Stadt und Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit 9783412214586, 9783412207557


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Stadt und Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit
 9783412214586, 9783412207557

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¨ DTEFORSCHUNG STA Vero¨ffentlichungen des Instituts fu¨r vergleichende Sta¨dtegeschichte in Mu¨nster begru¨ndet von Heinz Stoob in Verbindung mit

U. Braasch-Schwersmann, W. Ehbrecht, H. Heineberg, P. Johanek, M. Kintzinger, A. Lampen, R.-E. Mohrmann, E. Mu¨hle, F. Opll und H. Schilling herausgegeben von

We r n e r F r e i t a g Reihe A: Darstellungen Band 83

¨ FFENTLICHKEIT STADT UND O ¨ HEN NEUZEIT IN DER FRU herausgegeben von Gerd Schwerhoff

2011 ¨ HLAU VERLAG KO ¨ LN WEIMAR WIEN BO

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet u¨ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Der Marktplatz von Augsburg als Mittelpunkt der Stadt, mit Rathaus und Augustusbrunnen, um 1740. Kupferstich von Johan Georg Pinz nach einer Zeichnung von Salomon Kleiner (Ausschnitt). Privatbesitz.

© 2011 by Bo¨hlau Verlag GmbH & Cie, Ko¨ln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Ko¨ln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschu¨tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzula¨ssig. Redaktion: Institut fu¨r vergleichende Sta¨dtegeschichte, Mu¨nster http://www.uni-muenster.de/Staedtegeschichte Layout und Satz: Peter Kramer Buch & Satz, Mu¨nster Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mo¨rlenbach Gesetzt aus der Linotype Stempel Garamond 10pt. Gedruckt auf chlor- und sa¨urefreiem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-412-20755-7

INHALT

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

Verzeichnis der Abku¨rzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VIII

Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

Gerd Schwerhoff ¨ ffentlichkeit in der Fru¨hen Neuzeit – Perspektiven der Forschung Stadt und O

1

Rudolf Schlo¨gl Vergesellschaftung unter Anwesenden in der fru¨hneuzeitlichen Stadt und ihre ¨ ffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (politische) O

29

Susanne Rau Orte – Akteure – Netzwerke. Zur Konstitution o¨ffentlicher Ra¨ume in einer fru¨hneuzeitlichen Fernhandelsstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Beat Ku¨min In vino res publica? Politische Soziabilita¨t im Wirtshaus der Fru¨hen Neuzeit

65

Gerhard Ammerer Das Kaffeehaus als o¨ffentlicher Raum. Das Beispiel Salzburg . . . . . . . .

81

Dagmar Freist „The Staple of Newes“. Ra¨ume, Medien und die Verfu¨gbarkeit von Wissen im fru¨hneuzeitlichen London . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

Andre´ Krischer ¨ ffentlichkeit in der Alten Stadt . . . . . . . . . . . Rituale und politische O

125

Holger Zaunsto¨ck ¨ ffentlichen und sta¨dtischer Raum. Pietismus, Konstellationen des O Studentenkultur und Disziplinarpolitik um 1700 . . . . . . . . . . . . . . .

159

VI

Inhalt

Patrick Schmidt ¨ ffentlichkeit. Anna¨herungen an ein Zu¨nfte, Handwerker und aufkla¨rerische O distanziertes Verha¨ltnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

Fre´deric Barbier ¨ ffentlichkeit im Ancien Re´gime und im 19. Jahrhundert. Stadt und O Anmerkungen aus buchgeschichtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . .

201

Index der Orts- und Personennamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

217

VORWORT

Der vorliegende Band geht auf das 39. Kolloquium des Instituts fu¨r vergleichende Sta¨dtegeschichte und des Kuratoriums fu¨r vergleichende Sta¨dtegeschichte zuru¨ck, das am 23. und 24. Ma¨rz 2009 in Mu¨nster veranstaltet wurde. Zwei seinerzeit gehaltene Vortra¨ge gelangen leider nicht zur Drucklegung, na¨mlich diejenigen von Daniel Bellingradt (Berlin), „Flugpublizistik im urbanen Raum der Fru¨hen Neuzeit“, und ¨ ffentlichkeit von Frank Mo¨ller (Greifswald), „Stadt, Staat, Nation – Gestufte O 1750–1850“. Aktiv waren bei der Tagung weiterhin als Sektionsleiterinnen und Sektionsleiter Martina Stercken (Zu¨rich), Karen Lambrecht (Stuttgart/Konstanz) und Ulrich Rosseaux (Dresden), als Schlusskommentator Andreas Gestrich (London) sowie als Berichterstatter Eric C. Piltz (Dresden). Allen Beteiligten mo¨chte ich fu¨r ihr Engagement und ihre Kooperation herzlich danken. Das Institut fu¨r vergleichende Sta¨dtegeschichte hat Tagung und Publikation mo¨glich gemacht und die Organisation u¨bernommen. Als zentrales Diskussionsforum der historischen Stadtgeschichtsforschung in Deutschland bleibt es unverzichtbar. Ein besonderer perso¨nlicher Dank geht in diesem Zusammenhang einmal an den wissenschaftlichen Vorstand des Instituts, Werner Freitag, dem ich mich durch lange Jahre freundschaftlicher Zusammenarbeit verbunden weiß, und andererseits an Mechthild Siekmann, die als wissenschaftliche Redakteurin den vorliegenden Band souvera¨n durch die Klippen der Drucklegung steuerte. Dresden, im September 2011

Gerd Schwerhoff

¨ RZUNGEN UND SIGLEN VERZEICHNIS DER ABKU

AFSt AHR AKG BFSt BllDtLG BremJb EmderJb FMSt GuG GWU HJb HJourn HZ JbKo¨lnGV JModH MGSL NdsJb PP RhJbVkd RhVjbll SchweizZG SLA StadtA StF A UH VMPI ZHF

Archiv der Franckeschen Stiftungen The American Historical Review Archiv fu¨r Kulturgeschichte Bibliothek der Franckeschen Stiftungen Bla¨tter fu¨r deutsche Landesgeschichte Bremisches Jahrbuch Emder Jahrbuch [auch: Jahrbuch der Gesellschaft fu¨r bildende Kunst und vaterla¨ndische Altertu¨mer zu Emden, Friesisches Jahrbuch u. a. Titel] Fru¨hmittelalterliche Studien Geschichte und Gesellschaft, Zeitschrift fu¨r historische Sozialwissenschaft Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Historisches Jahrbuch Historical Journal, Birmingham Historische Zeitschrift Jahrbuch des Ko¨lnischen Geschichtsvereins The journal of modern History, Chicago Mitteilungen der Gesellschaft fu¨r Salzburger Landeskunde Niedersa¨chsisches Jahrbuch fu¨r Landesgeschichte Past & Present Rheinisches Jahrbuch fu¨r Volkskunde Rheinische Vierteljahrsbla¨tter Schweizer Zeitschrift fu¨r Geschichte Salzburger Landesarchiv Stadtarchiv Sta¨dteforschung, Reihe A: Darstellungen Urban History Vero¨ffentlichungen des Max-Planck-Instituts fu¨r Geschichte Zeitschrift fu¨r Historische Forschung

VERZEICHNIS DER AUTOREN

Ao. Univ. Prof. DDr. Gerhard Ammerer Fachbereich Geschichte Universita¨t Salzburg Rudolfskai 42 A-5020 Salzburg

Prof. Dr. Susanne Rau Historisches Seminar Universita¨t Erfurt Nordha¨user Str. 63 D-99089 Erfurt

Prof. Dr. Fre´de´ric Barbier Institut d’histoire moderne et contemporaine IHMC 45 rue d’Ulm F-75005 Paris

Prof. Dr. Rudolf Schlo¨gl Fachbereich Geschichte und Soziologie Universita¨t Konstanz D-78457 Konstanz

Prof. Dr. Dagmar Freist Institut fu¨r Geschichte Carl-von-Ossietzky Universita¨t Oldenburg Ammerla¨nder Heerstr. 114–118 D-26129 Oldenburg Dr. Andre´ Krischer Leibniz Projekt Vormoderne Verfahren Westfa¨lische Wilhelms-Universita¨t Mu¨nster Hittorfstraße 17D–48149 Mu¨nster Prof. Dr. Beat Ku¨min Department of History The University of Warwick GB-Coventry CV4 7AL

Dr. Patrick Schmidt Wilhelmstraße 49 D-35392 Gießen Prof. Dr. Gerd Schwerhoff Institut fu¨r Geschichte Technische Universita¨t Dresden D-01062 Dresden PD Dr. Holger Zaunsto¨ck Institut fu¨r Geschichte Philosophische Fakulta¨t I Martin-Luther-Universita¨t Hoher Weg 4 D-06120 Halle (Saale)

¨ FFENTLICHKEIT IN DER FRU ¨ HEN NEUZEIT – STADT UND O PERSPEKTIVEN DER FORSCHUNG von Gerd Schwerhoff

¨ ffentlichkeit‘ ist einer jener Grundbegriffe, die fu¨r die Gegenwart wie fu¨r die ‚O historische Forschung gleichermaßen Relevanz beanspruchen. In der Moderne gilt ¨ ffentlichkeit als ein fundamentales Regulativ jener ‚civil society‘ (Zivilgesellschaft), O die auf umfassende Information und weitgehende Partizipation ihrer Mitglieder notwendig angewiesen ist.1 Von daher liegt es fu¨r Historiker nahe, nach der Genese und ¨ ffentlichkeit zu fragen. Zugleich dra¨ngt sich die Frage nach nach den Wurzeln von O ¨ quivalenten und Parallelen zu dieser O ¨ ffentlichkeit in vormodernen mo¨glichen A Gesellschaften auf. Beide Frageperspektiven, diejenige nach der Genese der moder¨ ffentlichkeit sind miteinnen und diejenige nach dem Charakter der vormodernen O ander stark verknu¨pft, obwohl es – so eine der hier vertretenen Thesen – fu¨r die Zwecke der historischen Forschung zweckma¨ßiger wa¨re, sie zeitweilig analytisch zu trennen. Fu¨r beide Frageperspektiven ist die Rolle der Stadt von zentraler Bedeutung. ¨ ffentlichkeit, tritt Sie figuriert als ein Forum und als notwendige Relaisstation von O jedoch bislang systematisch kaum in Erscheinung. Erst seit kurzer Zeit beteiligt sich ¨ ffentlichkeit. die moderne Stadtgeschichtsforschung intensiver an der Debatte u¨ber O Einen solchen stadtgeschichtlichen Beitrag will auch der vorliegende Band leisten.2

1.

Dresden 1726

Am 26. August 1726 wird im barocken Dresden, der zutiefst lutherisch gepra¨gten Residenz des katholischen Kurfu¨rsten-Ko¨nigs Friedrich August I., der Grundstein

1 Europa¨ische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Geschichte Chancen, hg. v. Manfred Hilder-

meier u. a., Frankfurt a. M. 2000; Stefan-Ludwig Hoffmann, Civil Society, 1750–1914, London 2006.

2 Vgl. den Bericht u¨ber die dem Band zugrunde liegende Mu¨nsteraner Tagung von Eric Piltz, „Stadt und

¨ ffentlichkeit (15.–19. Jahrhundert)“. 39. Kolloquium des Instituts fu¨r vergleichende Sta¨dtegeschichte O und des Kuratoriums fu¨r vergleichende Sta¨dteschichte e. V., 23. 3. 2009–24. 3. 2009, in: H-Soz-u-Kult, 25. 6. 2009, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2659.

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Gerd Schwerhoff

fu¨r die neue Frauenkirche gelegt.3 Der feierlichen und wohlgeordneten Grundsteinlegung vor den Augen von angeblich 10 000 Zuschauern geht eine Festprozession von Honoratioren und von Vertretern der Bu¨rgerschaft voraus. Der Text aber, der im Grundstein vermauert wird, erinnert an einen weit unordentlicheren, spektakula¨ren Vorfall, der sich wenige Monate vorher, am 21. Mai, in der Stadt ereignet hatte. Die ‚entsetzliche Mordtat‘ am Diakon der Dresdner Kreuzkirche, Herman Joachim Hahn, hatte die Stadt in Aufruhr versetzt. Hahn war in seinem Haus erstochen worden. Als Ta¨ter wurde schnell der katholische Konvertit Franz Laubler, ein aus der Na¨he von Augsburg gebu¨rtiger Soldat, dingfest gemacht. In der Wahrnehmung vieler Dresdner handelte es sich aber nicht um die Einzeltat eines geistig Verwirrten, sondern um einen katholischen Anschlag auf das protestantische Herz der Stadt, der vom Teufel oder von den Jesuiten (in den Augen vieler Protestanten ohnehin kein großer Unterschied) inspiriert war. Die bereits seit Monaten durch konfessionelle Kontroverspredigten aufgeladene Atmospha¨re entlud sich im Gefolge des Mordanschlages. Unmittelbar nach der Tat kamen viele empo¨rte Bu¨rger auf dem Altmarkt, dem traditionellen Versammlungsplatz der Stadt, zusammen. Ihre Erregung konnte noch aus dem nahe gelegenen Rathaus beschwichtigt und kanalisiert werden. Als aber am folgenden Morgen wa¨hrend des Gottesdienstes in der Kreuzkirche bewaffnete Katholiken gesichtet wurden und von einigen sogar ein Schuss auf den Prediger behauptet wurde, ließ sich die abermals auf dem Altmarkt versammelte Menge nicht mehr beschwichtigen. Den ganzen Tag u¨ber machte der protestantische Mob Jagd auf die katholische Minderheit, die von Bu¨rgerwehr und Soldaten schließlich in Schutzhaft genommen wurde. Wie durch ein Wunder gab es keine Toten. Aber wenn auch ein großes Aufgebot der sa¨chsischen Armee schnell wieder die a¨ußere Ordnung herstellte, so kam doch die Stadt Monate danach nicht zur Ruhe. Das Medienecho auf die Angelegenheit war gewaltig: Insgesamt erschienen u¨ber sechzig Berichte, Predigttexte, Denk- und Erbauungsschriften zum Mord und zum anschließenden Tumult, spekulierten u¨ber die Motive des Ta¨ters, heroisierten das Opfer zum Ma¨rtyrer fu¨r das Evangelium, klagten die Tumultanten an oder verteidigten sie. Dabei verharrten die Druckschriften keineswegs nur im Lokalen, vielmehr bildeten die keine zwei Jahre zuru¨ckliegenden Vorga¨nge in Thorn, die als „Blutgericht“ in die protestantische Publizistik eingingen, den mentalen Resonanzboden fu¨r eine Interpretation der Dresdner Vorga¨nge – Parallelen wurden sowohl im Titel („betru¨btes Thorn“ – „betru¨btes Dresden“) gezogen wie auch bei der Verteufelung der angeblichen jesuitischen Hinterma¨nner. Aber natu¨rlich beteiligte sich auch die sa¨chsische Obrigkeit an der Medienoffensive, etwa, indem der Stadtrat keine Woche nach dem Tumult die Bu¨rger ermahnt, sich in den Wirths= und Schenck=Ha¨user[n] allen Geschwa¨tzes

3 Das Folgende nach Mathis Leibetseder, Die Hostie im Hals. Eine „schro¨ckliche Bluttat“ und der

¨ ffentDresdner Tumult von 1726, Konstanz 2009, und Daniel Bellingrath, Flugpublizistik und O lichkeit um 1700. Dynamiken, Akteure und Strukturen im urbanen Raum des Alten Reiches, Stuttgart 2011, S. 307ff. Zum konfessionspolitischen Hintergrund Ulrich Rosseaux, Das bedrohte Zion. Lutheraner und Katholiken in Dresden nach der Konversion Augusts des Starken (1697–1751), in: Konversion und Konfession in der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Ute Lotz-Heumann u. a., Gu¨tersloh 2007, S. 212–235.

¨ ffentlichkeit in der Fru¨hen Neuzeit – Perspektiven der Forschung Stadt und O

3

und unnu¨tzen Disputirens, auch raisonnirens und Geza¨ncks zu enthalten.4 Schließlich wurde einer der Unruhestifter, ein Soldat, hingerichtet, weitere zu Festungshaft und Verbannung verurteilt. Der große o¨ffentliche Schlussakt, die Bestrafung des Mo¨rders, fand rund 2 Monate nach der Tat statt. Wa¨hrend gewo¨hnliche Verbrecher auf dem Rabenstein vor den Toren gerichtet wurden, hatte man fu¨r Franz Laubler eigens ein Schafott auf dem Altmarkt errichtet, wo er am 18. Juli 1726 o¨ffentlich gera¨dert wurde – auch dies ein mehrfach im Druck verewigtes Medienereignis. Der Text im Grundstein der Frauenkirche zeigt an, dass damit die Erinnerung an die Tat aber nicht gebannt war. Vom ‚Dresdner Tumult‘ des Jahres 1726 fallen interessante Schlaglichter auf den ¨ ffentlichkeit‘. Das Ereignis fu¨hrt uns zu zentraProblemzusammenhang ‚Stadt und O len o¨ffentlichen Orten – auf das Rathaus, auf den Markt und in die Kirche. Es zeigt die Bedeutung o¨ffentlicher Rituale, der Prozessionen und der Hinrichtungen ebenso wie der ebenfalls nach rituellen Mustern ablaufenden Unruhen. Und es wird durch ein mediales Begleitkonzert orchestriert, das auf die lokale ebenso wie auf die u¨ber¨ ffentlichkeit zielt. regionale O

¨ ffentlichkeit – Habermas und die Folgen 2. O ¨ ffentAm Monument Ju¨rgen Habermas kommt niemand vorbei, der sich mit der „O lichkeit“ als einem der zentralen Grundbegriffe der politisch-sozialen Sprache in ¨ ffentlichkeit‘, 1961 zuerst Deutschland bescha¨ftigt. Sein Buch ‚Strukturwandel der O erschienen, gilt als „die einflussreichste Habilitationsschrift [.], die je gedruckt wurde“.5 Die Intensita¨t der Rezeption scheint ungebrochen, und die Tatsache, dass sie in der angloamerikanischen Welt erst mit einiger Verzo¨gerung einsetzte (eine eng¨ bersetzung erschien 1989), hat eher noch den weit tragenden Erfolg beflu¨lische U gelt.6 Dabei reicht der Einfluss des Buches weit u¨ber diejenige Periode hinaus, die in dem Buch im engeren Sinn behandelt wird, na¨mlich die spa¨tere Neuzeit. Tatsa¨chlich ¨ berlegungen, der Zerfall der bu¨rgerlichen O ¨ ffentlichhat der Fluchtpunkt seiner U keit seit der zweiten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts, in der historischen Forschung eher

4 Bellingrath, Flugpublizistik (wie Anm. 3), S. 334f. 5 Timothy C. W. Blanning, Das Alte Europa 1660–1789. Kultur der Macht und Macht der Kultur,

Darmstadt 2006, S. 17. 6 Zentral zur englischen Rezeption Habermas and the Public Sphere, hg. v. Craig Calhoun, Lon-

don 1992; Harold Mah, Phantasies of the Public Sphere: Rethinking the Habermas of Historians, in: JModH 72 (2000), S. 153–182; Peter Lake/Steven Pincus, The Politics of the Public Sphere in ¨ ffentliche Early Modern England, Manchester 2007; vgl. weiterhin Susanne Rau/Gerd Schwerhoff, O ¨ berlegungen zu Leitbegriffen und Themen eines Forschungsfeldes, in: Ra¨ume in der Fru¨hen Neuzeit. U ¨ ffentliche Ra¨ume in Spa¨tmittelalter und Fru¨her Neuzeit, hg. v. Zwischen Gotteshaus und Taverne. O Dens., Ko¨ln 2004, S. 11–52. Vgl. die kritisch-differenzierenden Bemerkungen im Beitrag von Susanne Rau im vorliegenden Band.

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Gerd Schwerhoff

wenig Widerhall gefunden.7 Auf die Epochen, die vor dem ‚Strukturwandel‘ liegen, u¨bte das Buch im Gegensatz dazu einen erstaunlichen Einfluss aus. Ganz selbstversta¨ndlich nahm z. B. die Reichenauer Media¨vistengruppe bei ihrer Tagung u¨ber „Poli¨ ffentlichkeit im Spa¨tmittelalter“ Habermas als zentralen Referenzpunkt.8 tische O Unumstritten aber ist diese Bezugnahme keineswegs. Das Urteil der Historiker u¨ber Habermas’ Ansatz ist gespalten. Nach wie vor gibt es auf der einen Seite die einflussreiche Gruppe, die trotz einiger Detailkritik die Habermassche Großerza¨hlung weiterspinnt. Dazu geho¨ren mit einem Großteil der Presse- und Aufkla¨rungsforschung etwa der bereits erwa¨hnte Tim Blanning, dessen eindru¨ckliches Gema¨lde des Alten Europa mit starken Pinselstrichen die Ablo¨sung des Paradigmas der ho¨fischen Repra¨sentation durch das literarische Ra¨sonnement zeichnet, oder auch James Horn van Melton .9 Fast die gesamte Presse- und Aufkla¨rungsforschung versta¨rkt diese Phalanx. Kritischer sind in der Mehrzahl Forscher, die sich mit der Zeit vor dem 18. Jahrhundert bescha¨ftigen. Sie mahnen alle mehr oder minder gravierende Modifikationen an, und nicht wenige halten den Rekurs auf einen nach ihrer Sicht la¨ngst u¨berholten Klassiker fu¨r eine u¨berflu¨ssige rituelle Auseinandersetzung mit vergangenen Autorita¨ten – „oublier Habermas“, lautet ihr Schlachtruf frei nach dem Motto Jean Baudrillards in der Foucault-Diskussion.10 Mir scheint, es verha¨lt sich hier wie bei anderen fu¨r die Historiographie wichtigen, gleichsam klassischen Konzepten, bei der Zivilisationstheorie von Norbert Elias ebenso wie bei der Sozialdisziplinierung von Gerhard Oestreich: Um die Bezugnahme kommt man gar nicht herum, denn selbst eine entschiedene Abgrenzung ist eine solche Bezugnahme. Und hier wie auch in anderen Fa¨llen hilft der Rekurs auf den Klassiker, u¨ber die eigene Position Klarheit zu gewinnen. Im Mittelpunkt von Habermas’ Buch stehen bekanntlich Genese, Bauplan und ¨ ffentlichkeit“ als normative Zentralkategoallma¨hlicher Zerfall der „bu¨rgerlichen O rie und wichtiges Organisationsprinzip neuzeitlicher politischer Ordnung. In ihrer ¨ ffentlichkeit an der Nahtstelle zwischen staatklassischen Auspra¨gung sei diese O lich-o¨ffentlicher Gewalt und dem sich davon absetzenden und emanzipierenden Pri¨ ffentlichkeit“ versteht vatbereich der Gesellschaft entstanden. Unter „bu¨rgerlicher O der Autor eine autonome „Spha¨re der zum Publikum versammelten Privatleute“, die 7 Jo¨rg Requarte, O ¨ ffentlichkeit und Medien als Gegensta¨nde historischer Analyse, in: GuG 25 (1999),

S. 5–32. 8 Vgl. den Tagungsbericht von Matthias Heiduk „Politische O ¨ ffentlichkeit im Spa¨tmittelalter. Herbst-

tagung des Konstanzer Arbeitskreises fu¨r Geschichte e. V.“, 7. 10. 2008–10. 10. 2008, Insel Reichenau, in: H-Soz-u-Kult, 17. 12. 2008, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2425. 9 Blanning, Das Alte Europa (wie Anm. 5); James Horn van Melton, The Rise of Public in Enlightenment Europe, Cambridge 2001. 10 Das war z. B. der mehrheitliche Tenor bei einem Dresdner Workshop im Dezember 2007, vgl. den Tagungsbericht von Grit Loitzsch, „Institutionelle Ordnungsarrangements o¨ffentlicher Ra¨ume in der Fru¨hen Neuzeit“, in: H-Soz-u-Kult, 2. 4. 2008, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2060 Vgl. Ste´phane van Damme, Farewell Habermas? Deux de´cennies d’e´tudes sur l’espace public, in: http://dossiersgrihl.revues.org/682; Wolfgang Behringer, Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Fru¨hen Neuzeit, Go¨ttingen 2003, S. 22 Anm. 86 („... gru¨ndlich destruiert.“); Das Mediensystem im Alten Reich der Fru¨hen Neuzeit (1600–1750), hg. v. Johannes Arndt/Esther-Beate Ko¨rber, Go¨ttingen 2010, S. 13 der Einleitung.

¨ ffentlichkeit in der Fru¨hen Neuzeit – Perspektiven der Forschung Stadt und O

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¨ ffentlichkeit alsbald gegen die o¨ffentliche Gewalt“ die „obrigkeitlich reglementierte O beanspruche; als Medium der politischen Auseinandersetzung bediene sie sich des o¨ffentlichen, vernu¨nftigen Ra¨sonnements.11 Habermas gelingt das Kunststu¨ck, die ¨ ffentlichkeit“ samt Beschreibung eines philosophischen Idealtypus „bu¨rgerlicher O seiner bis heute existierenden Emanzipationspotentiale mit einer pra¨zisen Analyse seiner Geburtsfehler zu verbinden: Das Publikum habe sich eben nur aus dem Kreis der Privateigentu¨mer und Hausva¨ter rekrutiert, Nichtbesitzende seien ebenso wie ¨ ffentlichkeit ausgeschlossen geblieben, wa¨hrend zuminFrauen aus der politischen O ¨ ffentlichkeit bestimmenden Anteil hatten. dest letztere an der literarischen O Die an Habermas anschließenden Debatten der historischen Wissenschaften sind ebenso fruchtbar wie kontrovers gewesen und ko¨nnen in ihrer Vielfalt kaum u¨berschaut werden. Eine differenzierende Korrektur, in der aber zugleich eine Besta¨tigung des prinzipiellen Frageansatzes liegt, haben z. B. die Forschungen zu Großbritannien (bzw. vor allem zu London) vorgenommen. Dort kann bereits fu¨r die Mitte des 17. Jahrhunderts die Entfaltung einer o¨ffentlichen Meinung beschrieben werden, die bereits wesentliche Kriterien des Habermasschen Modells erfu¨llt habe.12 Auch ¨ ffentlichkeit vorfu¨r Deutschland haben neuere Studien den Strukturwandel der O 13 datiert. Dagegen haben ju¨ngere begriffs- und diskursgeschichtliche Ansa¨tze gerade fu¨r den deutschen Sprachraum die Periodisierung von Habermas gesta¨rkt. Die Kar¨ ffentriere solcher Termini wie „o¨ffentliche Meinung“ oder eben des Substantivs „O lichkeit“ begann danach erst nach der Mitte des 18. Jahrhunderts. Erst jetzt wurde ¨ ffentlichkeit zu einer diskursiven Referenz, begegnete sie sich gleichsam selbst, wie O Lucian Ho¨lscher formulierte. Dass die ‚public opinion‘ im politisch-sozialen Streit der Parteien gleichsam als Schiedsrichter angerufen wird, wie es uns heute selbstversta¨ndlich erscheint, finden wir im 16. Jahrhundert dezidiert nicht. Und ebenfalls erst in der spa¨teren Fru¨hneuzeit entwickelte sich jener Antagonismus zwischen der ¨ ffentlichkeit und einer Spha¨re des Nicht-O ¨ ffentlichen im Sinne des Intimen und O Privaten, die die alte Leitdifferenz ‚o¨ffentlich‘ vs. ‚geheim‘ erga¨nzte bzw. ablo¨ste. ¨ ffentInsofern la¨sst sich mit guten Gru¨nden weiterhin die These vertreten, dass „O lichkeit im ausgehenden 18. und fru¨hen 19. Jahrhundert im deutschen Sprachraum

11 Ju¨rgen Habermas, Strukturwandel der O ¨ ffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bu¨r-

gerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990, S. 86.

12 Dagmar Freist, Governed by Opinion. Politics, Religion and the Dynamics of Communication in

¨ ffentlichkeit und Herrschaftslegitimation in der Fru¨Stuart London 1637–1645, London 1997; dies., O hen Neuzeit: Deutschland und England im Vergleich, in: Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Ronald G. Asch/Dagmar Freist, Ko¨ln/Weimar/Wien 2005, S. 322–351. Vgl. auch den Beitrag von Dagmar Freist im vorliegenden Band. Aus anderer Perspektive mit einer interessanten raumzentrierten Perspektive Christoph Heyl, A Passion for Privacy. Untersuchungen zur Genese der bu¨rgerlichen Privatspha¨re in London, ca. 1660–1800, Mu¨nchen 2004. 13 Andreas Gestrich, Absolutismus und O ¨ ffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Go¨ttingen 1994, S. 238; vgl. Johannes Kunisch, Absolutismus und ¨ ffentlichkeit, in: „O ¨ ffentlichkeit“ im 18. Jahrhundert, hg. v. Hans-Wolf Ja¨ger, Go¨ttingen 1997, O ¨ ffentlichkeiten. Kommunikation um die S. 33–49; Sebastian Ku¨ster, Vier Monarchien – Vier O ¨ ffentlichkeit“ im Schlacht bei Dettingen, Mu¨nster 2004, S. 14ff.; Maren Richter, „Pra¨diskursive O Absolutismus?, in: GWU 59 (2008), S. 460–475.

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Gerd Schwerhoff

zuna¨chst im Bereich des literarischen, spa¨ter dann auch des politischen Verkehrs eine neue Qualita¨t annahm“.14 Habermas war nun aber nicht in erster Linie Historiker, sondern Philosoph. Kennzeichnend fu¨r seinen Ansatz ist eine grundlegende Ambiguita¨t zwischen normativem Ideal und der empirischen Beschreibung einer historischen Realita¨t. Diese Unscha¨rfe fu¨hrt in der Diskussion der Geschichtswissenschaft ha¨ufig zu Irritationen. Ohne eine vertiefte Habermas-Exegese zu betreiben, ko¨nnte es nu¨tzlich sein, fu¨r his¨ ffentlichkeitsbegriff von Habermas als einen normativen Idetorische Zwecke den O altypus zu fassen, wie es – in enger Anlehnung an den Frankfurter Philosophen – der ¨ ffentlichkeit Politikwissenschaftler Bernhard Peters getan hat. Er beschreibt die „O im emphatischen Sinn“, wie er es nennt, folgendermaßen: Sie werde „gebildet durch Kommunikation unter Akteuren, die aus ihren privaten Lebenskreisen heraustreten, um sich u¨ber Angelegenheiten von allgemeinem Interesse zu versta¨ndigen. Die Teilnahme an solchen Kommunikationen konstitutiert eine Art soziales Kollektiv, manchmal „Publikum“ genannt“. Weitere grundlegende Merkmale des normativen Ideals seien unter anderem, dass (1) Angelegenheiten von allgemeinem Interesse verhandelt wu¨rden, dass dabei (2) eine prinzipielle Offenheit fu¨r alle potentiellen The¨ ffentlichkeit universalistisch men gelten soll, dass weiterhin (3) der Anspruch der O ist, d. h. auf eine allgemeine Geltung zielt, dass daru¨ber hinaus (4) die kommunikativen Beziehungen prinzipiell von Gleichheit und Reziprozita¨t gekennzeichnet sein ¨ ußerungen der anderen ho¨ren ko¨nsollen, d. h. dass sich jeder a¨ußern und jeder die A nen soll und dass schließlich (5) der o¨ffentliche Kommunikationsprozess von einer diskursiven Struktur, von „o¨ffentlicher Deliberation“, gekennzeichnet sein soll.15 ¨ ffentlichkeit als Idealtypus ru¨ckt den Diese Rekonstruktion der bu¨rgerlichen O Begriff nun noch sta¨rker, als es bei Habermas ohnehin der Fall war, an die Gegenwart heran. Egal, wie es um die konkrete Verwirklichung bestellt ist, bei der so for¨ ffentlichkeit handelt es sich eindeutig um eine regulative mulierten emphatischen O Leitidee moderner Gesellschaften. Fu¨r die Historiker der Vormoderne impliziert diese Rekonstruktion nach meiner Auffassung gleich zwei Vorteile. Zum einen kann man damit das Habermassche Marschgepa¨ck gleichsam voru¨bergehend einmal able¨ ffentlichkeit‘ im Mittelalter gen und ganz unbefangen danach fragen, was denn ‚O und in der Fru¨hen Neuzeit bedeutete. Zum anderen la¨sst sich dann aber, gleichsam in einem zweiten Schritt, erneut die Frage stellen, wann und in welchem Umfang der angesprochene Idealtypus historisch in den Blick geriet und welche Sozialformationen daran welchen Anteil hatten. ¨ ffentlichkeit‘ im MittelDen ersten Weg einer unbefangenen Erkundung von ‚O alter und in der Fru¨hen Neuzeit hat die Forschung bereits seit geraumer Zeit zu 14 Lucian Ho ¨ ffentlichkeit begegnet sich selbst. Zur Struktur o¨ffentlichen Redens im ¨ lscher, Die O

¨ ffentlichkeit“, hg. v. Ja¨ger (wie 18. Jahrhundert zwischen Diskurs- und Sozialgeschichte, in: „O ¨ ffentlichkeit. Geschichte Anm. 13), S. 11–32, hier S. 14; vgl. weiterhin Peter. U. Hohendahl u. a., O eines kritischen Begriffs, Stuttgart 2000; fu¨r die Fru¨hneuzeit Ernst Opgenoorth, Publicum – privatum – arcanum. Ein Versuch zur Begrifflichkeit fru¨hneuzeitlicher Kommunikationsgeschichte, in: Kommunikation und Medien in Preußen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, hg. v. Bernd So¨semann, Stuttgart 2002, S. 22–44. 15 Bernhard Peters, Der Sinn von O ¨ ffentlichkeit, Frankfurt a. M. 2007, S. 55ff., Zitat S. 59.

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beschreiten begonnen. Im Zeichen einer kommunikationsgeschichtlichen Wendung der Debatte werden ganz unbefangen Akteure, Medien, Reichweiten und Themen o¨ffentlicher Kommunikationsakte empirisch beschrieben und zu Erscheinungsfor¨ ffentlichen aufaddiert.16 Weit gefasst sind dann die Bestimmungen der men des O o¨ffentlichen Spha¨re. So pla¨diert Peter von Moos fu¨r eine Begriffsverwendung von ¨ ffentlichkeit“ in Bezug auf das Mittelalter als „kontrolliertem Anachronismus“; „O ¨ ffentliche „das allgemein und unbegrenzt Erfahrbare, Zuga¨nger definiert als das O liche, Verbindliche oder (sic!) Nu¨tzliche“.17 In a¨hnlicher Weise versteht die For¨ ffentlichkeit „die allgemein zuga¨ngliche Spha¨re der schung zur Fru¨hen Neuzeit als O Kommunikation“18 oder – komplexer – „als Resultat einer sozialen Praxis von einer bestimmbaren Anzahl von Akteuren [...], die innerhalb eines definierbaren Rahmens aus Zeit und Raum mittels Medien kommunikativ hergestellt wurde“.19 Dieser Weg ¨ ffnung des Begriffs hat gleichsam zu einer Multiplikation von O ¨ ffentlichkeieiner O ten gefu¨hrt, zur Erkundung der Vielfalt von „Kommunikationsgemeinschaften“ und kommunikativen Spha¨ren mit unterschiedlichen sozialen und ra¨umlichen Reichweiten.20 Eine Pionierstudie fu¨r diese Herangehensweise ist etwa die Arbeit von Esther¨ ffentBeate Ko¨rber. Sie weist fu¨r das Herzogtum Preußen im 16. Jahrhundert drei O ¨ ¨ lichkeitstypen aus: eine Offentlichkeit der Macht, eine Offentlichkeit der Bildung ¨ ffentlichkeit der Information. Sehr pra¨zise werden die vielfa¨ltigen Tra¨ger, und eine O ¨ ffentlichkeidie medialen Erscheinungsformen und die Reichweiten der jeweiligen O ten beschrieben. Unu¨bersehbar sind aber auch die Kosten einer solchen Herangehensweise. Fehlt der Bezugspunkt Habermas, dann entfa¨llt damit eine Wegmarke zur ¨ ffentlichkeit. Der Versuch pointierten Charakterisierung der jeweils zeittypischen O einer Verallgemeinerung der drei Dimensionen zu einer Struktur der ‚vormodernen ¨ ffentlichkeiten‘ schlechthin mutet beliebig an.21 O

16 Ich verzichte hier auf die eigentlich notwendige Explikation des Kommunikationsbegriffs. Zur For-

¨ ffentlichkeit“ und „Kommunikation“ in den Forschunschungslage nu¨tzlich Carl A. Hoffmann, „O gen zur Vormoderne. Eine Skizze, in: Kommunikation und Region, hg. v. Dems./Rolf Kießling, Konstanz 2001, S. 69–110; zum Konzeptionellen Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Forschungsperspektiven – Thesen, in: ZHF 31 (2004), S. 489–527. 17 Peter von Moos, Das O ¨ ffentliche und das Private im Mittelalter. Fu¨r einen kontrollierten Anachro¨ ffentliche und Private in der Vormoderne, hg. v. Gert Melville/Peter von Moos, nismus, in: Das O Ko¨ln 1998, S. 3–83, hier S. 29; vgl. auch ders.: Die Begriffe „o¨ffentlich“ und „privat“ in der Geschichte und bei den Historikern, in: Saeculum 49 (1998), S. 161–192. 18 Eva-Maria Schnurr, Religionskonflikt und O ¨ ffentlichkeit. Eine Mediengeschichte des Ko¨lner Kriegs (1582–1590), Ko¨ln 2009, S. 39f. 19 Bellingrath, Flugpublizistik (wie Anm. 3), S. 21. 20 Den Begriff der „Kommunikationsgemeinschaft“ bei Nikolaus Jaspert, vgl. seine Zusammenfassung in: Konstanzer Arbeitskreis fu¨r Mittelalterliche Geschichte e. V., Protokoll Nr. 400, u¨ber die Arbeits¨ ffentlichkeit im Spa¨ttagung auf der Insel Reichenau vom 7.–10. Oktober 2008, Thema „Politische O mittelalter“, S. 83–94, hier S. 84. 21 Esther-Beate Ko ¨ ffentlichkeiten der fru¨hen Neuzeit. Teilnehmer, Formen, Institutionen und ¨ rber, O Entscheidungen o¨ffentlicher Kommunikation im Herzogtum Preußen von 1525 bis 1618, Berlin ¨ ffentlichkeiten. Versuch einer Begriffs- und Struk1998. Zur Verallgemeinerung dies., Vormoderne O ¨ hnlich hatte bereits turgeschichte, in: Jahrbuch fu¨r Kommunikationsgeschichte 10 (2008), S. 3–25. A ¨ ffentlichkeit (wie Anm. 13), S. 75ff., zwischen der Spha¨re der Fu¨rsten, Gestrich, Absolutismus und O der Ho¨fe und des Adels, der Spha¨re der Gelehrten und der Spha¨re des Po¨bels unterschieden.

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Bis heute gibt es auf der anderen Seite Versuche von Fru¨hneuzeithistorikern, ¨ ffentunter Bezugnahme auf Habermas spezifisch fru¨hneuzeitliche Formen von O lichkeit zu skizzieren, damit zugleich den Abstand zum Idealtypus der modernen ¨ ffentlichkeit zu messen bzw. den Zeitpunkt na¨her zu bestimmen, bu¨rgerlichen O wo dieser neue Typus historische Gestalt gewann. Gegenu¨ber der universal gedach¨ ffentlichkeit werden dann jeweils spezifische Beschra¨nkungen gelten modernen O ¨ ffentlichkeit“22 tend gemacht. Wenn fu¨r das Mittelalter z. B. von „okkasioneller O gesprochen wird, dann wird damit die situativ-zeitliche Begrenzung zum Ausdruck gebracht. Ga¨ngig ist daneben auch die Rede von „Teilo¨ffentlichkeiten“, gleichsam ¨ ffentlichkeit. Diese Teilo¨ffentlichals Ku¨mmer- bzw. Vorformen der bu¨rgerlichen O keiten werden dann z. B. in bestimmten politischen Einheiten oder begrenzten sta¨ndischen Gruppen lokalisiert oder sie werden als – so Winfried Schulze – als „the¨ ffentlichmatisch gebundene Kommunikationsprozesse“ beschrieben. Auch diese O keit sei zudem noch kein „permanenter Wirkungszusammenhang“ gewesen.23 Als ¨ ffentlichkeit vor der Aufkla¨rungszeit gilt immer noch jene avancierteste Form von O ¨ „reformatorische Offentlichkeit“, die Rainer Wohlfeil auf den Begriff gebracht hat.24 Fu¨r eine kurze Zeit seien in der fru¨hen Reformation sowohl ra¨umlich als auch sozial u¨bergreifende Kommunikationsprozesse organisiert worden. Wohlfeil betonte aber ¨ ffentlichkeit, ablesbar an den Konebenso die kurze Blu¨te der reformatorischen O ¨ ffentjunkturen der Drucke und ihren Auflagezahlen, wie die Fokussierung dieser O lichkeit auf die Religion und eben nicht auf die Politik. Allerdings wa¨re eine Abtrennung der Religion von der Spha¨re des Politischen fu¨r das 16. Jahrhundert ein Anachronismus. Und es ist keineswegs ausgemacht, ob der Eindruck, dass sich nach ¨ ra des Dreißigja¨hrigen Krieges eine verder Reformationszeit erst wieder in der A ¨ ffentlichkeit findet, nicht eher auf Forgleichbare Konjunktur medial vermittelter O schungslu¨cken basiert als auf empirischen Befunden. Fu¨r die Fru¨hneuzeitforschung ergeben sich angesichts der hier skizzierten Lage zwei Aufgabenstellungen. Einmal gilt es, die spezifischen Formen und Spha¨ren des ¨ ffentlichen in den Gesellschaften der Vormoderne differenziert zu analysieren. O Diese erscho¨pfen sich nicht darin, potentielle Vorla¨ufer jener modernen emphati¨ ffentlichkeit zu sein, sondern besitzen einen historischen Eigenwert. Zum schen O zweiten aber bleibt die Frage nach der Genese und der konkreten raumzeitlichen Ver¨ ffentlichkeit auf der Tagesordnung ortung dieser jener neuen Form emphatischer O der historischen Forschung; sie ist la¨ngst nicht ausdiskutiert. Es geht mithin, in den ¨ ffentlichkeit“ nicht als Worten von Dagmar Freist, um den Zeitpunkt, „an dem „O tempora¨res Pha¨nomen, sondern als ... Strukturmerkmal von Gesellschaften politisch 22 Bernd Thum, O ¨ ffentlichkeit und Kommunikation im Mittelalter. Zur Herstellung von O ¨ ffentlichkeit

im Bezugsfeld elementarer Kommunikationsformen, in: Ho¨fische Repra¨sentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, hg. v. Hedda Ragotzky/Horst Wenzel, Tu¨bingen 1990, S. 65–87, hier S. 68. 23 Winfried Schulze, Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert 1500–1618, Frankfurt a. M. 1987, S. 235. 24 Rainer Wohlfeil, Reformatorische O ¨ ffentlichkeit, in: Literatur und Laienbildung im Spa¨tmittelalter und in der Reformationszeit, hg. v. Ludger Grenzmann/Karl Stackmann, Stuttgart 1984, S. 41–52; u¨bergreifende Darstellung der Reformation als Kommunikations- und Medienereignis bei Johannes Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517–1617, Stuttgart 2002.

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¨ ffentlichkeit an Relevanz gewann“.25 Dabei kann der Idealtypus der emphatischen O gleichsam als Kontrastbild hilfreich sein, um analytische Kategorien fu¨r eine na¨here Bestimmung der o¨ffentlichen Spha¨re in der Vormoderne zu entwerfen. Die beiden ¨ ffentlichkeiten Kontur zu Aufgabenstellungen, einmal den spezifisch vormodernen O verleihen, und auf der anderen Seite die Genese der modernen, bu¨rgerlichen bzw. ¨ ffentlichkeit zu untersuchen, sind mithin analytisch voneinander zu emphatischen O unterscheiden, bleiben aber eng aufeinander verwiesen.26 Zugespitzt: Die Forschun¨ ffentlichkeit du¨rfen sich durch die Habermas-Tradition gen zur fru¨hneuzeitlichen O nicht unzula¨ssig einengen lassen, aber sie du¨rfen deren nach wie vor virulenten Fragen auch nicht ausweichen!

¨ ffentlichkeit: die fru¨hneuzeitliche Stadt 3. Verortete O ¨ ffentlichkeit‘ pra¨So reichhaltig, ja mitunter ausufernd sich das Forschungsfeld ‚O sentiert, so wenig ergibt auf den ersten Blick die Suche nach einer spezielleren sta¨d¨ ffentlichkeit. Bei den einschla¨gigen neueren U ¨ berblicksdarstellungen fehlt tischen O ¨ ffentlichkeit‘, wenn auch viele einschla¨gige Aspekte unter anderen das Stichwort ‚O ¨ berschriften (Rituale, Festkultur oder Bildung) auftauchen.27 Auch dieser Befund U la¨sst sich durch den langen Schatten von Ju¨rgen Habermas und seiner beiden Typen ¨ ffentlichkeit erkla¨ren. Die ‚bu¨rgerliche O ¨ ffentlichkeit‘, auf der einen Seite, von O kann ja durchaus in der Stadt des 18. Jahrhunderts lokalisiert werden. Aber ihr besonderes Kennzeichen besteht eben doch eher in ihrem u¨berlokalen Wirkzusammenhang – fu¨r ra¨umliche Bezu¨ge hat sich Habermas nicht allzu sehr interessiert. Auf ¨ ffentlichkeit einen fru¨heder anderen Seite schaltete Habermas der bu¨rgerlichen O ¨ ffentlichkeit“ des Ancien Re´gime. Diese ren Typus vor, na¨mlich die „repra¨sentative O ¨ ffentlichkeit sei, kurz gesagt, nichts anderes gewesen als die o¨ffentliche Repra¨senO tation von Herrschaft durch den Fu¨rsten. Ihre reinste Gestalt habe sie in der ho¨fischen Gesellschaft angenommen. Dabei ha¨tten die Fu¨rsten ihre Herrschaft „statt fu¨r das Volk, ‚vor‘ dem Volk“ repra¨sentiert; und sie taten dies mit Hilfe von Insignien,

25 Freist, O ¨ ffentlichkeit und Herrschaftslegitimation (wie Anm. 12), hier S. 330. 26 Insofern ist die Unterscheidung zwischen einer (vormodernen) kommunikativen O ¨ ffentlichkeit und

¨ ffentlichkeit bei Schnurr, Religionskonflikt und einer (modernen) politischen Dimension von O ¨ ffentlichkeit, S. 36, nicht unproblematisch; ebenso wenig u¨berzeugt der Vorschlag, eine auf dem O ¨ ffentlichkeit als ‚missing link‘ zwischen die repra¨Medium der Zeitung basierende „pra¨diskursive“ O ¨ ffentlichkeit zu schalten, zumal hier nur „der Absolutismus“ und nicht sentative und die bu¨rgerliche O ¨ ffentlichkeit (wie Anm. 13). die Stadt den Bezugspunkt bildet, vgl. Richter, Pra¨diskursive O 27 Ulrich Rosseaux, Sta¨dte in der Fru¨hen Neuzeit, Darmstadt 2006; Andrew Lees/Lynn Hollen Lees, Cities and the Making of Modern Europe, 1750–1914, Cambridge 2007, S. 90f.; Peter Clark, European Cities and Towns 400–2000, Oxford 2009, S. 184ff.; anders bei Bernd Roeck, Lebenswelt und Kultur des Bu¨rgertums in der Fru¨hen Neuzeit, Mu¨nchen 1991, S. 68f. u. o¨., der bezeichnenderweise weniger von der Stadt als Ort als von der Sozialformation des Bu¨rgertums ausgeht.

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Habitus, Gestus und Rhetorik, dem ganzen Kodex „edlen“ Verhaltens.28 Damit war ¨ ffentlichkeit‘ entstanden, ein zweiter antagonistischer Idealtypus zur ‚bu¨rgerlichen O die sich nicht nur in der Form (hier feierliches Zeremoniell, dort freie Deliberation), sondern auch in der ra¨umlichen Verortung diametral unterschied: hier der Hof des Fu¨rsten, dort die Stadt der Bu¨rger. ¨ ffentlichkeit‘ hat die ju¨ngere Forschung das Sta¨rker noch als die ‚bu¨rgerliche O ¨ ffentlichkeit als ein kategoriales Angebot fu¨r die Zeit Modell der „repra¨sentativen“ O vor der Aufkla¨rung obsolet werden lassen. In seiner Beschra¨nkung auf die hohe Politik, auf die Welt der Ho¨fe und des gehobenen Zeremoniells ist es ebenso defizita¨r wie in seiner Ignoranz gegenu¨ber fru¨hen herrschaftskritischen und partizipatorischen Ansa¨tzen.29 Andererseits ist aber auch ein etwas freundlicherer Blick mo¨glich, indem man einige, z. T. eher implizite, Elemente dieses Angebots hervorhebt, die fu¨r neuere Studien anschlussfa¨hig waren und sind.30 Erstens ko¨nnte man durchaus die repra¨sen¨ ffentlichkeit als einen Ausschnitt jenes – freilich viel breiteren – Feldes symtative O ¨ ffentbolischer Kommunikation verstehen, die ganz wesentlich die vormoderne O lichkeit pra¨gte. Hier besitzt die Stadt als Untersuchungsfeld eine durchaus herausragende Bedeutung, ob es um religio¨se Rituale wie Prozessionen, um zeichenhafte Handlungssequenzen im politischen Stadtraum bei Schwo¨rtagen, Herrschereinzu¨gen und Ratswandlungen oder um o¨ffentlich ausgetragene Rang- und Pra¨zedenzkonflikte geht.31 Dieser Form von Kommunikation, auch das impliziert bereits der Habermassche Ansatz, ist zweitens ganz wesentlich an die ko¨rperliche Pra¨senz der Akteure gebunden. Auch nach dem Eintritt in die Gutenberg-Galaxis handelte es sich bei o¨ffentlicher Kommunikation noch weitgehend um Anwesenheitskommuni¨ ffentlichkeit eines Ju¨rgen Habermas fu¨hrt also eine kation. Von der repra¨sentativen O gewisse Kontinuita¨tslinie zur Anwesenheitsgesellschaft Rudolf Schlo¨gls, einem Konzept, das weiter unten na¨her zu ero¨rtern sein wird. Im vorliegenden Band werden

28 Habermas, Strukturwandel, S. 61. Dieser repra¨sentativen O ¨ ffentlichkeit der absolutistischen Ho¨fe

widmet dann etwa Blanning, Das alte Europa (wie Anm. 5), den ersten Teil seines Buches.

29 Vgl. dazu, a¨ltere Ansa¨tze aufgreifend, vor allem Andreas Wu¨rgler, Unruhen und O ¨ ffentlichkeit.

Sta¨dtische und la¨ndliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert, Tu¨bingen 1995; ders., Das Modernisierungspotential von Unruhen im 18. Jahrhundert, in: GuG 21 (1995), S. 195–217. 30 So auch Friedrun Freise, Einleitung, in: Offen und Verborgen. Vorstellungen und Praktiken des ¨ ffentlichen und Privaten in Mittelalter und Fru¨her Neuzeit, hg. v. Caroline Emmelius u. a., Go¨ttinO gen 2004, S. 11ff. 31 Andrea Lo ¨ ther, Prozessionen in spa¨tmittelalterlichen Sta¨dten. Politische Partizipation, obrigkeitliche Inszenierung, sta¨dtische Einheit, Ko¨ln 1999; Kathrin Enzel, „Eins Raths Kirmiß ...“. Die „Große Ko¨lner Gottestracht“ als Rahmen der politischen Selbstdarstellung sta¨dtischer Obrigkeiten, in: Interaktion und Herrschaft. Die Politik der fru¨hneuzeitlichen Stadt, hg. v. Rudolf Schlo¨gl, Konstanz 2004, S. 471–498; Wolf-Henning Petershagen, Schwo¨rpflicht und Volksvergnu¨gen. Ein Beitrag zur Verfassungswirklichkeit und sta¨dtischen Festkultur in Ulm, Stuttgart 1999; Dietrich W. Poeck, Rituale der Ratswahl. Zeichen und Zeremoniell der Ratssetzung in Europa, Ko¨ln 2003; Antje Diener-Staeckling, Der Himmel u¨ber dem Rat. Zur Symbolik der Ratswahl in mitteldeutschen Sta¨dten, Halle/Saale 2007; Uwe Goppold, Politische Kommunikation in den Sta¨dten der Vormoderne. Zu¨rich und Mu¨nster im Vergleich, Ko¨ln 2007; Andre´ Krischer, Reichssta¨dte in der Fu¨rstengesellschaft. Politischer Zeichengebrauch in der Fru¨hen Neuzeit, Darmstadt 2006; Thomas Weller, Theatrum Praecedentiae. Zeremonieller Rang und gesellschaftliche Ordnung in der fru¨hneuzeitlichen Stadt. Leipzig 1500–1800, Darmstadt 2006.

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o¨ffentliche Rituale noch einmal grundlegend von Andre´ Krischer auf ihre Bedeutung ¨ ffentlichkeitsdiskussion durchgemustert. fu¨r die O Eine Bu¨ndelung und Zuspitzung dieser vielfa¨ltigen Forschungsstra¨nge hin auf die ¨ ffentlichkeit fehlte bislang. Eine erho¨hte Sensibilita¨t Frage nach einer sta¨dtischen O ¨ ffentlichkeit im Raum wurde, so ist zu verfu¨r die notwendige Verankerung von O muten, mo¨glich durch den vielbeschworenen ‚spatial turn‘, durch die Wendung zum Raum.32 Dieser Raum wird nun in einer Gesellschaft, wo ko¨rperliche Anwesenheit und orale Kommunikation das Feld beherrschen, in ganz typischer Weise bedeutsam, weniger als eine zu u¨berwindende Distanz, sondern gleichsam als Arena, die durch Interaktions- und Kommunikationsprozesse mit Bedeutung gefu¨llt wird und die diese Prozesse zugleich stets mit beeinflusst. Es geht also na¨herhin nicht einfach um Ra¨ume, sondern pra¨ziser um bestimmte Orte. Von Orten kann man sprechen, wo sich bestimmte Handlungsroutinen verdichten, wo Raumausformungen und -mo¨blierungen und Bedeutungen in einen typischen Zusammenhang gebracht werden, an den bestimmte Erwartungen und Erinnerungen geknu¨pft sind.33 Dass es durchaus ¨ ffentlichen in der vormodernen Stadt u¨ber ‚o¨ffentliche Orte‘ zu Sinn hat, sich dem O na¨hern, ko¨nnte man mit einem letzten Verweis auf Habermas belegen (selbst wenn er den ra¨umlichen Aspekt nie systematisch entwickelte): Auch er verortete ja z. T. seine ¨ ffentlichkeit‘, etwa in Lesegesellschaften und Vereinen, vor allem aber ‚bu¨rgerliche O im Kaffeehaus als dem neuen Hort des nu¨chternen Ra¨sonnements. Wichtiger aber ¨ ffentlichkeit ebenfalls in U ¨ berist, dass wir uns mit einem ra¨umlichen Zugang zur O einstimmung mit dem Sprachgebrauch der Zeitgenossen, mit der Begriffsgeschichte, befinden. Es ist kein Zufall, dass unter dem Stichwort „o¨ffentlich“ dem Autor von Zedlers Universal-Lexikon noch 1740 zuerst die Bedeutung „an einem o¨ffentlichen Ort (in publico loco)“, also etwa „vor Gerichte, in einem o¨ffentlichen Tempel, auf o¨ffentlichem Marckte usw.“ in den Sinn kam.34 Und auch in Adelungs Wo¨rterbuch am Ende des Jahrhunderts fand sich noch als eine wichtige Bedeutungsebene: „Zu jedermanns Gebrauche bestimmt. – Ein o¨ffentlicher Ort. – Auf o¨ffentlichen Gassen. Auf o¨ffentlichem Marckte. ... Ein o¨ffentliches Wirthshaus.“35 ¨ ffentlichkeit in der Fru¨hen Dieser Ansatz ero¨ffnet die Perspektive, sta¨dtische O Neuzeit zu analysieren, indem deren o¨ffentliche Orte in ihrer spezifischen Eigenart, aber auch in ihrer Vernetzung und Interaktion in den Blick genommen werden. Dabei werden als o¨ffentlich relativ breit solche Orte definiert, die erstens fu¨r Menschen 32 Vgl. nur Doris Bachmann-Medick, Der Spatial Turn als Cultural Turn, in: „Cultural Turns“. Neuori-

entierungen in den Kulturwissenschaften, hg. v. Ders., Reinbek bei Hamburg 2006, S. 284–328; Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, hg. v. Jo¨rg Do¨ring/Tristan Thielmann, Bielefeld 2007. 33 Martina Lo ¨ w, Vor Ort – Im Raum. Ein Kommentar, in: Kirchen, Ma¨rkte und Tavernen. Erfahrungsund Handlungsra¨ume in der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Renate Du¨rr/Gerd Schwerhoff, Frankfurt a. M. 2005, S. 445–449; Karl-Siegbert Rehberg, Macht-Ra¨ume als Objektivationen sozialer Beziehungen – Institutionenanalytische Perspektiven, in: Machtra¨ume der fru¨hneuzeitlichen Stadt, hg. v. Christian Hochmuth/Susanne Rau, Konstanz 2006, S. 41–55. 34 Johann Heinrich Zedler, Grosses vollsta¨ndiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Ku¨nste Bd. 25, Leipzig 1740, Sp. 550f. 35 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wo¨rterbuch der hochdeutschen Mundart. Mit D. W. Sottau’s Beytra¨gen. Rev. u. berichtigt v. Franz Xaver Scho¨nberger, Bd. 3, 1811, Sp. 586.

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unterschiedlicher regionaler Herkunft, sozialer Zugeho¨rigkeit und unterschiedlichen Geschlechts prinzipiell zuga¨nglich waren. Zweitens sollen diese Orte kommunikativ und interaktiv profiliert und fu¨r die fru¨hneuzeitlichen Gesellschaften relevant sein. Wo Menschen verschiedenster Provenienz in komplexe soziale Austauschbeziehungen traten, wo Meinungsbildungsprozesse vorangetrieben, Konflikte ausge¨ ffentlichkeit‘.36 tragen und Entscheidungen getroffen wurden, konstituierte sich ‚O In diesem Sinne lassen sich Wirtsha¨user und Tavernen, Kirchenra¨ume, Ratha¨user und Marktpla¨tze als zentrale Schnittstellen gesellschaftlicher Kommunikations- und Interaktionsprozesse in der fru¨hneuzeitlichen Stadt verstehen, deren Analyse wie¨ ffentlichen derum einen wesentlichen Beitrag zur Rekonstruktion der Spha¨re des O leistet.37 Der Raum- und Ortsbezug, den die meisten Beitra¨ge des vorliegenden Bandes aufweisen, wird vor dem Hintergrund dieser Entwicklung versta¨ndlich. Ausgehend von einer ersten definitorischen Anna¨herung ließen sich die einzelnen o¨ffentlichen Orte der Stadt nun typologisch differenziert beschreiben. Bereits das Kriterium der Zuga¨nglichkeit ist aufschlussreich, weil es auf eine zentrale Dimension ¨ ffentlichkeit verweist, wobei die ra¨umliche Perspektive hier eine willkommene von O Mo¨glichkeit der Operationalisierung bietet – auf anderem Wege ist es schwierig herauszufinden, wer in welchem Umfang zu welchen Kommunikationsressourcen und Medien Zugang hatte. Unter den zentralen Orten der fru¨hneuzeitlichen Stadt besaß das Rathaus als gewissermaßen exklusiver Ort herrschaftlicher arcana wohl die ho¨chsten Zugangsrestriktionen. Diese wurden allerdings gelegentlich – regula¨r anla¨sslich von Wahlen, außer der Reihe bei inneren Unruhen – durchbrochen, das Rathaus fu¨r die Bu¨rgergemeinde „geo¨ffnet“. Den anderen Pol bildete z. B. der in der Regel allgemein zuga¨ngliche Marktplatz, der bislang noch kaum zum Gegenstand von eingehenderen ¨ hnlich verhielt es sich prinzipiell mit den Kirchenra¨umen, Studien gemacht wurde.38 A wobei sich deren Zuga¨nglichkeit aber schon zwischen den Konfessionen stark unterschieden haben mag: Katholische Gottesha¨user in der Stadt standen den Gla¨ubigen zumindest am Tage auch zur perso¨nlichen Andacht offen, wobei der Chorraum (das religio¨se Arkanum symbolisierend und bewahrend) jedoch als sakral besonders aufgeladene Spha¨re dem Klerus vorbehalten blieb; protestantische Kirchen mo¨gen sich sta¨rker auf die Hauptgottesdienste hin zentriert haben, was aber nicht hieß, dass sie außerhalb dieser besonderen Nutzung in der Regel abgeschlossen wurden.39 36 Vgl. zu diesem Ansatz Rau/Schwerhoff, O ¨ ffentliche Ra¨ume in der Fru¨hen Neuzeit (wie Anm. 6),

hier S. 48ff. (auch zu den folgenden Kategorien).

37 Vgl. zum Folgenden als Debattenbeitra¨ge aus dem Forschungskontext des Fru¨hneuzeitprojektes

unter dem Dach des alten Dresdner SFB 537 „Institutionalita¨t und Geschichtlichkeit“ bzw. aus dem akademischen Netzwerk ‚Social Sites – o¨ffentliche Ra¨ume – Lieux d’e´changes 1300–1800‘ (http:// www2.warwick.ac.uk/fac/arts/history/res_rec/socialsites/) die Sammelba¨nde Zwischen Gotteshaus und Taverne (wie Anm. 6); Kirchen, Ma¨rkte und Tavernen (wie Anm. 33); Machtra¨ume (wie Anm. 33); Topographien des Sakralen. Ra¨umliche Dimensionen religio¨ser Kultur in der Vormoderne, hg. v. Susanne Rau/Gerd Schwerhoff, Hamburg 2008; Political Space in Pre-industrial Europe, hg. v. Beat Ku¨min, Farnham 2009. 38 Ein Anfang ist Michaela Fenske, Marktkultur in der Fru¨hen Neuzeit. Wirtschaft, Macht und Unterhaltung auf einem sta¨dtischen Jahr- und Viehmarkt, Ko¨ln 2006. 39 Vgl. Gerd Schwerhoff, Sakralita¨tsmanagement. Zur Analyse religio¨ser Ra¨ume im spa¨ten Mittelalter und in der fru¨hen Neuzeit, in: Topographien des Sakralen (wie Anm. 37), S. 38–69, hier S. 54.

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Komplexer noch stellt sich die Lage bei den Wirtsha¨usern dar. Deren Grad an Offenheit und Zuga¨nglichkeit hing immer auch vom Wirtshaustypus und von herrschaftlichen Regulierungsversuchen ab, Faktoren, die wiederum in Zeit und Raum stark divergierten. Ein relativ formales, aber doch immer wieder heiß umstritte¨ ffnungszeiten. Je nach Region und Jahreszeit mussten nes Kriterium waren die O die Lokale zwischen sieben und zehn Uhr abends schließen; sonntags und feiertags durfte wa¨hrend der Messe bzw. Predigt nicht ausgeschenkt werden. Eine besondere Bedeutung erlangten derartige Regelungen fu¨r die fru¨hneuzeitlichen Schenken, deren Gaststube zugleich zentraler Aufenthaltsraum der Hausbewohner war: Fu¨r diese war mit Schließung der Schenke am Abend, wie B. Ann Tlusty fu¨r Augsburg gezeigt hat, die „o¨ffentliche Gaststube“ wieder „Privatraum“ geworden. Auf eine andere Art nimmt sich diese Ru¨ckverwandlung in einen „Privatraum“ in Regionen mit Reihebraurecht aus, wie es etwa in Go¨rlitz der Fall war und wie es auch Barbara KrugRichter fu¨r Westfalen gezeigt hat. Dort bestand das Brau- und Schankrecht na¨mlich nur reihum, d. h. beschra¨nkt auf eine Zeit von etwa 10 Tagen oder solange, bis eine festgesetzte Menge Bier ausgeschenkt war, dann mußte der Krug wieder geschlossen werden und der na¨chste Brauberechtigte kam an die Reihe.40 Vor allem vom spezielleren Typ des Wirtshauses hing es ab, ob es fu¨r Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher sozialer Sta¨nde und beider Geschlechter zuga¨nglich war.41 Unterscheidungen, wie wir sie fu¨r England (alehouse, tavern und inn) oder Paris (guin¨ ffentguette, Taverne und Kaffeehaus) kennen und die auch einen Unterschied im O lichkeitscharakter ausmachen, sind fu¨r Deutschland zwar der Sache nach a¨hnlich zu beobachten, aber schwer auf den Begriff zu bringen.42 Selbst das vielberufene Kaffeehaus konnte in sozial ganz unterschiedlichen Spha¨ren angesiedelt sein. Daneben ist auch die Frage der geschlechtsspezifischen Zuga¨nglichkeit zu stellen. Manche Forscher haben die Auffassung vertreten, Wirtsha¨user seien die gesamte Fru¨he Neuzeit u¨ber „kein Ort fu¨r Frauen“ gewesen; andere haben, wohl zutreffender, eher eine zunehmende Aussperrung von Frauen aus diesem Typus o¨ffentlicher Ra¨ume diagnostiziert. Jedenfalls war es in Ko¨ln im 16. Jahrhundert gang und ga¨be, daß befreundete oder benachbarte Ehepaare ihre Abende oder Feiertage in der Weinschenke oder im Bierhaus verbrachten. Inwieweit das zweihundert Jahre spa¨ter noch mo¨glich war, ist derzeit noch nicht zu beantworten. Bereits am Beginn der Fru¨hen Neuzeit war allerdings eine sich allein im Wirtshaus befindende Frau verda¨chtig, eine Dirne zu sein oder jedenfalls eine wenig ehrenhafte Vertreterin ihres Geschlechts. Weibliche Pra¨senz im Wirtshaus war allerdings schon in Gestalt der Wirtinnen und Dienstma¨gde im gesamten Untersuchungszeitraum gewa¨hrleistet. 40 B. Ann Tlusty, ‚Privat‘ oder ‚o¨ffentlich‘? Das Wirtshaus in der deutschen Stadt des 16. und 17. Jahr-

hunderts, in: Zwischen Gotteshaus und Taverne (wie Anm. 6), S. 53–73; Barbara Krug-Richter, Das ¨ ffentlichkeit des Hauses in Regionen mit Reihebraurecht, in: ebd., Privathaus als Wirtshaus. Zur O S. 99–117; weiterhin Katja Lindenau, Brauen und herrschen. Die Go¨rlitzer Braubu¨rger als sta¨dtische Elite in Spa¨tmittelalter und Fru¨her Neuzeit, Leipzig 2007, S. 154ff. 41 Ein besonderer Fall von Exklusivita¨t sind dabei z. B. die Trinkstuben der Geschlechter, aber auch der Zu¨nfte und Gesellen, vgl. Geschlechtergesellschaften, Zunft-Trinkstuben und Bruderschaften in spa¨tmittelalterlichen und fru¨hneuzeitlichen Sta¨dten, hg. v. Gerhard Fouquet u. a., Ostfildern 2003. 42 Zusammenfassend Beat Ku ¨ min, Drinking Matters: Public Houses and Social Exchange in Early Modern Central Europe, Basingstoke 2007, S. 17ff.

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Neben der Zuga¨nglichkeit zu den o¨ffentlichen Orten ist weiterhin deren Funktion zentral. Hier ließe sich den meisten Orten ein dominanter Bestimmungszweck zuweisen: Auf dem Rathaus wurde Politik gemacht, auf dem Markt gehandelt und in der Kirche wurden liturgische Handlungen vollzogen. Es geho¨rt allerdings zur Eigenheit der noch nicht streng funktional ausdifferenzierten fru¨hneuzeitlichen Gesellschaften, dass u¨ber ihre eigentliche Wesensbestimmung hinaus immer auch andere Funktionen zum Tragen kamen. Das Rathaus diente als Kaufhaus, Warenlager, Gerichtssta¨tte, Gefa¨ngnis oder Tanzsaal; der Kirchenraum konnte als Arbeitsvermittlungsbo¨rse, Begegnungssta¨tte, Archiv oder sogar Kontakthof fu¨r Prostituierte benutzt werden; und der Marktplatz bildete ohnehin den Ort o¨ffentlicher Begegnung schlechthin. Das Wirtshaus nahm in diesem Kontext trotzdem eine Sonderstellung ein, weil es funktional gewissermaßen unterdeterminiert war. Sein ‚harter‘ funktionaler Kern bestand allein in der Befriedigung eines Konsumwunsches, na¨mlich des Genusses von Alkohol. Daran knu¨pfte sich dann eine ganze Reihe anderer, oft diffuser, kultureller und gesellschaftlicher Praktiken und Bedu¨rfnisse, die das Wirtshaus zum sprichwo¨rtlichen multi- und polyfunktionalen Raum machten, als den ihn die neuere Forschung immer wieder beschrieben hat. Dazu geho¨rten nicht allein die Unterhaltung, der Gesang oder das Spiel als grundlegende Formen der Soziabilita¨t. Der gemeinsame Trunk wirkte gemeinschaftsbildend und friedensstiftend, begleitete ha¨ufig wichtige Gescha¨fte wirtschaftlicher, religio¨ser oder politischer Art (vgl. z. B. den sog. „Leit-“ oder „Weinkauf“). Das Wirtshaus bot eine Bu¨hne fu¨r die zentralen Feiern im Kreis von Familie, Nachbarschaft und Berufskollegen – ob Taufe, Aufnahme in die Zunft, Heirat oder Leichenbega¨ngnis. Daru¨ber hinaus diente es als „newsroom“, als Umschlagplatz fu¨r Informationen und Geru¨chte. Hier wurden Auf- und Abstieg im lokalen „Achtungsmarkt“ verhandelt. Hier versuchte die Obrigkeit, ihre Mandate und Verordnungen durch Aushang oder Vorlesen bekannt zu machen. Im Wirtshaus las man Flugschriften, spa¨ter lagen ‚Neue Zeitschriften‘, Intelligenzbla¨tter und andere Nachrichtenmedien aus. Fu¨r viele migrierende Handwerker und Unterschichtangeho¨rige boten die Kneipen erste Gelegenheit, sich nach Arbeitsmo¨glichkeiten vor Ort zu erkundigen. Manche Gastha¨user galten schließlich als Zentren der kriminellen Subkultur. Angesichts einer oft u¨berscharfen Gegenu¨ber¨ ffentlichkeit ist stellung von vormodern kommunikativer und modern-politischer O an dieser Stelle zu betonen, dass die Wirtshauso¨ffentlichkeit eine eminent politische Fa¨rbung annehmen konnte.43 Tavernen und Bierstuben stellten einen zentralen Ort der Meinungsbildung, Propaganda und Agitation dar, was sich insbesondere im Kontext von Reformation und Bauernkrieg beobachten la¨sst, was aber auch fu¨r weniger bewegte Zeiten zutrifft. Das eingangs erwa¨hnte obrigkeitliche Verbot des Raisonnierens in Dresdner Wirtsha¨usern ist dafu¨r nur ein Beispiel. Beat Ku¨min geht der politischen Dimension fru¨hneuzeitlicher Wirtsha¨user in seinem Beitrag ausfu¨hrlich und differenzierend nach.

43 Vgl. aus anderer Perspektive Marion Kintzinger, Wirtshausgeschwa¨tz. Traumerza¨hlungen in der

politischen Publizistik des 17. Jahrhunderts, in: ZHF 29 (2002), 561–596.

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Das Wirtshaus markiert auch einen Schnittpunkt zwischen einer fru¨hneuzeitli¨ ffentlichkeitsforschung und einer harten Sozialgeschichte, die deren Vorauschen O setzungen zu kla¨ren hat. Denn der vorhin angesprochene Typ des jeweiligen Wirtshauses ha¨ngt von mannigfachen ‚harten‘ Faktoren ab, so etwa von der Art des ausgeschenkten Alkohols. Grob kann man hier zwischen der norddeutschen Bierkultur und der su¨ddeutschen, an die mediterrane Welt anschließenden Weinkultur unter¨ berschneidungsregionen. Ko¨ln z. B. besaß bereits im scheiden. Doch gab es auch U 16. Jahrhundert eine einflussreiche Brauerzunft, die – zumindest der Theorie nach – ein Monopol zur Herstellung und zum Ausschank von Bier besaß. Die ca. 60 bis 70 Brauha¨user, manche von imposanter Gro¨ße, waren in ihrem Besitz. Ko¨ln war jedoch auch eine bedeutende Weinstadt. In ihren Stadtmauern befanden sich große Weinga¨rten. Besser als der dort gewonnene „saure Jakob“ schmeckte allerdings bereits damals der importierte Wein von Mosel, Mittelrhein und Ahr. Zahlreiche Weinschenken wurden jedenfalls von Ko¨lner Bu¨rgern im Nebengewerbe betrieben. Ihre Zahl du¨rfte saisonal stark geschwankt haben. Mit einigen hundert Weinschenken ist jedenfalls zu rechnen. Die Weinzapfberechtigung war na¨mlich – neben dem passiven Wahlrecht – ein exklusives Vorrecht der Ko¨lner Bu¨rger gegenu¨ber den Eingesessenen. Sie u¨bten dieses Recht ha¨ufig nur einige Monate im Jahr aus. Dann verwandelte sich die gute Stube der betreffenden Familie in die Wirtsstube. Sie war sicherlich nur sehr spa¨rlich mit einem Tisch und mehreren Ba¨nken ausgestattet. Manchmal lud sie auch gar nicht zum Verweilen ein, sondern war nur als Verkauf „außer Haus“ bzw. „u¨ber ¨ ffentlichkeit du¨rfte sich in die Straße“ ausgelegt. Der Grad an institutionalisierter O den Brauha¨usern und den Weinschenken durchaus unterschieden haben.44 Auch das Kaffeehaus als Ort des Genusses der neuen, exotischen Heißgetra¨nke stellt einen o¨ffentlichen Ort sui generis dar.45 Ra¨ume konstituieren sich durch Kommunikationsakte, wirken aber aufgrund ihres Mobiliars und der darin gespeicherten Botschaften ihrerseits auf die dort stattfindende Kommunikation ein. In diesem Sinne ist als dritter Aspekt kurz die Medialita¨t der verschiedenen o¨ffentlichen Orte anzufu¨gen, ein Aspekt, der nur z. T. durch die Kunstgeschichte bisher beleuchtet wurde. Die Kirchenra¨ume transportierten in der Fru¨hen Neuzeit ganze konfessionelle Programmatiken, wa¨hrend die Ratha¨user offenbar eine eher traditionelle und unspezifische Herrschaftssymbolik bargen.46 ¨ ber die Medialita¨t von Gastha¨usern wissen wir dagegen verha¨ltnisma¨ßig wenig. Ein U 44 Gerd Schwerhoff, Die Policey im Wirtshaus. Obrigkeitliche und gesellschaftliche Normen im

o¨ffentlichen Raum der Fru¨hen Neuzeit. Das Beispiel der Reichsstadt Ko¨ln, in: Machtra¨ume (wie Anm. 33), S. 355–376, hier S. 362f. 45 Klassisch im Anschluss an Habermas Wolfgang Schivelbusch, Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel, Frankfurt a. M. 1997. Beispielhaft fu¨r die neuere Forschung z. B. Brian Cowan, The social life of coffee. The emergence of the British coffeehouse, New Haven 2005; Christian Hochmuth, Globale Gu¨ter – lokale Aneignung. Kaffee, Tee, Schokolade und Tabak im fru¨hneuzeitlichen Dresden, Konstanz 2008, S. 153ff. 46 Zum Kirchenraum exemplarisch Konfessionen im Kirchenraum. Dimensionen des Sakralraums in der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Susanne Wegmann/Gabriele Wimbo¨ck, Korb 2007; Topographien des Sakralen (wie Anm. 37); zum Rathaus u. a. Christopher Friedrichs, Das sta¨dtische Rathaus als kommunikativer Raum in europa¨ischer Perspektive, in: Kommunikation und Medien in der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Johannes Burkhardt/Christine Werkstetter, Mu¨nchen 2005, S. 159–174; Thomas Weller, Der

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Medium der Werbung, aber auch der Identita¨t waren natu¨rlich die Wirtshausnamen, die nicht selten durch die Wirtshausschilder versinnbildlicht wurden. Auch kostbar gestaltete Wappenfenster sind u¨berliefert.47 In der Regel aber waren Gastha¨user wohl medial – im Vergleich zu anderen o¨ffentlichen Ra¨umen – ebenfalls unterdeterminiert. Oder um es andersherum zu sagen: Sie waren relativ offen fu¨r situative, aus den konkreten Interaktionen erwachsende Besetzungen. ¨ ffentlichkeit kommt schließlich Ein ra¨umlicher Zugang zur fru¨hneuzeitlichen O viertens nicht um das Problem der Ordnung herum. Fu¨r die o¨ffentlichen Ra¨ume der Epoche stellt sich die Gretchenfrage aller sozialwissenschaftlichen Forschung, die Frage nach der Herstellung und Aufrechterhaltung von sozialer Ordnung, aufgrund ihrer Zuga¨nglichkeit, sozialen Offenheit und Multifunktionalita¨t gleichsam verscha¨rft. Wo Fremde und Einheimische, konkurrierende Berufssta¨nde und Konfessionen, lange verkrachte Nachbarn und politische Gegner im o¨ffentlichen Raum aufeinandertrafen, drohten Konflikte. Es ist kein Wunder, dass fru¨hneuzeitliche Obrigkeiten die besagten Orte besonders im Blick hatten und mit einer Flut von Erlassen und Mandaten versuchten, Ordnung herzustellen und aufrecht zu erhalten.48 Ratha¨user, Kirchen und Wirtsha¨user der fru¨hneuzeitlichen Stadt wiesen einen vergleichsweise hohen formalen Normierungsgrad auf. Insbesondere im Wirtshaus schienen sich aus der Perspektive der Stadtra¨te alle Ordnungsprobleme der Stadt wie in einem Brennglas zu konzentrieren. Soziale Anomie, unmoralische Ausschweifungen und physische Gefa¨hrdung schienen diesem Raum gleichsam eingeschrieben. Natu¨rlich ist dieses Bild, das zeitgeno¨ssische Quellen zeichnen und Teile der modernen Forschung u¨bernehmen, zu einseitig. Wa¨re das Wirtshaus ein Ort des Chaos und der Anomie gewesen, dann ha¨tte es seine vielfa¨ltigen, soeben angedeuteten Funktionen nicht ausu¨ben ko¨nnen. Garanten der Ordnung auch in den fru¨hneuzeitlichen Tavernen waren einerseits natu¨rlich die sta¨dtischen Obrigkeiten und ihr dichtes Geflecht policeylicher Normen zur Verhaltensregulierung. Als Vermittler zwischen Obrig¨ berhaupt ko¨nnen wir keit und Untertanen kam den Wirten eine zentrale Rolle zu. U die Ordnung des Wirtshauses nur durch den Blick in sein Inneres verstehen lernen, nicht allein, in dem wir die a¨ußeren Kra¨fte analysieren. Soziale Ordnung im Wirtshaus wurde deshalb nicht zuletzt durch horizontale soziale Kontrolle gewa¨hrleistet; sie konstituierte sich, um einen Begriff von Erving Goffman aufzugreifen, als ‚interaction order‘, im durch Rituale und durch informelle Verhaltensnormen bestimmten Zusammenwirken der beteiligten Akteure. In den besonders reichhaltigen, jetzt verschu¨tteten Quellen des Ko¨lner Archivs profiliert sich in dieser Hinsicht beson-

Ort der Macht und die Praktiken der Machtvisualisierung. Das Leipziger Rathaus in der Fru¨hen Neuzeit als zeremonieller Raum, in: Machtra¨ume (wie Anm. 33), S. 285–307; Gerd Schwerhoff, Verortete Macht. Mittelalterliche und fru¨hneuzeitliche Ratha¨user als institutionelle Eigenra¨ume sta¨dtischer Politik, in: Institution und Charisma. Festschrift fu¨r Gert Melville zum 65. Geburtstag, hg. v. Franz J. Felten u. a., Ko¨ln 2009, S. 215–228. Speziell zur Ikonographie Ulrich Meier, Republikanische Ikonographie in oberschwa¨bischen Reichssta¨dten, in: Verborgene republikanische Traditionen in Oberschwaben, hg. v. Peter Blickle, Tu¨bingen 1998, S. 81–99, mit weiterer Literatur. 47 Ku ¨ min, Drinking Matters (wie Anm. 42), S. 42. 48 Schwerhoff, Policey im Wirtshaus (wie Anm. 44).

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ders das „Jelach“, „Geloch“, also „Gelage“.49 Ein „Gelach“ war eine Gruppe von Menschen, die sich zur gemeinsamen Tischgesellschaft zusammenfanden, die nach bestimmten sozialen Regeln ihren Alkohol kosumierten und die das Getrunkene gemeinsam bezahlten. Diese rituelle Trinkgemeinschaft des Gelages bildete einen wichtigen Nukleus der Wirtshauso¨ffentlichkeit, die Ordnung stiftete, aber gelegentlich auch zur Eskalation von Konflikten beitragen konnte. Werden so bei na¨herer Betrachtung auch fu¨r das vermeintlich ‚unordentliche‘ Wirtshaus externe und interne Ordnungsfaktoren sichtbar, so gilt das Umgekehrte fu¨r das Kaffeehaus: Hier regierte nicht nur das nu¨chterne Ra¨sonnement und bu¨rgerliche Wohlansta¨ndigkeit, sondern hier wurden ebenso wie in den Tavernen zahlreiche Verhaltensauffa¨lligkeiten und Konflikte aktennotorisch, wie nicht zuletzt der Beitrag von Gerhard Ammerer im vorliegenden Band zeigt.50 Die hier nur angedeutete mikrohistorische Untersuchung einzelner o¨ffentlicher Orte in der Stadt kann nur ein erster Schritt der raumbezogenen Analyse sta¨dtischer ¨ ffentlichkeit sein. Das Beispiel der Vorga¨nge in Dresden 1726 verdeutlichte, wie O dicht gewebt das kommunikative und interaktive Netz war, das sich gleichsam zwischen den einzelnen Orten aufspannte.51 Erst eine Betrachtung dieses Netzwerks ¨ ffentlichkeit in ihrer Gesamtheit in den Blick wu¨rde die u¨bergreifende sta¨dtische O ru¨cken. Das la¨sst sich wohl – auf der Basis der bisherigen Forschung – am eindrucksvollsten vom Rathaus her entfalten. Von diesem Zentrum der sta¨dtischen Politik liefen interaktive, performative und symbolische Fa¨den in den sta¨dtischen Raum hinein. Im Spiegel des ha¨ufig sehr komplexen Ratswandels kann die topographische Dimension der rituellen Choreographie nachgezeichnet werden, mit deren Hilfe die sta¨dtische Gesellschaft die gefa¨hrlichen Momente der Anarchie zu bannen suchte, die aufgrund des Herrschaftswechsels entstanden.52 Variantenreich konnten neben dem Rathaus verschiedene Stifts- und Pfarrkirchen, aber auch andere Amtsgeba¨ude und wichtige o¨ffentliche Pla¨tze eingebunden sein. In einem Kontroll- und Konkurrenzverha¨ltnis stand das Rathaus schließlich zu den Orten der Gilden und Zu¨nfte, angesichts deren Versammlungen der Rat eine latente Verschwo¨rungsangst kultivierte und durch z. T. rigide Verbote zu kanalisieren versuchte.53 Obwohl das Netzwerk der ¨ ffentlichkeit in den vormodernen Sta¨dten viele vergleichbare Elemente aufwies, O pra¨gte jedes einzelne Gemeinwesen sein eigenes spatiales Gefu¨ge aus. Natu¨rlich ist der ra¨umliche Aspekt urbaner Netzwerke bei aller Bedeutung nur eine Dimension

49 Gerd Schwerhoff, Das Gelage. Institutionelle Ordnungsarrangements und Machtka¨mpfe im fru¨h-

neuzeitlichen Wirtshaus, in: Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, hg. v. Gert Melville, Ko¨ln 2005, S. 159–176. 50 Vgl. daru¨ber hinaus etwa Hochmuth, Globale Gu¨ter (wie Anm. 45), S. 164ff. 51 Vgl. als interessanten Versuch Uwe Do ¨ ffent¨ rk, Der verwilderte Raum. Zum Strukturwandel von O lichkeit in der fru¨hneuzeitlichen Stadt am Beispiel Berns, in: Zwischen Gotteshaus und Taverne (wie Anm. 6), S. 119–153. 52 Vgl. Poeck, Rituale der Ratswahl (wie Anm. 31); Diener-Staeckling, Der Himmel u¨ber dem Rat (wie Anm. 31). 53 Schwerhoff, Verortete Macht (wie Anm. 46), S. 225ff.; Ders., O ¨ ffentliche Ra¨ume und politische Kultur in der fru¨hneuzeitlichen Stadt: Eine Skizze am Beispiel der Reichsstadt Ko¨ln, in: Interaktion und Herrschaft, hg. v. Schlo¨gl (wie Anm. 31), S. 113–136.

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unter mehreren. Der Beitrag von Susanne Rau im vorliegenden Band macht deutlich, wie sehr diese ra¨umliche Dimension mit sozialen und o¨konomischen Netzen, mit Personen und Gu¨tern, verknu¨pft ist. Vielleicht ist die Konstellationsanalyse, wie sie Holger Zaunsto¨ck am Beispiel der Stadt Halle um 1700 im Anschluss entwickelt, eine Mo¨glichkeit, diese Netzwerke konzeptuell zu erfassen.

¨ ffentlichkeit in der Fru¨hneuzeit 4. Medien sta¨dtischer O ¨ ffentlichkeit mit derjenigen u¨ber Medien verknu¨pft. Ganz Eng ist die Debatte um O ¨ ffentlichkeit bei Habermas als selbstversta¨ndlich konstituiert sich die bu¨rgerliche O ¨ ffentlichkeit der Druckmedien, der periodischen Zeitungen, der Zeitschrifeine O ten und moralischen Wochenschriften. Und ein Medienwissenschaftler wie Werner ¨ bergang von der Fru¨hFaulstich scheut sich nicht, mit grobem Pinselstrich den U neuzeit zur fru¨hen Moderne als eine Transformation von den „Menschmedien“ zu den Druckmedien zu beschreiben.54 Es erscheint unmittelbar evident, dass eine solche Betrachtungsperspektive die Stadt als Kommunikations- und Handlungsraum zuna¨chst einmal an den Rand der Betrachtung ru¨ckt. Fluchtpunkt der Analyse der ¨ ffentperiodischen Presse ebenso wie der scho¨nen Literatur war eine u¨berlokale O lichkeitsspha¨re. Der Ansatz von Rudolf Schlo¨gl, mit Hilfe systemtheoretischer Kate¨ ffentlichkeit zu rekonstruiegorien eine alternative Genealogie der emphatischen O ren, hat diese Perspektive zugleich in Frage gestellt und besta¨tigt. In seiner pointierten Zusammenfassung im vorliegenden Band stellt er sie erneut zur Diskussion.55 ¨ ffentlichkeit konsequent Schlo¨gl skizziert die Entfaltung der modernen politischen O als einen Prozess der medialen Ausdifferenzierung. Vormoderne Gesellschaften seien zuvo¨rderst face-to-face-Einheiten gewesen, „Anwesenheitsgesellschaften“, wo eine gleichsam teilnahmslose Beobachtung in der Regel nicht mo¨glich gewesen sei. Erst mit den Schrift- und vor allem den Druckmedien sei eine ra¨umliche und zeitliche Entkoppelung des Kommunikationszusammenhangs von Sender und Empfa¨nger mo¨glich geworden, die dann vom Prinzip her eine Beobachtung von Politik außerhalb des unmittelbaren Handlungs- und Kommunikationskontextes mo¨glich gemacht habe, eine Dekontextualisierung, die ein neues Niveau von Reflexivita¨t geschaffen habe. ¨ ffentlichSchlo¨gls Ansatz ist u. a. deshalb so attraktiv, weil er die beiden Stra¨nge der O keitsdebatte bedient. Einmal zielt er auf die Rekonstruktion der modernen, emphati¨ ffentlichkeit, deren Genese er anders deutet als Habermas, dessen Periodischen O sierung er aber grosso modo besta¨tigt. Auf der anderen Seite schafft sein Konzept

54 Werner Faulstich, Mediengeschichte von den Anfa¨ngen bis 1700, Go¨ttingen 2006, S. 121ff. 55 Vgl. daru¨ber hinaus, neben anderen Arbeiten, bereits Rudolf Schlo ¨ gl, Vergesellschaftung unter

Anwesenden. Zur kommunikativen Form des Politischen in der vormodernen Stadt, in: Interaktion ¨ ffentlichkeit und und Herrschaft (wie Anm. 31), S. 9–60; jetzt zentral ders., Politik beobachten. O Medien in der Fru¨hen Neuzeit, in: ZHF 35 (2008), 581–616.

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¨ ffentlichder fru¨hneuzeitlichen Anwesenheitsgesellschaft und ihrer „integrierten O keit“ ein griffiges Etikett zur Kennzeichnung nicht nur, aber insbesondere der fru¨hneuzeitlichen Stadt. Unverkennbar verschiebt diese Kennzeichnung den Platz der Stadt im Koordinatensystem einer europa¨ischen Kommunikationsgeschichte weit von ‚modern‘ hin zu ‚archaisch-traditionell‘. Nach seiner Auffassung wurden die ‚Schrift‘ und eben auch der ‚Druck‘ in der Stadt prima¨r als Aufbewahrungs- und Speichermedium genutzt und eher weniger als Versta¨ndigungs- und Steuerungsmittel u¨ber gro¨ßere Distanzen eingesetzt. ¨ ffentlichkeitskonstellation in der Schlo¨gls Analysen zur spezifisch sta¨dtischen O Fru¨hen Neuzeit besitzen ein großes Anregungspotential. Ganz offenkundig stellte die geringe ra¨umliche Distanz der meisten Beteiligten in der Arena des urbanen Raums ein zentrales Charakteristikum sta¨dtischer Kommunikation dar. Eine Supplik etwa, die im Territorialstaat meist u¨ber mehrere Stationen an Herrscher oder Zentralverwaltung gelangte, wurde in der Stadt oft einfach an der Rathauspforte abgegeben oder gar dem Adressaten, den man vielleicht nicht perso¨nlich kannte, wahrscheinlich aber ha¨ufiger zu Gesicht bekommen hatte, selbst u¨berreicht. Umgekehrt entschieden sta¨dtische Kommissionen und Gerichte u¨ber Angelegenheiten und Vergehen, deren Protagonisten sie selbst mit hoher Wahrscheinlichkeit kannten. Die Folgen lassen sich kaum je so plastisch erkennen wie im Fall der Hexenverfolgungen: Wirkte in gro¨ßeren Territorialstaaten die Distanz zwischen Verfolgungsmilieu und Entscheidungsinstanzen im Sinne einer Rationalisierung und Da¨mpfung der lokalen Prozesswut, so stellte umgekehrt die ra¨umliche Na¨he einen Treibsatz der Kettenprozesse dar; das gilt fu¨r kleinere Herrschaftseinheiten, typischerweise vor allem aber fu¨r mittlere und kleinere Residenz- und Landsta¨dte.56 Jenseits derartiger Einzelbeobachtungen steht und fa¨llt die Akzeptanz der Pra¨missen und Folgerungen von Schlo¨gls Konzept damit, ob man seine kommunikationstheoretische Perspektive teilt; zudem wa¨re zu u¨berpru¨fen, ob der Befund aus der Vogelperspektive sich am Quellenmaterial erha¨rten la¨sst. Hier ist nun nicht der Ort, um in die kritische Debatte mit Schlo¨gl einzusteigen.57 Ganz nu¨chtern aber la¨sst sich festhalten, dass es an empirischen Studien zum Stellenwert der urbanen Schrift- und Druckkultur mangelt, die u¨ber deren Funktionen von der Informationsspeicherung u¨ber die interpersonale Versta¨ndigung bis hin zur Kommunikationssteuerung Aufschluss geben ko¨nnten. Das ist nicht zuletzt aufgrund der Tatsache erstaunlich, dass viele Druckerzeugnisse in der Stadt zwar kein exklusives, aber doch extensives Aktionsfeld fanden wie kaum irgendwo anders. Diese Behauptung la¨sst sich gut an den obrigkeitlichen Polizeiordnungen belegen. Das Untersuchungsfeld der fru¨hneuzeitlichen Policey hat in den letzten Jahren eine eindrucksvolle Dynamik gewonnen und sind zu einem zentralen Baustein fu¨r die Neujustierung der Forschungen zur politischen Kultur des Ancien Re´gime

56 Allgemein Johannes Dillinger, Hexen und Magie, Frankfurt a. M. 2008, S. 96ff.; ju¨ngst fu¨r das Bei-

spiel der Stadt Minden Barbara Gross, Hexerei in Minden. Zur sozialen Logik von Hexereiverda¨chtigungen und Hexenprozessen (1584–1684), Mu¨nster 2009. 57 Das geschieht – explizit oder implizit – in manchen Beitra¨gen des vorliegenden Bandes, so z. B. bei Beat Ku¨min.

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u¨berhaupt geworden.58 Die Stadt hat dabei vornehmlich als Entwicklungslabor in der Entstehungsphase der ‚guten Policey‘ eine zentrale Rolle gespielt. Bereits im Spa¨tmittelalter und damit bedeutend fru¨her als auf der Ebene des Territorialstaates begann im urbanen Kontext die systematische herrschaftliche Normierung der Lebenswelt.59 Fu¨r die Fru¨he Neuzeit wurde dennoch der Territorialstaat zum zentralen Paradigma der Policey, nicht die Stadt.60 Dabei ist der Schwung der obrigkeitlichen Normsetzung in der Fru¨hen Neuzeit ungebrochen, ja er potenziert sich: Zwischen 1329 und 1803 listet das Repertorium der fru¨hneuzeitlichen Policeyordnungen fu¨r die Reichsstadt Frankfurt u¨ber 5000 Verordnungen auf, fu¨r die Reichsstadt Ko¨ln sogar fast die doppelte Anzahl. Demgegenu¨ber nehmen sich die gut 1200 Verordnungen fu¨r den ganzen kurko¨lnischen Raum zwischen 1531 und 1806 sehr bescheiden aus.61 Dass ¨ ffentlichkeit relevant war, liegt nahe, diese Quellenflut bei der Auspra¨gung einer O wurde aber bisher noch nicht genauer reflektiert. Wir sind es vielmehr gewohnt, u¨ber die Polizeiordnungen unter dem Aspekt der sozialen Disziplinierung zu sprechen und zu streiten. Aber liegt nicht eine wichtige Bedeutung dieser Ordnungen darin, ¨ ffentlichmachen von Normen und die fortlaufende Produkdurch das besta¨ndige O ¨ ffentlichkeit herzustellen? Diese Beobachtung gilt tion eines Publikums eben auch O 62 freilich nicht nur fu¨r die Stadt , aber in der dortigen Anwesenheitsgesellschaft doch in besonderem Maße. Immer wieder aufs Neue konstituieren sich die Stadtbewohner im wahrsten Sinne des Wortes als Publikum, als Gemeinschaft der ko¨rperlich anwesenden Rezipienten, wenn an Markt- und Gerichtstagen, vor dem Rathaus oder auch

58 Vgl. nur die paradigmatische Fallstudie von Andre´ Holenstein, „Gute Policey“ und lokale Gesell-

schaft im Staat des Ancien Re´gime, 2 Ba¨nde, Tu¨bingen 2003; vgl. zum Forschungsstand Andrea Iseli, ¨ ffentliche Ordnung in der Fru¨hen Neuzeit, Stuttgart 2009. Gute Policey. O 59 Rainer Driever, Obrigkeitliche Normierung sozialer Wirklichkeit. Die sta¨dtischen Statuten des 14. und 15. Jahrhunderts in Su¨dniedersachsen und Nordhessen, Bielefeld 2000; Thomas Simon, Krise oder Wachstum? Erkla¨rungsversuche zum Aufkommen territorialer Gesetzgebung am Ausgang des Mittelalters, in: Wirkungen europa¨ischer Rechtskultur. Festschrift fu¨r Karl Kroeschell zum 70. Geburtstag, hg. v. Gerhard Ko¨bler/Hermann Nehlsen, Mu¨nchen 1997, S. 1201–1217. 60 Das gilt trotz der Tatsache, dass eine der klassischen Fallstudien zur Policey eine Stadt zum Gegenstand hat, deren sta¨dtische Eigenart allerdings nicht im Mittelpunkt steht, vgl. Achim Landwehr, Policey im Alltag. Die Implementation fru¨hneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg, Frankfurt a. M. 1999. 61 Repertorium der Policeyordnungen der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Karl Ha¨rter/Michael Stolleis, 10 Bde., Frankfurt a. M. 1996–2010, hier Bd. 1: Deutsches Reich und geistliche Kurfu¨rstentu¨mer, hg. v. Karl Ha¨rter (1996); Bd. 5: Reichssta¨dte 1: Frankfurt am Main, hg. v. Henrik Halbleib/Inke Worgitzki (2004); Bd. 6: Reichssta¨dte 2: Ko¨ln, hg. v. Klaus Militzer (2005). Dass diese quantitative Gegenu¨berstellung aufgrund heterogener Quellengrundlagen problematisch ist, sei lediglich annotiert, ohne diesen Aspekt weiter zu vertiefen. 62 Vgl. Gute Policey als Politik im 16. Jahrhundert. Die Entstehung des o¨ffentlichen Raumes in Oberdeutschland, hg. v. Peter Blickle u. a.. Frankfurt a. M. 2003, Vorwort S. VIII: „Der oberdeutsche Raum erfa¨hrt durch die „Policey“ eine Transformation, die man als eine solche von „Herrschaft“ in „Staat“ beschreiben ko¨nnte.“ Dieser Prozess ha¨tte sich wesentlich im 16. Jahrhundert vollzogen. Bis zum Beginn des Dreißigja¨hrigen Krieges ha¨tten sich alle Territorien umfassende Regelwerke gegeben. „In diesen Ordnungen wird der Alltag in einem gegebenen herrschaftlichen Raum normiert“, mithin ein o¨ffentlicher Raum geschaffen.

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gerne von der Kanzel in der Kirche jene Ordnungen verlesen wurden, die dann auch an den Tu¨ren und Wa¨nden der o¨ffentlichen Orte angeschlagen wurden.63 Das bedeutet nun keineswegs, dass die sta¨dtischen Obrigkeiten eine Art von Monopol auf schriftliche Kommunikationsmedien gehabt ha¨tten.64 Da war zum einen das Supplikenwesen, dessen quantitative Ausmaße ebenso wie seine weitreichenden Auswirkungen fu¨r das Profil fru¨hmoderner Herrschaft in ju¨ngster Zeit die Forschung intensiv bescha¨ftigt hat.65 Auch hier war die Stadt ein Zentrum besonders verdichteter Kommunikation.66 Inwieweit dieses Medium zur Herstellung ¨ ffentlichkeiten einen Beitrag leistete, auf der Absenderseite etwa durch von (Teil-)O Gruppensuppliken von Nachbarschaften oder Korporationen, auf der Empfa¨ngerseite durch Debatten in den sta¨dtischen Gremien, wa¨re na¨her zu diskutieren. Als auf ¨ ffentlichkeit zielende Kommunikationsmittel einer regelrechten urbanen GegenO o¨ffentlichkeit fungierten oft Pasquille, Schma¨h- und Schandbriefe, die an zentralen Orten ausgeha¨ngt wurden; in ihnen wurde ebenso heftige wie ehrverletzende Kritik an Vertretern der Obrigkeit geu¨bt.67 Aber die Stadtbewohner waren nicht nur auf diese bestenfalls halbo¨ffentlichen und handschriftlichen Formate gebunden, sondern besaßen auch Zugang zum Markt der Druckmedien, ein Markt, der wesentlich ¨ berhaupt verfehlte eine zu sta¨rker auf das Lokal-Sta¨dtische zielte als oft unterstellt. U holzschnittartige Gegenu¨berstellung von oral und skriptural, Pra¨senzo¨ffentlichkeit

63 Zur Vero¨ffentlichung neben den oben Anm. 58 genannten Werken Matthias Weber, Die schlesi-

schen Polizei- und Landesordnungen in der Fru¨hen Neuzeit, Ko¨ln 1996; Karl Ha¨rter, Gesetzgebungsprozeß und gute Policey: Entstehungskontexte, Publikation und Geltungskraft fru¨hneuzeitlicher Policeygesetze, online als PoliceyWorkingPapers 3 (2002) http://www.univie.ac.at/policey-ak/ pwp/pwp_03.pdf] 64 Eine systematische Analyse obrigkeitlicher Kommunikationsmedien ha¨tte sich zudem intensiv mit dem sta¨dtischen Briefwesen auseinanderzusetzen. Im Informationsaustausch zwischen den Sta¨dten, seit dem Spa¨tmittelalter institutionell getragen von einem Netz von Stadtboten, konstituierte sich so ¨ ffentlichkeit, die ebenfalls nicht exklusiv den Obrigetwas wie eine u¨ber- bzw. zwischensta¨dtische O keiten zuga¨nglich war; vgl. Klaus Gerteis, Reisen, Boten, Posten, Korrespondenz in Mittelalter und fru¨her Neuzeit, in: Die Bedeutung der Kommunikation fu¨r Wirtschaft und Gesellschaft, hg. v. Hans Pohl, Stuttgart 1989, S. 19–36, hier S. 26; Behringer, Im Zeichen des Merkur (wie Anm. 10), S. 56, S. 132ff. u. o¨.; vgl. schon Lore Sporhan-Krempel, Nu¨rnberg als Nachrichtenzentrum zwischen 1400 und 1700, Nu¨rnberg 1968, S. 21ff. 65 Vgl. statt vieler Titel Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.–18. Jahrhundert), hg. v. Cecilia Nubola/Andreas Wu¨rgler, Berlin 2005. 66 Gerd Schwerhoff, Das Ko¨lner Supplikenwesen in der Fru¨hen Neuzeit – Anna¨herungen an ein Kommunikationsmedium zwischen Untertanen und Obrigkeit, in: Ko¨ln als Kommunikationszentrum. Studien zur fru¨hneuzeitlichen Stadtgeschichte, hg. v. Georg Mo¨lich/Gerd Schwerhoff, Bonn 2000, S. 473–496. 67 Ulinka Rublack, Anschla¨ge auf die Ehre. Schma¨hschriften und -zeichen in der sta¨dtischen Kultur des Ancien Re´gime, in: Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Klaus Schreiner/Gerd Schwerhoff, Ko¨ln 1995, S. 381–411; zum – anachronisti¨ ffentliche Ra¨ume, S. 126ff. Eine eingehenschen – Begriff der ‚Gegengesellschaft‘ vgl. Schwerhoff, O dere Untersuchung u¨ber sta¨dtische Pasquille und Schma¨hschriften ist ein Desiderat der Forschung, allerdings quellenma¨ßig in Deutschland schwierig umzusetzen, weil ein zentraler Vero¨ffentlichungsund Sammlungsort wie die ro¨mische Pasquino-Statue fehlt; vgl. neuerdings die (nicht stadtbezogene) Edition von Oswald Bauer, Pasquille in den Fuggerzeitungen. Spott- und Schma¨hgedichte zwischen Polemik und Kritik (1568–1605), Wien 2008.

