstitutionsproblem und ihre Beziehungen zur Rassenforschung. In: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 35/1941, 368-426. 15 HARRASSER, Rasse und Körperkonstitution, 128. 16 ERNST RITTERSHAUS, Konstitution oder Rasse?, München 1936, 39-56, 86-92. 17 KRETSCHMER, Konstitution und Rasse (1923); KRETSCHMER, Konstitution und Rasse (1937). 18 D. COSTA, Das rassenkundliche Schrifttum des Jahres 1935. In: Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete 8/1936, 421-436, 426. 19 JOHANNES SCHOTTKY, Geisteskrankheiten und Rasse. In: Ders. (Hg.), Rasse und Krankheit, München 1937, 176-214, 211.
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Kolonialherrschaft nicht gänzlich aus dem Blickfeld: Die Autoren behandelten die nervliche Belastung der Europäer in den Tropen wie auch die gesundheitliche Situation der autochthonen Kolonialbevölkerung in Schriften, die inhaltlich im Wesentlichen den Diskurs der Zeit vor 1933 fortführten.20 Neu war allein, dass zum ersten Mal in einer psychiatrischen Zeitschrift über die psychiatrische Anstalt Lutindi im ehemaligen Kolonialgebiet Deutsch-Ostafrika berichtet wurde: 1934 erschien von G.P. Richard Brachwitz ein Aufsatz, der die Geschichte Lutindis und der dortigen Krankenbehandlung wiedergab und keine rassenpsychiatrischen Erkenntnisse produzierte.21 Am deutlichsten machte sich der Wandel zu der Zeit vor 1933 bei Publikationen über die »Psychopathologie der Juden« bemerkbar: Zum einen nahm die Anzahl der Forschungsstudien über psychische Erkrankungen bei Juden, die bislang den Schwerpunkt der Publikationstätigkeit gebildet hatten, stark ab. Zum anderen verbreitete sich jedoch die Behauptung von der rassischen Disposition der Juden zu psychischen Erkrankungen über das eigentliche rassenpsychiatrische Schrifttum hinaus in der weiteren medizinischen, psychiatrischen und biowissenschaftlichen Literatur. Die Frage, wie die Debatte über die »Psychopathologie der Juden« nach 1933 weitergeführt wurde, ist angesichts der nationalsozialistischen Judenpolitik natürlich von besonderem Interesse. Deshalb, und weil sich an der Behandlung der »Psychopathologie der Juden« die Veränderungen, die durch den politischen Machtwechsel im Diskurs nach 1933 hervortraten, besonders deutlich zeigen, werden diese Schriften im Folgenden ausführlicher analysiert. Rafael Becker hatte 1932 noch eine umfangreiche Bibliographische Übersicht über Literatur aus dem Gebiete der Geisteskrankheiten bei den Juden erstellt, in der knapp 200 deutschsprachige und internationale Titel zu dem Thema versammelt waren.22 Zwischen 1933 und 1945 sind demgegenüber nur noch drei Studien zu finden, die explizit die Thematik untersuchen: eine Schrift von Johannes Bresler aus dem Jahre 1933, die Dissertation von Jizchok Taitz, die 1937 in der Schweiz publiziert wurde, sowie eine Studie von Walter Horn aus dem Jahr 1941.23 Offenbar ist die Tatsache, dass Taitz seine Dissertation an der Universität Basel einreichte, der Grund dafür, dass er argumentativ an die lamarckistisch-soziologischen Erklärun-
20 RODENWALDT, Die seelische Belastung; P.J. VAN DER SCHAAR, Die Paralyse bei den Eingeborenen auf Java. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 151/1934, 497-558; TÖBBEN, Totschlag bei Tropenkoller. 21 BRACHWITZ,, Geisteskrankenbehandlung. 22 BECKER, Bibliographische Übersicht. 23 HORN, Untersuchungen; JIZCHOK TAITZ, Psychosen und Neurosen bei Juden. Medizinische Fakultät, Universität Basel, Basel 1937, Betreuer John Eugen Stähelin.
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gen anknüpfte, die vor 1933 die Mehrheit gebildet hatten.24 So betonte er, dass es keine spezifische »Psychosis Judaica« gäbe, und wiederholte das Argument, dass selbst wenn eine gewisse Prävalenz für bestimmte psychische Erkrankungen unter Juden vorhanden sei, dies nicht an den angeblichen Rassenmerkmalen der Juden läge, sondern deren vergangene und derzeitige Lebenssituation hierfür ursächlich sei. Die Zeichen der Zeit waren in seinem Text deutlich erkennbar, da er nachdrücklich auf den Rassediskurs einging, der den Ton der Zeit beherrsche: So schreib er, dass die »Begriffe ›Jude‹ und ›Rasse‹ zur Zeit miteinander so eng verknüpft« seien, dass »fast regelmäßig das Wort ›Jude‹ die Assoziation ›Rasse‹ auslöst«.25 Er kritisierte Rassentheorien im Allgemeinen und die wissenschaftliche Behandlung der »Psychopathologie der Juden« nachdrücklicher als seine Kollegen vor 1933. So bemerkte er, keine Literatur sei »so von Tendenzen der Autoren bestimmt wie gerade diese«. Ferner wandte er sich in seiner Kritik der »›Rassisten‹«(Anführungszeichen im Original) deutlich gegen die These von der Existenz einer »jüdischen Rasse« und betonte, dass die Behauptung der Überlegenheit der nordischen »Rasse« und die Rassenlehre an sich ein »Kampfmittel gegen Demokratie und Gleichberechtigung« sei.26 Die beiden anderen Texte stehen dem Aufsatz von Taitz diametral gegenüber. Beide formulieren radikaler als zuvor veröffentlichte Schriften die politischen Schlüsse, die sich für ihre Autoren ergaben. So schrieb Johannes Bresler, pensionierter Leiter der Anstalt Kreuzburg in Oberschlesien und Herausgeber der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift, im Vorwort seiner Schrift Verbrechen und Geisteskrankheiten bei Juden vom Oktober 1933, diese solle »das Verständnis für den deutschen Nationalsozialismus wecken helfen«.27 In seinem Aufsatz buchsta-
24 Angesichts seines Vornamens ist wahrscheinlich, dass Jizchok jüdischer Herkunft war. Spätestens seit 1937 war es Juden verboten, an den reichsdeutschen Universitäten zu promovieren, an vielen Universitäten war ihnen das bereits vorher erschwert oder verwehrt worden. ALBRECHT GÖTZ VON OLENHUSEN, Die »nichtarischen« Studenten an den deutschen Hochschulen. Zur nationalsozialistischen Rassenpolitik 1933-1945. In: Vierteljahrshefte zur Zeitgeschichte 14/1966, 175-206, 191. 25 TAITZ, Psychosen und Neurosen bei Juden. 7-11, hier: 10. 26 Ebenda. 5, 13f., 33-37. 27 JOHANNES BRESLER, Geisteskrankheiten und Verbrechen bei Juden. Über die Veredelung des menschlichen Geschlechtes (Druck der Kreuzburger Nachrichten 1933, Schriften zum Wiederaufbau der Möbius-Stifung in Leipzig, Kreuzburg/ Oberschlesien 1933, 22-28, 3. Die Möbius-Stiftung war eine Stiftung zur Förderung psychiatrischer und neurologischer Forschung, die nach der Inflation das Stiftungsvermögen verloren hatte. Johannes Bresler setzte sich für die Wiederbelebung der Stiftung ein und gab die Schriftenreihe heraus. ULRICH ROTTLEB und HOLGER STEINBERG, Die Möbius-Stiftung - Eine
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bierte er nun das aus, was in den vorangegangenen Jahren nur den Subtext rassenpsychiatrischer Publikationen gebildet hatte: eine Warnung vor einer Vermischung mit Juden aufgrund ihrer angeblich psychopathologischen Belastung. »Der Ausspruch von P. J. Möbius: ›Der Jude schlägt gewöhnlich durch‹ gibt Anlaß, dem Gesundheitswert des Judentums näher zu treten« beginnt Bresler seine Schrift. Obwohl Juden eine größere Alkoholabstinenz und »vorsichtigere Lebensweise« pflegten, träten psychische Erkrankungen häufiger auf. Dies liege an dem »Überwiegen der Geisteskrankheiten endogener Art, also der aus inneren Ursachen sich entwickelnden und erblichen Geisteskrankheiten«.28 Es sei zwar schwer zu beurteilen, »warum dies so ist und was überhaupt im Leben einer Rasse das vermehrte Auftreten dieser erblichen Geisteskrankheiten bedeutet,«; jedoch sei das, »was mit diesen Krankheiten beim Judentum ›durchschlägt‹ etwas so Bedenkliches, daß kein Volk die beständige und fortschreitende Verschmelzung mit der jüdischen Rasse, geschweige ihr Überhandnehmen, bevölkerungspolitisch und rassehygienisch als einen Vorteil ansehen wird«.29 Bresler sah daher die Notwendigkeit, »deutsche Stammbäume«, und zwar »besonders kranke«, auf das »Vorkommen jüdischer Beimischungen und Belastungen zu prüfen«.30 Er warnte damit nicht nur vor einer Vermischung mit Juden, sondern deutete auch an, psychische Erkrankungen bei »Deutschen« seien auf die Vermischung mit Juden zurückzuführen. Die These, dass die Vermischung von »zu weit voneinander entfernten Rassen« zur einer »Bastardrasse« mit minderwertigeren Erbanlagen führe, war zwar nicht neu.31 Während der NS-Zeit wurde die negative Bewertung der Rassenmischung jedoch zu einem politisch gesetzten Wissensbestand.32 Quellenstudie zur Geschichte der psychiatrischen und neurologischen Forschungsförderung. In: Psychiatrische Praxis 34/2007, 188-193. 28 Hervorhebung im Original BRESLER, Geisteskrankheiten. 25. 29 Hervorhebung im Original, ebenda. 30 Ebenda. 31 Zur Diskussion um Rassenmischung vor 1933 vgl. LIPPHARDT, Biologie der Juden, 102113, 152-160; in Bezug auf die »deutsch-jüdische Mischehe« während des NS: ALEXANDRA
PRZYREMBEL, »Rassenschande«. Reinheitsmythos und Vernichtungslegitimation im
Nationalsozialismus, Göttingen 2003, 30-42; zu Bastardisierungstheorien GROSSE, Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft 1850-1918, 176-192. 32 SCHMUHL, Rasse, Rassenforschung, Rassenpolitik. 25f. Nicht alle Forscher stimmten der negativen Wirkung der Rassenmischung zu: Eugen Fischer wurde z. B. aufgrund seiner Forschungen über die »Rehoboter Bastarde« kritisiert, da er darin nicht ausschließlich negativ über Rassenmischung geurteilt hatte. Allerdings wusste er sich der Kritik wohl geschickt zu entziehen. SCHMUHL, Grenzüberschreitungen, 176ff. Zu Fischers Studien in Rehobot: NIELS LÖSCH, Rasse als Konstrukt. Leben und Werk Eugen Fischers, Frankfurt a. M. 1997, 65-75.