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¨ ffentlichkeit die Eigenart der fru¨hneuzeitlichen Stadt, wie einund druckmedialer O dru¨cklich auch – freilich am Beispiel der fru¨hneuzeitlichen Metropole London – Dagmar Freist in ihrem Beitrag fu¨r den vorliegenden Band zeigt. Das Verdienst, erstmals ¨ ffentlicheine angemessene Idee von der Vernetzung der verschiedensten medialen O keiten in der deutschen Stadt in der Fru¨hen Neuzeit vermittelt zu haben, gebu¨hrt der Untersuchung von Daniel Bellingrath zur ‚Flugpublizistik‘ in den urbanen Ra¨umen von Ko¨ln und Hamburg, von Leipzig und Dresden in der Zeit um 1700. Bereits die Analyse der sog. „Peterswirren“ in der katholischen Reichsstadt am Niederrhein ab 1667 offenbart eine beachtliche innersta¨dtische Kommunikationsverdichtung. Eine strittige Pfarrerwahl, bei der Bru¨che zwischen Bu¨rgergemeinde und sta¨dtischer Obrigkeit ebenso aufbrachen wie zwischen Reichsstadt und Kurfu¨rst, entfachte einen lebhaften, auf vielerlei Ebenen ausgetragenen o¨ffentlichen Streit: Obrigkeitliche Mandate wurden ebenso gedruckt wie protestationes der Gemeindevertreter. Die o¨ffentliche Publizierung des Kirchenbanns gegen die Protagonisten des Protestes wurde mit „Sto¨cken und Pru¨geln“ verhindert, ein Zettel mit dem Namen des kurfu¨rstlichen Offizials an den Galgen geha¨ngt. Umgekehrt kam es als obrigkeitliche Strafmaßnahme zur Verbrennung von aufru¨hrerischen Drucken auf der Hinrichtungssta¨tte Melaten vor den Toren der Stadt. Begleitet wurde der Federkrieg durch Debatten und Tumulte in den Wirtsha¨usern und den Kirchen der Stadt.68 Bereits hier wird deutlich, dass alle Akteure eine aktive Medienpolitik betrieben. Ein rundes Jahrzehnt spa¨ter sollte es Nikolaus Gu¨lich als dem Fu¨hrer des Bu¨rgerprotestes zeitweilig eindrucksvoll gelingen, die o¨ffentliche Meinung zu kanalisieren und als „Meinungsprotagonist“ eine „regelrechte Medienkampagne“ zu organisieren.69 Interessant ist, wie unterschiedlich in diesem Zusammenhang die Einbettung der Flugpublizistik in die Anwesenheitskommunikation bewertet wird. Die Tatsache an sich, dass gedruckte Pamphlete als Bestandteile eines kommunikativen Gesamtprozesses verstanden werden sollten, bei dem Lesen, Ho¨ren, Schauen, Diskussion und Aktion komplex ineinandergriffen, du¨rfte seit Bob Scribner unstrittig sein.70 Wa¨hrend Rudolf Schlo¨gl daraus ein Argument fu¨r den traditionalen Charakter der sta¨dti¨ ffentlichkeit macht71, erscheint diese Verknu¨pfung bei Bellingrath geradezu schen O als notwendiges Signum einer neuartigen Kommunikationsverdichtung im Zeichen der Flugpublizistik: Insgesamt, so resu¨miert er, habe sich der urbane Raum des Alten Reiches um 1700 zu einem „Raisonnierforum“ entwickelt, wo das gedruckte Wort

68 Bellingrath, Flugpublizistik (wie Anm. 3), S. 51ff. 69 Ebd., S. 127. 70 Robert W. Scribner, Flugblatt und Analphabetentum. Wie kam der gemeine Mann zu reformatori-

schen Ideen?, in: Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit, hg. v. Hans-Joachim Ko¨hler, Stuttgart 1981, S. 65–76, hier 76. 71 Schlo ¨ ffentlichkeit war im U ¨ bri¨ gl, Politik beobachten (wie Anm. 55), S. 393f. – Auch die ho¨fische O gen von einem, allerdings ga¨nzlich anders gelagerten, Zusammenspiel von „theatralen (oder performativen) Pra¨senzmedien“ der unmittelbaren Herrschaftsrepra¨sentation einerseits und den „auf dem Druckverfahren basierenden Distanzmedien andererseits“ gepra¨gt, vgl. Volker Bauer, Nachrichten¨ ffentlichkeit. Zum Verha¨ltnis von Mediensystem und ho¨fischer O ¨ ffentlichkeit medien und ho¨fische O im Alten Reich, in: Mediensystem (wie Anm. 10), S. 173–194, hier S. 174.

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zu einer Alltagserscheinung geworden sei und die Kommunikationsdichte gleichsam einen selbsttragenden Aufschwung bewirkt habe, die Anschlusskommunikation gleichsam automatisch erzeugte.72 Ein wichtiges, hier nicht weiter zu vertiefendes Ergebnis ist auch die Tatsache, dass die sta¨dtischen Ereignisse in der u¨berregionalen Publizistik, in den Flugschriften wie in der sich entfaltenden periodischen Presse, Resonanz fanden. Lokale Verdichtung in der Stadt und u¨berregionale Verbreitung schlossen sich nicht aus.

¨ ffentlichkeit in der Fru¨hen Neuzeit 5. Thesen zum Profil der sta¨dtischen O

Vor dem Hintergrund der bisher skizzierten Gedanken – und ganz ohne einen konzeptuellen Ehrgeiz, der u¨ber eine Zuspitzung des empirisch Beschreibbaren hinaus¨ ffentginge – seien einige typologische Bemerkungen zum Profil der sta¨dtischen O lichkeit in der Fru¨hen Neuzeit gewagt, gerade auch, um Na¨he und Distanz zu jenem ¨ ffentlichkeit von Ju¨rgen Habermas besser bestimIdealtypus der emphatischen O ¨ ffentlichkeit der fru¨hneuzeitlichen Stadt war ganz men zu ko¨nnen. Erstens: Die O wesentlich eine Pra¨senzo¨ffentlichkeit und besaß als solche eine genuin ra¨umliche Verortung. Der Kreis der Teilnehmer war raumzeitlich variabel, aber keineswegs so ¨ ffentlichkeit suggeriert. eng begrenzt wie es Habermas’ Modell der repra¨sentativen O Zwar gab es fu¨r einzelne dieser Orte Zugangsbeschra¨nkungen etwa in Form abgestufter sozialer Exklusivita¨t, aber insgesamt verbu¨rgte die Vielfalt der Orte doch eine eher hohe Zuga¨nglichkeit fu¨r viele Stadtbewohner. Das bedeutete nun aber zweitens: ¨ ffentlichkeit der fru¨hneuzeitlichen Stadt war ra¨umlich fragmentiert, insofern Die O es eine Vielzahl derartiger o¨ffentlicher Orte gab. Wirtsha¨user und Kirchenra¨ume sind in der Stadt gewo¨hnlich keine Unikate, dem gemeinhin im Singular existierenden Rathaus standen als Gegengewicht die Ha¨user der Zu¨nfte und Bruderschaften gegenu¨ber. Die Vielfalt o¨ffentlicher Ra¨ume wu¨rde sich noch vergro¨ßern, na¨hme man neben den architektonisch bzw. baulich klar markierten Orten noch ephemere Ra¨ume hinzu, die nur zeitlich begrenzt durch bestimmte ra¨umliche Markierungen oder Arrangements abgegrenzt waren, aber doch mit besonderen o¨ffentlichen Bedeutungen begabt waren (das Gericht am Rathaus oder auf dem Marktplatz; Fu¨rstenbegra¨bnisse mit aufwendigen Funeralarchitekturen, die lediglich im Druck la¨ngere Zeit u¨berleben uvam.).73 Die ra¨umliche Fragmentierung ging zumeist mit einer themati72 Bellingrath, Flugpublizistik (wie Anm. 3), 369. 73 Rudolf Schlo¨gl unterscheidet in seiner kommunikationshistorischen Perspektivierung der fru¨hneu-

zeitlichen Stadt von den architektonisch markierten, meist deutlich umgrenzten und oft institutionell gebundenen Ra¨umen derartige ephemeren Ra¨ume sowie drittens virtuelle Ra¨ume, die zwar Grenzen besitzen, die aber nicht durch offenkundige Markierungen abgegrenzt sind; meist u¨berlagerten sich diese Ra¨ume und bildeten ein u¨berlappendes Geflecht von Raumstrukturen. Vgl. seinen Vortrag auf der Dresdner „Machtra¨ume“-Tagung im November 2004: „Der Raum als Universalmedium der fru¨hneuzeitlichen Stadt“, online unter http://www.uni-konstanz.de/FuF/Philo/Geschichte/Schloegl/ Schloegl/RaumalsUniversalmedium03.pdf [9. 12. 2010].

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schen Gebundenheit einher, den einzelnen Orten war eine dominante Funktion zugewiesen. Zwar konvergierten verschiedene Funktionen an einem Ort, was die vielbeschworene Multifunktionalita¨t der o¨ffentlichen Ra¨ume in der Vormoderne ausmachte.74 Doch ko¨nnen – vielleicht mit Ausnahme des Wirtshauses – den einzelnen Orten bestimmende pra¨gende Leitdifferenzen zugewiesen werden, dem Rathaus etwa diejenige von ‚o¨ffentlich‘ und ‚geheim‘, dem Kirchenraum diejenige von ‚sakral‘ und ‚profan‘. Das Rathaus bezeichnete die Spha¨re der sta¨dtischen arcana imperii, aber gerade deshalb war es zugleich der Ort, wo phasenweise o¨ffentliche Repra¨sentation inszeniert oder o¨ffentlicher Protest artikuliert wurde. Die Kirche sollte ein Ort der Pra¨senz des Heiligen oder wenigstens – im Protestantismus – der Fro¨mmigkeit sein, aber aufgrund dieser Bedeutungszuweisung war sie zugleich Schauplatz o¨ffentlicher Verku¨ndigungen ganz profaner Art.75 ¨ ffentlichkeit in der Fru¨hen Neuzeit konstituierte sich mithin zwar im Sta¨dtische O Spannungsgefu¨ge fragmentierter o¨ffentlicher Orte, aber das bedeutet drittens nicht ¨ ffentlichkeit selbst. Vielmehr u¨berspannten notwendig die Fragmentierung dieser O vielfa¨ltige Kommunikations- und Interaktionsprozesse dieses heterogene Geflecht und vernetzten es. Insofern ko¨nnte man etwas paradox formuliert davon sprechen, ¨ ffentlichkeit habe eine gewisse lokale Universalita¨t geeignet. Vierder sta¨dtischen O ¨ ffentlichtens ist im Anschluss daran eine weitgehende Autonomie der sta¨dtischen O ¨ keit der Fru¨hen Neuzeit zu konstatieren. Mit anderen Worten, diese Offentlichkeit ist von den Obrigkeiten nicht wirklich zu kontrollieren und zu beherrschen. Zwar ¨ ffentwar diese Obrigkeit in Gestalt des Rates ein privilegierter Akteur auf dem O ¨ lichkeitsmarkt; ha¨ufig stellte sie diese Offentlichkeit mit ihren pra¨sentischen Ritualen ebenso wie mit ihren Druckerzeugnissen selbst her. Aber gerade aufgrund der Fragmentierung war eine wirkliche Kontrolle schwierig, konnten sich immer wieder Formen der Gegeno¨ffentlichkeit entwickeln. Fu¨nftens: Die o¨ffentlichen Orte der Stadt partizipierten seit dem Eintritt in die Gutenberg-Galaxis an der fru¨hneuzeitlichen Medienrevolution, d. h. die fragmentierte Anwesenheitsgesellschaft vernetzte sich vielfa¨ltig u¨ber Druckmedien, ohne ihre pra¨sentische Kommunikationsstruktur grundlegend zu verlieren. ¨ ffentlichkeit der fru¨hAlle bisher betrachteten Dimensionen unterscheiden die O neuzeitlichen Stadt zwar in Nuancen, nicht aber fundamental vom Idealtypus der ¨ ffentlichkeit in der spa¨teren Neuzeit. Gibt es tiefere emphatischen, ‚bu¨rgerlichen‘ O Differenzen? Diese ko¨nnten, sechstens, in der Auffassung daru¨ber liegen, was denn die o¨ffentlichen Angelegenheiten seien, die zur Debatte stehen. Hier gab es nun einerseits in der Zeit vor 1750 in Deutschland keine emphatische Fokussierung auf ein bestimmtes Diskursfeld, etwa auf Kunst und Literatur oder auf die Politik, wie es das

74 Angemessener als mit Multifunktionalita¨t ließe sich die Eigenart vormoderner Ra¨ume vielleicht mit

dem Terminus des „integralen Raumkonzepts“ fassen, nach dem die in heutiger Sicht unterschiedlichen Funktionsbereiche damals nicht als „distinkt“ betrachtet worden seien, sondern ganz selbstversta¨ndlich unter einem Dach versammelt wurden (vgl. Franz-Josef Arlinghaus, Raumkonzepte der spa¨tmittelalterlichen Stadt. Zur Verortung von Gericht, Kanzlei und Archiv im Stadtraum, in: Sta¨dteplanung – Planungssta¨dte, hg. v. B. Fritzsche u. a., Zu¨rich 2006, S. 101–123, S. 102f. 75 Schwerhoff, Verortete Macht; Schwerhoff, Sakralita¨tsmanagement

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Modell von Habermas impliziert. Andererseits kann man sagen, dass per se wenige Themen prinzipiell ausgeschlossen wurden. Die Multifunktionalita¨t der o¨ffentlichen Ra¨ume verbu¨rgte in gewissem Sinn auch ihre Offenheit fu¨r die vielfa¨ltigsten Angelegenheiten. In Krisen- und Umbruchzeiten wurde, von Angesicht zu Angesicht oder im medial vermittelten Austausch, auch und gerade u¨ber die politischen, sozialen und religio¨sen Schlu¨sselfragen gestritten. Religion als ein Leitthema der fru¨hneuzeitlichen ¨ ffentlichkeit Debatte bleibt auch ein zentraler Katalysator fu¨r die druckmediale O der Flugpublizistik.76 Sie bleibt in einer dominant stratifikatorisch und nicht funktional ausdifferenzierten Gesellschaft genuin mit dem politischen Feld verknu¨pft, ja sie hat phasenweise einen eminent politischen Charakter. Die gro¨ßte Differenz liegt m. E., siebtens und letztens, auf dem Gebiet des Kommunikations- und Interaktionsstils, einem Thema mithin, das bisher noch nicht angesprochen wurde. Ra¨son¨ ffentlichkeit vor dem nement, Diskurs und Deliberation zeichnen die sta¨dtische O 18. Jahrhundert kaum aus, wenngleich ein vernu¨nftiger Austausch von Argumenten auf sehr informeller Ebene nicht ausgeschlossen war. Polemisch zugespitzt ko¨nnte man behaupten, ritualisierte Verhaltensweisen, wie man sie im Kontext der Wirts¨ ffentlichhausstreitigkeiten vielfa¨ltig beobachten kann77, ha¨tten in der sta¨dtischen O ¨ keit den Platz eingenommen, den spa¨ter im Idealtypus der bu¨rgerlichen Offentlichkeit der rationale Diskurs beanspruchte. Insofern die o¨ffentliche Kommunikation von Performanz und (Selbst-)Inszenierung gekennzeichnet scheint, ko¨nnte man von ¨ ffentlichkeit in der fru¨hneuzeitlichen einem stark performativen Grundzug der O Stadt sprechen. Auffa¨llig ist in diesem Zusammenhang der zentrale Platz, der der Ehre in der sta¨dtischen Interaktionslogik zukam.78 Ob auf der Straße und im Wirtshaus oder in der qualifizierten Teilo¨ffentlichkeit von Rats- und Ausschusssitzungen – u¨berall herrschte die Ehre, nach deren Logik Kontroversen nur schwer sachlich einzuhegen waren. Schnell drohten sie in Zerwu¨rfnisse und Faktionen, perso¨nliche Schma¨hungen bis hin zur gewaltsamen Auseinandersetzung zu mu¨nden. Offenbar konnte sich keine autonome Spha¨re sachlicher Kontroversen jenseits der Gefahr perso¨nlicher Ehrverletzung konstituieren, Dissens trug immer die Gefahr perso¨nlicher Entzweiung in sich, Gegenmeinungen konnten potentiell immer als Angriff auf die ganze Person verstanden werden.79 Fu¨r eine sozialhistorische Stadtgeschichtsforschung stellte sich damit die interessante Frage, wann eine Entkoppelung von Ehre ¨ ffentlichkeit, von perso¨nlichem Streit und sachlicher Auseinandersetzung vor und O ¨ ffentlichkeit zu beobachten ist – wann und wie also die eher perdem Forum der O ¨ ffentlichkeit abgelo¨st wurde. formative durch eine sta¨rker diskursive O 76 Vgl. Bellingrath, Flugpublizistik (wie Anm. 3), S. 37. 77 Vgl. zuletzt Gerd Schwerhoff, Maulschellen fu¨r die Stadtwache – Exzesse und Gewalt im Wirtshaus,

in: Dresdner Hefte 98 (2009) [Themenheft „Gaststa¨tten, Kneipen und Cafe´s in Dresden“], S. 15–25. 78 In U ¨ bereinstimmung mit Schlo¨gl, Politik beobachten (wie Anm. 55), S. 587, 598 u. o¨.; vgl. Schwer-

¨ ffentliche Ra¨ume und politische Kultur (wie Anm. 53), S. 133ff. Fu¨r den weiteren Kontext hoff, O ¨ berlegungen zu einem Forschungskonzept, Klaus Schreiner/Gerd Schwerhoff, Verletzte Ehre – U in: Verletzte Ehre (wie Anm. 67), S. 1– 28. 79 Auch in der Stadt regierte dementsprechend jene „agonale Kultur“, die fu¨ r das fru¨hneuzeitliche Dorf so treffend im Anschluss an Niklas Luhmann analysiert worden ist, vgl. Rainer Walz, Agonale Kommunikation im Dorf der Fru¨hen Neuzeit, in: WestfForsch 42 (1992), S. 215–251

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¨ ffentlichkeit und die Stadt Ausblick: Die Entstehung der emphatischen O

Damit wa¨ren wir gleichsam wieder bei dem Ausgangsproblem angelangt, dem Bei¨ ffentlichkeit. Ha¨lt trag der Stadt fu¨r die Entstehung der modernen, emphatischen O man sich an Schlo¨gls Perspektive, dann fu¨hrt kein gerader Weg von jener traditionalen ¨ ffentlichkeit“, bei der Politik und O ¨ ffentlichkeit noch nicht gegen„integrierten O ¨ ffentlichkeit. Sta¨dtieinander ausdifferenziert waren, zur modernen bu¨rgerlichen O ¨ ffentlichkeit und druckmediale Zeitungso¨ffentlichkeit ha¨tten bis zur zweiten sche O Ha¨lfte des 18. Jahrhunderts ohne viele Beru¨hrungspunkte koexistiert.80 Demgegenu¨ber erinnert Fre´de´ric Barbier in seinem Beitrag zum vorliegenden Band daran, wie stark die druckmediale Infrastruktur an die Stadt gebunden und mit ihr verflochten war. Eine Gegenposition zu Schlo¨gl markiert die Fallstudie von Bellingrath, insofern sie viele Argumente fu¨r eine Fru¨hdatierung wesentlicher Elemente von poli¨ ffentlichkeit (mindestens) ins 17. Jahrhundert auch fu¨r den mitteleuropa¨itischer O schen Raum beibringt.81 Das wu¨rde bedeuten, dass die neue emphatisch-bu¨rgerliche ¨ ffentlichkeit ab der zweiten Ha¨lfte des 18. Jahrhunderts viel sta¨rker als von Schlo¨gl O ¨ ffentlichkeit der Fru¨hen Neuzeit hervorgepostuliert gerade aus der sta¨dtischen O wachsen wa¨re. Hier wa¨re es nun wichtig, den entscheidenden Zeitraum der ‚Sattelzeit‘ um 1750 na¨her in den Blick zu nehmen und die Transformation der o¨ffentlichen Spha¨re in der Stadt zu untersuchen. In dieser Phase, das wurde bereits angedeutet, entwickelte sich die Herrschaft der o¨ffentlichen Meinung im Alten Reich zu einer regulativen Leitidee der Gesellschaft.82 Allerdings ist die Forschungslage gerade zu dieser Phase ¨ ffentlichkeit preka¨r. Um es der mitteleuropa¨ischen Stadtgeschichte in Bezug auf die O ¨ zu pointieren: Das Thema „sta¨dtische Offentlichkeit“ fa¨llt gleichsam aus den bislang ga¨ngigen Fragerastern heraus.83 Diese Behauptung mag zuna¨chst angesichts einer blu¨henden Bu¨rgertumsforschung u¨berraschen. Diese deutsche Bu¨rgertumsforschung stand um die Jahrtausendwende im Banne des Dualismus zwischen der Bielefelder und der Frankfurter Schule. Dabei fragte die Bielefelder Richtung gleichsam von der Moderne her und ging der Vergesellschaftung mittlerer gesellschaftlicher Gruppen (der Gebildeten, der Beamten, der Unternehmer, eventuell der kleinen Kaufleute und Handwerker) zur neuen Großformation „Bu¨rgertum“ nach.84 Die Stadt spielte dabei zwar als eine Arena einschla¨giger Fallstudien eine gewisse Rolle, doch auch hier stand 80 Schlo ¨ gl, Politik beobachten (wie Anm. 55), S. 615. 81 A ¨ hnlich wie Bellingrath, aber ohne Stadtbezug Georg Schmidt, Das Reich und Europa in deutsch-

¨ berlegungen zur ra¨sonnierenden O ¨ ffentlichkeit und politischen Kultur im sprachigen Flugschriften. U 17. Jahrhundert, in: Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder, hg. v. Klaus Bussmann/Elke Anna Werner, Stuttgart 2004, 119–148. 82 Vgl. oben Anm. 14. 83 Auch auf der Mu¨nsteraner Tagung war dieser Themenkomplex – Spiegel der aktuellen Forschungsbe¨ berdies kam der Beitrag von Frank Mo¨ller (Greifswald), „Stadt, mu¨hungen – nicht stark vertreten. U ¨ ffentlichkeit 1750–1850“ nicht zum Druck. Staat, Nation: Gestufte O 84 Zusammenfassend Peter Lundgreen, Sozial- und Kulturgeschichte des Bu¨rgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986–1997), Go¨ttingen 2000.

¨ ffentlichkeit in der Fru¨hen Neuzeit – Perspektiven der Forschung Stadt und O

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¨ bergangsphase der Sattelzeit als das 19. Jahrhundert sui generis im Mitweniger die U telpunkt, als „Konstituierungsfaktor“ fu¨r einen neuen kulturellen Habitus, der sich etwa in distinktivem Kunstgenuss und gemeinsinnigem Stiftungswesen ausdru¨ckte.85 Ganz anders die Frankfurter Schule Lothar Galls, der es zentral um „die Frage nach der Rolle der Stadt und speziell des sta¨dtischen Bu¨rgertums innerhalb des sa¨kularen Modernisierungsprozesses von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert“ zu tun war.86 Aber auch hier sucht man eigene Ero¨rterun¨ ffentlichkeit vergebens, was teils mit dem dezidiert sozialgegen zur sta¨dtischen O schichtlichen Zugang zusammenha¨ngen mag, teils der letztlich doch ‚spa¨tneuzeitli¨ berblickdarstellung zum Bu¨rgertum chen‘ Perspektive geschuldet ist. Eine neuere U dru¨ckt sich trotz dieses ernu¨chternden Befundes nicht um einen Abschnitt zur „Ent¨ ffentlichkeit im 18. Jahrhundert“. Sie fußt aber teils auf stehung der bu¨rgerlichen O Habermas selbst, teils auf der Aufkla¨rungsforschung, und zielt damit eher auf die ¨ ffentlichkeit.87 In diesem ForschungsMedien einer „u¨berlokalen“ bu¨rgerlichen O kontext sind tatsa¨chlich viele der Themen na¨her entfaltet worden, die fu¨r Habermas’ Strukturwandel zentral waren: das bu¨rgerliche Assoziationswesen etwa mit seinen Lesegesellschaften, Literatur und Theater als bu¨rgerlich-adlige Spha¨re der Urteilsund Geschmacksbildung und vor allem natu¨rlich die Verdichtung der einschla¨gigen Medien, der periodischen Zeitungen, der Zeitschriften und Intelligenzbla¨tter, der Lexika und Fachjournale.88 Die sta¨dtische Bu¨hne als Rekrutierungs- und Aktionsfeld ist in all diesen Studien mehr oder weniger zwangsla¨ufig pra¨sent: Bei der Darstellung der Entwicklung der periodischen Presse dienen Hamburg und Altona als wichtige Paradigmen, ebenso werden bestimmte Sta¨dte als „Schaupla¨tze“ oder „Zentren“ der ¨ ffentlichkeit wird dabei Aufkla¨rung apostrophiert – aber die Eigenart sta¨dtischer O 89 kaum je eingehender reflektiert. Zum Teil zeichnet bereits die Perzeption der Zeitgenossen fu¨r diese Ausblendung verantwortlich, wie der Beitrag von Patrick Schmidt 85 Hans-Walter Schmuhl, Bu¨rgertum und Stadt, in: ebd., S. 224–248, hier S. 245f.; a¨hnliches gilt fu¨r die

Kennzeichnung der „Bu¨rgerlichkeitsethik“ bei Manfred Hettling, Bu¨rgerliche Kultur – Bu¨rgerlichkeit als kulturelles System, in: ebd., S. 319–339. 86 Stadt und Bu¨rgertum im U ¨ bergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, hg. v. Lothar Gall, Mu¨nchen 1993, hier S. 3 der Einleitung. Der systematisch angelegte Band kann pars pro toto fu¨r den inzwischen in zahlreichen Monographien zu Einzelsta¨dten ausgefu¨hrten Ansatz der Gall-Gruppe stehen. 87 Michael Schaefer, Geschichte des Bu¨rgertums, Ko¨ln 2009, S. 36ff. 88 Statt vieler Einzeltitel sei nur auf die konzisen U ¨ berblicke von Winfried Mu¨ller, Die Aufkla¨rung, Mu¨nchen 2002, und von Andreas Wu¨rgler, Medien in der Fru¨hen Neuzeit, Mu¨nchen 2009, verwie¨ ffentlichkeit des 18. Jahrhunderts sen. Kritische Einwa¨nde gegen den „bu¨rgerlichen“ Charakter der O formuliert unter Bezug auf die neuere Aufkla¨rungsforschung Ute Daniel, How bourgeois was the public sphere of the Eighteenth Century? Or: Why it is important to historicize Strukturwandel der ¨ ffentlichkeit, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 26 (2002), S. 9–17, bes. S. 13f. O 89 Leipzig. Aufkla¨rung und Bu¨rgerlichkeit, hg. v. Wolfgang Martens, Heidelberg 1990; Engelhard Weigl, Schaupla¨tze der deutschen Aufkla¨rung. Ein Sta¨dterundgang, Reinbek bei Hamburg 1997; Holger Bo¨ning, Welteroberung durch ein neues Publikum. Die deutsche Presse und der Weg zur Aufkla¨rung. Hamburg und Altona als Beispiel, Bremen 2002; Ders., Periodische Presse. Kommunikation und Aufkla¨rung. Hamburg und Altona als Beispiel, Bremen 2002. – Cum grano salis gilt dieses Urteil auch fu¨r Anne-Margarethe Brenker, Aufkla¨rung als Sachzwang. Realpolitik in Breslau im ausgehenden 18. Jahrhundert, Hamburg 2000.

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im vorliegenden Band deutlich macht: Schon im 18. Jahrhundert wurde dem modernen Assoziationswesen die traditionale Welt der Korporationen und Zu¨nfte entgegengesetzt und damit gleichsam aus der neuen o¨ffentlichen Spha¨re ausgeblendet. Erst eine erneute Reflexion dieser und vieler anderer Komponenten der ‚alten Stadt‘ in der Periode der Sattelzeit wird mehr Klarheit u¨ber die Entfaltungsgeschichte von ¨ ffentlichkeit bringen. Insofern wa¨re es zu wu¨nschen, dass die derzeitige Dynamik O ¨ ffentlichkeitsforschung auch auf die anschließende Periode der fru¨hneuzeitlichen O u¨bergreift.

VERGESELLSCHAFTUNG UNTER ANWESENDEN ¨ HNEUZEITLICHEN STADT IN DER FRU ¨ FFENTLICHKEIT UND IHRE (POLITISCHE) O von Rudolf Schlo¨gl

In den nachfolgenden Ausfu¨hrungen mache ich den Vorschlag, das Sozialgebilde der fru¨hneuzeitlichen Stadt in einer kommunikations- und medientheoretischen Perspektive zu beschreiben, um seine historische Besonderheit zu erfassen. Ich bringe das auf den Begriff der „Vergesellschaftung unter Anwesenden“ und behaupte, dass ¨ ffentlichkeit verbunden ist.1 Ich damit auch eine spezifische Form der politischen O werde in drei Schritten vorgehen. Ein erster soll das theoretische Konzept knapp ¨ ffentlichvorstellen, ein zweiter einen kommunikationstheoretischen Begriff von O keit umreißen und in einem dritten Abschnitt sollen dann noch einmal diejenigen Beobachtungen aus meinen Projekten und aus der stadtgeschichtlichen Forschung zusammengetragen werden, die mich veranlassen, die fru¨hneuzeitliche Stadt mit dem Modell der Vergesellschaftung unter Anwesenden zu erfassen. Ich werde mich dabei ¨ ffentlichkeit konzentrieren. anlassgema¨ß auf die Politik der Stadt und ihre O

1. Soziales als Kommunikation

Die Vorstellung der kommunikativen Hervorbringung von sozialem Sinn und von sozialen Strukturen – also dessen, was Gesellschaft (oder auch Sozialita¨t) u¨berhaupt ausmacht, unter Bedingungen doppelter Kontingenz ist zuna¨chst irritierend, gewinnt

1 Die wichtigsten empirischen Befunde und theoretischen Argumente sind ausgebreitet in: Interaktion

und Herrschaft. Die Politik der fru¨hneuzeitlichen Stadt, hg. v. Rudolf Schlo¨gl, Konstanz 2004, und Elections and Decision-Making in Early Modern Europe, 1500–1800, hg. v. dems., Newcastle 2009. ¨ ffentlichkeit und Medien in der Fru¨hen NeuVgl. außerdem: Rudolf Schlo¨gl, Politik beobachten. O zeit, in: ZHF 35 (2008), 581–616; ders., Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Fru¨hen Neuzeit, in: GuG 34 (2008), S. 155–224 – dort ist auch die jeweils weitere Literatur aufgefu¨hrt. Die Nachweise werden deswegen nachfolgend auf das Notwendigste beschra¨nkt.

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aber schon nach kurzer Selbstbeobachtung in Alltagssituationen eine nicht zu ignorierende Plausibilita¨t, die es nahe legt, eine solche Voraussetzung und die sie begru¨ndenden Unterscheidungen bei der Beobachtung auch vergangener Gesellschaften nicht einfach beiseite zu schieben. Wie entsteht sozialer Sinn (von Alter und Ego geteilter Sinn) und wie ko¨nnen Erwartungen und Erwartungserwartungen aufeinander abgestimmt werden, wenn wir ernst nehmen, dass in Kommunikation nicht einfach „Informationen“ von einem Bewusstsein ins andere u¨bertragen werden, sondern dass auf beiden Seiten Unterschiede wahrgenommen werden, die einen Unterschied machen, und die dann auf beiden Seiten in jeweils eigene Sinnhorizonte eingebaut und damit verstanden werden? 2 Vor dem Hintergrund dieser Frage habe ich den Eindruck, dass alle handlungstheoretischen Modelle von Max Weber bis Bourdieu dem Individuum einerseits zuviel zumuten und es andererseits zu eng an die Gesellschaft ketten. Zuviel zugemutet wird ihm, weil es mit seinen Motiven und seiner Rationalita¨t gewissermaßen direkt mit gesellschaftlicher Strukturbildung befasst wird. Das scheint mir unserer Alltagserfahrung unmittelbar zu widersprechen. Zu eng wird es an die Gesellschaft gekettet, weil viele der handlungstheoretischen Begriffe (Habitus oder auch Legitimita¨t) dem Individuum seine Freiheit nehmen. Die Unterscheidung zwischen Kommunikation und Bewusstsein gibt sie ihm hingegen zuru¨ck, weil sie damit rechnet, dass das Individuum in seiner Ideosynkrasie stets eine Herausforderung fu¨r soziale Systeme darstellt. Fu¨r mich bedeutsam ist auch ein „theoriea¨sthetisches“ Argument. Mich fasziniert das differenztheoretische Verfahren, das auf Unterscheidungen, Grenzziehungen usw. abstellt, weil es mit sehr einfachen Ausgangsvoraussetzungen ohne großen Aufwand sehr komplexe theoretische Modelle zu bilden erlaubt, die trotzdem sehr klar und u¨bersichtlich sind. Man mag den Systembegriff fu¨r starr halten, aber er hat gegenu¨ber allen Alternativen, die gehandelt werden, um soziale Strukturmuster zu beschreiben, den Vorteil, dass es ein „Anderes“ zu ihm gibt: die Umwelt; was das Andere einer Figuration, einer Institution eines Netzwerkes ist, vermag so recht meist niemand zu sagen. Oder man vermag es nur dann zu sagen, wenn man sie so beobachtet, wie man es bei sozialen Systemen tut: als eine Konstellation von Elementen in definierten, d. h. selektiven Beziehungen zueinander, die u¨ber diese Komplexita¨tsreduktion in einer Umwelt Gestalt gewinnen und sich zu ihr in eine Differenz setzen.3 Mir ist der medientheoretische Aspekt dieser Theorie im Lauf der Zeit immer wichtiger geworden, weil er darauf sto¨ßt, dass die Hervorbringung von Bedeutungen sich in Prozessen vollzieht, die nicht historisch universell sind, sondern – entsprechend der Medien, in denen Elemente gefu¨gt werden ko¨nnen, die einen Unterschied 2 Selbst derjenige Teil der modernen Neurowissenschaften, der davon ausgeht, dass Ego bezogen auf

¨ berAlter zu einer Theory of Mind fa¨hig ist, die zu Verstehen und Empathie befa¨higt, geht nicht von U tragung, sondern von Simulation aus. Vgl. Hubertus Breuer, Das soziale Gehirn. Neurowissenschaftler erkunden, wie Menschen das Denken und Fu¨hlen anderer Personen verstehen, in: Su¨ddeutsche Zeitung 3/2010, S. 16. 3 Instruktiv hierzu die Ausfu¨hrung von Latour, gewiss der Systemtheorie nicht verda¨chtig: Bruno Latour, Eine neue Soziologie fu¨r eine neue Gesellschaft. Eine Einfu¨hrung in die Akteur-NetzwerkTheorie, Frankfurt a. M. 2007, S. 50–75 (zu Gruppen- und Gruppenbildungen).

Vergesellschaftung unter Anwesenden in der fru¨hneuzeitlichen Stadt

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machen, und entsprechend den Unterscheidungen, mit denen dies beobachtet wird – historisch variabel sind. Deswegen sollte man die Politik der Stadt der fru¨hen Neuzeit als Historiker nicht wie die Politik des partizipativen Nationalstaates im 19. und 20. Jahrhundert beobachten, wie dies ja lange in der Forschung geschehen ist. Es geht also um eine Historisierung der Pha¨nomene, auch wenn wir sie mit unseren aktuellen Unterscheidungen beobachten. „Beobachten“: Das ist auch das Stichwort, das mich jetzt direkt zu meinem Thema bringt.

¨ ffentlichkeit und Politik in einer kommunikationstheoretischen Perspektive 2. O

Zwei Unterscheidungen sind grundlegend fu¨r das Nachfolgende: zum einen die zwischen Kommunikation und Medien und zum anderen die zwischen (kommunikativen) Operationen und deren Beobachtung.4 In beiden Fa¨llen verha¨lt es sich so, dass mit den Unterscheidungen Pha¨nomene getrennt und damit sichtbar werden, die fu¨reinander wechselseitig konstitutiv sind. Kommunikation vollzieht sich in Medien und erst in Kommunikation werden die lose gekoppelten Elemente in strikte Koppelung u¨berfu¨hrt, so dass ein Unterschied beobachtbar wird, der dann fu¨r Kommunikation einen Unterschied machen kann. Medien gewinnen erst in Kommunikation Realita¨t. Auch kommunikative Operationen und (deren) Beobachtung sollte man schon deswegen auseinander halten, weil die begrenzten Aufmerksamkeitskapazita¨ten des menschlichen Bewusstseins beides gleichzeitig nicht zulassen. Aber ebenso kommt Kommunikation ohne Beobachtung zwischen Alter und Ego und das Wissen um Beobachtung nicht in Gang. Das verweist auf eine weitere konstitutive Einsicht der „Systemtheorie“: Bei Unterscheidungen setzt das Bezeichnen der einen Seite den impliziten oder expliziten Verweis auf die andere Seite voraus. Und dies macht wiederum den paradoxen Ursprung der Emergenz sozialer (d. h. sinnbasierter) Pha¨nomene begreifbar und die Art und Weise, wie sie sich selbst garantieren und stabilisieren.5 Mit diesen beiden Anfangsunterscheidungen kann man auch Politik beobachten. Sie wird dann als ein Kommunikationszusammenhang sichtbar, in dem einerseits Kommunikationen im Medium der Macht so gesteuert werden, dass Entscheidungen allgemeiner Verbindlichkeit entstehen, und andererseits dieses Entscheiden auch beobachtet wird. Die Entscheider beobachten sich selbst; die von den Entscheidungen Betroffenen beobachten die Entscheider und die Entscheider beobachten wiederum, wie sie beobachtet werden. Dieses reflexive Beobachten erfu¨llt mehrere Funktionen. Es ermo¨glicht die Selbststabilisierung eines Handlungsraumes durch Grenzziehung gegenu¨ber einer Umwelt aus dem Wissen um die eigene Organisiertheit. 4 Dirk Baecker, Form und Formen der Kommunikation, Frankfurt a. M. 2005; Peter Fuchs, Der Sinn

der Beobachtung. Begriffliche Untersuchungen, Weilerswist 2004.

5 Niklas Luhmann, Einfu¨hrung in die Systemtheorie, Darmstadt 2002, S. 66–91.

Vergesellschaftung unter Anwesenden in der fru¨hneuzeitlichen Stadt

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das Konzept der Macht fortlaufend neu zu erfinden und es dabei umzugestalten. Sie ermo¨glichen auf diese Weise die Anpassung des politischen Systems an vera¨nderte Umweltbedingungen – also Differenzierung und Evolution.

¨ ffentlichkeit 3. Die Politik der fru¨hneuzeitlichen Stadt und ihre O

Wenn ich die fru¨hneuzeitliche Stadt – insbesondere im Bereich ihrer politischen Kultur – als eine Form der Vergesellschaftung unter Anwesenden bezeichne, dann will ich sie nicht als besonders archaisch auszeichnen, wie vermutet wurde.7 Auch Vergesellschaftung unter Anwesenden ist zu Sozialordnungen ganz unterschiedlicher Komplexita¨t und Differenzierung fa¨hig. Die Skala du¨rfte tatsa¨chlich von segmenta¨ren archaischen Clan- und Stammesgesellschaften bis zur differenzierten Ordnung der fru¨hneuzeitlichen Stadt oder dem fru¨hneuzeitlichen Hof als dem Nukleus moderner Staatlichkeit reichen. Auch in der gegenwa¨rtigen Gesellschaft spielt Interaktionskommunikation auf der Ebene von Systembildungen selbst weltweiter Reichweite, in Organisationen und sozialen Bewegungen eine wichtige Rolle, allerdings im Regelfall im Verbund mit Distanzmedien. Man kann aber nicht mehr plausibel machen, dass nationale Vergesellschaftungen oder gar die globalisierte Weltgesellschaft der Gegenwart von Interaktion getragen sind. Mein Vorschlag zielt deswegen nicht darauf, den Gebrauch von Schrift in der fru¨hneuzeitlichen Stadt insbesondere auf dem Feld des Politischen zu ignorieren. Die Behauptung ist aber, dass Schrift (und auch Druck) in der politischen Kommunikation der fru¨hneuzeitlichen Stadt u¨ber lange Zeit hauptsa¨chlich in ihrer Aufbewahrungs- und Verbreitungsfunktion genutzt wurden, und nicht so sehr in ihrer „Erfolgsfunktion“, also um Kommunikationsprozesse zu steuern, sie zu formen und Erwartungen erwartbar zu machen.8 Wenn sich das so verha¨lt, dann muss man annehmen, dass Interaktionskommunikation der Stoff war, aus dem die fru¨hneuzeitliche Stadt sich als sozialer Ko¨rper formte und dass dabei die zentralen Medien dann eben nicht beschriebenes und bedrucktes Papier waren, sondern (neben der Rede selbstversta¨ndlich) der Ko¨rper und die Dinge in ihrem Arrangement, der Raum und die Zeit. Die Evidenz fu¨r diese Konstellation, die von der Forschung gerade auch in den von kulturgeschichtlichen Interessen und denen einer historischen Anthropologie inspirierten Arbeiten zur Stadtgeschichte beigebracht wurde, scheint mir sehr eindru¨cklich belegt. Alles was wir u¨ber Ratswahlen, Ratssitzungen, die Pra¨sentation und Vermittlung politischer Entscheidungen, u¨ber den Zustand und die Benutzung von Archiven oder auch u¨ber Konflikte und deren Austrag wissen, bezeugt die performative, ritualisierte Dimension des politischen Prozesses in der fru¨hneuzeitlichen

7 So wurde es im Konzept der Tagung formuliert. 8 Zu dieser Unterscheidung Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt a. M.

1997, S. 190–316.

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Beobachten scheint aber auch eine Voraussetzung, um den Code der Macht jenseits bloßer Gewaltanwendung zu reproduzieren, weil nur auf diese Weise Kausalita¨t zwischen Entscheidungen und anderen Ereignissen entsteht. Drittens entsteht durch dieses Beobachten von Entscheidungen und die sich darauf beziehenden Diskurse wiederum eine Realita¨t (Wirklichkeit), auf die Politik sich in ihren Entscheidungen beziehen kann. Und viertens ermo¨glicht die Beobachtung des Beobachtens eine selektive Beziehung zwischen System und Umwelt. Dieses reflexive Beobachten von Politik – in all den Konfigurationen, die ich ¨ ffentlichkeit. Diese abstraktere Bestimmung gerade genannt habe – ist politische O des Begriffs macht (hoffentlich) zweierlei versta¨ndlich: Zum einen ist es wichtig, ¨ ffentlichkeit, um die es geht, als eine politische zu bestimmen, weil natu¨rdie O lich es auch in anderen Systemzusammenha¨ngen zu selbstreferenzieller Beobachtung ¨ ffentlichkeiten kommt, damit Stabilita¨t und Umweltbeziehungen mo¨glich werden. O kann man deswegen in diesem Sinn durchaus im Plural gebrauchen. Deswegen muss ¨ ffentlichkeit und dem Code der Macht, der auch das Verha¨ltnis zwischen dieser O ¨ ffentlichdas System tra¨gt, na¨her bestimmt werden. Von einer gesellschaftlichen O keit ko¨nnte man dann reden, wenn sich ein medialer Raum konstituiert hat, in dem die Beobachtung der gesellschaftlichen Systemzusammenha¨nge zusammenfließt. Das ist in Europa vor dem ausgehenden 18. Jahrhundert nur in Ansa¨tzen der Fall. Zum zweiten sollte damit einsichtig sein, dass es wenig Sinn hat, alles, was außerhalb der geschlossenen Ra¨ume von Ratha¨usern geschieht, schon als o¨ffentlich zu bezeichnen und es dann auch noch zu multiplizieren, indem man Orte, Tra¨gerschichten, Themen etc. unterscheidet. Auch in der fru¨hneuzeitlichen Stadt wird im Rahmen von Aufsta¨nden oder anderen Konflikten immer wieder greifbar, dass in diesem o¨ffentlichen Raum noch ein weiteres Problem eingelagert ist, das in allen Bestimmungen von Politik eine wichtige Rolle spielt: Legitimita¨t. Max Weber hat daran die Bestimmung von Macht (und die Typen von Politik) u¨berhaupt festgemacht. Legitimita¨t wird bei ihm zwischen die beiden Pole der Macht – Befehl und Gehorsam – gespannt und bezeichnet dann die Motive fu¨r Gehorsam, so dass Legitimita¨t unter der Hand zu „Konsens“ und Zustimmung wird.6 Man kann zurecht fragen, wozu man Macht noch braucht, wenn Konsens vorhanden ist. Wenn man differenztheoretisch vorgeht und bei Beobachtung ansetzt, dann gewinnt der Begriff eine andere Dimension. In der Beobachtung von Politik wird immer auch das Arbitra¨re der Macht, ihr Ursprung in der sinnlosen Gewalt sichtbar. Einer Gewalt, die sich rechtfertigt, weil sie andere Gewalt unmo¨glich macht, und damit aufho¨rt, Gewalt zu sein. Dieses fortlaufende Decouvrieren der Macht in ihrer Beobachtung provoziert deswegen die stete Suche nach neuen Begru¨ndungen oder Strategien, ihren paradoxen (und arbitra¨ren) Anfang unsichtbar zu machen. Vera¨nderte Begru¨ndungen und Beschreibungen der Macht vera¨ndern auch ihre strukturelle Form. Legitimita¨tskonzepte haben, so kann man es deswegen schließen, weniger die Funktion, Konsens herzustellen, sondern sie wirken daran mit,

6 Siehe hierzu ku¨nftig Rudolf Schlo ¨ gl, Ma¨chtige Kommunikation in der Fru¨hen Neuzeit, in: Macht

und Machtverlust, hg. v. Armin Owzar u. a. (im Druck).

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Stadt – gerade vor dem Hintergrund der ihn begleitenden schriftlichen Dokumentation. Der Schriftgebrauch blieb u¨ber weite Strecken umgekehrt Teil dieser performativen Produktion des Politischen, wie etwa dann besonders sinnfa¨llig wird, wenn „Berichte“ fu¨r Herrschereinzu¨ge bereits vor dem Geschehen gedruckt wurden.9 Natu¨rlich gab es daneben auch Felder, auf denen Schrift nicht nur Aufbewahrung und Verbreitung bewa¨ltigte, sondern zunehmend auch Kommunikation selbst bestimmte. Das Supplikationswesen ist dafu¨r ein Beispiel.10 Aber auf anderen Feldern verha¨lt es sich dann wieder gar nicht so. Wenn die Ratsgremien als Gerichte agierten, bestimmten nicht Schriftsa¨tze und Aktenlauf das Geschehen, sondern die Erfordernisse der performativen Darstellung der Findung und Durchsetzung des Rechts. Die Rechtskodifikationen der Sta¨dte, die seit dem 17. Jahrhundert entstanden, blieben u¨berwiegend additiv, waren in notorisch schlechtem Zustand und blieben weitgehend ohne innere Systematik. Erst recht galt dies alles dort, wo Politik im Bereich des territorialen Staates ihr eigentliches Beta¨tigungsfeld entdeckte, weil Macht dort herausgefordert war und aufgefu¨hrt werden konnte: im Verha¨ltnis zur Umwelt, zu anderen Herren und Herrschaften also. Macht bewahren, Recht haben und Recht behalten blieben, auch wenn darum vor Gerichten Prozesse gefu¨hrt wurden und man Kommissare mit Schlichtungsverfahren beauftragte, Vorga¨nge des gewaltsamen performativen Zeichensetzens, die eigentlich wegen ihrer – der Interaktionskommunikation eben eigenen – Flu¨chtigkeit der Ereignisse nicht zu einem Ende kommen konnten.11 Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts werden hier andere Prozeduren des vertraglich gestalteten Interessensausgleichs und der Interessenswahrung sichtbar. Vera¨ndert man die Blickrichtung vom Prozess auf die Gegensta¨nde politischen Entscheidens in der fru¨hneuzeitlichen Stadt, so werden weitere Indizien fassbar, die fu¨r die konstitutive Bedeutung von Kommunikation im Modus der Anwesenheit sprechen. Die Macht der Ratsgremien in den fru¨hneuzeitlichen Sta¨dten oder besser das Machtgefa¨lle zwischen Rat und Bu¨rgerschaft, blieben notorisch gering. Das war auch den Ratsgremien selbst bewusst und entsprechend vorsichtig war ihre Politik. Sie war u¨ber weite Strecken mit dem Erhalt sozialer Hierarchien und mit der Reproduktion der sozialen Position derjenigen befasst, die sie betrieben. Politik blieb eingebettet in das soziale Stratum und dessen Reproduktion. Die meisten Konflikte, von denen die Forschung lange Zeit als Verfassungskonflikte gesprochen hat, erwiesen sich in ju¨ngerer Zeit bei na¨herem Zusehen als Auseinandersetzungen rivalisierender Familienverba¨nde. Die Oligarchisierung der Ratsgremien, die diese Konflikte hervorbrachte, hatte auf der anderen Seite zur Folge, dass sogar die Unwa¨gbarkeiten der biologischen Reproduktion endogamer Sozialsysteme auf das politische System

9 Vgl. ku¨nftig dazu Sebastian von Stauffenberg, Verga¨ngliche Pracht und „ewiges Geda¨chtnus“.

Mediale Inszenierungsstrategien fru¨hneuzeitlicher Herrschaft am Beispiel der Sta¨dte Dijon und Innsbruck, in: Herrschaft und ihre Medien in der europa¨ischen Stadt der Vormoderne, hg. v. Patrick Oelze u. a., Hannover 2010 (in Vorbereitung). 10 Alexander Schlaak, An den Grenzen des Machbaren. Zur Entstehung von Schriftlichkeit in fru¨hneuzeitlichen Reichssta¨dten am Beispiel des Esslinger Supplikationswesens, in: Esslinger Studien 44 (2005), S. 63–83. 11 Patrick Oelze, Recht haben und Recht behalten, Diss. phil., Konstanz 2009.

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durchschlugen und spa¨testens gegen Ende des 17. Jahrhunderts die entsprechenden Familien ha¨ufig mit der Stellung einer ausreichenden Zahl ratsfa¨higer Ma¨nner u¨berfordert waren. Wahlen hatten unter diesen Bedingungen zwar selektiven Charakter, insofern sich dies auf Professionalita¨t und individuelle Eignung bezog. Grundsa¨tzliche personelle oder programmatische Alternativen machten sie nicht sichtbar. Ihr Hauptzweck war nicht, Machtpositionen u¨ber akkumulierte Stimmenrelationen zu vergeben, sondern die performative Hervorbringung und Inszenierung politischer Macht u¨berhaupt. Im ritualisierten Prozess der Ratswahlen verschwand die Macht, und sie tauchte im kollektiven Handeln aus dem Nichts wieder auf. Die Stadt entstand hier u¨berhaupt als politischer Ko¨rper. Deswegen erinnerten Wahlen die Ratsma¨nner auch stets an ihre Abha¨ngigkeit von der Gemeinde. Das politische Handeln einer solchen Elite blieb defensiv. Man reagierte (auf Fa¨lle, Probleme, Anklagen, Supplikationen), statt zu regieren. Man vermied Entscheidungen oder verzichtete auf deren Durchsetzung. Stattdessen blieb etwa das Gerichtswesen von Schlichtung und Gnade gepra¨gt. Ein „Programm“, das den Code der Macht entfaltet ha¨tte, wurde bis ins 18. Jahrhundert nur in Ansa¨tzen sichtbar. Territorialherren, die es mit Sta¨dten zu tun bekamen, wollten u¨berhaupt keines erkennen. Auch die Polizeiordnungen entwarfen eher ein Programm der restriktiven Verhaltenskontrolle der Bevo¨lkerung, das Prozesse sozialer Differenzierung bremsen sollte, als dass sie Handlungsfelder politischen Gestaltens umrissen ha¨tten. Tatsa¨chlich entwickelte sich, trotz des vielen Schreibens, in der Stadt keine auf sie bezogene politische Theorie oder eine Kameralistik ihrer politischen Ordnung. Als die Stadt schließlich theoretisiert wurde im 18. Jahrhundert, geschah dies, weil man sie als Umwelt des territorialen Staates beobachtete. Wie la¨sst sich eine solche eingebettete, interaktionsbasierte, performative Politik mit einem Code der Macht, der statt auf Gewalt auf Beauftragung setzte, beobachten – wie wurde sie beobachtet? Der erste Schluss, den man aus dem Konzept der Vergesellschaftung unter Anwesenden ziehen muss ist, dass der politische Prozess und seine Beobachtung nur unvollkommen gegeneinander ausdifferenziert waren. Unter diesen Bedingungen konnte man nur als Anwesender beobachten und war deswegen auch stets Teil des politischen Prozesses selbst. Ich habe deswegen vorgeschlagen, von ¨ ffentlichkeit“ zu sprechen. Wer Politik in der fru¨hneuzeitlichen einer „integrierten O Stadt so beobachtete, dass er dabei wiederum beobachtet werden konnte, trieb eben immer schon auch Politik. Was wir u¨ber den Verlauf von Konflikten wissen, besta¨tigt ¨ berlegung. Deswegen versteckten sich Ratsherren mehr noch als Territorialdiese U fu¨rsten hinter dem Arcanum und bestraften noch im 18. Jahrhundert die Verbreitung von jedermann zuga¨nglichen Informationen u¨ber Druckmedien als Geheimnisverrat. Deswegen ließen sie die Bevo¨lkerung u¨ber die „Constitutiones“ der Stadt im Unklaren, so dass deren Vero¨ffentlichung einer der Hauptgegensta¨nde von Unruhen und Aufsta¨nden wurde. Und deswegen nutzten sie auch ihre Zensurhoheit gegenu¨ber der Druckerpresse sehr extensiv. ¨ ffentlichkeit, die sich auf den politischen Raum der Eine medienvermittelte O jeweils einzelnen Stadt bezog, ließ sich unter diesen Umsta¨nden schwer entwickeln. Wohl war die fru¨hneuzeitliche Stadt seit der Reformation der Ort, an dem Flugbla¨tter gedruckt wurden und zirkulierten, auch Flugschriften und die geschriebene Zeitung

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und an dem man mit dem anonymen Pasquil politisch agierte. Die Forschungen zur Reformationsgeschichte haben jedoch gezeigt, dass die Rezeption dieser Texte sehr an die mu¨ndliche Darbietung angebunden blieb. Andreas Wu¨rgler hat mit vielen Belegen darauf hingewiesen, dass sich die performative Kommunikation sta¨dtischer Politik seit dem 17. Jahrhundert mit dem Gebrauch von Schrift und Druck mischte. Meist ging es aber um Aufbewahren. Schrift wurde seit dem 15. Jahrhundert dazu genutzt, Fakten zu schaffen, indem man Geschehenes festhielt und so eine scheinbar unbestreitbare Grundlage fu¨r weiteres Handeln schuf. Oder es ging – seit der Reformation – darum, andere, bislang unbeteiligte Parteien zu erreichen und sie zur Einmischung zu bewegen. Wir wissen auch, dass Ratsgremien u¨ber diese neuen Mo¨glichkeiten politischen Handelns sehr erschraken und sie einzuda¨mmen suchten, weil sie zu Recht eine (im Vergleich zur Interaktionskommunikation) nicht mehr zu kontrollierende Dynamisierung des politischen Raumes befu¨rchteten. Auf Dauer war man mit dieser Restriktionspolitik nicht erfolgreich. Auch Ratsgremien mussten sich auf schriftliche Kommunikation mit der Gemeinde einlassen, aber man blieb skeptisch, vertraute mehr der Zunftversammlung oder einem in Krisenzeiten einberufenen Großen Rat als einer offenen politischen Diskussion in Druckmedien. Viele Indizien sprechen dafu¨r, dass sich daran bis ins 18. Jahrhundert wenig a¨nderte. Das hing auch mit den Medien selbst zusammen. Flugbla¨ttern, die bis gegen Ende des 17. Jahrhundertes ihre Konjunktur hatten, und fast noch mehr der Flugschrift war eigen, dass sie ihre newe Zeytung weniger auf die Eigenrationalita¨t des politischen Raumes bezogen, sondern auf ein heilsgeschichtliches oder wenigstens moralisch-religio¨s aufgeladenes Deutungsmuster. Die zur Nachricht „sa¨kularisierte“ Neuigkeit, die zusammenhangslos in der periodischen Zeitung geboten wurde, und ¨ ffentlichkeit der aus der sich dann seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts die O staatlichen Politik entwickelte, scheint jedenfalls nach den mir bekannten Forschungen in der Stadt keine konstitutive Rolle fu¨r die Formung des politischen Raumes gespielt zu haben. Damit fehlte der Stadt (bezogen auf sie selbst) das Medium der sich selbst erzeugenden „Geschichten“ als Voraussetzung fu¨r die Entstehung eines ra¨sonierenden Publikums. Die ju¨ngst erforschten „Flugblattkriege“, die in gro¨ßeren Sta¨dten wie Ko¨ln oder Hamburg seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts nachzuweisen sind12, widersprechen dem Gesagten nicht. Auch in diesen Fa¨llen etablierte sich ¨ ffentlichkeit, die Politik beobachtete, hier wurden politische und andere Auskeine O einandersetzungen im Medium ha¨ufig anonymer Flugbla¨tter und Drucke gefu¨hrt. ¨ ffentlichkeit“, Die Nutzung der Drucktechnik blieb im Rahmen einer „integrierten O die noch Teil des politischen Prozesses selbst war. Die nur in Ansa¨tzen vorhandene Ausgestaltung einer printmedialen fundierten ¨ ffentlichkeit in der fru¨hneuzeitlichen Stadt hatte Folgen – auch fu¨r die Politik. O ¨ ffentlichkeit der Anwesenheitskommunikation blieb fragmentiert, Die integrierte O topographisch gebunden und wohl auch in ihren Themen fu¨r die Politik nur schwer auszurechnen. Geru¨chte waren kaum zu steuern, der oft gebrauchten perso¨nlichen

12 Daniel Bellingradt, Flugpublizistik und O ¨ ffentlichkeit um 1700. Dynamiken, Akteure und Struk-

turen im urbanen Raum des Alten Reiches, Stuttgart 2011.

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Schma¨hung (auch wenn sie geschrieben sein sollte) war nicht zu begegnen. Der Dis¨ ffentlichkeit personalisierte und ließ Sachprobleme zu Personalproblekurs dieser O ¨ ffentlichkeit insgesamt wohl nur men werden. Deswegen leistete die integrierte O einen geringen Beitrag, um politische Entscheidungen in den Raum der gruppenbezogenen Interessengegensa¨tze in der Stadt zu vermitteln. Da sie immer an der Ehre ansetzte, du¨rfte sie umgekehrt stark dazu beigetragen haben, das agonale Element der politischen Kultur der fru¨hneuzeitlichen Stadt zu sta¨rken. Dies fu¨hrte dann andererseits dazu, Gruppen in den Entstehungsprozess von Entscheidungen jeweils soweit einzubinden, dass nachfolgender Widerstand nicht zu erwarten war. Die Einberufung von Zunftversammlungen und die Erweiterung von Ratsgremien durch einen Großen Rat waren derartige Strategien. Wenn diese Einbindung versa¨umt wurde, war mit Unruhen zu rechnen, in der die Bu¨rger darauf aufmerksam machten, wie sie Politik beobachteten. Auch hier zeigte sich noch einmal die Verschra¨nkung von ¨ ffentlichkeit. Aufla¨ufe vor dem Rathaus waren keine „DemonstraPolitik und O tionen“, sondern in ihnen entstand im performativen Handeln – wie in Wahlen – Macht aus dem Nichts. Entsprechend gefu¨rchtet waren solche Ereignisse bei Ratsma¨nnern. Dass diese performative Beteiligung und Gestaltung des politischen Prozesses die Geschichte der fru¨hneuzeitlichen Stadt bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in unverminderter Intensita¨t kennzeichnete, scheint mir eines der wichtigsten Indizien dafu¨r zu sein, dass sie als Vergesellschaftung unter Anwesenden funktionierte. Die auf unmittelbare Partizipation gegru¨ndete Konsensorientierung der sta¨dtischen Ratsherrschaft ist in diesem Licht eher als Resultat einer bestimmten medialen und kommunikativen Konstellation, denn als Folge einer zukunftsweisenden politischen Struktur anzusehen. Die Ausdifferenzierung des Politischen war ein mu¨hsamer Prozess in der europa¨ischen Gesellschaft der Fru¨hen Neuzeit. Insbesondere musste erst noch gelernt werden, Wahlen zu nutzen, um Entscheidungen zwischen inhaltlichen und personellen Alternativen zu treffen. Das geschah seit der Franzo¨sischen Revolution, aber ¨ ffentlichkeit“ der Stadt hat in diesem Licht im Raum des Staates. Die „integrierte O zu geringen Vera¨nderungsdruck auf die politische Ordnung der Stadt ausgeu¨bt. In ihr entfaltete sich kein wirksamer Legitimita¨tsdiskurs, der das Konzept der politischen Macht herausgefordert und vera¨ndert ha¨tte. Beobachter des 18. Jahrhunderts flu¨chteten sich in dieser Situation in die Karikatur, die die sta¨dtische Politik als eine Mischung aus Entscheidungsschwa¨che und schildbu¨rgerhaftem Aktionismus vorfu¨hrte.

ORTE – AKTEURE – NETZWERKE Zur Konstitution o¨ffentlicher Ra¨ume in einer fru¨hneuzeitlichen Fernhandelsstadt von Susanne Rau

Es gibt wenige Bu¨cher aus der deutschsprachigen Philosophie oder Soziologie, die eine solch anhaltende und internationale Rezeption erfahren haben wie der „Struk¨ ffentlichkeit“ von Ju¨rgen Habermas.1 Von der zentralen Rolle des turwandel der O ¨ ffentlichTextes in der Studentenbewegung, der Diskussion der reformatorischen O ¨ ffentlichkeiten bis zur Entkeit, der Untersuchung literarischer oder plebejischer O ¨ ffentlichkeit beziehungsweise o¨ffentlichen Ra¨umen hatte deckung von Orten der O ¨ bersetbislang jedes Jahrzehnt seine Wiederentdeckung des Buches.2 Nach seiner U zung ins Franzo¨sische (1978) und insbesondere ins Englische (1989) lo¨ste das Buch eine neue Welle der Begeisterung im europa¨ischen Ausland, in den USA, sogar in China aus und belebte indirekt nochmals die deutsche Forschungslandschaft.3 Politische Aktualita¨t gewann das Buch dann noch einmal in einigen osteuropa¨ischen La¨ndern, die nach 1989 die Demokratie neu lernen wollten. Freilich gab es auch nicht wenig Kritik. Die fru¨hen Repliken von Oskar Negt und Alexander Kluge hier einmal beiseitegelassen, haben die Historiker/innen vor allem

1 Ju¨rgen Habermas, Strukturwandel der O ¨ ffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bu¨r-

gerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962.

2 Auf eine ausfu¨hrliche Schilderung der Rezeption des Werkes verzichte ich hier, da sie an anderen Stel-

¨ ffentlichkeit“ und „Kommunikation“ len gut zusammengefasst ist: vgl. etwa Carl A. Hoffmann, „O in den Forschungen zur Vormoderne. Eine Skizze, in: Kommunikation und Region, hg. v. dems./ ¨ ffentliche Ra¨ume in Rolf Kießling, Konstanz 2001, S. 69–110; Susanne Rau/Gerd Schwerhoff, O ¨ berlegungen zu Leitbegriffen und Themen eines Forschungsfeldes, in: Zwider Fru¨hen Neuzeit. U ¨ ffentliche Ra¨ume in Spa¨tmittelalter und Fru¨her Neuzeit, hg. v. schen Gotteshaus und Taverne. O dens., Ko¨ln u. a. 2004, S. 11–52; Ste´phane van Damme, Farewell Habermas? Deux de´cennies d’e´tudes sur l’espace public, in: Les dossiers du Grihl. Historiographie et me´thodologie, URL: [27. 8. 2010]; zur Diskussion des Buches in den Sozialwis¨ ffentlichkeit, in: Habermas-Handbuch, hg. v. Hauke senschaften vgl. Nancy Fraser, Theorie der O Brunkhorst/Regina Kreide/Cristina Lafont, Stuttgart 2009, S. 148–155. 3 Ju¨rgen Habermas, L’espace public. Arche´ologie de la publicite´ comme dimension constitutive de la socie´te´ bourgeoise, Paris 1978, 1986, 1993, 1996, 1997, 1998, 2000, 2003, 2006, 2008; ders., The Structural Transformation of the Public Sphere. An Inquiry into a Category of Bourgeois Society, Cambridge, Mass. 1989; Yu’ergen Habeimasi, Gongtong lingyu de jiegou zhuanxing, Shanghai 1999; zur Rezeption des Konzepts in China vgl. Guobin Yang/Craig Calhoun, Media, Civil Society, and the Rise of a Green Public Sphere in China, in: China Information 21 (2007), S. 211–236, bes. S. 213f.

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Susanne Rau

die schematische Gegenu¨berstellung von repra¨sentativer (vormoderner) und bu¨rger¨ ffentlichkeit kritisiert, sodann die Entstehung von O ¨ ffentlichkeilicher (moderner) O ten immer weiter ru¨ckdatiert4, teils indem die Spezifik mittelalterlicher und fru¨hneu¨ ffentlichkeiten herausgearbeitet wurde, teils indem der diskursive Chazeitlicher O ¨ ffentlichkeiten schon fru¨her als im bu¨rgerlichen Zeitalter ausgemacht rakter von O werden wollte; schließlich wurde auch noch die Bu¨rgerlichkeit der sogenannten bu¨r¨ ffentlichkeit in Frage gestellt.5 gerlichen O Trotz aller Kritik und Bedenken gibt es nach wie vor auch noch viel Zuspruch, allerdings in recht unterschiedlicher Weise: teils kritisch-freundlich, teils in Form von Weiterentwicklungen, teils als pures name dropping. Die Beitra¨ge des mittlerweile recht einflussreich gewordenen interdisziplina¨ren, von Craig Calhoun herausgegebenen Sammelbandes laufen auf die Forderung einer grundlegenden Revision ¨ ffentlichkeitsbegriffs hinaus, ohne dass sie den Begriff komplett des habermasschen O suspendieren wollten.6 Obwohl Habermas grundsa¨tzlich in der Politologie nicht ¨ berlegungen zum O ¨ ffentlichkeitsbegriff zum einen unumstritten ist, scheinen seine U die empirischen Arbeiten, zum anderen die deliberative Demokratietheorie, insbesondere in ihrer transnationalen Variante, positiv beeinflusst zu haben.7 Kritisch¨ ffentlichfreundlich sind weiterhin einige Arbeiten zu vormodernen Varianten von O 8 keit , auch wenn es mehr und mehr einfach nur zum guten Ton zu geho¨ren scheint, den „Strukturwandel“ und seinen Autor zu nennen, ohne dass dies bedeutsame Folgen fu¨r die Konzeption der Arbeit ha¨tte.9 Besonders kurios werden die Bezugnahmen auf Habermas im englisch- oder franzo¨sischsprachigen Kontext, wenn sich die ¨ ffentlichkeit anlehnen: so wird Autoren zu stark an den u¨bersetzten Begriff von O die public sphere ha¨ufig zu wo¨rtlich als Arena oder Spha¨re (miss)verstanden, in der die Privatleute u¨ber Fragen von allgemeinem Interesse diskutieren (statt zu sehen, dass diese ‚Spha¨re‘ erst durch die Diskussionen entsteht und profiliert wird).10 Im

4 Zur Diskussion von „O ¨ ffentlichkeit“ im Mittelalter vgl. v. a. die Arbeiten von Peter von Moos,

¨ ffentlich“ und „privat“ im Mittelalter. Zu einem Problem historischer Begriffsbildung, Heidel„O berg 2004; fu¨r das 17. Jahrhundert vgl. Joan de Jean, Ancients against moderns. Culture wars and the making of a fin de sie`cle; Chicago 1997; He´le`ne Merlin, Public et litte´rature en France au XVIIe sie`cle, Paris 1994. 5 Ute Daniel, How bourgeois was the public sphere of the Eighteenth Century? Or: Why it is important ¨ ffentlichkeit, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 26 (2002), S. 9–17. to historicize Strukturwandel der O 6 Habermas and the Public Sphere, hg. v. Craig Calhoun, Cambridge, Mass., und London 1992. 7 Kommunikation und Entscheidung. Politische Funktionen o¨ffentlicher Meinungsbildung und diskursiver Verfahren, hg. v. Wolfgang van den Daele/Friedhelm Neidhardt, Berlin 1996; Anarchie der kommunikativen Freiheit. Ju¨rgen Habermas und die Theorie der internationalen Politik, hg. v. Peter Niesen/Benjamin Herborth, Frankfurt a. M. 2007. 8 James van Horn Melton, Politics, Culture and the Public Sphere in Enlightenment Europe, Cambridge 2000; ders., The Rise of the Public in Enlightenment Europe, Cambridge und New York 2001. 9 Marc Vacher, Voisins, voisines, voisinages. Les cultures du face-a`-face a` Lyon a` la veille de la Re´volution, Lyon 2007; Anne Be´roujon, Les e´crits a` Lyon au XVIIe sie`cle. Espaces, e´changes, identite´s, Grenoble 2009. – Zu beru¨cksichtigen sind hier freilich unterschiedliche Wissenschaftskulturen: In den meisten franzo¨sischen Universita¨ten ist es bei Dissertationen im Fach Geschichte nach wie vor nicht u¨blich, mit soziologischen oder philosophischen Konzepten zu arbeiten. 10 Fraser, Theorie der O ¨ ffentlichkeit (wie Anm. 2), S. 148: „Nach Habermas’ Sprachgebrauch bezeich¨ ffentlichkeit‘ eine Diskursarena in modernen Gesellschaften, in der ‚Privatleute‘ u¨ber Fragen net ‚O

Zur Konstitution o¨ffentlicher Ra¨ume

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franzo¨sischen Kontext ist die Verlockung immer wieder groß, den espace public (aus dem u¨bersetzten Buchtitel) mit lieu public wie Rathaus, Straße oder Platz oder dem ‚offenen Raum der Stadt‘ gleichzusetzen.11 So werden die Ratha¨user der mittelalterlichen Sta¨dte, insbesondere Italiens natu¨rlich, zu Orten deliberativer Praktiken – und Habermas’ Chronologie damit umgedreht.12 Den Gipfel der Verdrehungen im Bemu¨hen, Habermas neu zu entdecken oder mit Habermas neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen aber bildet die These eines ju¨ngeren Sammelbandes zur Topographie musikalischer Aktivita¨ten in Sta¨dten. Die Autorinnen, der deutschen ¨ ffentlichSprache durchaus ma¨chtig, behaupten in ihrer Einleitung, der Terminus O keit habe im Denken von Habermas keinerlei ra¨umliche Komponente (welche der u¨bersetzte franzo¨sische Titel suggeriere), um im Weiteren festzuhalten, dass es nicht der Ort selbst sei, der eine musikalische Praxis zu einer o¨ffentlichen mache, sondern dass es die soziale Nutzung sei, die den o¨ffentlichen Ort in den o¨ffentlichen Raum ¨ berlegung ist freilich nicht falsch, im Gegenteil, ihr ist viel abzugeeinfu¨ge.13 Diese U winnen, aber mit ihr wird nicht nur eine unno¨tige Front gegenu¨ber Habermas aufgebaut14, sondern sie ignoriert zudem die Forschungen der letzten Jahre.15 von allgemeinem Interesse diskutieren.“ Die Formulierung ‚die Arena, in ...‘ geht hier mo¨glicherweise ¨ bersetzungsproblem zuru¨ck; vgl. auch Jo¨rg Requate, O ¨ ffentlichkeit und Medien als Gegenauf ein U ¨ ffentlichkeit als sta¨nde historischer Analyse, in: GuG 25 (1999), S. 5–32, hier S. 8f. zur Diskussion, ob O Akteur oder als Raum aufgefasst werden soll, „innerhalb dessen sehr verschiedene Akteure agieren“ (ebd., S. 8). 11 Vgl. z. B. Peter Burke, L’espace public et prive´ a` Geˆnes a` la fin de la Renaissance. L’humanisme civique d’Andrea Spinola, in: La ville a` la Renaissance. Espaces – repre´sentations – pouvoirs, hg. v. Ge´rald Chaix (Actes XXXIXe colloque international d’e´tudes humanistes 1996), Paris 2008, S. 99–106; Yann Lignereux, Une place sans visage, un lieu sans usage? La place Bellecour de Lyon, 1562–1713, in: La ˆ ge a` nos jours, hg. v. Laurence Baudoux-Rousseau u. a., Arras place publique urbaine du Moyen A 2007, S. 97–107, bes. S. 100; Mireille-Be´ne´dicte Bouvet, Les places de Nancy au XVIIIe sie`cle, in: De l’Esprit des villes. Nancy et l’Europe urbaine au sie`cle des Lumie`res, 1720–1770, Ausst.-Kat. hg. v. Alexandre Gady/Jean-Marie Pe´rouse de Montclos, Versailles 2005, S. 71–81, bes. S. 71; zum seman¨ ffentlichkeit‘ zu ‚o¨ffentlichen sta¨dtischen Ra¨umen‘ im franzo¨sischsprachigen tischen Abgleiten von ‚O Kontext vgl. Tomas Francois, ¸ L’espace public. Un concept moribond ou en expansion?, in: Geocarrefour. Revue de ge´ographie de Lyon 76 (2001), S. 75–81. 12 L’Espace public au Moyen A ˆ ge, Workshopzyklus 2004–2006, organisiert von Patrick Boucheron/Nicolas Offenstadt, URL: [27. 8. 2010] – auch als Vero¨ffentlichung angeku¨ndigt. 13 Laure Gauthier/Me´lanie Traversier, Introduction, in: Me´lodies urbaines. La musique dans les villes ¨ ffentlichkeit d’Europe (XVIe–XIXe sie`cles), hg. v. dens., Paris 2008, S. 11–21, hier S. 18: „Alors que l’O n’a dans la pense´e d’Habermas aucune spatialite´ [sic !], aucun lieu assigne´, et que le lieu dans la ville ne confe`re en soi aucun caracte`re public, la traduction franc¸aise maintient l’e´quivoque entre ‚espace‘ et ‚lieu public‘. L’exemple de la topographie des activite´s musicales souligne bien cette incertitude, en montrant que le caracte`re public d’une pratique n’est pas de´termine´ par le lieu ou les proprie´te´s architecturales du lieu qui l’accueille, mais bien par l’usage social qui en est fait: c’est cet usage qui l’inse`re ou non dans l’‚espace public‘.“ 14 Vgl. na¨mlich Ju¨rgen Habermas, Strukturwandel der O ¨ ffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bu¨rgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 21991, S. 90–107, sowie Jens Greve, Ju¨rgen Habermas. Eine Einfu¨hrung, Konstanz 2009, S. 26: „Auch kristallisieren sich je nach Staat unterschiedliche Orte heraus, an denen sich das Bu¨rgertum versammelt und die Infrastruktur der bu¨rgerlichen Gesellschaft ausbildet. In England sind es die Kaffeeha¨user, in Frankreich die Salons und in Deutschland zuna¨chst die gelehrten Tischgesellschaften.“ 15 Zwischen Gotteshaus und Taverne (wie Anm. 2); Offen und verborgen. Vorstellungen und Praktiken ¨ ffentlichen und Privaten in Mittelalter und Fru¨her Neuzeit, hg. v. Caroline Emmelius u. a., Go¨tdes O

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Man kann zurzeit leicht den Eindruck gewinnen, dass jeder Interpret des Werkes genau das hineinliest, was sich in sein Konzept fu¨gt, gerade so, als wolle man der Rezeptionsa¨sthetik16, die sich freilich prima¨r auf die Rezeption von Kunst und Literatur durch Betrachter und Leser bezieht, einen Musterfall liefern. Ich mo¨chte mich im Folgenden von dieser Art der Werkexegese distanzieren, nicht ohne die Gru¨nde ¨ ffentlichkeidafu¨r anzugeben. Rekapituliert man die Forschungen zu historischen O ten17, so la¨sst sich durchaus festhalten, dass Habermas’ Thesen auf die Geschichtswissenschaft, wenn auch ha¨ufig in kritischer Auseinandersetzung mit ihm, lange Zeit inspirierend gewirkt haben. Inzwischen aber hat die Exegese ein Stadium erreicht, in der sie durch eine eklektische und widerspru¨chliche Rezeption gekennzeichnet ist, in der Habermas – vielfach zu Recht, was die historischen Befunde betrifft – kritisiert wird, damit aber auch an Habermas’ eigentlichen Intentionen vorbeigeht. Statt den Autor des „Strukturwandels“ sta¨ndig fu¨r etwas zu kritisieren, was fu¨r seine Theorie gar nicht relevant ist, ist man besser beraten, sich nicht la¨nger auf ihn direkt zu beziehen, um entweder mit einem alternativen Konzept zu arbeiten, wie es z. B. Andreas Gestrich vorschlug18, oder aber, um zuna¨chst einmal wieder selbst zu u¨ber¨ ffentlichkeit (historisch) relevant ist und welche Aussalegen, ob die Kategorie O gen man damit u¨ber (historische) Gesellschaften treffen mo¨chte. Denn die Probleme, die die Historiker und Sozialwissenschaftler in Bezug auf seine Theorie festgehalten haben, werden bestehen bleiben, da er den Einwa¨nden gegenu¨ber nur partielle Zugesta¨ndnisse gemacht hat.19 Ein erstes Problem ist die Vermischung von normativer und historischer Ebene, zumal sich letztere aufgrund des historischen Erkenntnisprozesses sta¨ndig weiter entwickelt. Habermas aber stellte diese Verbindung damals ausdru¨cklich her. Anders als Historiker oder Soziologen wollte er ja gerade nicht zeigen, wie die Welt war oder ist, sondern wie sie sein sollte. Damit aber die normativen Maßsta¨be in einer kritischen Theorie der Gesellschaft, die er zu entwickeln im Begriff war, nicht beliebige sind, sondern eine empirische Referenz haben, hat er den Idealtypus der bu¨rgerlichen Gesellschaft aus einer konkreten historischen

¨ ffentliche Ra¨ume in der Stadt Salzburg, hg. v. Gerhard Ammetingen 2004; Rathaus – Kirche – Wirt. O rer/Thomas Weidenholzer, Salzburg 2009; und freilich geht nicht von jedem x-beliebigen Ort ein o¨ffentlicher Charakter aus (vgl. Anm. 11). Doch wenn es sich um einen sta¨dtischen und zudem vielleicht noch allgemein zuga¨nglichen Ort handelt, gibt es gute Chancen, dass auch die musikalische Auffu¨hrung, die an/in ihm stattfindet, als o¨ffentlich wahrgenommen wird. Hier ha¨tte eine Bescha¨ftigung mit relationalen Raumkonzepten, wie sie in der kritischen Geographie und der Raumsoziologie weit verbreitet sind, nicht geschadet. 16 Vertreter dieses literaturtheoretischen Ansatzes (z. B. Hans Robert Jauß, Wolfgang Iser) wandten sich seit den 1960er Jahren gegen werkimmanente und produktionsa¨sthetische Ansa¨tze und betonten statt dessen die Rolle der Leser und die sich historisch wandelnden Erwartungshorizonte fu¨r die Entschlu¨sselung der Bedeutung von Texten. 17 Vgl. Anm. 2 sowie die wichtigen begriffsgeschichtlichen Untersuchungen: Lucian Ho ¨ ffent¨ lscher, O ¨ ffentlichkeit lichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der O ¨ ffentlichkeit. Geschichte eines kritischen Begriffs, hg. v. Peter in der fru¨hen Neuzeit, Stuttgart 1979; O Uwe Hohendahl, Stuttgart/Weimar 2000. 18 Andreas Gestrich, The Public Sphere and the Habermas Debate, in: German History 24 (2006), S. 413–430. Gestrich bezieht sich hier auf die Systemtheorie von Niklas Luhmann. 19 Vgl. dazu das Vorwort zur Neuauflage von 1990; Habermas, Strukturwandel (wie Anm. 14). S. 11–50.

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Situation entwickelt.20 Doch genau dies bildet eine gefa¨hrliche Angriffsfla¨che, auf die sich die Empiriker stu¨rzen, wobei sie dann oftmals von der irrigen Idee geleitet werden, mit Empirie ko¨nne man Theorien widerlegen. Ein anderes Problem ist ¨ ffentlichkeit vor allem eine ma¨nnliche (und und bleibt, dass die ideale bu¨rgerliche O weiße) zu sein scheint. Dass Frauen lange Zeit nicht dieselben Chancen zu politischer Teilhabe hatten, du¨rfte auch Habermas nicht fremd gewesen sein, aber er sah eben nicht, dass es fu¨r sie andere Mo¨glichkeiten der Einflussnahme gab und dass sie eigene Formen der gesellschaftlichen Partizipation entwickelten.21 Bleibt diese Erkenntnis unberu¨cksichtigt, besteht immer wieder die Gefahr, einen sogenannten ma¨nnlichen von einem weiblichen – in gesteigerter Form noch u¨berlagert von einem o¨ffentlichen und einem privaten – Bereich quasi substantialistisch voneinander abzugrenzen.22 Ein weiteres Grundproblem ist, dass das Modell aus der Geschichte westlicher Gesellschaften abgeleitet ist und sich deshalb auch die daraus entwickelte Theorie zuna¨chst nur auf westliche Gesellschaften beziehen kann. Neuere Ansa¨tze ver¨ ffentlichkeiten zu entsuchen im Moment, Konzepte fu¨r transnationale, globale O 23 werfen , die nicht mehr das Westfa¨lische System als Rahmen voraussetzen. Wenngleich sich diese ju¨ngeren Arbeiten auf gegenwa¨rtige globale Probleme und die dar¨ ffentlichkeiten beziehen oder die neuen Formen der Kommuaus entstehenden O nikationstechnologie (Handy, Internet etc.) einbeziehen, sollten die transregionalen Aspekte auch fu¨r die Fru¨he Neuzeit nicht unbeachtet bleiben. Auch damals hat sich durchaus nicht alles Relevante nur in der Stadt oder in einem zwischenstaatlichen Rahmen abgespielt, sondern es bildeten sich u¨ber Briefkommunikation, das entstehende Postwesen und den Fernhandel transregionale und erste globale Netzwerke ¨ ffentlichkeiten sind heraus.24 Mit der Reichweite bzw. dem Geltungsbereich von O 20 Ein ihm freundlich gesonnener Wissenschaftsbiograph schrieb dazu: „In seiner Habilitationsschrift

¨ ffentlichkeit suchte Habermas einer epochenspezifischen Formation von Strukturwandel der O ¨ ffentlichkeit ein normatives Potenzial zu entnehmen. Er verfuhr dabei zweigleisig: ideen- und realO geschichtlich.“ Rolf Wiggershaus, Ju¨rgen Habermas, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 52.; vgl. auch Walter Reese-Scha¨fer, Ju¨rgen Habermas, Frankfurt a. M./New York 1992, Kap. 5.3: „Ein normati¨ ffentlichkeit“ (S. 87). ver Begriff von O 21 Joan Landes, Women and the Public Sphere in the Age of the French Revolution, Ithaca 1988. – Ein ¨ ffentlichkeit, vgl. dazu The Black a¨hnliches Argument gilt wohl fu¨r das Verha¨ltnis von Rasse und O Public Sphere. A public culture book, hg. v. Black Public Sphere Collective, Chicago 1995. 22 Vgl. hierzu die Kritik von Seyla Benhabib, Models of Public Space: Hannah Arendt, the Liberal Tradition, and Ju¨rgen Habermas, in: Habermas and the Public Sphere (wie Anm. 6), S. 73–98; Jane Rendall, Women and the Public Sphere, in: Gender & History 11 (1999), S. 475–489; ferner: Claudia Opitz¨ bersetzung in Belakhal, Geschlechtergeschichte, Frankfurt a. M./New York 2010, S. 97–121, zur U ra¨umliche Dimensionen, ebd., S. 100–104. 23 Rudolf Stichweh, The Genesis of a Global Public Sphere, in: Development 46 (2003), S. 26–29; Thomas Olesen, Transnational Publics. New Space of Social Movement Activism and the Problem of Global Long-Sightedness, in: Current Sociology 53 (2005), S. 419–440; Nancy Fraser, Transnationalizing the Public Sphere. On the Legitimacy and Efficacy of Public Opinion in a Post-Westphalian World, in: Theory, Culture & Society 24 (2007), S. 7–30; fu¨r eine historische Perspektivierung auf Europa: Euro¨ ffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert, hg. v. Jo¨rg Requate/ pa¨ische O Martin Schulze Wessel, Frankfurt a. M./New York 2002. 24 Marie-Claire Hoock-Demarle, L’Europe des lettres. Re´seaux e´pistolaires et construction de l’espace europe´en, Paris 2008; Wolfgang Behringer, Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Fru¨hen Neuzeit, Go¨ttingen 2003; zum Fernhandel weiter unten.

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¨ ffentlichwir dann auch bei einem letzten Problem angelangt: der Universalita¨t von O keit. Hier kommt es immer wieder zu einem Missversta¨ndnis zwischen Historikern und Philosophen, denn das Habermassche Versta¨ndnis von Universalita¨t geht nicht schon in der Beobachtung auf, dass die Nachrichten aus aller Welt seit dem 17. Jahrhundert in einigen Metropolen Europas zusammenliefen, was dann z. B. als „uni¨ ffentlichkeit in der Stadt“ bezeichnet wird.25 Diese universelle Nachrichverselle O teno¨ffentlichkeit – gekennzeichnet durch potentielles Informiertsein in einer Stadt u¨ber das Weltgeschehen, Zeitungslektu¨re und eine Nachrichteninfrastruktur – ist gewiss eine wichtige Voraussetzung, partiell vielleicht sogar eine Vorstufe zu einer ¨ ffentlichkeit. Doch Habermas’ Universalita¨t ist in letzter politisch-ra¨sonierenden O Konsequenz philosophisch bzw. als kommunikatives und politisches Ideal zu verstehen, insofern, als er von der grundsa¨tzlichen Mo¨glichkeit der Versta¨ndigung der Menschen (im Medium o¨ffentlich-rationaler Diskussion) ausgeht.26 Hans-Georg Gadamers „Wahrheit und Methode“ diente ihm hier als Bru¨cke zu der spa¨teren Kommunikationstheorie der Gesellschaft.27 Historische Ansa¨tze zu diesem Diskursideal finden sich etwa in der universalen Geltung, die die Aufkla¨rungsphilosophie fu¨r sich beanspruchte, oder auch in der aufkla¨rerischen Vision einer internationalen Gelehrtenrepublik. Ganz abgesehen von der sozial unterschiedlichen Verfu¨gbarkeit u¨ber Ressourcen und damit dem Zugang zu Information, ist die Universalita¨t der Philosophen ein hehrer Anspruch, die Nachrichteno¨ffentlichkeit der Historiker allenfalls eine materielle Basis dazu. Angesichts dieser Grundprobleme, aber auch der immer beliebiger werdenden Auslegung und der Missversta¨ndnisse stellt sich die Frage, ob es nicht besser wa¨re, ¨ ffentlichkeitsbegriff von Habermas ad acta zu legen, doch sogleich auch die den O Frage nach Alternativen. Sehr groß ist die Auswahl nicht, aber wie immer ha¨ngt eine solche Entscheidung auch mit dem Untersuchungsobjekt zusammen, welche im vorliegenden Fall eine fru¨hneuzeitliche Kulturmetropole und Fernhandelsstadt ist. Die Systemtheorie scheidet aus, weil sie nicht mit den zeitgeno¨ssischen Wahrnehmungen und Handlungen der Akteure, welche zu untersuchen mir ein Anliegen sind, kompatibel ist. Richard Sennetts Ansatz ist dagegen akteursbezogener, ihn interessieren jedoch mehr Vera¨nderungen bzw. der Verfall der Formen des o¨ffentlichen Lebens in den modernen Sta¨dten, jedenfalls nach dem 18. Jahrhundert28, wogegen ich der Ent¨ ffentlichkeit im Kontext einer bestimmstehung und den vielfa¨ltigen Formen von O ten Stadt am Beginn der Neuzeit nachgehen mo¨chte. So versuche ich, einen mittle¨ ffentlichkeit eine wichtige ren Weg zu beschreiten: Zuna¨chst setze ich voraus, dass O

25 Vgl. hierzu den Beitrag von Dagmar Freist im vorliegenden Band; vgl. auch Holger Bo ¨ ning, Welt-

aneignung durch ein neues Publikum. Zeitungen und Zeitschriften als Medientypen der Moderne, in: Kommunikation und Medien in der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Johannes Burkhardt/Christine Werkstetter, Mu¨nchen 2005, S. 105–134, der in der Zeitungso¨ffentlichkeit des 17./18. Jahrhunderts noch nicht eine politisch-ra¨sonierende sieht. 26 Vgl. dazu Helga Gripp, Ju¨rgen Habermas. Und es gibt sie doch – Zur kommunikationstheoretischen Begru¨ndung von Vernunft bei Ju¨rgen Habermas, Paderborn u. a. 1984, bes. S. 20–26. 27 Wiggershaus, Habermas (wie Anm. 20), S. 59. 28 Richard Sennett, The Fall of Public Man, Cambridge 1977.

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Beschreibungskategorie von Gesellschaften ist, u¨ber die sich weiterhin nachzudenken lohnt. Dass Habermas sowohl zur Konzeptualisierung dieses Begriffs als auch zu einer schon lange anhaltenden Diskussion einen wichtigen Beitrag geleistet hat, soll keineswegs in Abrede gestellt werden, aber man sollte sein Konzept historisieren, d. h. in den Kontext der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts als auch in den der Frankfurter Schule, die ihn in mehrfacher Hinsicht beeinflusst hat, einordnen.29 Kon¨ ffentlichkeit wir es in Sta¨dten der kret interessiert mich, mit welchen Formen von O Vormoderne zu tun haben, wobei der Blick von vornherein nicht nur auf politische ¨ ffentlichkeiten gerichtet sein soll. Die Wahl einer Stadt als Untersuchungsobjekt O ¨ ffentlichkeiten nur in der Stadt sein konnten; vielmehr heißt auch nicht, dass alle O bietet die Stadt als verdichtete Sozialformation die Chance, recht viele Formen von ¨ ffentlichkeiten zu beobachten, die hier zusammenliefen. Die Wahl der Stadt Lyon O hat mit ihrem Charakter als Fernhandelsstadt zu tun, eine Stadt also, die in vielfa¨ltiger Weise in u¨berregionale Netzwerke eingespannt war und den Blick wegfu¨hrt von der Annahme, eine vormoderne Stadt gehe allein in ihrem Charakter als Anwesenheitsgesellschaft auf.30 Freilich waren auch diese Fernhandelssta¨dte nicht der Normalfall der damaligen Stadt, sondern stehen nur fu¨r einen Sta¨dtetypus. Wahrscheinlich wird eine – sta¨rker als bisher geschehene – vergleichende Analyse unterschiedlicher Sta¨d¨ ffentlichkeit in untertetypen zu der Einsicht fu¨hren, dass es sich mit der Frage der O 31 schiedlichen Sta¨dten auch unterschiedlich verhalten kann. Im Zentrum der Untersuchung steht also zum einen die Frage, welchen Begriff und welche Vorstellungen ¨ ffentlichkeit die damaligen Zeitgenossen hatten. Zum anderen geht es um die von O ¨ ffentlichkeimo¨glichen Formen, Akteure, Reichweiten und Dauerhaftigkeiten von O ten, die sich zum Teil u¨berlagern konnten, teils aber auch sektoriell getrennt blieben – ¨ ffentlichkeit beschra¨nkt waren. Instituund durchaus nicht nur auf die politische O ¨ ffentlichtionalisierte Orte, Wege, Zeiten und Kommunikationspraktiken dieser O keiten sind Komponenten einer Kontingenzreduktion von Gesellschaften und insofern notwendig, als sich eine multifunktionale Metropole nicht ta¨glich neu erfinden kann. Wichtig aber wa¨re dabei auch zu zeigen, in welcher Weise die Orte der Stadt und die Menschen miteinander verbunden waren und dass neben der Schrift auch die Ko¨rper ebendiese Orte zu Netzwerken verbanden und sie eventuell sogar in transregionale Netzwerke einbanden. Zur konkreten Vorgehensweise: Nach einer kurzen Pra¨zisierung, was der Begriff der Netzwerke im Kontext fru¨hneuzeitlicher Stadtgesellschaften und in Verbindung 29 Habermas’ Diagnose des Verfalls bu¨rgerlicher O ¨ ffentlichkeit ist stark von Theodor Adornos Kritik der

Massenmedien beeinflusst. Zu Adorno hatte Habermas stets ein gutes Verha¨ltnis, Max Horkheimer jedoch lehnte die Verkopplung von Theorie und Empirie ab und bewegte ihn dazu, das Institut fu¨r Sozialforschung zu verlassen; vgl. dazu Wiggershaus, Habermas (wie Anm. 20), S. 38–55. 30 Zur fru¨hneuzeitlichen Stadt als Anwesenheitsgesellschaft vgl. Rudolf Schlo ¨ gl, Vergesellschaftung unter Anwesenden. Zur kommunikativen Form des Politischen in der vormodernen Stadt, in: Interaktion und Herrschaft. Die Politik der fru¨hneuzeitlichen Stadt, hg. v. dems., Konstanz 2004, S. 9–60. 31 Auf diesen Punkt hat auch Karen Lambrecht in der Abschlussdiskussion der Mu¨nsteraner Tagung ¨ ffentlichkeit und Kommunikation in ostdeutschen Sta¨dhingewiesen, die ja selbst zu Aspekten von O ten, z. B. Breslau und Krakau, gearbeitet hat; vgl. Karen Lambrecht, Kommunikationsstrukturen und ¨ ffentlichkeiten in ostmitteleuropa¨ischen Zentren um 1500. Forschungsstand und Perspektive, in: O Jahrbuch fu¨r Kommunikationsgeschichte 2 (2000), S. 1–23.

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¨ ffentlichkeitsanalyse leisten kann, werde ich zuna¨chst die materiellen und mit einer O infrastrukturellen Voraussetzungen (Lage, Knotenpunkt, Topographie, Sta¨dtebau) fu¨r die Ausbildung von Netzwerken und deren Verankerung im sta¨dtischen Raum Lyons charakterisieren. In einem weiteren Schritt werde ich eine begriffsgeschichtliche Analyse (o¨ffentlich/o¨ffentlicher Raum) vornehmen. Schließlich werde ich vier unterschiedliche Netzwerktypen vorstellen: klandestine Netzwerke, ein Netzwerk der Kontrolle, Vernetzung der Orte durch Prozessionen, Orte der Gastlichkeit als Vernetzungszentren bzw. gateways. Diese Typologie ist keineswegs erscho¨pfend, ¨ ffentlichkeiten wie unterschiedlikann aber sowohl auf sektoriell unterschiedliche O che Reichweiten eingehen als auch auf zeitgeno¨ssische Wahrnehmungen und auf die Beteiligung der Akteure an der Gestaltung der o¨ffentlichen Orte bzw. an deren Verbindung untereinander.

1.

Netzwerke

Unter den stadtbezogenen Netzwerkkonzepten ist dasjenige von Manuel Castells nicht nur ein weithin bekanntes, sondern auch ein attraktives Konzept, weil er – im Gegensatz zu einer immer noch weit verbreiteten Herangehensweise der Historiker – die Sta¨dte von vornherein in ihren Relationen untereinander betrachtet. Seiner Ansicht nach sind die Sta¨dte heute so miteinander verflochten, dass man ihnen u¨berhaupt nicht gerecht wird, betrachtet man sie nur als Einzelerscheinungen. Manuel Castells’ Netzwerkgesellschaft ist ein Beschreibungsversuch der gegenwa¨rtigen Gesellschaft, in der Wissen und Information zu einem zentralen Faktor des gesellschaftlichen Wandels geworden sind und in der Information – neben den traditionellen Faktoren Arbeit, Boden und Kapital – zu einem wichtigen Wertscho¨pfungsfaktor geworden ist.32 Die Netzwerkgesellschaft des Informationszeitalters wird als Raum der Stro¨me verstanden, der durch ein Zusammenspiel von Knoten und Zentren einerseits, durch einen Kreislauf elektronischer Vermittlung andererseits charakterisiert ist. In diesem Raum ko¨nnen die sozialen Akteure entweder anwesend oder aber – und dies in der Mehrzahl der Fa¨lle – abwesend miteinander kommunizieren. Knotenpunkte sind nicht nur kleine Informationszentren, sondern ko¨nnen sich auch in ganzen Sta¨dten (in der sogenannten informationellen Stadt) konkretisieren. Sie sind wirtschaftliches, technologisches und soziales Zentrum einer Region und gleichzeitig Anschlusspunkt an die globalen Netzwerke verschiedenster Art. Wenngleich ohne elektronische Datenvermittlung, war die europa¨ische Gesellschaft der Fru¨hen Neuzeit in gewisser Weise auch eine Netzwerk-Gesellschaft, insofern erstens soziale, wirtschaftliche und selbst politische Beziehungen kaum je auf

32 Manuel Castells, Die Netzwerkgesellschaft. Das Informationszeitalter: Wirtschaft, Gesellschaft,

Kultur, Opladen 2001; vgl. auch ders., The Networked City. Re´seaux, espaces, socie´te´s, in: Espaces Temps.net, Textuel, 20. 1. 2009, URL: [29. 9. 2010].

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eine Lokalita¨t beschra¨nkt blieben – dies trifft auch fu¨r den Bereich des Politischen zu, der eine dreigliedrige ra¨umliche Konfiguration von o¨ffentlichem Platz, der Kathedrale und, sobald es ihn gab, dem Stadtpalast hervorbrachte33; insofern zweitens Orte der Stadt auf unterschiedliche Art und Weise miteinander verflochten waren und insofern es drittens Knotenpunkte gab, die eine Stadt im Inneren vernetzten, sie aber auch mit der Außenwelt verbanden. Der entscheidende Unterschied zu heute ist hierbei, dass Information noch keinen zentralen Wertscho¨pfungsfaktor darstellten.34 ¨ bertragbarkeit und sollDies und die neuen Technologien erschweren eine einfache U ¨ bernahmen warnen. Dennoch stellt die Netzwerk-Perspekten vor unreflektierten U tive auf die Stadt eine wichtige Erga¨nzung zu einer mikrora¨umlichen Betrachtungs¨ ffentlichweise dar. Fu¨gt man der Netzwerk-Perspektive noch das Kriterium der O ¨ ffentkeit hinzu, lassen sich diese – o¨rtlich situierten oder ra¨umlich vernetzten – O lichkeiten hinsichtlich ihrer Themen bzw. Funktionen sowie hinsichtlich ihrer Reichweiten unterscheiden, die auf eine Stadt begrenzt sein konnten, bis in die Region ausstrahlten – womit dann vor allem Stadt-Umland-Beziehungen in den Blick genommen werden ko¨nnen – oder auch – dies gilt wohl insbesondere fu¨r Handelssta¨dte und Bankenpla¨tze – eine u¨berregionale bis globale Reichweite hatten. Diese verschiedenen relationalen Konfigurationen ko¨nnen sich durchaus auch u¨berlagern, so ¨ ffentlichkeit eine Verdichtung erfa¨hrt und als ein Netzwerk verschiededass die O ner sich u¨berlappender Kommunikationsra¨ume verstanden werden kann, welches ¨ ffentlichkeit sich als multipolar und flexibel erweist. Diese Betrachtungsweise von O na¨hert sich einer Sichtweise, die auch Habermas 1992 in „Faktizita¨t und Geltung“ entworfen hat.35 Neben Castells’ gibt es auch noch andere Netzwerk-Theorien, die in Bezug auf die Stadt entwickelt wurden, auf die hier aber nicht na¨her eingegangen werden soll, weil der Fokus dabei sta¨rker auf Prozessen der Urbanisierung als auf interurbaner Netzwerkbildung liegt, um die es hier weniger geht. Zum einen wa¨re hier an die Ansa¨tze zu denken, die in Abgrenzung zu Walter Christallers Theorie der zentralen Orte – etwa von Josiah C. Russells (1972) oder von Paul Hohenberg und Lynn Hollen Lees (1985) – entwickelt wurden oder die Sta¨dte als gateways zu internationalen Handelsnetzwerken betrachten, wenn nicht als Eingangstore zur Welto¨konomie im Sinne Fernand Braudels oder Immanuel Wallersteins.36 Doch ist die o¨konomische Betrach33 Giancarlo Andenna, Intra ambitum civitatis cariores sunt areae. Ra¨umliche Beziehungen zwischen

politischen und kirchlichen Instanzen in den Stadtkommunen der Lombardei, in: Machtra¨ume der fru¨hneuzeitlichen Stadt, hg. v. Christian Hochmuth/Susanne Rau, Konstanz 2006, S. 217–238; fu¨r das no¨rdliche Italien zusammenfassend auch: Patrick Boucheron, Espace public et lieux publics. Approˆ ge (wie Anm. 12). ches en histoire urbaine, in: L’Espace public au Moyen A 34 Zur Entwicklung des Informationsbegriffs aus den empirischen Verfahren der Vormoderne: Information in der Fru¨hen Neuzeit. Status, Besta¨nde, Strategien, hg. v. Arndt Brendecke u. a., Berlin u. a. 2008. 35 Ju¨rgen Habermas, Faktizita¨t und Geltung. Beitra¨ge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M. 1992. 36 Vgl. Herbert Knittler, Die europa¨ische Stadt in der fru¨hen Neuzeit. Institutionen, Strukturen, Entwicklungen, Wien/Mu¨nchen 2000, bes. die Einleitung, S. 11–21; fu¨r einen wirtschaftshistorischen Ansatz auch Cle´ Lesger, The Rise of the Amsterdam Market and Information Exchange. Merchants, Commercial Expansion and Change in the Spatial Economy of the Low Countries, c. 1550–1630, Aldershot 2006; marktsoziologisch: Harrison C. White, Markets from Networks. Socioeconomic

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tungsweise freilich nur eine von vielen.37 Zum anderen spielen Netzwerk-Theorien immer mehr auch in der Wissensgeschichte eine Rolle. So wurde die Rolle der Lyoner Jesuiten im europa¨ischen Gelehrtennetzwerk thematisiert, dessen Kommunikationsmedien Briefe und eine Zeitschrift waren.38 Unter Zuru¨ckstellung dieser Ansa¨tze soll im Folgenden gezeigt werden, in welch unterschiedlicher Weise o¨ffentliche Orte in Lyon miteinander verflochten sein konnten, welche Funktion und welche Reichweite diese Netze hatten. Verflochten waren die Orte nicht immer im Medium der Schrift oder des Drucks, sondern auch u¨ber Personen, die sich im Raum bewegten, u¨ber Waren, die von einem zum anderen Ort transportiert wurden, oder u¨ber Informationen, die zirkulierten. Solche Netze urbaner o¨ffentlicher Orte wurden also durch Akteure und deren Nutzungen konstruiert und belebt. Bevor ich auf einige ausgewa¨hlte Netzwerk-Typen eingehe, einige Worte zur Stadt Lyon sowie zum Versta¨ndnis von ‚o¨ffentlich‘ und ‚o¨ffentlichen Orten‘ im franzo¨sischsprachigen Kontext der Fru¨hen Neuzeit.

2.

Lyon: Zentrum Europas und Tor zur Welt

Die Stadt Lyon lag in der Fru¨hen Neuzeit im Zentrum Europas bzw. – befragt man die Stadtchronisten, wie etwa Guillaume Paradin39 und die Reisenden, die seit dem 16. Jahrhundert die Stadt besuchten und Berichte hinterließen – eigentlich im Zentrum der Welt: Lyon, par son anciennete´, sa grandeur, sa position, son commerce, est non seulement une des principales villes de France, mais des plus ce´le`bres de l’Europe. Elle est place´e moitie´ en plaine, moitie´ sur une e´minence, presque sur les confins de l’Italie et de la France, et en communication avec l’Allemagne par la Suisse; elle est ainsi l’entrepoˆt des trois pays les plus peuple´s et les plus riches, je ne dirai pas de l’Europe, mais du monde. La Saoˆne

Models of Production, Princeton 2002; aus der Akteursperspektive (Kaufleute): Spinning the Commercial Web. International Trade, Merchants and Commercial Cities, c. 1640–1939, hg. v. Margrit Schulte-Beerbu¨hl/Jo¨rg Vo¨gele, Frankfurt a. M. u. a. 2004. – Aus der ju¨ngeren Diskussion und bislang noch vor allem auf gegenwa¨rtige Sta¨dte bezogen stammt das Konzept der Regiopolen, das Sta¨dte, die außerhalb von Metropolregionen liegen und dennoch eine Knotenpunktfunktion haben, in den Blick nimmt; vgl. Regiopolen. Die kleinen Großsta¨dte in Zeiten der Globalisierung, hg. v. Ju¨rgen Aring/Iris Reuther, Berlin 2008. 37 Zur Erweiterung dieser Perspektive am Beispiel Lyons vgl. Jean-Louis Gaulin/Susanne Rau, Introduction: Lyon vu/e d’ailleurs. Une autre perspective sur l’histoire lyonnaise, in: Lyon vu/e d’ailleurs (1245–1800). E´changes, compe´tition et perceptions, hg. v. dens., Lyon 2009, S. 13–23. 38 Ste´phane van Damme, Les je´suites lyonnais et l’espace europe´en de la presse savante (1690–1714), in: XVIIe sie`cle 57 (2005), S. 499–511. 39 Guillaume Paradin de Cuiseaulx, Me´moires de l’histoire de Lyon, Lyon 1573 [Reprint: Lyon 1985], S. 1.

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et le Rhoˆne, qui la traversent et qui s’y joignent, lui apportent les marchandises de l’Angleterre, de la Flandre, de l’Allemagne et de la Suisse, qui de la` sont transporte´es a` dos de mulet en Savoie; ou bien, par le Rhoˆne, elles vont jusqu’a` la mer, et sont distribue´es en Provence, en Languedoc, et meˆme dans toute la partie orientale de l’Espagne.40 Die der Stadt zugeschriebene Zentralita¨t hatte geographische, politische, wirtschaftliche, aber auch demographische Gru¨nde. Aus geographischer Sicht lag sie in einem ‚Dreila¨ndereck‘, wie man heute sagen wu¨rde, im Einflussbereich von Frankreich, Italien und dem Heiligen Ro¨mischen Reich deutscher Nation. Politisch stellte sie lange Zeit eine Grenzstadt dar, war Ausgangspunkt fu¨r die Italienexpeditionen der franzo¨sischen Ko¨nige und beherbergte fu¨r diesen Zweck mehrfach den franzo¨sischen Ko¨nigshof in der Stadt. In derselben Zeit entwickelte sich die Stadt zu einem Handels- und Finanzzentrum von europa¨ischem Rang. Als solches, aber auch als regionaler Verwaltungsmittelpunkt sowie – seit dem 17. Jahrhundert – als Manufakturstadt zog sie immer viele Fremde aus der Region oder aus anderen La¨ndern an.41 Fu¨r die Entstehung und Transformation o¨ffentlicher Ra¨ume in Lyon waren zwei Entwicklungen mitverantwortlich, die gewissermaßen deren materielle Voraussetzung darstellen: Zum einen waren dies eine Reihe von sta¨dtebaulichen Maßnahmen seit dem Hohen Mittelalter, zum anderen die Entwicklung der kommerziellen Gastlichkeit. Die Stadt Lyon bestand urspru¨nglich einmal aus zwei Siedlungsteilen: der erzbischo¨flichen Stadt und der Ha¨ndlerstadt auf der Presqu’ıˆle. Diese beiden Teile, die durch die Saoˆne getrennt waren, wurden erstmals im 12. Jahrhundert durch eine Bru¨cke miteinander verbunden. Die Bru¨cke war fortan Ligatur, entwickelte sich aufgrund des regen Verkehrs aber auch zu einem a¨ußerst o¨ffentlichen Ort, insofern dort – gleich einem Marktplatz – Prozessionen vorbeikamen, Hinrichtungen stattfanden, Schriften und spa¨ter Pamphlete und Bu¨cher verkauft wurden, Waren aus fernen La¨ndern ausgelegt wurden, Gaukler auftraten, und sie zu einem der sta¨dtischen Symbole wurde – verewigt in dem Siegel der Stadt.42 Seit dem spa¨ten 15. Jahrhun¨ ffnung dert fand eine Reihe von sta¨dtebaulichen Maßnahmen statt, die man als O des Stadtraums bezeichnen ko¨nnte: Straßen, die zuvor nur von Anwohnern genutzt werden konnten, wurden zu Durchgangsstraßen gemacht und es wurde eine Reihe von Pla¨tzen angelegt – teilweise einfach, indem man den Klo¨stern ihre innersta¨dtischen Friedho¨fe wegnahm oder indem Ma¨uerchen eingerissen wurden, um bishe¨ ffnung der rige Innenho¨fe zu sta¨dtischen Pla¨tzen zu deklarieren.43 Diese bauliche O

40 Je´roˆme [= Giovanni, S. R.] Lippomano, in : Le voyage en France. Anthologie des voyageurs europe´ens

ˆ ge a` la fin de l’Empire, hg. v. Jean M. Goulemot u. a., Paris 1995, S. 124. en France, du Moyen A

41 Zur allgemeinen Stadtgeschichte Lyons: Histoire de Lyon des origines a` nos jours, hg. v. Andre´ Pelle-

tier u. a., Lyon 2007 [Reprint der zweiba¨ndigen Ausgabe Le Coteau 1990].

42 Henri Hours, Histoire du pont de Saoˆne. Neuf sie`cles de vie lyonnaise autour du pont de Change,

Lyon 1996; zum Diskurs, der im Kontext eines Bauprojekts einer neuen Bru¨cke u¨ber die Saoˆne im 17. Jahrhundert entstand, vgl. auch Yann Ligneureux, L’e´loquence des lieux. Le pont de Saoˆne a` Lyon en 1635, in: Histoire urbaine 3 (2001), S. 103–117. 43 Bernard Gauthiez, La topographie de Lyon au XVIe sie`cle, in: Lyon, les anne´es Rabelais (1532–1548), Lyon 1994, S. 23–32; Anna Maslakovic, Churchyard and Civic Square. The Production of Public

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Stadt stand teilweise unter demselben Vorzeichen wie der Ausbau des Gastgewerbes: Der Stadtrat war sich bewusst, wie sehr die aufstrebende Messestadt Herbergen und Tavernen beno¨tigte, um die Bedu¨rfnisse der Messeha¨ndler und anderer Besucher der Stadt – zum Beispiel der ko¨niglichen Bediensteten – zu befriedigen.44 Der weitere Ausbau eines Straßen- und Wasserwegenetzes, in dessen Kreuzungspunkt Lyon seit der Antike stand, stellte eine weitere infrastrukturelle Voraussetzung fu¨r die Vernetzung Lyons mit Europa bzw. der ‚Welt‘ dar.

3. Begriffsgeschichtliches

Was ist unter einem o¨ffentlichen Ort in einer Stadt am Beginn der Neuzeit zu verstehen? Obgleich die infrastrukturellen und sta¨dtebaulichen Voraussetzungen seit dem 16. Jahrhundert vorhanden waren, findet man noch keine dauerhafte kritisch¨ ffentlichkeit vor, auch nicht in den Druckwerksta¨tten der europaweit ra¨sonierende O bekannten Kra¨merstraße (Rue Mercie`re) in Lyon. Um nicht einfach die modernen Konzepte auf die Vergangenheit ru¨ckzuprojizieren, sondern um das Profil der Orte und deren Vernetzung untereinander besser analysieren zu ko¨nnen, sollte man bei dem zeitgeno¨ssischen Begriffsversta¨ndnis von public/publicite´ ansetzen. In der ersten Edition des Wo¨rterbuchs der Acade´mie franc¸aise von 1694 heißt es: Public [...] signifie, Tout le peuple en general. [...] l’interest du public doit estre prefere´ a` celuy des particuliers.45 Public ist also die Allgemeinheit, das Gemeinschaftliche, das, was alle betrifft. Das Interesse der Allgemeinheit sei dem partikularen Interesse vorzuziehen. Personen sind in der Regel nur als Mann public, also o¨ffentlich-politisch ta¨tig; dagegen kann bei Frauen nur eine Ha¨ndlerin publique sein, wenn sie fu¨r ihr Gescha¨ft kauft und verkauft oder Vertra¨ge abschließt, ansonsten ist der Ausdruck fu¨r Prostituierte (oder Beleidigungen) reserviert (femme oder fille publique). Als Substantiv schließlich bedeutet publication Vero¨ffentlichung oder Bekanntmachung, le public, wie erwa¨hnt, das Volk im Allgemeinen, und publicite´, was heute Werbung heißt, war ¨ ffentlichkeit begangenes Verbrechen. reserviert fu¨r ein in aller O Auch zum o¨ffentlichen Ort hat die Franzo¨sische Akademie eine Definition gefunden: On appelle, Lieux publics, Les Lieux ou` tout le monde a droit d’aller, comme les Eglises, les marchez, les foires, &c. Wir ko¨nnen also festhalten: Im Franzo¨sischen ist der Gegensatz zu public in der Fru¨hen Neuzeit nicht prima¨r das Geheime – wie

Spaces in Late Medieval and Early Modern Lyon, in: Proceedings of the Western Society for French History 27 (2001), S. 190–199. 44 Jacques Rossiaud, Le Rhoˆne au Moyen A ˆ ge. Histoire et repre´sentations d’un fleuve europe´en, Paris 2007, S. 82; Susanne Rau, Ra¨ume der Stadt – Kulturen der Ra¨ume. Soziabilita¨t und die Transformation von Ra¨umen einer fru¨hneuzeitlichen Stadt (Lyon, ca. 1300–1800), Habilitationsschrift TU Dresden, 2008, Bd. 1, Kap. IV.1. 45 Rau, Ra¨ume der Stadt (wie Anm. 44), Kap. I.2.2.

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im Deutschen, wenn wir Lucian Ho¨lscher und anderen, neueren Studien folgen46 –, sondern das Besondere, Spezielle, Einzigartige, vom Allgemeinen Getrennte, sekunda¨r auch das Eigenartige oder Geheime. Das Wort erscheint fru¨her in substantivierter Form als im Deutschen, wobei dem Volk im Allgemeinen noch lange keine kritischen oder politischen Qualita¨ten zugesprochen wurden. Und schließlich ist die Anwendung des Adjektivs zur Charakterisierung von Ra¨umen wichtig: lieux publics wurden verstanden als allgemein zuga¨ngliche Orte wie Kirchen, Ma¨rkte, Messen, Promenaden und Pla¨tze: ou` tout le monde a droit d’aller. Dies zur Begriffsgeschichte im Franzo¨sischen, wie sie sich in Wo¨rterbu¨chern niedergeschlagen hat.

4.

Netzwerke

Im Folgenden sollen vier verschiedene Netze im Sinne von Konstellationen, die o¨ffentliche Orte miteinander verflochten haben, skizziert werden: die klandestinen Netzwerke, das Netzwerk der Kontrolle, die Vernetzung der Orte durch Umzu¨ge und schließlich noch die Orte der Gastlichkeit als Vernetzungszentren. Fu¨r die Wahl der Netzwerk-Perspektive auf die Orte spricht, dass die meisten o¨ffentlichen Orte auch Orte der Kommunikation waren. Kommuniziert wurden Informationen oder Waren. Das heißt, Informationen wurden direkt ausgetauscht oder medial vermittelt; Waren und Geld, manchmal auch Tiere oder Menschen, wurden ebenfalls ausgetauscht. Diese Kommunikationsprozesse waren nicht auf einzelne Mikrora¨ume – wie etwa ein Wirtshaus oder eine Markthalle – begrenzt, sondern gingen jenseits der Wirtshaustu¨r, also jenseits des singula¨ren, auf wenige Quadratmeter begrenzten Ortes weiter. Ein weiterer Grund fu¨r die Netzwerk-Perspektive ist, dass die zu o¨ffentlichen Ra¨umen vernetzten Orte auch Resultate von Nutzungen und individuellen wie kollektiven Aneignungen sind. Das Medium der Schrift ist dabei nur eines von vielen mo¨glichen Verbindungselementen; Netze werden auch u¨ber Personen, die von Ort zu Ort gehen, oder u¨ber Blicke bzw. im „Bild“ und schließlich auch im Medium des Theaters hergestellt. Und so gibt es eine Vielzahl sozialer Prozesse, die – wenn sie auch grundsa¨tzlich auf Orte angewiesen sind, um sich zu realisieren – u¨ber Orte mit einer festen Position und begrenzter Ausdehnung hinausgehen.

4.1. Klandestine Netzwerke Das Netz, das die Orte des Schwarzmarkts oder informellen Markts umfasst, der sich in heimliche Wareneinfuhr und heimliche Warenproduktion unterscheiden ließe, ist ein Beispiel, anhand dessen sich zeigen la¨sst, wie Orte der Stadt durch Praktiken der

46 Ho ¨ ffentlichkeit (wie Anm. 17); Das Geheimnis am Beginn der europa¨ischen Moderne, hg. ¨ lscher, O

v. Gisela Engel u. a., Frankfurt a. M. 2002.

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Menschen vernetzt werden. Jede Ware konnte theoretisch ein eigenes Netz von Orten und Akteuren ausbilden; in der Praxis aber la¨sst sich beobachten, dass sich die Netze ha¨ufig u¨berlagerten. Diese Netze waren in einer gewissen Weise halb o¨ffentlich und halb geheim, insofern sich der informelle Handel vor den Obrigkeiten im Verborgenen abspielen musste, andererseits aber fu¨r die Agenten inklusive der Kunden sichtbar, jedenfalls auffindbar bleiben musste. Die Gro¨ße bzw. das wirtschaftliche Ausmaß des Lyoner Schwarzmarktes la¨sst sich aus naheliegenden Gru¨nden, insbesondere aufgrund der partiellen Verborgenheit dieses Marktes, nicht genau bestimmen. Die Vielzahl der Klagen und diesbezu¨glichen Polizeiprotokolle la¨sst aber durchaus darauf schließen, dass dieser Markt ein wichtiges Element des Wirtschaftslebens der Stadt darstellte.47 Einzig fu¨r den schwarzen Weinhandel gibt es Scha¨tzungen von den Zeitgenossen, die meinen, dass rund 5–10 % des Weines regelma¨ßig an den offiziellen Kontrollen vorbeigefu¨hrt wurden.48 Der Schwarzmarkt unterlag freilich auch seinen konjunkturellen Schwankungen, nahm z. B. in wirtschaftlichen Krisenzeiten eher zu und war durch eine Diversita¨t der Praktiken gekennzeichnet; jedenfalls setzte sein Funktionieren einen bestimmten Grad an Institutionalisierung der Formen und Orte voraus. Die bevorzugten Orte waren vor allem die sta¨dtischen Randgebiete, d. h. die Viertel St. Paul, St. Georges und St. Just auf der einen Seite, die Croix-Rousse (im Norden der Stadt) und der Vorort La Guillotie`re (im Osten) auf der anderen Seite. In dem auf der Straße nach Paris gelegenen Bourgneuf befanden sich im 17. Jahrhundert gleich eine ganze Reihe klandestiner Metzgereien, in St. Just gab es eine Herberge, die als Warendepot diente. Verkauft wurden die Waren aber auch in aller Freizu¨gigkeit mitten auf der Straße, unter dem Ladentisch oder am (zeitlichen wie geographischen) Rand von Ma¨rkten.49 47 Mehrere Autorinnen und Autoren vertreten inzwischen die These, dass ein Großteil der Warenpro-

duktion und des Handels in der Fru¨hen Neuzeit außerhalb der offiziellen Handwerkervereinigungen stattgefunden habe; vgl. Dean T. Ferguson, The Body, the Corporate Idiom, and the Police of the Unincorporated Worker in Early Modern Lyons, in: French Historical Studies 23 (2000), S. 545–575; Anne Montenach, Une e´conomie de l’ombre. La place de la clandestinite´ dans le petit commerce alimentaire lyonnais au XVIIe sie`cle, in: Clandestinite´s urbaines. Les citadins et les territoires du secret (XVIe–XXe), hg. v. Sylvie Aprile/Emmanuelle Retaillaud-Bajac, Rennes 2008, S. 67–78. Die Erforschung der Schattenwirtschaften ist ansonsten eher Thema der Geschichtsschreibung u¨ber Zeiten des Krieges oder der Okkupation: vgl. Paul Sanders, Histoire du marche´ noir, 1940–1946, Paris 2001; Malte Zierenberg, Stadt der Schieber. Der Berliner Schwarzmarkt 1939–1950, Go¨ttingen 2008. 48 Es gab in Lyon (wie in anderen Handelssta¨dten) wa¨hrend der Fru¨hen Neuzeit immer wieder Debatten u¨ber die Probleme des informellen Handels und den der Stadt dadurch entstehenden Schaden. Obgleich in den Debatten immer wieder Positionen auftauchen, die numerische oder prozentuale Scha¨tzungen vornehmen, zeugt der gesamte Diskurs auch von einem Bewusstsein von der Schwierigkeit einer quantitativen Bestimmung schon allein aufgrund von – z. B. erntebedingten – Schwankungen der Produktion. Auch die vielfa¨ltigen Formen informellen Handels versperren sich einer Quantifizierung. Im Kontext der Vergabe von Steuerpachtvertra¨gen in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts brachten die Gegner der Steuerpacht vor, die Stadt ko¨nne nicht nur die Einnahmen (aus Einfuhr von Wein, ausla¨ndischer Seide, Vieh u. a.) erho¨hen, sondern auch noch den Schwarzhandel (contrebande) um 80 000 Livres (ca. 3,2 % der Einnahmen) reduzieren. Eine vollsta¨ndige Abschaffung dieser Handelspraxis aber hielten schon die Zeitgenossen fu¨r eine Utopie; vgl. Observations dans l’affaire des octrois de Lyon, ca. 1775 (Archives municipales de Lyon, cote 703.114). 49 Vgl. z. B. Archives municipales de Lyon, HH 217 Contraventions aux re`glements des me´tiers, 22. Oktober 1683, 7. Dezember 1684.

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Je nachdem, woher die Waren kamen, waren unterschiedliche Orte in dieser Art von Handelskette mit im Spiel: Suzanne Fumette wurde 1680 von den Vorstehern der Pastetenmacher angeklagt, sie wu¨rde bei sich zu Hause Biskuits und Makronen backen und diese auf der Straße verkaufen.50 Immer wieder wurden auch Fassmacher entdeckt, die Wein oder Essig verkauften, den sie in den Hinterra¨umen ihrer Werksta¨tten lagerten. Die Frau des Ba¨ckers Lape´rouse verkaufte in ihrer Boutique neben Brot auch Fleisch, das sie sich regelma¨ßig besorgte.51 Fu¨r die Beschaffung der Waren gab es im Prinzip zwei Orte: Entweder man holte sich das Fleisch in einer der inoffiziellen Metzgereien oder man begab sich fru¨hmorgens vor die Tore der Stadt, um dort die Ha¨ndler abzupassen, die vom Land kamen, und ihnen die Waren zu „entreißen“, wie es die Polizeiordnungen ausdru¨ckten: accapareurs [Fu¨rka¨ufer] wurden diese Menschen genannt, darunter sehr viele Frauen, die versuchten, auf diesem Weg ein paar Sous fu¨r die Familie dazuzuverdienen. Auch die vielen Hinterho¨fe Lyons boten Gelegenheiten, informell an billigere Waren zu kommen. Wurden die Waren nicht in der Stadt selbst produziert, gab es diverse Wege, sie in die Stadt einzufu¨hren: versteckt unter der Wa¨sche oder in Ko¨rben, wenn die Ha¨ndler sie selbst holten; ansonsten konnten die Waren auch per Boot auf der Saoˆne ankommen oder sie wurden in Sa¨cken u¨ber die Stadtmauer geworfen, danach weiter verteilt und an den bekannten Orten verkauft; manche Ha¨ndler gingen auch gleich direkt zu ihren Gastwirten, die schon auf die billigeren und meist auch besseren Ha¨hnchen, als sie sie ¨ berlebensnotauf dem Wochenmarkt bekommen wu¨rden, warteten ... Vielfach aus U wendigkeit motiviert, entstand ein Netz von Orten eines halb verborgenen Marktes durch dessen Akteure (oder vielmehr mehrere Netze, je eines pro Ware/Warengruppe). Es musste freilich halbwegs flexibel bleiben, um sich der Kontrolle entziehen oder auf konjunkturelle Schwankungen reagieren zu ko¨nnen.52

4.2. Netzwerk der Kontrolle Ein weiteres Netzwerk o¨ffentlicher Orte ist jenes, das durch die Kontrollga¨nge, die sogenannten rondes de nuit oder visites, der sta¨dtischen Polizei hergestellt wurde.53 Da es im fru¨hneuzeitlichen Lyon mindestens sieben verschiedene Polizeien gab, kann

50 Ebd., HH 216 Contraventions aux re`glements des me´tiers, 8. Mai 1680. 51 Ebd., HH 223 Contraventions aux re`glements des me´tiers, 18. Juli 1710. 52 Montenach, E ´ conomie de l’ombre (wie Anm. 47), S. 71: „Loin d’eˆtre de´tache´s les uns des autres, les

diffe´rents espaces urbains et pe´riurbains de l’e´conomie souterraine sont relie´s a` l’occasion par des circulations qui se veulent elles aussi les plus discre`tes possibles.“ Vgl. jetzt auch dies., Espaces et pratiques du commerce alimentaire a` Lyon au XVIIe sie`cle. L’e´conomie du quotidien, Grenoble 2009; zur Bedeutung von Mikrokrediten in der alten Gesellschaft: Laurence Fontaine, L’e´conomie morale. Pauvrete´, cre´dit et confiance dans l’Europe pre´industrielle, Paris 2008. 53 Zu a¨hnlichen Fragen der Einteilung und Kontrolle des Stadtraums in Madrid und Paris vgl.: Brigitte Marin, Les polices royales de Madrid et de Naples (fin XVIIIe-de´but XIXe sie`cle) et les divisions du territoire urbain, in: Revue d’Histoire moderne et contemporaine 50 (2003), S. 81–103; Vincent Milliot, Saisir l’espace urbain: mobilite´ des commissaires et controˆle des quartiers de police a` Paris au XVIIIe sie`cle, in: ebd., S. 54–80.

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an dieser Stelle nicht auf alle eingegangen werden.54 Der Fokus wird auf eine sta¨dtische Polizei des 18. Jahrhunderts gerichtet, bei der die Verbindungen der Orte, die ra¨umlich auseinanderliegen, besonders augenfa¨llig werden. Meist gegen Mitternacht ging ein Polizeikommissar, begleitet von einem Bogenschu¨tzen, einer Handvoll Soldaten und einem Sekreta¨r auf seine Tour. Eine solche Truppe war jeweils fu¨r einen der Sektoren der Stadt zusta¨ndig, die zu diesem Zweck gebildet wurden: Vor 1745 waren es sechs, danach zehn Reviere, deren lieux publics, also o¨ffentlichen Orte – so lautete die Anweisung in der Policeyordnung – von jeweils einer Truppe kontrolliert werden sollten. Tagsu¨ber waren damit eher die Ma¨rkte, allen voran der Fischmarkt, wo sie z. B. darauf zu achten hatten, dass keine toten Tiere verkauft wurden, sowie die La¨den gemeint, die im Verdacht standen, gefa¨lschte Maße zu verwenden (z. B. die Ba¨ckereien). Nachts jedoch waren die Weinschenken, die Kaffeeha¨user und die Billardsalons im Visier dieser Kontrollgruppen. Durch die Organisation und die Praktiken der fru¨hneuzeitlichen Policey wurde ein KontrollNetz, das sicher großmaschig war, u¨ber die Stadt gelegt, dessen Fa¨den – gebildet durch die Patrouillen – die Orte der Soziabilita¨t des jeweiligen Reviers miteinander verbanden. Zusammengefu¨hrt wurden die zehn Netze dann in dem Bu¨ro des Polizeileutnants der Stadt. Die in dem Gesamt-Netz erfassten o¨ffentlichen Orte bilde¨ ffentlichkeit‘ der Stadt aus ordnungspolitischer Sicht ab. So wurde ten somit die ‚O ¨ ffentlichkeit u¨ber die Verbindung der sogenannten o¨ffentlichen also die Gesamt-O Orte hergestellt: Herrschte Ordnung am einzelnen Ort, so die Vorstellung von Stadt¨ ffentlichkeit geregelt. Diese Orte waren aber rat und Polizei, war auch die Gesamt-O nicht allein wegen ihrer allgemeinen Zuga¨nglichkeit o¨ffentlich, sondern sie wurden in den Policeyordnungen deshalb als lieux publics bezeichnet, weil die sta¨dtischen Institutionen der Macht sie in ihrer allgemeinen Zuga¨nglichkeit, die dem bien public dienen sollte, zu regeln und zu kontrollieren beanspruchten. So waren die Patrouillen nicht zuletzt der verko¨rperte symbolische Ausdruck fu¨r die Besetzung und Pra¨gung des Stadt-Raumes mit den obrigkeitlichen Ordnungsvorstellungen.

4.3. Vernetzung der Orte durch Prozessionen am Beispiel von „La ville de Lyon en vers burlesques“ (1683) Ein weiterer – in der fru¨hneuzeitlichen Stadt regelma¨ßig wiederkehrender – Anlass, bei dem Orte der Stadt miteinander in Beziehung gesetzt und dadurch eigens hervorgehoben wurden, waren die Prozessionen. Es gab verschiedene Formen, Anla¨sse und Wege, auf die die Forschung bereits eingegangen ist.55 Ein bestimmtes burleskes

54 Zur fru¨hneuzeitlichen Policey in Lyon: Andrea Iseli, „Bonne police“. Fru¨hneuzeitliches Versta¨nd-

nis von der guten Ordnung eines Staates in Frankreich, Tu¨bingen 2003; Susanne Rau, Public order in public space: tavern conflict in early modern Lyon, in: Urban History 34 (2007), S. 102–113, bes. S. 110f. 55 Vgl. zuletzt Jacques Rossiaud, Processions de l’Ascension et paysage religieux a` Lyon, a` l’aube des Temps modernes, in: Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne, hg. v. Susanne Rau/Gerd Schwerhoff, Mu¨nchen/Hamburg 2008, S. 72–89.

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Theaterstu¨ck von 1683 soll herausgegriffen werden, weil sich daran die Vernetzung der Stadt-Orte im Medium eines Bewegungstheaters aufzeigen la¨sst.56 Zwar gibt es keine Zeugnisse daru¨ber, ob es je real aufgefu¨hrt wurde, doch wurden diese „Burlesken Verse“ immerhin publiziert. Ihre Besonderheit liegt darin, dass sie sich wie ein Stadtfu¨hrer lesen lassen, der viele allta¨gliche Orte auffu¨hrt und diese durch ihre typischen Nutzungen, jedoch ironisch verdreht, charakterisiert. Der Weg bezog rund 30 Stationen ein, den jeder Leser dieses gu¨nstig zu erwerbenden Drucks gedanklich nachvollziehen oder nachlaufen konnte. Die Besichtigung der Stadt startete an der alten Saoˆnebru¨cke, verließ den Wechselplatz nach links in die Rue Saint-Jean, fu¨hrte am Gouverneurs- und am Justizpalast vorbei bis zum Kathedralkomplex. Dann ging es den Berg hinauf nach Saint-Just, um von dort den Weg außerhalb der Stadtmauern wieder hinunter zur Saoˆne zu nehmen, vorbei an der Rochus-Kapelle. Nach der Besichtigung der Abtei Ainay, der Place Bellecour und des Hospitals ging es auf der Halbinsel zwischen Rhoˆne und Saoˆne wieder nach Norden, durch die Rue Mercie`re und am Rathaus vorbei auf den anderen Hu¨gel der Stadt und dann abermals vor die Tore, in den Vorort Croix-Rousse. Von dort wurde der Weg zuru¨ck u¨ber das Karta¨userkloster genommen, entlang der Rhoˆne weiter nach Norden zum Stadttor Halincourt, u¨ber den Fluss nach Vaize und von dort zuru¨ck in den rechts der Saoˆne liegenden Teil der Stadt. In der Ho¨he von Saint-Paul, also noch vor dem Wechselplatz, ging es wieder u¨ber die Saoˆne, um direkt zur neuen Fischhalle zu kommen. Von dort aus erfolgte die Besichtigung des kleinen Viertels um die Platie`re-Kirche, um dann den Abschluss in dem unvermeidlichen Gasthaus „La Pareille“ zu finden. Das lokale Bezugssystem der Verse ist letztlich komplizierter als in der hier linearsukzessiv beschriebenen Weise, u. a. weil an bestimmten Orten Verweise auf andere Orte der Stadt gemacht werden, z. B. wenn die Buchha¨ndlerin auf der Saoˆnebru¨cke sagt, ihre Bu¨cher seien billiger als die in einer Buchhandlung an der Place Bellecour. Dadurch werden nicht nur die Orte im Stadtraum dichter vernetzt, sondern es dru¨ckt sich auch eine Konkurrenz zwischen den Orten aus, die von den Figuren des Stu¨cks und damit auch den Lesern selbst konstruiert wird. Ob Straßen oder Pla¨tze, Klo¨ster oder Kirchen, Schenken oder Herbergen, Ma¨rkte oder Metzgereien, ja selbst der Gouverneurspalast und das Rathaus: Immer handelte es sich hier um die im zeitgeno¨ssischen Versta¨ndnis o¨ffentlichen Orte, die zwar von den Obrigkeiten reglementiert und kontrolliert wurden, bei denen die Schranke des Zugangs generell niedrig hing oder verhandelbar war – Orte, an denen die Marktfrauen miteinander schwatzten (statt ihre Waren zu verkaufen), an denen Ausrufer ihre Waren feilboten oder Mitteilungen machten, Angeklagte freigesprochen oder Henker hingerichtet wurden. Selbst das Rathaus wurde betreten, um dort die Sa¨le mit den Gema¨lden und Skulpturen zu besichtigen. Und im Gouverneurspalast, so heißt es zwei Jahre vor der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685), sei eine Komo¨die u¨ber ein neu erlassenes Hugenottenedikt gegeben worden. Die sanfte Kritik an den Verha¨ltnissen war also an die Nutzung der o¨ffentlichen Orte gekoppelt, diese wurde

56 La Ville de Lyon en vers burlesques 1683. Re´impression de l’e´dition conserve´e a` la bibliothe`que de

l’Arsenal, hg., eingel. u. komm. v. Euge`ne Vial, Lyon 1918.

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¨ ffentu¨ber den Druck verbreitet – und u¨ber dieses Medium konnte wiederum eine O lichkeit erreicht werden, die jenseits der besichtigten Lyoner Stadt-Orte lag.

4.4. Orte der Gastlichkeit als Vernetzungszentren oder „gateways“ Nachdem Gastha¨user lange Zeit nur ein Thema der a¨lteren Kulturgeschichtsschreibung oder der außerakademischen Lokalgeschichte waren, erscheinen sie seit den grundlegenden Studien von Hans Conrad Peyer, Noe¨l Coulet, Daniel Roche u. a. im Schnittfeld der Geschichte der Kommunikation, des Konsums, des Reisens und der Soziabilita¨t (inklusive der Gewalt).57 Ihr multifunktionaler Charakter macht sie ¨ ffentlichkeit, an denen kurzfristig sogar soziale oder Geschlechauch zu Orten der O ter-Grenzen u¨berschritten werden konnten.58 Im Kontext der hier interessierenden Frage nach einer ada¨quaten Bestimmung der Mo¨glichkeiten und Formen vormo¨ ffentlichkeiten ko¨nnen die Orte der Gastlichkeit auch in ihrer Rolle als derner O sta¨dtische Knotenpunkte sowohl lokaler als auch u¨berregionaler Sozialzusammenha¨nge betrachtet werden.59 Dieser u¨berregionale, bisweilen sogar globale Aspekt von ¨ ffentlichkeit ist in Habermas’ Theorie allenfalls ansatzweise, na¨mlich in den LonO doner Kaffeeha¨usern des 18. Jahrhunderts, in denen die Nachrichten aus der ganzen ¨ ffentWelt zusammenliefen, zu greifen – nicht jedoch unter dem Aspekt, dass sich O lichkeiten in multizentrischen Netzwerken mit unterschiedlichen Reichweiten konstituieren ko¨nnen. In einer Fernhandelsstadt wie Lyon zeichneten sich solche Strukturen jedoch schon seit Mitte des 15. Jahrhunderts ab und fanden ihre Verra¨umlichung in den viermal ja¨hrlich stattfindenden Messen sowie im Ausbau des kommerziellen Gasthauswesens. Die Gasthaustypen waren in einer fru¨hneuzeitlichen Großstadt freilich schon recht vielfa¨ltig: Herbergen – Weinschenken – Kaffeeha¨user wa¨ren nur die Haupttypen, zu denen rund zehn weitere Subtypen (mit unterschiedlichen Funktionen sowie auch Beziehungen untereinander) kommen, auf die an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann. Die Konzentration erfolgt im Folgenden vielmehr auf die Herber¨ ffentlichkeit einerseits, gen, die in ihren Eigenschaften als Zentren innersta¨dtischer O 57 Hans Conrad Peyer, Von der Gastfreundschaft zum Gasthaus. Studien zur Gastlichkeit im Mittelalter,

ˆ ge, in: L’homme Hannover 1987; Noe¨l Coulet, Les hoˆtelleries en France et en Italie au Bas Moyen A ˆ ge et aux Temps modernes, Auch 1982, S. 181–205 u. a.; et la route en Europe occidentale au Moyen A Daniel Roche, Le peuple de Paris. Essai sur la culture populaire au XVIIIe sie`cle, Paris 21998; Robert Muchembled, L’invention de l’homme moderne. Sensibilite´s, mœurs et comportements collectifs sous l’Ancien Re´gime, Paris 1988; Susanne Rau, Orte der Gastlichkeit – Orte der Kommunikation. Aspekte der Raumkonstitution von Herbergen in einer fru¨hneuzeitlichen Stadt, in: Kirchen, Ma¨rkte und Tavernen. Erfahrungs- und Handlungsra¨ume in der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Renate Du¨rr/Gerd Schwerhoff (Zeitspru¨nge 9, 3–4), Frankfurt a. M. 2005, S. 394–417. 58 Beat Ku ¨ min, Useful to have, but difficult to govern. Inns and taverns in early modern Bern and Vaud, ¨ ffentliche Ra¨ume (wie in: Journal of Early Modern History 3 (1999), S. 153–175; Rau/Schwerhoff, O Anm. 2), S. 27f.; Susanne Rau, Das Wirtshaus. Zur Konstitution eines o¨ffentlichen Raumes in der Fru¨hen Neuzeit, in: Offen und verborgen (wie Anm. 15), S. 211–227. 59 Zu generelleren Aspekten einer Geschichte der Gastlichkeit vgl. Le livre de l’hospitalite´, hg. v. Alain Montandon, Paris 2004.

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als gateways regionaler und u¨berregionaler Zusammenha¨nge andererseits betrachtet werden sollen. Um diese Funktionen na¨her aufzuzeigen, wird im Folgenden kurz auf die Entstehung und Entwicklung des Herbergswesens eingegangen, dann auf das – sich vera¨ndernde – Platzierungsmuster innerhalb der Stadt, schließlich auf die Herkunft der Ga¨ste. Die Quellen zur Beantwortung dieser Fragen sind vielfa¨ltig, d. h. man kann solche Fragen eigentlich nur durch Heranziehung sehr verschiedener Dokumente (Adressregister, Straßenverzeichnisse, Karten, Verkaufsvertra¨ge, Testamente, ¨ berGerichtsakten, Selbstzeugnisse etc.) beantworten. Aufgrund der glu¨cklichen U lieferung von zwei Torregistern aus der zweiten Ha¨lfte des 17. Jahrhunderts aber wissen wir u¨ber die Herkunft von ca. 6000 Menschen in einem Zeitraum von 20 Jahren Bescheid. Sie lassen sich nach Stand und Geschlecht unterscheiden; aufgrund der Tatsache, dass es sich um die zwei no¨rdlichen Stadttore handelt, sehen wir wenige Menschen aus dem Su¨den, aus Spanien. Das Gros kam aus Paris und aus Genf sowie aus den Sta¨dten der Schweizer Eidgenossenschaft, u¨ber die Alpen aus Italien, aus Oberdeutschland, vereinzelt aber auch aus Ungarn, Flandern und England. Aufgrund der Standeszugeho¨rigkeit und einiger weiterer einzelner Hinweise la¨sst sich scha¨tzen, dass rund ein Viertel der Menschen aus religio¨sen (hoher Klerus, Pilger), politischen oder administrativen Gru¨nden in die Stadt kam (Beamte). Ein weiteres Viertel suchte die Stadt im Kontext von Handelsta¨tigkeiten auf, nicht zuletzt anla¨sslich der Messen oder der Wochenma¨rkte. Es gab vereinzelt einige Studenten sowie fru¨hentwickelte Touristen – der Rest ist Spekulation. Anzunehmen ist, dass eine weitere große Gruppe einen Besuch bei der Se´ne´chausse´e, dem ko¨niglichen Gericht, abstatten wollte (Kla¨ger wie Angeklagte). Die These ist also, dass sich in den Empfangsstrukturen die Außenbeziehungen und dynamischen Netzwerke der Stadt spiegeln – jedenfalls die, die durch menschliche Ko¨rper und deren Fortbewegung gebildet wurden. Jeweils andere Bilder wu¨rde die Analyse der Korrespondenzen des Stadtrats – fu¨r die politischen Beziehungen – oder der Fernhandelskaufleute bzw. die Wechselbriefe – fu¨r die reinen Handels- und ¨ berliefeFinanzbeziehungen – ergeben, doch stellt bei letzteren die inkonsistente U rungslage ein Problem dar. Die fru¨hneuzeitlichen Herbergen aber waren die zentralen Knotenpunkte der Stadt – und dies fu¨r verschiedene gesellschaftliche Bereiche und mit unterschiedlichen geographischen Reichweiten. Die heutigen Hotels, aber auch andere Durchgangsorte wie etwa Bahnho¨fe oder Flugha¨fen mit ihrer je eigenen Infrastruktur erfu¨llen partiell noch solche Funktionen, sind aber weit weniger Orte der innersta¨dtischen Soziabilita¨t.60 Zwar nicht die Entstehung der kommerziellen Gastlichkeit, aber doch ihr Aufschwung im spa¨ten 15. Jahrhundert la¨sst sich in Lyon mit dem demographischen und wirtschaftlichen Aufschwung im Zuge der Befriedung der Region und der Entstehung der Messen erkla¨ren. Wa¨hrend sich fu¨r das Jahr 1350 22 Herbergen nachweisen lassen, waren es um 1450 55 und 1520 schon

60 Zu solchen Nicht-Orten der heutigen Zeit vgl. Marc Auge´, Non-lieux. Introduction a` une anthropolo-

gie de la surmodernite´, Paris 1992, dessen negatives Bild dieser anonymisierten Orte man jedoch nicht teilen muss.

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108, wobei gleichzeitig die Anzahl der Betten in den Hospizien zuru¨ckgegangen war. Um 1600 sind kurzfristig 210 offizielle Herbergen, d. h. solche mit Schild, in den Quellen greifbar.61 Auch ihre ra¨umliche Verteilung in der Stadt a¨nderte sich allma¨hlich. Bis etwa zur Mitte des 16. Jahrhunderts befanden sie sich hauptsa¨chlich in den beiden Rues des Habbergeries (Herbergsstraßen), diesseits und jenseits der Saoˆne, auf der Halbinsel jedoch immer mehr auch in der Rue Mercie`re, einer Hauptdurchgangsstraße, der Rue Grenette und der Rue Lanterne, wo sich allma¨hlich ein drittes Zentrum herausbildete. Die Herbergsstraße auf der Fourvie`re-Seite war die Verla¨ngerung der vom Landesinneren oder auch von Paris in die Stadt fu¨hrenden Straße, auf der man zum Wechselplatz (im Kirchspiel St. Paul) oder auch zum weiter su¨dlich gelegenen erzbischo¨flichen Palast in St. Jean kam. Die Lage der Herbergen war also anfa¨nglich stark vom Durchgangsverkehr gepra¨gt, was sich jedoch nicht u¨ber die Mitte des 16. Jahrhunderts aufrechterhalten ließ, denn das Netz der Herbergen wurde zunehmend gro¨ßer, die Zentren vermehrten und verlagerten sich. Bezeichnend dafu¨r ist das Verschwinden der „Herbergsstraßen“ aus den Quellen. Ende des 17. Jahrhunderts, fu¨r das die Torregister mit ihren 90 erwa¨hnten offiziellen Herbergen ein Bild zu zeichnen erlauben, befand sich nur noch rund ein Drittel der Herbergen auf der Fourvie`re-Seite. Dies ko¨nnte eine Reaktion auf die Demographie der Stadt sein, ist aber wohl vor allem ein Zeichen dafu¨r, dass sich auf der Halbinsel ein wichtiges wirtschaftliches Zentrum, aber auch ein neues politisches Zentrum der Stadt, die nun endlich auch ihr Rathaus als politischen Eigenraum bekommen hatte, ausgebildet hat. Die meisten Reisenden der ho¨heren Gesellschaftsschichten, die in den Registern verzeichnet sind, wa¨hlten na¨mlich selbst dann, wenn sie auf der Straße von Paris durch das Vaise-Tor in die Stadt gelangten, gar nicht eine der Herbergen auf der Fourvie`re-Seite, sondern gingen direkt u¨ber die SaoˆneBru¨cke in eine Herberge auf der Halbinsel. Ein erstes Herbergszentrum hatte sich hier mittlerweile um die Place des Terreaux und das Rathaus gebildet, ein viel gro¨ßeres noch im su¨dlicheren Bereich um den Tempelhafen, die Place Bellecour und das Hospital. Dies war auch der Bereich, in dem die meisten Reisenden aus Genf oder aus der Dauphine´, wenn sie u¨ber die Rhoˆne-Bru¨cke in die Innenstadt gekommen waren, logierten, wa¨hrend sich ein anderer Teil der Ga¨ste, vorbei am Jakobinerkloster, durch die von Buchdruckern und -ha¨ndlern wimmelnde Rue Mercie`re, und an St. Nizier, der Hauptkirche der Halbinsel, oder aber durch die engen Gassen des Viertels La Croisette, bis in den su¨dlichen Bereich der Terreaux vorarbeitete. Fu¨r das 18. Jahrhundert la¨sst die Quellenlage leider nicht die Rekonstruktion eines konsistenten Bildes zu. Doch verstreute Hinweise in den Quellen deuten darauf hin, dass Herbergen nun auch in Gebieten der Stadt ero¨ffneten, fu¨r die es zuvor keine Nachweise gab. Dies betrifft in erster Linie die im 18. Jahrhundert neu entstandenen oder dichter besiedelten Gebiete wie das von Jacques-Germain Soufflot62 konzipierte Viertel St. Clair oder den Bereich zwischen Bellecour und Abtei Ainay, aber auch den auf Dauphineer Erde

61 Rau, Ra¨ume der Stadt (wie Anm. 44), Kap. IV.1 u. IV.2. 62 Vgl. zuletzt Jean-Marie Pe´rouse de Montclos, Jacques-Germain Soufflot, Paris 2004.

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gelegenen Vorort La Guillotie`re, wo sich fu¨r das Ende des 17. Jahrhunderts gerade einmal zehn Herbergen nachweisen ließen. Doch auch im alten Viertel St. Jean entstanden neue Herbergen (in der Rue du Boeuf sowie in der Rue St. Jean), denn auch das alte Lyon zeichnete sich im 18. Jahrhundert keineswegs durch ein negatives demographisches Verhalten aus. Weder die Verortungen mitsamt ihrer Dynamik noch die Raumpraktiken der Reisenden ko¨nnen als bloßer Zufall gedeutet werden. Vielmehr sind sie ein Ergebnis der Raumpraktiken in einem weiteren Sinn, na¨mlich der Bedu¨rfnisse der Stadt (Bischofssitz, Messehandel), der Ka¨mpfe um gute Lagen, der Mo¨glichkeiten des Kaufs von Grundstu¨cken bzw. Ha¨usern, der rechtlichen Grundlagen zur Ero¨ffnung eines Gasthauses, aber auch ein Ergebnis des Bedarfs und der Wahrnehmung durch die ‚Kunden‘, also die Ga¨ste wie Fernha¨ndler, Diplomaten, Adlige und Studenten auf ihren Reisen, Kla¨ger vor der Se´ne´chausse´e und den vielen Kleinha¨ndlern und Bauern des Umlands, die ihre Waren auf den wo¨chentlichen Ma¨rkten auslegen wollten. Die Rekonstruktion der Herkunft der Ga¨ste aus den beiden u¨berlieferten Torregistern (aus Paris und Genf, den Schweizer Kantonen, Italien, Oberdeutschland, Flandern, England) ergibt leider kein vollsta¨ndiges Bild, weil es sich hier nur um die – wenngleich wichtigsten – Tore im Nordwesten und im Osten der Stadt handelt.63 Erga¨nzt werden kann dieses Bild durch das Netzwerk der wirtschaftlichen Beziehungen der Lyoner Ha¨ndler, die in der Phase nach dem Dreißigja¨hrigen Krieg vor allem mit Paris und mit Marseille, dem ‚Mittelmeerhafen‘ der Stadt, korrespondierten.64 Alle anderen Verbindungen hingen stark vom Sektor bzw. den im- und exportierten Waren ab. Fu¨r Gewu¨rze gab es eine Achse zwischen Genf und dem Languedoc. Tuche wurden aus Schlesien, Sankt-Gallen, Oberdeutschland und Flandern importiert und oft nach Spanien weiter transportiert. Die in Lyon ansa¨ssigen deutschen und Schweizer Ha¨ndler nutzten die bestehenden Netzwerke ihrer ‚Nationen‘, dehnten diese aber auch aus. So stu¨tzte sich die Kompagnie Specht und Gonzebat bei ihrem Handel mit Piaster (piastres) auf die schon bestehenden oberdeutschen und Schweizer Gescha¨ftsverbindungen, handelte mit Italien und dem Languedoc und schloss sich daru¨ber hinaus an einen immer bedeutender werdenden Welthandelsmarkt dieses Produktes an.

5. Fazit

In gro¨ßeren europa¨ischen Sta¨dten – und wahrscheinlich insbesondere in (Fern-)Handelssta¨dten wie Lyon – gab es schon seit dem spa¨ten Mittelalter, jedenfalls lange vor ¨ ffentlichkeiten. Deren Bezeichnung dem spa¨ten 18. Jahrhundert, eine Reihe von O 63 Vgl. dazu Susanne Rau/Olivier Zeller, Police des voyageurs et hospitalite´ urbaine a` Lyon a` la fin du

XVIIe sie`cle, in: Commerce, voyage et expe´rience religieuse, XVIe–XVIIIe sie`cles, hg. v. Albrecht Burkardt, Rennes 2007, S. 113–143, hier S. 127. 64 Papiers d’industriels et de commerc¸ants lyonnais. Lyon et le grand commerce au XVIIIe sie`cle, hg. v. Pierre Le´on, Lyon 1976.

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¨ ffentlichkeiten) ist letztlich weniger wichtig, als dass man sie in ihrer (z. B. als Teil-O Entstehungsweise, ihren Funktionen, ihrer Reichweite und in ihrer Dauerhaftigkeit unterscheidet. In einer genealogischen Denkart ko¨nnte man davon ausgehen, dass ¨ ffentlichdie o¨ffentlichen Orte und ihre Netzwerke die Vorla¨ufer der universalen O keit darstellen, wie sie sich – nach Habermas – seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelte. Die ‚Archa¨ologie‘ der o¨ffentlichen Orte ist jedoch vielschichtiger. Denn nach dem Selbstversta¨ndnis der Scho¨ffen und der Bu¨rger der Stadt war auch der Versammlungssaal des Rates – und spa¨ter das Rathaus selbst – ein o¨ffentlicher Ort, wenn auch nicht alle Ra¨ume des Rathauses fu¨r jeden Stadtbu¨rger und zu jeder Zeit zuga¨ng¨ bernahme von lich waren. Die allma¨hliche Aneignung des Stadtraumes, d. h. die U Terrains, die zuvor in der Hand des Erzbischofs oder anderer Grundherren waren, wurde mit dem bonum commune oder bien public begru¨ndet, d. h. damit, dass diese Orte allen zuga¨nglich und allen nu¨tzlich sein sollten. Gleichzeitig dehnte der Stadtrat seine Kontrolle u¨ber diese Orte aus. Fortan mussten die Agenten der sta¨dtischen ¨ ber Policey diese Orte – in den Quellen als lieux publics bezeichnet – kontrollieren: U ihre Rundga¨nge stellten sie ein Netz o¨ffentlicher Orte her. Zu den juristischen bzw. ¨ ffentlichkeit treten die Handelsnetzwerke der Stadt, die politischen Begriffen von O bestimmte Orte der Stadt, die mehr oder weniger allgemein zuga¨nglich waren – die Messen, aber auch die Herbergen, Kaffeeha¨user und im 17. Jahrhundert die „Loggia“ – mit der Region und mit halb Europa verbanden. Dieses Eingebundensein in perso¨nliche oder o¨konomische Strukturen weist all diesen Stadt-Orten einen translokalen Charakter zu. Ihre Reichweiten sind unterschiedlich: von Handelsverbindungen bis nach Hamburg oder Medina del Campo bei den Handelsnetzwerken, u¨ber Netze des informellen Handels, die vor allem Stadt und Umland umfassen, bis zu innersta¨dtischen Vernetzungen mittels der Kontrollga¨nge und Prozessionen, die ihrerseits im Medium der Publikation u¨berregional bekannt werden konnten und daru¨ber hinaus auch noch zeitlich perpetuiert wurden. Die genannten Orte, die die Zeitgenossen als o¨ffentlich bezeichneten, haben ¨ ffentlichkeit zu tun, wie sie jedoch nur ganz punktuell etwas mit der bu¨rgerlichen O Ju¨rgen Habermas konzipiert hat, ko¨nnen jedenfalls nur fu¨r manche Bereiche – etwa im o¨konomischen Sektor, weil Kaffeeha¨user in den Fernhandelssta¨dten eben auch Nachrichten- und Finanzbo¨rsen sein konnten – als deren Vorla¨ufer betrachtet werden und waren keineswegs permanente Orte politischer Debatten. Gerade Kaffeeha¨user sind in ihrer Rolle als Orte von Nachrichten und Politik generell ohnehin u¨berscha¨tzt, wie Christian Hochmuth zu zeigen vermochte;65 und eine Fokussierung auf sie hat lange Zeit andere Orte von Information und Politik der Privatleute aus dem Blickfeld verdra¨ngt. Der plurifunktionale Charakter vieler sta¨dtischer Orte in der Fru¨hen Neuzeit ließ es ohne Weiteres zu, dass man sich beispielsweise auch in einer Apotheke u¨ber das neueste Geschehen in der Welt informieren konnte.66

65 Christian Hochmuth, Globale Gu¨ter – lokale Aneignung. Kaffee, Tee, Schokolade und Tabak im

fru¨hneuzeitlichen Dresden, Konstanz 2008. 66 Zu den Orten des Nachrichtenaustauschs im fru¨hneuzeitlichen Venedig vgl. Filippo de Vivo, Infor-

mation & Communication in Venice. Rethinking Early Modern Politics, Oxford 2007.

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So soll erstens festgehalten werden: Die Rolle der Sta¨dte ist fu¨r die Entwicklung ¨ ffentlichkeit bedeutend, denn es war in aller Regel die Stadt, die seit dem spa¨ten der O Mittelalter den materiellen (baulichen) und intellektuellen Rahmen geliefert hat, in dem sich Ra¨ume fu¨r Diskussionen und Austausch (von Informationen und Waren) entwickelt haben. Zweitens: Es gab in der Fru¨hen Neuzeit nicht nur einen (homogenen) o¨ffentlichen Raum, sondern viele o¨ffentliche Orte, die teilweise lokal, regional und u¨berregional miteinander verbunden waren. Sie sind nicht immer kritisch und politisch, ¨ ffentlichkeit, sondern zeichnen sich vor allem durch im Sinne der bu¨rgerlichen O wenig restriktive Zugangsmo¨glichkeiten, durch das Spiel zwischen Geheimhaltung und Vero¨ffentlichung, durch ein kaum definiertes, immer wieder wechselndes und prinzipiell offenes Publikum sowie durch obrigkeitliche Regelung und Kontrolle, die meist unter dem Deckmantel des Gemeinnutzes auftauchte, aus. Sporadisch gab es auch gesellschaftskritische Aspekte, wie man an der Burleske sehen konnte. Diese Netze o¨ffentlicher Orte wurden von den zeitgeno¨ssischen Akteuren konstruiert, und zwar sowohl ‚von oben‘, durch die Policeyordnungen und Patrouillen, als auch ‚von unten‘, durch die Ha¨ndler und die Einwohner, die diese Orte, inklusive der Orte des informellen Handels, nutzten. Diese allgemein relevanten Orte sowie die durch Diskurse, Handlungen und Bewegungen zu Ra¨umen vernetzten Orte bildeten keine homogene Spha¨re aus, sondern waren durch unterschiedliche Ra¨umlichkeiten und Zeitlichkeiten gekennzeichnet, u¨berlappten sich teilweise, um sich zu intensivieren, konnten sich aber genauso gut wieder auflo¨sen. Dies ist der Grund, weshalb hier vorgeschlagen wurde, fu¨r die Gesellschaft der Fru¨hen Neuzeit besser von einem Netz¨ ffentlichkeit zu reden. Die Herwerk oder von Netzen o¨ffentlicher Orte als von O ¨ angehensweise begreift Offentlichkeiten – und dies wu¨rde fu¨r jede Epoche gelten – keineswegs als lokal gebunden, denn der Raumbegriff ist hier in einem weiten Sinn zu verstehen: Er ist u¨ber die Handlungen, Selbstdeutungen und Beziehungen der Akteure definiert und nicht u¨ber die geographische Lage oder die Abgegrenztheit des Ortes. ¨ ffentlichkeit All dies hat zugleich deutlich gemacht, dass die Entstehung der O keine Genealogie hat. Vielmehr kann sie nur als Archa¨ologie beschrieben werden, weil sie in ihren Formen und Funktionen kontextabha¨ngig, lokal unterschiedlich und kontingent, bisweilen auch vo¨llig unvorhersehbar sein konnte. Lyon diente hierfu¨r nur als ein, recht dankbares, Beispiel, an dem noch weitere Schichten freigelegt werden ko¨nnten, welches aber vor allem in ein gro¨ßeres Sta¨dtenetz eingebettet werden ¨ ffentlichmu¨sste, um allma¨hlich zu einem vollsta¨ndigeren Bild fru¨hneuzeitlicher O keiten zu gelangen.

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Abb. 1: Cr. Jacquemin, Plan ge´ome´tral et proportionnel de la ville de Lyon ou` sont de´signe´s ses 28 quartiers ou pennonages avec deux tables [...], 1747 (Ausschnitt) c = cabaratier (Weinschenke); v/l = vinaigrier/vendeur de liqueurs (Essig- bzw. Liko¨rverka¨ufer) Quelle: Archives municipales de Lyon, 3 S 693. Mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Lyon

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Diese Karte, die nach dem Namen des Zeichners und Stechers meist „plan Jacquemin“ genannt wird, ist im Kontext der Reorganisation der Stadtviertel entstanden, deren Bezeichnung pennonages (von pennon = Banner, Wipfel) noch an ihre urspru¨ngliche Funktion als milita¨rische Einheiten erinnert. 1746 wurde die Anzahl der Stadtviertel von 35 auf 28 reduziert (Archives municipales de Lyon, BB 312, fol. 68v–70r). Es handelt sich um die erste sta¨dtische Karte Lyons mit einem Koordinatensystem und eingezeichneten Gitternetzlinien. Am linken Rand befindet sich ein Straßenverzeichnis; am unteren Rand werden die einzelnen Stadtviertel mit den Ha¨usern, die die Grenzen dieser Viertel bildeten, aufgefu¨hrt (auf dem Kartenausschnitt nicht sichtbar). Mit fein gestrichelten Linien hat Jacquemin diese Grenzen auch in die Karte eingezeichnet. Jedem Viertelsvorsteher (capitaine) wurde eine spezielle Karte seines Viertels in die Hand gegeben (ebd., EE 11). Weniger die Bu¨rgergarde, deren Wachha¨user sich am Wechselplatz und am Kra¨utermarkt befanden, als die sta¨dtische Polizei war tagsu¨ber genauso wie nachts auf Streife, um die lieux publics zu kontrollieren. Die Policeyordnungen schrieben den Kommissaren und ihren Begleitern keinen konkreten Weg vor, jedoch wurden sie angehalten, sich insbesondere zu Ma¨rkten und La¨den (tagsu¨ber) sowie zu Tavernen, Herbergen, Kaffeeha¨usern, Billardsalons (nachts) zu begeben (se transporter) und diese zu besichtigen bzw. zu kontrollieren (visiter). Jedes Vergehen gegen die o¨ffentliche Ordnung musste protokolliert werden. Insbesondere im 18. Jahrhundert, als das Kontrollsystem ausgebaut und die Kontrollpraktiken intensiviert wurden, entstanden so jeden Morgen im Bu¨ro der sta¨dtischen Polizei teils lineare, teils kreisfo¨rmig geschlossene Topologien, die nicht die real abgelaufenen Wege wiedergaben, sondern die die Orte der Devianz miteinander verbanden. Auf der vorliegenden Karte wurden exemplarisch zwei dieser topologischen Ra¨ume eingezeichnet, die von dem sta¨dtischen Kontrollorgan erzeugt wurden (Basis: Protokolle vom 30. 4. 1764 und 2. 6. 1776, in: ebd., FF 51). Durch die weitere Rekonstruktion solcher Wege-Ra¨ume ko¨nnte das „Netzwerk der Kontrolle“ noch besser veranschaulicht werden.

IN VINO RES PUBLICA? Politische Soziabilita¨t im Wirtshaus der Fru¨hen Neuzeit von Beat Ku¨min

¨ ffentlichkeitsforschung bemu¨ht sich seit einiger Zeit um eine verEin Zweig der O sta¨rkte epochenspezifische Kontextualisierung des Konzeptes. Sollen langfristige Entwicklungslinien und breite Gesellschaftsschichten ins Blickfeld kommen, muss die Perspektive u¨ber die Diskurs- und Soziabilita¨tsformen des entstehenden Bu¨rgertums hinaus erweitert werden. Fu¨r die face-to-face society der Vormoderne ist insbesondere die Untersuchung „o¨ffentlicher Ra¨ume“ ins Zentrum des Interesses geru¨ckt.1 Dieser Beitrag beleuchtet Kommunikationssituationen und Mediendifferenzierung am Beispiel des Wirtshauses, das die Kriterien von Multifunktionalita¨t und allgemeiner Zuga¨nglichkeit wohl am umfassendsten erfu¨llt. Erprobt wird eine physisch-kon¨ ffentlichkeit in der Fru¨hen Neuzeit, die krete Verankerung des Strukturwandels der O es wegen der Universalita¨t gastgewerblicher Einrichtungen auch ermo¨glicht, u¨ber die Grenzen von Hof und Stadt aufs Land – und damit die Lebenswelt der u¨berwiegenden Mehrheit der Bevo¨lkerung – zu schauen. Beginnen wir mit einer Skizze des Forschungsstandes, so etablierte sich in der Geschichtswissenschaft seit den 1980er Jahren ein stark sozio-o¨konomisches und von kulturellen Spannungen gepra¨gtes Bild vormoderner Wirtsha¨user.2 In England beschrieb etwa Peter Clark alehouses als „run by the poor for the poor“, ja als informelle Elemente der la¨ndlichen Armenfu¨rsorge, wa¨hrend Wirtschaftshistoriker sich auf den Beitrag der Gaststa¨tten zur sta¨dtischen Infrastruktur konzentrierten.3 Weit u¨ber den angelsa¨chsischen Bereich hinaus galten Wirtsha¨user als Sta¨tten einer mittelalterlich anmutenden Volkskultur, die sich gegen den Disziplinierungs- und Zivilisierungsdruck von Konfessionskirchen, Territorialstaaten und Oberschichten als a¨ußerst resistent erwiesen. Reflektiert wurde hiermit die zeitgeno¨ssische Sicht der 1 Siehe Gerd Schwerhoffs Einfu¨hrung zu diesem Band. 2 Beat Ku ¨ min, Wirtshausgeschichte. Das Gastgewerbe in der historischen Fru¨hneuzeitforschung, in:

Gastlichkeit. Erkundungen einer Schwellensituation, hg. v. Peter Friedrich/Rolf Parr, Heidelberg 2009, S. 117–131. 3 Peter Clark, The Alehouse and Alternative Society, in: Puritans and Revolutionaries, hg. v. Donald Pennington/Keith Thomas, Oxford 1978, S. 47–72, bes. S. 53; Alan Everitt, The English Urban Inn 1560–1760, in: Perspectives in English Urban History, hg. v. Dems., London 1973, S. 91–137; John Chartres, The Capital’s Provincial Eyes. London’s Inns in the Early Eighteenth Century, in: London Journal 3 (1977), S. 24–39.

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Prediger und Moralisten, die Trinkstuben als Horte der Su¨ndhaftigkeit, Gewalt und Kriminalita¨t brandmarkten.4 Das war tatsa¨chlich nicht aus der Luft gegriffen – wenn man lokale Gerichtsakten betrachtet, haben in der Regel zwischen einem Drittel und der Ha¨lfte aller Fa¨lle einen direkten Bezug zu Wirtshausbesuch und Alkoholkonsum, wobei v. a. die Gewalthandlungen gewichtig zu Buche schlagen.5 In seinen weit u¨ber Disziplinen- und Epochengrenzen ausstrahlenden Studien zu Protestformen im modernen Su¨dostasien konzeptualisierte der Politikwissenschafter James C. Scott Trinkstuben zudem als social sites, also als Orte, in denen Mitglieder unterdru¨ckter Gesellschaftsschichten Gelegenheit fanden, ihr hidden transcript zu artikulieren.6 Alles in allem erschienen Wirtsha¨user als destabilisierende Zentren ma¨nnlicher Soziabilita¨t. Im Zuge des cultural turns der Jahrhundertwende hat sich dieses Bild markant vera¨ndert, indem Aspekte wie Geschlechterrollen, Erna¨hrungsgeschichte, das soziale Kapital der Ehre und die Prominenz ritueller Kommunikationsformen in den Vordergrund ru¨ckten. Thomas Brennan etwa kam in seiner umfassenden Studie zum o¨ffentlichen Trinken in Paris am Vorabend der Revolution zur Schlussfolgerung: „taverns were many things to many people“; Lynn Martin untersuchte prima¨r literarische und normative Quellen nach dem Verha¨ltnis zwischen Alkoholkonsum und vormoderner Sexualita¨t, wa¨hrend Ann Tlusty in einer modellhaften neuen Kulturgeschichte die Rolle des Wirtshauses in der bu¨rgerlichen Gesellschaft Augsburgs unter die Lupe nahm.7 Im Verbund mit vielen weiteren Beitra¨gen la¨sst sich nun bilanzieren, dass Frauen keineswegs durch Abwesenheit gla¨nzten: Pra¨senz markierten sie nicht nur als Wirtinnen, Kellnerinnen, Prostituierte – oder vera¨rgerte Hausfrauen, die ihre Ma¨nner aus ihrer Trinkrunde nach Hause schleppten, sondern als Jugendliche auf Partnersuche, als Begleiterinnen ihrer Gatten beim Abendtrunk, als Reisende und nicht zuletzt als Gescha¨ftsfrauen oder Kleinunternehmerinnen, die in Wirtsha¨usern ihre Kunden fanden oder auf dem Heimweg vom Marktbesuch mit ihren Kolleginnen auf ein Glas Wein einkehrten.8 Soziale Eliten kehrten ebenso ins Wirtshaus zuru¨ck. Beschrieben Historiker der fru¨hneuzeitlichen Volkskultur wie Peter Burke und Robert Muchembled noch einen Ru¨ckzug der Oberschichten aus dem ihnen angeblich immer fremder werdenden 4 Keith Wrightson, Alehouses, Order and Reformation in Rural England 1590–1660, in: Popular Cul-

ture and Class Conflict 1590–1914, hg. v. Stephen und Eileen Yeo, Brighton 1981, S. 1–27; Richard Van Du¨lmen, Entstehung des fru¨hneuzeitlichen Europa 1550–1648, Frankfurt a. M. 1982, bes. S. 208. 5 Beat Ku ¨ min, Friede, Gewalt und o¨ffentliche Ra¨ume: Grenzziehungen im alteuropa¨ischen Wirtshaus, in: Gewalt in der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Claudia Ulbrich u. a., Berlin 2005, S. 130–139, bes. S. 138. 6 James C. Scott, Domination and the Arts of Resistance. Hidden Transcripts, New Haven 1990, bes. S. 108–135. 7 Thomas Brennan, Public Drinking and Popular Culture in Eighteenth-Century Paris, Princeton 1988, S. 311; A. Lynn Martin, Alcohol, Sex and Gender in Late Medieval and Early Modern Europe, Basingstoke 2001; B. Ann Tlusty, Bacchus und die bu¨rgerliche Ordnung. Die Kultur des Trinkens im fru¨hneuzeitlichen Augsburg. Aus dem Englischen u¨bertragen von Helmut Graser (Studien zur Geschichte des Bayerischen Schwaben 34), Augsburg 2005. 8 B. Ann Tlusty, Crossing Gender Boundaries. Women as Drunkards in Early Modern Augsburg, in: Ehrkonzepte in der fru¨hen Neuzeit, hg. v. Sibylle Backmann u. a., Ko¨ln 1998, S. 185–198; Amanda Flather, Gender and Space in Early Modern England, Woodbridge 2007, bes. Kap. 4.

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Umfeld,9 so finden sie neuere Studien wenigstens in gehobenen Etablissements, wo sie mit Zunftgenossen oder Ratskollegen am Tisch saßen oder auf Postkutschenfahrten abstiegen. Wirtschaftliche Verknu¨pfungen mit dem Weinhandel und Braugewerbe brachten sie genauso in Kontakt mit der Wirtshauskultur wie die Verbreitung der Grand Tour oder die Entwicklung des fru¨hen Tourismus im 18. Jahrhundert. Besonders im la¨ndlichen Bereich, wo die gastgewerbliche Versorgung wenig differenziert und die Auswahl beschra¨nkt war, konnten Gastha¨user ein sozial erstaunlich umfassendes Besucherspektrum anziehen.10 Eine weitere Korrektur ist die Betonung des systemstabilisierenden Potenzials von Gastha¨usern. Die stark rituell u¨ber¨ berformte Trinkkultur, die Verteidigung perso¨nlicher Ehre, die Abhaltung von U gangsriten wie Taufen und Hochzeiten, die informelle soziale Kontrolle des Verhaltens und die zentrale Rolle in der bu¨rgerlichen Soziabilita¨t korrigieren das u¨berkommene Bild einer ungeordneten und subversiven Wirtshauskultur.11 Alles in allem ist eine deutliche Schwerpunktverschiebung zu konstatieren: relativ gesehen sind vormoderne Gaststa¨tten in der Forschungslandschaft der letzten Jahre weiblicher, elita¨rer und respektabler geworden. Wie hat man sich aber Wirtsha¨user der Vormoderne vorzustellen? Einige knappe Bemerkungen zu Typologie, Dichte und Erscheinung seien an dieser Stelle eingefu¨gt. Seit der ersten Jahrtausendwende entstanden zahlreiche regionale Varianten gewerblicher Gastlichkeit,12 die sich aber auf zwei Grundtypen zuru¨ckfu¨hren lassen, d. h. die auf Alkoholausgabe beschra¨nkten Schenken oder Pinten einerseits und die einen vollen Mahlzeiten- und Beherbergungsservice bietenden Tavernen, Kru¨ge/Kretscham oder Herbergen andererseits. Erscheinungsma¨ßig gab es ebenfalls Beispiele jeglicher Gro¨ße und Form – neben den mehr schlecht als recht zu Trinkstuben umfunktionierten Kammern in einfachen Bu¨rgerha¨usern finden sich architektonisch herausragende Geba¨ude-Komplexe, die in ihren Siedlungen zu den besten und repra¨sentativsten Liegenschaften geho¨rten (Abb. 1). Schon im Spa¨tmittelalter war die gastgewerbliche Versorgung im europa¨ischen Kerngebiet praktisch fla¨chendeckend und die Anzahl der Betriebe stieg im Verlaufe der Fru¨hen Neuzeit weiter, sowohl absolut wie im Verha¨ltnis zur Bevo¨lkerung. Gegen Ende des Ancien Re´gime finden sich in la¨ndlichen Gegenden Relationen von

9 Peter Burke, Europa¨ische Volkskultur in der fru¨hen Neuzeit. Aus dem Englischen u¨bertragen von

Susanne Schenda, Stuttgart 1981; Robert Muchembled, Kultur des Volkes – Kultur der Eliten. Die Geschichte einer erfolgreichen Verdra¨ngung. Aus dem Franzo¨sischen u¨bertragen von Ariane Forkel, Stuttgart 1982. 10 Literarisch reflektiert in Desiderius Erasmus, Diversoria, in: Ders., Colloquies, hg. v. Craig R. Thompson (Collected Works of Erasmus 39), Toronto 1997, S. 369–380; zum Ga¨steprofil allgemein vgl. Beat Ku¨min, Drinking Matters, Public Houses and Social Exchange in Early Modern Central Europe, Basingstoke 2007, S. 63–74. 11 Tlusty, Bacchus (wie Anm. 7); James R. Brown, Drinking houses and the Politics of Surveillance in Pre-industrial Southampton, in: Beat Ku¨min, Political Space in Pre-industrial Europe, Farnham 2009, S. 61–80. 12 Hans-Conrad Peyer, Von der Gastfreundschaft zum Gasthaus: Studien zur Gastlichkeit im Mittelalter, Hannover 1987.

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etwa 1 Wirtshaus pro 300–400 Einwohner, im sta¨dtischen Umfeld von 1:100 und in bestimmten Messe- und Wallfahrtszentren bis zu 1 : 20.13

Abb. 1: Der Old Bull von Burford (Oxfordshire, England) Das Haus, in dem sich die bu¨rgerlich-kleinadlige polite society im 18. Jahrhundert zu Ba¨llen und anderen geselligen Anla¨ssen versammelte, erhielt als einziger Gasthof an der Hauptstraße eine repra¨sentative Ziegelsteinfassade. (Raymond Moody, The Inns of Burford, Burford 2007, S. 25) Foto: P. Carter (2004)

Kann man Wirtsha¨user aber – um zum Kern der Thematik zu kommen – als „politische Orte“ bezeichnen? Definiert man „Politik“ als machtabha¨ngigen Interessenaustrag im Hinblick auf fu¨r eine soziale Gemeinschaft verbindliche Entscheide14,

13 Ku ¨ min, Drinking Matters (wie Anm. 10), S. 24–31. 14 Definitorische Varianten diskutiert Andreas Ro ¨ dder, Klios Neue Kleider. Theoriedebatten um eine

Kulturgeschichte der Politik in der Moderne, in: HZ 283 (2006), S. 657–688, bes. S. 675–676.

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so scheint dies bei auf Essen, Trinken und Beherbergung spezialisierten Institutionen auf den ersten Blick wenig wahrscheinlich. Auf den zweiten aber lohnt es sich zu fragen, wie und wo politische Aktivita¨ten in den spezifischen Kommunikationsstrukturen vormoderner Sta¨dte mo¨glich waren, also in Kontexten ohne elektronische Medien, Meinungsumfragen und Parteiapparate. Laut Rudolf Schlo¨gl haben wir in dieser Zeit von einer „Vergesellschaftung unter Anwesenden“ auszugehen, d. h. die soziale und politische Interaktion stu¨tzte sich vorwiegend auf die Pra¨senzmedien von Sprache, Ritual und Performanz. Erst allma¨hlich traten Schrift und Druck erga¨nzend hinzu, allerdings bis ins 17. Jahrhundert vorwiegend mit Speicherfunktionen ohne die Kommunikationsstrukturen nachhaltig zu vera¨ndern. Was aufgeschrieben wurde bedurfte weiterhin der mu¨ndlichen Proklamation und Elabora¨ ffentlichkeit tion. Einen Strukturwandel von dieser integrierten zu einer medialen O bewirkten langfristig erst komplexere Distanzmedien wie Zeitungen und bu¨rokratischer Schriftverkehr. Aus dieser medialen Konfiguration heraus – und insbesondere aus dem strukturvera¨ndernden Potential von Schrift und Druck – ergibt sich fu¨r Schlo¨gl nun die These, „daß sich in verschiedenen Sozialbereichen unterschiedliche ¨ ffentlichkeit nebeneinander“ konstatieren lassen.15 Zu unterscheiden Formen von O seien etwa die Ebenen des monarchisch-exklusiven Staates und des kommunal-repra¨sentativen Umfeldes der Stadt, wobei in Letzterem die Legitimita¨t bzw. Illegitimita¨t politischer Aktivita¨ten der Amtstra¨ger von den Bu¨rgern reflektiert, diskutiert und kritisiert wurde: „Herrschaftstra¨ger taten deswegen stets gut daran, sich nicht nur Untertanen und Beherrschten gegenu¨ber zu wissen, sondern ‚Beobachtern‘.“16 Wenn also Anwesenheit und face-to-face Kommunikation pra¨gende Elemente sta¨dtischer Politik in der Fru¨hen Neuzeit waren, du¨rfte es sich lohnen, o¨ffentlichen Ra¨umen wie dem Wirtshaus etwas ausfu¨hrlichere Beachtung zu schenken. Zusa¨tzlich zu ihrer breiten Zuga¨nglichkeit, interaktiven Profilierung, Multifunktionalita¨t und sozialen Relevanz17 bieten sie Historikern auch den pragmatischen Vorteil einer dichten Quellenu¨berlieferung (in Ordnungen, Verzeichnissen, Inventaren, Reiseberichten, Steuer¨ berdies kann man an die Arbeiten von R. W. Scribner anknu¨pfen, der akten usw.). U ¨ ffentlichkeit identifiihre convivial public sphere als Pfeiler der reformatorischen O zierte. „Convivial“ und noch nicht „political“ war sie deshalb, weil Scribner zentrale Habermas-Kriterien wie das durch die Lektu¨re von Periodika ermo¨glichte kritische Raisonnement noch nicht erfu¨llt sah.18 Im Lichte der neuesten Forschungsergebnisse kann man wohl einen Schritt weiter gehen. Arbeitet man mit einem theoretischen Modell, wonach Ra¨ume relational – 15 Rudolf Schlo ¨ ffentlichkeit und Medien in der Fru¨hen Neuzeit, in: ZHF 25 ¨ gl, Politik beobachten. O

(2008), S. 581–616, bes. S. 585. 16 Ebd., S. 589f. 17 Susanne Rau/Gerd Schwerhoff, O ¨ ffentliche Ra¨ume in der Fru¨hen Neuzeit. U ¨ berlegungen zu Leit-

¨ ffentliche begriffen und Themen eines Forschungsfeldes, in: Zwischen Gotteshaus und Taverne. O Ra¨ume in Spa¨tmittelalter und Fru¨her Neuzeit, hg. v. Dens. (Norm und Struktur 21), Ko¨ln 2004, S. 11–52, bes. S. 48. 18 Robert W. Scribner, Mu¨ndliche Kommunikation und Strategien der Macht in Deutschland im 16. Jahrhundert, in: Kommunikation und Alltag in Spa¨tmittelalter und fru¨her Neuzeit, hg. v. Institut fu¨r Realienkunde, Wien 1992, S. 183–198, bes. S. 184–185.

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also durch die Interaktion von Orten, Objekten und Akteuren – in einer mentalen Synthese generiert werden, stellt sich die Frage nach Situationen, in denen sich Wirtsha¨user als „politische Orte“ konstituieren konnten.19 Das „Politische“ war ja selbst Fu¨rstenho¨fen oder Ratsha¨usern nicht einfach inha¨rent, sondern resultierte aus spezifischen Konstellationen von Personen, Aufgaben und Wahrnehmungen. Ohne interagierende Fu¨rsten, Adelige, Minister, Diplomaten und Offiziere waren auch Versailles oder Sanssouci wenig mehr als a¨sthetisch gefa¨llige Geba¨udekomplexe. Im Folgenden sollen daher eine Reihe analytisch unterscheidbare Formen der politischen Aufladung von Gaststa¨tten untersucht werden, insbesondere ihre Nutzung als: – – – – – – –

Schaupla¨tze von Debatten Foren politischer Gruppenbildung Stu¨tzpunkte von Widerstandsbewegungen Plattformen der Normendurchsetzung Entscheidungssta¨tten Repra¨sentationsorte Politische Reflektions- und Streitobjekte.

Gegliedert ist diese Liste in einer tendentiell aufsteigenden Linie von informell-unregelma¨ssigen u¨ber institutionalisierte bis hin zu symbolischen und medial vermittelten Interaktionsformen. Beginnen wir mit dem Wirtshaus als Schauplatz von Debatten, so denkt man wohl zuna¨chst an das sprichwo¨rtliche Stammtischhadern u¨ber Zeitumsta¨nde und Politiker. ¨ ffentlichkeit, ermangelt Dieses „Dampfablassen“ konstituiert natu¨rlich noch keine O es ihm doch an fundierten Kenntnissen, kritischem Raisonnement und einer u¨ber den Mikroraum hinaus reichenden Resonanz, also all den Attributen, die die einschla¨gige Forschung erst mit dem nu¨chternen Kaffeehaus der Aufkla¨rung assoziiert. Wie ju¨ngste Arbeiten zeigen, darf man Letzteres aber auch nicht idealisieren:20 oft gab es direkte Verbindungslinien zu traditionellen Gaststa¨tten, mancherorts wurde neben Heißgetra¨nken auch Hochprozentiges angeboten, vielerorts finden sich einfache Kaffeeschenken, die ein unteres Kundensegment ansprachen und auch teetrinkende Aristokraten konnten ihre Meinungsverschiedenheiten mit Wortgefechten oder Fa¨usten austragen.21 Selbst im Modellfall England traf sich die u¨berwa¨ltigende Mehrheit von Sozieta¨ten und Gesellschaften nicht in metropolitanen Kaffeeha¨usern, sondern in Hinter- und Nebenzimmern provinzieller inns.22 Laut Phil Withington wurzelt das gesellige Jahrhundert denn auch viel sta¨rker als bisher wahrgenommen in der Tradition bu¨rgerlicher Partizipation an nachbarschaftlichen und

19 Martina Lo ¨ w, Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001, bes. S. 271–273. 20 Christian Hochmuth, Globale Gu¨ter – lokale Aneignung. Kaffee, Tee, Schokolade und Tabak im

fru¨hneuzeitlichen Dresden, Konstanz 2008, bes. Kap. IV.3.

21 Siehe etwa die tumultuo¨se Szene des „CoffeHouse Mob“, dem Titelbild des IV. Teiles von Ned

[Edward] Ward, Vulgus Britannicus, London 1710.

22 Peter Clark, British Clubs and Societies 1580–1800: The Origins of an Associational World, Oxford

2000, S. 21; siehe auch Abb. 1.

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kommunalen Verba¨nden.23 Schrift und Druck spielten hier zunehmend wichtige Rollen. Aus der intensiven Forschung zu Popula¨rmedien wie Kalendern, Balladen, Pamphleten, Holzschnitten, religio¨ser Propaganda und fru¨hen Periodika ist bekannt, dass Wirtsha¨user den entsprechenden Ha¨ndlern und Interessengruppen als Absatz-, Verteil- und Diskussionszentren dienten.24 In London sind seit dem spa¨ten 16. Jahrhundert gar literarische Zirkel wie die Gruppe um den Renaissance-Dramatiker Ben Jonson belegt, die sich in der Mermaid tavern zu Lesungen und poetischem Wettstreit trafen. Je nach der Tagesaktualita¨t konnten solch ku¨nstlerisch-spielerische Elemente leicht zu politischen Grundsatzdebatten u¨berleiten.25 Dagmar Freist und David Zaret haben gezeigt, welch bedeutende Rolle ebensolche Londoner Wirtsha¨user ein paar Jahrzehnte spa¨ter in den ideologischen Auseinandersetzungen der Bu¨rgerkriegs- und Revolutionszeit spielten.26 ¨ berleitung zur Bildung politischer Allianzen. In einer Dies erlaubt eine nahtlose U Untersuchung der stadtbernischen Soziabilita¨t um 1500 erscheint das Wirtshaus als ein Forum, „das sich in besonderer Weise dafu¨r anbot, schichtenu¨bergreifende Gruppen zu etablieren“.27 Dies manifestierte sich am deutlichsten in der Praxis der Stimmenwerbung in Systemen mit regelma¨ssigen Wahlen (in der Innerschweiz tro¨len und in England electioneering genannt). Anschaulich zeigt William Hogarths Gema¨lde Canvassing for Votes (1754–55), wie ein Vertreter der Tories unter dem mit einem Wahlplakat verdeckten Gasthausschild eine Rede ha¨lt, wa¨hrend seine Agenten mit dem Versprechen freier Zeche auf Stimmenfang gehen und im Hintergrund vor einem Wirtshaus der gegnerischen Whigs ein Tumult ausbricht. Hier nennen sich die Lokale Royal Oak und Crown, in Northampton dienten schon in den 1680er Jahren der Goat Inn als Versammlungsort fu¨r die Tories und der Swan fu¨r die Whigs.28 Wirtsha¨user eigneten sich nicht zuletzt deshalb fu¨r solche Zwecke, weil mit der Person des Wirtes eine broker Figur zur Verfu¨gung stand, die dank ihrem sozialen Kapital, zahllosen perso¨nlichen Kontakten und einer nicht selten fu¨hrenden Rolle in der Lokalgesellschaft bestens in der Lage war, im Patronagesystem Beziehungen zwischen sozia23 Phil Withington, Public discourse, corporate citizenship and state formation in early modern Eng-

land, in: AHR 112 (4/2007), S. 1016–1038.

24 Der Wirt ist schuldig, zum Zeitvertreib und unentgeltlichem Gebrauch der Fremden, die Braunschwei-

gischen Anzeigen und allerhand Zeitungen und Nachrichten auf dem Speise=Saal liegen zu haben: Serenissimi Verordnung wegen der Gastho(e)fe in dero Residenz=Stadt Wolfenbu(e)ttel, Wolfenbu¨ttel (28. November 1748), in: Herzog August Bibliothek, Wolfenbu¨ttel, Gn Sam. Bd. 96 (38), Artikel Nr. 16. 25 Michelle O’Callaghan, Tavern Societies, the Inns of Court, and the Culture of Conviviality in Early Seventeenth-Century London, in: A Pleasing Sinne. Drink and Conviviality in Seventeenth-Century England, hg. v. Adam Smyth, Woodbridge 2004, S. 37–51. 26 Dagmar Freist, Wirtsha¨user als Zentren fru¨hneuzeitlicher O ¨ ffentlichkeit. London im 17. Jahrhundert, in: Kommunikation und Medien der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Johannes Burkhardt, Mu¨nchen 2005, S. 201–224; David Zaret, Petitioning Places and the Credibility of Opinion in the Public Sphere in Seventeenth-Century England, in: Political Space (wie Anm. 11), S. 175–195, bes. S. 187ff. 27 Simon Teuscher, Bekannte – Klienten – Verwandte. Soziabilita¨t in der Stadt Bern um 1500, Ko¨ln 1998, S. 197. 28 Canvassing for Votes, im Besitz des Sir John Soane’s Museum in London, ist in der Bridgeman Art Library online verfu¨gbar: http://www.bridgemanart.com/ (besucht 23. 9. 09); Everitt, Inn (wie Anm. 3), S. 111.

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len Eliten und Klienten herzustellen.29 Was außerdem in republikanischen Kontexten eine markante Rolle spielte war die innen- und außenpolitische Soziabilita¨t. Anla¨sslich der Wahl neuer Amtstra¨ger veranstaltete die Berner Zunft zum Mittello¨wen am 5. Ma¨rz 1785 ein Festmahl im Gasthof zum Falken. Laut den Menuaufzeichnungen des Wirtes Abraham Uffelmann bot er seinen Ga¨sten ein barockes Feuerwerk von Gerichten, Ga¨ngen und Tischdekorationen.30 Da Bern eine Institution wie der Fu¨rstenhof fehlte, konnten auch Ambassadoren und Gesandte fremder Ma¨chte nur in den fu¨hrenden Herbergen einigermaßen ada¨quat untergebracht und bewirtet werden. Der Rat nutzte fu¨r Staatsbankette regelma¨ßig die o¨rtlichen Nobelha¨user: neben dem Falken – etwa am 16. Juni 1783 zu Ehren von Freiburger Delegierten – vor allem auch die Krone, wobei der Seckelmeister seinen Kollegen periodisch (aber ziemlich erfolglos) Kostenbremsen aufzuerlegen suchte. Fu¨r den franzo¨sischen Staatstheoretiker Jean Bodin war diese Betonung des geselligen Beisammenseins denn auch ein distinktives Charakteristikum des eidgeno¨ssisch-republikanischen Politsystems.31 Natu¨rlich konnten Gruppenbildungen auch subversiven Charakter annehmen und in Widerstandsbewegungen mu¨nden. In der Fu¨rstabtei St. Gallen etwa tritt die Ambivalenz zwischen systemstabilisierenden und -unterminierenden Funktionen besonders klar zum Vorschein. Wie der Mikrostudie von Fabian Bra¨ndle zu entneh¨ bten als wertvolle Patronageressourcen, d. h. men ist, dienten Wirtepositionen den A sie verliehen Tavernen nur an „gute Katholiken“, die darauf zu achten hatten, dass die Soziabilita¨t in ihren Lokalen im Einklang mit kirchlichen Leitlinien verlief – umgekehrt aber schuf sich die protestantische Minderheit im Toggenburg Winkelwirtschaften, wo sich die Reformierten treffen und organisieren konnten.32 Genau umgekehrt waren um 1600 die konfessionellen Machtverha¨ltnisse in England, und auch hier dienten Gastha¨user als konspirative Zentren (Abb. 2).33 Eskalierten die Spannungen zur offenen Rebellion, so fanden sich Wirte oft an vorderster Front, sei es im Schweizerischen Bauernkrieg von 1653 – wo u. a. Stephan Lo¨tscher aus dem luzer29 Ulrich Pfister, Politischer Klientelismus in der fru¨hneuzeitlichen Schweiz, in: SchweizZG 42 (1992),

S. 28–68, bes. S. 47; Hannovers „Gastwirthe in den ersten Gastho¨fen“ geho¨rten um 1800 (zusammen mit Bankiers) zur ersten von fu¨nf Steuerklassen der o¨rtlichen Bu¨rger: Ludwig Hoerner, Marktwesen und Gastgewerbe im alten Hannover, Hannover 1999, S. 77. 30 Zur Vorspeise u. a. 6 verschiedene Suppen, 6 Fischgerichte, 3 mal Schnepfenragout und 20 Hors d’oeuvres, beim Bratengang 4 Trutha¨hne, 2 Fasane, 3 Rebhu¨hner, 2 Rehru¨cken, 1 Wildschwein, 2 Rindszungen, 2 Masthu¨hner und 24 Salate, gefolgt von Nachtischen wie 6 Caramels, 2 Melonen, 6 Konfitu¨ren, Schokoladen-Konfekt, Quittenschaum, Bretzeln, Zitronenringe und vieles andere mehr: Margrith Rageth-Fritz, Der Goldene Falken. Der beru¨hmteste Gasthof im alten Bern, Bern 1987, S. 155–158. 31 Ebd., S. 214 (Bankettliste); Jean Bodin, Sechs Bu¨cher u¨ber den Staat, u¨bersetzt von Bernd Wimmer, hg. v. Peter Cornelius Mayer-Tasch, Mu¨nchen 1981, S. 524. 32 Fabian Bra¨ndle, Public Houses, Clientelism and Faith: Strategies of Power in Early Modern Toggenburg, in: The World of the Tavern. Public Houses in Early Modern Europe, hg. v. Beat Ku¨min/B. Ann Tlusty, Aldershot 2002, S. 83–94. 33 Die Mo¨glichkeiten und Grenzen systemkritischer popular agency (gerade im von der Obrigkeit argwo¨hnisch beobachteten Mikroraum Wirtshaus) werden in der englischen Forschung gegenwa¨rtig lebhaft diskutiert. Siehe zuletzt Brown, Surveillance (wie Anm. 11), bes. S. 79f., und Mark Hailwood, Alehouses, Popular Politics and Plebeian Agency in Early Modern England, in: Reconceptualising Politics: Space and Popular Agency, c. 1500–1900, hg. v. Fiona Williamson, Cambridge 2010, S. 51–76.

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nischen Schu¨pfheim als Unruhestifter auffiel (ironischerweise der Wirt des Weißen Kreuzes, wo sich das lokale Gericht versammelte) – oder dem Bayerischen Volksaufstand von 1705 – wo die Mu¨nchner Gastgeber Johann Ja¨ger und Johann Georg Ku¨ttler wichtige Rollen spielten.34

Abb. 2: Der ehmalige Red Lion bei der Pfarrkirche St. Peter im Zentrum des Marktfleckens Dunchurch (Warwickshire, England) In diesem Wirtshaus warteten – wie es eine unten rechts an der Fassade erkennbare Gedenktafel festha¨lt – Mitbeteiligte am Gunpowder Plot am 5. November 1605 vergeblich auf die Besta¨tigung, dass Guy Fawkes das Parlamentsgeba¨ude in Westminster in die Luft gesprengt hatte. Dies wa¨re das Signal fu¨r einen katholischen Aufstand gegen das Regime von Jakob I. gewesen Foto: Beat Ku¨min (2004)

Doch selbst in diesem Zusammenhang bewiesen Wirtsha¨user Versabilita¨t: In Schu¨pfheim schwo¨rten die besiegten Untertanen der luzernischen Obrigkeit einen erneuerten Treueeid ausgerechnet im Lokal des Rebellen Lo¨tscher, und Vertreter der bayerischen Aufsta¨ndischen trafen sich zu Verhandlungen mit den o¨sterreichischen Besatzern im Gasthof Post zu Anzing. Mit seinem Aphorismus – men come to quarrel as well as to be made friends – traf der englische Geistliche John Earle im 17. Jahrhundert den Nagel auf den Kopf.35 34 Ku ¨ min, Drinking Matters (wie Anm. 10), S. 138–140. 35 John Earle, The Character of a Tavern, with a brief Draught of a Drawer, London 1675, S. 2.

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So konnten Wirtsha¨user, viertens, als Plattformen der Normendurchsetzung dienen. Fru¨hmoderne Staaten rekrutierten Gastgeber als quasi-Amtspersonen und ließen diese Eide schwo¨ren. 1617 verpflichteten sie sich in Bern: unseren gnedigen Herren der statt ... als irer natu¨rlichen oberkeit ... tru¨w und wahrheit zeleisten, ... derselben ... nutz zefu¨rderen und schaden zewenden, iren potten und verpotten, mandaten, ordnungen und satzungen getru¨wlich zegehorsammen und darob styff zehalten; ... und, so sy inn- und ußerthalb irer wirtschafften ettwas ho¨rten ... in worten oder wercken, so zu unheil, schaden und nachteil ir gn. Stand ... gereichen mo¨chte, so¨lches ohne verzug ir gn. oder dero amptlu¨then in gutten thru¨wen entdecken; ... argwo¨nige persohnen, wie ouch huren und buben, und insonderheit persohnen, so mit frantzosen oder anderen erbsuchten behafft, wu¨ßenthaft nit beherbrigen; [sowie] unschammhaffte ergerliche sachen nit gestatten.36 Am oberen Ende der Betriebsskala war es keineswegs ausgeschlossen, dass die Wirte selbst Ratspositionen einnahmen und somit in ihren Gaststuben direkt als Obrigkeit auftraten, gewissermaßen u¨ber ihre bloße Anwesenheit das Wirtshaus zu einem politischen Ort machten. Im bayerischen Markt Dachau, wo Altlwirt Ignaz Lumberger zwischen 1743 und 1768 mehrmals als Bu¨rgermeister amtete, waren 1646 von sechs Ratssitzen nicht weniger als fu¨nf durch Wein- und Biergastgebern belegt.37 In Go¨rlitz blieb die Ratsfa¨higkeit gar u¨ber die gesamte Fru¨hneuzeit auf die Besitzer der sta¨dtischen Brauho¨fe beschra¨nkt.38 Auch wo weit und breit keine Ra¨te auszumachen waren, wurden obrigkeitliche und kirchliche Normen unter den Ga¨sten selbst ausgehandelt. In der englischen Hafenstadt Southampton achteten Trinkgenossen sehr genau auf Vorkommnisse und Diskussionen an Nebentischen – schnappten sie etwas Verda¨chtiges oder Unmoralisches auf, so standen die Chancen nicht schlecht, dass die Ratsdiener davon in Kenntnis gesetzt wurden (Abb. 3). Durch Wandritzen und Schlu¨ssello¨cher wurde selbst in Schlafkammern geguckt, ob nicht etwa unverheiratete Paare illegitimen Aktivita¨ten fro¨nten. In solchen Szenarien waren Wirtsha¨user viel eher Bu¨hnen fu¨r die Verbreitung des public transcripts der Herrschenden als des hidden transcripts marginaler Gruppen.39 Noch viel direkter geschah Normendurchsetzung dort, wo – wie in Schu¨pfheim – die lokalen Gerichte nicht etwa in Ratha¨usern oder Herrschaftssitzen, sondern in Wirtsstuben tagten. Dies belegen zahlreiche Dorfgerichtsakten, Lehensbriefe, Weistu¨mer und Baupla¨ne im deutschsprachigen Raum,40 aber auch die Friedensrichter 36 Rechtsquellen des Kantons Bern, Teil 1, Bd. VIII/1: Wirtschaftsrecht, hg. v. H. Rennefahrt, Aarau

1966, S. 206–207.

37 Stadtarchiv Dachau, Ratsprotokolle, 1646, fol. 1 und passim. 38 Katja Lindenau, Brauen und herrschen. Die Go¨rlitzer Braubu¨rger als sta¨dtische Elite in Spa¨tmittelal-

ter und Fru¨her Neuzeit, Leipzig 2007.

39 Brown, Surveillance (wie Anm. 11), bes. S. 74. 40 Zwei bernische Beispiele liefern die „Ordinantz eines wirtzs zu Worb“ (1500; Rechtsquellen des Kan-

tons Bern 2, 4: Das Recht des Landgerichts Konolfingen, hg. v. Ernst Werder, Aarau 1950, S. 112–113) und ein Grundriss des Wirtshauses von Interlaken (1760; Staatsarchiv Bern, A V 1073, S. 28–29).

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des englischen Territorialstaats walteten ihres Amtes im o¨rtlichen Cross Keys, Red Lion oder Royal Oak inn. Ein zeitgeno¨ssischer Beobachter befand denn auch [that it would] be much more suitable to the Gravity of a Court of Justice were it kept in some Town-House or Market-House [and more conducive] to the Grace of the Business, if the Magistrate should sit aloft and conspicuous upon the Bench ... and not be obliged (as may be seen sometimes) to hold a Glass in one hand while he signs a Warrant with the other.41

Abb. 3: Erhard Scho¨n, „Wirtshausgespra¨ch“ (Holzschnitt, 1531) In einem Wirtshaus des fru¨hen 16. Jahrhunderts verfolgt ein Gast die Konversation einer Gruppe von Ma¨nnern an einem Nebentisch. Der Bildbetrachter observiert hier gewissermaßen die zeitgeno¨ssische Beobachtung einer sozialen Interaktion Quelle: Max Geisberg (Hg.), The German Single-Leaf Woodcut 1500–1550, u¨berarbeitet von W. L. Strauss, New York 1974, Bd. 3, S. 1124

Wa¨hrend in „social sites“ bestehende Normen hinterfragt wie durchgesetzt werden konnten, benutzten anderswo Machthaber Wirtsha¨user zur Erlassung von Gesetzen. In vielen Kleinsta¨dten und Ta¨lern des Berner Territoriums – Avenches, Burgdorf, Chaˆteau d’Oex, Gstaad, Huttwil, Ins, Meiringen, Moudon, Nyon, Oron, Payerne, Saanen, Steffisburg, Unterseen, Villeneuve, Yverdon usw. – waren die o¨ffentlichen Ra¨ume Rat- und Wirtshaus unter einem Dach vereinigt. Auch in der Region Oberrhein/Nordschweiz existierten mindestens 265 kommunale Stuben, in denen sich politische Versammlungen und nachbarschaftliche Soziabilita¨t eng ineinander verschra¨nkten.42 Es konnte aber auch in „normalen“ Wirtsha¨usern getagt und legiferiert

41 Zitiert in Russell F. Bretherton, Country Inns and Alehouses, in: Englishmen at Rest and Play. Some

Phases of English Leisure 1558–1714, hg. v. Reginald Lennard, Oxford 1931, S. 145–201, bes. S. 176.

42 Albrecht Cordes, Stuben und Stubengesellschaften. Zur do¨rflichen und kleinsta¨dtischen Verfassungs-

geschichte am Oberrhein und in der Nordschweiz, Stuttgart 1993, S. 229–316.

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werden. Bayerische Weistu¨mer des 15. und 16. Jahrhunderts etwa belegen, dass sich Dorf- und Hofmarksgenossen oft im Tanzhaus der o¨rtlichen Tafern zur Entscheidungsfindung trafen.43 In Republiken war es zudem mo¨glich, legislatorische Aktivita¨ten auf Bundesebene in Gastho¨fen vorzunehmen, so im Engel von Ku¨ssnacht (Schwyz) zwischen 1423 und 1712, wo – wie es eine Inschrift vor Ort vermerkt – wiederholt die Tagsatzung der fu¨nf katholischen Orte zusammentrat. Wechselt man von der konkreten auf die symbolische Ebene, um die Repra¨sentation von politischer Macht zu thematisieren, so fallen zuna¨chst Wirtshausschilder als prominente Bedeutungstra¨ger auf. Vielerorts enthielten diese Wappen von Grundherren und/oder territorialen Obrigkeiten: Im Emmentaler Dorf Ursenbach wurde der Lo¨we der ehemals herrschenden Kyburgerdynastie von den Wappen ihrer eidgeno¨ssischen Nachfolger umrahmt, mit dem Berner Ba¨ren der Ortsherrschaft oben im Zentrum. In der Oberla¨nder Gemeinde Gsteig zeigt ein um 1800 angefertigtes Schild gar eine cohabitation, indem der Kranich des halb-autonomen Saanenlandes dem Territorialherrn von Bern auf gleicher Ho¨he gegenu¨ber tritt. Daru¨ber steht der etwas gar plakative Spruch „Kranich und Baer / Die lieben sich saer“.44 Traten fru¨hneuzeitliche Ga¨ste dann ins Innere, strahlten ihnen oft weitere obrigkeitliche Signale entgegen. Seit dem 15. Jahrhundert verbreitete sich in der Schweiz die Sitte der Fensterschenkungen, also die Vergabe von Wappenscheiben zur Schmu¨ckung o¨ffentlicher Geba¨ude wie Rat- und Wirtsha¨user des eigenen wie benachbarter Territorien. Dabei vermischten sich praktische Vorteile (Einsparung von Glaskosten, geographische Orientierung) mit politischen Motiven (Freundschaftsbezeugungen und Herrschaftsanspru¨che) in vielgestaltiger Weise.45 Etwas prosaischer du¨rften die Druckexemplare von Wirteordnungen gewirkt haben, die detaillierte Menu-, Preis- und feuerpolizeiliche Vorschriften enthielten und oft explizit die o¨ffentliche Ausha¨ngung in den Gaststuben verlangten.46 In der Einscha¨tzung der Symboltheorie stellten solche Zeichen die jeweilige Obrigkeit nicht nur dar, sie machten sie in den Gaststuben buchsta¨blich pra¨sent.47 Allerdings wurde sie dadurch auch zur potentiellen Zielscheibe von Schma¨haktionen und Verspottung, besonders in Zeiten politischer Krisen wie dem englischen Jahrhundert der Revolutionen. Wa¨hrend die massenhaft produzierten (und viele Wirtshauswa¨nde schmu¨ckenden) Balladen Ko¨nig und Nation meist verkla¨rten, sahen sich unbeliebte Minister mit beißender Kritik konfrontiert. In einem besonders gewagten 43 Dorf-, Hofmarks-, Ehehaft- und andere Ordnungen in Ostbayern, hg. v. Walter Hartinger, Passau

1998, S. 42.

44 Abbildungen in Beat Ku ¨ min, Wirtshaus und Gemeinde. Zum politischen Profil einer kommunalen

¨ ffentliche Ra¨ume (wie Anm. 17), S. 75–97, bes. S. 78–82 und Abb. 1–2. Grundinstitution, in: O

45 Barbara Giesicke/Myle`ne Ruoss, In Honor of Friendship. Function, Meaning, and Iconography in

Civic Stained-Glass Donations in Switzerland and Southern Germany, in: Painting on Light. Drawings and Stained Glass in the Age of Du¨rer and Holbein, hg. v. Barbara Butts/Lee Hendrix, Los Angeles 2000, S. 43–55, hier S. 45f. 46 Siehe etwa Art. 13 der Gasthausordnung von Kurfu¨rst Maximilian I. vom 4. Januar 1631, Mu¨nchen, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Mandatensammlung (auch in: VD 17, 12:128532N). 47 Karl-Siegbert Rehberg, Weltrepra¨sentanz und Verko¨rperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien. Eine Einfu¨hrung in systematischer Absicht, in: Institutionalita¨t und Symbolisierung: Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, hg. v. Gert Melville, Ko¨ln 2001, S. 3–49, bes. S. 33.

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Exemplar wurde der Parteifu¨hrer der Whigs, der Earl of Shaftesbury, im Anschluss an die Turbulenzen der Exclusion Crisis an den Pranger gestellt. Wie damals jedermann wusste, hatten ihm Chirurgen durch einen ku¨nstlichen Harnausgang Linderung von einer Blasenkrankheit verschaffen wollen, was fu¨r Satiriker ein gefundenes Fressen darstellte. In einer unzweideutigen Darstellung einer Trinkrunde suggerierte der Illustrator, dass Shaftesbury durch seine Ausscheidungen nicht nur den Wein, sondern auch die politische Atmospha¨re vergifte.48 Umgekehrt ließ sich das kommunikative und rituelle Potential des Gasthauses auf der allerho¨chsten Ebene der ¨ ffentlichkeit“ instrumentalisieren: In den Zeremonialprotokollen „repra¨sentativen O des Wiener Kaiserhofs finden sich wiederholt die „zu Fasching aufgefu¨hrten Wirtschaften ... Bei diesen Verkleidungsfesten ... wurde das strenge Zeremoniell aufgehoben. Das Kaiserpaar wurde zum Wirtspaar, welches seine Ga¨ste, den Hofstaat, einen Abend lang bediente“49. Wie die bisherigen Ausfu¨hrungen zu zeigen versuchten, erstreckten sich die politischen Dimensionen des Wirtshauses weit u¨ber die gesellige Kommentierung aktueller Ereignisse. Was in diesen Ra¨umen vorging war deshalb auch daru¨ber hinaus von Interesse. Reflektiert wurde die soziale Interaktion auf verschiedenen Ebenen: einmal von den Organen der expandierenden Territorialstaat-Bu¨rokratie, die sich u¨ber Mandate, Verzeichnisse und Ordnungen intensiv mit den Vorteilen und Gefahren der kommerziellen Gastlichkeit auseinandersetzte (man konsultiere dazu lediglich die sich oft u¨ber mehrere Seiten erstreckenden Verweise in den Registern des Repertoriums der Policeyordnungen50). Das vielleicht spektakula¨rste Beispiel sind Maßnahmen im Umfeld der Kriminalisierung des Widerstandes nach 1525 – nachdem Obrigkeiten verschiedener Provenienz den Eindruck erhalten hatten, dass der Bauernkrieg von Trinkgenossen beim Wein initiiert worden sei, bannten etwa Tiroler Landesordnungen Winkelschenken als Horte haimlich[er] Conspirat[i]on, und der Abt von Ottobeuren belegte alle Ra¨delsfu¨hrer mit einem Wirtshausverbot.51 Zudem wurden Gaststa¨tten auch zum Zankapfel unterschiedlicher Interessengruppen. Insbesondere im Rahmen der reformierten Konfessionalisierung kam es zu regelrechten Anti-Wirtshaus-Kampagnen: Predigten englischer Puritaner evozierten geradezu apokalyptische Konsequenzen der Trinkversessenheit ihrer ungodly neighbours, und 1546 wurden in Genf kurzerhand alle Weinha¨user geschlossen. Als Ersatz boten die Pastoren den Bu¨rgern Bibelstuben mit konstanter Psalmenbeschallung, was sich aus einsichtigen Gru¨nden jedoch als weniger popula¨r erwies. Ein paar 48 Angela McShane Jones, Roaring Royalists and Ranting Brewers. The Politicization of Drink and

Drunkenness in Political Broadside Ballads from 1640 to 1689, in: A Pleasing Sinne (wie Anm. 25), S. 69–87, bes. S. 83f. 49 Christina Schmu ¨ cker, Im Wirtshaus zum „Schwarzen Adler“. Die Wirtschaften in den Zeremonialprotokollen (1652–1800), in: Der Wiener Hof im Spiegel der Zeremonialprotokolle, hg. v. Irmgard Pangerl u. a. (Forschungen und Beitra¨ge zur Wiener Stadtgeschichte 47), Innsbruck 2007, S. 435–462, bes. S. 435. 50 Fu¨r Altbayern siehe Wittelsbachische Territorien, hg. v. Lothar Schilling u. a. (Repertorium der Policeyordnungen der fru¨hen Neuzeit), 3. Bd., Frankfurt a. M. 1999. 51 Peter Blickle, The Criminalization of Peasant Resistance in the Holy Roman Empire: Toward a History of the Emergence of High Treason in Germany, in: JModH 58 (Supplement/1986), S. S88–S97, bes. S. S95.