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Für Walter Horn bildete der Erlass des Reichministers des Inneren vom 30.8.1940 Anlass, einen Aufsatz über psychische Erkrankungen bei Juden zu schreiben. In diesem Erlass wurde verfügt, dass alle nach den Nürnberger Gesetzen als Juden geltenden Patienten und Patientinnen, die in »nichtjüdischen« Einrichtungen untergebracht waren, in zentralen Sammelstellen im Reich zusammenzulegen seien. Horn schrieb, dass er die Gelegenheit nutzen wolle, einen »Rückblick über die Durchsetzung unserer Anstalten mit geisteskranken Juden zu gewinnen«, da die als Juden geltenden Patienten und Patientinnen die Anstalt nun verließen.33 Er begrüßte »die Entfernung dieser Fremdrassigen« ausdrücklich, da der »weitere Aufenthalt von Juden in den öffentlichen und privaten Anstalten« eine »im nationalsozialistischen Staate nicht mehr tragbare Belastung darstellen würde.«34 De facto bedeuteten diese Verlegungen für die Betroffenen den Tod. Anders als bei »arischen« Psychiatriepatienten und -patientinnen, die aufgrund des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« zur Tötung selektiert wurden, war bei Juden die Diagnose nebensächlich, es genügte die »rassische Zugehörigkeit« für die Verbringung in die Tötungsanstalten.35 Durch die Zentralisierung und ohne Kontakt zu den Angehörigen gerieten jüdische Psychiatriepatientinnen und -patienten noch schneller in die Tötungsmaschinerie der NS-Euthanasie.36 Für seine Untersuchung zog Horn nicht nur Anamnesen der aktuellen Patienten und Patientinnen, sondern auch die Krankenakten von Juden seit der Gründung der Anstalt 1855 heran. Die Tatsache, dass Horn Daten aus diesem weiten Zeitraum benutzte und er den Zeitpunkt der Deportation für seine Untersuchung wählte, spricht ebenso wie seine Formulierung, er wolle einen »Rückblick« über die Zeit erhalten, in der »unsere Anstalten« mit Juden »durchsetzt« gewesen seien, eine deutliche Sprache. Vor dem Hintergrund, dass die »Euthanasieaktionen« im NS-Regime ein »offenes Geheimnis« darstellten, über das auch die Öffentlichkeit bescheid wusste, ist es ist wahrscheinlich, dass er ahnte oder sogar wusste, dass seine Patienten und
33 HORN, Untersuchungen, 179. 34 Ebenda, 179f. 35 ANNETTE HINZ-WESSELS, Das Schicksal jüdischer Patienten in brandenburgischen Heilund Pflegeanstalten im Nationalsozialismus. In: Kristina Hübener (Hg.), Brandenburgische Heil- und Pflegeanstalten in der NS-Zeit, Berlin 2002, 259-286, 268f. Vgl. zum Schicksal jüdischer Psychiatriepatienten und -patientinnen ferner: HENRY FRIEDLANDER, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997, 418-420; HENRY FRIEDLANDER, Jüdische Anstaltspatienten in Deutschland. In: Götz Aly (Hg.), Aktion T4 1939-1945. Die »Euthanasie«-Zentrale in der Tiergartenstraße 4, Berlin 1989, 34-44. 36 Ebenda.
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Patientinnen dem Tode geweiht waren.37 Seine Formulierungen legen nahe, dass er seine rassenpsychiatrische Studie gewissermaßen als Schlusspunkt der Ära einer Anwesenheit von Juden verstand und nun die letzte Gelegenheit nutzten wollte, diese vor ihrem Tode noch wissenschaftlich zu untersuchen. Horn meinte, seine Studie könne hinsichtlich der »psychiatrischen Diagnostik, der psychischen Hygiene, der Erbbiologie, der Rassenpolitik und der sozialen Medizin« aufschlussreich sein. Deutlich wird jedoch, dass er inhaltlich nicht viel an Erkenntnissen zu bieten hatte. Er glaubte zwar, eine »schwächlich-asthenische Figur« bei jüdischen Schizophrenen feststellen zu können und behauptete, seine anthropologischen Messungen hinsichtlich der Haar- und Augenfarbe ergäben »die bekannten Tatsachen über den Phänotypus der jüdischen Rasse«.38 Die »psychiatrische Einordnung der Krankheitszustände« und die »Würdigung« der »klinischen Verlaufsformen der Schizophrenie und des zirkulären Irreseins mit ihrer erblichen Belastung und Altersgliederung« fielen jedoch nur beschreibend aus – ohne Ableitung eigener Schlüsse.39 Damit fiel sein Beitrag zu den genannten wissenschaftlichen Feldern eher bescheiden aus. Für die Zeit nach 1933 zeigt sich, dass die genannten Autoren eindeutiger politisch Stellung bezogen als jene aus der Weimarer Republik. Auch Taitz’ Warnung vor der Inanspruchnahme der Rassenlehre für die Rechtfertigung von Ungleichheit fällt für eine psychiatrische Qualifizierungsschrift sehr nachdrücklich aus und ist in dieser Form innerhalb biowissenschaftlicher oder medizinischer Publikationen vor 1933 äußerst selten. Auf der anderen Seite wird die antisemitische Haltung von Bresler und Horn besonders deutlich: Juden werden nicht nur als »anders« und »fremd« beschrieben, sondern beide befürworten auch eine Separation von Juden und Nichtjuden. Bresler nutzt seine wissenschaftliche Arbeit sogar, um die angebliche Gefahr der Vermischung der Juden mit »Ariern« nahezulegen. Eine ähnliche Haltung und Argumentation findet sich vor 1933 nur in Theo Langs Aufsatz von 1932.40 Dieser Aufsatz war jedoch in den Nationalsozialistischen Monatsheften und damit außerhalb wissenschaftlicher Debatten zu diesem Thema erschienen. Obwohl weniger Ärzte Studien mit neuem empirischen Material über Juden hervorbrachten oder vorhandene statistische Ergebnisse diskutierten, war das Thema in psychiatrischen, medizinischen und biowissenschaftliche Schriften stets präsent, häufig nun mit deutlich antisemitischer Färbung. Im Baur-Fischer-Lenz, dem Standardwerk der Vererbungslehre der Zeit, hatte Fritz Lenz schon in den zwanziger Jahren in einem Unterkapitel über Erbliche Geisteskrankheiten und Psychopa37 FRIEDLANDER, Der Weg zum NS-Genozid, 117-151; ROBERT GELLATELY, Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk. 2. Auflage, Bonn 2004, 145-152. 38 HORN, Untersuchungen, 179. 39 Ebenda, 179f. 40 LANG, Belastung.
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thien auf die angeblich häufigere Verteilung einzelner Diagnosen unter Juden hingewiesen. In der vierten Auflage von 1936 weitete er diese Hinweise aus und fügte hinzu, in der jüdischen Bevölkerung seien die »Geisteskrankheiten doppelt bis dreimal so häufig«.41 Hatte er die Behauptung einer höheren Prävalenz der Hysterie unter Juden noch 1923 mit kritischen Worten begleitetet, vertrat er nun die Ansicht, die Hysterie sei häufiger unter Juden, da diese »im Durchschnitt einen weniger ausgesprochen männlichen Charakter haben«.42 Auch andere Autoren stellten nun viel deutlicher den rassenspezifischen Charakter der beobachteten Unterschiede heraus. So wiederholte Luxenburger in einer Sammelbesprechung von Literatur über Angewandte Erblichkeitslehre, Sozialbiologe und Rasse die bereits vorher häufig geäußerte Ansicht, dass es zwar im Allgemeinen zu wenig gesicherte Erkenntnisse über den Zusammenhang von »Rasse« und Psychopathologie gebe, nicht jedoch im spezifischen Fall der Juden: »Die heute einigermaßen gesicherten Ergebnisse betreffen eigentlich nur die im jüdischen Volk zusammengeschlossenen orientalischen und vorderasiatischen Rassengruppen.«43 Dabei führte Luxenburger als Teil dieses »gesicherten« Wissens vor allem die angeblichen rassenspezifischen Symptome der Juden an, nach denen sich bei diesen häufiger eine »reaktive Labilität« zeige, sie oft »unruhig« und »unzufrieden« seien.44 Diese Einschätzung teilen auch weitere Autoren.45 Wie schon in Kapitel 5 beschrieben, beschäftigte sich etwa Hans Burkhardt in einschlägiger Weise mit dem Thema. In einem Aufsatz über Endogene Psychosen bei der nordischen Rasse aus dem Jahr 1935 schrieb er, der »charakteristische Zug bei den jüdischen Psychosen« sei »eine Art von reaktiver Labilität, die weder recht in das syntone, noch in das autistische Register passt und mit den Worten Unruhe und Unzufriedenheit (bei manischer Färbung als Neigung zum Hetzen und Quengeln, bei depressiver Färbung als gehetzte Ängstlichkeit sich äußernd) gekennzeichnet wurde.« Dadurch werde ein »reiches Ausdrucksregister, starke Bezogen41 FRITZ LENZ, Menschliche Auslese und Rassenhygiene. In: Erwin Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz (Hg.), Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene. 2. Auflage, Bd I, München 1923, 288, 291, 300; FRITZ LENZ, Menschliche Auslese und Rassenhygiene. In: Erwin Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz (Hg.), Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene. 4. Auflage. Bd. II, München 1936, 538,539,543,551f. 42 LENZ, Menschliche Auslese (1923), 300; LENZ, Menschliche Auslese (1936). 551f. 43 HANS LUXENBURGER, Angewandte Erblichkeitslehre, Sozialbiologe und Rasse. In: Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete 5/1933, 393-405, 402. 44 Ebenda. 45 BURKHARDT, Endogene Psychosen bei der nordischen Rasse; FRIEDRICH MEGGENDORFER,
Die Ursachen der Geistes- und Nervenkrankheiten. In: Wilhelm Weygandt (Hg.),
Lehrbuch der Nerven- und Geisteskrankheiten, Halle a. d. Saale 1935, 12; RITTERSHAUS, Konstitution oder Rasse, 190.
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heit auf das Gegenüber, extravertierter Einschluss« deutlich »dies alles trotz einer gewissen Farblosigkeit der Psychosen«. Darin stecke etwas »von Flucht nach außen, von Mangel an festem Persönlichkeitskern und eigenem Schwerpunkt«.46 Weiterhin bezog sich Otmar Freiherr von Verschuer in einem Überblick über die Rassenbiologie der Juden auf die Forschungen über die »Psychopathologie der Juden«. Der Artikel fusste auf einem Vortrag, den er 1938 auf einer Arbeitstagung des Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschlands gehalten hatte. 47 Diese Einrichtung war eines jener Forschungsinstitute, die von den Nationalsozialisten gegründet worden waren, um antijüdische Propaganda mit Hilfe »wissenschaftlicher« Mittel zu legitimieren. 48 Innerhalb der »NS-Judenforschung« überwog zwar die Forschung über Geschichte und Kultur der Juden, bisweilen zog man aber auch andere Forscher wie den Anthropologen Verschuer hinzu. Verschuer meinte, dass das Problem der Rassenbiologie der Juden nicht abschließend beurteilt werden könne, wenn man nicht die rassenpathologischen und -psychiatrischen Aspekte beachte. Dabei beschränkte er sich auf Beobachtungen, die »ihre Erklärung nicht in verschiedenen Umwelteinflüssen finden können«.49 Darunter fiel u. a. die vermeintlich größere Häufigkeit des manisch-depressiven Irreseins sowie der Schizophrenie bei Juden, die, weil sie erblich sei, als »eine rassische Eigenart zu sehen« sei.50 Auch Verschuer wiederholte die bekannten angeblich rassenspezifischen Symptome der Juden wie etwa eine »gereizte, nörgelige Unzufriedenheit mit Hetzen, Querulieren, Anmaßung und häufigen paranoiden Ideen« sowie die »atypischen Bilder«.51 Den umfassendsten Überblick sowohl über die »Psychopathologie der Juden« wie auch allgemein über »Rasse« und Psychopathologie bot jedoch der Sammelband Rasse und Krankheit, den Johannes Schottky, Psychiater und Leiter der Gesundheitsabteilung im Stabsamt des Reichsbauernführers, 1937 herausgab. In vier Kapiteln auf über 100 Seiten fassten Schottky und zwei weitere Psychiater, die Professoren Berthold Kihn und Kurt Beringer, den Forschungsstand über den Zusammenhang von »Rasse« und neurologischen Erkrankungen, Tabes und Paralyse, 46 BURKHARDT, Endogene Psychosen bei der nordischen Rasse, 175. 47 OTMAR FREIHERR VON VERSCHUER, Rassenbiologie der Juden. Forschungen zur Judenfrage (Sitzungsberichte der Dritten Münchner Arbeitstagung des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands vom 5. bis 7. Juli 1938), Hamburg 1938, 137-151. 48 Zur sogenannten NS-Judenforschung vgl. RUPNOW, Judenforschung; STEINWEIS, Studying the Jew; NICOLAS BERG und DIRK RUPNOW, Schwerpunktheft »Judenforschung« – Zwischen Wissenschaft und Ideologie. Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur, Bd. 6, Göttingen, 2006. 49 VERSCHUER, Rassenbiologie, 144. 50 Ebenda. 146f. 51 Ebenda.
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Geisteskrankheiten, Schwachsinn und Psychopathien zusammen.52 Schottky erwähnte in seinem Kapitel über Rasse und Geisteskrankheiten auch die Arbeiten »jüdischer Forscher«. Diese hätten »immer wieder« versucht, »Unterschiede auf Umwelteinflüsse zurückzuführen«. Jedoch verkennten die Autoren mit dieser Argumentaton, dass »das Zusammenströmen der Juden in den Großstädten, ihre abweichende Berufswahl und vieles andere eben wiederum rassisch bedingt ist«.53 Denn: »[W]er allein in der kulturellen oder beruflichen Gliederung die Ursachen für Unterschiede in der Art und Häufigkeit der seelischen Störung sieht, der vergißt, daß erst rassische Vorbedingungen zusammen mit Auslesevorgängen solche kulturellen und beruflichen Gruppen bilden.«54 Damit gelang es Schottky, Kultur als ein Produkt rassischer Prämissen umzudeuten. Auffällig – aber angesichts der wenigen Forschungsarbeiten nicht überraschend – ist, dass sich Schottky und die anderen Autoren überwiegend auf Literatur bezogen, die vor 1933 erschienen war. Anscheinend reichte die bisherige Forschungsliteratur nun aus, um den Zusammenhang von »Rasse« und Pathologie aufrechtzuerhalten. Es gab jedoch noch weitere Gründe, warum nur so wenige Autoren das Thema der »Psychopathologie der Juden« nach 1933 für bearbeitungswürdig hielten. Eigentlich liegt der Schluss nahe, dass mit dem Antisemitismus als Leitidee des nationalsozialistischen Staates die Bereitschaft, über Juden zu forschen, eher zu- als abnahm. Zunächst dürfte es jedoch denjenigen Wissenschaftlern, die in den Jahren zuvor die Mehrheit der Publikationen zu diesem Thema verfasst hatten, nach 1933 schwieriger gefallen sein, zu publizieren, denn diese Wissenschaftler hatten größtenteils einen jüdischen Hintergrund. Die politische Situation wird vielen »nichtarischen« Autoren die Möglichkeit der Publikation besonders zu diesem Thema verhindert haben. Bei einem der bekanntesten Beiträger zur Debatte, Rafael Becker, der noch bis 1932 in wissenschaftlichen Zeitschriften wie der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie und der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift publizieren konnte, ist es besonders auffällig, dass er nach 1933 nicht mehr in deutschsprachigen Zeitschriften vertreten war.55 Für andere schuf die Emigration wohl neue Notwendigkeiten, sich beruflich umzuorientieren oder neu zu fokussieren. Moses J. Gutmann beispielsweise, der in den 1920er Jahren ebenfalls über die Biologie und »Psychopathologie der Juden« veröffentlicht hatte, eröffnete nach seiner Auswanderung nach Palästina als Spezialist für Allergologie die erste Spezialklinik für die-
52 S. die entsprechenden Kapitel in SCHOTTKY, Rasse und Krankheit, 140-247. 53 SCHOTTKY, Geisteskrankheiten und Rasse, 185. 54 Ebenda. 186. 55 Max Sichel, der andere Hauptakteur der Debatte über die »Psychopathologie der Juden«, war bereits 1925 gestorben. Er war von einem Patienten erschossen worden. ANONYM, Dr. Max Sichel (Nachruf). In: Der Israelit 66/1925, 9.
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se Krankheiten.56 Es ist ferner anzunehmen, dass unter Wissenschaftlern mit jüdischem Hintergrund stärkere Zweifel an dieser Art Forschung aufkamen, wie sie etwa John Efron für die anthropologische Forschung von Juden über Juden feststellt.57 Indes gibt es für derartige Zweifel innerhalb der Debatte über die »Psychopathologie der Juden« keine direkten Belege. Erst 1942 schrieb der aus Deutschland in die USA emigrierte Psychiater Ernst Harms einen Artikel, der das Konzept des »nervösen Juden« als antisemitisch ablehnte.58 In den Publikationen, die nach 1933 erschienen, wurde die rassische Bedingtheit der »Psychopathologie der Juden« einseitiger vertreten. Der Ton verschärfte sich insofern weiter, als die Schilderungen angeblich rassenspezifischer Symptome zunehmend den weithin bekannten Stereotypen über Juden ähnelten. Auch schon vor 1933 hatten Autoren rassenpsychiatrischer Publikationen Juden als »fremd« dargestellt und den Schluss nahegelegt, von einer »Vermischung« von Juden und Nichtjuden drohe Gefahr. Explizite politische Forderungen nach einem Ausschluss oder der Separation von Juden waren vor der NS-Zeit innerhalb wissenschaftlicher Schriften indes so gut wie nicht existent. Das hing sicher nicht zuletzt damit zusammen, dass viele der Autoren, die sich zu dieser Zeit mit der »Psychopathologie der Juden« beschäftigten, selbst Juden waren. Für die nichtjüdischen Autoren ist denkbar, dass eine solch eindeutige politische Positionierung vor 1933 innerhalb ihrer wissenschaftlichen Publikationen unangebracht schien. Auch wenn sie derartige Aussagen womöglich befürworteten, hätten sie diese wahrscheinlich als Verstoß gegen ihre Vorstellung wissenschaftlicher Objektivität verstanden.59 56 Für die Zeit nach seiner Emigration ist nicht bekannt, dass er weiterhin in dem Themenbereich publizierte. Er hatte allerdings schon Ende der 20er Jahre in einer Klinik für allergische Krankheiten in Deutschland gearbeitet. RENATA JÄCKLE, Schicksale jüdischer und »staatsfeindlicher« Ärztinnen und Ärzte nach 1933 in München, München 1988, 75. 57 EFRON, Defenders, 180. Veronika Lipphardt beschreibt dagegen, dass zumindest einige jüdische Forscher auch noch Jahre nach 1933 an ihrer Hoffnung festhielten, mit einer »untendenziösen« Erforschung der Biologie der Juden gängigen Rassentheorien Paroli bieten zu können. Vgl. LIPPHARDT, Biologie der Juden, 185f., 243-304. 58 ERNST HARMS, The Nervous Jew. A Study in Social-Psychiatry. In: Diseases of the Nervous System 3/1941, 42-52. 59 Beispielsweise ist dies von Emil Kraepelin (für die Zeit vor 1933) wie auch von Ernst Rüdin überliefert. Beide äußerten sich außerhalb ihrer wissenschaftlichen Publikationen im nichtöffentlichen Rahmen dazu. So war Kraepelin der Meinung, dass »das Judentum« eine »wachsende Gefährdung unserer Eigenart« darstelle und »für die Zukunft unseres Volkes bedenklich« sei. BURGMAIR, ENGSTROM und WEBER, Persönliches, 41. Ernst Rüdin vermerkte in seiner »Verteidigungsschrift« die er im Rahmen des Prozesses verfasste, die später zur Aberkennung seiner Schweizer Staatsbürgerschaft führte, noch 1947 in Bezug auf Juden, dass man »einer Vermischung der entfernteren höher entwickelten
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Warum forschten aber so wenige nichtjüdische Forscher über den Zusammenhang von »Rasse« und Psychopathologie? Auch wenn es zunächst paradox erscheint, dass rassenpsychiatrische Forschungsbestrebungen nach 1933 abnahmen, könnte der Grund für die Reduzierung der Forschung genau in der Tatsache liegen, dass »Rasse« politisch handlungsleitend wurde. Zwar war die Reduzierung rassenpsychiatrischer Forschung auch dadurch begründet, dass die psychiatrische Erbforschung erstarkte während rassenanthropologische Forschung marginaler wurde. Jedoch ist es ebenfalls denkbar, dass Forschung über rassische Differenzen in der Psychopathologie deshalb nicht mehr in dem Maße gefordert war, weil es bereits eine politische Setzung von Rassenunterschieden gab. Weitere Forschung hätte die Absolutheit, mit der das NS-Regime auf rassische Differenzen setzte, möglicherweise in Frage gestellt. So widersprach die existierende Rassenforschung z. T. den Vorstellungen der NS-Rassenideologie.60 Die Forschung, die sich in dieser Zeit selbst als »Judenforschung« bezeichnete, beschäftigte sich dagegen primär mit Fragestellungen der Politik-, Sozial- und Rechtsgeschichte, wie auch der Religions-, Literatur- und Geistesgeschichte. Sie scheint besser geeignet gewesen zu sein, das Bedürfnis der nationalsozialistischen Ideologie nach der Fixierung von Juden als differente »Rasse« zu befriedigen. Vor allem historische Forschung eignete sich für die Erfordernisse der NS-Ideologie: »Die Untersuchung historischer ›Lösungsversuche der Judenfrage‹ und der Geschichte des positiv gewendeten Antisemitismus konstruierte eine Tradition, in die man die eigene antijüdische Politik stellen konnte.«61 NS- Judenforschung bildete damit eine »Schnittstelle von Wissenschaft und antisemitischer Propaganda sowie nationalsozialistischer Ideologie und antisemitischer Politik«.62 Grundsätzlich ist noch die Frage interessant, ob die Behauptung von der »Psychopathologie der Juden« im Nationalsozialismus Folgen hatte, und wenn ja, welche? Zunächst zementierte sie durch ihre Verbreitung in wissenschaftlichen Medien die Vorstellung von der Differenz zwischen Juden und Nichtjuden und der »Fremdartigkeit« der Juden. Die Behauptung einer »Psychopathologie der Juden« fand sogar Verwendung im Rahmen rassenhygienischer NS-Propaganda: Der Stummfilm »Erbkrank« wurde 1936 vom Rassenpolitischen Amt der NSDAP als »Aufklärungsfilm« produziert und war wohl in erster Linie für Parteiversammlungen vorgeRassen nicht das Wort reden soll« MPI-HA, Nachlass Rüdin, NLR 1 Verteidigungsschrift Rüdin, Version vom 27.11.1947, 1947. 60 HUTTON, Race. Dies traf allerdings nicht nur auf die Anthropologie, sondern auch auf die Eugenik zu. 61 NICOLAS BERG und DIRK RUPNOW, Einleitung »Judenforschung« – zwischen Wissenschaft und Ideologie. Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur 5 (2006), 303-312, hier: 307. 62 Rupnow, Judenforschung, 17.