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Wochen spa¨ter krebsten die Autorita¨ten zuru¨ck und die Ga¨ste stro¨mten wieder zum Wein.52 Auch der Berner Rat versuchte periodisch, mittels fla¨chendeckender Verzeichnisse u¨berflu¨ssige Wirtsha¨user zu identifizieren – oft (wie im Falle des vom o¨rtlichen Grundherrn protektionierten und noch heute existierenden Ba¨ren in Mu¨nsingen) ohne durchschlagenden Erfolg. Nur von Einda¨mmungspolitik zu sprechen vermittelt jedoch ein einseitiges Bild. Gerade merkantilistisch orientierte Obrigkeiten hatten ein reales Interesse daran, das Gastgewerbe zu fo¨rdern. Zum einen konnte die Stimulierung von Exporten nur mit einem engmaschigen Tavernennetz, wo Ha¨ndler aller Stufen die no¨tige Infrastruktur vorfanden, gelingen;53 zum anderen mauserten sich indirekte Steuern zu einem unverzichtbaren Standbein der o¨ffentlichen Finanzen. In den Sta¨dten des Reiches steuerte das Umgeld zwischen 10 und 80 % des Einkommens bei. Wie in Augsburg, wo Bier und Wein insbesondere in den Krisenzeiten des Dreißigja¨hrigen Krieges fast den gesamten Stadthaushalt finanzierten, war ha¨ufiges Trinken kein moralisches Vergehen, sondern ein gutes Werk zur Fo¨rderung des Gemeinen Nutzens.54 Auf einer anderen Ebene wiederum argumentierten fru¨he Stadtplaner wie Johann Peter Willebrand im ausgehenden 18. Jahrhundert: Nichts zieret eine Stadt so sehr ... und empfiehlet sich den Fremden mehr, als wohleingerichtete o¨ffentliche Wirtsha¨user, besonders wenn solche an den besten o¨ffentlichen Pla¨tzen der Stadt ... angelegt sind.55 Schließlich finden wir eine zeitgeno¨ssische Gasthaustheorie in der Belletristik, vertreten etwa durch die Fastnachtsspiele der Reformationszeit, das RenaissanceDrama von Shakespeare, Marlowe und Jonson, die Teufelsbu¨cher des konfessionellen Zeitalters oder die pikaresken Romane des 18. Jahrhunderts. Die englische Literatur beginnt bekanntlich in einem Pub und zwar dem Tabbard Inn des Wirtes Hugh Baillie in Southwark, von wo Chaucers Pilgergruppe ihren Weg nach Canterbury antrat. Generationen von Autoren konnten offensichtlich darauf bauen, dass ihr Publikum die Darstellung schichtenu¨bergreifender Soziabilita¨t und Verhandlung gesellschaftlicher Normen auf der Bu¨hne von Trinkstuben als kongenial und plausibel empfand. Nicht zuletzt sollte uns auch aufhorchen lassen, dass die Korrespondenten der – fu¨r ¨ ffentlichkeits-Forschung so zentralen – fru¨hen Zeitungen sich oft gerade in die O Wirtsha¨usern stationierten, weil auch sie wussten, dass dort die Nachrichtenstro¨me zusammenflossen. Als Bilanz la¨sst sich formulieren, dass das Wirtshaus seit dem Spa¨tmittelalter einen prominenten Bestandteil der europa¨ischen Kulturlandschaft bildete. Es war – wie das Rathaus, die Kirche und der Markt – eine kommunale Grundinstitution 52 Fritz Blanke, Reformation und Alkoholismus, in: Zwingliana 9 (1953), S. 75–89, bes. S. 84f. 53 1688 etwa rechtfertigte der Berner Rat die Erstellung eines neuen territorialen Wirtshausverzeichnisses

mit dem Anliegen, die sach dahin ein[zurichten], daß an denen Land vnd anderen Straßen in Stetten vnd Do¨rferen, die Reisenden die no¨htige Comligkeit wegen den Herbergen finden: Staatsarchiv Bern, B V 143, S. 36. 54 Tlusty, Bacchus (wie Anm. 7), S. 177; Vergleichszahlen in Richard W. Unger, Beer in the Middle Ages and the Renaissance, Philadelphia 2004, S. 197. 55 Johann Peter Willebrand, Grundriß einer scho¨nen Stadt, in Absicht ihrer Anlage und Einrichtung zur Bequemlichkeit, zum Vergnu¨gen, zum Anwachs und zur Erhaltung ihrer Einwohner, Bd. 1, Hamburg 1775–1776, S. 282.

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multifunktionalen Charakters und aus der bu¨rgerlichen wie ba¨uerlichen Soziabilita¨t nicht wegzudenken. Erscheint die Versorgung in Sta¨dten hoch differenziert und das Ga¨steprofil einzelner Betriebe relativ homogen, so generierten insbesondere die konkurrenzlosen la¨ndlichen Tavernen sozial und funktional besonders hoch verdichtete Ra¨ume. Fru¨hneuzeitliche Wirtsha¨user waren sicher nicht immer politisch relevant. Oft beschra¨nkte sich das Aktivita¨tsspektrum auf die Grundfunktionen von Trinken und Geselligkeit, manchmal waren die Gaststuben auch leer. Dasselbe gilt aber auch fu¨r andere Hospitalita¨tstypen wie das Kaffeehaus und so ko¨nnen wir als ein ¨ berblickes festhalten, dass sich das „Politische“ in MikroResultat dieses knappen U ra¨umen situativ konstituierte. Vielleicht erkla¨rt sich die Prominenz des Kaffeehau¨ ffentlichkeitsdebatte einfach daraus, dass es seit der Fru¨hen ses in der historischen O Neuzeit die besseren PR-Leute und Diskursmanager hatte und die eindru¨cklicheren „Geltungsgeschichten“ vorlegen konnte.56 In der ganz wesentlich durch Alkohol lubrizierten vormodernen Vergesellschaftung jedoch spielten Wirtsha¨user wohl eine wichtigere Rolle und zwar als „social sites“ in einem umfassenden Sinne. Hier konnte Macht repra¨sentiert, diskutiert, herausgefordert und auch selber ausgeu¨bt werden. Dies fiel nicht nur den zufa¨llig pra¨senten Akteuren auf, sondern auch bu¨rokratischen Organen, Zeitungsschreibern, Ku¨nstlern und Vertretern der belles lettres. Deren Reflexionen strukturierten wiederum das Verhalten nachfolgender Wirtshausga¨ste: so haben wir gesehen, dass Mandate an den Wa¨nden von Trinkstuben anzuschlagen waren und, wie am Beispiel Southampton illustriert, Normenversto¨ße von ¨ ffentWirten und Trinkgenossen denunziert wurden. Will man mit Rudolf Schlo¨gl O lichkeit nunmehr als „Beobachtung“ konzipieren, so spra¨che vieles dafu¨r, das Wirtshaus als einen Testfall in den Blick zu nehmen. Die beobachtende Gasthaus-Soziabilita¨t wurde auf verschiedenen Ebenen ihrerseits beobachtet, so dass man von einem beobachteten Beobachtungsraum sprechen ko¨nnte – vielleicht finden wir hier ein fru¨¨ ffentlichkeit? hes Beispiel einer Koexistenz von performativer und medialer O Mit Blick auf Tendenzen der Forschung sei abschließend noch dafu¨r pla¨diert, auch in der „neuen“ Politikgeschichte nicht von „traditionellen“ Ansa¨tzen zu abstrahieren. Diskurse, Repra¨sentationen und Wahrnehmungen aller Themen, die dieser Beitrag aus Sicht der Wirtshausga¨ste skizzierte, interagierten mit konkreten Variablen wie Herrschaftsrechten, Besitzverha¨ltnissen und Materialkulturen. Soviel sie auch von kommunikationstheoretischen Einsichten profitieren ko¨nnen, so haben die guten alten Verfassungs-, Realien- und Sozialgeschichte(n) gerade in relational konstituierten Mikrora¨umen noch lange nicht ausgedient.

56 Susanne Rau/Gerd Schwerhoff, Fru¨hneuzeitliche Gasthaus-Geschichte(n) zwischen stigmatisieren-

den Fremdzuschreibungen und fragmentierten Geltungserza¨hlungen, in: Geltungsgeschichten, hg. v. Gert Melville/Hans Vorla¨nder, Ko¨ln 2002, S. 181–201; „die Schenke la¨ßt in ihrer Funktion als Umschlagplatz fu¨r Neuigkeiten, als Kommunikationszentrum, wo man Erfahrungen, Geho¨rtes und ¨ ffentlichkeit entstehen; die neueGesehenes, spa¨ter auch Gelesenes austauschen kann, eine politische O ren Forschungen u¨ber das Kaffeehaus und die scharfe Gegenu¨berstellung von Kaffee und alkoholischen Getra¨nken haben diese Tatsache etwas verdeckt“: Gerhard Tanzer, „Spectacle mu¨ssen seyn“. Die Freizeit der Wiener im 18. Jahrhundert, Wien 1992, S. 190.

¨ FFENTLICHER RAUM DAS KAFFEEHAUS ALS O Das Beispiel Salzburg* von Gerhard Ammerer

¨ ffentliche Ra¨ume sind nichts Statisches, Vorgegebenes, sondern entstehen durch O soziale Pha¨nomene, durch Handlungen und Wahrnehmungen, wie uns Martina Lo¨w in ihrer Soziologie des Raumes u¨berzeugend vermittelt hat.1 In o¨ffentlichen Ra¨umen werden Meinungen rezipiert und ausgetauscht, Kritik geu¨bt, Entscheidungen getroffen und obrigkeitliche Macht demonstriert. Durch jeweils unterschiedliche Handlungsabla¨ufe sind o¨ffentliche Ra¨ume dynamisch und prozessual. Sie zeichnen sich durch spezifische Atmospha¨ren und durch unterschiedliche Auspra¨gungen von ¨ ffentlichkeit aus. O ¨ ffentlichkeit“ zwei eng verschra¨nkte Begriffe sind, Darauf, dass „Raum“ und „O hat Gerd Schwerhoff auf der Tagung zu Recht hingewiesen.2 An dem von Ju¨rgen ¨ ffentlichkeit ha¨tten sich KohorHabermas 1961 vorgelegten Konzeptionen von O ten von Historikern abgearbeitet, ohne je zu einem wirklich befriedigenden Ergebnis gekommen zu sein. Habermas hat seinen Begriff der bu¨rgerlichen (ra¨sonieren¨ ffentlichkeit als Analyseinstrument in Abgrenzung zur repra¨sentativen (herrden) O ¨ ffentlichkeit entwickelt. Erstere stellt fu¨r Habermas den Inbegriff schaftlichen) O derjenigen Kommunikationsbedingungen [dar], unter denen eine diskursive Meinungs- und Willensbindung eines Publikums von Staatsbu¨rgern zustande kommen ko¨nne3, und er hat sie als autonome Spha¨re der zum Publikum versammelten Privatleute definiert, die sich in der politischen Auseinandersetzung mit der o¨ffentlichen Gewalt des Ra¨sonnements bediente. Das Analyseinstrument „bu¨rgerliche (ra¨sonie¨ ffentlichkeit“ ist allerdings, so haben seine Kritiker klar gemacht, nur fu¨r rende) O

* Beim folgenden Beitrag handelt es sich um die Adaption eines bereits publizierten Artikels fu¨r den

Kontext des vorliegenden Sammelbandes, vgl. Gerhard Ammerer, Das Kaffeehaus. Ort des Gespra¨chs, ¨ ffentliche Ra¨ume in des Streites, des Spiels, der Lektu¨re und des Konsums, in: Rathaus. Kirche. Wirt. O der Stadt Salzburg, hg. v. Dems./Thomas Weidenholzer (Schriftenreihe des Archivs der Stadt Salzburg 26), Salzburg 2009, S. 157–167. 1 Martina Lo ¨ w, Raumsoziologie (Suhrkamp Taschenbuch. Wissenschaft), Frankfurt a. M. 2001. 2 Vgl. auch Gerd Schwerhoff, O ¨ ffentliche Ra¨ume und politische Kultur in der fru¨hneuzeitlichen Stadt: Eine Skizze am Beispiel der Reichsstadt Ko¨ln, in: Interaktion und Herrschaft. Die Politik der fru¨hneuzeitlichen Stadt, hg. v. Rudolf Schlo¨gl, Konstanz 2004, S. 113–136. 3 Ju¨rgen Habermas, Strukturwandel der O ¨ ffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bu¨rgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1991, S. 38.

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sehr begrenzte (Zeit-)Ra¨ume der vormodernen Stadt u¨berhaupt anwendbar und ist ¨ ffentin jedem Fall modifizierungs- und erweiterungsbedu¨rftig. Die „bu¨rgerliche O lichkeit“ im Sinn von Habermas setzt den selbst bestimmten Privatmann, den souvera¨nen „Staatsbu¨rger“, voraus, von dem man nicht vor dem ausgehenden 18. Jahrhundert sprechen kann. Erst in dieser letzten Phase des Alten Reiches kam es zu o¨ffentlichen Diskursen der Bu¨rger und durch die neuen Kommunikationsmedien zu fundamentalen Transformationen des Gesellschaftssystems.4 Eingegrenzt auf diese Zeit und die Spha¨re der Stadt ist das Modell von Habermas zur Beschreibung der Vergesellschaftungs- und Diskursformen nach wie vor anwendbar, wenngleich die neuere ¨ ffentlichkeit stark Forschung die Bipolarita¨t der repra¨sentativen und ra¨sonierenden O aufgeweicht und der dialogischen Kommunikation zwischen Obrigkeit und Untertanen einen neuen, erweiterten Stellenwert zugewiesen hat. ¨ ffentlichkeit, welche auf der quantiAls Vorzeigebeispiel fu¨r die ra¨sonierende O tativen Zunahme, thematischen Ausdifferenzierung und inhaltlichen Sa¨kularisierung von Druckwerken basierte und die Kommunikation(sstrukturen) nachhaltig vera¨ndert hat,5 wurde schon von Habermas – nicht zu Unrecht – das Kaffeehaus thematisiert. Der Verdichtung der Informations- und Kommunikationsprozesse diente dort das quantitativ wie qualitativ zum Teil a¨ußerst beachtliche o¨ffentliche Lektu¨reangebot. Allerdings war das Ra¨sonieren, die politische Diskussion, nicht immer im Sinn der Obrigkeit bzw. der guten Policey.

1.

„Unruheherd“ Kaffeehaus?

Wir haben vernommen, daß o¨ffentliche Gast- und Kaffeeha¨user nicht selten bis tief in die Nacht [...] offen gehalten werden; eine der ersten Ursachen nicht bloß na¨chtlicher Tumulte und Ruhesto¨rungen in den Strassen der Stadt [...] Um also dem Uebel von dieser Seite wirksam zu steuern, verordnen Wir hiermit, 1) daß alle Wirths- Gastund Bra¨uha¨user von nun an la¨ngstens bis 11 Uhr, – die Kaffeeha¨user aber bis 12 Uhr Nachts geschlossen [werden sollen ...] 5) ist gegenwa¨rtige Verordnung nicht nur o¨ffentlich anzuheften, und durch Trommelschlag bekannt zu machen, sondern auch mittels gedruckter Exemplare in alle Gast- und Kaffeeha¨user zu vertheilen.6 Dieses Zitat aus einem vom Salzburger Stadt- und Landesherrn, Erzbischof Hieronymus Graf Colloredo 1799, ein gutes Jahr vor dem Herannahen der franzo¨sischen Truppen und seiner Flucht, erlassenen (und 1801 erneuerten) Mandat zeigt, dass die

4 Rudolf Schlo ¨ gl, Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen

und ihre Transformation in der Fru¨hen Neuzeit, in: GuG 34 (2008), S. 155–224, hier S. 157 u. 161.

5 In Salzburg war dies in besonderer Weise wa¨hrend der Phase der Spa¨taufkla¨rung unter Fu¨rsterzbischof

Hieronymus von Colloredo der Fall; vgl. Ludwig Hammermayer, Die Aufkla¨rung in Salzburg, in: Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, Bd. II/Teil 1, hg. v. Heinz Dopsch/Hans Spatzenegger, Salzburg 1988, S. 375–452, hier S. 434–452. 6 StadtA Salzburg, Generalia (Sperrstundenordnung fu¨r Gast-, Kaffee- und Bra¨uha¨user, 23. Sept. 1799).

Das Kaffeehaus als o¨ffentlicher Raum

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Gaststa¨tten – nicht nur die Kaffeeha¨user – in politisch virulenten Zeiten als potentielle Unruheherde argwo¨hnisch betrachtet wurden. Die obrigkeitlich verordneten Redu¨ ffnungszeiten waren Versuche, die o¨ffentliche politische Diskussion zierungen der O unter den na¨chtlichen Besuchern der Lokale zu behindern. Zwischen 1792 und 1802 kam es in Salzburg zu zahlreichen „Unruhen“, in denen die Bevo¨lkerung ihrer Unzufriedenheit mit der als dru¨ckend empfundenen Regierung des letzten absolutistischen Fu¨rsterzbischofs Ausdruck gab.7 Bereits im Juni 1796, als sich die Sa¨kularisation des Erzstifts erstmals abzuzeichnen begann, war es zu einer pra¨ventiven Vorverlegung der Kaffeehaus-Sperrstunde gekommen. Anfang Juli erging an den Salzburger Hofrat ein Schreiben, in dem von einem na¨chtlichen Tumult die Rede war. Nach den Bauern8 waren es nun auch die Stadtbewohner, vornehmlich Gesellen und Studenten, welche die Ideen und Schlagworte der franzo¨sischen Revolution aufgriffen, o¨ffentlich kundgaben und damit die Gefahr eines Aufstandes der Bevo¨lkerung heraufbeschworen – das befu¨rchtete zumindest Erzbischof Colloredo, der bereits im Jahr davor an seinen Bruder geschrieben hatte, dass man damit rechnen mu¨sse, einer nach dem anderen verjagt zu werden, nicht durch den Feind, sondern durch unsere eigenen Untertanen9. Die vor den Hofrat geladenen Vorsteher der großen Zu¨nfte a¨ußerten, glauben wir dem Protokoll der Beho¨rde, den Bu¨rgerwunsch: Es solle doch endlich genug seyn, wenn die Oefnung der Wirths- und Bra¨uha¨user bis 11. Uhr, dann die Oefnung der Kaffeeha¨user bis 1/2 12 Uhr Nachts in den 6. Sommermonaten, und in den Wintermonaten bis 10. Uhr geduldet wird.10 Dadurch ko¨nne dem na¨chtlichen Herumschwa¨rmen wodurch die jungen Leute aus aller Ordnung gebracht werden, Einhalt gemacht wie auch die fortdauernden Saufgelage, die schwa¨rmerischen Ko¨pfe erhizen und zu Raufha¨ndel fu¨hrten, abgestellt werden. Den aktuellen Anlass fu¨r die Vorverlegung der Sperrstunde bildeten die fortgesetzten na¨chtlichen „Ausschreitungen“ im Juni 1796, Sympathiekundgebungen fu¨r die Werte der franzo¨sischen Revolution. Der vorgestern Nachts zwischen Studenten, Handwerksgesellen und dem Militair entstandene, und heute Nacht gegen den Adjutanten und den Gemeinen Zehener fortgesezte Tumult und Auflauf mit Rufung: Freyheit, Gleichheit11 fu¨hrte zum obrigkeitlichen Einschreiten und zu einer abermaligen Sperrstundenverku¨rzung. Noch vor der Besetzung von Salzburg durch das siegreiche franzo¨sische Heer zielten, je mehr sich der Schauplatz des Krieges [...] na¨hert [...] und die Zeitla¨ufte neuerlich bedenklicher und gefahrvoller werden, die obrigkeitlichen Maßnahmen darauf,

7 Vgl. dazu vor allem Gilda Pasetzky, Das Erzbistum Salzburg und das revolutiona¨re Frankreich

(1789–1803) (Europa¨ische Hochschulschriften III, 680), Frankfurt a. M. u. a. 1995, S. 91–123. 8 Vgl. vor allem Norbert Schindler, Wilderer im Zeitalter der Franzo¨sischen Revolution. Ein Kapitel

alpiner Sozialgeschichte, Mu¨nchen 2001.

9 Zit. nach Pasetzky, Salzburg und Frankreich (wie Anm. 7), S. 98. 10 Salzburger Landesarchiv (ku¨nftig SLA), Landschaft I/10 (Schreiben des Stadtsyndikus an den Hofrat,

2. Juli 1796).

11 SLA, Landschaft I/10 (Protokoll v. 23. Juni 1796, aufgenommen vom Salzburger Stadtsyndikus); Her-

vorhebung im Original. Vgl. Franz V. Zillner, Geschichte der Stadt Salzburg, 2. Bd., 2. H., Salzburg 1890 (Reprint, Salzburg 1985), S. 604.

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Gerhard Ammerer

das Politisieren und Ra¨sonieren u¨ber Tagesereignisse mo¨glichst hintanzuhalten.12 Es sollte auf Bescheidenheit, Ma¨ßigung und Ru¨ckhalt mit politischen Gespra¨chen [...] und dergleichen Kannegießereyen [, die] meistens bey o¨ffentlichen tief in die Nacht verla¨ngerten Trinkgelagen und Zusammenku¨nften passierten, Bedacht genommen werden. Um die Gelegenheiten zu solchen politischen Gespra¨chen mo¨glichst zu mindern [sollen] von nun an bey naher Feindesgefahr alle Wirths- und Kaffeeha¨user ohne Unterschied um 10 Uhr Nachts geschlossen seyn. Auch wurde allen Gastgeben, Schankwirthen, Kaffeesiedern, und allen andern, bey welchen o¨ffentliche Zusammenku¨nfte gehalten, und offne Gewerbe getrieben werden, gemessenst auf[getragen], daß sie auf keine Art bey sich einem Gespra¨che, Discurse oder Dispute u¨ber die gegenwa¨rtige Kriegsangelegenheiten und o¨ffentliche Veranstaltungen statt geben, oder dergleichen fu¨hren und fortsetzen lassen.13 In den fu¨r die Salzburger Gastronomie auch o¨konomisch schwierigen Jahren um 1800 mussten also die vier Salzburger Schokolade- und Kaffeeschenken14 mit dem Argwohn von Obrigkeit und Kritikern rechnen und leben, die sich um „Recht und Ordnung“ im Gemeinwesen sorgten und denen die ra¨sonierende, o¨ffentliche Diskussionskultur im Kaffeehaus ein Dorn im Auge war, die es bestmo¨glich unter Kontrolle zu halten galt.

2. Lage, Sperrstunde und Konflikte

Die Beaufsichtigung der o¨ffentlichen Orte, insbesondere des Kaffeehauses als Treffpunkt von Intellektuellen, Beamten und Studenten, war jedoch nicht nur eine Sache des Reagierens aus aktuellem Anlass, sondern Teil der allta¨glichen obrigkeitlichen Ordnungsstrategie und fand bereits bei der Vergabe von gewerberechtlichen Konzessionen Beachtung. Die polizeiliche Kontrolle der Kaffeeha¨user sollte dadurch gewa¨hrleistet werden, dass das Lokal unweith einer Wacht15 anzusiedeln war. Neben der Lage der Lokalita¨t war auch die Sperrstunde ein normativ verankertes Ordnungselement, das obrigkeitlich kontrolliert wurde. Bereits ein Jahrhundert vor den Franzosenkriegen, in der Zeit der Anfa¨nge von Kaffeekonsum und -kultur sah sich der in Salzburg ansa¨ssige Ha¨ndler Johann Fontaine nach dem Beschluss des Salzburger Hofrats vom 31. Ma¨rz 1700, der ihn als ersten Gewerbetreibenden zur failhabung vnd Verkhauffung der Chocolate, The, Caffe`, vnd dergleichen16 berechtigte, nach einem geeigneten Standort fu¨r sein Kaffeegewo¨lbe um. Seine Bemu¨hungen um

12 SLA, Landschaft I/10 (Erzbischo¨fliche Verordnung, 1. Juli 1800). 13 Ebd. 14 Lorenz Hu ¨ bner, Beschreibung der hochfu¨rstlich-erzbischo¨flichen Haupt- und Residenzstadt Salz-

burg und ihrer Gegenden verbunden mit ihrer a¨ltesten Geschichte, 2. Bd., Salzburg 1793, S. 410.

15 SLA, Protokolle des Hofrates 1753, fol. 783v–783r. 16 SLA, Protokolle des Hofrates 1700, fol. 588v.

Das Kaffeehaus als o¨ffentlicher Raum

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eine Liegenschaft im Zentrum der Stadt, die offen und einsichtig gelegen war, hatten jedoch aus Mangel an geeigneten Pachtobjekten keinen Erfolg. Seine Wahl fiel schließlich auf ein im Sinne der Obrigkeit wenig geeignetes Gewo¨lbe in der Goldgasse (Nr. 5) und damit auf Ra¨umlichkeiten in einer der engsten Gassen der Stadt.17 Das schlecht gelegene und bescheiden ausgestattete Cafe´ ereilte denn auch rasch ein zweifelhafter Ruf. Zudem unterschied es sich mit Ausnahme des Ausschanks der neuen Heißgetra¨nke und der Mo¨glichkeit, Billard zu spielen, wenig von den quali¨ hnliches galt fu¨r das Publikum, darunter tativ mittelma¨ßigen Gaststa¨tten der Stadt. A viele Studenten, die auch hier des Nachts nie heimgehen wollten – eine historische Konstante im gesellschaftlichen Leben jeder Stadt? Da der Betreiber des Kaffeegewo¨lbes als „Hausherr“ fu¨r alle negativen Vorkommnisse in seinem Lokal – ob die Ga¨ste nun la¨nger verblieben als gesetzlich vorgesehen, Streitha¨ndel anfingen, was in der Goldgasse wiederholt der Fall war, oder verbotenes Glu¨cksspiel betrieben – zur Verantwortung gezogen wurde, fu¨hrten die zahlreichen Beanstandungen, besonders wegen wiederholter Missachtung der Sperrstunde, schließlich dazu, dass Johann Fontaine wenige Jahre nach der Ero¨ffnung seines Kaffeehauses seine Gewerbeberechtigung wegen Ungebu¨hr wieder verlor.18 Einige Zeit spa¨ter wurde ihme der Caffee Verschleiß cum Annexis, wie auch das Billard Spill wiederumb gestattet, allerdings unter der Auflage, dass er gleichwohlen darob sein solle damit weeder in dennen Reden noch sonsten einige Vngebu¨hr vorbeygehe, auch zu Abents vmb Ave Marie Le¨uthen niemandt mehr die aufenthaltung bey ihme verstattet, sondern sowohl ein ans ander gespa¨rt sein, zu solchem endt auch sobald man am Schloß die Spa¨rr gloggen Leuthet, seine Go¨sst in Sachen ein end zumachen, ermahnt, widrigen fahls vnd da er hierwider zu excedieren sich vnterstehen wurdte, ihme nit alein der Caffee´ Verschleiß vnd Billardt Spill Vo¨llig abgeschafft sondern auch der Billardt wu¨rcklich confisciert werden solle.19 ¨ ffnungszeiten auch in den FolgejahTrotz dieser ernsten Warnung blieben die O ren ein aktuelles Thema. So hatte sich die Beho¨rde bereits 1706 – abermals nach einer Anzeige – erneut mit der Sperrstunde des Fontainschen Kaffeegewo¨lbes zu bescha¨ftigen. Der zur Beweisaufnahme u¨ber das na¨chtliche Thrinken des Caffee, chocolate und anders in der Goldgasse zur Einvernahme vorgeladene Kammerdiener Johann Georg Feyersenger sagte aus, dass sich die Besucher, insbesondere die Studenten, immer wieder nachts bis auf 11. und 12. Uhr auch lenger im Lokal aufhalten wu¨rden. Damit vom Hofrat konfrontiert, widersprach Fontaine den Vorwu¨rfen nicht, sondern erkla¨rte, dass viele Ga¨ste erst nach der Sperrstunde der Wirtsha¨user um 21 Uhr bei ihm einkehrten, umb sich mit obigen Trankh abzukielen, um also (irrigerweise) durch den Kaffeekonsum ihren Alkoholpegel zu reduzieren.20 Der neuerliche und nachdru¨ckliche Auftrag zur Beachtung der Sperrstunde, vor allem die ernsthafte

17 Vgl. Thomas Weidenholzer, Goldgasse, in: Das Salzburger Mozart-Lexikon, hg. v. Gerhard

Ammerer/Rudolph Angermu¨ller, Bad Honnef 2005, S. 144f. 18 Zillner, Salzburg (wie Anm. 11), S. 656f. 19 Zit. nach Mozart-Archiv (Internationale Stiftung Mozarteum), Materialien Buch III, S. 269f. (Ent-

scheidung des Geheimen Rates, 30. April 1704).

20 SLA, Protokolle des Hofrates, 1706/I, Beilage zu fol. 20.

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Androhung der Schließung des Kaffeehauses scheint wirkungsvoll gewesen zu sein, denn der mit der Nachschau beauftragte Stadtsyndikus fand fortan keinen weiteren Grund zur Klage21 – die obrigkeitliche Kontrolle des o¨ffentlichen Raumes schien damit gewa¨hrleistet. Eine andere Form von Ordnungswidrigkeit wurde ein halbes Jahrhundert spa¨ter dem Hoftrompeter Franz Engelhart vorgeworfen, der das Lokal 1753 u¨bernommen hatte. Die Beho¨rde wies auf den Umstand hin, dass ihr zwar bekannt sei, dass bey dieser Zeit der Bu¨rgersstandt so schlecht und vera¨chtlich gehalten werde, [...] diesß orths hete man [allerdings] geglaubet, dem guetten Engelhardt wu¨rde zu einer mehreren Ehre gereichen [...], den Namen eines Ehrsamen Bu¨rgersmannß oder Inwohners zu tragen [, und nicht] ohne allen Caracter ein blosßer Caffe-Sieder zu sein.22 Ein qualifizierter rechtlicher Status, so die Meinung des Stadtrates, sei innerhalb des urbanen Gemeinwesens erforderlich, um o¨ffentlich das Kaffeesieder-Gewerbe ausu¨ben zu du¨rfen. Trotz dieser deutlichen Aufforderung schob Engelhart das Ansuchen um den Erwerb des Bu¨rgerrechts immer wieder hinaus, vermutlich aus finanziellen Gru¨nden. Parallel zu seiner Verzo¨gerungstaktik suchte er angesichts der ungu¨nstigen Lage und des schlechten Rufs seines Lokals auch nach einem neuen Standort und bemu¨hte sich etwa (vergeblich) um das Grundtnersche Gewo¨lbe in der Kirchgasse (Sigmund-Haffner-Gasse 3).23 Weiterhin kamen im Kaffeegewo¨lbe in der Goldgasse Streit- und Raufha¨ndel vor. Im Verlauf einer solchen handfesten Auseinandersetzung verletzte Franz Engelhart 1753 einen Studenten der Theologie und Philosophie lebensgefa¨hrlich, wofu¨r er nicht nur zu einer Schanzstrafe verurteilt wurde, sondern auch seine Gewerbeberechtigung verlor.24 Der Ruf des Cafe´s, das bald danach an Anton Staiger u¨bertragen wurde, verbesserte sich zwar unter dessen Leitung, doch blieben kleine Zwischenfa¨llen auch weiterhin nicht aus. Eine dieser Begebenheiten belegt anschaulich, dass das Kaffeegewo¨lbe neben dem Wirtshaus zu den o¨ffentlichen Foren za¨hlte, wo sich ma¨nnliches Geltungsbedu¨rfnis in Form von Beleidigungen und Ehrabschneidungen offenbarte.25 Im Juni 1761 gelangte beim Rektor der Salzburger Universita¨t ein glu¨cklicherweise glimpflich ausgegangener Streit zur Anzeige. Daran beteiligt waren ein unbekannter Badergeselle sowie eine Handvoll Priester und Theologiestudenten.26 Die Gerichtsbeho¨rde, an die der Fall weitergegeben wurde, erhob, dass der fremde Handwerksbursche etwa um halb zehn Uhr nachts zwei nacheinander ins Cafe´ eintretende Geistliche, den Diakon Pater P. Peintner und den Passauer Minoriten Wolfgang Mayr, mit den Worten „begru¨ßt“ hatte: Da kommt mehrmal ein liederlicher Pfaff bzw. hernach: 21 Ebd., fol. 30. 22 Mozart-Archiv, Materialien Buch III, S. 270f. 23 Ebd., S. 54 u. 272. 24 SLA, Protokolle des Hofrates, 1753, fol. 753v. 25 Vgl. B. Ann Tlusty, ‚Privat‘ oder ‚o¨ffentlich‘? Das Wirtshaus in der deutschen Stadt des 16. und

¨ ffentliche Ra¨ume in Spa¨tmittelalter und 17. Jahrhunderts, in: Zwischen Gotteshaus und Taverne. O Fru¨her Neuzeit, hg. v. Susanne Rau/Gerd Schwerhoff, Ko¨ln/Weimar/Wien, S. 53–73, hier S. 55. 26 Universita¨tsarchiv Salzburg, Universita¨tsgerichtsakten Causae IX, 5. 1. 1761 (Protokollsextrakt v. 5. Juni 1761).

Das Kaffeehaus als o¨ffentlicher Raum

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Es komme alle liederliche Pursch allhier zusamm. Nach einem heftigen Wortgefecht griff Peintner den verbalen Provokateur an und dra¨ngte ihn an die Wand. Als dieser versuchte, nunmehr mit Fa¨usten auf den Diakon loszugehen, stellten sich drei im Lokal anwesende Theologiestudenten zwischen die beiden und verhinderten damit ein Eskalieren der Situation. Im Regelfall, so scheint es, fungierten also die Kaffeehausga¨ste und der Lokalbesitzer nicht nur als o¨ffentliches Publikum fu¨r Sticheleien, Beleidigungen und Provokationen, sondern boten als Schlichter und Vermittler auch die (wenngleich unsichere) Gewa¨hr, dass die Auseinandersetzung ein „Schaukampf“ blieb und boten damit eine gewisse Garantie fu¨r die ko¨rperliche Unversehrtheit der Streitparteien.

3.

Das o¨ffentliche Spiel

Auch die allta¨glichen o¨ffentlichen Funktionen des Kaffeehauses waren vielfa¨ltig. Sie reichten von Angeboten des Zeitvertreibs und der Information – wobei gerade das Billardspiel und die aufliegenden (internationalen) Zeitungen, Broschu¨ren, Flugbla¨tter etc. dieses grundlegend von allen anderen Lokalita¨ten unterschied – u¨ber die Mo¨glichkeit der Kommunikation zwischen auswa¨rtigen Ha¨ndlern und der Stadtbevo¨lkerung oder sogar der Nutzung als Verkaufslokal wa¨hrend der Dultzeit27 bis hin zu einer vom Cafetier obrigkeitlich eingeforderten Kontrolle u¨ber seine Ga¨ste. In erster Linie war das Kaffeehaus jedoch ein Ort fu¨r Kurzweil und Unterhaltung, wo getrunken, geredet, (um Geld) gespielt, bisweilen auch getanzt und musiziert wurde. Bereits bei seiner Ero¨ffnung im Jahr 1700 war das Fontainesche Kaffeehaus mit einem Billard-Spill ausgestattet und besaß damit einen der ersten quellenma¨ßig dokumentierten o¨ffentlichen Spieltische im deutschsprachigen Raum. Diese geho¨rten bald zur Standardausstattung eines Kaffeehauses und boten dem Betreiber einen zuweilen ¨ blicherweise kostete einer Billardpartie etwa recht eintra¨glichen Zusatzverdienst.28 U 29 gleich viel wie eine Tasse Kaffee. Bereits im ersten Betriebsjahr fu¨hlte sich Johann Fontaine allerdings in seinen Einku¨nften aus den Spielgebu¨hren durch einen Konkurrenten beeintra¨chtigt. Er zeigte bei der Beho¨rde an, dass der Fechtmeister Franz Mischelet ein o¨ffentliches Billard betreibe, ohne dafu¨r eine Konzession zu besitzen und forderte die sofortige Unterlassung dieses unerlaubten Spielbetriebs, die der Hofrat auch aussprach30.

27 Vgl. Gerhard Ammerer, Das Tomaselli und die Salzburger Kaffeehaustradition seit 1700, Wien 2006,

S. 93f. 28 Vgl. Johann Pezzl, Kaffeeha¨user, in: Lokale Legenden. Wiener Kaffeehausliteratur, hg. v. Hans Veigl,

Wien 1991, S. 19–21, hier S. 21.

29 Ulla Heise, Kaffee und Kaffeehaus. Eine Bohne macht Kulturgeschichte, Leipzig 1996, S. 193. 30 SLA, Protokolle des Hofrates, 1701, fol. 657r, fol. 892r.

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¨ bersiedlung des Kaffeehauses an den zentralen Marktplatz (heute: Nach der U Alter Markt 9)31 im Jahr 1764 gab es zuna¨chst keinen Spieltisch. Erst acht Jahre spa¨ter, 1772, suchte Anton Staiger um die Erlaubnis an, zu besserer Bediennung des Publici ein ordentliches Billarde zu errichten und zu exerciren32. Die Ga¨ste nahmen das neue Spielangebot bereitwillig an und bereits in den folgenden Jahren finden sich etwa in den Tagebu¨chern des hohen Beamten Joachim Ferdinand von Schidenhofen mehrfach Hinweise darauf, dass er sich mit seinen Freunden und Amtskollegen ha¨ufig dem Billard widmete.33 Es war zum Modespiel der gehobenen Gesellschaft geworden, das einen klaren Kopf erforderte – und der Kaffee war dafu¨r das passende Getra¨nk.34 ¨ ber ausreichende finanzielle Mittel und genu¨gend Zeit musste man allerdings U schon verfu¨gen, um sich den Kaffeehausvergnu¨gungen hingeben zu ko¨nnen. Die hohe Beamtenschaft mit ihrer relativ unabha¨ngigen und großzu¨gigen Zeiteinteilung35 konnte das ungestraft tun, ein kleiner Amtsbediensteter wie der spielversessene 30-ja¨hrige Stadtgerichtsakzessist Johann Gottlieb Lieber allerdings weniger. Als dieser an einem Tag im August 1770 im Staigerschen Cafe´ bei einer Tarockpartie saß und der Stadtsyndikus nach ihm schickte, da er einen Akt beno¨tigte, gab dieser, statt ins Amt zu gehen, dem entsandten Diener lediglich den Schlu¨ssel fu¨r sein Pult mit, wo sich die Aufzeichnungen befanden. Abermals von seinem Vorgesetzten herbei zitiert, folgte Lieber der Aufforderung auch erst nach der Beendigung der Spielpartie und wurde hernach vom Stadtrichter mit den Worten gemaßregelt: Mit diesem Spiellen im Caffee-Haus, welches sich fu¨r Constituto ohnehin nicht schicke, recomendire er sich bey ihme Herrn Stadt Syndico gar schlecht.36 Einem raschen hierarchischen Aufstieg in der Karriereleiter fo¨rderlich waren exzessive Besuche des Kaffeehauses inkl. des Spiels wohl nicht. Das Spielen, vor allem das o¨ffentliche Billard, unterlag jedoch in mehrfacher Hinsicht gesellschaftspolitischen Kriterien. Das zeigte sich recht deutlich beim Ansuchen um die Aufstellung eines solchen Spiels durch Josef Pechtl (zu diesem siehe unten), Cafetier in der Linzer Gasse, mit dem sich der Hofrat 1791/92 zu bescha¨ftigen hatte.37 Mit der nach einer Intervention durch die zwei etablierten Salzburger Cafetiers gefa¨llten Abweisung des Antrags war Erzbischof Colloredo allerdings gar nicht einverstanden und fu¨gte dem amtlichen Protokoll eigenha¨ndig die Weisung hinzu: [...] scheinet uns etwas hart zu seyn, dass Coffesieder diesseiths denen jenseiths d. Bru¨cke ein Billard zu halten verwehren sollten, Hoff Rath soll es noch einmal u¨berlegen. Der Hofrat lenkte ein und u¨berließ die Entscheidung dem Landesherrn mit der 31 Vgl. Gerhard Ammerer, „... dann liess ich mir schwarzen koffee` hollen ...“ Kaffeehaus und Kaffee-

konsum in Salzburg zur Mozart-Zeit, in: Viva! MOZART. Das Journal zur Sonderausstellung in der Neuen Residenz vom 17. 1. 2006–7. 1. 2007, red. v. Dems., Bad Honnef 2005, S. 87f. 32 SLA, Protokolle des Hofrates, 1772, fol. 325r. 33 Vgl. z. B.: Nachmittag spilte ich bey¨ Steiger Billard, zit. nach Johann Ferdinand von Schidenhofen. Ein Freund der Mozarts. Die Tagebu¨cher des Salzburger Hofrats, hg. v. Hannelore und Rudolph Angermu¨ller (MGSL, Erga¨nzungsbd. 24), Bad Honnef 2006, S. 41 (Zitat) u. S. 283, Eintra¨ge vom 25. Jan. 1775 u. 29. Sept. 1777. 34 Vgl. Heise, Kaffee und Kaffeehaus (wie Anm. 29), S. 193. 35 Vgl. Gerhard Ammerer, Beamtentum, in: Salzburger Mozart-Lexikon (wie Anm. 17), S. 37. 36 Mozart-Archiv, Friedrich Breitinger, Personen VII, S. 222. 37 Das Weitere nach: ebd., S. 136–138.

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Begru¨ndung: Da die beiden Lokale diesseits der Salzach eine hochfu¨rstliche Konzession zur Haltung eines Billards besitzen wu¨rden, falle eine solche Bewilligung ohnehin in der Zusta¨ndigkeit des Erzbischofs. Ihre zuvor gefa¨llte Entscheidung rechtfertigte der Hofrat mit den hohen Anschaffungskosten, die, so sein Hinweis, mo¨glicherweise nicht „hereingespielt“ werden ko¨nnten. Denn, so die argumentative Untermauerung der Beamten, die beiden bereits bestehenden Kaffeehaus-Billards wu¨rden vom Publikum nicht u¨berma¨ßig stark frequentiert. Fu¨r die Aufstellung eines weite¨ ffentlichkeit kein Anlass zur Besorgnis, ren Spieltisches bestu¨nde hinsichtlich der O denn auch die studierende Jugend investiere nicht allzu viel Geld in dieses Spiel und werde daher nicht von ihren Studienzielen abgelenkt. Der Hofrat besta¨tigte also auch die Tatsache, dass die Salzburger Kaffeeha¨user des 18. Jahrhunderts nicht zu „Spielsalons“ avanciert waren. Dennoch gerieten notorische Kaffeehausbesucher wie der Amtsdiener Lieber durch die ideelle Aufwertung der Arbeit im aufkommenden bu¨rgerlichen Zeitalter38 leicht in den Verdacht des Mu¨ßiggangs. Aber auch das Kaffeehaus selbst kam, trotz der Tatsache, dass Hasardspiele in den Salzburger Lokalen ohnehin verboten waren, mit zunehmender Gefa¨hrdung der staatlichen Ordnung durch die Franzo¨sische Revolution ins Kreuzfeuer der Kritik und wurde der Fo¨rderung des sittlichmoralischen Verfalls verda¨chtigt, da hier o¨ffentliches Spiel gepflogen wurde. Als Salzburg schließlich nach dem Abschluss des Friedens von Pressburg am 26. Dezember 1805 erstmals ins Habsburgerreich eingegliedert worden war, teilte der bevollma¨chtigte Kommissar, Ferdinand Graf von Bissingen-Nippenburg, 1806 der provisorischen Landesregierung mit, bei ihm sei Anzeige gemacht worden, dass in einigen Kaffeeha¨usern der hiesigen Stadt bis spa¨t in die Nacht gespielet und gezechet werde und ¨ bung gekommen sei.39 Desdie Sperrstunden-Verordnung von 1801 ga¨nzlich außer U halb mu¨sse diese neuerlich publiziert und deren Befolgung durch Patrouillen u¨berwacht werden. Bereits zwei Tage spa¨ter wurde eine Bekanntmachung in Druck gegeben, die unter anderem die Mitteilung enthielt: Nach dem Wunsche Eurer Excellenz gebe ich mir die Ehre, Hochdenenselben das allerho¨chste Patent in Betreff der Hazard-Spiele [...] und auf Spiele der Dienstleute insbesondere im Anschlusse mitzutheilen. Was Euer Excellenz zur Herstellung der Ordnung in den Gast- und Kaffeeha¨usern einstweilen anzuordnen fu¨r gut fande, ist um so zweckma¨ssiger, da die Verha¨ltnisse des Augenblicks auch in dieser Beziehung einer strengen Aufmerksamkeit auf o¨ffentliche Orte mehr als jemahls notwendig machen.40 Die betreffenden Bemu¨hungen um die o¨ffentlichen Ra¨ume blieben ohne sichtbaren Erfolg, weshalb die Beho¨rde Anfang August abermals wegen des in einigen der hiesigen Kaffeeha¨usern herrschenden hohen Spieles aktiv wurde und die rasche Einfu¨hrung der o¨sterreichischen Bestimmungen u¨ber Hasardspiele und hohes Spiel von 1804 fo¨rderte. Das an Bissingen-Nippenburg u¨bersandte Patent hatte als Zielgruppe wiederum vor allem die Dienstboten im Auge, die nicht leichtfertig ihre ohnehin 38 Vgl. Hannes Stekl, Ambivalenzen der Bu¨rgerlichkeit, in: Ambivalenzen der Aufkla¨rung. Festschrift

fu¨r Ernst Wangermann, hg. v. Gerhard Ammerer/Hanns Haas, Wien/Mu¨nchen 1997, S. 33–48.

39 SLA, Regierung XLVIII/1 (Schreiben des Hofkommissa¨rs an die Landesregierung, 16. Juli 1806). 40 SLA, Hofkommission V/28 (Schreiben an Ferdinand Graf Bissingen, 30. Juli 1806).

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bescheidenen Lo¨hne verspielen sollten.41 Das o¨ffentliche Interesse bezog sich somit vornehmlich auf die Abwehr des mo¨glichen finanziellen Ruins vermo¨gensschwacher Untertanen.42 1816, nach der endgu¨ltigen Eingliederung Salzburgs in die Habsburgermonarchie, wurde das Lottopatent von 1813 in Kraft gesetzt, auf das in den folgenden Jahren wiederholt verwiesen wurde, etwa in einem an sa¨mtliche hiesige bu¨rgerl. Kaffeesieder und Gastwirthe gerichteten Zirkulare vom 29. September 1823. Auf dieses Rundschreiben wurde wiederum im Mai 1826 rekurriert, als dem Magistrat zur Kenntnis gebracht worden war, dass das verbotene Zahlenlotto in einer gegenu¨ber fru¨her etwas vera¨nderten Form – die Umgehungsstrategien von Verboten waren vielfa¨ltig – in zwei Kaffeeha¨usern der Stadt gespielt wu¨rde. Das mit den Nachforschungen beauftragte Polizeioberkommissariat konnte allerdings nur im Waldmu¨llerischen Cafe´ derartige Aktivita¨ten entdecken, wa¨hrend im Lokal von Ambros Augustini am Tag der Nachschau offenbar nicht gespielt wurde.43 Allerdings gab der zweieinhalb Monate spa¨ter befragte pensionierte Kanonier Balthasar Lakner zu Protokoll, dass auch in letzterem sehr wohl Lotterie gespielt wu¨rde, allerdings nicht mit Nummern, wie fru¨her, sondern mit Kartenbla¨ttern.44

¨ ffentlichkeit und Kommunikation 4. O

Der Hofmeister des Bischofs von Lavant, Anton Staiger, suchte 1753 erstmals um die Bewilligung an, dies Orts ein Kaffeehaus errichten zu du¨rfen,45 doch erst eine neuerliche Supplik am 30. Juni 1753 erwies sich jedoch als erfolgreich. Der Bittsteller erhielt die Genehmigung, in einem offenen Gewo¨lb Caffe, und Chocholade zu verleutgeben.46 Die Gru¨nde fu¨r die Vergabe der neuen Gewerbeberechtigung lag offenbar in der Verstimmung des Hofrats gegenu¨ber dem Kaffeehausinhaber Franz Engelhart, der sich einerseits, wie erwa¨hnt, weigerte, das Bu¨rgerrecht zu erwerben, andererseits auch die fortgesetzten Raufha¨ndel in seinem Lokal nicht zu unterbinden vermochte. Der Order der Obrigkeit gema¨ß sollte Staiger seinen Kaffeeausschank – wie es bereits Johann Fontaine vorgeschrieben worden war – an einem gut einseh- und kontrollierbaren Ort errichten, was sich erneut als schwierig erwies, gab es in Salzburg doch nur wenige geeignete Liegenschaften, die zur Pacht angeboten wurden. So wies auch 41 Ebd. (Schreiben an den Polizeipra¨sidenten, 16. Juli 1806 u. an die Landesregierung, 7. Aug. 1806). 42 Vgl. Christian Dirninger, 1803 und die wirtschaftlichen Folgen, in: Die Sa¨kularisation Salzburgs

1803. Voraussetzungen – Ereignisse – Folgen, hg. v. Gerhard Ammerer/Alfred St. Weiss (Wissenschaft und Religion. Vero¨ffentlichungen des Internationalen Forschungszentrums fu¨r Grundfragen der Wissenschaften Salzburg 11), Frankfurt a. M. u. a. 2005, S. 157–178. 43 StadtA Salzburg, Neuere Sta¨dtische Akten, 1826/1178 (Schreiben des Polizeioberkommissariats an den Magistrat, 9. Mai 1826; Meldung der Polizeiwache an das Polizeioberkommissariat, 9. Mai 1826). 44 Ebd. (Befragungsprotokoll, 20. Juli 1826). 45 SLA, Protokolle des Hofrates, 1753, fol. 515v. 46 Ebd., fol. 660v; u. 1753/II, fol. 571v.

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der Hofrat selbst darauf hin, dass die Bemu¨hungen Staigers, ein Gewo¨lb zu offentlicher auskhochung des Caffee´, und Chocolad unweith einer Wacht zu erlangen [bis] dato nicht vermo¨gens gewesen [...] hingegen die Ruperti Markhts Zeit sehr nahe, und zu Diensten der Gemeinde und ankhommenden Ga¨sten ein Caffee´ Gwo¨lb biß dahin annoch zu ero¨ffnen gedenkhe.47 Daher sprach sich der Referent dafu¨r aus, Anton Staiger das nach dem gerichtlichen Entzug der Gewerbeberechtigung frei gewordene Engelhardische Gwo¨lb in der Goldgasse anzubieten, woru¨ber dieser allerdings nicht sonderlich begeistert war. Kurz danach forderte ihn der Hofrat unmissversta¨ndlich auf, den Kaffeeschank auf der Stelle zu u¨bernehmen, andernfalls werde die erlangte Concession alsdan cassiert, und wiederruffen.48 Noch vor Herbst-Ruperti, also vor der zweiwo¨chigen Dultzeit um den Feiertag des Landespatrons am 24. September, musste Staiger daher den Betrieb des Engelhartsche Cafegwo¨lb[s]49 aufnehmen. Diese einer No¨tigung nahekommende „Zwangsbeglu¨ckung“ deutet auf die Instrumentalisierung der Vergabe von Gewerbeberechtigungen hin, wobei der Zweck des Beamtenhandelns ganz offensichtlich in der zufriedenstellenden gastronomischen Versorgung auswa¨rtiger Kaufleute wa¨hrend des Salzburger Ruperti-Marktes zu suchen ist. In der Folge vermochte Anton Staiger zwar den Ruf und das Ansehen des kleinen Lokals zu verbessern, doch setzte auch er die Suche nach einer neuen Heimstatt fu¨r das Cafe´ konsequent fort. Erst nach elf Jahren fand er schließlich eine geeignete Liegenschaft und erwarb am 10. November 1764 das als Standort vom Hofrat zufrieden akzeptierte Haus am Marktplatz (Alter Markt 9). Nach der Adaptierung des Geba¨udes zeichnete sich das erste „Große Kaffeehaus“ Salzburgs durch eine luxurio¨se Atmospha¨re aus50, war komfortabel und elegant eingerichtet und auf eine gehobene urbane Klientel ausgerichtet. Bald scha¨tzen auch Reisende und fremde Kaufleute die Annehmlichkeiten des Hauses.51 Die symbolische Kommunikation nach außen stellte ein großes, am Geba¨ude angebrachtes Blechschild dar, welches das Publikum zum Eintreten aufforderte. Ob das Staigersche Familienwappen, das heute neben dem Haupteingang des Kaffeehauses angebracht ist, auch schon im 18. Jahrhundert die Fassade zierte, ist anzunehmen, jedoch nicht belegt. In den Akten erwa¨hnt wurde auch ein obrigkeitliches Pra¨senzsymbol52 im Inneren: Im großen Kaffeezimmer des Erdgeschosses prangte ein ansehnliches Portra¨t des Stadt- und Landesfu¨rsten. Neben diesem zentralen Raum, der mit Spiegeln, Wandleuchtern, Ha¨ngeuhren, Wandkanapees, Hockern, kleinen

47 Ebd., fol. 783v–784r. 48 Ebd., fol. 911r. 49 Zit. nach Franz Martin, Das erste Kaffeehaus in Salzburg, in: Salzburger Volksblatt, 24. Dez. 1925,

S. 8.

50 Vgl. z. B. Peter Albrecht, Kaffeetrinken als Symbol sozialen Wandels im Europa des 17. und 18. Jahr-

hunderts, in: Genuss und Kunst. Kaffee, Tee, Schokolade, Tabak, Cola. Katalog zur Ausstellung auf Schloß Schallaburg, hg. v. Roman Sandgruber/Harry Ku¨hnel (Katalog des Niedero¨sterreichischen Landesmuseums, Neue Folge 341), Innsbruck 1994, S. 32 u. 34. 51 Vgl. Schidenhofen (wie Anm. 33, S. 283), Eintrag v. 29. Sept. 1777: Erwa¨hnt werden Augsburger Kaufleute. 52 Vgl. Beat Ku ¨ min, Wirtshaus und Gemeinde. Politisches Profil einer kommunalen Grundinstitution im alten Europa, in: Zwischen Gotteshaus und Taverne (wie Anm. 25), S. 75–97, hier S. 78.

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Tischen und einer langen Tafel ausgestattet war,53 gab es ra¨umlich deckungsgleich im Stockwerk daru¨ber das 1772 eingerichtete Billardzimmer. Unmittelbar daneben lag, wie es der zeitgeno¨ssischen Forderung einer Separierung dieser Konsumentengruppe entsprach (da man nicht von Tabaksrauche erstikt zu werden befu¨rchten darf54), das Tobakstu¨bel, ein, von den Ausmaßen her zu schließen, nur fu¨r eine kleine Minderheit von Kaffeehausbesuchern eingerichteter Raum. Das nunmehr an einem der zentralen o¨ffentlichen Pla¨tzen gelegene, vornehme und umsichtig gefu¨hrte Kaffeehaus entwickelte sich rasch zu einem wichtigen gesellschaftlichen Treffpunkt, zu einem Ort der gehobenen Unterhaltung, der Kommunikation und der bu¨rgerlichen Kultur. Neben den wenigen privaten Salons des vermo¨genden Adels, etwa der Robinig oder der Lodron, wurde das Cafe´ Staiger damit tatsa¨chlich zu einem Kristallisationspunkt der sich im spa¨ten 18. Jahrhundert aus¨ ffentlichkeit, worunter sich in Salzburg allerdings eine bildenden bu¨rgerlichen O große Anzahl an nobilitierten Ha¨ndlern und adeligen Beamten befand.55 Hier versammelte sich eine „offene Elite“ ohne wesentliche sta¨ndische, nationale oder religio¨se Barrieren56 und diskutierte freimu¨tig u¨ber perso¨nliche, literarische oder auch (tages-)politische Ereignisse. Wegen seiner Konzentration und Leistungsfa¨higkeit steigernden Eigenschaften erga¨nzte der Kaffee als das Modegetra¨nk der Aufkla¨rungszeit gut den rationalen Diskurs und die neuen Ideen des Vernunftzeitalters. Seine stimulierende Wirkung, mehr noch die aufliegenden Zeitungen regten zu kritischen Gespra¨chen an, wobei das „Politisieren“, wie am Beginn des Beitrags angedeutet, nicht zu allen Zeiten und zu allen Gelegenheiten die Sympathien der Obrigkeit genoss. Den Hinweis von Ju¨rgen Habermas, dass sich in den Kaffeeha¨usern als Zentren der politischen Kritik eine zwischen aristokratischer Gesellschaft und bu¨rgerlichen Intellektuellen angesiedelte Parita¨t der Gebildeten57 entwickelte, besta¨tigt das Staigersche Cafe´ voll und ganz. Einer der wichtigsten Vertreter der katholischen Aufkla¨rung in Salzburg, der Domherr und Literat Friedrich Franz Joseph Graf von Spaur, beschrieb es als wichtiges urbanes Kommunikationszentrum und als Ort eines quantitativ ansehnlichen Lesepublikums, dem Zeitungen, Intelligenzbla¨tter, Monats- und Wochenschriften – darunter auch zwei franzo¨sische – zur Lektu¨re bereitstanden.58 53 Zum gesamten Inventar des Staigerschen Kaffeehauses vgl. Gerhard Ammerer, Testament, Todfallsin-

ventar und Erbu¨bereinkommen des Salzburger Kaffeesieders Anton Staiger von 1781, in: MGSL 145 (2005), S. 93–128. 54 Oeconomische Encyklopa¨die, oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft, in alphabetischer Ordnung; von D. Johann Georg Kru¨nitz, 32. Bd., Bru¨nn 1789, S. 261. 55 Auf diese Tatsache hat bereits Habermas hingewiesen; vgl. Habermas, Strukturwandel der O ¨ ffentlich¨ ffentliche Ra¨ume in der Fru¨hen keit (wie Anm. 3), vgl. bes. S. 92; Susanne Rau/Gerd Schwerhoff, O ¨ berlegungen zu Leitbegriffen und Themen eines Forschungsfeldes, in: Zwischen GottesNeuzeit. U haus und Taverne (wie Anm. 25), S. 27. 56 Vgl. Hasso Sprode, Der Große Ernu¨chterer. Zur Ortsbestimmung des Kaffees im Prozeß der Zivilisation, in: Kaffee im Spiegel europa¨ischer Trinksitten, hg. v. Daniela U. Ball (Vero¨ffentlichungen des Johann Jacob Museums zur Kulturgeschichte des Kaffees 2), Zu¨rich 1991, S. 224. 57 Vgl. Habermas, Strukturwandel der O ¨ ffentlichkeit (wie Anm. 3), S. 52. 58 Vgl. Friedrich Spaur, Spazierga¨nge in den Umgebungen von Salzburg, Salzburg 1834, S. 90; Thomas Weidenholzer, Handel, Gewerbe und Verkehr. Gastha¨user und Brauereien zur Mozartzeit, in:

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Gerade das große Angebot an literarischen und journalistischen Produkten war es, das in einer Zeit, in der es noch keine Tagespresse im heutigen Sinn gab und die Auflagenho¨he von Druckwerken in der Regel nur zwischen 300 und 500 Exemplaren lag, ein intellektuelles Publikum anzog, das die Mo¨glichkeit nutzte, gleichzeitig mit einer Tasse Kaffee fu¨r das ko¨rperliche Wohlbefinden die o¨ffentliche Informationsquelle Zeitung59 fu¨r die geistige Anregung zu konsumieren. Das Staigersche Kaffeehaus war damit noch vor der Einrichtung des Salzburger Lektu¨rekabinetts 1784,60 dem wegen seiner hohen Gebu¨hren zudem nur wenige Mitglieder beitraten (Stand 1785: 55 Personen), sowie der ersten – kostengu¨nstigeren – Leihbibliothek des Leopold Ladislaus Pfest in den 1790er-Jahren der wichtigste o¨ffentliche Ort der Rezeption gedruckter Nachrichten.61 Die Mo¨glichkeit der Gratislektu¨re nutzten besonders die Studenten, die sich nach Berichten durch eine große Lesebegierde62 auszeichneten. Mit seinem breit gefa¨cherten Lektu¨reangebot erfu¨llte das Staigersche Cafe´ somit wesentliche Vermittlerfunktionen fu¨r den politischen Diskurs der Spa¨taufkla¨rung, der ohne (Zugang zur) Publizistik undenkbar gewesen wa¨re.63 Dennoch war auch dieses Kaffeehaus nicht die – in der wissenschaftlichen Literatur ha¨ufig idealisiert dargestellte – o¨ffentliche, allen Sta¨nden und Schichten frei zuga¨ngliche Sta¨tte der Kommunikation und Unterhaltung. Schon das Preisgefu¨ge orientiere sich an einer wohlhabenden Gesellschaft. Der zahlenma¨ßig gro¨ßere Teil der Stadtbewohner konnte oder wollte sich diesen „Luxus“ gar nicht leisten. Die „plebe¨ ffentlichkeit“ bevorzugte die billigeren Schenken und Gaststa¨tten der Stadt. jische O Zudem wies das Kaffeehaus eine klare geschlechtsspezifische Orientierung bzw. Ausgrenzung auf: Frauen waren und blieben von dieser Institution wa¨hrend der gesamten fru¨hen Neuzeit grundsa¨tzlich ausgeschlossen. Der gesellschaftliche Kodex, der es diesen nicht gestattete, an der ma¨nnlichen Freizeitdoma¨ne zu partizipieren, hielt sich auch im spa¨teren Cafe´ Tomaselli noch u¨ber Jahrzehnte, bis zur Ero¨ffnung eines eigenen Damen-Salons im 1. Stock des Hauses 1891.64 Punktuelle Ausnahmen von dieser Regel kamen im 18. Jahrhundert wohl nur bei speziellen Anla¨ssen wie Konzerten oder Ba¨llen65 vor.

Historischer Atlas der Stadt Salzburg, hg. v. Peter F. Kramml/Erich Marx/Thomas Weidenholzer (Schriftenreihe der Stadt Salzburg 11), Salzburg 1999, Blatt V/3. 59 Vgl. Habermas, Strukturwandel der O ¨ ffentlichkeit (wie Anm. 3), S. 35. 60 Vgl. Thomas Weidenholzer, Bu¨rgerliche Geselligkeit und Formen der O ¨ ffentlichkeit, in: Bu¨rger zwischen Tradition und Modernita¨t, hg. v. Robert Hoffmann (Bu¨rgertum in der Habsburgermonarchie 5), Wien/Ko¨ln/Weimar 1997, S. 62–65. 61 Vgl. Andreas Gestrich, Absolutismus und O ¨ ffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 103), Go¨ttingen 1994, S. 131. 62 Darauf wiesen die Salzburger Stadtkapla¨ne 1788 hin; zit. nach Thomas Weidenholzer, Aufkla¨rung und Sa¨kularisation in Salzburg um 1800 – Ambivalenzen des Fortschritts, in: Ammerer/Weiss, Sa¨kularisation (wie Anm. 42), S. 64. 63 Ein Teil des Publikums, das im Staigerschen Cafe´ verkehrte, geho¨rte allerdings auch dem Leseverein an. Vor allem war das bei der hohen Salzburger Beamtenschaft der Fall (Schidenhofen, Mo¨lck, Gilowsky, Rehlingen etc.); vgl. Weidenholzer, Bu¨rgerliche Geselligkeit (wie Anm. 60), S. 63. 64 Vgl. Salzburger Volksblatt, 27. Juni 1891, S. 2. 65 So berichtet Schidenhofen (wie Anm. 33, S. 223) von einem dort stattfindenden Ball am 28. Januar 1777.

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5. Ga¨ste und Freunde

Die Besucherstruktur des Kaffeehauses ist nur fragmentarisch fassbar, doch scheint es, dass in Salzburg im Gegensatz zu anderen Sta¨dten, wo vor allem der Mittelstand diese Geselligkeitsform pflog, der Adel und das Großbu¨rgertum das wichtigste Klientel bildete. Der Hofrat und spa¨tere Landschaftskanzler Joachim Ferdinand von Schidenhofen etwa besuchte gemeinsam mit anderen hochrangigen Beamten, wie beispielsweise seinem Amtskollegen Georg Freiherr von Pappius, dem Reichstagsgesandten und Konsistorialrat Franz Felix Freiherr von Mo¨lk oder Hofrat Joseph Schloßga¨ngl von Edlenbach, dem Juristen, hochfu¨rstlichen Truchsess und Hofrat Johann Joseph Anton Ernst Gilowsky von Urazowa oder Gottlieb von Weyrother laufend das Staigersche Kaffeehaus.66 Die Beamten aßen dort nicht nur zu Mittag und spielten am Nachmittag Billard, sondern u¨berzogen bisweilen auch die offizielle Sperrstunde, wie im Schidenhofschen Tagebuch nachzulesen ist.67 Als „unparteiischer Ort“68 bot das Kaffeehaus ein breites Spektrum an Verhaltens- und Kommunikationsmo¨glichkeiten, von ho¨chst aktiven bis vollkommen passiven: Man konnte sich dort mit anderen Personen unterhalten oder auch nur dem Treiben beiwohnen, ohne daran teilzunehmen. Wohl um den Ga¨sten diese individuelle Gestaltungsmo¨glichkeit zu gewa¨hren, war das zentrale Kaffeezimmer mit zwo¨lf kleinen Tischen ausgestattet, an denen man auch alleine sitzen konnte. Das Gefu¨hl, in die Gesellschaft der Anwesenden integriert zu sein, ohne die Mauern des Privaten durchbrechen zu mu¨ssen, wurde zusa¨tzlich durch zahlreiche Wandspiegel gesteigert. Jeder konnte so den Diskussionen beiwohnen, Klatsch und Tratsch vernehmen, Meinungen und Gemeinpla¨tzen, Kritik und Bosheiten zuho¨ren oder – in den Worten Friedrich Graf Spaurs – les nouvelles du jour69 erfahren.

6. „Gute“ und „schlechte“ Kaffeehaustopographie?

Die Werthaltung gegenu¨ber dem Kaffeekonsum schwankte im 18. Jahrhundert zwischen Luxus und Notwendigkeit. Was fu¨r die Intellektuellen genehm war, musste es noch lange nicht fu¨r den „Po¨bel“ sein. Schriftlich formuliert und damit erst fu¨r den Historiker nachvollziehbar wurden solche Einscha¨tzungen wiederum bei den Verhandlungen um Gewerbeberechtigungen. So supplizierte 1777 beispielsweise der bereits genannte Josef Pechtl an den Salzburger Hofrat um die Errichtung eines Kaffeehauses auf der rechten Salzachseite. Daraufhin opponierten nicht nur die beiden zu

66 Ebd., Eintra¨ge vom 5. Febr. u. 6. Juli 1777. 67 Vgl. ebd., Eintrag vom 21. Juli 1775. 68 Zit. nach Ulrich Weinzierl, Alfred Polgar. Eine Biographie, Wien/Mu¨nchen 1985, S. 55. 69 Spaur, Spazierga¨nge (wie Anm. 58), S. 90.

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diesem Zeitpunkt bereits etablierten Cafetiers und mo¨glichen Konkurrenten Anton Staiger und Michael Pachmayr dagegen und a¨ußerten sittliche Bedenken,70 sondern auch die Beamten, die 1778 das Gesuch abwiesen, mit dem mangelnden Bedarf und dem Schutz des „niederen Volks“ vor den teuren Luxusgenussmitteln argumentierten: Da die dermaligen 2 Kaffeescha¨nken fu¨rs hiesige Publikum genug zu sein scheinen und ihnen nicht zu wu¨nschen ist, daß jenseits der Bru¨cke, wo meisten Theils geringere Bu¨rger und sonderheitlich viele Handwerker sich befinden, die Leute an solche kostbare Getra¨nke gewo¨hnt werden ... 71 Damit stimmte die Beho¨rde mit der wiederholt vernehmbaren merkantilistischen Ansicht u¨berein, dass das Kaffeetrinken leicht zur Zerru¨ttung [...] in der Privatfinanz einzelner Familien72 fu¨hren ko¨nne. In „Fall Pechtl“ erhielt dieser nach fortgesetzten Verhandlungen mit der Beho¨rde aber dennoch – zuna¨chst beschra¨nkt auf die Dauer von drei Jahren – die Bewilligung zum Kaffeeausschank in der Linzer Gasse. Diese dritte fu¨r Salzburg vergebene Konzession wurde allerdings unter der Auflage erteilt, als Personal lediglich Mannsbilder anzustellen, sich aller sittenverderblicher Zusammenku¨nfte zu enthalten und keine Glu¨cksspiele im Lokal zu dulden73 – gezielte, normativ formulierte Eingriffe zur obrigkeitlich genehmen Ausgestaltung des o¨ffentlichen Raumes. Die Argumente der Geldverschwendung durch den „Po¨bel“ sowie der mo¨glichen Ordnungswidrigkeiten durch Alkoholexzesse und verbotenes Spiel lebten in der Publizistik und in den Beamtenbescheiden allerdings ungehindert bis ins na¨chste Jahrhundert fort. So wurde das Konzessionsansuchen der Leutnantstochter Franziska Grinnagl vom Juli 1805, eine Kaffeterie in Mu¨hlen, einem wenige hundert Meter vor dem Stadttor gelegenen Vorort von Salzburg, ero¨ffnen zu du¨rfen, wiederum mit dem Hinweis auf die mangelnde Notwendigkeit und Gefa¨hrlichkeit von Kaffeeha¨usern fu¨r die unteren Klassen der Bevo¨lkerung abschla¨gig beschieden: In einer abgelegenen Vorstadt ko¨nne ein solches Lokal nur zum Zufluchtsort fu¨r Sa¨ufer und Nachtschwa¨rmer74 werden, hieß es. Da die gewerberechtlichen Entscheidungen allerdings in den Jahren des mehrfachen Regierungswechsels nach der Sa¨kularisation 1803 keineswegs konsequent diesen Richtlinien folgten, bestanden 1811 in der Stadt Salzburg bereits sieben Kaffeeha¨user. Die o¨ffentliche Ordnung als u¨ber- und durchgreifendes Argument kehrte dennoch auch in den folgenden Jahren wieder. Die Lokale sollten leicht kontrollierbare und mo¨glichst vor allem Einrichtungen in der Stadt bleiben. Ein kaiserliches Hofkanzlei-Dekret wollte 1817 die Errichtung der Kaffeeha¨user und die Billards auf dem Lande, da sie nur zur Spielsucht, zum Mu¨ßiggange und Ausschweifungen fu¨hren, beschra¨nkt wissen.75 70 Vgl. Peter F. Kramml/Sabine Veits-Falk/Thomas Weidenholzer, Stadt Salzburg. Geschichte in Bil-

dern und Dokumenten. Kostbarkeiten aus dem Stadtarchiv (Schriftenreihe des Archivs der Stadt Salzburg 16), Salzburg 2002, S. 50. 71 Mozart-Archiv, Friedrich Breitinger, Handwerker, Wirte und Ha¨ndler in Alt-Salzburg, S. 304. 72 Oeconomische Encyklopa¨die (wie Anm. 54), S. 193. 73 SLA, Regierung XXXVIII (Befehlsabschrift aus dem Besitz des Cafetiers Endres). 74 StadtA Salzburg, Bauakten Innere Stadt 9 (Mitteilung des Polizeiamt-Berichts vom 27. Juli 1805 an die Landesregierung, 16. Aug. 1805). 75 Systematisch geordnete Darstellung der in Oesterreich ob der Enns und in Salzburg in Wirksamkeit stehenden Gewerbs-Vorschriften, dann der gesetzlichen Bestimmungen u¨ber lincenzierte und freye

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¨ ffentlich und privat 7. O

Das mehrsto¨ckige Geba¨ude des Cafe´ Staiger wies neben einer großzu¨gigen Wohnung fu¨r die Familie des Cafetiers auch Zimmer fu¨r die Bediensteten auf. Nach 1800 wurden in den oberen Stockwerken des Geba¨udes Ra¨ume vermietet. Die prominentesten Mitbewohner waren das Ehepaar Konstanze (Witwe Wolfgang Amadeus Mozarts) und Georg Nikolaus Nissen, die um 1821 Salzburg als Alterswohnsitz wa¨hlten. Damit nahm das Cafe´ eine Zwitterstellung zwischen o¨ffentlichem und privatem Raum ein, da es jenseits der fu¨r jeden Gast zuga¨nglichen Stuben auch zu privaten Treffen und Zusammenku¨nften in den Wohnungen kam – ja, sogar mehr als das: Das „offene Haus“ Anton Staigers etablierte sich als einer der wesentlichen Tra¨ger des gesellschaftlichen Lebens der Stadt. Der Cafetier lud nicht nur Salzburger Freunde und Bekannte ein, sondern auch auswa¨rtige Ga¨ste.76 Bei Anton Staiger, der im ersten Stock mit Blick auf den Marktplatz wohnte, gingen Geistliche, Adelige und Bu¨rgerliche ein und aus, auch Hofbedienstete, wie die Mitglieder der Familien Mozart oder Haydn. Sie alle nahmen an geselligen Ereignissen teil, etwa an Formationstanzproben fu¨r bevorstehende Feste, an Maskenba¨llen oder Hochzeiten.77 Aus Anlass von Namenstagen, die man in privater Runde feierte, kam es innerhalb des Freundeskreises im „Staigerhaus“ auch zur Auffu¨hrung von Laientheater. Die Spha¨ren zwischen dem o¨ffentlichen Wirtschaftsbetrieb des Kaffeehauses und dem privaten Wohnbereich des Hauses scheinen ziemlich unproblematisch nebeneinander existiert zu haben, sieht man von etwaigen, auch gerichtlich verfolgten Diebsta¨hlen aus Privatgema¨chern durch Kaffeehausbesucher ab. Es hat sogar den Anschein, dass manche enge Freunde des Cafetiers das Haus u¨berhaupt nur privat aufsuchten und gar nicht zu den Kaffeehausga¨sten za¨hlten. So findet sich beispielsweise in keiner Quelle auch nur der kleinste Hinweis darauf, dass ein Mitglied der Familie Mozart jemals im Cafe´ Staiger ein Glas Mandelmilch getrunken oder Erdbeergefrorenes konsumiert bzw. eine der aufliegenden Zeitungen oder gar einen Queue (Billardstock) in die Hand genommen ha¨tte.

Bescha¨ftigungen, u¨ber o¨ffentliche Ma¨rkte, u¨ber das Zunftwesen, und u¨ber die Wanderung der Handwerks-Gesellen, hg. v. Johann N. Ho¨ss, 1. Bd., Linz 1835, S. 326. 76 Dann gienge ich ... zur Musick, die Steiger dem Fu¨rsten v[on] Lavant [Vinzenz Joseph Franz Graf von Schrattenbach] machen liesse (Schidenhofen [wie Anm. 33], S. 262, Eintrag vom 6. Juli 1777). – Nur fu¨nf Wochen spa¨ter berichtet Schidenhofen von einer Einladung Nachts zu einer Musick, die der Steiger dem B: [Leopold Josef] v[on] Lasser HofMarschal zu Kempten machen liesse (ebd., S. 263, Eintrag vom 14. Juli 1777). 77 Ebd., Eintrag vom 9. Nov. 1777: Um 4 uhr zu Steiger zur Contredanse Probe, wo wegen des Registrator Strasser Hochzeit die Contredanses probiert worden.

„THE STAPLE OF NEWES“ Ra¨ume, Medien und die Verfu¨gbarkeit von Wissen im fru¨hneuzeitlichen London von Dagmar Freist

1. Fru¨hneuzeitliche Mediengesellschaft und Gemeinwohl im Widerstreit der Meinungen

In einem der vielen kleinen Londoner La¨den begegneten sich im fru¨hen 17. Jahrhun¨ rzte, Juristen, Sekreta¨re, Ma¨gde und Dienstboten. Sie dert Handwerker, Kaufleute, A gingen ihren Gescha¨ften nach und tauschten die neuesten Nachrichten aus. Diese allta¨gliche Szene hat Ben Jonson in seinem Theaterstu¨ck „The Staple of Newes“ (1625) nachgestellt: And tells what newes? wurden Neuanko¨mmlinge begru¨ßt, die bereitwillig Bericht erstatteten.1 In den Dialogen seiner Charaktere hat Jonson allerdings nicht nur den weit verbreiteten mu¨ndlichen Nachrichtenaustausch sowie die soziale Vielfalt Londons eingefangen, sondern zugleich eine einschneidende Vera¨nderung im Nachrichtenwesen der Metropole angedeutet: die Entstehung sogenannter Adressbu¨ros (Staple of News) als innersta¨dtische Informationszentren und die Erweiterung einer mu¨ndlichen Nachrichtenkultur durch die „Ware“ Nachricht in Form ka¨uflich zu erwerbender Nachrichtenbla¨tter: Fashioner (taylor): And tells what newes? Thomas Barber (second clerk of the office): Oh, Sir, a staple of newes! Or the New Staple which you please. Peniboy: Whats that? Fashioner: An office, Sir, a brave young Office set up. I had forgot to tell your worship. Peniboy: For what? Thomas Barber: To enter all the Newse, Sir, o’ the time.2 Diese Aussage erstaunte die Anwesenden. Vor allem die Tatsache, dass es sich hier um die Weitergabe gedruckter Neuigkeiten handeln sollte, erhitzte die Gemu¨ter: O Sir! It is the printing we oppose.3 Und einer der anwesenden Kunden fu¨gte hinzu: We not forbid that any Newes be made, But that’t be printed; for when Newes is printed it Leaves Sir to be Newes.4 1 Ben Jonson, The Staple of Newes, London 1631, S. 14. 2 Ebd. 3 Ebd., S. 15. 4 Ebd.

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Jonson kritisierte in seiner Komo¨die nicht die Nachrichtenverbreitung generell, sondern die Tatsache, dass Neuigkeiten gedruckt wurden.5 Seine Figuren debattierten u¨ber die Frage, ob gedruckte Neuigkeiten u¨berhaupt noch als Newes zu bezeichnen seien – oder ob ‚Neuigkeiten‘ nicht erst durch die Printmedien u¨berhaupt kreiert wu¨rden. Newes, so die Skeptiker, wu¨rden zur commoditie, zur Ware, ihr Wahrheitsgehalt und ihre Aktualita¨t seien fraglich. Me thinks Sir, if the honest common people Will be abus’d, why should not they ha’ their pleasure,In the believing Lyes, As you I’th office, making them your selves?6 Die neue Nachrichtenbo¨rse wurde allerdings auch gelobt: Sir, I admire The method of your place; all things within’t Are so digested, fitted an compos’d, As it shewes Wit had married Order.7 Die Entstehung von Jonsons Komo¨die fa¨llt zeitlich zusammen mit zwei grundlegenden Entwicklungen im englischen Nachrichtenwesen. Zum einen wurden in England seit 1620 die ersten Zeitungen, zuna¨chst in Form sogenannter newsletters gedruckt.8 Zum anderen war 1611 die Ero¨ffnung des ersten „Publicke register for generall Comerce“ durch ko¨nigliches Privileg genehmigt worden.9 Die newsletters druckten unter Umgehung der Zensur auch innenpolitische Nachrichten und verletzten damit das geltende Prinzip des „arcanum politicae“.10 Das „Publicke register“ erhob den Anspruch, einem o¨ffentlichen Markt zu gleichen, whereunto all men may freely repaire, and resort to Trade and Traffique [...] and as in Markets many Commodities are solde and met.11 Verkauft wurden allerdings keine Waren im eigentlichen Sinn, sondern Informationen und Neuigkeiten, die sich unmittelbar auf die Bedu¨rfnisse der Stadtbevo¨lkerung bezogen. Ben Jonson verlieh in seinem Theaterstu¨ck nicht nur der Sorge Ausdruck, dass das gemeine Volk mit Blick auf gedruckte (auch politische) Nachrichten wahre Newes nicht von Lu¨gen unterscheiden ko¨nne und sich leicht manipulieren ließe, sondern er setzte sich auch mit dieser neuen Form der Nachrichtenverbreitung generell auseinander, der Gru¨ndung sogenannter Adressbu¨ros. Jonson erkannte sehr genau die gesellschaftlichen und politischen Folgen der zuna¨chst in Frankreich und England

5 Vgl. auch Don F. McKenzie, „The Staple of News“ and the late Plays of Ben Jonson, in: A Celebration

of Ben Jonson, Papers presented at the University of Toronto in October 1962, hg. v. William Blissett/ J. Patrick/Richard W. van Fossen, Toronto 1973, S. 83–128. 6 Jonson, Newes (wie Anm. 1), S. 14. 7 Ebd. 8 Joseph Frank, The Beginning of the English Newspaper. Cambridge/Mass. 1961; Frank S. Siebert, Freedom of the Press in England 1476–1776, Urbana 1952. 9 Arthur Gorges, A True Transcript and Publication of his Majesties Letters Patents. For an Office to be erected and called the Publicke Register for Generall Commerce, London 1611. 10 Zum politischen Geheimnis und O ¨ ffentlichkeit Andreas Gestrich, Absolutismus und O ¨ ffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Go¨ttingen 1994. 11 Gorges, Publicke Register (wie Anm. 9), S. 22.

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entstehenden Informationsbo¨rsen.12 Noch vor der Aufkla¨rung erhoben ihre Gru¨nder den Anspruch, Wissen zu enthierarchisieren, Informationen von einem exklusiven Gut in ein Allgemeingut zu verwandeln und Neuigkeiten und Informationen aus Nu¨tzlichkeitserwa¨gungen der Gesamtbevo¨lkerung zuga¨nglich zu machen. Wa¨hrend Jonson mit seinem „Staple of Newes“ die Kommerzialisierung von Neuigkeiten als Ware in Form gedruckter Nachrichten kritisierte und damit die vorherrschende Meinung in England wiedergab, beantragten in der ersten Ha¨lfte des 17. Jahrhunderts verschiedene Personen Adressbu¨ros. Aus dem Jahr 1611 stammt „The Publicke Register for generall Commerce“ von Sir Arthur Gorges, 1650 erschien „The Office of Adresses and Encounters“ von Henry Robinson und 1657 gab Marchamont Nedham „The office of Publicke Advice“ heraus.13 Alle Entwu¨rfe sahen die Einrichtung eines Informationsbu¨ros vor, so dass Nachrichten nicht nur in Form neuer Nachrichtenbla¨tter in gedruckter Form weiter gegeben wurden. Diese Adressbu¨ros – „Publicke Offices“ – waren zugleich physische Nachrichtenspeicher. Hier konnten Frauen und Ma¨nner aller Sta¨nde hingehen und entweder Nachrichten selbst hinterlassen oder erfragen – in der Formulierung Robinsons: Where all people of each Rancke and Quality may receive direction and advice for the most cheap and speedy way of attaining whatsoever they can lawfully desire.14 Die am weitesten reichenden Entwu¨rfe waren die von Samuel Hartlib und John Drury, die etwa zwanzig Jahre nach Erscheinen von Jonson’s „Staple“ fu¨r die Errichtung eines „Office of Publicke Addresse for Accommodations“ pla¨dierten.15 Ein solches „Office“ wa¨re zum Wohle der gesamten Nation – to the Happinesse of this Nation.16 Hartlib schwebte eine perfekte Informationsgesellschaft vor, sein „Office“ sollte sa¨mtliche Informationen, die fu¨r das Zusammenleben der Menschen wichtig waren, sammeln, bu¨ndeln und in u¨bersichtlichen, thematisch gegliederten Registraturen jederzeit und fu¨r jedermann in einem eigens dafu¨r eingerichteten Bu¨ro abrufbar machen. Hartlib lehnte sich mit seiner Idee an die Vorstellungen Michel de Montaignes an, die er 1580 im vierten Buch seiner Essays unter dem Titel „Of a Defect in our Policies“ formuliert hatte und die der Ausgabe von Hartlib und Drury 1648 in Auszu¨gen vorangestellt war. Montaigne hatte vorgeschlagen, that in all Cities there should be a certain Appointed Place, to which whosoever should have need of any thing might come and cause his business to be Registered by some Officer appointed for that Purpose.17

12 Anton Tantner, Adressbu¨ros in der Habsburgermonarchie und in den deutschen Territorien – Eine

Vorgeschichte der Suchmaschine?, in: Informationen in der Fru¨hen Neuzeit. Status, Besta¨nde, Strategien, hg. v. Arndt Brendecke/Markus Friedrich/Susanne Friedrich, Mu¨nster 2008, S. 215–236, bes. S. 215–219. 13 Gorges, Publicke Register (wie Anm. 9); Henry Robinson, The Office of Adresses and Encounters, London 1650; Marchamont Nedham, The office of Publicke Advice, London 1657. 14 Robinson, The Office of Adresses (wie Anm. 13), titel page. 15 Samuel Hartlib, A briefe discourse concerning the accommodation of our reformation, London 1647; A Further Discovery of Publicke Addresse and Accommodation, London 1648; Vgl. auch Dagmar Freist, Governed by Opinion. Politics, Religion and the Dynamics of Communication in Stuart London 1637–1645, London 1997, S. 11–12. 16 Hartlib, Discovery of Publicke Addresse (wie Anm. 15). 17 Ebd..

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Die unterschiedlichen Einstellungen von Jonson und Hartlib zur Bereitstellung und Verbreitung von Nachrichten in gedruckter Form und die damit zusammenha¨ngende Verfu¨gbarkeit von Wissen und Nachrichten spiegeln die komplexen Vera¨nderungen nicht nur in den Medien, sondern auch in der Gewichtung der Medien und im Umgang mit Medien in der ersten Ha¨lfte des 17. Jahrhunderts in London wider. In einer breit gefu¨hrten Kontroverse befassten sich die Autoren mit dem mangelnden Wahrheitsgehalt gedruckter Nachrichten im Unterschied zu der Zirkulation von Nachrichten in Manuskriptform, die ha¨ufig noch als authentisch im Gegensatz zu verfa¨lscht, als wahr statt unwahr empfunden wurden.18 Im Falle von gedruckten Nachrichten mussten die Leser und Leserinnen eigensta¨ndig den Wahrheitsgehalt beurteilen. So mahnte etwa der Publizist Martin Parker buy, reade, and judge.19 Gleichzeitig wurden die Verfasser von Nachrichten Zielscheibe o¨ffentlicher Angriffe, die wiederum Gegenstand der Printmedien wurden. Autoren wurde vorgeworfen, fu¨r Geld alles zu publizieren und auch vor Fa¨lschungen nicht zuru¨ckzuschrecken, wenn sie Profit brachten. Der anonyme Verfasser eines Pamphlets mit dem Titel „The Poet’s Knavery Discovered“ publizierte eine Liste aller verda¨chtigen Autoren und erkla¨rte den ungeu¨bten Rezipienten neuer Medien: [it is] well worth the reading and knowing of every one, that they may learn how to distinguish betwixt the Lies and real Books.20 Dienstboten des Parlaments, die zwischen beiden Ha¨usern Schriftstu¨cke hin und her transportierten, wa¨hlten ha¨ufig einen Umweg u¨ber nahe gelegene Druckereien, um die Manuskripte abschreiben und gegen Bezahlung in Druck geben zu lassen.21 Nachforschungen des „Committe for Printing“, das nach dem Zusammenbruch der Zensur vom Parlament gegru¨ndet worden war, u¨ber die Vero¨ffentlichung eines vertraulichen Briefes des Earl of Holland ergaben folgendes Bild: That Thomas Symonds was the first that printed the earl of Holland’s Letter: that he had the Copy of the Letter of Francis Cowles [Coles] (bookseller at the halfe Bowle in the Old Bailey), who bought it of Ambrose Bayly for Two Shillings; and Bayly had it of William Harrison, One of the servants to the Serjeant of this House. They examined Harrison how he came by the copy: And he confessed, that Sir Edward Payton sent him for it to Sir Anthony Irby; and that after he had received it of Sir Anthony Irby he lent it to Bayly before he carried it to Sir Edward Payton, who took a copy of it.22 Eine fru¨hmoderne Regenbogenpresse schließlich schien in diesem sich schnell a¨ndernden Markt substantiellen Abhandlungen den Rang abzulaufen:

18 McKenzie, ‚Speech-Manuscript-Print‘, in: The Library 22 (1990), S. 87–109; allgemein Peter Burke,

Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2001, S. 231–238.

19 Martin Parker, The Poet’s Blind mans bough, London 1641. 20 Anonym, The Poet’s Knavery Discovered in all their lying Pamphlets, London 1641, repr. in Harleian

Miscellany, 12 Bde., hg. v. Thomas Parker, London 1808–1811, Bd. 9, S. 199–201.

21 Freist, Governed by Opinion (wie Anm. 15), S. 101–105. 22 National Archives, Commons Journal II. 268 (August 1641).

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Thirty or fourty sheets of paper is not like to sell in this age were the matter never so good, but if it had beene a lying and scandalous pamphlet of a sheete of paper that could produce a Scripture text, or some reviling tearmes against the Monarchy, And Hierarchy to uphold an Anarchy, they would have embraced my profer, for it is like such would have proved vendable ware, if I could obtain an Order or a Vote upon it.23 Daneben wurde mu¨ndlicher Nachrichtenvermittlung weiter große Bedeutung bei¨ berwachung von gemessen, was nicht zuletzt an der sorgfa¨ltigen obrigkeitlichen U Gespra¨chen und den darin gea¨ußerten Meinungen nachgewiesen werden kann. Eng verbunden mit der kontroversen Beurteilung gedruckter und damit o¨ffentlich zuga¨nglicher Nachrichten war die Auseinandersetzung mit den politischen Folgen, wenn sich das „ungebildete Volk“ an politischer Meinungsa¨ußerung beteiligte. Zeitgeno¨ssische Flugschriften setzten sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts versta¨rkt mit dieser Frage auseinander. Ein Einblattdruck deklarierte im Jahre 1641 bereits im Titel „The World is Ruled and Governed by Opinio“ und argumentierte: Because one Opinion many doth devise And propagate till infinite they bee [...] opinions found in everie house and streete.24 Zeitgeno¨ssische Beobachter vertraten die Ansicht, dass der o¨ffentliche Austausch von Meinungen Ursache sozialer und politischer Unruhe war: Supersticious jealousies entstu¨nden durch die Verbreitung von Nachrichten und Meinungen, und diese breed distaste twixt Subjects and the King [...] They scarcely shall beleeve, or trust each other.25 Dieses beiderseitige Misstrauen ist auf vielfa¨ltige Weise in Gerichtsakten u¨berliefert. So hinterfragte beispielsweise ein einfacher Handwerker, Thomas Sampson, aus Spittlefield, London die Authentizita¨t von Dokumenten, die 1646 im Auftrag des Parlaments gedruckt und verbreitet wurden. Konkret ging es um die Korrespondenz zwischen Karl I. und seiner franzo¨sischen Ehefrau Henrietta Maria, die im Bu¨rgerkrieg beschlagnahmt und im Auftrag des Parlaments vero¨ffentlicht wurde. Sampson hatte geurteilt that the letters that were taken in the King’s cabinet were not of the Kinges owne handwriting, but that the State did counterfeit his hand – es handele sich also um eine Fa¨lschung im Auftrag des Parlaments.26 Die Vero¨ffentlichung der Briefe war Teil einer publizistischen Offensive des Parlaments, das in der katholischen Ko¨nigin eine zentrale Drahtzieherin im Bu¨rgerkrieg sah und jedes Mittel nutzte, um dies unter Beweis zu stellen. Sampson wurde umgehend vor Gericht verho¨rt. Nicht selten – so auch in Ben Jonsons „Staple of Newes“ – wurde die o¨ffentlich gea¨ußerte Meinung mit Weibergeschwa¨tz assoziiert und Opinio als Frau dargestellt, um die Meinung des Volkes in dem fu¨r die Zeit typischen geschlechtsspezifischen

23 Edward Browne, Sir James Cambels Clarks Disaster by making books ..., London 1642. 24 Henry Peacham, The World is Ruled and Governed by Opinion, London 1641. 25 John Taylor, A Delicate, Dainty, Damnable Dialogue Between the Devill and a Jesuite, London 1642. 26 Sessions of the Peace Rolls, Middlesex (MJ/SPR), 24 March, 1646, hg. v. John C. Jeaffreson (Old

Series), III, 1622–1667, London, 1974.

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sexuell konnotierten Diskurs zu diskreditieren.27 In seinem Angriff gegen den Publizisten John Taylor verglich sein Kontrahent Henry Walker dessen Meinungsa¨ußerungen nicht nur mit dem Furz eines Teufels, sondern stellte diesen zugleich als nackten weiblichen Teufel dar.28 Damit nicht genug, Taylor wu¨rde, so der Vorwurf weiter, reden wie die Fischweiber, die zugleich Symbol schamlosen Sexualverhaltens waren. ¨ ffentlich und von der Allgemeinheit debattierte Meinungen, so die weit verbreitete O Auffassung, waren das Gegenteil von Wahrheit, vergleichbar mit Klatsch und Tratsch von Frauen: Truth is made the object of every contentious fancy, and so becomes opinion29 – „opinion“ visualisiert auch hier als Frau. Bei aller Kritik an der Verbreitung politischer Nachrichten im Volk und o¨ffentlicher Meinungsbildung wurden insbesondere von Seiten des Parlaments seit den spa¨ten 1630er Jahren die Printmedien genutzt, um im Konflikt mit Karl I. u¨ber politische Privilegien und religionspolitische Fragen die o¨ffentliche Meinung zu beeinflussen. Zu diesem Pha¨nomen liegen inzwischen eine Reihe detaillierter Studien vor.30 Detailliert aufzeigen la¨sst sich diese publizistische Offensive des Parlaments an dem bislang wenig beachteten Beispiel der franzo¨sischen katholischen Ehefrau Karls I., Henrietta Maria.31 Die minutio¨se Nachzeichnung ihrer politischen Aktivita¨ten im Kontext des englischen Bu¨rgerkriegs in den Medien verfolgte das Ziel, die Ko¨nigin als papistische Bedrohung des englischen Ko¨nigreichs medial erfolgreich zu konstruieren und dieses Bild wa¨hrend des gesamten Bu¨rgerkriegs wach zu halten.32 Die besonders brisante Beschlagnahmung und Vero¨ffentlichung des Briefwechsels zwischen Karl I. und Henrietta Maria, in dem es durchaus um konkrete politische und milita¨rstrategische Fragen ging, lo¨sten wie gezeigt kritische Reaktionen aus. Ha¨ufig fassten die Pamphlete bereits im Titel die Aktivita¨ten der Ko¨nigin plakativ zusammen – so beispielsweise in einem 1642 vero¨ffentlichten Druck: Strange and Terrible News from the Queene in Holland Shewing plainly the Intelligence of the Kinge of his Intention to raise Armes. And the Queene of Englands providing many Barrels of gunpowder, diverse Pistols, and to be sent suddainely over to the King [...].33

27 Susan Wiseman, Adam, the Father of all Flesh: porno-political rhetoric and political theory in and

after the English Civil War, in: Pamphlet Wars: prose in the English revolution, hg. v. James Holstun, London 1992, S. 134–157. 28 Vgl. Henry Walker, Taylors Physicke has Purged the Divel, London 1641. 29 Peacham, Ruled by Opinion (wie Anm. 24). 30 Freist, Governed By Opinion (wie Anm. 15); David Cressy, England on Edge. Crisis and Revolution 1640–1642, Oxford 2006; Michael Braddick, God’s Fury, England’s Fire. A new History of the English Civil Wars, London 2008. 31 Caroline M. Hibbard, Henrietta Maria, in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004. 32 Dagmar Freist, Popery in perfection? The Experience of Catholicism: Henrietta Maria between private practice and public discourse, in: The Experience of Revolution in Stuart Britain and Ireland, hg. v. Michael J. Braddick/David L. Smith, Cambridge 2011, S. 33–51. 33 Strange and Terrible News from the Queene in Holland Shewing plainly the Intelligence of the Kinge of his Intention to raise Armes. And the Queene of Englands providing many Barrels of gunpowder, diverse Pistols, and to be sent suddainely over to the King [...], London 1642.

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Diese hier nur angedeuteten Wahrnehmungsmuster und Vera¨nderungen o¨ffentlicher Meinungsa¨ußerung und Nachrichtenverbreitung in der ersten Ha¨lfte des 17. Jahrhunderts verdeutlichen mehrere Pha¨nomene: – die Entdeckung von Nachrichten und Neuigkeiten als Ware und ihre Vermarktung als gedrucktes Produkt, verbunden mit der Sorge, dass Neuigkeiten damit ein Eigenleben entwickelten, losgelo¨st von den tatsa¨chlichen Ereignissen und Orten – Wissen um die Gefahr der Fabrikation von Nachrichten aus politischen und/oder kommerziellen Gru¨nden – ein Bewusstsein – oder je nach Einstellung auch eine Beunruhigung – unter Zeitgenossen daru¨ber, dass sich mit der Verbreitung von Nachrichten auch der Kreis derer vergro¨ßerte, die diese Nachrichten rezipierten und durchaus kritisch kommentierten – eine Enthierarchisierung von Wissen und Informationsaustausch und die damit verbundene Konkurrenz neu entstehender Wissenskulturen – die Wahrnehmung und Kommentierung gesellschaftlicher und politischer Vera¨nderungen als Folge einer breiteren Partizipation am Nachrichtenwesen – Vera¨nderungen in der Wahrnehmung von Herrschaft (Misstrauen zwischen Obrigkeit und Untertanen) und ein wachsender Legitimationszwang von Herrschaft. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen werde ich mich im Folgenden mit der ¨ ffentlichkeiten in der engen Verzahnung der verschiedenen Medien in Londoner O ersten Ha¨lfte des 17. Jahrhunderts auseinandersetzen. Dabei geht es nicht nur um die Verbreitung von Nachrichten in unterschiedlichen Medien und um die gezielte Politi¨ ffentlichkeit(en) in den 1630er und 1640er Jahren durch das Parsierung Londoner O lament, sondern auch um die Rezeption von Newes und deren politische und gesellschaftliche Bewertung. Zugleich mo¨chte ich mich auf die von Gerd Schwerhoff auf¨ ffentlichgeworfene Frage beziehen – inwieweit die neu entstehende ‚universale‘ O keit „doch sehr viel mehr in der sta¨dtischen Lebenswelt“ verankert ist „als es dem modernen Selbstbild entspricht“.34 Abschließend werde ich die Medienlandschaft im fru¨hneuzeitlichen London in Beziehung setzen mit den neu entstehenden Orten von ¨ ffentlichkeit, den Adressbu¨ros, ihren Zielsetzungen und gesellschaftlichen Folgen. O Insbesondere die Fokussierung auf diese „Offices of Publicke Adress“ als Nachrichtenspeicher und Informationsbo¨rse sta¨dtischer Neuigkeiten wirft konzeptionell die ¨ ffentlichkeit gemeint ist: eine O ¨ ffentlichkeit Frage auf, was genau mit sta¨dtischer O in London, die allgemein Nachrichten gewissermaßen aus aller Welt rezipierte oder ¨ ffentlichkeit, die die Belange der eigenen Stadt, eine im engeren Sinne sta¨dtische O London, zum Gegenstand hatte. In den nachfolgenden Ausfu¨hrungen wird es um die ¨ ffentlichkeiten in dieser doppelten Rolle gehen: London als fru¨hneuzeitLondoner O ¨ ffentlichkeiten (situativ) konstituliche Metropole, in der sich in besonderer Dichte O ierten und Meinungen und Nachrichten ausgetauscht wurden und London als Raum,

34 Gerd Schwerhoff, Einleitung, in diesem Band.

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in dem fu¨r das Leben in der Metropole relevante Informationen und Wissen gespeichert wurden, um eine Nachrichten- und Wissensvermittlung losgelo¨st von sozia¨ berwindung der „Anwesenheitsgesellschaft“ zu ler Interaktion und damit auch in U ermo¨glichen.35

2. Intermediale Verflechtungen

Die obrigkeitliche und soziale Kontrolle des mu¨ndlichen Meinungsaustausches in England in der ersten Ha¨lfte des 17. Jahrhunderts hat einen Quellenkorpus in Form von Informantenberichten, Korrespondenzen, Verho¨rprotokollen und Berichten ¨ berlieferung Personen, geschaffen, der es ermo¨glicht, anhand der so entstandenen U Orte, Inhalte und den Verlauf von Kommunikationsprozessen und vor allem Kommunikationspraktiken zu rekonstruieren. Damit ru¨ckt sowohl die Rezeption von Printmedien als auch die subjektive Wahrnehmung religio¨ser und politischer Ereignisse durch die Zeitgenossen vergangener Epochen in den Mittelpunkt. In seinen Forschungen zur deutschen Reformation hatte Bob Scribner bereits in den 1980er Jahren auf die methodischen Probleme verwiesen, von Medieninhalten allein auf Denkweisen der Bevo¨lkerung Ru¨ckschlu¨sse ziehen zu wollen: „indeed, study of printed sources may even tell us very little about how the literate received their information about the Reformation, telling us more about their authors than about the response of their readers“ .36 Konsequent erweiterte Scribner den Forschungsrahmen und untersuchte die Rezeption reformatorischer Ideen.37 Gerichtsakten geben die mu¨ndliche Rede allerdings nur durch den Filter von Anklageschriften und Verho¨rprotokollen wieder. Entsprechend kann es bei der Ana¨ ußerungen gehen, sondern um die lyse nicht um die Interpretation tatsa¨chlicher A Analyse ihrer Konstruktion. Die methodischen Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, sind von der Fru¨hneuzeitforschung breit diskutiert worden. Mit Recht wurde darauf verwiesen, dass Informantenberichte und Gerichtsakten die Interpretationen von Ereignissen durch verschiedene Personen sowie durch die Obrigkeit darstellen, deren Sichtweise gepra¨gt ist durch Machtstrukturen und geschlechtsspezifische Rollenerwartungen. Wer diese Quellen allerdings ausschließlich auf eine obrigkeitliche Deutung von Konflikten reduziert, die zudem ein bestimmtes Menschenbild erzeugt, das noch heute die Forschung pra¨gt,38 u¨bersieht nicht nur die Ein-

35 Vgl. den Beitrag von Rudolf Schlo ¨ gl in diesem Band. 36 Robert W. Scribner, Oral Culture and the Diffusion of Reformation Ideas, in: Popular Culture and

Popular Movements in Reformation Germany, hg. v. Robert W. Scribner, London 1987, S. 49–69, bes. S. 50. 37 Robert W. Scribner, Flugblatt und Analphabetentum. Wie kam der gemeine Mann zu reformatorischen Ideen?, in: Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit, hg. v. Joachim Ko¨hler, Stuttgart 1981, S. 65–76. 38 Monika Hohkamp, Vom Wirtshaus zum Amtshaus, in: Werkstatt Geschichte 16 (1997), S. 8–18.