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sehen.63 Der Film zeigte eine Sequenz, in der Psychiatriepatientinnen und -patienten mit einer deutlich dem nationalsozialistischen Klischee von Juden entsprechenden Physiognomie dargestellt werden. Eingeleitet wird die Sequenz von einer Texttafel auf der es heißt: »Das jüdische Volk stellt einen besonders hohen Prozentsatz an Geisteskranken«, ein portraitierter Patient wird mit der Tafel »55-jähriger Jude. Hinterhältig. Hetzer.« eingeführt.64 Vor und nach dieser Sequenz wird aufgerechnet, was psychisch Kranke den Staat kosteten und kritisiert, dass psychiatrische Patienten und Patientinnen in Parks und Schlossanlagen, deutsche Arbeiter und Bauern dagegen in heruntergekommenen Stadtvierteln wohnten. Die Behauptung, Psychiatriepatienten seien unnütz und verursachten dem Staat nur Kosten, wird durch die Verknüpfung mit der »Psychopathologie der Juden« verstärkt: Juden waren zu diesem Zeitpunkt bereits durch die Propaganda der Nationalsozialisten als »fremdartig« diffamiert worden, dass sie zusätzlich noch zu der Gruppe gehörten, die angeblich eine hohe Prävalenz psychischer Erkrankungen besaß, machte dieses Argument noch eindringlicher. Letztendlich wird in diesem Film suggeriert, beide Gruppen – die der Psychiatriepatienten und die der Juden – seien minderwertig und sollten aus der Gesellschaft entfernt werden. Der Film endet folglich mit der Texttafel »Der Bauer, der das Überwuchern des Unkrauts verhindert, fördert das Wertvolle«. Eine solche Instrumentalisierung und »populärwissenschaftliche« Verwendung der Idee einer Verbindung von »Rasse« und Psychopathologie blieb aber offensichtlich die Ausnahme. Wie der dargestellte Rückgang der Publikationen zu diesem Thema nach 1933 zeigt, scheint das wissenschaftliche Interesse daran nicht mehr (oder jedenfalls kaum noch) vorhanden gewesen zu sein.
63 Erbkrank (1936) Berlin (Produktion: NSDAP, Reichsleitung, Rassenpolitisches Amt) Regie: Herbert Gerdes. RÁMON REICHERT, Im Kino der Humanwissenschaften. Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens, Bielefeld 2007, 198f. 64 Auch ein afrodeutsches Kind wird in dem Film gezeigt. Auf der Tafel, die seinem Bild vorangestellt wird, heißt es, »Idiotischer Negerbastard aus dem Rheinland. Wie sich körperliche Merkmale vererben, so auch geistige. Was von den Vorfahren ererbt ist, wird weiter vererbt.«
Fazit
Prekäres Wissen Am Ausgangspunkt dieser Studie stand die Frage, welches Wissen im Diskurs über »Rasse« und Psychopathologie entstand und wie »Rasse« als wissenschaftliche Kategorie funktionierte. Für die Beantwortung dieser Frage zog ich deutschsprachige Publikationen von Psychiatern und anderen Ärzten heran, die sich zwischen den 1890er und den 1930er Jahren damit auseinandersetzten, ob »Rasse« die Entstehung oder Ausprägung psychischer Erkrankungen beeinflusst. Anhand dieser Quellen habe ich rekonstruiert, wie Wissen über körperliche, psychische und kulturelle Differenzen zwischen Menschen durch den Zugriff auf »Rasse« stabilisiert wurde. Dabei zeigte sich einerseits, dass sich das Wissen über rassische Differenzen festigte; die inhärente Unschärfe der Kategorie »Rasse« führte aber andererseits dazu, dass dieses Wissen immer unscharf und ungenau blieb. Diese Unschärfe machte eine kontinuierliche wissenschaftliche Beschäftigung und die wiederholte Fixierung des Wissens über »Rasse« nötig. Die Analyse der zeitgenössisch auch als rassenpsychiatrisch bezeichneten Studien zeigt, welche Wissensbestände sich etablieren konnten. So zogen sich zwei Topoi durch die untersuchten Schriften: Erstens, die Behauptung, dass Juden eine größere Disposition zu psychischen Erkrankungen besäßen als Nichtjuden, sowie zweitens, die These, psychische Erkrankungen seien bei den »Primitiven« oder »Naturvölkern« weitgehend abwesend. Die Vorstellung vom »gesunden Wilden« und dem »nervösen« oder »geisteskranken Juden« war zwar auch Thema kritischer Auseinandersetzungen, galt jedoch im Grunde als gesichertes Wissen, das beständig wiederholt wurde. In beide Vorstellungen floss die Idee eines krankmachenden Einflusses der »Zivilisation« ein. »Zivilisation« oder »Kultur« lauteten die Schlagwörter einer Kritik an der »modernen« Lebensweise und deren gesundheitsschädlichen Auswirkungen. Angenommen wurde, die Zivilisation habe eine durch Urbanisierung und Industrialisierung ausgelöste Entfremdung von einer »ursprünglichen« Lebensweise befördert, die psychisch krank mache und zu einem Anstieg psychischer Erkrankungen beitrage. Da bei den »primitiven Rassen« diese pathogenen zi-
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vilisatorischen Einflüsse nicht vorhanden seien, so folgerten die Ärzte, müsse die Quote an Geisteskranken unter den »primitiven Rassen« entsprechend gering sein. Die These von den ursprünglich »gesunden Wilden« hielt sich im Diskurs auch noch nachdem festgestellt wurde, dass es auch bei den »Naturvölkern« psychische Erkrankungen gab. Als zweiter Topos kann die Annahme einer »Psychopathologie der Juden« gelten. Diese Behauptung speiste sich aus zwei Quellen. Einerseits schienen die öffentlichen Medizinalstatistiken die Behauptung einer Prävalenz psychischer Erkrankungen bei Juden zu begründen. Diese ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen Statistiken über die gesundheitliche Situation in verschiedenen Staaten und Regionen erhoben auch Informationen über die Konfessionen. So wiesen beispielsweise Irrenstatistiken eine höhere Quote von Psychiatriepatienten und -patientinnen jüdischer Konfession aus als von anderen Konfessionen. Aus diesen Zahlen leiteten Ärzte und Medizinalstatistiker die These ab, das Kollektiv der Juden besäße eine höhere Prävalenz für psychische Erkrankungen und schlossen daraus auf eine spezifische Disposition zu nervösen oder psychischen Erkrankungen. Damit wurde die in den Statistiken ausgewiesene höhere Anzahl jüdischer Patienten und Patientinnen innerhalb psychiatrischer Anstalten zu einem erblichen Kollektivmerkmal von Juden umgedeutet, ohne dass mögliche andere Ursachen reflektiert wurden. Dadurch, dass sich im ausgehenden 19. Jahrhundert die Annahme verbreitete, dass psychische Erkrankungen hauptsächlich vererbt seien, die Gruppe der Juden gleichzeitig als eine biologisch zu definierende »Rasse« galt, bekam die Vorstellung eines – rassischen – Charakters der »Psychopathologie der Juden« zusätzliches Gewicht und bestärkte die Vorstellung der Juden als »Rasse« mit einer spezifischen Pathologie. In einem gewissen Widerspruch zu dieser Vorstellung stand jedoch die Erkenntnis, dass die Diskursautoren keine wirklichen Rassenkrankheiten oder -immunitäten identifizieren konnten. Wenn Krankheiten zu erkennen gewesen wären, die ausschließlich einzelne »Rassen« betroffen hätten, oder andere, von denen einige komplett verschont geblieben wären, hätte dies einen »härteren« Nachweis einer rassenbiologischen Differenz in der Psychopathologie bedeutet. Hatten die Ärzte zu Beginn des Diskurses zunächst die These der spezifischen Rassenimmunität und Rassenkrankheit vertreten, wurde dieser Ansatz schnell verworfen. Es zeichnete sich ab, dass selbst Erkrankungen wie Amok und Latah, die noch Ende des 19. Jahrhunderts als rassetypisch galten, Ähnlichkeiten mit bereits bekannten Erkrankungen aufwiesen. Zwar blieben die Schlagwörter um Rassenkrankheiten und -immunitäten im Diskurs weiterhin präsent, darunter verstand man in der Regel jedoch keine absolute Immunität oder Beschränkung auf einzelne »Rassen«, sondern eine geringere oder größere Anfälligkeit einer Gruppe. Folglich konzentrierten sich die Ärzte auf die Frage, ob »Rassen« unterschiedliche Krankheitsprävalenzen aufwiesen. Hier nun glaubten sich die Forscher auf sichererem Boden. Juden war generell ja nicht nur eine höhere Belastung mit psychi-
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schen Erkrankungen zugeschrieben worden, die Autoren rassenpsychiatrischer Schriften nahmen auch an, dass Nervenerkrankungen, Hysterie und Neurasthenie allgemein bei Juden häufiger vorkämen als bei Nichtjuden. Bei außereuropäischen »Rassen« galt die Manie als häufigeres Leiden. Als sicher galt ferner, dass die Europäer in den Kolonien unter einer besonderen nervlichen Anspannung litten, die zu einer »Tropenneurasthenie« führen könne. Gelegentlich meinten Autoren, die »weiße Rasse« erkranke häufiger an Depressionen. Andere, die die Rassentypenlehre mit der Körperbautypenlehre Ernst Kretschmers verbanden, fragten beispielsweise nach der Neigung des »nordischen Menschen« zur Schizophrenie. Neben den Krankheitsprävalenzen meinten die Autoren rassenpsychiatrischer Schriften auch, in den Krankheitssymptomen seien Zeichen einer rassischen Spezifik zu finden. Das Wesen der »Rassen« zeige sich in der Ausformung ihrer Symptome, so die Annahme, die neben Emil Kraepelin auch andere Ärzte im Diskurs vertraten. Dabei wurden vor allem Verhaltensweisen und psychologische Eigenschaften der Beschriebenen als »rassetypisch« bewertet. Bei den psychisch erkrankten Außereuropäern meinten die Ärzte häufiger ein wenig ausgeprägtes, flaches und einförmiges Krankheitsbild zu beobachten, gleichzeitig waren sie der Meinung, diese Kranken seien häufiger gewalttätig, leichter erregbar, triebhafter und willensschwächer. Die Krankheitsbilder von Juden schienen sich durch vermischte oder atypische Symptome auszuzeichnen, ferner fielen jüdische Patienten und Patientinnen angeblich häufig dadurch auf, dass sie besonders viel nörgelten, hypochondrisch und unzufrieden waren. Eine rassische Spezifik der Symptome glaubten auch einige Forscher bei der »weißen Rasse« zu sehen; so sei der »nordische Mensch« kühl, distanziert und autistisch. Anhand der Quellen wird zudem deutlich, dass die Bestimmung einer psychopathologischen Differenz dieser Gruppen über die Verwendung bereits bekannter Stereotypen erfolgte. So war die Behauptung, die rassenspezifischen Symptome der »Naturvölker« seien auf deren geringere intellektueller Kapazitäten zurückzuführen, in den Schriften weit verbreitet, aber auch die Art der zugeschriebenen Symptome reproduzierte bereits bekannte stereotype Bilder über den gewalttätigen und impulsiveren »Primitiven«. Auch bei Juden wurden stereotype Bilder mit Symptomen transportiert. So konnten die diagnostizierte »Atypik« und die »Mischformen« der Krankheitsbilder mit der antisemitischen Assoziation des Jüdischen mit dem Uneindeutigen und Fremden verbunden werden. Ferner waren Juden häufig als »Nörgler« dargestellt worden, oder als feige und ängstlich. Die Psychopathologie stärkte also im Wesentlichen vorhandene Vorurteile und verfestigte damit stereotypes Wissen über die »Andersartigkeit« von Juden und Nichteuropäern. Bei diesen Beispielen ist wahrscheinlich, dass in die Beobachtung der Verschiedenheit der Symptome bereits stereotype Vorstellungen mit einflossen. Weiterhin ist überlegenswert, inwieweit die Definition der Symptomausprägung nicht bereits auf eine eurozentrische Norm ausgerichtet war.
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Jedoch waren diese Stimmen nicht die einzigen im Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie. Zunächst bezogen vor allem die Autoren derjenigen Schriften, die sich mit der Frage der psychischen Erkrankungen der Juden beschäftigten, gegenteilige Positionen. Diese kritischen Schriften über die »Psychopathologie der Juden« waren mehrheitlich von Autoren verfasst, die aus jüdischen Familien stammten. Sie zogen zwar die These einer größeren Anzahl von Juden mit psychischen Erkrankungen nicht direkt in Zweifel. Allerdings vertraten sie die Ansicht, die vermeintlich höhere psychopathologische Belastung der Juden sei nicht mit unveränderlichen Rassenmerkmalen zu erklären. Stattdessen verfolgten sie eine Erklärung, die lamarckistische und soziologische Begründungen verband: Juden besäßen zwar eine höhere Neigung zu psychischen Erkrankungen, so das Argument, diese Disposition habe sich jedoch lediglich durch vergangene gesundheitsschädliche Lebensumstände herausgebildet und sei kein fixiertes Rassenmerkmal. Zudem seien Juden aufgrund ihrer spezifischen Situation als Großstadtbewohner und »geistig Berufstätige« – beides galt als gesundheitsschädigend – besonders krankheitsdisponiert. Darüber hinaus waren einzelne Stimmen zu vernehmen, die die vermeintlich höhere Verbreitung psychischer Erkrankungen unter Juden mit Diskriminierung und erzwungener Assimilation erklärten. Auch bei der Darstellung der Symptome fanden einige Autoren Erklärungen, die die »typischen« Symptome der Juden aufgrund nichtrassischer Faktoren erklärten oder darauf drängten, sozial-kulturelle Besonderheiten bei der Forschung mit zu bedenken. Es zeigt sich also, dass sich Wissen über die »rassische Eigenart« von Juden und »Primitiven« formte, Ärzte und Psychiater dieses aber zumindest im Fall der Juden auch kontrovers diskutierten.1 Rassenpsychiatrisches Wissen war jedoch nicht nur umstrittenes Wissen, sondern auch auf anderen Ebenen unscharf und heterogen. Der Quellenbestand zeigt, dass der Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie sich durch eine Vielfalt von Positionen, Themen und Autoren auszeichnete. So wurde das rassenpsychiatrische Thema zwar über 40 Jahre hinweg regelmäßig wieder aufgegriffen, es etablierte sich jedoch nicht als eigenständige psychiatrische Subdisziplin oder als Forschungsbereich. Von Beginn an war die Debatte fast ausschließlich in Zeitschriften geführt worden; nur vereinzelt gab es Monographien und Dissertationen. Von einem »Handbuchwissen« im Sinne Ludwig Flecks, das Orientierung über anerkannte Wissensbestände, Methoden und Experten gegeben hätte, kann für die rassenpsychiatrische Forschung also nicht gesprochen werden. Auch die Vielzahl der Autoren, die zu diesem Feld forschten, unterstützt den Eindruck der Heterogenität. Es gab zwar eine Kerngruppe von Psychiatern, die den Diskurs prägten, 1
Außerhalb des deutschsprachigen Diskurses gab es auch von anderen Gruppen Widerstände gegen solche Zuschreibungen einer rassischen Eigenart, beispielsweise aus Java: vgl. POLS, Native Mind.
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aber auch diese publizierten z. T. nur wenige Schriften. Auch die Zusammensetzung dieser Gruppe zeigt die Unterschiedlichkeit der Autoren im Diskurs auf: so gehörten die international bekannten Wissenschaftler Emil Kraepelin und Ernst Rüdin dazu, wie auch der Wiener Universitätsprofessor Alexander Pilcz, ferner Pieter C.J. van Brero, Bela Révész, Max Sichel und Rafael Becker, die zeitlebens in der psychiatrischen Praxis arbeiteten. Ferner konnte ich herausarbeiten, dass sich das Forschungsfeld durch eine große Bandbreite von Themen und Ansätzen auszeichnete. So wurde die Frage nach dem Zusammenhang von »Rasse« und Psychopathologie an diversen Bevölkerungsgruppen untersucht. Grob eingeteilt gab es drei Hauptgruppen, mit denen sich die Forschung beschäftigte. Publikationen über Juden machten mit ca. einem Drittel den größten Anteil aller Schriften im Diskurs aus, gefolgt von Schriften über außereuropäische »Rassen«. Eine dritte Textgruppe beschäftigte sich mit den »europäischen« oder »weißen Rassen«. Unabhängig von der Häufigkeit der Publikationen über Juden lassen sich die Logik und die Vielfältigkeit des Diskurses anhand dieser Quellen am besten nachvollziehen. Konkrete Einteilungskriterien, nach denen Gruppen- oder Rassenzuordnungen vorgenommen wurden, machten die Autoren nur selten explizit. Die Bezeichnung von »Rassen« nach phänotypischen, sprachlichen, konfessionellen oder regionalen Zuordnungen macht jedoch deutlich, dass es gewisse implizite Vorannahmen bei der Einteilung gab. Die Mehrheit der Diskursautoren nahm ferner keine eindeutige Definition oder Bestimmung des Wortes »Rasse« vor. Mit Ausnahme der Schriften, die ab den 1920er Jahren im Bereich der Konstitutions- und Rassenforschung entstanden, wurde der Begriff in der Regel nicht thematisiert. Das Konzept der »Rasse«, das nach zeitgenössischem Verständnis eine Gruppe von Menschen mit gemeinsamer Abstammung und gemeinsamen Erbanlagen bezeichnete, galt hier als selbstverständlich und brauchte anscheinend nicht näher definiert zu werden. Jedoch gab es einige Autoren, die dem Konzept von »Rasse« gegenüber skeptisch waren, auch wenn sie es nicht grundsätzlich infrage stellten. Diese Kritiker hielten zwar an der Idee einer biologischen Einteilung der Menschheit in »Rassen« fest, monierten aber die Fixiertheit und Starrheit, die mit dem Begriff verbunden sei und plädierten für ein flexibleres Verständnis: So betonte beispielsweise Bela Révész, man könne angesichts der Vermischungen über die Jahrhunderte nicht von »reinen Rassen« ausgehen; vielmehr seien diese nicht als homogene, sondern als gewordene und veränderliche Gruppen zu verstehen. Wie begegneten die Autoren im Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie dieser Unsicherheit des rassenpsychiatrischen Wissens? Eine weitere Frage der Studie war, wie die neu etablierten wissenschaftlichen Methoden, die in der Psychiatrie Anfang des 20. Jahrhunderts aufkamen, Wissen über »Rasse« konstituierten und formten. Die beiden wesentlichen Methoden waren die Erhebung von Zahlen über Erkrankungen und die Beobachtung von Krankheitsbildern. Dementsprechend be-
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schäftigte sich die Mehrheit der rassenpsychiatrischen Schriften mit der Häufigkeit und der Ausprägung psychischer Erkrankungen. Die Methoden der Quantifizierung und klinischen Beobachtung, mit denen die rassenpsychiatrischen Aussagen gewonnen wurden, waren auch in anderen psychiatrischen Forschungsfeldern bedeutender geworden. Sie zeigen, dass sich die Psychiatrie bemühte, sich an naturwissenschaftlichen Arbeitsweisen zu orientieren und »objektivere« Mittel des Erkenntnisgewinns anstrebte. Wie Theodore Porter zeigt, wurden quantifizierende Methoden gerade dort eingesetzt, wo es galt, als unsicher geltendes Wissens zu stabilisieren. Er bezeichnet die Verwendung von Statistiken als »technologies of trust«, die zur Objektivierung und Festigung von Wissensbeständen eingesetzt wurden.2 Dies bestätigt auch die Analyse des Diskurses um »Rasse« und Psychopathologie. Die Plausibilität der These von der »Psychopathologie der Juden« beruhte auf diesen statistischen »technologies of trust« da die Behauptung einer überproportionalen Belastung der Juden mit psychischen Erkrankungen aus Statistiken abgeleitet war. Aber auch in anderen rassenpsychiatrischen Publikationen besaßen Zahlen eine große wissenslegitimierende Funktion, da sie im Mittelpunkt der Argumentation über den Zusammenhang von »Rasse« und Psychopathologie standen. In diesen Schriften wurden Zahlen unterschiedlicher Herkunft – Irrenstatistiken, Anstaltszählungen, zuweilen auch Reiseberichte und Einzelpublikationen – hinsichtlich ihrer Angaben zur »Häufigkeit« bestimmter psychischer Erkrankungen einzelner »Rassen« zusammengefasst. Aus diesen Zahlen leiteten die Ärzte Aussagen über kollektive Anfälligkeiten ab. Zahlen höchst unterschiedlicher Herkunft wurden so kumuliert und genutzt, um zu quantifizierten Behauptungen über Kollektive zu kommen, ohne dass die Entstehungsbedingungen der Zahlen reflektiert wurden. Seit der Jahrhundertwende wurden diese Studien durch empirische Untersuchungen ergänzt, die eigene Zahlen erhoben. Auch aus diesen Erhebungen leiteten die Autoren rassenpsychiatrischer Schriften Aussagen über Kollektiveigenschaften einzelner Gruppen ab, um das unsichere Wissen der rassenpsychiatrischen Forschung durch statistische Erfassung zu festigen. Zahlen über die Häufigkeit psychischer Erkrankungen galten zwar als grundlegender Beleg für die kollektiven Pathologien einzelner »Rassen«, waren jedoch zugleich auch Bestandteil ausführlicher Kritik. Den Protagonisten war bewusst, dass die Zahlen unsicher waren, doch benutzten sie trotzdem eigene und fremde Daten in ihrer Argumentation. Die Kritik an fremden, aber auch an den eigenen Zahlen war grundlegender Bestandteil der Mehrzahl rassenpsychiatrischer Schriften: Häufig begannen die Autoren ihre Ausführungen mit einer Kritik an den Zahlen. Man betonte, die bisherigen Forschungsergebnisse seien nur vorläufig, erste Beobachtungen ohne Anspruch auf Verallgemeinerung, und fragte nach der Zuverlässigkeit der 2
PORTER, Trust, 89-113.