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bindung der Obrigkeit in das soziale Geflecht des Ortes und bestehende Loyalita¨ten und Klientelverha¨ltnisse, sondern auch die Fa¨higkeiten von Untertanen, strategisch mit Vorwu¨rfen umzugehen und angesichts bestimmter Erwartungshaltungen eine Geschichte zu erza¨hlen.39 Informantenberichte und Gerichtsakten lassen sich zwar nicht als authentische Protokolle mu¨ndlicher Rede lesen, sie erlauben jedoch Ru¨ckschlu¨sse auf die soziale Zusammensetzung von Diskutanten und auf die Art und Weise, wie politische und religio¨se Themen rezipiert, bewertet und weitergegeben wurden. Eine genauere Analyse von Gerichtsakten bringt einen vielschichtigen Kommunikationsprozess zum Vorschein, der eingebettet in den historischen Kontext Einblicke gewa¨hrt in die Dynamiken von Kommunikation, das Wechselspiel von Medien und Meinungsbildung, Mu¨ndlichkeit und Schriftlichkeit, die Bedeutung von Schma¨hreden in politischen Disputen und schließlich die Rolle von Frauen in den allta¨glichen religio¨sen und politischen Debatten in London. Nicht erst mit der Verbreitung von Flugbla¨ttern am Vorabend des englischen Bu¨rgerkriegs (1642–1649), die sich kritisch, satirisch und frech in Wort und Bild mit der Religionspolitik Karls I. (1600–1649) und Erzbischof William Lauds (1573–1645) befassten, wuchs die Sorge im Umfeld der englischen Krone u¨ber die Auswirkungen dieser zunehmend professionellen Form von o¨ffentlicher Meinungsbildung. Eine intensive Bescha¨ftigung mit den mo¨glichen Folgen o¨ffentlich geu¨bter Herrschaftskritik begann bereits in den 1620er Jahren mit der Entstehung erster „Zeitungen“ und der professionellen Verbreitung von Druckmedien. Offiziell von der Zensur nur als Berichterstatter außenpolitischer Ereignisse zugelassen, verbreiteten newsletters auch innenpolitische Themen, darunter Auszu¨ge aus Parlamentsdebatten.40 Flugbla¨tter und Flugschriften wurden zunehmend eingesetzt, um politische Gegner in Wort und Bild zu schma¨hen.41 Popula¨re, an die Volkskultur angelehnte Medien wie Balladen oder Trinklieder bildeten zunehmend ein Echo der Ereignisse am Hof und griffen gezielt unliebsame religio¨se oder politische Personen des o¨ffentlichen Lebens an, ha¨ufig unter Verwendung von ehrverletzenden Schimpfworten unmittelbar aus der Alltagskultur. Ebenso wie die wachsende Mediendichte zeugt auch die u¨berlieferte mu¨ndliche politische Meinungsbildung von einer lebendigen Streitkultur, die vor Herrschaftskritik nicht zuru¨ckschreckte und die rhetorische Beschwo¨rung einer auf Konsens ausgerichteten fru¨hneuzeitlichen Gesellschaft konterkarierte. Diese Entwicklung fiel auch den Zeitgenossen auf. So wurde kritisch angemerkt, dass sich „jedes einfache Gemu¨t“ mit politischen Fragen und dem Zustand der Regierung befasse. Thomas Hobbes (1588–1679) etwa monierte, dass aufru¨hrerische Stimmen das Volk in dem Glauben anstachelten, sie ha¨tten das von Gott gegebene Recht, u¨ber gut und schlecht zu befinden und zu glauben, sie ko¨nnten selbsta¨ndig urteilen und Gesetze

39 N. Zemon Davis, Fiction in the Archives: Pardon tales and their tellers in sixteenths-century France,

Stanford 1995.

40 John Frank, The Beginnings of the English Newspaper, 1620–1660, Cambridge/Mass. 1961, S. 5–7, 14. 41 Alasdair Bellany, Raylinge Rymes and Vaunting Verse: Libellous Politics in Early Stuart England,

1603–1628, in: Culture and Politics in early Stuart England, hg. v. K. Sharpe/P. Lake, London 1994, S. 285–310.

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und Anordnungen des Commonwealth hinterfragen.42 Es gab allerdings auch wortstarke Befu¨rworter freier Meinungsa¨ußerung, darunter John Milton (1608–1674), John Lilburne (c.1615–1657) und Samuel Hartlib (1600–1662).43 Mit der Zuspitzung der politischen und religio¨sen Konflikte am Vorabend des englischen Bu¨rgerkriegs reagierten Karl I. und Erzbischof William Laud auf religionspolitische Meinungsa¨ußerungen und Schma¨hschriften mit der rigorosen Verfol¨ ußerungen“ gung aller, die an der Verfassung und Verbreitung „aufru¨hrerischer A (seditious talk) beteiligt waren. Dabei konnten sie sich auf Gesetze stu¨tzen, die o¨ffentliche Reden gegen die Politik der Krone sowie gegen Mitglieder der Dynastie unter Strafe stellten.44 Das Parlament, das 1640 erstmals nach elf Jahren wieder zusammengetreten war, versuchte ebenfalls Einfluss auf die o¨ffentliche Meinungsa¨ußerung zu nehmen und eigene Akzente in der Definition von „seditious talk“ zu setzen. Das Ergebnis waren teilweise konkurrierende Listen der Krone und des Parlaments von verbotenen und rehabilitierten Druckwerken und der versta¨rkte Einsatz von Informanten, deren Aufgabe es war, den mu¨ndlichen Meinungsaustausch zu kontrollieren ¨ ußerungen zur Anzeige zu bringen. Auf dieser Ebene o¨ffentliund bei kritischen A cher politischer Kommunikation wurde die zunehmende Kluft zwischen Anha¨ngern der Puritaner, die von ihren Gegnern der politischen Unruhestiftung und Unloyalita¨t gegen den Ko¨nig bezichtigt wurden und Anha¨ngern der Anglikaner, die sich in der aufgeheizten Stimmung wiederholt dem Vorwurf von popery45ausgesetzt sahen, reproduziert. Auf der Grundlage einer gut u¨berlieferten Protokollierung von „seditious talk“ in Gerichtsakten im England der 1630er und 1640er Jahre ist es mo¨glich, in vielen Einzelfa¨llen den Weg vom gesprochenen Wort zu einer Flugschrift, vom Geru¨cht zum marktschreierischen Einblattdruck, vom Wirtshausgespra¨ch zum Tumult, oder von einem Herbergsgespra¨ch zum Gerichtssaal, zum Privy Council und dann wiederum zu einer Flugschrift zu verfolgen. Diese Verflechtungen werden besonders deutlich am Beispiel der Irin Ann Hussey Anfang der 1640er Jahre, die in einer Londoner Unterkunft vertrauliche Informationen u¨ber eine bevorstehende katholische Verschwo¨rung weitergegeben hatte.46 Die katholische Hussey aus Irland, Ehefrau von Lord Hussey, logierte 1639 in Drury Lane und versuchte von dort aus vergeblich, ihren Ehemann zu kontaktieren, dem sie wichtige Nachrichten u¨bermitteln wollte. Unter der Last der Neuigkeiten gab sie schließlich vertrauliche Informationen, die sie von dem Beichtvater der Ko¨nigin Mutter, dem katholischen Priester William O’ Connor, u¨ber einen bevorstehenden Aufstand der Katholiken in England erhalten hatte, an einen Philip Bainbridge aus der Shire Lane weiter, der sich ebenfalls in der Herberge aufhielt:

42 Thomas Hobbes, Of Speech, in: Leviathan, hg. v. V. C. B. Macpherson, London 1951, ND 1984,

S. 101.

43 John Milton, Areopagitica, London 1644; John Lilburne, England’s Birth-Right, London 1645; Samuel

Hartlib, A briefe discourse concerning the accomplishment of our reformation, London 1647.

44 Statutes of the Realm 1 Elizabeth c. 5, 6 A. D. 1558–59. 45 Zeitgeno¨ssische abfa¨llige Umschreibung von Anha¨ngern des katholischen Glaubens. 46 National Archives, State Papers: SP 16/464.31 (18 August 1640).

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That Mr Conyard told her the Catholics were glad the King went speedily into Scotland, for ere he returned there would be a great change, and he was assured the Catholics in England would flourish more in England than they had these many years, for some good reasons that he would show.47 Im weiteren Verlauf des Gespra¨chs, das nach Angaben von Bainbridge in irischer Sprache gefu¨hrt wurde, schilderte Hussey, dass bereits die Botschaften katholischer La¨nder, na¨mlich Spanien und Frankreich, sowie Rom in die Pla¨ne einbezogen worden seien. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Ann Hussey wurde vor den Privy Council zum Verho¨r geladen48 und der Gespra¨chsverlauf tauchte kurz darauf in den Printmedien auf unter dem Titel „A Discovery [...] of a late intended plot by Papists to subdue the Protestants. Being a true Copy of a Discourse between William O’ Connor a Priest and Anne Hussey an Irish Gentlewoman“.49 In der religionspolitisch aufgeheizten Atmospha¨re in London wa¨hrend des sogenannten „Bishops’ War“ gegen Schottland, in dem Karl I. tatsa¨chlich katholische irische So¨ldner einsetzte, sorgten die Geru¨chte um Ann Hussey fu¨r weiteren Zu¨ndstoff. Der Privy Council ordnete kurz nach den Enthu¨llungen eine Sicherheitsverwahrung Husseys an, nachdem sie bedroht worden war [by] certaine Irish people to bee mischieved, and that there have been some Irish to inquire after her as it is strongly suspected to offer some violence.50 Doch nicht nur die Wege von Nachrichten und Meinungen durch verschiedene Medien und Ra¨ume wie auch verschiedene soziale Schichten lassen sich rekonstruieren wie hier exemplarisch gezeigt, sondern auch die Dynamik von Kommunikation. Die Dynamik von Kommunikation impliziert zum einen die Genese und den Verlauf von Kommunikation unter Einbeziehung verschiedener Medien und Ges¨ ffentlichkeit durch den Austausch ten, zum anderen die situative Entstehung von O und die Kommentierung von Neuigkeiten in sehr unterschiedlichen Ra¨umen, die erst ¨ ffentlichkeit wurden. Der durch die soziale Interaktion und Kommunikation zu O Vortrag einer Ballade beim geselligen Kartenspiel in halb privatem Kreis konnte bei den Zuho¨rern eine Kontroverse u¨ber die Ursachen, den Verlauf und die Erfolgschancen des Krieges mit Schottland entfachen – und endete damit wie in dem folgenden Fall nicht selten vor Gericht. Am 21. Oktober 1640 begann das Verho¨r der Kartenrunde vor dem „Star Chamber“, einem der ho¨chsten Gerichte Englands, auf der Grundlage von Information respecting disloyal and abusive language used by Dr. Seaton, Mr Leviston, and Mrs Black, widow, against Archbishop Laud:51 47 Ebd.; William O’Connor wurde inhaftiert und befragt, vgl. National Archives SP 16/420.50 (May

1639). 48 National Archives, Privy Council: PC 2.52.725 (11 September 1640). 49 A Discovery [...] of a late intended plot by Papists to subdue the Pprotestants. Being a true Copy of

a Discourse between William o’ Connor a Priest and Anne Hussey an Irish Gentlewoman, London 1641. 50 National Archives, PC 2.52.725 (wie Anm. 48). Die Anordnung der Sicherheitsverwahrung wurde im Oktober erneuert PC 2.53.15 (4 Oktober 1640). 51 National Archives, State Papers (SP) 469/95, f. 191r, London, 1640.

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Dr. Seaton, Mr Leviston, & Mrs Black, widdow being att Cards together att her the said Mrs Blacks house in St Martins lane, Dr Seaton produced a Ballad lately printed concerning two Welshmen & he said he had sent into Scotland with other [unlesbar], where it would make very good sport: and in a jeering manner wished he had but the Nouts head to send away with it, for that would make sport indeed. And Mrs Black asking him whose Nouts head he meant, he said the Archbishoff of Canterbury, to which she answered, that indeed is as fatt as your owne, And the said Dr Seaton urging Mr Leviston to speake something against his Grace, & telling him that he dareth not, Mr Leviston replyed, The Divell take him, what would you have me say?52 Die Entstehung und der Verlauf des Gespra¨chs versinnbildlichen die intermediale Verflechtung von Kommunikationsprozessen in London sowie die situative Entste¨ ffentlichkeit. Der historische Kontext, in dem diese A ¨ ußerungen gefalhung von O len sind, bezieht sich zum einen auf die Ereignisgeschichte – mit Blick auf die Quelle sind dies unmittelbar der Krieg zwischen England und Schottland 1637–1640, mittelbar die religionspolitischen Konflikte, die zum Ausbruch des englischen Bu¨rgerkriegs gefu¨hrt haben – zum anderen auf das Pha¨nomen von Kommunikation, o¨ffentlicher Meinungsbildung und darin geu¨bter Herrschaftskritik. Werden die Gespra¨chs¨ ußerungen von Barausschnitte in diesen Kontext eingeordnet, so erlauben die A bara Black, Dr Seaton und Mr Leviston Ru¨ckschlu¨sse auf eine mo¨gliche Parteinahme innerhalb der religionspolitischen Konflikte auf Seiten des Parlaments und der Puritaner. Diese Parteinahme wird indirekt in der Bewertung zeitgeno¨ssischer Medien, Personen und Ereignisse deutlich. Da gibt es zuna¨chst die Ballade u¨ber zwei Waliser, deren Inhalt die Schotten, die sich im Krieg gegen England befanden, nach Aussage von Dr Seaton amu¨sieren du¨rfte. Fu¨r mindestens ebensoviel Belustigung, so die „jesting remarks upon reading the ballad“, wu¨rde der Kopf des Erzbischofs sorgen, schickte man diesen mit der Ballade zusammen in den Norden. Die Fragen nach dem ‚warum‘ fu¨hren zu Recherchen u¨ber die Rolle der Waliser und des Erzbischofs im englisch-schottischen Krieg, u¨ber das allgemeine Bild der Waliser in der Volkskultur und schließlich zu der Suche nach Balladen u¨ber die Waliser. Die Antworten auf diese Fragen erschließen zugleich auch die Anspielungen der „jesting remarks“. Erzbischof ¨ ffentlichkeit fu¨r den Krieg – auch „Bishops’ War“ genannt – verLaud wurde in der O antwortlich gemacht. Die Ursache war die Einfu¨hrung des „common prayer book“ 1637, das auch in Schottland Gu¨ltigkeit haben sollte und dessen streng anglikanische Liturgie fu¨r viele Puritaner unannehmbar war und den o¨ffentlich geschu¨rten Verdacht na¨hrte, Laud plane die Wiedererrichtung der katholischen Kirche. Die Waliser, Zielscheibe vieler zeitgeno¨ssischer Satiren, ka¨mpften auf der Seite des Ko¨nigs gegen die Schotten, hatten allerdings gerade einmal eine Handvoll Soldaten und Pferde bereitstellen ko¨nnen. Balladen machten sich u¨ber den Kampfgeist der Waliser lustig und Dr Seaton ko¨nnte durchaus die folgenden Strophen vorgelesen haben:

52 Ebd.

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There is a kind of beagles runs up and down the town Yelping out your destruction crying: „O the valour of the Welshmen! Who are gone to kill the Scots.“ But give the Welshmen leeks and good words, And call them „bold Britons“, And then you may do with them what you will.53 Die Schwa¨che der Waliser steht exemplarisch fu¨r die Schwa¨che der ko¨niglichen Armee insgesamt, der zumindest Barbara Black und Dr Seaton wenig zuzutrauen schienen. Lord Dorset (Edward Sackville, 1590–1652) unterstu¨tzte den Feldzug des Ko¨nigs gegen Schottland, was den Gespra¨chsteilnehmern offensichtlich bekannt war und Kritik hervorrief. Statt den Schotten die Nasen aufzuschlitzen, wie es Dorset den Berichten zufolge im ko¨niglichen Rat vorgeschlagen hatte, sollte man lieber ihm selbst die Nase aufschlitzen, so Barbara Black. Die Ra¨ume, an denen Meinungsaustausch stattfand, variierten und reichten von einfachen Begegnungen auf Reisen, bei denen die habituelle Begru¨ßung „what’s the news“ in Krisenzeiten detaillierte Berichte u¨ber Personen und Ereignisse des politischen Lebens provozierte, zu Ma¨rkten, Buchsta¨nden, Wirtsha¨usern, Herbergen und „privaten“ Ra¨umen54, wie im Fall der Gespra¨chsrunde, die sich bei Barbara Black eingefunden hatte. Die Heterogenita¨t insbesondere der Besucher und Besucherinnen von Wirtsha¨usern oder Herbergen ermo¨glichte die Multiplikation von Neuigkeiten und Meinungen in verschiedene soziale und ra¨umliche Zusammenha¨nge. Geho¨rten vor allem Angeho¨rige der „middling sort“ wie Handwerker und Kaufleute, ¨ rzte oder Angeho¨rige von Schreib- und Gerichtsstuben zu der soziaGeistliche, A len Gruppe, die gut informiert in den u¨berlieferten Quellen als Diskutanten u¨ber die religionspolitischen Ereignisse ihrer Zeit auftauchen, so verbreiteten Laufburschen, Knechte und Ma¨gde Geho¨rtes in andere soziale Ra¨ume. Eine weitere wichtige Informationsquelle waren Reisende, aber auch Bedienstete des Parlaments, der Botschaf¨ berlieferung als ten, Adliger und schließlich des Hofes. Barbara Black wird in der U Witwe eines ehemaligen Schneiders des Ko¨nigs identifiziert. Sie verfu¨gte offensichtlich noch u¨ber gute Kontakte zum Hof, da sie sich auf Informationsquellen aus dem Umfeld des Hofes in dem Verho¨r berufen konnte. In ihrem Haus gingen neben den erwa¨hnten Ga¨sten hochrangige Perso¨nlichkeiten ein und aus. So war das Eintreffen der Tochter des Bischofs von Worcester, der fu¨r seine Kritik an der Religionspolitik Lauds bekannt war55, Auslo¨ser fu¨r das Verlesen der Ballade. Die besondere Dynamik des Meinungsaustauschs ergab sich in dem vorliegenden Beispiel aus dem Wechselspiel des gesprochenen Wortes und Printmedien. Das 53 C. H. Firth, Ballads on the Bishops’ Wars, 1638–1640, in: The Scottish Historical Review 3 (1906),

S. 257–273, S. 262.

54 Im 17. Jahrhundert gab es noch keine scharfe Unterteilung zwischen o¨ffentlichen und privaten Ra¨u-

men. Das Haus von Barbara Black, das wa¨hrend des oben abgedruckten Gespra¨chsverlaufs noch von weiteren Personen aufgesucht wurde, konnte durchaus auch ein o¨ffentlich zuga¨nglicher Gastraum gewesen sein. 55 Bischof war John Thornborough. Vgl. Ann Hughes, Thomas Dugard and his circle: a puritan-parliamentarian circle, in HJourn 20 (1986), S. 771–794.

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Verlesen der Ballade provozierte Witze – Barbara Black gab zu there were some jesting passages upon reading the ballad – und veranlasste die Anwesenden, den Inhalt der Ballade wertend auf die zeitgeno¨ssischen Konflikte ihrer unmittelbaren Gegenwart zu beziehen. Die oft bildhafte Umschreibung von Sachverhalten unter Einbeziehung von Sprichwo¨rtern und die Anwendung von Schma¨hreden aus der Alltagssprache auf Personen in Staat und Kirche schließlich o¨ffnen den Blick auf die deutlich von der Volkskultur gepra¨gte Verbalisierung und Konzeptualisierung abstrakter Sachverhalte.56 So wird in dem vorliegenden Beispiel Erzbischof Laud als „Nout“ beschrieben, was im England des 17. Jahrhunderts so viel wie „bad“ und „good for nothing“ bedeutete. Das Aufschlitzen von Nasen geho¨rte in das Arsenal spa¨tmittelalterlicher Schand- und Ehrstrafen – urspru¨nglich fu¨r Prostituierte und Homosexuelle57, tauchte aber auch noch in nachbarlichen Schma¨hreden in London im 17. Jahrhundert auf, um sexuelle Vergehen zu brandmarken oder zu unterstellen;58 wurden derartige ‚Bilder‘ auf den politischen Kontext u¨bertragen, was im 17. Jahrhundert sehr ha¨ufig der Fall war, so wurde auf diese Weise die Integrita¨t und Ehre von Personen infrage gestellt. „Knave“ schließlich war das u¨bliche Schimpfwort fu¨r Ma¨nner in allta¨glichen Schma¨hreden und wurde angesichts der aufgedeckten Spielkarten – there being two knaves laid downe upon the Table, Dr Seaton said there wanted but the third viz. the Archbishop of Canterbury – auf Laud bezogen, wodurch er fu¨r alle erkennbar diskreditiert wurde. Die Auseinandersetzung mit der Rolle von Frauen im politischen Meinungsaustausch in London in der ersten Ha¨lfte des 17. Jahrhunderts vermittelt auf den ersten Blick ein eher einseitiges Bild. Nicht nur zeitgeno¨ssische Polemiken, auch theologische Schriften und „conduct books“ waren sich darin einig, dass es Frauen nicht zustand, eigene politische und religio¨se Meinungen zu a¨ußern. Mehr noch, Flugbla¨tter verleumdeten sie als Klatschweiber, unfa¨hig, Geho¨rtes zu beurteilen. Dieses Bild von Frauen wurde in dem zeitgeno¨ssischen Diskurs u¨ber die Ausbreitung o¨ffentlicher Meinungsbildung u¨bertragen auf die personifizierte „Opinion“. In dieser Lesart war die Meinung des Volkes zu politischen Themen wie Weibertratsch, ohne Gehalt und in ihrer Wirkung ein Sto¨rfaktor der gesellschaftlichen und politischen Ordnung. War Barbara Black also eine Ausnahme? Frauen aller sozialen Schichten waren als Teilnehmerinnen an Protestma¨rschen und als Verfasserinnen von Petitionen an der o¨ffentlichen Meinungsbildung wa¨hrend des Englischen Bu¨rgerkriegs beteiligt. Die aktive Rolle von Frauen in politischen und religio¨sen Streitgespra¨chen im Londoner Alltag la¨sst sich quantitativ nicht bestimmen, in Gerichtsakten werden Frauen aber regelma¨ßig in Zusammenhang mit „seditious words“ genannt.59 Als Inhaberin eines 56 Freist, Governed By Opinion (wie Anm. 15), S. 177–238; Adam Fox, Oral and Literate Culture in

England 1500–1700, Oxford 2000.

57 Valentin Groebner, Losing Face: Noses and Honour in the late Medieval Town, in: History Work-

shop Journal 40 (Autum 1995), S. 1–15. 58 Laura Gowing, Domestic Dangers. Women, Words, and Sex in Early Modern London, Oxford 1996. 59 Dagmar Freist, The King’s Crown is the Whore of Babylon: Politics, Gender and Communication

in Mid-Seventeenth-Century England, in: Presentations of the Self in Early Modern England. Gender and History, hg. v. Amy L. Erickson/R. Balzaretti (Gender and History, Special Issue 7/3(1999)), S. 457–481.

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Wirtshauses nahmen sie allein, gelegentlich gemeinsam mit weiblichen Ga¨sten, an der Nachrichtenu¨bermittlung und am Meinungsaustausch teil, wa¨hrend Ma¨gde eher als unbeteiligte Zuho¨rerinnen in Verho¨rprotokollen auftauchen. Frauen wurden zur Verantwortung gezogen, wenn in ihrem Wirtshaus „seditious words“ fielen. Dorothy Crowch beispielsweise musste sich im September 1644 vor dem Friedensrichter in Middlesex gegen den Vorwurf eines Dr. Symon Digby verantworten for scandalizeinge him and keepinge a disorderly taverne and sufferinge her sonne and others to singe reproachfull songs in her housse against the parliament. 60 In Herbergen waren Frauen sowohl als Vermieterinnen als auch als Ga¨ste an politisch-religio¨sen Gespra¨chen beteiligt, so wie die Katholikin Elisabeth Thorowgood, die sich u¨ber mehrere Tage mit dem Nonkonformisten Alexander West in ihrem gemeinsamen Quartier ¨ berzeugung des Ko¨nigs und seine Religionspolitik stritt.61 Die u¨ber die religio¨se U aktive Rolle, die Barbara Black in dem Meinungsaustausch u¨ber den „Bishops’ War“ spielte, war durchaus keine Ausnahme – ihr Haus war der Ort, an dem die Ballade nach der Ankunft weiterer Besucher verlesen und kommentiert wurde – sie schien gut informiert und ihre aktive Beteiligung an dem Meinungsaustausch war fu¨r Zeitgenossen – in diesem Fall der Informant – durchaus denkbar, auch wenn sie selbst die Vorwu¨rfe zuru¨ckwies. Nicht selten war Meinungsaustausch in London verbunden mit konkreten politischen Aktionen. Geru¨chte u¨ber die papistischen Verstrickungen von Erzbischof Laud, dem Erzfeind vieler Puritaner, verbunden mit Entta¨uschungen u¨ber die Auflo¨sung des Parlaments nach wenigen Monaten fu¨hrten im Mai 1640 zu Unruhen in London.62 William Laud als pope of Lambeth wurde verantwortlich gemacht fu¨r den Krieg gegen Schottland und das Scheitern des Parlaments. Zeitgleich tauchten u¨berall in der Stadt an gut sichtbaren und zentralen Orten Schma¨hschriften gegen den Erzbischof auf und Theaterstu¨cke setzten sich bissig und satirisch mit seiner aktuellen Religionspolitik auseinander. In seinem Tagebuch notierte Laud viele dieser Schma¨hschriften voller Bitternis. Ein Eintrag verwies auf einen Zettel, der an der Tu¨r von St Paul’s 1640 gefunden wurde. Laud notierte: The Devil had let that house to me.63 An anderer Stelle beschwerte sich der Erzbischof u¨ber die o¨ffentliche Verunglimpfung seiner Person: Schma¨hschriften und Balladen sung up and down the streets as full of falsehood as of gall und base pictures putting me in a cage and fasting me to a post by a chaine at my shoulder. And divers of these libels made men sport in taverns and alehouses, where too many were as drunck with malice as with the liquor they sucked in.64 60 MJ/SPR (3 September 1644), in: Middlesex County Records, 4 Bde., Middlesex County Record

Society, London 1886–1992, hg. v. J. C. Jeaffreson, Bd. 3: 1622–1667, London 1974, S. 178. 61 National Archives, SP 16/457.3i-4i (1640). 62 Conrad Russell, The Fall of the British Monarchies 1637–1642, Oxford 1991, S. 90–123 und 129–30

(Lambeth riots); Freist, Governed by Opinion (wie Anm. 15), S. 232–238 und Cressy, England on Edge (wie Anm. 30), S. 110–126. 63 William Laud, Works, hg. v. W. Scott/J. Bliss, 7 vols., Oxford 1847–1860, Bd. 3, S. 228–229. Vgl. auch ebd. S. 232, 234, 235, 237. Vgl. Freist, Governed by Opinion (wie Anm. 15), S. 125ff. 64 Hugh Trevor-Roper, Archbishop Laud 1573–1645, London 1940, S. 412.

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Seine Beobachtungen waren richtig. Ihm wurde in Gespra¨chen in den Straßen und Tavernen Londons vorgeworfen, dass the pope of Lambeth [......] doth pluck the royal crown off his majesty’s head and trample it under his feet, and did whip his majesty’s arse with his own rod.65 Andere verbreiteten weit u¨ber London hinaus, dass Laud zum katholischen Glauben u¨bergetreten sei. Wa¨hrend des u¨blichen Nachrichtenaustauschs bei einem Pferdekauf informierte einer der Anwesenden, ein William Collyer aus Bristol, er habe geho¨rt, dass Laud was turned Papist, and that the King and his jester had found the cross and the crucifix in his breast.66 Bei den Unruhen in London la¨sst sich aufgrund der Aktenlage die Verflechtung von Printmedien, gesprochener Rede und in diesem Fall politischem Handeln nachzeichnen. In London wurden Handzettel verteilt, die o¨ffentlich dazu aufriefen, den Sitz des Erzbischofs in London, Lambeth Palace, zu stu¨rmen: Come now and help us that we may destroy this subtle fox and hunt this raving wolf out of his den which daily plotteh mischief and seeks to bring this whole land to destruction by his popish intentions, Canterbury we mean.67 Laud vermerkte in seinem Tagebuch diesen Aufruf von Lehrlingen, sich zu versammeln, to sack my house.68 Ein anderer Zettel warb all gentlemen prentices that desire to kill the bishops [to] repair to St George’s fields on Monday morning ... vivat rex.69 Samuel Plumley, dem Boten eines Sekreta¨rs in Chancery Lane wurde unmittelbar vor Ausbruch der Unruhen angesichts der bevorstehenden Auflo¨sung des Parlaments vorgeworfen, er ha¨tte bereits im April folgendes Geru¨cht verbreitet: That if the parliament should be dissolved, he heard that his Graces house of Canterbury at Lambeth should be fixed, and that they would keep his Lordship in until he should be burnt, and that thousands would say as much as he sayd who spoke these word.70 Hinter diesen o¨ffentlichen Aufrufen standen konkrete Planungen, den Sitz des Erzbischofs zu stu¨rmen, die von Mund zu Mund weitergegeben wurden. In eben dieser mu¨ndlichen Nachrichtenkultur wa¨hrend eines Essens im Keller des Symons Inns mit einigen Gentlemen sowie verschiedenen Handwerkern hatte auch Samuel Plumley zuerst von den Pla¨nen erfahren, die er nun vor Gericht im Verho¨r preisgab.71 Noch detaillierter sind die mu¨ndlichen Nachrichtenstro¨me und Ortsangaben, die Richard Beaumont, Dienstbote eines Londoner Apothekers, vor Gericht offenbarte. Hier

65 National Archives SP 16/248/93; SP 16/ 250.58, SP 16/327.140 und SP 16/372.109 (May 1640). 66 National Archives SP 16/456.36 (7 June 1640). 67 Lambeth Laud Misc 943, 717, zitiert nach Stuart Royal Proclamations, Bd. 2, hg. v. J. F. Larkin, Oxford

1983, S. 711. 68 William Laud, Works (wie Anm. 63), S. 234, 235. 69 British Library Harl. Ms. 4931, f. 8. Vgl. Cressy, England on Edge (wie Anm. 30), S. 115. 70 National Archives SP 16/458.182 (7 April 1640). 71 National Archives SP 16/458.182 (1 May 1640).

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waren es vor allem Londoner La¨den und Handwerkerstuben, in denen die neuesten Pla¨ne fu¨r den Angriff auf houses of popery, darunter nun auch Somerset House Chapel, die Kapelle der katholischen Ehefrau Karls I., sowie katholische Botschaften, geschmiedet und ausgetauscht wurden.72 Die Obrigkeit reagierte mit Proklamationen gegen aufru¨hrerische Zusammenku¨nfte und nahm die Londoner Bevo¨lkerung in die Pflicht, Aufruhr zu verhindern.73 Botschafter in London informierten ihre jeweiligen Regierungen u¨ber die angespannte Situation in London, schilderten, wie die Stadt befestigt wurde74 und beschrieben den politisierten Nachrichtenaustausch. Der Botschafter aus Venedig etwa kommentierte the murmurs of the people, who felt certain that England will not see parliament for a long while.75 Und der franzo¨sische Botschafter schrieb nach Paris u¨ber die „evenements de Mai“, dass alle Gespra¨che in London darum kreisten de billets se´dicieux jette´s, d’affiches injurieuses attache´s aux places publiques, de dispositions du peuple a quelques soulevements, enfin de touttes choses forts estranges, en etat paisible comme celuy d’Angleterre.76 Neben der engen Verflechtung von Mu¨ndlichkeit und Schriftlichkeit fa¨llt die Visualisierung von Meinungen und Nachrichten im 17. Jahrhundert auf. Die Einpra¨gsamkeit und emphatische Wirkung von Bildern war bereits den Zeitgenossen bekannt und ist in vielen Studien zur propagandistischen Wirkungsmacht der Bilder wissenschaftlich belegt.77 In diesem Zusammenhang geht es allerdings eher um die symbolische Kraft der Bilder und ihre Verankerung in der Topographie Londons sowie in den Lebenswelten der Londoner Bevo¨lkerung. Besonders drastisch waren Holzschnitte, die den Anti-Katholizismus nicht nur visualisierten, sondern zugleich personifizierten und konkrete Londoner religionspolitische Konflikte aufgriffen. Im folgenden Beispiel geht es um das enge Zusammenspiel der rituellen Inszenierung von Schandstrafen gegen religio¨se Gegner in London78 und deren Wiedergabe wiederum in sehr unterschiedlichen Medien – in diesem Fall in einem Theaterstu¨ck und in einer bebilderten Flugschrift. William Prynne (1600–1669), einer der fu¨hrenden puritanischen Kritiker der Religionspolitik Lauds, wurde o¨ffentlich in London 1634 gebrandmarkt, indem ihm als Schandstrafe nicht nur die Ohren abgeschnitten, sondern auf seiner Wange die Buchstaben S. L. fu¨r „seditious libeller“ eingeritzt wurden.79 Prompt griffen popula¨re Medien die Vorga¨nge auf und die obrigkeitliche Politik erlebte in einem

72 Freist, Governed by Opinion (wie Anm. 15), S. 236–237. 73 Ebd., S. 233–234. 74 So beispielsweise der Venezianische Botschafter, vgl. Norman George Brett-James, The growth of

Stuart London, London 1935. Keith J. Lindley, Riot Prevention and Control in Early Stuart London, in: Transactions of the Royal Historical Society, 5th series 33 (1983), S. 109–126. 75 The English Civil War. A Contemporary Account, 5 Bde., Bd. 2: 1640–1642, hg. v. Edward Razell/ Peter Razell/Christopher Hill, London 1996, S. 13, 14, 16. 76 Zitiert nach Cressy, England on Edge (wie Anm. 30), S. 116. 77 Immer noch grundlegend: Historische Bildkunde. Probleme-Wege-Beispiele, hg. v. Brigitte Tolkemitt/Rainer Wohlfeil (ZHF 1999 Beiheft 12). 78 Henry E. I. Phillips, The Last Years of the Court of Star Chamber, 1630–1641, Transactions of the Royal Historical Society, 4th ser., xxi (1939), S. 103–131. 79 John P. Kenyon, The Stuart Constitution 1603–1688. Documents and Commentary, Cambridge 1966, S. 118.

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Theaterstu¨ck, privately acted neere the Palace-yard at Westminster eine ganz eigenwillige Interpretation.80 Auf dem Deckblatt ist Erzbischof Laud gemeinsam mit den verurteilten Geistlichen an einem Tisch abgebildet. Im Verlauf des Schauspiels verspeist Laud die ¨ belOhren Prynnes und muss bitter fu¨r seine Religionspolitik bezahlen; vor lauter U keit erbricht er nicht nur die Ohren des Puritaners, sondern Kruzifixe, Rosenkra¨nze und a¨hnliches, alles gedeutet als Zeichen seiner verha¨ngnisvollen religionspolitischen Na¨he zu Rom. Diese Visualisierung bezieht sich allerdings nicht nur auf bildliche Darstellungen, sondern auch auf das gesprochene Wort. Komplexe religio¨se und politische Zusammenha¨nge wurden ha¨ufig ausgedru¨ckt in einer Alltagssprache, die etwa aus Nachbarschaftskonflikten vertraut und von den Zuho¨renden sofort eingeordnet werden konnte. Derartige Schma¨hreden, die oft bildhaft waren und durch die Arbeiten u. a. von Laura Gowing gut untersucht sind, wurden auch auf politische Gegner in mu¨ndlicher Rede und in den Printmedien u¨bertragen wie oben am Beispiel der Kartenrunde schon angedeutet.81 Alltagssituationen konnten jedoch auch spontan politische Kommentare hervorrufen, die sich situativ einer Bildersprache bedienten. So rief Alice Jackson, als sie zwei Schafsko¨pfe eingeklemmt in einem Weidenzaun sah, aus: She wished the King and Prince Ruperts heads were there instead of them, and then the Kingdome would be settled, and the Queene had not a foote of land in England and the King was an evill and an unlawfull King, and better to be without a kinge than to have him Kinge.82 ¨ ußerungen als Anha¨ngerin des Parlaments und Alice Jackson zeigte sich in ihren A hoffte auf das Ende des Bu¨rgerkriegs. Sie war ganz offensichtlich recht gut u¨ber die Protagonisten des Krieges informiert. Der franzo¨sischen katholischen Ehefrau Karls I., die aktiv den Ko¨nig durch Verhandlungen und Waffenka¨ufe auf dem Kontinent im Bu¨rgerkrieg unterstu¨tzte und deshalb ta¨glich in Pamphleten angegriffen wurde, sprach sie jegliche Rechte ab. Prinz Rupert, der dritte Sohn von Elisabeth, einer Tochter Karls I. und Friedrich V., Kurfu¨rst der Pfalz, unterstu¨tzte erfolgreich die ko¨nigliche Armee gegen das englische Parlament und wurde schon zu Lebzeiten eine Legende und in Flugschriften gefeiert. Schließlich wurden Nachrichten ha¨ufig topographisch in London verortet und knu¨pften so inhaltlich und symbolisch an die Alltagskultur der Londoner Bevo¨lkerung an. Dabei waren die Orte oftmals symbolisch aufgeladen und die Bedeutungszuschreibung im Kontext der religionspolitischen Konflikte wurde offensichtlich vorausgesetzt. So war die Nag’s Head Tavern in Coleman Street der Inbegriff des Nonkonformismus und allein die Abbildung des Wirtshauses in Holzschnitten transportierte diese Botschaft. Charing Cross dagegen stand fu¨r den katholischen Glauben in

80 A new Play called Canterburie His Change of Diot. Which sheweth variety of wit and mirth: privately

acted neare the Palace-yard at Westminster, London 1641. 81 Gowing, Domestic Dangers (wie Anm. 58). 82 Gaol Delivery Rolls, Middlesex (MJ/GDR), (26 March 1643).

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London ebenso wie die Kapelle der Ko¨nigin, die Ha¨user katholischer Adliger sowie die Botschaften des katholischen Europas in der englischen Metropole. In anti-katholischen Pamphleten tauchten diese Orte als Symbole der katholischen Verschwo¨rung gegen das englische Volk auf. Karikiert wurde die Phobie der Puritaner gegen Katholiken und ihre Symbole in einem Pamphlet mit dem Titel „A Three-Fold Discourse Betweene Three Neighbours“ aus dem Jahre 1642.83 John Heyden, ein bekannter puritanischer Prediger, wurde portra¨tiert als jemand, der den Londoner Stadtteil um Aldgate und Bishopsgate hasste, da die Straßenfu¨hrung hier Kreuze bildete, die ihn an den Katholizismus erinnerten. Die Beispiele ließen sich fortfu¨hren. Neben topographischen Bezu¨gen auf die Londoner Lebenswelt wurden in der Kommunikationskultur auch bestimmte wiederkehrende Typen und Gegensta¨nde kreiert. Zu den bekanntesten geho¨rte ein Fass, auf dem, so die Darstellung, Laienprediger in Londoner Wirtsha¨usern predigen wu¨rden, die sogenannten „tub-preacher“. Sie waren namentlich in London bekannt und tauchten regelma¨ßig mit Hinweisen auf die Versammlungsorte in Pamphleten gegen Nonkonformisten auf: Greene, the feltmaker, Spencer, the groom or horse-keeper, Samuel How, the cobler, Praisegod Barebone, the leatherseller, John Heyden, the cobler, and the „prophet“ James Hunt.84 Schließlich schuf die Freude an Wortspielen eine enge Verbindung verbaler und pictoraler Darstellungen. Aus Bishop Wren und Lord Finch etwa wurden Vo¨gel (Zaunko¨nig und Finke) in Holzschnitten, in denen auf die beflu¨gelte Flucht der Royalisten nach Frankreich mit Ausbruch des englischen Bu¨rgerkriegs angespielt wurde.85 Die von Erzbischof Laud erlassenen „Church Canons“ (Kirchenartikel) wurden mit ihrer verheerenden Wirkung als „canons“ (Kanonen) in Holzschnitten dargestellt.86 Was bedeuten diese Beobachtungen intermedialer Verflechtungen fu¨r die Frage ¨ ffentlichkeit in der sta¨dtischen Lebenswelt? nach der Verortung einer universellen O

3. Meinungen – Medien – Ra¨ume

Bei einem Versuch, die Medienlandschaft, die Rezeption von Nachrichten und die Meinungsbildung in einer fru¨hneuzeitlichen Stadt in der „sta¨dtischen Lebenswelt“ ¨ ffentlichzu verorten, muss klar differenziert werden zwischen den verschiedenen O keiten in London, dem Gegenstand und der Zielsetzung der Nachrichtenvermittlung,

83 Anonym, A Three-Fold Discourse Betweene Three Neighbours, London 1642. 84 Vgl. John Taylor, A Tale in a Tub; or, A tub Lecture as it was delivered by Me-heele Mendsoale, an

inspired Brownist, in a meeting house near Bedlam, London 1641; A Swarme of Sectaries, and Schismatiques: Wherein is discovered the strange preaching (or prating) of such as are by their trades Coblers, Tinkers, Pedlers, Weavers, Sowgelders, and Chymney-Sweepers, London 1641. 85 Z. B. Times Alterations or a Dialogue betweene my Lord Finch and Secretary Windebancke; at their meeting in France, the eight of January 1641, London 1641. Der Holzschnitt zeigt Finch mit Flu¨geln. 86 Archbishop Laud firing a cannon, London 1640. Einblattdurck, auf dem die Kirchenartikel als Kanone dargestellt werden und mit der Doppelbedeutung von „canon“ im Text gespielt wird.

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den Medien und vor allem den sozial, kulturell und gender spezifischen Lebenswelten. Im Rahmen dieses Beitrags ist eine umfassende Analyse dieser Aspekte nicht mo¨glich. Ich mo¨chte daher im Wissen um diese notwendigen Pra¨missen an dieser Stelle exemplarisch einen Einblick in die topographische Verankerung universeller Nachrichtenvermittlung in London geben. Zu unterscheiden ist zuna¨chst zwischen Ra¨umen, in denen Nachrichtenvermittlung, deren Rezeption und Kommentierung eher zufa¨llig erfolgte und Ra¨umen, die gezielt aufgesucht wurden aufgrund ihrer Funktion als Nachrichtenbo¨rse. Die bisherigen Ausfu¨hrungen haben gezeigt, dass unspezifische Kommunikationsra¨ume wie etwa Wirtsha¨user, Herbergen oder auch Arbeitssta¨tten eine oft u¨berraschende kommunikative Interaktion zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen und gender aufwiesen und die Zusammensetzung der Kommunikationspartner wie auch die Rezeption der Medien Dynamiken unterlag. Informationsbo¨rsen dagegen wie die Royal Exchange, Londons a¨lteste Bo¨rse in Threatneedle Street/Cornhill, Jonathan’s Coffee House in Exchange Alley und seit dem spa¨ten 17. Jahrhundert die London Stock Exchange wurden gezielt von bestimmten Berufsgruppen und zu bestimmten Anla¨ssen aufgesucht. In Jonathan’s Coffee House beispielsweise fanden regelma¨ßig Buchauktionen statt, fu¨r die in ganz London geworben wurde.87 Daru¨ber hinaus wurde in Jonathan’s Coffee House sowie den angrenzenden Wechselstuben mit Aktien gehandelt. Die Royal Exchange wie auch die Aktiona¨re in Exchange Alley erlangten zweifelhafte Beru¨hmtheit wa¨hrend einer der gro¨ßten fru¨hneuzeitlichen Finanzkrisen, der so genannten „South Sea Bubble“ Anfang des 18. Jahrhunderts.88 Tausende auch kleinerer Anleger, Frauen und Ma¨nner, wurden das Opfer so genannter „Stock Jobbers“, die mit unlauteren Methoden zum Kauf von Aktien verleitet hatten. Angesichts der Krise gab es o¨ffentliche Angriffe gegen diese Spekulanten.89 Schon im Vorfeld der Krise waren sie aus der beru¨hmten Londoner Bo¨rse, der Royal Stock Exchange, verbannt. Ein Lexikoneintrag etwa hundert Jahre spa¨ter definiert Stock Jobbers wie folgt und gibt dabei zugleich Auskunft u¨ber die o¨ffentliche Bedeutung der Royal Exchange und der Exchange Alley, wo Jonathan’s Coffee House lag:

87 Bibliotheca Anglicana or, a Collection of Choice Books [...] will be exposed to sale, by way of auc-

tion, on Wednesday next, being the 5th of May 1686; at Jonathan’s Coffee House, in Exchange Alley, Cornhil, London , London 1686. 88 Ann M. Carlos/Larry Neal, The micro-foundations of the early London capital market: Bank of England shareholders during and after the South Sea Bubble, 1720–25, in: Economic History Review 59,3 (2006), S. 498–538; Ann M. Carlos/Karen Maguire/Larry Neal, Women in the city: financial acumen during the South Sea Bubble, in: Women and their money, 1700–1950: essays on women and finance, hg. v. Anne Laurence/Josephine Maltby/Janettte Rutterford (Routledge International Studies in Business History 15), London 2009, S. 33–45. 89 Zu den bekanntesten satirischen Darstellungen des Spekulationsfiebers, das ganz Europa erfasst hatte, ¨ ffentlichkeit angepasst wurde Bergeho¨rt die Niederla¨ndische Serie, die umgehend fu¨r die englische O nard Picart/Bernard Baron, A Monument dedicated to Posterity, London 1721, sowie die Antwort darauf von William Hogarth, The South Sea Scheme, London 1721. Vgl. auch die umfangreiche Sammlung der Baker Library, Harvard University http://www.library.hbs.edu/hc/ssb/collection.html.

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Persons who gamble in Exchange Alley, by pretending to buy and sell the public funds, but in reality only betting that they will be at a certain price, at a particular time; possessing neither the stock pretended to be sold, nor money sufficient to make good the payments for which they contract.90 Nachdem diese Spekulanten sich zuna¨chst mit ihrem Aktienhandel auf den Londoner Strassen aufhielten, wie auf dem beru¨hmten Holzschnitt von William Hogarth zu sehen ist, fanden sie bald ein neues Zuhause in dem legenda¨ren Jonathan’s Coffee House. Neben diesen bekannten Informationsbo¨rsen gab es eine Vielzahl von Wirtsha¨usern, spa¨ter Kaffeeha¨usern, die sich auf die Transaktionen einzelner Berufsgruppen spezialisiert hatten. Der Informationsaustausch hier war teilweise kontrolliert, ging es etwa darum, Gescha¨ftspraktiken und Ziele im Handels- und Kaufmannsmilieu nur einem ausgewa¨hlten Kreis zuga¨nglich zu machen. Hier ist Kommunikation in der Regel eng verknu¨pft mit Netzwerken, innerhalb denen Kommunikationsvorga¨nge gesteuert wurden. Es war im 17. und 18. Jahrhundert fu¨r Kaufleute, Ha¨ndler und Bankiers u¨blich, gescha¨ftliche Transaktionen nicht nur in den großen Handelsha¨usern, Banken und Gilden abzuschließen, sondern in dafu¨r ausgewa¨hlten Kaffeha¨usern. Diese waren insbesondere fu¨r Neuanko¨mmlinge der erste Weg in die Londoner Gescha¨ftswelt, wie wir aus Kaufmannskorrespondenzen von Migranten wissen. Unter ihnen war Hermann Jakob Garrels, der 1789 nach London ging und dort wie seine Landsleute vor ihm zuna¨chst gezielt eines der vielen Londoner Kaffeeha¨user besuchte – das „Angligallican Coffe Hous London“91 – und in Kontakt mit einem Gescha¨ftspartner seines Vaters trat.92 Aus dem Briefwechsel mit seinem Vater, Johann Hinrich Garrels, wird deutlich, dass sich der junge Kaufmann auf ein transnationales Netzwerk verlassen konnte und gezielt in eine fremde Gesellschaft und das Wirtschaftsleben einer europa¨ischen Metropole eingefu¨hrt wurde:93 Herr Fridag [...] holte mir gewo¨hnlich alle Morgen um 10 Uhr von meiner Logis ab, ging mit mir nicht allein nach der Kornbo¨rse, sondern auch nach der Hauptbo¨rse, wo er mich seinen Freunden introducierte, zeigte mir das Tobaksmagazin [...].94 Als dritte Ebene sind Ra¨ume zu definieren, die als Informationsbo¨rsen bekannt waren aber keinen exklusiven Charakter beanspruchten: dazu zu za¨hlen sind bestimmte Buchla¨den, Kirchen, Theater und allgemein Wirts- und Kaffeeha¨user, in denen sich gezielt Vertreter bestimmter religio¨ser Gruppen oder potentielle Gescha¨ftspartner – um nur zwei zu nennen – trafen, in der Hoffnung, Neuigkeiten zu erfahren. Am bekanntesten war der sogenannte „St Paul’s Walk“, vorbei an Buchla¨den und Druckereien, in denen jeder auf der Suche nach den neuesten Nachrichten unterwegs war. Eine zeitgeno¨ssische Satire beschrieb diesen Rundgang von der Royal Exchange in Cornhill u¨ber St Paul’s Cathedral nach Westminster, von dort zur 90 Francis Grose, A classical Dictionary of the Vulgar Tongue, London 1811. 91 Ernst Esselborn (Bearb.), Das Geschlecht der Garrels aus Leer (Ostfriesland), Berlin 1938, S. 114. 92 Margit Schulte-Beerbu¨hl, Ostfriesische Kaufleute und Unternehmer in London (1760–1814), in:

EmderJb 84 (2004), S. 99–137, bes. S. 107.

93 Ernst Esselborn, Geschlecht der Garrels (wie Anm. 91); Esselborn hat 49 der Briefe ediert, die Garrels

zwischen 1789 und 1801 von London an seine Familie nach Leer schickte.

94 Ebd., S. 117.

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Old Bailey und zuru¨ck zu St Paul:95 Auf dieser Route gab es die gro¨ßte Dichte an Buchla¨den und zwar im Kirchhof von St Pauls, in Lombard Street und an der Royal Exchange in Cornhill. Buchla¨den konnten zu o¨ffentlichen Orten werden, etwa wenn dort Streitgespra¨che zwischen Anha¨ngern verschiedener Glaubensrichtungen stattfanden wie 1641 in dem Buchladen von Thomas Bates in Bishop’s Court in der Old Bailey.96 In diesen Teil Londons geho¨ren auch Orte, in der Regel Wirtsha¨user, an denen Nachrichten professionell durch Botenga¨nge und Postkutschen weitergegeben wurden. John Taylor hat fu¨r das London der 1640er Jahre einen entsprechenden Fahrplan in seinem The Carriers’ Cosmographie vero¨ffentlicht.97 Dass diese Orte nicht nur fu¨r den privaten Briefverkehr, sondern auch gezielt zur Verbreitung politischer Nachrichten und verbotener Bu¨cher und Pamphlete genutzt wurden, ist breit dokumentiert. So ging beispielsweise im August 1640 ein junger Mann „very well clad“ zu einem Carrier, der gerade seinen Wagen vor dem Wirtshaus Zur Glocke in St John’s Street belud, um die Strecke von London nach Hatfield zu fahren und gab ihm a pernicious book enclosed in a cover.98 Der Fall wurde aktenkundig, weil der Empfa¨nger, nachdem er das Buch erhalten hatte, Nachforschungen nach dem jungen Mann anstellen ließ, da es sich um eine verbotene Schrift gehandelt hatte. Als knappes Zwischenfazit ist festzuhalten, dass wir in London im 17. Jahrhundert eine Kommerzialisierung von Nachrichten beobachten, eine weiter bestehende intermediale Verflechtung, die ra¨umlich und (bild-)sprachlich durchaus in den Lebenswelten der Londoner Bevo¨lkerung verankert war und schließlich Ansa¨tze ¨ ffentlichkeit, die nachweisbar qualitative Vera¨nderungen in Geselleiner agonalen O schaft und Politik mit sich brachte. Nicht nur die Obrigkeit setzte Medien als Kommunikationsmittel ein, sondern eine nicht mehr eindeutig eingrenzbare und kontrol¨ ffentlichkeit nutzte die Medien zur kritischen Kommentierung politischer lierbare O und religio¨ser Begebenheiten. Diese Vera¨nderungen, die Entstehung einer universel¨ ffentlichkeit, die weit u¨ber den Bereich des Politischen hinausging, hat allerlen O dings noch eine andere Dimension, auf die ich abschließend in Form eines Ausblicks eingehen mo¨chte. In den Mittelpunkt ru¨ckt die Frage nach der Verfu¨gbarkeit und der durchaus noch a¨ußerst strittigen Weitergabe von Wissen u¨ber bislang begrenzte (und exklusive) Kreise (u. a. Politik, Wirtschaft) hinaus und dessen transformative gesellschaftliche und politische Bedeutung.

95 Anonym, The Downfall of Temporizing Poets, London 1641. 96 A True Copy of a Disputation held betweene Master Walker and a Jesuite, in the house of one Thomas

Bates in Bishops Court in the Old Baily, London 1641.

97 John Taylor, The Carriers Cosmographhie, London 1637. 98 National Archives, SP 16/463.90 (August 1640). Die genaue Adresse wurde mithilfe von Taylors Cos-

mographie rekonstruiert.

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¨ ffentlichkeiten? 4. Ausblick – Universelle O ¨ ffentlichkeiten mit Das Vera¨nderungspotential, das die Entstehung universeller O sich brachte, zeigte sich in sehr unterschiedlichen Bereichen und zwang die verschiedenen Protagonisten zu Verhaltensa¨nderungen. Ich mo¨chte hier abschließend ¨ ffentlichkeiten mit einer Vielzahl von Meinunnur einige benennen. Universelle O gen gefa¨hrdeten die obrigkeitliche Deutungshoheit und verlangten neue Formen ¨ ffentlichkeiten unterlieder Legitimation politischer Entscheidungen. Universelle O fen sukzessive die Exklusivita¨t von Wissen, das in bestimmten Bereichen, insbesondere dem des Handels, die Voraussetzung zum Erfolg darstellte. Das in Netzwerken weitergegebene Erfahrungswissen von Kaufleuten und die vertrauliche Vermittlung von Wechselkursen, Warenfluktuation, Preisentwicklung u. a¨. gerieten zunehmend in Konkurrenz zu der Entstehung von Wirtschaftsnachrichten in regelma¨ßig erschei¨ ffentlichkeiten schließlich setzten gesellschaftlich nenden Journalen. Universelle O nicht mehr einzugrenzende Rezipienten voraus und provozierten damit die Frage nach der Urteilsfa¨higkeit der Masse – eine in England im 17. Jahrhundert bereits kontrovers diskutierte Frage. Damit einher ging ein Bildungsgedanke, der sich nicht erst ¨ ffentlichim Zeitalter der Aufkla¨rung abzeichnete. Schließlich lo¨ste eine universelle O keit eine Rationalisierung sozialer Interaktion aufgrund der universellen Zuga¨nglichkeit von Nachrichten aus, so zumindest glaubte Samuel Hartlib, als er sein Projekt eines „Office of Publicke Addresse“ 1648 vorstellte. This Office be an Instrument, by being made a Common Intelligencer for All, not only of things actually offered or desired by some to be communicated, but also of things (by himself and others observable) which may be an occasion to raise matters of communication for the Information of all.99 Diese in der ersten Ha¨lfte des 17. Jahrhunderts erstmals systematisch konzipierten Adressbu¨ros verfolgten das Ziel, die oben geschilderte unsystematische Informationssuche und -vermittlung, die in Form von Mundpropaganda, beim Durchstreifen ¨ ffentlichbekannter Londoner Orte fu¨r Nachrichten sowie in situativ entstehenden O keiten von statten ging, auf eine verla¨ssliche Grundlage zu stellen. So unterstreicht Arthur Gorges 1611 die Vorzu¨ge seines „Publique Register for Generall Commerce“, indem er konkrete Beispiele schlechter Kommunikationsstrukturen schildert. So erfahren etwa Verka¨ufer von Waren und potentielle Interessenten eben dieser Waren in der Regel nie etwas voneinander, es sei denn durch Zufall. Werden sa¨mtliche Angebote und Nachfragen aber in Zukunft in seinem Office registriert, they may easily informe themselves, and have mutuall intelligence of one anothers mindes perfectly, and readily, albeit they dwell far asunder; whereas now many times both parties are in care and cannot serve their turnes accordingly, undergoing thereby much inconvenience, which this Office with great ease doth remedie.100 99 Hartlib, Discovery of Publicke Addresse (wie Anm. 15), S. 5. 100 Gorges, A True Transcript (wie Anm. 9), S. 25.

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Zugleich wendete sich Gorges gegen die vertrauliche Weitergabe von Wirtschaftsnachrichten, insbesondere Preisen, und pla¨dierte dagegen fu¨r eine offene Preis- und Verkaufspolitik: it is often seene and spoken of, that many Scriveners or Brokers, to whom such things have beene committed in trust, would never vent them at the owners prices, except they might make a greater surplusage to themselves then the rate limited.101 Auch Hartlib und Drury schilderten Misssta¨nde im herko¨mmlichen Kommunikationsnetz, das eher zufa¨llig, wenn u¨berhaupt, Informationen bereit stellte: The multitude of affaires in populous Places doth naturally run into a confusion, except some orderly way be found out to settle Times and Places wherein those that are to attend them, may meet together for the transaction thereof.102 Wenn es keine Informationsbo¨rsen und klar definierte Orte, an denen Transaktionen stattfinden, fu¨r Kaufleute und Unternehmer geben wu¨rde, what a disorder and obstruction would there be in all trading?103 Die weiteren Ausfu¨hrungen von Hartlib und Drury lesen sich wie eine kritische Bestandsaufnahme der Kommunikationskultur und der Ineffektivita¨t der Nachrichtenvermittlung in der englischen Metropole im 17. Jahrhundert. Es ist immer wieder die unsystematische, zufa¨llige und mitunter ¨ hnlich geheime Form der Nachrichten- und Wissensvermittlung, die sie bema¨ngeln. A argumentiert Henry Robinson. Auch er kritisierte, dass at present, poore people, and others, spend much time, in running up and down, from one place to another to seeke employment, and sell their works.104 Orte wie die Royal Exchange wa¨ren zwar wichtige Handelspla¨tze, allerdings wu¨rden hier in mu¨ndlicher Kommunikation Informationen nur sehr punktuell about some particular business only weitergegeben werden.105 Er stellte mit seinem „Office“ in Aussicht but of how much more accommodation and dispatch it would yet amount to, if not only every one of those merchants, but all others besides might know whether to goe to be satisfied concerning all manner of their Affaires.106 Robinson ging es insbesondere um die effektive Koordination von Arbeitssuchenden und potentiellen Arbeitgebern, um gegen die Armut im Land erfolgreich angehen zu ko¨nnen. Als Adresse seines „Office of Adresses and Encounter“ gab er Threed-needle street, gegenu¨ber der Castle Tavern und in der Na¨he der Old Exchange an, womit er sich mitten im Londoner Gescha¨fts- und Gesellschaftsleben platzierte.107

101 Ebd., S. 31. 102 Hartlib, Discovery of Publicke Addresse (wie Anm. 15), S. 5. 103 Hartlib, Discovery of Publicke Addresse (wie Anm. 15), S. 5. 104 Robinson, The Office of Adresses (wie Anm. 13), S. 4. 105 Ebd., S. 1. 106 Ebd., S. 1. 107 Ebd., S. 4.

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Auch Marchamont Nedham, der neben der regelma¨ßigen Publikation von Intelligenzbla¨ttern gleich mehrere „Office of Publicke Advice“ in London gru¨nden wollte, setzte sich mit der ineffektiven Kommunikationsstruktur in London auseinander. Nachrichtenvermittlung funktioniere nur face to face und sei entsprechend ineffektiv und singula¨r. Daru¨ber hinaus wa¨re die Bereitstellung von Informationen viel zu langsam, eine Beobachtung, die dezidiert den Faktor Zeit ins Spiel bringt.108 Because the life of all Intercourse is quickness of Return, and the same can hardly be had, except the things, about which the said Intercourse is practised, come to the knowledge of Men concerned therein, which hitherto hath been, in a manner altogether wanting, the several occasions of private Men, being for the most part unknown to others.109 Aus der Sicht Nedham’s musste die „Anwesenheitsgesellschaft“, die u¨berwiegend die Kommunikation und Nachrichtenvermittlung in London durch konkrete soziale Interaktion strukturiere, u¨berwunden werden durch die universelle Bereitstellung von Informationen und Wissen, ordentlich sortiert und verwaltet in Registern und fu¨r jedermann zuga¨nglich. Damit mo¨glichst viele Menschen in den Genuss dieser Art von Informationen kamen, sollten in London acht Adressbu¨ros gegru¨ndet werden. Als Standort gab er verschiedene Stadtteile in Inner und Greater London an, also sowohl innerhalb der Stadtmauern als auch außerhalb: East Smithfield in der Na¨he von St Katharinen, „by the waterside“, bei dem Chirurgen Green, bei den Hamburg Armes und schließlich beim Roten Lo¨wen; in der Sherburn Straße in der Na¨he von Lombard Street bei einem Mr Gasse gegenu¨ber dem White Hart sowie beim Barbican, in der Na¨he von Westminster, in Holborn und am Strand. Fu¨r alle Bu¨ros teilte ¨ ffnungszeiten mit. Schließlich fu¨hrte Nedham exemplarisch die Bereiche und er die O Themen an, fu¨r die seine Bu¨ros Informationen speicherten und die Kosten der einzelnen Recherche. Die Bereitstellung von Informationen bezogen sich auf Schiffsnachrichten und Preislisten, Fahrpla¨ne von Postkutschen, Ha¨user zum Verkauf und Hausgesuche, Warenangebote, Arbeitsvermittlung, aber auch auf die Vermittlung von Sprachlehrern fu¨r Hebra¨isch, Griechisch, Latein, Englisch, Franzo¨sisch, Italienisch, Holla¨ndisch „or any other language“, Dolmetscher, Tanzlehrer, Hauslehrer sowie Vermisstenanzeigen usw. Die Zielsetzung der Londoner Adressbu¨ros war – neben eigenen kommerzi¨ berwindung unsystematischer ellen Interessen der „Undertaker“ – eindeutig die U und zufa¨lliger Formen der Nachrichtenvermittlung und Informationsbeschaffung zugunsten universell zuga¨nglicher Informationen und Wissen. In diesem letzten Punkt ist der Entwurf von Samuel Hartlib der Radikalste. Neben praktischen Aspekten der Informationsvermittlung fu¨r das Gemeinwohl ging es Hartlib und Drury auch um die uneingeschra¨nkte Bereitstellung von Wissen:

108 Nedham, Publicke Advice (wie Anm. 13) (Einblattdruck). 109 Ebd., 1657.

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For such as would know concerning any thing existant in the world, what hath been said or written of it, the standing Register should containe a Catalogue of all Catalogues of books.110 Die Entwu¨rfe der Adressbu¨ros stellen in gewisser Weise einen Spiegel der Londoner ¨ ffentlichkeiten mit ihren medialen Verflechtungen und sozialen Interaktionen dar. O Hartlib und Drury umschrieben mit den folgenden Worten sehr genau die Art der ¨ ffentlichkeit (unsystematischen) Nachrichtenvermittlung innerhalb der sta¨dtischen O ¨ ffentlichkeit, wie sie in London Mitte des 17. Jahrhunderts und fu¨r die sta¨dtische O anzutreffen war und wie sie oben anhand zahlreicher Beispiele analysiert wurde: And if a man that hath to do in the Exchange with five or six men; doth come to it when it is thronging full, and knoweth not the ordinarie walkes of those severall men; nor any body that can tell him where their walkes are; he may run up and down, here and there, and wearie himself out of breath, and not meet with any of them, except by great chance he light upon them at an instant: So it is with all other men in respect of all other conveniencies in great populous Cities or Kingdomes.111 Ziel der Adressbu¨ros war es, diesen Zustand zu u¨berwinden und eine neue Form der Kommunikation und o¨ffentlichen Nachrichtenvermittlung zum Wohl der Gesamtgesellschaft zu etablieren. Allerdings standen in dieser fru¨hen Phase vor allem wirtschaftliche und gesellschaftliche Belange im Mittelpunkt, noch nicht die universelle Vermittlung politischer Nachrichten, die sich zuna¨chst in newsletters und newsbooks etablierte und sich Ende des 17. Jahrhunderts aus den Intelligenzbla¨ttern entwickeln sollte.112 Aus wissenssoziologischer Perspektive entstand durch diese Vera¨nderungen in der Produktion und Verfu¨gbarkeit von Wissen eine neue Form der Konstitution von Wissen. Neu waren auch die daran beteiligten Individuen, ihre Praktiken und vor allem die Erweiterung um potentielle und praktische Wissenstra¨ger. Damit entwickelte sich eine Konkurrenz zu den traditionellen Tra¨gern bzw. Hu¨tern von Wissen, was sich in so unterschiedlichen Formen wie o¨ffentlich gefu¨hrten Kontroversen, Suppliken und – als Gegenreaktion – im Zensurwesen zeigte. Zugleich a¨nderten sich die Vorstellungen daru¨ber, wie Gesellschaften in fru¨hneuzeitlichen Sta¨dten „funktionierten“. An die Stelle standesgema¨ßer Privilegien, Rechte und Pflichten, die das Beziehungsgeflecht zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen und gender zumindest normativ strukturierten, traten Konzepte einer fru¨hen Informationsgesellschaft, in der der allgemeine Zugang zu Informationen und Nachrichten nach Vorstellung der Verfechter von Adressbu¨ros die Voraussetzung bildeten fu¨r das Gemeinwohl. Das abschließende Zitat verleiht diesen Vorstellungen noch einmal Ausdruck:

110 Hartlib, Discovery of Publicke Addresse (wie Anm. 15), S. 8. 111 Hartlib, Discovery of Publicke Addresse (wie Anm. 15), S. 5. 112 Allg. zur Entwicklung von Intelligenzbla¨ttern: Pressewesen der Aufkla¨rung, Periodische Schriften im

ˇ Alten Reich, hg. v. Sabine Doering-Manteuffel/Josef Mancal/Wolfgang Wu¨st (Colloquia Augustana 15), Berlin 2001 sowie Astrid Blome, Vom Adressbu¨ro zum Intelligenzblatt – Ein Beitrag zur Genese der Wissensgesellschaft, in: Jahrbuch fu¨r Kommunikationsgeschichte 8 (2006), S. 3–29.

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Let us then consider, What is it that maketh a Commonwealth, and all those that are in it happy, as to the Life of Nature. The chief end of Commonwealth is Society, the End of Society is Mutuall Help, and the End and Use of Help is to enjoy from one another comforts, that is every thing lawfully desirable or wanting to our contentation. Wheresoever then, in a Common-wealth such a Constitution may be had; whereby the Members thereof may be inabled to enjoy from each other all the Helps which Nature doth afford unto them for their Mutuall Contentation, there the State and all those that are in it may be said to be as happie as this world can make them. For no man can be more happie in Nature, then to have all his lawfull desires supplied so farre as they are attainable.113

113 Hartlib, Discovery of Publicke Addresse (wie Anm. 15), S. 4. Diese Vera¨nderungen, die hier in Form

eines Ausblicks nur angedeutet wurden, sollen in einem Forschungsprojekt weiter analysiert werden.

¨ FFENTLICHKEIT RITUALE UND POLITISCHE O IN DER ALTEN STADT von Andre´ Krischer

¨ ber die Bedeutung von Ritualen fu¨r die europa¨ischen Stadtgesellschaften der VorU moderne hat die historischen Forschung mittlerweile eine Menge von Erkenntnissen gewonnen.1 Rituale waren ein wesentlicher Faktor zum Aufbau und zur Reproduktion sozialer Verba¨nde,2 sie leisteten nicht nur einen Beitrag zur Darstellung, sondern auch zur Herstellung politischer Entscheidungen,3 sie visualisierten die vielfa¨ltigen Abstufungen von Rang und sozialem Status,4 sie beglaubigten nicht nur Rechtsakte, sondern sie waren ha¨ufig selbst solche,5 sie symbolisierten die Kommunikation mit Gott und dienten daher in all ihrer Mannigfaltigkeit zur Konstitution komplexer 1 Ich benutze den Begriff Ritual hier in einem umfassenden Sinn, der die Unterform des Zeremoni-

ells mit umfasst, vgl. zur – nur graduell mo¨glichen – Unterscheidung beider Formen Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Forschungsperspektiven – Thesen, in: ZHF 31 (2004), S. 489–527. 2 Allg. dazu Christoph Wulf, Die Erzeugung des Sozialen in Ritualen, in: Die neue Kraft der Rituale, hg. v. Axel Michaels, Heidelberg 2007, S. 179–200; Christoph Dartmann, Die Repra¨sentation der Stadtgemeinde in der Bu¨rgerversammlung der italienischen Kommune, in: Repra¨sentationen der mittelalterlichen Stadt, hg. v. Jo¨rg Oberste (Forum Mittelalter. Studien 4), Regensburg 2008, S. 95–108; Ders./Hagen Keller, Inszenierungen von Ordnung und Konsens. Privileg und Statutenbuch in der symbolischen Kommunikation mittelalterlicher Rechtsgemeinschaften, in: Zeichen – Rituale – Werte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfa¨lischen Wilhelms-Universita¨t Mu¨nster, hg. v. Gerd Althoff (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 3), Mu¨nster 2004, S. 201–223. 3 Jo¨rg Rogge, Stadtverfassung, sta¨dtische Gesetzgebung und ihre Darstellung in Zeremoniell und Ritual in deutschen Sta¨dten des 14.–16. Jahrhunderts, in: Aspekte und Komponenten der sta¨dtischen Identita¨t in Italien und Deutschland (14.–16. Jahrhundert) (Aspetti e componenti dell’identita` urbana in Italia e in Germania secoli XIV–XVI), hg. v. Giorgio Chittolini/Peter Johanek, Berlin/Bologna 2003, S. 193–229. 4 Thomas Weller, Theatrum Praecedentiae. Zeremonieller Rang und gesellschaftliche Ordnung in der fru¨hneuzeitlichen Stadt: Leipzig 1500–1800, Darmstadt 2006; Robert Darnton, Ein Bourgeois bringt seine Welt in Ordnung. Die Stadt als Text, in: Ders., Das große Katzenmassaker. Streifzu¨ge durch die franzo¨sische Kultur vor der Revolution, Mu¨nchen 1989, S. 125–166; Jo¨rg Rogge, Geschlechtergesellschaften, Trinkstuben und Ehre. Bemerkungen zur Gruppenbildung und den Lebensordnungen in den Fu¨hrungsschichten mittelalterlicher Sta¨dte, in: Geschlechtergesellschaften, Zunft-Trinkstuben und Bruderschaften in spa¨tmittelalterlichen und fru¨hneuzeitlichen Sta¨dten (Stadt in der Geschichte 30), hg. v. Gerhard Fouquet u. a., Stuttgart 2003, S. 99–127, hier S. 115. 5 Gerhard Dilcher, Mittelalterliches Recht und Ritual in ihrer wechselseitigen Beziehung, in: FMSt 41 (2007), S. 297–316.

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sozialer Systeme wie den fru¨hneuzeitlichen Stadtgesellschaften.6 Dieser Erkenntnisstand erlaubt es, in diesem Beitrag den Blick nicht nur auf die politischen und sozialen Funktionen von sta¨dtischen Ritualen zu richten, sondern auch nach dem Verha¨ltnis ¨ ffentlichkeit zu fragen. Mein Eindruck ist, dass gerade bei dievon Ritualen und O sem Verha¨ltnis – trotz der vielen Forschungsergebnisse der vergangenen zehn Jahre – noch Fragen offen sind. Davon mo¨chte ich hier den folgenden nachgehen: Inwiefern ¨ ffentlichkeit in den Alten Sta¨dten, bildeten Rituale ein Forum fu¨r politisch-soziale O wer profitierte davon und welche Vera¨nderungen lassen sich beobachten? Ich gehe bei der Beantwortung folgendermaßen vor: Nach einer Skizze der fu¨r diesen Beitrag ¨ ffentlichkeit (I) beginne ich mit den sta¨dzentralen Begriffe Rituale, Alte Stadt und O tischen Großritualen und ihrer Hegemonie im sta¨dtischen Raum7 (II). Anschließend frage ich danach, ob Großrituale ein Beispiel fu¨r Gemeinschaftshandeln waren oder ¨ berlegunwelche Motive der Mitwirkung sonst zugrunde lagen (III). Dies fu¨hrt zu U ¨ gen zum Wandel von Ritualen und ihren Offentlichkeitsbezu¨gen zwischen Spa¨tmittelalter und dem Ende der Reichsstadtzeit (IV). Im letzten Abschnitt versuche ich zu zeigen, inwiefern auch Feste und Kleinrituale wie Gastereien als Rituale zu fas¨ ffentlichkeit konstituierten (V). sen sind und sta¨dtische O

¨ ffentlichkeit 1. Begriffe: Rituale – Der Typus Alte Stadt – O

Rituale Unter Ritualen verstehe ich ein großes Spektrum symbolischer Handlungen, die sich im Falle der Alten Sta¨dte jedoch in zwei Kategorien unterteilen lassen: zum einen in Großrituale wie Prozessionen, Bu¨rgermeisterbegra¨bnisse und profane Umzu¨ge, Wahl- und Schwo¨rtage, Huldigungen, Fu¨rsteneinzu¨ge und Strafrituale, zum anderen in Kleinrituale wie Bu¨rgermeister-, Doktor- und Zunftessen oder Oberschichtenbegra¨bnisse. Quer zu diesen Kategorien lagen Rituale der Entscheidungsfindung im Rat8 oder ritualisierte Formen der Konfliktaustragung9, die einen eigenen Untersuchungsgegenstand bilden und daher außen vor bleiben. Eine eigene Gruppe, die aber 6 Fu¨r den deutschsprachigen Bereich vgl. statt einzelner Nachweise jetzt die Beitra¨ge in: Spektakel der

Macht. Rituale im alten Europa 800–1800, hg. v. Barbara Stollberg-Rilinger u. a., Darmstadt 2008; fu¨r England zuletzt Rosemary Sweet, Civic and Political Ritual in Eighteenth-Century Towns, in: Political rituals in Great Britain, 1700–2000, hg. v. Jo¨rg Neuheiser/Michael Schaich, Augsburg 2006, S. 37–54. 7 Zum Raumbegriff Christian Hochmuth/Susanne Rau, Stadt – Macht – Ra¨ume. Eine Einfu¨hrung in: Machtra¨ume der fru¨hneuzeitlichen Stadt, hg. v. Christian Hochmuth/Susanne Rau, Konstanz 2006, S. 13–40. 8 Dazu jetzt Uwe Goppold, Politische Kommunikation in den Sta¨dten der Vormoderne. Zu¨rich und Mu¨nster im Vergleich (StF A 74), Ko¨ln/Weimar/Wien 2007; Urban Elections and Decision-Making in Early Modern Europe, 1500–1800, hg. v. Rudolf Schlo¨gl, Cambridge 2009. 9 Andreas Wu¨rgler, Unruhen und O ¨ ffentlichkeit, Sta¨dtische und la¨ndliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert (Fru¨hneuzeit-Forschungen 1), Tu¨bingen 1995, S. 169ff.

¨ ffentlichkeit in der Alten Stadt Rituale und politische O

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hier nicht untersucht wird, sind Rituale. Damit sich alle diese unterschiedlichen symbolischen Handlungen unter dem Begriff des Rituals zusammenfassen lassen, muss dieser weiter gefasst werden als u¨blich.10 Ich verstehe unter einem Ritual deswegen nicht nur normierte, in ihrer Symbolik stilisierte sowie repetitive und performative Handlungssequenzen wie etwa Prozessionen, sondern auch kollektive, aber weniger formalisierte Handlungen wie Feste. Ein Kriterium fu¨r ein Ritual im weiteren Sinne sind zudem zeitgeno¨ssische Deutungen von o¨ffentlichen Handlungen als symbolisch und u¨ber sich hinausweisend.11 Solche Deutungen finden sich vor allem in Chroniken, etwa im Gedenkbuch des Ko¨lner Ratsherrn Hermann Weinsberg (1518–1597), das in diesem Beitrag eine wichtige Quelle darstellt.12

Der Typus Alte Stadt Die Prominenz der Rituale im politisch-sozialen Leben der Sta¨dte in Mittelalter und Fru¨hneuzeit erkla¨rt sich nicht aus einer besonderen Sinnenfreude der vormodernen Menschen, wie a¨ltere Forschungen bisweilen meinten.13 Vielmehr war dafu¨r eine bestimmte Verschra¨nkung von Sozialstruktur und Kommunikationsformen ursa¨chlich: Rituale kamen u¨berall dort zur Geltung, wo sich politisch-soziale Kommunikation im Wesentlichen von Angesicht zu Angesicht vollzog – also auf der Grundlage mu¨ndlicher und ko¨rperlich-gestischer Medien14 – und wo schriftliche Medien nur eine untergeordnete Rolle spielten.15 Dies war in der vormodernen Diplomatie ebenso der Fall16 wie in den Sta¨dten, die Rudolf Schlo¨gl deswegen auch als eine Form

10 Ich mo¨chte an dieser Stelle keine Begriffsdiskussion ero¨ffnen, vgl. dazu etwa Michaels, Neue Kraft

der Rituale (wie Anm. 2).

11 Das ist eine kulturwissenschaftliche Pra¨misse im Sinne von Ute Daniel, Kompendium Kulturge-

schichte. Theorien, Praxis, Schlu¨sselworte, Frankfurt a. M. 2001, S. 12.

12 Das Buch Weinsberg. Ko¨lner Denkwu¨rdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, Bde. 1 und 2 bearb. v. Kon-

stantin Ho¨hlbaum, Leipzig 1886–87 (ND Du¨sseldorf 2000), Bde. 3 und 4 bearb. v. Friedrich Lau, Bonn 1897–1898 (ND Du¨sseldorf 2000), Bd. 5: Kulturhistorische Erga¨nzungen, bearb. v. Josef Stein, Bonn 1926 (ND Du¨sseldorf 2000). Im Folgenden zitiert als BW I–V. 13 Etwa Ludwig Pfand, Philipp II. und die Einfu¨hrung des burgundischen Hofzeremoniells in Spanien, in: HJb 58 (1938), S. 1–33; Michel de Ferdinandy, Die theatralische Bedeutung des spanischen Hofzeremoniells Kaiser Karls V., in: AKG 47 (1965), S. 306–320. 14 Vgl. dazu die Beitra¨ge in: Kommunikation und Medien in der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Johannes Burkhardt, Mu¨nchen 2005, hier S. 429–560. 15 Ich sehe in der Zunahme gedruckter Medien in der Politik des Ko¨lner Rats nach 1500 (es handelte sich v. a. um Edikte und Gesetzestexte, nach außen gerichtete Darstellungen sta¨dtischer Feste, Proskriptionen und „Steckbriefe“, Klagschriften, Apologien und Demonstrationen etc.) noch keinen Paradigmen¨ ffentlichkeit im spa¨tmitwechsel in der politischen Kommunikation. Auch Robert Giel, Politische O telalterlich-fru¨hneuzeitlichen Ko¨ln (1450–1550) (Berliner Historische Studien 29), Berlin 1998, S. 138, ¨ ffentlichkeitsoption des Rates“ im Kontext anderer und spricht zurecht vorsichtig vom „Druck als O vor allem mu¨ndlicher Kommunikationsformen. 16 Vgl. dazu meinen Beitrag Souvera¨nita¨t als sozialer Status: Zur Funktion des diplomatischen Zeremoniells in der Fru¨hen Neuzeit, in: Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der fru¨hen Neuzeit, hg. v. Ralph Kauz u. a., Wien 2009, S. 1–32.

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der Vergesellschaftung unter Anwesenden beschrieben hat.17 Diese Form der Vergesellschaftung kennzeichnete die Mehrzahl der europa¨ischen Sta¨dte bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, als Lissabon, Madrid, Neapel, Rom, Paris, Amsterdam und vor allem London aufgrund ihrer demographischen Entwicklung nicht la¨nger durch Anwesenheitskommunikation integriert wurden. Zumindest fu¨r London ist bekannt, dass es in den 1640er Jahren in der politischen Kommunikation einen paradigmatischen Medienwechsel von Ritualen zu gedruckten Pamphleten, Zeitungen usf. gab.18 Um solche Formen fru¨hneuzeitlicher Urbanita¨t von den hier zur Debatte stehenden Sta¨dten zu unterscheiden, spreche ich im Folgenden von diesen als den Alten Sta¨dten19, die sich nicht nur im diachronen Vergleich grundlegend von ihren modernen Nachfolgern gleichen Namens unterscheiden20, sondern im synchronen Vergleich auch von den ‚Großsta¨dten‘ der Fru¨hneuzeit.21 Zum Typus der Alten Stadt geho¨rte im deutschsprachigen Raum bis um 1800 das Gros der urbanen Formationen, sowohl Landsta¨dte als auch Reichs- und Residenzsta¨dte, womo¨glich mit Hamburg, Berlin, Mu¨nchen, Wien als Ausnahme. Fu¨r diese Sta¨dte muß erst noch ein eigener Begriff gefunden werden. Zu den Alten Sta¨dten za¨hle ich z. B. Bremen, Frankfurt, Schwa¨bisch Hall und Ko¨ln, das mir hier in erster Linie als Beispiel dient.22 Um keine Missversta¨ndnisse aufkommen zu lassen: Das Adjektiv ‚alt‘ ist nicht wertend gemeint. Als Raum sta¨dtischer Lebensformen war Ko¨ln nicht ‚schlechter‘ oder ‚ru¨cksta¨ndiger‘ als London oder Amsterdam.23 Von den sozialen Verwerfungen etwa, die mit der Transformation des Urbanen in London schon vor dem 18. Jahrhundert einhergingen, blieben die meisten Alten Sta¨dte verschont. Der Begriff Alte Stadt dient hier dazu, eine vormoderne Stadt unter medien- und kommunikationsgeschichtlichen Gesichtspunkten zu thematisieren und als einen Raum zu klassifizieren, der wesentlich durch Rituale und andere Formen der Kommunikation unter Anwesenden gepra¨gt wurde. Freilich ist der Medienwechsel von den Ritualen zur gedruckten Publizistik, der sich

17 Vgl. dazu den Beitrag von Rudolf Schlo¨gl in diesem Band; ferner Ders., Kommunikation und Verge-

sellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Fru¨hen Neuzeit, in: GuG 24 (2008), S. 155–224. 18 Vgl. dazu den Beitrag von Dagmar Freist in diesem Band, ferner Dies., Governed by Opinion. Politics, Religion and the Dynamics of Communication in Stuart London 1637–1645, London 1997; zuletzt grundlegend dazu Peter Lake/Steven Pincus, The Politics of the Public Sphere in Early Modern England, Manchester 2008. 19 A ¨ hnliche Begriffsbildung bei Heinz-Dieter Heimann, Stadtideal und Stadtpatriotismus in der Alten Stadt am Beispiel der Laudationes Coloniae des Mittelalters und der fru¨hen Neuzeit, in: HJb 111 (1991), S. 3–28. 20 Rudolf Schlo ¨ gl, Vergesellschaftung unter Anwesenden. Zur kommunikativen Form des Politischen in der vormodernen Stadt, in: Interaktion und Herrschaft. Die Politik der fru¨hneuzeitlichen Stadt, hg. v. Rudolf Schlo¨gl, Konstanz 2004, S. 9–60, hier S. 9–12. 21 Vgl. dazu demna¨chst meinen Anna¨herungsversuch: Kommunikation und Medien im fru¨hneuzeitlichen London, in: (Groß)Stadt und Kommunikation, hg. v. Bernd Roeck u. a., Ostfildern 2011. 22 Die anderen Sta¨dte habe ich in meiner Dissertation untersucht, Andre´ Krischer, Reichssta¨dte in der Fu¨rstengesellschaft. Politischer Zeichengebrauch in der Fru¨hen Neuzeit, Darmstadt 2006. 23 Vgl. zu Ko¨ln nur den U ¨ berblick von Georg Mo¨lich/Gerd Schwerhoff, Die Stadt Ko¨ln in der Fru¨hen ¨ ffentlichkeit, in: Ko¨ln als Neuzeit. Kommunikationszentrum – Kommunikationsraum – politische O Kommunikationszentrum. Studien zur fru¨hneuzeitlichen Stadtgeschichte, hg. v. Georg Mo¨lich/Gerd Schwerhoff, Ko¨ln 2000, S. 11–38.

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etwa in London in der Mitte des 17. Jahrhunderts vollzogen hatte, keineswegs pauschal mit einem Rationalita¨tsgewinn in der politischen Kommunikation gleichzuset¨ brigen blieben auch in den fru¨hneuzeitlichen Großsta¨dten Rituale wichzen.24 Im U tige Medien, aber mit tendenziell anderen Funktionen als in den Alten Sta¨dten. Diese wa¨ren aber noch genauer zu erforschen.25 Kennzeichen einer Alten Stadt sind die korporative Verfasstheit des politischsozialen Lebens, die weitgehende Konstanz von Bevo¨lkerung und Raum, der in der ¨ berwiegen mu¨ndRegel sichtbar durch eine Mauer eingegrenzt wurde, sowie das U licher Kommunikation und eine damit zusammenha¨ngende politische Kultur der Anwesenheit. Wie gesagt wurde eine Alte Stadt nicht notwendig durch Stillstand, Niedergang, ‚Verkrustung‘ und der fehlenden Aufgeschlossenheit gegenu¨ber Vera¨nderungen gepra¨gt. In ihr vollzogen sich durchaus Innovationen und die Steigerung der Komplexita¨t des urbanen Lebens – allerdings bei der Konstanz traditioneller sozialer Differenzierungsmuster in Form von Zu¨nften und Bruderschaften oder der korporativen Organisation des Stadtregiments mit seinem universalen Regelungsanspruch.26 Und eben dies waren Merkmale, die Ko¨ln und London um 1700 zu grundverschiedenen urbanen Figurationen in Europa machten.27 ¨ ffentlichkeit O In einer vor allem durch die Anwesenheit der Akteure integrierten Gesellschaft wie ¨ ffentlichkeit je schon ein Strukturmerkmal politischjener der Alten Stadt war O ¨ ffentlichkeit ist daher nicht nur im Sinne eines Publisozialer Kommunikation. O kums zu verstehen, fu¨r das oder vor dem die Obrigkeit ihre Herrschaftsakte vollzog. ¨ ffentlichkeit sollte in der stadtgeschichtlichen Forschung fallDie Kategorie der O weise auch von der Habermas-Tradition gelo¨st und an den Vorschla¨gen von Erving ¨ ffentlichkeit dann gegeben, wenn zwei Goffman orientiert werden. Demnach ist O oder mehr Akteure in nicht-intimer Weise miteinander interagierten. Was in der Fru¨hneuzeit als nicht-intime Interaktion zu bewerten ist, mu¨ßte freilich erst noch ¨ bertragen auf unseren Zusammenhang heißt das jedenfalls, dass gekla¨rt werden. U

24 So fu¨hrten Pamphlete im London des 17. Jahrhunderts immer wieder zur Ausbreitung von Verschwo¨-

rungstheorien und zu einem, wie es in der englischen Forschung heißt, „paranoiden Politikstil“, vgl. Joad Raymond, Pamphlets and Pamphleteering in Early Modern Britain, Cambridge 2003; Mark Knights, Faults on Both Sides. The Conspiracies of Party Politics under the Later Stuarts, in: Barry Coward/Julian Swann, Conspiracies and Conspiracy Theory in Early Modern Europe. From the Waldensians to the French Revolution, Aldershot 2004, S. 153–172. 25 Den du¨nnen Forschungsstand zu London dokumentiert immer noch Michael Berlin, Civic ceremony in early modern London, in: Urban History 13 (1986), S. 15–27. 26 Ich folge hier der Unterscheidung von Franz-Josef Arlinghaus, Mittelalterliche Rituale in sys¨ bergangsriten als basale Kommunikationsform in einer stratifikatotemtheoretischer Perspektive. U risch-segmenta¨ren Gesellschaft, in: Geschichte und Systemtheorie. Exemplarische Fallstudien, hg. v. Frank Becker, Frankfurt/New York 2004, S. 108–156. 27 Vgl. zu London Andreas Fahrmeier, Ehrbare Spekulanten. Stadtverfassung, Wirtschaft und Politik in der City of London, 1688–1900, Mu¨nchen 2003, hier S. 67–93.

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¨ ffentlichkeit nicht erst dann die Rede sein kann, wenn es sich um eine politivon O ¨ ffentlichkeit handelte. Was man tat, sagte und wie man a¨ußerlich sche qualifizierte O erschien, das planten die Stadtbewohner vielmehr in sehr vielen Situationen im Hinblick auf die Interaktion mit und die Beobachtung durch andere.28 In der Alten Stadt ¨ ffentlichkeit elementar im Handeln und Beobachten von Angesicht zu bildete sich O Angesicht. Nur in einem geringen Maße wurde sie auch durch schriftliche Medien ¨ ffentlichkeit der Alten Stadt kam konstituiert.29 Diese unmittelbar-performative O schon auf zeitgeno¨ssischen Kupferstichen zum Ausdruck, etwa auf Johann Toussyns Stich des Alter Markts in Ko¨ln (ca. 1660).30 Wie jeder o¨ffentliche Ort in der Alten Stadt war auch der Markt ein soziales Theater, auf dem die Bewohner einer Stadt ihren jeweiligen sta¨ndischen Status im Alltag ¨ ffentlichkeit des sta¨dtischen Markts und seiner inszenierten.31 Im Unterschied zur O ¨ Performanzen war die Offentlichkeit eines sta¨dtischen Großrituals durch ein gro¨ßeres Maß an Normativita¨t, Struktur und Formung gekennzeichnet.32 Vor allem aber ¨ ffentlichkeit dieses Aktes reflexiv, zumindest mehr wurde im Fall eines Rituals die O als in anderen Handlungszusammenha¨ngen: Zuschauer beobachteten bewusst den 28 Erving Goffman, Interaktion im o¨ffentlichen Raum, Frankfurt/New York 2009. Ich mo¨chte die inten-

¨ ffentlichkeitskonzept hier nicht weiter aufgreisiv gefu¨hrte Forschungsdebatte zum vormodernen O ¨ ffentlichkeit. Politische Kommunikation in fen, vgl. dazu Andreas Gestrich, Absolutismus und O ¨ ffentlichDeutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Go¨ttingen 1994; Jo¨rg Requate, Medien und O ¨ ffentkeit als Gegensta¨nde historischer Analyse, in: GuG 25 (1999), S. 5–33; Carl A. Hoffmann, „O lichkeit“ und „Kommunikation“ in den Forschungen zur Vormoderne. Eine Skizze, in: Kommunikation und Region, hg. v. Carl A. Hoffmann/Rolf Kiessling, Konstanz 2001, S. 69–110; Dagmar Freist, ¨ ffentlichkeit und Herrschaftslegitimation in der Fru¨hen Neuzeit. Deutschland und England im VerO gleich, in: Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Ronald G. Asch/Dagmar Freist, Ko¨ln 2005, S. 321–351; zuletzt Susanne ¨ ffentliche Ra¨ume in der Fru¨hen Neuzeit. U ¨ berlegungen zu Leitbegriffen Rau/Gerd Schwerhoff, O ¨ ffentliche Ra¨ume in und Themen eines Forschungsfeldes, in: Zwischen Gotteshaus und Taverne. O Spa¨tmittelalter und Fru¨her Neuzeit (Norm und Struktur 21), hg. v. Susanne Rau/Gerd Schwerhoff, Ko¨ln 2004, S. 11–52. 29 Rudolf Schlo ¨ ffentlichkeit und Medien in der Fru¨hen Neuzeit, in: ZHF ¨ gl, Politik beobachten. O 35 (2008), S. 581–616; zum Wandel vgl. allerdings Daniel Bellingradt, „Lateinische Zeddel“ in der Reichsstadt Ko¨ln (1708). Signale, Diskurse und Dynamiken im o¨ffentlichen urbanen Raum der Fru¨hen Neuzeit, in: Geschichte in Ko¨ln 56 (2009), S. 207–237. 30 Vgl. dazu Wolfgang Herborn, Der Bauch von Ko¨ln: Ansicht des Alter Markt, um 1660, in: Quellen zur Geschichte der Stadt Ko¨ln, Bd. II: Spa¨tes Mittelalter und Fru¨he Neuzeit (1396–1794), hg. v. Joachim Deeters/Johannes Helmrath, Ko¨ln 1996, S. 227–229. Es ist klar, dass solche Darstellungen von komplexen ikonographischen Bezu¨gen gepra¨gt wurden. Allerdings unterlagen Stadtbilder nach 1500 einem realistic shift und ko¨nnen deswegen durchaus als visuelle Quelle fu¨r das Handeln in der Stadt genutzt werden, dazu Peter Glasner, Stadt – Bild – Sprache im 16. Jahrhundert. Ko¨ln in der Geschichte des Sehens, in: Ko¨ln als Kommunikationszentrum (wie Anm. 23), S. 229–253. 31 Im Sinne von Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, Mu¨nchen 1969. 32 Eine Deutung des Handelns auf dem Markt im Sinne von Erving Goffman bietet Malte Zierenberg, Stadt der Schieber. Der Berliner Schwarzmarkt 1939–1950 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 179), Go¨ttingen 2008, hier S. 212ff. Die Interaktionsrituale des Feilbietens, Feilschens und Kaufens galten jedoch vor allem implizit, wa¨hrend das Handeln bei einem sta¨dtischen Großritual in aller Regel formalisiert und explizit geregelt war; vgl. zur Vormoderne auch Michaela Fenske, Marktkultur in der Fru¨hen Neuzeit. Wirtschaft, Macht und Unterhaltung auf einem sta¨dtischen Jahr- und Viehmarkt. Ko¨ln/Wien/Weimar 2006.

Quelle: http://www.zeno.org – Zenschot Verlagsgesellschaft mbH

Abb. 1: Ansicht des Ko¨lner Alten Markts um 1660. Zeichnung von Johann Toussyn; Druck von Gerhard Altzenbach

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Ablauf des Rituals, und die daran direkt Mitwirkenden waren sich dieser Beobachtung ebenfalls bewusst und richteten ihr Handeln dementsprechend aus: Sie agierten wie auf einer Bu¨hne. Das Ritual wies zudem allen eine bestimmte, dem Ritual eigene Rolle zu:33 Wa¨hrend es aufgefu¨hrt wurde, nahm man daran entweder als Zunftmeister in einer prominenten Rolle teil, schaute als einfacher Bu¨rger am Straßenrand zu oder hatte als Beisasse mit preka¨rem Status zu Hause zu bleiben und die Fenster zu ¨ ffentlichkeit immer auch die „Reflexion jeder innergesellschaftschließen. Wenn O lichen Systemgrenze“34 ist, dann ließen Rituale als besonders distinkte Formen des Handelns diese Systemgrenzen im sozialen Kosmos der Stadt dramatisch verdichtet zur Geltung kommen.35 Kurzum: Rituale waren in der Alten Stadt eine besonders markante Form der ¨ ffentlichkeit. Dabei la¨sst sich O ¨ ffentlichkeit Herstellung und Darstellung von O sowohl ra¨umlich36 als auch als soziale Figuration fassen. Teilnehmer an einem der exklusiven Ko¨lner Bu¨rgermeisteressen des 16. Jahrhunderts erachteten dieses Klein¨ ffentlichkeit wie die Mitwirkenden an einem ritual ebenso als eine fu¨r sie relevante O ¨ der Großrituale. Ob es bei ritueller Offentlichkeit allerdings eher um Repra¨sentation, Partizipation, Ra¨sonnement ging – oder besser gesagt: in welchem Mischungsverha¨ltnis diese Dimensionen eines Rituals standen –, la¨sst sich erst am Einzelfall u¨berpru¨fen.

2. Die Hegemonie der Rituale im sta¨dtischen Raum ¨ ffentlichkeit in Die periodisch vollzogenen sta¨dtischen Großrituale erzeugten O einem einfachen, aber umfassenden Sinn: Einzu¨ge oder Prozessionen belegten den begrenzten Raum der Alten Stadt und zogen die Aufmerksamkeit der meisten Einwohner auf sich.37 Zur ra¨umlichen Hegemonie von Großritualen kam die zeitliche: Sie unterbrachen den Alltag durch einen Feiertag,38 brachten Handel und Gewerbe zum Erliegen und sorgten dafu¨r, dass die Stadtgesellschaft fu¨r die Inszenierungen 33 Schlo ¨ gl, Kommunikation und Vergesellschaftung (wie Anm. 17), S. 192. 34 Niklas Luhmann, Die Realita¨t der Massenmedien, Wiesbaden 3. Aufl. 2004, S. 184. 35 Vgl. etwa Thomas Weller: „... ratione praecedentiae kein Parth dem andern weichen wollte“. Rang-

konflikte im fru¨hneuzeitlichen Leipzig, in: Stadtgemeinde und Sta¨ndegesellschaft. Formen der Integration und Distinktion in der fru¨hneuzeitlichen Stadt (Geschichte – Forschung und Wissenschaft 30), hg. v. Patrick Schmidt/Horst Carl, Mu¨nster 2007, S. 198–224. 36 Vgl. dazu Gerd Schwerhoff, O ¨ ffentliche Ra¨ume und politische Kultur in der fru¨hneuzeitlichen Stadt. Eine Skizze am Beispiel der Reichsstadt Ko¨ln, in: Interaktion und Herrschaft (wie Anm. 20), S. 113–136. 37 Vgl. fu¨r Ko¨ln Uta Scholten, Die Stadt als Kultraum. Prozessionen im Ko¨ln des 17. Jahrhunderts, in: Kunstgeschichtliche Studien, Weimar 1995, S. 108–136. 38 Zur Frequenz im katholischen Ko¨ln vgl. Robert Ju ¨ tte, Feier- und Arbeitstage im alten Ko¨ln. Ein Beitrag zur Bestimmung des Einkommens aus Tagelo¨hnen im Spa¨tmittelalter, in: JbKo¨lnGV 56 (1985), S. 83–102; Wolfgang Herborn, Fast-, Fest- und Feiertage im Ko¨ln des 16. Jahrhunderts, in: RhJbVkd 25 (1983/84), S. 27–61.

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abko¨mmlich war.39 Die soziale Mobilita¨t wurde fu¨r die Zeit des Rituals in manchen Sta¨dten geradezu eingefroren, indem man die Stadttore verschloss.40 Schließlich wurde einem Ritual auch akustisch Aufmerksamkeit und Pra¨senz verschafft, etwa durch anhaltendes Glockengela¨ut, durch Pauken, Trompeten, Rufer und Kanonenschu¨sse. Auf all diese Weisen wurde jeweils ein Großteil der sta¨dtischen Gesellschaft fu¨r die Rituale mobilisiert: Die einen in aktiven Rollen, die anderen als Zuschauer – ob sie nun wollten oder nicht. Selbst jene Rituale, bei denen bestimmte Sequenzen oder sogar das Ganze im Verborgenen stattfanden wie Ratswahlen, Fu¨rstenempfa¨nge oder Bu¨rgermeisteressen, selbst diese teil-o¨ffentlichen Rituale besaßen einen tenden¨ ffentlichkeitsbezug: Sie inszenierten o¨ffentlich den Ausschluss eines ziell totalen O mehr oder weniger großen Teils der Bu¨rger und Einwohner vom Geschehen.41 Die ¨ ffentlichkeit der Großrituale war also im Prinzip die Stadtgesellschaft selbst, die O die Rituale ganz unmittelbar durch Zuschauen, Zuho¨ren und Nicht-AusweichenKo¨nnen beobachtete. Man kann deswegen im Fall von alt-sta¨dtischen Großritualen ¨ ffentlichkeit und Gesellschaft sprechen.42 Zudem waren von einer Indifferenz von O bei Prozessionen oder anderen Umzu¨gen auch die Mitwirkenden jeweils fu¨reinander ¨ ffentlichkeit mit bisweilen konkurrierenden Rollenerwartungen und daraus resulO tierenden Rangkonflikten zwischen Rat, Universita¨t, Klerus oder Gilden.43 Wenn Publikum zuschaute, und das war durchaus der Normalfall, dann prima¨r in einer passiven Rolle. Dies betonen die ju¨ngeren Forschungen nicht nur zu Reichssta¨dten, sondern auch zu Leipzig oder Halle.44 Auch auf den zeitgeno¨ssischen 39 Vgl. dazu schon Gudrun Gleba, Repra¨sentation, Kommunikation und o¨ffentlicher Raum. Innersta¨d-

tische Herrschaftsbildung und Selbstdarstellung im Hoch- und Spa¨tmittelalter, in: Brem Jb 77 (1989), S. 125–152, hier S. 140ff.; ferner Matthias Schollen, Anordnung einer Prozession durch den Rat, in: Aus Aachens Vorzeit 9 (1896), S. 96. 40 Vgl. etwa Robert A. Schneider, The Ceremonial City. Toulouse observed, 1738–1780, Princeton 1995, S. 113ff. 41 Dazu in den Begriffen der Kultursoziologie Pierre Bourdieu, Einsetzungsriten, in: Was heißt ¨ konomie des sprachlichen Tausches, hg. v. Pierre Bourdieu, Wien 2. Aufl. 2005, sprechen? Zur O S. 111–119; in genau diesem Sinne auch schon Gestrich, Absolutismus (wie Anm. 28), S. 167. 42 Vgl. Schlo ¨ gl, Politik beobachten (wie Anm. 29), S. 607. An dieser Stelle ko¨nnte man einhaken und fra¨ ffentlichkeit zwischen gen, ob man nicht hinsichtlich dieses Zusammenhangs von Großritualen und O katholischen und protestantischen Sta¨dten, die Prozessionen aus ihrem Ritualhaushalt gestrichen hatten, unterscheiden muss. Darauf kann ich hier keine abschließende Antwort geben, doch scheint mir, ¨ quivalente beispielsweise zu Bittprozessionen dass es in evangelischen Sta¨dten durchaus funktionale A gab. Ich meine Buß- und Bettage, die etwa in Bremen im 17. Jahrhundert immer wieder abgehalten wurden. Besonders wa¨hrend des Dreißigja¨hrigen Kriegs beschloss der Bremer Rat in auffallender Periodizita¨t einen gleichwohl sogenannten extraordinairen Buß=, Bet= und Danktag, und zwar einhergehend mit einer Ordnung der Feier des dabei zu veranstaltenden Gottesdienstes und der zu haltenden Gebete, die zu besuchen und zu sprechen den Bu¨rgern befohlen wurde, vgl. Johann G. Kohl, Alte und neue Zeit. Episoden aus der Cultur=Geschichte der freien Reichs=Stadt Bremen, Bremen 1871, S. 129. 43 Vgl. dazu Marian Fu ¨ ssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universita¨t der Fru¨hen Neuzeit, Darmstadt 2006. 44 Thomas Weller, Theatrum Praecedentiae (wie Anm. 4), S. 167; Jan Brademann, Autonomie und Herrscherkult. Adventus und Huldigung in Halle (Saale) in Spa¨tmittelalter und Fru¨her Neuzeit (Studien zur Landesgeschichte 14), Halle 2006; Ders., Stadtbu¨rger und Untertanen. Fu¨rstliche Einzu¨ge und Huldigungen in Halle vom Spa¨tmittelalter bis 1681, in: Vergnu¨gen und Inszenierung. Stationen sta¨dtischer Festkultur in Halle (Forschungen zur Hallischen Stadtgeschichte 4), hg. v. Werner Freitag/Katrin Minner, Halle 2004, S. 185–205.

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Visualisierungen sta¨dtischer Rituale wird diese Rolle des Publikums repra¨sentiert. Anhand einer Darstellung der Beisetzung des spanischen Generals Johann Baptist von Taxis 1588 in Ko¨ln arbeitete Wenzel Hollar die Dichotomie zwischen Akteuren und Zuschauern bei einem Großritual deutlich heraus.45 Man sieht die Trauerprozession als Ma¨ander – eine typische Technik, um Großrituale auf ein Bild zu bekommen – vom Ko¨lnischen Hof an der Trankgasse bis zur Grablege in der Minoritenkirche. Aus dem Portal des Hofs treten Mitglieder des Kurko¨lnischen Hofrats, gefolgt von Ko¨lner Ratsherren unmittelbar hinter dem Sarg. Wie bei Oberschichtenbegra¨bnissen zu dieser Zeit u¨blich wird dieser von Fackeltra¨gern mit dem Wappen des Verstorbenen geleitet. Auch das festlich geru¨stete Leibpferd des Generals wurde zum Bestandteil des Rituals. Nach zwei armierten Pagen des Toten folgte eine performative Gesamtdarstellung des Ko¨lner Klerus, vom Apostolischen Nuntius Ottavio Mirto Frangipani bis zu den Minoriten, die sich schon auf dem Hof ihres Klosters befinden. Beobachtet wird der Zug von Ko¨lnern verschiedener Sta¨nde: von Ma¨gden, die gerade vom Markt kommen, von bu¨rgerlichen Familien (erkennbar an den Ma¨nnern mit Schwert) und Leuten, die vom Fenster aus zuschauen. Im Bildhintergrund gehen andere Ko¨lner indes ihren eigenen Gescha¨ften nach. Auf Hollars Stich sind die Zuschauer inmitten des schon barock anmutenden Stadtraums mehr als nur Zierrat: ¨ ffentlichkeit, vor der sich das Ritual entfaltete. Es ist Sie repra¨sentieren vielmehr O klar, dass ein Leichenkondukt nicht einfach Chancen zur unspezifischen Partizipation ero¨ffnete. Aber vielleicht rekapitulierte Hollar – der das Begra¨bnis nicht selbst gesehen hatte und eine Vorlage von Frans Hogenberg nutzte46 – in diesem Stich auch seine Erfahrungen mit der Rollenverteilung bei Großritualen aus seiner Ko¨lner Zeit (1632–1636). Die Passivita¨t des Publikums wurde gegebenenfalls von der Obrigkeit forciert. Spontane Mitwirkung am Ritual war unerwu¨nscht, individuelle Partizipationsversuche, z. B. eigenma¨chtige Salutschu¨sse bei Fu¨rstenbesuchen und Prozessionen, wurden von Wachleuten unterbunden.47 Bei der Gottestracht sorgten dafu¨r bewaffnete Ratsdiener. Ungeplantes Handeln beim Ritual ha¨tte dessen Performanz empfindlich gesto¨rt, es womo¨glich gar scheitern lassen. Die Normen angemessenen Verhaltens der Zuschauer bei sta¨dtischen Großritualen wurden im 17. Jahrhundert zum Gegenstand von Policeyordnungen, die das Publikum als triebgesteuerten Po¨bel begriffen.48 Mit dieser Kategorie u¨bernahmen die sta¨dtischen Magistrate die Perspektive ho¨fischer Zeremonienmeister, die in den zuschauenden Untertanen auch nur Flegel sahen, die es notfalls mit dem Stock zu zu¨chtigen galt. Als Adressaten der Rituale 45 Vgl. dazu Willy Leson, Wenzel Hollar in Ko¨ln 1632–1636, Ko¨ln 1979, S. 82. 46 Abgebildet etwa bei Wolfgang Behringer, Ko¨ln als Kommunikationszentrum um 1600. Die Anfa¨nge

des Ko¨lner Post- und Zeitungswesens im Rahmen der fru¨hneuzeitlichen Medienrevolution, in: Ko¨ln als Kommunikationszentrum (wie Anm. 23), S. 183–210, hier S. 190. 47 Krischer, Reichssta¨dte (wie Anm. 22), S. 198f.; fu¨r die Gottestracht: Joseph Klersch, Volkstum und Volksleben in Ko¨ln. Ein Beitrag zur historischen Soziologie der Stadt, Bd. 1, Ko¨ln 1965, S. 185. 48 Vgl. dazu allg. Andreas Gestrich, Ho¨fisches Zeremoniell und sinnliches Volk. Zur Rechtfertigung des ¨ sthetik in Spa¨tmitHofzeremoniells im 17. und fru¨hen 18. Jahrhundert, in: Zeremoniell als ho¨fische A telalter und Fru¨her Neuzeit (Fru¨he Neuzeit 25), hg. v. Jo¨rg J. Berns/Thomas Rahn, Tu¨bingen 1996, S. 57–73.

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wurden die Zuschauer nicht thematisiert. Wenn die Ratsprotokolle bei der typischen Beschreibung eines Rituals viel volk oder auch phantastische Zahlen notierten (tausend Zuschauer) oder wenn Bilder eine gedra¨ngte Menge zeigten, dann wurde damit

Abb. 2: Pompe Fune`bre du Tre`s Illustre Chef Messire Jean Baptiste de Tassis, tue´ au Sie`ge de la Ville de Bonne en l’an M:D.LXXXVIII Quelle: Rheinisches Bildarchiv Nr. 10772

¨ ffentlichkeit im Sinne von Ju¨rvor allem eine notwendige Requisite repra¨sentativer O gen Habermas rekurriert: „Repra¨sentation ist immer noch auf eine Umgebung angewiesen, vor der sie sich entfaltet“.49 Die empirischen Befunde sta¨rkten also zumindest ¨ ffentlichkeit, in Bezug auf die sta¨dtischen Rituale genau jene Theorie vormoderner O die in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder als zu holzschnittartig erachtet worden ist.50 49 Ju¨rgen Habermas, Strukturwandel der O ¨ ffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bu¨r-

gerlichen Gesellschaft, Neuwied/Berlin 1962, S. 20.

50 So zuletzt auch Schwerhoff, O ¨ ffentliche Ra¨ume (wie Anm. 36), S. 117; anders hingegen Andrea

¨ ffentlichkeit, Teilhabe und Publikum, in: Lo¨ther, Sta¨dtische Prozessionen zwischen repra¨sentativer O

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3. Vergemeinschaftung durch Rituale?

Ich mo¨chte die Befunde u¨ber die Rolle der Zuschauer hier nun zum Ausgangspunkt nehmen, um noch einmal u¨ber die Motive der Stadtgesellschaft zur Teilnahme an den o¨ffentlichen Ritualen nachzudenken. Ein Ausgangspunkt der ju¨ngeren Stadtritualforschung war eine Frage, die die sozial- und ideengeschichtlich orientierte Bielefelder Bu¨rgertumsforschung in der Mitte der 1990er Jahre aufgeworfen hatte: Kompensierte die gesellschaftliche Partizipation an den sta¨dtischen Ritualen partiell die Exklusion aus der oligarchisch dominierten Ratsherrschaft? Hatten die Bu¨rger trotz ihres Ausschlusses von den eigentlichen Entscheidungsprozessen nicht zumindest symbolisch am Politischen teil?51 Antworten darauf wurden zuletzt u. a. von Andreas Wu¨rgler, Jo¨rg Rogge oder Kathrin Enzel gegeben. Wu¨rgler resu¨mierte fu¨r Bern: „Die feierlichen Umzu¨ge und tagelangen Festereien wa¨hrend und nach den Wahlen ließen die Stadtbewohner (...) symbolisch an den politischen Ereignissen partizipieren“. Die gesellschaftliche Teilnahme an den Ritualen deutet Wu¨rgler als stillschweigenden Konsens mit der politischen Ordnung.52 Jo¨rg Rogge zufolge stifteten Rituale ein „Gemeinschaftserlebnis“ und erzeugten kollektive Gefu¨hle der Zugeho¨rigkeit zum Gemeinwesen.53 Bei Schwo¨rtagen „konnte die Mehrheit der Bu¨rger mit gesta¨rktem Zugeho¨rigkeitsgefu¨hl und dem Bewusstsein, die politische Ordnung zu tragen, nach Hause gehen.“54 Kathrin Enzel wiederum sieht in der Ko¨lner Gottestracht eine „regelma¨ßige Bekra¨ftigung der sta¨dtischen Verbundenheit“ fu¨r die Bu¨rgergemeinde, eine „Stiftung kollektiver Identita¨ten“.55 Die Deutung der Rituale als Beitrag zur Konstitution sta¨dtischer Gemeinschaft im Sinne einer Sakral- und Ritualgemeinschaft und als Chance zur symbolischen Teilhabe am Politischen sind die derzeit aktuellen Paradigma bei der Erforschung des rituellen Lebens in den alten Sta¨dten.56 ¨ ffentliche und Private in der Vormoderne (Norm und Struktur 10), hg. v. Gert Melville/Peter Das O von Moos, Ko¨ln 1998, S. 435–460 . 51 Vgl. Gerd Schwerhoff, Apud Populum Potestas? Ratsherrschaft und korporative Partizipation im spa¨tmittelalterlichen und fru¨hneuzeitlichen Ko¨ln, in: Stadtregiment und Bu¨rgerfreiheit. Handlungsspielra¨ume in deutschen und italienischen Sta¨dten des Spa¨ten Mittelalters und der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Klaus Schreiner/Ulrich Meier, Go¨ttingen 1994, S. 188–243, hier S. 231f. 52 Andreas Wu ¨ rgler, Zwischen Verfahren und Ritual. Entscheidungsfindung und politische Integration in der Stadtrepublik Bern der Fru¨hen Neuzeit, in: Interaktion und Herrschaft (wie Anm. 20), S. 63–91, hier S. 88, Hervorhebung im Original. 53 Jo¨rg Rogge, Kommunikation, Herrschaft und politische Kultur. Zur Praxis der o¨ffentlichen Inszenierung und Darstellung von Ratsherrschaft in Sta¨dten des deutschen Reiches um 1500, in: Interaktion und Herrschaft (wie Anm. 20), S. 381–407, hier S. 393. 54 Ebd. 55 Kathrin Enzel, „Eins Raths Kirmiß ...“. Die „Große Ko¨lner Gottestracht“ als Rahmen der politischen Selbstdarstellung sta¨dtischer Obrigkeiten, in: Interaktion und Herrschaft (wie Anm. 20), S. 471–497, hier S. 488. 56 Vgl. etwa auch die Beitra¨ge in Geschlechtergesellschaften, Zunft-Trinkstuben und Bruderschaften in spa¨tmittelalterlichen und fru¨hneuzeitlichen Sta¨dten (Stadt in der Geschichte 30), hg. v. Gerhard Fouquet/Matthias Steinbrink/Gabriel Zeilinger, Stuttgart 2003, zusammenfassend ebd. Gerhard Fouquet, Trinkstuben und Bruderschaften – soziale Orte in den Sta¨dten des Spa¨tmittelalters. Zusammenfassung, S. 257.

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Ich mo¨chte diese Befunde gar nicht anzweifeln. Ich kann mit modernen gesellschaftswissenschaftlichen Methoden die Theorie der Vergemeinschaftung als einer, mit Weber gesprochen, „soziale(n) Beziehung, (... die) auf subjektiv gefu¨hlter (...) Zusammengeho¨rigkeit (...) beruht“57, weder falsifizieren noch verifizieren. Was die Menschen subjektiv gefu¨hlt haben, entzieht sich der wissenschaftlichen Rekonstruktion. Allerdings gibt es gute Gru¨nde, die Motivation fu¨r die Teilnahme an Ritualen nicht nur in Gefu¨hlswelten zu suchen. Warum sollten, so ko¨nnte man zugespitzt fragen, die Leute in den Alten Sta¨dten eigentlich Lust gehabt haben, periodisch die Selbstdarstellung der politisch-sozialen Eliten im Ritual zu besichtigen?58 Die Paradigmen Vergemeinschaftung und Teilhabe und damit die Vorstellung einer an den ¨ ffentlichkeit scheinen vor allem desRitualen als solchen interessierten sta¨dtischen O wegen Konjunktur zu haben, weil die Historiker – und ich schließe mich da ausdru¨cklich ein – in aller Regel die Inszenierungen aus der Perspektive ihrer Veranstalter und anhand der aus dem Rathaus stammenden Quellen untersucht haben. Den obrigkeitlichen Veranstaltern von ritueller Herrschaftsrepra¨sentation war freilich daran gelegen, die bei den Ritualen Anwesenden als interessierte, sogar symbo¨ ffentlichkeit zu beschreiben, sie also nachtra¨glich und narrativ als lisch integrierte O ¨ die Offentlichkeit der Rituale zu konstituieren. Tatsa¨chlich waren die Gru¨nde fu¨r die Anwesenheit der Stadtgesellschaft bei Ritualen sehr unterschiedlich. Vor allem gibt es auch eine Menge von Belegen dafu¨r, dass die Teilnahme daran eigentlich unattraktiv war. Besonders unbeliebt war, zumindest im 18. Jahrhundert, das Spalierstehen der Bu¨rger bei Fu¨rstenbesuchen. Nach 1648 sahen die Bu¨rger auch in den lokalen Kaiserhuldigungen – einst gla¨nzende Feste – weniger eine Form zur korporativen Selbstdarstellung vor dem Reichsoberhaupt als eine weitere Form der Geldverschwendung durch den Rat. Reichspatriotismus ließ sich auch kostengu¨nstiger zum Ausdruck bringen. Die meisten Reichssta¨dte gingen daher dazu u¨ber, die Huldigung durch Abgesandte vor dem Reichshofrat in Wien und damit nicht o¨ffentlich abzulegen. Nur dort, wo man mit der Lokalhuldigung noch eine politische Botschaft vermittel konnte hielt man daran fest: In Ko¨ln inszenierte man auf diese Weise die Unabha¨ngigkeit von Kurko¨ln. Dabei konnte sich sogar ein gewisser Enthusiasmus und Stadtpatriotismus der Bu¨rger zeigen.59 Doch la¨ngst nicht bei allen Ritualen, die auf aktive Mitwirkung der Bu¨rger angewiesen ¨ ffentlichkeit erzeugten, konnte man waren und bei denen die Teilnehmer selbst die O auf eine generalisierte Teilnahmebereitschaft setzen. Das galt fu¨r die Ko¨lner Gottestracht, bei denen sich Bu¨rger ha¨ufig von ihren Untermietern vertreten ließen,60 ebenso wie fu¨r die Schwo¨rtage der oberdeutschen Reichssta¨dte. Zahlreiche Edikte aus Ulm und Esslingen scha¨rften nach 1650 immer wieder ein, dass zu diesem Ritual alle

57 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hg. v. Johannes

Winckelmann, 5. Aufl., Tu¨bingen 1980, S. 21. 58 Ganz a¨hnlich sieht das auch in einem anderen Kontext Sheila Lindenbaum, Ceremony and Oligarchy.

The London Midsummer Watch, in: City and Spectacle in Medieval Europe, hg. v. Barbara A. Hanawalt/Kathryn L. Reyerson, Minneapolis/London 1994, S. 171–188. 59 Vgl. dazu Krischer, Reichssta¨dte (wie Anm. 22), S. 346ff. 60 Enzel, „Eins Raths Kirmiß ...“ (wie Anm. 55), S. 482.

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Einwohner zu erscheinen ha¨tten – und gaben damit Auskunft daru¨ber, dass es mit dem Erscheinen eben nicht zum besten gestanden hatte. Dazu kam das notorische Problem des Alkoholmissbrauchs bei Schwo¨rtagen, das Beobachter daran zweifeln ließ, ob den Leuten wirklich bewusst war, worum es bei dem Ritual eigentlich ging.61 Bei der Ko¨lner Gottestracht mahnte der Rat wiederum schon 1568 die geharnischten Bu¨rger, nu¨chtern zu bleiben.62 ¨ ffentlichkeit auch bei den ha¨ufigen Fu¨rstenbeWie bei den Schwo¨rtagen kam O suchen nicht immer freiwillig zustande. Zur Durchfu¨hrung des Empfangszeremoniells rekurrierte z. B. der Ko¨lner Rat auf die Wachtordnung und die damit verbundene milita¨rische Gliederung der Bu¨rgerschaft. Diese wurde dann beim Ritual vom Rat aufgeboten wie im Verteidigungsfall auch.63 Ein Fernbleiben konnte mit Stra¨ ffentlichfen geahndet werden. Neben solchen sanktionsbewehrten Formen der O keitskonstitution sind solche zu nennen, die durch Mitgliedschaftspflichten zustande kamen: Man war dabei, weil man Mitglied des Rats, der Zunft, der Bu¨rgerwehr oder eines Klosters war und als solches an den Ritualen mitzuwirken hatte. Anno 1566 den 25. apr. zu Colner gotzdragt gans umb die stat mit dem hilligen sacrament gangen, dan ich war des raits, notierte etwa Hermann Weinsberg.64 Aus der Mitgliedschaft in einer sta¨dtischen Korporation stammende Pflichten wurden aber nicht nur negativ sanktioniert, sondern auch positiv honoriert: Ein Ratsherr, ein Zunftmeister oder ein geharnischter Bu¨rger konnte sich durch seine Mitwirkung am Ritual Ansehen, also symbolisches Kapital erwerben, zumindest dann, wenn er dabei eine herausgehobene, ehrenvolle Rolle spielte.65 Es gab aber auch Akteure, die fu¨r ihre Mitwirkung schlicht Geld verlangten: Die Ko¨lner Mo¨nche, Stiftsherren und -damen, die Schu¨ler und Universita¨tsangeho¨rigen ließen sich ihre rituellen Leistungen jeweils unmittelbar nach Gottestrachten und Bu¨rgermeisterbegra¨bnissen vergu¨ten. Sie leisteten keine „unbezahlte zeremonielle Arbeit“ (Niklas Luhmann) bei einem Ritual, das ihnen kaum soziales Prestige zukommen ließ. Dafu¨r waren ihre Positionen bei den Prozessionen zu wenig herausgehoben.66 Bereits 1547 berichtete Hermann Weinsberg, dass beim Rittmeisteramt das Verha¨ltnis von Investitionen an Zeit, Geld und den symbolischen Profiten in keiner gewinnbringenden Relation mehr stand. Galt die Rolle des Rittmeisters bei der Gottestracht im Spa¨tmittelalter noch als Privileg, so drohten nach 1500 die damit verbundenen horrenden Kosten den Amtsinhaber fast schon zu ruinieren. Wer dazu auserkoren wurde, betrachtete es jedenfalls als Strafe.67 Auch wenn ein sta¨dtisches Großritual u¨berwiegend vom Rat finanziert wurde, so mussten doch die einzelnen Rats61 Vgl. Rainer Jooss, Schwo¨ren und Schwo¨rtage in su¨ddeutschen Reichssta¨dten, in: Anzeiger des Ger-

manischen Nationalmuseums 1993, S. 153–168, hier S. 163–165. 62 Klersch, Volkstum (wie Anm. 47), S. 184. 63 Vgl. etwa Richard Jilka, Aspekte des bu¨rgerlichen Wachdienstes in Ko¨ln im 18. und 19. Jahrhundert,

in: Geschichte in Ko¨ln 28 (1990), S. 79–103. 64 BW V (wie Anm. 12), S. 61 65 Zur Konversion o¨konomischer und anderer Kapitalsorten in symbolisches Kapital (Ehre) im Sinne der

Theorie von Pierre Bourdieu vgl. Krischer, Reichssta¨dte (wie Anm. 22), S. 106ff. 66 Beispiele auch bei Herborn, Feiertage (wie Anm. 38), S. 46. 67 Klersch, Volkstum (wie Anm. 47), S. 185.

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herren und andere Akteure (Bu¨rgerhauptma¨nner, Zunftmeister, Ratskonsulenten), dem „Fußvolk“ des Rituals (einfache Bu¨rger, Soldaten, Kleriker) reichlich Trinkgelder und andere Geschenke spendieren – je mehr, desto besser und reputierlicher. Und eben dieser Pflicht zur demonstrativen Großzu¨gigkeit wollten sich viele Bu¨rger im Laufe des 17. Jahrhunderts immer mehr entziehen.68 Wenn in Ko¨ln wiederum subalterne Ratsherren den Ehrenwein zu den fu¨rstlichen Ga¨sten der Stadt trugen und damit symbolisch an den traditionellen Gastungspflichten der Stadt mitwirkten, drangen sie anschließend unnachgiebig auf die Auszahlung der Trinkgelder, die der Gast dem Rat hatte zukommen lassen.69 Auf Tauschverha¨ltnissen beruhte nicht allein ¨ ffentlichkeit wurde vieldie aktive Mitwirkung an Ritualen. Auch die zuschauende O fach tauschfo¨rmig konstituiert. Die su¨ddeutschen Schwo¨rtage ließen sich im 17. und 18. Jahrhundert in alter Pracht wiederum wohl nur deshalb fortfu¨hren, weil sie, wie gesagt, gleichzeitig zum Volksfest ausgestaltet worden waren.70 Selbst im calvinistischen Bremen wurde Ritualo¨ffentlichkeit ha¨ufig mit der Aussicht auf leibliches Wohl angelockt: Als man etwa 1678 Treue zu Kaiser und Reich durch ein Fest anla¨sslich einer Habsburger Heirat demonstrieren wollte, beobachtete der Chronist Peter Koster, dass aus dem Rathausfester durch eine gemachte Ro¨hre und daran hangenden doppelten Adler, rohter und weißer Wein lief.71 Deswegen seien viele Leute gekommen. Hermann Weinsberg brachte das fu¨r seine Stadt ganz a¨hnlich und sehr scho¨n auf den Punkt: es kann in Coln wenich ohn essen und drinken ussgerichtet werden.72 Damit will ich u¨berhaupt nicht ausschließen, dass es auch spontane Bereitschaft zu Mitwirkung und Zuschauen gab, also nicht eintauschbare Motive zur o¨ffentlichen Vergemeinschaftung durch Rituale. Dies war etwa in Ko¨ln bei den Gottestrachten und Bittprozessionen wa¨hrend des Ko¨lner Kriegs 1582–88 der Fall, als nach Weinsbergs Schilderungen Tausende (und das heißt: viel mehr als sonst) auf den Beinen waren, um fu¨r den Frieden zu beten. Ob man den politisch-religio¨sen „Staatssolennita¨ten“73 jedoch pauschal einen Gemeinschaftscharakter zuweisen kann, ist die Frage. ¨ ffentlichkeit der sta¨dtischen Rituale nicht allein durch Auf jeden Fall sollte man die O Teilhabe und Gemeinschaftshandeln erkla¨ren. Dies gilt vor allem dann, wenn man die Rituale und ihre Funktionen fu¨r die Stadtgesellschaft im Wandel betrachtet. Etwas zugespitzt ko¨nnte man die These formulieren, dass sich die Funktion von Stadtritualen zwischen Spa¨tmittelalter und dem 18. Jahrhundert von der Herstellung der sta¨dtischen Gesellschaft als politisch-sozialer Gemeinde zur Darstellung elita¨rer Geltungsanspru¨che vera¨ndert hatte. 68 Ebd., S. 184. 69 Vgl. etwa Historisches Archiv der Stadt Ko¨ln, Best. 30, C 611, fol. VI. 70 Wolf-Henning Petershagen, Schwo¨rpflicht und Volksvergnu¨gen. Zur Verfassungswirklichkeit und

sta¨dtischen Festkultur in Ulm, Ulm 1999.

71 Peter Koster, Chronik der Kaiserlichen Freien Reichs- und Hansestadt Bremen, hg. v. Hartmut Mu ¨ l-

ler, Bremen 2004, S. 289.

72 BW V (wie Anm. 12), S. 429; vgl. dazu auch Gunther Hirschfelder, „Und also die ganze Woche ein

grosses Gesaufte war.“ Aspekte oberschichtlicher Trinkgewohnheiten im Rheinland vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, in: Volkskultur an Rhein und Maas 13 (1994), S. 5–14. 73 So Rudolf Wackernagel, Geschichte der Stadt Basel, Bd. 2, Basel 1991, S. 224, gefunden bei Dietrich W. Poeck, Rituale der Ratswahl. Zeichen und Zeremoniell der Ratssetzung in Europa (12.–18. Jahrhundert) (StF A 60), Ko¨ln/Weimar/Wien 2003, S. 15, Anm. 45.

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4. Wandel zwischen Spa¨tmittelalter und Fru¨hneuzeit: Von den Ritualen der Communitas zur Repra¨sentation sta¨dtischer Eliten?

Nachdem sich im hochmittelalterlichen Europa Sta¨dte als politisch-soziale Figuration u¨berhaupt erst herausgebildet hatten, schienen diese in besonderer Weise auf rituelle Formen der Stabilisierung und Institutionalisierung angewiesen gewesen zu sein.74 Darauf hat schon Wilhelm Ebel hingewiesen: Als eine durch den Akt der Schwureinigung aus der feudalen Umwelt gelo¨ste und als bu¨rgerliche Genossenschaft konstituierte Gemeinde musste sich die Stadt als Rechts- und Herrschaftsverband periodisch immer wieder aufs Neue konstituieren. Sie blieb eine coniuratio reiterata, die ihre Existenz im ja¨hrlichen Ritual des Schwo¨rtags fortschrieb.75 Dazu kam, dass die mittelalterliche Stadt in der feudal-adligen Umwelt als Fremdko¨rper und buchsta¨blich als Verschwo¨rung unbotma¨ßiger Untertanen wahrgenommen wurde.76 Auch dieser Sonderstatus verlangte nach symbolisch-expressiven Formen, um die Legitimita¨t sta¨dtischer Herrschaft und Gesellschaft zu untermauern, und zwar nicht nur gegenu¨ber den Menschen, sondern auch vor Gott. Dieses transzendente Legitimationsbedu¨rfnis erkla¨rt die Prominenz von Prozessionen im rituellen Leben mittelalterlicher Sta¨dte.77 Aber auch Rituale wie Ratswahl und Ratssetzung, Feste oder Schlachtengedenktage78 trugen bei zur symbolischen Konstitution der Stadt als einer communitas im Sinne von Victor Turner.79 74 Vgl. zu den symbolischen Dimensionen von Institutionalita¨t allg. Karl-Siegbert Rehberg, Weltrepra¨-

sentanz und Verko¨rperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien. Eine Einfu¨hrung in systematischer Absicht, in: Institutionalita¨t und Symbolisierung, hg. v. Gert Melville, Ko¨ln/Weimar/Wien 2001, S. 3–49 75 Wilhelm Ebel, Der Bu¨rgereid als Geltungsgrund und Gestaltungsprinzip des deutschen mittelalterlichen Stadtrechts, Weimar 1958, S. 4. Dies wird in der neueren Forschung ganz a¨hnlich gesehen vgl. etwa Gerhard Dilcher, Bu¨rgerrecht und Stadtverfassung im europa¨ischen Mittelalter, Ko¨ln/Weimar/ Wien 1996, hier S. 103ff.; Otto G. Oexle, Soziale Gruppen in der Sta¨ndegesellschaft: Lebensformen des Mittelalters und ihre historischen Wirkungen, in: Die Repra¨sentation der Gruppen. Texte – Bilder – Objekte, hg. v. Otto G. Oexle/Andrea von Hu¨lsen-Esch, Go¨ttingen 1998, S. 9–44; Gudrun Gleba, Der mittelalterliche Bu¨rgereid und sein Zeremoniell: Beispiele aus norddeutschen Sta¨dten, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums (1993), S. 169–175; fu¨r England: Charles Pythian-Adams, Ceremony and the citizen: the communal year at Coventry, 1450–1550, in: Crisis and Order in English Towns 1500–1700, hg. v. Peter Clark/Paul Slack, London 1972, S. 86–116; James Mervyn, Ritual, Drama and Social Body in the Late Medieval English Town, in: PP 98 (1983), S. 3–29. 76 Dazu klassisch Richard C. Trexler, Public Life in Renaissance Florence, Ithaka/London 1980, S. 279ff. 77 A ¨ hnliche Funktionen u¨bernahmen die Kulte um den oder die jeweiligen Stadtheiligen, vgl. dazu HansJu¨rgen Becker, Defensor et patronus. Stadtheilige als Repra¨sentanten einer mittelalterlichen Stadt, in: Repra¨sentation (wie Anm. 2), S. 45–63. 78 Klaus Graf, Erinnerungsfeste in der spa¨tmittelalterlichen Stadt, in: Memoria, Communitas, Civiˆ ge, hg. v. Hanno Brand/Pierre tas. Me´moire et conscience urbaine en Occident a` la fin du Moyen A Monet/Martial Staub, Ostfildern 2003, S. 263–273. 79 Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a. M. 1989, S. 94ff.; dazu auch Gabriela Signori, Ereignis und Erinnerung. Das Ritual in der sta¨dtischen Memorialkultur des ausgehenden Mittelalters (14. und 15. Jh.), in: Prozessionen, Wallfahrten, Aufma¨rsche. Bewegung zwischen Religion und Politik in Europa und Asien seit dem Mittelalter, hg. v. Jo¨rg Gengnagel/Monika Horstmann/Gerald Schwedler, Ko¨ln 2008, S. 108–121.

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Der Bedarf an ritueller Stabilisierung blieb auch erhalten, nachdem die politischsozialen Eliten ihre Sta¨dte zunehmend in den Begriffen des ro¨misch-kanonischen Rechts als juristische Person, also als Korporation (bzw. universitas) deuteten.80 Darauf weisen etwa in Ko¨ln die seit dem 15. Jahrhundert ausschließlich vom Rat durchgefu¨hrten und bezahlten pompo¨sen Begra¨bnisse im Amt verstorbener Bu¨rgermeister hin.81 Vor 1400 waren verstorbene Bu¨rgermeister noch von ihren Familien – also den 1396 gestu¨rzten Geschlechtern – beigesetzt worden, und zwar vermutlich im Rahmen einer Inszenierung, die die unmittelbare Verquickung von Patriziat und Herrschaftsordnung zum Ausdruck bringen sollte.82 Als das Bu¨rgermeisteramt 1391 ein Ratsamt geworden war, sollte dies im Ritual auch demonstrativ zum Ausdruck kommen: So ma¨chtig er zu Lebzeiten dem Rat auch gegenu¨bergetreten sein mochte – im Tod wurde er fu¨r alle sichtbar zu einem Teil dieses Gremiums, indem sein Leichnam in den Mittelpunkt eines vom Rat choreographierten Rituals ru¨ckte.83 Zudem entscha¨rfte das Begra¨bnisritual die durch den Tod des Bu¨rgermeisters entstandene Krise der Stadt als Ko¨rperschaft. Auch wenn es hieß universitas non moritur, so musste doch beim Tod eines der herausragenden Repra¨sentanten der Ko¨rperschaft im Ritual die Vorstellung von Herrschaftskontinuita¨t evoziert werden. Es muss im Einzelfall gepru¨ft werden, wann sich die Funktion der Rituale – von der Herstellung der Ordnung des Ganzen zur Darstellung des Sozialprestiges der Oligarchie – gewandelt hatte.84 Beim Ritual des Ko¨lner Bu¨rgermeisterbegra¨bnisses ist es jedoch evident, dass es seit der Mitte des 17. Jahrhunderts kaum mehr dazu diente, die Einbindung des Bu¨rgermeisters in den Rat oder die Fortexistenz der sta¨dtischen

80 Dazu allg. Eberhard Isenmann, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht spa¨tmittelalterlicher deut-

scher Sta¨dte, in: ZHF 28 (2001), S. 1–94, 161–261; Ders., Ratsliteratur und sta¨dtische Ratsordnungen des spa¨ten Mittelalters und der fru¨hen Neuzeit. Soziologie des Rats – Amt und Willensbildung – poliˆ ge (VMPI 174), hg. tische Kultur, in: Stadt und Recht im Mittelalter/La ville et le droit au Moyen A v. Pierre Monnet/Otto G. Oexle, Go¨ttingen 2003, S. 215–479; Eberhard Isenmann, Zur Rezeption des ro¨misch-kanonischen Rechts im spa¨tmittelalterlichen Deutschland im Spiegel von Rechtsgutachten, in: Jan A. Aertsen/Martin Pickave´, Herbst des Mittelalters? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts (Miscellanea Mediaevalia 31), Berlin/New York 2004, S. 206–228. 81 Vgl. meinen Beitrag: Bu¨rgermeisterbegra¨bnisse im fru¨hneuzeitlichen Ko¨ln. Zu den Bedeutungsebenen eines sta¨dtischen Rituals im Wandel (1431–1797), in: Geschichte in Ko¨ln 55 (2008), S. 7–35. 82 Genaueres ist daru¨ber indes nicht bekannt, vgl. zu den Geschlechtern allgemein Klaus Militzer, Ursachen und Folgen der innersta¨dtischen Auseinandersetzungen in Ko¨ln in der zweiten Ha¨lfte des 14. Jahrhunderts, Ko¨ln 1980; Marc von der Ho¨h, Zwischen religio¨ser Memoria und Familiengeschichte – Das Familienbuch des Werner Overstolz, in: Haus- und Familienbu¨cher in der sta¨dtischen Gesellschaft des Spa¨tmittelalters und der fru¨hen Neuzeit (StF A 69), hg. v. Birgit Studt, Ko¨ln/Weimar/ Wien 2007, S. 33–60. 83 Ganz a¨hnlich hatte der Rat auch im 15. Jahrhundert versucht, den schon damals traditionellen ja¨hrlichen Bu¨rgermeisteressen nicht la¨nger die Funktion eines Forums patrizischer Selbstdarstellung zu belassen. Auch dieses Festessen der neugewa¨hlten Bu¨rgermeister wurde nach 1396 vom Rat bezahlt und ab 1452 auf dem Gu¨rzenich veranstaltet, vgl. Leonard Ennen, Geschichte der Stadt Ko¨ln, Bd. 4, Ko¨ln 1875, S. 913. Der Rat versuchte dabei, bis in die Speisenfolge hinein seinen Regelungsanspruch durchzusetzen. Inwieweit auch das Bu¨rgermeisteressen in der Fru¨hen Neuzeit wieder zu einem eher patrizischen Repra¨sentationsmedium wurde, wa¨re noch zu kla¨ren. 84 Bereits in den 1540er Jahren sah der Rat in den anla¨sslich der Gottestracht von den Gaffeln gestifteten ¨ berbietungswettbewerb, vgl. Klersch, Volkstum (wie Anm. 47), S. 181. Kerzen einen U

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Ko¨rperschaft zu symbolisieren. Es trat vielmehr in den Dienst der Repra¨sentation der Bu¨rgermeisterdynastien, wurde also von einem Ritual der Kommune vermehrt zu einem Ritual der politisch-sozialen Eliten. Im Zentrum der Symbolik standen nach 1650 nicht mehr, wie noch im 16. Jahrhundert, Ehre und Wu¨rde des Rats, sondern die angeblich alt-adlige Vortrefflichkeit der jeweiligen Familie. Dies wurde unter anderem dadurch zum Ausdruck gebracht, dass bei der Begra¨bnisprozession sechzehn Ratsdiener den Sarg begleiteten und dabei jeweils eine Tortsche mit den Familienwappen trugen.85 Ein Jahrhundert zuvor war der Sarg noch, vermutlich nach biblischen Vorbildern, von zwo¨lf Tortschen mit dem Stadtwappen umrundet worden. Ganz a¨hnliche Formen der Aneignung kommunaler Rituale ‚von oben‘, also von den politisch-sozialen Eliten, sind ju¨ngst auch fu¨r Prozessionen im westfa¨lischen Werl beschrieben worden.86 Auch bei anderen Ritualen (und nicht nur in Ko¨ln) hatte sich seit dem 17. Jahrhundert ein Bedeutungswandel vollzogen. Bei den Ritualen von Fu¨rstenbesuchen in den Sta¨dten im 16. Jahrhundert ging es unter anderem darum, mittels der in Parade aufgebotenen Bu¨rgerschaft dem hochadligen Besucher das Bild einer wohlgeordneten, hierarchisch gestuften und wehrhaften Kommune vor Augen zu fu¨hren.87 Spa¨testens im 18. Jahrhundert aber verlangten Bu¨rgermeister und Ratsherren in den Reichssta¨dten, dass die paradierende Bu¨rgerschaft sie genauso ehrte wie den fu¨rstlichen Gast auch. Damit sorgte das Ritual fu¨r eine vera¨nderte Dichotomie: Noch bis ins 17. Jahrhundert unterschied es die Gesamtheit der sta¨dtischen Akteure vom Fu¨rsten und seinen Leuten. Im 18. Jahrhundert aber verlief die Grenze zwischen einer sozialen Elite, die den „Staatsgast“ ebenso umfasste wie Bu¨rgermeister und Ratsherren auch, von der Menge der Bu¨rger und Zuschauer. Diese wurden durch die Wortwahl des Ratsschriftguts zur amorphen Masse des volcks amalgamiert oder gar als po¨bel diffamiert.88 Beim außenpolitischen Zeremoniell der Reichssta¨dte ging die Tendenz also

85 Krischer, Bu¨rgermeisterbegra¨bnisse (wie Anm. 81), S. 25. 86 Dezidiert von Michael Hecht, Abbild sakraler Einheit oder Repra¨sentation sozialer Distinktion? Pro-

zessionen und Rangkonflikte im westfa¨lischen Werl im 17. und 18. Jahrhundert, in: Bekenntnis, soziale Ordnung und rituelle Praxis. Neue Forschungen zu Reformation und Konfessionalisierung in Westfalen, hg. v. Werner Freitag/Christian Helbich, Mu¨nster 2009, S. 261–278, hier bes. S. 261ff.; ferner Sabine von Heusinger, „Cruzgang“ und „umblauf“. Symbolische Kommunikation im Stadtraum am Beispiel von Prozessionen, in: Jo¨rg Oberste, Kommunikation in mittelalterlichen Sta¨dten, Regensburg 2007, S. 141–155; auch Enzel, „Eins Raths Kirmiß“ (wie Anm. 55), verweist auf die dezidiert obrigkeitliche Ausgestaltung und Symbolik der Gottestracht. 87 Vgl. etwa die Deutung des Besuchs des Landgrafen Moritz I. von Hessen-Kassel in Bremen 1601 in einer zeitgeno¨ssischen Chronik als Form bu¨rgerschaftlicher Selbstdarstellung: de Borgers sein mit wehre und Klehdung gantz wohl staveert gewsen und ock del schutten, in: Reisen und Reisende in Nordwestdeutschland. Beschreibungen, Tagebu¨cher und Briefe, Itinerare und Kostenrechnungen, hg. v. Herbert und Inge Schwarzwa¨lDer, Hildesheim 1987, S. 427. Beim Besuch Friedrichs von York, dem Bischof von Osnabru¨ck und Sohn Ko¨nig Georgs III. von England, in Bremen 1782, ist nicht mehr die Rede von einer wohlgeru¨steten Bu¨rgerschaft, sondern vom andrang des po¨bels, wa¨hrend Soldaten anstelle von Bu¨rgern in der ersten Reihe paradierten, vgl. StaatsA Bremen, 2–Dd–6-b Bd. 1, ohne Seitenza¨hlung (Bericht vom 29. Juni 1782). 88 Vgl. Krischer, Reichssta¨dte (wie Anm. 22), S. 198ff.

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dahin, dass aus der „Inszenierung der stadtbu¨rgerlichen Ordnung“89 im Spa¨tmittelalter eine Inszenierung bu¨rgerlicher Unterordnung in der Fru¨hen Neuzeit wurde. Diese Tendenz zur elita¨ren Abschottung der Ratsherren gegenu¨ber der Bu¨rgerschaft, verbunden mit dem dezidierten Anspruch auf zeremonielle Ehrenbezeugungen, ist allerdings nur zu einem Teil auf individuelle oder sta¨ndische Distinktionsbedu¨rfnisse zuru¨ckzufu¨hren. Sie war ebenso ein Nebeneffekt der erwa¨hnten Theorie der Stadt als Ko¨rperschaft,90 die durch Philipp Knipschilds intensiv rezipiertes Traktat u¨ber die Reichssta¨dte von 1657 endgu¨ltig zur politischen Vorstellungswelt der Ratsherren avanciert war.91 So zitiert Knipschild im allgemeinen Kapitel u¨ber die Stellung des Rates in der Stadt den Speyerer Stadtschreiber Christoph Lehmann mit den Worten: In einer ieden Reichs=Statt ist der Rath gleich einem Fu¨rsten (...) und gleich wie andere Unterthanen ihrem Lands=Fu¨rsten (...) zu Trew, Huld und Gehorsam vermittels leiblichen Ayds, verbunden, also auch die Burgerschafft in Reich=Sta¨tten ihrer Obrigkeit.92 Aufschlussreich ist nicht nur, dass die Ratsjuristen – und das waren sowohl Knipschild als auch Lehmann – die sta¨dtische Schwureinigung im Sinne eines territorialstaatlichen Huldigungseids deuteten, aus dem Obrigkeit und Untertanen hervorgingen.93 Auch von jenen in beiden Schwurakten (Einigung und Huldigung) eigentlich implizierten wechselseitigen Verpflichtungen (obligationes mutuae) zwischen Rat und Gemeinde wollten die Juristen – und mit ihnen die Ratseliten – nichts mehr wissen. Vielmehr ergaben sich fu¨r die Juristen aus dem eidlich konstituierten Status der Bu¨rger als Untertanen vor allem zwei Pflichten, und zwar (und in dieser Reihenfolge) Ehrerbietung und Gehorsam: Cives & Subditi Magistratui tenetur ad reverentiam, honorem & obsequium.94 Im 18. Jahrhundert galt diese Pflicht zur Ehrerbietung nicht einmal mehr als Konsequenz des Eids, sondern entsprach, etwa fu¨r Johann Jacob Moser, der naturrechtlichen Logik des Verha¨ltnisses zwischen dem fu¨rstengleichen Rat als Obrigkeit und ihren Untertanen, die in der Stadt eben Bu¨rger hießen.95

89 Andrea Lo ¨ ther, Die Inszenierung stadtbu¨rgerlicher Ordnung. Herrschereinritte in Nu¨rnberg im 15.

und 16. Jahrhundert als o¨ffentliches Ritual, in: Wege zur Geschichte des Bu¨rgertums, hg. v. Klaus Tenfelde/Hans-Ulrich Wehler, Go¨ttingen 1994, S. 105–124. 90 Wolfgang Mager, Genossenschaft, Republikanismus und konsensgestu¨tztes Ratsregiment. Zur Konzeptualisierung der politischen Ordnung in der mittelalterlichen und fru¨hneuzeitlichen Stadt, in: Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts, hg. v. Luise Schorn-Schu¨tte, Mu¨nchen 2004, S. 13–122, hier S. 101ff. 91 Vgl. dazu Dietmar Willoweit, Juristische Argumentation in den Werken von Rechtskonsulenten minderma¨chtiger Sta¨nde, in: BllDtLG 131 (1995), S. 189–211; Mager, Genossenschaft (wie Anm. 90), S. 91. 92 Philipp Knipschild, Tractatus politico-historico-juridicus de Juribus et Privilegiis Civitatum Imperialium [...], Straßburg 1740, S. 384. 93 Andre´ Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung 800–1800 (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 36), Stuttgart/New York 1991; vgl. zu den Anfa¨ngen dieser Tendenz in den Ko¨lner Quellen Schwerhoff, Ratsherrschaft (wie Anm. 51), S. 206ff. 94 Knipschild, Tractatus (wie Anm. 92), S. 510, dazu auch Mager, Genossenschaft (wie Anm. 90), S. 109f. 95 Vgl. Mager, Genossenschaft (wie Anm. 90), S. 110; Jooss, Schwo¨ren (wie Anm. 61), S. 154; allg. zu dieser Tendenz Holenstein, Die Huldigung der Untertanen (wie Anm. 93), S. 480ff.

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Die allma¨hliche Umdeutung des Sinngehalts der traditionellen Rituale war den Bu¨rgern vermutlich nicht verborgen geblieben – und du¨rfte kaum mit ihrer Selbstdeutung kompatibel gewesen sein. Darauf la¨sst jedenfalls die bis zum Ende der Reichsstadt virulent gebliebene Protestbereitschaft gegen das obrigkeitliche Gebaren des Rats schließen.96 Fu¨r das hier zur Debatte stehende Problem scheint mir wichtig, dass die u¨berkommenen Rituale aufgrund ihrer Aneignung durch die Ratseliten ¨ ffentlichkeit bzw. als immer weniger dazu geeignet waren, als Forum politischer O Form der symbolischen Partizipation am Politischen in der Stadt zu fungieren. Man sollte deswegen ihr Leerlaufen wa¨hrend des 18. Jahrhunderts nicht aus den Augen verlieren. Vielleicht waren die Rituale in der Spa¨tphase der reichssta¨dtischen Zeit eher ¨ ffentlichkeit angewiesen als die O ¨ ffentlichkeit auf diese Rituale auf O Wegen der diffusen Motive, auf denen Ritualo¨ffentlichkeit beruhte, ist es schließlich auch zumindest schwierig, darin eine Artikulationsform o¨ffentlicher Meinung in der Stadt zu sehen. Man wird wohl erst am Einzelfall herausfinden ko¨nnen, ob durch Partizipation tatsa¨chlich politischer Konsens oder durch Sto¨rungen Dissens ausgedru¨ckt werden sollte. Was wollten etwa die bei der Gottestracht von 1612 in Bauernkleidung mit Dreschflegeln erschienenen Bu¨rger zum Ausdruck bringen?97 Handelte es sich dabei um Herrschaftskritik oder wurden damit gaffelinterne Konflikte aufgegriffen? Vorsicht bei der Interpretation halte ich auch deswegen fu¨r geboten, weil ¨ ffentlichkeit – und sogar ritualisierte sta¨dtische O ¨ ffentlichkeit – gab, es sta¨dtische O die viel eher auf die Mitteilung o¨ffentlicher Meinung zugeschnitten war. Ich denke an Protestrituale, also etwa die notorische Zusammenrottung vor dem Rathaus und an anderen o¨ffentlichen Orten,98 und an Hinrichtungsrituale. Gerade in letztem Fall ¨ ffentversammelte sich die Bu¨rger- und Einwohnerschaft nicht als unspezifische O lichkeit, sondern als Gerichtsgemeinde, als Umstand, vor der Scha¨delsta¨tte.99 In dieser kollektiven Rolle beobachtete und bewertete sie das Geschehen.100 Es war wohl kein Zufall, dass Weinsberg am Beispiel der allgemein bejubelten Hinrichtung des kurko¨lnischen Kommissars Hieronimus Michiels im August 1587 – und nicht etwa

96 Vgl. dazu nur die U ¨ bersicht bei Thomas Lau, Bu¨rgerunruhen und Bu¨rgerprozesse in den Reichssta¨d-

ten Mu¨hlhausen und Schwa¨bisch Hall in der Fru¨hen Neuzeit, Bern u. a. 1999, S. 542–569. Lau betont allerdings vo¨llig zu Recht, dass in diesen Konflikten dem obrigkeitlichen Gestus nicht einfach mehr oder weniger republikanische Anspru¨che auf Seiten der Bu¨rgerschaft gegenu¨berstanden, vgl. ebd., 16f. Auch Weller, Theatrum Praecedentiae (wie Anm. 4), pass., hat gezeigt, dass die Sta¨dte durchzogen waren von sta¨ndischen Distinktionspraktiken und von einer korporativen Gleichheit der Bu¨rger keine Rede sein konnte. 97 Vgl. Klersch, Volkstum (wie Anm. 47), S. 184. 98 So demonstrierten etwa im Juli 1560 die Mitglieder des Ko¨lner Steinmetzamts gegen die Bescha¨ftigung auswa¨rtiger Steinmetze bei den Arbeiten an der Stadtmauer, indem sie sich drei Tage auf ihrem Gaffelhaus verbarrikadierten, vgl. BW II (wie Anm. 12), S. 110; vgl. ferner Wolfgang Keller, Geschrey, Tumult und Aufruhr. Zu den Protestaktionen der Ko¨lner Schlossergesellen im 18. Jahrhundert, in: JbKo¨lnGV 60 (1989), S. 97–223. 99 Vgl. dazu klassisch Richard van Du ¨ lmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der Fru¨hen Neuzeit, Mu¨nchen 1985, 145ff.; Ju¨rgen Martschukat, Inszeniertes To¨ten. Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, Ko¨ln/Weimar/Wien 2000. 100 Vgl. dazu Gestrich, Absolutismus (wie Anm. 28), S. 120ff.

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bei der Beschreibung von Prozessionen oder Huldigungen – die vormoderne Theorie der o¨ffentlichen Meinung zitierte, na¨mlich die antike Sentenz vox populi, vox dei: den alle menschn hassen, den hasst auch got, wie man sagt.101 Auch andere o¨ffentlich vollzogene Strafrituale gaben Anlass zur Formung o¨ffentlicher Meinung, auch wenn diese nicht immer so deutlich zum Ausdruck kam wie bei der Akklamation des Umstands bei Hinrichtungen. Am 28. April 1581, so notierte Weinsberg, habe ein arbeitzmann offentlich uff dem platz vor der gerade erst fertiggestellten Rathauslaube gekniet, wa¨hrend sich Bu¨rgermeister und Rat auf der Bru¨stung der Laube zeigten. In dieser Demutshaltung musste der Arbeiter dann einen (ihm von oben vorgesagten) Widerruf leisten.102 Widerrufen musste er seine in einem Andernacher Wirtshaus gea¨ußerte (und dann von einem Ko¨lner Bu¨rger denunzierte) Meinung, dass die Bu¨rgermeister alle schelmen und deif seien.103 Wie auch immer Weinsberg zur Legitimita¨t der Sanktionierung von Herrschaftskritik stand, die Form eines Deditionsrituals hielt er jedenfalls fu¨r unangebracht. Erstens sei ein solches Ritual fu¨r die Stadt Ko¨ln unu¨blich – tatsa¨chlich stammte es aus dem Formenschatz der Feudalgesellschaft.104 Und zweitens erachteten er und vil leut diese Sanktion fu¨r zu scharf. Somit fu¨hrte ein o¨ffentliches Strafritual wegen Kritik an der Obrigkeit zu einer kritischen o¨ffentlichen Meinung u¨ber dieselbe.

5.

¨ ffentlichkeit bei Festen und Kleinritualen Sta¨dtische O

¨ ffentlichkeit sta¨dtischer Feste Die O In der historischen Forschung ist es u¨blich, zwischen Ritual und Fest zu unterscheiden, was durchaus der begrifflichen Konturierung beider Pha¨nomene dient. Das Ritual gilt als eine distinkte Form politischer Kommunikation, wa¨hrend das Fest eher dem sta¨dtischen „Leben“ im allgemeinen Sinne zugerechnet und als weitgehend unpolitische Erscheinungsform gesehen wird.105 Tatsa¨chlich lassen sich, anders als

101 BW III (wie Anm. 12), S. 390); zum Hintergrund vgl. Gerd Schwerhoff, Ko¨ln im Kreuzverho¨r. Kri-

minalita¨t, Herrschaft und Gesellschaft in einer fru¨hneuzeitlichen Stadt, Bonn/Berlin 1991, S. 334f. Zur vormodernen „o¨ffentlichen Meinung“ vgl. Martin Bauer, Die „Gemain Sag“ im spa¨ten Mittelal¨ ffentlichkeit und seinem historischen Auskunftswert, ter. Studien zu einem Faktor mittelalterlicher O ¨ ffentliche Ra¨ume (wie Anm. 28), S. 130. Erlangen 1981; Schwerhoff, O 102 Zur Sanktion von Kritik an der Ko¨lner Obrigkeit vgl. Schwerhoff, Ko¨ln im Kreuzverho¨r (wie Anm. 101), S. 219ff. 103 BW III (wie Anm. 12), S. 89. 104 Vgl. Gerd Althoff, Das Privileg der deditio. Formen gu¨tlicher Konfliktbeilegung in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft, in: Ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Friede und Fehde, Darmstadt 1997, S. 99–125. 105 Die Konstanzer Schule hat bei der Rekonstruktion der fru¨hneuzeitlichen Stadt als Anwesenheitsgesellschaft das Fest jedenfalls weitgehend außer Acht gelassen; Rudolf Schlo¨gl betrachtet es jedenfalls nicht als Medium der Kommunikation unter Anwesenden, anders als Verfahren und Rituale.

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beim Ritual, bei einem Fest weniger pra¨zise Form, Vollzug und Teilnehmer benennen. Das (politische) Ritual weist zudem u¨ber sich hinaus, das Fest ist sich selbst genug.106 Allerdings besaßen auch Feste u¨blicherweise einen ritualisierten Ablauf,107 und ha¨ufig nahmen sie auch Bezug auf das Vokabular politischer Rituale. So wurde bei den Ko¨lner Schu¨tzenfesten und den sogenannten Holzfahrten im 16. Jahrhun¨ ber ihren sakralen Kern hindert die Symbolik des Adventus-Rituals adaptiert.108 U aus waren die großen Prozessionen (Gottestracht, Silvesterprozession) immer auch sta¨dtische Feste, und selbst die profanen Großrituale gingen in aller Regel mit Festlichkeiten einher, die ja erst ihre Attraktivita¨t fu¨r die Stadtbevo¨lkerung erkla¨ren. In der Forschung wurde der festliche Kontext sta¨dtischer Rituale indes nur selten zum Thema, und an dieser Stelle kann ich auch nur als Desiderat darauf verweisen. Allein schon aufgrund ihrer bloßen Ha¨ufigkeit halte ich es indes fu¨r sinnvoll, Feste als sta¨dtische Rituale im weiteren Sinne zu thematisieren109 – zumal sich dort vermutlich viel eher Gemeinschaft konstituierte als bei einem Großritual wie der Prozession. Und ¨ ffentlichkeit interdas ist dann auch fu¨r die Suche nach rituell her- und dargestellter O essant. Ich greife im Folgenden exemplarisch zwei Festrituale heraus, den sogenannten Peter-Vinkel-Tag und das sta¨dtische Schu¨tzenfest von 1581. Fu¨r Weinsberg war das am 1. August begangene Kirchenfest S. Petri Apostoli ad vincula – im Volksmund Peter-Vinkel-Tag – schon deshalb ein Ritual (gebrauch), weil es eben Jahr fu¨r Jahr an diesem Datum stattfand.110 Seit er sich erinnern ko¨nne, seien am Abend dieses Tages u¨berall in der Stadt Teertonnen entzu¨ndet worden, wa¨hrend die jungen Leute singend durch die Stadt liefen und um die Feuer tanzten. Die a¨lteren Ko¨lner saßen wa¨hrenddessen vor oder in den heuser(n), drinken und essen ein wenich.111 Anders als bei einem Großritual, bei dem das leibliche Wohl immer nur ein (bisweilen stark regulierter oder sogar unterbundener) Nebeneffekt war, standen Essen, Trinken und frolich sein im Mittelpunkt eines Fests. Man konnte beim Fest sozusagen gleich zum geselligen Teil u¨bergehen. Inklusion und Exklusion, Integration und Partizipation waren zudem nicht derart formal geregelt wie beim Ritual. Freilich gab es auch beim Fest (implizite) Regeln und soziale Schranken zu beachten. Doch wie beim Karneval wurden am Peter-Vinkel-Tag Normen kalkuliert u¨bertreten,112 denn das Abbrennen der Teertonnen war aus guten Gru¨nden in dieser hochsommerlichen Nacht verboten. Dennoch hielt sich die Obrigkeit mit Sanktionen

106 Michael Maurer, Prolegomena zu einer Theorie des Festes, in: Das Fest. Beitra¨ge zu seiner Theorie

und Systematik, hg. v. Michael Maurer, Ko¨ln/Weimar/Wien 2004, S. 38ff.

107 Ebd., S. 40. 108 Herborn, Feiertage (wie Anm. 38), S. 44; zum Adventus allgemein Gerrit J. Schenk, Zeremoniell

und Politik. Herrschereinzu¨ge im spa¨tmittelalterlichen Reich (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Bo¨hmer, Regesta Imperii 21), Ko¨ln/Weimar/Wien 2003. 109 In diesem breiten Bedeutungsspektrum hat Michael Maurer das Fest schon seit la¨ngerem gestellt, vgl. seine Beitra¨ge in: Das Fest (wie Anm. 106); vgl. ferner Thomas Zotz, Die Stadtgesellschaft und ihre Feste, in: Feste und Feiern im Mittelalter, hg. v. Detlef Altenburger/Jo¨rg Jarnut/Hans-Hugo Steinhoff, Sigmaringen 1991, S. 201–213 110 Dazu Herborn, Feiertage (wie Anm. 38), S. 52f. 111 BW III (wie Anm. 12), S. 46. 112 Vgl. zu dieser Funktion des Fests vgl. Maurer, Prolegomena (wie Anm. 106), S. 35.

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zuru¨ck. Erachtete man das Fest fu¨r den sta¨dtischen Zusammenhalt stillschweigend fu¨r so wichtig, dass man ein Auge zudru¨ckte? Als das Fest in den 1580er Jahren, wa¨hrend des Ko¨lner Kriegs, aus dem sta¨dtischen Leben zu verschwinden drohte, was dies dem Rat auch nicht recht. Ein Fest wie der Peter-Vinkel-Tag (der freilich auch im Ko¨lner Festkalender außergewo¨hnlich war) erlaubte jedenfalls weiten Kreisen der sta¨dtischen Bevo¨lkerung die tempora¨re Eroberung des sta¨dtischen Raums und damit die ¨ ffentlichkeit.113 Herstellung urbaner, wenn auch politisch diffuser O Nicht nur vergemeinschaftend, sondern geradezu Identita¨t stiftend wirkten wiederum kompetitive Rituale wie die Schu¨tzenfeste,114 die der Ko¨lner Rat von Zeit zu Zeit auf dem Neumarkt und vor der Severinspforte veranstaltete und wozu er Schu¨tzen aus anderen Reichssta¨dten einlud.115 Weinsberg beobachtete Ende Juli 1581 zufriedene Ko¨lner Zuschauer, die nicht nur deswegen frolich worden sin, weil es wieder einmal etwas zu essen und zu trinken gab, sondern auch, weil die Ko¨lner Armbrustschu¨tzen besser waren als die aus Frankfurt, Augsburg oder Straßburg.116 Auch der weitere Verlauf des Schu¨tzenfestes war durchaus aufschlussreich fu¨r die Herstel¨ ffentlichkeit im Rahmen eines Festes. Das Schielung und Darstellung politischer O ßen wurde in den darauf folgenden Tagen außerhalb der Stadtmauern, zwischen Severins- und Bayentor fortgesetzt.117 Dort wurden nicht nur Schießscheiben aufgestellt, sondern auch Buden zum Verkauf von Essen und Getra¨nken fu¨r die zahlreichen Schu¨tzen und Ga¨ste aus den anderen Sta¨dten. Nun war allerdings die territoriale Zugeho¨rigkeit dieses Gebiets ho¨chst umstritten. Es wurde sowohl von der Stadt als auch von Kurko¨ln beansprucht.118 Die Verlegung des Wettkampfs dorthin war deswegen eine drastische politische Provokation des Erzbischofs Gebhard Truchsess von Waldburg durch den Rat. Sie steigerte sich noch, als wegen des scho¨nen Wetters zahlreiche Ko¨lner, und zwar (wie Weinsberg notierte) rich und arm, frauen, man, geistliche, weltliche, jong, alt, auf dem Schießplatz spazieren gingen und den Schu¨tzen zuschauten, den Musikern zuho¨rten oder sich Bier und Wein kauften wie auf einem jarmarkt.119 Den meisten Festbesuchern du¨rfte die Brisanz dieses Ereignisses bekannt gewesen sein,120 und wer nichts davon wusste, dem sollte es in den darauf folgenden Tagen klar werden. Als eine kleine Truppe kurko¨lnischer Soldaten am Schießplatz auftauchte, um gegen die Grenzverletzung vorzugehen, ließ der Rat seine Version u¨ber territoriale Verha¨ltnisse und die 113 Zur O ¨ ffentlichkeit des Fests vgl. Maurer, Zur Systematik des Festes, in: Das Fest (wie Anm. 106),

S. 74ff.

114 Bereits im 15. Jahrhundert, vgl. Ennen, Geschichte der Stadt Ko¨ln (wie Anm. 83), Bd. 4, S. 914; allg.

dazu Thomas Schnitzler, Die Ko¨lner Schu¨tzenfeste des 15. und 16. Jahrhunderts. Zum Sportfest in ¨ ffentlichkeit (wie Anm. 15), vormoderner Zeit, in: JbKo¨lnGV 63 (1992), S. 127–142; Giel, Politische O S. 101–106. 115 Vgl. dazu Ennen, Geschichte der Stadt Ko¨ln (wie Anm. 83), Bd. 5, S. 41ff. 116 BW III (wie Anm. 12), S. 98. 117 Dazu schon Herborn, Feiertage (wie Anm. 38), S. 47. 118 Vgl. dazu Wimmar Breuer, Burgbann und Bannmeile von Ko¨ln, Bonn 1921. 119 BW III (wie Anm. 12), S. 102. 120 Der Rat hatte eine gedruckte Rechtfertigung seiner territorialen Hoheit und seines Vorgehens wa¨hrend des Schu¨tzenfests noch wa¨hrend des Spektakels an den Stadtoren und an anderen Orten in der Stadt anschlagen lassen und Exemplare davon auch den Gastschu¨tzen zukommen lassen, vgl. ebd.

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Zula¨ssigkeit des Wettkamps vor der Severinspforte drucken und in der Stadt sowie an die Ga¨ste verteilen.121 Die Kurko¨lner Soldaten gerieten schließlich unter Einfluss von Alkohol mit den Stadtko¨lnern blutig aneinander. Als die Turmwa¨chter daraufhin Sturm la¨uteten und sich in der Stadt das Geru¨cht ausbreitete, Kurko¨ln stu¨nde mit einer ganzen Armee vor den Toren, konnten in Windeseile u¨ber 2000 Bu¨rger mobilisiert werden, die dem Bu¨rgermeister Gerhard Pilgrum geharnischt zum Severinstor folgten. Von dort hatten sich indes schon alle Kombattanten entfernt. Doch die einmal formierte Bu¨rgerwehr ließ die Gelegenheit zum Schauspiel vor den vielen Zuschauern aus Ko¨ln und anderen Sta¨dte nicht verstreichen: Mit erhobenen Schlachtschwertern und Hellebarden, mit fliegenden Fahnen und empor gestreckten Feldzeichen machten sich Bu¨rgermeister, Ratsherren und Bu¨rger auf den Ru¨ckweg durch das Severinstor. Der Zug umrundete erst noch den Dom, bis er sich dann auf dem Heumarkt auflo¨ste. Dieses Ritual der symbolischen Inbesitznahme des sta¨dtischen Raums vor und hinter den Mauern war keineswegs von langer Hand geplant worden. Auch wenn dabei auf milita¨rische Ordnungsformen zuru¨ckgegriffen werden konnte, du¨rfte dieses Ereignis auch die Konsequenz eines bu¨rgerlichen Stadtpatriotismus gewesen sein, der sich besonders in Konflikten mit Kurko¨ln Bahn brach. ¨ ffentlichkeit sta¨dtischer Kleinrituale Die O ¨ berlegungen zu den rituellen und o¨ffentlichen Dimensionen sta¨dtiNach diesen U scher Feste blicke ich abschließend noch auf die Gastereien als Beispiele fu¨r Klein¨ ffentlichkeit. rituale und deren O Am 4. September 1582 feierte der bekannte Theologe und Domkanoniker Jakob Middendorp (1537–1611) seine Promotion zum Doktor der Rechte mit den damals u¨blichen Bra¨uchen.122 Dazu geho¨rte auch das Doktoressen, zu dem Hermann Weinsberg eingeladen war.123 Obwohl solche Doktoressen eine u¨beraus exklusive Gesellschaft darstellten und Weinsberg nach eigener Einscha¨tzung unbedingt dazu geho¨rte124, nahm er nicht daran teil. Er sei verdrossen gewesen u¨ber die wieder einmal pra¨chtiger und kostspieliger gewordenen Kleidungsstile. Da er allerdings in seinen schlichteren Kleidern nit sclechter angesehen werden [wollte] als minsglichen (d. i. der Stand der Licentiaten), blieb er dem Fest fern.125 Zwei Jahre spa¨ter, beim traditionellen Essen der wiedergewa¨hlten Bu¨rgermeister Caspar Kannengießer und Johann 121 BW III (wie Anm. 12), S. 102. 122 Vgl. dazu Marian Fu ¨ ssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an

der Universita¨t der Fru¨hen Neuzeit (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Darmstadt 2004, S. 151ff. 123 Zu den politisch-sozialen Geltungsanspru¨chen und Praktiken des Ratsherrn Weinsberg jetzt Alexandra Vullo, „... ich wurde zu Coln burgermeister werden ...“. Die Aufzeichnungen des Ko¨lner Ratsherren Hermann Weinsberg als Dokument einer Ratslaufbahn im 16. Jahrhundert, in: Hermann Weinsberg (1518–1597). Ko¨lner Bu¨rger und Ratsherr. Studien zu Leben und Werk (Geschichte in Ko¨ln – Beihefte. Beitra¨ge zur Stadt- und Regionalgeschichte 1), hg. v. Manfred Groten, Ko¨ln 2005, S. 115–230. 124 Ich war druff geladen und essentialis, BW V (wie Anm. 12), S. 215. 125 Ebd., S. 215. Zur Symbolik der Kleidung in der Stadt zuletzt Weller, Theatrum Praecedentiae (wie Anm. 4), S. 81–119; zu Weinsberg: Gerd Schwerhoff, „Die groisse oevers wenckliche costlicheyt

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Hardenrath 1584, legte Weinsberg seiner Entscheidung, auch dort nicht zu erscheinen, die gleiche Logik zugrunde: Da man bei solchen Anla¨ssen mit siden und kostlichen kleidern gefast, wie eitz der brauch ist, das sich die licentiaten den graven gemeis kleiden und tragen, blieb er dem Festmahl lieber fern, als unstandesgema¨ß in Erscheinung zu treten.126 Weinsberg selbst begru¨ndete seine Entscheidung mit Verweis auf sein Alter (er war fast Achtzig), in dem man solche Moden nicht mehr mitmachen mu¨sse, sowie mit Blick auf die so gesparten Geschenke, die bei solchen Gastma¨hlern immer u¨blich waren. Doch man sollte bei dieser Rhetorik der bu¨rgerlichen Rationalita¨t hellho¨rig werden. Denn Weinsberg fehlte beim Doktor- und Bu¨rgermeisteressen im Kreise der feinen Gesellschaft nicht deswegen, weil er diese Feste fu¨r unwichtig und den Kleiderluxus fu¨r Mummenschanz hielt. Das Gegenteil war der Fall. Gerade weil er Anlass und Erscheinungsbild fu¨r bedeutsam hielt, ging er nicht hin: so mogt ich auch nit vil sclegter komen dan andern, als wult ich mich absondern.127 Gerd Schwerhoff hat bereits auf die Bedeutung von Gastereien wie Doktor- und Bu¨rgermeisteressen als Formen des rituellen Lebens im fru¨hneuzeitlichen Ko¨ln hingewiesen.128 Aus Weinsbergs Aufzeichnungen lassen sich in der Tat eine bemerkenswerte Fu¨lle von Anla¨ssen fu¨r Gastereien ausmachen, die allein schon durch ihre Frequenz „fundamental zur Vernetzung der sta¨dtischen Gesellschaft“ beitrugen.129 Seit den fru¨hen 1550er Jahren stand Weinsberg auf der Ga¨steliste der zweimal ja¨hrlich stattfindenden Bu¨rgermeisteressen, ebenso periodisch war er zu Gaffel- und Zunftessen, Amtmannessen, Bannerherrenessen130, Ratsherrenessen, Scho¨ffenessen, Gewaltrichteressen131, Kirchmeisteressen und Bruderschaftsessen eingeladen132. Allein schon mit diesen Gastereien du¨rfte Weinsberg, der zum mittleren politisch-sozialen Establishment geho¨rte133, mehrmals im Jahr in der gemein geselschaft gewesen sein,134 Absagen waren die Ausnahme. Aber das war noch la¨ngst nicht

zo messigen“. Bu¨rgerliche Einheit und sta¨ndische Differenzierung in Ko¨lner Aufwandsordnungen (14.–17. Jahrhundert), in: RhVjbll 54 (1990), S. 95–122, hier S. 117ff. 126 BW V (wie Anm. 12), S. 238. 127 Ebd., S. 239. 128 Schwerhoff, Bu¨rgerliche Einheit (wie Anm. 125), S. 118; Ders., Handlungswissen und Wissensra¨ume in der Stadt. Das Beispiel des Ko¨lner Ratsherrn Hermann von Weinsberg (1518–1597), in: Tradieren – Vermitteln – Anwenden. Zum Umgang mit Wissensbesta¨nden in spa¨tmittelalterlichen und fru¨hneuzeitlichen Sta¨dten, hg. v. Jo¨rg Rogge, Berlin 2008, S. 6–102, hier S. 88ff.; allg. dazu schon Gerhard Fouquet, Das Festmahl in den oberdeutschen Sta¨dten des Spa¨tmittelalters. Zu Form, Funktion und Bedeutung des o¨ffentlichen Konsums, in: AKG 74 (1992), S. 83–123. 129 Schwerhoff, Handlungswissen (wie Anm. 128), S. 88; zur U ¨ bersicht vgl. Herborn, Feiertage (wie Anm. 38), Ju¨tte, Feier- und Arbeitstage (wie Anm. 38). 130 Vgl. dazu die Beschreibung bei Friedrich von Mering/Ludwig Reischert, Zur Geschichte der Stadt Ko¨ln am Rhein. Von ihrer Gru¨ndung bis zur Gegenwart, Bd. 2, Ko¨ln 1838, S. 219. 131 Vgl. dazu Schwerhoff, Bu¨rgerliche Einheit (wie Anm. 125), S. 118. 132 Vgl. Rebecca von Mallinckrodt, Struktur und kollektiver Eigensinn Ko¨lner Laienbruderschaften im Zeitalter der Konfessionalisierung (VMPI 209), Go¨ttingen 2005, S. 334ff. 133 Dazu Vullo, „... ich wurde zu Coln burgermeister werden ...“ (wie Anm. 123), S. 171ff. 134 So Weinsbergs Sammelbegriff fu¨r die Teilnehmer an einer Gasterei (hier das Gaffelessen des Dr. Martin Krudener 1591), BW V (wie Anm. 12), S. 357.

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alles: Weinsberg war regelma¨ßig Gast bei den Kirchweih- bzw. Patronatsfesten (Kirmes) von vierzehn Ko¨lner Ma¨nnerklo¨stern, zehn Frauenklo¨stern, den Stiften Severin, Georg, Andreas, Kunibert, Gereon, Aposteln, im Dom sowie in seiner Pfarrei St. Jakob.135 Dazu kamen Essen bei den verschiedenen Bitt- und Pfarrprozessionen, inklusive der Großen Gottestracht.136 Neben diesen eher formellen, an eine Institution gebundenen Gastereien veranstaltete und besuchte Weinsberg Essen mit Verwandten, Bekannten, Freunden und Klienten137, die man trotz ihres informellen Charakters nicht einfach privat nennen kann. Auch beim sogenannten Kra¨nzchen, bei Kindstaufessen und Leichenschmaus (der im Todesfall von Ratsherren und Bu¨rgermeistern ohnehin einen offiziellen Charakter hatte) wurden soziale Beziehungen hergestellt und gepflegt, Verwandtschaftsverha¨ltnisse nicht nur abgebildet, sondern reproduziert.138 Dabei gingen die Essen immer einher mit einem umfangreichen Ressourcentransfer in Form von ritualisierten Geschenken.139 Dies als Klu¨ngel zu bezeichnen ist sicher anachronistisch,140 auch wenn bei all diesen Gastereien politische Allianzen gebildet und Mehrheiten fu¨r Ratsentscheidungen vorgeformt werden konnten.141 Mir geht es bei den Gastereien in diesem Beitrag allerdings weniger um den dort gepflegten demonstrativen Konsum und um die Praktiken der Netzwerkbildung, als vielmehr um den o¨ffentlichen Charakter dieser Rituale. Allein schon durch ihre Ha¨ufigkeit – fast mo¨chte man sagen: Allta¨glichkeit – trugen Kleinrituale mindestens ebenso zur Reproduktion der alt-sta¨dtischen Gesellschaft bei wie die Großrituale. Als Form der Vergesellschaftung unter Anwesenden du¨rften Gastereien sogar wichtiger gewesen sein als Prozessionen oder Fu¨rstenbesuche.142 Wenn man nun einwendet, dass solche Kleinrituale nur einen geringen Teil der Ko¨lner integrierten, eben die politisch-sozialen und klerikalen Eliten, dann muss man daran erinnern, dass diese Exklusivita¨t auch den Großritualen zueigen war. Denn wie oben gezeigt, waren Großri135 Ebd., S. 223; dazu Herborn, Feiertage (wie Anm. 38), S. 50f. 136 Dazu Klersch, Volkstum (wie Anm. 47), S. 181. 137 Im Sinne von Simon Teuscher, Bekannte – Klienten – Verwandte. Soziabilita¨t und Politik in der Stadt

Bern um 1500 (Norm und Struktur, Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Fru¨her Neuzeit 8), Ko¨ln/Weimar/Wien 1998. 138 Vgl. zu den Weinsbergschen Verwandtschaftskonzeptionen im Besonderen und in Ko¨ln allgemein Kerstin Seidel, Freunde und Verwandte. Soziale Beziehungen in einer spa¨tmittelalterlichen Stadt, Frankfurt am Main/New York 2009, hier S. 176ff. 139 So waren etwa den Bu¨rgermeistern bei ihren Essen Kapaune, Fasane, Schwa¨ne und Hasen zu schenken – und diese Geschenke konnte nicht einfach durch andere Viktualien oder Gegensta¨nde ersetzt werden. Als 1585 wegen der Kriegshandlungen eben dieses ‚richtige‘ Wildbret nicht zu bekommen war, erwog der Rat, die Bu¨rgermeisteressen bis auf weiteres abzusagen, vgl. BW III (wie Anm. 12), S. 279; dazu allg. Valentin Groebner, Gefa¨hrliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im spa¨ten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit, Konstanz 1998. 140 Wie etwa Josef Stein im Index zu BW V (wie Anm. 12). 141 So lud Bu¨rgermeister Brun Angelmecher am 13. April 1572 neben Weinsberg noch einige andere Ratsherren zu einer Gasterei in sein Haus, um das umstrittene Thema der Pfandverschreibungen zu beraten. Angelmecher ermunterte seine Ga¨ste dazu eim rait davon relation doin und die sach helfen befordern, BW II (wie Anm. 12), S. 230. 142 Vgl. dazu allg. Gerd Althoff, Der frieden-, bu¨ndnis- und gemeinschaftstiftende Charakter des Mahles im fru¨heren Mittelalter, in: Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit, hg. v. Irmgard Bitsch/Trude Ehlert/Xenja von Ertzdorff, Sigmaringen 1987, S. 13–25.

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tuale kein Beitrag zu gesamtsta¨dtischer Gemeinschaftsbildung, sondern Formen zur Repra¨sentation der politisch-sozialen Geltungsanspru¨che von wenigen. ¨ ffentlichkeit betrachtet werden, dann Wenn Gastereien als Formen sta¨dtischer O kann man dabei an Erving Goffman ebenso anschließen wie an Norbert Elias. Elias hat gezeigt, wie die ho¨fische Gesellschaft im abgeschlossenen Kosmos ihrer Schlo¨s¨ ffentlichkeit konstituierte.143 Dieses Konzept wurde spa¨ter von ser fu¨reinander O Aloys Winterling und Barbara Stollberg-Rilinger auf die u¨berterritorialen Verha¨ltnisse u¨bertragen: Fu¨rstliche und monarchische Rituale und Zeremonien waren nicht an die Untertanen adressiert, sondern an die Standesgenossen an den europa¨ischen ¨ ffentlichkeit Ho¨fen.144 Die ho¨fischen Rituale erzeugten eine spezifisch ho¨fische O ¨ ffentlichkeit fu¨r alle. und keine O ¨ ffentlichkeit sehe ich auch mit den Eine strukturell a¨hnliche, sozial segregierte O Gastereien gegeben. Wenn Weinsberg dort zu Gast war und wenn er selbst als Gastgeber auftrat, dann befand er sich in einer fu¨r ihn und seine soziale Gruppe rele¨ ffentlichkeit, die er an einer Stelle treffend die gemein geselschaft145 nannte: vanten O Obwohl bei diesen Gastereien je nach Anlass Bu¨rgermeister, Ratssekreta¨re, Ratsher¨ bte, Kanoniker, Pfarrer, auswa¨rtige Adlige oder auch Weinsbergs Freunde und ren, A Verwandte zu Gast waren (vielleicht bis zu 50 Personen), die Gesellschaft also eher exklusiv und nicht gemein war, handelte es sich doch um jene Figuration, die Akteure wie Weinsberg fu¨r gesellschaftlich umfassend hielten. Die Ra¨ume dieser speziellen ¨ ffentlichkeit waren deswegen auch flexibel: Zwar fanden Bu¨rgermeisteressen ha¨uO fig auf dem Gu¨rzenich oder in den repra¨sentativen Ha¨usern der Bu¨rgermeisterfamilien im sta¨dtischen Zentrum statt. Aber es war ebenso mo¨glich, in einem der kleinen Ha¨uschen in den Weinga¨rten bei St. Pantaleon, die bei den Bu¨rgermeisterfamilien Ende des 16. Jahrhundert in Mode waren, zu feiern.146 Es ging nicht darum, die Exklusivita¨t des Mahls vor einem unspezifischen sta¨dtischen Publikum zu demonstrieren, sondern nur innerhalb des ohnehin schon dazu geladenen Kreises an Per¨ ffentlichkeit der Kleinrituale erfu¨llte dabei verschiedene Funktionen: sonen. Die O Sie diente der Zurschaustellung und Besta¨tigung von Rang, Prestige und Ehre,147 sie

143 Ich halte es nach den intensiven geschichtswissenschaftlichen Diskussionen um Norbert Elias fu¨r

sinnvoll, seine Verdienste und Pionierleistungen nicht aus den Augen zu verlieren. Eine post-kulturalistische Revision seiner Soziologie wa¨re geboten. 144 So auch Ute Daniel, U ¨ berlegungen zum ho¨fischen Fest in der Barockzeit, in: NdsJb 72 (2000), S. 45–66. 145 So Weinsbergs Sammelbegriff fu¨r die Teilnehmer an einer Gasterei (hier das Gaffelessen des Dr. Martin Krudener 1591), BW V (wie Anm. 12), S. 357. 146 Zur schwierigen Abgrenzung zwischen privat und o¨ffentlich in den vormodernen Ha¨usern vgl. Schwerhoff, Handlungswissen (wie Anm. 128), S. 72, sowie Joachim Eibach, Das Haus: zwischen o¨ffentlicher Zuga¨nglichkeit und geschu¨tzter Privatheit (16.–18. Jahrhundert), in: Zwischen Gotteshaus und Taverne (wie Anm. 28), S. 183–205. 147 Vgl. zu Weinsberg in diesem Kontext Vullo, „... ich wurde zu Coln burgermeister werden ...“ (wie ¨ hnlichkeiAnm. 123), S. 184ff. In diesem Sinne wiesen die Gastereien, ob formelle oder informelle, A ten mit den Praktiken der sta¨dtischen Geschlechtergesellschaften auf, vgl. allg. Rogge, Geschlechtergesellschaften (wie Anm. 4), S. 99–127, sowie die Beitra¨ge von Christoph Heiermann, Stephan Selzer, Katharina Simon-Murscheid und Sonja Du¨nnbeil in dem Band; ferner Stefanie Ru¨ther, Soziale Distinktion und sta¨dtischer Konsens. Repra¨sentationsformen bu¨rgerlicher Herrschaft in Lu¨beck, in:

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war eine Gelegenheit zur Prachtentfaltung148 und zur Ausu¨bung distinguierender Oberschichteninteraktion.149 Eine Kabinettscheibe aus dem Haus der Metzgerzunft in Reutlingen aus dem Jahr 1586 gewa¨hrt einen der seltenen bildlichen Eindru¨cke von einem solche Mahl, wie es sich vergleichbar auch in Ko¨ln gestaltet haben du¨rfte. Auch wenn es bei den Gastereien (wie auch auf dem Bild zu sehen ist) durchaus lustich und frolich150 zuging, mit viel Wein, Bier und u¨ppigen Speisenfolgen, so handelte es sich doch keineswegs um ein ungezwungenes Beisammensein. Alle Beteiligten hatten eine Reihe von ungeschriebenen und sich wandelnden Verhaltensregeln zu beachten, die man beherrschen musste, wenn man seine Ehre nicht aufs Spiel setzen wollte.151 Freilich ging es bei den Gastereien stets um Netzwerke, Patronage und die Reproduktion informeller politisch-sozialer Strukturen.152 Aber daru¨ber hinaus wurde bei diesen Anla¨ssen immer auch u¨ber aktuelle politische Fragen gesprochen.153 Beim traditionellen Essen nach der Pfarrprozession von St. Jakob am 24. Juni 1565 z. B. tranken Weinsberg, der Pastor und die anderen Kirchmeister der Pfarrei einiges an Wein, diskutierten aber auch energisch u¨ber die 57 Wiederta¨ufer um Matthias von Servaes, die gerade erst vom Rat verhaftet worden waren. Beim Mahl anla¨sslich des Kirchweihfests der Ratskapelle sprachen Ratsherren und Ratssekreta¨re u¨ber die bedrohliche Zuspitzung der Lage in den Niederlanden und einer mo¨glichen Einmischung Frankreichs.154 Auf der Karmeliter-Kirmes 1580 speiste Weinsberg mit einem Abt aus Ju¨lich-Kleve, der von den Angriffen der Geusen auf sein Kloster berich¨ ffentlichkeit dort loziert, wo Meinungstete.155 Wenn man mit Gerd Schwerhoff O 156 bildungsprozesse stattfanden, dann kann man die Kleinrituale dazuza¨hlen. Allerdings waren die rituellen Gastereien keine fru¨he Variante bu¨rgerlicher ¨ ffentlichkeit im Sinne von Habermas. Ein Gaffelhaus war kein Salon und der Gu¨rO Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repra¨sentation in der sta¨ndischen Gesellschaft (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des SFB 496, Bd. 8), hg. v. Marian Fu¨ssel/Thomas Weller, Mu¨nster 2005, S. 103–135. 148 Etwa bei Weinsbergs eigenem Bannerherrenessen (BW II [wie Anm. 12], S. 221ff.) oder den Bu¨rgermeisteressen. 149 Vgl. etwa BW IV (wie Anm. 12), S. 82ff., wo Weinsberg die Tischsitten bei einem Amtsessen 1589 schildert, vgl. dazu auch Mathias Ka¨lble, Die „Zivilisierung“ des Verhaltens. Zum Funktionswandel patrizischer Gesellschaften in Spa¨tmittelalter und fru¨her Neuzeit, in: Geschlechtergesellschaften (wie Anm. 4), S. 31–55. 150 Etwa BW V (wie Anm. 12), S. 395. 151 Zu diesen Interaktionsregeln beim Mahl jetzt Gerd Schwerhoff, Das Gelage. Institutionelle Ordnungsarrangements und Machtka¨mpfe im fru¨hneuzeitlichen Wirtshaus, in: Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, hg. v. Gert Melville, Ko¨ln/Weimar/Wien 2005, S. 159–176. 152 Dazu Vullo, „... ich wurde zu Coln burgermeister werden ...“ (wie Anm. 123), S. 197ff. und 213ff. 153 Dazu schon Herborn, Feiertage (wie Anm. 38), S. 51f. Eine vergleichbare Funktionsvielfalt dokumentiert auch Stephan Selzer, Trinkstuben als Orte der Kommunikation. Das Beispiel der Artusho¨fe im Preußenland (ca. 1350–1550), in: Geschlechtergesellschaften (wie Anm. 4), S. 73–98; ferner Susanne Rau, Orte der Gastlichkeit – Orte der Kommunikation. Aspekte der Raumkonstitution von Herbergen in einer fru¨hneuzeitlichen Stadt, in: Zeitspru¨nge. Forschungen zur Fru¨hen Neuzeit 9 (2005), S. 394–417. 154 BW III (wie Anm. 12), S. 17. 155 Ebd., S. 61. 156 Schwerhoff, O ¨ ffentliche Ra¨ume (wie Anm. 28), S. 117.

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zenich kein Kaffeehaus. Kommunikation u¨ber politische Ereignisse bei einem Bu¨rgermeisteressen war kein o¨ffentliches Ra¨sonnement, und auch die Dichte der Gastereien fu¨hrte nicht zu einer „permanente(n) Diskussion unter Privatleuten“, die fu¨r Habermas eine der tragenden Institutionen wa¨hrend des Strukturwandels der

Abb. 3: Zunftscheibe der Reutlinger Metzger. Glasmalerei von Endris Dittwerdt, 1586 Quelle: Heimatmuseum Reutlingen, Inv.-Nr. 806

¨ ffentlichkeit darstellte.157 Dazu fehlten schon die entsprechenden Druckmedien, O ¨ ffentlichkeit – Permadie diesem Diskussionszusammenhang – und damit eben O ¨ ffentlichkeit ermo¨glichnenz verliehen.158 Die Kleinrituale und ihre spezifische O ten neben der Repra¨sentation allerdings auch die Partizipation von Ratsherren aus der zweiten Reihe oder von Gaffelgenossen, die es nicht in den Rat geschafft hatten. Und das du¨rfte fu¨r diese Personen mit gro¨ßerer perso¨nlicher Befriedigung verbunden gewesen sein als das unbeliebte Mitmarschieren bei den Großritualen. Freilich wies

157 Habermas, Strukturwandel (wie Anm. 49), S. 47. 158 Ebd., S. 54.

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¨ ffentlichkeit nicht u¨ber die traditionellen Strukturen der sta¨dtischen Geselldiese O schaft hinaus.159 Das „Zeremoniell der Ra¨nge“ dominierte gegenu¨ber dem „Takt der Ebenbu¨rtigkeit“160, und eben gerade der Zurschaustellung von Rang und Distinktion boten die Gastereien ein Forum. Uns fehlt zwar ein Weinsberg fu¨r das 17. und 18. Jahrhundert, der u¨ber die spa¨teren Formen und Funktionen der Kleinrituale Auskunft geben ko¨nnte, aber ich vermute, dass sich daran nichts Grundlegendes a¨nderte. Auch wenn Kleinrituale der wechselseitigen Versta¨ndigung u¨ber aktuelle politische Fragen dienten, so avancierte daraus doch keine bu¨rgerliche Gegeno¨ffentlichkeit, die der Obrigkeit gefa¨hrlich werden konnte. Diese konstituierte sich stets thematisch gebunden und okkasionell auftretend in Protesthandlungen bei den Konflikten 1513, 1610, 1680 und 1779ff.161 Kurzum, ob Groß- oder Kleinrituale: In beiden Fa¨llen handelte es sich um Medien zur Reproduktion und Verfestigung sta¨ndischer Gesellschafts- und Umgangsformen, die in der Alten Stadt im Laufe der Fru¨hneuzeit eher noch an Bedeutung gewannen, wa¨hrend diese in der fu¨rstenstaatlichen Gesellschaft lo¨chriger wurden. Gerade in ihren Ritualen erwies sich die Alte Stadt als eine politisch-soziale Formation, in der die Strukturen der sta¨ndischen Gesellschaftsordnung besonders stabil blieben.162 Dazu kam, dass sich die reichssta¨dtischen Akteure zwar im Laufe des 18. Jahrhunderts die zeremoniellen Handlungsweisen der ho¨fischen Welt mit großem Perfektionismus angeeignet hatten, ohne aber zu bemerken, dass damit nicht die Fragen der Zeit (also etwa soziale und wirtschaftliche Probleme) zu lo¨sen waren.163 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass die Rituale der Alten Stadt in Deutschland auch nicht in vergleichbarer Weise wie etwa in London allma¨hlich zum unpolitischen Spektakel und zur Form von Geselligkeit wurden.164 In London war spa¨testens nach 1700 aus der Prozession des Bu¨rgermeisters zur Vereidigung in Westminster (Lord Mayor’s Show) ein Volksvergnu¨gen geworden, wa¨hrend sich aus den rituellen Zusammenku¨nften der Zu¨nfte allma¨hlich Clubs formierten.165 Dieser Bedeutungswandel der Rituale wurde mo¨glich, weil Bu¨rgermeister, Rat und Zu¨nfte der alten City of London allma¨hlich ihre herrschaftlichen Funktionen an die Krone verloren und

159 Dass es im deutschsprachigen Raum auch anders gehen konnte, zeigen am Beispiel von Zu¨rich, immer-

hin einer ehemaligen Reichsstadt, Michael Kempe/Thomas Maissen, Die Collegia der Insulaner, Vertraulichen und Wohlgesinnten in Zu¨rich 1679–1709, Zu¨rich 2002. 160 So Habermas, Strukturwandel (wie Anm. 49), S. 47, unter Ru¨ckgriff einer Formulierung von Helmuth Plessner. 161 Schwerhoff, O ¨ ffentliche Ra¨ume (wie Anm. 28), S. 126ff. 162 Dazu schon dezidiert Volker Press, Die Reichsstadt in der altsta¨ndischen Gesellschaft, in: Neue Studien zur fru¨hneuzeitlichen Reichsgeschichte (ZHF, Beiheft 3), hg. v. Johannes Kunisch, Berlin 1987, S. 9–42. 163 Niklas Luhmann, Interaktion in Oberschichten: Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert, in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1998, S. 72–161, spricht in diesem Zusammenhang von Involution (S. 86). 164 Allg. dazu jetzt Sweet, Civic and Political Ritual (wie Anm. 6), S. 37–54. 165 Und zwar nicht allein in London, vgl. Peter Borsay, „All the Town’s a Stage“: Urban Ritual and Ceremony 1660–1800, in: The Transformation of English Provincial Towns, 1600–1800, hg. v. Peter Clark, London 1984, S. 228–258.

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zunehmend als Vertreter einer Vereinigung von Handwerkern, Kaufleuten und Bankiers in Erscheinung traten.166 Die Symbolik der Londoner Stadtrituale besaß schon seit dem fru¨hen 17. Jahrhundert dezidiert o¨konomische Motive.167 Diese Flexibilita¨t kennzeichnete nicht nur die Londoner Rituale. In Coventry wurde etwa 1678 ein neuer sta¨dtischer Umgang erfunden, und zwar als eine Art Konjunkturprogramm fu¨r das lokale Gewerbe.168 In der Alten Stadt hingegen bestand der offizielle Auftrag der Rituale auch noch im 18. Jahrhundert darin, die Stadtgesellschaft und ihre politisch-soziale Ordnung zu visualisieren und zu reproduzieren. Prozessionen, Fu¨rstenempfa¨nge, Bu¨rgermeister- und Gaffelessen mussten deswegen von den Beteiligten mit demonstrativem Ernst durchgefu¨hrt werden, den Außenstehende zunehmend als bizarr empfanden.169 Man sollte natu¨rlich nicht den notorischen Reichssta¨dte-Verriss der Schriftsteller von Wieland bis Forster reproduzieren. Aber es handelte sich bei ihrer Kritik an den reichssta¨dtischen Lebensformen im spa¨ten 18. Jahrhundert auch nicht nur um Topoi, sondern um die Reflexion von Beobachtungen, die sie in verschiedenen europa¨ischen Sta¨dten gemacht hatten und die ihnen den Ko¨lner Fall als besonders erscheinen ließ. So schilderte etwa Joseph Gregor Lang (1750–1834) in den 1780er Jahren einerseits fasziniert das o¨ffentliche Auftreten der Bu¨rgermeister in der traditionellen Form: Der regierende Bu¨rgermeister erscheint allzeit bei o¨ffentlichen Amtsverrichtungen in einer Tracht, halb schwarz und halb Purpurfarbe, nach spanischem Schnitte. Gehet er aus, so hat er seinen Liktor bei sich, der ihm feierlich, wie bei den Ro¨mern, die Faszes und den Regimentsstab, auf welchem sein und seines Amtsgenossen Wappen geschnitzt zu sehen ist, vortra¨gt. Will man diese Herren in ihrem vollen Glanze sehen, so weiß ich keinen besseren Tag dazu als den an welchem die sogenannte Gottestracht gehalten wird (...). Alles erscheinet da in seiner Amtskleidung in voller Pracht und Wu¨rde.170 Andererseits hielt es dies alles aber fu¨r eine Allfanzerei zum Ruhme edler Denkungsart eines weisen Magistrats, die dringend abgeschafft werden sollte.171 Den Kleinritualen attestierte er wiederum eine steife, beleidigende, alle angenehme und unterhaltende Gesellschaft to¨dtende Etiquette.172 Das rituelle Leben in der Reichsstadt des spa¨ten 18. Jahrhunderts wies nach meiner Einscha¨tzung ein a¨hnliches Paradox auf, das Barbara Stollberg-Rilinger fu¨r

166 Grundlegend dazu Andreas Fahrmeier, Ehrbare Spekulanten. Stadtverfassung, Wirtschaft und Poli-

tik in der City of London (1688–1900), Mu¨nchen 2003. 167 Sergei Lobanov-Rostovsky, The Triumphes of Golde: Economic Authority in the Jacobean Lord

Mayor’s Show, in: English Literary History 60 (1993), S. 879–898. 168 Sweet, Civic Ritual (wie Anm. 6), S. 39. 169 Vgl. Krischer, Reichssta¨dte (wie Anm. 22), S. 326. 170 Zit. aus Josef Bayer, Ko¨ln um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts (1770–1830). Geschildert von

Zeitgenossen, Ko¨ln 1912, S. 56.

171 Ebd., S. 57. 172 Ebd., S. 55.

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die Symbolsprache des Alten Reichs insgesamt herausgestellt hat: Man fand all die Rituale und Zeremonien einerseits selbst merkwu¨rdig und la¨stig, glaubte aber andererseits, nicht darauf verzichten zu ko¨nnen, ohne die politisch-soziale Ordnung selbst ¨ bergang vom Alten zum Neuen zum Einsturz zu bringen.173 Wie leicht sich der U doch letztlich gestalten konnte, das zeigten Reich und Reichsstadtbu¨rgern die franzo¨sischen Revolutionstruppen, die zwar bald darauf ihre eigenen Rituale einfu¨hrten. Sie entlasteten die Ko¨lner aber davon, ihre althergebrachten Staatssolennita¨ten weiterhin mit dem gleichen Ernst zu pflegen wie unter der alten Ordnung. Diese konnten ihr zeremonielles Handlungswissen nun vielmehr dazu nutzen, bis 1823 daraus die Rituale des Ko¨lschen Karnevals zu formen.

6.

Zusammenfassung

Ich habe in diesem Beitrag versucht, einige Schlaglichter auf das Verha¨ltnis von Ritua¨ ffentlichkeit in der Alten Stadt zu werfen. Ich fassen meine U ¨ berlegungen len und O in neun Thesen zusammen: ¨ ffent1. Rituale waren ein zentrales Medium zur Herstellung und Darstellung von O lichkeit in jener vormodernen urbanen Face-to-Face Gesellschaft, die hier als Alte Stadt bezeichnet wurde. ¨ ffentlichkeit (Repra¨sentation, Partizipation, Ra¨son2. Welche Dimensionen von O nement, Kritik) bei einem Ritual im Vordergrund standen, la¨sst sich nur anhand eines konkreten Fallbeispiels eruieren. Es gab nicht das Partizipationsritual schlechthin. 3. Im Fall der Großrituale (Prozessionen, Schwo¨rtage etc.) wurde dem Akt gewo¨hnlich hegemoniale Geltung im sta¨dtischen Raum verschafft. Man kann beim Groߨ ffentlichkeit ritual geradezu von einer Indifferenz von Stadtgesellschaft und O sprechen. 4. Als soziale Systeme erzeugten Rituale spezifische Rollen, die die Stadtgesellschaft grundsa¨tzlich in Akteure und (passives) Publikum unterteilten. 5. Die Motive des Publikums, ihre Rolle beim Ritual zu erfu¨llen, fu¨r repra¨senta¨ ffentlichkeit zu sorgen, lassen sich nicht allein mit der Kategorie der Vertive O gemeinschaftung erkla¨ren. Zuschauer wurden nachweisbar nicht nur durch „subjektiv gefu¨hlte Zugeho¨rigkeit“ angelockt, sondern durch die festlichen, sozusagen feucht-fro¨hlichen Seiten eines Rituals. Auch die Mitwirkung der Akteure selbst beruhte auf verschiedenen Gru¨nden. Man kann also nicht einfach pauschal davon ausgehen, dass ein Großritual gemeinschaftstiftend wirkte, nur weil so viele daran mitwirkten und zuschauten.

173 Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache

des Alten Reiches, Mu¨nchen 2008, hier S. 274ff. und 299–318.

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6. Die sta¨dtischen Rituale unterlagen zwischen dem Spa¨tmittelalter und dem Ende der alt-sta¨dtischen Zeit um 1800 einem Wandel von der Konstitution zur Repra¨sentation der Stadtgesellschaft. Davon profitierten in erster Linie die politischsozialen Eliten. 7. Auch sta¨dtische Feste lassen sich als Rituale thematisieren. Festrituale ero¨ffnen ¨ ffentden Blick auf sta¨ndeu¨bergreifende Partizipation und damit auf sta¨dtische O lichkeit, die im Vergleich mit den Großritualen womo¨glich sogar umfassender war. Auch wenn Festrituale politisch diffuser waren als etwa eine Huldigung (die aber auch immer ein Fest war), konnte damit unter Umsta¨nden doch Politik gemacht werden. ¨ ffentlich8. Kleinrituale wie Doktor-, Bu¨rgermeister- oder Gaffelessen erzeugten O keit als eine soziale Figuration, die nicht an einen bestimmten Ort gebunden war. ¨ ffentlichkeit, die fu¨r verschiedene Zwecke Die Beteiligten waren fu¨reinander O genutzt wurde: zur Inszenierung des sozialen Status ebenso wie zur Kommunikation u¨ber Politisches. ¨ ffentlichkeit stellten Kleinrituale deswegen allerdings 9. Vorformen bu¨rgerlicher O nicht dar. Vielmehr tendierte das rituelle Leben in der Alten Stadt dazu, altsta¨ndische Ordnungsmuster zu verfestigen. Ra¨sonierende, herrschaftskritische oder gar ¨ ffentlichkeit nutzte andere Medien als die des alt-sta¨dtischen emanzipatorische O Rituals.

¨ FFENTLICHEN KONSTELLATIONEN DES O ¨ DTISCHER RAUM UND STA Pietismus, Studentenkultur und Disziplinarpolitik um 1700 von Holger Zaunsto¨ck

¨ berlegungen ist die Frage, auf welche Weise sich Ausgangspunkt fu¨r die folgenden U ¨ ffentlichen der Lebensraum Stadt einerseits sowie Mechanismen und Foren des O andererseits in Bezug auf ein gesellschaftliche, mediale und lebensweltliche Vera¨nderungen anstrebendes Wirkungsfeld bedingen. Dabei geht es nicht um Verifizierun¨ ffentlichkeits-Konzepts. Stattdessen soll ausgehend von gen des Habermasschen O der Konstellationsforschung ein anders gelagerter Zugang skizziert, erprobt werden. Martin Mulsow entwirft in einem grundlegenden Text historische Konstellationsforschung als „eine Beschreibung von intellektuellen Interaktionen“ auf der „Mikroebene“, die „als Sequenzen von lokalen Situationen, Opportunita¨tsstrukturen und Aufmerksamkeitsmustern aufgefasst werden“.1 Die damit zu erfassenden konkreten Konstellationen ermo¨glichen „neue Lo¨sungen, neue Haltungen gegenu¨ber Personen und Ideen, in ihnen werden intellektuelle Erfahrungen gemacht“. Diese „intellektuellen Beziehungsanalysen[n]“ sind zu beziehen auf „sozialhistorisch ausgerichtete Beziehungsanalyse[n]“, ein Spannungsverha¨ltnis, das Mulsow mit dem Figurationsbegriff nach Norbert Elias konzeptionell greift. Daraus resultiert die Frage, wie sich „soziale Figuration und intellektuelle Konstellation“ zu einander verhalten?2 Dieses Modell einer Grundkonstellation steht zur Adaption und Erprobung bereit, auch u¨ber den spezifischen Bezug auf die intellectual history, die Mulsow im Blick hat, hinaus, ohne damit gleichsam einer konturlosen Ubiquita¨t des Konzepts die Tu¨r zu o¨ffnen. Vielmehr soll es darum gehen, u¨ber engere Personenkonstellationen hinaus Handlungssituationen zu deuten, fu¨r die die von Mulsow geforderten Voraussetzungen, na¨mlich eine große „Fu¨lle in der Quellenlage“ und eine hohe „Qualita¨t in den Wechselbeziehungen“, gegeben sind.3 So gesehen, la¨sst sich eine erweiterte Konstellationsfragestellung etwa auf konkrete Lebenszusammenha¨nge in der

1 Martin Mulsow, Zum Methodenprofil der Konstellationsforschung, in: Konstellationsforschung, hg.

v. Dems./Marcelo Stamm, Frankfurt a. M. 2005, S. 74–97, hier S. 89.

2 Mulsow, Zum Methodenprofil (wie Anm. 1), S. 76, 81f. 3 Mulsow, Zum Methodenprofil (wie Anm. 1), S. 94.

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Holger Zaunsto¨ck

Stadt des 18. Jahrhunderts anwenden. In als Konstellationen verstandenen lebensweltlichen sta¨dtischen Zusammenha¨ngen ru¨ckt das Interaktionen bedingende und vera¨ndernde Verha¨ltnis von differenten Lebens- und Glaubenskulturen und sta¨dtischer Topografie in den Fokus. Beides wird miteinander in Beziehung gesetzt durch den entscheidend in Dresden entwickelten relationalen Raumbegriff,4 der Handlungen und Pra¨sentationen bzw. Performanzen von Sozialgruppen auf die unterschiedlichen Ra¨ume der Stadt und die daraus resultierenden Zuschreibungen bezieht. Dahinter stehen Ehrkonzepte, kulturelle Codes, Reformideen und anderes mehr, die die Motivlagen und Handlungen in den Konstellationen begru¨nden. Konkret erprobt werden soll der knapp skizzierte Ansatz an der Stadt Halle um 1700,5 da die Situation sich hier eignet, um konkrete Konstellationen herauspra¨parieren zu ko¨nnen. Zuerst wird auf die bauliche und mediale Pra¨senz des hallischen Pietismus geblickt – die Konstellation I –, und danach die kurbrandenburgische bzw. preußische Disziplinarpolitik gegenu¨ber den Studenten der jungen Fridericiana thematisiert – die Konstellation II. Abschließend sollen die Beobachtungen zusammengefu¨hrt werden.

1.

Konstellation I

Der Hallische Pietismus war eine protestantische Reformbewegung, die von Anfang an durch einen ausgepra¨gten und vehementen Handlungs- und Vera¨nderungsimpuls gekennzeichnet gewesen ist. August Hermann Franckes Reformkonzept, das er bekanntlich als Vollzug go¨ttlichen Willens in der Welt verstand, beno¨tigte einen konkreten Ausgangs- und Anlaufpunkt, positionierte sich taktisch klug zur Landespolitik und formulierte eine globale Perspektive. Dafu¨r entwarf Francke mit seinen Mitstreitern ein komplexes Mediensystem auf der Ho¨he der Zeit, das den dem Pietismus inha¨renten Vera¨nderungswillen zeigen und befo¨rdern sollte, und das zugleich 4 Siehe Susanne Rau/Gerd Schwerhoff, O ¨ ffentliche Ra¨ume in der Fru¨hen Neuzeit. U ¨ berlegungen zu

¨ ffentliLeitbegriffen und Themen eines Forschungsfeldes, in: Zwischen Gotteshaus und Taverne. O che Ra¨ume in Spa¨tmittelalter und Fru¨her Neuzeit, hg. v. Dens. (Norm und Struktur 21), Weimar/ Wien 2004, S. 11–52; Christian Hochmuth/Susanne Rau, Stadt – Macht – Ra¨ume. Eine Einfu¨hrung, in: Machtra¨ume der fru¨hneuzeitlichen Stadt, hg. v. Dens. (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 13), Konstanz 2006, S. 13–40. 5 Vgl. zum stadtgeschichtlichen Kontext: Jan Brademann, Integration einer Residenzstadt? Politische Ordnung und Kultur der Stadt Halle an der Saale im 16. und 17. Jahrhundert, in: ZHF 34 (2007), ¨ berlegungen zum verfassungsHeft 4, S. 569–608; Ders., Residenzstadt und fru¨hmoderner Staat. U und kulturgeschichtlichen Hintergrund fu¨r die Gru¨ndung einer Universita¨t in Halle, in: Christian Thomasius (1655–1728). Gelehrter Bu¨rger in Leipzig und Halle, hg. v. Heiner Lu¨ck (Abhandlungen der Sa¨chsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Phil.-hist. Klasse 81,2), Stuttgart/Leipzig 2008, S. 117–140; Andrea Thiele, Grenzkonflikte und soziale Verortung in der ‚Residenz auf Abruf‘. Halle unter dem letzten Administrator der Erzstifts Magdeburg, Herzog August von Sachsen-Weißenfels (1614–1680), in: Machtra¨ume der fru¨hneuzeitlichen Stadt, hg. v. Hochmuth/Rau (wie Anm. 4), S. 239–257; Werner Freitag/Michael Hecht, Verlassene Residenz und Konsumentenstadt an der preußischen Peripherie (1680–1806), in: Geschichte der Stadt Halle. 2 Bde., Halle 2006. Band 1: Halle im Mittelalter und in der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Werner Freitag/Andreas Ranft, S. 405–429.