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Anstaltsstatistiken und der potentiellen Verfälschung durch uneinheitliche Diagnosekriterien. In den Schriften über die psychischen Erkrankungen bei Juden wurde auch im Zusammenhang mit der Quantifizierung diskutiert, ob die spezifische Situation von Juden nicht Einfluss auf die Zahlen habe. Hier wurde auch der Wunsch nach einer differenzierteren Analyse der Zahlen laut. Den Beteiligten im rassenpsychiatrischen Diskurs war die Begrenztheit ihres Wissens durchaus bewusst. Zudem war klar, dass man mit den vorhandenen Zahlen nur bedingt Aussagen über die Verbindung von »Rasse« und Psychopathologie treffen konnte. In der Debatte um Psychopathologie und »Rasse« reichte ein auf Zahlen basierendes Argument aus, um Aussagen über »Rasse« und Psychopathologie zu bestätigen – auch wenn offensichtlich war, dass die Zahlen aus unterschiedlichen Erhebungszusammenhängen kamen. Gleichzeitig zeigt die Diskussion um die Reliabilität der Zahlen jedoch, wie unsicher das Wissen über »Rasse« nach wie vor war. Dies resultierte jedoch nicht in einer Infragestellung des Gesamtprojektes, auch wurde die Grundprämisse der Forschung, dass es überhaupt rassische Differenzen gibt, nicht in Frage gestellt. Vielmehr wirkte das unzureichende Zahlenmaterial auf die Zeitgenossen eher als Aufforderung für weitere Studien: Die Kritik führe nicht zur Aufgabe des Projektes, sondern zur Ausweitung der Forschung. Wie wirkten weitere wissenschaftliche Praktiken auf die Etablierung von Wissen über »Rasse« und Psychopathologie ein? Wie ich gezeigt habe, formte auch die auf genaue Beobachtung von Krankheitszeichen setzende klinische Methode das Wissen über psychische Erkrankungen und »Rasse«. Ab der Jahrhundertwende gewannen nicht nur Statistiken, sondern auch andere empirische Methoden an Gewicht. Die klinische Methode, wie sie Emil Kraepelin propagierte, setzte auf objektivierbare Krankheitszeichen in der Diagnostik psychischer Erkrankungen. Solche Krankheitszeichen, die Ärzte durch genaues Beobachten identifizieren konnten, ohne auf die Unterstützung der Patienten angewiesen zu sein, entsprachen dem Ideal objektivierbarer Forschung. In der psychiatrischen Praxis waren dies vor allem somatische Symptome und Verhaltensweisen der Patienten, die sich durch die Ärzte beobachten ließen. Auch meine Analyse der Darstellung rassenpsychiatrischer Diagnosen zeigt, dass die Ärzte zunehmend auf eine Objektivierung von Krankheitszeichen setzten. Einerseits ist offensichtlich, dass die Autoren die Einteilungen der Gruppen und ihre Diagnosen nicht reflektierten: Die wenigsten Autoren äußern sich dazu. Andererseits erscheinen die Diagnosen zumeist kumuliert, entweder als Statistik oder als Überblicksdarstellungen. Auch hier ging es darum, durch eine Quantifizierung Aussagen über die kollektiven Eigenschaften einer Gruppe machen zu können: Es wurde dargelegt, welche Diagnosen und Symptome die Forscher häufiger und welche sie seltener welchen Gruppen zuschrieben. Daran lässt sich erkennen, dass die so zu
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einer quantifizierten Größe gemachten Diagnosen als kollektive Eigenschaften der Gruppe interpretiert wurden. Das Beispiel von Emil Kraepelins Untersuchungen auf Java zeigt, dass der Versuch, möglichst objektiv zu urteilen und die Subjektivität des Beobachters auszuschließen, zu einer verzerrten Wahrnehmung führen konnte. Kraepelins Vorstellung von objektiver Wissenschaft hatte einen Einfluss auf die Art und Weise, wie er psychische Erkrankungen auffasste und über sie Erkenntnisse gewann. Vieles weist darauf hin, dass Kraepelin aufgrund seiner Überzeugung, beobachtbare Krankheitszeichen seien »objektiver«, zu einer eingeschränkten Wahrnehmung der Symptome bei seinen javanischen Patienten und Patientinnen kam. Seine Vorgehensweise bei der Anamnese legt nahe, dass er die Kommunikation in der Anamnese für vernachlässigenswert hielt. So kam das Ergebnis, die Javaner besässen nur wenig ausgeprägte Wahnbilder, durch die vorurteilshaften Annahme zustande, dies sei aufgrund der angeblich wenig entwickelten kognitiven Fähigkeiten der Javaner wahrscheinlich. Hätte er sich jedoch nicht nur auf Beobachtungen gestüzt, sondern auch auf Kommunikation vertraut, wäre ein anderes Ergebnis wahrscheinlicher gewesen. Allerdings war auch die These von der differenten Symptomatik verschiedener »Rassen« ein Teil der zeitgenössischen Kritik. Bereits Kraepelins Zeitgenosse Abraham Gans äußerte z. B. die Vermutung, dass Kraepelin aufgrund seiner kulturellen und sprachlichen Indifferenz zu seinem Forschungsergebnis der weniger reichen Symptombilder bei Javanern gekommen war. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Wissen über »Rassen«, welches in der rassenpsychiatrischen Debatte geformt wurde, unsicheres Wissen blieb. Sogar Wissensbestände, über die ein relativ ausgeprägter Konsens bestand, wurden gleichzeitig permanent in Frage gestellt. Dabei teilten sich die kritischen Positionen in zwei Stränge auf. Vor allem im Diskurs um die »Psychopathologie der Juden« sind Positionen zu finden, die Versuche einer alternativen Deutung erkennen lassen und damit auch die Vielfältigkeit der möglichen Auslegungen aufzeigen. Darüber hinaus zeigt sich indes auch, dass die Infragestellung der Mittel und Methoden der rassenpsychiatrischen Forschung immanenter Teil der Forschung war: Autoren rassenpsychiatrischer Studien begannen ihre Studien in der Regel mit einer Kritik an bisherigen Ergebnissen und Methoden. Diese Kritik diente jedoch nie dazu, einen grundsätzlichen Einwand gegenüber der Rassenforschung zu formulieren – im Gegenteil war sie produktiv und legitimierte weitere Forschung. Bereits Christine Hanke bezeichnete diese produktive Unschärfe als konstitutives Element der Forschungen über »Rasse«: Für die anthropologische Forschung legte sie dar, wie die konstruierten Konzepte von »Rasse« notwendig unscharf bleiben und keine klaren Unterscheidungskategorien aufzeigen. Parallel dazu zögen diese »Auflösungen« stets aufs neue »Fixierungen« nach sich: »Die Unschärfen […] bilden also die Motoren der Produktivität anthropologischer Identifizierungen – diese bleiben konstitu-
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tiv unabschließbar.«3 Die Kritik in der Forschung über »Rasse« und Psychopathologie war in ähnlicher Weise ein Forschungsmotor: Sie wirkte als Forschungsantrieb, der das Interesse am Thema über einen langen Zeitraum und bei einer großen Zahl von Forschern wach hielt. Forschung über »Rasse« und Psychopathologie blieb dennoch prekär: die Ergebnisse waren stets Thema von Auseinandersetzungen, es gab keine Institutionalisierung der Rassenpsychiatrie als Disziplin und keine Etablierung als eigenständiges psychiatrisches Forschungsfeld. Zudem arbeiteten zwar viele Forscher immer wieder an dem Thema, dennoch machte sich niemand zum wirklichen Experten auf diesem Gebiet. Die konstante Wiederaufnahme dieser Forschung ist ebenfalls ein Zeichen dafür, dass das Wissen über »Rasse« und Psychopathologie prinzipiell unsicher blieb. Erst mit dem Wandel der politischen Rahmenbedingungen veränderte sich die Situation. Mit dem NS-Regime wurde »Rasse« zur politischen Leitidee staatlichen Handelns. Auf den ersten Blick erscheint es paradox, dass rassenpsychiatrische Forschungsbestrebungen nach 1933 zunächst abnahmen. Dieser Rückgang ist erstens forschungspraktisch zu begründen. Psychiatrische Forschung fokussierte in der NSZeit auf die rassenhygienisch orientierte Erbforschung, für die von staatlicher Seite mehr Forschungsressourcen zur Verfügung gestellt wurden. Zweitens konnte ein Teil der Autoren nicht mehr am Diskurs teilnehmen, weil Wissenschaftler mit jüdischem Hintergrund nicht mehr publizieren durften oder konnten. Denkbar ist ferner, dass Forschung über rassische Differenzen in der Psychopathologie deshalb nicht mehr in gleichem Maße wie zuvor erforderlich war, weil Rassenunterschiede nun politisch gesetzt waren und keiner weiteren wissenschaftlichen Legitimation mehr bedurften. Der Diskurs um Psychopathologie und »Rasse« zwischen Selbstund Fremdzuschreibung Der Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie hatte auch eine gesellschaftspolitische Dimension. Da »Rasse« eine Kategorie sozialer Stratifikation darstellt, war mit der Produktion von Erkenntnissen über »Rasse« stets auch die Frage nach gesellschaftlichen Zugehörigkeiten und mit diesen korrespondierenden Selbst- und Fremdzuschreibungen verbunden. Die Entstehung der Kategorie »Rasse« ist als Antwort auf das Universalismusdilemma der Aufklärung interpretiert worden: Demnach postulierte die Aufklärung zwar die Gleichheit aller Menschen, konnte dieses Versprechen jedoch nicht einhalten, da soziale Ungleichheit zwischen Menschen weiterhin existierten. Begründungen, die Ungleichheit bis zu diesem Zeitpunkt legitimiert hatten, wurden im Zuge der Aufklärung unbrauchbar, und so entstanden neue Rechtfertigungen sozialer Stratifikation, die unter anderem auf der Basis der Kategorie »Rasse« gesellschaft3
HANKE, Auflösung, 259.
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liche Ein- und Ausgrenzungsverhältnisse definierten. Angesichts der historischen Entstehung von »Rasse« ist es daher auch nicht überraschend, dass der Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie ebenfalls gesellschaftliche Ein- und Ausschlüsse verhandelte. Wie ich nachgezeichnet habe, zeigt sich bereits in der Vorgeschichte psychiatrischer Forschungen über »Rassen« deutlich, dass Zuschreibungen, die den »Anderen« als psychisch andersartig markierten, an der Schnittstelle von Diskursen der Aushandlung gesellschaftlichen Ein- und Ausschlusses standen. Bereits in der Vormoderne wurden im Zusammenhang mit der »Limpieza de Sangre« Ausgrenzungen von konvertierten Juden, Mauren und deren Nachkommen unter anderem mit der Konstatierung einer psychopathologischen Andersartigkeit legitimiert. Ebenso zeigte sich, dass bei der Auseinandersetzung um die Quote von psychisch Erkrankten unter den freien Afroamerikanern in der Nordstaaten der USA in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Legitimierung einer besonders extremen Form von Ungleichbehandlung verhandelt wurde: Der Sklaverei. Im Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie ist dieser Zusammenhang ebenfalls vorhanden, aber nicht so vordergründig und offensichtlich wie in seinen historischen Vorläufern. Die Autoren hielten sich an den Kodex einer vermeintlich »unpolitischen Wissenschaft« und nahmen entsprechend keine explizit politischen Positionen innerhalb der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ein. So finden sich in den Schriften keine plakativ rassistischen oder antisemitischen Positionen, wie sie in den Rassentheorien des 19. Jahrhunderts oder späteren antisemitischen Kampfschriften geäußert wurden. Auch die Forderung oder Rechtfertigung von Ausgrenzungshandeln fehlt in den Schriften, auch wenn sich diese aus einigen Texten leicht ableiten ließen und außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses durchaus auch vertreten wurden. Dennoch wird deutlich, dass auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung um »Rasse« und Psychopathologie eine gesellschaftspolitische Dimension besaß, da die Debatte die Definitionen des »Selbst« und des »Fremden« und damit die Grundlage gesellschaftlicher Zugehörigkeiten tangierte. Die Rekonstruktion des Diskurses zeigte, dass in einem Teil der Schriften dem von den Autoren kreierten »wir« die Antitypen des Juden und des »Naturmenschen« gegenüberstanden. Beide bildeten die Endpunkte zwischen Kultur und Natur: Der Jude wurde als übermodern, der »Naturmensch« als naturverbunden und primitiv dargestellt. Juden und »Naturmenschen« wurden außerdem bestimmte Eigenschaften zugeschrieben, die dem Ideal des europäischen, nichtjüdischen Menschen nicht entsprachen. In den Symptomdarstellungen, wird »der Jude« als ängstlich, um sich selbst besorgt, der »Naturmensch« als simpel, unkontrolliert und gewalttätig geschildert. Dagegen erscheint der »nordische Mensch« als mit den Eigenschaften des männlichen Ideals ausgestattet. Zwar nicht unbedingt sympathisch, aber vernunftgesteuert, zurückhaltend und beherrscht, wurde er als zum Führen und zu weitreichenden kulturellen Leistungen befähigt portraitiert.
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Beim Thema Tropenneurasthenie zeigten sich Selbst- und Fremdzuschreibungen wiederum auf eine andere Weise. Der Tropenneurastheniker war zwar ebenfalls ein Antibild des idealen Europäers, nur dass es diesmal der Europäer selbst war, der als der – kranke – »Andere« portraitiert wurde. War beim »Naturmenschen« der Mangel an Zivilisation gesundheitsfördernd, galt dies beim europäischen »Kulturmenschen« nicht, wenn er sich in den Tropen aufhielt: hier führte der Mangel an Zivilisation zur Erkrankung. Als Grund für die nervliche Belastung wurde neben dem Klima vor allem die Einsamkeit, das Zusammenleben mit den Kolonisierten, die Eintönigkeit, die Abwesenheit bekannter Zerstreuungen und zivilisatorischer Errungenschaften, aber auch die »Verantwortung« des Kolonialherren gegenüber den Kolonisierten angeführt. Im Fokus der Texte standen der Umgang mit den Entbehrungen des kolonialen Lebens und die Umstellung durch die unbekannte Lebenssituation. Die Tropenneurasthenie kanalisierte also in gewisser Weise die Ängste der Europäer. Gleichzeitig erscheint der Tropenneurastheniker auch als Antibild des idealen Kolonialherren. Die Tropenneurasthenie förderte diejenigen Charakteristika, die nicht zum Katalog wünschenswerter bürgerlicher Eigenschaften gehörten. Dies wurde auch als Problem verstanden, denn eine zu große Angleichung an die »Kolonialsubjekte« war nicht im Interesse der Kolonisatoren. Die Angst, sich den »Primitiven« anzugleichen, im damaligen Sprachgebrauch: »zu verkaffern«, bildete sich auch in der Tropenneurasthenie ab. Diejenigen Symptome der »Naturvölker«, deren spezifische Ausprägung als Resultat ihres rassischen Wesens beschrieben worden war, waren auch diejenigen, unter denen der Tropenneurastheniker litt. Analog zur »primitiven Rasse« war der tropenneurasthenische Europäer unvernünftig, willensschwach, wenig kontrolliert, litt unter abnehmenden intellektuellen Fähigkeiten, konnte sich nicht beherrschen, war sogar gewalttätig. Sowohl die kulturelle als auch soziale Kontrolle der Zivilisation fehlte in den Kolonien, als Prävention der Tropenneurasthenie galt daher auch dort die Aufrechterhaltung westlicher Prinzipen einer »zivilisierten Lebensführung«. Ferner schien auch der soziale Zusammenhalt bzw. die Verbundenheit der Europäer untereinander präventive Wirkung zu entfalten: Kameradschaftsgeist und Zusammengehörigkeitsgefühl galten neben dem Aufrechterhalten der sittlichen und moralischen Standards der Heimat ebenfalls als Möglichkeit, die Gefahren einer Tropenneurasthenie einzudämmen. In den Texten, in denen es um die »Psychopathologie der Juden« ging, waren Selbst- und Fremdzuschreibungen auf einer anderen Ebene vorhanden. Die vermeintliche pathologische Neigung der Juden zu psychischen Erkrankungen wurde in einem engen semantischen und assoziativen Zusammenhang mit Konzepten der Vererbung und Entartung gesehen, so dass die »Psychopathologie der Juden« als eine vererbte, degenerative Kollektiveigenschaft verstanden wurde. Die Kontroverse, die 1902 in jüdischen Zeitschriften zwischen dem Zionisten Karl Jeremias und
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dem Vorsitzenden des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, Alfons Levi, ausgetragen wurde, zeigt, dass die Brisanz der Zuschreibung einer psychopathologischen Andersheit zeitgenössisch durchaus erfasst wurde. Alfons Levi gelang es zwar, die negativen politischen Folgen der Zuschreibung einer psychopathologischen Degeneration der Juden deutlich zu machen, indem er darauf hinwies, dass dies Antisemiten in die Hände spiele. Angesichts der vermeintlich wissenschaftlich erwiesenen »Psychopathologie der Juden« scheint es jedoch nicht möglich gewesen zu sein, diese Vorstellung in ihren Grundsätzen anzugreifen. In der Auseinandersetzung zwischen dem Centralverein und Jeremias wird noch eine weitere Funktion der Debatte deutlich. Die Texte, die vornehmlich von Wissenschaftlern mit jüdischem Hintergrund über Juden und psychische Erkrankungen geschrieben wurden, sind zunächst als Teil von Abwehrversuchen gegen die Behauptung einer degenerierten, psychisch kranken »jüdischen Rasse« zu sehen. Zwar erschien eine prinzipielle Infragestellung der »Psychopathologie der Juden« innerhalb des medizinisch-psychiatrischen Diskurses der Zeit nicht möglich. Es ist aber deutlich, dass eine Kritik an Statistiken, an den Methoden, das Einfordern differenzierter Sichtweisen auf die wissenschaftlichen Ergebnisse durchaus dazu beigetragen haben dürften, alternative Denkweisen zu etablieren, selbst wenn die Behauptung einer Andersheit der Juden damit aufrecht erhalten wurde. Darüber hinaus gelang es, die Zuschreibung einer nervösen oder psychischen Belastung der Juden umzukehren, sie sich insofern anzueignen, dass gesellschaftliche Probleme thematisiert und Lösungen diskutiert werden konnten. Innerhalb des Diskurses um »Rasse« und Psychopathologie betraf dies diejenigen Zeitgenossen, die politische Forderungen mit der Zuschreibung einer »Psychopathologie der Juden« verbanden. Auf der einen Seite nutzten dies Zionisten, um die pathogene Wirkung der Diaspora nachzuweisen. In der Diaspora, so die These, sei der Jude krank geworden, eine Regeneration sei nur in einem eigenen Staat möglich. Aber auch in anderen Publikationen von Autoren jüdischer Herkunft sind solche Aneignungen sichtbar. So hoben einige Autoren den gesundheitsfördernden Charakter der jüdischen Tradition hervor. Sowohl für die Zionisten als auch für traditionsbewusste Juden bot die »Psychopathologie der Juden« mithin eine Möglichkeit, politische Forderungen und solche nach einer althergebrachten religiösen Lebensweise zu legitimieren. Damit wird deutlich, dass Juden in diesem Diskurs nicht nur »Opfer« waren, sondern die Debatte durchaus selbstbewusst für sich zu nutzten wussten. Zusammenfassend ist zu sagen, dass sich der Diskurs um »Rasse« und Psychopathologie in allen seinen Phasen als Ort der Verhandlung kultureller, sozialer und politischer Probleme zeigte: Thema waren Selbstfindung und Außenbestimmung, der Ein- und Ausschluss gesellschaftlicher Gruppen sowie die Naturalisierung von Hierarchien. Es ging um die Selbstdefinition des Bürgertums und die Zweifel an der europäischen Moderne. Dabei waren die Ursachen für Kriege und die Bedingungen kolonialen Lebens ebenso Teil der Diskussion wie die Frage nach Identität und
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Politik. Diese kontextuellen Einbettungen von »Rasse« in der Psychiatrie können als Versuche gelesen werden, soziale, kulturelle und politische Probleme mit Hilfe der Biologie besser zu ordnen und zu beherrschen. Ärzte griffen auf die neue plausible Idee der »Rasse« zurück, um gesellschaftliche Phänomene und Schwierigkeiten wie soziale Ungleichheit besser bestimmen zu können und in einen scheinbar wissenschaftlichen Erklärungszusammenhang zu bringen. Dies war für die wissenschaftsorientierte Ärzteschaft überzeugend, da eine solche Herangehensweise eine vernüftige Erklärung fern von älteren religiösen Erklärungen bot. Die Kategorie »Rasse« schien ferner gut geeignet, Kultur, Politik und Wissenschaft zu verknüpfen: der rassenpsychiatrische Diskurs bestätigt demnach die bereits in der Literatur festgestellte These, »Rasse« habe zwischen diesen Sphären eine Scharnierfunktion.4 Ferner deckte das Forschungsfeld »Rasse und Psychopathologie« eine große Bandbreite von Themen ab. »Rasse« bot ein probates Mittel, »neuen Trends« in der Psychiatrie nachzugehen. Man ging gewissermaßen mit der Zeit: Kulturkritik und Trauma, Psychoanalyse, Degeneration und Vererbung, Konstitutionsforschung und neue (zumindest geplante) Großprojekte waren Bestandteil des rassenpsychiatrischen Forschungsfeldes. Vor allem in der zweiten Hälfte des Diskurszeitraums ist ein Bedeutungsgewinn biologischer Erklärungen zu beobachten. Trotzdem zeigt sich eine enorme Varianz theoretischer Konzeptionen, mit denen das Themenfeld bearbeitet worden ist. Zwar stellte niemand das Rassenkonzept offen in Frage, die Antworten auf die Frage, woher die psychischen Differenzen verschiedener »Rassen« kämen, waren jedoch durchaus disparat. Abschließend stellt sich die Frage, was die dargestellten Ergebnisse für ein weitergehendes Verständnis von »Rasse« beitragen können. Ein Blick auf Bruno Latours Begriff des »Hybrids« ist dafür lohnenswert. Auch Latour beschreibt die Vorstellung einer dichotomen Trennung von »Natur« und »Kultur« als Phänomen der Moderne.5 Ihm zufolge hat die Moderne ein Set von Praktiken hervorgebracht, das beständig Hybride, »Mischwesen zwischen Natur und Kultur« produziert, während ein zweites Set von Praktiken diese beiden Zonen – »die der Menschen einerseits, die der nicht-menschlichen Wesen andererseits« – durch »Reinigung« wieder trennt.6 Die Trennung von Menschen und Dingen oder der materiellen und nichtmateriellen Sphäre – also von Kultur und Natur – begreift Latour dabei als wesentlichen Bestandteil des Selbstverständnisses und des Weltbilds des »Abendländers«.7 Der Diskurs um Psychopathologie und Rasse – wie auch andere Rassediskurse – können als Exempel dieser Praktiken der Moderne verstanden werden, also als 4
SCHMUHL, Rasse, Rassenforschung, Rassenpolitik. 22-33.
5
BRUNO LATOUR, Wir sind nie modern gewesen, Frankfurt a. M. 2008 [1995]. S. dazu
6
LATOUR, Wir sind nie modern gewesen, 19.
7
Ebenda, 136.
ferner Kapitel 1.
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Praktiken, an denen der Versuch und das Scheitern einer Grenzziehung zwischen Kultur und Natur offensichtlich wird. Auch in den in dieser Studie geschilderten Auseinandersetzungen wurde »Rasse« einerseits als Hybrid hergestellt: »rassische Differenz« erscheint als Mischung kultureller und biologischer Faktoren und wurde an der Schnittstelle von Natur und Kultur, Biologie und Sozialem verhandelt. Andererseits wurde gleichzeitig stets der Versuch unternommen, »Rasse« vom Sozialen zu »reinigen«, indem man behauptete, es gäbe biologisch begründete Rassenklassifikationen. Für eine weitergehende Analyse des Konzepts »Rasse« könnte Latours Aufforderung bedeuten, Wirkweisen und Funktionen von »Rasse« als Hybrid zu begreifen und die Vielfalt von Differenzen ernst zu nehmen, die immer schon gleichzeitig materiell, sozial und kulturell waren.
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Danksagung Eine Doktorarbeit entsteht immer auch mit der Hilfe und Unterstützung anderer, bei denen ich mich an dieser Stelle bedanken möchte. Zunächst gilt mein Dank meinem Erstbetreuer Prof. Dr. Rüdiger vom Bruch für die Begleitung meines Promotionsverfahrens und die Freiheit, die er mir bei der Erstellung der Doktorarbeit gelassen hat. Zu großem Dank bin ich meinem Zweitbetreuer Prof. Dr. Heinz-Peter Schmiedebach verpflichtet, der mich stets unterstützt und dessen konstruktive Rückmeldungen auf meine Texte unverzichtbar für die Erstellung der Arbeit waren. Ferner haben im Laufe der Jahre viele Personen meinen Weg gekreuzt, die mich auf vielfältige Weise unterstützt haben. Mein Dank gilt: Sabine Bode, Michaela Christ, Gabi Elverich, Gisela Eberhardt, Jörg Nowak, Anke Prochnau, Andrea Rudorff, Robert Schuster, Felix Wiedemann, Carsten Würmann, Gregor Zattler, Maren Ziese, sowie aus dem Umfeld des Lehrstuhls Wissenschaftsgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin: Matthias Berg, Eric Engstrom, Levke Harders, Hans-Christoph Liess, Veronika Lipphardt, Jens Thiel, Sören Flachowski und Hans-Jakob Ziemer. Mein besonderer Dank gilt Lorraine Bluche, Viola Balz, Cornelia Geißler, Tino Plümecke und Heide Wilkening ohne die diese Arbeit (so) nicht geworden wäre. Andrea Adams Berlin und Bielefeld im September 2013
Science Studies Diego Compagna (Hg.) Leben zwischen Natur und Kultur Zur Neuaushandlung von Natur und Kultur in den Technik- und Lebenswissenschaften Januar 2014, ca. 250 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2009-2
Edgar Grande, Dorothea Jansen, Otfried Jarren, Arie Rip, Uwe Schimank, Peter Weingart (Hg.) Neue Governance der Wissenschaft Reorganisation – externe Anforderungen – Medialisierung Oktober 2013, 374 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2272-0
Stefan Kühl Der Sudoku-Effekt Hochschulen im Teufelskreis der Bürokratie. Eine Streitschrift 2012, 172 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1958-4
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Science Studies Sibylle Peters (Hg.) Das Forschen aller Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft Mai 2013, 262 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2172-3
Rudolf Stichweh Wissenschaft, Universität, Professionen Soziologische Analysen (Neuauflage) April 2013, 360 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2300-0
Tristan Thielmann, Erhard Schüttpelz (Hg.) Akteur-Medien-Theorie Oktober 2013, 776 Seiten, Hardcover, zahlr. Abb. , 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1020-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Science Studies Celia Brown, Marion Mangelsdorf (Hg.) Alice im Spiegelland Wo sich Kunst und Wissenschaft treffen
David Kaldewey Wahrheit und Nützlichkeit Selbstbeschreibungen der Wissenschaft zwischen Autonomie und gesellschaftlicher Relevanz
2012, 220 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., inkl. DVD mit Filmen und Musik, 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2082-5
November 2013, 494 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2565-3
Catarina Caetano da Rosa Operationsroboter in Aktion Kontroverse Innovationen in der Medizintechnik
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Mai 2013, 392 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2165-5
2012, 392 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1804-4
Susanne Draheim Das lernende Selbst in der Hochschulreform: »Ich« ist eine Schnittstelle Subjektdiskurse des Bologna-Prozesses 2012, 242 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2158-7
Gert Dressel, Wilhelm Berger, Katharina Heimerl, Verena Winiwarter (Hg.) Interdisziplinär und transdisziplinär forschen Praktiken und Methoden Februar 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2484-7
Gudrun Hessler, Mechtild Oechsle, Ingrid Scharlau (Hg.) Studium und Beruf: Studienstrategien – Praxiskonzepte – Professionsverständnis Perspektiven von Studierenden und Lehrenden nach der Bologna-Reform April 2013, 314 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2156-3
Ulrich Salaschek Der Mensch als neuronale Maschine? Zum Einfluss bildgebender Verfahren der Hirnforschung auf erziehungswissenschaftliche Diskurse 2012, 226 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2033-7
Katharina Schmidt-Brücken Hirnzirkel Kreisende Prozesse in Computer und Gehirn: Zur neurokybernetischen Vorgeschichte der Informatik 2012, 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2065-8
Myriam Spörri Reines und gemischtes Blut Zur Kulturgeschichte der Blutgruppenforschung, 1900-1933 März 2013, 414 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1864-8
Martina Wernli (Hg.) Wissen und Nicht-Wissen in der Klinik Dynamiken der Psychiatrie um 1900 2012, 272 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1934-8
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