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auch Abgrenzungsfunktionen erfu¨llte. Den Ort fu¨r sein Reformwerk fand Francke innerhalb der ihm als Pfarre anvertrauten hallischen Amtsvorstadt Glaucha. Franckes Vorstellungen von Fro¨mmigkeit und Kirchenzucht standen von Beginn an weitgehend quer zu jenen seiner Gemeinde. Er u¨berzeichnete in seinen Schriften zumindest tendenziell die Lebenswirklichkeit des Sta¨dtchens als sittlich verdorben, dem Mu¨ßiggang und der Trunksucht verfallen – und schuf so zielsicher ein Bild, das sich in politischen Kontexten als Argumentationsfolie nutzen ließ. Die Glauchaer Bu¨rger fu¨hrten dagegen ihre Eigensta¨ndigkeit und die Notwendigkeit wirtschaftlichen Erwerbs ins Feld.6 Diese Konfliktsituation der 1690er Jahre wurde u. a. durch die Nutzung des zentralen Bauplatzes in Glaucha entschieden. Ausgestattet mit einem kurfu¨rstlichen Privileg zur Errichtung seines Waisenhauses, hatte Francke genau jenen Bauplatz am Rande Glauchas in Sichtweite des Rannischen Stadttores erworben, auf dem die Glauchaer Bu¨rger ein ihnen fehlendes Rathaus mit entsprechenden Funktionen zu bauen suchten.7 Stattdessen entstand an dieser Stelle zwischen 1698 und 1700 das pietistische Waisenhaus. Der Bau vera¨nderte die Situation grundlegend, er wies fortan Glaucha vor Halle als Zentrale des pietistischen Reformprojekts u¨berregional aus. Der Bau und seine spezifische Fassadenausfu¨hrung selbst erfu¨llten neben diesem Vorgang des ‚Platzierens‘ sozial-religio¨ser Gu¨ter im o¨ffentlich wahrnehmbaren Raum, worauf Francke selbst mit der Aussage hingewiesen hat, dass man gleichsam geno¨thiget [war], sich zu Bebauung solches offenen Raums anheischig zu machen8, weitere symbolische Funktionen. Das Waisenhaus war ein sozialer Zweckbau in Schlossdimensionen, der sich architektonisch an bautheoretischen Vorgaben der Zeit orientierte und diese zugleich auf den konkreten, pietistischen Gegenstand anwandte. Er betonte durch seine schlichte Gro¨ße, Pra¨senz und Funktionalita¨t zum einen das Wirken Gottes in der sta¨dtischen Lebenswelt, und zum anderen den weitreichenden Anspruch des sozialreformerischen Projektes des Pietismus, das ausgehend von einer Grundsatzkritik am Zustand des Regierungs- und Lehrstandes die Vera¨nderung der Gesellschaft durch individuelle Wandlungsprozesse hin zum wahren Christentum, eine Vera¨nderung der Welt durch die Vera¨nderung des Menschen, in

6 Grundlegend: Veronika Albrecht-Birkner, Francke in Glaucha. Kehrseiten eines Klischees

(1692–1704) (Hallesche Forschungen 15), Tu¨bingen 2004.

7 Siehe dazu den gezeichneten Lageplan in einem Brief an Kurfu¨rst Friedrich III. im Mai 1698. In: Paul

Raabe/Thomas Mu¨ller-Bahlke, Das Historische Waisenhaus. Das Hauptgeba¨ude der Franckeschen Stiftungen zu Halle, Halle 22005, S. 18; Albrecht-Birkner, Francke in Glaucha (wie Anm. 6), S. 126f.; „Hoffnung besserer Zeiten“. Philipp Jakob Spener (1635–1705) und die Geschichte des Pietismus. Halle 2005 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen 15), S. 62. 8 Weil nun auch andere Umsta¨nde dazu kamen z. E. dass man den vor dem gu¨ldenen Adeler gelegenen Platz, theils zur Erbauung eines Schenck-Hauses von andern ha¨tte anwenden, theils sonst zum grossen Schaden des Waysenhauses bebauen lassen mu¨ssen, so war man gleichsam geno¨thiget, sich zu Bebauung solches offenen Raums anheischig zu machen, der auch darauf theils von dem Stadt-Magistrat, und theils vom Amte Giebichenstein zur Bau-Sta¨tte des neuen Waysen-Hauses erhandelt wurde: August Hermann Francke, Segensvolle Fußstapfen des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen Gottes, Zur Bescha¨mung des Unglaubens und Sta¨rckung des Glaubens entdecket durch eine wahrhafte und umsta¨ndliche Nachricht von dem Wa¨ysen-Hause und u¨brigen Anstalten zu Glaucha vor Halle, Welche Im Jahr 1701 zum Druck befo¨rdert, ietzo aber zum dritten mal ediret, und bis auf gegenwa¨rtiges Jahr fortgesetzet. Halle: in Verlegung des Wa¨ysen-Hauses, 1709, S. 24f.

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Abb. 1: Frontansicht des Historischen Waisenhauses 1705, Frontispiz zur englischen Ausgabe von Franckes „Segensvollen Fußstapfen“: Pietas Hallensis: Being an Historical Narration of the wonderful Foot-Steps [...], London 1705 Quelle: BFSt: 99 H 8

Gang zu setzen suchte. Ein Prozess, der etwa auch u¨ber das prozessuale Baugeschehen befo¨rderte wurde, denn immerhin wuchs u¨ber fu¨nf Jahrzehnte hinweg vor den Augen der Glauchaer und Hallenser Bu¨rger, der Reisenden und Studenten ein einmaliges Bauensemble. Claus Bernet hat diesen Effekt ju¨ngst fu¨r die Planstadt Freu-

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denstadt beschrieben: „Das Außergewo¨hnliche eines solchen Projekts verdeutlicht sich, wenn man sich vor Augen ha¨lt, dass diese Neugru¨ndung in Wu¨rttemberg fu¨r die Zeit von 1500 bis 1648 eine singula¨re Erscheinung gewesen war. Fu¨r Generationen war Freudenstadt die einzige Stadtneugru¨ndung, die ihren Erfahrungshorizont pra¨gte. Die Gru¨ndung einer idealen Stadt aus dem Nichts: Das musste aus der Sicht

Abb. 2: Stadtansicht Halles von Su¨den, um 1720 Quelle: AFSt/H D 133, Stammbuch des Studenten Immanuel Petrus Geier, 1719–1722

der Zeitgenossen etwas Unvorstellbares gewesen sein, etwas Utopisches, das alle verfu¨gbaren finanziellen, technischen und human Ressourcen erforderte“.9 Ganz a¨hnlich eindru¨cklich wird das Projekt der Anstalten gewirkt haben, die daraus resultierenden Wahrnehmungen aber waren freilich nicht oder nur indirekt u¨ber eine aktive Medienpolitik zu steuern bzw. zu beeinflussen. Die sowohl religio¨se, soziale als in ihrer Wirkungsdimension auch politische Ansage an die bestehenden Zusta¨nde sollte u¨ber die Einzelwahrnehmung am Ort hinaus auch die Topografie der gesamten Stadt – mithin das Bild von ihr – vera¨ndern. Bernd Roeck und Wolfgang Behringer haben betont, dass nicht nur, „wie die Stadt war, interessiert, sondern auch, wie die Stadt gesehen wurde“.10 Insofern ging es den hallischen Pietisten auch darum, der sta¨dtischen Keimzelle ihres Reformprojekts gleichsam eine neue Signatur einzuschreiben. Zu sehen ist dies eindru¨cklich in 9 Claus Bernet, Die Gru¨ndung von Freudenstadt: Neue Ansa¨tze zur wichtigsten deutschen Idealstadt,

in: BllDtLG 143 (2007), S. 107–131, hier S. 118.

10 Wolfgang Behringer/Bernd Roeck, Vorwort und Einleitung, in: Das Bild der Stadt in der Neuzeit

1400–1800, hg. v. Dens., Mu¨nchen 1999, S. 7–10, hier S. 7.

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einer kolorierten Tuschzeichnung, die neben den Eintra¨gen hallischer Geistesgro¨ßen der Zeit wie Christian Wolff und Francke selbst, einem Stammbuch der Jahre 1719 bis 1722 beigegeben wurde. Hier ist die vera¨nderte Situation im Blick von Su¨den auf die Stadt gesehen verdeutlicht: neben den (bislang) dominierenden Bauten aus der Zeit der Renaissance unter Kardinal Albrecht auf der westlichen Stadtseite und die im Zentrum stehende mittelalterliche bzw. fru¨hneuzeitliche Sakraltopografie haben sich nun auf der o¨stlichen Stadtsilhouettenseite die Glauchaer Anstalten geschoben. Auf diese Weise entsteht ein Bild der Stadt, das zum einen ihre Geschichtlichkeit und Wandelbarkeit erkennbar macht, und das zum anderen einen Verweis auf die Zukunft in sich tra¨gt. Es ist momentan nicht zu sagen, ob es sich hierbei um eine Einzelzeichnung oder um eine Darstellung handelt, die in gro¨ßerer Zahl reproduziert worden ist. Letzteres ist zumindest wahrscheinlich, da sich gerade das Genre der Stammbuchbilder zu einem eigensta¨ndigen Kunstgewerbe entwickelt hatte, um die Nachfrage nach Abbildungen innerhalb der Studentenkultur – sowohl nach allegorischen als auch nach konkret topografisch, sta¨dtisch-situativen Darstellungen – zu stillen.11 Da Halle am Beginn des 18. Jahrhunderts einer der beliebtesten Studienorte gewesen ist, darf man wohl von einer breiten Rezeption des Bildes ausgehen; mithin wurden das ‚neue‘ Bild der Stadt und seine Aussage in die regen und mobilen u¨berlokalen Kana¨le studentischer Kommunikation eingespeist und somit zu¨gig verbreitet. Parallel zur baulich-architektonischen Entfaltung wurde fu¨r das pietistische Reformwerk auch durch Drucke geworben: Die beru¨hmten „Segensvollen Fußstapffen“ von Francke erschienen in mehreren Fortsetzungen seit 1701 und u¨ber 1709 hinaus, die wiederum die ku¨rzere, zuvor erschienene „Historische Nachricht“ aufnahmen – beides konzeptionelle Werbeschriften. Die „Fußstapffen“ wurden zudem ins Englische u¨bersetzt, eine vorgeschaltete „Korte Beschryving“12 – die die „Fußstapffen“ antizipierte (1697) – ins Niederla¨ndische. Dies verweist zuru¨ck auf die erwa¨hnte globale Ausrichtung der pietistischen Kommunikationspolitik. Es ging Francke ja durchaus um eine Gesamtreformation der Welt, wie er dies dezidiert in letztendlich nicht gedruckten und nur wenigen Fo¨rderern in seinem Netzwerk bekannt gewordenen Programmschriften, insbesondere dem Seminario universali (1701) und dem so genannten „Grossen Aufsatz“ (1704), entworfen hatte.13 Von Anfang an entfalteten die hallischen Pietisten deshalb zudem ein ausgedehntes Briefnetzwerk, das sich in vielen Linien u¨ber Europa zog und sich 11 Siehe dazu Werner W. Schnabel, Sta¨dte-Bilder. Typen und Funktionen von Stadtdarstellungen in Alba

Amicorum des 16. bis 19. Jahrhunderts, in: Erlanger Stadtansichten. Zeichnungen, Gema¨lde, Graphiken aus sieben Jahrhunderten, hg. v. Andreas Jakob/Christian Hoffmann-Randall (Vero¨ffentlichungen des Stadtarchivs Erlangen 1), Erlangen 2003, S. 80–103, insbes. S. 87–99. 12 Francke, Pietas Hallensis: Being an Historical Narration of the wonderful Foot-Steps (siehe Abb. 1); Korte Beschryving Van het onlangs opgerechte Wees-Huys tot Halle In’t Hertogdom Maagdenburg, Hoe het selve begonnen, en tegenwoordig gestelt is [...], Amsterdam 1697 (BFSt: 183 B 20); siehe zu beiden Titeln: Pietas Hallensis universalis. Weltweite Beziehungen der Franckeschen Stiftungen im 18. Jahrhundert, hg. v. Paul Raabe unter Mitarbeit von Heike Liebau und Thomas Mu¨ller (Kataloge der Franckeschen Stiftungen 2), Halle 1995, S. 52f., 57. 13 August Hermann Francke: Project zu einem Seminario universali oder Anlegung eines Pflantzgartens, in welchem man eine reale Verbesserung in allen Sta¨nden in und außerhalb Teutschlands, ja in Europa und allen u¨brigen Theilen der Welt zu gewarten. (1701), in: Gustav Kramer, August Her-

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jenseits davon durch die Bezugsregionen Su¨dindien, Nordamerika – hier Neuengland und entlang der Ostku¨ste u¨ber Philadelphia bis Georgia – sowie Archangelsk in Nordrussland und Tobolsk in Sibirien grob abstecken la¨sst. Durch dieses Netzwerk liefen die vielfa¨ltigsten Informationen: Neuigkeiten u¨ber den Fortgang des Projekts in Glaucha/Halle, Anweisungen fu¨r Missionare, Nachrichten aus der politisch-ho¨fischen Welt, Geldtransfers von und nach Halle, Kontaktanbahnungen fu¨r den Buch¨ bersee, Objekthandel handel und die Medikamentenproduktion in Halle bis nach U fu¨r die Kunst- und Naturaliensammlung der Glauchaer Anstalten, Berichte u¨ber die Situationen vor Ort und religio¨se Praxen christlicher und fremder, nichtchristlicher Kulturen u. a. m. Dabei beließen es die hallischen Pietisten jedoch nicht. Als weitere Sa¨ule ihrer systematisch angelegten Medienpolitik nutzten sie das Medium der Zeitung.14 Sie griffen dabei zuna¨chst auf das Verfahren der handschriftlich gefertigten Zeitungen auf der Grundlage eines 1703 vom preußischen Ko¨nig erteilten Privilegs zuru¨ck. Ab 1704 wurde die „Correspondenz“ regelma¨ßig alle vier Wochen in einer Auflage von 40 Exemplaren handschriftlich zusammengestellt und vervielfa¨ltigt. Der Ursprung des Unternehmens lag in der Notwendigkeit, ein Nachrichtensystem zu entwickeln, das es erlaubt, die in Halle fast unza¨hlig einlaufenden Briefe zu beantworten, was in Einzelkorrespondenz nicht mehr mo¨glich war. Die einkommenden Nachrichten und Berichte sollten gebu¨ndelt und wieder in das Korrespondenznetz eingespeist werden. Und man konnte hierdurch Brieffe an entlegene Oerter viel sicherer und mit weniger Unkosten gelangen lassen. Der Inhalt ergab sich nicht gleichsam zufa¨llig, sondern wurde systematisch entwickelt. Der ersten Ausgabe war unter dem Titel „Project zu einer nu¨tzlichen Correspondentz“ ein programmatischer Text vorangestellt, wobei im Kern der Sache ein mediales Produkt entstehen sollte, das den kaltsinnigen, nur von weltlichen Dingen berichtenden Nachrichten in Briefen zur Seite bzw. gegenu¨bergestellt war. Es wurde ein Inhaltsspektrum entworfen, das zum einen auf die Universita¨t, die Stiftungen und die Stadt, und zum anderen auf Deutschland und die Welt ausgerichtet war und zugleich zur Erbauung der Leser beitragen

mann Francke. Ein Lebensbild. Zwei Teile, Halle 1882, Nachdr. Hildesheim/Zu¨rich/New York 2004, Zweiter Teil, S. 489–496; August Hermann Franckes Schrift u¨ber eine Reform des Erziehungs- und Bildungswesens als Ausgangspunkt einer geistlichen und sozialen Neuordnung der Evangelischen Kirche des 18. Jahrhunderts. Der Grosse Aufsatz. Mit einer quellenkritischen Einfu¨hrung herausgegeben von Otto Podczeck (Abhandlungen der Sa¨chsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Phil.-hist. Klasse 53,3), Berlin 1962; siehe dazu: Peter Weniger, Anfa¨nge der „Franckeschen Stiftungen“. Bemerkungen zur Erforschung der Geschichte der Glauchaschen Anstalten in ihrem ersten Jahrzehnt, in: Pietismus und Neuzeit 17 (1991), S. 95–120; Hermann Goltz, Das Collegium Orientale Theologicum August Hermann Franckes, oder: Was aus der Utopie vom freyen Campus zur Ehre Gottes in Halle werden kann, in: 500 Jahre Theologie in Wittenberg und Halle 1502 bis 2002. Beitra¨ge aus der Theologischen Fakulta¨t der Martin-Luther-Universita¨t Halle-Wittenberg zum Universita¨tsjubila¨um 2002, hg. v. Arno Sames (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 6), Leipzig 2002, S. 93–128. 14 Siehe dazu: Thomas Mu ¨ ller-Bahlke, The Mission in India and the worldwide communication network of the Halle orphan-house, in: Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India. Volume I–III, hg. v. Andreas Gross/Y. Vincent Kumaradoss/Heike Liebau, Halle 2006, Vol. I.: The Danish-Halle and the English-Halle Mission, ebd., S. 57–79.

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sollte (etwa durch allerley kurtze erbauliche Relationes und Lebens=La¨uffe): Erfa¨hret man dadurch nicht allein, was hieselbst vorgehet: sondern es kann selbige auch zu genauerer Erkennntis der Historia Ecclesiastica und Litterariae nostri temporis ein

Abb. 3: August Hermann Francke: Segens=volle Fußstapfen des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen Gottes [...], Halle 31709 (1711) Quelle: BFSt: Verl 2388. Foto: Klaus E. Go¨ltz

grosses beitragen. Außerdem sollte das Medium von Beginn an gezielt zur Meinungsbildung genutzt werden: Ko¨nnen viele falsche und ungegru¨ndete Erzehlungen und Veleumdungen viel eher refutiret, und damit manch Aergernis vermieden werden.15 Der Kreis um Francke zeigt sich in der Nutzung fu¨r die eigenen Reformabsichten auch medientechnisch offen fu¨r neue Entwicklungen und Lo¨sungen, die unverzu¨glich vermittelt u¨ber einen Handlungsimperativ in die Lebenswirklichkeit u¨bersetzt 15 AFSt/H D 63c, [Die „Correspondenz“], o. P.; Arthur Bierbach, Die Geschichte der Halleschen Zei-

tung, Landeszeitung fu¨r die Provinz Sachsen, fu¨r Anhalt und Thu¨ringen. Eine Denkschrift aus Anlaß des 200ja¨hrigen Bestehens der Zeitung am 25. Juni 1908, Halle 1908, S. 5–17; Hans-Ulrich Reinicke, Die hallesche Tagespresse bis zum Jahre 1848, mit besonderer Beru¨cksichtigung der Geschichte der „Halleschen Zeitung“. Inaugural-Dissertation, Halle 1926, S. 11–16.

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wurden. Halle bekam so 1704 seine erste periodisch erscheinende Zeitung. Ab 1708 erschien dann die erste gedruckte Ausgabe des Anschlussprojekts unter dem Namen Ha¨llische Zeitungen.16

Abb. 4: Prospect des inneren Waysenhauses um 1750. Kupferstich von Gottfried August Gru¨ndler. Blick vom Haupthaus nach Osten zum 1711–1713 errichteten Ko¨niglichen Pa¨dagogium Quelle: AFSt/B Sa 0014

Diese hielt in den folgenden Jahrzehnten das printmediale Monopol in der Stadt und war damit ein pra¨gendes Instrument zur Gestaltung des Nachrichtenhaushalts der Stadt,17 wobei sie dann doch sta¨rker als es das urspru¨ngliche Konzept fu¨r die handschriftliche „Correspondentz“ vorgesehen hatte, auf die klassischen, zeitungstypi-

16 BFSt: 113 C 1a. 17 1729 begru¨ndete Johann Peter von Ludewig die „Wo¨chentlichen hallischen Frage- und Anzeigungs-

nachrichten“ (seit 1731 „Wo¨chentliche Hallische Anzeigen“), die den Schwerpunkt auf gelehrte Artikel legten: Johann Peter von Ludewigs [...] Gelehrte Anzeigen in allen Wissenschaften, [...], welche vormals denen Wo¨chentlichen Hallischen Anzeigen einverleibet worden, Nunmehro aber zusammen gedruckt [...], Halle 1743 [1729–1739] bis 1745 [1740–1743]; dazu Holger Bo¨ning, Die preußischen Intelligenzbla¨tter, in: Kommunikation und Medien in Preußen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, hg. v. Bernd So¨semann (Beitra¨ge zur Kommunikationsgeschichte 12), Stuttgart 2002, S. 207–238, bes. S. 223, 229. In diesem Kontext gilt mein Dank Astrid Blome (Bremen).

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schen zumeist europa¨ischen Nachrichten aus dem diplomatischen und milita¨rischen Geschehen setzte. ¨ berlegungen verweisen zuru¨ck auf die u¨berregionalen Zusammenha¨nge. Diese U Blicken wir noch einmal auf die „Fußstappfen“. Bekam eine Person wo auch immer im Reich oder jenseits dessen Grenzen diese Werbeschrift – oder einen extra gefertigten Einzeldruck der Draufsicht von 1705 – in die Hand, konnte diese u¨ber die Anstalten in Halle nicht nur lesen, sondern deren bauliche Anlage auch sehen. Hier war die Frontansicht des Waisenhauses und in der Draufsicht die sich hinter ihm entfaltende Geba¨udeordnung abgebildet. Die Zeichnung zeigt die entstehenden Glauchaer Anstalten als symmetrische Anlage. Francke entwickelte fu¨r die Materialisierung seines Reformwerks ein quasista¨dtisches Bau- und Funktionsensemble. Verbunden damit strebte er einen eigenen Lebenskreislauf an, der sich dem Zustand der Autarkie soweit als mo¨glich anna¨hern sollte, wobei Aspekte der Gesundheit und Hygiene (frisches Wasser, Luftbewegungen, Aborte) eine wichtige Rolle im Gestaltungsprozess gespielt haben. Seine Stadt, die auff einem Berge lieget – eine Anspielung, die sowohl auf die Utopie des Himmlischen Jerusalems als auch auf den konkreten, erho¨hten topografischen Ort der Schulstadt und die damit verbundene und intendierte symbolische Wirkung verweist, da denen die deßselbigen Weges reisen diese nicht verborgen seyn kann18 –, nahm Bezug auf fru¨hneuzeitliche Vorstellungen idealer und utopischer Stadtentwu¨rfe, was sich u. a. an der symmetrischen Grundausrichtung des Ensembles ablesen la¨sst. Allerdings zeichnet sich die pietistische Schulstadt durch ein besonderes Merkmal aus, etwa im Gegensatz zum Stadtentwurf in Johann Valentin Andreaes utopischer Schrift „Christianopolis“, die in Halle um 1700 nachweislich rezipiert wurde und auf deren Wirkung vor allem fu¨r das pietistische Erziehungskonzept in den Glauchaer Anstalten in der Forschung seit langem regelma¨ßig verwiesen wird.19 Es fehlt ein zentraler oder zumindest gesonderter sakraler Bau, eine Kirche innerhalb der Schulstadt, zu der sich die Anstalten ab dem zweiten Bauschnitt seit 1709 vollends entwickelten. Der bei Andreae im Mittelpunkt der Stadt positionierte im Grundriss runde Tempel, der weltliches (Rathaussaal) und geistliches („Rundkirche“) vereint, versinnbildlicht Leben und Glauben in der Christianopolis.20 In Franckes Schulstadt war eine solch vergleichbare Sinngebung anders organisiert:

18 Der Grosse Aufsatz. Mit einer quellenkritischen Einfu¨hrung herausgegeben von Otto Podczeck (wie

Anm. 13), S. 40.

19 Udo Stra¨ter, Der hallische Pietismus zwischen Utopie und Weltgestaltung, in: Interdisziplina¨re Pie-

tismusforschungen. Beitra¨ge zum Ersten Internationalen Kongress fu¨r Pietismusforschung 2001, hg. v. Dems. in Verbindung mit Hartmut Lehmann, Thomas Mu¨ller-Bahlke und Johannes Wallmann (Hallesche Forschungen 17/1, 2), Tu¨bingen 2005, S. 19–36, S. 25f.; sowie: Gott zur Ehr und zu des Landes Besten. Die Franckeschen Stiftungen und Preußen. Aspekte einer alten Allianz, hg. v. Thomas Mu¨ller-Bahlke (Kataloge der Franckeschen Stiftungen zu Halle 8), Halle 2001, S. 110f.; EvaMaria Seng, Christianopolis. Der utopische Entwurf des Johann Valentin Andreae, in: Das Echo Halles. Kulturelle Wirkungen des Pietismus, hg. v. Rainer La¨chele, Tu¨bingen 2001, S. 59–91, hier S. 87, 89; Jan Harasimowicz, Der Einfluss des Pietismus auf Architektur und bildende Ku¨nste, in: „Hoffnung besserer Zeiten“ (wie Anm. 7), S. 143–162, S. 147. 20 Sabine Rahmsdorf, Stadt und Architektur in der literarischen Utopie der fru¨hen Neuzeit (Beitra¨ge zur neueren Literaturgeschichte 168), Heidelberg 1999, S. 238f.

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Hier ist deutlich zu erkennen, dass das innere Raumgefu¨ge der neuen Schulstadt vor den Toren der Stadt Halle und der Amtsstadt Glaucha (in der die fu¨r die Anstalten zusta¨ndige Pfarrkirche, St. Georgen, lag) nicht auf einen zentralen sakralen Bau hin orientiert war. Die Gottesdienste und Predigten fanden im multifunktionalen Betund Singesaal statt, der im su¨dlichen an das Hauptgeba¨ude anschließenden Flu¨gel, dort u¨ber dem Speisesaal, positioniert worden war. Insofern dient die Offenheit des Raumes im Inneren des Bauensembles anderen Zwecken. Sie la¨sst sich meines Erachtens als Metapher fu¨r die vom Pietismus eingeforderte ‚wahre‘ Christlichkeit im Inneren des Einzelnen deuten – der Mensch hatte diese zuallererst in sich zu tragen, und nicht auf einen sakralen Bau hin auszurichten.21 Zudem erlaubte die Anlage einen nahezu ungehinderten Zutritt von Luft und Licht. Dabei spielen hygienische Absichten eine wichtige Rolle, das Licht aber impliziert auch eine doppelte Metapher: Es ist das go¨ttliche Licht was strahlt, ebenso das Licht, das der Mensch beim Aneignen der Welt durch Bildung erlangt.22 Daru¨ber hinaus ero¨ffnet der Innenraum Perspektiven, die die verschiedenen Schulen und Funktionsbauten miteinander in Beziehung setzen und so dem Einzelnen zugleich ein durchaus auch allta¨glich gedachtes Orientierungs- und Ordnungssystem anzeigen. Die Offenheit des Raumes, seine Sichtbeziehungen, verweisen noch auf eine weitere Funktionalita¨t der Architektur: Sie ermo¨glicht – im Sinne policeylicher ¨ berwachungsmaßnahmen, die der DisziOrdnungsvorstellungen – Kontroll- und U plin der Schulstadtbewohner (Ende der 1720er Jahre wohl immerhin u¨ber 250023), der Ermo¨glichung eines durchgeregelten Alltags der Waisen und Schu¨ler und insgesamt der Einhaltung pietistischer Lebensprinzipien und Tagesrhythmen im Sinne einer permanenten und umfassenden Beaufsichtigung der Kinder diente.24 Das bauliche Gesamtensemble der Anstalten war mit einer Mauer sowie Tu¨ren und Toren umgeben,25 was bereits deutlich in der ersten Gesamtansicht der Stiftungen von ¨ ußeres verlieh. Diese Su¨den erkennbar ist,26 und ihm ein sichtbares quasista¨dtisches A 21 Vgl. dazu die zusammenfassende Interpretation zu Herrnhuter- und Qua¨kersiedlungen in Bezug auf

das Himmlische Jerusalem und das entsprechende Selbstversta¨ndnis fu¨r die Siedlungsentwu¨rfe bei Claus Bernet, „Gebaute Apokalypse“. Die Utopie des Himmlischen Jerusalem in der Fru¨hen Neuzeit (Vero¨ffentlichungen des Instituts fu¨r Europa¨ische Geschichte. Abt. fu¨r abendla¨ndische Religionsgeschichte 215), Mainz 2007, S. 414. 22 Siehe in diesem Zusammenhang jetzt: Kelly J. Whitmer, Unmittelbare Erkenntnis. Das Modell des Salomonischen Tempels im Waisenhaus zu Halle als Anschauungsobjekt der fru¨hen Aufkla¨rung, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch fu¨r Bildkritik (7.2009, 1): Bildendes Sehen, S. 92–104. 23 Raabe/Mu ¨ ller-Bahlke, Das Historische Waisenhaus (wie Anm. 7), S. 9 (1727). 24 Axel Oberschelp, Das hallesche Waisenhaus und seine Lehrer im 18. Jahrhundert. Lernen und Lehren im Kontext einer fru¨hneuzeitlichen Bildungskonzeption (Hallesche Forschungen 19), Halle/Tu¨bingen 2006, S. 50f., 58f., 76–78, 175, 225–230, 233f., 238; zusammenfassend: Pia Schmid, Pietistische Pa¨dagogik, in: „Hoffnung besserer Zeiten“ (wie Anm. 7), S. 165–174; sowie auch Werner Loch, Pa¨dagogik am Beispiel August Hermann Franckes, in: Geschichte des Pietismus. Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelt, hg. v. Hartmut Lehmann, Go¨ttingen 2004, S. 264–308, S. 287–295. 25 Johann Ludwig Schulze/Georg Christian Knapp/August Hermann Niemeyer, Beschreibung des Hallischen Waisenhauses und der u¨brigen damit verbundenen Frankischen Stiftungen nebst der Geschichte ihres ersten Jahrhunderts. Zum besten der Vaterlosen, Halle 1799, S. 20 (‚Ringmauer‘). 26 Raabe/Mu ¨ ller-Bahlke, Das Historische Waisenhaus (wie Anm. 7), S. 21.

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Ummauerung diente zur Abgrenzung der Schulstadt nach außen, hatte aber keine fortifikatorischen Aufgaben, wie die in sichtweite befindliche Mauer der Gesamtstadt Halle. Mit dieser Abgrenzung wurde der freie Zu- und Ausgang zur pietistischen Stadt geregelt. Einerseits wurde damit eine Anwesenheitskontrolle gegenu¨ber den Zo¨glingen ermo¨glicht, andererseits konnte nicht jeder Zutrittswillige ohne weiteres auf das Anstaltsgela¨nde gelangen. So wurde etwa das hohe Aufkommen von Besuchswilligen (in den 1720er Jahren waren dies bis zu 60 ta¨glich27) kontrolliert und gesteuert. Mit anderen Worten: Die ‚neue‘ Stadt, die der ‚alten‘ gegenu¨bergestellt wurde, bedurfte nicht nur allein der symbolisch-medialen Vermittlung, sondern sie bedurfte ebenso der Absicherung und Kontrolle. Francke und seinen Mitarbeitern ging es also um eine auf mehreren Ebenen zu pra¨gende und zu steuernde o¨ffentliche Pra¨senz, die auf die Wahrnehmung der Anwesenden und von unperso¨nlichen Dritten, theoretisch weltweit, sowie auf die Erfahrungen der Stadtbewohner und ihrer Ga¨ste ausgerichtet war.28 Dies zielte insb. auch auf die Studenten und ihre expressiv-performative Kultur, die von den Pietisten als mu¨ßigga¨ngerisch, nicht nu¨tzlich und unchristlich abgelehnt wurde.

2.

Konstellation II

Mit der Gru¨ndung der Friedrichsuniversita¨t (1694) in der nach dem Residenzverlust 1680 sich im Strukturwandel begriffenen Stadt Halle kamen seit 1690 in großer Zahl Studenten an die Saale. Die Studiosi vera¨nderten die Mentalita¨t der Stadt, sie polarisierten die Stadtgesellschaft. Unzweifelhaft waren sie ein wichtiger neuer Standortfaktor fu¨r die schwa¨chelnde Wirtschaft,29 der insofern zu begru¨ßen war, nicht aber unbedingt begru¨ßt wurde. Denn die Studenten implementierten in die Stadt ihre eigene Vorstellung der Sozialhierarchie – sie sahen sich keineswegs als tempora¨re Ga¨ste einer nach alten Reproduktionsmechanismen stratifizierten Gesellschaft. Zum einen wurden diese Anspru¨che sichtbar geltend gemacht wa¨hrend der Inaugurationsfeierlichkeiten der Universita¨t 1694.30 Wichtiger aber noch war jenseits dieses symbolischen Aktes, der 27 Thomas Mu ¨ ller-Bahlke, Die Wunderkammer. Die Kunst- und Naturalienkammer der Francke-

schen Stiftungen zu Halle, Halle 1998, S. 15. 28 Siehe dazu: Rudolf Schlo ¨ gl, Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen

des Sozialen und ihre Transformation in der Fru¨hen Neuzeit, in: GuG 34 (2008), Heft 2, S. 155–224, S. 178f. 29 Zu Halle spezifisch siehe die Literatur in Anm. 5, sowie allgemein Marian Fu ¨ ssel, Umstrittene Grenzen. Zur symbolischen Konstitution sozialer Ordnung in einer fru¨hneuzeitlichen Universita¨tsstadt am Beispiel Helmstedt, in: Machtra¨ume der fru¨hneuzeitlichen Stadt, hg. v. Hochmuth/Rau (wie Anm. 4), S. 171–191, S. 182f. 30 Marian Fu ¨ ffentlichkeit: Die Inaugurationsfeierlichkeiten der Universita¨t Halle ¨ ssel, Universita¨t und O 1694, in: Vergnu¨gen und Inszenierung. Stationen sta¨dtischer Festkultur in Halle, hg. v. Werner Freitag/Katrin Minner (Forschungen zur hallischen Stadtgeschichte 4), Halle 2004, S. 59–78.

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eine neue Zeit anku¨ndigte, deren innere Ausformung durch das sich daraus entwickelnde Gescha¨ft des friktionsreichen Miteinanders und die permanente Reproduktion der Anspru¨che, und zwar als selbstversta¨ndlicher, allta¨glicher Ausdruck studentischen Lebens, und ja¨hrlich inszeniert beim Prorektoratswechsel sowie intergenerationell tradiert. Dies la¨sst sich an konkreten Praktiken festmachen, die unter dem Rubrum der Akademischen Freiheit zeitgeno¨ssisch zusammengefasst wurden – in Halle laut den Quellen z. B. bezeichnet als Hallische Freyheit, edle Freyheit, Freye Freyheit.31 Dazu za¨hlen konkret Tumulte und Exzesse untereinander und gegen Bu¨rger, Soldaten und die sta¨dtische Schaarwache, das na¨chtliche Singen und Schreien, das ‚Wetzen‘ am Stein auf der Straßenmitte mit dem Degen und dazugeho¨rige verbale Provokationen, sowie Schlittenfahrten, Schießereien, Duelle, Wilddieberei, Gottesdienststo¨rungen und weiteres mehr. Verbindendes Element dabei war die (insb. bei Injurien) zu verteidigende Ehre der Studenten, die symbolisch einen Platz in der Stadtgesellschaft oberhalb der Bu¨rger und des Milita¨rs einforderte, und die konkret im Konflikt durch das sich zunehmend ritualisierende Duell und die auch aus disziplinartaktischen Gru¨nden zumeist vorgezogenen oder als solche gegebenenfalls dargestellten spontanen Waffenzweika¨mpfe, den so genannten Rencontres, hergestellt wurde. Diese Auseinandersetzungen wurden an Ort und Stelle, etwa auf dem Stein in der Straßenmitte, ausgetragen. Die Duelle dagegen waren in abgeschirmten Kontexten (etwa in Studentenzimmern) oder vor den Toren der Stadt, im Freien, positioniert. Wa¨hrend sich also die Anla¨sse zumeist o¨ffentlich vollzogen – auf Straßen und Gassen, in Wirtsha¨usern –, wurden die regelnden, ritualisierten Mechanismen den Augen der Stadt entzogen. Gegen diese Verfahrensweisen ging die landesherrliche Obrigkeit seit Gru¨ndung der Universita¨t mit einer als ‚permanent‘ zu charakterisierenden Disziplinarpolitik vor.32 Das erste an die Universita¨t gerichtete Edikt war ein Disziplinaredikt. Hinter dem grundsa¨tzlichen Konflikt zwischen Stadtbu¨rgern, Milita¨r und Studenten standen zwei fundamentale Behauptungska¨mpfe, die unterschiedliche politische Ebenen betrafen und die sich miteinander verschra¨nkten: Der kurbrandenburgische bzw. preußische Staat sah durch das auf Unabha¨ngigkeit zielende Tun und das Selbstversta¨ndnis der Studiosi sein Machtmonopol in Frage gestellt – sowohl in Bezug auf die Lebensfu¨hrung der Studenten als auch auf die Sanktionshoheit, die dem Staat durch den studentischen Ehrkodex entzogen wurde. Dazu kam der nicht zu tolerierende Schaden fu¨r die Landeso¨konomie, wobei weniger Sachscha¨den gemeint waren, als der Verlust an Menschenleben, die fu¨r die ku¨nftige Landeswohlfahrt vorgesehen waren. Diese Argumentationsfigur findet sich in vielen Edikten und Mandaten, dezidiert ausformuliert im Duellmandat von 1713.33 Die studentische Performanz widersprach dem gemeinen Nutzen. 31 John Meier, Der hallische Studentenaufstand vom Jahre 1723, in: Zeitschrift fu¨r Kulturgeschichte.

1. Erga¨nzungsheft. Beitra¨ge zur Kulturgeschichte 1, Weimar 1897, S. 1–96, S. 8, 20, 23.

32 Siehe dazu im hallischen Kontext: Holger Zaunsto ¨ ck, Die Brautnacht; oder die Fensterkanonade. Der

permanente Konflikt zwischen Stadtbu¨rgern und Studenten im Raum der Stadt des 18. Jahrhunderts, in: Jahrbuch fu¨r hallische Stadtgeschichte 4 (2006), S. 61–76. 33 Sr. Ko¨nigl. Maj. in Preussen, und Churfu¨rdtl. Durchl. zu Brandenburg etc. erkla¨rtes und erneuertes Mandat, wider die Selbstrache, Injurien, Friedensto¨rungen und Duelle, de dato den 28. Junii, 1713.

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Holger Zaunsto¨ck

Jenseits dessen vollzog sich ein Behauptungskampf um die Deutung und Besetzung der o¨ffentlichen Ra¨ume in der Stadt. Die provokativen und gewaltbereiten Praxen der Studenten kodierten den Raum der Stadt neu – durch soziale Vorzugsanspru¨che und das Ignorieren des eingeu¨bten Zusammenlebens. Plastisch greifen la¨sst sich dieser Prozess im Edikt „Wider die Tumulten“ von 1724. Es wird das studentische Geschrei, die spolirung der Glu¨cks-Buden, Bestu¨rm=und Plu¨nderung der Juden Schulen und einiger Ha¨user, wie auch Einwerff=und Schmeißung derer Fenster als auch das Wetzen in die Steine unter Strafe gestellt. Gleichzeitig wird hier geregelt, wie in der Stadt im Tumultfall zu handeln ist: Es soll die Bu¨rgerglocke gela¨utet werden, dann einige compagnien von jungen frischen Bu¨rgern mit Ober= und Untergewehr sowie eine hinla¨ngliche Zahl von Bornknechten im Tal mit ho¨ltzernen Morgensternen zusammentreten; jene auf dem Markt, diese auf dem Domplatz oder auf dem Ber¨ berdies soll die geharnischte Stadt= und lin (ein innersta¨dtischer Platz im Su¨den). U Schaarwache durch die Gaßen der Stadt patroulliren und die Studenten aber auch den zusammenlaufenden Po¨bel (Handwercks=Pursche, Ma¨gde, und Jungens) auseinander treiben.34 Einhergehend mit diesen Maßnahmen und darin eingebettet generierte und implementierte die preußische Obrigkeit zudem ein Denunziationsmuster, das entsprechende Mechanismen neuzeitlicher Gesellschaften strukturell antizipierte und sich erkennbar von der denunciatio, der fru¨hneuzeitlichen offenen Anzeige, unterschied. Zur Durchsetzung textlicher Disziplinarnormen wurden Informationen u¨ber deviantes Verhalten beno¨tigt, das durch die Gesetzestexte als solches festgeschrieben wurde. Ein Prozess, der bereits mit den Universita¨tsstatuten begann. Der denunziatorische Informationsakt war gewollt und wurde eingefordert, und er wurde begleitet von aktiven Erkundungsmaßnahmen der Universita¨tsobrigkeit u¨ber Informanten. Ohne dies an dieser Stelle gebu¨hrend und im Detail ausfu¨hren zu ko¨nnen, ist der Verweis wichtig, dass sich damit das sta¨dtische Sozialklima um 1700 grundlegend zu wandeln begann: Nun war es mo¨glich, dass jeder Student, aber auch Studenten unterstu¨tzende Stadtbewohner wie etwa Gastwirte, Ha¨ndler, Chirurgen und Aufwa¨rtinnen anonym jederzeit vor Gericht gebracht und in eine obrigkeitliche Untersuchung hineingezogen werden konnten.35 Basierend auf diesem in die Lebenswelt der Universita¨tsstadt eingepflanzten Mechanismus verwandelten sich die sta¨dtischen Ra¨ume auf einer weiteren Ebene: Studentenzimmer, Gastha¨user, sakrale Ra¨ume, sta¨dtische

worinnen das vorhero, am 6. August 1688. ergangene, theils wiederholet, theils in einigen Puncten erkla¨ret und erla¨utert, auch ga¨ndert wird, in: Leges Academicae Studiosis in Regia Fridericiana observandae. Halae Magdeburgicae, [nach 1767], S. 6–23. 34 Der Einsatz der in Halle seit 1714 liegenden anhalt-dessauischen Garnison ist dabei – „aus bewegenden Uhrsachen“, d. h. aus Deeskalationsgru¨nden – nicht vorgesehen; Ediktsammlungen der Universita¨ts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt Halle, AB 170393 (58), Ko¨nigl. Majesta¨t gescha¨rfftes Edict Wider die Tumulten. Halle 1724; zum Milita¨r in Halle um 1700: Ute Fahrig, „Er ha¨tte eben nicht u¨ber die Soldaten zu klagen, dass sie ihm malefiziret ha¨tten“ – brandenburg-preußisches Milita¨r in Halle (1680–1740), in: Geschichte der Stadt Halle, Bd. 1 (wie Anm. 5), S. 430–446. 35 Dazu ausfu¨hrlich: Holger Zaunsto ¨ ck, Das Milieu des Verdachts. Akademische Freiheit, Politikgestaltung und die Emergenz der Denunziation in Universita¨tssta¨dten des 18. Jahrhunderts (Hallische Beitra¨ge zur Geschichte des Mittelalters und der Fru¨hen Neuzeit 5), Berlin 2010.

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Pla¨tze und der Markt wurden potentiell zu von Dritten beobachtbaren Orten, die die dort ablaufenden Handlungen als deviant und damit politisch und juristisch relevant erkennen und weiterleiten konnten. Das Gespenst des Verdachts ging um.

Abb. 5: Die Waage auf dem hallischen Markt. Ausschnitt aus: Abbildungen der vornehmsten Prospecten der [...] Haupt-Stadt Halle [...], Nu¨rnberg: Homann, 1721–1724 Quelle: Stadtarchiv Halle, Ansichtensammlung II, 119

Verfu¨gt wurden die landesherrlichen Gesetze in Form von Drucken, die in Einzelexemplaren den Studenten ausgeha¨ndigt, vorgelesen und o¨ffentlich angebracht wurden – an den schwarzen Brettern der Stadt. Von diesen gab es zwei, eines auf dem Markt, an der von der Universita¨t als zentrales Geba¨ude genutzten ‚Waage‘ neben dem Rathaus, und eines an der Marktkirche.36 Innerhalb der skizzierten Friktionen

36 Johann Christoph von Dreyhaupt, Pagus Neletici et Nudzici, oder Ausfu¨hrliche diplomatisch-histo-

rische Beschreibung des zum ehemaligen Primat und Ertz-Stifft, nunmehr aber durch den westpha¨lischen Friedens-Schluß secularisirten Hertzogthum Magdeburg geho¨rigen Saal-Creyses, und aller darinnen befindlichen Sta¨dte, Schlo¨ssen, Aemter [...], insonderheit der Sta¨dte Halle, Neumarckt, Glaucha, Wettin, Lobeju¨n, Co¨nnern und Alsleben, Halle 1749–1750, Zweyter Theil (1750), S. 38.

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Holger Zaunsto¨ck

und der mental-sozial vera¨nderten Lebens- und Raumwelt in der Stadt wurden die schwarzen Bretter zu umka¨mpften Orten, an denen sich relationale und konkurrierende Prozesse abspielten: Sie waren nicht nur ein Ort passiven Empfangens von obrigkeitlichen Gesetzestexten, die linear von oben nach unten kommuniziert wurden, sondern die Studentenschaft nutzte sie ebenso fu¨r ihre eigenen Zwecke um. Man brachte hier Zettel mit Aufrufen und Informationen zu Versammlungen, Tumulten und Vorfa¨llen wider die studentische Ehre an.

¨ ffentliche 3. Die „Mesoebene“ und das O

Beide skizzierten Konstellationen zeichnen sich nicht nur durch eine zeitlich-ra¨umliche Koinzidenz aus. Beide Konstellationen lassen sich auf einer u¨bergeordneten Ebene zusammenschließen, sie greifen ineinander. Das verbindende Glied dabei ist der disziplinierende und formende Bezug auf eine zentrale Akteursgruppe – die Studenten –, der Konsequenzen und Auswirkungen auf die Gesamtstadt hatte. Franckes Reformwerk einerseits war von Glaucha/Halle ausgehend u¨berlokal, territorial als auch global ausgerichtet. Ku¨nftige Netzwerktra¨ger und Sendboten seiner Ideen sowie die Lehrer an den Glauchaer Schulen sollten und wurden aus der Studentenschaft an der Theologischen Fakulta¨t der hallischen Universita¨t rekrutiert.37 In diesem Kontext war ein ausgepra¨gtes, interessengeleitetes und dezidiert lokales Handeln gefragt. Die Studenten sollten nach pietistischen Grundsa¨tzen in Glauben, Pa¨dagogik und Wissen geformt werden, um der von ihnen geforderten Vorbildrolle gerecht zu werden.38 Andererseits war dem preußischen Staat daran gelegen, die disziplinarische und ordnende, gleichsam va¨terliche Autorita¨t gegenu¨ber der eigensta¨ndigen Freiheitskultur aller Studenten in Halle zu behaupten. In der Intention, die Studenten zu kontrollieren und zu formen, sie zu verla¨sslichen und pietistisch gepra¨gten Landesdienern fu¨r den preußischen Verwaltungsapparat und die Landeskirche zu erziehen, greifen beide Konstellationen ineinander – in dieser Verschra¨nkung wird eine u¨ber die beiden Einzelkonstellationen hinausgehende „Mesoebene“39 sichtbar. Auf dieser Ebene lassen sich Interaktionsmuster in unterschiedlicher Hinsicht ausmachen, die in konkreten Handlungsebenen verzahnt sind. Dies ist bereits fru¨h zu verankern: Francke selbst hatte die Gelegenheit, u¨ber eine Erziehungsschrift und den Konsistorialrat Paul von Fuchs Einfluss auf die Erziehung des jungen Friedrich Wilhelm im kindlichen Alter (1697) am kurbrandenburgischen Hof ausu¨ben zu ko¨nnen. Dabei stellte er neben einer strengen Christlichkeit vor allem das Handeln und die Sorge fu¨r das Wohl

37 Dazu zusammenfassend: Oberschelp, Das hallesche Waisenhaus und seine Lehrer im 18. Jahrhundert

(wie Anm. 24), S. 25f. 38 Grundlegend zu den Lehrern im Waisenhaus: Oberschelp, Das hallesche Waisenhaus und seine Leh-

rer im 18. Jahrhundert (wie Anm. 24), S. 41–136.

39 Mulsow, Zum Methodenprofil der Konstellationsforschung (wie Anm. 1), S. 89– 91.

¨ ffentlichen und sta¨dtischer Raum Konstellationen des O

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des Landes, den gemeinen Nutzen, in das Zentrum der beim Thronfolger hervorzurufenden Regierungsmaximen.40 Dafu¨r wiederum war ein Zeitversta¨ndnis zwingend, dass die Lebenszeit auf Erden als begrenzt begriff, und diese deshalb sinnvoll und tatkra¨ftig entsprechend genutzt werden sollte. Francke hat dies in einer Predigt aus dem Jahr 1713 unter dem Titel „Der rechte Gebrauch der Zeit“ ausformuliert.41 Diese Vorstellungen finden sich in den Zielmaximen der preußischen Disziplinarpolitik gepaart mit dem generellen Hoheitsanspruch auf Konfliktlo¨sung wieder: gottgefa¨lliges Studentenleben im Raum der Universita¨tsstadt mit dem Ergebnis, spa¨ter zum Nutzen des preußischen Gemeinwesens zu dienen. Jede Ressourcenverschwendung – egal ob Material, Zeit oder Menschenleben – galt es zu verhindern. Konkret ablesen la¨sst sich dies an der Ediktflut der Jahre, die in entweder generalisierender Absicht oder in fallbezogener Detailscha¨rfe die Praktiken und Folgen studentischakademischer Freiheit zu beka¨mpfen suchte.42 Dem Gesamtkomplex studentischer Moralita¨t und Sittlichkeit wiederum hat Francke eine ausfu¨hrliche Disziplinarschrift in systematischer Absicht gewidmet, in der das Bild eines Theologiestudenten entworfen wird, das sowohl dem pietistischen Lehrer in den Glauchaer Anstalten, als auch dem sittsamen Studenten als preußischem Landeskind zugleich entspricht. Der Text wurde unter dem Titel „Idea Studiosi Theologiae“ 1712 publiziert und bereits 1713 erneut aufgelegt.43 Dieser Zeitpunkt im unmittelbaren Vorfeld des großen Duelledikts von 171344 ist sicher kein Zufall, sondern unterstreicht die ineinander greifenden Interessenlagen der jeweils obrigkeitlichen Handlungstra¨ger in den Konstellationen, was auch am Untertitel der Schrift deutlich wird: „Abbildung eines der Theologie beflissenen / wie derselbe sich zum Gebrauch und Dienst des HErrn und zu allem guten Werck geho¨riger Maassen bereitet“.45 Das u¨bergeordnete Ziel bestand darin, die „Theologiestudenten aus den Zusammenha¨ngen studentischen Lebens heraus zuhalten“. Dies 40 Dies ist ein Ergebnis eines von Christoph Schmitt-Maaß im Rahmen eines Thyssen-Stipendiums der

Franckeschen Stiftungen in Halle durchgefu¨hrten Forschungs- und Editionsprojektes. Die Ergebnisse werden unter dem Titel „‚Gottes furcht‘ und ‚honneˆtete´‘. Die Erziehungsinstruktionen fu¨r Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg-Preußen durch August Hermann Francke und Gottfried Wilhelm Leibniz“ publiziert. Ich danke dem Autor fu¨r die Mo¨glichkeit zur Nutzung des Manuskriptes vorab. 41 Der rechte Gebrauch der Zeit / So fern dieselbe gut / und so fern sie bo¨se ist / Aus 2. Cor. 6/2. und Eph. 5/16. vorgestellet / und auf die Beschaffenheit der jetzigen Zeiten appliciret / Den 4. Jan. als zum Anfang des 1713ten Jahrs / im Waysenhaus zu Glaucha vor Halle / von August Hermann Francken / S. Th. P. Ord. & Past. Zu Glaucha, Halle 2009 (Kleine Texte der Franckeschen Stiftungen 12); die Predigt wurde 1714 in einer zweiten und 1724 in einer dritten Auflage (hier allein 1000 Exemplare) verlegt (siehe dazu das Nachwort von Carmela Keller in: ebd., S. 37–39, S. 38), 42 Siehe exemplarisch: Universita¨tsarchiv Halle, Rep. 5 Universita¨tsgericht, Abt. I 1702–1819, B. Verbindungswesen (1765–1821), 1: Bekanntmachungen, Edikte, Reskripte des ko¨niglichen Hauses an das Universita¨tsgericht. 1702–1807. 43 In der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen findet sich die Schrift in jeweils mehreren Exemplaren (z. B.: S/A: 1170 [1] und 35 I 4): Idea Studiosi Theologiae, oder Abbildung eines der Theologie beflissenen / wie derselbe sich zum Gebrauch und Dienst des HErrn und zu allem guten Werck geho¨riger Maassen bereitet; Benebst einem Anhang / bestehend in einer Ansprache an die Studioso Theologiae zu Halle: zur Handleitung fu¨r alle / so Theologiam studiren / zur wahren Nachricht von dererselben Anfu¨hrung auf gedachter Universita¨t [...], Halle / in Verlegung des Waysen=Hauses / 1712. 44 Siehe Anm. 33. 45 Auch formuliert etwa in der „Zuschrifft“: Idea Studiosi Theologiae (s. Anm. 43), S. 6–13, hier S. 8f.

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wurde verknu¨pft mit dem Angebot einer Alternative ganz im landesherrlichen Sinn, na¨mlich damit, „eine pietistische Gegenwelt zum studentischen Milieu“ zu entwerfen, die auch ra¨umlich organisiert war: ab 1714 wurden große Teile der Lehrer auf dem Anstaltsgela¨nde im so genannten ‚Langen Haus‘ untergebracht.46 So la¨sst sich sagen, dass beide Konstellationen zeitlich-ra¨umlich koinzident auf eine Stadt und deren Ra¨ume bezogen sind und diese – u¨berregional wahrnehmbar – vera¨ndern. In beiden wurden zur Umsetzung von religio¨s-reformerischen, disziplinarpolitischen und mental-habituellen Konzepten kommunikative Kompositionen in handlungsleitender Absicht entworfen, die ausdifferenziert waren, sich im Prinzip allen medialen Mo¨glichkeiten der Zeit bedienten, dabei auch neue Wege suchten, so zu einem Zirkelschluss fu¨hrten und eine weiterfu¨hrende Konstellation – „Mesoebene“ – in territorialen Dimensionen erkennen lassen. Diese stellt in Bezug auf die staatliche Makrospha¨re den Vermittlungsbezug her. Zudem wird der Handlungsraum zugleich reichsweit und global geo¨ffnet. Dabei werden Bilder der Stadt generiert, die mit den jeweils spezifischen Wertesystemen und Wirkintentionen verknu¨pft sind: die pietistische Schul-Stadt auf dem Berg, die studentisch freie Stadt Halle, das geordnete brandenburg-preußische Gemeinwesen.47 Dies korrespondiert mit einer sozial neu hergestellten und kulturell kodierten Raumstruktur, die in allta¨glichen Friktionen ausgehandelt wurde: ein Kampf um die Deutungshoheit der Topografie der Stadt war in Gang gekommen. Insofern entstanden Handlungsra¨ume, die durch das Auseinandertreten von darauf projizierten Ordnungsvorstellungen und Verhaltensnormen sowie den allta¨glichen (so als deviant beschreibbaren) Praktiken der Menschen eminent politischen Charakter erhielten. Im konkreten Verhandlungsgegenstand, wie in Halle jenem dem brandenburgisch-preußischen Territorialstaat nahe stehenden und von diesem gefo¨rderten pietistischen Menschenbild und dem Selbstversta¨ndnis akademischer Freiheit der Studenten, werden politische Ra¨ume geformt.48 Ordnen lassen sich diese Bezu¨ge im Blick auf die Konstellationen mit von Rudolf Schlo¨gl vorgeschlagenen Raumtypen: architektonisch markierte und abgegrenzte Ra¨ume (die pietistische Schulstadt), ephemere Ra¨ume („zeitlich begrenzte, aber regelma¨ßig wiederkehrende Raumfigurationen“, wenn etwa Markt und andere Pla¨tze der Stadt fu¨r die performativen Inszenierungen Akademischer Freiheit genutzt werden) und virtuelle Ra¨ume (gemeint sind damit etwa Rechtsra¨ume, aber auch die „ra¨umlich fassbare Aura“ eines handelnden Menschen, als auch Fragen der „Kommunikation der Ehre“), die zusammen gesehen

46 Oberschelp, Das hallesche Waisenhaus und seine Lehrer im 18. Jahrhundert (wie Anm. 24), S. 60

(Zitate), 253f., 259f., 369f.

47 Siehe in diesem Kontext: Mark Hengerer, Embodiments of Power? Baroque Architecture in the For-

mer Habsburg Residences of Graz and Innsbruck, in: Embodiments of Power. Building Baroque Cities in Europe, hg. v. Gary B. Cohen/Franz A. J. Szabo (Austrian and Habsburg Studies 10), New York/ Oxford 2008, S. 9–42, hier S. 36: „The reading of baroque towns as embodiments of power would, therefore, profit from an additional approach that would reconstruct the settings in discourse and in media that organizes the creation, adaption, and perception of these towns.“ 48 Vgl. dazu: Marcus Sandl, Bauernland, Fu¨rstenstaat, Altes Reich: Grundzu¨ge einer Poetologie politischer Ra¨ume im 18. Jahrhundert, in: Politische Ra¨ume. Stadt und Land in der Fru¨hneuzeit (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte 2), hg. v. Cornelia Jo¨chner, Berlin 2003, S. 145–165.

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eine neue „Raumordnung“ fu¨r die Stadt, in unserem Fall Halle um 1700, evozieren.49 Die Stadt kann in dieser Perspektive als Arena fu¨r o¨ffentlich handelnde Akteursgruppen verstanden werden, und sie wird dabei selbst zum Gegenstand der Vera¨nderung: Topografien und Ra¨ume werden mental und physisch vera¨ndert bzw. neu geschaffen, es entsteht eine Pluralita¨t der Deutung u¨ber den Charakter der Stadt. Mithin steht die Frage nach der Mentalita¨t bzw. den Mentalita¨ten der Stadt im Raum, und dies sowohl empirisch sozialhistorisch also auch diskursiv-medial: Welche Akteure produzieren warum und wo mit welchen Medien interessengeleitete Kommunikation? Das in dieser Frage mitschwingende, grundlegend Prozessuale der beschriebenen Mechanismen legt nah, die Stadt des 18. Jahrhunderts auch als Arena der Vera¨nderung zu verstehen, wobei die hierbei zu beobachtenden Handlungen in ihrer Substanz ‚politisch‘ sind. Was bedeutet dies konzeptionell? ¨ ffentlichkeit, den es mit Zum einen hat dies Auswirkungen auf den Begriff der O der Lebenswelt Stadt in Beziehung zu setzen gilt. Die verschiedenen Wirkungskra¨fte konnten sich in der sta¨dtischen Lebenswirklichkeit nur manifestieren, wenn sie ihre Anspru¨che sichtbar ausstellen konnten: Mann musste sie sehen, ho¨ren, und u¨ber sie reden, sie stellten sich mit unterschiedlichen medialen Mitteln dar und hinterließen ihre Markierungen in der Topografie der Stadt.50 In einer solchen Perspektive ¨ ffentlichkeit‘ nicht mehr nur in der Polarita¨t von obrigkeitlicher Vorgabe ist die ‚O und kritischem Ra¨sonieren vermittelt u¨ber Printmedien eingeschlossen. Stattdessen wird die darauf ausgerichtete und vorgegebene Perspektivenhierarchie der Forschung ¨ ffentlichkeit‘, sondern ‚das O ¨ ffentliche‘ nivelliert. Insofern wa¨re nicht mehr ‚die O ¨ zu untersuchen. Das Offentliche wird dabei auf seine Grundfunktion zuru¨ckgefu¨hrt und von zugeschriebener Teleologie befreit: Damit ist – historisch – ein herzustellender Zustand gemeint, der es erlaubt, die Handlungsintentionen unterschiedlicher ¨ ffentliche ist Akteursgruppen sichtbar zu machen, Anspru¨che zu formulieren. Das O ein Mechanismus, der unabha¨ngig von spezifischen Inhalten es Handelnden erlaubt, kommunikative Inbezugsetzungen mit dem Ziel der Pra¨sentation, Durchsetzung und Behauptung zu generieren, der Verbindungen herstellt und damit Handlungszusammenha¨nge konstituiert. Zum zweiten wird fu¨r die Analyse daraus sich ergebender Konstellationen ein Politikversta¨ndnis favorisiert, das prozessual und praxisorientiert ausgerichtet ist, und das eine Vielfalt an Austragungsformen umgreift, die jedwede religio¨se, kulturelle, soziale Formation und deren Formen der Behauptung in den Stadtgesellschaften einbezieht – ‚politisch‘ sind so alle Kategorien des Gestaltens und Aushandelns lebensweltlicher Deutungsanspru¨che und Pra¨sentationsformen. Diese Sichtweise auf das Politische der Stadt geht konform mit einem Versta¨ndnis von fru¨hneuzeitlicher Herrschaft als mehrpoligem Bezugssystem, wobei deren Ausgestaltung als dynamischer und kommunikativer Prozess verstanden wird.51

49 Rudolf Schlo ¨ gl, Der Raum als „Universalmedium“ in der fru¨hneuzeitlichen Stadt [2004], www.uni-

konstanz.de/FuF/Philo/Geschichte/Schloegl/Schloegl/RaumalsUniversalmedium03.pdf.

50 Vgl. Rudolf Schlo ¨ ffentlichkeit und Medien in der Fru¨hen Neuzeit, in: ZHF ¨ gl, Politik beobachten. O

35 (2008), Heft 4, S. 581–616, hier S. 585, 587.

51 Markus Meumann/Ralf Pro ¨ ve, Die Faszination des Staates und die historische Praxis. Zur Beschrei-

bung von Herrschaftsbeziehungen jenseits teleologischer und dualistischer Begriffsbildungen, in:

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Holger Zaunsto¨ck

Auf diese Weise lassen sich die beschriebenen Konstellationen ordnen und auf ihre politischen Dimensionen hin befragen. Und insofern ist zu u¨berlegen, im Blick ¨ ffentlichen auf das in diesem Sinn vielauf die sta¨dtischen Ra¨ume die Formen des O fa¨ltig Politische52 ru¨ckzubinden. Mit einer solchen Fokussierung, die im u¨brigen auch die hier ausgeklammerte Sozieta¨tskultur des 18. Jahrhunderts in weitergehende Frage- und Erkla¨rungshorizonte einordnen ko¨nnte,53 und untersucht an konkreten Konstellationen, lassen sich m. E. die Lebenswelten der Stadt des langen 18. Jahrhunderts ergebnisoffener beschreiben. Daru¨ber hinaus bekommt man jene Handlungslagen in den Blick, in denen etablierte Konzepte wie etwa der Ehre, von Politikverfahren oder des sta¨dtischen Selbstversta¨ndnisses in Frage gestellt und mit Vera¨nderungsschu¨ben u¨berzogen werden. Damit ist in Umrissen eine stadthistorische Konstellationsforschung skizziert, die die Vielfalt und die davon ausgehenden Vera¨nderungspotentiale politisch relevanter Friktionen im Blick auf die jeweiligen Formen und Stra¨ ffentlichen, ru¨ckgebunden an die Interessen und Ziele der dahinter stetegien des O henden Akteursgruppen und deren Auswirkungen auf die Ra¨ume und die Topografie der Stadt thematisiert.

Herrschaft in der Fru¨hen Neuzeit. Umrisse eines dynamisch-kommunikativen Prozesses, hg. v. Dens. (Herrschaft und soziale Systeme in der Fru¨hen Neuzeit 2), Mu¨nster 2004, S. 11–49, insb. S. 45. 52 Vgl. Schlo ¨ ffentlichkeit“). ¨ gl, Politik beobachten (wie Anm. 50), S. 607 („integrierte O 53 Vgl. in diesem Kontext etwa: Anne-Margarete Brenker, Aufkla¨rung als Sachzwang. Realpolitik in Breslau im ausgehenden 18. Jahrhundert (Hamburger Vero¨ffentlichungen zur Geschichte Mittel- und ¨ ffentlichkeit im Kurfu¨rsOsteuropas 8), Mu¨nchen/Hamburg 2000; Michael Schaich, Staat und O tentum Bayern der Spa¨taufkla¨rung (Schriftenreihe zur Bayerischen Landesgeschichte 136), Mu¨nchen ¨ ffentlichkeit in Danzig im 18. Jahrhundert bis zur zwei2001; Ansgar Haller, Die Ausformung von O ten Teilung Polens im Jahre 1793 (Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit 42), Hamburg 2005; Holger Zaunsto¨ck, Gesellschaft der Aufkla¨rer oder aufgekla¨rte Stadtgesellschaft – die Sozieta¨tsbewegung und Soziabilita¨tskultur des 18. Jahrhunderts, in: Geschichte der Stadt Halle, Bd. 1 (wie Anm. 5), S. 447–463.

¨ NFTE, HANDWERKER ZU ¨ FFENTLICHKEIT UND AUFKLA¨ RERISCHE O Anna¨herungen an ein distanziertes Verha¨ltnis von Patrick Schmidt

1. Einleitung ¨ ffentlichkeit“ die Zu¨nfte nur Ju¨rgen Habermas erwa¨hnt im „Strukturwandel der O einmal explizit. In der Einleitung skizziert er o¨konomische und wirtschaftspolitische Wandlungsprozesse, die in der Fru¨hen Neuzeit den Aufstieg des Bu¨rgertums gefo¨rdert ha¨tten. Zu diesen geho¨rt fu¨r ihn, dass der absolutistische Staat dazu u¨bergegangen sei, nicht mehr Handwerkskorporationen mit Privilegien auszustatten, sondern unternehmerisch ta¨tige Individuen.1 Die Entwicklung des modernen Kapitalismus geho¨rt fu¨r Habermas zu den Voraussetzungen fu¨r die Entstehung der „bu¨rgerlichen ¨ ffentlichkeit“. Insofern deutet schon diese isolierte Erwa¨hnung der Zu¨nfte darauf O hin, dass der Philosoph sie eher in einem antagonistischen Verha¨ltnis zur gebildeten, ¨ ffentlichkeit des Aufkla¨rungszeitalters sieht, als dass er sie in ihre ra¨sonnierenden O Ahnenreihe stellen wu¨rde. Zwischen den Zeilen lesend, kann man dem „Struktur¨ ffentlichkeit“ sogar entnehmen, dass Habermas die Zu¨nfte in einem viel wandel der O umfassenderen Sinne als Teil einer alten Welt der Vergesellschaftung und Kommuni¨ ffentlichkation betrachtet, die in eben jenem Prozess u¨berwunden wurde, der die O keit der Aufkla¨rung hervorbrachte. Darauf hat der englische Historiker Phil Withington ku¨rzlich mit Recht hingewiesen.2 Obgleich Habermas die entstehende bu¨rger¨ ffentlichkeit als ein eminent sta¨dtisches Pha¨nomen charakterisiert,3 schließt liche O er explizit die Tra¨gerschichten des traditionellen Bu¨rgertums der Sta¨dte von ihr aus. Diejenigen, die sich als „bu¨rgerlich“ ansahen und weitgehend u¨ber ihre Bildung definierten, ha¨tten Gruppen wie Handwerker und Ladenbesitzer, die das Gros jener bil-

1 Vgl. Ju¨rgen Habermas, The Structural Transformation of the Public Sphere. An Inquiry into a Cate-

gory of Bourgeois Society, u¨bers. von Thomas Burger, Cambridge 102009, S. 19.

2 Vgl. Phil Withington, Public Discourse, Corporate Citizenship, and State Formation in Early

Modern England, in: AHR 112 (2007), S. 1016–1038, hier S. 1020, 1024, 1034.

3 Vgl. Habermas, Structural Transformation (wie Anm. 1), S. 29f.

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deten, die das sta¨dtische Bu¨rgerrecht besaßen, als nicht zu ihren Kreisen zugeho¨rig betrachtet.4 Es steht außer Frage, dass die Zu¨nfte – und ihnen strukturell a¨hnliche Korporationen wie die Laienbruderschaften katholischer Kommunen – einen konstitutiven ¨ ffentlichkeit fru¨hneuzeitlicher Sta¨dte bildeten. Zu¨nfte Bestandteil der politischen O waren fast immer in die Ratswahlen eingebunden und im Rat vertreten. Die oligarchischen inneren Ratsgremien konsultierten nicht selten die von Zunftvertretern gebildeten großen Ra¨te, um die Meinung der Bu¨rgerschaft zu wichtigen politischen Fragen zu eruieren und sich in ihren Entscheidungen abzusichern, oder sie bestellten Zunftvorsteher ein, um zu ho¨ren, was diese u¨ber solche Fragen dachten. Die Zu¨nfte wurden benutzt, um der Bu¨rgerschaft Ratsentscheidungen zu kommunizieren.5 Bei wichtigen Zeremonien wie Prozessionen und Schwo¨rtagen, in denen sich die Stadtgemeinde fu¨r sich und andere als Einheit zu pra¨sentieren bestrebt war und in denen zugleich die politische Ordnung der Stadt dar- und hergestellt wurde, partizipierte die Bu¨rgerschaft oftmals nach Zu¨nften gegliedert.6 Auch wenn die Monarchie Sta¨dte ¨ ffentlichkeit benutzte, wie bei den deutschen Kaials Bu¨hnen ihrer repra¨sentativen O serwahlen und -kro¨nungen oder bei Herrschereinzu¨gen, bildeten die Zu¨nfte oft einen Teil der Inszenierung.7 Dienten sie dabei Fu¨rst und Adel in gewisser Weise als dekorative oder amu¨sante Staffage, so boten diese Anla¨sse ihnen andererseits Gelegenheit, sich als wichtige Institutionen innerhalb der Sta¨ndegesellschaft zu inszenieren. ¨ ffentlichkeit nicht nur in einem Auch konstituierten die Zu¨nfte sta¨dtische politische O affirmativen, systemstabilisierenden Sinn, wie es die bisherigen Beispiele nahelegen. Die Zunftha¨user und -stuben waren soziale Ra¨ume, in denen obrigkeitliche Handlungsweisen kritisch diskutiert werden konnten, und wenn sich in den Sta¨dten Opposition gegen die Ratspolitik formierte, waren die Zu¨nfte oft beteiligt, nicht selten auch federfu¨hrend.8 4 Vgl. ebd., S. 72. 5 Vgl. Robert Giel, Politische O ¨ ffentlichkeit in Ko¨ln (1450–1550), Berlin 1998. 6 Vgl. zu Prozessionen an einem Einzelbeispiel aus Ko¨ln: Kathrin Enzel, „Eins Raths Kirmiß ...“. Die

„Große Ko¨lner Gottestracht“ als Rahmen der politischen Selbstdarstellung sta¨dtischer Obrigkeiten, in: Interaktion und Herrschaft. Die Politik der fru¨hneuzeitlichen Stadt, hg. v. Rudolf Schlo¨gl (Historische Kulturwissenschaft 5), Konstanz 2004, S. 471–497. Zu Schwo¨rtagen vgl. Jo¨rg Rogge, Kommunikation, Herrschaft und politische Kultur. Zur Praxis der o¨ffentlichen Inszenierung und Darstellung von Ratsherrschaft in Sta¨dten des deutschen Reiches um 1500, in: Interaktion und Herrschaft (wie oben), S. 381–407; Rainer Jooss, Schwo¨ren und Schwo¨rtage in su¨ddeutschen Reichssta¨dten. Realien, Bilder, Rituale, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums (1993), S. 153–168; Christian Wind¨ ffentlichkeit im ausgehenden Ancien Re´gime. Das Beispiel einer elsa¨ssischen ler, Schwo¨rtag und O Stadtrepublik, in: SchweizZG 46 (1996), S. 197–225. 7 Ein beeindruckendes visuelles Zeugnis fu¨r die Partizipation von Zu¨nften an Feiern der Monarchie liefert Denis van Alsloots Gema¨ldezyklus aus dem Jahr 1616, der den Triumphzug der Erzherzogin Isabella von Spanien in Bru¨ssel am 31. Mai 1615 zeigt. Am Ommeganck, einer ja¨hrlich abgehaltenen, 1615 zu Ehren der Statthalterin aber besonders prachtvoll inszenierten Prozession nahmen 55 Bru¨sseler Zu¨nfte und Gilden teil, die in der ku¨nstlerischen Wiedergabe des Ereignisses eine dominante Rolle spielen. Vgl. den Beitrag von Jutta Go¨tzmann in: Spektakel der Macht. Rituale im alten Europa 800–1800, hg. v. Barbara Stollberg-Rilinger, Darmstadt 2008, S. 211f. 8 Vgl. zu Zunftha¨usern als sozialen Ra¨umen der Protestartikulation Gerd Schwerhoff, O ¨ ffentliche Ra¨ume und politische Kultur in der fru¨hneuzeitlichen Stadt. Eine Skizze am Beispiel der Reichsstadt Ko¨ln, in: Schlo¨gl (Hg.), Interaktion und Herrschaft, S. 113–136, hier S. 128f.

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¨ ffentlichkeit vieler fru¨hWaren die Zu¨nfte wichtige Akteure in der politischen O neuzeitlicher Sta¨dte, so erstaunt es, welche geringe – bzw. negative – Rolle ihnen ¨ ffentlichkeit zugeschrieben in der Forschungsdiskussion u¨ber die aufkla¨rerische O wird.9 Whitington hat unla¨ngst postuliert, sie und andere ‚vormoderne‘ Korporationen ha¨tten in England eine wichtige Rolle als soziale Ra¨ume gespielt, in denen Stadtbu¨rger jene kommunikativen und diskursiven Kompetenzen erworben ha¨tten, ¨ ffentlichkeit gewandt zu die es ihnen spa¨ter erlaubten, sich in der aufkla¨rerischen O bewegen.10 Der amerikanische Historiker Steven L. Kaplan hat, ohne explizit von ¨ ffentlichkeit“ zu sprechen, eine a¨hnliche Hypothese aufgestellt: Gerade weil die „O Pariser Zu¨nfte des 18. Jahrhunderts von tiefen internen Konflikten gepra¨gt gewesen seien, ha¨tten die Handwerker in ihnen eine Streitkultur einu¨ben ko¨nnen, die es ihnen ermo¨glicht habe, an den politischen Diskussionen des revolutiona¨ren Frankreichs teilzunehmen.11 Dies sind indes isolierte Stimmen; im Mainstream der Literatur u¨ber ¨ ffentlichkeit der Aufkla¨rer erscheinen die Zu¨nfte als marginalisiert. Dies gilt die O ¨ im Ubrigen auch fu¨r die zunft- und handwerksgeschichtliche Literatur, in der zwischen „Zu¨nften“ und „Aufkla¨rung“ meist nur ein negativer Zusammenhang etabliert wird, indem die zunftkritischen Diskurse des Zeitalters dargestellt werden. Revisionistische Autorinnen und Autoren haben die Zu¨nfte gegen diese Aufkla¨rungskritik in Schutz genommen: Die Handwerkskorporationen seien weitaus flexibler gewesen und ha¨tten sich sehr viel marktgerechter verhalten, als es die philosophes geglaubt hatten.12 ¨ ffentlichkeit der Aufkla¨rung Ob aber die Zu¨nfte in einem positiven Sinne an der O partizipierten, sei es, dass sie deren Ideen rezipierten oder sich selbst in ihre Diskurse einbrachten, haben auch Historiker/innen dieser Provenienz bislang nicht gefragt. Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es, das offenbar von Distanz und Fremdheit ¨ ffentlichkeit gepra¨gte Verha¨ltnis zwischen den Zu¨nften und der aufkla¨rerischen O zu beleuchten. Dies geschieht in drei Schritten: Zuna¨chst werden – notwendigerweise knapp und selektiv – einige Aspekte des zunftkritischen Diskurses der Aufkla¨rung dargestellt. Neben prominenten Kritikern kommt auch ein anonymer Verteidiger der Korporationen zu Wort; die Gegenu¨berstellung der Positionen verdeut-

9 Mit „aufkla¨rerischer O ¨ ffentlichkeit“ wird im Folgenden jene soziale und kommunikative Spha¨re

¨ ffentlichkeit“ konzipiert hat, und die er im 18. Jahrhunbezeichnet, die Habermas als „bu¨rgerliche O dert entstehen sieht. Unter den zahlreichen kritischen Einwa¨nden, die gegen das Konzept formuliert ¨ ffentlichkeit der Akademien, Freimaurerlogen, Kafworden sind, findet sich der Hinweis, dass diese O feeha¨user und Salons keineswegs im soziologischen Sinne „bu¨rgerlich“ war, weil Adelige in ihr eine gewichtige Rolle spielten. Darum wird in diesem Aufsatz von „aufkla¨rerischer“ statt „bu¨rgerlicher“ ¨ ffentlichkeit gesprochen. O 10 Vgl. Whitington, Public Discourse (wie Anm. 2), S. 1017f., 1028, 1030, 1032. 11 Steven L. Kaplan, Ide´ologie, conflits et pratiques politiques dans les corporations parisiennes au XVIIIe sie`cle, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 49 (2002), S. 5–55, hier S. 52f. 12 Harald Deceulaer hat bereits 1998 konstatiert, in der neueren Handwerksgeschichte wu¨rden fru¨hneuzeitliche Zu¨nfte als „multiform, flexible organizations“ charakterisiert, fu¨r die „subcontracting, markets and sometimes even capitalism“ zu einer o¨konomischen Realita¨t geho¨rten, die sie akzeptiert und mitgestaltet ha¨tten. Vgl. Harald Deceulaer, Guildsmen, Entrepreneurs and Market Segments: The Case of the Garment Trades in Antwerp and Ghent (Sixteenth to Eighteenth Centuries), in: International Review of Social History 43 (1998), S. 1–29, Zitat S. 1.

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licht, dass es in der Diskussion um die Zu¨nfte um mehr ging, als um Wirtschaftspolitik im engeren Sinne: Zur Debatte standen vielmehr Gesellschaftsentwu¨rfe. In einem zweiten Schritt wird die Forschungsdiskussion um die Formen der Geselligkeit und Vergesellschaftung in den Blick genommen, in denen sich die aufkla¨reri¨ ffentlichkeit konstituierte. So kann gezeigt werden, dass Charakterisierunsche O ¨ ffentlichkeit die in der Historiogragen der Zu¨nfte als einer Negativfolie dieser O phie des 19. Jahrhunderts konstruierte Dichotomie von „Korporation“ und „Assoziation“ zugrunde liegt. Diese Dichotomisierung ist indes aus verschiedenen Forschungsperspektiven relativiert worden. In einem dritten Schritt werden anhand von Frankfurter und Nu¨rnberger Quellen Beispiele dafu¨r diskutiert, dass die dortigen Zu¨nfte einen wichtigen Baustein einer aufkla¨rerischen, bzw. im weiteren Sinne gebil¨ ffentlichkeit, na¨mlich Printmedien, durchaus zu nutzen wussten und sich deten O auch kreativ aneigneten. Deutlich wird dabei indes auch, dass eine solche Aneignung der fu¨r die Aufkla¨rung bedeutsamen Medien nicht zwangsla¨ufig mit einer Rezeption ihrer Weltsichten einher gehen musste.

2. Die Zu¨nfte in der vero¨ffentlichten Meinung des Aufkla¨rungszeitalters

Wenn es auch schwer fa¨llt zu bestimmen, welchen Beitrag die Zu¨nfte – wenn u¨ber¨ ffentlichkeit leisteten, so ist doch haupt – zur Konstituierung der aufkla¨rerischen O ¨ klar, dass Akteure dieser Offentlichkeit u¨ber die Zu¨nfte nachgedacht und publiziert haben. Zu¨nfte, bzw. Korporationen im weiteren Sinne, spielten bereits eine gewichtige Rolle in den Werken zweier politischer Theoretiker des 17. Jahrhunderts, Bodin und Althusius, wa¨hrend die Anthropologie Thomas Hobbes’ mit ihrem „competitive view on man and society“ ihre Abschaffung nahelegte.13 Ihre weitgehende Entmachtung empfahlen in den Niederlanden, ebenfalls schon in den 1660er Jahren, die Bru¨der Johan und Pieter de la Court als Maßnahme zur Liberalisierung der Wirtschaft.14 Richtet man den Blick auf das 18. Jahrhundert, wie es im Folgenden geschehen soll, so fa¨llt es nicht schwer, prominente Stimmen zu zitieren, die eine Abschaffung der Zu¨nfte forderten bzw. die zumindest aus ihrer Abneigung gegen das Zunftwesen keinen Hehl machten. Insbesondere bei Vertretern der o¨konomischen Theorien des Physiokratismus und des fru¨hen Wirtschaftsliberalismus war eine solche Haltung verbreitet. Denis Diderot spricht sich 1764 in einem Essay u¨ber das Verlagswesen dafu¨r aus, dieser Branche besondere Schutzrechte zu verleihen, um das geistige Eigentum der Verleger zu schu¨tzen und damit zu garantieren, dass auch in Zukunft anspruchsvolle Werke gedruckt werden. Um aber von vornherein klar zu machen, 13 Anthony Black, Guilds and Civil Society in European Political Thought from the Twelfth Century

to the Present, London 1984, S. 129–142 (Bodin und Althusius); S. 157ff. (Hobbes).

14 Vgl. Karel Davids, From De la Court to Vreede. Regulation and Self-Regulation in Dutch Economic

Discourse from c. 1660 to the Napoleonic Era, in: Journal of European Economic History 30 (2001), S. 245–289, hier S. 257ff.

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dass er grundsa¨tzlich kein Anha¨nger solcher Monopole ist, stellt der franzo¨sische Aufkla¨rungsphilosoph ein Bekenntnis seiner Gegnerschaft zu den Zu¨nften an den Anfang seines Textes: Je vous dirai donc d’abord qu’il ne s’agit pas simplement ici des inte´reˆts d’une communaute´. Et que m’importe qu’il y ait une communaute´ de plus ou de moins, a` moi qui suis un des plus zele´s partisans de la liberte´ prise sous l’acception la plus e´tendue; qui souffre avec chagrin de voir le dernier des talents ge´ne´ dans son exercice; une industrie, des bras donne´s par la nature, et lie´s par des conventions; qui ai de tout temps e´te´ convaincu que les corporations e´taient injustes et funestes, et qui en regarderai l’abolissement entier et absolu comme un pas vers un gouvernement plus sage.15 In der von Diderot und D’Alembert herausgegebenen „Encyclope´die“ formuliert Falguet de Villeneuve seinen Artikel „Maıˆtrise“ als Polemik gegen das Zunftwesen in seiner u¨berkommenen Form, um zugleich Vorschla¨ge zu unterbreiten, wie es reformiert werden ko¨nnte. Die Zu¨nfte seien des rafinemens de monopole vraiment nuisibles a` l’inte´re´t national, die l’ignorance, la mauvaise foi, la paresse dans les diffe´rentes professions fo¨rderten, wie er gleich am Beginn des Artikels konstatiert.16 Auch Adam Smith findet in „The Wealth of Nations“ 1776 kein gutes Wort fu¨r die Zu¨nfte. ¨ ußerung zu diesem Thema charakterisiert er jegliIn seiner am ha¨ufigsten zitierten A che Zusammenkunft von Handwerkern als potentielle Verschwo¨rung gegen das Allgemeinwohl – insbesondere in Gestalt u¨berho¨hter Preise: People of the same trade seldom meet together, even for merriment and diversion, but the conversation ends in a conspiracy against the public; or in some contrivance to raise prices.17 Dementsprechend empfiehlt der schottische Philosoph nicht nur eine Abschaffung der Zu¨nfte, sondern pla¨diert fu¨r eine Wirtschafts- und Steuerpolitik, die Handwerkern mo¨glichst wenig Anlass dazu gibt, sich in irgendeiner Form zu organisieren.18 Zu solchen beru¨hmten Namen gesellten sich heute weniger bekannte Autoren, die das Zunftwesen ebenso deutlich ablehnten: In Frankreich etwa Simon Clicquot de Blervache (1723–1796), Louis Claude Bigot de Sainte Croix (1744–1803) und Anne Robert Jacques Turgot (1727–1781).19 Der letztere war nicht nur ein Gelehrter, der mehrere Artikel zur „Encyclope´die“ beisteuerte, sondern hatte in den Jahren 15 Denis Diderot, Lettre historique et politique sur le commerce de la librairie, in: Ders., Œuvres com-

ple`tes, hg. von der Socie´te´ encyclope´dique franc¸aise et le Club franc¸ais du livre, Bd. V, Paris 1970, S. 305–381, Zitat S. 306, Hervorh. P. S. 16 Falguet de Villeneuve, Art. „Maıˆtrise“, in: Denis Diderot/Jean Baptiste le Rond d’Alembert, Encyclope´die ou dictionnaire raisonne´ des sciences, des arts et des me´tiers [...], Nouvelle Edition, tome vingtieme, Genf 1778. S. 841–849, Zitat S. 841. 17 Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the The Wealth of Nations, Petersfield 2007 (Erstausg. 1776), S. 84. 18 Vgl. ebd., S. 84f. 19 Cliquot de Blervache legte seine zunftkritischen U ¨ berlegungen in den „Conside´rations sur le commerce et en particulier sur les compagnies, socie´te´s et maitrises“ (Amsterdam 1758) vor, Bigot de Sainte Croix die seinigen im „Essai sur la liberte´ du commerce et de l’industrie“ (Amsterdam 1775). Vgl. Liana Vardi, The Abolition of the Guilds during the French Revolution, in: French Historical Studies 15 (1988), S. 704–717, hier S. 705.

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1774–1776 als controˆleur des finances die Gelegenheit, seine physiokratischen o¨konomischen Ideen kurzfristig in ein weitreichendes politisches Reformprogramm umzusetzen. Neben der Liberalisierung des Getreidehandels bildete die Aufhebung aller Zu¨nfte den Kern dieses Programms, das allerdings – wie Turgot – nach kurzer Zeit zu Fall gebracht wurde.20 Dies war nicht das einzige Beispiel fu¨r die Umsetzung aufkla¨rerischer Zunftkritik in praktische Politik: Bereits in den fru¨hen 1770er Jahren hatte Großherzog Pietro Leopoldo als Teil seiner Reformpolitik die Zu¨nfte in der Toskana aufgehoben.21 Bevor die zunftkritischen Argumente in der Aufkla¨rungszeit etwas na¨her beleuchtet werden, sei klargestellt, dass die Korporationen durchaus auch ihre Verteidiger fanden. Dies gilt etwa fu¨r den anonymen Autor des umfangreichen Artikels „Zunfft/Zu¨nffte“ in „Zedlers Universallexicon“.22 In seiner 53-seitigen Abhandlung legt er zwar in aller Ausfu¨hrlichkeit die „Handwerksmissbra¨uche“ und die seit dem Mittelalter gegen sie getroffenen politischen Maßnahmen dar und gesteht im Grunde in seiner Auseinandersetzung mit den Argumenten der Zunftkritiker auch ein, dass diese teilweise zutreffen, spricht sich aber letztlich dennoch emphatisch fu¨r die Beibehaltung eines reformierten Zunftwesens aus. Die langen und teils gewundenen Argumentationen indes, die er anstellt, um den Zunftkritikern auf ihre nichtige Einwu¨rffe und abgezielte Frey=Meister= und Freygeisterey genugsam das Maul gestopffet zu haben,23 geben einen Hinweis darauf, dass sie nicht so leicht zu widerlegen waren. Das la¨sst sich nicht zuletzt damit erkla¨ren, dass eine Ablehnung des Zunftwesens sich logisch aus zentralen Annahmen des aufkla¨rerischen Denkens ergab, wie William H. Sewell hervorgehoben hat.24 Hinter einzelnen, spezifischen Vorwu¨rfen, wie dem, dass die Zu¨nfte fu¨r ein ku¨nstlich u¨berho¨htes Preisniveau verantwortlich seien,25 dass sie Meisterwitwen ihres Rechts zur Gewerbeausu¨bung und damit ihres Lebensunterhaltes beraubten, wenn sie bei der Wiederheirat einen aus der Sicht der Korporation ungeeigneten Partner wa¨hlten,26 oder dass sie durch ihre Ausschließungsstrategien junge Ma¨nner in die Perspektivlosigkeit und damit in die Kriminalita¨t trieben,27 wird eine fundamentale Fremdheit zwischen einem aufgekla¨rten Menschenbild und Gesellschaftsentwurf und den von den Zu¨nften repra¨sentierten erkennbar.

20 Vgl. Steven L. Kaplan, Social Classification and Representation in the Corporate World of Eigh-

teenth-Century France: Turgot’s Carnival, in: Work in France. Representations, Meaning, Organization, and Practice, hg. v. dems./Cynthia Koepp, Ithaca N. Y. 1986, S. 176–228; Fabrice Piwnica, Les re´sistances a` l’introduction du libe´ralisme en France: Le te´moignage des me´moires des corporations en 1776, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 40 (1993), S. 30–48. 21 Vgl. Corine Maitte, Le reformisme eclaire´ et les corporations : L’abolition des arts en Toscane, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 49 (2002), S. 56–88. 22 Anon., Artikel „Zunfft/Zu¨nffte“, in: Zedlers Universallexicon, Leipzig 1731–1754, Bd. 64., Sp. 50–158. 23 Ebd., Sp. 150. 24 Vgl. William H. Sewell, Work and Revolution in France. The Language of Labour from the Old Regime to 1848, Cambridge 1980, besonders S. 63f. 25 Vgl. Smith, Wealth of Nations (wie Anm. 17), S. 40f. 26 Vgl. Villeneuve, Maıˆtrises (wie Anm. 16), S. 843. 27 Vgl. ebd., S. 848.

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So sieht beispielsweise Adam Smith in den Zulassungsbeschra¨nkungen der Korporationen nicht lediglich ein o¨konomisches Problem, sondern einen Verstoß gegen ein fundamentales Menschenrecht: The property which every man has in his own labour, as it is the original foundation of all other property, so it is the most sacred and inviolable. The patrimony of a poor man lies in the strength and dexterity of his hands; and to hinder him from employing this strength and dexterity in what manner he thinks proper, without any injury to his neighbour, is a plain violation of this most sacred property. It is a manifest encroachment upon the just liberty, both of the workman, and of those who might be disposed to employ him.28 Sewell zufolge verko¨rperten die Zu¨nfte fu¨r die philosophes die hierarchische, religio¨s begru¨ndete korporative Gesellschaftsordnung des Ancien Re´gime, die sie durch eine rationalere, an Naturgesetzen orientierte Ordnung ersetzen wollten, die den Individuen mehr Spielraum fu¨r Innovation und Wissensaustausch gewa¨hrte.29 Dass in der Debatte des 18. Jahrhunderts um die Abschaffung oder Beibehaltung der Zu¨nfte tatsa¨chlich die Gesellschaft als Ganze zur Diskussion stand, la¨sst sich aus dem Artikel in „Zedlers Universallexicon“ u¨ber die Zu¨nfte ablesen. Unter den Gru¨nden, warum die Handwerkskorporationen auch in der sich modernisierenden Welt des 18. Jahrhunderts beibehalten werden sollten, nennt der Verfasser an erster Stelle diejenigen „in Ansehung des Staates oder gemeinen Bestens“. In einer fu¨r das sta¨ndische Denken charakteristischen Ko¨rper-Metaphorik postuliert er, jedes Gemeinwesen beno¨tige ein Haupt, worunter jede Obrigkeit zu verstehen ist, auch allezeit seine Glieder haben muß, und was die Landes=Sta¨nde in einem Reiche oder Provinz bey denen Reichs=Kreis und Land=Tagen und Zusammenku¨nften seyn, solches die Zu¨nffte in denen Sta¨dten repra¨sentiren und verrichten mu¨ssen [...].30 Zu¨nfte, so der Verfasser, erlaubten es den sta¨dtischen Magistraten, in wichtigen Angelegenheiten die Bu¨rgerschaft zu informieren und ihre Meinung einzuholen, also: eine

28 Smith, Wealth of Nations (wie Anm. 17), S. 80. 29 Vgl. Sewell, Work and Revolution (wie Anm. 24), S. 64, 71. Auch Steven L. Kaplan und Philippe

Minard charakterisieren die Zu¨nfte als integrale Bestandteile der monarchischen und korporativen Ordnung des Ancien Re´gime: „Ils [die Zu¨nfte] sont donc tout autant une structure politique qu’un groupement e´conomique ou professionel: ils participent de la de´finition holiste de l’organisation sociale d’Ancien Re´gime comme une socie´te´ de corps, compose´e de collectivite´s organiques, de´termine´es par leurs privile`ges et leurs devoirs spe´cifiques, et par un certain degre´ d’auto-organisation. La socie´te´ est conc¸ue comme un agencement ine´gal et hie´rarchise´ de groupements reconnus, prote´ge´s de l’arbitraire par leurs ‚liberte´s‘, sous la tutelle ge´ne´rale du prince, et dont les communaute´s de me´tier ne sont qu’un cas de figure particulier. Elles sont un des innombrables maillons de la ‚grande chaıˆne de la condition corporative‘, reliant tous les corps de la socie´te´ au roi.“ Vgl. Steven L. Kaplan/Philippe Minard, Introduction, in: La France, malade du corporatisme? XVIIIe-XXe sie`cles, hg. v. dens., Paris 2004, S. 5–31, Zitat S. 13. 30 Zunfft/Zu¨nffte, in: Zedler, Universallexicon (wie Anm. 22), Sp. 150.

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politische Versammlungso¨ffentlichkeit herzustellen. Unscha¨tzbar wichtig, ja eine sonderbare unerkannte Wohlthat Gottes, seien die Zu¨nfte aber insbesondere als Ordnungsstruktur sta¨dtischer Gesellschaften. Ohne sie drohten diese zu einer zufa¨lligen, unlenkbaren Menge atomisierter Individuen zu werden: Wie wolte man aber solche zusammen suchen, wann sie [die Zu¨nfte] in einer Stadt und Republick aufgehoben, und ein blosses Gemenge eines zusammengelauffenen Hauffens darinne pra¨dominiren solte? wu¨rde nicht solches aber dasjenige in Krieg und andern Zeiten seyn, was ein Hauffen undisciplinirter Soldaten von etlichen tausend Mann wa¨re, der, wenn es zum Fechten kommen solte, in keine Regimenter, Battaillons und Compagnien eingetheilet wa¨re?31 Fu¨r die philosophes indes war eine Gesellschaft von korporativen Bindungen befreiter Individuen keine Horrorvision, sondern eine Utopie. Liest man ihre Texte, so wird deutlich, dass ihr Unversta¨ndnis fu¨r etablierte Meister, die an ihren Korporationen festhalten wollten, auch mit einer grundlegenden sozialen Fremdheit zu erkla¨ren sein ko¨nnte. Diderot setzte sich in seinen Werken, insbesondere der „Encylope´die“, ausfu¨hrlich mit handwerklichen Produktionsformen auseinander. Obwohl er dabei die gesamtgesellschaftliche Bedeutung dieser Wirtschaftsform hervorhob, war seine Einstellung gegenu¨ber ihren Akteuren zutiefst ambivalent, wie Sewell betont: Fordert Diderot in seinem Artikel „Me´tier“ einerseits Respekt fu¨r Handwerker ein, weil ihre Arbeit fu¨r die Gesellschaft absolut unerla¨sslich sei, so charakterisiert er diese Arbeit andererseits als bloß repetitive, und sie selbst folglich als „human automatons“.32 Die Aufgabe der Gebildeten, so Sewell weiter, habe Diderot darin gesehen, die Handwerker u¨ber die Naturgesetze aufzukla¨ren, die ihrer unreflektierten Arbeit zugrunde lagen, um auf diese Weise deren Produktivita¨t und Qualita¨t zu verbessern.33 Kann Diderots Einstellung gegenu¨ber Handwerkern als ambivalent beschrieben werden, so la¨sst sich bei Falguet de Villeneuve und Smith beinahe von Verachtung sprechen. Beide Autoren erkla¨ren die Zu¨nfte auch deswegen fu¨r u¨berflu¨ssig, weil die handwerkliche Ausbildung in ihren Augen keiner regulierenden Instanzen bedarf – und sie bedarf keiner solchen Instanzen, weil sie sie fu¨r anspruchslos halten. [I]l ne faut commune´ment que de l’exactitude & de la probite´ pour bien faire, & heureusement ces bonnes qualite´s sont a` la porte´e des plus me´diocres sujets, erkla¨rt Villeneuve um zu begru¨nden, warum das Meisterstu¨ck als Voraussetzung fu¨r die selbsta¨ndige 31 Ebd., Sp. 151. In a¨hnlicher Weise argumentieren einige der Pariser Zu¨nfte in ihren Denkschriften aus

dem Jahr 1776 gegen Turgots Plan, die Korporationen aufzuheben: Dieser Schritt wu¨rde zur Auflo¨sung aller gesellschaftlichen Ordnung fu¨hren. Vgl. Kaplan, Turgot’s Carnival (wie Anm. 20), besonders S. 183–199. 32 Sewell, Work and Revolution (wie Anm. 24), S. 68. Vgl. zur Diskussion handwerklicher Arbeit in der Encyclope´die auch Cynthia J. Koepp, The Alphabetical Order: Work in Diderot’s Encyclope´die, in: Work in France, hg. v. Kaplan/Koepp (wie Anm. 20), S. 229–257; William H. Sewell, Visions of Labor: Illustrations of the Mechanical Arts before, in, and after Diderot’s Encyclope´die, in: ebd., S. 258–286. 33 Vgl. ebd., S. 69.

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Ausu¨bung eines Handwerks abzuschaffen sei.34 Adam Smith konstatiert im Blick auf in seinen Augen vergleichsweise anspruchsvolle Handwerke wie das des Uhrmachers, deren Erfinder und Innovatoren ha¨tten gewiss Beachtliches geleistet und dazu auch intellektuelle Qualita¨ten beno¨tigt. Nachdem sie aber die Grundlagen gelegt ha¨tten, bedu¨rfe es fu¨r ihre Nachfolger keineswegs mehr einer jahrelangen Lehrzeit: But when both have been fairly invented, and are well understood, to explain to any young man, in the completest manner, how to apply the instruments, and how to construct the machines, cannot well require more than the lessons of a few weeks; perhaps those of a few days might be sufficient. In the common mechanic trades, those of a few days might certainly be sufficient.35 Tatsa¨chlich geht Smith davon aus, dass jegliche Ta¨tigkeit in der Landwirtschaft, selbst das bloße Pflu¨gen, weitaus anspruchsvoller sei als die Ausu¨bung eines Handwerks. Dass Handwerker ho¨heres Ansehen geno¨ssen als einfache Bauern, liegt in seinen Augen nur an ihrer gro¨ßeren kommunikativen Gewandtheit sowie daran, dass die Organisation in Zu¨nften ihnen unverdienterweise ein ho¨heres Sozialprestige verschaffe.36 Bemerkenswert an den Ausfu¨hrungen des schottischen Gelehrten ist schließlich, dass er gar kein Hehl daraus macht, dass die von ihm vorgeschlagene Liberalisierung der Gewerbe (genauer: die Abschaffung des Lehrlingsstatus’) nicht nur den Zu¨nften schade wu¨rde, sondern auch den einzelnen Handwerkern – Lehrlingen, Gesellen und Meistern gleichermaßen: The master, indeed, would be a loser. He would lose all the wages of the apprentice, which he now saves, for seven years together. In the end, perhaps, the apprentice himself would be a loser. In a trade so easily learnt he would have more competitors, and his wages, when he came to be a complete workman, would be much less than at present. The same increase of competition would reduce the profits of the master, as well as the wages of workmen. The trades, the crafts, the mysteries, would all be losers. But the public would be a gainer, the work of all artificers coming in this way much cheaper to market.37 Adam Smiths Meinung kann nicht ohne weiteres als repra¨sentativ fu¨r ‚die‘ aufge¨ ffentlichkeit angesehen werden. Dass aber in dieser O ¨ ffentlichkla¨rte, gebildete O ¨ ußerungen u¨ber einen erheblichen Teil der Bevo¨lkekeit solche herablassenden A rung u¨berhaupt hoffa¨hig waren, wirft die Frage auf, ob es ihren Akteuren nicht einfach an Kontakt und Kommunikation mit Handwerkern fehlte. Nur wer sich nie

34 Villeneuve, „Maıˆtrises“ (wie Anm. 16), S. 845. 35 Smith, Wealth of Nations (wie Anm. 17), S. 81. 36 Vgl. ebd., S. 83. Smith ko¨nnte hier von der Hypothese des Physiokratismus beeinflusst sein, dass die

Landwirtschaft letztlich der einzige Wirtschaftszweig sei, der Reichtum schaffe. Vgl. Sewell, Work and Revolution (wie Anm. 24), S. 71. 37 Ebd., S. 81.

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mit einem Tischler u¨ber seine Arbeit unterhalten hatte, konnte ernsthaft behaupten, dass man innerhalb weniger Wochen erlernen ko¨nne, wie etwa ein barocker Sekreta¨r mit Geheimfa¨chern, Schnitzereien und Einlegearbeiten herzustellen sei. Die hier kurz untersuchten Quellen werfen daher die Frage auf, ob es fu¨r die adligen und bu¨rgerlichen Gebildeten des Aufkla¨rungszeitalters auf der einen und die Handwerker auf der anderen Seite Kontaktzonen, geteilte soziale Ra¨ume, gab, oder ob sie – von gescha¨ftlichen Kontakten abgesehen – ga¨nzlich isoliert voneinander lebten. Damit verbunden stellt sich die Frage, in welcher Beziehung die Zu¨nfte zu den ‚klassischen‘ sozialen ¨ ffentlichkeit standen: beispielsweise den Kaffeeha¨uRa¨umen der aufkla¨rerischen O sern, Salons, Akademien und Freimaurerlogen.

3. Handwerker, Zu¨nfte und die ‚aufkla¨rerischen‘ Formen von Geselligkeit und Vergemeinschaftung

Als Mitglied der Glasgower „Literary Society“ geho¨rte Adam Smith, Peter Clark zufolge, zu den „committed clubmen“ seiner Generation.38 Ob er in der „Literary Society“ zu Glasgow auf Handwerker traf, kann an dieser Stelle nicht gekla¨rt werden. Sehr wahrscheinlich ist indes, dass er reichlich Gelegenheit hatte, von Grundbesitzern u¨ber die Komplexita¨t der agrarischen Produktion belehrt zu werden: Der landbesitzende Adel stellte in den britischen Großsta¨dten im 18. Jahrhundert viele Vereinsmitglieder, nicht selten ging von seinen Angeho¨rigen auch die Initiative zur Gru¨ndung von Assoziationen aus.39 Feststellen la¨sst sich auch, dass jene Gebildeten, die in Deutschland in der zweiten Ha¨lfte des 18. Jahrhunderts u¨ber o¨konomische Reformen nachdachten, kaum Gefahr liefen, in den Foren fu¨r solche Debatten mit der Meinung zu¨nftisch organisierter Meister konfrontiert zu werden. In den „patriotisch-gemeinnu¨tzigen Gesellschaften“ deutscher Sta¨dte, in denen u¨ber Gewerbefreiheit und die Rolle von Korporationen diskutiert wurde, dominierten ho¨here Beamte, Manufakturbesitzer, Kaufleute und Angeho¨rige akademisch ausgebildeter Gruppen ¨ rzte und Apotheker; in einzelnen Sta¨dten stellte der Adel einen wie Geistliche, A erheblichen Anteil der Mitglieder. Handwerker, so konstatiert Wolfgang Hardtwig, geho¨rten diesen Sozieta¨ten nur „vereinzelt“ an.40 Esther-Beate Ko¨rber erweitert diesen Befund zu einem Urteil daru¨ber, wie die aufkla¨rerische Geselligkeit im Allgemeinen sozial verfasst war: Wa¨hrend sich Angeho¨rige des Adels und eines im Entstehen begriffenen wohlhabenden Bu¨rgertums miteinander vergesellschaftet und einander kulturell angeglichen ha¨tten, seien Handwerker weitgehend ausgeschlossen geblieben. Weil sie nicht in den Zirkeln der Auf38 Peter Clark, British Clubs and Societies 1580–1800. The Origins of an Associational World, Oxford

2000, S. 137, 177.

39 Vgl. ebd., S. 212f., S. 252f. 40 Vgl. Wolfgang Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland, Bd. 1: Vom Spa¨tmittelalter

bis zur Franzo¨sischen Revolution, Mu¨nchen 1997, S. 289f., Zitat S. 290.

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kla¨rer verkehrten, so Ko¨rber weiter, sei ihnen auch deren Gedankengut fremd und ¨ ffentlichkeitsformen verbunden“ sie selbst „sta¨rker den sta¨ndischen Lebens- und O geblieben.41 Mit der Aussage, dass Handwerksmeister nur selten Zugang zu den Pariser oder Berliner Salons erhielten, oder dass sie in gelehrten Gesellschaften wie der Londoner Royal Society oder der Berliner Akademie der Wissenschaften keine bedeutende Rolle spielten, scheint nur konstatiert zu werden, was fu¨r die meisten Leser/innen ohnehin klar sein du¨rfte: dass die Foren der Soziabilita¨t und Vergesellschaftung, die ¨ ffentlichkeit pra¨gten und konstituierten, weitgehend Veranstaltundie aufgekla¨rte O gen der sozialen Eliten darstellten. Auch sind die Mechanismen (z. B. Bildungsanforderungen, hohe Mitgliedsbeitra¨ge) bereits wiederholt dargestellt worden, aufgrund derer Assoziationen, die sich theoretisch u¨ber ihre soziale Offenheit und Sta¨ndetranszendenz definierten, in der Praxis sozial exklusiv waren.42 Und doch liegen die Dinge nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheint: So gelten etwa Freimaurerlogen als aufkla¨rerische Assoziationen par excellence. In Deutschland entsprach ihr soziales Profil weitgehend dem anderer Aufkla¨rungsgesellschaften und war dementsprechend von einer „adlig-bu¨rgerlichen Oberschicht“ dominiert.43 Die Londoner Logen indes hatten noch um 1800, wie schon um 1730, einen erheblichen Anteil an Mitgliedern aus den Handwerken. Fu¨r Freimaurerlo¨ hnliches.44 Auch brachte das in Großbritannien im gen anderswo in England galt A 18. Jahrhundert bereits florierende und ausdifferenzierte Vereinswesen weitere Assoziationen hervor, die auch Handwerkern offenstanden, und daneben solche, die sogar auf Initiative von Handwerkern und speziell fu¨r Angeho¨rige dieser Gruppe gegru¨ndet wurden.45 Zudem erweckt die Forschungsliteratur den Eindruck, dass nicht alle Angeho¨rigen der Oberschichten und auch nicht alle Geselligkeitsformen, an denen ¨ ffentlichkeit zugerechnet diese partizipierten, gleichermaßen der aufkla¨rerischen O werden. Im besonderen Maße scheint das fu¨r die traditionellen sta¨dtischen Eliten ¨ ffentlichkeit“ an die Ratsoligarchien der zu gelten: Wer denkt bei „aufkla¨rerischer O Reichssta¨dte oder die Patriziergesellschaften und – in einigen dieser Sta¨dte – politischen Zu¨nfte, in denen sich ihre Angeho¨rigen trafen?46 Tatsa¨chlich ist es so, dass nicht nur die Handwerker in der Forschung vielfach als ¨ ffentlichkeit fernstehende soziale Gruppe charakterisiert eine der aufkla¨rerischen O ¨ ffentlichkeit zugrundeliegenden werden. Vielmehr ist das Denken u¨ber die dieser O

41 Esther Beate Ko ¨ rber, Die Zeit der Aufkla¨rung. Eine Geschichte des 18. Jahrhunderts, Darmstadt

2006, S. 136.

42 Vgl. z. B. ebd., S. 135; Clark, British Clubs (wie Anm. 38), S. 211f., 221f.; Thomas Nipperdey, Ver-

ein als soziale Struktur in Deutschland im spa¨ten 18. und fru¨hen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung I, in: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Go¨ttingen 1976, S. 174–205, hier S. 186. 43 Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein (wie Anm. 40), S. 306. 44 Vgl. Clarke, British Clubs (wie Anm. 38), S. 321f. 45 Vgl. ebd., S. 128ff., 350–365. 46 Vgl. zu diesen mittelalterlichen und fru¨hneuzeitlichen Vergesellschaftungsformen der sta¨dtischen Eliten Geschlechtergesellschaften, Zunft-Trinkstuben und Bruderschaften in spa¨tmittelalterlichen und fru¨hneuzeitlichen Sta¨dten, hg. v. Gerhard Fouquet/Matthias Steinbrink/Gabriel Zeilinger, Ostfildern 2003.

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Formen der Soziabilita¨t und Vergesellschaftung insgesamt in einer Reihe von Oppositionspaaren organisiert. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, bildet dabei nicht zuletzt die ‚zu¨nftische‘ oder allgemeiner gesprochen: korporative Welt den Gegenentwurf zu dem Milieu, in dem die Aufkla¨rung gedieh. Neuere Forschungen relativieren einige dieser Dualismen. Den angenommenen Gegensatz zwischen einem korporativ-traditionalistischen Milieu einerseits und der Gesellschaft der Aufkla¨rer andererseits hat in sehr pra¨gnanter Weise Thomas Nipperdey formuliert. Die Zu¨nfte stehen bei ihm fu¨r eine voraufkla¨rerische Ordnung, in der „Sitte und lang geu¨bter Brauch, nicht Reflexion [...] Auffassen und Verhalten“47 bestimmt ha¨tten, und die es zu u¨berwinden gegolten habe, bevor der Fortschritt sich Bahn brechen konnte: „Das neue Pha¨nomen [das Vereinswesen, P. S.] legt den Schluß nahe, daß die alte Welt mit Familie und Haus, Messe und Markt, Zunft und Rat, Kirche und – wieder erstarrenden Konventikeln – keinen Raum bot, um ein neues Bedu¨rfnis, das sich bei alten und neuen sozialen Gruppen regte, das Bedu¨rfnis nach geselliger, diskutierender Selbstversta¨ndigung und gemeinsamem Handeln zu erfu¨llen. Die u¨berlieferten Ordnungen des Lebens und ihre sozialen Bindungen lockerten sich oder lo¨sten sich auf, der Mensch fing an, sich von der Tradition zu lo¨sen, von der Korporation und von der das Allgemeine monopolisierenden Obrigkeit; es begann der Prozeß der Individualisierung, Dekorporierung und Emanzipation.“48 Was fu¨r Nipperdey diesen Aufbruch ermo¨glicht, ist die Vergesellschaftungsform des Vereins, fu¨r ihn ein neuartiges Pha¨nomen des spa¨ten 18. Jahrhunderts.49 Er bewegt sich damit innerhalb eines Interpretationsmusters, das vor allem in der deutschen Forschung seit dem 19. Jahrhundert einflussreich gewesen ist: der dichotomisierenden Gegenu¨berstellung von „Korporation“ und „Assoziation“, die Otto Gerhard Oexle zufolge ein Produkt des oben diskutierten zunftkritischen Diskurses der Aufkla¨rung war.50 Bei Nipperdey stehen Korporationen fu¨r eine lebenslange Zwangsmitgliedschaft, den Anspruch, das Leben ihrer Mitglieder umfassend zu bestimmen, sowie fu¨r einen nur am Vorteil der eigenen Gruppe orientierten Partikularismus. Die Assoziation verko¨rpert fu¨r ihn das Gegenteil von all’ dem: Freiwilligkeit des Beitritts und Mo¨glichkeit des Austritts, eine Beschra¨nkung der Vereinsta¨tigkeit auf von den Mitgliedern tendenziell demokratisch beschlossene spezifische Zielsetzungen, eine

47 Nipperdey, Verein als soziale Struktur (wie Anm. 42), S. 179. 48 Ebd., S. 180. 49 Nipperdey tendiert damit zu einer spa¨ten Datierung der Anfa¨nge des Vereinswesens in Deutschland.

Das zeigt der Vergleich mit Hardtwig, fu¨r den bereits die humanistischen Sodalita¨ten des 15. Jahrhunderts erste Vorla¨ufer des modernen Vereins darstellen. Vgl. Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein, S. 197. 50 Die pejorativ gemeinte Bezeichnung der Zu¨nfte als „Korporationen“ wurde demnach erstmals von britischen und franzo¨sischen Aufkla¨rern verwendet. Vgl. Otto Gerhard Oexle, Die mittelalterliche Zunft als Forschungsproblem, in: BllDtLG 118 (1982), S. 1–44, hier S. 17f.

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Orientierung am Allgemeinwohl statt nur am Vorteil der eigenen Gruppe. Assoziationen sind in Nipperdeys Perspektive mit einer ganzen Reihe weiterer Charakteris¨ ffentlichkeit assozitika verbunden, die gemeinhin mit der Aufkla¨rung und ihrer O iert werden: Individualisierung; Bildungsinteresse und Wissenspopularisierung; eine sa¨kularisierte Weltdeutung jenseits kirchlicher Vorgaben; Emanzipation von Kunst und Wissenschaft von den Spha¨ren von Hof und Kirche; Glaube an Vera¨nderbarkeit der Gesellschaft und an den Fortschritt.51 In den fru¨hneuzeitlichen Korporationen, darunter den Zu¨nften, so lautet die teils explizite, teils implizite Botschaft Nipperdeys, sei all dies nicht mo¨glich gewesen. An die fundamentale Entgegensetzung von „Korporation“ und „Assoziation“ lagern sich, so scheint es mir, in der Literatur weitere Oppositionen gleichsam an. So wird das Wirtshaus, wo Zu¨nfte tagten, wenn sie nicht u¨ber eigene Zunftha¨user verfu¨gten, mit Rausch, Oralita¨t, Ritualisierung und einer rein ma¨nnlichen Geselligkeit assoziiert, das Kaffeehaus dagegen mit Nu¨chternheit, der Rezeption von Printmedien und einem freien, rationalen Diskurs, auch zwischen Angeho¨rigen beider Geschlechter.52 Wilfried Reininghaus hat vor einigen Jahren, bezeichnenderweise in einer Schriftenreihe zur Aufkla¨rungsforschung, die Geselligkeit westfa¨lischer Zu¨nfte im 18. Jahrhundert in einer Weise beschrieben, die genau in dieses Muster passt: Wenn Zunfthandwerker ihre Freizeit gemeinsam gestalteten, standen demnach „Spiele und Ta¨nze“ und das „gemeinsame Essen und Trinken“ im Mittelpunkt; von Lektu¨re oder der Diskussion irgendwelcher Themen jenseits der zu¨nftischen Belange lesen wir nichts.53 Ein Jahr zuvor analysierte Brigitte Schnegg den Wandel der Geselligkeit in Schweizer Sta¨dten um 1700 und benutzte im Titel ihres Aufsatzes die Schlagworte „Zunftstube“ und „Salongesellschaft“ als Chiffren fu¨r fundamentale Vera¨nderungen.54 In den Zunftstuben der Stadtrepubliken des 17. Jahrhunderts beteiligten sich demnach die sta¨dtischen Eliten noch an einer „schichtu¨bergreifenden republikanischen Ma¨nnergeselligkeit“, zu deren Programm gemeinsames Trinken, Zunftma¨hler, Schießu¨bungen und Brettspiele geho¨rten.55 Wenige Jahrzehnte spa¨ter hatte sich, unter franzo¨sischem Einfluss, die Soziabilita¨t der sta¨dtischen Eliten komplett gewandelt. Eine neue „aristokratisch-patrizische Geselligkeit“ fand ihren ra¨umlichen Rahmen in neuen, palastartigen Residenzen mit aufwendiger Mo¨blierung und ihre spezifische 51 Vgl. ebd., S. 180–183. 52 In der neueren Forschung zum fru¨hneuzeitlichen Gastgewerbe wird diese Dichotomie von Wirts- und

Kaffeehaus teilweise kritisch hinterfragt. So hat beispielsweise Beat Ku¨min in einer Studie u¨ber fru¨hneuzeitliche Kneipen und Wirtsha¨user unla¨ngst deren relative Modernita¨t und Innovationsfa¨higkeit betont. Vgl. Beat Ku¨min, Drinking Matters. Public Houses and Social Exchange in Early Modern Central Europe, Houndmills 2007. 53 Vgl. Wilfried Reininghaus, Alte und neue Geselligkeit im Handwerk. Miszelle anhand westfa¨lischer Quellen zu einem sozialgeschichtlichen Pha¨nomen von langer Dauer, in: Formen der Geselligkeit in Nordwestdeutschland 1750–1820, hg. v. Peter Albrecht/Hans Erich Bo¨deker/Ernst Hinrichs, Tu¨bingen 2003, S. 411–420, Zitat S. 419. Der Sammelband ist in der Reihe „Wolfenbu¨tteler Studien zur Aufkla¨rung“ erschienen. 54 Vgl. Brigitte Schnegg, Von der Zunftstube zur Salongesellschaft. Der Wandel der Geselligkeitsformen in den schweizerischen Stadtrepubliken an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, in: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, hg. v. Wolfgang Adam, Wiesbaden 1997, S. 353–364. 55 Ebd., S. 355.

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soziale Form im Salon. War diese Geselligkeit einerseits sozial exklusiv und gewa¨hrte Handwerkern keinen Zugang mehr, so enthielt sie andererseits „auf die Aufkla¨rung hinweisende Aspekte“.56 Es war eine Soziabilita¨t, an der Frauen partizipieren konnten, und in der sich eine „Kultur des Austauschs, der Konversation, der Korrespondenz, der Lektu¨re“ entwickelte.57 Praktisch alle hier skizzierten Oppositionen zwischen einer traditionalen, korporativen Geselligkeit und Vergesellschaftung auf der einen und einer auf die Moderne hinweisenden, die Aufkla¨rung fo¨rdernden, Kultur der Assoziationen auf der anderen Seite ko¨nnen relativiert werden und wurden es auch in einem Teil der neueren Literatur. Dass zwischen „Korporationen“ und „Assoziationen“ kein harter Kontrast bestand und die ersteren nicht abrupt durch die letzteren abgelo¨st worden seien, ¨ bergangserscheinungen zwischen beiden gegeben habe, sondern dass es vielmehr U haben etwa Otto Gerhard Oexle und Wolfgang Hardtwig betont.58 Wer Anschauungsmaterial fu¨r diese Hypothesen sucht, wird in Clarks Studie zum britischen Vereinswesen im 17. und 18. Jahrhundert fu¨ndig. Auch die neuen Assoziationen waren vielfach reine Ma¨nnergesellschaften, ja geradezu Ru¨ckzugsra¨ume fu¨r eine traditionelle ma¨nnliche Geselligkeit, die in Salons, Kaffeeha¨usern oder Theatern von Besucherinnen als ‚schlechtes Benehmen‘ gebrandmarkt worden wa¨re.59 Unter den Aktivita¨ten der Clubs, die sich im 18. Jahrhundert noch in u¨ber 90 % der Fa¨lle in Wirtsha¨usern versammelten,60 kam dem gemeinsamen Essen und Trinken eine u¨berragende Bedeutung zu, wie auch immer der offizielle Vereinszweck lautete.61 Auch bestanden diese prima¨ren Vereinszwecke beileibe nicht immer in Aktivita¨ten, die gemeinhin mit der Aufkla¨rung assoziiert werden – so gab es etwa „bell ringing-societies“ oder „florists’ feasts societies“.62 Frappierend ist indes insbesondere, wieviele Parallelen Clark zwischen den englischen Vereinen des 17. und 18. Jahrhunderts und den Zu¨nften zieht. In einer funktionalen Perspektive betont er immer wieder, dass Vereine Aufgaben u¨bernahmen, welche zuvor die Zu¨nfte getragen hatten, beispielsweise die Integration junger ma¨nnlicher Immigranten in die sta¨dtischen Gesellschaften oder die Festigung des sozialen Status’ von Handwerksmeistern.63 Daneben sieht Clarke das Vereinsleben des 17. und 18. Jahrhunderts dadurch mitgepra¨gt, dass verschiedene Elemente zu¨nftischer Geselligkeit und Gruppenkultur u¨bernommen worden seien: So ha¨tten sich Vereine etwa einer korporativen Rhetorik von Einheit und Harmonie bedient, um ihre Gruppenkoha¨sion zu festigen, bei der Feier ihrer Jahrestage auf zu¨nftische Elemente zuru¨ckgegriffen und die zu¨nftische Tradition der gemeinsamen Leichenfolge beim Tod eines Mitgliedes fortgefu¨hrt.64 56 Ebd., S. 362. 57 Ebd., S. 362. 58 Vgl. Oexle, Zunft als Forschungsproblem (wie Anm. 50); Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein

(wie Anm. 40).

59 Vgl. Clark, British Clubs (wie Anm. 38), S. 203. 60 Vgl. ebd., S. 164. 61 Vgl. ebd., S. 225. 62 Vgl. ebd., S. 89f. 63 Vgl. ebd., S. 154, 206. 64 Vgl. ebd., S. 178, 228, 265, 270.

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Dass fu¨r Clark die Grenze zwischen „Korporation“ und „Assoziation“ so durchla¨ssig ist, mag damit zu tun haben, dass die dichotomisierende Diskussion u¨ber diese Vergesellschaftungsformen eine deutsche Eigenheit darstellt. Doch auch die neuere zunft- und handwerksgeschichtliche Forschung im deutschsprachigen Raum liefert Argumente dafu¨r, diese Dichotomie zu relativieren. Das Konzept der Zunft als Zwangsvereinigung mit obrigkeitlichen Kompetenzen, in die der einzelne hineingeboren wird und die das Leben ihrer Angeho¨rigen in allen Facetten bestimmt, wird hier zwar nicht als theoretisches Konstrukt, wohl aber im Blick auf die historische Praxis, verabschiedet. Die moderne handwerksgeschichtliche Forschung betont, dass in der Fru¨hen Neuzeit Zu¨nfte la¨ngst nicht mehr verhindern konnten, dass die jeweiligen Gewerbe auch von nicht-zu¨nftigen Handwerkern ausgeu¨bt wurden, dass in einigen Sta¨dten wie etwa Wien nur noch eine Minderheit der Handwerker zu¨nftig organisiert war,65 und dass die Korporationen selbst bei ihren Angeho¨rigen die Einhaltung ihrer Normen nicht mehr durchsetzen konnten oder wollten. Komplementa¨r hierzu wird betont, dass Zunftangeho¨rige durchaus Spielra¨ume darin besaßen, wie sie den Umgang mit ihren Korporationen gestalteten. Statt sich alle Aspekte der Lebensfu¨hrung von ihnen vorschreiben zu lassen und das eigene Selbstversta¨ndnis ga¨nzlich aus demjenigen der Gruppe herzuleiten (wie es die a¨ltere Literatur gerne suggeriert hat), erscheinen fru¨hneuzeitliche Handwerker in der neueren Forschung als relativ autonome Akteure, die nu¨chtern abwogen, in welchen Bereichen ihnen die Zunft nutzen konnte, und die sich entsprechend selektiv an den Aktivita¨ten der Korporation beteiligten.66 Entsprachen also die Zu¨nfte des 18. Jahrhunderts in vieler Hinsicht nicht mehr dem Idealtypus „Korporation“ (falls sie ihm je entsprochen hatten), so macht sie das ¨ ffentlichkeit. In mancher freilich noch la¨ngst nicht zu Foren der aufkla¨rerischen O Hinsicht erscheint es allzu offensichtlich, was sie von dieser trennte. Zu nennen sind hier beispielsweise Normen, deren Einhaltung die Zu¨nfte zwar nicht mehr ohne weiteres erzwingen konnten, die aber mit der Ethik der Aufkla¨rung kaum zu vereinbaren ¨ chtung von Angeho¨rigen der sogenannten ‚unehrlichen‘ Berufe und die waren: die A Abweisung unehelich geborener Kinder etwa,67 oder auch die hartna¨ckige Intoleranz, mit der allen denjenigen, die nicht der jeweils dominierenden Konfession angeho¨rten, der Zugang verwehrt wurde. Auch scheint den Zu¨nften die Orientierung auf Bildung, Wissenschaft und Kultur zu fehlen, die zwar la¨ngst nicht alle, aber doch viele Assoziationen des 18. Jahrhunderts auszeichnete. Und wa¨hrend diese oft in einer engen

65 In Wien geho¨rten 1673 30 % und 1736 31 % der selbsta¨ndig ein Gewerbe ausu¨benden Handwerker

¨ sterreich in der fru¨hen Neuzeit, in: Das Ende der Zu¨nfte, einer Zunft an. Vgl. Josef Ehmer, Zu¨nfte in O hg. v. Heinz Gerhard Haupt, Go¨ttingen 2002, S. 87–126, 126, hier S. 96. 66 Vgl. fu¨r eine solche ‚revisionistische‘ Perspektive auf die Zu¨nfte z. B. Josef Ehmer, Traditionelles Denken und neue Fragestellungen zur Geschichte von Handwerk und Zunft, in: Handwerk, Hausindustrie und die historische Schule der Nationalo¨konomie, hg. v. Friedrich Lenger, Bielefeld 1998, S. 19–77; James Farr, Artisans in Europe, 1300–1914, Cambridge 2000; Heinz Gerhard Haupt, Neue Wege zur Geschichte der Zu¨nfte in Europa, in: Das Ende der Zu¨nfte (wie Anm. 65), S. 9–37. 67 Diese Ausgrenzungstendenzen fu¨hrt auch der Verfasser des Artikels „Zunfft“ in der Zedlerschen Enzyklopa¨die unter den Handwerksmissbra¨uchen auf, die es zu beheben gelte. Vgl. Zunfft, Zu¨nffte, in: Zedler, Universallexicon (wie Anm. 22), Sp. 53.

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Beziehung zu den Printmedien standen – indem sie Lektu¨re ermo¨glichten, Texte diskutierten, selbst publizierten oder Publikationen ihrer Mitglieder fo¨rderten –, vermittelt die Forschungsliteratur von den Zu¨nften nicht selten den Eindruck einer Kultur, die nicht nur weitgehend frei war von Druckerzeugnissen, sondern ihren Ausdruck generell eher in Ritual und Sachkultur als im Medium der Schrift fand.68 Im folgenden Abschnitt soll dieses Bild von den Zu¨nften kurz u¨berpru¨ft werden: Waren den Vereinigungen der Handwerker die Printmedien und die in ihnen vermittelten Nachrichten und Wissensbesta¨nde tatsa¨chlich so fremd, wie es oft suggeriert wird? War den Zu¨nften Bildung jenseits der handwerklichen Qualifikation tatsa¨chlich gleichgu¨ltig oder la¨sst sich doch nachweisen, dass sie diese wertscha¨tzten? Um dieser Frage nachzugehen, wird auf Quellenbesta¨nde zuru¨ckgegriffen, die der Verfasser fu¨r seine Dissertation u¨ber zu¨nftische Erinnerungskulturen in der Fru¨hen Neuzeit ausgewertet hat.69 Fu¨r eine Untersuchung des Verha¨ltnisses von Zu¨nften und aufkla¨¨ ffentlichkeit sind diese nicht maßgeschneidert, ero¨ffnen aber doch einige rerischer O aufschlussreiche Perspektiven.

4.

Druckmedien und printmedial tradierte Wissensbesta¨nde ¨ berlieferung in der zu¨nftischen U

Neuere Forschungen haben gezeigt, dass es um die Alphabetisierung von Handwerkern und ihren Buchbesitz in der Fru¨hen Neuzeit nicht so schlecht bestellt war, wie es zuweilen angenommen wird. Fu¨r das 18. Jahrhundert kann davon ausgegangen werden, dass zwar nicht unbedingt die Mehrheit, aber doch eine signifikante Minderheit der Handwerker lesen und schreiben konnte, und dies mit zunehmender Tendenz im Laufe des Jahrhunderts.70 Damit wird aber auch ein Argument relativiert, das beispielsweise Esther-Beate Ko¨rber erst ju¨ngst noch angefu¨hrt hat, um zu begru¨nden, 68 Vgl. fu¨r diese Tendenz, die Zu¨nfte auch des 18. Jahrhunderts als weitgehend vormoderne, orale Kultu-

ren zu charakterisieren z. B. Hans-Ulrich Thamer, Handwerksehre und Handwerkerstolz. Auto- und Heterostereotypen des Handwerks. Ein Beitrag zur Mentalita¨tsgeschichte, in: Handwerk zwischen Idealbild und Wirklichkeit. Kultur- und sozialgeschichtliche Beitra¨ge, hg. v. Paul Hugger, Bern/Stuttgart 1991, S. 81–96. Bezeichnend ist auch ein Aufsatz von Hans-Jo¨rg Zerwas, in dem das Handwerk des 18. und fru¨hen 19. Jahrhunderts schon im Titel als „ritualisierte Lebensform“ bezeichnet wird. Vgl. Hans-Jo¨rg Zerwas, Altes Handwerk als ritualisierte Lebensform. Zeremonie und Ritual, Brauchtum und Welterfahrung in der handwerklichen Lebenswelt bis 1850, in: Euphorion 86 (1992), S. 429–444. 69 Vgl. Patrick Schmidt, Wandelbare Traditionen – tradierter Wandel. Zu¨nftische Erinnerungskulturen in der Fru¨hen Neuzeit, Ko¨ln 2009. 70 In London waren bereits im 17. Jahrhundert 70 % der Goldschmiede und Harnischmacher des Lesens und Schreibens ma¨chtig, wa¨hrend in zahlreichen anderen Gewerben der Alphabetisierungsgrad bei etwa 50 % lag. In Paris wurden in den Nachlassinventaren von Gesellen im fru¨hen 18. Jahrhundert nur in 13 % der Fa¨lle Bu¨cher aufgefu¨hrt, um 1780 aber bereits in 35 % der Inventare. Vgl. James van Horn Melton, The Rise of the Public in Enlightenment Europe, Cambridge 52009, S. 86. Zivilstandsregister aus der napoleonischen Zeit zeigen, dass in norddeutschen Sta¨dten und Territorien die große Mehrheit (um die 90 %) der So¨hne von Handwerkern signierfa¨hig war (bei den To¨chtern lagen die Anteile erheblich niedriger). Vgl. die Beitra¨ge in: Alphabetisierung und Literalisierung in Deutschland

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¨ ffentlichkeit“ des 18. Jahrhunderts prakwarum Handwerker in der „bu¨rgerlichen O tisch keine Rolle gespielt ha¨tten: Weil sie an deren konstitutiver kultureller Praxis der (gemeinsamen) Lektu¨re und anschließenden Diskussion u¨ber das Gelesene nicht ha¨tten teilnehmen ko¨nnen.71 Dass das Bildungsniveau fru¨hneuzeitlicher Handwerker unter demjenigen von bu¨rgerlichen und adligen Gelehrten gelegen hat, soll hier gar nicht bestritten werden, und ebensowenig soll behauptet werden, die Zu¨nfte seien unter dem Deckmantel o¨konomischer Interessenvertretung eigentlich eine Art von Lesegesellschaften avant la lettre gewesen. Es ist aber schwer einzusehen, warum Zunftangeho¨rige nicht Flugbla¨tter, Flugschriften und Zeitungen, die zumindest einige von ihnen lesen konnten und die fu¨r sie auch finanziell erschwinglich waren,72 in die Zunftha¨user und -stuben mitgebracht haben sollten. Wenn diese Vorannahmen stimmen, liegt es aber auch nahe, dass in den Zu¨nften u¨ber das Gelesene diskutiert werden konnte, und dass sie mithin sta¨dtische Teilo¨ffentlichkeiten darstellten, die an dem „nicht an konkrete Interaktionen gebundenen, die kleinra¨umigen Grenzen der Territorialstaaten des Deutschen Reiches u¨berwindenden Diskussionszusammenhang“73 der ent¨ ffentlichkeit“74 zumindest als Rezipienten teilnahmen. stehenden „massenmedialen O Die Hypothese, dass in den Zu¨nften eine Rezeption von Nachrichten stattfand, die wenigsten in einem ersten Schritt printmedial kommuniziert worden sein mu¨ssen, soll im Folgenden kurz an zwei Frankfurter Zunftbu¨chern illustriert werden. Es handelt sich dabei um zwei Chroniken, in denen die Schuhmacherzunft u¨ber einen Zeitraum von fast zweihundert Jahren parallel Eintra¨ge vornahm; die erste wurde von 1485 bis 1801 gefu¨hrt, die zweite von 1611 bis 1822.75 Die Verfasser der Eintra¨ge ko¨nnen teilweise als Zunftvorsteher (bis 1616 Zunftmeister, danach Geschworene) identifiziert werden, zum Teil bleiben sie anonym. Was an beiden Chroniken aufin der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Hans Erich Bo¨deker/Ernst Hinrichs, Tu¨bingen 1999. Vgl. zu Alphabetisierung und Buchbesitz im Handwerk auch Rudolf Endres, Handwerk – Berufsbildung, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, hg. v. Notker Hammerstein, Bd. 1: 15.–17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenska¨mpfe, Mu¨nchen 1996, S. 375–424; Hans Medick, Ein Volk „mit“ Bu¨chern. Buchbesitz und Buchkultur auf dem Lande am Ende der Fru¨hen Neuzeit: Laichingen 1740–1820, in: Lesekulturen im 18. Jahrhundert, hg. v. Hans-Erich Bo¨deker (Aufkla¨rung 6 [1991], H. 1), Hamburg 1992, S. 59–94. 71 Vgl. Ko ¨ rber, Das Achtzehnte Jahrhundert (wie Anm. 41), S. 129f., 135f. 72 Andreas Gestrich hat beispielsweise darauf hingewiesen, dass ein Ko¨lner Handwerker mit einem durchschnittlichen Einkommen im Jahr 1701 fu¨r ein Abonnement der Hamburger Zeitung nur knapp zwei Prozent seines Verdienstes ha¨tte aufwenden mu¨ssen. Vgl. Andreas Gestrich, Absolutismus und ¨ ffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Go¨ttingen O 1994, S. 171f. Vgl. auch seine Ausfu¨hrungen zur weiten Verbreitung der Zeitungslektu¨re bzw. -rezeption auch in den unteren Gesellschaftsschichten im fru¨hen 18. Jahrhundert; ebd. S. 130ff., 170ff. 73 Bo ¨ deker, Prozesse und Strukturen, S. 21. 74 Jo¨rg Requate, O ¨ ffentlichkeit und Medien als Gegensta¨nde historischer Analyse, in: GuG 25 (1999), S. 5–32, hier S. 13. 75 Vgl. Institut fu¨r Stadtgeschichte Frankfurt am Main (im Folgenden: IfSG), Chroniken S 5/21, Chronik des Schuhmacherhandwerks, ca. 1500 bis 1801; IfSG, Handwerkerbu¨cher 117, Verzeichnuß der Ehrenvesten fu¨rsichtigen und wohlweiße Herren sowol Alten und Ju¨ngern beiden Burgermeister Name von A. 1427 biß uff gegenwertige Zeit / Mit beygefu¨gten gedechtniswu¨rdigen Historien und scho¨nen Reimen gezieret / uff dero Stendte: Sonderlich uff Regimentspersonen gerichtet: Mit einem Merkspru¨ch des Schuhmacher Handtwercks.

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fa¨llt, ist der Umstand, dass viele der erinnerten Begebenheiten nicht im Binnenraum der Zunft stattfanden, sondern eher stadt- und weltchronistischen Charakter hatten. Wenn unter dem Jahr 1552 ein Kornregen in Ka¨rnten verzeichnet wird,76 wenn 1699 ein Bild beschrieben wird, das die Sterbeszene der englischen Ko¨nigin Mary zeigt77 und wenn im Jahr 1768 vom Attentat Damiens auf Ludwig XV. und der drakonischen Bestrafung des Ta¨ters berichtet wird, um nur wenige Beispiele herauszugreifen, dann handelt es sich um Nachrichten, die durch Flugbla¨tter, Flugschriften oder Zeitungen nach Frankfurt gelangt sein du¨rften.78 Ob die jeweiligen Verfasser der Chronikeintra¨ge sie selbst den Druckmedien entnommen oder im Gespra¨ch aufgeschnappt haben, und ob die spa¨ter chronikalisch festgehaltenen Ereignisse unter den Zunftangeho¨rigen diskutiert wurden, wird kaum zu kla¨ren sein. In jedem Fall kann man die beiden Chroniken als Indiz dafu¨r lesen, dass die am Beispiel der Reichsstadt Esslingen formulierte These Eberhard Nikitschs ihre Berechtigung hat, die Zunftha¨user seien Zentren „der Informationsmo¨glichkeit und des Nachrichtenaustauschs der nicht am Regiment beteiligten Bu¨rger“ gewesen.79 Dass die Frankfurter Schuhmacher dem Anspruch, in ihrer Chronik auch das Weltgeschehen zu dokumentieren, u¨ber Jahrhunderte treu blieben, deutet darauf hin, dass ein gewisser Grad der Informiertheit und die damit verbundene Mo¨glichkeit, an anderen o¨ffentlichen Orten und im Umgang mit anderen Personenkreisen u¨ber das Weltgeschehen zu diskutieren, fu¨r sie positiv besetzt und bedeutsam war. Das Bild der Zu¨nfte als einem negativen Gegenentwurf zur „aufkla¨rerischen ¨ ffentlichkeit“ wird auch dann teilweise relativiert, wenn man einen genaueren Blick O darauf wirft, auf welche Wissensbesta¨nde sie in ihren Schriften und Zeremonien rekurrieren, und zwar insbesondere dann, wenn es um die Konstruktion von Gruppenidentita¨t geht. Herausgreifen mo¨chte ich hierfu¨r die Ursprungserza¨hlungen. Bei diesen Ursprungserza¨hlungen lassen sich drei Grundformen unterscheiden: Zum ersten gibt es Narrative, die Erkla¨rungen dafu¨r liefern, wie Zu¨nfte in den Genuss bestimmter Privilegien gelangten. In ihrem Mittelpunkt stehen meist heroische Taten einzelner Zunftangeho¨riger oder ganzer Zu¨nfte, die von einem bedeutenden Fu¨rsten mit der Verleihung eines symbolkra¨ftigen Privilegs belohnt werden. Zum zweiten sind Erza¨hlungen u¨berliefert, die davon berichten, wann, von wem und unter welchen Umsta¨nden das jeweilige Handwerk begru¨ndet wurde. Bei diesen lassen sich wiederum zwei Erza¨hlmuster deutlich unterscheiden: Der Ursprung des Handwerks wird entweder mit biblischen Narrativen und ihren Protagonisten verwoben, oder er wird in der Geschichte und Mythologie der klassischen Antike verortet.80 76 Vgl. IfSG Frankfurt, Handwerkerbu¨cher 117, Verzeichnuß der Ehrenvesten fu¨rsichtige und wohl-

weiße Herren [...], fol. 21r.

77 Vgl. ebd., fol. 172r. 78 Vgl. IfSG Frankfurt, Chroniken S 5/21, Chronik des Schuhmacherhandwerks, ca. 1500 bis 1801,

fol. 219v–220r.

79 Vgl. Eberhard Nikitsch, Studien zur Handwerkermentalita¨t in fru¨hneuzeitlichen Reichssta¨dten am

Beispiel des Esslinger Ku¨rschners und Chronisten Dionysius Dreytwein. Mit einer Edition seiner „Franziskaner-Reimchronik“, Sigmaringen 1985. 80 Vgl. dazu ausfu¨hrlicher und mit Beispielen Schmidt, Wandelbare Traditionen (wie Anm. 69), S. 266–282.

¨ ffentlichkeit Zu¨nfte, Handwerker und aufkla¨rerische O

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Als signifikant fu¨r den hier zu untersuchenden Zusammenhang erscheint insbesondere der dritte Typus von Ursprungserza¨hlungen. Denn indem klassisch-antike Gestalten und Begebenheiten aufgegriffen wurden, rekurrierten einige Zu¨nfte auf Bildungsbesta¨nde, die zumeist den Oberschichten der fru¨hneuzeitlichen Gesellschaft ¨ ffentlichzugeordnet werden und die auch in den Debatten der „aufkla¨rerischen O keit“ zumindest als eine Art Zugangsvoraussetzung eine Rolle gespielt haben du¨rften. Die Ursprungserza¨hlungen liefern Indizien dafu¨r, dass Zunftangeho¨rige Werke aus dem Lektu¨rekanon der Gebildeten rezipierten; wenn etwa die Nu¨rnberger Schreiner im 18. Jahrhundert Agatharchos als den Begru¨nder ihres Handwerks in Anspruch nehmen, ko¨nnten sie die Argumente dafu¨r der Architectura Vitruvs oder Zedlers Universallexicon entnommen haben, in dem nachzulesen ist, dass der griechische Architekt Agatharchos die perspektivische Darstellung erfunden habe, welche auch fu¨r das Schreinerhandwerk von großer Bedeutung war.81 ¨ ffentlichMit solchen Ursprungserza¨hlungen traten die Zu¨nfte auch an die O keit und nahmen auf diese Weise Einfluss auf das Bild, das diese von ihnen hatte. Die Nu¨rnberger Schreiner visualisierten 1768 die Erza¨hlung, in deren Mittelpunkt Agatharchos steht, bei einem feierlichen Zunftumzug durch die Stadt. Wurde hier ¨ ffentlichkeit“82 genutzt, so bediendie Bu¨hne einer sta¨dtischen „repra¨sentativen O ten sich diese und andere Nu¨rnberger und Frankfurter Handwerke auch des Buchdrucks, um ihre ehrwu¨rdigen Urspru¨nge zu kommunizieren. Die Nu¨rnberger Schreiner taten dies in Form einer mehrseitigen, illustrierten Beschreibung des Umzugs.83 Die Drechsler in derselben Stadt publizierten ihren Lobspruch, der ebenfalls eine Ursprungserza¨hlung entha¨lt, sogar dreimal in Form von Einblattdrucken, in den Jahren 1688, 1760 und 1801.84 Der urspru¨ngliche Text wird dabei 1760 erheblich modernisiert. Hob die a¨ltere Version den Nutzen der Erzeugnisse dieses Handwerks fu¨r „Cantzley“ und Schreibstuben hervor, also fu¨r die obrigkeitliche Administration, so

81 Vgl. als Quelle fu¨r die Ursprungserza¨hlung der Nu¨rnberger Schreiner Stadtarchiv Nu¨rnberg (im Fol-

genden StadtA Nu¨rnberg), E 5/65 26, Ruhm= und Ehrengeda¨chtniß bey dem Oberherrlich gna¨dig=erlaubten Aufzug der lo¨blich und weltberu¨mbten Schreinerzunft [...], fol. 31r. Vgl. weiterhin den Artikel „Agatharchus“, in: Zedler, Universallexicon (wie Anm. 22), Bd. 1, Sp. 755. 82 Habermas versteht unter „Repra¨sentativer O ¨ ffentlichkeit“ im wesentlichen die Herrschaftsrepra¨sentation der Monarchen vor ihren Untertanen. Der Terminus wird hier indes in der erweiterten Bedeutung verwendet, die Ernst Opgenoorth vorschla¨gt. Er versteht darunter das „zur-Schau-Tragen und Geltendmachen des jeweiligen Ranges einer Vielzahl von Einzelnen, Gruppen und Institutionen innerhalb der Ordnung fru¨hneuzeitlicher Gesellschaft“. Vgl. Ernst Opgenoorth, Publicum – privatum – arcanum. Ein Versuch zur Begrifflichkeit fru¨hneuzeitlicher Kommunikationsgeschichte, in: Kommunikation und Medien in Preußen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, hg. v. Bernd So¨semann, Stuttgart 2002, S. 22–44, Zitat S. 39. 83 Vgl. StadtA Nu¨rnberg, E 5/65 25. Diese Akte entha¨lt auf den Bla¨ttern 28v bis 33v die gedruckte Beschreibung des Umzugs: Ruhm= und Ehrengeda¨chtniß / bey / dem Oberherrlich gna¨dig=erlaubten / Aufzug / der lo¨blich und Weltberu¨hmten / Schreinerzunft / in der des Heil Ro¨mischen Reichs Kaiserlichen freyen / Stadt Nu¨rnberg / nebst einer Lobrede / welche ein Gesell abgeleget. / Im Monat August 1768. 84 Vgl. StadtA Nu¨rnberg, E 5 17/73, Ruhmverneuertes Ehren=Maal der erbaren und kunstreichen Holz=Bein=Horn=Metall=und Silber=Drechsler [...] 1801; Stadtbibliothek Nu¨rnberg, Einblattdrucke (1), Nor. K. 7930; Will IV 120.2o (1).

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betonten die spa¨teren Fassungen, dass die Drechsler den Wissenschaften wichtige Dienste leisteten: Des Stern Erkundigers so Erd= als Himmels=Globen, / Zum Tubum das Gestell nebst andern Zugeho¨r, / Gewundne Geridons; auch Sa¨ulen, rund, geschoben, / Hol, eckigt, lang, oval verdienen Ruhm und Ehr. [...] Von Bein und Horn gedreht, Injectiones Spritzen, / Und was der Wundarzt braucht, der Luftclistircanal, / Das Microscopium fu¨rtreflich vieles nu¨tzen, / Tabac=Kopf, Dosen, Rohr, Schreib=Streuzeug, Pennial. [...] Ganz unbegreiflich scheint das menschlich Ohr und Auge / Vom feinsten Elfenbein, natu¨rlich ausgedreht, / Zergliedert ohne Fehl zum Nutz= und Lehrgebrauche / In der Anatomie; Sind Stu¨ck von Rarita¨t!85 Diese neue Begru¨ndung des gesellschaftlichen Nutzens der Drechsler la¨sst sich als ¨ ffentlichkeit intereine Anpassung an die Priorita¨tensetzungen der aufkla¨rerischen O pretieren. „Wissenschaft“ und implizit auch „Fortschritt“ werden hier akzentuiert, nicht „alte Handwerkstradition“.86 Diesem Befund stehen freilich viele Beispiele entgegen, die darauf hindeuten, dass das Weltbild und Selbstversta¨ndnis, das Zunftangeho¨rige im Rahmen ihrer Korporationen artikulierten, eher traditional als ‚aufgekla¨rt‘ war. Bibelzitate, Gedichte, Gebete und Sinnspru¨che, mit denen sich Zunftangeho¨rige, meist Vorsteher und andere Angeho¨rige der korporativen Eliten, in den Zunftbu¨chern verewigten, zeugen von einer ungebrochenen, eher konventionellen und Dogmen kaum hinterfragenden Fro¨mmigkeit. Bezeichnend erscheint etwa, dass eine ganze Reihe von Zunftvorstehern der Nu¨rnberger Schneider noch Mitte des 18. Jahrhunderts ihren Aufstieg in der ¨ mter nicht eigener Tu¨chtigkeit, guter Korporation und die Erlangung sta¨dtischer A Berufsausbildung oder Bildungsanstrengungen zuschrieben, sondern ausschließlich go¨ttlicher Lenkung.87 Auch erwecken diese Texte den Eindruck, dass sie eher von der fu¨r die Mehrheit der Lesenden in der Fru¨hen Neuzeit typischen intensiven, wiederholten Lektu¨re weniger (vorwiegend religio¨ser) Werke inspiriert wurden, als von einer extensiven, tendenziell flu¨chtigen Lektu¨re zahlreicher Publikationen verschiedensten Inhalts, die im Laufe des 18. Jahrhunderts an Bedeutung gewann, und die fu¨r ¨ ffentlichkeit charakteristisch wurde.88 Nichtsdestoweniger sind die aufkla¨rerische O

85 Stadtbibliothek Nu¨rnberg, Will IV 120.2o (1), Ruhmverneuertes Ehren=Maal / Der Ehrbaren und

Kunstreichen / Holz= Bein= Horn= Metall= und Silber=Drechsler [...] 86 Formuliert wurde dieser Lobspruch von dem Spruchdichter Gottlieb Siegmund Wolf. Auch andere

Nu¨rnberger Handwerke ließen solche Texte von Spruchdichtern anfertigen. Auf den Inhalt du¨rften die Korporationen dennoch Einfluss genommen haben; es erscheint unwahrscheinlich, dass sie etwa von Außenstehenden Ursprungserza¨hlungen formulieren ließen, die ihnen ga¨nzlich fremd und unversta¨ndlich blieben, mussten sie sich doch mit ihnen identifizieren ko¨nnen. 87 Vgl. StadtA Nu¨rnberg, E5/63 1a, Ehrlo¨bliches Geda¨chtnisbuch einer Erbarn Rathsfa¨higen Handwerksgenossenschaft der Schneider [...]. Siehe hier beispielsweise die Eintra¨ge von Johann Scharff (fol. 168v–171r), Wolfgang Tobias Leib (183r–185r) und Friedrich Gotthold Negelein (196v–199r) 88 Vgl. Van Horn Melton, Rise of the Public (wie Anm. 70), S. 86–92.

¨ ffentlichkeit Zu¨nfte, Handwerker und aufkla¨rerische O

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auch diese der eigenen Memoria dienenden Eintra¨ge in den Zunftbu¨chern sehr wahrscheinlich das Produkt einer Auseinandersetzung mit gedruckter Literatur und verbinden so die Zunftangeho¨rigen mit der Schicht der Gebildeten, die wir als Akteure der Aufkla¨rung ansehen.

5.

¨ berlegungen Abschließende U

Zu¨nfte nutzten Printmedien, wie hier an wenigen Beispielen gezeigt wurde – aber sie nutzten sie sicherlich nicht mit derselben Intensita¨t und nicht in derselben Weise, wie es prototypische aufkla¨rerische Sozieta¨ten taten. Es ist nichts davon bekannt, dass jemals eine Zunft eine Zeitschrift herausgegeben oder Buchpublikationen ihrer Angeho¨rigen gefo¨rdert ha¨tte, und ebensowenig, dass bei zu¨nftischen Zusammenku¨nften literarische Texte kritisch diskutiert und anschließend von Zunftmitgliedern rezensiert worden wa¨ren. Auch ist es angesichts ihrer Tendenz zur Abschottung der innerkorporativen Kommunikation gegen außen unwahrscheinlich, dass Zu¨nfte Berichte u¨ber ihre Aktivita¨ten in der Presse lancierten und so fu¨r diese warben, wie es beispielsweise zahlreiche britische Vereine im 18. Jahrhundert bereits taten.89 Zu¨nfte, auch das wurde im letzten Abschnitt angedeutet, boten durchaus einen sozialen Raum, in dem ihre Angeho¨rigen Versatzstu¨cke ho¨herer Bildung pra¨sentieren konnten, und diese hatten ein Bewusstsein dafu¨r, dass solche Bildungsbesta¨nde dem Einzelnen oder auch der ganzen Korporation Distinktionsgewinne einbringen konnten. Die an die antike Mythologie und Geschichte anknu¨pfenden Ursprungserza¨hlungen einiger Frankfurter und Nu¨rnberger Zu¨nfte bezeugen dies. Aus a¨hnlichen Quellen konnte auch die Begru¨ndung dafu¨r gescho¨pft werden, wie ein Meisterstu¨ck auszusehen habe: Die Straßburger Schreiner fu¨hrten die a¨sthetischen Vorgaben, nach denen Kandidaten ihr Meisterstu¨ck, einen massiven Schrank, zu gestalten hatten, im 16. und 17. Jahrhundert auf die Architekturtheorie des Vitruvius zuru¨ck.90 In ihren Augen war sicherlich das Handwerk nicht die intellektuell anspruchslose Ta¨tigkeit, als die es im 18. Jahrhundert Falguet de Villeneuve und Adam Smith charakterisieren sollten. Zu¨nfte nutzten Printmedien und rezipierten von ihnen transportierte Inhalte – und doch scheint sie, fu¨r einen modernen Beobachter – eine tiefe Kluft von jener Art ¨ ffentdes Umgangs mit dem gedruckten Wort zu trennen, der die aufkla¨rerische O lichkeit charakterisierte. Die Dichotomie zwischen „Korporation“ und „Assoziation“ ist in der neueren Forschung in vielen Einzelaspekten relativiert worden, wie gezeigt wurde – und dennoch halten wir nach wie vor Assoziationen des 18. Jahrhunderts fu¨r Tra¨gerinnen aufgekla¨rten Denkens, und nicht die meist weit a¨lteren Korporationen der fru¨hneuzeitlichen Stadt. Wir tun dies, so denke ich, grundsa¨tzlich mit 89 Vgl. Clark, British Clubs (wie Anm. 38), S. 49, 69, 262. 90 Vgl. Franc¸oise Le´vy-Coblentz, L’art du meuble en Alsace, Bd. 1: Du gothique au baroque 1480–1698,

Straßburg 1975.

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Recht: Es scheint gerechtfertigt anzunehmen, dass bestimmte Vergemeinschaftungsformen einen geeigneteren Rahmen fu¨r bestimmte Denkweisen und Diskurse abgeben als andere. Das sollte aber nicht den Blick verstellen fu¨r Elemente des Korporativen in den Assoziationen des 18. Jahrhunderts, wie sie vor allem Clark herausgearbeitet hat. Und es sollte uns nicht davon abhalten, einen wachen Blick fu¨r eine Diffusion des ‚neuen‘ Denkens in traditionale Vereinigungen zu behalten. Wenn 1780 ein Hamburger Leinewebergeselle seiner Bruderschaft einen Schild zum Willkommpokal stiftete, auf dem er einerseits seine Verbundenheit mit dem zu¨nftischen Handwerk betonte, um andererseits durch eine Insignie seine Zugeho¨rigkeit zur „Hamburgischen Gesellschaft“ anzuzeigen, die fu¨r die Abschaffung der Zu¨nfte pla¨dierte, so wirft dies ein Schlaglicht darauf, wie aufkla¨rerisches Denken durch Mehrfachmitgliedschaften von Individuen in die Korporationen einsickern konnte.91 Die vom Verfasser ausgewerteten Zunftbu¨cher aus Frankfurt am Main, Ko¨ln, Nu¨rnberg und Straßburg geben wenig handfeste Hinweise auf einen solchen Diffusionsprozess, bilden aber auch nur einen winzigen Ausschnitt der zu¨nftischen ¨ berlieferung des Aufkla¨rungszeitalters. Es wa¨re lohnend, diese U ¨ berlieferung tradiU tioneller Korporationen darauf zu untersuchen, ob sich nicht doch Argumentationsweisen und diskursive Strategien im Laufe des 18. Jahrhunderts unter dem Einfluss der Aufkla¨rung vera¨nderten. Ebenso aufschlussreich ko¨nnte es sein, einen anderen vorla¨ufigen Befund auf breiter Quellenbasis zu u¨berpru¨fen: Den Eindruck na¨mlich, dass die Zu¨nfte auf die in diesem Beitrag kurz vorgestellte Zunftkritik der gebildeten Sta¨nde kaum reagierten, wie es die gerade genannten Zunftbu¨cher suggerieren. Eine Auswertung anderer Quellen, etwa Suppliken oder Gerichtsakten, ko¨nnte zeigen, dass Zunftangeho¨rige die Kritik der Eliten, die fu¨r ihre Institutionen letztlich existenzbedrohend war, nicht einfach ignorierten, sondern zu widerlegen versuchten. Bislang ist das nur fu¨r einen Fall dokumentiert: Als Anfang 1776 deutlich wurde, dass Turgot die Aufhebung der franzo¨sischen Zu¨nfte plante, versuchten mindestens 24 Pariser Zu¨nfte diesen Schritt in letzter Minute abzuwenden, indem sie in Denkschriften darlegten, warum die Handwerkskorporationen fu¨r Staat und Gesellschaft unentbehrlich seien. Neun dieser Denkschriften sind in gedruckter Form u¨berliefert und belegen damit nach Fabrice Piwnica die Intention ihrer Verfasser, de s’adresser directement a` l’opinion publique.92 Kaplan hat in diesem Zusammenhang auf eine ironische Wendung hingewiesen, die ein Schlaglicht auf die Grenzen aufkla¨rerischer ¨ ffentlichkeit wirft: Turgot, der Mitautor der „Encyclope´die“, erwirkte ein ko¨nigO liches Dekret, das die Vero¨ffentlichung solcher Denkschriften zugunsten der Zu¨nfte untersagte.93

91 Vgl. Gerhard Bartsch, Der silberne Willkommpokal der Hamburger Leinewebergesellen von 1739

und die zugeho¨rigen Anha¨nger aus der Zeit von 1768 bis 1793, in: Beitra¨ge zur deutschen Volks- und Altertumskunde 17 (1978), S. 7–32, hier S. 24f. 92 Fabrice Piwnica, Les re´sistances a` l’introduction du libe´ralisme en France: Le te´moignage des me´moires des corporations en 1776, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 40 (1993), S. 30–48, hier S. 32. 93 Vgl. Kaplan, Turgot’s Carnival (wie Anm. 20), S. 180.

¨ FFENTLICHKEIT STADT UND O IM ANCIEN RE´ GIME UND IM 19. JAHRHUNDERT Anmerkungen aus buchgeschichtlicher Perspektive* von Fre´deric Barbier

¨ ffentlichkeit und schriftliche Kultur 1. Sta¨dtische O

Auch wenn es in den aktuellen Debatten der Historiker bisweilen so scheinen will, ¨ ffentlichkeit als sei der menschliche Ko¨rper das zentrale Medium der sta¨dtischen O ¨ gewesen, so bleibt die Frage nach der Offentlichkeit doch eng mit der Buchgeschichte verknu¨pft, insbesondere wenn man sie nicht nur als Teil einer Geschichte des Buchwesens, sondern als einen Teil der allgemeinen Mediengeschichte versteht.1 Dabei umgreifen die Begriffe „Buch“ und „Buchwesen“ nicht nur die Bu¨cher selbst, sondern auch Einblattdrucke, Kalender, Plakate, die sogenannten Akzidenzdrucke sowie ab dem 18. Jahrhundert die periodische Presse. So fu¨hren die Vielfa¨ltigkeit und die Ambivalenz des Paradigmas zu einer differenzierten und vergleichenden Historisie¨ ffentlichkeits-Praktiken. Insgesamt bleiben die Herstellung und die Verrung der O o¨ffentlichung des gedruckten Materials (außer der Papierherstellung) unmittelbar mit der „Stadt“ als historischem Ort verknu¨pft. Das Buchwesen bildet das Hauptmittel ¨ ffentlichkeit zur Zeit des sog. Ancien Re´gime, der Aufkla¨rung und noch des der O 19. Jahrhunderts. Seit dem Ausgang des Mittelalters war die (wenn auch nur relative) Vertrautheit der Stadtbewohner mit der schriftlichen bzw. mit der gedruckten Kultur ein charakteristisches Pha¨nomen der sta¨dtischen Lebenswelt. Die Versammlung der Generalsta¨nde von 1789 im Ko¨nigreich Frankreich kann als ¨ ffentlichkeit wissenschaftlich analysiert ein idealtypisches Beispiel der modernen O werden. Die verschiedenen Gemeinden im Ko¨nigsreich sollten jede fu¨r sich schriftlich einen sogenannten „Cahier de dole´ances“ (Beschwerdeheft) abfassen. Danach

* Der Text wurde als Kommentar am Ende der Mu¨nsteraner Tagung vorgetragen und fu¨r die Druckfas-

sung nur geringfu¨gig u¨berarbeitet.

1 Fre´de´ric Barbier, Histoire du livre, 2. Aufl., Paris 2009. U ¨ bersetzungen auf chinesisch, griechisch, spa-

nisch, ungarisch, italienisch, portugiesisch (Brasilien) und serbisch. Jean-Dominique Mellot, Qu’estce qu’un livre? Qu’est-ce que l’histoire du livre?, in: Histoire et civilisation du livre. Revue internationale 2 (2006), S. 4–18.

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Fre´deric Barbier

sollte auf dieser breiten Grundlage durch die Versailler Generalversammlung eine Synthese ausgearbeitet und als Basis fu¨r die ku¨nftigen Reformen verwendet werden. In den meisten Landgemeinden wird diese Reform noch ganz nach den alten Prakti¨ ffentlichkeit durchgefu¨hrt: Durch Glockenklang werden die ken der mu¨ndlichen O Bewohner am Sonntag zum Gottesdienst zusammengerufen und versammeln sich im Anschluss vor dem Kirchentor, wo das gedruckte ko¨nigliche Edikt vorgelesen wird – die Mehrheit der Landbewohner bleibt in Frankreich bis in die zweiten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts unfa¨hig zu lesen und, mehr noch, zu schreiben.2 Dabei bildet der Dialekt nicht nur bei den Landgemeinden, sondern auch bei den unteren und zum Teil bei den mittleren Klassen der sta¨dtischen Bevo¨lkerung,3 die sprachkulturelle Umgangssprache bis zum Ende des 18. Jahrhunderts.4 Nicht nur charakterisieren die schriftlichen bzw. die gedruckten Medien die sta¨d¨ ffentlichkeit, sondern sie begru¨nden in einer Zeit, wo das Land noch immer tische O ¨ ffentlichkeit und der symbolischen Unterwerfung gilt, als Arena der mu¨ndlichen O auch die Macht der Stadt als Idealtypus. Sechzig Kilometer entfernt von Tours, in der kleinen Gemeinde Nouans, wird der „Cahier de dole´ances“ theoretisch durch die Mitarbeit aller ma¨nnlichen steuerpflichtigen Bewohner (die Gemeinde hat in diesem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts zwischen 800 und 1000 Einwohner) erstellt; doch praktisch werden sie am 1. Ma¨rz 1789 von einer kleinen Gruppe von ungefa¨hr zehn Prominenten des Dorfes redigiert: ... Dans l’assemble´e des habitans, tous ne´s franc¸ois, aˆge´s de 15 ans, compris aux rolles des impositions, convoque´s au son de la cloche a` la manie`re accoutume´e, et annonce´e le dimanche 22 fe´vrier de la meˆme anne´e, apre`s lecture faite au proˆne de la messe paroissialle et a` l’issue de la messe a` la porte de l’e´glise, de la Lettre du roy du 24 janvier 1789 donne´e a` Versailles pour la convocation et tenue des E´tats ge´ne´raux du royaume, signe´e Louis, et plus bas Laurent de Villedeuil; ensemble du re`glement y annexe´ et de l’ordonnance de Monsieur le lieutenant ge´ne´ral du bailliage de Loches (...).

2 Franc¸ois Furet/Mona Ozouf, Lire et e´crire: l’alphabe´tisation des Franc¸ais, de Calvin a` Jules Ferry,

Paris 1977, 2 Bde.

3 Rudolf Schenda, Orale und literarische Kommunikationsformen im Bereich von Analphabeten und

Gebildeten im 17. Jahrhundert, in: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert., Wiesbaden [o. J.], 2 Bde., bier Bd. 2, S. 447–464; Ders., Alphabetisierung und Literarisierungsprozesse in West-Europa im 18. und 19. Jahrhundert, in: Wolfenbu¨tteler Forschungen XIX [1982], S. 1–20; Hans Erich Bo¨deker, Lesekulturen im 18. Jahrhundert (Aufkla¨rung, VI, 1), Hamburg 1992. Das weit bekannte Hauptwerk von Schenda konzentriert sich auf die Problematik der oralen Lebenswelt der großen Mehrheit bis zum ersten Weltkrieg: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der popula¨ren Lesestoffe (1770–1910), 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1988; Ders., La lecture des images et l’iconisation du peuple, in: Revue franc¸aise d’histoire du livre 114–115 (2002), S. 13–30. 4 Abbe´ Henri Ge´goire, Rapport sur la ne´cessite´ et les moyens d’ane´antir les patois et d’universaliser l’usage de la langue franc¸aise; se´ance du 16 prairial, l’an IIe de la re´publique une et indivisible. Suivi du De´cret de la Convention nationale. Imprime´s par ordre de la Convention nationale ..., [Paris 1794]. Michel de Certeau/Dominique Julia/Jacques Revel, Une Politique de la langue. La Re´volution franc¸aise et les patois, Paris 1975.

¨ ffentlichkeit im Ancien Re´gime und im 19. Jahrhundert Stadt und O

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¨ ffentlichkeit im Druck: Abb. 1: Ein fru¨hes Bild der sta¨dtischen O Ordonnances royaulx de la juridicion de la prevoste´ des marchans et echevinage de la ville de Paris. Nouvellement imprime´ a` Paris, Au Palays, en la boutique de Jaques Nyverd, 1528, fo Quelle: Paris, Bibliothe`que historique de la Ville de Paris

Die Prominenten bilden eben diese Ma¨nner, die mit der sta¨dtischen, d. h. mit der ¨ ffentlichkeit sowie mehr oder weniger mit der schriftlichen und mit der gedruckten O Lebenswelt der Aufkla¨rung im Allgemeinen vertraut sind, und die deshalb die Rolle der Vermittler erfu¨llen ko¨nnen.

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¨ ffentlichkeit 2. Theorie und Praxis der gedruckten O ¨ ffentlichkeit“ fu¨hrt zu einigen der zentralen geschichtlichen ForDer Begriff „O schungsfelder der heutigen Buch- bzw. Mediengeschichte. Dabei handelt es sich erstens um eine Sozialgeschichte im weiteren Sinne.5 Die geschichtswissenschaftliche Forschung in Frankreich hat in der zweiten Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts einen sehr breiten Begriff von Sozialgeschichte (histoire sociale) entwickelt und systematisch benutzt, der nach dem Motto: „Alle Geschichte ist Sozialgeschichte!“ auf eine „totale“ und objektive Geschichte zielte. Das vor rund fu¨nfzig Jahren vero¨ffentlichte Buch von Lucien Febvre und Henri-Jean Martin ‘Die Geburt des Buches“,6 das sozusagen die „neue Geschichte“ des Buches in Frankreich begru¨ndet hat, wurde durch diesen sozialgeschichtlichen Ansatz ebenso wie durch die historische Psychologie gepra¨gt, ebenso durch die sogenannte Mentalita¨tsgeschichte und eine allgemeine Kulturgeschichte, wie sie von Lucien Febvre fu¨r die Neuzeit und von Georges Duby fu¨r das Mittelalter7 theorisiert wurden. Zu den wissenschaftlichen Eigentu¨mlichkeiten der sogenannten franzo¨sischen Schule der Buchgeschichte za¨hlt das Streben nach einer mo¨glichst umfassenden und, wenn mo¨glich, auch quantitativen Sozialgeschichte. Insbesondere literarische Werke ko¨nnen z. B. als Quellen dem Forscher daru¨ber Aufschluss geben, wie der wechselseitige Informationsfluss zwischen der Hauptstadt bzw. der Residenz, den anderen Sta¨dten und dem Land sich gestaltete und zu welchen sozialen Folgen er fu¨hrte. Ihre Faszination erlangte die Großstadt aufgrund ihrer Rolle als Hauptknotenpunkt in den verschiedenen Netzen der media¨ ffentlichkeit, so dass der Traum, durch die Literatur, die Zeitungen, die scho¨nen len O Ku¨nste, die Politik usw., mo¨glichst schnell und leicht beru¨hmt und reich zu werden, viele junge Leute seit der zweiten Ha¨lfte des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert in die franzo¨sische Metropole lockt. Hier erfa¨hrt der aus Poitiers soeben in Paris angekommene Lucien de Rubempre´ aber zuna¨chst, dass in der Großstadt alte Verdienste nichts mehr za¨hlen: Surpris de cette foule a` laquelle il e´tait e´tranger, cet homme d’imagination e´prouva comme une immense diminution de lui-meˆme. Les personnes qui jouissent en province d’une conside´ration quelconque, et qui y rencontrent 5 Histoire sociale, histoire globale? Actes du coloque des 27–28 janvier 1989, hg. v. Christophe Charle,

Paris 1993. 6 Lucien Febvre/Henri-Jean Martin, L’Apparition du livre (L’e´volution de l’humanite´), 3. Aufl. Paris

1999, mit einem Nachwort von Fre´de´ric Barbier, E´crire L’Apparition du livre, S. 535–588. Fre´de´ric Barbier, 1958: Henri-Jean Martin et l’invention de la „nouvelle histoire du livre“, in: Cinquante ans d’histoire du livre. De L’Apparition du livre (1958) a` 2008. Bilan et projets, im Druck (Vernetztes Europa 5). 7 Unter anderen in: L’Histoire et ses me´thodes, hg. v. Charles Samaran, Paris 1961, bes. S. 940–941: „Nommer la manie`re ge´ne´rale de penser qui pre´vaut dans une socie´te´, [c’est] pre´parer l’e´tude d’attitudes mentales qui [sont] communes a` tout un groupe. [C’est] relier fortement les repre´sentations collectives et les conduites personnelles a` l’e´tat d’une socie´te´, donc a` son histoire“. Histoires du livre, nouvelles orientations. Actes du colloque du 6 et 7 septembre 1990, Go¨ttingen, hg. v. Hans Erich Bo¨deker, Paris 1995.

¨ ffentlichkeit im Ancien Re´gime und im 19. Jahrhundert Stadt und O

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a` chaque pas une preuve de leur importance, ne s’accoutument point a` cette perte totale et subite de leur valeur. Eˆtre quelque chose dans son pays et n’eˆtre rien a` Paris sont deux e´tats qui veulent des transitions; et ceux qui passent trop brusquement de l’un a` l’autre tombent dans une espe`ce d’ane´antissement ... 8 So kann die Frage nach der Rolle einer bestimmten Stadt in den Netzen der medialen ¨ ffentlichkeit zu einer differenzierten Typologie sta¨dtischer Repra¨sentationsformen O fu¨hren. Zweitens fu¨hrt die sozialgeschichtliche Problematik zur Frage des Verha¨ltnisses der Herrschaftstra¨ger (konkret des Ko¨nigs und der fu¨rstlichen Beho¨rden, der Parlamente, der Sta¨dte, der Kirchen, der Zu¨nfte, usw.) und der Verwaltung zur neuzeitli¨ ffentlichkeit. Hier ist die Politik-, Rechts- und Verwaltungsgeschichte gefragt, chen O die sich z. B. mit der Verwaltung des Buchwesens, der periodischen Presse und der Zensur bescha¨ftigt,9 Ausdruck des Verlangens nach Kontrolle der Medien und der ¨ ffentlichkeit (wie z. B. in Frankreich der Pariser Oper bis in das Jahr 1900). Orte der O Die besten historischen Arbeiten zu diesem Themenfeld in Frankreich waren vor allem Doktorarbeiten, die – nach dem oben erwa¨hnten wissenschaftlichen Modell der Totalita¨t – sehr pra¨zise Monographien u¨ber eine Stadt oder eine Region darstellten. Ein herausragendes Beispiel stellt das Hauptwerk von Henri-Jean Martin dar, na¨mlich seine zwei 1969 erschienenen Ba¨nde u¨ber das Pariser Buchwesen des 17 Jahrhunderts.10 Eine sehr umfangreiche Aufarbeitung der Thematik fu¨r eine Provinzstadt lieferte Jean-Dominique Mellot mit seiner Forschungsarbeit u¨ber die normannische Hauptstadt Rouen, ebenfalls zur Zeit der franzo¨sischen Klassik.11 Dass die Zeit Gutenbergs einen echten revolutiona¨ren Einschnitt im Bereich der Medien darstellt, bezeugt die Tatsache, dass etwa 30 000 gedruckte Titel aus dem 15. Jahrhundert bis heute u¨berliefert sind; das bedeutet bei einer gescha¨tzten mittleren Auflagenzahl von 500 Exemplaren, dass mindestens 15 Millionen Drucke aller Art wa¨hrend fu¨nfzig Jahren in Europa entstanden. Auch wenn keiner unter den Zeitgenossen sofort im Stande war, die Folgen dieser ersten „Medienrevolution“ vorauszusehen, stellte sich gleich ein neues Problem: Wer sollte autorisiert sein, das „o¨ffentliche Wort“ zu nehmen? Auch wenn ein Kirchenpra¨lat wie Kardinal Cisneros in den ersten Jahrzehnten der neuen Druckkunst das Projekt einer Biblia Polyglotta im spanischen Alcala aufbauen und ausarbeiten konnte, wird es nach 1517 8 Honore´ de Balzac, Illusions perdues [1837], neue Ausg., Paris 1962, S. 155. Priscilla Parkhurst Fer-

guson, Paris as Revolution: writing the nineteenth-century city, Los Angeles/London 1994; PierreJean Dufief, Paris dans le roman au XIXe sie`cle, Paris 1994. 9 Zum Beispiel: Jean-Dominique Mellot/Marie-He´le`ne Tesnie`re, Production et usage de l’e´crit juriˆ ge a` nos jours, in: Histoire et civilisation du livre. Revue internationale 1 dique en France du Moyen A (2005), S. 1–210. 10 Henri-Jean Martin, Livre, pouvoirs et socie´te´ a` Paris au XVIIe sie`cle (1598–1701) (Centre de recherches d’histoire et de philologie de la IVe Section de l’E´cole pratique des Hautes E´tudes, VI. Histoire et ¨ bersetzung: Print, Power and civilisation du livre 3), Paris 1969, 2 Bde., 3. Aufl. Gene`ve 2000. Engl. U People (...). Translated by David Gerard, Metuchen (N. J.)/London, 1993. 11 Jean-Dominique Mellot, L’E ´ dition rouennaise et ses marche´s (v. 1600–v. 1730): dynamisme provincial et centralisme parisien, Paris 1998.

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immer schwerer, die Verbreitung des Buchwesens ohne Kontrolle sich entwickeln zu lassen. In Paris begu¨nstigt der neue Herrscher ab 1515 den Humanismus: Ko¨nig

Abb. 2: Nachrichtenvermittlung im sta¨dtischen Raum des 19. Jahrhunderts Quelle: „La Vie moderne“, hg. v. Georges Charpentier, 2. Jahrg., Paris 1880, S. 162

Franc¸ois I. beschu¨tzt die Gelehrten, die Buchdrucker und die Buchha¨ndler, besonders gegen die Sorbonne. Mit Guillaume Bude´ organisiert er die ko¨nigliche Bibliothek im Schloss Fontainebleau und gru¨ndet gegen die Pariser Universita¨t das neue Colle`ge royal (heute Colle`ge de France). Der absolutistische Fu¨rst verfu¨gt u¨ber die politische Initiative und Franc¸ois I. versucht die neue Dynastie der Valois zu sta¨rken,

¨ ffentlichkeit im Ancien Re´gime und im 19. Jahrhundert Stadt und O

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indem er sich nach moderner italienischer Manier als „Fu¨rst der Musen“, der Ku¨nstler und der Gelehrten pra¨sentiert. Als aber in der Nacht des 17. Oktober 1534 in der Hauptstadt sowie in einigen großen Sta¨dten des Ko¨nigreichs die sogenannten „Placards“ angeschlagen werden, werden sie sofort zu einem politischen Skandal. Jeder kann den scharfen Text von Antoine Marcourt gegen die heilige Messe an den Straßenkreuzungen lesen, sogar im ko¨niglichen Schloss von Amboise, was als ein Majesta¨tsverbrechen verstanden wird. Schon am Ende des Jahres ist die Reaktion spu¨rbar: Es werden Buchha¨ndler und Buchdrucker verurteilt, manchmal sogar zum Tod, und die beru¨hmtesten franzo¨sischen Anha¨nger der Reformation wie E´tienne Dolet und Jean Calvin verlassen die Hauptstadt. Am 13. Januar 1535 wird durch ein ko¨nigliches Edikt das Drucken in Frankreich vo¨llig verboten und die Schließung der Buchhandlungen angeordnet – eine vom Prinzip her undurchfu¨hrbare Bestimmung, gleichwohl ein fu¨r die Historiker bedeutungsvoller Versuch, einen Damm gegen die neuen Medien zu errichten.12 Der franzo¨sische Ko¨nig, seine Stellvertreter und die ko¨niglichen Beamten allein du¨rfen das o¨ffentliche Wort ergreifen, auch die Kirche darf das – im Gegensatz etwa zu Spanien – nicht. Nach und nach wird so spu¨rbar, wie die neuen Medien vom sogenannten modernen Staat und von den ko¨niglichen Beho¨rden verwaltet und kontrolliert werden; diese Tatsache findet bereits im Edikt von Moulins 1567 einen systematischen, allein wegen der Wirren der Religionskriege noch nicht wirklich in die Pra¨ ffentlichkeit kann im alten Europa nicht xis umgesetzten Niederschlag. Kurz, die O (nach dem Luther-Wort) als eine Sache des gemeinen Mannes verstanden werden, ¨ ffentlichkeits-Politik sondern als eine der Obrigkeit. Die ko¨nigliche Medien- und O erreicht ihren Ho¨hepunkt unter Ludwig XIII. (unter anderen mit der ersten o¨ffentlichen Zeitschrift, der „Gazette“13, mehr noch unter Ludwig XIV., na¨mlich mit der Scho¨pfung der verschiedenen ko¨niglichen Akademien und mit dem Erscheinen des Sprachwo¨rterbuchs der „Acade´mie franc¸aise“, mit der Reform der ko¨niglichen Buchdruckerei und der ko¨niglichen Bibliothek, mit der Zensur und mit einer ab 1701 systematisch organisierten Verwaltung der Branche des Buchwesens in der Hauptstadt und in den verschiedenen Sta¨dten des Ko¨nigreichs.14 Die Medien sind im Dienste des Ko¨nigs, Gelehrte und Ku¨nstler machen das 17. Jahrhundert als das Jahrhundert Ludwigs XIV. beru¨hmt. Doch genau zu der Zeit, als dieser Ho¨hepunkt erreicht wird, vera¨ndert die neue Herausforderung der Aufkla¨rung die gesamte Konjunktur der ¨ ffentlichkeit. O ¨ ffentlichkeit zur sogenannten Mentalita¨tsgeDrittens fu¨hrt das Problem der O schichte, zur Geschichte der verschiedenen kulturellen Institutionen sowie ihrer Praktiken (z. B. die akademischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts15) und zur

12 Robert Hari, Les Placards de 1534, in: Aspects de la propagande religieuse, hg. v. Gabrielle Berthoud,

Gene`ve 1957, S. 78–142.

13 Jean-Pierre Seguin, L’Information en France, de Louis XII a` Henri II, Gene`ve 1961. 14 Jean-Dominique Mellot, La capitale et l’imprime´ a` l’apoge´e de l’absolutisme (1618–1723), in: Histoire

et civilisation du livre. Revue internationale 5 (2009), S. 17–44.

15 Daniel Roche, Le Sie`cle des Lumie`res en province. Acade´mies et acade´miciens provinciaux, 1680–1789

(Culture et socie´te´ 62), Paris 1978, 2 Bde.

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Abb. 3: „Placard“ von 1534 Quelle: Lyon, Muse´e de l’imprimerie

Geschichte des Unterrichtswesens. Die Stadt funktioniert eben vor allem als der privilegierte Ort der schriftlichen Kultur schlechthin, mit ihren Verwaltungen und Juristen aller Art (erwa¨hnt sei der sogenannte Pariser „Palais“ auf der Iˆle de la Cite´ oder

¨ ffentlichkeit im Ancien Re´gime und im 19. Jahrhundert Stadt und O

¨ ffentlichkeit Abb. 4: Der Sonnenko¨nig als Herrscher u¨ber die moderne Sprache der O Frontispiz der Erstausgabe des „Dictionnaire de l’Acade´mie franc¸oise“, Paris 1694, Bd. 1. Kupferstich von Jean Mariette und Ge´rard Edelinck

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die Parlamente in den verschiedenen Hauptsta¨dten der franzo¨sischen Provinz), mit ihren ma¨chtigen Gescha¨ftsleuten sowie ihren Unterrichtsanstalten aller Art, von der Universita¨t einer Großstadt bis zu den sogenannten „kleinen Schulen“ (petites e´coles) einer Mittel- bzw. einer Kleinstadt. Infolgedessen la¨sst sich die These formulieren, dass die mehr oder weniger gu¨nstige Lage einer Stadt im urbanen Netzwerk der na¨heren oder weiteren Umgebung, ebenso wie ihre Herrschaft u¨ber kleinere Sta¨dte und u¨ber das Umland zum Teil auf ihrer Herrschaft u¨ber die Druckmedien und auf ihrer Bedeutung im allgemeinen ¨ ffentlichkeit beruht. Fu¨r die Stadt bedeutete O ¨ ffentlichkeit ein Stu¨ck Prozess der O Macht, wobei eine einschla¨gige diachrone Typologie der verschiedenen Stadtmodelle im modernen Europa hier von großem methodologischem Interesse wa¨re. Bleiben wir fu¨r ein Beispiel in der schon zitierten Region Touraine. Im Gegensatz zur Landgemeinde Nouans mit ihrer gro¨ßeren Bevo¨lkerung hatte die ca. 10 km weit entfernte Gemeinde Montre´sor als ehemalige Residenz einer Grafschaft, ebenso als Sitz der verschiedenen ko¨niglichen lokalen Verwalter (z. B. des ko¨niglichen Landvogts) und ¨ rzte und Notare den Status einer Stadt. Die echte hiseiniger freien Berufe wie A torische Hauptstadt des Landes wiederum ist aber Loches als Sitz des lieutenant ge´ne´ral du bailliage sowie anderer Verwalter, Finanzbeamter und des Waldaufsehers des ko¨niglichen, seit dem 14. Jahrhundert hochgescha¨tzten Waldes von Loches.16 Die ¨ ffentlichkeit kann mithin als ein Medium verstanden werden, das die allgemeine O Bedeutung einer Stadt und die soziopolitischen Beziehungen der Sta¨dte untereinander fu¨r den Historiker anschaulich macht.

3.

¨ ffentlichkeit Systematik der buchgeschichtlichen O

¨ ffentlichkeit ohne den Ru¨ckgriff auf die Wenn es stimmt, dass das Problem der O Buch- bzw. die Mediengeschichte kaum wissenschaftlich untersucht werden kann, ¨ ffentlichkeitsforscher unabdingbar zu sein, die buchgeschichtscheint es fu¨r den O liche Systematik wenigstens in ihren Grundzu¨gen zu beherrschen. Ein einfacher und zugleich wirksamer Zugang wa¨re die mo¨glichst pra¨zise Unterscheidung zwischen den beiden Kategorien der internen und der externen Buch- bzw. Mediengeschichte. Als interne Buchgeschichte lassen sich dabei die Hauptfunktionen des Druckwesens verstehen, na¨mlich der Herstellungsprozess (Druckerei und Verlagsbuchhandel) und der Vertrieb (insbesondere der Detailbuchhandel, ganz zu schweigen vom Kolportagehandel, von der periodischen Presse usw.); somit trifft die interne Buchgeschichte vor allem die spezifisch o¨konomische Dimension der Branche. Auch wenn sich immer wieder die Frage stellt, inwieweit diese o¨konomischen Kategorien mit ¨ ffentlichkeit zu vermitteln sind, wird es auf einer im Grunde politisch verstandenen O diese Weise unter anderem mo¨glich zu verstehen, wie sich die verschiedenen Funk-

16 Loches au XVIe sie`cle. Aspects de la vie intellectuelle, artistique et sociale, Marseille 1979.

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tionen der Branche aufgrund der besten Gewinnmo¨glichkeiten zwischen den Sta¨dten eines mehr oder weniger großen Raumes in der Zeit verteilen und ausdifferenzieren. Die Produktionssta¨tten wie die Buchdruckereien oder auch die Buchbindereien blieben im 15. Jahrhundert u¨ber eine große Zahl von kleinen, manchmal sehr kleinen Sta¨dten in ganz Europa verteilt, und zwar nicht nur in Deutschland sondern auch in Italien, wo die ersten Druckpressen in der kleinen Stadt Subiaco 1465 entstanden und wo 1472 in Foligno die erste Ausgabe des „Dante“ auf italienisch vero¨ffentlicht wurde. Doch konzentrierte sich bereits in den zwei letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts und spa¨ter im 16. Jahrhundert die Geographie des neuen Mediums in denjenigen wichtigeren Zentren, wo ausreichend Geldmittel verfu¨gbar waren und wo sich die neue fu¨hrende Funktion des Verlags entwickeln konnte: so in Venedig, Paris, Leipzig und Lyon, ferner in den gro¨ßten deutschen Drucksta¨dten wie Nu¨rnberg, Ko¨ln und Augsburg.17 In der zweiten Ha¨lfte des 18. Jahrhunderts und noch mehr zur Zeit der Verkehrsrevolution im 19. Jahrhundert la¨sst sich dann ein Trend zur Delokalisierung beobachten: Zwar bleiben die eintra¨glicheren Funktionen – insbesondere der Verlag, die periodische Presse und der sogenannte Zwischenbuchhandel (die Commission) – in den modernen Großsta¨dten und Metropolen; dagegen wandern die Buchdruckereien sowie alles, was mit dem Herstellungsprozess zu tun hat, in die Vororte oder in weiter entfernte Sta¨dte ab. So arbeiten am Ende des 19. Jahrhunderts in Paris die Verleger manchmal mit Buchdruckern zusammen, die von der Hauptstadt 200 bis 300 km entfernt sind, wenn nicht mehr, wie es z. B. bei Straßburg der Fall ist. Kurz, mit der ¨ konomie der modernen Medien zu einem Pha¨neuen Buchdruckerkunst wird die O nomen einiger hochspezialisierter Sta¨dte. Eine genauere Kenntnis der internen Buchgeschichte fo¨rdert das Versta¨ndnis der allgemeinen Entwicklungsbedingungen der ¨ ffentlichkeit von der Gutenberg-A ¨ ra bis zur industriellen Revolution, gedruckten O manchmal auch bis zur Zeit der Postindustrialisierung. Weiterhin spielt in der aktuellen Buchgeschichte die komparatistische Methode seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts eine immer entscheidendere Rolle, z. B. bei der Benutzung von Forschungsansa¨tzen und Begriffen aus anderen Forschungsfeldern, wie etwa bei den transferts culturels,18 bei der anthropologischen Methode, bei „Modernisierung“ oder „Occidentalisierung“ und ihrer Ambivalenz usw. Dabei ist es schwierig, eine geeignete, zugleich aber nicht teleologische Begrifflichkeit („der Drang zum ...“19) fu¨r eine vergleichend vorgehende Sozial- und Kulturgeschichte ¨ ffentlichkeit“ z. B. nicht direkt ins Franzo¨sizu entwickeln.20 So kann das Wort „O 17 Philippe Nieto, Ge´ographie des impressions europe´ennes au XVe sie`cle, in: Le Berceau du livre: autour

des incunables. Me´langes offerts au Professeur Pierre Aquilon, Gene`ve 2003, S. 125–174. 18 Michel Espagne, Transferts culturels et histoire du livre, in: Histoire et civilisation du livre. Revue

internationale 5 (2009), S. 201–218.

19 Michael Wo ¨ gerbauer, La vernacularisation comme alternative au concept d’„e´veil national“?

L’exemple de la Boheˆme, in: Histoire et civilisation du livre. Revue internationale 4 (2008), S. 149–173.

20 Fre´de´ric Barbier, Le comparatisme comme ne´cessite´ heuristique pour l’historien du livre et de la cul-

ture, in: Histoire du livre: nouvelles orientations (In octavo 1), Paris 1996, S. 433–449 (Ungarische ¨ bersetzung: A komparatisztika mint heuritsztikai szu¨kse´gesse´g a ko¨nyv- e´s kultu´rto¨rte´ne´sz sza´ma´ra´, U in: A Ko¨nyves kultu´ra XIV–XVII. sza´zad, III, Budapest u. a. 2007, S. 247–259).

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sche u¨bersetzt werden; das Problem stellt sich ebenso fu¨r weitere deutsche historische Begriffe wie „Bildung“ oder „Bu¨rger“. Die Methodik des Vergleichs muss mithin schon auf der Ebene der epistemologischen Vorbedingungen die wissenschaftliche Arbeit pra¨gen.

Abb. 5: Die industrielle Buchfabrik in einem Vorort von Paris in den Jahren 1860: die Druckerei von Dupont in Clichy Quelle: Paul Dupont, Une Imprimerie en 1867 ..., Paris 1867

Die Komparatistik hat natu¨rlich nicht nur eine ra¨umliche, sondern auch eine zeitlichdiachrone Dimension, wie die vergleichende Forschung zu den aufeinanderfolgenden sogenannten „Medienrevolutionen“ seit dem ausgehenden Mittelalter bewiesen hat.21 So behandelt unser Kolloquium den langen Zeitraum vom 15. bis zum 19. Jahrhundert, wobei als ein roter Faden die Leitfrage dienen soll, inwiefern ein „Struk¨ ffentlichkeit‘ identifiziert werturwandel“ in der Beziehung zwischen ‚Stadt‘ und ‚O den kann. Wa¨hrend dieser fu¨nf Jahrhunderte la¨sst sich das große Feld des Buchwesens keineswegs durch ein einziges technisches System charakterisieren, eine methodologische Schwierigkeit, derer sich die Forschung unbedingt bewusst sein sollte.

21 Les Trois re´volutions du livre. Actes du colloque international de Lyon/Villeurbanne (1998), Gene`ve

2001.

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Das 15. Jahrhundert als die Zeit der sogenannten „Gutenberg-Revolution“,22 mit der ¨ ffentlichkeit verknu¨pft einige Jahrzehnte spa¨ter zugleich die Geburt der modernen O ist (schon in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts wird sie mit der Reformation einen ersten spektakula¨ren Ho¨hepunkt erreichen), wird ha¨ufig als die Zeit der Erfindung des Buchdruck bezeichnet. Das ist einerseits richtig, denn das gedruckte Buch, wie es nach 1480 insbesondere in den reichsten und ma¨chtigsten Sta¨dten, die in der Branche aktiv sind (etwa Venedig, Nu¨rnberg oder Paris) erscheint, ist etwas Grundverschiedenes von der mittelalterlichen Handschrift. Es ist andererseits eine Verku¨rzung, denn die Erfindung der Typographie umfasst viel mehr: Sie umfasst unter anderem die allma¨hliche Erfindung des neuen sogenannten Paratextes ‚Titelblatt‘23, die verschiedenen Vorreden, die Folien- bzw. die Seitenzahlen, die Verzeichnisse aller Art usw. Interessant ist daran, dass das Buchwesen als eine zentrale Funk¨ ffentlichkeit zugleich eine moderne wirtschaftliche Branche darstellt, bei tion der O der nicht nur die Herstellung, sondern auch die damit verbundenen Dienstleistungen und die Innovationen rund um das Produkt stets mehr Wert schaffen. Dass die ¨ ffentlichkeit und die mit ihr eng verknu¨pften Dienste und Institutionen seit dem O Ende des 15. Jahrhunderts zu immer intensiveren und ma¨chtigeren wirtschaftlichen Aktivita¨ten fu¨hren, stellt ein fundamentales Kennzeichen der Modernita¨t bereits des Buchwesens in der Zeit des sog. Ancien Re´gime dar. Die „zweite Medienrevolution“, d. h. die Revolution der Massenmedien, zeichnet sich bereits nach 1750 und dann versta¨rkt im 19. Jahrhundert mit den verschiedenen Reformen der Branche (in Leipzig24 ebenso wie in Wien und Petersburg oder in Paris ¨ ffentlichund Versailles) ab, weiterhin mit der tiefen Umwandlung der gesamten O keit zur Zeit der franzo¨sischen Revolution und endlich mit dem allgemeinen Prozess der Industrialisierung und mit dem generellen Trend zur gedruckten Massenproduktion und gedruckten Massenverbreitung. Sie belegt, dass die in unserem Kolloquium betrachtete Periode keineswegs als Einheit begriffen, sondern unbedingt historisiert werden muss, weil sie nur vor dem Hintergrund der grundlegend sich wandelnden Medienkonjunkturen verstanden werden kann. Das aktuelle Problem der europa¨ischen Integration nach der Wende von 1989 wirft schließlich die Frage nach einem Vergleich mit den Integrationsprozessen im fru¨hneuzeitlichen Europa nach der tu¨rkischen Niederlage vor der kaiserlichen

22 Michael Giesecke, Der Buchdruck in der fru¨hen Neuzeit. Eine historische Fallstudie u¨ber die Durch-

setzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Mit einem Nachwort zur Taschenbuchausgabe, neue Ausg. (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1357), Frankfurt a. M. 1998. JeanFranc¸ois Belhoste, Imprimerie et me´talurgie: deux histoires lie´es (XVe et XVIe sie`cles), in: Histoire et civilisation du livre. Revue internationale 5 (2009), S. 219–229. 23 Ursula Rautenberg, Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit in Deutschland, den Niederlanden und Venedig. Quantitative und qualitative Studien, in: Archiv fu¨r Geschichte des Buchwesens 62 (2008), S. 1–105. Johanna-Christine Gummlich-Wagner, Das Titelblatt in Ko¨ln: Uni- und multivalente Titelholzschnitte aus der rheinischen Metropole des Inkunabeldrucks, in: ebd., S. 106–149. 24 Fre´de´ric Barbier, Entre Montesquieu et Adam Smith: Leipzig et la socie´te´ des libraires, in: Revue franc¸aise d’histoire du livre 2 (2001), S. 149–170.

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Hauptstadt Wien 1683 und zur Zeit der Aufkla¨rung auf.25 Die Beispiele von London, Wien, Paris, Petersburg und anderen europa¨ischen Residenz- und Hauptsta¨dten zeigen, wie der Status einer Stadt fundamental von ihrem Rang in den verschie-

Abb. 6: Die Straßenverka¨ufer der Abendzeitungen in der Pariser Rue du Croissant. ¨ lgema¨lde von Jean Lefort, 1913 O Quelle: Paris, Muse´e Carnavalet, P 1298

denen Kommunikationsnetzen und von ihrer Wahrnehmung als Zentrum der kul¨ ffentlichkeit abhing. Dabei sind die allgemeinen Entwicklungsbedingunturellen O ¨ ffentlichkeit gen des Buchwesens und der sogenannten „Logistik“ der gedruckten O (auch der Speichermedien)26 zuna¨chst durch sehr generelle Indikatoren zu bestimmen, insbesondere durch die sta¨dtische Bevo¨lkerung und durch die Funktionen der Sta¨dte bzw. der Sta¨dtenetze. So ist es z. B. mo¨glich, die Verbreitung der Druckpressen in den ersten Jahrzehnten nach Gutenberg mit einem sehr einfachen Modell zu

25 Est-Ouest: transferts et re´ceptions dans le monde du livre en Europe (XVIIe-XXe sie`cles) (L’Europe

en re´seaux/Vernetztes Europa 2), Leipzig 2005. 26 Fre´de´ric Barbier, L’imprime´ et la logistique de l’intelligence dans l’Europe moderne. Beitrag im

Druck.

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systematisieren.27 Die Erfindung der typographischen Druckerei geschah in Straßburg und in Mainz in den 1450er Jahren. Die Forschung hat nun die Verbreitung der neuen „schwarzen Kunst“ in Bezug zu zwei sehr groben Indikatoren gesetzt, na¨mlich

¨ ffentlichkeit: die Pariser „Galerie du Palais“. Abb. 7: Ein Ort der sta¨dtischen vornehmen O Kupfer von Abraham Boss, circa 1638. Titel nach der Komo¨die von Pierre Corneille (1. Aufz., 4. Sz.)

erstens zur geographischen Entfernung von Mainz und zweitens zur demographischen Gro¨ße der verschiedenen Sta¨dte. Indem man nun den ‚Abstand‘ zwischen der Logik des abstrakten Modells und den realen historischen Fakten bestimmt, wird die Spezifizita¨t der geschichtlichen Entwicklung deutlich und es wird mo¨glich zu erkla¨ren, warum eine mittelgroße Stadt wie Basel (oder spa¨ter Leipzig) im Gegensatz zu einer viel gro¨ßeren Stadt wie Neapel eine so wichtige Rolle in den Netzwerken ¨ ffentlichkeit um 1500 spielen konnte. Weiterhin stellt die Kraft der der gedruckten O modernen sta¨dtischen Netzwerke einen zweiten Hauptfaktor fu¨r die Genese und fu¨r

27 Fre´de´ric Barbier, L’Europe de Gutenberg. Le livre et l’invention de la modernite´ occidentale (XIIIe-

XVIe sie`cle) (Histoire et socie´te´), Paris 2006.

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die Entwicklung des Buchwesens in Europa dar; erst seit dem 19. Jahrhundert nehmen die neuen Hauptmetropolen wie London und Paris, spa¨ter Wien und Berlin eine immer wichtigere Rolle im Felde der verschiedenen Medien (vor allem der Zeitschriften) ein. Es ko¨nnen in einem solchen Kommentar nur einige wenige Punkte angesprochen werden. Als ein weiterer wichtiger Aspekt des Themas wa¨re zweifellos die Entstehung und die Entwicklung des modernen sta¨dtischen „Publikums“ im „Ancien Re´gime“ zu analysieren, ein Pha¨nomen, das als eine Folge des systematisch organisierten modernen Buchmarktes verstanden werden kann. Weitere zentrale Themen wa¨ren unter anderen eine systematische Reflexion der Frage, ob und inwieweit die Ausdehnung der Druckmedien tatsa¨chlich die Geburt eines eigenen Typus der ¨ ffentlichkeit nach sich gezogen hat, und eine Untersuchung der Vermittmodernen O ¨ ffentlichkeit, wie sie schon im beru¨hmten, ler sowie der Ra¨ume einer sta¨dtischen O von Martin Husz 1500 gedruckten Lyoner „Totentanz der Buchdrucker“ erscheinen. Auch damit wa¨re das Thema keineswegs ausgescho¨pft – ein Beleg nicht nur fu¨r die Fruchtbarkeit des von Habermas vor u¨ber vierzig Jahren skizzierten Problems, sondern auch fu¨r die Relevanz des Mu¨nsteraner Kolloquiums.

INDEX DER ORTS- UND PERSONENNAMEN

Adelung, Johann Christoph 11 Agatharchos 197 Alcala´ de Henares 205 Altona siehe Hamburg Amsterdam 128 Andreae, Johann Valentin 168 Anzing 73 Augsburg 13, 66, 78, 147, 211 August II. d. Starke, Kg. v. Polen, Gfst. v. Litauen u. (als Friedrich August I.) Kfst. v. Sachsen 1 Avenches 75 Baillie, Hugh 78 Basel 215 Baudrillard, Jean 4 Beaumont, Richard 112 Berlin 128, 189, 216 Bern 72, 74–76, 78, 136 Bigot de Sainte Croix, Louis Claude 183 Bissingen-Nippenburg, Ferdinand Gf. v. 89 Black, Barbara 107–111 Bremen 128, 133 Bru¨ssel 180 Bude´, Guillaume 206 Burford (Oxfordshire) 68 Burgdorf 75 Calvin, Johannes 207 Chaˆteau d’Oex 75 Chaucer, Geoffrey 78 Christaller, Walter 47 Cisneros, Gonzalo Jime´nez de (spa¨ter Francisco Kardinal Jime´nez de Cisneros), Ebf. v. Toledo 205 Clicquot de Blervache, Simon 183 Colloredo, Hieronymus Gf., Ebf. v. Salzburg 82, 88 Court, Johan de la 182 Court, Pieter de la 182 Coventry 155 Dachau 74 D’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 183

Diderot, Denis 182, 183, 186 Dolet, E´tienne 207 Dresden 1–3, 17, 22 Drury, John 99, 120–122 Dunchurch 73 Earle, John 73 Elias, Norbert 4, 151, 159 Engelhart, Franz 86 Esslingen 196 Fawkes, Guy 73 Feyersenger, Johann Georg 85 Foligno 211 Fontaine, Johann 84, 87 Foucault, Michel 4 Francke, August Hermann 160–162, 164, 166, 168, 170, 174, 175 Frankfurt a. M. 20, 128, 147, 195, 199, 200 Franz I., Kg. v. Frankreich 206 Freiburg i. Br. 72 Friedrich August I. v. Sachsen siehe August II. v. Polen Gadamer, Hans-Georg 44 Garrels, Hermann Jakob 117 Garrels, Johann Hinrich 117 Genf 57, 59, 77 Gilowsky v. Urazowa, Johann Joseph Anton Ernst 94 Glasgow 188 Glaucha 161, 162, 164, 165, 168, 169, 174, 175 Go¨rlitz 13, 74 Goffman, Erving 16, 151 Gorges, Arthur 99, 119 Gstaad 75 Gsteig b. Gstaad 76 Gu¨lich, Nikolaus 22 Habermas, Ju¨rgen 3–9, 23, 25, 39–46, 56, 60, 81, 82, 92, 152, 159, 179, 216 Hahn, Herman Joachim 2 Halle (Saale) 18, 133, 159–178

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Index der Orts- und Personennamen

Hamburg 22, 27, 128 Altona 27 Hardenrath, Johann, Bgm. v. Ko¨ln 149 Hartlib, Samuel 99, 106, 120–122 Henrietta Maria, T. v. Kg. Heinrich IV. v. Frankreich 101, 102 Hobbes, Thomas 105, 182 Hogarth, William 71 Hogenberg, Frans 134 Hohenberg, Paul 47 Hollar, Wenzel 134 Hussey, Ann 106, 107 Husz, Martin 216 Huttwil 75 Ins 75 Isabella v. Spanien, Statthalterin d. Span. Niederlande 180 Ja¨ger, Johann 73 Jakob I., Kg. v. England und (als Jakob VI.) Schottland 73 Jonson, Ben 71, 78, 97–99, 101 Kannengiesser, Caspar, Bgm. v. Ko¨ln 148 Karl I., Kg. v. England u. Schottland 101, 102, 105–107 Knipschild, Philipp 143 Ko¨ln 13, 15, 16, 20, 22, 127–131, 134, 136–139, 141, 142, 145, 147–150, 152, 155, 156, 195, 200, 211 Koster, Peter 139 Ku¨ssnacht 76 Ku¨ttler, Johann Georg 73 Lang, Joseph Gregor 155 Laubler, Franz 2, 3 Laud, William, Ebf. v. Canterbury 105–115 Lees, Lynn Hollen 47 Lehmann, Christoph 143 Leipzig 22, 133, 211, 215 Lieber, Johann Gottlieb 88 Lilburne, John 106 Lissabon 128 Loches 210 Lo¨tscher, Stephan 72 London 5, 22, 71, 97–123, 128, 129, 154, 189, 194, 214, 216 Southwark 78 Westminster 73 Ludewig, Johann Peter v. 167 Ludwig XIII., Kg. v. Frankreich 207 Ludwig XIV., Kg. v. Frankreich 207 Lumberger, Ignaz 74 Luzern 73 Lyon 45–63, 211

Madrid 128 Mainz 215 Marcourt, Antoine 207 Marlowe, Christopher 78 Marseille 59 Martin, Henri-Jean 204 Meiringen 75 Mellot, Jean-Dominique 205 Michiels, Hieronimus 144 Middendorp, Jakob 148 Milton, John 106 Minden 19 Mischelet, Franz 87 Mo¨lk, Franz Felix Frhr. v. 94 Montaigne, Michel de 99 Montre´sor 210 Moudon 75 Mu¨nchen 73, 128 Mu¨nsingen 78 Neapel 128, 215 Nedham, Marchamont 99, 121 Northampton 71 Nouans 202, 210 Nu¨rnberg 197–200, 211, 213 Nyon 75 Oron 75 Ottobeuren 77 Pachmayr, Michael 95 Pappius, Georg Frhr. v. 94 Paradin, Guillaume 48 Paris 13, 57–59, 66, 128, 189, 194, 204, 205, 208, 211, 213, 214, 216 Parker, Martin 100 Payerne 75 Pechtl, Josef 88, 94 Petersburg siehe St. Petersburg Pietro Leopoldo, Ghz. d. Toskana 184 Pilgrum, Gerhard, Bgm. v. Ko¨ln 148 Poitiers 204 Potsdam Sanssouci 70 Prynne, William 113 Robinson, Henry 99, 120 Rom 21, 128 Rouen 205 Russells, Josiah C. 47 Saanen 75 Salzburg 81–96 Sampson, Thomas 101 Sanssouci siehe Potsdam Schidenhofen, Joachim Ferdinand v. 94

Index der Orts- und Personennamen Schlossga¨ngl v. Edlenbach, Joseph 94 Schwa¨bisch Hall 128 Shakespeare, William 78 Smith, Adam 183, 185–188, 199 Soufflot, Jacques-Germain 58 Southampton 74 Southwark siehe London Speyer 143 St. Gallen 72 St. Petersburg 213, 214 Staiger, Anton 90, 91, 94–96 Steffisburg 75 Straßburg 147, 199, 200, 215 Subiaco 211 Taylor, John 102, 118 ´ 2 Thorn (Torun) Torun´ siehe Thorn Tours 202 Toussyn, Johann 130, 131 Turgot, Anne Robert Jacques 183, 200 Uffelmann, Abraham 72

219

Unterseen 75 Ursenbach 76 Venedig 211, 213 Versailles 70, 213 Villeneuve 75 Villeneuve, Falguet de 186, 199 Vitruv 197, 199 Walker, Henry 102 Weinsberg, Hermann 127, 138, 139, 145–152, 154 Westminster siehe London Weyrother, Gottlieb v. 94 Wien 77, 128, 213, 214, 216 Willebrand, Johann Peter 78 Wolf, Gottlieb Siegmund 198 Wolff, Christian 164 Yverdon 75 Zedler, Johann Heinrich 11 Zu¨rich 154

StädteforSchung

Bd. 69:

Veröffentlichungen des instituts für Vergleichende städtegeschichte in Münster

hAus­ und fAMilienbücher in der städtischen gesellschAft des sPät­ MittelAlters und der frühen neuzeit

Herausgegeben von W. Freitag in Verbindung mit U. Braasch-Schwersmann, W. Ehbrecht, H. Heineberg, P. Johanek, M. Kintzinger, A. Lampen, R.-E. Mohrmann, E. Mühle, F. Opll und H. Schilling reihe A:

dArstellungen

Eine Auswahl.

Bd. 65: Heinz Duchardt, Wilfried Reininghaus (Hg.) stAdt und region internAtionAle forschungen und PersPektiVen kolloquiuM für Peter JohAnek

2005. VIII, 140 S. Gb. ISBN 978-3-412-12805-0

Bd. 66:

Andreas Ludwig

der fAll chArlottenburg soziAle stiftungen iM städtischen kontext (1800–1950)

Birgit Studt (Hg.)

2007. XX, 166 S. 10 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-24005-9

Band 70:

Peter Johanek (Hg.)

die stAdt und ihr rAnd 2008. XII, 316 S. 51 s/w Abb. Gb. ISBN 978-3-412-24105-6

Band 71:

Karsten Igel

zwischen bürgerhAus und frAuenhAus stAdtgestAlt, grundbesitz und soziAlstruktur iM sPätMittel­ Alterlichen greifswAld

2009. Ca. 390 S. mit ca. 65 Plänen u. zahlr. s/w-Abb. Mit CD-ROM. Gb. ISBN 978-3-412-33105-4

Band 72:

Ulrich Fischer

stAdtgestAlt iM zeichen der eroberung

2005. XI, 415 S. 6 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-12905-7

englische kAthedrAlstädte in frühnorMAnnischer zeit (1066–1135)

Bd. 67:

2009. XIII, 583 S. mit 24 Planzeichnungen. Gb. ISBN 978-3-412-33205-1

Stephanie Wolf

erfurt iM 13. JAhrhundert städtische gesellschAft zwischen MAinzer erzbischof, Adel und reich

2005. XLVIII, 310 S. 1 Karte auf Vorsatz. Gb. mit SU. ISBN 978-3-412-12405-2

Bd. 68: Martina Stercken städte der herrschAft kleinstAdtgenese iM hAbs­ burgischen herrschAftsrAuM des 13. und 14. JAhrhunderts

2006. VIII, 259 S. 12 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-13005-3

Band 73:

Mária Pakucs-Willcocks

sibiu – herMAnnstAdt orientAl trAde in sixteenth century trAnsylVAniA

2008. XIV, 221 S. mit CD-ROM. Gb. ISBN 978-3-412-12306-2

Band 74:

Uwe Goppold

Politische koMMunikAtion in den städten der VorModerne zürich und Münster iM Vergleich

RD676

2008. X, 365 S. Gb. ISBN 978-3-412-15906-1

böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

StädteforSchung

Band 78:

Veröffentlichungen des instituts für Vergleichende städtegeschichte in Münster

die MittelAlterlichen städte in den böhMischen ländern

Herausgegeben von W. Freitag in Verbindung mit U. Braasch-Schwersmann, W. Ehbrecht, H. Heineberg, P. Johanek, M. Kintzinger, A. Lampen, R.-E. Mohrmann, E. Mühle, F. Opll und H. Schilling reihe A:

dArstellungen

Eine Auswahl.

Band 75: Peter Johanek, Angelika Lampen (Hg.) AdVentus studien zuM herrscherlichen einzug in die stAdt

2009. XVIII, 272 S. Mit 49 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20216-3

Band 76: Angelika Lampen, Armin Owzar (Hg.) schruMPfende städte ein PhänoMen zwischen Antike und Moderne

2008. XXXVI, 357 S. Mit 13 Kart., 20 Graph. u. 20 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20217-0

Band 77: Werner Freitag, Peter Johanek (Hg.) bünde – städte – geMeinden bilAnz und PersPektiVen der Vergleichenden lAndes­ und stAdtgeschichte

2009. XII, 354 S. Mit 45 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20293-4

Jiri Kejr

gründung – VerfAssung – entwicklung

2011. XIV, 450 S. Gb. ISBN 978-3-412-20448-8

Band 79:

Michael Hecht

PAtriziAtsbildung Als koMMunikAtiVer Prozess die sAlzstädte lüneburg, hAlle und werl in sPätMittelAlter und früher neuzeit

2010. VIII, 377 Seiten. Mit 14 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20507-2

Band 80: Peter Johanek, Martina Stercken, Katalin Szende (Hg.) städteAtlAnten Vier JAhrzehnte AtlAsArbeit in euroPA

2011. Ca. 224 S. Mit zahlr. s/w-Abb. u. Kart. Gb. ISBN 978-3-412-20631-4

Band 81:

Eduard Mühle (Hg.)

rechtsstAdtgründungen iM MittelAlterlichen Polen 2011. VIII, 395 S. Mit 31 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20693-2

Band 82:

Werner Freitag (Hg.)

die PfArre in der stAdt siedlungskern – bürgerkirche – urbAnes zentruM

2011. XVIII, 269 S. Mit zahlr. s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20715-1

Band 83:

Gerd Schwerhoff (Hg.)

stAdt und öffentlichkeit in der frühen neuzeit

RD676

2011. X, 219 S. 18 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20755-7

böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar