Räume der Macht: Metamorphosen von Stadt und Garten im Europa der Frühen Neuzeit [1. Aufl.] 9783839422212

Die Überformung der Architektur und Ästhetik von Stadt und Garten unterlag schon immer machtpolitischen Interessen: Palä

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German Pages 406 Year 2014

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INHALT
Vorwort
Einleitung
BESETZEN UND ORDNEN
Die Inbesitznahme und Transformation des Stadtraums durch den Fürsten. Ein vergleichender Blick auf Florenz, Dresden und Marburg zu Beginn der Frühen Neuzeit .
Die Villa Poggio Imperiale in Florenz als Schwellenraum
Warschaus Sächsische Achse. Die Planungen Augusts des Starken für seine polnische Residenz im Kontext seiner Unionspolitik
STIFTEN UND STABILISIEREN
Raum, Funktion und Repräsentation. Metamorphosen der Macht im Moskau und St. Petersburg der Frühen Neuzeit
Von Ränkeschmieden, Amtsdienern und Gehängten. Zu Raum und Bedeutung der Piazzetta in Venedig
Zur Transformation affektiver Vereinnahmung von öffentlichem Raum. Musik-theatrale Aufführungen anlässlich von Krankheit und Genesung des Kurfürsten Carl Theodor von der Pfalz
Platz – Herrschaft – Kaufleute. Regulierung des öffentlichen Raums am Beispiel des Heuplatzes in der zweiten Hälfte des 18. und ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
UMFORMEN UND INTEGRIEREN
Zerstören oder Bewahren? Die Umstrukturierungen des Weißensteiner Parks in Kassel unter Landgraf Wilhelm IX.
Der Landschaftsgarten als Herrschaftsraum. Aufklärung und staatliche Ordnung in Wörlitz .
Von der wandelbaren Gunst der Götter. Die Transformation des Palazzo Durazzo zur königlichen Residenz der Savoyer in Genua
ERINNERN UND MONUMENTALISIEREN
Die Räume der Architekturzeichnung. Verortung und Erinnerung in den Zeichnungen von Landgraf Moritz von Hessen-Kassel
Festumzüge und Straßenzüge. Bilder vom Stadtraum in Charles Perraults Courses de Testes et de Bague (1670) und Gabriel Tzschimmers Durchlauchtigster Zusammenkunfft (1680)
»Öffentliche Denkmäler der Nation«. Zur Erfindung des »Russischen« in der Potsdamer Stadt- und Gartenlandschaft.
Autorinnen und Autoren
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Räume der Macht: Metamorphosen von Stadt und Garten im Europa der Frühen Neuzeit [1. Aufl.]
 9783839422212

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Anna Ananieva, Alexander Bauer, Daniel Leis, Bettina Morlang-Schardon, Kristina Steyer (Hg.) Räume der Macht

Mainzer Historische Kulturwissenschaften | Band 13

Editorial In der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften werden Forschungserträge veröffentlicht, welche Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften in Verbindung mit empirischer Forschung entwickeln. Zentraler Ansatz ist eine historische Perspektive der Kulturwissenschaften, wobei sowohl Epochen als auch Regionen weit differieren und mitunter übergreifend behandelt werden können. Die Reihe führt unter anderem altertumskundliche, kunst- und bildwissenschaftliche, philosophische, literaturwissenschaftliche und historische Forschungsansätze zusammen und ist für Beiträge zur Geschichte des Wissens, der politischen Kultur, der Geschichte von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie anderen historisch-kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsfeldern offen. Ziel der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften ist es, sich zu einer Plattform für wegweisende Arbeiten und aktuelle Diskussionen auf dem Gebiet der Historischen Kulturwissenschaften zu entwickeln. Die Reihe wird herausgegeben vom Koordinationsausschuss des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften (HKW) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Anna Ananieva, Alexander Bauer, Daniel Leis, Bettina Morlang-Schardon, Kristina Steyer (Hg.)

Räume der Macht Metamorphosen von Stadt und Garten im Europa der Frühen Neuzeit

Publikation gefördert durch den Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Eva Bös, Anna Ananieva Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2221-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

I NHALT Vorwort .................................................................................. ELISABETH OY-MARRA

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Einleitung .............................................................................. 11 ANNA ANANIEVA

BESETZEN UND ORDNEN Die Inbesitznahme und Transformation des Stadtraums durch den Fürsten. Ein vergleichender Blick auf Florenz, Dresden und Marburg zu Beginn der Frühen Neuzeit ....... 25 MATTHIAS MÜLLER Die Villa Poggio Imperiale in Florenz als Schwellenraum .. 65 ILARIA HOPPE Warschaus Sächsische Achse. Die Planungen Augusts des Starken für seine polnische Residenz im Kontext seiner Unionspolitik ....... 91 PAUL FRIEDL

STIFTEN UND STABILISIEREN Raum, Funktion und Repräsentation. Metamorphosen der Macht im Moskau und St. Petersburg der Frühen Neuzeit ...................................... 117 JAN KUSBER

Von Ränkeschmieden, Amtsdienern und Gehängten. Zu Raum und Bedeutung der Piazzetta in Venedig .......... 141 DANIEL LEIS Zur Transformation affektiver Vereinnahmung von öffentlichem Raum. Musik-theatrale Aufführungen anlässlich von Krankheit und Genesung des Kurfürsten Carl Theodor von der Pfalz .............................. 163 HELENA LANGEWITZ Platz – Herrschaft – Kaufleute. Regulierung des öffentlichen Raums am Beispiel des Heuplatzes in der zweiten Hälfte des 18. und ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts .................................... 197 ALEXANDER BAUER

UMFORMEN UND INTEGRIEREN Zerstören oder Bewahren? Die Umstrukturierungen des Weißensteiner Parks in Kassel unter Landgraf Wilhelm IX. ................................. 225 KRISTINA STEYER Der Landschaftsgarten als Herrschaftsraum. Aufklärung und staatliche Ordnung in Wörlitz ................. 251 INA MITTELSTÄDT Von der wandelbaren Gunst der Götter. Die Transformation des Palazzo Durazzo zur königlichen Residenz der Savoyer in Genua .................... 281 BETTINA MORLANG-SCHARDON

ERINNERN UND MONUMENTALISIEREN Die Räume der Architekturzeichnung. Verortung und Erinnerung in den Zeichnungen von Landgraf Moritz von Hessen-Kassel ................................... 311 SEBASTIAN FITZNER Festumzüge und Straßenzüge. Bilder vom Stadtraum in Charles Perraults Courses de Testes et de Bague (1670) und Gabriel Tzschimmers Durchlauchtigster Zusammenkunfft (1680) ......................... 343 THOMAS RAHN »Öffentliche Denkmäler der Nation«. Zur Erfindung des »Russischen« in der Potsdamer Stadt- und Gartenlandschaft ............................................... 373 ANNA ANANIEVA

Autorinnen und Autoren ...................................................... 393

Vorwort

In den vergangenen drei Jahren konnte dank der Initiative »Pro Geistes-und Sozialwissenschaften« der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in einem kompetitiven Verfahren eine Doktorandengruppe unter einem gemeinsamen Themenschwerpunkt »Raum und Herrschaft: Stadt- und Garten als Kommunikations-, Disziplinierungs- und Wissensraum in der europäischen Vormoderne« eingerichtet werden, die von Jan Kusber (Osteuropäische Geschichte), Matthias Müller (Kunstgeschichte), anfänglich auch Volker Remmert (Geschichte der Naturwissenschaften) und mir (Kunstgeschichte) geleitet wurde. Die Doktorandengruppe gab uns Dozenten die Gelegenheit, unsere gemeinsamen Forschungsinteressen zu bündeln, uns unter der Thematik des Stadt- und Gartenraums im europäischen Vergleich auszutauschen und besser zu vernetzen. Vier Doktorandinnen und Doktoranden, Alexander Bauer, Daniel Leis, Bettina Morlang-Schardon, Kristina Steyer sowie die Postdoktorandin, Anna Ananieva sind uns darin gefolgt. Sie haben in den letzten drei Jahren fruchtbar zusammengearbeitet und ihre Dissertationen und Forschungsarbeiten maßgeblich voranbringen können. Das überschaubare Format der Gruppe wurde dabei von allen Beteiligten als besonders angemessen für die intensive inhaltliche Arbeit und die damit verbundene Betreuung der Stipendiaten empfunden. Mein Dank richtet sich an dieser Stelle daher nicht zuletzt an den Präsidenten der Johannes Gutenberg Universität Mainz, Georg Krausch, der zusammen mit der Vizepräsidentin Mechthild Dreyer, auf deren Initiative die Idee des Programms zurückgeht, nicht gezögert hat, dieses unseren Disziplinen affine Format zu ermöglichen. Aus der gemeinsamen Arbeit der Doktorandengruppe war die Idee einer interdisziplinären Tagung entstanden, die den thematischen Schwerpunkt des Kollegs direkt aufgegriffen hat. Die vorliegende Publikation versammelt Vor-

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Elisabeth Oy-Marra

träge und Diskussionen dieser Tagung, die im Dezember 2011 mit finanzieller Unterstützung des Forschungsschwerpunkts Historische Kulturwissenschaften der Universität Mainz realisiert werden konnte. Das Tagungskonzept, das die Transformation städtischer und hortikultureller Räume in den Blick nimmt, wurde gemeinsam entwickelt und durchgeführt. Mein Dank gilt hier besonders Anna Ananieva für die konzeptionelle Begleitung und Koordination der bis dahin in der Tagungsorganisation noch unerfahrenen Gruppe. Die Aufgaben der Herausgeber haben die Stipendiaten der Kollegs übernommen. Ihr Dank gilt an erster Stelle den Autorinnen und Autoren des Bandes, die sich gegenüber dem Konzept der Tagung offen gezeigt haben. Dem Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften sei ausdrücklich für die Gewährung einer großzügigen Publikationsbeihilfe gedankt sowie für die Aufnahme des Tagungsbandes in die Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften des transcript Verlags. Die redaktionelle Betreuung des Bandes lag in Händen von Eva Bös, auch ihr gilt mein Dank. Elisabeth Oy-Marra Sprecherin der Doktorandengruppe »Raum und Herrschaft« Mainz, im März 2013

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Einleitung ANNA ANANIEVA

Paläste, Plätze und Gärten des frühneuzeitlichen Europas fungieren als Räume, an denen alte und neue Ordnungen des Wissens und der Macht verhandelt und verwirklicht werden. Vor diesem Hintergrund erlangen insbesondere Stadt und Garten als zwei komplexe Raumgefüge eine herausragende Bedeutung. In ihrer Funktion als epistemische und mnemotechnische Modelle sowie als Räume sozialen Handelns befinden sie sich ständig in produktiver Konkurrenz zueinander. Denn erst in gegenseitiger Bezugnahme gewinnen Stadt und Garten ihre markanten diskursiven Konturen und erfahren so ihre jeweilige machtpolitische Konjunktur. Die Nähe zur Macht bestimmt dann nicht nur die Hierarchie dieser Raumgefüge untereinander sowie ihre äußeren und inneren Strukturen, sondern sie definiert auch Optionen von performativer Aneignung und setzt Grenzen für legitime Praktiken. Aus dem Wechselverhältnis zwischen Stadt und Garten heraus entstehen auf diese Weise die historisch fassbaren Bedingungen für soziale und kulturelle Praktiken, die die gebauten und gestalteten Räume in wirksame Orte verwandeln, an denen konkurrierende gesellschaftliche Gruppen ihre divergierenden Repräsentationsansprüche zu realisieren vermögen. Der vorliegende Band widmet sich ästhetischen Konzepten und ideologischen Implikationen machtpolitischer Metamorphosen von Stadt und Garten im Zeitraum vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert. Im Mittelpunkt der einzelnen Studien stehen Prozesse der Transformation, die bezogen auf Paläste, Plätze und Gärten geplant und im Rückgriff auf diese architektonischen und landschaftlichen Ensembles in ihrer konkreten räumlichen Präsenz, ihren sozialen Funktionen sowie symbolischen Bedeutungen vollzogen werden.

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Anna Ananieva

Der Konzeption des Bandes liegt die Vorstellung einer europäischen Topographie der Frühen Neuzeit zu Grunde, die sich nicht nur auf die Territorien südlich und nördlich der Alpen erstreckt, sondern sich auch in Richtung ›Osten‹ ausdehnt. Diese Publikation konzentriert sich daher nicht ausschließlich auf die Länder der traditionellen Gartenbaukunst und Urbanistik wie Italien oder Frankreich, noch auf die Gestaltung der Residenzen in deutschen Ländern, sondern ist um eine breite europäische Architekturgeschichte bemüht, die auch osteuropäische Stadt- und Gartenlandschaften einschließt. Die Idee der Interdisziplinarität bildet eine weitere grundlegende Voraussetzung für ein Vorhaben, an dem sich Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Disziplinen, darunter Architektur- und Kunstgeschichte, Geschichtswissenschaften, Literatur- und Musikwissenschaften beteiligt haben. Die Interdisziplinarität stellt aber auch eine wesentliche Herausforderung für ein kollektives Vorhaben dar, das sich für die räumliche Präsenz der Macht, ihre medialen Repräsentationen und kulturellen Praktiken, ihre sozialen und ästhetischen Dimensionen interessiert. Deswegen kann es sich auch bei einer Einleitung in den Themenkomplex »Räume der Macht. Metamorphosen von Stadt und Garten im Europa der Frühen Neuzeit« nur um einen von vielen möglichen Zugängen handeln, insofern der jeweilige Spezialistenstandort nicht nur ein spezifisches Fachwissen, sondern auch eigene Objekte, Verfahren, Ansprüche, ja Denkweisen mit sich bringt. Diese fachspezifischen Denkweisen eröffnen jeweils eigene Perspektiven auf die Problemstellung und fokussieren daher auch jeweils eigene Schnittstellen mit anderen Disziplinen. Von einem produktiven Spannungsverhältnis zwischen Spezialisierung und fachbedingten Angeboten zur Zusammenarbeit hat in dem letzten Jahrzehnt gerade die Raumforschung profitiert: Verteidigungen eigener Forschungsfelder sowie Vorstöße auf Gebiete anderer Disziplinen, haben dem Thema »Raum« zum Aufstieg verholfen und seine Relevanz für Geistes- und Sozialwissenschaften nachhaltig begründet. Mit dem Fokus auf den »Raum« hat zwischen den einzelnen Disziplinen (wie Geographie, Architektur, Literatur, Philosophie, Geschichte, Soziologie, um nur einige zu nennen) eine Auseinandersetzung stattgefunden, die einerseits eine fächerübergreifende Verflechtung gefördert und andererseits zur Ausdifferenzierung des Raumbegriffs und zur Klärung fachspezifischer Zuständigkeiten beigetragen hat. Die Vielfalt theoretischer Positionen und angewandter Forschungsansätze, die inzwischen in

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Einleitung

einer Reihe von Handbüchern pragmatisch und anschaulich erfasst sind, spricht für eine Idee der Interdisziplinarität, die sich im Plural, als Raumwissenschaften versteht. Diese Idee von einer fachübergreifenden Zusammenarbeit, die nicht auf die Herstellung eines Singulars hinsteuert, nicht auf ein gemeinsames Ganzes abzielt, diese Idee setzt auf die Entwicklung einer Dynamik, deren Ergebnisse dann in die jeweils beteiligten Disziplinen einfließen können. Der interdisziplinäre Ansatz kommt bei dem vorliegenden Band in mehrfacher Hinsicht zur Geltung. Als Erstes vereint die thematische Setzung der Publikation mit ihrem Fokus auf Garten und Stadt die traditionell getrennten Fachzuständigkeiten zu einem Forschungsfeld. Die Einladung zur gemeinsamen Diskussion dieses Wechselverhältnisses sollte impulsgebend für eine konzeptionelle Arbeit wirken, die notwendig ist, um eine vergleichende Forschungsperspektive auf urbane und hortikulturelle Räume im europäischen Kontext zu etablieren. Der Reflexionshorizont setzt sich aus Beobachtungen und Annahmen zusammen, die sich bei der Konzeption dieses Bandes abgezeichnet haben. So kann als Prämisse gelten, dass Gartenanlagen und Städte aus ihrem Konkurrenzverhältnis heraus ihre jeweilige soziale, politische und ästhetische Bedeutung beanspruchen. In konkret fassbaren historischen Situationen fungieren sie daher mit unterschiedlicher Wirksamkeit als Raumgefüge, die einen Idealcharakter besitzen, als Konfliktort Distinktionen erzeugen oder als Gedächtnisort identitätsstiftend eingesetzt werden können. Ihre räumliche Präsenz allein garantiert dabei keineswegs eine erfolgreiche legitimierende oder sinnstiftende Wirkung. Erst im Rahmen von festlichen oder alltäglichen Praktiken entfalten Stadt- und Gartenräume ihre kulturelle Wirksamkeit. Sie werden in performativen Akten konstituiert, aktualisiert und transformiert, sind aber auch wesentlich auf vermittelte Formen der Kommunikation und Tradierung angewiesen. Eine offensichtliche Differenz besteht in Hinblick auf die Beziehungen zwischen Garten- und Stadträumen zu ihren Repräsentationen, die die mediale und materielle Dimension der vergleichenden Fragestellung ausmachen. Denn anders als bei den meisten Stadträumen verleiht erst die Überführung in ein sprachliches oder ein bildliches Medium einem konkreten Garten die notwendige Dauer und Mobilität, die für eine gruppen- bzw. generationenübergreifende Tradierung im Rahmen einer kulturellen Gedächtnisstiftung erfolgsversprechend sein kann. In Hinblick auf Stadt- und Gartenräume, mit denen sich die Autoren und Autorinnen dieses Bandes detailliert beschäftigen, umfasst das breite Spektrum

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Anna Ananieva

der gebauten Architektur die Platzanlagen in Venedig, Warschau und St. Petersburg, die Straßenzüge in Paris und Dresden, die Paläste in Florenz und Genua, sowie die Gartenanlagen in Schwetzingen und Wörlitz, Potsdam und Pavlovsk, Florenz und Kassel. Im Fokus der einzelnen Darstellungen befinden sich sowohl die jeweiligen architektonischen und ästhetischen Konzepte der Rauminszenierung, als auch ihre ideologischen und semantischen Implikationen, ihre pragmatischen und kommunikativen Strategien. Die gestalteten Räume werden dabei verstärkt nach ihren gesellschaftlichen Funktionen und damit einhergehenden Bedeutungen befragt, wobei hier die jeweiligen Akteure, vorrangig adlige und frühbürgerliche Eliten, im Vordergrund stehen. In diesem Spannungsfeld zwischen Ästhetik und Politik erfolgt eine zweite gemeinsame Setzung des vorliegenden Bandes, der das Verhältnis von Macht und Raum fokussiert. Den thematischen Schwerpunkt bilden dabei Phänomene politischer Inbesitznahme und struktureller Formung von territorialen wie architektonischen Räumen im frühneuzeitlichen Europa. Als Ausgangspunkt gilt hier die Feststellung, dass Konstitution und Wirkung sowohl aristokratischer als auch republikanischer Herrschaft grundsätzlich an räumliche Dispositionen gebunden ist. Um politische Macht in ihrer ästhetisch-zeichenhaften, sinnlich-physischen und zeitlich-dynamischen Wirkung nachhaltig entfalten zu können, sind die Akteure der Macht auf die sichtbare Besetzung des öffentlichen Raumes und auf deutliche Markierung der privaten Bereiche angewiesen. Den herrschaftlich organisierten und strukturierten Räumen werden dabei modellhafte Qualitäten und gedächtnisstiftende Funktionen zugewiesen: Die kultivierten Landschaften, funktionierenden Städte und kunstvoll gestalteten Paläste und Gärten dienen in der Folge als Monumente einer klugen und effektiven Regentschaft. Dieser Zusammenhang zwischen der Etablierung von rechtmäßiger Herrschaft und ihrer räumlichen Präsenz erfährt vielfältige Aktualisierungen und Ausprägungen in der Frühen Neuzeit. In ihren einzelnen Studien beschäftigen sich die Autorinnen und Autoren des Bandes mit dem raumpolitischen Handeln der Dogen in der Republik Venedig und des neuen und alten Adels in Genua, sie untersuchen die Stadt- und Gartenbaupolitik russischer Zaren und Imperatorinnen, französischer Könige und deutscher Fürsten. Mit den beiden genannten Schwerpunkten nimmt der Band die machtpolitischen Rauminszenierungen in den Blick und fokussiert vielfältige mediale, ästhetische und soziale Wechselwirkungen, die Verwandlungen konkreter

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Einleitung

Stadt- und Gartenräume nach sich ziehen, womit denn auch der thematische Rahmen der vorliegenden Publikation knapp abgesteckt wäre. Die einzelnen Studien dieses Bandes laden dazu ein, eine Reihe von Transformationsbewegungen und Verwandlungsfiguren wie Besetzen und Ordnen, Stiften und Stabilisieren, Umformen und Integrieren sowie Erinnern und Monumentalisieren genauer unter die Lupe zu nehmen und anhand von exemplarischen Studien zu Stadt- und Gartenräumen zu befragen.1 Der erste Abschnitt »Besetzen und Ordnen« beinhaltet drei Studien, die sich mit Strategien der Raumaneignung in Situationen des politischen Machtwechsels und der konkurrierenden Herrschaftsinteressen beschäftigen und einen Bogen zwischen Florenz über Dresden nach Warschau spannen. Die Verwandlung der Stadtrepublik Florenz in eine herzogliche Residenz steht am Anfang der Untersuchung von Matthias Müller, der von hier aus eine vergleichende Perspektive auf visuelle Zeichen und materielle Präsenz herrschaftlicher Symbole im Stadtraum deutscher Residenzstädte in Sachsen und Hessen entwickelt. Rathaus und Residenzschloss rücken als zwei herausragende Typen von Repräsentations- und Versammlungsgebäuden in den Mittelpunkt seiner Analyse. Wenn Cosimo I. de’ Medici das symbolträchtige Rathaus der Republik in Besitz nimmt und zu einer Herzogsresidenz umbaut, so ist er darauf bedacht, aus der vorhandenen Autorität des symbolträchtigen Ortes heraus seinen eigenen Machtanspruch zu stärken. Bei dem Ausbau Dresdens zur Residenzstadt setzten sächsische Kurfürsten viel offener auf Neuanordnung und sogar Tilgung der früheren Herrschaftszeichen. So wie die Dresdner Bürgerschaft Privilegien städtischer Selbstverwaltung verliert weichen auch Stadtwappen einer dynastischen Heraldik auf den Toren der Stadt, und der lang anhaltende Konflikt um das Rathaus führt schließlich zur Aufgabe des herausragenden Standortes kommunaler Repräsentation zugunsten höfischer Bedürfnisse. Die landgräflich-hessische Residenzstadt Marburg veranschaulicht dagegen ein harmonisierendes Ensemble von fürstlicher und bürgerschaftlicher Architektur. Bei näherer Betrachtung sind dem Stadtraum jedoch bis heute sichtbare Zeichen einer sozialen und räumlichen Ordnung einge-

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Siehe das Programm der Interdisziplinären Tagung »Metamorphosen der Macht: Transformationen urbaner und hortikultureller Räume im Europa der Frühen Neuzeit«, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=17869 vom 17.11.2011. Die Tagungsbeiträge von Cornelia Jöchner, Stefan Schweizer und Tanja Michalsky standen zur Veröffentlichung in diesem Rahmen nicht zur Verfügung.

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schrieben, die unmissverständlich die Autorität des fürstlichen Stadtherren, sogar in seiner Abwesenheit, präsentieren. Neue Lösungen für räumliche Präsenz der Herrschaft sind in Florenz nach dem Tod des Großherzogs der Toskana Cosimo II. de’ Medici gefragt, als seine Witwe Erbherzogin Maria Magdalene von Österreich eine Vormundschaftsregierung 1621-1628 übernimmt. In der politischen Übergangssituation, so zeigt die Studie von Ilaria Hoppe, besetzt die Regentin einen Handlungsraum von besonderer Qualität: die Villa Poggio Imperiale zu Florenz. Die Großherzogin der Toskana verwandelt den ländlichen Bau in eine frühbarocke Residenz und entzieht dem innerstädtischen Sitz der Familie, Palazzo Pitti, seine politische Relevanz. Die Autorin der Studie schildert die topographische Lage und architektonischen Merkmale der Anlage, rekonstruiert exemplarisch das Skulpturenprogramm des Ensembles und die Freskendekoration der Innenräume. Sie geht auf Aktivitäten der Regentin, Empfänge und Feste in der Villa Poggio Imperiale ein und veranschaulicht im Detail, wie die prekäre Lage weiblicher Herrschaft dank der spezifischen Situierung einer villa suburbana in einem »Schwellenraum« zwischen Stadt und Land aufgehoben wird. Mit der Villa Poggio Imperiale beschreibt Hoppe einen idealen Handlungsraum, der den Herrschaftsauftrag der Regentin zum Ausdruck bringt und sowohl Affirmation bestehender Herrschaftsstrukturen als auch Machtanspruch einer transitorischen Regentschaft zu verwirklichen erlaubt. Das machtpolitische Potenzial einer Gartenanlage, die in der Vorstadt verortet wird und dadurch neue Perspektiven für den altstädtischen Raum symbolisch eröffnet, kommt im Fall der Warschauer Residenz des sächsischen Kürfürsten Friedrich August I. zur Geltung. Paul Friedl geht den baulichen Tätigkeiten des sächsischen Kürfürsten nach, der, 1697 zum polnischen König gekrönt, eine neue mitteleuropäische Großmacht mit Warschau als ihrem Zentrum zu etablieren bestrebt war. Friedl rekonstruiert ein ambitioniertes Bauvorhaben des Königs, der die Pläne zum Umbau des bestehenden Schlosses des Wahlkönigs der polnisch-litauischen Adelsrepublik verwirft und eine neue Schloss- und Gartenanlage entwerfen und gestalten lässt. Diese sollte die Bedeutung einer Residenz des Königs und der Republik veranschaulichen, entsprechend der Tatsache, dass August I. zwei Herrschaftsformen in einer Personalunion vereinte. Bei der Verwirklichung dieser Absicht greift er auf die Repräsentationskultur Dresdens zurück. Einen wichtigen Schritt stellt in diesem Zusammenhang die Öffnung der Gartenanlage der Residenz für eine breitere Öffentlichkeit dar. Der Verfasser der Studie erläutert die Bedeutung dieser

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Einleitung

Repräsentationsstrategien aus Kursachsen für die Warschauer Gartenanlage, die als größte städtische Gartenanlage berühmt ist und inzwischen den Namen »Sächsische Achse« trägt. Der zweite Abschnitt des vorliegenden Bandes »Stiften und Stabilisieren« versammelt vier Untersuchungen, die sich verstärkt den Praktiken von Legitimation und Sinnstiftung zuwenden und festliche und alltägliche Formen von Herrschaftsinszenierung in Moskau, St. Petersburg, Venedig und Schwetzingen analysieren. Die Krönungszeremonien und -festlichkeiten der russischen Herrscher nimmt Jan Kusber zum Anlass, um schillernde Wechselbeziehungen von Raum und Repräsentation der Macht am Beispiel von zwei Hauptstädten des Russischen Reichs zu erläutern. Er schildert, wie sich die Konkurrenz von Moskau und St. Petersburg in Hinblick auf politische Machtausübung entwickelt, indem er politisches Handeln herausragender Akteure exemplarisch analysiert. Kusber zeigt in einer panaromatischen Schau, wie sie die Räume der beiden Städte und ihrer Umgebung nutzen und dem Moskauer Kreml’, den umliegenden Landsitzen, sowie den St. Petersburger Palästen und Sommerresidenzen jeweils machtpolitische Funktionen zuweisen. Die signifikanten Zäsuren dieser Entwicklung verbindet der Verfasser der Studie mit den Krönungszeremonien des Moskauer Großfürsten Ivan IV., des ersten russischen Kaisers Peter I. und der Kaiserin Katharina II. Die städtebaulichen Maßnahmen der letzteren, die Kunstsammlungspolitik sowie der Ausbau der Sommerresidenzen unter Katharina II. tragen schließlich zur nachhaltigen Verwandlung der Stadt St. Petersburg bei. Das Zentrum der Herrschaftsausübung der Republik Venedig, die Piazza di San Marco, befindet sich im Fokus der Studie von Daniel Leis. Er greift drei herausgehobene Orte des Platzes auf, stellt ihre Funktionen und die damit verbundenen Handlungen vor, um zu zeigen, wie jeweils die Bedeutung dieser Orte gestiftet und im Raumgefüge der Piazzetta tradiert wird. Als erstes wendet er sich der Hinrichtungsstätte am Ufer des Hafenbeckens zu. Bildliche Darstellungen und Beschreibungen, die er auswertet, lassen auf eine zunehmende Stiftung eines Ortes des ›sozialen Makels‹ schließen. Diese Bedeutung wird in der Choreographie der Festumzüge manifestiert. Als zweites Beobachtungsobjekt dient die Verkündungsstätte, ein antiker Säulenstumpf an der Ecke der Basilika San Marco, wo die wichtigsten öffentlichen Bekanntmachungen stattfinden und in dem zeremoniellen Akt der Ausrufung die Legitimität der Republik bestätigt wird. Als drittes Beispiel dafür, wie die Verortung und

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Anna Ananieva

Repräsentation der Herrschaft auf dem Platz vollzogen wird, dient der Versammlungsort der Patrizier vor dem Dogenpalast. Auch hier finden sich sichtbare Zeichen der Macht, die im Rahmen von Zeremonien und Ritualen in ihrer Bedeutung aktualisiert werden. Die Studie von Leis zeigt auf, wie aus der Wechselwirkung von konkreten Funktionen einzelner Orte und damit einhergehenden Benennungen, Ritualen, Texten und Bildern eine nachhaltige Verräumlichung der politischen Herrschaft entsteht. Die wirkungsvollen Mechanismen einer zeitlich gebundenen Handlung, die nicht nur visuelle, sondern auch hörbare Präsenz der Macht im Raum evoziert, untersucht Helena Langewitz in ihrer Studie zu einer einmaligen Opernaufführung im Gartentheater von Schwetzingen. Die überstandene Epidemie in der Mannheimer Stadtbevölkerung und die Genesung des ebenfalls erkrankten kurpfälzischen Fürsten werden in Gottesdiensten, Lobgedichten, Gedenkmedaillen und Festveranstaltungen zelebriert. Die Überwindung der Krise und Wiederherstellung der Ordnung werden auch im Rahmen musikalischer und theatraler Aufführungen erlebbar gemacht, die sich in ihrer performativen Qualität für eine »Übertragung von Gefühlen« hervorragend eignen. Einen Höhepunkt stellt die Opernaufführung in dem Gartentheater der kurfürstlichen Residenz in Schwetzingen am 25. Juni 1775 dar. Die räumliche Disposition des Gartens stellt die notwendigen Bedingungen für eine wirkungsvolle Aufführung des Stücks L’Arcadia conservata bereit, die mittels einer ephemeren Handlung ein bleibendes Denkmal für die Genesung des Herrschers setzt. Dies geschieht dank einer affektiven Vereinnahmung der Anwesenden im Gartentheater und führt zu einer Verwandlung des Gartenraums in einen Ort glücklicher Vereinigung des »zurückgekehrten«, also in seiner körperlichen und politischen Kraft wiederhergestellten, Kurfürsten mit »seinem Volk«. Eine Verbesserung der Lage städtischer Bevölkerung haben russische Herrscher angestrebt, als sie sich mit der Regulierung der öffentlichen Plätze in der Hauptstadt des Imperiums beschäftigt haben. Alexander Bauer greift das Beispiel des Heumarkts (Sennaja plošþad’) in St. Petersburg auf und rekonstruiert die Veränderungen dieses Ortes, der nur scheinbar abseits der herrschaftlichen Repräsentationsräume liegt. Der Heumarkt hat nämlich mit auffälliger Regelmäßigkeit seit den 1730er Jahren die Aufmerksamkeit der Regierung erregt und zu städtebaulichen und sozialregulativen Initiativen seitens der russischen Kaiserinnen und Kaiser geführt. Der Verfasser erkennt im Heumarkt einen »Raum des Dialogs« zwischen Herrschaft und Gesellschaft, wobei er seine Stellung im Rahmen der Sozialpolitik einer »guten Polizey« von Katharina II.

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Einleitung

beschreibt. Weiterhin analysiert Bauer in seiner Studie die Regulierungsversuche der aufgeklärten Herrschaft und ihrer Nachfolger vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und wirtschaftlichen Funktionen dieser Platzanlage bis ins 19. Jahrhundert. Dass auch Zerstörung in ihren unterschiedlichen Graden zum Arsenal machtpolitischer Handlungen zählt und Metamorphosen von Stadt- und Gartenräumen nach sich zieht, zeigen drei Untersuchungen, die in dem Band unter der Abschnittsüberschrift »Umformen und Integrieren« zusammengeführt sind. Zwei konträre Strategien von Umstrukturierung bestehender Gartenanlagen legt die Untersuchung von Kristina Steyer offen, die ein prominentes deutsches Beispiel der Umgestaltung eines barocken Ensembles in einen Landschaftsgarten, den Weißensteiner Park in Kassel, auf ein italienisches, den Park der Villa Medicea in Pratolino, vergleichend bezieht. Die heute als Wilhelmshöhe berühmte Kasseler Gartenanlage stellt dank ihrer spektakulären Wasserspiele am Karlsberg immer noch eine Attraktion dar. Dass der Landgraf Wilhelm IX. das repräsentative Bauwerk mit seinen Kaskaden und Wasserautomaten in den neu angelegten Landschaftspark hat integrieren lassen, ist keine Selbstverständlichkeit, berücksichtigt man die hohen Kosten seiner Unterhaltung sowie den radikalen ästhetischen Wandel, der einem neu definierten Verhältnis von Mensch und Natur im 18. Jahrhundert geschuldet war. Die seinerzeit als Symbole der Kunstfertigkeit und Naturbeherrschung bewunderten Wasserspiele und Automatenkünste von Pratolino bei Florenz wurden dagegen zerstört und überbaut. Die vergleichende Perspektive der Studie macht nicht nur deutlich, dass in Kassel bestehende Herrschaftszeichen mit dem Motiv des Wassers erfolgreich in die neue Raumordnung der Gartenanlage integriert wurden, sondern zeigt auch, wie aus der so betonten Historizität eine zusätzliche Stärkung dieses Machtraums entstand. In der zweiten Studie dieses Abschnitts wendet sich Ina Mittelstädt den Beschreibungen der Wörlitzer Gartenalgen zu und plädiert für eine konsequente Quellenkritik im Fall dieses berühmtesten deutschen Landschaftsgartens, den sie als Herrschaftsraum untersucht. Sie konfrontiert zahlreiche wohlwollende bis begeisterte Stimmen der Zeitgenossen mit den kritischen Befunden, die in der Vormärzzeit und um 1900 in Bezug auf die Gartenanlagen und die Stadt Wörlitz formuliert werden. Die Autorin stellt die umfangreiche und bis ins Detail durchdachte Gestaltung von Schloss- und Gartenanlage den überschaubaren baulichen Maßnahmen in der direkt an den Park angrenzenden Stadt gegenüber, die seinerzeit im Auftrag des Fürsten Leopold III. Friedrich

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Anna Ananieva

Franz von Anhalt-Dessau stattgefunden haben. Sie geht der Frage nach, warum es zu keiner vergleichbaren radikalen Umformung des städtischen Raums gekommen ist. Aus der Gegenüberstellung von Stadt und Garten heraus erläutert Mittelstädt, wie sich in den 1780er Jahren das Verständnis von Ordnung und Freiheit gewandelt hat, und schließt auf mögliche Handlungsintentionen des Fürsten, die in Wörlitz im Rahmen der Landesverschönerung mit einer personalisierten Form von Herrschaftsausübung einhergegangen sind. Das Königshaus Savoyen zögert keinesfalls das nach 1815 zugesprochene neue Herrschaftsterritorium, die Hafenstadt Genua, in Besitz zu nehmen und zu einer königlichen Residenzstadt umzubauen. Bettina Morlang-Schardon schildert in ihrer Studie die Veränderungen, die einer der prachtvollsten Stadtpaläste der genuesischen Adelsfamilie Durazzo erfährt, nachdem er von dem Königshaus erworben und zur Residenz umgestaltet wird. Die Analyse der erfolgten Umformungen in der Ausstattung des Palastes bringt einen interessanten Befund: einerseits werden einige der Innenräume vollständig neu gestaltet und dem königlichen Zeremoniell angepasst, andererseits behält man in dem Repräsentationsgeschoss des Palastes Decken- und Wandmalereien sowie Stuckdekorationen in ihrer historischen Form bei, die die oligarchische Selbstinszenierung der Vorbesitzer zum Vorschein bringt. Dazu gehört auch eine Wappenkartusche der Durazzo, die in ein Freskenprogramm integriert ist. Vor dem Hintergrund der Transformationen, die der Palazzo Durazzo auf dem Weg zum Palazzo Reale erfährt, deckt die Autorin der Studie Praktiken auf, die auf Kontinuitätsstiftung und Inszenierung einer »historischen Identität« abzielen. Die zeitliche Dimension des Wechselverhältnisses von Macht und Raum thematisieren die Beiträge des letzten Abschnitts des Bandes »Erinnern und Monumentalisieren« und nehmen dabei die materiellen Träger der Erinnerung und Gedächtnisstiftung in den Blick. Die Untersuchung von Sebastian Fitzner basiert auf der Auswertung eines einzigartigen Konvoluts von Architekturzeichnungen, die Landgraf Moritz von Hessen-Kassel im Zeitraum von 1604 bis 1632 erstellt hat. In den graphischen Darstellungen von Residenzen, Lustschlössern, Gärten und Landsitzen des Niederhessischen Herrschaftsgebiets des Landgrafen erkennt der Verfasser der Studie einen spezifischen Prozess der Ortsstiftung. Diesen bezeichnet er als »Topophilie«, die sich in einer personalisierten Erfassung und Vergegenwärtigung von erinnerungs- und entwurfswürdigen Orten äußert. Die Topophilie der landgräflichen Architekturzeichnungen unterscheidet sich, wie die Untersuchung zeigt, grundsätzlich von den amtlichen Kartierungen, die den Herr-

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Einleitung

schaftsraum ebenfalls in einem topographischen Zugriff erfassen. Anstelle von exakten Vermessungen loten die Zeichnungen des Landgrafen symbolische Distanzsetzungen und imaginäre Raumaneignungen über einen Zeitraum von dreißig Jahren aus. Sie dienen dabei sowohl einer herrschaftlich motivierten Vergegenwärtigung des Territoriums, erfüllen aber auch konkrete raumplanerischen Funktionen, wenn es um Aus- und Umbauarbeiten an landgräflichen Schlössern und Gärten geht. Eine besondere Qualität erreichen diese Zeichnungen als Medium der Erinnerungsarbeit in den letzten fünf Lebensjahren des Landgrafen. Zu einer Abdankung gezwungen, besetzt er die ihm nun entzogenen Orte weiterhin zeichnerisch und gestaltet seine Herrschaftsräume weitgehend imaginär um. Im Spannungsfeld zwischen ephemerer Verwandlung der Stadträume während höfischer Festzüge und ihrer nachträglichen Monumentalisierung in Bild und Schrift ist die Studie von Thomas Rahn angesiedelt. Zwei reich illustrierte Festbeschreibungen stehen im Mittelpunkt seiner Analyse: Charles Perraults Courses de Testes et de Bague (1670) und Gabriel Tzschimmers Durchlauchtigste Zusammenkunfft (1680). Rahn zeichnet nach, wie die architektonisch konstruierten Machträume, in denen sich Herrschaft und Untertanen während der Festzüge bewegen, in Bildwerken inszeniert werden. Die Studie lenkt den Blick auf eine neue Repräsentationsstrategie, die den Plätzen und Stadträumen der zeremoniellen Handlung eine immer größer werdende Aufmerksamkeit widmet. So konkurrieren in Perraults Festbuch zwei Turnierplätze visuell um die Bedeutung eines Gedächtnisortes, wobei die Straßenzüge der Stadt Paris fast dokumentarisch nicht nur Zuschauermassen, sondern auch Häuserfassaden und Baulücken für das Gedächtnis festhalten. Das nachträgliche Bild der Dresdener Festlichkeiten in Tzschimmers Buch verdichtet sich dagegen in der Idee einer »schönen Stadt«, die in einer Abfolge festlicher Handlungen »ausgestellt« und von höfischen Akteuren »inspiziert« wird. Auf den Straßen Dresdens haben Zuschauer, anders als in Paris, jedoch keinen Platz, denn in dem Festbuch in Erinnerung an das vierwöchige Festprogramm des Familientreffens der Albertiner bleiben Straßenzüge und Plätze der Stadt von der städtischen Bevölkerung frei. In dem abschließenden Beitrag des Sammelbandes wendet sich Anna Ananieva den Potsdamer Gartenprojekten Nikolskoe und Alexandrowka zu, die auf Initiative von Friedrich Wilhelm III von Preußen entstehen und ein Denkmal der russischen Holzarchitektur setzen. In den ersten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in der Zeit, als sich in den deutschen Ländern die nationale

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Anna Ananieva

Idee konsolidiert, entstehen nicht nur in Potsdam, sondern auch in Weimar und Bayreuth neue Gartenpartien, die einen nationalen Charakter russischer Provenienz effektvoll in Szene setzen. Was die beiden Potsdamer Anlagen in gartenhistorischer Sicht auszeichnet, ist ihre oszillierende Stellung zwischen traditionellen, spielerischen Formen des Landschaftsgartens und modernen Vorhaben der Landesverschönerung, die sich in der Projektierung von Musterdörfern und Gartenstädten äußern. Die Autorin des Beitrages geht der Inszenierung des Russischen in den Gartenanlagen des frühen 19. Jahrhunderts nach, die sich im Geflecht von dynastischen Beziehungen, politischen und ästhetischen Strategien und individuellen und kollektiven Dimensionen einer Erinnerungskultur zwischen St. Petersburg und Berlin, Pavlovsk und Potsdam entfaltet.

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Besetzen und Ordnen

Die Inbesitznahme und Transformation des Stadtraums durch den Fürsten Ein vergleichender Blick auf Florenz, Dresden und Marburg zu Beginn der Frühen Neuzeit MATTHIAS MÜLLER

1. Der Stadtraum als Palimpsest und das (provokante) Potential der visuellen Zeichen 1 Spätestens seit Michel Foucaults wegweisenden Schriften zur Bedeutung des Raumes als einer sinnstiftenden Kategorie sozial- und kulturgeschichtlicher Entwicklungen2 kann der Stadtraum nicht mehr nur als homogene bebaute Fläche betrachtet werden, sondern ist als ein mehrteiliger, komplexer Raum aufzufassen, der einerseits aus zum Teil heftig konkurrierenden urbanen Zentren und gesellschaftlichen Gruppen besteht, andererseits aber auch als Konkre1

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Abschnitt 1 bis 3 des vorliegenden Beitrags basieren auf meinem folgenden Aufsatz: Matthias Müller: »Kunst als Medium herrschaftlicher Konflikte. Architektur, Bild und Raum in der Residenzstadt der Frühen Neuzeit«, in: Werner Paravicini/Jörg Wettlaufer (Hg.), Städtisches Bürgertum und Hofgesellschaft. Wechselwirkungen in Residenz- und Hauptstädten vom 15. bis ins 19. Jahrhundert (Residenzenforschung, Band 25), Ostfildern 2012, S. 123-139. Die Thematik dieses Aufsatzes soll im Kontext des vorliegenden Tagungsbandes erneut zur Diskussion gestellt werden. Abschnitt 3.1 zu Dresden wurde dafür erweitert und Abschnitt 3.2 zu Marburg ist vollkommen neu konzipiert. Siehe hierzu u.a. Michael Foucault: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, zweisprachige Ausgabe mit CD, übersetzt von Michael Bischoff, mit einem Nachwort von Daniel Defert, Frankfurt a.M. 2005.

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tisierung eines übergreifenden, ideellen Konzepts gedacht werden muss, so wie es beispielsweise Albrecht Dürer 1527 in seinem bekannten Idealplan für eine königliche Stadt entwickelt hat.3 (Abb. 1) Allerdings ließ sich der Stadtraum, sofern er nicht – wie bei Dürer – vollkommen neu und planmäßig auf der grünen Wiese errichtet werden sollte, zumeist nicht beliebig gestalten. Bereits existierendes Eigentum, Traditionen und spezifische Interessen von gesellschaftlichen Gruppen stellten sich übergeordneten Herrschaftsinteressen entgegen, so dass man eher von einem mehr oder weniger konfliktreichen Prozess der Stadtgestaltung ausgehen muss, als von einer konfliktfreien Umsetzung von Herrschaftsinteressen und -konzepten.4 Der Stadtraum erhielt dadurch in seiner äußerlichen Gestalt zumeist den Charakter eines mehrfach überschriebenen Gebildes, ganz im Sinne eines Palimpsests, da eine Umgestaltung bzw. Umkodierung des Stadtraums immer auch vorgegebene Strukturen – seien sie räumlich-architektonisch oder zeichenhaft-bildlich – zu berücksichtigen hatte bzw. in das neue Konzept mit einbeziehen musste. Diese Grundsätze galten in besonderer Weise auch für solche Städte, die zu Orten einer fürstlichen Residenz erhoben wurden. Denn der innere Frieden einer Residenzstadt und das Verhältnis zwischen der Sphäre des Hofes und der Sphäre der Bürgerschaft waren nicht nur abhängig von rechtlichen Verträgen und ihrer möglichst peniblen Einhaltung, sondern ganz wesentlich auch von 3

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Zu Dürers Plan siehe zuletzt Ulrich Schütte: »Militär, Hof und urbane Topographie. Albrecht Dürers Entwurf einer königlichen Stadt aus dem Jahre 1527«, in: Werner Paravicini/Jörg Wettlaufer (Hg.), Der Hof und die Stadt. Konfrontation, Koexistenz und Integration in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Residenzenforschung, Band 20), Ostfildern 2006, S. 131-154. Siehe hierzu am Beispiel Roms vor allem Joseph Connors: »Alliance and Emnity in Roman Baroque Urbanism«, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 25 (1989), S. 204-294. Zur besonderen Bedeutung von Stadtplätzen für die Ausprägung politisch konnotierter Stadtstrukturen im frühneuzeitlichen Italien siehe Alessandro Nova (Hg.): Platz und Territorium. Urbane Struktur gestaltet politische Räume (Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz: I Mandorli, Band 11), Berlin/München 2010. Für die frühneuzeitliche Residenzstadt allgemein und die bewusste herrschaftliche Überformung ihrer älteren Strukturen durch Plätze, Straßen und Sichtachsen siehe die in ihren historischen Grundannahmen nicht immer überzeugende Arbeit von Katrin Bek: Achse und Monument. Zur Semantik von Sicht- und Blickbeziehungen in fürstlichen Platzkonzeptionen der Frühen Neuzeit (Marburger Studien zur Kunst- und Kulturgeschichte, Band 8), Weimar 2005. Siehe auch Eva-Maria Seng: Stadt – Idee und Planung. Neue Ansätze im Städtebau des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin/München 2003. Für die mittelalterliche Stadt allgemein siehe einzelne Beiträge in Susanne Ehrich/Jörg Oberste (Hg.): Städtische Räume im Mittelalter, Regensburg 2009.

Die Inbesitznahme und Transformation des Stadtraums durch den Fürsten

Abb. 1: Albrecht Dürer, Idealstadtentwurf aus Dürers Befestigungslehre von 15275 der Wirkkraft der Medien und den von ihnen gesetzten Zeichen im städtischen Raum. Auch wenn wir heute gewohnt sind, die im städtischen Raum der Frühen Neuzeit eingesetzten Medien überwiegend als Kunstwerke zu betrachten, so möchte ich den Medienbegriff in unserem thematischen Zusammenhang ganz bewusst verwenden. Denn Architektur, Malerei und Skulptur konnten im städtischen Raum zwar auch als Werke der Kunst im heutigen, modernen Sinn

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Abbildungen ohne Urhebernennung stammen aus dem Bildarchiv des Instituts für Kunstgeschichte der Universität Mainz sowie dem Archiv des Verfassers.

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aufgefasst werden, doch im historischen Kontext ihrer Entstehungszeit sollten sie doch zunächst als Elemente einer auf den Augensinn abzielenden höfischen oder städtischen Repräsentation dienen, die gleichwohl oder gerade deshalb eine hohe Kunstfertigkeit und ein hoher ästhetischer Anspruch auszeichneten. Diese Medien der Repräsentation konnten wegen ihrer visuellen Wirkkraft und der immerwährenden Präsenz an den wichtigen Orten einer Residenzstadt im städtischen Alltagsleben unter Umständen sogar eine größere Macht entfalten, als es den in den Archiven ruhenden und von einer gewissen Abstraktheit bestimmten Verträgen und Gesetzestexten je vergönnt war. Vor allem aber vermochten anhand der im Stadtraum errichteten visuellen Zeichen auch jene Einwohner oder Besucher die in der Stadt geltenden Herrschaftsverhältnisse wahrzunehmen, die den Inhalt der Verträge nicht kannten oder – aufgrund ihrer Fremdheit – den Inhalt nicht kennen konnten. Mit dieser nachhaltigen Wirkensweise waren die im Stadtraum verankerten Zeichen letztlich auch in besonderer Weise dafür verantwortlich, inwieweit in einer Residenzstadt politischer und sozialer Frieden herrschte oder aber – durch das den Zeichen innewohnende Potential der Provokation – möglicherweise auch Konflikte oder gar gewalttätige Auseinandersetzungen herausgefordert wurden.6 Im Folgenden möchte ich anhand von ausgewählten Beispielen einerseits die von Michel Foucault aufgeworfene Frage nach der Komplexität des Stadtraums als Ort konkurrierender Herrschaftsinteressen thematisieren und andererseits sowohl die mediale Qualität als auch das provokante Potential der visuellen Zeichen – und nur von ihnen und nicht von den ebenfalls wichtigen auditiven, z.B. musikalischen Zeichen werde ich in meinem Beitrag handeln – im politischen Kontext einer frühneuzeitlichen Residenzstadt im Alten Reich verdeutlichen.

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Zur Frage der Symbolkraft und Zeichenhaftigkeit im höfisch-städtischen Raum siehe neben der in Anm. 4 genannten Literatur auch Paravicini/Wettlaufer: Der Hof und die Stadt; siehe auch die theoretischen Überlegungen von Ulrich Schütte/Peter-Michael Hahn: »Thesen zur Rekonstruktion höfischer Zeichensysteme in der Frühen Neuzeit«, in: Mitteilungen der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 13,2 (2003), S. 19-47.

Die Inbesitznahme und Transformation des Stadtraums durch den Fürsten

Abb. 2: Palazzo Vecchio, Florenz, Ansicht von der Piazza della Signoria

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2. Inbesitznahme der Stadt durch den Fürsten und Umw andlung zur Residenz: Florenz unter Cosimo I. Beginnen werde ich mit einem Beispiel aus Italien, das mein Thema besonders prägnant zu veranschaulichen vermag und zudem als Vergleichsmaßstab für die im Alten Reich angewandten Methoden einer visuellen Markierung des Stadtraums durch den Fürsten aber auch die Stadtgemeinde dienen kann. Schauplatz der im Folgenden skizzierten Ereignisse ist Florenz, das nach einer wechselvollen Geschichte als Republik mit dem Amtsantritt von Alessandro de’ Medici 1531/32 zum Sitz eines erblichen Herzogtums werden sollte. Die endgültige Beendigung der Jahrhunderte alten, wechselhaften Tradition einer Stadtrepublik war nicht zuletzt auf Betreiben von Papst Clemens VII., einem Medici, sowie Kaiser Karl V. erfolgt, die mit der veränderten Herrschaftsform einerseits dynastische und andererseits machtpolitische Ziele verfolgten. Da die alteingesessenen Florentiner Patrizierfamilien in der Frage des politischen Status von Florenz zerstritten waren, Clemens VII. und Karl V. nach dem Sacco di Roma aber ein Bündnis schlossen, das sogar die Belagerung von Florenz durch kaiserliche Truppen vorsah, hatten Papst und Kaiser letztlich leichtes Spiel.7 Dennoch sollte es noch bis 1540, also acht Jahre, dauern, bis die Umwandlung in eine herzogliche Residenzstadt und die sichtbare Inbesitznahme durch den Herzog auch im Stadtbild selbst ihre Spuren hinterließ und entsprechend markante visuelle Zeichen gesetzt wurden. Dies geschah drei Jahre nach der von Anhängern der Republik initiierten Ermordung Alessandros de’ Medici und der Übernahme der Florentiner Herzogswürde durch Cosimo I. de’ Medici. Zu den symbolträchtigsten Handlungen Cosimos gehörte die Inbesitznahme des später – ab 1565 – Palazzo Vecchio genannten Rathauses von Florenz (Abb. 2), und seine Umwandlung in das Residenzschloss des Herzogs.8 Dieser Vorgang war in zweierlei Hinsicht bedeutungsvoll: Zum einen gaben die Medici als in den Herzogsstand aufgestie7

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Zu den historischen Vorgängen siehe Eric Cochrane: Florence in the Forgotten Centuries 1527-1800. A History of Florence and the Florentines in the Age of the Grand Dukes, Chicago 1973, S. 11-92; siehe darüber hinaus auch Alfred von Reumont: Geschichte Toscana’s seit dem Ende des florentinischen Freistaates, Erster Theil, Die Medici 1530-1737, Gotha 1876. Siehe hierzu Alessandro Allegri/Ettore Cecchi: Palazzo Vecchio e i Medici, Florenz 1980.

Die Inbesitznahme und Transformation des Stadtraums durch den Fürsten

Abb. 3: Palazzo Medici-Riccardi, Florenz gene mächtigste Florentiner Familie den Palazzo Medici (Abb. 3), ihren Jahrhunderte alten Wohnsitz nahe ihrer Hauskirche San Lorenzo, auf und beendeten damit auch dessen Funktion als Herzogsresidenz, und zum anderen okkupierten sie mit dem altehrwürdigen, ab 1298/99 errichteten Rathaus an der Piazza della Signoria genau jenes Gebäude, das am symbolträchtigsten die alte Herrschaftsform der Republik unter Beteiligung der vornehmsten Familien und

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Zünfte von Florenz repräsentierte.9 Von der einstigen Macht der Republik kündete am Rathaus, dem sogennaten Palazzo della Signoria, unübersehbar der hochaufragende Turm, dessen ziboriumsartiger Aufsatz den im 13. Jahrhundert in ähnlicher Form errichteten Turmaufsatz der Burg des kaiserlichen Reichsvikars der Toskana bei San Miniato al Tedesco zitiert,10 sowie das zur Entstehungszeit singuläre Bossenmauerwerk, dessen Formgebung eine eigenständige Interpretation des imperialen Bossenmauerwerks aus römisch-antiker und staufischer Zeit darstellt. Für die verloren gegangene republikanische Macht standen aber auch sprichwörtlich die Skulpturen vor der Hauptfassade des Rathauses bzw. in der Loggia dei Signori (der heutigen Loggia dei Lanzi) an der Piazza della Signoria: Donatellos mutige und tugendhafte Judith mit dem Kopf des Holofernes aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, deren Sockelinschrift vom Fall der Königreiche und dem Aufstieg der Städte kündet11 (Abb. 4), sowie Michelangelos legendärer, von kämpferischer Entschlossenheit wie kluger Weitsicht gleichermaßen bestimmter David vom Beginn des 16. Jahrhundert. Beide verkörperten für die Florentiner und ihre Gäste ikonographisch wie künstlerisch die Stärke der Republik und waren damit auch politisch hochrangige Bildzeichen im städtischen Raum.12 (Abb. 5) Die Bedeutung dieses solchermaßen zeichenhaft besetzten und das alte

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Zu dieser ursprünglichen Bedeutung des Palazzo Vecchio siehe vor allem Nicolai Rubinstein: The Palazzo Vecchio 1298-1532. Government, Architecture and Imagery in the Civic Palace of the Florentine Republic, Oxford 1995. Zu den Veränderungen im politischen Selbstverständnis von Florenz und der damit verbundenen politischen Ideenbildung siehe Rudolf von Albertini: Das florentinische Staatsbewußtsein im Übergang von der Republik zum Prinzipat, Bern 1955, hier bes. S. 274-344. 10 Ingrid Krüger: »Der Palazzo Vecchio in Florenz: römisches oder staufisches Erbe?«, in: Volker Herzner/Jürgen Krüger (Hg.), Burg und Kirche zur Stauferzeit, Regensburg 2001, S. 238-254; Marion Philipp: Politische Architektur im Vergleich: Die Kommunalpaläste von Siena und Florenz (Palalzzo Pubblico, Palazo Vecchio), unveröff. Magisterarbeit Universität Göttingen 2004. 11 Die Inschrift lautet: Regna cadunt luxu, surgunt virtutibus urbes: Caesa vides humili colla superaba manu; Übersetzung bei Matthias Krüger: »Wie man Fürsten empfing. Donatellos Judith und Michelangelos David im Staatszeremoniell der Florentiner Republik«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 71 (2008), S. 481-496, hier S. 484, Anm. 14: »Königreiche fallen durch Ausschweifung; Städte steigen durch Tugend. Siehe die stolzen Hälse, gefällt durch die Hand der Demut«. 12 Zur politischen Programmatik und zeremoniellen Einbindung von Donatellos Judith und Michelangelos David bei Staatsempfängen siehe Krüger: Wie man Fürsten empfing.

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Die Inbesitznahme und Transformation des Stadtraums durch den Fürsten

Abb. 4: Donatello, Judith mit dem Haupt des Holofernes, 1453-1457, Florenz, Palazzo Vecchio kommunale Selbstverständnis repräsentierenden Ortes war auch Herzog Cosimo I. bewusst, dessen Machtbasis innerhalb der Stadt keineswegs so gefestigt war, dass er auf die der untergegangenen Republik nachtrauernden Patrizierfamilien und Zünfte keine Rücksicht mehr hätte nehmen müssen. Und so ist es

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Abb. 5: Michelangelo, David, 1501-04, Florenz Galleria dell’Accademia für die Frage, wie die visuell-künstlerischen Medien im Spannungsfeld einer Residenzstadt eingesetzt werden konnten, in hohem Maße aufschlussreich, auf welche Weise Cosimo I. das alte Florentiner Rathaus zum neuen Herzogspalast umgestalten ließ. Äußerlich beließ er weitgehend alles beim alten, nur das Herzogswappen wurde als Zeichen der neuen Herrschaft in das giebelartige

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Abb. 6: Wandfeld oberhalb des Hauptportals an der Piazza della Signoria, Palazzo Vecchio, Florenz Wandfeld oberhalb des Hauptportals (Abb. 6) zur Piazza della Signoria eingefügt, wo es die ursprüngliche und seit 1851 wieder sichtbare Heraldik mit dem Florentiner Löwen und dem Christusmonogramm verdeckte. Auch Donatellos Judith und Michelangelos David blieben unverändert auf ihren Standplätzen an der Eingangsfassade bzw. im Bereich der Loggia dei Signori. Wesentliche Veränderungen fanden dafür im Inneren statt, doch auch hier war das Vorgehen vom Willen zur Rücksichtnahme auf den alten Bestand und die mit ihm verbundene Geschichte der Florentiner Republik bestimmt. Wie Marcus Kiefer aufgezeigt hat, beauftragte Cosimo I. zwar den Maler Francesco Salviati mit

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Abb. 7: Sala dell’Udienza mit Camillus-Zyklus von Francesco Salviati, Palazzo Vecchio, Florenz der Neufreskierung eines Teils der Repräsentationsräume, darunter vor allem auch die Sala dell’Udienza, ehemaliger Versammlungsraum der Prioren, doch sollten dabei konstitutive Teile der alten Raumausstattung – darunter bestimmte Teile der bildlichen Freskierung und die schweren hölzernen Kassettendecken – erhalten bleiben.13 (Abb. 7) Der Herzog selbst trat bemerkenswerterweise bildlich zunächst nicht explizit in Erscheinung, sehen wir einmal von der Anbringung seines Wappens in den Raumdekorationen ab. Die neuen, zwischen 1543 und 1548 ausgeführten monumentalen Historiengemälde von Francesco Salviati in der Sala dell’Udienza zeigen vielmehr ein auf die antike

13 Zur Umwandlung des Palazzo Vecchio unter Cosimo I. und zum Freskenprogramm Francesco Salviatis in der Sala dell'Udienza siehe mit Hinweisen auf die ältere Literatur Marcus Kiefer: »Mediceische Erinnerungsräume: Cosimo I. im Palazzo Vecchio. Die Methode und Funktion der historischen inventio in Francesco Salviatis Sala dell’Udienza (1543-1548)«, in: Thüringer Landesmuseum Heidecksburg Rudolstadt (Hg.), Bildnis, Fürst und Territorium, bearb. von Andreas Beyer (Rudolstädter Forschungen zur Residenzkultur, Band 2), München/Berlin 2000, S. 59-87, hier S. 63ff.

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Abb. 8: Sala dei Cinquecento (während der Republik Ratssaal) mit Gemäldeausstattung von Giorgio Vasari (1565), Palazzo Vecchio, Florenz Heldengeschichte des römischen Konsulartribuns Marcus Furius Camillus zurückgreifendes Bildprogramm, in dem neben der Glorifizierung von Camillus als zweitem Gründer Roms und Erneuerer des römischen Staatswesens auchdie alten republikanischen Regententugenden mitreflektiert wurden, wie sie sich in den uomini illustri, den tugendhaftesten Männern der Geschichte, zu denen auch Camillus gehörte, widerspiegelten.14 Den Ratssaal, das Herzstück des alten republikanischen Rathauses, ließ Cosimo I. zunächst sogar unangetastet, um ihn dann fünfzehn Jahre später, aus Anlass der Hochzeit seines erstgeborenen Sohnes Francesco, durch Giorgio Vasari mit einem hochgelehrten und diplomatisch äußerst geschickt argumentierenden Bildprogramm an der Decke und an den Wänden zum herzoglichen Festsaal (Sala dei Cinquecento) umzugestalten. (Abb. 8) Hier durfte nun schließlich auch die Person des Herzogs – nicht länger allegorisch verhüllt – im gemalten Porträt in Erscheinung treten. Die im Dezember 1565 eingeweihte

14 Zur Deutung des Bildprogramms und seinen sowohl auf das republikanische Florenz als auch die Medici bezogenen Aspekten, deren Kernbotschaft die Propagierung des Camillus als Retter und Neubegründer des römischen alias Florentiner Staatswesens bildet, siehe Kiefer: Medceische Erinnerungsräume, S. 71-80.

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Abb. 9: Tondo mit der Darstellung Cosimos I. im zentralen Bildfeld der Decke von Giorgio Vasari (1565), Sala dei Cinquecento, Palazzo Vecchio, Florenz und erst kürzlich von Dorit Malz in ihrer Dissertation über die Sala dei Cinquecento eingehend analysierte Decke15 zeigt Ereignisse aus der Geschichte der Stadt Florenz, wobei im Zentrum des mittleren Deckenstreifens ein Tondo mit der Darstellung Cosimos als antiker Feldherr inmitten der Wappen der 15 Dorit Malz: »ragionare in detto dialogo«. Die Sala dei Cinquecento im Palazzo Vecchio in Florenz. Giorgio Vasaris malerisches Ausstattungsprogramm und die terza giornata seiner Ragionamenti, Dissertation FU Berlin 2008, S. 75-200 (http://www.diss.fu-berlin.de/diss/receive/FUDISS_thesis_000000017314).

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Zünfte steht, während an den beiden Enden des Deckenstreifens Allegorien der vier Stadtviertel mit den Flaggen der Gonfaloni, der bannerschaftlich organisierten Stadtviertelgemeinden, erscheinen. (Abb. 9) Darstellungen aus der ältesten Geschichte der Stadt, so ihre Gründung durch die Römer, ergänzen das Programm. Seine politische Gesamtaussage darf – nicht zuletzt auch unter Beachtung von Vasaris eigener Deutung in seinen Ragionamenti16 – als eine ausgesprochen geschickte Verknüpfung der Geschichte des republikanischen Florenz mit der Geschichte seiner Umwandlung in ein Herzogtum gelten, dessen Verlauf nach Aussage der Bilder mit geradezu göttlichem Willen in die Abschaffung der Republik mündete oder – diplomatischer ausgedrückt – das Herzogtum als Vollendung der Republik verständlich werden lässt.17 Knapp zwanzig Jahre nach Inbesitznahme und Umbau des Rathauses zur Herzogsresidenz, 1559, ließ Cosimo I. von Vasari in unmittelbarer räumlicher Verbindung einen prachtvollen Verwaltungsbau für die Regierung des Herzogtums errichten. Diese sogenannten Uffizien bestehen aus zwei dreigeschossigen Trakten, die zwischen sich einen Innenhof umschließen, der auf der einen Seite durch den Palazzo Vecchio und auf der anderen Seite, zum Arno hin, durch einen monumentalen Triumphbogen begrenzt wird. (Abb. 10) Von der Seite des Arno aus betrachtet, rahmt dieser Triumphbogen ein denkwürdiges, bislang aber in der Forschung unbeachtet gebliebenes Bild: Beim Durchblick durch den Arkadenbogen erscheint am Ende der Blickachse der Palazzo Vecchio, dessen mittelalterliches Bossenmauerwerk in auffälligem Kontrast zu den farbig verputzten Renaissancefassaden der Uffzien steht. In seinen Ragionamenti nennt Vasari auch die Gründe für die Erhaltung des alten Erscheinungsbildes des früheren Rathauses und seine architektonische Inszenierung und bestätigt damit das bereits im zentralen Deckengemälde in der Sala dei Cinquecento erkannte politische Programm: Für Cosimo I., so Vasari, sei es von großer Bedeutung gewesen, mit der weitgehenden Bewahrung und nur behut-

16 Zur komplexen Entstehungsgeschichte, Datierung und Funktion dieser zwischen etwa 1558 und 1565 entstandenen und 1588 erstmals gedruckten Schrift, die in einem fiktiven Dialog zwischen Vasari und Francesco de’ Medici, dem Sohn und Nachfolger Cosimos I., das Bildprogramm der von Vasari ausgestatteten Räume im Palazzo Vecchio erläutert, siehe ebd., S. 51ff. 17 Zur Genese und zum Bildprogramm des Tondo, in den das Bildnis Cosimos I. erst am Ende eines längeren Konzeptionsvorgangs eingefügt wurde, an dessen Beginn noch die allegorische Darstellung der Stadt Florenz als glorifizierte Fiorenza geplant war, siehe ebd., S. 134ff.

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Abb. 10: Blick auf den Palazzo Vecchio in Florenz durch den arnoseitigen Triumphbogen der Uffizien (© Matthias Müller) samen Erneuerung des alten Florentiner Kommunalpalastes eine sprachmächtige Metapher für das unter seiner Herrschaft erneuerte, traditionsreiche Florentiner Staatswesen zu schaffen. Zwar wäre es Cosimo I. ein leichtes gewesen, so Vasari, sich einen vollkommen neuen, modernen Herzogspalast zu erbauen, doch nur die Besetzung und Renovatio des alten Palastes hätte die Möglichkeit geboten, auf die historischen Voraussetzungen seiner Herrschaft hinzuweisen und vor aller Augen sprichwörtlich in das überlieferte Amtsgehäuse der alten Republik zu schlüpfen.18 Die Inbesitznahme des alten Rathau18 Vasari zu Cosimos I. Handeln wörtlich: »[…] se il rispetto di non volere alterare i fondamenti e le mura maternali di questo luogo, per avere esse, con questa forma vecchia, dato origine al suo governo nuovo. Che poi che egli fu creato duca di questa repubblica, per conservar le leggi, e sopra quelle aggiunger que' modi che rettamente faccin vivere sotto la iustitia e la pace i suoi cittadini e che dependendo la grandezza sua da l’origine di questo palazzo e mura vecchie«. Giorgio Vasari: »Ragionamenti di Giorgio Vasari sopra le invenzioni da lui dipinte in Firenze nel

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ses durch den Herzog bedeute daher keineswegs die schlichte Okkupation der alten Republik, sondern die Demonstration ihrer angeblichen Renovatio und quasi historischen Vollendung unter der herzoglichen Regentschaft der Medici.19 Möchte man den Umgang Cosimos I. mit dem alten Florentiner Rathaus in ein Bild fassen, so ließe sich sein Verhalten mit einem Herrscher vergleichen, der als Erbe eines alten republikanischen Staatswesens seine neue, nunmehr herzogliche Regentschaft in den nur wenig umgenähten Kleidern der alten Republik antrat, da er – und dies ist entscheidend – als MediciAbkömmling ansonsten weder über Dignität noch Autorität verfügt hätte.

3. Die Umwandlung deutscher Städte zu Residenzorten und die Bedeutung von Architektur und Bildwerken als urbane Herrschaftszeichen Richten wir von Florenz aus den Blick auf die Verhältnisse nördlich der Alpen ins Alte Reich, so werden wir feststellen, dass sich zwar die politische und verfassungsrechtliche Situation deutscher Städte von derjenigen in Florenz unterschied und der Fürst daher weniger Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Stadtbürger nehmen musste, dafür aber der Umgang mit den Repräsentationsmedien Architektur und Bildwerk durchaus von einem vergleichbaren Grundverständnis geprägt war. Ähnlich wie in Florenz galt es mit Hilfe der Medien einerseits die beanspruchten oder vorherrschenden Machtverhältnisse zu demonstrieren, andererseits aber auch die Spannungen auszugleichen, die sich aufgrund vorhandener Interessenskonflikte an der zeichenhaften, symbolträchtigen Wirkung der eingesetzten Medien entzünden konnten. Zwar musste im Alten Reich in der Frühen Neuzeit keine Stadt erleben, von einer Republik Palazzo di LL. Altezze Serenissime [1588]«, in: Le opere di Giorgio Vasari, con nuove note e commenti di Gaetano Milanesi, Band 8, Florenz 1882, S. 5-223, hier S. 14. 19 Siehe hierzu auch die überzeugende Interpretation von Kiefer: Mediceische Erinnerungsräume, S. 59-62. Siehe darüber hinaus die für eine solche Deutung grundlegenden Studien von Henk Th. van Veen: »Republicanism in the Visual Propaganda of Cosimo I de’ Medici«, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 55 (1992), S. 200-209; ders.: Cosimo I de’ Medici, vorst en republikein: een studie naar het heersersimago van de eerste groothertog van Toscane (1537-1574), Amsterdam 1998.

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in die Residenz eines Fürstentums umgewandelt zu werden, und daher auch kein fürstlicher Stadtherr auf die Eigentümlichkeiten einer unterschwellig weiterwirkenden republikanischen Herrschaftstradition Rücksicht nehmen, doch konnte auch die Umwandlung einer landesherrlichen Kaufmannsstadt in eine fürstliche Residenzstadt für das Selbstverständnis der alten wie neuen Bewohner erhebliche Reibungsflächen erzeugen. Ähnlich wie in Florenz ging es dann nicht zuletzt um die Frage, inwieweit die angestammten Rechte und Privilegien der bürgerlichen Ratsfamilien und Zünfte, die die Geschicke der Stadt früher maßgeblich mitbestimmten, auch unter den neuen Herrschaftsverhältnissen behauptet und öffentlich sichtbar in Erinnerung gehalten werden konnten. Die sich daran entzündenden Konflikte zwischen der alteingesessenen Bürgerschaft und dem Fürsten und die daraufhin entwickelten Strategien für ihre Bewältigung und Austarierung wurden – außer durch politische und juristische Maßnahmen – in der Regel mit Hilfe der Architektur und der bildenden Künste ausgetragen bzw. ausgeübt. Hinzu kamen ephemere und performative Formen herrschaftlicher Inszenierungen, wie sie etwa anlässlich von Festen oder Herrschereinzügen auf den Straßen und Plätzen einer Residenzstadt üblich waren, auf die aber im Rahmen dieses Beitrags nicht eingegangen werden kann.20 In der politischen Realität der meisten Residenzstädte des Alten Reichs sollten sie häufig nur ein Bild des status quo der souveränen fürstlichen Herrschaft und ihrer Funktionen zeichnen, doch konnten sie auch – ähnlich wie in Florenz – der komplexen Gemengelage aus alten und neuen Herrschaftsansprüchen bildhaften Ausdruck verleihen und damit – im Sinne der eingangs zitierten Theorie Michel Foucaults – die miteinander konkurrierenden urbanen Zentren präsent halten. Ermöglicht wurde dies nicht nur durch die tradierten ikonographischen oder narrativen Codes der Bildwerke und architektonischen Formen, sondern auch durch die genuine Eigenschaft der Künste, in den unterschiedlichen Modi der geschichtlich geprägten Stilformen (oder anders gesagt: des Stils als geschichtlicher Form) historische Argumentations-

20 Für Dresden hat Harriet Rudolph am Beispiel der Besuche von Kaiser Maximilian II. (1575) und Kaiser Matthias (1617) die symbolträchtige und herrschaftsbestätigende Bedeutung der Wegeführung des Ehrenzuges durch die Stadt aufzeigen können: Harriet Rudolph: »Stadtliche gemeinde und gewohnlich hofflager. Zum Verhältnis zwischen Stadt und Hof bei Herrscherbesuchen in der kursächsischen Residenz Dresden«, in: Paravicini/Wettlaufer: Der Hof und die Stadt, S. 261-280. Siehe dazu auch den Beitrag von Thomas Rahn in diesem Band.

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linien sichtbar werden zu lassen, sofern entsprechend geschulte Auftraggeber und Künstler dieses Mittel bewusst anzuwenden wussten.21

3.1 Der Ausbau Dresdens als Residenzstadt und der Konflikt um das Rathaus auf dem Altmarkt Ein anschauliches und in den letzten Jahren recht gut erforschtes Beispiel hierfür ist Dresden. Es soll im nächsten Kapitel um das Beispiel der deutlich kleineren aber ebenfalls historisch bedeutenden hessischen Residenzstadt Marburg ergänzt werden, die uns abschließend die Verhältnisse einer in ihrer Entwicklung immer wieder gehemmten und daher insgesamt eher typischen deutschen Residenzstadt der beginnenden Frühen Neuzeit vor Augen führen kann.22 Dieses Schicksal drohte prinzipiell auch Dresden. Denn noch bis ins späte 15. Jahrhundert war Dresden zwar eine für das wettinische Fürstenhaus wichtige Grenzstadt Richtung Böhmen, doch als Verwaltungs- und Regierungssitz von nur untergeordneter Bedeutung. Dies sollte sich erstmals nach der Leipziger Teilung von 1485 ändern, als die wettinische Linie der Albertiner Dresden zu ihrer Hauptresidenz auszubauen begann und vor allem das Schloss durch den sächsischen Landbaumeister Arnold von Westfalen erweitert wurde. Forciert wurde dieser Stadtumbau zusätzlich durch einen verheerenden Brand,23 der 1491 fast die Hälfte des Gebäudebestands in Schutt und Asche legte und Herzog Albrecht zu umfangreichen Wiederaufbaumaßnahmen und zur Erlassung einer strengen Bauordnung zwang.24 Unter seinem Sohn und Nachfolger, Her21 Siehe hierzu auch die Beiträge in Norbert Nußbaum/Claudia Euskirchen/Stephan Hoppe (Hg.): Wege zur Renaissance. Beobachtungen zu den Anfängen neuzeitlicher Kunstauffassung im Rheinland und den Nachbargebieten um 1500, Köln 2003; Stephan Hoppe/Matthias Müller/Norbert Nußbaum (Hg.): Stil als Bedeutung in der nordalpinen Renaissance. Wiederentdeckung einer methodischen Nachbarschaft, Regensburg 2008. 22 Neben einer Reihe von Einzelbeiträgen darf vor allem für das 15. und 16. Jahrhundert als grundlegende und derzeit wichtigste Studie gelten die Dissertation von Matthias Meinhardt: Dresden im Wandel. Raum und Bevölkerung der Stadt im Residenzbildungsprozess des 15. und 16. Jahrhunderts (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Band 4), Berlin 2009. 23 Otto Richter: »Von dem Brande Dresdens im Jahre 1491«, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Topographie Dresdens und seiner Umgebung 4 (1883), S. 73- 75. 24 Zum Wortlaut der Bauordnung siehe Bernhard Geyer: Das Stadtbild Alt-Dresdens. Baurecht und Baugestaltung (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wis-

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zog Georg dem Bärtigen, sollte sich dieser Ausbau fortsetzen und Dresden entschlossen zur Hauptresidenz der albertinischen Linie der Wettiner gegen die wettinisch-ernestinischen Residenzstädte Wittenberg und Torgau ausgebaut werden.25 Einen Höhepunkt erlebte dieser Umbau Dresdens zur fürstlichen Residenzstadt dann unter Moritz von Sachsen nach dem Ende des Schmalkaldischen Krieges im Jahr 1547 und der erzwungenen Übertragung der Kurwürde von den ernestinischen Wettinern auf die Albertiner, um schließlich im 18. Jahrhundert unter August dem Starken einen weiteren Höhepunkt zu erleben, der allerdings zugleich auch die Grenzen eines herrschaftlich verordneten Stadtumbaus markierte. Aus der interdisziplinären historischen wie kunsthistorischen Perspektive lässt sich anhand von Dresden sehr gut aufzeigen, in welchem Maße und in welcher Weise die Inbesitznahme einer Stadt als Residenzstadt im Alten Reich zugleich die zeichenhafte Besetzung des Stadtraums mit Bau- und Bildwerken und die mit diesen Medien verbundene Austragung von Konflikten innerhalb des Rechts- und Sozialgefüges einer Residenzstadt bedeutete. Aus der Perspektive der Dresdner Bürgerschaft manifestierte sich die Umwandlung ihrer Stadt zur Residenzstadt am sinnfälligsten in der Stadtbefestigung, im Rathaus, in den Pfarrkirchen und selbstverständlich im Residenzschloss. Wie zuletzt Matthias Meinhardt aufgezeigt hat, besaß die Bürgerschaft von Dresden bis zur Inbesitznahme durch den fürstlichen Landesherrn nicht nur das Befestigungsrecht, sondern die Stadttore Dresdens waren auch mit dem Wappen der Stadt als Hoheitszeichen geschmückt.26 Mit der Residenzwerdung Dresdens nahmen die fürstlichen Landesherrn der Bürgerschaft nicht nur das Befestigungsrecht aus der Hand, um anschließend die Stadtmauern in moderne Militärbollwerke zu verwandeln, sondern sie verboten den städtischen Ratsmitgliedern auch die Anbringung des Stadtwappens, um an seine Stelle die eigene dynastische und landesherrliche Heraldik zu setzen.27 Dass die Bürgerschaft weiterhin einen beträchtlichen Anteil der Bau- und Unterhaltskosten zu

senschaften zu Leipzig, Philolog.-hist. Klasse, Bd. 51, H. 2), Berlin (Ost) 1964, S. 67f.; zur Interpretation und historischen Einordnung siehe ebd., S. 14-17. 25 Meinhardt: Dresden im Wandel, S. 30-114. 26 Eva Papke: »Die befestigte Stadt und ihre Tore«, in: Stadtmuseum Dresden (Hg.), Dresdner Geschichtsbuch, Band 1, Altenburg 1995, S. 23-44, hier S. 24f.; dies.: Festung Dresden. Aus der Geschichte der Dresdner Stadtbefestigung, Dresden 1997, S. 12; Meinhardt: Dresden im Wandel, S. 36. 27 Meinhardt: Dresden im Wandel, S. 39.

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Abb. 11: Der Georgenbau am Dresdener Schloss, Stadt- und Elbseite, 1680 (Ansicht nach Anton Weck) tragen hatte, sei nur am Rande vermerkt.28 Ein besonders nachhaltiger Fall einer fürstlichen Überformung von bis dahin angestammtem städtischem Territorium lässt sich in Dresden beim Elbtor in der Nähe des Schlosses beobachten. Hier, an einer der wichtigsten Verkehrsverbindungen Dresdens zur Elbe und seinem Umland, wollte Herzog Georg der Bärtige ab 1530 Gebäude für die Hofhaltung seiner Söhne errichten und beanspruchte dafür ausgerechnet den Bereich des städtischen Elbtors als Bauplatz.29 Das Ergebnis ist bekannt und brachte eines der schönsten, heute leider jedoch nur noch stark überformt

28 Papke: Die befestigte Stadt, S. 28; dies.: Festung Dresden, S. 22. 29 Papke: Die befestigte Stadt, S. 28.

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Abb. 12: Ansicht Dresdens von Nordosten aus der Vogelperspektive im Jahr 1634, oben: Altstädter Markt mit dem 1707 abgebrochenen Rathaus, Lithographie von F. M. Reibisch (1827) nach einem Gemälde von Andreas Vogel (1634) erhalten gebliebenen frühen Renaissancegebäude im Alten Reich hervor: den sogenannten Georgenbau. (Abb. 11) Herzog Georg ließ das nach ihm benannte Bauwerk nach der Herauslösung des alten Elbtors aus dem Eigentum der Stadt als neues, wesentlich größeres und prächtigeres Torhaus errichten. Dieses ähnelte in seiner Gestalt eher einem kleinen Schloss als einem Torgebäude und sollte ja auch in erster Linie seinen Söhnen als Residenz dienen. Herzog Georg begnügte sich aber nicht mit einer Inbesitznahme und Überbauung des alten städtischen Elbtors, sondern nutzte zugleich die hochaufragende stadt- wie 46

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landseitige Gebäudefassade für die künstlerisch anspruchsvolle Plakatierung der fürstlichen Religionsauffassung in einer Zeit der konfessionellen Spannungen: In seinem dezidiert katholischen Duktus sollte das an den Fassaden angebrachte Bildprogramm die papsttreue Glaubenshaltung und Kaisertreue des albertinischen Herzogshauses allen potentiell lutherisch gesonnenen Bürgern Dresdens mahnend vor Augen stellen. Hierzu hat Heinrich Magirius eine im Wesentlichen bis heute gültige Analyse vorgelegt, weshalb an dieser Stelle auf Details verzichtet werden kann.30 Stattdessen soll das Augenmerk auf ein anderes Dresdner Bauwerk gerichtet werden. Es ist das alte Rathaus auf dem Alten Markt, dessen Existenz und Gestalt bis zu seinem Abbruch im frühen 18. Jahrhundert (1707) den Status und das Selbstverständnis der Dresdner Bürgerschaft neben den Stadtmauern und -toren wohl am stärksten symbolisierte und das es zugleich ermöglicht, den Bogen wieder zurück zum Ausgang meines Beitrags, nach Florenz, zu schlagen. (Abb. 12, 13) Denn im Umgang der im Stadtraum agierenden Parteien mit dem Rathaus manifestieren sich sehr deutlich die politischen Kräfteverhältnisse einer Stadt. Die Ursprünge des einstigen Rathauses auf dem Alten Markt von Dresden reichen bis ins 13. Jahrhundert zurück.31 Seine umfassende Erneuerung im Stil der deutschen Renaissance erfuhr es im 16. Jahrhundert im Zuge der Residenzwerdung Dresdens. Damals erhielt das im Kern noch mittelalterliche Gebäude seine markanten Zwerchgiebel und den Ratserker als repräsentative Zutaten. Im Vergleich mit den Rathäusern anderer kursächsischer Residenzstädte, so etwa Torgau oder Wittenberg (Abb. 14), ist es dennoch erstaunlich, wie konglomerathaft und verbaut, ja geradezu als Stückwerk aus verschiedenen Jahrhunderten das wichtigste Rathaus Dresdens nach außen wirkte. Von daher muss es für den heutigen Betrachter zunächst unverständlich bleiben, dass der Dresdner Rat sich bis ins 18. Jahrhundert hinein standhaft weigerte, sein Rathaus abreißen und an anderem Ort, zunächst am Neumarkt

30 Heinrich Magirius: »Das Georgentor«, in: Das Dresdner Schloß. Monument sächsischer Geschichte und Kultur, Dresden 1989, S. 44-47. 31 Die Baugeschichte des Rathauses findet sich zusammengefasst bei Otto Richter: Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Stadt Dresden, Band 1, Verfassungsgeschichte der Stadt Dresden, Dresden 1885, S. 163ff.; Cornelius Gurlitt: Stadt Dresden (Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen, Heft 23), Dresden 1900-1901, S. 611f. Ein knapper Abriss der Baugeschichte (mit weiteren Hinweisen auf ältere Literatur) findet sich bei Stephan Albrecht: Mittelalterliche Rathäuser in Deutschland. Architektur und Funktion, Darmstadt 2004, S. 167-178 und S. 289.

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Abb. 13: Dresden, ehemaliges Rathaus auf dem Altstädter Markt (1707 abgebrochen), Ansicht des 17. Jahrhunderts

Abb. 14: Das Wittenberger Rathaus, Ansicht von der Marktseite (© Matthias Müller)

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Abb. 15: Anton Weck, Grundriss der Stadt Dresden im Jahr 1529 und schließlich am Westrand des Altmarktes, in neuer, prächtigerer Gestalt wiedererrichten zu lassen.32 (Abb. 15) Dieses Ansinnen trugen seit Moritz alle sächsischen Kurfürsten an den Rat heran, um den Marktplatz für höfische Festlichkeiten zu erweitern. Sie fassten hierzu auch rechtlich bindende Beschlüsse und legten sogar bereits am Neumarkt den Grundstein zum Neubau, wogegen der Rat immer wieder unter Verweis auf die hohen Kosten heftig protestierte. Bis zu August dem Starken hatte die Bürgerschaft damit Erfolg, der sich zum Teil aber auch nur durch den vorzeitigen Tod des jeweiligen Fürsten einstellte. Erst 1707, unter August dem Starken, musste sie sich dem

32 Matthias Meinhardt: »Chancengewinn durch Autonomieverlust. Sächsische und anhaltische Residenzstädte im Spannungsfeld zwischen fürstlichem Gestaltungswillen und politischer Selbstbestimmung«, in: Paravicini/Wettlaufer: Der Hof und die Stadt, S. 37-62, hier S. 54f.; ders.: Dresden im Wandel, S. 74f.; Rudolph: Stadtliche gemeinde, S. 275.

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fürstlichen Willen beugen und konnte den schließlich 1708 erfolgten Abriss des Rathauses nicht länger verhindern. Ein daraufhin verfasstes Lobgedicht auf die Stadt Dresden und ihren königlich-fürstlichen Stadtherrn kann als ein Meisterwerk der damals in Dresden und an dessen Hof gepflegten bürgerlichen Panegyrik gelten.33 Ziel dieses Lobgedichts war aber nicht so sehr die Verherrlichung Augusts des Starken als vielmehr die untertänig vorgetragene Erwartung eines prächtigen, vom Fürsten großzügig unterstützten Rathausneubaus. Das Lobgedicht, das sich in devoter und zugleich listiger Zurückhaltung formal an die königlich-fürstliche Residenzstadt Dresden und nicht an den königlich-fürstlichen Stadtherrn wendet, beginnt mit der emphatischen Verklärung des unvermeidlichen Abrisses des alten Rathauses, aus dessen Asche sich der Neubau umso glänzender erheben soll: »Las mit dem alten Jahr’/ den alten Bau zergehn! Dein großer Friederich/ den man Augustum nenn’t/ und dessen hohen Muth/ die gantze Welt schon kennt/ wird seine Königs-Hult auch hierbey lassen blicken/ und deinen Raths-Pallast magnificé beglüken«34.

Dieser Neubau, so die im Lobpreis weiter formulierte bürgerliche Hoffnung, solle dem berühmten Rathaus von Amsterdam ebenbürtig sein (»Las gleich dort Amsterdam mit seinem Stadt-Hauß prangen«), dass doch nur einer Handelsstadt als Verwaltungssitz diene (»es hat doch nur ein Volck von Handlung angefangen«), während Dresden immerhin die Stadt eines Königs sei (»Du bist die Königs-Stadt«). Wenn die Transkribierung der Namensinitialen korrekt vorgenommen wurde, war der Verfasser (»J. C. Kn.«) dieser hoffnungsvoll formulierten Zeilen möglicherweise sogar Johann Christoph Knöffel, der spä-

33 Zur Panegyrik in Dresden zur Zeit Augusts des Starken siehe Kerstin Heldt: Der vollkommene Regent. Studien zur panegyrischen Casuallyrik am Beispiel des Dresdner Hofes Augusts des Starken, Tübingen 1997. 34 Stadtarchiv Dresden, J. C. Kn.: »Als beym Ausgange des Alten und Eintritt des Neuen Jahres M. DCC. VIII. auf Koenigl. Maj. und Churfl. Durchl. zu Sachsen hohe Verordnung, das alte Rath-Hauß in Neu-Dreßden translociret ward, wollte dessen Neuen Baus glueckwuenschend beehren J. C. Kn. [1708]«. Zit. n. Stefan Hertzig: Das Dresdner Bürgerhaus in der Zeit Augusts des Starken. Zu Entstehung und Wesen des Dresdner Barock, Dresden 2001, S. 276f. (dieses und die folgenden Zitate).

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tere Architekt des Rathausneubaus, der sich mit seinem Gedicht gleich selbst für die Bauaufgabe empfohlen hätte.35 Dass die Hoffnung auf einen prächtigen Rathausneubau zunächst enttäuscht wurde und der städtische Rat noch nahezu 40 (!) Jahre in verschiedenen Provisorien ausharren musste, bevor er schließlich 1746 in den von Johann Christoph Knöffel am Westrand des Altmarktes in den Grundmauern bestehender Bürgerhäuser errichteten Neubau einziehen konnte,36 hat Dresdens Bürgerschaft damals vermutlich nicht ahnen können. Wenn also die Sorge, nach einem Abriss des alten Rathauses für Jahrzehnte mit Provisorien vorlieb nehmen zu müssen, daher als Ursache für die hartnäckige Weigerung des Rates, sein altes Rathaus auf dem Altmarkt aufzugeben, ausgeschlossen werden kann, welche Gründe – außer den immer wieder angeführten in diesem Fall aber wenig stichhaltigen Kosten – hatte der bürgerliche Rat dann für seinen immerhin 150 Jahre andauernden Widerstand? Matthias Meinhardt sieht die weniger zentrale Lage des an den Rand des Altmarktes gerückten Rathausneubaus und die damit einhergehende Zurückdrängung städtischer Präsenz als Hauptmotiv.37 Harriet Rudolph argumentiert ähnlich, doch verweist sie auf ein weiteres Motiv, dass die Gefahr einer bürgerlichen Verdrängung aus dem Zentrum der Residenzstadt konkreter werden lässt: Bei feierlichen Einzügen von hochrangigen fürstlichen, königlichen oder gar kaiserlichen Gästen führte die vom kursächsischen Hof festgelegte Route die Gäste auch über den Altmarkt, wo die Dresdner Bürgerschaft »sehr schön gebutzt / zusammen in einer Schlachtordnung«38 stand und den Ehrengästen ihre Aufwartung machte, so etwa beim Einzug Kaiser Maximilians II. 1575 oder beim Einzug von Kaiser Matthias 1617. Doch diese Präsenz wäre der Bürgerschaft Dresdens auch vor der Fassade des geplanten Rathausneubaus möglich gewesen, der lediglich aus dem Platzraum des Altmarktes, dessen Fläche das alte Rathaus teilweise ein-

35 Die Transkription der Namensinitialen konnte nicht selbst überprüft werden, sondern folgt der Literatur (zuletzt Hertzig: Das Dresdner Bürgerhaus, S. 276f.). Dort ließ sich weder eine Auflösung der Initialen des Verfassers noch eine Diskussion der inhaltlichen Implikationen seines Lobgedichtes finden. Wenn es sich jedoch bei dem „C“ in Wirklichkeit um ein „G“ handeln sollte, ließen sich die Initialen als Johann Georg Knoblauch auflösen und damit einem der bedeutendsten Autoren panegyrischer Dichtung im damaligen Dresden zuordnen. 36 Zum Neubau siehe Fritz Löffler: Das alte Dresden. Geschichte seiner Bauten, 7. Aufl., Leipzig 1984 (1. Aufl. Dresden 1955), S. 280f. 37 Vgl. Meinhardt: Chancengewinn; Meinhardt: Dresden im Wandel, S. 75. 38 Rudolph: Stadtliche gemeinde, S. 275.

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nahm, an den Rand in die umgebenden Häuserzeilen gerückt worden wäre, wie dann nach 1707 auch geschehen. Vermutlich liegt genau hier das eigentliche Motiv für den anhaltenden Widerstand der Bürgerschaft: Die Aufgabe des alten, herausgehobenen Standortes des Rathauses und der Umzug in ein neues, in die Häuserflucht des Altmarktes eingegliedertes Rathaus hätten am zentralen Ort der Stadt die Unterordnung der städtischen Regierung unter das fürstliche Regiment und den Verlust ihrer alten Privilegien sichtbar werden lassen. Neben dem exponierten Standort des alten Rathauses auf dem Marktplatz gelangten diese alten Privilegien und die Jahrhunderte alte Existenz der städtischen Selbstverwaltung zudem – ähnlich wie in Florenz – in der altertümlichen, konglomerathaften Baugestalt des bestehenden Rathauses zum Ausdruck. Vermutlich aus diesem Grund aber auch aus Gründen einer anspruchsvolleren höfischen Repräsentationskultur, für die das alte Dresdner Rathaus nicht »fürstlich« genug erscheinen musste und zudem einem größeren, prachtvolleren Festplatz im Wege stand, wollten wiederum die fürstlichen Stadtherren den Rathausbau gerne dem Erdboden gleich machen. Anders als das alte Rathaus von Florenz, das Cosimo I. de’ Medici sogar zum neuen Herzogssitz erhob, besaß das alte Dresdner Rathaus für die sächsischen Kurfürsten keinen zu funktionalisierenden politisch-ideellen Wert, weshalb es auch nicht bewahrenswert erschien.

3.2 Die architektonische Markierung des Stadtbilds als Manifestation fürstlicher Herrschaft im städtischen Raum: die landgräflich-hessische Residenzstadt Marburg Wie groß andererseits der Wert eines Rathauses für die Machtdemonstration einer frühneuzeitlichen deutschen Territorialherrschaft und ihrer Autorität im städtischen Raum sein konnte, belegen nicht nur die Beispiele anderer kursächsischer Residenzstädte (wie Torgau oder Freiberg),39 sondern auch das Beispiel der einstigen landgräflich-hessischen Residenzstadt Marburg. Da diese Stadt in ihrer residenzstädtischen Topographie sehr gut erhalten ist und zugleich ein hervorragendes, von der Residenzforschung jedoch insgesamt noch viel zu wenig beachtetes Beispiel für die Verhältnisse einer durchschnitt39 Siehe Matthias Müller: »Ihr wollet solche Gebäude fürstlichst ins Werk richten! Das Rathaus der Residenzstadt als Repräsentationsbau des Fürsten«, in: Paravicini/Wettlaufer: Der Hof und die Stadt, S. 281-295; ders.: Kunst als Medium.

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lichen fürstlichen Residenzstadt zu Beginn der Frühen Neuzeit verkörpert, soll Marburg den Abschluss dieser kleinen Fallstudie bilden.40 Mit dem gegenüber Florenz und Dresden deutlich kleineren Marburg, das seine Residenzfunktion überdies bereits im frühen 17. Jahrhundert endgültig an Kassel abtreten musste, kehren wir zugleich wieder zur Ausgangsfrage dieses Beitrags zurück, die nach der sichtbaren Präsenz fürstlicher Herrschaft im städtischen Raum unabhängig von der physischen Anwesenheit des Fürsten fragte und in diesem Zusammenhang den Stadtraum der Frühen Neuzeit als Ort bzw. Orte thematisierte, die systematisch mit architektonischen und bildhaften Zeichen eines ad personam nicht immer präsenten da häufig auf Reisen befindlichen fürstlichen Stadtherrn markiert oder aber auch – bei vorhandenen älteren Strukturen – überschrieben werden konnten. Um diese mittels Architektur und bildhafte Elemente erreichte Markierung des oftmals in kleinere Teilräume unterteilten Stadtraums einer landesherrlichen Residenz analytisch erfassen und beschreiben zu können, bietet sich zur Orientierung der wegweisende Versuch von Kilian Heck für das kleine freigräfliche Büdingen an.41 In einer systematischen Beschreibung der Straßenzüge, Plätze, Blickachsen (mit ihren Korrespondenzen zwischen städtischer und freigräflicher Repräsentationsarchitektur) sowie der Besetzung des Stadtraums mit wichtigen Repräsentations- und Versammlungsgebäuden (darunter Rathaus und Kirche) und einer Fülle von heraldischen Zeichen gelang es Heck das feingesponnene, sich über die ganze Stadt Büdingen erstreckende Netz an stadtherrlicher bzw. dynastischer Präsenz anschaulich herauszuarbeiten. In Marburg, das mit Unterbrechungen bis 1604 als Residenzstadt diente, wurde während der beiden letzten Residenzphasen des 16. bis frühen 17. Jahrhunderts unter Philipp dem Großmütigen und Ludwig IV. das mittelalterliche Stadtbild mit einer Reihe von größeren und kleineren Prachtgebäuden durchsetzt. (Abb. 16) Unter Ludwig IV. zeichnete für deren architektonische Gestalt der landgräfliche Hofbaumeister Eberdt Bald[e]wein verantwortlich, 42 der vor allem

40 Für die Residenzstadtfunktion Marburgs im 15. Jahrhundert liegt jetzt immerhin eine grundlegende Untersuchung vor von Anke Stösser: Marburg im ausgehenden Mittelalter. Stadt und Schloss, Hauptort und Residenz (Schriften des Hessischen Landesamtes für geschichtliche Landeskunde, Band 41), Marburg 2011. 41 Kilian Heck: Genealogie als Monument und Argument. Der Beitrag dynastischer Wappen zur politischen Raumbildung der Neuzeit, München 2002, S. 85-132. 42 Zu Baldwein (bzw. Baldewein) siehe immer noch grundlegend die Dissertation von Susanne Voigt: Eberdt Baldwein, der Baumeister Landgraf Ludwig IV. von Hessen-Marburg (1567-1592), Marburg 1939.

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Abb. 16: Marburg, Ansicht von Süden mit Schloss, Pfarrkirche, Neuer Kanzlei (mittlere Bildhälfte rechts) und Rathaus (ganz rechts unten) durch die von ihm verwendete Form der italianisierenden, mit Pilastern und Voluten geschmückten Monumentalgiebel bereits aus der Ferne jedem Besucher nicht nur die Magnifizenz, sondern auch die Funktionalität einer fürstlichen Residenzstadt signalisierte.43 Besonders im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts, unter Ludwig IV., wurden mit der Rentkammer unterhalb der Schlosskapelle (1572), der Neuen Kanzlei zwischen Schloss und Stadt (15731577) (Abb. 17), dem fürstlichen Treppenhaus am Chor der Pfarrkirche, dem neuen, mit Uhrwerk und Figurenspiel geschmückten Turmgiebel des Rathauses (1581/82) (vgl. unten Abb. 19) sowie der an der Lahn zu Füßen der Universität gelegenen sog. Herrenmühle (1582/83) fünf Gebäude errichtet, die nicht nur ihre besonderen administrativen, sakralen und ökonomischen Funktionen auszeichneten, sondern die auch durch die charakteristische Form ihrer renaissancezeitlichen Prachtgiebel aus dem insgesamt bescheidenen Marburger 43 G. Ulrich Großmann: Der Schlossbau in Hessen 1530-1630, Marburg 1979, hat in seiner Dissertation vor allem für die renaissancezeitlichen, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts im Bereich der hessischen Landgrafschaft entstandenen Giebelarchitekturen den Begriff der »Landgrafengiebel« (ebd., S. 66) geprägt; siehe auch ders.: Renaissancesschlösser in Hessen. Architektur zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg, Regensburg 2010, S. 181-183.

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Abb. 17: Die Neue Kanzlei in Marburg (rechts das Schloss) (© Bildarchiv Foto Marburg) Stadtbild herausragten.44 Zusammen mit dem hoch über der Stadt thronenden und diese geradezu beherrschenden Residenzschloss bildeten diese stilistisch auffälligen, gewissermaßen landgräflichen Architekturen ein regelrechtes Korsett fürstlicher Repräsentationsarchitektur, in das die bürgerliche Wohnbebauung Marburgs konsequent eingebunden wurde, was zeitgenössischen Betrachtern auf den ersten Blick die Herrschaftsverhältnisse verdeutlichte. In Marburg war auf diese Weise der von Michel Foucault in Erinnerung gerufene und zu Beginn dieses Beitrags thematisierte mehrteilige, komplexe Stadtraum, der aus konkurrierenden urbanen Zentren und gesellschaftlichen Gruppen besteht,45 im Medium der fürstlichen Architektur gewissermaßen harmonisiert und das äußere Stadtbild zu einer integrativen Gesamtform vereinheitlicht worden, die durchaus im Sinne von Dürers Idealstadtentwurf für einen König46 als Konkretisierung eines übergreifenden, ideellen Konzepts 44 Siehe hierzu auch Großmann: Renaissanceschlösser, S. 116-118. 45 Siehe Anm. 2. 46 Siehe Anm. 3.

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verstanden werden kann. Anders als bei Dürer, der seine auch geometrisch idealisierte Idealstadt ohne Rücksicht auf bestehende städtische Strukturen planen konnte, ist in Marburg dieses ideelle Konzept einer alles umfassenden und auch umsorgenden Fürstenherrschaft wie ein auf der Metaebene angesiedeltes Koordinatensystem in die vorhandene kleinteilige Stadtgestalt eingeschrieben worden. Trotz dieser Tendenz zur Zusammenbindung der verschiedenen, den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zugehörigen städtischen Bereiche durch die übergreifende architektonische Geste fürstlicher Magnifizenz gibt es einen klar erkennbaren Fokus und Adressaten der fürstlichen Baupolitik. Denn das aus den fürstlichen Repräsentationsarchitekturen bestehende Koordinatensystem bezieht sich in Marburg zunächst auf die Bereiche und Orte der städtischen Ober- und Führungsschicht, d.h. der Patrizier und Burgmannen, die sich seit dem 13. Jahrhundert im Bereich der Pfarrkirche und des Marktplatzes ihre Wohn-, Wirtschafts- und Verwaltungsbauten errichtet hatten.47 Erst in einem weiteren Schritt, der bereits die Fernwirkung der vor allem im 16. Jahrhundert neu errichteten landgräflichen Repräsentations- und Funktionsbauten mitberücksichtigt, werden auch die an den Rändern oder gar außerhalb der befestigten Stadt liegenden Orte der Handwerker bzw. der gesellschaftlich niederen Einwohnerschaft in das übergreifende Koordinatensystem eingebunden. Wie ein Mahnmal gegenüber einem denkbaren bürgerlichen Aufbegehren muss in diesem Stadtbild der noch aus dem 15. Jahrhundert stammende und kurz vor 1447 begonnene Turm der Pfarrkirche (Abb. 18) gewirkt haben, dessen Turmspitze bis heute aus einem provisorischen Holzaufbau besteht, der sich im Wind und Wetter der Jahrhunderte überdies zu einer zwar originellen jedoch architektonisch wenig würdevollen schiefen Pyramide verzogen hat.48 Dieses Provisorium wurde 1473 auf den bereits fertiggestellten Unterbau für einen geplanten und bereits baulich vorbereiteten repräsentativen steinernen Turmabschluss gesetzt und lässt sich überzeugend bislang nur aus der politischen und ökonomischen Situation Marburgs in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts verstehen, an die selbst einhundert Jahre später noch der unvollendet gebliebene Turmhelm der Pfarrkirche erinnerte. Die Erinnerung bezog

47 Stösser: Marburg im ausgehenden Mittelalter, S. 45-50 und S. 76-83. 48 Zum Turm siehe ausführlich Matthias Müller: Die Marburger Pfarrkirche St. Marien. Eine Stadtkirche und ihre Architektur als Ort politischer Auseinandersetzungen (Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur, Band 34), Marburg 1991 (2. unveränderte Aufl. Marburg 1993), S. 112-127.

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Abb. 18: Die Marburger Pfarrkirche, Ansicht vom Schloss aus nach Süden sich auf einen für die politische und soziale Stabilität Marburgs heiklen Konflikt, der nach dem Tod Landgraf Ludwigs I. von Hessen am 17. Januar 1458 ausgebrochen war und zu langwierigen Erbstreitigkeiten und Teilungsverhandlungen zwischen seinen beiden Söhnen Ludwig II. und Heinrich III. geführt hatte. Das dadurch in Marburg entstehende Machtvakuum versuchten die einflussreichen Patrizierfamilien durchaus erfolgreich für den Ausbau ihrer eigenen innerstädtischen Machtposition zu nutzen. In genau dieser Zeit wurde auch der Pfarrkirchenturm in seinen oberen Partien hochgemauert, wobei auffällt, dass sich im Mauerwerk so gut wie keine Fenster befinden. Angesichts der für die Stadt strategisch günstigen Lage direkt unterhalb des Schlossareals drängt sich der Eindruck auf, dass die Bürgerschaft den Pfarrkirchenturm nach dem Tod Landgraf Ludwigs I. und den sich daran anschließenden Machtstreitigkeiten zwischen seinen Söhnen auch als städtischen Wehrbau auszubauen gedachte,49 so wie es wenige Jahrzehnte zuvor, am 21. Dezember 1403, im nördlich

49 Diese Vermutung äußerte auch bereits Dieter Großmann: »Bau- und Kunstgeschichte der Stadt Marburg. Ein Überblick«, in: Erhart Dettmering/Rudolf Grenz

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von Frankfurt am Main gelegenen Friedberg die Burgmannen der dortigen Reichsburg in einem Beschwerdebrief den Bürgern der Stadt unterstellten.50 Angesichts des wehrhaften Neubaus der zwei Stadtkirchentürme (in der Quelle ist von einem »burgerliche buwe« die Rede) mit ihrem sichtbaren Bedrohungspotential gegenüber der nahegelegenen Reichsburg legten die Burgmannen beim König selbst Widerspruch ein und erwirkten – mehr als sechs Jahre später – in einem Schiedsspruch vom 22. Januar 1410, dass die Kirchtürme eine bestimmte Höhe nicht überschreiten und zudem nur mit »notturftig holzwerk« statt eines steinernen Helmes zum Schutz der Glocken abgedeckt werden durften. Wörtlich heißt es abschließend: »[…] und sollent keine werlichkeid mit erkern oder anders daran machen, sie dun es dann mit wißen und willen der sehs burgmanne«51. Dass die Sorgen der Friedberger Burgmannen nicht unberechtigt waren, zeigt ein Seitenblick auf Kassel, der anderen wichtigen Residenzstadt des oberhessischen Territoriums der hessischen Landgrafschaft. Dort hatten wenige Jahrzehnte zuvor, 1378, die Bürger in einem Konflikt mit Landgraf Hermann II., bei dem es um die Aufrechterhaltung der städtischen Selbstverwaltung und die vom fürstlichen Stadtherrn auferlegten Steuerlasten ging, am Ende sogar die landgräfliche Burg gestürmt, um ihre Forderungen durchzusetzen.52 Ob es in Marburg eines expliziten Einspruchs des damals regierenden Landgrafen Heinrichs III. bedurft hat, um die zweifelsohne vorhandenen wehrhaften Qualitäten des Pfarrkirchenturms einzuschränken oder einfach nur die – in der Forschung unterschiedlich bewertete53 – wirtschaftliche Situation

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(Hg.), Marburger Geschichte. Rückblick auf die Stadtgeschichte in Einzelbeiträgen, Marburg 1980, S. 775-880, hier S. 801. Urkundenbuch der Stadt Friedberg, Band 1, 1216-1410, bearb. von Max Foltz (Veröffentlichung der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck, Band 3,1), Marburg 1904, S. 525, Nr. 792. Der vollständige Schiedsspruch findet sich ebd., S. 574ff., Nr. 840. Friedrich Nebelthau: »Die hessische Congeries«, in: Zeitschrift für hessische Geschichte 7 (1858), S. 309-394, hier S. 329. Siehe auch die aktuelle Bewertung des Vorgangs bei Stösser: Marburg im ausgehenden Mittelalter, S. 64. Während Franz-Josef Verscharen: Gesellschaft und Verfassung der Stadt Marburg beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit (Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur, Band 19), Marburg 1985, S. 42f., S. 134, für Marburg aufgrund der Preisentwicklungen in der Landwirtschaft von einer schweren wirtschaftlichen Krise in den 1460er und 1470er Jahren ausgeht, stellt Stösser: Marburg im ausgehenden Mittelalter, eine solche Krise unter Verweis auf die wirtschaftliche Ertragskraft Marburgs durch ihre Residenzstadtfunktion infrage und bezeichnet sie als »eine Imagination der Geschichtswissenschaft« (ebd., S. 97).

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der Stadt seit den 1470er Jahren eine Vollendung des Turms mit hoch aufragendem steinernen Glockengeschoss verhinderte, muss nach derzeitigem Quellenstand offen bleiben. Wie differenziert eine Bewertung der Vorgänge erfolgen muss, belegt die Tatsache, dass auch Landgraf Heinrich III. den Bau des Pfarrkirchenturms förderte und Bauholz zur Verfügung stellte.54 Möglicherweise bezieht sich diese landgräfliche Holzlieferung aber auf die Errichtung des provisorischen, hölzernen Turmabschlusses, durch den der Pfarrkirchenturm gegen 1473 wie die wehrhaften Friedberger Stadtkirchentürme ebenfalls nur ein »notturftig holzwerk« als militärisch unbedenklichen Abschluss erhielt. Mit dieser erkennbar provisorischen, hölzernen Turmhaube, die sich optisch noch dazu gegenüber der mächtigen Kulisse des über der Pfarrkirche thronenden Marburger Schlosses behaupten musste (vgl. Abb. 16), war im Marburger Stadtbild ein Erinnerungszeichen geschaffen worden, das seine politische Zeichenhaftigkeit im Sinne einer starken fürstlichen Herrschaft letztlich ganz unabhängig von den maßgeblichen historischen Ursachen entfalten konnte, die für den unvollendeten Pfarrkirchenturm verantwortlich waren. Diese Zeichenhaftigkeit im Sinne der von Martin Warnke definierten »politischen Ikonographie« wurde zudem durch Baumaßnahmen im Bereich des Marburger Schlosses verstärkt, die um 1475 unter Heinrich III. zunächst für eine Aufstockung des zur Stadt hin gewandten Südflügels und darauffolgend 1493/97 unter Landgraf Wilhelm III., einem Sohn Heinrichs III., an der Südostecke des Schlossareals für die Neuerrichtung eines kompletten Schlossflügels, des sogenannten Wilhelmbaus, sorgten.55 (vgl. Abb. 16) Dies gilt erst recht für die Zeit des städtischen Ausbaus unter Landgraf Ludwig IV. im ausgehenden 16. Jahrhundert. Denn im Zuge dieser Baukampagne wurde – wie bereits beschrieben – vor allem mit der fürstlichen Rentkammer unterhalb der Schlosskapelle, der Neuen Kanzlei zwischen Schloss und Stadt (vgl. Abb. 17) Stösser erkennt zwar im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts für das in Marburg wichtige Wollweber- und Tuchmacherhandwerk Krisensymptome, da die Nachfrage nach entsprechenden Produkten nachlässt, nicht jedoch für die von einer vielfältigen Warennachfrage bestimmte Marburger Gesamtwirtschaft, für die die Residenzfunktion weiterhin konjunkturbestimmend blieb (ebd., S. 91-97). 54 Wilhelm Bücking: Geschichte und Beschreibung der lutherischen Pfarrkirche, der Pfarrkirche »Unseren lieben Frauen St. Marien« in Marburg. Zur Erinnerung an deren 600jährige Jubelfeier am 2. Mai 1897, Marburg 1899, S. 7; Stösser: Marburg im ausgehenden Mittelalter, S. 109. 55 Zu diesen und weiteren, insgesamt umfangreichen Baumaßnahmen im Bereich des Marburger Schlosses im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts siehe Stösser: Marburg im ausgehenden Mittelalter, S. 124-131.

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Abb. 19: Das Marburger Rathaus, Ansicht von der Marktseite sowie mit dem monumentalen fürstlichen Treppenhaus am Chor der Pfarrkirche das Erscheinungsbild der landgräflichen Residenzstadt im unmittelbaren Umfeld der Pfarrkirche mit anspruchsvollen renaissancezeitlichen und sehr repräsentativen fürstlichen Architekturformen besetzt, in deren Kontext die architektonische Ärmlichkeit des in städtischer Verwaltung befindlichen und

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Die Inbesitznahme und Transformation des Stadtraums durch den Fürsten

Abb. 20: Wappenstein am Treppenturm, Marburger Rathaus nur provisorisch mit Holz abgedeckten Pfarrkirchenturms umso mehr ins Auge fallen musste. Die im Marburger Stadtbild architektonisch formulierte Botschaft unumschränkter fürstlicher Souveränität konnte die Bürgerschaft schließlich in geradezu pointierter Form am Rathaus über dem Portal des Treppenturms verbildlicht sehen. (Abb. 19) Dort wurde 1524 unter der Regentschaft Landgraf Philipps des Großmütigen anlässlich der Fertigstellung des 1512/13 begonnenen Rathauses ein prachtvoller, vom Marburger Bildhauer Ludwig Juppe gefertigter Wappenstein eingefügt, der ein denkwürdiges Motiv zeigt.56 (Abb. 20) Im vornehmen, netzrippengewölbten Obergeschoss eines querschnittartig wiedergegebenen Gebäudes thront – mit bekröntem Haupt – die Hl. Elisabeth als Ahnfrau des hessischen Landgrafenhauses und »Hauptfrau des Landes Hessen« und präsentiert in dieser Funktion das hessische Landeswappen auf quadriertem Schild und ein Modell der Elisabethkirche, dem Ort des Grabes der Hl. Elisabeth und der dynastischen Grablege des hessischen Landgrafenhauses. Für die Repräsentanz der bürgerlichen Stadt verbleibt hingegen nur das darun56 Siehe: Zur Baugeschichte des Marburger Rathauses (Marburger Schriften zur Bauforschung, Heft 2), Marburg 1984, sowie Elmar Altwasser: »Das Rathaus – neue Ergebnisse zur Baugeschichte«, in: Der Marburger Markt. 800 Jahre Geschichte über und unter dem Pflaster (Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur, Band 59), Marburg 1997, S. 181-191; Zum Wappenstein siehe Friedrich Gorissen: Ludwig Jupan von Marburg, Düsseldorf 1969, S. 146f.

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terliegende Kellergeschoss, unter dessen einfach gestaltetem Tonnengewölbe sich der Löwe mit den Marburger Stadtwappen sprichwörtlich kauern muss. Selbst wenn die im vornehmen Obergeschoss thronende Hl. Elisabeth auch die Stadt und Land vereinende hessische Landesmutter versinnbildlicht,57 so dominiert in der bildlichen Darstellungsform, die die Gestalt Elisabeths mit den heraldischen Insignien Landgraf Philipps des Großmütigen verbindet, doch unübersehbar das Moment fürstlicher Präsenz im städtischen Raum. Die Anbringung dieses heraldischen Bildwerks am Marburger Rathaus war nicht nur von allgemeiner programmatischer Aussagekraft, sondern besaß zudem einen konkreten politischen Anlass. Denn die Fertigstellung des Rathauses und die Anbringung des Wappensteins signalisierten auch die erfolgreiche Überwindung einer politischen Krise, die die hessische Landgrafschaft und ihre Städte nach dem Tod Wilhelms III. und Wilhelms II. und des drohenden Erbfalls an die sächsischen Wettiner in ein erneutes Machtvakuum gestürzt hatten. Nur dem resoluten Handeln der jungen Witwe Wilhelms II., Anna von Mecklenburg, die für ihren minderjährigen Sohn Philipp – dem späteren Philipp dem Großmütigen – das Erbe zu verteidigen versuchte, ist es zu verdanken, dass nach jahrelangem Kräftemessen der Konfliktparteien schließlich 1518 der immer noch minderjährige Philipp mit dem Einverständnis des Kaisers für volljährig erklärt wurde und dadurch rechtmäßig die Regentschaft in der hessischen Landgrafschaft und ihren Städten antreten konnte.58 Erst jetzt aber bot sich auch für die Bürger Marburgs die Möglichkeit, das 1512 während der politischen Krise und den daraus resultierenden innerstädtischen Auseinandersetzungen begonnene und dann im Rohbau liegengebliebene Rathaus

57 Gorissen: Ludwig Jupan, S. 147. 58 Zu diesen für Hessen und Marburg existentiellen politischen Vorgängen siehe Historischer Verein für das Großherzogtum Hessen (Hg.): Philipp der Großmütige, Marburg 1904; Karl E. Demandt: Geschichte des Landes Hessen, Kassel 1959 (2. Aufl. 1980), S. 175; John C. Stalnaker: »Residenzstadt und Reformation. Religiöser, politischer und sozialer Wandel in Hessen 1509-1546«, in: Dettmering/Grenz: Marburger Geschichte, S. 297-322; Pauline Puppel: »›Das kint ist mein und gehet mir zu hertzen‹. Die Mutter: Landgräfin Anna von Hessen, Herzogin von Mecklenburg«, in: Heide Wunder/Christina Vanja/Berthold Hinz (Hg.), Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen und seine Residenz Kassel. Ergebnisse des interdisziplinären Symposiums der Universität Kassel zum 500. Geburtstag des Landgrafen Philipp von Hessen (17.-18. Juni 2004) (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, Band 24,8), Marburg 2004, S. 45-56.

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mit dem Einverständnis des neuen hessischen Landgrafen Philipp fertigzustellen.59 Wurde schon dadurch das neue Marburger Rathaus zum Sinnbild eines durch die Autorität des fürstlichen Stadtherrn wiedererlangten innerstädtischen Friedens und innerstädtischer Stabilität, so unterstrich die politische Ikonographie der Rathausarchitektur, deren Bautypus überdies unverkennbar den Typus des fürstlichen Hauses bzw. einflügeligen Schlossgebäudes zitiert, zusätzlich der 1524 unter Landgraf Philipp über dem Portal des Treppenturms angebrachte Wappenstein. Die in ihm durch die Figur der Hl. Elisabeth und das Wappen Landgraf Philipps zum Ausdruck gebrachte Dominanz des fürstlichen Regiments in der Stadt besaß ihr realpolitisches Fundament in einer neuen Stadtverfassung, die nur ein Jahr zuvor, 1523, von Landgraf Philipp mit dem Ziel der innerstädtischen Befriedung erlassen worden war.60 Diese neue Verfassung ordnete in einer bis dahin nicht vorhandenen Deutlichkeit an, dass ohne die Zustimmung des Landgrafen keines der wichtigen städtischen Ämter besetzt werden durfte.61 Mit der auf dem Wappenstein ins Bild gesetzten Superposition des Fürsten über die Stadt war in Marburg die machtpolitische Essenz der neuen städtischen Verfassung in eine selbstredende Ikonographie umgesetzt worden, die ihre politische Botschaft mitten im Stadtzentrum an jenem Gebäude verkündete, in dem der Stadtrat diese Verfassung auch zu exekutieren hatte. Ludwig Juppes Wappenstein am Rathaustreppenturm bezeichnet das Marburger Rathaus damit endgültig als Verwaltungssitz einer vom Fürsten abhängigen Stadtregierung.

59 Siehe hierzu: Zur Baugeschichte des Marburger Rathauses, sowie Altwasser: Das Rathaus. Zum historisch-politischen Kontext des Rathausbaus und seiner verspäteten Fertigstellung siehe auch die zusammenfassende Darstellung von Erhart Dettmering: Kleine Marburger Stadtgeschichte, Regensburg 2007, S. 47-51. Bereits der Baubeginn im Jahr 1512 war nur möglich gewesen, nachdem die nach dem Tod Landgraf Wilhelms II. amtierende landesherrliche Regentschaftsregierung ausdrücklich ihre Zustimmung erteilt und am 19. September 1511 den Bauplatz besichtigt hatte. Altwasser: Das Rathaus, S. 181. 60 Der Wortlaut in Friedrich Küch (Hg.): Quellen zur Rechtsgeschichte der Stadt Marburg, Band 2 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck, Band XIII), Marburg 1931, Nr. 202. 61 Siehe hierzu auch Stalnaker: Residenzstadt, S. 309.

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Die Villa Poggio Imperiale in Florenz als Schwellenraum ILARIA HOPPE

Gegenstand meiner Untersuchung ist die Villa Poggio Imperiale in Florenz, die zwischen 1621 und 1624 im Auftrag von Erzherzogin Maria Magdalena von Österreich ausgebaut und umgestaltet wurde.1 Ihr Gemahl Cosimo II. de’ Medici, Großherzog der Toskana, war 1621 frühzeitig verstorben. Gemeinsam mit ihrer Schwiegermutter Großherzogin Christina von Lothringen und einem vierköpfigen Rat hatte Maria Magdalena die Vormundschaftsregierung für ihren Sohn übernommen, den noch minderjährigen Ferdinando II. de’ Medici.2 Wie ich im Folgenden zeigen möchte, diente die Villa Poggio Imperiale als Hand-

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Vgl. Ilaria Hoppe: Die Räume der Regentin. Die Villa Poggio Imperiale zu Florenz, Berlin 2012. Zu Regentschaft und Biographie Maria Magdalenas vgl. Riguccio Galluzzi: Istoria del Granducato di Toscana sotto il governo della Casa Medici, a Sua Altezza Reale il Serenissimo Pietro Leopoldo Principe Reale d’Ungheria e di Boemia, Arciduca d’Austria, Granduca di Toscana, 3 Bände, Band 3, Florenz 1781, S. 394; Diaz, Furio: Il Granducato di Toscana. I Medici (= Storia d’Italia, Band 13/1), Turin 1976, S. 366; Gateano Pieraccini: La stirpe Medici di Caffagiolo. Saggio di ricerche sulla trasmissione ereditaria dei caratteri biologici, 3 Bände, Band 2, Florenz 1925 (Neuausgabe 1986), S. 345; Estella Galasso Calderara: La Granduchessa Maria Maddalena d’Austria. Un’amazzone tedesca nella Firenze medicea del ‘600, Genua 1985, S. 93; Suzanne G. Cusick: Francesca Caccini at the Medici Court. Music and the Circulation of Power (= Women in Culture and Society), Chicago/London 2009, S. 193, Nr. 9; V. Arrighi: »Maria Maddalena d’Austria«, in: Alberto M. Ghisalberti/Mario Caravale (Hg.), Dizionario biografico degli Italiani, Band LXX, Rom 2007, S. 260-264; Hoppe: Räume, S. 27-34.

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lungsraum in dieser ungewöhnlichen Situation, die mit der Volljährigkeit des Thronfolgers 1628 offiziell endete. Weibliche Regentschaften kamen im Ancien Régime durchaus häufig vor, waren jedoch umstritten und basierten in der Regel auf einer situativen Auslegung des Gewohnheitsrechtes.3 In Florenz war wohl zuerst der Bruder des verstorbenen Großherzogs Kardinal Carlo de’ Medici für die Vormundschaft vorgesehen, womit er jedoch die Thronfolge hätte gefährden können.4 Es ist also auch von einem machtpolitischen Selbstbewusstsein der beiden Frauen auszugehen, die Regierung nicht aus der Hand zu geben. In welcher Form Maria Magdalena ihre besondere Rolle als Mutter des Thronfolgers formulierte, soll im Folgenden gezeigt werden.

Zur Schwelle Die Figur der Schwelle bietet sich an, um die Gestaltung der Villa Poggio Imperiale in dieser Übergangsphase zu begreifen. Nach Arnold van Gennep müssen Veränderungen der sozialen Ordnung von Riten begleitet werden, um dieselbe nicht zu gefährden.5 Die Schwellenphase bezeichnet danach den Moment zwischen zwei Zuständen, begleitet von räumlichen, sozialen und zeitlichen Übergängen. Gennep und andere Autoren haben in der Nachfolge die Schwelle nicht nur als rituelle Dynamik untersucht, sondern auch ihre räumliche und symbolische Qualität betrachtet.6 Zum Beispiel kam der Hausschwelle kultische Bedeutung zu – so wie sie noch heute für das Kirchenportal nachvollzogen werden kann – als Übergang zwischen zwei Welten. Pierre Bourdieu beschreibt am Beispiel des kabylischen Hauses die Schwelle als Berührungspunkt entgegengesetzter Welten, als 3 4

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Vgl. grundlegend Maria Teresa Guerra Medici: Donne di governo nell’Europa moderna (= IUS NOSTRUM, Band 32), Rom 2005. Elena Fumagalli: »Committenza e iconografia medicea a Roma nel seicento. Il ciclo di affreschi di Palazzo Madama«, in: Mitteilungen des kunsthistorischen Institutes in Florenz 41 (1997), S. 314-347, hier S. 315, Anm. 14; Cusick: Caccini, S. 193, Anm. 9; Hoppe: Räume, S. 27-34. Vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten, Frankfurt a.M./New York 1986 (Orig.: (Les rites de passage, Paris 1909). Vgl. Bernd Krämer: Der Raumbegriff in der Architektur. Eine Analyse räumlicher Begrifflichkeit und deren Veranschaulichung am Beispiel des Weges und der Schwelle (= TAP-Text, Band 17), Hannover 1983; Peter F. Saeverin: Zum Begriff der Schwelle. Philosophische Untersuchung von Übergängen (= Studien zur Soziologie- und Politikwissenschaft), Oldenburg 2002.

Die Villa Poggio Imperiale in Florenz als Schwellenraum »Ort einer logischen Verkehrung […] und daß sie als zwangsläufiger Durchgangs- und Treffpunkt zwischen den beiden Räumen, die sich durch Körperbewegungen und gesellschaftlich bestimmte Fortbewegung der Individuen innerhalb dieser Räume definieren lassen, logischerweise der Ort ist, wo die Welt sich in ihr Gegenteil verkehrt.«7

Die Räume bestimmt Bourdieu im Vorfeld als das Innere und Äußere des Hauses, die auch in unserer Kultur die lange geläufige Zuschreibung von privat-weiblich und öffentlich-männlich impliziert. Allerdings differenziert Bourdieu diese Inversion insofern er in der Aufteilung des Inneren das Machtgefüge der Außenwelt nochmals gespiegelt sieht, eine »verkehrte Welt« – so der Titel seines Aufsatzes – in der das Weibliche stets bloßer Reflex des Männlichen bleibt. Demzufolge kann aber die Schwelle selbst temporär wie räumlich eine ambivalente Qualität annehmen, in der die Machtverhältnisse in der Schwebe bleiben. Wie ich hier zeigen möchte, nutzte Maria Magdalena von Österreich für ihre Regentschaft den Schwellenraum einer Villa zwischen Stadt und Land, in dessen ambivalentem Charakter die Uneindeutigkeit weiblicher Herrschaft verhandelt werden konnte. Die Villa Poggio Imperiale ist daher nicht als »verkehrte Welt« zu verstehen, sondern nahm als Ganzes die Qualität einer Schwelle an. Sie stellte so einen ›dritten‹ Zustand zur Verfügung, der Raum für die transitorische Regentschaft in der Toskana bot.

Die Lage der Villa Poggio Imperiale Der Charakter des Schwellenraumes wird bereits in der Anlage von Poggio Imperiale deutlich. (Abb. 1) Durch den Zukauf von landwirtschaftlichen Gütern im Zuge der Erneuerung des Landsitzes näherte sich der Besitz den Boboli-Gärten an und somit der Hauptresidenz der Medici, dem Palazzo Pitti.8 Die

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Pierre Bourdieu: »Das Haus oder die verkehrte Welt«, in: Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt a.M. 1979 (Orig.: La maison ou le monde renversé, verfasst 1963-64), S. 48-65, hier S. 63. Zu Geschichte und Architektur von Poggio Imperiale vgl. Ornella Panichi: »Villa Mediceo-Lorenese del Poggio Imperiale«, in: Luigi Zangheri (Hg.), Ville italiane, Toscana 1, Ville della Provincia di Firenze, La Città, Mailand 1989, S. 148-169; Michael Bohr: »Die Villa Poggio Imperiale und die Skizzenbücher des Architekten Diacinto Maria Marmi: Zur Bautypologie und Innenraumgestaltung mediceischer

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Abb. 1: Lageplan Florenz (© Henning Grope, Ilaria Hoppe)

Profanbauten um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert«, in: Mitteilungen des kunsthistorischen Institutes in Florenz 38 (1994), S. 337-418, hier S. 344-346; Hoppe: Räume, S. 35-55.

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Die Villa Poggio Imperiale in Florenz als Schwellenraum

angekauften Grundstücke dienten dem Hofarchitekten Giulio Parigi außerdem dazu, eine monumentale, heute noch erhaltene steil ansteigende Anfahrt anzulegen, die sich im rechten Winkel zum großen Viale der Boboli-Gärten befindet. Die Residenzen wurden also ebenfalls durch diese Achsen, die auf der Piazza der Porta Romana münden, symbolisch miteinander in Beziehung gesetzt. Zudem muss es zwischen den Anwesen Verbindungswege gegeben haben, denn aus der konsultierten Hofchronik des Kammerdieners Cesare Tinghi geht hervor, dass ein Gast der Regentin inkognito von Poggio Imperiale aus, durch die Boboli-Gärten und den Corridoio Vasariano sein Gastquartier im Palazzo Vecchio, dem ehemaligen Sitz der Medici, auf der anderen Arnoseite erreichte.9 Diese Nutzung zeigt also einen intraurbanen Herrschaftsraum der Medici und der Regentin an. Poggio Imperiale präsentierte sich zwar wie eine abgeschiedene Villa auf dem Hügel von Arcetri, war jedoch durch die verschiedenen Wege an die Repräsentationsbauten der Medici angebunden. Am Fuße des Hügels inszenierte ursprünglich ein Skulpturenensemble den Eingang zum Reich Maria Magdalenas mit kaiserlichen Doppeladlern und dem Allianz-Wappen der Häuser Medici und Habsburg (Abb. 2). Überlieferte Veduten und bisher vernachlässigte Quellen verdeutlichen, dass sich dort zwei Wasserbassins befanden, über die eine hölzerne Zugbrücke führte.10 Wie andere architektonische Elemente, die bei der Neugestaltung von Poggio Imperiale eingesetzt wurden, verweist die Zugbrücke als fortifikatorisches Zeichen auf 9

Cesare Tinghi: Diario terzo del Il.mo Gran Duca Ferdinando secondo Gran Duca di Toscana (1623-1637), Archivio di Stato di Firenze, Miscellanea Medicea 11, fol. 60v. Zu den Geheimgängen der Medici vgl. Massimiliano Rossi: »Corridoi sopraelevati nella Toscana granducale«, in: Fabrizio Ricciardelli (Hg.), I luoghi del sacro: il sacro e la città fra medioevo ed età moderna, Italian history & culture 13 (2008), S. 161-170. 10 Die Zugbrücke ist auf den Abbildungen nicht deutlich zu erkennen, wird aber von Nicolas Stone und Filippo Baldinucci erwähnt. Nicolas Stone: »Diary of Nicholas Stone Junior«, in: The Walpole Society 7 (1918/19), S. 158-200, hier S. 166: »[...] within this wall is a round pound or mote, a passege through the mydst upon arches wch deuydes the pound into 2 parts, against the middle is entrance is a bridge wch turnes partly on a pin, and with a little whele at each end wch turned crosse the water runes liyes open to the ayre«; Filippo Baldinucci: Notizie de’ professori del disegno da Cimabue in qua, Band V, Florenz 1702 (Nachdruck 1974 der Neuausgabe 1847), S. 53: »[…] e fra le altre cose che egli [Alfonso Parigi] vi fece di sua propria invenzione, fu il ponte levatoio, che a principio dello stradone veggiamo sopra le due vasche dell’acqua.« Heutzutage befindet sich am Fuße des Hügels ein Löwenpaar, das man gemeinsam mit dem am oberen Abschluss der Allee 1836 dort platzierte. Es stammt vom Ponte Niccolò; vgl. Alessandro Conti: I dintorni di Firenze. Arte, Storia, Paesaggio, Florenz 1983, S. 86.

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die ehemals das Territorium beherrschenden Feudalburgen. Zugleich machte ihre Überquerung den Gästen deutlich, dass sie nun eine ›andere Welt‹ betraten.11 Die entlang der Brunnen aufgestellten Skulpturen vermittelten für die Gestaltung der Villa signifikanten Themenkreise der Antike und Florentiner Tradition: Neben den monumentalen Flussgöttern Tiber und Arno standen die römische Lupa, Vergil und Ovid dem Florentiner Marzocco, Petrarca und Dante gegenüber.12 Die Kombination von Vergil und Dante erinnert an die Divina commedia, in der das Paradies auf einem Berg liegt. Während die Reise für Vergil am Fuße des Berges endet, begleitet Matelda Dante hinauf in den Garten Eden, so wie auch der ehemalige Gast von Poggio Imperiale über den Hügel von Arcetri, die Villa der Regentin erreichte. Die erhöhte Lage repräsentierte demnach nicht nur einen Herrschaftsanspruch, sondern intendierte auch eine geistige Erhöhung, mithin eine Transzendenz in eine andere, ›bessere‹ Welt.13 Die Figur der Matelda alludierte in der Göttlichen Komödie unter anderem auf die Markgräfin von Tuszien, ideelle Vorgängerin der Erzherzogin Maria Magdalena von Österreich und – wie noch zu zeigen ist – selbst Teil des monumentalen Freskenprogramms im Inneren der Villa. Den oberen Eingangsbereich markieren noch heute zwei Skulpturen, die das Programm ehemals fortsetzten: der Jupiter von Felice Palma und der das Firmament tragende Herkules von Vincenzo de’ Rossi. Sie bilden mit der erneuten Gegenüberstellung von Antike und florentinisch geprägter Motivik den Abschluss des Skulpturen-Ensembles, zudem die Figur des Firmament tragendenden Herkules eine weitere Anspielung auf einen Paradiesgarten, auf den Garten der Hesperiden, enthält.14

11 Für die architektonische Markierung von Schwellensituationen in Stadt, Sakralbau und Herrschersitz in der Frühen Neuzeit vgl. Ulrich Schütte: »Stadttor und Hausschwelle. Zur rituellen Bedeutung architektonischer Grenzen in der Frühen Neuzeit«, in: Markus Bauer/Thomas Rahn (Hg.), Die Grenze. Begriff und Inszenierung, Berlin 1997, S. 159-176. 12 Zur Rekonstruktion mit Bibliographie vgl. Hoppe: Räume, S. 42f. 13 Saeverin: Zum Begriff der Schwelle, macht wiederholt aufmerksam auf den etymologischen Ursprung von Transzendenz vom lateinischen transcedere, d.h. überschreiten. 14 Auch eine Anspielung auf die Mitregentin Großherzogin Christina von Lothringen wäre denkbar, da das Motiv des Atlas tragenden Herkules in ihrer Grabrede aufgerufen wurde; vgl. Christina Strunck: »Christiane von Lothringen, Großherzogin der Toskana (1565-1636). Ein ›weiblicher Herkules‹«, in: Dies. (Hg.), Die Frauen des Hauses Medici. Politik, Mäzenatentum, Rollenbilder (1512-1743), Petersberg 2011, S. 74-93, hier S. 91.

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Die Villa Poggio Imperiale in Florenz als Schwellenraum

Abb. 2: Marco Credo und Francesco de’ Cocchi, Allee von Poggio Imperiale, 1652, Kupferstich, Florenz, Biblioteca Marucelliana. Aus: Giovanni Fanelli: Firenze – Architettura e città, Florenz 1973, Abb. 730

Die Architektur der Villa Poggio Imperiale Die Herstellung eines zu ponderierenden Verhältnisses zwischen dem Verweis auf die kaiserliche Abkunft der Hausherrin mittels Motiven der Translatio imperii und der Kontinuität mediceischer Herrschaft lässt sich an der Gestaltung von Fassade und Innenraum weiter aufzeigen (Abb. 3). Die zahlreichen späteren Umbauten machen hier eine Rekonstruktion des damaligen Zustandes mittels Veduten und Grundrissen notwendig. Der eher unscheinbare Villenbau aus dem 15. Jahrhundert war vom Hofarchitekten Giulio Parigi in eine zeitgemäße, frühbarocke Anlage mit Ehrenhof verwandelt worden, die sich zur Landschaft hin öffnete. Die schlichte Gestaltung der Fassade mit Bändern an Kanten und Maueröffnungen ist allerdings ganz der Tradition des mediceischen Villenbaus verpflichtet und wies das Gebäude als zu ihrem Besitz gehörig aus. Das monumentale Wappenschild mit Inschrift über dem Portal verdeutlichte gleichwohl, wer die Besitzerin war: Einerseits durch die erneute Verwendung des Doppelwappens mit den Farben der Medici und des Hauses Österreich , andererseits mittels der überlieferten Inschrift, die den Villentopos mit einer Widmung verband: »VILLA IMPERIALIS AB AUSTRIACIS/ AUGUSTIS NOMEN CONSECUTA/ FUTURAE MAGNAE DUCES INSER 71

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Abb. 3: Alfonso Parigi, Poggio Imperiale, 1625, Kupferstich, Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe Uffizi, Gabinetto fotografico, Palazzo Pitti (© Soprintendenza per i beni ambientali e architettonici) VIAT«15. Nach Vollendung der Umbauarbeiten 1624 ließ die Regentin die ehemalige Villa Baroncelli durch ein unanfechtbares Edikt in Poggio Imperiale – also kaiserlicher Sitz – umbenennen, womit ein weiterer Hinweis auf ihre Abkunft gegeben war.16 Die Erzherzogin stammte zwar von der in Graz ansässigen Nebenlinie der Habsburger ab, seit 1619 stellten diese jedoch mit ihrem Bruder Ferdinand II. den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Entsprechend lassen sich an der Fassade auch Motive antiker Architektur erkennen, die den Bau in die römisch-kaiserliche Tradition stellten. Die halbrunde Form des Vorplatzes lehnt sich an antike Hippodrome und Theater an, die wie in Poggio Imperiale, als Arenen für Aufführungen und Spiele dienten. Die Fassa15 »Die kaiserliche Villa, die von den erhabenen Österreichern ihren Namen erhielt, möge auf ewig den zukünftigen Großherzoginnen Etruriens dem Otium und dem Vergnügen dienen.« Zit. n. Cesare da Prato: R. Villa del Poggio Imperiale oggi R. Istituto della SS. Annunziata. Storia e Descrizioni, Florenz 1895, S. 41. 16 Tinghi: Diario, fol. 42r.

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Die Villa Poggio Imperiale in Florenz als Schwellenraum

de der Villa stellte also die scenae frons des antiken Theaters dar und der Vorplatz das Rund der Zuschauertribüne. Tatsächlich stammt die älteste Darstellung von Alfonso Parigi, dem Sohn des ausführenden Architekten Giulio, aus dem Libretto der Oper La liberazione di Ruggiero dall’Isola di Alcina von Francesca Caccini.17 Es handelt sich dabei um die erste von einer Frau komponierten Oper, damals noch festa in musica genannt. La liberazione wurde anlässlich des Besuches des Neffen der Regentin Wladyslaw von Polen im Februar 1625 in Poggio Imperiale uraufgeführt. Der hohe Grad an Konstruiertheit der Darstellung wird durch einen Vergleich mit einer Zeichnung von Bacio del Bianco von der Rückseite des Hauses evident (Abb. 4). Hier sieht man, wie alte und neue Gebäudeteile durch eine Blendarchitektur vereinheitlicht wurden und sich zur Stadtseite hin in einer vollkommen symmetrischen Fassade mit betonter Mittelachse präsentierten. Dieser Kunstgriff hat zu dem oft bemühten Vergleich mit der Theaterkulisse geführt, als die sich Poggio Imperiale für Caccinis Werk ja tatsächlich darbot. Im Sinne der repräsentativen Öffentlichkeit frühneuzeitlicher Herrschaftsausübung handelt es sich dabei allerdings nicht um ein Spiel mit der Täuschung, denn die wird auch im Theaterstück aufgehoben, sondern um die Selbstinszenierung des Hofes als einer funktionierenden sozialen Ordnung in einem Raum, der ganz auf die repräsentativen Bedürfnisse von Maria Magdalena von Österreich zugeschnitten war.

Ausstattung und Funktion der Innenräume Für die Rekonstruktion der mobilen Ausstattung und der Funktion von Poggio Imperiale als Residenz der Regentin und der Innenräume im Zeremoniell wurden die Hofchronik des großherzoglichen Kammerdieners Cesare Tinghi sowie das Inventar von 1625 ausgewertet. Gemeinsam mit überlieferten Grundrissen 17 Zu der Serie von vier Stichen vgl. zuletzt Arthur R. Blumenthal: Giulio Parigi’s Stage Designs: Florence and the Early Baroque Spectacle, New York 1984, S. 201207; zur Oper vgl. Angelo Solerti: Musica, Ballo e Drammatica alla Corte Medicea dal 1600 al 1637. Notizie tratte da un Diario con appendice di testi inediti e rari, Florenz 1905 (Nachdruck Bologna 1969), S. 179-183; Kelley Harness: »Habsburgs, Heretics, and Horses: Equestrian Ballets and other Staged Battles in Florence during the First Decade of the Thirty Years War«, in: Massimiliano Rossi/Fiorella Gioffredi Superbi (Hg.), L’arme e gli amori. Ariosto, Tasso and Guarini in Late Renaissance Florence, Band 2, Florenz 2004, S. 255-283, hier S. 264-280; Cusick: Caccini, S. 385-395.

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Abb. 4: Bacio del Bianco, Ansicht der Villa Poggio Imperiale von Süden (Rückseite), nach 1624, Aquarellierte Federzeichnung, 19,5 x 29,7 cm, Gabinetto Disegni e Stampe Uffizi. Aus: Marco Chiarini/Alessandro Marabottini (Hg.): Firenze e la sua immagine, cinque secoli di vedutismo. Ausst.-Kat. Forte Belvedere Florenz, Venedig 1994, Kat.-Nr. 42 ergibt sich eine präzise Vorstellung der damaligen Raumdisposition.18 (Abb. 5) Betrat man den Innenhof der Villa, befand man sich in einem repräsentativen Vierportikenhof mit Skulpturen und Gemälden. Die dort inventarisierten Gemälde zeigen einen deutlichen Schwerpunkt auf Stillleben und Tierdarstellungen, passend zum Ideal der vita rustica. Wie Quellenfunde von Elena Fumagalli belegen, waren ganze Bildserien aus den Sammlungen des verstorbenen Großherzogs übernommen worden.19 Zudem befanden sich dort antike Büsten römischer Kaiser und Kaiserinnen auf Piedestallen mit dem Habsburg-Wap-

18 Tinghi: Diario; Inventario Originale Debit[ori] e Credit[ori] della Villa Imperiale, 17.3.1625 (1624 stile fiorentino), Archivio di Stato Firenze (im Folgenden ASF), Guardaroba Medicea (im Folgenden GM) 479. Grundrisse und Quellen sind vollständig wiedergegeben in Hoppe: Räume, S. 45 und Anhang. 19 Elena Fumagalli: »Il Granducato di Cosimo II (1609-1621) e la reggenza (16211628)«, in: Marco Chiarini (Hg.), Il Giardino del Granduca. Natura morta nelle collezioni medicee, Turin 1997, S. 43-73, hier S. 74f.

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Abb. 5: Schematische Umzeichnung, Grundriss Erdgeschoss Poggio Imperiale, 1625 (© Henning Grope, Ilaria Hoppe) pen. Diese Reihe setzte sich sowohl im Saal im Erdgeschoss (Abb. 5, Nr. 3), als auch in der dynastischen Portrait-Galerie, die den Innenhof im Obergeschoss umlief, fort. Die erneute Gegenüberstellung von imperialer Ikonographie und durch die Gemälde präsenter mediceischer Sammlungstradition erfuhr ein weiteres Mal durch Statuen Nachdruck. Überliefert sind für den Innenhof eine Perseus-Skulptur, Baccio Bandinelli zugeschrieben,20 eine hl. Maria Magdale-

20 Inventario Originale, ASF, GM 479, fol. 1v: »Statua di marmo di un’giouane ritto che tiene un’piede sop.a il petto d’una femmina«. Giovanni Cinelli beschreibt einen »Ercleo o giouanetto ed un’Arpia sotto a’piedi in atto di conculcarla di mano del Bandinello«; Giovanni Cinelli: Descrizione di Firenze. Unveröffentlichte Handschrift, Florenz ca. 1677, Biblioteca Nazionale Centrale di Firenze, fol. 329r.

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na sowie eine Dovizia.21 War im Außenraum der Verweis auf die Hausherrin noch verhalten, steigerte er sich sukzessive im Inneren und zwar nicht nur durch die Wappen des Hauses Österreich, sondern auch mittels einer Vielzahl von Darstellungen ihrer Namenspatronin, die sie zum Teil bei Florentiner Malern in Auftrag gegeben hatte. Noch posthum ist 1632 ein Oratorium fertiggestellt worden, mit der Vita der hl. Maria Magdalena von Francesco Curradi.22 Sie selbst hatte sich als büßende Eremitin vom Hofmaler Justus Sustermans darstellen lassen, ein Gemälde, das sehr wahrscheinlich im Obergeschoss inmitten der dynastischen Portraitgalerie hing.23 (Abb. 6) Situierung und Thema verdeutlichen das Selbstverständnis von Maria Magdalena von Österreich als ›heiliger Fürstin‹, das ostentativ zur Schau gestellt wurde und so auch einen politischen Zweck erfüllen konnte.24 Die Sakralisierung ihres Körpers, die hier 21 Zu den Skulpturen vgl. Gabriella Capecchi/Vincenzo Saladino/Lucia Lepore (Hg.): La Villa Poggio Imperiale (= Collezioni fiorentine di antichità, Band 1), Rom 1979, S. 21-23. Eine Dovizia ist schon unter der Vorbesitzerin Isabella de’ Medici bekannt, vgl. Caroline P. Murphy: Isabella de’ Medici. The Glorious Life and Tragic End of a Renaissance Princess, Padstow 2008, S. 145. Eine später zu datierende Figur ist von Cinelli als Flora Giovanni Caccini zugeschrieben worden, vgl. Alois Grünwald: »Über einige unechte Werke Michelangelos«, in: Münchener Jahrbuch für bildende Kunst 5 (1910), S. 10-70, hier S. 70, Nr. 2. Unklar bleibt, ob es sich um die Flora-Skulptur im Palazzo Pitti handelt, vgl. Gabriella Capecchi: »Una statua in Boboli: la fortuna e le disgrazie di ›Flora‹«, in: Artista. Critica dell’arte in Toscana (1997), S. 70-91, hier S. 70f. und S. 76, Anm. 50. 22 Vgl. Bruno Santi: »Francesco Curradi«, in: Il Seicento Fiorentino. Arte a Firenze da Ferdinando I a Cosimo III, Ausst.-Kat. Palazzo Strozzi Florenz, Band 3, Florenz 1986, S. 65-67; Marilena Mosco: »La Cappella della Maddalena a Poggio Imperiale«, in: Dies. (Hg.), La Maddalena tra sacro e profano. Da Giotto a de Chirico, Ausst.-Kat. Palazzo Pitti Florenz, Florenz 1986, S. 237-239. Zu den übrigen Magdalenen in Poggio Imperiale vgl. Hoppe: Räume, S. 57-65 und S. 74-76. 23 Vgl. Inventario originale, ASF, GM 479, fol. 27v: »Un’Quadro in tela […] entrovi dipinto, una Santa Maria Maddalena nel diserto.« Zum Bild vgl. Marco Chiarini/Claudio Pizzorusso (Hg.): Sustermans. Sessant’anni alla corte dei Medici, Ausst.-Kat. Palazzo Pitti Florenz, Florenz 1983, Kat.-Nr. 14; Mosco: La maddalena, Kat.-Nr. 99; Friedrich B. Polleroß: Das sakrale Identifikationsportrait. Ein höfischer Bildtypus vom 13. bis zum 20. Jahrhundert, Band I (= Manuskripte zur Kunstwissenschaft in der Wernerschen Verlagsgesellschaft, Band 18), Worms 1988, S. 13-16, S. 48-50, Kat.-Nr. 434. 24 Für das Modell der ›Heiligen Fürstin‹ im Sinne der katholischen Reform vgl. Xenia von Tippelskirch: »›Zum Exempel eines gottseligen Wandels gantz lustig zu lesen‹. Anmerkungen zur Vita der Marie von Portugal, Fürstin zu Parma und Piacenza (1538-1577)«, in: Peter Burschel/Anne Conrad (Hg.), Vorbild – Inbild – Abbild. Religiöse Lebensmodelle in geschlechtergeschichtlicher Perspektive, Freiburg 2003, S. 83-119; zur Forschungslage über den ›Heiligen Fürsten‹ nach Adria-

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Abb. 6: Justus Sustermans, Maria Magdalena von Österreich als hl. Maria Magdalena, Florenz, Galleria Palatina, vor 1625, Öl auf Leinwand, 168 x 90 cm, Florenz, Galleria Palatina, Palazzo Pitti. Aus: Cristina Giannini (Hg.): Stanze segrete raccolte per caso. I medici Santi – Gli arredi celati (= Cultura e Memoria, Band 29) Ausst.-Kat. Palazzo Medici-Riccardi Florenz 2003, Città di Castello 2004, S. 37, Abb. 23 ihren unmittelbar bildlichen Ausdruck gefunden hatte, legitimierte ihre durchaus nicht unumstrittene Herrschaft mit dem Verweis auf Frömmigkeit und no Prosperi vgl. Marcello Fantoni: »Il ›Principe santo‹. Clero regolare e modelli di sovranità nella Toscana tardo medicea«, in: Flavio Rurale (Hg.), I religiosi a Corte. Teologia, politica e diplomazia in Antico regime, Rom 1998, S. 229-248.

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göttliche Berufung. Das Identifikationsportrait überblendete die gewünschten Andachtspraktiken von Herrscher- und Heiligenbild, zumal die Verehrung der hl. Maria Magdalena während der katholischen Reform ihren Höhepunkt erreichte und sich in Florenz auch mit dem lokalen Kult der hl. Maria Maddalena de’ Pazzi verknüpfen ließ.25 Seit dem 14. Jahrhundert verehrte man die Heilige außerdem an den Höfen von Habsburg-Burgund als Begründerin des ersten christlichen Königreichs, so dass zusätzlich ein dynastischer Bezug gegeben war.26 Eine besondere Dichte erreichte die Ausstattung mit Kunstgegenständen im Appartement der Regentin und ihres Sohnes Ferdinando II. im Erdgeschoss der Villa, in dem sich noch heute das monumentale Freskenprogramm befindet (Abb. 5, Nr. 2-16). Dem jungen Thronfolger waren in diesem Bereich allerdings nur ein Vorzimmer und ein Schlafgemach zugedacht (Abb. 5, Nr. 14, 15). Repräsentativen Charakter erhielten seine Räume insbesondere durch die Fresken in den Lünetten und an den Decken, die eine Equipe Florentiner Maler ausgeführt hatte.27 Sie zeigen die Taten Habsburger Kaiser, also der männlichen Vorfahren seiner Mutter. Die genealogische Abfolge beginnt im ehemaligen Schlafgemach mit dem Gründungsmythos der Habsburger Die Legende

25 Vgl. Marilena Mosco: »Estasi«, in: Dies.: La maddalena, S. 166f.; Hoppe: Räume, S. 25f. und S. 74-76. 26 Vgl. Polleroß: Identifikationsportrait, S. 209. 27 Zu diesen vgl. Enzo Visconti: »Rapsodia di Matteo Rosselli a Poggio Imperiale«, in: ›Il Poggio‹. Giornale dell’Educandando Governativo della SS. Annunziata al Poggio Imperiale di Firenze (Oktober 1960), S. 2-36, hier S. 2-11; Adam Wandruszka: »Ein Freskenzyklus der ›Pietas Austriaca‹ in Florenz«, in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 15 (1962), S. 495-499; Julian Kliemann: Gesta Dipinte. La grande decorazione nelle dimore italiane dal Quattrocento al Seicento, Cinisello Balsamo 1993, S. 181; Pavel Preiss: »Eucharistia – Hic Austria. Die Ursprungslegende der Pietas Habsburgo-Austriaca Eucharistica und der Entstehung des Bindenschildes in den Gemälden des Habsburgersaales im Lustschloß ›Troja‹ bei Prag«, in: Rainer A. Müller (Hg.), Bilder des Reiches, Tagungsband Kloster Irsee 1994 (= Irseer Schriften, Band 4), Sigmaringen 1997, S. 369-395, hier S. 382f.; Elisa Acanfora: »Maria Maddalena d’Austria, donna di governo e virtuosa delle arti«, in: Mina Gregori (Hg.), Fasto di corte. La decorazione murale nelle residenze dei Medici e dei Lorena, Band I, Florenz 2005, S. 131-187, hier S. 149f.; Riccardo Spinelli: »Simbologia dinastica e legittimazione del potere: Maria Maddalena d’Austria e gli affreschi del Poggio Imperiale«, in: Giulia Calvi/Riccardo Spinelli (Hg.), Le donne Medici nel sistema europeo delle corti XVIXVIII secolo, Band II, Florenz 2008, S. 645-679; Hoppe: Räume, S. 65 und S. 169-189.

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Abb. 7: Matteo Rosselli, Rudolf I. von Habsburg und der Priester, Fresko im ehemaligen Schlafgemach Ferdinandos II., Poggio Imperiale, 1623. Aus: Acanfora: Maria Maddalena, Tafel XCIV von Rudolf und dem Priester von Matteo Rosselli (Abb. 7). Daneben sind der Treueid der Barone für Rudolph I. und Taten Kaiser Maximilians I. zu sehen. Im ehemaligen Vorzimmer des jungen Großherzogs sind zwei Lünetten den Siegen Kaiser Karls V. über die Osmanen gewidmet, zwei weitere Darstellungen zeigen Ruhmestaten Kaiser Ferdinands II., des Bruders der Regentin und gleichnamigem Onkel Ferdinandos II. Sie thematisieren jeweils aktuelle politische Geschehen: Die Schlacht am Weißen Berg bei Prag, in der die böhmischen Protestanten 1620 vernichtend geschlagen werden konnten, und die Vertreibung der Protestanten aus Innerösterreich 1596 im Zuge der erzwungenen Rekatholisierung des Landes durch Erzherzog Ferdinand. Das Programm vereint als vorbildlicher Fürstenspiegel die dynastisch geprägte Pietas Austriaca der Habsburger mit der Darstellung eines dezidiert männlichen Herrscherbildes. Statt wie sonst üblich, die agnatische Abkunft des Thronfolgers zu

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betonen, hatte man hier die Genealogie der Mutter gewählt, was die Legitimation des Herrschaftsanspruchs beider verstärkte. Alle übrigen Räume in diesem Flügel waren der Regentin Maria Magdalena zugeeignet. Saal, Vorzimmer und Schlafgemach bilden mit dem Freskenprogramm der Berühmten Frauen ein Pendant zur Ausstattung der Räume ihres Sohnes (Abb. 5, Nr. 3, 4, 13).28 Im Saal führen sie die lange und vorbildliche Tradition christlicher Herrscherinnen vor Augen: Neben Mathilde von Tuszien erscheinen die beiden ersten kaiserlichen Regentinnen Ost- und Westroms Galla Placidia und Pulcheria (Abb. 8). Die Szenen veranschaulichen, wie sich die historisch zu verifizierenden Figuren für die Sicherung der christlichen Herrschaft einsetzten. Die bereits erwähnte Mathilde wird als Heerführerin gezeigt, wie sie mit erhobenem Schwert Papst Viktor III. in den Vatikan geleitet. Dieser Triumph blieb zwar nur eine Episode im Konflikt um Rom,29 zeigt aber, dass es bereits im Mittelalter eine Regentin der Toskana gegeben hatte, die bereit war, sich mit allen Mitteln für den ›wahren‹ Glauben und die ›gerechte‹ Herrschaft einzusetzen. Auf der benachbarten Lünette bietet sich Galla Placidia demütig Alarich im Tausch gegen die Rettung Roms an. Dass sie den Goten wohl eher als Geisel in die Hände fiel, wird hier nicht gezeigt, sondern ihr Handeln zum Wohle der Allgemeinheit betont.30 Die Beispiele konstruieren eine longue durée weiblicher Herrschaft und veranschaulichen deren positive Effekte. Ein weiteres Kennzeichen dieses Programms, das bisher stets übersehen wurde, ist der starke dynastische Bezug. Leicht zu ersehen, ist dies bei Frauen, die bekanntermaßen dem Haus Habsburg angehören wie Isabella von Portugal oder Isabella von Kastilien. Bei Konstanze von Aragon und der hl. Kaiserin Kunigunde wird dieser Zusammenhang zusätzlich durch flankierende Putten mit Rüstungen betont, welche auf die Ursprungslegende des Bindenschildes des Hauses Habsburg anspielen. Für andere Heldinnen – wie die Hei28 Zu diesen vgl. Visconti: Rapsodia, S. 11-36; Sophie Couëtoux: »Images de preuses à Florence au XVII siècle«, in: Mélanges de l’Ecole française de Rome. Italie et Méditerranée 110 (1998), S. 731-753, hier S. 731-739; Massimiliano Rossi: »I dipinti í introduzione: la novella di Sandro e Nastagio«, in: Vittore Branca (Hg.), Boccaccio visualizzato: narrare per parole e per immagini fra Medioevo e Rinascimento, Turin 1999, S. 153-187, hier S. 169-174; Acanfora: Maria Maddalena, S. 143-157; Spinelli: Simbologia, S. 645-679; Hoppe: Räume, S. 95-168. 29 Vgl. David J. Hay: The Military Leadership of Matilda of Canossa, 1046-1115 (= Gender in History), Manchester/New York 2010, S. 120-123. 30 Zum weiteren Schicksal Galla Placidias nach ihrer Gefangennahme vgl. Hagith Sivan: Galla Placidia. The Last Roman Empress (= Women in Antiquity), New York 2011, S. 23f.

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Abb. 8: Matteo Rosselli, Mathilde von Tuszien und Galla Placidia, Fresko im Saal von Poggio Imperiale, 1623. Aus: Acanfora: Maria Maddalena, S. 144, Abb. 83 ligen Ursula und Chlothilde – müssen indessen genealogische Konstruktionen der Habsburger berücksichtigt werden, die vor allem Kaiser Maximilian I. vorangetrieben hatte.31 Neben anderen Kompendien verfasste sein Hofhistoriograph Jakob Mennel die Schrift De claris mulieribus domus Habsburgicae, die mit Chlothilde »als ain grossmuter der fürsten von habspurg«32 beginnt. Somit erklärt sich auch das Erscheinen der ersten christlichen Königin Frankreichs in der Heldinnengalerie von Poggio Imperiale. Neben den erwähnten Kaiserbüsten ergänzten vier großformatige Gemälde mit Heldinnen der Antike, wie Semiramis und Lukrezia, die Ausstattung des Saales. Sie bilden eine eigenständige Gruppe innerhalb des nach heilsgeschichtlichen Epochen unterteilten 31 Für einen Überblick vgl. Tanja Reinhardt: Die habsburgischen Heiligen des Jakob Mennel, Freiburg i.Br. 2002, S. 3-6; www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/2438 32 Jacobus Mennel sive Manlius: De claris mulieribus domus Habsburgicae liber germanicus, Augsburg 1518, Österreichische Nationalbibliothek, Biblioteca Palatina Vindobonensi, Cod. 3077***, fol. 4r-4v.

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Abb. 9: Michelangelo Cinganelli und Filippo Tarchiani zugeschrieben, Deckenfresko im Saal von Poggio Imperiale, 1623/24. Aus: Acanfora: Maria Maddalena, Tafel LXXXV monumentalen Freskenprogramms der Berühmten Frauen.33 Den Abschluss der Gestaltung im Saal bildet die freskierte Decke, an der Kaiser- und Großherzogskrone zu sehen sind sowie eine Herrschaftsallegorie, die nach meiner Interpretation die Tugend der Fortitudo darstellt, begleitet von den kaiserlichen 33 Vgl. Silvia Meloni Trkulja: »Appendice: I Quadri della Sala dell’Udienza«, in: Antichità Viva 12 (1973), S. 44-46; Elena Fumagalli: »Pittori senesi del Seicento e committenza medicea, nuove date per Francesco Rustici«, in: Paragone 61 (1990), S. 69-82.

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und päpstlichen Insignien (Abb. 9). Die hier dargestellte Verbindung weltlicher und geistlicher Macht vereint im Ideal von Gottesgnadentum und Universalmonarchie stellte sich als für das gesamte Programm bestimmend heraus. Das Motiv der Berühmten Frauen und Männer wird in Poggio Imperiale sowohl mit der von den Habsburgern in Anspruch genommenen Translatio imperii verbunden, als auch mit der Pietas Austriaca, der topischen Sakralisierung der Dynastie.34 Im Appartement der Regentin setzt sich das Programm in ihrem ehemaligen Vorzimmer mit den Heldinnen des Alten Testamentes fort, die als Gottesstreiterinnen für ihr Volk eintraten, wie etwa Judith oder, durch göttliche Vorsehung unterstützt, die legitime Nachfolge sicherten, wie Rebecca (Abb. 5, Nr. 13).35 Die oftmals wehrhaften Heldinnen dienen hier als Beispiele für starke Frauen, die kraft ihres Glaubens eine Krise bewältigen. Sobald sich aber die gewünschte Ordnung wieder herstellte, zogen sie sich zurück und nahmen die erwünschte Position wieder ein.36 In typologischer Steigerung folgen im ehemaligen Schlafgemach Maria Magdalenas die Darstellungen jungfräulicher Märtyrerinnen des Frühchristentums sowie die Kreuzesauffindung durch Kaiserin Helena, ebenfalls eine von den Habsburgern für die Konstruktion ihres Stammbaums vereinnahmte heilige Fürstin (Abb. 5, Nr. 4).37 Hier erscheint neben der besonderen Verehrung des Kreuzes das Modell der christlichen Jungfrau vorbildlich, die Stärke bewies, in dem sie sich lieber opferte, als ihren Glauben zu verraten. Die Märtyrerinnen stehen zudem für ein entsexualisiertes Lebensmodell, das im Schlafgemach einer Witwe den Mangel an männlicher Autorität kompensierte, ohne die herrschende Ordnung in Frage zu stellen.

34 Vgl. dazu Ilaria Hoppe: »Engendering Pietas Austriaca: The Villa Poggio Imperiale in Florence under Mary Magdalene of Austria«, in: Herbert Karner u.a. (Hg.), The Habsburgs and their Courts in Europe, 1400-1700. Between Cosmopolitism and Regionalism. Proceedings of the European Science Foundation Research Networking Programme »PALATIUM« meeting at Vienna, 7-19 December 2011 (in Vorbereitung). 35 Zu sehen sind Jael, Judith, Miriam, Esther, die Mutter der Makkabäer, Rebecca, Die Auffindung Mose, Susanna und Sephora beschneidet Gersom; vgl. Hoppe: Räume, S. 124-146. 36 Vgl. exemplarisch Bettina Uppenkamp: Judith und Holofernes in der italienischen Malerei des Barock, Berlin 2004. 37 Dargestellt sind hier die Martyrien der Heiligen Lucia, Dorothea, Christina, Agnes, Caecilia, Agatha, Barbara, Margareta und Apollonia; vgl. Hoppe: Räume, S. 146168.

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Bislang wurden die Dekorationen in den Räumen von Mutter und Sohn stets getrennt voneinander, ohne Berücksichtigung der Raumfunktionen sowie der Relevanz von Poggio Imperiale als Residenz während der Regentschaft betrachtet. Erst durch die Zusammenschau und die Rückbindung auch der weiblichen Figuren an den Stammbaum der Hausherrin wird die Verbindung zur männlichen Genealogie deutlich, die ebenfalls die hohe Abkunft Maria Magdalenas in Szene setzte und zugleich für ihren Sohn beanspruchte. Im Unterschied zu den dynastisch-genealogischen Zyklen der Medici wird die Anciennität der Linie, ihre Sakralisierung mittels Heiliger im Stammbaum sowie der beständige Einsatz für den katholischen Glauben betont. Die Medici suchten eher durch die Darstellung des durch Tugend erworbenen Adels und arma et litterae-Motiven ihren geringen dynastischen Rang zu kompensieren. Dies gilt insbesondere für die Programme in ihrer ehemaligen Residenz, dem Palazzo Vecchio, sowie im Casino Mediceo, im Auftrag des Bruders des verstorbenen Großherzogs Kardinal Carlo de’ Medici.38 Diese Kampagne ging der in Poggio Imperiale unter Beteiligung derselben Künstler unmittelbar voraus. Der Umstand, dass ursprünglich wohl Carlo für die Vormundschaftsregierung vorgesehen war, verleiht der allein männlichen Genealogie im Casino deutlich den Charakter einer Konkurrenzsituation. Den Taten Cosimos II. sind sogar zwei Säle gewidmet, im Gegensatz zu Poggio Imperiale, wo Maria Magdalena zum Andenken an ihren verstorbenen Gemahl eine eher kleine Galerie mit Zugang zum Garten eingerichtet hatte.39 (Abb. 5, Nr. 7; Abb. 10) Die sogenannte Volticina erfüllte jedoch durch ihre prunkvolle Ausstattung den Anspruch einer Ruhmeshalle nach antikem Vorbild. Acht in Nischen eingestellte Statuen und einer Fülle von Kunstgegenständen schmückten ursprünglich die Wände. An der tonnengewölbten Decke sind diplomatische und militärische Erfolge aus

38 Für einen zusammenfassenden Vergleich mit Bibliographie vgl. Hoppe: Räume, S. 198-201. 39 Vgl. Enzo Visconti: »La saletta di Cosimo II. Capolavoro di Matteo Rosselli«, in: ›Il Poggio‹. Giornale dell’Educandando Governativo della SS. Annunziata al Poggio Imperiale di Firenze (Mai 1960), S. 1-5; Fiammetta Faini Guazzelli: »La Volticina del Poggio Imperiale. Un’attribuizione sbagliata«, in: Antichità Viva 7 (1968), S. 25-34; Giuseppe Cantelli: Repertorio della pittura fiorentina del Seicento, Florenz 1983, S. 131; Riccardo Spinelli: »Note su un dipinto di Ottavio Vannini e su alcuni disegni inediti«, in: Paragone 52 (2001), S. 13-35, S. 24-25 und S. 40-46; Acanfora: Maria Maddalena, S. 149; Carla Sodini: L’Ercole Tirreno. Guerra e dinastia medicea nella prima metà del ’600, Florenz 2001, S. 290-292; Hoppe: Räume, S. 189-205.

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Abb. 10: Ottavio Vannini u.a., Volticina, Poggio Imperiale, 1623/24. Aus: Acanfora: Maria Maddalena, Tafel CII der Vita Cosimos II. zu sehen. Im ebenerdigen Appartement der Erzherzogin schloss sich damals ein mit Antiken und einer Grotte versehener Innenhof an (Abb. 5, Nr. 8) sowie die Kapelle mit Geheimausgang (Abb. 5, Nr. Nr. 9).40 Die dahinterliegenden kleineren Räumlichkeiten waren einer intimeren Nutzung vorbehalten. Die Treppe führte ins Mezzanin und zu einem im Inventar erwähnten Geheimraum der Regentin, ein Rückzugsort mit Kleinkunstsammlung, der wahrscheinlich auch der religiösen Meditation diente. Der gegen-

40 Vgl. zur Auswertung des Inventars in diesem Bereich Hoppe: Räume, S. 62-65 und S. 70.

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überliegende Flügel (Abb. 5, Nr. 19-26) war den Gästen vorbehalten; der dortige Saal vornehmlich mit Portraits der Familie Maria Magdalenas geschmückt. Zwei Räume zunächst des Innenhofes (Abb. 5, Nr. 27, 28) dienten Don Lorenzo de’ Medici, Favorit der Regentin und Kammerherr des jungen Großherzog, als Logis. Der Innenhof bot außerdem Zugänge zum Garten und zu einem als Sporthalle angelegtem Raum, der 1625 noch als »Guardaroba« im Inventar aufgeführt wird. Im zweiten Obergeschoss entsprach die Raumdisposition derjenigen im Untergeschoss.41 Die Regentin und ihr Sohn nutzten Räumlichkeiten, die genau über denen im Erdgeschoss lagen. Die Ausstattung war hier etwas weniger prächtig und das Appartement spielte bei wichtigen diplomatischen Empfängen keine Rolle. Auf der gegenüberliegenden Seite hatte man der Mitregentin und Schwiegermutter Maria Magdalenas, Großherzogin Christina von Lothringen ein Appartement eingerichtet, das sie aber wohl eher selten nutzte. Im dritten Geschoss hatten die Geschwister des Thronfolgers sowie weitere Mitglieder der Entourage ihre Zimmer. Es schlossen sich kleinere Einheiten für die Dienstboten im Dachgeschoss an.

Poggio Imperiale als Residenz Durch zahlreiche Aktivitäten verstand es Maria Magdalena, während ihrer Regentschaft die Aufmerksamkeit des Hofes beständig auf Poggio Imperiale zu lenken. Der Palazzo Pitti blieb in dieser Zeit offiziell die Residenz des formal bereits inthronisierten Großherzogs Ferdinando II. und seiner immer noch machtvollen Großmutter Christina von Lothringen.42 Doch lockten zahlreiche villentypische Zerstreuungen in die Residenz der Regentin und alle hochrangigen Gäste wurden während der Regentschaft nach Poggio Imperiale eingeladen. Die bereits erwähnte großartige Theaterinszenierung von 1625 diente als Eröffnungsfest. Für diesen Anlass hatte man das ganze Haus dem höfischen Publikum geöffnet, den Ehrengast durch die gesamte Villa geführt.43 Zugleich thematisierte das Stück La liberazione di Ruggiero dall’Isola di Alcina Geschlechterhierarchie und Staatraison, erfüllte auf spielerische Art panegyrische

41 Vgl. Hoppe: Räume, S. 66-69. 42 Vgl. Strunck: Christiane von Lothringen. 43 Der Hofchronist Tinghi berichtet ausführlich darüber; vgl. Tinghi: Diario; ASF, MM 11, fol. 103v, 109r-111v; Solerti: Musica, S. 179-183.

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wie didaktische Funktionen.44 Des Weiteren unterhielt man den Hof und seine Gäste mit Banketten und Tanzaufführungen; Reitausflüge und Jagden gehörten selbstverständlich auch dazu.45 Hinzu kamen musikalische Darbietungen, häufig auch Kammermusik. Sicherlich ein Novum in der Villennutzung war die Inszenierung religiöser Feierlichkeiten wie zum Beispiel das Fronleichnamsfest von 1625. Dafür nutzte man wie bei der Theaterinszenierung den Vorplatz der Villa. Die Fassade hatte man mit Tapisserien, Gemälden und Festons indes ›verkleidet‹.46 Die Beschreibungen des Empfangs einzelner Persönlichkeiten zeigt wie üblich graduelle Abstufungen und zugleich, wie das komplizierte Machtgefüge zwischen den Regentinnen und ihrem Mündel ausgehandelt und repräsentativ inszeniert wurde. Ein besonders hochstehender Diplomat – wie der Gesandte Frankreichs – wurde zum Beispiel zuerst vom jungen Großherzog im Gästequartier des Palazzo Pitti empfangen, bevor er am nächsten Tag im Sechsspänner nach Poggio Imperiale gefahren wurde.47 Dort empfing ihn der Bruder des Großherzogs mit anderen Herren im Gästeappartement (Abb. 5, Nr. 19-26). Sodann begab man sich in das Gemach der Regentin und ihres Sohnes. Dieser empfing den Gesandten im Saal (Abb. 5, Nr. 3), während die Damen des Hofes im angrenzenden Vorzimmer warteten (Abb. 5, Nr. 14). Nach der ersten Begrüßung ging man gemeinsam in das Vorzimmer, wo Christina von Lothringen drei Schritte auf ihn zuging, bevor man sich setzte und Briefe austauschte. Im Anschluss beging man ein Festessen im Saal, bei dem Maria Magdalena wiederum den ersten Platz einnahm. Wenn die Regentin aufgrund von Krankheit zu Bett lag, kam es auch in ihrem ebenerdigen Schlafgemach zu Empfängen. Deutlich wird in den sich in der Chronik wiederholenden Beschreibungen, dass das offizielle Empfangszeremoniell nur in den drei freskierten Repräsentationsräumen der Regentin im Erdgeschoss stattfand. Damit kam den dort zur Ausführung gelangten Fresken mit den Berühmten Frauen eine besondere Relevanz zu. Die programmatisch verknüpften Räume wurden durch die ritua-

44 Dies wurde bei der jüngsten Neuinszenierung in Basel 2012 ganz deutlich. Aufgeführt im Rahmen des Forschungsprojektes »Wissenschaft/Praxis/Öffentlichkeit – Francesca Caccinis La liberazione di Ruggiero dall’isola di Alcina damals und heute« unter der Leitung von Christine Fischer an der Schola Cantorum Basiliensis; vgl. Christine Fischer/Irène Minder-Jeanneret (Hg.): Zwischentöne – Musik und Diversität (in Vorbereitung). 45 Vgl. Tinghi: Diario, fol. 43v, fol. 55v, fol. 84v, fol. 106v, passim. 46 Vgl. ebd., fol. 48r-48v. 47 Am 31. Mai 1624; ebd., fol. 44v-46r.

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lisierten Handlungsabläufe ebenso miteinander verbunden. Die Suite des Thronfolgers blieb davon allerdings unberührt. Insbesondere hochrangige Persönlichkeiten scheint Ferdinando II. stets zuerst im Saal empfangen zu haben, während die Damen des Hofes im Vorzimmer warteten. In diesem Fall wurde durch das Zeremoniell – also performativ – seine Position als bereits inthronisierter Großherzog der Toskana bestätigt, was jedoch wie ein Widerspruch zum dortigen Programm mit den Berühmten Frauen der Habsburger wirkt. Auch der Umstand, dass seine Repräsentationsräume im Appartement seiner Mutter integriert waren, entspricht nicht den damals bei Hof üblichen geschlechtsspezifischen Raumdispositionen.48 Die Geschlechtertopographie spiegelte und produzierte vielmehr eine Interimslösung, die dem Thronfolger zwar eigene Repräsentationsräume zugestand, die sich aber – da er noch ein Kind war – in Verbindung zu denen seiner Mutter befanden.

Das goldene Zeitalter von Poggio Imperiale Das monumentale Freskenprogramm war ebenfalls Teil dieser ambivalenten Situation. Es thematisiert dezidiert die geschlechtsspezifische Ausübung von Herrschaft durch die Mitglieder des Hauses Habsburg und legitimierte die Regentschaft durch Verweise auf die Translatio imperii und die Pietas Austriaca, also dem Herrschaftsauftrag der Habsburger im Gottesgnadentum. Die Bezugnahme auf die drei großen Religionen und Epochen ist insgesamt als ein universalgeschichtlicher Entwurf zu betrachten, dessen Höhepunkt die christliche Zeit bildet. Damit verbunden waren stets Vorstellungen eines goldenen Zeitalters, das durch die vorbildlichen Handlungen der dargestellten Figuren sowie in der Allusion auf die jeweilige Regierung seine Erfüllung zu finden hatte. Eine Deutung des goldenen Zeitalters geht auf die IV. Ekloge Vergils 48 Für die ›gendered spheres‹ an den italienischen Höfen vgl. Ilaria Hoppe: »A Duchess’ Place at Court: The Quartiere di Eleonora in the Palazzo della Signoria in Florence«, in: Konrad Eisenbichler (Hg.), The Cultural World of Eleonora di Toledo, Aldershot 2004, S. 98-118, hier S. 104-106; Hoppe: Räume, S. 11-13, S. 88-93, und S. 227-229. Für einen Überblick zum Verhältnis von Geschlecht und Raum in der Frühen Neuzeit vgl. Jan Hirschbiegel/Werner Paravicini (Hg.): Das Frauenzimmer. Die Frau bei Hofe in Spätmittelalter und früher Neuzeit, 6. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Dresden 26.-29.9.1998, Stuttgart 2000; Helen Hills (Hg.): Architecture and the politics of gender in early modern Europe, Aldershot 2003.

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Die Villa Poggio Imperiale in Florenz als Schwellenraum

zurück: Die Cumäische Sybille prophezeit den Anbruch eines neuen und zugleich letzten Zeitalters, eines von Saturn beherrschten Reiches in dem die virgo und ein neues vom Himmel ausgesandtes Geschlecht erscheinen.49 Mit der Geburt eines Knaben sollte das eiserne Zeitalter überwunden und eine unter dem Zeichen des Sonnengottes Apoll stehende gens aurea begründet werden. Sobald er »die ruhmvollen Taten der Helden und seines Vaters Verdienste erkenne und den Umfang seiner Leistungen würdige«50, erblühe die Natur und keine Kriege noch Arbeit wären mehr notwendig. Übertragen auf den Zyklus im Palast der Regentin bedeutet dies, dass die Abfolge der Zeitalter mit den Taten der Fürstinnen im Saal ihren Höhepunkt fand. Die weibliche christliche Herrschaft steht im Zentrum des gesamten Konzeptes und wird als Ideal präsentiert, in dem weltliche und geistliche Macht – natürlich beides in der Hand der Habsburger – im Kampf gegen die ›Feinde‹ des Christentums friedlich vereint sind. Die Rosen haltenden Putti des Deckenfreskos unterstützen die Vorstellung eines Paradieses (Abb. 9), in dem Frieden und Harmonie walten und auch im Außenraum der Villa gab es mehrfach Verweise auf die Vorstellung von Poggio Imperiale als einen Garten Eden. Die dichterische Vision Vergils, nach der das goldene Zeitalter in der Geburt eines Knaben als Begründer einer gens aurea mündet, bietet sich demnach auch als Metapher für das Programm in Poggio Imperiale an, da die Regentin die in den Lünetten visualisierte Tradition idealer weiblicher Herrschaft weiterführte, dessen Erbe ein Knabe antreten sollte, ihr Sohn Ferdinando II. Mit diesem würde sich schließlich das Heilsversprechen erfüllen und durch die Abkunft Maria Magdalenas von den Habsburgern sich auch die Dynastie der Medici erneuern. Diese Interpretation veranschaulicht noch einmal den transitorischen Charakter der gesamten Anlage, die weder allein männlich, noch weiblich, weder allein mediceisch noch habsburgisch konnotiert war, sondern in der ständigen Aushandlung dieser Sphären einen ›dritten Raum‹ für die Regentschaft eröffnet hatte. Darin artikulierte sich das Verständnis des Herrschaftsauftrages von Maria Magdalena von Österreich. Den dargestellten Heldinnen vergleichbar, 49 »Ultima Cumaei venit iam carminis aetas; / magnus ab integro saeclorum nascitur ordo. / iam redit et virgo, redeunt saturnia regna; / iam nova progenies caelo dimittitur alto. / tu modo nascenti puero, quo ferrea primum / desinet ac toto surget gens aurea mundo, / caste fave Lucina: tuus iam regnat Apollo.« Vergil: Hirtengedichte, lateinisch und deutsch, hrsg. von Heinrich Naumann, München 1969, S. 86. 50 Vergil: Werke in einem Band. Kleine Gedichte, Hirtengedichte, Lied vom Landbau, Lied vom Helden Aeneas, hrsg. von Dietrich Ebener, Berlin/Weimar 1983, S. 35.

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Ilaria Hoppe

vermochte sie es, eine Krisensituation zum Wohle der Allgemeinheit zu meistern. Als ihr Sohn Ferdinando 1628 volljährig wurde, die Krise also überwunden war, zog sie sich offiziell wieder zurück und die gewünschte Ordnung war wieder hergestellt. Dass Maria Magdalena diesen Eindruck erfolgreich vermittelte, zeigt dieser Bericht eines Gesandten aus Lucca: »[…] vive assai quieta [l’arciduchessa] et apparentemente non dimostra alcun disgusto di questa mutatione e gode le delitie dell’imperiale sua propria villa dove in verità si può dire che tutte le parti del mondo siano concourse per adornarla et arrichirla delle più superbe e più pellegrine cose che si trovano.« 51

51 »Sie [die Erzherzogin] würde ruhig und zurückgezogen leben und in keiner Weise Unwillen über diese Veränderung zum Ausdruck bringen. Sie genieße die Wonnen der Imperiale, ihrer eigenen Villa, wo man in Wahrheit sagen müsse, dass es scheint, als ob die ganze Welt zusammen gekommen wäre, um sie zu schmücken und sie mit den vorzüglichsten und wunderbarsten Dingen zu bereichern, die man nur finden kann.« Zit. n. Amedeo Pellegrini: Relazioni inedite di ambasciatori lucchesi alle corti di Firenze, Genova, Milano, Modena, Parma, Torino (sec. XVIXVII), Lucca 1901, S. 168 (dt. Übers. I.H.).

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Warschaus Sächsische Achse Die Planungen Augusts des Starken für seine polnische Residenz im Kontext seiner Unionspolitik PAUL FRIEDL

»Der Palast, den König Sigmund nach seiner Erwehlung dahin bauen lassen, hat keine Zugänge, und muß man gleichsam nur errathen, wo der Eingang ist, so gar eng und eingeschlossen ist der Ort, da man hinein kommen kan. Dieses Hauß hat ein gar schönes Aussehen: Aber weder Gehöltze, Wasser, noch Garten ist darbey, ja auch keine Gelegenheit dergleichen zu haben oder anzurichten, aus Ursach weil es gantz nahe umgeben und eingefangen wird auf einer Seite von Häusern in der Stadt, und auf der andern von der Weixel.«1

So urteilte 1698 der anonyme Autor einer Beschreibung Polens und seiner Geschichte über die Beschaffenheit des polnischen Königsschlosses in Warschau. Anlass für dieses Urteil war die kurz zuvor erfolgte Krönung des sächsischen Kurfürsten Friedrich August I. zum polnischen König August II. Indirekt verdanken wir der polnischen Herrschaft Friedrich Augusts I. auch das Zeugnis einer weiteren zeitgenössischen Wahrnehmung Warschaus – es entstand infolge des Großen Nordischen Krieges, an dem der Herzogssohn Max

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Polnischer Cedern-Hayn, Das ist, Kurtz-gefaste, doch ausführliche Beschreibung Des Königreichs Polen […], [Breslau] 1698, unpag. http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10690740-7

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Emanuel von Württemberg-Winnental im Dienst des schwedischen Königs teilnahm. Seinem Begleiter Johann Wendel Bardili, dem Verfasser eines entsprechenden Reiseberichts von 1730, fielen vor allem die Magnatenpaläste ins Auge: »[Der] Ort ist eben nicht von solcher Qualität, daß er denen Augen ein sonderliches Vergnügen geben könnte, indem Er, was die Stadt an und vor sich selbsten anbetrifft, nicht sonders wohl gebauet, und über diß sehr unflätig ist […]. Dargegen hat es längst der Weichsel in der Vorstadt vortreffliche und viele Palatia, deren jedes wohl einen Fürsten seinem Stand gemäß beherbergen kan. Diese seynd denen Palatinis, oder Woyvvoden zuständig, die solche bey denen Conventen, auch sonsten etwa zu bewohnen pflegen, wenn Sie von ihren Woyvvodschafften dahin an den Hoff kommen: Diese geben der Stadt von jener Seiten der Weichsel ein solch prächtiges Ansehen, daß man von fernen nicht anders meynet, als wäre die Stadt mit eitel Königlichen Pallästen besetzet, unter diesen ist auch das Königliche Schloß selbsten zu sehen, welches aber nichts besonders vor andern hat, ja vielmehr an äusserlichem Pracht jenen nicht beykommet.«2

In den Augen deutscher Betrachter ließ also das Warschauer Schloss zwar gewisse ästhetische Qualitäten nicht vermissen, war aber für eine Königsresidenz offenbar viel zu klein und sehr beengt gelegen – vor allem im Vergleich mit der durch den polnisch-litauischen Hochadel prächtig ausgebauten Krakauer Vorstadt. (Abb. 1) Wie lässt sich diese Wahrnehmung erklären? Durch die Krönung Friedrich Augusts I. wurden zwei sehr unterschiedliche Herrschaftsgebilde in einer Personalunion verbunden: Mit dem Kurfürstentum Sachsen einerseits ein bedeutendes deutsches Reichsterritorium von europaweit mittelmächtiger Bedeutung, das seit der Reformation politisch und verwaltungstechnisch zum Flächenstaat tendierte. Wie alle anderen Reichsterritorien besaß es seit dem Westfälischen Frieden von 1648 eine außenpolitisch souveräne Position, die aber von den Kurfürsten vor Friedrich August I. nur verhalten ausgenutzt wurde. Die Politik Friedrich Augusts I. trug deutlich absolutistische Züge – wenn auch die Umstrukturierung der Behörden in diesem

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[Johann Wendel Bardili:] Des Weyland Durchl. Printzens Maximilian Emanuels […] Reisen und Campagnen durch Teutschland und Polen, Lithauen […] und Ukrainie, Stuttgart 1730, S. 60f. http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10467911-6

Warschaus Sächsische Achse

Abb. 1: Pierre Ricaud de Tirregaille, Stadtplan von Warschau, 1762; 1: Altstadt – 2: Krakauer Vorstadt – 3: Weichsel – 4: Königsschloss – 5: Sächsisches Palais – 6: Sächsischer Garten, Hauptstaatsarchiv Dresden, Bestand 10006 Oberhofmarschallamt, Plankammer, Cap XI, Nr. 8 = Mikrofilm Nr. 8800. Digitalisat eines Exemplars mit Legende und Vignetten bedeutender Gebäude: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b59041163 (Ausschnitt, bearb. von P.F.) Sinne nicht vollständig durchgeführt wurde: Die lokale Verwaltung befand sich weiter in der Hand des landsässigen Adels, zur Bewilligung außergewöhnlicher Geldmittel war der Fürst weiterhin auf die Zustimmung des Landtags angewiesen. Allerdings schuf sich Friedrich August I. gleich zu Beginn seiner Herrschaft durch das Geheime Kabinett und dessen Besetzung mit vorwiegend landfremdem Adel ein von den Ständen unabhängiges Regierungsgremium. 93

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Durch die Reform des Steuerwesens – er setzte eine Revisionskommission ein, um Steuerunterschlagung zu verhindern und führte eine generelle Verbrauchssteuer ein – verschaffte er sich zudem die Mittel, die er für seine ambitionierte Außenpolitik brauchte.3 Durch die Person des Herrschers verbunden war Kursachsen nun andererseits mit Polen-Litauen, einer multiethnischen, multikonfessionellen und aus einer Vielzahl sozioökonomisch sehr unterschiedlicher Gebiete zusammengesetzten Monarchie, in der allerdings politisch der katholische Adel den Ton angab. Am augenfälligsten traten die weitgehenden Mitspracherechte der Adelsnation bei den Königswahlen zutage, an der teilzunehmen jeder einzelne Adlige berechtigt war, unabhängig von Rang oder Besitz. Über die Entsendung der Landboten in den polnisch-litauischen Reichstag (Sejm) war jeder Adlige zudem an der legislativen Macht beteiligt. Das in diesem Zusammenhang damals wie heute vieldiskutierte liberum veto – das »Recht« jedes Einzelnen, gegen einen Beschluss sein Veto einzulegen – verdankte seine Entstehung der Vorstellung von der unanimitas, der Einstimmigkeit aller Sejmbeschlüsse. Obwohl diese Vorstellung mehr ein Ideal als praktizierte Norm war, bot sie doch solchen Interessengruppen, die nicht mehr bereit waren, im Rahmen der überkommenen Verfassung mit den Übrigen zusammenzuarbeiten, die Möglichkeit, die Beschlussfassung zu blockieren. Erst durch Missbrauch – der auch schon zeitgenössisch so bezeichnet wurde – entstand so aus einer politischen Idealvorstellung das liberum veto, das in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begonnen hatte, die Weiterentwicklung des politischen Systems zu bremsen.4 Die Aufrechterhaltung dieser Partizipationsrechte war jedoch für die breite Masse des Adels ein hohes symbolisches Gut. Aufgrund des hohen Anteils des

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Siehe hierzu ausführlich Wieland Held: Der Adel und August der Starke. Konflikt und Konfliktaustrag zwischen 1694 und 1707 in Kursachsen, Köln/Weimar/Wien 1999. Die Praxis des liberum veto wird in der deutschen Literatur leider meist recht oberflächlich geschildert. Anders dagegen, die polnische Forschung referierend Michael G. Müller: »Polen als Adelsrepublik. Aspekte der neueren verfassungsgeschichtlichen Diskussion«, in: Hugo Weczerka (Hg.), Stände und Landesherrschaft in Ostmitteleuropa in der Frühneuzeit (= Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien, Band 16), Marburg 1995, S. 95-110, hier insb. S. 103. Vgl. auch Rudolf Jaworski/Christian Lübke/Michael G. Müller: Eine kleine Geschichte Polens (= Edition Suhrkamp, Band 2179), Frankfurt a.M. 2000, S. 218-220.

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Adels an der Bevölkerung, etwa 6-8 Prozent,5 war die soziale Differenzierung innerhalb dieser politischen Klasse relativ breit: vom Kleinadligen, der praktisch wie ein freier Bauer lebte, bis zum magnatischen Großgrundbesitzer, der über einen prunkvollen Hof sowie ganze Städte und Dörfer verfügte. Auf der Ebene der politischen Partizipationsrechte hingegen konnte sich selbst der ärmste Adlige mit dem reichsten Magnaten auf eine Stufe gestellt sehen. Im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts war diese politische Ideologie unter dem Schlagwort der »Polnischen« oder auch »Goldenen« Freiheit zum nicht mehr hinterfragten Fluchtpunkt adligen Selbstverständnisses geworden. Im 18. Jahrhundert ist für diese konservative und reformfeindliche Haltung der Begriff des Sarmatismus, in Anlehnung an die adlige Abstammungslegende vom antiken Volk der Sarmaten, geprägt worden.6 Ein reichsständischer Kurfürst und ein polnischer König operierten offensichtlich auf unterschiedlichen Ebenen der Macht, was sich auch in der räumlichen Struktur ihrer Residenzen und Höfe ausdrückte: Sowohl für Verwaltung und Regierung als auch für die Versinnbildlichung der fürstlichen Herrschaftsrechte war in Kursachsen Dresden der bei weitem wichtigste Ort. PolenLitauen hingegen besaß ein so eindeutig zu definierendes höfisches Zentrum nicht. Als Hauptstadt des Königreichs Polen hatte bis Ende des 16. Jahrhunderts Krakau fungiert. Das mit dem Königreich zu dieser Zeit in Personalunion stehende Großfürstentum Litauen besaß mit Wilna seine eigene Residenzstadt. Dazu kam nun an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert Warschau, das – wenn man die beiden genannten Städte als Hauptstädte der jeweiligen Reichs5

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In der älteren Literatur wird noch von ca. 10 Prozent ausgegangen, was mittlerweile als zu hoch erscheinen muss. Vgl. Robert I. Frost: »The Nobility of PolandLithuania, 1569-1795«, in: Hamish M. Scott (Hg.), The European Nobilities in the Seventeenth and Eighteenth Centuries. Band 2, Northern, Central and Eastern Europe, London/New York 2007, S. 183-222, hier S. 192. Ausführlicher hierzu siehe die Diskussion zwischen Martin Faber: »Das Streben des polnischen Adels nach dem Erhalt seiner Privilegien: Zur ursprünglichen Bedeutung des Wortes ›Sarmatismus‹«, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 57 (2009), S. 374-401 und Hans-Jürgen Bömelburg: »Sarmatismus – Zur Begriffsgeschichte und den Chancen und Grenzen als forschungsleitender Begriff«, in: Ebd., S. 402-408. Zu den politischen Idealvorstellungen des polnisch-litauischen Adels vgl. auch ders.: »›Polnische Freiheit‹ – Zur Konstruktion und Reichweite eines frühneuzeitlichen Mobilisierungsbegriffs«, in: Georg Schmidt/Martin van Gelderen/Christopher Snigula (Hg.), Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400-1850) (= Jenaer Beiträge zur Geschichte, Band 8), Frankfurt a.M. u.a. 2006, S. 191-222, hier S. 205-210.

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teile begreift – nun gleichsam Hauptstadt der 1569 geschaffenen Realunion wurde, da dort künftig die gemeinsamen polnisch-litauischen Reichstage stattfinden sollten. Als 1572 der letzte König aus der Dynastie der Jagiellonen, Zygmunt II. August, starb und das alte Recht des Adels zur freien Wahl des Königs reaktiviert wurde, wurde Warschau darüber hinaus zum festen Wahlort bestimmt. Gründe für diese rasche Festlegung auf Warschau sind in der geographisch günstigen Lage – an der Weichsel, zwischen Krakau und Wilna – zu suchen, sowie vielleicht auch in der Tatsache, dass es seit 1548 als Residenz der Königinwitwe Bona Sforza schon als kulturelles Zentrum an Bedeutung gewonnen hatte. Als Folge davon erlebte Warschau nach der Übernahme hauptstädtischer Funktionen eine rasante bauliche Entwicklung, die – dies ist als Besonderheit im Vergleich zu vielen deutschen Reichs- oder Landstädten zu erwähnen – vor allem von hochadligen und geistlichen Bauherren getragen wurde. Vor allem in der Krakauer Vorstadt – sie ist es, die Bardili im oben angeführten Zitat so beeindruckt – entstand ein Viertel, das vom Grundbesitz der Magnaten und den prächtigen, für ihre Aufenthalte am Hof oder auf dem Sejm errichteten Palastbauten dominiert wurde.7 Krakau kamen allerdings weiterhin wichtige symbolische und sakrale Funktionen zu: hier befand sich die Grablege aller polnischen Könige – und damit in den Zeiten der Personal- und dann Realunion auch der litauischen Großherzöge –, hier wurden die polnischen Herrschaftsinsignien aufbewahrt und die neuen Könige gesalbt und gekrönt. Daher konnte Warschau nie in demselben Maße Hauptstadtfunktionen vereinen, wie Krakau es im 14. und 15. Jahrhundert getan hatte.8 7

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Vgl. Maria Bogucka: »Krakau – Warschau – Danzig. Funktionen und Wandel von Metropolen 1450-1650«, in: Evamaria Engel (Hg.), Metropolen im Wandel. Zentralität in Ostmitteleuropa an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Berlin 1995, S. 71-91, hier S. 78f; sowie dies.: »Die Kultur der Städte in der polnischen Adelsrepublik im 17. und 18. Jahrhundert«, in: Wilhelm Rausch (Hg.), Städtische Kultur in der Barockzeit (= Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas, Band 6), Linz 1982, S. 53-78, hier S. 57f. Siehe auch die Einwohnerstatistiken bei Stanisáaw ĩyciĔski: SpoáeczeĔstwo Krakowskiego PrzedmieĞcia magnacko-szlacheckiej enklawy Warszawy w latach 1656-1854 (= Rozprawy i studia, Band 156), Stettin 1991, S. 16-66. Vgl. Andrea Langer: »Residenzfunktion – Residenzwechsel: Krakau und Ujazdów/Warschau zur Zeit von Bona Sforza und Anna Jagiellonka«, in: Marina Dmitrieva/Karen Lambrecht (Hg.), Krakau, Prag und Wien. Funktionen von Metropolen im frühmodernen Staat (= Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, Band 10), Stuttgart 2000, S. 60-73, hier S. 60f. Siehe auch Marek Walczak/Krzysztof CzyĪewski: »Die Krakauer Kathedrale und die Marienkirche in ihrer Funktion für Hof und Stadt«, in: Ebd., S. 103-115.

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Schauplatz der Reichstage, sowie Sitz der wichtigsten polnischen Zentralbeamten, nämlich des Marschalls, des Schatzmeisters und des Kanzlers, wurde das Warschauer Schloss, die ehemalige Residenz der masowischen Fürsten. Das spätere Königsschloss war also zuallererst ein Ort der Republik9 und nicht der Sitz eines Monarchen. Nachdem dort noch unter dem letzten Jagiellonen, Zygmunt II., zwei Säle für die Sejmsitzungen eingerichtet wurden, erhielt das Schloss unter Zygmunt III. aus der Wasa-Dynastie die charakteristische vierflügelige Gestalt mit dem abgeknickten Ostflügel, der dem Innenhof seine fünfeckige Form verlieh. 1609 machte Zygmunt III. das Schloss zu seiner dauerhaften Residenz. Daneben entstanden in den Vorstadtgebieten und der näheren Umgebung weitere königliche Palastbauten, die im Unterschied zum Schloss und analog zu den Magnatenpalais den Charakter privater Residenzen der Wahlkönige hatten.10 Während ein Nebeneinander sakral und weltlich bedeutsamer Orte, wie im Falle Krakaus und Warschaus, für frühneuzeitliche Reiche nichts Ungewöhnliches ist, so besteht doch eindeutig ein Unterschied zwischen der kurfürstlichen Residenz Dresden und Warschau. Und dieser Unterschied wurde von den Zeitgenossen, zumindest in seiner sinnlich wahrnehmbaren Form als Stadtbild, auch beschrieben. Ein bau- und repräsentationsfreudiger Fürst wie Friedrich August I. musste hier etwas unternehmen. Seine Planungs- und Bautätigkeit ist folglich sowohl von deutscher wie von polnischer Seite detailliert aufgearbeitet worden, jedoch wurde bislang kaum versucht, die Aktivitäten in einer seiner beiden Residenzen im Kontext der jeweils anderen bzw. seiner politischen Konzeptionen als polnischer König zu betrachten. Die folgenden Ausführungen werden dies für Warschau beispielhaft versuchen und sind daher der Frage gewidmet, inwiefern August II. in die oben beschriebene räumliche Struktur der Stadt eingreifen wollte und welche funktionellen Aspekte seiner dortigen Palast- und Gartenanlage bestimmten.

Polnisch rzeczpospolita, daneben existiert noch republika, was eher dem deutschen ›Republik‹ entspricht. Eine der zeitgenössischen Eigenbezeichnungen des Staatsgebildes Polen-Litauen lautet jedoch Rzeczpospolita Obojga Narodów, was mit »Gemeinschaft beider Nationen« übersetzt werden könnte – in Anlehnung an die gängige englische Übersetzung »Polish-Lithuanian Commonwealth«. 10 Vgl. Jerzy Lileyko: Das Königsschloss in Warschau, Warschau 1981, S. 15-18. 9

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Die Pläne für das Warschauer Königsschloss und das Sächsische Palais August II. und seine Architekten waren offensichtlich nicht der Ansicht, das alte Königsschloss sei für die Anlage eines Gartens zu beengt gelegen, so dass »keine Gelegenheit dergleichen zu haben oder anzurichten«11 bestand. Eine Entwurfsreihe, die neben Grundrissen auch eine vogelperspektivische Gesamtansicht enthält12, zeigt einen um eine monumentale, barocke Schaufassade mit Garten und Weichselzugang erweiterten Bau. Walter Hentschel hat ihn dem sächsischen Gartenarchitekten Johann Friedrich Karcher zugeschrieben und auf die Anfangsphase der Herrschaft Augusts II. in Polen datiert, da Finanzierung und Genehmigung vorlagen, die Ausführung also vermutlich an politischen Hindernissen scheiterte – dem Nordischen Krieg, der 1700 ausbrach.13 Der Entwurf behält den fünfeckigen Innenhof und den Schlossturm bei, so dass charakteristische Merkmale des Vorgängerbaus weiterhin erkennbar geblieben wären. Die Tatsache, dass bei der Planung der neuen Flügel der abgeknickte Ostflügel geschickt ausgenutzt wurde, um eine Gliederung der Weichselfront zu erreichen, spricht für eine bewusste Konservierung dieser Merkmale.14 In Fassadengestaltung und Dachformen lassen sich Anknüpfungen an 11 Vgl. oben Anm. 1. 12 Auf eine Abbildung der Gesamtansicht wird hier verzichtet, da Reproduktionen in guter Qualität schon mehrfach publiziert wurden. Siehe bspw. Stephan Reinert: »Überlegungen zum bau- und gartenkünstlerischen Schaffen Johann Friedrich Karchers (1650-1726)«, in: Sächsische Schlösserverwaltung (Hg.), Der Große Garten zu Dresden. Gartenkunst in vier Jahrhunderten, Dresden 2001, S. 43-53, hier S. 46 (Abb. 20); Werner Schmidt/Dirk Syndram (Hg.), Unter einer Krone. Kunst und Kultur der sächsisch-polnischen Union, Leipzig 1997, S. 397 (Kat-Nr. 782). Die Grundrisse finden sich bei Walter Hentschel: Die sächsische Baukunst des 18. Jahrhunderts in Polen. Bildband, Berlin 1967, Abb. 102f. 13 Vgl. Walter Hentschel: Die sächsische Baukunst des 18. Jahrhunderts in Polen. Textband, Berlin 1967, S. 95-100. Zweifel an der Autorschaft Karchers äußert Jerzy Lileyko im Rahmen einer ausführlichen Besprechung von Hentschels Werk, vgl. Jerzy Lileyko: »W sprawie autorstwa i datowania projektów zamku królewskiego z czasów Augusta II oraz rysunku bramy zamkowej tzw. ĝwiĊtojaĔska«, in: Biuletyn historii sztuki 32,3/4 (1970), S. 359-363, hier S. 361. Hentschels Zuschreibung wurde jüngst noch einmal von Reinert: Überlegungen, S. 46, aufgegriffen. Vgl. dazu auch die derzeit im Entstehen begriffene Dissertation Reinerts zu Karcher (TU Dresden). 14 Zur Baugeschichte in der Frühphase des Wahlkönigtums vgl. Mariusz Karpowicz: »Das königliche Schloß in Warschau (1597-1619). Der erste Schritt zur Metropole«, in: Engel: Metropolen, S. 109-114.

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Abb. 2: Gesamtplan des Geländes von ca. 1726 mit ehemaligen Grundstücksgrenzen und früherer Bebauung, Hauptstaatsarchiv Dresden, Bestand 12884 Karten, Risse und Bilder, Schrank VII, Fach 87, Nr. 7, Bl. a = Mikrofilm 9263 (Orig. koloriert)

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typische Elemente der polnischen Architekturtradition bzw. an die Residenz Jans III. Sobieski in Wilanów erkennen.15 Als August II. 1710, nachdem er im Nordischen Krieg die Krone hatte niederlegen müssen, als König nach Polen zurückkehren konnte, verlegte er seine Bauvorhaben auf die Errichtung einer neuen Residenz im Vorstadtgebiet Warschaus. 1713 erwarb er ein in den 60er Jahren des vorangegangenen Jahrhunderts für den Dichter und polnischen Großschatzmeister Jan Andrzej Morsztyn errichtetes Palais, das den Kern eines großangelegten Komplexes aus Palastbauten, Garten und Kasernengebäuden bilden sollte. Bis 1726 schuf er, durch weitere Ankäufe, im Westen den für eine ausgedehnte Gartenanlage erforderlichen Raum. Die Kasernengebäude noch weiter westlich entstanden auf Grund, der nicht gekauft sondern lediglich gepachtet worden war. Die Grundstücke auf der anderen, der Ostseite bis hin zur Krakauer Vorstadt, wurden, unter Aussparung des Lubomirski-Palais, im gleichen Zeitraum gekauft und die Gebäude dort abgerissen. Eine Bauaufnahme von 1726 zeigt die ursprünglichen Grundstücksgrenzen mit den später unter August II. errichteten Gebäuden. (Abb. 2) Mag die Lage dieser Grundstücke vielleicht auch den sich bietenden Kaufoptionen geschuldet sein,16 so ist sie doch im Nachhinein als in symbolischer Hinsicht glücklich gewählt zu bezeichnen. Die Krakauer Vorstadt war die einzige Ausfallstraße aus der Stadt Richtung Süden und wurde bereits von zahlreichen Magnatenpalästen gesäumt. Stadtauswärts führte sie unter anderem zu den Landsitzen in Ujazdów und Wilanów, stadteinwärts zum Königsschloss. In östlicher Richtung wies die Anlage, die in späterer Zeit als ›Sächsische Achse‹

15 Reinert: Überlegungen, S. 46. Zur bewussten Beibehaltung überkommener Bausubstanz in der Dresdner Residenz Augusts II. vgl. Matthias Müller: »Das Mittelalter hinter barocker Maske. Die Visualisierung architektonischer Tradition in den Residenzbauten der Hohenzollern und Wettiner«, in: Stephanie Hahn/Michael H. Sprenger (Hg.), Herrschaft – Architektur – Raum. Festschrift für Ulrich Schütte zum 60. Geburtstag (= Schriften zur Residenzkultur, Band 4), Berlin 2008, S. 124146, hier S. 136f. 16 In der polnischen Literatur wird oft betont, schon Morsztyn habe die Lage des Grundstücks so gewählt, dass das zu errichtende Palais sich von der übrigen Bebauung der Krakauer Vorstadt abheben würde. Ermöglicht worden sei dies durch eine leichte Erhebung des Geländes – die allerdings heute nicht mehr erkennbar ist. Vgl. Zbigniew Bobrowski: »Analiza przemian Ogrodu Saskiego (Materiaáy do sprawy adaptacji zabytkowych parków)«, in: Prace Instytutu Urbanistyki i Architektury 4,2 (1954), S. 14-30, hier S. 14f; ElĪbieta CharaziĔska: Ogród saski, Warschau 1979, S. 13f.

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Abb. 3: Entwurf für einen Neubau im Westteil des Gartens, mit Verlängerung der Achse Richtung Wola, 1730 (?)17, Hauptstaatsarchiv Dresden, Bestand 12884 Karten, Risse und Bilder, Schrank VII, Fach 89, Nr. 1 A e = Mikrofilme 10267 / 1 u. 2 (Orig. koloriert) bezeichnet wurde, auf das Feld bei dem Dorf Wola, wo traditionell die Königswahlen stattfanden. Einer der zahlreichen Entwürfe für den Um- bzw. Neubau des Palastes, die in der Zeit Augusts II. entstanden, zeigt die Fortsetzung der Achse in diese Richtung und ihren Abschluss mit einem Rundplatz. (Abb. 3) Zunächst wurde das Palais jedoch im Inneren an die Bedürfnisse des Hofes angepasst, sowie erste Erweiterungsbauten aus Holz errichtet – der König rechnete mit ihrem baldigen Abriss zugunsten eines Um- bzw. Neubaus im größeren Stil. Zwischen 1713 und 1733 entstand hierfür eine Reihe von Entwürfen, auf die nun näher eingegangen werden soll, da sie Aufschluss über die von August II. beabsichtigte Symbolik und politische Funktion des Palastes geben. Bei dreien dieser Projekte, die etwa zwischen 1726 und 1730 entstanden,18 sind jeweils zwei Räume vorgesehen, die Hentschel als Senatoren- bzw. Landbotensaal identifiziert – die beiden Orte, an denen die drei Stände des Sejms zu ihren Beratungen zusammenkamen: König, Senatoren und Landboten.19 (Abb. 4) August II. plante also nicht nur eine private Residenz, wie es

17 Bei Hentschel: Textband, S. 132, Teil des Projekts V, datiert auf 1730. 18 Hentschel, dessen Gruppierung und Datierung ich hier folge, bezeichnet die Entwurfsreihen als Projekte II, III bzw. V. Vgl. Hentschel: Textband, S. 116, S. 120f. bzw. S. 131f. 19 Zu Hentschels Ausführungen ist lediglich hinzuzufügen, dass es sich bei den Estraden nicht in beiden Fällen um den Sitz des Königs handelte, sondern diejenige

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bisher unter den polnischen Königen üblich gewesen war. Er beabsichtigte vielmehr, seiner eigenen Residenz die politische Funktion des alten Schlosses, des »Schlosses des Königs und der Republik« zu übertragen.20 Mit dem Entwurf für den Umbau des Königsschlosses stehen diese späteren Projekte also nicht nur insofern in Verbindung, als es darum ging, eine den Repräsentationsansprüchen Augusts II. genügende königliche Residenz zu schaffen. Es ging auch darum, die Dynastie der Wettiner sichtbar mit dem Königtum und den tradierten politischen Institutionen des polnisch-litauischen Gemeinwesens zu verbinden. Die späteren Planungen an der Stelle des Morsztyn-Palais zielten nicht auf den Bau einer weiteren privaten königlichen Residenz sondern eines neuen »Palasts der Republik«, der das alte Königsschloss ersetzen sollte. Modernisierung und Anknüpfung an die Tradition spielten dabei gleicherweise eine Rolle. Vorbilder für dynastische Kontinuität gab es auch im Wahlkönigreich Polen-Litauen: Schon die Thronfolge der Jagiellonen war de iure nicht erblich; die Wahl des männlichen Erben vivente rege ein ständiger Streitpunkt zwischen königlicher Dynastie und Adel. Nach der Bildung der Realunion 1569 und dem Aussterben der Jagiellonen regierten mit den Wasa noch drei Könige aus derselben Dynastie in Folge. Gerade die Wasa-Dynastie bot für die wettinische Baupolitik Anknüpfungspunkte, war doch der Ausbau des Schlosses in seiner gegenwärtigen Form durch sie erfolgt. Sein Kern mit den beiden Sejmsälen war wiederum noch durch den letzten Jagiellonen Zygmunt II. August angelegt worden, an den August II. auch durch die Wahl seines polnischen Königsnamens anknüpfte. Obwohl das Königsschloss nicht den Charakter einer erblichen Residenz besaß, gab es also sehr wohl die Möglichkeit, den Ort mit dem Gedanken einer dynastischen Herrschaft zu verbinden. Zweifellos hätte jedoch die Verlegung zweier der politisch bedeutsamsten Orte des Reichs in eine neue, wettinische Residenz, wie bei den Planungen aus den 1720er Jahren angedacht, einen großen Bruch mit der Tradition bedeutet – im Erfolgsfall jedoch auch einen umso sinnfälligeren Ausdruck der Verbindung der Wettiner mit dem polnischen Thron. Warum aber wurden diese Pläne nicht einmal ansatzweise realisiert? Der Ausbau des alten Vorstadtpalasts in eine Königsresidenz blieb unter August II. im Landbotensaal für die Sekretäre und Schreiber vorgesehen war. Vgl. Hentschel: Textband, S. 102 und Lileyko: Königsschloss, S. 10. 20 Bei den Entwürfen aus den Jahren 1727-1730 begegnen wir zudem den charakteristischen Spitzdächern wieder, die – wie oben erwähnt – als Anlehnung an ein autochthones Element der Herrschaftsarchitektur gelten könnten. Vgl. Hentschel: Bildband, Abb. 138, 140, 144, 146, 148, 149, 152, 159-165.

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Abb. 4: Entwurf für das Erdgeschoss aus derselben Reihe. Im linken, unteren Flügel die beiden Sejmsäle mit Königsthron und Marschallsstuhl.21 Hauptstaatsarchiv Dresden, Bestand 12884 Karten, Risse und Bilder, Schrank VII, Fach 89, Nr. 1 A d = Mikrofilme 10266 (Ausschnitt) in den Ansätzen stecken,22 lediglich der Garten wurde in der beabsichtigten Weise als Festort genutzt. Neben allfälligen pragmatischen Gründen – also aufgrund leerer Kassen – sollten hier vor allem das Verhältnis Augusts II. zu seinem polnischen Königtum und die Veränderungen in seinen diesbezüglichen politischen Ambitionen in Betracht gezogen werden. Nach zwei groß angelegten Versuchen, die Union in seinem Sinne, nämlich als enge Kooperation in allen Bereichen mit starker königlicher Zentralmacht, zu gestalten, musste August II. 1716/17 mit den Bestimmungen des Warschauer Vertrags bzw. des »Stummen Sejms« Beschränkungen seiner Unionspolitik hinnehmen. Die Möglichkeiten der personalen Verflechtung und der Einflussnahme auf 21 Vgl. dazu Hentschel: Textband, S. 132. 22 Auch unter August III. wurden diese Pläne nicht wieder aufgegriffen sondern die herrschaftliche Bautätigkeit unter anderen Vorzeichen mit einer Erweiterung des alten Schlosses realisiert. Dies stellt ein Problem dar, das im vorliegenden Aufsatz nicht behandelt werden kann.

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polnisch-litauische Angelegenheiten waren stark eingeschränkt worden, Augusts magnatische Gegenspieler wollten einen starken König und einen wie auch immer gearteten dynastischen Anspruch verhindern. Weitreichende Pläne für eine Verlegung der Reichstage in die, nach wie vor als privat zu bezeichnende, Residenz des Königs hätten also kaum Aussicht auf Erfolg gehabt und wären im Fall ihrer Erzwingung als Provokation empfunden worden.23

Der Sächsische Garten Zum Morsztyn-Palais gehörte bei seinem Ankauf durch August II. auch ein Gartengrundstück, das jedoch viel kleiner war, als die später vom Garten eingenommene Fläche. Schon 1713 und 1714 wurden die ersten beiden unmittelbar an das Morsztynsche Grundstück angrenzenden Parzellen mit den darauf befindlichen Bauten gekauft. Obwohl die Umgestaltung des Gartens – durch Morsztyn ursprünglich wohl im italienischen Stil angelegt – noch auf sich warten ließ, wurde er schon für Hoffeste genutzt. Die erste Etappe der Gartengestaltung, die Anlage der drei mittleren Alleen bis zur Höhe des späteren Salons im Westteil, wurde dann 1717 abgeschlossen. Dieser ersten Stufe folgten weitere Ankäufe bis zur endgültigen Größe des Gartens im Jahr 1726 und die parallele Umgestaltung zu einem ausgedehnten Barockgarten mit Parterre und Boskettareal. Der Grand Salon als wichtigster Festort wurde 1724 fertiggestellt, ebenso das Eiserne Portal, das den Garten an der neuen Westseite abschloss. Im Boskettareal waren, dem nicht mehr zur Gänze ausgeführten Plan von 1726 nach, Spielhäuser geplant, an anderer Stelle außerdem ein Amphitheater sowie ein Schießplatz. Das Bockumsche Palais, das schräg zur Achse lag, wurde provisorisch als Orangerie genutzt, sollte aber einem Neubau weichen – wozu es nie kam.24 (Abb. 5) Im 19. Jahrhundert hat der Garten als größter Innenstadtpark Warschaus Berühmtheit erlangt. Im Zuge der literarischen und wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihm wird daher meist großer Wert auf die Feststellung gelegt, 23 Das legt auch das Beispiel der Renovierung des Senatorensaals im Königsschloss nahe. Diesen ließ August ab 1721 mit einem Bildprogramm ausstatten, das den König und die Person Augusts II. entschieden über die Republik stellte. Das Projekt musste nach Protesten des Adels revidiert werden. Vgl. Jerzy Lileyko: »Izba Senatorska na Zamku warszawskim jako Ğwiątynia króla-herosa Augusta II«, in: Barok 5,1 (1998), S. 137-148, hier S. 140f. 24 Vgl. Hentschel: Textband, S. 152-158.

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Abb. 5: Gesamtplan des Geländes von 1765, Hauptstaatsarchiv Dresden, Bestand 12884 Karten, Risse und Bilder, Schrank VII, Fach 87, Nr. 7, Bl. b 2 = Mikrofilm 9265

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er sei der erste öffentliche Park Warschaus gewesen, und zwar beinahe von Beginn an, denn August II. habe ihn 172725 dem Publikum zugänglich gemacht. In der Forschung sind verschiedene Meinungen geäußert worden, worin der Zweck dieser Öffnung zu sehen sei. Zbigniew Bobrowski vermutete, August II. habe, um seinem Sohn den Weg zur Thronfolge zu ebnen, den polnischen Adel für sich gewinnen wollen. Dieser – bedacht auf seine Gleichheitsund Freiheitsrechte – hätte einen nicht zugänglichen Park dieser Größe kaum gutgeheißen.26 Hentschel widersprach dem und sah in der Öffnung eine rein verkehrstechnische Notwendigkeit, da die neue Anlage den Verkehr in die OstWest-Richtung blockiert habe. An dieser Stelle möchte ich eine dritte Erklärungsmöglichkeit aufzeigen, die mir plausibler als diese beiden Möglichkeiten erscheint. Hentschel selbst begründet nämlich seine Vermutung mit dem Hinweis auf Aussagen der sächsischen Verwalter der Anlage, denen zufolge der freie Durchgang für Personen jeden Stands eine große Bequemlichkeit darstelle; daher könne der Garten wohl kaum nur den Adel adressiert haben. Allerdings stammen die von Hentschel zitierten Quellen aus der Zeit nach 1763, als die Anlage schon nicht mehr die Funktion eines königlichen Palastes zu erfüllen hatte und daher über die beabsichtigte Nutzung in den 1720er und 1730er Jahren schlecht Auskunft geben können. Selbst wenn man sich spezifisch an den Adel hätte wenden wollen, wäre eine Öffnung wahrscheinlich, aus pragmatischen Gründen, für alle Personen erfolgt, die entsprechend auftraten, also auch für wohlhabende Bürger und den Klerus.27

25 Vgl. etwa Bobrowski: Analiza, S. 20; CharaziĔska: Ogród saski, S. 44f.; Zdzisáaw Bieniecki: »OĞ barokowa Warszawy«, in: Kwartalnik Architektury i Urbanistyki 5 (1960), S. 469-522, hier S. 474. 26 Vgl. Bobrowski: Analiza, S. 20. 27 Abgesehen davon standen für den Verkehr in Ost-West-Richtung südlich und nördlich des Gartens Straßen zur Verfügung. Es erscheint auch fraglich, ob der auf einem Plan von 1734 vermerkte Zugang zum Garten (Abb. 6) tauglich für Pferde oder gar Kutschen oder Fuhrwerke gewesen wäre. Die Tatsache, dass die Gartenbesucher dort etwas umständlich durch das Palais geleitet wurden, nimmt Hentschel als Beleg für seine These. Vgl. W. Hentschel: Textband, S. 172. CharaziĔska wiederum erwähnt, bei der Eröffnung in den 20er Jahren des 18. Jahrhunderts habe der Weg durch den Hauptkorridor des Palais geführt. Vgl. CharaziĔska: Ogród Saski, S. 45. Ich gehe jedenfalls davon aus, dass die indirektere, spätere Führung des Wegs den Wunsch ausdrückt, die Besucher aus den Hauptteilen des Palastes fernzuhalten.

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Abb. 6: Bauaufnahme des Palais von 1734, linker Flügel. Der »Durchgang nach den Königl. Garthen und Alle« führt vom Vorhof zu der Treppe Richtung Garten und teilt den Flügel fast genau in der Mitte.28 Hauptstaatsarchiv Dresden, Bestand 12884 Karten, Risse und Bilder, Schrank I, Fach 27, Nr. 16b, Bl. a = Mikrofilm 10499 (Ausschnitt; Orig. koloriert) Doch zielt Hentschels Gegenargument am eigentlichen Problem der Ausgangsthese vorbei. Denn Bobrowskis Formulierung, August II. habe den Adel für seine Ziele gewinnen wollen, trifft den Kern der Sache nicht. Meiner Ansicht nach kann nämlich die, mit gewissen Einschränkungen hinsichtlich der Standeszugehörigkeit, öffentliche Zugänglichkeit eines Hofgartens dieser Größe für den sächsischen Herrscher durchaus als schlichte Selbstverständlichkeit gelten. Darüber hinaus hatte August II. selbst bestimmte Vorstellungen davon, wie er seine Größe als Monarch mittels öffentlich zugänglicher Palastanlagen darstellen wollte. Ziehen wir zuerst die offensichtliche Parallele zum Großen Garten in Dresden: Dieser war zunächst noch relativ frei zugänglich; erst 1715 wurden erstmals schriftliche Verhaltensregeln für die Nutzung des Parks formuliert, bevor August II. schließlich 1718 bestimmte Bevölkerungsteile ganz von der Benutzung ausschloss. Alle diese Maßnahmen hatten jedoch nur zum Ziel, Schäden von Pflanzungen und Tiergehegen fernzuhalten – dass der Hof die Nutzung des Gartens ausschließlich sich selbst vorbehielt, lag wohl nicht 28 Vgl. dazu Hentschel: Textband, S. 172f.

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im Bereich des Machbaren.29 Wenn wir uns dann den etwa im selben Zeitraum in Dresden entstandenen Repräsentationsbauten zuwenden, stellen wir sogar eine Strategie herrschaftlicher Repräsentation fest, die in Richtung größerer Öffentlichkeit weist, nämlich mit der Neuordnung der kurfürstlichen Sammlungen durch August den Starken. Zwischen 1723 und 1729 entstand mit dem Grünen Gewölbe eine für eine Teilöffentlichkeit geöffnete Schau fürstlicher Schätze, die auf die Personalunion mit Polen-Litauen verwies, aber auch auf die machtpolitischen Bündnisse mit Russland, Dänemark und dem Kaiser. Der Zwinger wurde zur gleichen Zeit zum Schauplatz der Wissenschaften umgewandelt, die Gemäldegalerie neu strukturiert und mit dem Japanischen Palais schließlich eine entsprechende Zurschaustellung der Porzellansammlung geplant. An diesen Orten wurden den Besuchern, die entsprechend auftraten bzw. das Eintrittsgeld zahlen konnten, Rang und Macht des Kurfürst-Königs sowie der Reichtum Sachsens vor Augen geführt.30 Neben der Ausstellung von Sammlungsobjekten bzw. technischen Errungenschaften, wie dem Porzellan, spielte hier in der Barockzeit immer auch die Gartenarchitektur, im Zusammenspiel mit der Gebäudearchitektur, eine große Rolle, indem sie dem Betrachter ein Beispiel kunstvoller Komposition, geometrischer Perfektion und der Beherrschung und Dienstbarmachung der Natur durch den Menschen vor Augen führte.31 Ein konkretes Ziel, wie Bobrowski es annimmt, kann dabei natürlich immer auch eine Rolle spielen, es verdeckt jedoch den Zusammenhang einer solchen Repräsentationsstrategie mit dem, was für die Zeit typisch und allgemein war. Ein öffentlicher Garten entstand in Warschau also weder, 29 Vgl. Cornelia Jöchner: Die »schöne Ordnung« und der Hof. Geometrische Gartenkunst in Dresden und anderen deutschen Residenzen (= Marburger Studien zur Kunst- und Kulturgeschichte, Band 2), Weimar 2001, S. 129-135. 30 Aus der unüberschaubaren Literatur zu den Dresdner Kunstsammlungen seien hier nur, im Hinblick auf der Frage der Öffentlichkeit der Sammlungen, genannt: Gerhard Glaser: »Staats- und wirtschaftspolitische Gesichtspunkte bei der Einrichtung des Grünen Gewölbes«, in: Dresdner Hefte. Beiträge zur Kulturgeschichte 12,2 (1994), S. 42-47, hier S. 43f.; Katharina Pilz: »Die Gemäldegalerie in Dresden unter der Berücksichtigung der Mengsschen Abgusssammlung«, in: Bénédicte Savoy (Hg.), Tempel der Kunst. Die Geburt des öffentlichen Museums in Deutschland 1701-1815, Mainz 2006, S. 145-174, hier S. 166f.; Carsten-Peter Warncke: »Die Kunstpolitik der sächsischen Herrscher im Zeitalter der sächsisch-polnischen Union«, in: Rexheuser: Personalunionen, S. 177-199, hier S. 182f.; Dirk Syndram: Die Schatzkammer Augusts des Starken. Von der Pretiosensammlung zum Grünen Gewölbe, Leipzig 1999, S. 216-218. 31 Vgl. hierzu mit weiterführenden Literaturhinweisen Jöchner: Die »schöne Ordnung«, S. 18-20.

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weil die schiere Größe der Sächsischen Achse es notwendig machte, einen zusätzlichen Durchgangsweg zu schaffen, noch weil August II. konkret damit rechnete, durch eine solche Maßnahme mehr Anhänger zu gewinnen – sondern weil eine solche Anlage zu der Repräsentationskultur gehörte, die er von Kursachsen mitbrachte. Die eigene Größe in dieser Weise zu demonstrieren kann als Teil dessen begriffen werden, was Barbara Stollberg-Rilinger als »höfische Öffentlichkeit« bezeichnet hat. Stollberg-Rilinger bezieht sich dabei vor allem auf zeremoniell durchgeplante Ereignisse wie etwa den Empfang ausländischer Botschafter.32 Im Unterschied dazu sind die Orte, von denen hier die Rede war, ständig präsent und auch für ein nichtadliges Publikum zugänglich und erfahrbar. Sie wenden sich also nicht an eine eher elitäre, internationale, d.h. zwischenhöfische Öffentlichkeit, sondern an eine breitere, lokale. Wurden sie schließlich in Reiseberichten beschrieben und gewürdigt, konnten sie auch überregional und bei denen wirken, die nicht die Gelegenheit hatten, sie zu bereisen.33

32 Barbara Stollberg-Rilinger: »Höfische Öffentlichkeit. Zur zeremoniellen Selbstdarstellung des brandenburgischen Hofes vor der europäischen Öffentlichkeit«, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 7 (1997), S. 145176, hier S. 148, S. 153f. 33 Vgl. bspw. die Beschreibung der kurfürstlichen Sammlungen in [Peter Winanden:] Herrn Georgen von Fürst, eines berühmten Cavaliers aus Schlesien, Curieuse Reisen durch Europa, in welcher allerhand Merckwürdigkeiten zu finden, Sorau 1739, S. 429-433, http://digital.slub-dresden.de/id351211799 vom 28.10.2012. Für weitere literarische Zeugnisse von den Sammlungen vgl. die Quellenauszüge in Karin Kolb/Gilbert Lupfer/Martin Roth (Hg.): Zukunft seit 1560. Die Anthologie. Von der Kunstkammer zu den Staatlichen Kunstsammlungen, Berlin 2010, S. 38-67, sowie in Savoy: Tempel, S. 396-435. Zur Medialität der höfischen Öffentlichkeit vgl. die systematisierenden Bemühungen von Volker Bauer: »Strukturwandel der höfischen Öffentlichkeit. Zur Medialisierung des Hoflebens vom 16. bis zum 18. Jahrhundert«, in: Zeitschrift für Historische Forschung 38 (2011), S. 585-620, hier insb. S. 589f., S. 598, sowie die Überlegungen von Michaela Völkel: Schlossbesichtigungen in der Frühen Neuzeit. Ein Beitrag zur Frage nach der Öffentlichkeit höfischer Repräsentation, München/Berlin, insb. S. 68. Mit der Variante eines nicht direkt in den Hof eingebundenen Publikums, das durch publizistische, marktorientiere Verwertung des Gesehenen zur repräsentativen Fernwirkung eines Hofes beiträgt, ist – so scheint mir – eine Variante der Medialität beschrieben, die durch Bauers Modell noch nicht abgedeckt wird.

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Resümee Das Anliegen dieses Aufsatzes war es, einen – vielleicht den – polnischen Repräsentationsbau Augusts II. und seinen funktionellen Aspekt sowie die Verbindungen zwischen der Dresdner und der Warschauer Planungs- und Bautätigkeit deutlicher hervortreten zu lassen, als dies bisher geschehen ist. Dabei hat sich gezeigt, dass die Pläne Augusts II. für den Umbau des Warschauer Königsschlosses und den Neubau seines eigenen Palastes im Zusammenhang mit der Entwicklung seiner politischen Konzeptionen zu sehen sind. Beinahe bis an das Ende seiner Herrschaft lassen sich die Vorhaben einer engeren Verbindung Sachsens und Polens bzw. der Wettiner und des polnischen Throns auch an seiner Planungstätigkeit ablesen. Mit dem Sächsischen Garten wurde eine Anlage realisiert, die genau die gleichen Vorstellung von der Adressierung einer höfischen, aber auch bürgerlichen Öffentlichkeit aufgriff, wie es der Große Garten und andere semiöffentliche Einrichtungen in Dresden taten. Abschließend soll die Geschichte des Großprojekts Sächsische Achse kurz in den Kontext der Herrschaft Augusts II. in Polen-Litauen eingeordnet werden. Das ursprüngliche Vorhaben, das bestehende Königsschloss zu erweitern, muss im Zusammenhang mit den Plänen aus der Anfangsphase seines Königtums betrachtet werden. Die Vereinigung mit Polen-Litauen sollte eine neue mitteleuropäische Großmacht schaffen und die Dynastie der Wettiner in die erste Liga der europäischen Fürstenfamilien katapultieren. Die Anfangsphase seiner Herrschaft verbrachte August II. vorwiegend in Polen; zusammen mit Dänemark und Russland schloss er Bündnisverträge gegen das den Ostseeraum dominierende Schweden. Der schließlich begonnene Krieg gegen Schweden sollte das im 17. Jahrhundert von Polen an Schweden abgetretene Livland zurückgewinnen und damit das Ansehen des immer noch umstrittenen Königs verbessern. Wären neugewonnene Gebiete zudem nicht direkt dem Königreich eingegliedert worden, sondern in der Hand der Wettiner verblieben, etwa als Lehnsgut der polnischen Krone, wäre dies ein erster Schritt in Richtung einer dauerhafteren Verbindung der wettinischen Dynastie mit dem Königreich gewesen.34 In einer Denkschrift aus dieser Frühphase seiner Herrschaft mit dem Titel Umb Pohlen in Flor und Ansehung gegen seine nachbarn zu sehzen skizzierte August II. zudem ein Reformprogramm für das polnisch-litauische Reich. Den 34 Vgl. Jacek Staszewski: August II Mocny, Breslau 1998, S. 101-110.

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in den Kriegen des 17. Jahrhunderts zutagegetretenen militärischen Schwächen sollte mit Grenzfestungen und einem stehenden Heer abgeholfen werden. Eine gesicherte und für Kriegsjahre im Voraus vorgehaltene Finanzierung sollte die Bevölkerung von Belastungen der Einquartierung großer Truppenteile frei halten. Daneben entwarf August II. in groben Zügen ein merkantilistisches Programm zur Wirtschaftsförderung: Das Manufakturwesen war zu fördern, reiche ausländische Familien zur Ansiedlung zu bewegen und feste Zölle und allgemeine Verbrauchssteuern einzuführen.35 Der Residenzenbau findet in diesem Programm keine Erwähnung, doch der Entwurf für das Königsschloss spricht eine beredte Sprache: Warschau sollte zur Hauptstadt eines neuen, gefestigten und mächtigen Herrschaftsverbandes werden und diese Stellung musste entsprechend nach außen dargestellt werden. Die Musikwissenschaftlerin Alina ĩórawska-Witkowska spricht gar aufgrund ihrer Untersuchungen zur sächsischen Musikkultur in Warschau davon, der Wettiner habe das »provinzielle Warschau zum kulturellen Hauptzentrum der beiden Unionsstaaten«36 machen wollen. Nach dem katastrophalen Scheitern der kriegerischen Unternehmungen gegen Schweden und seiner Absetzung als König durch Karl XII. nahm August II. einen erneuten Anlauf, die Personalunion zu seinen Bedingungen zu gestalten. 1710 konnte er als König nach Polen-Litauen zurückkehren und begann mit den geschilderten Ankäufen und Planungen für eine neue Residenz, die das Königsschloss ersetzen sollte und an Großartigkeit dem ersten Entwurf für das Schloss in nichts nachstehen würde. Gleichzeitig änderte er sein politisches Vorgehen – vermutlich war er aufgrund seiner Erfahrungen im Großen Nordischen Krieg zu der Erkenntnis gekommen, dass sich innerhalb der bestehenden Möglichkeiten die gewünschte enge Verbindung nicht herstellen ließe. Daher sollten beide Länder möglichst bald zu einer Realunion vereinigt werden. Hierfür war die wettinische Thronfolge in Polen-Litauen notwendig, außerdem die Umgestaltung der polnisch-litauischen ständischen Institutionen, vor allem die Abschaffung des liberum veto, und die teilweise Verschmelzung von sächsi-

35 Der Text wurde ediert von Stanisáaw Piotrowicz: »Przyczynek do charakterystyki Augusta II«, in: Kwartalnik Historyczny 26 (1912), S. 83-87. 36 Alina ĩórawska-Witkowska: »Die Folgen der Herrschaft Augusts II. für die Musikkultur Warschaus«, in: Rex Rexheuser (Hg.), Die Personalunionen von Sachsen-Polen 1697-1763 und Hannover-England 1714-1837. Ein Vergleich (= Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien, Band 18), Wiesbaden 2005, S. 221-238, hier S. 222.

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schen und polnisch-litauischen Institutionen, etwa des Heeres oder der Exekutive in Gestalt des sächsischen Geheimen Kabinetts.37 Änderungen an der Verfassung des Reiches waren jedoch über den Sejm, aus dem jederzeit ein Veto drohte, oder über die schwache königliche Exekutivmacht, kaum möglich. August II. versuchte es daher mit Zwangsmitteln: mit der Präsenz sächsischer Truppen im Reich. Mit dem Vorhaben der Türkenabwehr und dann mit der Provokation eines Aufstands auf dem Lande durch seine Truppen schuf er sich den Vorwand, sächsische Truppen dauerhaft im Land zu stationieren. Da der Adel aus gutem Grund die Beschneidung seiner umfangreichen Mitspracherechte fürchtete, bildete sich aus den Gegnern Augusts II. 1715 die Konföderation von Tarnogród, deren Auseinandersetzungen mit den königlichen Truppen das Land in einen bürgerkriegsartigen Zustand versetzten.38 Unter russischer Vermittlung konnte jedoch eine Einigung im Warschauer Vertrag von 1716 gefunden werden. Dieser wurde 1717 von einem außerordentlichen Sejm bestätigt und beschränkte die Anwesenheit sächsischer Truppen im Land auf eine 1200 Mann starke Leibgarde. Zudem wurde ein stehendes polnisch-litauisches Heer eingerichtet sowie zu dessen Finanzierung eine regelmäßige Kopfsteuer beschlossen. Für die Pläne Augusts II. bedeutend war die Entfernung aller sächsischen Adligen aus polnischen und litauischen Ämtern und der polnisch-litauischen Diplomatie. Staatsämter sowie hohe und mittlere Hofämter, die teilweise ebenfalls den Charakter von Staatsämtern besaßen, durfte der König nur noch mit einheimischem, katholischem Adel besetzen.39 Die Phase zwischen 1710 und 1717 war also gewissermaßen die Fortführung der ursprünglichen sächsischen Polenpolitik mit anderen Mitteln. Ausdruck findet dies auch in den zur gleichen Zeit anlaufenden Arbeiten an einer neuen Königsresidenz in Warschau.

37 Vgl. Józef Andrzej Gierowski: Rzeczpospolita w dobie záotej wolnoĞci. 1648-1763 (= Wielka historia Polski, Band 5), Krakau 2001, S. 227-230. 38 Vgl. hierzu knapp R. Jaworski/Ch. Lübke/M. Müller: Geschichte Polens, S. 175f., sowie ausführlicher Józef Andrzej Gierowski: MiĊdzy saskim absolutyzmem a záotą wolnoĞcią. Z dziejów wewnĊtrznych rzeczypospolitej w latach 1712-1715, Breslau 1953, und ders.: W cieniu ligi póánocnej, Breslau 1973. 39 Katrin Keller: »Personalunion und Kulturkontakt. Der Dresdner Hof im Zeitalter der sächsisch-polnischen Union«, in: Rex Rexheuser (Hg.): Die Personalunionen von Sachsen-Polen 1697-1763 und Hannover-England 1714-1837. Ein Vergleich (= Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien, Band 18), Wiesbaden 2005, S. 153-176, hier S. 163f.

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Die folgende Phase, zwischen 1717 und 1733, ist schwieriger zu beurteilen. Hier war die Herrschaft Augusts II. gefestigt, er musste jedoch innerhalb enger verfassungsmäßiger Grenzen versuchen, Nutzen aus der Union zu ziehen. Aber warum wurden etwa die umfangreichen Planungen für die Warschauer Residenz, die gerade in diese Zeit fallen, nicht umgesetzt? Immerhin war dem König das Bauen auf seinem eigenen Grundbesitz nicht verboten worden. Eine große Rolle spielte sicher die Hochzeit seines Sohnes und Nachfolgers von 1719, für die in Dresden die wichtigsten Festorte rechtzeitig fertiggestellt werden mussten. Doch auch ohne dies schien sich seine Aufmerksamkeit wieder verstärkt Dresden zuzuwenden. Dies wird etwa bei der großangelegten Neustrukturierung der kurfürstlichen Sammlungen deutlich. Vielleicht herrschte aufgrund der 1717 gefundenen Regelungen eine gewisse Resignation hinsichtlich der politischen Möglichkeiten in Polen-Litauen vor. Womöglich aus diesem Grund sind größere Vorhaben am Sächsischen Palais, das vielleicht sogar einmal die neue Hauptresidenz hatte werden sollen, nicht weiter ausgeführt worden. Doch bedeutete das, dass August II. sein polnisches Königtum – abgesehen von Rang und Status, die es ihm einbrachte – gleichgültig war? Ich denke nicht, denn weiterhin lassen sich Bemühungen erkennen, den Austausch und die Verknüpfung zwischen beiden Ländern zu fördern. So setzt beispielsweise zu dieser Zeit das Bemühen ein, verstärkt polnische Adlige und zwar vor allem den adligen Nachwuchs, an den kursächsischen Hof zu holen. An die Dresdner Ritterakademie und das Kadettenkorps kamen verstärkt junge Polen, die anschließend in großer Zahl am Dresdner Hof als Pagen, Kammerdiener und Kammerjunker, besonders im Hofstaat des Kurprinzen dienten.40 Zu dieser Zeit mag August II. längerfristig gedacht und im fortgeschrittenen Lebensalter der Sicherung der Thronfolge für seinen Sohn Vorrang vor großartigen Bauvorhaben gegeben haben. Die Geschichte des Sächsischen Palais und des dazugehörigen Gartens zeugt also zugleich von den in den 1720er Jahren ungebrochenen politischen Ambitionen Augusts II., als auch von seiner geschwächten Position als Herrscher zweier Länder und den prekären Aussichten für eine wettinische Thronfolge in Polen. 40 Vgl. Staszewski: August II Mocny, S. 216; ders.: Polacy w osiemnastowiecznym DreĨnie, Breslau 1986, passim, sowie Katrin Keller: »Der Hof als Zentrum adliger Existenz? Der Dresdner Hof und der sächsische Adel im 17. und 18. Jh.«, in: Ronald G. Asch (Hg.), Der europäische Adel im Ancien Régime. Von der Krise der ständischen Monarchien bis zur Revolution (ca. 1600-1789), Köln/Weimar/Wien 2001, S. 207-233, hier S. 222f.

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Stiften und Stabilisieren

Raum, Funktion und Repräsentation Metamorphosen der Macht im Moskau und St. Petersburg der Frühen Neuzeit JAN KUSBER

1. Entwicklung und Konkurrenz der Kapitalen Fragt man nach der Reichweite von Lesarten historischer Geschehnisse durch architektonische und massenwirksam inszenierte Repräsentationen des Staates, so bieten sich für das Zarenreich vor 1917 vor allem jene zwei Städte an, die Hauptstadt- und Residenzfunktion besaßen: Moskau und St. Petersburg. Beide verkörpern ein komplexes Gemisch von Traditionen und auf sie bezogenen Gedächtnisorten, die gleichermaßen Wandlungen und unterschiedlichen Inanspruchnahmen ausgesetzt sind. Beide Städte waren und sind bis heute also als Zentralen politischer Machtausübung für den russländischen Kontext von überragender Bedeutung. In anderen Zusammenhängen ist die Konkurrenz der beiden Kapitalen um Hauptstadtfunktionen bereits hinlänglich erörtert worden. Das Bild Moskaus als dem Herzen und St. Petersburgs als dem Kopf Russlands ist eines, welches gelegentlich Napoleon bei seiner Entscheidung, 1812 in Richtung Moskau und nicht nach St. Petersburg zu marschieren, zugeschrieben wird. Die Figuren in Lev Tolstojs Krieg und Frieden (Vojna i mir) leben jene Gegenüberstellung, die mit einem Ensemble von Stereotypen korrespondiert: Moskau, die russische Hauptstadt des Zarenreiches, in der eben auch russisch gesprochen und gedacht wird, und St. Petersburg, die europäische, in deren Salons im Roman

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das Französische dominiert.1 Es fällt aber bis in die unmittelbare Gegenwart und bis in akademische Milieus hinein mit einem Autostereotypen zusammen, das ein Eigenleben zu führen begann, die wechselseitige Wahrnehmung geprägt und zu einer nicht endenden Konkurrenz geführt hat, bei der St. Petersburg vor 1917 die »Oberhand« hatte, Moskau die Kapitale an der Neva wiederum nach der Revolution, aber auch nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums neuerlich auf den zweiten Platz verwiesen hat. Mit dem Umzug der politischen Entscheidungsgewalten nach Moskau als Hauptstadt des sowjetischen Experiments veränderte sich die politische Bedeutung ›Petrograds‹ respektive ›Leningrads‹ sukzessive: Auch wenn man der Stadt nicht den Schauplatz der Revolutionen von 1905 und 1917 absprechen konnte – Zentrum der Sowjetunion, ja der sozialistischen Welt wurde nun Moskau.2 Die rasante Entwicklung Moskaus als ökonomische und politische Hauptstadt des postsowjetischen Russland hat diese Hierarchie zementiert, woran auch das aufwendig inszenierte Stadtjubiläum St. Petersburgs im Jahr 2003 nichts änderte. An dieser Konkurrenzsituation bleibt für den hier interessierenden Zusammenhang jedoch die Entstehung St. Petersburgs bedeutsam: Diese Stadt war von Beginn an, seit ihrer Gründung 1703, auf Repräsentation und die Legitimation von Herrschaft über ein multiethnisches Imperium angelegt.3 Zumindest im 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schien der ganze städtische Raum auf diese Zwecke hin gestaltet zu werden. Die Herrscher versuchten in ihrer jeweiligen Bautätigkeit und auch in ihren »Scenarios of Power«,

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Nikolaus Katzer: »Tolstoj – ›Krieg und Frieden‹«, in: Pim den Boer/Heinz Duchhardt/Georg Kreis/Wolfgang Schmale (Hg.), Europäische Erinnerungsorte, Band 2, Das Haus Europa, München 2012, S. 229-237. Hans Lemberg: »Moskau und St. Petersburg. Die Frage der Nationalhauptstadt in Russland. Eine Skizze«, in: Theodor Schiedler/Gerhard Brunn (Hg.), Hauptstädte in europäischen Nationalstaaten (= Studien zur Geschichte des 19. Jahrhunderts, Band 12), München/Wien/Oldenbourg 1983, S. 103-111. Siehe hierzu auch am Beispiel der Stadtnamen den anregenden Beitrag von Boris Groys: »St. Petersburg, Petrograd, Leningrad«, in: Ders., Die Erfindung Russlands, München 1995, S. 167-178; Olga Gritsal: »Moscow and St. Petersburg, a Sequence of Capitals, a Tale of Two Cities«, in: Geojournal. An International Journal on Human Geography and Environmental Sciences 51,1/2 (2000), S. 33-45. Elena S. Pogosjan: Petr I. Architektor russkoj istorii, St. Petersburg 2001, S. 77-95; Lindsey Hughes: Peter the Great. A Biography, New Haven 2002, S. 66-68 und S. 161-164.

Raum, Funktion und Repräsentation in Moskau und St. Petersburg

die Richard Wortman meisterlich nachzeichnete,4 den städtischen Raum zu prägen. In Moskau wird man dies lediglich für den Kreml als Herrschaft repräsentierendes Zentrum der Macht, in Loslösung von der Festungsfunktion, und für die Sakralbauten der Stadt, nicht aber für den gesamten Stadtraum festhalten können. Erst in der Sowjetzeit mit ihren städtebaulich programmatischen Zerstörungen und Umgestaltungen seit den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts, so ließe sich pointiert behaupten, hatte das Regime die Vereinnahmung des gesamten städtischen Raumes zum Ziel. In St. Petersburg hingegen waren die zum Wasser hin ausgerichteten Palastfassaden, die Regelmäßigkeit der Perspektiven und städtebaulichen Dominanten von dem ersten Generalplan der Stadt darauf ausgerichtet, Herrschaft und Orientierung an westeuropäischen Stadt-, Kultur- und Herrschaftsansprüchen zu realisieren. Die hauptstädtische Öffentlichkeit, die zunächst kaum sichtbaren städtischen Unter- und Mittelschichten wie die durch den Hof angezogenen Eliten, die diese Öffentlichkeit in Teilöffentlichkeiten repräsentierten, erfüllten die ebenso glanzvollen wie janusköpfigen Entwürfe und Fassaden mit Leben und machten die Stadt zum Schauplatz der Geschichte. Stadtplanung und die Größe der Stadt, die beim Tode Peters I. (1672-1725) erst 40.000 Einwohner hatte, an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert über 200.000 und in den 1880ern die Millionengrenze überschritt, und die Besetzung verschiedenster Orte der Nevametropole durch historische Ereignisse führten zu einem spannungsreichen Verhältnis zwischen dem Gesamtensemble der daraus staatlicherseits generierten Gedächtnisorte auf der einen und den unterschiedlichen Kodierungen von Plätzen, Orten, Straßen und Denkmälern durch ihre Bewohner auf der anderen Seite.5 Diese spezifische Speicherfunktion machte schon 1922 Nikolaj Anciferov, einer der Verfechter einer lokalen kulturwissenschaftlichen Forschung (kraevedenie), die den Raum als wirkungsmächtig für den Charakter einer Stadt erkannte, beim Spaziergang durch den städtischen Raum aus; er bezeichnete sie als »die Seele Sankt Petersburgs« und versuchte sie beim Betrachten der

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Richard Wortman: Scenarios of Power. Myth and Ceremony in the Russian Monarchy, 2 Bände, Princeton 1995/2000. Zur Geschichte der Stadt im Überblick vgl. Jan Kusber: Kleine Geschichte St. Petersburgs, Regensburg 2009; Karl Schlögel/Frithjof Benjamin Schenk/Markus Ackeret (Hg.), Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte, Frankfurt a.M. 2007.

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einzelnen Gedächtnisorte wieder in erkennbare und interpretierbare Bestandteile zu zerlegen.6 Bis in das 18. Jahrhundert hingegen war Moskau das einzig wirklich urbane Zentrum des Zarenreiches, für welches man die Entwicklung urbaner Räume betrachten könnte.7 In den beiden letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts begann der Ausbau des Kremls, in dessen Umkreis sich nun in großer Zahl Handwerker und Kaufleute niederließen. Die Einwohnerzahl stieg bald darauf auf mehr als 100.000, so dass um 1600 eine Ringmauer um Moskau und eine Erdverschanzung hinzukamen, die die blühende Stadt fortan nach außen abschirmten. 1571 war sie ein letztes Mal von den Tataren heimgesucht worden, wobei die überwiegend aus Holz gebaute Stadt abbrannte.8 In der Zeit der Wirren an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, die durch unklare Thronfolgeverhältnisse ausgelöst wurde, rückten polnische Truppen in die Stadt und versuchten, falsche Zaren als eigene Marionetten zu installieren. Ein Landesaufgebot der Bevölkerung belagerte 1612 eine polnische Besatzung im Moskauer Kreml und zwang sie zur Kapitulation. Diese Ereignisse ebneten den Weg für die Romanov-Dynastie auf den russischen Thron.9 Stadt und Macht waren also eng miteinander verbunden. Mit den ersten Tuch-, Papier- und Ziegelmanufakturen, Glasfabriken und Pulvermühlen und den Handelsreihen wuchs Moskau.10 Die Zahl der Ausländer, die teilweise gleichsam exterritorial wohnten, nahm zu. Im Jahre 1687 ist die erste Hochschule der Hauptstadt, die Slawisch-Griechische Akademie eröffnet worden, 1703 erschien hier die erste gedruckte russische Zeitung Vedomosti. Im Jahre 1712 ging unter Zar Peter das Privileg des Regierungssitzes wie erwähnt auf das neu gegründete St. Petersburg über, aber Moskau blieb das wirtschaftliche und geistig-kulturelle Zentrum des Landes. 1755 wurde in 6

Nikolaj P. Anziferow: Die Seele Petersburgs. Mit einem Vorwort von Karl Schlögel, aus dem Russischen von Renata von Maydell, München 2003. 7 Alexander M. Martin: »Sewage and the City: Filth, Smell, and Representations of Urban Life in Moscow, 1770-1880«, in: Russian Review 67,2 (2008), S. 243-274. 8 Ruslan G. Skrynnikow: Iwan der Schreckliche und seine Zeit, München 1992, S. 205. 9 Chester L. Dunning: A Short History of Russia’s First Civil War. The Time of Troubles and the Founding of the Romanov Dynasty, University Park. Pa. 2001, S. 270-299. 10 Zur Stadtentwicklung Moskaus generell Jurij Lužkov u.a. (Hg.): Istorija Moskvy s drevnejšich vremen do našich dnej, 3 Bände, Moskau 1997; zur Persistenz über Epochengrenzen hinweg siehe Karl Schlögel: Moskau lesen. Verwandlungen einer Metropole, 3. Aufl., München 2011.

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Moskau die erste russische Universität als Nukleus einer Bildungselite eröffnet. Im eingangs erwähnten »Vaterländischen Krieg von 1812«, als Napoleon Bonaparte (1769-1821) mit seiner »Großen Armee« auf Moskau zumarschierte, verlor die Stadt in einem Flächenbrand – die Bewohner zündeten ihre Häuser an und flohen aus der Stadt – zwei Drittel ihrer Bausubstanz. Aber in Moskau kam die französische Armee zum Stehen, hier wurde sie wegen Hunger und Kälte zur Umkehr gezwungen, die mit ihrem Untergang endete.11 Der im Frühjahr 1813 einsetzende umfangreiche Wieder- und Neuaufbau sprengte rasch den alten städtischen Verteidigungsring und verschaffte der Stadt von der Mitte des 19. Jahrhunderts an durch zügigen Straßen- und Bahnstreckenbau Anschluss an die wichtigsten Städte des Landes.12 1890 fuhren die ersten elektrischen Straßenbahnen. Die erste Volkszählung des Landes fand am 28. Januar 1897 statt, die Bevölkerung der Stadt war auf etwa eine Million angewachsen und bis 1914 hatte sie sich verdoppelt. Moskau war eine Metropole, die neben der Symbol- und Hauptstadtfunktion immer auch die eines urbanen Handelszentrums hatte. Anders als in St. Petersburg, ließen sich in Moskau seit der frühen Neuzeit immer herausgehobene (Erinnerungs-)Orte für verschiedene Gruppen und Schichten finden, die nicht auf die Macht bezogen werden mussten, sondern auch von ihr unabhängig sichtbar existierten.13 Was das alles mit Metamorphosen der Macht zu tun hat, leuchtet unmittelbar ein. Räume, zumal in Residenzen und Hauptstädten, symbolisieren Macht und Machtverhältnisse. Sie wiederum generieren und/oder perpetuieren oder transformieren diese inszenierte Repräsentation im Raum. Dabei sind es immer Akteure, die Räume nutzen, ihnen Funktionen zuweisen, den Raum als Bühne einsetzen und ihn fallweise ganz neu gestalten. Ordnungen und Hierarchien werden über solche Repräsentationen verschoben oder aber bestätigt, in jedem Fall ist jedoch Handeln der Akteure, Individuen und Gruppen nötig. Sie sind es, die Diskurse konstituieren und verändern. Dies gilt

11 Hierzu aus der Fülle der Literatur Adam Zamoyski: Napoleon's Fatal March on Moscow, London 2004; Dominic Lieven: Russia Against Napoleon. The Battle for Europe, 1807 to 1814, London 2010. 12 Zum Wiederaufbau nach 1812 Albert J. Schmidt: The Architecture and Planning of Classical Moscow. A Cultural History, Philadelphia 1989, S. 143-202. 13 Jan Kusber: »›Heiliges Rußland‹ und ›Sowjetmacht‹. Moskau als Ensemble von Gedächtnisorten«, in: Rudolf Jaworski/Jan Kusber/Ludwig Steindorff (Hg.), Gedächtnisorte in Osteuropa. Vergangenheiten auf dem Prüfstand (= Kieler Werkstücke, Reihe F, Band 6), Frankfurt a.M. u.a. 2003, S. 97-115.

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zumal für das Bauen und Entwickeln urbaner Räume, die in der Folge der Ausweis der guten Regierung und in diesem Sinne repräsentativ sind. Baulich gestaltete Räume, das Errichten von Ensembles, in denen Gärten als Bestandteil einer von Akteuren geformten »Landschaft« ihren Ort finden, sind per se Symbole von Machtverhältnissen, die nicht mit dem Bau an sich stabil sind. Akteure können auch hier immer an deren Veränderung arbeiten.14 Ich wähle daher zwei scheinbar auseinanderliegende Beobachtungsfelder, um Differenzen und Überschneidungen zwischen den beiden Hauptstädten in ihren räumlichen Funktionen zu erarbeiten und aufzuzeigen, in welcher Weise von Metamorphosen der Macht vom Moskauer Reich zum petrinischen Imperium gesprochen werden kann. Damit geht es um Metamorphosen an zwei Beispielen und zugleich im Überblick um Prozesse, die von der Staatspitze ausgehen. Es geht erstens um Moskau als Krönungsstadt und zweitens um Städtebau als Mittel der Repräsentation und Modernisierung am Beispiel St. Petersburgs in der Zeit Katharinas II. Die Herrscherin wird unter anderem deshalb als Brücke zwischen den beiden Beispielen gewählt, weil sie – auch nach dem Wechsel des Hofes nach St. Petersburg – dem Ausbau Moskaus zentrale Bedeutung beimaß.

2. Moskau als Krönungsstadt Wie kein anderes Bauwerk symbolisiert der Kreml an dem Fluss Moskva den rasanten Aufstieg des Großfürstentums Moskau an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. Die Holzbefestigungen und Holzpaläste wurden durch steinerne abgelöst; der Großfürst ließ sich italienische Baumeister, Aristotele Fioravanti und andere, kommen, die die Paläste und Kathedralen des Kremls in einer spezifischen Renaissancerezeption gestalteten und die Einbeziehung des Moskauer Großfürstentums in die europäischen Kontexte am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit nach außen kehrten. Nach der relativen Abgeschlossenheit der altrussischen Fürstentümer in der Zeit des sogenannten Tatarenjochs wurde schon an diesem Bauensemble der Aufstieg einer neuen Groß14 Klaus Gestwa: »Der Blick auf Land und Leute. Eine historische Topographie russischer Landschaften im Zeitalter von Absolutismus, Aufklärung und Romantik«, in: Historische Zeitschrift 279 (2004), S. 63-125; Anna Ananieva: Russisch Grün. Eine Kulturpoetik des Gartens im Russland des langen 18. Jahrhunderts, Bielefeld 2010. Zur Schaffung von Räumen durch Handeln vgl. Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2007.

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macht mit einem über die Architektur kommunizierten Selbstbewusstsein deutlich.15 Als sich Ivan IV. Groznyj (1530-1584) – besser als der Dräuende und nicht der Schreckliche übersetzt – im Jahre 1547 erstmals in der Mariä EntschlafensKathedrale (Uspenskij sobor) des Moskauer Kremls zum Zaren hatte krönen lassen, war die Krönungszeremonie die nach außen gewandte Visualisierung dieses Selbstbewusstseins.16 Ihre prunkvolle Ausgestaltung verwies auch auf Programmatik und Selbstverständnis des neuen Herrschers. Für viele russische Historiographen, slavophile Intellektuelle und Künstler des 19. Jahrhunderts, die die Nationsbildungsprozesse der Russen beförderten,17 war Ivan IV. der Herrscher, der am Beginn des Aufstiegs Moskaus und später Russlands zur Großmacht stand. Zentrum Russlands war in dieser Sicht die Stadt Moskau und dessen Herz war der Kreml. Ivan IV. selbst war diese »nationale« Sicht freilich fremd. Seine Titulatur umfasste nicht nur den Titel Zar von Moskau, sondern auch den eines Zaren von Kazan’, Astrachan’ und Sibir’. Schon daran wird deutlich, worin das Problem einer verengten nationalen Sicht, die sich unter verschiedenen Metamorphosen nicht nur im Zarenreich sondern auch in der Sowjetunion und im postsowjetischen Russland hält und hielt, lag. Russland war stets ein Vielvölkerimperium, das sich in der Herrschaftspraxis nicht auf die ethnisch russischen Untertanen verengen ließ.18 Die Krönung Ivans IV. am 16. Januar 1547 war die erste zeremonielle Einsetzung eines Großfürsten im Moskauer Reich. Warum sich Ivan IV. dazu entschloss, kann heute nicht mehr mit Bestimmtheit gesagt werden, da die Quellenlage widersprüchlich und lückenhaft ist. Sicher ist aber, dass der Me-

15 Lužkov: Istorija Moskvy, Band I, XII-XVII veka, S. 90-103. 16 Vgl. dazu knapp Isabel de Madariaga: Ivan the Terrible. First Tsar of Russia, New Haven, London 2005, S. 50-53; ausführlicher mit instruktiver quellenkritischer Diskussion Peter Nitsche: Großfürst und Thronfolger. Die Nachfolgepolitik der Moskauer Herrscher bis zum Ende des Rjurikidenhauses (= Kölner Historische Studien, Band 21), Köln/Wien 1972, S. 259-276; David B. Miller: »The Coronation of Ivan IV of Moscow«, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas N.F. 15 (1967), S. 559-574. 17 Kevin M. Platt: Terror and Greatness. Ivan and Peter as Russian Myths, Ithaca/London 2011, S. 164f. 18 Jan Kusber: »›Entdecker‹ und ›Entdeckte‹: Zum Selbstverständnis von Zar und Elite im frühneuzeitlichen Moskauer Reich zwischen Europa und Asien«, in: Renate Dürr (Hg.), Expansionen in der Frühen Neuzeit (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 34), Berlin 2005, S. 97-115.

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tropolit Makarij einen starken Einfluss auf den Großfürsten Ivan ausübte und ihm zu dieser Krönung riet. Der Akt sollte gewonnene Handlungsfreiheit symbolisieren, die Ivan bisher nicht gehabt hatte: Ivan IV. folgte seinem Vater Vassilij III. bereits im Alter von drei Jahren in der Herrschaft. Er wurde von einem Bojarenrat inthronisiert sowie vom Metropoliten gesegnet, aber nicht gekrönt. Es folgte eine Zeit der Regentschaft zunächst seiner Vormünder, dann des Rates, die erst mit der Krönung Ivans IV. und dessen Alleinherrschaft zu Ende ging.19 Viel ist über das Krönungszeremoniell Ivans diskutiert worden. Die Zeremonie des Jahres 1547 ist nicht ganz ohne Vorbild, dennoch entstand durch die Besetzung verschiedener Orte in dem durch Ivan III. ausgebauten eine eigene Topographie der Macht, die zur Form eines autochthonen Ganzen führte. (Abb. 1) Sie orientierte sich an byzantinischen Vorbildern von Mitregentenkrönungen und der Tradition der Orthodoxie. Die Krönung nahm der Metropolit Makarij vor, auf den wohl auch die Idee und die Gestaltung der Zeremonie zurückgehen.20 Die Krönungsinsignien, die in der Zeremonie Verwendung fanden, wurden durch hohe Würdenträger aus dem Palast zur Krönungskirche des Kremls gebracht. Sie bestanden aus der Kappe des Monomach, einem Brustkreuz, einem Zepter sowie dem Barmen, einem Schulterumhang. Der Metropolit nahm sie in Empfang, bevor sie offen auf den Altar vor der Ikonenwand gelegt wurden. Anschließend betrat unter dem Huldigungsruf »Viele Jahre!« das Gefolge des Großfürsten nach Rängen geordnet die Kirche. Ivans Beichtvater schritt mit Kreuz und Weihwasser vor dem Großfürsten, welcher von seinen Brüdern und deren Kindern gefolgt wurde. Zum Schluss betraten hohe Würdenträger und Adlige die Kathedrale. In der Kirche stand ein zwölfstufiges Podest mit zwei Thronen, einem für den Großfürsten und einem anderen für den Metropoliten. Beide bestiegen das Podest nach einem Gebet. Während der Metropolit auf seinem Thron Platz nahm, blieb Ivan IV. vor diesem auf der untersten Stufe stehen. Der Großfürst berief sich auf das Recht, gekrönt zu werden, da seine Vorfahren bereits Großfürsten von Vladimir, Novgorod, Moskau und ganz Russland gewesen seien. Der Metropolit erkannte seinen Anspruch an und segnete ihn. Ivan IV. bat den

19 Hierzu noch immer wertvoll Hartmut Rüss: »Machtkampf oder ›feudale Reaktion‹? Zu den innenpolitischen Auseinandersetzungen nach dem Tod Vasilijs III«, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas N.F. 18 (1970), S. 481-502. 20 Nitsche: Großfürst und Thronfolger, S. 260.

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Abb. 1: Krönung Ivans IV. am 16. Januar 1547, 1568-76, Miniatur aus der Licevoj letopisnyj svod / Carstvennaja Kniga (Illustrierten Chronikhandschrift / Buch der Zaren), Gosudarstvennyj istoriþeskij muzej (GIM), Moskau, Inv. 80370, OR Sin. 14921 Metropoliten, nach altem Ritus zum Zaren gekrönt zu werden, und setzte sich auf seinen Thron. Ob eine Salbung erfolgte, bleibt unklar.22 Unter dem Gesang der Geistlichen empfing der designierte Zar dann die Insignien. Zuerst legte der Metropolit ihm das Barmen um, ehe er ihm die Kappe des Monomach aufsetzte. Anschließend erhielt er das Zepter und wurde zum von Gott gekrönten Zaren ausgerufen. Dann belehrte ihn der Metropolit 21 Digitalisat: Gosudarstvennyj russkij muzej, St. Petersburg, Ausstellung »Svjataja Rus’« (29. Oktober 2011-5. November 2012), Nr. 149, http://www.svyatayarus.ru /data/manuscripts/149_licevoy_svod/index.php 22 Nitsche: Großfürst und Thronfolger, S. 264f.

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über seine Rechte und Pflichten. Die Belehrung glich einer geistlichen Weihe, die den Zaren und die Russisch-Orthodoxe Kirche miteinander verband. Ob Ivan IV. das Abendmahl empfing, ist nicht sicher, jedoch eher unwahrscheinlich. Er war wohl nur Augenzeuge des Abendmahls. Nach der Huldigung verließ Ivan IV. im vollen Krönungsornat die Kathedrale. Außerhalb der Kirche wurde der Gekrönte dreimal mit Gold und Silbermünzen überschüttet. Dieses Szenario wiederholte sich an anderen Kirchen des Kremls, in denen der Zar betete und seiner Vorfahren gedachte. Ein Bankett im Palast schloss diese erste Zarenkrönung ab. Die Krönung Ivans IV. war an den Raum des Kremls gebunden. Er bewegte sich zwischen den Kremlkirchen und seinem Palast, verließ also das Zentrum der Macht nicht. Dies galt aber nur für dieses Zeremoniell. Seit dem 16. Jahrhundert kennt man den feierlichen Einzug ausländischer Gesandter zu Audienzen im Kreml und den Auszug des Zaren aus Anlass des Besuchs umliegender Klöster und heiliger Orte zu Zwecken der Wallfahrt. Gerade auch Ivan IV. suchte Sommer- und Nebenresidenzen auf, etwa den von ihm gebauten Kreml in Vologda. Seine Nachfolger im 17. Jahrhundert bevorzugten den Holzpalast von Kolomenskoe bei Moskau. Die Annahme des Kaisertitels durch Peter I. 1722 führte zu einigen Veränderungen im Krönungszeremoniell.23 Die Kaiser krönten sich fortan selbst und anschließend die Kaiserin, so war Katharina I., die Peter 1724 selbst krönte, die erste gekrönte Gemahlin eines Zaren seit 1606.24 Dadurch, dass der Kaiser sich fortan selbst mit der kaiserlichen Würde ausstattete und diese nicht mehr durch den Metropoliten oder Patriarchen empfing, veränderte sich auch die Rolle der Kirche bei der Krönung. Mit der Selbstkrönung der Monarchen war der Wandel vom Zarentum zum Kaisertum in Russland abgeschlossen. Gleich einem absolutistischen Herrscher bedeutete die Selbstkrönung, dass die Kaiser weder einer weltlichen noch einer kirchlichen Macht unterstanden, sondern die Macht direkt von Gott erhielten. Die neue Bedeutung der Krönung beeinflusste auch ihre Zeremonie. Hatte früher der Metropolit neben dem Zaren gesessen, saß er nun bei der Geistlichkeit. Außerdem vollzogen seitdem anstelle des Metropoliten oder des Patriarchen mehrere hohe Würdenträger der Kirche die Kaiserkrönungen.

23 Reinhard Wittram: Peter I. Czar und Kaiser. Zur Geschichte Peters des Großen in seiner Zeit, Band 2, Göttingen 1964, S. 462-474. 24 Evgenij V. Anisimov: Five Empresses. Court Life in Eigtheenth Century Russia, Westport 2004, S. 30f.

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Nach der Annahme des Kaisertitels durch Peter I. sollten die Krönungsinsignien Russlands politische Ausrichtung nach Westen symbolisieren. Deshalb wurde die traditionelle Monomachsmütze durch die Kaiserkrone ersetzt und das Barmen durch die Kette des Andreasordens. Außerdem ließ Peter I. einen neuen Krönungsmantel anfertigen. Katharina I. ließ er, wie bereits erwähnt, noch zu seinen Lebzeiten krönen. Peter II. wurde neun Monate nach dem Regierungsantritt, Kaiserin Anna Ivanova nach etwas über zwei Monaten, Elisabeth I. nach fünf Monaten und Katharina II. nach drei Monaten gekrönt. Noch vor der Krönung verloren Ivan VI. und Peter III. ihren Thron. Ort der Krönung blieb bis zur Thronbesteigung des letzten russischen Kaisers Nikolaus II. der Moskauer Kreml.25 Mit der Verlegung der Hauptstadt nach St. Petersburg wurde die räumliche Inbesitznahme der Topographie imperialer Macht noch erweitert. Auch der Einzug nach Moskau wurde minutiös choreografiert. Nehmen wir das Beispiel Katharinas II.:26 Als die Zarin und ihre Suite im September 1762 feierlich in Moskau Einzug hielten – 28 Equipagen und etwa 400 Pferde formierten diesen Zug –, war die Stadt prächtig herausgeputzt. Unter Glockengeläut, vorbei an Tribünen und Galerien, jubelndem Volk sowie dem Spalier aus Elitetruppen der Garderegimenter zog sie im Kreml ein. Fünf Tage später erfolgte die Krönung mit all jenen Elementen, die die Tradition gebot und die sich nur geringfügig variieren ließen. Auch im Zeitalter der Aufklärung war die tiefe sakrale Bedeutung und die rituelle Übertragung der Insignien, die Erteilung des göttlichen Segens an die Herrscherin durch die Salbung und das Sakrament des Abendmahls während der feierlichen Liturgie Kern der Herrschaftsübertragung und der Legitimation. An jenem Sonntagmorgen kündigten Pauken und Trompeten den Beginn der Zeremonie an. Das Militär war auf dem Kathedralenplatz des Kremls angetreten. Schaulustige füllten nicht nur den Platz und die Tribünen, sondern auch die Dächer der Häuser und Klöster der Kremlanlage. Katharina erschien am Tor des alten Kremlpalastes, schritt unter Glockengeläut und Ehrensalven die Paradetreppe herab. In der Vorhalle der Mariä Entschlafens-Kathedrale erwartete sie die hohe Geistlichkeit des Reiches. Unter dem Gesang des Psalm »Gnade und Gericht, singe ich Dir, oh Herr« betrat sie den Innenraum der 25 Im Überblick Jan Kusber: »Symbol der Herrschaft: Der Kreml als Ort der Zarenkrönung«, in: Damals 2 (2004), S. 30-35. 26 Ausführlich beschrieben in Basil v. Bilbassoff: Geschichte Katharina II., Band II, Berlin 1893, S. 208-243, sowie Simon Dixon: Catherine the Great, London 2009, S. 10f.

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Kathedrale, »verrichtete vor den Ikonen ihre Andacht« und stellte sich auf den erhöhten Podest, auf dem der mit Edelstein verzierte »persische Thron« aufgestellt worden war, und verlas das Glaubensbekenntnis. Die Krone, die ihr auf einem goldenen Kissen vom Novgoroder Erzbischof herbeigebracht worden war, setzte sie sich selbst aufs Haupt. Im Moment der Krönung schossen die Kanonen auf dem Roten Platz Ehrensalut. Katharina verlas ein Dankgebet und begab sich danach in vollem Ornat aus der Krönungskathedrale in die übrigen Kathedralen des Kremlplatzes. Auf ihrem Umzug über den Platz wurde ein Teil der bereitgestellten 600.000 Goldrubel in die jubelnde Menge geworfen. Damit war der Krönungstag allerdings keineswegs beendet. Im Audienzsaal zeichnete sie mehrere Personen mit Orden und Ehrenzeichen aus, die sich beim Umsturz und der Ausrichtung der Krönungsfeierlichkeiten große Verdienste erworben hatten, schließlich erfolgte ein Mittagsmahl im Facettenpalast. Allein und auf dem Thron sitzend eröffnete sie das Essen, während die hohen Würdenträger des Reiches ihr stehend Ehre bezeugten und erst auf ihr Geheiß zu tafeln begannen. Der Tag der Krönung wurde beschlossen mit einer festlichen Illumination des Kremls, insbesondere des Glockenturms Ivan Velikij, und gegen Mitternacht zeigte sich die gekrönte Kaiserin noch einmal auf der Paradetreppe des Kremlpalastes, um den Lichterglanz zu bewundern und die Huldigungen des noch immer versammelten Volkes entgegenzunehmen. In der folgenden Woche reihte sich eine Festlichkeit an die andere: Am Montag wurden die weniger bedeutenden Höflinge im Facettenpalast empfangen, das diplomatische Korps brachte seine Glückwünsche dar. Und wie schon die Zarin Elisabeth I. 1742, deren Krönung an Glanz kaum zu überbieten gewesen war,27 demonstrierte die Kaiserin Katharina II. ihre Volkstümlichkeit, indem sie auf dem Kathedralenplatz ein Volksfest ausrichten ließ. Ochsen drehten sich am Spieß, roter und weißer Wein sprudelte aus eigens errichteten Fontänen und mehrfach zeigte sich die Kaiserin dem Volk. Am Dienstag er-

27 Siehe ihren Krönungsprachtband z.B. in der Eutiner Landesbibliothek: KrönungsGeschichte oder Umständliche Beschreibung des solennen Einzugs, und der hohen Salbung und Krönung Ihro Kayserl. Majest. der Allerdurchlauchtigsten, Großmächtigsten Fürstin und Grossen Fraun Elisabeth Petrowna, Kayserin und Selbstherrscherin aller Reussen [et]c. [et]c. [et]c. Wie jener den 28. Februarii, und diese den 25ten Aprill 1742. in der Kayserl. Residenz-Stadt Moscau vollzogen worden; Nach dem Rußischen Original eingerichtet, und mit den dazu gehörigen Kupfern versehen, St. Petersburg 1745. Katharina ließ zeitnah keinen solchen Band anfertigen.

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folgte der Empfang des russischen und deutschbaltischen Adels sowie der Gardeoffiziere, ihrer loyalen Parteigänger. Am Donnerstag empfing sie Deputierte der Moskauer Universität, welche sie panegyrischen Oden bereits als weiseste Mutter des Vaterlandes verherrlichten, Abordnungen der Kaufmannschaft schlossen sich an. Am Freitag schließlich waren Vertreter der Armenier, Tataren, Kalmücken, der Kosaken von der Wolga, vom Don und vom Jaik (Ural) geladen, um ihr zu huldigen. Alle gesellschaftlichen und sozialen Schichten, alle Ethnien des russischen Vielvölkerreiches machten der gekrönten Kaiserin ihre Aufwartung im Facettenpalast – nur den städtischen und bäuerlichen Schichten war es nicht vergönnt, zur Kaiserin vorgelassen zu werden. Sie mussten mit dem Anblick Katharinas auf der Paradetreppe vorlieb nehmen. Nach weiteren Bällen und Abendessen folgte genau eine Woche nach dem Krönungssonntag ein Abschlussfeuerwerk. Damit aber waren die Feierlichkeiten in der Stadt keineswegs beendet. Die Kaiserin nahm in den folgenden Wochen Moskau und seine Umgebung durch den Besuch von Bällen und Wallfahrten gleichsam in Besitz und erneuerte dies bei späteren Besuchen in der Hauptstadt an der Moskva,28 etwa im Rahmen der Gesetzbuchkommission 1767. Sie ließ sich als Minerva in Festumzügen verherrlichen.29 Katharinas Krönungsfeierlichkeiten können als beispielhaft für den Ausgleich von Tradition und Neuerung sowie eine Nutzung nicht nur des Kremls, sondern der gesamten Stadt als Bühne für politische Kommunikation gelten.

3. Stadtbaupolitik Katharinas II. am Beispiel St. Petersburgs Ebendies wird man auch für Katharinas II. »Nutzung« der Hauptstadt an der Neva sagen können. Unter Peter I. begonnen, war es eigentlich die »zweite Gründung der Stadt« unter den Kaiserinnen Anna und Elisabeth, die die Stadt zur europäischen Residenz werden ließ. Freilich glich sie um die Mitte des 18. Jahrhunderts einem Ensemble von Palästen und Gärten, verbunden durch Einrichtungen der Armee und vor allem der Marine. Die Planungen für ein urbanes Ganzes erwiesen sich als schwierig. Katharina II. wies St. Petersburg nicht 28 Hans Jessen: Katharina II. von Russland in Augenzeugenberichten, 2. Aufl., München 1978, S. 120f. 29 Beschreibung dieses Spektakels vom Januar 1763: »Toržestvujušþaja Minerva«, in: Moskvitjanin 19 (1850), otd. nauki i chudožestva, S. 109-128.

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von Beginn ihrer Herrschaft an jene beispielhafte Funktion für die Fortentwicklung des Reiches zu, die es im Laufe ihrer Herrschaft bekommen sollte. Sie teilte jedoch grundsätzlich den Gedanken, den 1773 der französische Philosoph Denis Diderot in idealistischer Weise bei seinem Besuch in St. Petersburg geäußert hatte: »Der Hof legt die Gesetze für die Hauptstadt fest, die Hauptstadt legt ihrerseits die Gesetze für die Provinz fest. Sie muss, damit sie diese gesetzgeberische Funktion erfüllen kann, sehr dicht bevölkert sein und darf den Provinzstädten nicht gleichen. Die Nähe der Menschen verbindet sie; dadurch werden sie sanfter und gesitteter; so entstehen alle schönen Künste, die dann auf Dauer zur Stadt gehören werden.«30

Wenn Reformen und Modernisierung des Reiches Erfolg versprachen, dann in jenem Fenster Europas, von dem Francesco Algarotti gesprochen hatte.31 Doch zugleich erprobten alle Herrscher des Zarenreiches im 18. und 19. Jahrhundert wie die Veränderungen des Reiches in der Fläche stattfinden könnten. Katharina II. bereiste das Land nach ihrer Thronbesteigung, darunter die baltischen Provinzen und Kazan’ an der Wolga, 1787 die Ukraine und die Krim. Intensiv dachte sie darüber nach, was die Größe des Reiches für die praktische Politik bedeute.32 Insofern war Katharina II. ein weiterer Gedanke nicht fremd, den Diderot zur Hauptstadtfrage äußerte. Er versuchte, ihr eine Rückverlegung der Hauptstadt nach Moskau schmeichelnd nahe zu bringen: »Ihr, Eure Majestät, habt mir gesagt, dass Peter I. St. Petersburg Moskau gegenüber bevorzugte, dass er Moskau nicht mochte und der Meinung war, dass man ihn dort auch nicht mag. Diese Überlegung stimmt jedoch nicht für Katharina II.: Sie liebt alle ihre Kinder und all ihre Kinder lieben sie.«33

30 Zit. n. Kusber: Kleine Geschichte, S. 46. 31 Zur Bedeutung St. Petersburgs keinesfalls erschöpfend und konzeptionell nicht in allem überzeugend: George E. Munro: The Most Intentional City: St. Petersburg in the Reign of Catherine the Great, Madison 2008. 32 Siehe stellvertretend den Brief Katharinas II. an Voltaire, geschrieben in Kazan’ während ihrer Wolga-Reise im Jahre 1767 in: Hans Schumann (Hg.), Monsieur – Madame. Katharina die Grosse / Voltaire. Der Briefwechsel zwischen der Zarin und dem Philosophen, Zürich 1991, S. 54-55. 33 Zit. n. Kusber: Kleine Geschichte, S. 46.

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Er bot aber auch eine rationale Begründung an: »Ein Land, in dem die Hauptstadt an den Rand des Staates verlagert wurde, ähnelt einem Tier, bei dem das Herz am Ende des kleinen Fingers liegt oder der Magen im großen Zeh.«34 Katharina II. sah das Argument wohl und war eher bereit, ihm zu folgen als den Klagen von Hofgruppierungen, die St. Petersburg als Ort der »Sittenverderbnis« bezeichneten, den Hof für vulgär und die Modernisierung für Überfremdung hielten. Fürst Michail Šþerbatov schrieb, was manche Vertreter der Elite wohl dachten, aber kaum zu artikulieren wagten.35 Der Ausbau der Hauptstadt an der Peripherie war immer auch eine Frage der Identitätsbildung für das ganze Reich. In St. Petersburg begannen sich im ausgehenden 18. Jahrhundert Anfänge eines Nationalgefühls in der Elite zu entwickeln. Katharina II. forcierte diese hauptstädtische Debatte, indem sie selbst in ihrer schriftstellerischen Tätigkeit einerseits intensiv die altrussischen Sitten verspottete, andererseits mit geschichtlichen Versatzstücken arbeitete, die die Leser und Zuschauer ihrer Traktate und Theaterstücke ganz bewusst mit Stolz auf die eigene Geschichte erfüllen sollten. Anders aber als bei der eigentlich als sehr russisch geltenden Zarin Elisabeth I. richtete sich ihre Fürsorge auf das gesamte Reich. Doch glaubte sie zunächst nur in St. Petersburg ein Umfeld vorzufinden, wie es europäischem Hofleben und aufgeklärter, fortschrittsorientierter Kultur zieme. Es würden noch Hunderte von Jahren vergehen, bis die Hauptstadt wieder in Moskau angesiedelt werden könne, war daher ihre Antwort auf den Vorschlag Diderots: Moskau sei noch immer, wie zu den Zeiten Peters, voller Beharrung. Sie selbst hatte bei der baulichen Neugestaltung des Kremls und der Kremlumgebung in Moskau mit großem Widerstand zu kämpfen gehabt, als sie einen regelmäßigen Stadtplan als »gebaute Utopie« hatte verwirklichen wollen und schließlich nur Einzelbauten umsetzen konnte. In St. Petersburg existierte diese Utopie schon und Katharina II., hier ganz die Erbin Peters I., wirkte auf seiner Baustelle weiter. So waren die in ihrer Zeit errichteten Waisen- und Findelhäuser in St. Petersburg erfolgreicher als in Moskau. Bevor Katharina 1786 im gesamten Reich ein locker gewebtes Schulsystem einzurichten begann, experimentierte sie in St. Petersburg mit unterschiedlichen Schultypen und mit der Lehrerausbildung, eben weil hier bereits ein Fundament durch Fachschulen, aber auch Schulen der unterschied34 Ebd. 35 Freilich wurde sein Text erst im 19. Jahrhundert publiziert. Vgl. Michail Schtscherbatow: Über die Sittenverderbnis in Rußland von Fürst M. Schtscherbatow, Berlin 1925; hierzu Marc Raeff: »State and Nobility in the Ideology of M. M. Shcherbatov«, in: Slavic Review (1960), S. 363-378.

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lichen Nationalitäten und Konfessionen (zum Beispiel der deutschsprachigen Annen- und Petrischule) und die Arbeit der Akademie der Wissenschaften gegeben war.36 Bautätigkeit und Stadtentwicklung waren für Katharina II. Mittel der Repräsentation und Modernisierungsinstrumente. Die von ihr bereits 1762 eingesetzte Kommission für die Neugestaltung St. Petersburgs und Moskaus durch Steinbauten, deren Zuständigkeit bald auf das ganze Imperium erweitert wurde, wirkte an der Neva am erfolgreichsten.37 Über Architektenwettbewerbe wurden Detailplanungen für einzelne Stadtteile vorgenommen, die das Konzept von Petr Eropkin aus der Zeit der Kaiserin Anna (1737) fortschrieben.38 Das System von Perspektiven und Radialen blieb weiterhin Grundlage; aber man entwickelte es in einem die Wettbewerbe zusammenfassenden Plan derart weiter, dass drei Funktionen der Stadt in den Mittelpunkt rückten: Die administrativ-soziale, die industriell-ökonomische und – natürlich – die repräsentative. Sehr viel stärker als zuvor dachten die an der Stadtplanung beteiligten Architekten darüber nach, wie sie Industrie und Handwerk in die städtische Expansion einbinden könnten. Zugleich suchte man der stetig wachsenden Verwaltung des Imperiums durch entsprechende Neubauten gerecht zu werden. Dass Katharina II. in ihrer Bautätigkeit in den Kategorien des Prestiges dachte, verstand sich von selbst, und der Adel tat es ihr gleich. Wenn Moskau ein gewachsener urbaner Organismus war, in den einzugreifen schwer fiel, so lieferte St. Petersburg die Blaupause für das Bauen im Imperium. Gouvernementshauptstädte, aber auch Städte, die im Zuge der katharinäischen Expansion überhaupt erst gegründet wurden, wie etwa Sevastopol, die Gründung Fürst Potemkins auf der Krim bei Chersones, oder Odessa, das am Ende des 18. Jahrhunderts erblühende »St. Petersburg am Schwarzen Meer«, orientierten sich in ihrer Architektur an der Hauptstadt. Fabrikstädte, Stimulus für Handel und Industrie, versuchte Katharina ebenso planvoll anzulegen, wie die Verwaltungs- und Handelszentren, ob im Süden des Reiches, im Ural und Sibirien

36 Jan Kusber: »Individual, Subject and Empire: Towards a Discourse on Upbringing, Education and Schooling in the Time of Catherine II«, in: Ab Imperio 2 (2008), S. 125-156. 37 Siehe: Aleksej Kvasov, Generalplan St. Petersburgs 1769, kolorierte Zeichnung von S. S. Bronstein. Abgebildet im Beitrag von Alexander Bauer in diesem Band (Abb. 5). 38 Munro: The Most Intentional City, S. 130-135.

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oder im Kaukasusvorland. Immer war das, was das Fenster Europas an der Neva anbot, der Bezugspunkt.39 Ein Grund dafür, warum die Stadtplanung in der Epoche Katharinas II. nicht noch grundstürzender war, lag sicher in der Ressourcenfrage. Es wäre schlichtweg zu teuer gewesen, die Stadt mit einem völlig neuen infrastrukturellen Ansatz zu versehen. Zwar stiegen in der Zeit Katharinas die Steuereinnahmen enorm und auch die Leibeigenschaft als Strukturmerkmal von Gesellschaft und Wirtschaft wirkte noch nicht entwicklungshemmend. Das sollte sich erst im 19. Jahrhundert ändern. Aber die Kriege und auch die Bautätigkeit erwiesen sich als äußerst kostenintensiv. So ging Repräsentation vor Neustrukturierung. In St. Petersburg selbst bemühte man sich vor allem, noch existente Baulücken entlang des Nevskij Prospekts zu schließen, der eigentlich erst dadurch zur urbanen Flaniermeile wurde, die er bis in unsere Tage geblieben ist. Die Kommission für die Steinbauten wies das internationale Kollektiv der Baumeister und Architekten der Stadt an: »Beim Bauen von Häusern sind drei Prinzipien zu beachten: Solidität, Nützlichkeit und Schönheit; eine Stadt stellt im Großen genau dasselbe dar wie das Haus im Kleinen«. Es sollten »die Straßen breit und gerade und die Plätze groß [sein]. Bei allen Häusern einer Straße sollten die Fassaden die gleiche Fluchtlinie haben«40. Diese Richtlinie zeigt, wie schnell sich architektonische Leitbilder ändern konnten. Im Moment des Herrschaftsantritts Katharinas war der Barock Francesco Bartolomeo Rastrellis, in dem der dritte Winterpalast gehalten war, aus der Mode.41 Schon gegen Ende der Herrschaft Elisabeths I. kamen Architekten aus Italien, Frankreich und Deutschland in die Hauptstadt, die sich vom aufkommenden Klassizismus inspirieren ließen. Russische Architekten, die sich insbesondere in der Stadtplanung engagierten, taten es ihnen nach. Das nach 1764 errichtete Gebäude der wenige Jahre zuvor gegründeten Akademie der 39 Simon Sebag Monteforiore: Katharina die Große und Fürst Potemkin. Eine kaiserliche Affäre, Frankfurt a.M., S. 384-409; N.F. Guljanickij (Hg.): Peterburg i drugie novye rossijskie goroda XVIII – pervoj poloviny XIX vekov, Moskau 1995; zur Wahrnehmung St. Petersburgs und Odessas Traude Maurer: »Das ›nördliche‹ und das ›südliche Palmyra‹. Berichte von Westeuropäern über Sankt Petersburg und Odessa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts«, in: Nordost-Archiv 12 (2003), S. 11-41. 40 Zit. n. Dmitry O. Shvidkovsky/Alexander Orloff: Sankt Petersburg. Aus dem Französischen von Angelika Heth, Köln 1996, S. 87. 41 Cornelia Skodock: Barock in Russland. Zum Œuvre des Hofarchitekten Francesco Bartolomeo Rastrelli (= Veröffentlichungen des Osteuropa-Institutes München, Reihe: Geschichte, Band 70), Wiesbaden 2006.

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Künste war bereits von regelmäßigen, auf überreichen Zierrat und Ornamentik verzichtenden Formen des Klassizismus geprägt. Der Franzose Jean-Baptiste Michel Vallin de la Mothe (1729-1800) war hier als Architekt beteiligt. Er war es auch, der den bereits im Bau befindlichen ›Kaufhof‹ (Gostinnyj Dvor) am Nevskij prospekt, den, in klassizistischem Stil neu plante. Die Tradition der teils offenen, teils überbauten Handelsreihen, in denen Kaufleute und Händler Waren des täglichen Bedarfs für die Stadtbevölkerung anboten, erhielt eine Gestalt, die der Hauptstadt angemessen schien: Die Reihen wurden zu einem zweigeschossigen quadratischen Bau, in dem sich die verschiedenen Branchen in kleine Geschäfte einmieten konnten: Es handelte sich um eine bis 1785 errichte moderne Einkaufspassage, die dem Prinzip gehorchte, dem derartige Einkaufsmeilen in den Metropolen dieser Welt überall folgten. Vallin de la Mothes Bau des Kaufhofs diente ebenso der städtischen Infrastruktur wie seine Projekte des Stadtviertels ›Neu Holland‹ (Novaja Golandija) (Abb. 2): Dieser riesige Lagerplatz im Admiralitätsviertel war einerseits als Holzlager für die Werft der Admiralität von Bedeutung, die in der Ära Katharinas wieder mehr Aufträge bekam – immerhin war die russische Kriegsflotte in der Lage, von der Ostsee ins Mittelmeer einzulaufen und in der Ägäis bei Tschesme einen Sieg gegen die Osmanen zu erringen. Andererseits wurden in Neu-Holland zunehmend auch Handelswaren gelagert. Der Architekt Savva ýevakinskij (1713-nach 1770) plante die Gesamtanlage mit regulierten Lagerhäusern und -plätzen. De la Mothe steuerte die regelmäßigen Fassaden bei, so dass sich dieser Handels- und Arbeitsort in der Stadt harmonisch ins Zentrum einfügte.42 Die Kaiserin selbst ließ im Stadtbild noch heute markante Punkte errichten, die zu Bezugspunkten einer Karte wurden, über die sie St. Petersburg sich gleichsam aneignete und an denen und zwischen denen gesellschaftliches Leben, das auch immer der Repräsentation diente, gelebt wurde. Als Beispiele seien die Kleine und die Große Eremitage mit dem EremitageTheater genannt, die über Galerien und Brücken miteinander verbunden wurden. (Abb. 3) Mit den Eremitagen legte Katharina II. den Grundstein für jene Kunstsammlung, die heute im gesamten Winterpalast zu sehen ist: Überall in Europa wies sie ihre Korrespondenten und Agenten an, Bilder und Skulpturen

42 Vladimir G. Lisovskij: Sankt-Peterburg. Oþerki architekturnoj istorii goroda, Band 1, Klassiþeskij gorod, St. Petersburg 2009, S. 182-202; Erich Donnert: Sankt Petersburg. Eine Kulturgeschichte, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 52-54.

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Abb. 2: St. Petersburg, Neu Holland (© Julia Röttjer, 2012) zu kaufen: Sie interessierte sich sowohl für damals zeitgenössische Kunst als auch für die Niederländer und die Malerei der Renaissance. Nicht selten kauften ihre Gewährsmänner, ausgestattet mit einem entsprechenden Etat, anderen europäischen Herrschern die interessantesten Stücke »vor der Nase weg«. Zugleich war Katharina der Auffassung, dass ihre Sammlung nicht nur »von den Mäusen« angeschaut werden sollte, und ließ daher dem Adel gelegentliche Ausstellungen mit Neuankäufen präsentieren.43 Sie baute wie alle russischen Herrscher am Winterpalast weiter, wobei es ihr vorwiegend um den Innenausbau ging. Das Eremitage-Theater, dessen aus Bergamo stammender Erbauer Giacomo Quarenghi einer der großen Architekten des katharinäischen St. Petersburgs wurde, hatte das Teatro Olympico in Vicenza zum Vorbild und stell43 N.L. Sykov: »Priobretenie Ekaterinoj II kollekcii I. Ơ. Gockovskogo i F. fon Brjulja. Naþalo Imperaterskogo Ơremitaža«, in: Ministerium für Kultur der Russischen Föderation u.a. (Hg.), Russkie i Nemcy. 1000 let istorii iskusstva i kulturii, Essayband erschienen zur Ausst. »Russen & Deutsche. 1000 Jahre Kunst, Geschichte und Kultur, Neues Museum Berlin u.a., Moskau 2012, S. 184-193.

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te die zeitgenössische Repräsentation eines Amphitheaters dar.44 Katharina, selbst Autorin von Theaterstücken, hatte damit ihre hauseigene Bühne. Regelmäßig führten nun eigene Opern- und Ballettensembles Stücke auf, die zunächst in italienischer Tradition präsentiert wurden. Aber schon bald ließ die Kaiserin Inszenierungen geben, die die Reichsidentität festigen sollten, etwa Ippolit Bogdanoviþs Die Slaven.45 Vor allem aber befahl die Kaiserin, in der Stadt mehrere Palais für ihre Favoriten zu errichten: Die beiden bedeutendsten waren zum einen der am Palastkai der Neva gelegene Marmorpalast, den der Italiener Antonio Rinaldi geplant hatte. Sie ließ diesen strengen, aus kostbarsten Materialien bestehenden Bau für Grigorij Orlov errichten, ihren Favoriten und Wegbegleiter in der Zeit des Staatstreiches, der freilich dessen Fertigstellung im Jahre 1785 nicht mehr erlebte. Zum anderen war es das Taurische Palais, welches sie Fürst Grigorij Potemkin schenkte. Potemkin, zum Fürst von Taurien erhobener spiritus rector der Südexpansion blieb bis zu seinem Tode 1791, als er den Favoritenstatus bereits an jüngere abgegeben hatte, der wohl bedeutendste russische Staatsmann und Feldherr des Reiches, obwohl seine Position bei Hofe unterschiedlich beurteilt wurde. Dass Katharinas Sohn und Nachfolger, Zar Paul I., zeitweise seine Pferde im Palais unterstellte, war freilich die späte Rache des zurückgesetzten Sohnes. Das Taurische Palais ist einer jener Palastbauten, denen nicht nur eine mehr oder weniger private Wohnfunktion zukam. Nach 1905 war es Sitz des ersten russischen Parlaments, der Duma, und im Januar 1918 trat hier nach dem Sturz der Romanovs die verfassungsgebende Versammlung zusammen, die Russlands alternativen Weg in eine Demokratie hätte weisen können, von Lenin jedoch kurzerhand mit Hilfe der Roten Garden aufgelöst wurde. In jedem Fall entstanden für das taurische Palais in St. Petersburg unter der Leitung Ivan Starovs und des englischen Gartenarchitekten William Gould Meisterstücke des Klassizismus und der modernen englischen Landschaftsarchitektur.46 Katharina II. schenkte dem Ausbau eines Ringes von Sommerresidenzen um die Hauptstadt große Aufmerksamkeit und bezog sie in ihre Karte der Macht mit ein: Zarskoje Selo (Carskoe Selo), dessen Anlage sie mit einer

44 Lisovskij: Sankt-Peterburg, S. 207f. 45 Reinhard Lauer: Geschichte der russischen Literatur von 1700 bis zur Gegenwart, München 2000, S. 74f., S. 92. 46 Viktor Voronov: Ivan Starov – glavnyj architektor ơpochi Ekateriny Velikoj, Sankt Petersburg 2008, S. 221-243.

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Abb. 3: St. Petersburg, Ansicht von Neva aus auf die Fassadenfront von Winterpalast, Theater der Eremitage und Eremitageensembles (© Julia Röttjer, 2012) riesigen Tschesmesäule verzieren und durch Quarenghis Alexanderpalast erweitern ließ, das Schloss von Gatschina (Gatþina) sowie Oranienbaum, wo eine Chinoiserie und eine riesige Rutschbahn noch zu ihren Zeiten als Großfürstin gebaut wurden, wären hier zu nennen. Für Paul und seine Gattin Maria Fjodorovna wurde in Pavlovsk von 1782 bis 1786 ein Palast errichtet, der die Funktion des »kleinen Hofes« übernahm. Hauptarchitekt war der Schotte Charles Cameron. Vincenzo Brenna dekorierte die Repräsentationssäle und die Gemächer und war zugleich einer der Architekten des Parks.47 Der Palast wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch einen Brand zum Teil zerstört, wurde

47 Zum Park und seinen Funktionen siehe Anna Ananieva: »Erinnerung und Imagination. Der Landschaftspark von Pawlowsk im europäischen Gartendiskurs zwischen 1777 und 1828«, in: Hubertus Gaßner (Hg.), Krieg und Frieden – eine deutsche Zarin in Schloß Pawlowsk. Ausst.-Kat. Haus der Kunst München, Hamburg 2001, S. 226-280.

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aber durch den Architekten Andrej Voronichin wieder hergestellt und neu ausgebaut. Anders als in der Zeit Elisabeths I. standen jedoch auch Funktionsbauten im Mittelpunkt der Bautätigkeit von Katharina II. Quarenghis klassizistischer Bau der Assignatenbank – in der Epoche Katharinas wurde im Reich erstmals Papiergeld zur Sicherstellung des Geldumlaufs ausgegeben – gehörte ebenso zu diesem Bauprogramm, wie die Hospitäler, Findel- und Waisenhäuser und repräsentativen Bildungsinstitutionen, etwa die erwähnte Akademie der Künste oder das ebenfalls auf Quarenghi zurückgehende Gebäude der Akademie der Wissenschaften, das noch heute am Neva-Ufer auf der Vassilij-Insel zu bewundern ist. Eine grundsätzliche Verbesserung der Infrastruktur der Stadt bedeutete die steinerne Einfassung der Ufer. Georg Veldten (Jurij Fel’ten, 1730-1802) beispielsweise leitete die Graniteinfassung der Neva, die Befestigung von Fontanka und Mojka sollte bald folgen. Brücken über die beiden letzteren sollten zum Fließen des Verkehrs beitragen. Schließlich begann man mit dem Katharinenkanal und dem Obvodnyj- (Umleitungs-)Kanal die Trocknung des Bauuntergrundes voranzutreiben, in der Hoffnung das feuchte städtische Klima verbessern zu können. Katharinas II. Baupolitik gestaltete den Raum St. Petersburg in mehrfacher Hinsicht. Sie zielte auf eine Strahlkraft ins gesamte Reich und formierte den Raum als Stadt. Repräsentation und funktionierende Infrastruktur wurden als zwei Seiten einer Medaille gesehen. Während Katharina hier an die Planungen ihrer Vorgänger anknüpfen konnte und darüber hinaus in öffentlichen Bauten in St. Petersburg versinnbildlichen konnte, was sie für gute Regierung hielt, scheiterte die Wirkung über das Vorbild an der Neva in der alten Hauptstadt Moskau weitgehend. Hier musste ein Ereignis wie der Brand 1812 eintreten, um einen neuen Anlauf der »Zivilisierung« der Stadt zu unternehmen.

4. Metamorphosen der Macht, Räume der Macht Paläste als Orte der Repräsentation, Plätze, Brücken und Straßen als Wege des Zeremoniells, Kirchenbauten mit Memorialfunktion, Bauten der öffentlichen Fürsorge, deren Visite ebenso Repräsentation der Herrscherinnen und Herrscher und ihrer guten Regierung war, wie der Besuch der Landsitze, in diese Abfolge integriert wurde. Dies alles fand in Moskau nur sehr selten statt. Nach

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Katharina II. kamen die Herrscher außerhalb der Krönung nur selten in den Kreml, den sie freilich immer wieder aus- und um bauten. Während also in St. Petersburg der Staat durch die gesamte Stadt repräsentiert wurde, war und blieb es in Moskau vor allem der Kreml, der als Symbol der politischen Macht zu fungieren hatte.48 Wenn er auch fallweise zu Repräsentationszwecken verlassen wurde, so ließ sich doch der Raum der politischen Macht nicht auf die ganze Stadt Moskau ausdehnen, wie dies in St. Petersburg bis zum Ende des 18. Jahrhunderts der Fall war.49 Aber auch hier entstanden im Zuge des Wachstums der Stadt zunehmend Gegenräume der Macht, die sich durch die politische Herrschaft nicht »zivilisieren« und damit beherrschen ließen.50 Bei allen Metamorphosen aber auch Persistenzen imperialer Grandeur – etwa im Krönungszeremoniell seit Ivan IV. – wurde dies gerade auch in den urbanen Räumen umso konflikthafter, je näher das 19. Jahrhundert an sein Ende kam. Eines fehlte als grandiose Kulisse räumlicher Inszenierung in Moskau – die Neva und damit das Wasser. Ein eindrucksvolles Beispiel der Einbeziehung der naturräumlichen Gegebenheiten als Bühne und zugleich ein Spiel mit dem klimatischen Ungunstraum, dem langen Winter, trug sich gegen Ende der Regierungszeit der Kaiserin Anna (reg. 1730-1740) zu.51 Zu Beginn des Jahres 1740 wurden im Winter durch die Wissenschaftler der Akademie die tiefsten bis dahin gemessenen Temperaturen in der Stadt registriert – bis zu -45° C. Um die Kaiserin bei diesen Temperaturen zu zerstreuen, richteten die Architekten Artemij Volynskij und Petr Eropkin ein Spektakel aus, an das sich die Zeitgenossen noch lange erinnern sollten. Dem Akademiemitglied Georg Kraft verdanken wir detaillierte Aufzeichnungen: Zur Zerstreuung der Kaiserin Anna, die sich mit einem gewaltigen Hofstaat von Narren und Zwergen umgab, 48 Zu den möglichen Gründen siehe Valerie Kivelson: »The Devil stole his mind: The Tsar and the 1648 Uprising«, in: American Historical Review 1993, S. 733-756. 49 Munroe: The Most Intentional City, S. 279. 50 Vgl. hierzu den Beitrag von Alexander Bauer in diesem Band sowie Hans Christian Petersen: »On the Margins of Urban Society? Inequalities and the Formation of Social Space in a Metropolis of Modern Age – St. Petersburg 1850-1914«, in: InterDisciplines. Journal of History and Sociology 2,1 (2011), S. 85-111; http://www.inter-disciplines.de/bghs/index.php/indi/article/viewFile/29/25 vom 12.10.2012. 51 Aufschlussreiche kulturhistorische Analyse von Julia Herzberg: »The Domestication of Ice and Cold: The Ice Palace in Saint Petersburg 1740«, in: Agnes Kneitz/Marc Landry (Hg.), On Water Perceptions, Politics, Perils (= RCC Perspectives, Issue 2 2012), München 2012 S. 53-62. Siehe http://www.carsoncenter.unimuenchen.de/download/publications/perspectives/2012_perspectives/1202_water_ web_color.pdf

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sollte der alte und kleinwüchsige Fürst Golyzin mit einer Kalmückin vermählt werden; ihre Hochzeitsnacht sollten die beiden in einem Eispalast auf der zugefrorenen Neva verbringen. Reinstes Eis wurde gehauen und mit barocken Zierelementen versehen;52 der Palast von 16 Meter Länge, so Kraft, wurde über und über mit Säulen, Statuen in Delphinform und ähnlichem verziert. Im Palast selbst gab es einen Speisesaal und ein Schlafzimmer aus Eis, selbst die Holzscheite wurden aus dem vergänglichen Material gestaltet. Vor dem Palast standen Tiere aus Eis, etwa ein Elefant, in dessen Innerem Gebrüll mit Hilfe eines Trompete blasenden Menschen erzeugt wurde. Am Tag der Hochzeit des Fürsten zog eine riesige Prozession zu diesem Palast – bestehend aus den Völkern des imperialen Reiches in ihrer jeweiligen Landestracht. Durch Kerzen wurde der Palast von innen erleuchtet. Das Hochzeitspaar verbrachte hier die Hochzeitsnacht und wurde, so die von Kraft erinnerte Geschichte, glücklich.53 Dass die Räume durch Machtverhältnisse gestaltet wurden, ließ sich auch im Eis prachtvoll inszenieren.

52 Georg Wolffgang Krafft: Wahrhaffte und Umständliche Beschreibung und Abbildung des im Monath Januarius 1740 in St. Petersburg aufgerichteten merckwürdigen Hauses von Eiß, Saint Petersburg 1741. 53 Die Kaiserin freilich erlebte das Glück dieser zwangsgestifteten Ehe nicht mehr. Sie starb im Oktober des gleichen Jahres. Vgl. Kusber: Kleine Geschichte, S. 35.

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Von Ränkeschmieden, Amtsdienern und Gehängten Zu Raum und Bedeutung der Piazzetta in Venedig DANIEL LEIS

Es muss um das Jahr 1723 gewesen sein, dass der junge venezianische Maler Antonio Canaletto eines seiner ersten Bilder des Markusplatzes schuf. (Abb. 1) Die Republik Venedig hatte damals gerade schwere Zeiten hinter sich: Im Türkenkrieg 1714-18 war ihre Existenz akut bedroht worden und ohne die Siege des österreichischen Feldherrn Prinz Eugen auf dem Balkan wäre sie womöglich schon zu Beginn und nicht erst am Ende des 18. Jahrhunderts untergegangen. Der Krieg verschlang ungeheure Summen, die finanziell ohnehin längst nicht mehr solvente Republik erschloss alle Geldquellen. Auch die Prokuratoren von San Marco, die Verwalter der kirchlichen Güter und Verantwortlichen für Kirche und Platz, mussten sparen und 1715 wurden gar die Alten Prokuratien verkauft.1 Neue Eigentümer und Mieter zogen ein, deren Wäsche von nun an neben dem Banner des hl. Markus wehte. Nicht, dass nicht auch vorher bereits Mieter in diesen Häusern gewohnt hätten, aber nun war der vormals staatliche Besitz in private Hände übergegangen, hatte die eigentlich für den Platz zuständige Behörde die unmittelbare Verfügungsgewalt und 1

Zu den Eigentums- und Besitzverhältnissen vgl. Umberto Franzoi: »L’Ala Napoleonica«, in: Le Procuratie Vecchie in Piazza San Marco, mit Texten von Alfred Viaggiano u.a., mit einer Einleitung von Feliciano Benvenuti, Rom 1994, S. 119-156, hier S. 140.

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damit das wichtigste Element der Kontrolle über diese Bauten und die nördliche Platzfassade verloren. Dies dürfte umso schwerer wiegen, wenn man die Anstrengungen bedenkt, die im 16. Jahrhundert unternommen worden waren, um in den Besitz aller Häuser am Platz zu kommen und um die Regularien ihrer Vermietung.2 Darüber hinaus aber hatten Kirche und Platz mangels fehlender Reparaturen an Ansehen und Würde eingebüßt, wie die Prokuratoren in ihrer Sitzung am 1. Februar 1722 festhielten. ›Unbrauchbar‹ (»impraticabile«3) sei der Platz geworden, und dieses ›unbrauchbar‹ bedeutet sicher mehr, als dass die Ziegel der Pflasterung brüchig geworden waren und die Schritte behinderten. Vielmehr war der Platz selbst unbrauchbar geworden, hatte seine Funktion als Würdeformel der Republik, als sichtbarer Ausdruck des venezianischen Selbstbildes eingebüßt, »per le rotture e detrimenti del suolo reso indecoroso alla publica magnificenza«. Da er aber ein von aller Welt bestauntes Wunder darstelle (»meraviglia che erige l’amirazione dei popoli forastieri«), so sei dringend geboten etwas zu unternehmen, damit er wieder die Verehrung der Auswärtigen gewinne (»venerazione straniera alla pubblica maesta«).4 Aus diesem Beschluss wird ganz deutlich, welch hoher Stellenwert dem Platz in der Außenwirkung venezianischer Selbstdarstellung zugemessen wurde. Und umgekehrt verwies der Platz in seinem schlechten Zustand unmittelbar auf den gegenwärtigen Zustand der Republik. Betrachten wir vor diesem Hintergrund noch einmal Canalettos Bild. Dass es die Abendsonne ist, die die Szenerie bescheint, mag womöglich nur im Rückblick auf den letzten Glanz einer großen Zeit schließen lassen, doch setzen noch andere Elemente den Platz in ein ungünstiges Licht. Da ist zunächst die Komposition. Der erhöhte Standpunkt und die niedrige Horizontlinie lassen die Architektur klein erscheinen, fast scheint sich die Kirche zu ducken. Vor den Fenstern der alten Prokuratien hängen die Wäscheleinen und die Mar-

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Die Häuser waren schon früh an Privatpersonen vermietet; im 16. Jahrhundert war diese Praxis Gegenstand staatlicher Reglementierung. So wurde festgeschrieben, dass die Prokuratoren selbst am Platz wohnen sollten, die Praxis einer Untervermietung wurde verboten. Auch sollten Auswärtige keinen Wohnraum am Platz bekommen. Hierzu ausführlich Manuela Morresi: Piazza San Marco. Istituzioni, poteri e architettura a Venezia nel primo Cinquecento, Mailand 1999, bes. S. 16f. und S. 25ff. Archivio di Stato di Venezia (nachfolgend ASV), Proc. de supra, reg. 153, fol. 10r. Ebd.

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Abb. 1: Antonio Canal, Die Piazza di San Marco von Westen, um 1723, Öl auf Leinwand, 142 x 205 cm, Sammlung Thyssen-Bornemisza, Madrid. Aus: Alessandro Bettagno (Hg.), Canaletto. Prima maniera. Ausst.-Kat. Fondazione Giorgio Cini Venedig, Mailand 2001, S. 135 kisen schief, und während sich die Patrizier am Rand des Platzes auf den bereits neu gepflasterten Streifen bewegen, wird das Zentrum des Platzes von abgerissenen Gestalten bevölkert. Auch vor der Basilika liegt einiges im Argen, der nördliche Fahnenmast steht schief und der Bereich vor der Kirche, der eigentlich von Marktständen freizuhalten war,5 wird von einer Vielzahl provisorischer Buden eingenommen. Canalettos Bild erscheint hier weniger als heitere Vedute, denn als Teil eines zeitgenössischen Diskurses um den Platz.

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Der Bereich zwischen der Westfassade der Kirche und den vor ihr befindlichen Fahnenmasten ist möglicherweise als unmittelbar zur Kirche gehörig besonders ausgezeichnet, zumindest sollte er von Markständen, Festapparaten u.ä. freigehalten werden. Belege hierfür finden sich bei Giorgio Bellavitis: »La proiezione mondana del sacro sull’area marciana e la questione dei tre stendardi nel primo Settecento«, in: Ettore Vio (Hg.), Scienza e tecnica del restauro della Basilica di San Marco (= Atti del convegno internazionale di studi, Venezia 16-19 maggio 1995), Venedig 1999, S. 227-256, hier S. 227ff.

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Umso bedauerlicher, dass wir über die näheren Umstände seiner Entstehung nicht unterrichtet sind. Aber zurück zum Platz. Aufgrund der festgestellten Mängel beschlossen die Prokuratoren, die Platzfläche solle neu gepflastert und die Kirche instandgesetzt werden.6 Für die Gestaltung der Platzfläche legte der Proto von San Marco, Andrea Tirali, einen leider nicht erhaltenen Entwurf vor, der von den Prokuratoren am 30. April 1722 gebilligt wurde. Am 5. September 1723 besann man sich jedoch eines Besseren. Tiralis Entwurf hatte vorgesehen, die Standarten vor der Basilika zu versetzen. Nun jedoch sollte alles so bleiben, wie es war, die Prokuratoren stellten klar, dass ein Transport der Standarten unangebracht und diese an Ort und Stelle zu belassen seien, wie überhaupt die Neupflasterung nach der alten Aufteilung erfolgen solle, die über Jahrhunderte die Bewunderung der Einheimischen und mehr noch der Fremden erregt habe: »Fatto matturo riflesso dagli Illumi et Emi SSri Procri sopra il dissegno del Proto Tirali aprovatto da questa Proc. li 6 Aprile 1722 per il nuovo salizo della Piazza di S. Marco, decretato il primo Febraro 1721 et conosendosi da S. E non essere conveniente di fare alcun trasporto delli stendardi, fissati nel suo principio dall architetto d'allora in luoco veramente scelto con idea di sempre aplaudita cognitione. Hanno percio […] terminato che restando inalterabilmente fissi, e fermi li stendardi nel sito, e luoco ove s’atrovanno; abbia a darsi mano con la possibile solicitudine al nuovo salizo secondo il vecchio comparto, che da secoli e stato amirato dagl’ abitanti di questa città e maggiormente dagli esteri«7.

Dieser Beschluss, der Eingriffe in die überkommene räumliche Struktur mit dem Verweis ablehnt, dass alles seinen angestammten und angemessenen Ort habe, der mit Bedacht gewählt worden sei und allseits bewundert werde, lässt aufhorchen. Warum erscheinen den Prokuratoren verändernde Eingriffe so bedenklich? Gibt es innerhalb der räumlichen Strukturen des Platzes Bereiche, die durch Handlungen oder Bedeutungszuweisungen mit Inhalten aufgeladen sind und deren Semantiken daher nicht einfach geändert werden können? Schon Francesco Sansovino hatte in seiner 1581 erstmals erschienenen und im Folgenden immer wieder aufgelegten Schrift Venezia – Citta nobilissima et

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In ihrem Beschluss bekräftigten die Prokuratoren noch einmal die Wichtigkeit des Platzes für »la pubblica magnificienza« und berieten über einen möglichen Finanzierungsrahmen. ASV, Proc. de supra, reg. 153, fol. 11r. ASV, Proc. de supra, reg. 153, fol. 38r.

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singolare den Markusplatz in vier Bereiche unterteilt und diese einzelnen Gebäuden zugewiesen: »La sua situatione compartita in quattro quadri, & congiunta insieme, si riduce in un corpo solo, formando in un tempo medesimo quattro piazze. Percioche se si riguarda bene, il palazzo ha due piazze al servitio suo, l’una per fronte sul canale grande, & l’altra per fianco di rincontro alla libraria, quadrata ogni una & con la sua giusta larghezza. La Chiesa di San Marco ha la sua che si distende fino a San Geminiano, & San Basso ha similmente la sua per fianco della Chiesa di San Marco dal lato della Canonica.«8

Auch die räumliche Zuordnung dieser Unterteilung wirft die Frage auf, ob hiermit einzelne Funktionszuweisungen verbunden sind und wenn ja, wie der Platzraum dann von Herrschaft gestaltet, durchdrungen und besetzt wird. Um dieser Frage näher nachzugehen, soll mit der ›Piazzetta‹ ein Bereich des Markusplatzes näher untersucht werden. Nach Sansovinos bereits angeführter Beschreibung hatte der Dogenpalast neben dem schmalen Bereich zum ›Bacino di San Marco‹ hin, wo die Staatsgäste anlandeten, auch die Piazzetta zu seinen Diensten, »al servitio suo«. Dieses ›zu Diensten‹ ist womöglich wörtlicher zu nehmen, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, denn auf die Piazzetta sind tatsächlich Funktionen übergegangen, die mit den Aufgaben des Dogenpalastes und den dort beheimateten Institutionen in unmittelbarem Zusammenhang stehen. So diente der vor dem Dogenpalast gelegene, östliche Platzteil den Senatoren als ›Lobby‹, deren Zugang reguliert war. Zudem wurden von der ›Pietra del bando‹, einem Ausrufungsstein an der Südwestecke der Markuskirche, die Regierungsbeschlüsse bekannt gemacht.9 Zwischen den beiden Säulen am südlichen Ende der Piazzetta lag außerdem die Richtstätte. Der beigegebene Plan mag die räumliche Aufteilung verdeutlichen. (Abb. 2) Im Folgenden sollen diese drei Orte genauer betrachtet werden. Sie dienen dabei als Beispiele, wie Herrschaft auf die Gestaltung des öffentlichen Raumes wirkt, wie sie innerhalb des Platzraums Bedeutungsschichten schafft und konkrete Orten besetzt, die durch soziale, juristische und politische Funktionen definiert werden. 8 9

Francesco Sansovino: Venetia – Città nobilissima, et singolare, Venedig 1581, S. 105r. Vgl. Andrea Lermer: Der gotische »Dogenpalast« in Venedig. Baugeschichte und Skulpturenprogramm des Palatium Communis Venetiarum, München/Berlin 2005, S. 249.

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Abb. 2: Plan der Piazzetta mit den Orten 1. der Richtstätte, 2. der Pietra del bando, 3. dem ungefähren Bereich des Broglio (Archiv des Autors)

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Abb. 3: Die beiden Säulen auf der südlichen Piazzetta, dazwischen lag die Richtstätte (Archiv des Autors)

Die Richtstätte Die Richtstätte befand sich zwischen den beiden Säulen am südlichen Ende der Piazzetta. (Abb. 3) Dies war der gewöhnliche, wenn auch nicht der einzige Ort für Hinrichtungen, da es noch andere, allerdings seltener gebrauchte Hinrichtungsorte im Umkreis des Dogenpalastes gab, die es ermöglichten je nach Rang und Vergehen des Delinquenten sowohl die der Hinrichtung beiwohnende Öffentlichkeit zu regulieren, als auch eine räumliche Distinktion zu ermöglichen.10

10 Die Öffentlichkeit, die durch diejenigen hergestellt wurde, die der Hinrichtung beiwohnten, galt im Mittelalter als Teil der Rechtmäßigkeit der Hinrichtung. Vgl. Ernst Schubert: Räuber, Henker, arme Sünder, Darmstadt 2007, S. 47, hingegen erwog man im Venedig der frühen Neuzeit Herren von Stand durch eine Regulierung dieser Öffentlichkeit die demütigende Zurschaustellung zu ersparen und Verschwörern die Möglichkeit letzter Worte in der Öffentlichkeit zu nehmen, so berichtet beispielsweise Alvise Michiel in seinen Memorie pubbliche della Repubblica di Venezia, dass nach der Verurteilung Gabriele Emos darüber abgestimmt wurde, ob die Hinrichtung öffentlich oder in seiner Zelle erfolgen sollte. Die Quelle ist

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Abb. 4: Hinrichtung der Verschwörer um den Dogen Marino Falier zwischen den Säulen auf der Piazzetta, Miniatur aus einer venezianischen Chronik des 15. Jahrhunderts. Aus: Pompeo Molmenti: La Storia di Venezia nella vita privata, Band 1, Bergamo 1927, S. 101 Seit wann der Raum zwischen den Säulen als Richtstätte diente, ist unbekannt. Allerdings ist bereits für das Jahr 1299 eine Hinrichtung zwischen den Säulen belegt.11 Dies wäre nur wenig später als die von der Forschung vermutete Aufstellung der Säulen etwa im dritten Viertel des 13. Jahrhunderts.12 Das deckt abgedruckt in David Chambers/Brian Pullan (Hg.): Venice. A Documentary History 1450-1630, Oxford/Cambridge (Mass) 1992, S. 95-97. 11 Der Verschwörer Bocconio Marino wurde zwischen den Säulen am Galgen gehängt. Er hatte die Absicht gehabt, den Dogen Pietro Gradenigo zu töten, da sein Name nicht in das ›Goldene Buch‹, dem zwei Jahre zuvor angelegten Verzeichnis der Patrizier Venedigs, welche im Großen Rat vertreten waren, aufgenommen worden war. Giuseppe Tassini: Alcune delle più clamorose condanne capitali eseguite in Venezia sotto la Repubblica. Memorie patrie, Venezia 1866, S. 22ff. 12 Da die Säulenschäfte Spolien sind, kann der Zeitpunkt ihrer Aufstellung in Venedig nur durch stilkritische Einordnung der Basen und ihres Figurenschmucks, sowie der Kapitelle erfolgen und unter der Prämisse, dass diese keine Veränderung einer früheren Aufstellung darstellen. Cochetti Pratesi, Schlink, Arslan und zuletzt Tigler kommen zu einer Datierung die sich im Bereich von 1245-80 bewegt. Vgl. hierzu (mit Literaturangaben) Guido Tigler: »Intorno alle colonne di Piazza San Marco«, in: Atti del Istituto Veneto di Scienze, Lettere ed Arti, Classe di Scienze Morali, Lettere ed Arti 158,1 (2000) 1-46.

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sich auch mit der venezianischen Überlieferung, die zwar die Errichtung der Säulen bereits im 12. Jahrhundert ansiedelt, aber sie von Anfang an mit der Richtstätte in Zusammenhang bringt, die dafür vom weiter östlich gelegenen Campo San Giovanni in Bragora an diese Stelle verlegt worden sei.13 Es verwundert daher nicht, wenn die Säulen in einer Miniatur einer Chronik des 15. Jahrhunderts, die die Hinrichtung der Verschwörer um den Dogen Marin Falier auf der Piazzetta zeigt, auch die beiden Säulen ins Bild setzt und damit dem Betrachter den konkreten Ort angibt (Abb. 4).14 Etwas skizzenhaft zwar, und ohne die beiden die Säulen bekrönenden Figuren des Heiligen Theodor und des Markuslöwen, welche eine größere Eindeutigkeit gewährleistet hätten, wird die Richtstätte angezeigt. Die Darstellung ist dabei gerade deshalb interessant, weil sie in ihrer Reduktion keinen Raum kennt, aber einen Ort angibt, der allein durch die Säulen hinreichend definiert ist. Den Venezianern war diese sichtbare Besetzung so vertraut, dass sich das Sprichwort herausbildete »Guardati dall’intercolumnio«,15 was etwa so viel bedeutet wie »Hüte Dich vor dem Interkolumnium« und also eine Anspielung auf eine Hinrichtung enthielt, ohne dieselbe zu erwähnen; einfach nur, indem es den gewöhnlichen Ort derselben ansprach, der räumlich genau definiert war: Zwischen den Säulen. Ähnlich die Redewendung, sich zwischen Marcus und Theodor zu befinden, »essere o trovarsi tra Marco e Todaro«. Dies sind die beiden Figuren, die auf den Säulen stehen. Dieses Sprichwort ist noch heute in Venedig gebräuchlich und bedeutet – man mag es bereits ahnen – sich in ernsten Schwierigkeiten zu befinden. Es dürfte daher nicht überraschen, dass bei den Venezianern die Angewohnheit herrschte (und heute noch herrscht), den Ort zu umgehen. Treffender als Johann Christoph Maier es in seiner Beschreibung Venedigs von 1795 formuliert, kann man es wohl kaum ausdrücken. Im Hinblick auf die hier vollstreckten Todesurteile und ausgestellten Leichname der Hingerichteten vermerkt er, dass »daher ein Begriff von Unehre auf diesem Zwischenraume

13 Sansovino: Venetia, S. 116v. 14 Biblioteca Marciana, Ms. Marciano, Codici italiani, Zanetti, 18, 78. 15 Amelot de la Houssaie kennt dieses Sprichwort am Anfang des 18. Jahrhunderts. Zit. n. Werner Haftmann: Das italienische Säulenmonument. Versuch zur Geschichte einer antiken Form des Denkmals und Kultmonumentes und ihrer Wirksamkeit für die Antikenvorstellung des Mittelalters und für die Ausbildung des öffentlichen Denkmals in der Frührenaissance (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Band 55), Leipzig 1939, S. 119.

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ruht, und jede Person von Ansehen, noch mehr aber ein Patrizier, sich wohl hütet zwischen durch zu gehen«16. Auch das Zeremoniell berücksichtigt diesen Ort des ›sozialen Makels‹, was sich am Anschaulichsten daran zeigt, dass Prozessionen und Auszüge die Säulen umgehen.17 Zwei Darstellungen mögen dies verdeutlichen. In Giacomo Francos Buch Habiti d’huomeni et donne venetiane (Venedig 1610) werden Sitten und Gebräuche der Venezianer beschrieben.18 Das Buch ist mit einer Reihe von Holzschnitten Giacomo Francos versehen, die für die Feste und Zeremonien der Stadt eine Reihe von Bilderfindungen bereitstellten, die eine lange Tradition in Venedig begründeten. In dem Bild der Einsetzung des ›General da mar‹ sieht man den Auszug des Kommandanten mit seinem Gefolge aus der Kirche. (Abb. 5) Der Zug überquert die Piazzetta, um sich auf die im Bacino di San Marco befindlichen Schiffe zu begeben. In der Vogelschau geht der Blick nach Süden über die Piazzetta und das Becken von San Marco mit der Insel von San Giorgio. Den Bogen, den der Zug gehen muss, um aus der Kirche ausziehend den Raum zwischen den Säulen zu meiden, hat der Künstler effektvoll ins Bild gesetzt. Alles scheint sich an der Seite zwischen Dogenpalast und Markussäule zu drängen, der Raum zwischen den beiden Säulen wird eindrucksvoll als ein von zeremoniellem Geschehen freier Ort geschildert und bleibt leer. Sehr viel weniger suggestiv hat Francesco Bassano einen solchen Festzug dargestellt. Sein Historienbild, welches Dogen und Papst anlässlich des Friedens von Venedig im Jahre 1177 zeigt (Abb. 6), befindet sich im Versammlungssaal des Großen Rats im Dogenpalast und gehörte somit zur offiziellen Repräsentation der Republik. Hier ist ebenfalls zu sehen, wie der Papst mit seinem Gefolge das Interkolumnium meidet und den Weg zwischen Dogenpalast und Markussäule wählt, wenngleich Bassano dies durch die Wahl des Betrachterstandpunkts geschickt zu verbergen weiß und der Zug einen geraden Weg zu nehmen scheint.

16 Johann Christoph Maier: Beschreibung von Venedig, Band 1. 2te, durchaus verbesserte und vermehrte Auflage, Leipzig 1795, S. 228. 17 Vereinzelt finden sich allerdings auch Darstellungen, bei denen die Säulen durchschritten werden. Diese, zumeist von Nicht-Venezianern gefertigten Beispiele, spiegeln nicht die zeremonielle Praxis. 18 Giacomo Franco: Habiti d’huomeni et donne venetiane con la processione della Ser.ma Signoria et altri particolari cioè trionfi, feste, ceremonie publiche della nobilissima città di Venetia, Venedig 1610.

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Abb. 5: Einsetzung des General da Mar, Holzschnitt aus Giacomo Franco: Habiti d'huomeni et donne venetiane, Venedig 1610 Diese Fest-Praxis mag zunächst überraschen, denn auf den ersten Blick würde man die Säulen ja für eine rahmende Eingangsarchitektur halten. Auch die optische Achse, die zwischen Wasserfläche und Platz vermittelt, ist unübersehbar, aber in Venedig wollte sich eben niemand an den Platz der Gehängten begeben.

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Abb. 6: Francesco Bassano (da Ponte), Papst Alexander III. übergibt dem Dogen Sebastiano Ziani das Schwert, Öl auf Leinwand, Sala del Maggior Consiglio, Dogenpalast, Venedig. Aus: Edoardo Arslan: I Bassano, Band II, Mailand 1960, Abb. 249 Auf eine Besonderheit soll noch hingewiesen werden. Wucherern und gewerblichen Glücksspielern, denen sonst in der Stadt ihr Geschäft verboten war, war es am Ort der Richtstätte erlaubt.19 So gelang es der venezianischen Gesellschaft, den unvermeidlichen Makel, der jeder Richtstätte anhaftete, als soziales Regulativ nutzbar zu machen, indem sie hier einen Ort schuf, mittels dessen auch jene Berufsgruppen integriert werden konnten, auf deren Dienste man

19 Belege bei Tigler: Intorno alle colonne, S. 36-42.

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nicht verzichten wollte oder konnte. Außerdem konnte so verhindert werden, dass sie ihre Geschäfte mangels eines adäquaten Orts im Gemeinwesen illegal betrieben hätten. Ausgehend von der beschriebenen sozialen Praxis Venedigs könnte man den Raum zwischen den Säulen mit Michel Foucault als Heterotopie charakterisieren.20 Heterotopien lassen sich in allen Gesellschaften finden und übernehmen die grundlegende Aufgabe die soziale Ordnung zu sichern, indem sie abweichendes Verhalten auf einen oder mehrere bekannte Orte begrenzen und so kontrollieren können. Es sind »reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen«21. Der Bereich zwischen den Säulen, wo außerhalb der Normen liegendes Handeln nicht nur stattfand, sondern auch statthaft war, scheint dieser Definition in seiner sozialen Wirklichkeit entsprochen zu haben. Doch verlassen wir nun den Ort der Gehängten und begeben uns an das nördliche Ende der Piazzetta, wo sich mit dem Ausrufungsstein der Ort offizieller Verlautbarungen der Republik befindet.

Die Pietra del bando An der Südwestecke der Markusbasilika befindet sich die sogenannte Pietra del bando, ein antiker Säulenstumpf aus Porphyr. (Abb. 7) Um ihn aufzustellen, wurde er in Venedig mit einem eigenen Kapitell und einer Basis versehen. Früher befand sich an seiner Seite eine kleine Treppe, die es einem Amtsdiener, dem Comandador, ermöglichte hinaufzusteigen. Von dort verkündete er wichtige öffentliche Bekanntmachungen. In erster Linie die Senatsbeschlüsse, aber auch Todesurteile, Verbannungen, Rekrutierungen im Kriegsfall, Friedensverträge oder Bündnisse, die die Republik geschlossen hatte.22 20 Michel Foucault: »Von anderen Räumen« (aus dem Französischen von Michel Bischoff), in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a.M. 2006, S. 317-327, vgl. v.a. S. 322ff. zur Behandlung und Unterbringung derjenigen, die vom Durchschnitt abweichendes Verhalten an den Tag legen und zu den Grundsätzen, die für Heterotopien gelten. 21 Ebd., S. 320. 22 Egle Renata Trincanato: »Rappresentatività e funzionalità di Piazza San Marco«, in: Giuseppe Samonà (Hg.), La Piazza San Marco, l’architettura, la storia, le funzioni, Padua 1970, S. 79-91, hier S. 84. Beispiele für das Verlesen von Bündnis-

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Abb. 7: Die Pietra del bando an der Südwestecke der Markuskirche (Archiv des Autors) Zeitgleich wurden von einem weiteren Amtsdiener die Bekanntmachungen auch auf dem Campo San Giacomo di Rialto verlesen. Dort ist ebenfalls ein Ausrufungsstein vorhanden, der sich wegen der Figur des Buckligen, die dort die Treppe stützt, einer besonderen Beliebtheit und des zusätzlichen Namens gobbo, der Bucklige, erfreut. (Abb. 8)

verträgen gibt Philine Helas: Lebende Bilder in der italienischen Festkultur des 15. Jahrhunderts, Berlin 1999, S. 154.

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Abb. 8: Die Pietra del bando am Rialto, wegen der die Treppe stützenden Figur auch gobbo, der Bucklige, genannt (© Giovanni Dall’Orto)

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Die Senatsbeschlüsse, die für die Bekanntmachung vorgesehen waren, erhielten in den Akten die Anweisung »Vadit pars, quod cridetur publice in locis solitis Sancti Marci et Rivoalti, quod«23. Der Ort wird also in den Anweisungen ganz explizit benannt. Im Akt des Ausrufens entsteht dann eine wichtige Wechselwirkung, denn zum einen ist es natürlich die Handlung, die dem Ort seine Bedeutung zumisst, zum anderen aber waren es eben der Ort und das Wissen aller Umstehenden, die der Ausrufung erst den Charakter einer offiziellen Verlautbarung und die Legitimität der Republik verliehen. Der Säulenstumpf der Pietra del bando dürfte wohl aus Konstantinopel stammen, womöglich ist er aus der gleichen Säule geschnitten, von der auch die Tetrarchen stammen,24 doch kennt die venezianische Überlieferung eine andere Herkunft. Ihr zufolge stamme die Pietra del bando aus Akkon, wo man sie den Genuesen abgenommen habe, denen sie dort bereits als Ausrufungsstein oder als Rechtswahrzeichen gedient habe.25 Die Legende verbindet den Stein also mit einem venezianischen Sieg über die Genuesen und weist ihn als sichtbares Zeichen dieses Sieges aus, als Trophäe und überführtes Herrschaftszeichen. Wollte man die Logik dieser Überlieferung assoziativ noch einen Schritt weiterdenken, so könnte in dem auf den Stein steigenden venezianischen Amtsdiener eine Anspielung auf die Überwindung genuesischer Herrschaftsausübung gesehen werden, war doch das Symbol des Fußaufsetzens die

23 Giambattista Lorenzi (Hg.): Documenti per servire alla storia del Palazzo Ducale di Venezia ovvero serie di atti pubblici dal 1253 al 1797, Band 1, dal 1253 al 1600, Venedig 1868, Dok. 131 vom 11.10.1402. 24 Der Durchmesser des Säulenstumpfes entspricht zumindest jenem der sich für die Tetrarchensäule(n) rekonstruieren lässt. Vgl. Richard Delbrueck: Antike Porphyrwerke (= Studien zur spätantiken Kunstgeschichte, Band 6), Leipzig 1932, S. 90. Dass die Tetrarchen aus Konstantinopel stammen ist durch ein dort bei Grabungen gefundenes Fußfragment, welche der einen Gruppe in Venedig fehlt, belegt. Vgl. den Bericht des Ausgräbers: Rudolf Naumann: Der antike Rundbau beim Myrelaion und der Palast Romanos I. Lekapenos, in: Istanbuler Mitteilungen 16 (1966), S. 99-216, S. 209ff. 25 Ähnliches gilt für die ›Pilastri acritani‹, jene Pfeiler, die vor dem Eingang des Baptisteriums stehen und aus der Polyeuktoskirche in Konstantinopel stammen, von den Venezianern jedoch ebenfalls als aus Akkon stammend angesehen wurden. Zu den Objekten mit einer Zusammenstellung unterschiedlicher Überlieferungen der venezianischen Historiographie vgl. Saccardo: »I pilastri acritani«, in: Archivio Veneto 34 (1887), S. 285-309.

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Gebärde des Siegers, Zeichen der Unterwerfung und der Besitzergreifung gleichermaßen.26 Doch verlassen wir den Bereich des Assoziativen und kommen zu unserem dritten und letzten Beispiel, dem Ort der Ränkeschmiede, dem ›Broglio‹.

Der Broglio Der als Broglio bezeichnete Bereich vor dem Dogenpalast diente den Patriziern zu Zeiten der Republik als Treffpunkt, wo sie Informationen austauschten und versuchten, auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Der bereits zitierte Johann Christoph Maier charakterisiert den Bereich vor dem Dogenpalast wie folgt: »Der Theil des Platzes von der Seite des Palasts heißt Broglio. Daselbst versammeln sich jeden Morgen zu einer gewissen Stunde die Patrizier, um sich über eigene, oder des Staats Angelegenheiten zu besprechen, in welcher Zeit es niemand erlaubt ist, dorthin zu gehen.«27

Das sonstige Treiben auf dem Platz bleibt davon jedoch unberührt, die andere Seite der Piazzetta, jene zur Bibliothek hin, so fährt Maier fort, »dient zum Geflügelmarkt.«28 Aber bleiben wir bei dem Bereich des Broglio. Es ist in der Tat der Ort, an dem sich die Patrizier versammelten, bevor sie sich in den Maggior Consiglio begaben. Auch die jungen Adligen haben sich hier vor ihrem ersten Besuch im Maggior Consiglio den andern Ratsmitgliedern präsentiert, wenn sie das Alter erreichten, in denen sie die Toga tragen durften.29 Ein solches Ereignis hat Gabriele Bella im 18. Jahrhundert im Bild festgehalten (Abb. 9). Doch auch wer ein Amt anstrebte, der suchte hier das Wohlwollen und die Förderung

26 Nicht von ungefähr leitet sich das lateinische Wort für Besitz, possessio, vom Aufsetzen des Fußes, dem pedis sessio ab, was im italienischen possesso noch lebendig ist. Hildegard Kretschmer: »Art. ›Fuß‹«, in: Dies., Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, Stuttgart 2008, S. 153. 27 Maier: Beschreibung von Venedig, S. 231. 28 Ebd. 29 Bianca Tamassia Mazzarotto: Le feste veneziane. I giochi popolari, le cerimonie religiose e di governo, Florenz 1961, S. 261.

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anderer nobili zu gewinnen.30 Jene Praxis führte dann dazu, dass im Venezian die Wendung far broglio o brolo mit dem zugehörigen Verb brogliare auftauchte,31 was so viel bedeutet wie sich heimlich Stimmen oder Gunst zu besorgen, um Ämter oder Würden zu erhalten. In dieser Weise beschreibt Cesare Vecellio den Broglio und die hier gepflegte Praxis schon am Ende des 16. Jahrhunderts: »ogni mattina ridursi in questo luogo, dove stanno dall’hora di terza fino a sesta, trattando di loro negotii et facendo broglio, per ottenere qualche magistrato«32. Natürlich mangelte es im Laufe der Jahre nicht an Versuchen, diese Art der Korruption zu unterbinden.33 Doch war ihr Erfolg bescheiden: Die Praxis blieb und mit ihr die Bezeichnung. Das heutige Italienisch kennt die Wörter broglio für Machenschaften allgemein oder broglio elettorale für den Wahlbetrug im Besonderen, wobei offen bleiben muss, ob diese wirklich in direkter Nachkommenschaft auf eine ehemalige venezianische Herrschaftspraxis zurückgehen. Auch die Herkunft des Namens broglio selbst ist nicht zweifelsfrei zu klären, womöglich geht er auf einen Obstgarten zurück, der sich vor der Errichtung des Platzes hier befunden haben mag.34 Zumindest kennen das Venezianische und einige andere oberitalienische Dialekte diese Bezeichnung. Als Bezeichnung für diesen Platzteil ist er seit dem 15. Jahrhundert belegt.35

30 Giulio Rezasco: Dizionario del Linguaggio italiano. Storico ed amministrativo, Florenz 1881 (Nachdruck Bologna 1966), S. 121. 31 Giuseppe Boerio: »Art. ›brogiar/brogliare‹«, in: Ders., Dizionario del dialetto veneziano, 2. verb. und erw. Aufl., Venedig 1856, S. 101. 32 Cesare Vecellio: Habiti antichi et moderni, Venedig 1598, hier zit. n. Tamassia Mazzarotto: Le feste veneziane, S. 268. 33 Tamassia Mazzarotto: Le feste veneziane, S. 259ff. 34 So Francesco Sansovino: Venetia – Città nobilissima, et singolare, Venedig 1664, S. 137. 35 Vgl. Giuseppe Boerio: »Art. ›Brolo‹«, in: Ders., Dizionario del dialetto veneziano, S. 101; nach venezianischer Tradition handelte es sich um den Obstgarten der Schwestern von San Zaccaria, weshalb der Doge jährlich eine Dankprozession nach San Zaccaria veranstaltete. Die älteste Erwähnung dieses Zusatzes findet sich jedoch für die nicht mehr vorhandene Kirche Santa Maria del Brolo oder in Broglio und einem Haus des Templerordens aus dem 13. Jahrhundert. Zu Legende und der jährlichen Prozession (mit Literaturangaben) vgl. Cornelia Friedrichs: Francesco Guardi. Venezianische Feste und Zeremonien. Die Inszenierung der Republik in Festen und Bildern, Berlin 2006; zu den frühesten Namenserwähnungen Michela Agazzi: Platea Sancti Marci. I luoghi marciani dall’XI al XIII secolo e la formazione della piazza, Venezia 1991, S. 81.

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Abb. 9: Gabriel Bella, Prospetto del Broglio, Öl auf Leinwand, 95 x 122 cm, Pinacoteca Querini Stampalia, Venedig. Aus: Tamassia Mazzarotto: Le feste veneziane, S. 258 Der eigentlich topographische Name erhält also eine neue Bedeutung indem er mit einem bestimmten sozialen Verhalten verbunden wird, das er zugleich legitimiert und reguliert. Die praktische Seite dieses Vorgehens liegt dabei auf der Hand. Die Gremien der Regierung hatten ihren Sitz im Dogenpalast, aber nicht alle Patrizier gehörten ihnen an, dennoch waren letztlich alle über den großen Rat an der Herrschaftsausübung beteiligt, aus ihren Reihen wurden die Ämter besetzt. Um sich zu beraten und zu erfahren, was in Venedig politisch vor sich ging, kam man hierher. Nicht von ungefähr wurden die Senatsbeschlüsse ja auch hier bekanntgegeben. Dass der Ort in seiner Zugänglichkeit auf jene beschränkt war, die politische Entscheidungsgewalt besaßen, ist die logische Folge daraus. Dabei war dies nicht der einzige Ort auf dem Platz, der eine solche soziale Distinktion kennt. Auch die Loggia des Uhrturms und jene

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vor der Kirche San Basso dienten den Aristokraten als Begegnungsorte, bis diese Funktion in den späten 1560er Jahren aufgegeben wurde.36 Anders als die Loggien aber, die zum Platz hin offen, aber architektonisch besonders gestaltet sind, ist der Broglio, obwohl in seiner Bedeutung recht konkret, nicht besonders markiert, auch in der Pflasterung nicht von dem übrigen Platzraum geschieden. Nun ist aber interessant, dass im Zuge der eingangs bereits erwähnten Neupflasterung im frühen 18. Jahrhundert genau über diese Frage beraten wurde. Als am 6. April 1722 der Entwurf des Proto Andrea Tirali zur Verhandlung kam, wurde die Frage aufgeworfen, ob die Ausführung der neuen Pflasterung mit Steinplatten oder mit Ziegeln zu erfolgen habe, die von Steinbändern eingefasst werden. Letzteres hätte der bisherigen Pflasterung entsprochen. Am 30. April, also drei Wochen später beschlossen die Prokuratoren einstimmig, dass der Platz mit einer Pflasterung in Steinplatten versehen werden solle, vorbehaltlich des Broglio, dessen Pflasterung aus Ziegeln zu bestehen habe.37 Ungeachtet dieses Beschlusses ist es zu einer solchen Ausführung nicht gekommen. Über das Warum schweigen die Akten. Ob nun ästhetische Gründe den Ausschlag gaben, man den Steinplatten eine größere Haltbarkeit zubilligte oder ob eine solche sichtbare Betonung des Ortes unerwünscht war, muss dahingestellt bleiben. Doch auch wenn der Beschluss letztlich nicht umgesetzt wurde, zeigt er wie allgemein die Vorstellung des Broglio als eines konkreten und lokalisierbaren Ortes war. Durch eine abweichende Pflasterung wäre der Bereich ja nicht in seiner Bedeutung neu definiert worden, denn diese ergab sich aus der sozialen Wirklichkeit und politischen Praxis. Im kollektiven Bewusstsein der Stadt war der Ort längst präsent, der durch eine solche Maßnahme lediglich auch im Stadtraum sichtbar geworden wäre. Vor allem aber hätte die Pflaste36 1568 wurde der Beschluss gefasst die Loggia vor San Basso zu demolieren, 1569 wurde die Funktion der Loggetta am Campanile als »ridotto de’ nobili« aufgegeben. Wolfgang Wolters: Der Bilderschmuck des Dogenpalastes. Untersuchungen zur Selbstdarstellung der Republik Venedig im 16. Jahrhundert, Wiesbaden 1983, S. 28. 37 Für die in der Quelle gemachte Angabe von zwei Brogli innerhalb der Piazzetta muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt offenbleiben, worauf sich diese Einteilung genau bezieht: »[…] con la Terminazione 6 Aprile 1722 gli Illmi et Eccmi SSri Proc. di determinarsi circa il salizo della Piazza di S. Mco per quello sia all’opera, ò tutta di Macigno, ò tramischiata con cotto presentato dal Proto Tirali il disegno stesso, resti approvato quello che stabilisce l’operazione tutta di Macigno, alla risserva delli due Brogli nella Piazzetta, che doveranno essere di cotto«. ASV, Proc. de supra, reg. 153, fol. 14v.

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rung mit Ziegeln, die ja in diesem Falle von der übrigen Platzfläche verschieden gewesen wäre, im Material eine Kontinuität betont, da sie der alten Pflasterung des Platzes entsprochen hätte, wie sie seit dem Mittelalter bestanden hatte. Der Bereich hätte somit eine Verbindung in jene Zeit hergestellt, aus der wesentliche Züge der venezianischen Verfassung, nicht zuletzt die Konstitution und Schließung des Großen Rates als Grundlage der Adelsrepublik resultierten. Die hier aufscheinende Idee eines restaurierenden Bewahrens mag an die Diskussionen denken lassen, die nach dem Brand von 1577 zur Wiederherstellung des Dogenpalastes in seinen gotischen Formen führten, die als Ausdruck des altehrwürdigen Staates für das Selbstverständnis der Republik wichtig erachtet wurden.38

Fazit Für die Frage, wie Herrschaft Raum gestaltet, konnte aufgezeigt werden, wie die Republik Venedig den Platzraum auch durch konkrete Orte prägte, die mit der Herrschaftsausübung verbunden waren und auf die bestehende Ordnung verwiesen. Die vorgestellten Orte sind dabei durchaus unterschiedlich, doch haben sie die Gemeinsamkeit, mit bestimmten Bedeutungen aufgeladen gewesen zu sein, die im kollektiven Gedächtnis der Stadt verankert waren. Das Wissen um bestimmte Handlungen und ihr sich wiederholender Vollzug waren mit einem konkreten Ort verbunden. Diese Verbindung wurde dem Ort immanent. Er bewahrte innerhalb des Platzes gleichsam eine Erinnerung an das dort Geschehene beziehungsweise das dort zu Geschehende, was ihm, dem Ort selbst, eine Bedeutung zumaß. Der konkrete Ort besaß also eine doppelte Kontinuität: Nicht nur im Raum, wo er den Ort eines Geschehens angab, sondern auch in der Zeit, denn im Gegensatz zu den vorgenommenen Handlungen, die 38 Die Frage ob der Dogenpalast in alten Formen wiederhergestellt oder in ›modernen‹ Formen neu zu errichten sei, war Gegenstand heftiger Kontroversen. Die eingeholten Gutachten und Stellungnahmen geben einen Einblick in diese Fragen. Hierzu Wolfgang Wolters: »Überlegungen zum Wiederaufbau stark zerstörter Gebäude im Cinquecento. Die Gutachten nach dem Brand des Dogenpalastes vom 20. Dezember 1577«, in: Victoria von Flemming/Sebastian Schütze (Hg.), Ars naturam adiuvans. Festschrift für Matthias Winner, Mainz 1996, S. 327-333; Giulio Lupo: »Principio murario e principio die concatenamenti: i pareri sul restauro di Palazzo Ducale di Venezia dopo l’incendio del 1577«, in: Rassegna di architettura e urbanistica XXXII,94 (1998), S. 17-34.

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ephemer waren, war der Ort immer da, verwies auf einer ersten Ebene auf das hier stattzufindende Geschehen, gerade dann, wenn dieses selbst nicht vollzogen wurde und gerade dadurch auf einer zweiten Ebene auf die legitime und gerechte Herrschaftsausübung der Republik und ihr Selbstbild. Freilich bedurfte es, um diese Orte zu lesen, einer Teilhabe am kollektiven Wissen der Stadt. Dieses Wissen um Bedeutung oder Funktion steht seinerseits in einer Wechselwirkung mit der Wahrnehmung des Raumes und spiegelt sich in Bezeichnungen, Gewohnheiten, Beschreibungen und bildlichen Darstellungen.

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Zur Transformation affektiver Vereinnahmung von öffentlichem Raum Musik-theatrale Aufführungen anlässlich von Krankheit und Genesung des Kurfürsten Carl Theodor von der Pfalz HELENA LANGEWITZ

Im Mai 1775 war ein Großteil der Bevölkerung Mannheims und der umliegenden Orte an einer »epidemischen Angina«1 erkrankt, die in vielen Fällen sogar zum Tod führte. Kurfürst Carl Theodor von der Pfalz (1724-1799), der an derselben Erkrankung litt, verlangte, als er sich am Ende seiner Kräfte wähnte, Kommunion und letzte Ölung. Der Sächsische Gesandtschaftssekretär Zapffe berichtet am 3. Juni aus der Sommerresidenz Schwetzingen auf die Folgen dieses Ereignisses rückblickend: »Lundi passé au matin S. A. S. E.le Se trouvant genée par l’enflure qu’Elle a eû dans la gorge, avoit demandé la Communion et même l’extreme onction, ce qui avoit repandû une telle Consternation, que dans quelques endroits aux environs on l’avoit dit morte, à Manheim on La croyoit à l’Agonie, on y tint des processions, les Eglises étoient continuellement remplies de monde, et les prieres publiques ont continuées pendant quatre jours consecutifes. La plûpart des gens, 1

Stephan von Stengel: Denkwürdigkeiten, hg. von Günther Ebershold (= Schriften der Gesellschaft der Freunde Mannheims und der ehemaligen Kurpfalz, Band 23), Mannheim 1993, S. 78.

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Helena Langewitz mêmes les plus poses, ont fondû en larmes; Preuve, que se Prince est beaucoup aimé.«2

Diesem Bericht zufolge löste die Äußerung des Kurfürsten große Betroffenheit aus. Der gesundheitliche Zustand des Kurfürsten wurde allerdings unterschiedlich eingeschätzt: In Mannheim wähnte man Carl Theodor im Todeskampf, während er an einigen umliegenden Orten bereits für tot gehalten wurde. Unabhängig von der Auslegung der Nachricht wirkte sie sich auf die Handlungen der Untertanen aus: Prozessionen wurden veranstaltet und während vier aufeinander folgender Tage wurden die Gebete in den Kirchen nicht abgebrochen. Die Ereignisse wurden als so vereinnahmend beschrieben, dass selbst die Besonnensten Tränen vergossen hätten. Neben dieser Angina sind weitere schwere Erkrankungen von Kurfürst Carl Theodor während seiner Mannheimer Regierungszeit für die Jahre 1743, 1749, 1754, 17643 und 17744 belegt. Sie stellten für Untertanen und Hof affektive Ausnahmesituationen dar, die sich aus der alltäglichen Erfahrung schmerzlich hervorhoben und sie dazu veranlassten, sich Gott zuzuwenden: »Tief gebeugt vom Schmerz« veranstalteten die Untertanen etwa auch im Jahre 1774 für den schwer erkrankten Kurfürsten eine Prozession zur LoretoKapelle in Oggersheim, in der eine nach der Genesung gestiftete Votivtafel an den Anlass erinnert.5 Die gebeugte Haltung, in der Öffentlichkeit abgehaltene Gebete und Prozessionen sowie die dort als Liebesbeweis vergossenen Tränen 2

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Der Sächsische Gesandtschaftssekretär Zapffe berichtet stellvertretend für Andreas Graf von Riaucour, in: Andreas von Riaucour: Des geh: Raths, Gr: von Riaucour Abschickung an den Hof, und dessen daselbst geführte Negociation betr., Hauptstaatsarchiv Dresden, ao. 1775 10026 Geheimes Kabinett, Loc. 2628-1, fol. 107r-v. Vgl. Stefan Mörz: Aufgeklärter Absolutismus in der Kurpfalz während der Mannheimer Regierungszeit des Kurfürsten Carl Theodor (1742-1777) (= Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, Band 120), Stuttgart 1991, S. 74. Alfried Wieczorek/Hansjörg Probst/Wieland Koenig (Hg.): Lebenslust und Frömmigkeit. Kurfürst Carl Theodor (1724-1799) zwischen Barock und Aufklärung, Band 2, Katalog, Regensburg 1999, S. 186f. Ebd. Die Gründung einer Wallfahrtskapelle in Oggersheim geht auf eine Initiative des Pfalzgrafen Joseph Carl Emanuel von Sulzbach (1694-1729) von 1729 zurück. 1774-75 wurde die inzwischen unter Kurfürst Carl Philipp (1661-1742) vollendete Kapelle im Auftrag Kurfürstin Elisabeth Augustes, der Tochter des Pfalzgrafen, mit einem Kirchenbau umgeben. Vgl. Stefan Mörz: Die letzte Kurfürstin. Elisabeth Augusta von der Pfalz, die Gemahlin Karl Theodors, Stuttgart/Berlin 1997, S. 160f.; A. Wieczorek/H. Probst/W. Koenig: Lebenslust, S. 183.

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führen vor Augen, dass die bekundeten Gefühle der Sorge eine theatrale Dimension aufweisen: sie wurden von Untertanen vor anderen Untertanen und dem Hof aufgeführt und vermochten es, diese dadurch wiederum »anzustecken«. Damit wurde einer großflächigen Verbreitung des Gefühls Vorschub geleistet.6 In einem anlässlich der Genesung des Kurfürsten 1775 verfassten Denkmal der Ehre Karl Theodors und der Liebe seiner Untertanen stellt der »Professor der Weltweisheiten und schönen Künste« Anton Klein dar, wie aus Sorge um den Kurfürsten »stumme Einsamkeit […] unsere Städte ergriff, und betäubte«7. Dies spricht – abgesehen von einer möglicherweise der panegyrischen Verwendung der Denkmalschrift geschuldeten Überhöhung der Situation – von einem Gefühlsverständnis, das dem von Hermann Schmitz geprägten Verständnis von Gefühlen als »unbestimmt weit ergossene Atmosphären, in die der von ihnen affektiv betroffene Mensch leiblich spürbar eingebettet ist«8 nicht unähnlich sein dürfte. Denn die von Klein beschriebene Einsamkeit ist, indem sie vom öffentlichen Raum gleichsam Besitz nimmt, mit der Raumthematik aufs Engste verknüpft. Die »Übertragung von Gefühlen« geschieht »durch die überzeugende Inszenierung echter oder vorgetäuschter Gefühle«. Mit den ihnen immanenten Stimmungen können »Räume mit Gefühlen anstecken [und] Gefühle Räume.«9 Voraussetzung dafür ist ein empfängliches, bzw. – dem behandelten Zeitraum entsprechend – »empfindsames« Subjekt, das sich den Eindrücken öffnet. So scheint die Einsamkeit der Städte auf den einzelnen Menschen zurückgewirkt zu haben: »Unser Blick war sterbend, trüb war unsere Seele […] Tief erstummt überließen wir uns zernichtenden Gedanken […]. In sich selbst eingehüllt stand – sas

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Erika Fischer-Lichte: »Theater als ›Emotionsmaschine‹. Zur Aufführung von Gefühlen«, in: Clemens Risi/Jens Roselt (Hg.), Koordinaten der Leidenschaft. Kulturelle Aufführungen von Gefühlen (= Recherchen, Band 59), Berlin 2009, S. 2250, hier S. 37-38, stellt dar, wie Affekte bzw. Gefühle im Theater des 17. und 18. Jahrhundert »als theatral gedacht« werden und diese entsprechend »vor Anderen, den Zuschauern aufgeführt werden mussten, um auch diese infizieren zu können, die sie nun ihrerseits in der Öffentlichkeit des Theaters zur Aufführung brachten«. Anton Klein: Denkmal der Ehre Karl Theodors und der Liebe seiner Unterthanen. Bei Gelegenheit seiner Genesung von einer schweren Krankheit, Mannheim 1775, S. [7]. Hermann Schmitz: System der Philosophie. Der Gefühlsraum, Bonn 1998, S. 185. Gertrud Lehnert: »Raum und Gefühl«, in: Dies. (Hg.), Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung (= Metabasis, Band 5), Bielefeld 2009, S. 19.

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Helena Langewitz ein jeder einsam, dachte an nichts, als an seinen Fürsten, an alles, was er in der Welt hatte.«10

Der Vereinzelung in stummer Einsamkeit wird die »lauteste Feierlichkeit«11 nach der Genesung gegenübergestellt. Allerdings scheint diese Freude, besonders aber die Bereitschaft zur Festlichkeit, nicht von allen Untertanen gleichermaßen geteilt worden zu sein. Sie wurde besonders von der ärmeren Bevölkerung eher als unangenehme, weil kostenintensive Pflicht empfunden.12 So darf davon ausgegangen werden, dass die von Christian Friedrich Daniel Schubart 1775 in der von ihm herausgegebenen Deutschen Chronik beschworenen »Freudenthränen, die [anlässlich der Genesung Carl Theodors] vom Antlitz seiner treuen Unterthanen gleiten«13 teilweise im Gegensatz zur theatral verfassten Sorge theatralischer Natur waren.

Carl Theodors Erkrankung als machtpolitisches Ereignis Die Metaphern, die für die Erkrankung verwendet werden, weisen darauf hin, dass Carl Theodor, der von einer Krankheit »überfallen«14 worden war, während der Erkrankung nicht für »souverän«, sondern selbst äußeren Mächten ausgeliefert angesehen wurde. Dabei personifiziert in manchen Darstellungen ein drachenartiges Ungeheuer die Krankheit: Auf der Rückseite einer von drei aus Anlass der Genesung Carl Theodors von den Röteln im Jahre 1744 von Wiegand Schäffer geschnittenen Medaillen stößt Maria mit Sternengloriole, umgeben von der Inschrift »Opitulante Deipara – Sanitati Reddito«, einen sich unter ihrem Fuß windenden Drachen mit einer Kreuzlanze nieder.15 Ein be-

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Klein: Denkmal, S. 38f. Ebd., S. [7]. Vgl. Zapffes Bericht vom 1. Juli 1775, in: Riaucour: Des Raths, fol. 129v-130r. »52. Stück, den 29. Junius 1775«, in: Christian Friedrich Daniel Schubart (Hg.), Deutsche Chronik auf das Jahr 1775. Faksimiledruck, Band 2, hg. von Hans Krauss (= Deutsche Neudrucke, Reihe Goethezeit), Heidelberg 1975, S. 410. 14 Vgl. Wieczorek/Probst/Koenig: Lebenslust, S. 186; »47. Stück, 12. Junius 1775«, in: Schubart, Deutsche Chronik, S. 369. 15 Reiss-Engelhorn-Museen, Mannheim, Inv. III g 1708, abgebildet in: Anneliese Stemper: Die Medaillen der Pfalzgrafen und Kurfürsten bei Rhein. Pfälzische Ge-

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siegter Drache wird ebenfalls auf einer von Franz Conrad Linck anlässlich der Genesung 1775 geschaffenen Frankenthaler Porzellangruppe16 dargestellt und in Kleins Denkmalschrift festgehalten: »Zurück sanks tief zum Abgrund/ Woraus es stieg – das Ungeheur!/ Verderben sas in seinem Blick,/ Und seiner Lippen Hauch war Tod!/ Tod – dir in den Busen Vatterland!«17 Wie dieses Zitat veranschaulicht, wurde der Angriff des Ungeheuers auf den Kurfürsten gleichzeitig auch als Bedrohung für das Vaterland, den Staat empfunden. Erst die Überwindung dieses »Ungeheuers« führe die Genesung für Vater und auch Vaterland herbei. Die Abwesenheit des Kurfürsten, der seinen öffentlichen Repräsentationspflichten nicht wie gewohnt nachkommen konnte, wurde zudem als verunsichernd empfunden: »Momente, in denen die persönliche Anwesenheit eines Fürsten nicht festgestellt werden konnte, waren für den absolutistischen Staat notwendig mit einer Krise verbunden. Staat und Herrscherperson bildeten […] eine untrennbare Einheit, und die Abwesenheit des Herrschers bedeutete daher eine prinzipielle Gefährdung der politischen Gemeinschaft.«18

Bei der Erkrankung des Kurfürsten im Jahr 1775 wurde diese Unsicherheit durch Gerüchte vergrößert, sein Tod würde besonders starke Umwälzungen am Hofe mit sich bringen,19 und eine angeblich unvereinbarte Erbfolge würde einen Krieg auslösen.20 Durch die Erkrankung Carl Theodors wurde neben dem natürlichen Körper auch der übernatürliche, repräsentative Herrscherkörper geschwächt, der weit über die Person des Herrschers hinausgreift.21 Das fragile Gebilde politischsozialer Ordnung, das auf der Vorstellung eines unsterblichen Herrschers be-

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schichte im Spiegel der Medaille, Band 1, Die Kurlinien, Worms 1997, S. 479f., Nr. 482; Wieczorek/Probst/Koenig: Lebenslust, S. 194, Nr. 4.0.9.c. Museum für Angewandte Kunst Frankfurt, Frankfurt a.M., Inv. 5772, abgebildet in: Wieczorek/Probst/Koenig: Lebenslust, S. 335. Klein: Denkmal, »Ode«, S. [ 3.] Christian Horn: Der aufgeführte Staat. Zur Theatralität höfischer Repräsentation unter Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen, Tübingen/Basel 2004, S. 124. Vgl. Zapffes Bericht vom 3. Juni 1775, in: Riaucour: Des Raths, fol. 107v-108r. Vgl. »47. Stück, 12. Junius 1775«, in: Schubart, Deutsche Chronik, S. 369f. Zur Unterscheidung zwischen »Body natural« und »Body politic« vgl. Ernst Hartwig Kantorowicz: The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton (N.Y.) 1957.

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ruhte, wurde – zumindest kurzfristig – aus dem Gleichgewicht gebracht. Nach erfolgter Genesung machte dies die Wiederherstellung der Ordnung und die Rehabilitierung des repräsentativen Herrscherkörpers erforderlich.

Nachhaltige Wiederherstellung der Ordnung im Staatsgebilde und im einzelnen Untertan Der Dank für die Genesung wurde 1775 in einem feierlichen Te Deum in der Schwetzinger Gemeinde, in der sich der Kurfürst aufhielt, besungen und danach in allen Kirchen des Landes wiederholt.22 Die anschließenden Festlichkeiten dienten dazu, Gemeinschaft zu stiften und die gesellschaftliche Ordnung zu bestätigen. Christian Horn hat bemerkt, dass solche »durch Aufführungen bestrittenen Machtinszenierungen«23 aufgrund ihrer Flüchtigkeit der Wiederholung bedurften. Da der Anlass von Genesung und Krankheit aber nicht willkürlich wiederholbar war, wurden Krankheit, Genesung und wiedererlangte Macht Carl Theodors mit unterschiedlicher Gewichtung in unterschiedlichen Medien festgehalten. Medaillenprägungen, die erwähnte Votivtafel, die Frankenthaler Figurengruppe Lincks und Kleins Denkmalschrift sind als Mittel zu betrachten, mit denen die wundersame Genesung Carl Theodors dem kulturellen Gedächtnis eingeschrieben wurde. Abgesehen von diesen äußerlichen Denkmälern scheint auch das Anliegen bestanden zu haben, das Andenken daran auch in der individuellen Erinnerung jedes einzelnen Untertanen zu verankern: Klein vermittelt in seiner Denkmalschrift ein Verständnis von Denkmälern, die sich von einer äußeren Verdinglichung gelöst haben und gerade dadurch besonders haltbar seien: »Deine Ehre, groser Kuhrfürst, wird von Enkeln zu Enkeln fortgepflanzet werden. Den Ruhm derjenigen, die man Helden nennet, weil sie den Erdboden verwüsteten, wird die Zeit mit dem Staube ihrer Ehrensäulen verwehen; aber die Denkmäler deiner Liebe werden ewig dauern; weil sie in die Herzen deines Volkes eingegraben sind.«24

22 Vgl. Zapffes Bericht vom 10. Juni 1775 in: Riaucour: Des Raths, fol. 114v. 23 Horn: Der aufgeführte Staat, S. 150. 24 Klein: Denkmal, S. [15].

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Mit der Darstellung des Herzens als formbarer Materie bezieht sich Klein auf eine seit der Antike bekannte Vorstellung, nach der dem menschlichen Herz gleich einer Wachstafel Eindrücke beigebracht werden können. »Der Eindruck im übertragenen Sinn, den ein Erlebnis, ein Bild, ein Mensch, eine Situation auf den Geist, die Seele oder das Gedächtnis eines anderen Menschen machen kann, wird am Leitfaden des Eindrucks im ursprünglichen Sinn des Wortes, also der verändernden, gestaltgebenden Einwirkung auf ein formbares Material, vorgestellt.«25

Auch wenn es bei Klein in erster Linie die kurfürstliche Liebe ist, die es vermag, im Herzen der Untertanen ein Denkmal zu errichten, wird implizit der Kurfürst auch als eine gestaltende Kraft beschrieben, die sich den Herzen einschreibt. »Das Volck hat ein herz von Laimb und Wax und die fürsten sind dieienigen welche demselben die formb und gestalt dareintrucken, welche Ihnen gefällig ist«26, heißt es 1711 im Mundus christiano bavaro politicus. Die wirksamen Mittel, sich dem Herzen der Untertanen einzuschreiben, waren vielfältig. Feste27 wurden dafür als dienlich angesehen, aber auch Opernaufführungen vermochten es in den Augen Johann Georg Sulzers, der für Klein erklärtermaßen Vorbildfunktion erfüllte, einen Zuhörer nachhaltig zu beeindrucken: »Ich stelle mir vor, daß bey einer wichtigen Feyerlichkeit, z. B. bey der Thronbesteigung eines Monarchen, eine in allen Theilen wol angeordnete und gut ausgeführte Oper gespielt würde, die darauf abzielte, den neuen Fürsten empfinden zu lassen, was für ein Glanz den Regenten umgiebt, und was für eine Glükseligkeit der genießt, der ein wahrer Vater seines Volkes ist; und dann 25 Doris Kolesch: Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV., Frankfurt a.M./New York 2006, S. 181. 26 Mundus christiano bavaro politicus oder allerhand politische anmerckungen, Reflexiones, Betrachtungen und Erinderungen über die jederzeit weit und weltberümbte glückliche auch kluege Völkker und Länder-Regierung der Herzoge von Bayern etc., zit. nach Eberhard Straub: »Zum Herrscherideal im 17. Jahrhundert vornehmlich nach dem ›Mundus Christiano Bavaro Politicus‹«, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 32 (1969), S. 193-221, hier S. 207. 27 Im April 1744 ließ sich Carl Theodor wenige Monate, nachdem seine Genesung von den Röteln bekannt gegeben worden war, erstmals nach seinem Regierungsantritt 1743 von der Stadt Mannheim huldigen. 1754 ging die Freude über die Genesung in die Festlichkeiten anlässlich seines Geburts- und Namenstags über.

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Helena Langewitz empfinde ich, daß der Eindruk, den sie auf ihn machen würde, so durchdringend seyn müßte, daß kein Tag seines künftigen Lebens kommen könnte, da er sich derselben nicht erinnerte. Daß die Empfindungen, die das Gemüth ganz durchdringen, wenn man sie ein einzigesmal gefühlt hat, unauslöschlich sind, und bey geringen Veranlassungen sich wieder erneuern, muß jeder nachdenkende Mensche, wenn er dergleichen jemal empfunden hat, aus seiner eigenen Erfahrung wissen.«28

Bemerkenswert erscheint in unserem Zusammenhang zuallererst Sulzers Verständnis von einer Opernaufführung, die trotz ihrer Flüchtigkeit in der von ihr entfalteten Wirkung einen »unauslöschlichen« Eindruck im Zuschauer zu hinterlassen vermöge. Außerdem verortet Sulzer die Opernaufführung im höfischen Kontext und bringt sie mit einer »wichtigen Feyerlichkeit« in Verbindung, womit er implizit auf den repräsentativen Charakter von Opernaufführungen Bezug nimmt. Als Bestandteil zeremonieller Handlungen standen musiktheatrale Aufführungen in enger Verbindung mit der fürstlichen Lebensund Erfahrungswelt und wirkten wirklichkeitsstiftend.29 Abgesehen von der »gut ausgeführten Oper« trugen zwei weitere für die Aufführung konstitutive Parameter dazu bei, den »Glanz« des Regenten zu erhöhen: der Aufführungsraum und die Anwesenheit der Zuschauer. »L’éténdue de cette Salle, son Archichtecture, & la richesse de ses embellissements [l]a rendent digne d’étre vue. Lorsqu’on représente des Operas dans cette Salle, on peut assurer que c’est un des plus brillants & des plus majestueux spectacles de l’Europe. La magnificence de la Salle, la beauté, & la varieté des Decorations, l’excellence de la Musique, la bonté de l’Orchestre, la présence des Souverains & de toute la Cour, l’affluance du monde, le concours des Etrangers font de ce lieu le Palais du Plaisir & de la Pompe.«30

28 Johann Georg Sulzer: »Art. ›Oper; Opera‹«, in: Ders., Allgemeine Theorie der schönen Künste, Band 3 (Nachdruck der 2. Auflage Leipzig 1792), Hildesheim 1967, S. 584. 29 Vgl. Reinhard Strohm: »Die klassizistische Vision der Antike. Zur Münchner Hofoper unter den Kurfürsten Maximilian II. und Karl Albrecht«, in: Archiv für Musikwissenschaft 64 (2007), S. 1-22, S. 77-104. 30 Etrennes Palatines pour l’année 1769. Qui contiennent des Notices historiques & généalogique des principaux Etats & Souverains de l’Europe. Et une Déscription des Curiosités, des Etablissements, & autres choses remarquables qui sont à voir dans la Ville de Mannheim & dans ses Environs, Mannheim 1769, o.S.

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In der den Etrennes Palatines von 1769 entnommenen Beschreibung der Mannheimer Salle d’Opera, die wie die Spielstätte der Comédie Françoise im linken, westlichen Flügelkomplex des Mannheimer Schlosses untergebracht war, wird dem für sich betrachteten Aufführungsraum bereits eine wirkungsmächtige Erscheinung bestätigt. Aber erst im Zusammenspiel mit einer Opernaufführung könne man eines herausragenden Ereignisses teilhaftig werden. Dabei wird nicht nur den für die szenisch-musikalische Realisierung konstitutiven Parametern eine große Rolle zugeteilt. Die Zuschauer – an erster Stelle die Herrschenden und der Hof – tragen wesentlich dazu bei, dass der Opernsaal zu einem »Palast« des Vergnügens und Pompes wird. Die Anwesenheit des Publikums wirkt sich dem Zitat zufolge als einflussnehmend auf die räumliche Wahrnehmung des Zuschauerraums aus. Diese Aussage macht deutlich, dass die Wahrnehmung eines Raums veränderbaren Parametern unterworfen ist. Dabei gibt der Raum durch seine Anlage nicht nur eine spezifische Nutzbarkeit vor – er wird gleichzeitig durch die Art seiner Nutzung, hier eine Opernaufführung, bestimmt. Insgesamt erweist sich nicht nur die Weise der Inanspruchnahme von räumlichen Gegebenheiten als maßgeblich, sondern auch ganz besonders die An- und Abwesenheit von bestimmten Personen. Erika Fischer-Lichte unterscheidet dementsprechend zwischen Raum und Räumlichkeit, die durch eine Aufführung spezifisch hervorgebracht wird: »Räumlichkeit ist flüchtig und transitorisch. Sie existiert nicht vor, jenseits oder nach der Aufführung, sondern wird […] immer erst in der und durch die Aufführung hervorgebracht. Sie ist daher auch nicht mit dem Raum gleichzusetzen, in/an dem dieses sich ereignet.«31

Dass der Zuschauerraum bisweilen selbst als Bühne genutzt wurde, macht ein Eintrag in der von Schubart herausgegebenen Deutschen Chronik deutlich. Diesem zufolge wurde die Wiederankunft des Kurfürsten in der Oper nach einer längeren Abwesenheit von Pauken- und Trompetenschall – den klanglichen Insignien herrschaftlicher Macht – und von dem begeisterten Klatschen der Untertanen begleitet.32 Die wiedererlangte Sichtbarkeit des Kurfürsten nach schwerer Krankheit wird in den Jahren 1754 und 1775 jeweils durch eine musik-theatrale Aufführung auf ganz unterschiedliche Weise thematisiert. Ich möchte im Folgenden 31 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004, S. 187. 32 »18. Stück 2. März 1775«, in: Schubart, Deutsche Chronik, S. 140.

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untersuchen, welchen Beitrag die Aufführungen dazu leisteten, den Herrscher neu zu ›verorten‹ und in welchem Raum sie dies tun. Zudem möchte ich der Frage nachgehen, ob der durch Sorge besetzte öffentliche Raum durch die Aufführungen zumindest für deren Zuschauer in einen positiv besetzten überführt werden konnte und welche Mittel dafür ausgewählt wurden, um nach Möglichkeit einen »unauslöschlichen« Eindruck zu erwirken. Der Darstellung der musik-theatralen Genesungsaufführungen stelle ich einige Überlegungen voran, die sich auf die zeitliche Choreographie der Ereignisse beziehen.

Gebet und Prozession – Ausdruck unmittelbarer Anteilnahme oder wirkungsvolle Strategie des Hofes? Die durch den Hof erfolgte zeitliche Festlegung von Bittgottesdiensten und Prozessionen weist diese bisweilen als Teil einer ausgeklügelten Dramaturgie aus. So wurde das Volk 1754 – das legen zumindest die Dresdner Gesandtenberichte nahe – vorsätzlich im Unklaren über den gesundheitlichen Zustand des Kurfürsten gelassen, als Bittgottesdienste in allen Kirchen Mannheims angeordnet wurden. »Quoique S.A.E. [Carl Theodor] commence à se mieux porter on a ordonné dans touttes les Eglises des prieres afin qu’il plaise au Toutpuissant d’ accelerer le moment de son retablissement. Comme le peuple n’est point informé que ce Prince est hors de danger, il s’est imaginé qu’il y avoit à craindre pour ses jours et a été touché au de la de toutte expression de l’etat où il suppose Son Souverain.«33

Riaucours Zitat zufolge schien der Kurfürst zum Zeitpunkt der verordneten Bittgottesdienste nicht mehr in Lebensgefahr geschwebt zu haben. Wenn die Bittgottesdienste nur stattfanden, um den Allmächtigen zu einer schnelleren Heilung zu bewegen, hätte die Unsicherheit über den Zustand des Kurfürsten aus Sicht des Hofes die unmittelbare affektive Anteilnahme des Volkes im Gebet möglicherweise die Einflussnahme auf Gottes Willen verbessert. Eine 33 Riaucour: Des Raths, Bericht vom 25. November 1754, fol. 421r-v.

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weitere Deutung wäre, dass die Wahrnehmung des drohenden Herrscherverlustes den Untertanen dazu verhelfen sollte, sich erneut der Liebe zu ihrem »Vater« bewusst zu werden – diese Auswirkung schildert Klein in seiner Denkmalschrift.34 Eine dritte Lesart legt nahe, dass der Zeitpunkt der verordneten Gebete so gewählt wurde, dass die Genesung als unmittelbare Auswirkung des durch das Engagement der Untertanen bewegten göttlichen Willens interpretierbar wurde. Gemäß der erwähnten Oggersheimer Votivtafel zeigte die am 26. September 1774 veranstaltete Prozession sofortige Wirkung: »Auf dem Weg in dero Zurückkehr, kam die frohe Nachricht von unserer durchlauchtigsten Landes-Mutter Elisabetha Augusta, daß die Krankheit sich geändert, augenscheinliche Hülf erhalten, uns außer Gefahr sein Leben zu verlieren gerettet sey.«35

Auch die 1775 vom Hof in den fünf Mannheimer Kirchen angeordneten Gebete36 hatten nach einer Darstellung in der Deutschen Chronik einen unmittelbaren Umschwung der Geschehnisse zur Folge. »[…] der Schutzgeist der Pfalz, der ihn von Gott erbat, und ein kniendes, betendes Volk um ihn her – riß den besten Fürsten wieder aus den Händen des Todes, und Karl Theodor lebt!«37

Die Inschrift »Vota Palatinatus Exaudita« auf Lincks Frankenthaler Porzellangruppe verweist mit der Angabe des Datums (3. Juni 1775) auf eine weitere von Erfolg gekrönte Prozession hin. Hier sei bemerkt, dass sich der Kurfürst am selben Tag nach Angaben des Dresdner Gesandtschaftssekretärs bereits auf dem Wege der Besserung befand; außerdem berichtet Zapffe, dass die Ärzte

34 »Ein Kind liebt seinen Vatter, in dessen Armen es ruhet, an dessen Lippen es hänget […] aber wenn die kalte Hand des Todes sich nähert, das Leben des liebenswürdigsten aller Vätter erschüttert; dann empört sich die ganze Natur des Sohnes! […] und das zerfleischte Herz fühlt was Liebe ist, wenn sie der Anblick eines Unglücks zur Pein macht.« Klein: Denkmal, S. 38. 35 Wieczorek/Probst/Koenig: Lebenslust, S. 187. 36 Vgl. Zapffes Bericht vom 29. Mai 1775 in: Riaucour: Des Raths, fol. 105v. 37 »47. Stück, 12. Junius 1775«, in: Schubart, Deutsche Chronik, S. 369.

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ihm versichert hätten, dass bei der Krankheit keine Lebensgefahr bestanden habe.38 Gebete zu verordnen, wenn bereits Heilung in Aussicht stand, darf als Maßnahme des Hofes verstanden werden, Carl Theodors vor Gott genossene Privilegien herauszuheben. Durch diese erneute Legitimation seiner Regentschaft war ein erster Schritt zur Rehabilitierung seines Herrscherkörpers und seiner Macht, nach der Wiedergenesung seines natürlichen Körpers, getan. Die Neuverortung des Herrscherköpers im sozial-politischen Gefüge wurde durch die musik-theatrale Aufführung von L’Allegresse du jour bemerkenswert gestaltet.

Die doppelte Anwesenheit Carl Theodors in der Pantomime Allegorique L’Allegresse du jour Aus Anlass der Genesung von einer mehrere Wochen andauernden Erkrankung des Kurfürsten gelangte die Pantomime Allegorique L’Allegresse du jour39 im Auftrag der Kurfürstin Elisabeth Auguste am 16. Dezember 1754 auf der Bühne der Comédie Françoise zur Aufführung. Sie wurde durch eine Zusammenarbeit von Mitgliedern der am Hof engagierten Balletttruppe mit den französischen Schauspielern ermöglicht. Das Libretto von L’Allegresse du jour erschien samt einem Verzeichnis aller Beteiligten im Druck (Abb. 1); dadurch nimmt es eine Vorrangstellung unter den übrigen Aufführungen der französischen Schauspieler ein, über deren Repertoire am Mannheimer Hofe nur wenige gesicherte Angaben gemacht werden können.40 Als Verfasser des Librettos

38 Vgl. Zapffes Bericht vom 29. Mai 1775., fol. 106r und seinen Bericht vom 3. Juni 1775, in: Riaucour: Des Raths, fol. 107r-v. 39 [Étienne?] Lauchery: L’Allegresse Du Jour. Pantomime Allegorique au Sujet de la Convalescence de Son Altesse Serenissime Electorale Palatine, Mannheim 1754, Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, Sign. K16+A1415. 40 Wilhelm Herrmann: Hoftheater – Volkstheater – Nationaltheater. Die Wanderbühnen im Mannheim des 18. Jahrhunderts und ihr Beitrag zur Gründung des Nationaltheaters (= Quellen und Studien zur Geschichte der Mannheimer Hofkapelle, Band 5), Frankfurt a.M./Berlin/Bern 1999, S. 90f.

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Abb. 1: [Étienne?] Lauchery, L’Allegresse Du Jour, Mannheim 1754, Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, K16+A1415, Titelblatt

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wird ein gewisser Lauchery angegeben, bei dem es sich möglicherweise um den primo ballerino Étienne Lauchery handelt.41 Er war Mitglied einer am Mannheimer Hof beschäftigten Tänzerfamilie. In der Besetzungsliste von L’Allegresse du jour werden Étiennes Brüder Michel und René ebenfalls angeführt.42 Als Komponist ist der seit 1753 am Kurpfälzischen Hof angestellte Ignaz Holzbauer genannt – die Musik jedoch ist nicht erhalten. Die Ballettmeister André Bouqueton und Louis Auguste Rey, beide waren erst seit Kurzem am kurpfälzischen Hof beschäftigt, waren verantwortlich für die Ballette. Als Dekoration ist das »Palatinat proche Mannheim« vorgesehen: »Le Théâtre représente une Perspective du Château de Mannheim du côté du Rhin: ce fleuve paroit flottant aux pieds des Remparts dans un tems calme & au Lever de l’Aurore: on découvre sur le Rivage plusieurs barques de pêcheurs.«43

Obwohl zu dieser Szenenbeschreibung weder ein Bühnenbildentwurf, geschweige denn ein Bühnenprospekt überliefert ist, finden sich zahlreiche Darstellungen dieser Schauseite Mannheims, die einen Hinweis auf die mögliche Gestaltung des Prospekts geben können. (Abb. 2) Im Hintergrund des Kurfürstenportraits ist ein Ausschnitt der Stadt Mannheim sichtbar, der den Vorgaben der Szenenbeschreibung zumindest nahe kommt. Dass Carl Theodor sich hier um 1750, aber auch um 1754 von Johann Georg Ziesenis mit den ihm zugehörigen Herrschaftsattributen und Würdenzeichen just vor diesem Hintergrund malen ließ, dürfte den hohen repräsentativen Wert dieses Ausschnitts verdeutlichen. Die in der Szenenbeschreibung erwähnten Befestigungsmauern der Stadt werden auf einer um 1755 gefertigten Ansicht Mannheims von Johann Friedrich Probst und Jeremias Wolff Erben noch besser erkennbar. (Abb. 3) Vor dem Hintergrund der Ansicht des Mannheimer Schlosses mitsamt seinen Be41 Bei dem von mir herangezogenen Librettoexemplar wurde der Vorname »Étienne« handschriftlich hinzugefügt. 42 Zur Tänzerfamilie Lauchery vgl. Sybille Dahms: »Étienne Lauchery, der Zeitgenosse Noverres«, in: Ludwig Finscher/Bärbel Pelker/Jochen Reutter (Hg.), Mozart und Mannheim. Kongreßbericht Mannheim 1991 (= Quellen und Studien zur Geschichte der Mannheimer Hofkapelle, Band 2), Frankfurt a.M. 1994, S. 145-155. Zur Allegresse siehe auch Friedrich Walter: Geschichte des Theaters und der Musik am kurpfälzischen Hofe (= Forschungen zur Geschichte Mannheims und der Pfalz, Band 1), Leipzig 1898, S. 248f., und Jean Jacques Olivier: Les comédiens français dans les cours d’Allemagne au XVIIIe siècle, Genf 1971, S. 35-38. 43 Lauchery: L’Allegresse, S. [5].

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Abb. 2: Johann Georg Ziesenis: Kurfürst Carl Theodor, um 1750, Öl auf Leinwand, 152,5 x 115,5 cm, Kurpfälzisches Museum der Stadt Heidelberg G 1642 festigungsanlagen entwickelte sich folgende Handlung: Auf dem ruhig dahinfließenden Rhein werden im Morgengrauen Fischerbarken erkennbar. Der noch düstere Himmel wird plötzlich von einem hellen Komet erleuchtet, der Fischerinnen und Fischer, Bauern und Bäuerinnen in Erstaunen versetzt. Von Furcht gepackt beratschlagen sie über dessen Bedeutung und legen Gelübde für die Genesung des Kurfürsten ab.

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Abb. 3: Johann Friedrich Probst, Ansicht der kurpfälzischen Residenzstadt Mannheim zur Zeit Carl Theodors, Augsburg, um 1755, Kupferstich / Radierung, 33,2 x 112,8 cm, Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, A 42 (Foto: Jean Christen) Auf einem Muschelwagen erscheint der von »M.« Lauchery44 verkörperte Flussgott. Durch seinen Auftritt wird das Volk (die »Fischer« und »Bauern« werden fortan nur noch so bezeichnet) in Schrecken versetzt und von Entsetzen gepackt. Der Flussgott beruhigt das Volk und teilt ihm die Genesung des Kurfürsten mit, denn die Götter hätten sich den Wünschen des Volkes gegenüber empfänglich gezeigt. In einer Ansprache an das Volk ermuntert er es, Schmerz und Tränen zu verbannen, denn ihr Monarch kehre bald zurück. Dieser, Freund der Künste und der Wahrheit, vereine »Les qualités du Maître & les Vertus du Sage«. Die Sprache der Seele würde Einfluss auf sein Herz haben, Liebe, Natur und Dankbarkeit die Abhängigkeit des Volkes festigen. Er betont, dass Herrscher und Volk einander verpflichtet seien und eine untrennbare Einheit bilden, eine Darstellung der Charakteristika des corpus politicum: »Le prince est à son peuple & son peuple est à lui.« Der Flussgott schließt seine Anrede mit der Aufforderung, den Namen des Kurfürsten zu besingen. Im nächsten Bild beratschlagen die Götter im Olymp über die Erhebung des Kurfürsten zu göttlichem Rang. Auf Knien bittet das Volk um Unsterblichkeit für seinen Herrscher. Als auch dieser Wunsch erhört wird, teilt das Volk tanzend seine Freude mit. Die Götter befehlen Mars, den Kurfürsten in den Tempel der Unsterblichkeit zu bringen und dort die Tugenden, die Grazien, die Gerechtigkeit und die Talente zu versammeln. In dem Tempel wird 44 Leider wird an dieser Stelle nicht klar ersichtlich, ob es sich bei »M.« um die Abkürzung eines Vornamens oder aber um die von ›Monsieur‹ handelt, was wahrscheinlicher ist. Allerdings wird ›Monsieur‹ später auch mit »Mr.« abgekürzt.

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der Kurfürst im letzten Bild von der Tugend in Empfang genommen. Der Kurfürst wird von Sieg und Ruhm begleitet, die in der Luft schweben, und die Kraft findet sich mit ihrem Löwen zu seiner Seite. Die Götter begeben sich hinab zum pfälzischen Volk und drücken durch Tänze ihre Freude über die Genesung des Kurfürsten aus. Dass es sich beim Kurfürsten auf der Bühne nicht um seine natürliche Person handelt, sondern vielmehr um ein Abbild, verdeutlicht die Szenenbeschreibung, der zufolge im Piedestal unterhalb des Kurfürsten die Inschrift »Le ciel vous l’a rendu«45 angebracht ist. Die Erschütterung des Volkes über die unheilverkündenden himmlischen Zeichen und seine Gelübde bestimmen das erste Bild der Pantomime Allegorique. Dabei wird eine pantomimisch verkörpernde Darstellung durch nuanciert formulierte Gradationen der affektiven Anteilnahme des Volkes im Libretto vorgegeben. Das Volk kann die Götter mit seinem Einsatz zur Einsicht bewegen und den Kurfürsten zurückgewinnen. Abgesehen davon, dass hier über den personifizierten Flussgott der Entscheid antiker Götter und nicht der eines christlichen Gottes, bzw. der einer Gottesmutter Maria, mitgeteilt wird, stellt das erste Bild eine offensichtliche Parallelisierung der vorangegangenen realen kurpfälzischen Begebenheiten dar, die – wie oben formuliert– ihrerseits als Teil einer umfassenden Inszenierung gewertet werden können. Obwohl mit dem ersten Bild die Bedrohung des Kurfürsten erfolgreich abgewendet wurde, wird im zweiten und dritten Bild viel Aufwand darauf verwendet, den Kurfürsten zu göttlichem Rang zu erheben und auf ausdrücklichen Wunsch des Volkes mit Unsterblichkeit zu segnen. Einer weiteren lebensbedrohlichen Situation des Kurfürsten wird damit vorgebeugt. Mit dem Verweis auf das wohlwollende Verhalten, das die Götter ihm entgegenbringen, wird zugleich eine Herrschaftslegitimation erbracht und die wiedererlangte, unsterbliche Macht versinnbildlicht. Die doppelte Anwesenheit des Kurfürsten, sowohl als Zuschauer im Zuschauerraum als auch in bildlicher Darstellung auf der Bühne, in unerreichbarer Ferne über den für ihn »auf Erden« stattfindenden Genesungstänzen, erleichtert meines Erachtens in Anbetracht der vorausgegangenen Verunsicherung der Kurpfalz die Neuverortung des Kurfürsten im sozial-politischen Gefüge. Mit der Erhebung des Kurfürsten über sein Volk auf eine Stufe mit den Göttern wird seine Souveränität sichtbar wiederhergestellt. Zur Rehabilitierung des Herrschers tritt die mit theatralen Mitteln hergestellte Darstellung einer Metamorphose der Stadt Mannheim. Diese wird zunächst im Morgengrauen gezeigt, dann wird die Stadt durch das Licht, das der 45 Lauchery: L’Allegresse, S. [7]. Vgl. auch Walter: Geschichte des Theaters, S. 249.

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Komet auf sie wirft, plötzlich beleuchtet. Zuletzt wird sie durch die Handlung als Ort kenntlich gemacht, der einen von den Göttern begünstigten Kurfürsten beherbergt. Nun war es keineswegs ungewöhnlich, eine Ansicht der eigenen Stadt auf die Bühne zu bringen. Während Carl Theodors Mannheimer Zeit geschah dies jedoch so eindeutig lediglich in den hier behandelten Aufführungen anlässlich seiner Genesung. Meines Erachtens hängt die Darstellung von »Localumständen« hier eindeutig mit den während der Erkrankung des Kurfürsten gemachten Erfahrungen zusammen. »Der Künstler trifft am gewissesten den Weg zum Herzen, der einheimische Gegenstände schildert, und der das Allgemeine der Empfindung durch Localumstände fühlbarer und reizender macht.«46

Durch die Darstellung einer bekannten Stadtansicht sollte es dem Zuschauer möglicherweise erleichtert werden, die auf der Bühne dargestellten Affekte mit den eigenen zu verknüpfen. Außerdem erlaubt diese Inszenierung, die neue, in der Aufführung gemachte Erfahrung auf die bereits bekannte Stadtansicht zurückzubinden. Ein weiterer »Localumstand« rückte rund zwanzig Jahre später aus dem gleichen Anlass – einer Genesung des Kurfürsten von schwerer Krankheit – bei der Aufführung von L’Arcadia conservata ins Zentrum der Aufmerksamkeit: der Apollotempel im Schwetzinger Schlossgarten.

Gartentheater und Apollotempel im Schwetzinger Schlossgarten als Voraussetzung für die in der Aufführung von L’Arcadia conservata geschaffene Räumlichkeit Die Genesung Carl Theodors von einer Erkrankung, die ihn, wie in der Einleitung dargestellt, um sein Leben bangen ließ, konnte Ende Juni 1775 in weiträumig veranstalteten Dankesfesten gefeiert werden. Die azione teatrale, L’Arcadia conservata, die bereits im Vorfeld als »allegorique à la convalescence d’Electeur« gehandelt wurde, gelangte im Rahmen 46 Sulzer: »Art. ›Empfindung‹«, in: Ders., Allgemeine Theorie, Band 2, S. 59.

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Abb. 4: Friedrich Ludwig Sckell: Schwetzinger Gartenplan, 1783, Federzeichnung laviert, 154 x 104,3 cm, Bayerische Verwaltung der Staatlichen Schlösser, Gärten und Seen, München Gärtenabteilung, B 13/4

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eines solchen Genesungsfestes am 25. Juni 1775 im Gartentheater beim Apollotempel zur Aufführung. Im Anschluss daran fanden ein souper, eine Illumination und ein öffentlicher Ball statt. Beschlossen wurde das Fest mit einem Höhenfeuerwerk. Mit der Aufführung wurde das Gartentheater eingeweiht und zugleich, da Carl Theodor seinen Regierungssitz 1778 nach München verlegen musste, zum letzten Mal in seiner Mannheimer Regierungszeit bespielt. Das ist insofern bemerkenswert, als man davon ausgehen darf, dass die durch die Aufführung der azione teatrale erzeugte »Räumlichkeit« für deren Zuschauer durch keine weitere Aufführung überschrieben wurde. Betrachten wir aber vorab die räumliche Disposition von Gartentheater (1) und Apollotempel (2). In der Planung von 1761 wurden sowohl das Gartentheater als auch der Apollotempel47 von dem späteren Gartendirektor Nicolas de Pigage als Bestandteile des Orangeriebosketts konzipiert. Der Apollotempel diente dabei als ein feststehender Abschlussprospekt auf der dem Theater zugewandten Seite. Das Ensemble befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem zwischen 1772 und 1775 fertiggestellten Badhaus Carl Theodors (3).48 (Abb. 4) Hier haben nach der Aufführung von L’Arcadia conservata ein Souper und eine Illumination stattgefunden. Dadurch wurde die Bedeutung dieses dem Kurfürsten als »privates Refugium« dienenden Gebäudes, in dem er nur wenige ausgewählte Gäste empfing,49 besonders hervorgehoben. Mit dem betonten Bezug des Gartentheaters mit Apollotempel auf das Badhaus und vice versa verwies man auf eine besondere Verbundenheit Carl Theodors mit den beiden Orten im Garten. (Abb. 5) Der erklärte Förderer von Künsten und Wissenschaft Carl Theodor wurde von seinen Zeitgenossen auch als pfälzischer

47 Wiltrud Heber weist darauf hin, dass das Belvedere nicht von Anfang an mitkonzipiert gewesen sei. Ein Hinweis auf seine Planung findet sich erst in einem pro memoria Pigages von September 1762. Die Konzeption und vertragliche Regelung der skulpturalen Auszierung von Gartentheater und Apollotempel erfolgte 1765/66 durch Pigage und den ausführenden Bildhauer Peter Anton von Verschaffelt. Vgl. Wiltrud Heber: Die Arbeiten des Nicolas de Pigage in den ehemals kurpfälzischen Residenzen Mannheim und Schwetzingen, Band 2 (= Manuskripte zur Kunstwissenschaft, Band 10), Worms 1986, S. 485f. 48 Während Heber den Abschluss der Bauarbeiten am Badhaus auf 1775 datiert, aber darauf hinweist, dass dieses laut einem sächsischen Gesandtschaftsbericht bereits 1773 vom Kurfürsten genutzt wurde, legt Ralf Richard Wagner das Datum der Fertigstellung auf den 4. Juli 1772 fest. Vgl. Heber: Die Arbeiten, S. 505, S. 508; Ralf Richard Wagner: In seinem Paradiese Schwetzingen… Das Badhaus des Kurfürsten Carl Theodor von der Pfalz, Ubstadt-Weiher 2009, S. 62. 49 Zur Funktion des Badhauses vgl. Wagner: In seinem Paradiese, S. 127-132.

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Abb. 5: Gartentheater mit Apollotempel und daran angrenzender Badhausanlage (Ausschnitt) Apoll gefeiert. Er trug selbst wesentlich dazu bei, dass sein Erscheinungsbild mit dem des Apollo musagetes und den diesem zugeschriebenen Attributen verknüpft wurde. Die Inschrift einer Darstellung des Apollotempels mit angedeutetem Gartentheater von Egidius Verhelst »Apollini Palatino Sacrum« – dem pfälzischen Apoll, bzw. dem Apollo Palatinus heilig50 –, abgebildet in den Fabulae Aesopiae François-Joseph Desbillons’ 1768,51 weist nicht nur auf den Widmungsträger der Prachtausgabe hin.52 Sie stellt gleichzeitig die besondere Affinität Carl Theodors zum Apollotempel dar: 1769 ließ sich der Kurfürst von Johann Peter Hoffmeister mit dem Schwetzinger Apollotempel im Hintergrund malen, was den Stellenwert des Bauwerks in der herrschaftlichen Repräsentation unterstrich. (Abb. 6) Allein die Wahl des Aufführungsortes suggerierte dementsprechend eine gewisse Nähe des aufgeführten Stücks zu Carl Theodor, noch bevor der erste Ton erklang. 50 Martin Spannagel macht darauf aufmerksam, dass mit den verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten zugleich auf Carl Theodor als pfälzischen Apoll und dem antiken Apollo auf dem Palatin Bezug genommen wird, auf den die Szenenbeschreibung in L’Arcadia conservata hinweist. Vgl. Martin Spannagel: »Carl Theodor als pfälzischer Apoll, der Palatin und die arkadische Vorgeschichte Roms«, in: Max Kunze (Hg.), Der Pfälzer Apoll. Kurfürst Carl Theodor und die Antike an Rhein und Neckar, Ruhpolding 2007, S. 25-29, hier S. 25. 51 François-Joseph Terrasse Desbillons: Fabulae Aesopiae, Mannheim 1768. Die Ausgabe wurde durch 16 Kupferstiche von Egidius Verhelst bereichert. 52 Vgl. Hermann Wiegand: »Zwei geistige Antipoden am Hof Carl Theodors – Voltaire und Desbillons«, in: Wieczorek/Probst/Koenig: Lebenslust, Handbuch/Band 1, S. 159-165, hier S. 163.

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Abb. 6: Johann Peter Hoffmeister: Portrait von Kurfürst Carl Theodor mit dem Schwetzinger Apollotempel, um 1770, Öl auf Leinwand, 50,8 x 35,4 cm, Reiss-Engelhorn Museen Mannheim, O 293 (Foto: Jean Christen)

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Abb. 7: Stich des Gartentheaters mit Treillagenwänden und Apollotempel, nach Carl von Graimberg, 1809, aus Kurt Martin: Die Kunstdenkmäler des Amtsbezirks Mannheim. Stadt Schwetzingen (= Die Kunstdenkmäler Badens, Band 10), Karlsruhe/Baden 1933, S. 203 Obwohl die Arbeiten am Komplex Gartentheater und Apollotempel 1775 noch nicht abgeschlossen waren, wurde das Theater für den Anlass bespielbar gemacht. Eine provisorische Proszeniumsarchitektur setzte den Tempel in einen angemessenen Rahmen und unterstrich die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum.53 Dieser wurde damals von bewachsenen Treillagenwänden umgeben, die den Zuschauer zwar vom umgebenden Garten abschirmten, nicht aber vollständig von ihm isolierten.54 (Abb. 7) Das Libretto zu L’Arcadia conservata verfasste der Hofpoet und geheime Sekretär des Kurfürsten, Mattia Verazi. Er verwendete bei einem Großteil der Szenen bereits bestehendes textliches und musikalisches Material aus Opern Niccolò Jommellis, das gemeinsam mit einer extra für den Anlass komponierten Arie des Hofkomponisten Ignaz Holzbauer in bearbeiteter Form zu einem Pasticcio zusammengefügt

53 Am 1. [!] Juni 1775 erhielt Pigage den Auftrag, Modelle für die Proszeniumsarchitektur zu schaffen. Vgl. Heber: Die Arbeiten, S. 489. 54 Die Errichtung der Treillagenwände scheint zu den ersten baulichen Maßnahmen im Jahre 1762 gehört zu haben: »[…] le théâtre champêtre s’achevera petit a petit, on y pose déja les berceaux de treillage«, GLA 213/109 vom 31.7.1762, zit. nach Heber: Die Arbeiten, S. 485.

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wurde.55 Die nicht näher bezeichneten Tänze schuf der inzwischen zum Dirécteur de l’Académie de danse avancierte Stephan [Étienne] Lauchery, der möglicherweise, wie Holzbauer, bereits an L’Allegresse du jour beteiligt gewesen war. (Abb. 8 u. Abb. 9) Die Szenenbeschreibung macht deutlich, dass die azione teatrale regelrecht auf die vorgegebene Ansicht des Apollotempels zugeschnitten war. »Der Schauplatz ist in den geheiligten Lorberwäldern Arkadiens, um den Tempel des Apollo, der auf der Spitze des Berges Palatinus über der Höhle des Orakels erbauet ist.«56

Der Unterbau des Tempels war vom ausführenden Gartendirektor Nicolas de Pigage und dem Bildhauer Peter von Anton Verschaffelt als Parnass intendiert gewesen – darauf verweist die Bezeichnung der sich vom Apollotempel ergießenden Fontaine als »Hipocrême«.57 Er wird in L’Arcadia conservata kurzerhand zum Palatin umgedichtet. Damit wird gleichzeitig auch die Rolle des Apollo erweitert: von seiner Funktion als Apollo musagetes auf die des weissagenden und das Schicksal bestimmenden Gottes des Orakels. Mit der Verklärung des Aufführungsortes, insbesondere des Bühnenraums, zu einem sakralen Bereich nimmt Verazi möglicherweise auch auf die besondere Stimmung Bezug, die, einem Bericht der Deutschen Chronik zufolge, in der Kurpfalz herrschte: »Die ganze Pfalz ist jetzt ein Dankaltar, auf welchem Gott für die Erhaltung des besten Fürsten gedankt wird.«58

55 Niccolò Jommelli[/Ignaz Holzbauer]: L’Arcadia conservata, F-Pn, D. 6217. An dieser Stelle gilt mein herzlicher Dank Bärbel Pelker, die mich auf die Provenienz der verwendeten Arien und Szenen Jommellis hingewiesen hat. 56 Mathias Verazi: Das errettete Arkadien, in einer Übersetzung von Johann Baptist Verazi, Mannheim o.J., HEu Mays [Brosch.] 15,2 RES, S. [3]. Ital. Orig.: »La scena si finge nel bosco de’ sagri allori in prospetto del tempio d’Apollo eretto nella sommità del monte Palatino sovra l’antro degli oracoli.« Mattia Verazi: L’Arcadia conservata. Mannheim o.J., S. [3]. Das Libretto wurde einem Bericht Zapffes vom 24. Juni 1775 beigelegt und befindet sich in: Riaucour: Des Legations = Raths, Bl. 126. 57 Vgl. eine von Pigage verfasste und von Verschaffelt gegengezeichnete Spécification vom 29.8.1766/4.9.1766; Heber: Die Arbeiten, S. 486f. 58 »52. Stück, den 29. Junius 1775«, in: Schubart, Deutsche Chronik, S. 410.

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Abb. 8: Mattia Verazi: L’Arcadia conservata, Mannheim o.J., Dresden, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, 10026 Geh. Kabinett, Loc. 2628/1, Bl. 126, Titelblatt

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Abb. 9: Matthias Verazi: Das errettete Arkadien, Mannheim o.J. Heidelberg, Universitätsbibliothek, Mays [Brosch.] 15,2 RES, S. [3] 188

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Die Abwesenheit des Bühnenherrschers in L’Arcadia conservata Verazi verlegt das Sujet eines in Bedrängnis geratenen Herrschers, indem er sich sehr frei auf den 8. Gesang in Vergils Aeneis bezieht, nach Latium. Dies ermöglicht ihm, auf die ehrwürdige, bis in vorrömische Zeit zurück verfolgbare Pfälzische Geschichte anzuspielen. Dem gleichen Zweck dient die Einführung des Palatins und der Stadt Pallantea, denn beide Namen sind mit dem lateinischen Begriff der Pfalz verwandt.59 Außerdem wird Carl Theodor über die Handlungsebene mit Arkadier-König Evander gleichgesetzt. Dieser habe – so schildert es Verazi – Troja noch vor der Zerstörung verlassen, sich dann mit seinem Volk in Latium niedergelassen und an der Stelle, an der später Rom entstehen sollte, die Stadt Pallantea gegründet. Als er das Lydier-Volk bei einer Revolte gegen seinen grausamen Herrscher Mezentius unterstützt habe, sei Evander in Gefangenschaft geraten. An dieser Stelle setzt die Handlung ein. Sie endet später damit, dass Evander, durch eine Gottheit befreit, den »Thränen, und den Wünschen seiner treuen Unterthanen wieder zurück gegeben wurde«60. Bis zum Ende des Vorworts könnte man meinen, dass Evander, der stellvertretend für den Kurfürsten ein sehr ähnliches Schicksal durchleidet, nach seiner Befreiung auf die Bühne tritt und dort auch die ihm zugedachten Tugenden vorführt – dies gehörte zu den Pflichten eines Opernhelden und durfte von Seiten des Publikums auch von diesem erwartet werden. Die Handlung jedoch erstreckt sich einschließlich der scena ultima über neun Szenen, ohne dass der König ein einziges Mal auftritt. Dennoch ist er in den Äußerungen einiger weniger Protagonisten stets präsent. Numantes, hoher Priester des Apoll, die Hohepriesterin der Vesta, Karmenta, der Befehlshaber der Stadt Pallantea, Ladone, und seine beiden Töchter Klelia und Sabella schildern in affektivem Betroffensein, was dieser König ihnen bedeutet. Sie alle verleihen ihren Sorgen einen musikalischen Ausdruck. Vom arkadischen Volk, das wie

59 Ein Verfahren der »Identitätsbegründung« und »Selbsthistorisierung« u.a. über ausgewählte antike Stoffe, die in der Opernaufführung sinnstiftend mit der eigenen Geschichte verknüpft werden konnten, hat Reinhard Strohm für die am Münchner Hof zwischen 1680 und 1731 aufgeführten Opern nachgewiesen. Vgl. Strohm: »Die klassizistische Vision«. Zur Historisierung der Kurpfalz in der Aufführung vgl. Spannagel: »Carl Theodor«. 60 Verazi: Das errettete Arkadien, S. [6].

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der König nicht selbst auftritt, wird berichtet, dass es in der Not beim Vestatempel Zuflucht gesucht habe. Die Handlung beginnt bereits während der Eingangssymphonie, in der der Hohepriester des Apollo seinen Gott anruft. »Eine rauschende Simphonie […] drücket das Knarren der Donner aus, die mit Blitzen und schrecklichem Widerhalle aus der dunklen Höhle hervorstürmen.«61 Blitze und Donner im Tempel werden auf der einen Seite als Ausdruck göttlicher Präsenz gewertet, auf der anderen Seite aber als schlechte Zeichen interpretiert: In einem Traum wurde Karmenta mitgeteilt, dass das vestalische Feuer kurz vor dem Verlöschen sei und nur durch göttlichen Beistand erhalten werden könne. Klelia, die zuvor noch versuchte, Karmenta zu beruhigen, wird bei der Traumerzählung ebenfalls von Angst gepackt und erkennt sich selbst nicht mehr. Sie, die als Figur dargestellt wird, der vor allem heroische Regungen vertraut sind, stellt fest: »ich fühle – ja ich bins – […] das Opfer meines Schreckens.«62 Klelias Verlust der Selbstbeherrschung wird von der Vestapriesterin, die selbst um Fassung ringt, unter den gegebenen Umständen als vollkommen gerechtfertigt betrachtet. Mut sei hier fehl am Platz. Von der 1. bis zur 5. Szene erreicht Verazi mittels der dargestellten Affekte eine Spannungssteigerung, die in der Drohung des Mezentius gipfelt, den König umzubringen, wenn sich die Stadt nicht ergebe. Trotz der um sich greifenden Verzweiflung und der Opferbereitschaft des Volkes zieht Numantes der Kapitulation Gebete vor. Diese werden in der azione teatrale erhört: König Evander wird laut den Berichten in der 6. Szene von Pallas Athene befreit und zum Vestatempel gebracht, wo sich das Volk aufhält. In der 8. Szene schließlich macht zunächst ein „hellleuchtend mit schrecklichem Krachen aus der Höhle“ hervorstürmender Blitz auf die Götter im Tempel aufmerksam. Ihre Anwesenheit führt eine Verwandlung der Szene herbei, die von einer »unerwartet freudige[n] Simphonie« und den gesungenen Repliken begleitet wird: »Ach Himmel! was höre ich? / Ihr Götter! was erblicke ich? / Wo bin ich? / Schon verändert sich unser Schicksal. Sieh den Gott! mit dem heiligen Donner kömmt der Beherrscher der Sterne«63.

Apollo und Pallas treten mit einem Gefolge der arkadischen Waldgötter und den »Gottheiten der Bäche und Brunnen« zum Gesang des Chores aus der 61 Ebd., S. 10. 62 Ebd., S. 13. 63 Ebd., S. 22.

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Höhle auf die Bühne »und stellen sich in schöner Ordnung um den Tempel her«64. Mit dieser Regieanweisung wird der Apollotempel allem Anschein nach einer Bildkomposition unterworfen, die ihn zwar im Zentrum des Geschehens verortet, ihm jedoch keine »darstellerischen« Qualitäten mehr zubilligt. Der Apollotempel wird zum Staffageobjekt in der als »arkadisch« bezeichneten Landschaft, um den herum Protagonisten, Statisten und Tänzer in wohlüberlegter Aufstellung Teile eines Bildes werden, das sich dem Zuschauer möglicherweise als Tableau vivant der Dankbarkeit mitteilte. Zuletzt danken die Protagonisten den Göttern als Ensemble und beklagen die Sterblichkeit des Königs. Der Hohepriester des Apollo ermahnt das Volk, seinen König, den es durch Gebete wieder zurück erhalten habe, gut zu behandeln, dann werde jeder in ihm ein Vaterherz finden. Zuletzt beschließt man, die Trübsal zu vergessen und fortan in Freude zu leben.

Apollo- und Vestatempel während der Aufführung Der klar ausformulierten Szenerie des Apollotempels, der im Rahmen der Aufführung durch pyrotechnische Effekte, Geräusch und Musik besonders hervorgehoben und durch die Handlung prominent platziert wird, steht ein der Imagination der Zuschauer überlassener Ort des Vestatempels gegenüber. Er wird in der azione teatrale zum einen als Aufenthaltsort des besorgten Volkes eingeführt und zum anderen als der Ort beschrieben, den der heimkehrende Herrscher als Erstes aufsucht. Setzt man den König Evander mit dem sich im Zuschauerraum befindlichen Kurfürsten Carl Theodor gleich, dürften sich die übrigen Besucher der Aufführung in der Rolle des arkadischen Volkes wiederfinden. Damit wäre der Zuschauerraum zum imaginären Ort des Tempels erklärt, in dem die Begegnung zwischen dem zurückgekehrten Herrscher und seinem Volk neu ausgehandelt werden kann. Der Zuschauerraum, der zu Beginn der azione teatrale als profanus einem als sanctus gekennzeichneten Bühnenraum mit Apollotempel gegenübersteht, wird damit nun auch zu einem heiligen Bezirk überhöht. Eine so nahegelegte Umdeutung der im Zuschauerraum anwesenden pfälzischen Untertanen und ihres Herrschers zu dem auf der Bühne besungenen Volk und Königs wird durch eine von Holzbauer extra für den Anlass komponierte Bass-Arie unterstützt. Diese war in der 4. Szene zu

64 Ebd.

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hören und beschrieb ein um seinen Herrscher bangendes Volk. Zugleich verwies der Klang von Trompeten und Pauken unmissverständlich auf die Anwesenheit des Herrschers, des im Zuschauerraum ›verorteten‹ Carl Theodor. Durch die Erweiterung der Handlung um die Vestathematik, die Vergils Vorlage so nicht enthält, und mit der Darstellung der Herrscherfigur, von der das Wohl des Staates abhängt, wird ein wichtiges Motiv in die Handlung aufgenommen: Die Bedrohung des Herrscher durch eine äußere Macht (Mezentius bzw. Krankheit) gefährdet zugleich den Fortbestand des gesamten Staatsgebildes (der Stadt Pallantea bzw. die Kurpfalz). Die inhaltliche Anlage des Librettos und der Einsatz von Musik schlagen eine Brücke zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum. Sie erweitern somit die funktionale Komponente des Raums, nach der dieser »die Art und Weise organisiert, wie Akteure und Zuschauer zueinander ins Verhältnis gesetzt werden«65. Die Trennung von Bühnen- und Zuschauerraum wird zunehmend aufgehoben und das kurpfälzische Publikum samt dem anwesenden Kurfürsten als die ideale Besetzung von Volk und Herrscher in die Bühnenhandlung integriert. Die dramaturgische Anlage von L’Arcadia conservata stellt die Zuschauer, deren Erfahrungen während der Erkrankung Carl Theodors ja die eigentliche Vorlage bilden, indirekt in den Fokus der aufgeführten Handlung. Der Moment des Gewahrwerdens, dass man selbst, obwohl im Publikum verortet, implizit zu einem der Darsteller wird, dürfte als »markanter Moment«66 des Aufführungserlebnisses gewertet werden und der eigenen Wahrnehmung während der Aufführung sowie im Rahmen des anschließenden Festes eine besondere Nuance verliehen haben. Die Verortung des Herrschers inmitten seines Volkes ermöglicht zumindest vordergründig einen Wechsel in der Herrscherrepräsentation. Dabei weicht die unüberbrückbare Distanz zwischen Volk und Herrscher, wie sie in L’Allegresse du jour auf der Bühne etabliert wurde, einer menschlichen Annäherung. Diese konnte im geschützten Raum des Gartentheaters vollzogenen und im weiteren Verlauf des Festes (nicht nur im Bereich des Badehauses) erprobt werden. Die Festlichkeiten nehmen in diesem Zusammenhang eine Schlüsselposition ein: Sie stehen am Ende der Erkrankung des Kurfürsten und den damit 65 Jens Roselt: »Art. ›Raum‹«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 260. 66 »Der ›markante Moment‹ [ermöglicht] eine Erfahrung […], die nicht ausschließlich als […] Nachvollzug szenischer Vorgänge beschrieben werden kann, sondern diese mit der Wahrnehmung des Zuschauers verlötet.« Jens Roselt: Phänomenologie des Theaters (= Übergänge, Band 56), München 2008, S. 13.

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verbundenen Sorgen; die gefeierte Genesung markiert gleichzeitig den Beginn einer vielversprechenden Regierungsphase eines wieder erstarkten, der Zuneigung seiner Untertanen sicheren Kurfürsten. Die in der azione teatrale angedeutete Begegnung zwischen Herrscher und Volk in einem von dem Kurfürsten und seinen Untertanen bzw. Hof gemeinsam genutzten Raums des Gartentheaters bleibt gleichsam als Aufforderung bestehen, diesen mit eigener Interpretation und adäquat empfundenen Handlungen zu füllen.

Tanz und Fest zwischen den Tempeln des Apollo und der Vesta Im Rückblick auf das Fest im Schwetzinger Schlossgarten wird nicht nur berichtet, dass es in all seinen Teilen »manifique« gewesen sei und unter einem überraschend regen Zulauf des Volkes und der in Kutschen aus Mannheim, Worms, Speyer und Heidelberg angereisten Gäste bis tief in die Nacht gedauert habe. Zapffe weist besonders darauf hin, dass man dem »peuple […] avoit permis de danser dans le parterre, tandis que la Noblesse prenoit le même Divertissement sur le Théâtre, où l’on avoit donné auparavant le Spectacle.«67 Obwohl Adel und Volk in voneinander abgegrenzten Bezirken tanzten, scheint die Wortwahl »on avoit permis« für die Ausnahmestellung zu sprechen, die das tanzende Volk in diesem Fest genoss. Denn beispielsweise die während der Karnevalszeit stattfindenden Bals Masqués wurden als exklusive Veranstaltungen gehandelt, zu denen, im Gegensatz etwa zur Oper, nur »des personnes de distinction, ou employées dans un certain rang auprès de S.A.S.E.«68 eingelassen wurden und auch Auswärtige nur mit spezieller Erlaubnis Zutritt hatten. Dass der festliche Ball in und auf dem Theater stattfand, auf dem zuvor L’Arcadia conservata aufgeführt worden war, weist auf eine durchdachte Festdramaturgie hin: Zum einen knüpft der Tanz als eine den Körper und die Affekte disziplinierende Kunst an die Handlung der Aufführung an, in der zuletzt tanzende arkadische Waldgottheiten die natürliche Ordnung Arkadiens wieder etablierten; die ins Wanken geratene Ordnung während der Erkrankung wird wieder in eine stabilisierende Form und in Harmonie überführt. Zum anderen werden die verunsichernden Affekte der Angst und der Sorge sichtbar

67 Bericht Zapffes vom 1. Juli 1775, in: Riaucour: Des Raths, fol. 129r. 68 Etrennes Palatines, o.S.

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in verbindende Freude umgewandelt. Diese gleichzeitig ordnende und die Freude ausdrückende Funktion hatte der Tanz bereits in L’Allegresse du jour inne. Durch die gleichzeitige Teilnahme von Adel und Volk wird die bekannte Ordnung hier aber, im Sinne der musik-theatralen Vorgabe, erweitert: Über die gemeinsame Bewegung im Tanz kann die in L’Arcadia conservata lediglich angedeutete neue Gesellschaftsordnung verhandelt werden. An dieser Stelle sei bemerkt, dass das Volk, das der Aufführung mit großer Wahrscheinlichkeit nicht beigewohnt hat, von der Vorlage nichts wusste. Das Erproben einer neuen Ordnung im Tanz beschränkt sich also zunächst auf eine weitere »Aufführung« auf dem Theater als Bestandteil einer übergeordneten Inszenierung des harmonischen Miteinanders der Stände. Welche Rolle der Kurfürst bei diesem Fest einnahm, ist nicht bekannt. Durch die aufeinanderfolgende Hervorhebung des Theaters als Ort, an dem eine besondere Verbindung zwischen Herrscher und Volk dargestellt wurde, und dem Badhaus, in dem der Kurfürst, vom Zeremoniell weitgehend befreit, den Status eines »Privatmanns« genoss, wurde möglicherweise ein Erscheinungsbild evoziert, das Carl Theodor, als »Bürger und Regent zugleich, Beherrscher und Vatter, und ein[nen] ebenso grosse[n] Menschenfreund [… wie] Fürst[en]«69 erscheinen ließ. Das Fest scheint jedenfalls sehr zu seiner Zufriedenheit ausgefallen zu sein.70

Der Apollotempel – eine »geringe Veranlaßung« bleibender Erinnerung? Abschließend möchte ich festhalten, dass die behandelten Aufführungen anlässlich der Genesung Kurfürst Carl Theodors von der Pfalz über die darin dargestellten Affekte – sei dies in verkörpernder Weise in L’Allegresse du jour oder über die Musik in L’Arcadia conservata – einen Beitrag zur kathartischen Verarbeitung des zuvor in realiter Erlebten für die Zuschauer leisten wollte. Dieses unterschiedliche Erleben in der Auseinandersetzung mit der Erkrankung des Kurfürsten wurde über die dramaturgische Anlage der Handlung in eine vereinheitlichte Struktur gebracht und zugleich in eine positive Bewertung 69 Klein: Denkmal, S. 26. 70 Vgl. Zapffes Bericht vom 1. Juli 1775, in: Riaucour: Des Raths, fol. 129r. Dem Bericht zufolge bedachte der Kurfürst den »Intendant des plaisirs«, Graf von Portia, mit einer vergoldeten Tabatiere.

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der Ereignisse überführt. Zwischen beiden Aufführungen findet eine erstaunliche Entwicklung statt: 1754 wurde der Kurfürst noch als unsterblich deklariert, gute zwanzig Jahre später kann dem Alter ego des Kurfürsten auf der Bühne, Evander, auch von den Göttern keine Unsterblichkeit gegeben werden. Die Endlichkeit des Herrschers wird offen thematisiert. In beiden Genesungswerken wird bei der Gestaltung der Hauptdekoration auf »Localumstände« im Sinne Sulzers zurückgegriffen, die ihren Teil zu einer eindrücklichen Vermittlung beitragen. In beiden Fällen kann davon ausgegangen werden, dass den Zuschauern Carl Theodors in Gemälden festgehaltene Affinität zu den dargestellten Sujets – der Stadtansicht Mannheims, bzw. dem Schwetzinger Apollotempel – bereits vor der Aufführung bewusst war. Durch die Aufführung von L’Allegresse du jour wird der öffentliche Raum der Stadt Mannheim, der zuvor Schauplatz theatral verfasster Sorge gewesen war, mit der über Tänze dargestellten Freude über die Genesung des Kurfürsten bzw. seine Erhebung in den Tempel der Unsterblichkeit überblendet. Das unter Carl Theodor ausschließlich anlässlich des Genesungsfestes bespielte Gartentheater mit dem Apollotempel in Schwetzingen wurde in der Aufführung verschiedentlich in Szene gesetzt und im Festverlauf, zumindest vom Adel, tanzend erschlossen. Die während der Aufführung bzw. im Fest entstandene Räumlichkeit hatte zwar einen flüchtigen Charakter. Die Erinnerungen an das einmalige Raumerlebnis wurden jedoch nie mit Eindrücken einer anderen Aufführung überschrieben. Damit übernahm der Apollotempel die Funktion einer von Sulzer definierten »geringen Veranlassung«, die die Erinnerung an Anlass und Aufführung der azione teatrale und an das anschließende Fest langfristig im Gedächtnis bzw. im Herzen des Betrachters zu verankern vermochte.

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Platz – Herrschaft – Kaufleute Regulierung des öffentlichen Raums am Beispiel des Heuplatzes in der zweiten Hälfte des 18. und ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ALEXANDER BAUER

Einführung Der Platz des Heumarktes (russ. Sennaja plošþad’)1 nahm im räumlichen, sozialen und historischen Gefüge St. Petersburgs eine ambivalente Lage ein: Im 18. Jahrhundert am Rande der Stadt gelegen, war die Platzanlage ein Einfahrtstor in die Stadt von Moskauer Richtung. Im Laufe des 19. Jahrhunderts fand sie sich an der Grenze zum Stadtzentrum wieder: zentral und doch peripher. Als Handelsort ein Anziehungspunkt für Händler, Städter und Bauer, war der Heumarkt im 19. Jahrhundert eine Art Flaniermeile für wohlhabendere Stadteinwohner geworden, für die der Markt auf dem Sennaja-Platz wie eine Theaterbühne ganz eigene Darbietungen aus dem Leben der gemeinen Städter bot oder ein Feld für karitative Aktivitäten darstelle.2 1 2

Von russ. seno = Heu. Siehe dazu Hubertus F. Jahn: »Der St. Petersburger Heumarkt im 19. Jahrhundert. Metamorphosen eines Stadtviertels«, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44,2 (1996), S. 162-177, hier S. 170. Jahn untersucht in seinem Aufsatz die Kulturgeographie (ohne allerdings ausführlich darzulegen, was er unter diesem Begriff versteht) des Heuplatzes. Ihn interessiert dabei vor allem der Wandel der Funktion

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Diese Ambivalenz des Heuplatzes wurzelt in mancherlei Hinsicht in den Umständen seiner Entstehung und dem weiteren Verlauf der Geschichte der Stadt und des Landes. Bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts stellte die Sennaja-Platzanlage einen Gegensatz zu dem Stadtraum Petersburgs dar. Wurden die zentralen Stadträume durch zarische Verordnungen gestiftet und von Stadtplanern und Architekten projektiert, entstand der Raum des Heuplatzes buchstäblich ad hoc, indem die bäuerlichen Händler an diesem entlegenen Ort Halt machten, um ihre Erzeugnisse zu verkaufen. Von den Bewohnern St. Petersburgs und der Vorstädte in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts als ein Ort für den Handel mit Heu und Brennholz besetzt, blieb der Heumarkt ein freies Feld am Rande der Stadt. In der Mitte des Jahrhunderts brachte der florierende Handel am Heumarkt vermögende Kaufleute hervor, die die architektonische Gestalt des Platzes zunehmend prägten. So wurden bspw. das Haus der Kaufmannsfamilie Jakovlev und vor allem die Kirche der Dreifaltigkeit von den Kaufleuten des Heumarkts gestiftet.3 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ergriff die politische Herrschaft die Initiative, um den Platz von Sennaja in einen geordneten durchregulierten Handelsraum vor allem für die ärmeren Stadteinwohner zu verwandeln.4 Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts änderte sich die Situation auf dem Heuplatz: So war in der russischen Zeitschrift Illjustracija 1859 zu lesen: »Petersburger Plätze unterteilen sich in Kirchenplätze, Paradeplätze und Handelsplätze. Der Heuplatz gehört zu den letzt genannten. Hier sieht man keine ausländische Ware, alles hier ist russisch, und die Sennaja selbst kann als eine gesonderte kleine Stadt mit einer eigenen Bevölkerung, eigenen Gewohnheiten und Redeweisen gelten. Dieses Volk hat seine eigene Kirche Spas auf der Sennaja, und der auf dem Platz liegende Markt ist ein Volksmarkt […] ohne ihn würde Petersburg viel verlieren. Sennaja Platz mit den ihn umgebenden Häusern ist eine […] dicht bevölkerte Stadt mit ihren eigenen Sitten und Gebräuchen, die nicht jeder kennt und die zu zerstören nicht einfach ist, und vielleicht würde es nicht jedem gefallen, in diese tief einzutauchen.«5

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und der Rezeption des Sennajas im Verlaufe des 19. Jahrhunderts auf dem Hintergrund des Wandels »einer polizeilich wohlgeordneten Gesellschaft zu einer modernen Massengesellschaft«. Ebd., S. 164. Zoja Jurkova: Sennaja plošþad’ vþera, segodnja, zavtra, Moskau 2011, S. 31-36. Ebd., S. 22-30. »Sennaja plošþad’«, in: Illjustracija. Vsemirnoe obozrenie 62 (1859), S. 177 (dt. Übers. A.B.). Ausführlicher zum Bild des Sennaja in der Presse und Literatur und

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Dieser Artikel aus einer Petersburger Boulevardzeitung skizziert die Besonderheit des Sennaja-Platzes und seiner Lage im städtischen und sozialen Raumgefüge St. Petersburgs und bringt vor allem den Wandel zum Ausdruck, der sich auf und um diesen Platz vollzogen hatte. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Beschreibung des Sennaja-Platzes als einer ›Stadt in der Stadt‹, die nach eigenen Gesetzen lebt. Damit deuten sich zugleich die herrschenden Verhältnisse in diesem Stadtraum an, die wenige Jahre später in Romanen von Fedor Dostoevskij und Vladimir Krestovskij ausführlich beschrieben werden.6 Der in der russischen Belletristik des 19. Jahrhunderts fixierte Zustand des Heuplatzes steht inmitten einer langen Entwicklung, die im 18. Jahrhundert begann und bis heute nicht abgeschlossen ist. Das Handeln sozialer Akteure scheint nachhaltig sein Bild geprägt zu haben. In solchen Räumen erhöhter sozialer Konzentration, in die der Staat regulierend einzugreifen versucht, tritt das Spannungsverhältnis zwischen obrigkeitlicher Auffassung von einem geordneten öffentlichen Raum und seiner individuellen Besetzungen sowie milieuspezifischen Umdeutungen am deutlichsten zutage. Eine eingehende Untersuchung solcher Räume als Spannungsfelder zwischen Herrschaft und Gesellschaft rückt nicht nur städtische Unterschichten stärker ins Blickfeld, sondern sie kann auch begreiflich machen, wie wirksam und tiefgreifend die staatlichen Regulierungsmechanismen im Zarenreich waren, welche Möglichkeit der autokratische Staat den sozialen Akteuren bei der Konstituierung und Besetzung öffentlicher Räume einräumte oder auch welche Freiheit die Unterschichten sich dabei nahmen. Dadurch kann es gelingen, das Verhältnis zwischen Autokratie und Gesellschaft differenzierter zu betrachten, sodass die These von der russischen »Gesellschaft als einer staatlichen Veranstaltung«7 wenn nicht revidiert so doch relativiert werden kann.

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zur Rolle der Boulevardpresse bei der Thematisierung sozialer Brennpunkte St. Petersburgs am Beispiel des Sennajas in der zweiten Jahrhunderthälfte vgl. Jahn: Heumarkt, S. 170. Zum Bild der Heumarktes bei Krestovskij vgl. Jahn: Heumarkt, S. 169f.; die Besonderheit des Sennaja Platzes als eines sozialen Raums in St. Petersburg wird in der Belletristik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Bezeichnung »sennovskij obitatel’« – die einen nur für diesen Stadtteil typischen Einwohner meint – prägnant zum Ausdruck gebracht. Vgl. dazu Evsej I. Cejtlin: »›Sennovskij obyvatel’‹ v peterburgskoj istorii i kul’ture«, in: Ljubov’ K. Ermolaeva (Hg.), Pjatye otkrytye slušanija »Instituta Peterburga«, St. Petersburg 1998, http://www.institute-spb.standardsite.ru/3084248113 vom 23.11.2012. So definierte Dietrich Geyer die soziale Entwicklung im Zarenreich auf dem Hintergrund aufgeklärter Reformen im Rahmen einer autokratischen Ordnung. Die

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Entgegen der von Marshall Berman formulierten Vorstellung von »public space without public life«8 in dem Zarenreich, können an Beispielen wie dem Sennaja-Platz markante Freiräume identifiziert werden, in denen sich das öffentliche Leben und die Kommunikation außerhalb obrigkeitlicher Regulierung abspielen konnten. Statt einer seit Jahrzehnten in westlicher Historiographie andauernden und oft vergeblicher Suche nach einer zivilen Gesellschaft im Zarenreich9 wäre, so scheint es mir, ein tieferer Blick in die Stadt und ihre peripheren öffentlichen Räume10 ratsam, die sich dem regulativen Zugriff der autokratischen Herrschaft eher entzogen oder zumindest für diese am schwierigsten zu gestalten und zu regulieren waren. In diesem Sinne eignet sich der Heumarkt hervorragend als Objekt für die Untersuchung des Zusammenwirkens zwischen dem städtischen Raum, politischem Handeln der Herrschaft und kulturellem und sozialem Handeln von Individuen und sozialer Gruppen. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern individuelle und gruppenspezifische Praktiken die politischen Strategien der obrigkeitlichen Regulierung und Vereinnahmung der Räume konterkarierten11 und dadurch eigene Strukturen und Deutungen schufen. Festzustellen ist diesbezüglich, dass die Veränderungen Vorstellung von Gesellschaft des Zarenreiches als einer »staatlichen Veranstaltung« prägte für weitere Jahrzehnte die Geschichtsschreibung zum Russland des 18. Jahrhunderts und darüber hinaus. Die Setzung des Begriffs »Gesellschaft« in Einführungsstrichen sollte eine Abwesenheit der Gesellschaft im westeuropäischen Sinne in Russländischen Imperium implizieren. Dietrich Geyer: »›Gesellschaft« als staatliche Veranstaltung. Sozialgeschichtliche Aspekte des russischen Behördenstaates im 18. Jahrhundert«, in: Ders. (Hg.), Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Russland, Köln 1975, S. 9-25; ders.: »Der Aufgeklärte Absolutismus in Russland. Bemerkungen zur Forschungslage«, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas N.F. 30,2 (1982), S. 176-189. 8 Marshall Berman: All that is solid Melts into Air: The experience of Modernity, New York 1988, S. 230f. 9 Den bereits erwähnten einschlägigen Arbeiten von Geyer und Berman lässt sich u.a. die Untersuchung von Lutz Häfner gegenüberstellen, in der für das Zarenreich der Jahrhundertwende an Beispielen einiger Provinzstädte die Existenz der lokalen Gesellschaften festgestellt wird. Lutz Häfner: Gesellschaft als lokale Veranstaltung: die Wolgastädte Kazan und Saratov (1870-1914), Köln u.a. 2004. 10 Als öffentlich verstehe ich hier vor allem solche Räume, die vor allem wirtschaftlichen und Handelsfunktionen erfüllten und nicht vordergründig der herrschaftlichen Repräsentation dienten. Dass auch repräsentative Räume wie der Schlossplatz oder Nevskij prospekt auch öffentliche Räume sind, ist selbstverständlich. 11 Jan Kusber: »Plätze in Sankt Petersburg. Zur Dauerhaftigkeit der Verortung politischer Macht im historischen Gedächtnis«, in: Rudolf Jaworski/Peter Stachel (Hg.), Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Plätze, Denkmäler und Straßennamen im europäischen Vergleich, Berlin 2007, S. 131-144.

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Abb. 1: Johann von Sigheim, Stadtplan St. Petersburgs 1738. Aus: Nikolaj F. Guljanickij (Hg.): Russkoe gradostroitel’noe iskusstvo: Peterburg i drugie novye rossijskie goroda XVIII – pervoj poloviny XIX vekov, Moskau 1995, S. 166-167 politischer und gesellschaftlicher Strukturen im Wechsel der politischen Systeme auch den Wandel der räumlichen Strukturen des Heumarktes herbeiführten, mitunter mit fatalen Folgen. Gleichzeitig zeichnet sich die räumliche Struktur und Atmosphäre des Sennaja-Platzes durch eine erstaunliche Stabilität ja Beharrlichkeit aus: Handel, Kriminalität, Passagen, Verkehr, architektonische Dissonanzen prägen den Raum des Heumarktes nach wie vor.12 Der Sennaja-Platz behält in der Hierarchie der Plätze St. Petersburgs seine Funktion als Markt, als ein peripherer ungeordneter Ort. Dem Staat ist es bis heute nicht gelungen, die einmal von der Gesellschaft eingeschriebenen sozialen Praktiken

12 Hier werden Begriffe wie ›räumliche Strukturen‹ und ›Atmosphäre› im Sinne von Martina Löw verwendet. Räumliche Strukturen werden dabei als primäre sozial produzierte Objektivationen des Raumes verstanden, Atmosphäre werden als sekundäre Objektivationen gefasst. Siehe Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001, S. 224-230.

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zu überschreiben oder zu tilgen.13 Denn der Sennaja-Platz ist ein Gedächtnisort besonderer Art: Er befindet sich jenseits repräsentativer Räume staatlich gesteuerter Erinnerungspolitik. Der Staat hat es zwar geschafft, einige gedächtnis- und identitätsstiftende Objekte des Platzes zu zerstören, doch er vermochte es nicht, an ihrer Stelle dauerhaft neue zu etablieren. Im Folgenden durchschreiten wir diesen Prozess der räumlichen und sozialen Formierung, Stabilisierung und des Wandels des Sennaja-Platzes. Zu Beginn wird die Vorgeschichte des Heumarktes kurz geschildert und seine eigenartige Lage im Petersburger Raum beschrieben. Das besondere Augenmerk der darauf folgenden Darstellung wird auf die räumliche und ordnungspolizeiliche Regulierung des Sennaja-Platzes unter Katharina II. gelegt, um u.a. zu prüfen, inwiefern die städtische Politik der Zarin in St. Petersburg als ein Dialog zwischen der Herrschaft und der Stadt bzw. der städtischen Gesellschaft begriffen werden kann. Ein kurzer Ausblick in die Mitte des 19. Jahrhunderts soll abschließend die Herausforderungen verdeutlichen, die der gesellschaftliche Wandel an die Zarenherrschaft und ihre Stadtbaupolitik im Vorfeld der Großen Reformen stellte.

Die Vorgeschichte des Heumarktes Die Sennaja-Platzanlage entstand als offizieller Ort in den Jahren 1738-39 im Zuge der Neuplanung der Stadt durch die Baukommission mit Petr Eropkin an der Spitze. Der Raum des Platzes hatte allerdings schon seit einigen Jahren einen beliebten Ort des Handels, vorwiegend mit dem Heu dargeboten.14 Er stellte jedoch keinen geordneten Platz, sondern eine Wiese bzw. ein Feld ohne klare Abgrenzung und ohne Bebauung dar. (Abb. 1) Hier endete eine Straße, später Gartenstraße (Sadovaja ulica) genannt, die sich mit der sogenannten Großen Nevskaja Perspektive (Nevskij prospekt) kreuzte. (Abb. 2) Erst im Zu13 Vgl. dazu Jahn: Heumarkt, S. 162. 14 Anscheinend nach verheerendem Brand im Admiralitätsviertel 1736, der in der Nähe der Admiralität liegenden Fischmarkt (Morskoj rynok), einen der wichtigsten Handelsorte Petersburgs, vernichtete, sodass der Handel hinter den Gostynij dvor (Kaufhof) verlegt wurde. Die Regierung verwehrte allerdings den Heuhändlern den Zugang zum Novyj morskoj rynok, um die Brandgefahr für Gostinyj dvor vorzubeugen. Die Händler mit leicht entflammbarer Ware wie Heu und Brennholz besetzten daraufhin ein freies Feld am Ende der späteren Sadovaja Straße. Vgl. Jahn: Heumarkt, S. 164.

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Abb. 2: Stadtplan St. Petersburgs 1744, Staatliches Museum der Architektur Moskau. Aus: Guljanickij: Peterburg, S. 177 sammenhang mit dem ersten Versuch einer umfassenden Regulierung des Stadtzentrums in den späteren 1730er Jahren wurde der Platz als eine feste Einheit in der räumlichen Struktur St. Petersburgs verankert: Eropkins Stadtplan orientierte sich an einem Dreistrahlensystem, das von der Admiralität ausging und den Stadtraum auf dem linken Neva-Ufer ordnete.15 So wurde der Raum des Heumarktes in die Neuprojektierung miteinbezogen und 1739 offiziell als ein »Platz« für den Handel mit Heu, Brennholz und anderweitigen Provisionen festgelegt.16 Bis in die 1760er Jahre nahm jedoch die Regierung 15 Das axiale System ist bereits auf dem Plan St. Petersburgs aus dem Jahre 1718 erkennbar. Es wurde in den 1719 von Nicolaus Friedrich Herbel, dem Stadtarchitekten Peters I., vorgenommenen Projektierungen korrigiert und als raumbildendes Element der Stadt verankert. Vgl. Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj Imperii (PSZ), Nr. 3427, SPb 1833; Guljanickij: Peterburg, S. 176. 16 Jurkova: Sennaja plošþad, S. 21.

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keine weitere Reglementierung oder bauliche Regulierung des Platzes vor. Architektonische Umrahmung des Heumarkts boten lediglich einige Häuser im Landhausstil mit kleinen eingezäunten Gartenparterres an.17

Lage und Funktion des Sennaja-Platzes im räumlichen Gefüge St. Petersburgs Heute erfüllt der Sennaja-Platz eine Reihe von Schlüsselfunktionen in der räumlichen und funktionalen Struktur der Stadt: Er verbindet die alten und die neuen Stadtteile und ist eine der wichtigsten Drehscheiben im Straßenverkehr. Er ist neben dem Gostinyj dvor (Kaufhof) immer noch einer der wichtigsten Handelsorte der Stadt. Die Grundlage der geographischen und funktionalen Positionierung des Heumarktes im städtischen Raum St. Petersburgs wurde in den 1730er Jahren gelegt, als die Baukommission unter Eropkin einige Änderungen an der planerischen Situation der Stadt vornahm: Die so genannte Saarskaja Perspektive – eine Straße, die nach Carskoe Selo, den Sommersitz der Zaren, und weiter nach Süden, in Richtung Moskau führte – wurde über den Fluss Fontanka hinaus verlängert; diese neue Straßenachse kreuzte die Sadovaja Straße, die ihrerseits mit der Peterhofer Straße, die zu den Sommerresidenzen im Westen der Stadt führte, verbunden war.18 So fand sich der Raum des zukünftigen Platzes an der Kreuzung zweier wichtiger Einfahrtstraßen wieder, die St. Petersburg mit seinen Vorstädten, dem Umland und damit mit dem Rest des Imperiums verbanden. Seit 1740 wurde eine grundlegende Regulierung der Sadovaja Straße und des umliegenden Stadtraums in Angriff genommen. Der Zarenhof kaufte vom Grafen Apraksin ein zwischen der Fontanka und der Sadovaja gelegenes Landstück, vermutlich um darauf einen Landsitz für den Kaiser Ivan VI. zu errichten. Im Oktober 1740 befahl der Regent Peter von Bühren (russ. Biron), die Sadovaja Straße und die umliegenden Räume zu vermessen. Hinter dieser Maßnahme stand die bereits in der Eropkinschen Planung festgeschriebene Absicht, die Achse der Sadovaja zu verlängern und mit Wohnhäusern neu zu bebauen. Dafür musste die vorhandene Holzbebauung, die bei der Verlänge-

17 Ebd., S. 25f. 18 Ebd., S. 20.

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Abb. 3: Stadtplan St. Petersburgs 1753. Aus: Kaiserliche Akademie der Wissenschaften zu Sankt Petersburg (Hg.): Sankt Petersburg und Umgebung in russischen Veduten 1753-1761. Zwei Kupferstichfolgen nach Michail Ivanoviþ Machaev. Ausst.-Kat. Staatliche Graphische Sammlung, München 1992, Anlage rung der Straße hinderlich gewesen ist, abgerissen werden.19 So nahm der Sennaja-Platz im Petersburger Stadtraum zunehmend eine ›Zwischen-Lage‹ ein: Sie befand sich fern ab der repräsentativen Bauten und Plätze des Admiralitätsviertels und beanspruchte zugleich einen großen Raum in dem sich ausdehnenden zentralen Stadtteil zwischen Fontanka, Mojka und an Gartenstraße (Sadovaja), die zum Nevskij prospekt führte. Im Zusammenhang mit dem Beginn der Verlängerung der Achse der Sadovaja Straße und dem intensiven repräsentativen Ausbau der Residenzstadt unter der Kaiserin Elisabeth I. seit 1742 begann sich die Lage des Heuplatzes im Baugefüge der Stadt zu ändern. Erstens führte die Sadovaja Straße fortan bis zur Ital’janskaja Ulica, die in ihrem weiteren Verlauf unmittelbar an den Kaiserlichen Sommergarten grenzte. Durch diese Straßenführung entstand in den 1740er Jahren eine

19 RGIA, Bestand 1610, Register 1, Akte Nr. 62, Blatt 1, 1 Rückseite, 2, 3, 3 Rückseite, 8.

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direkte Verbindung zwischen den imposanten Stadtpalästen des Grafen Michail Voroncov (Sadovaja), des Grafen Ivan Šuvalov (Ital’janskaja), eines Favoriten Elisabeths I., und dem neuen Sommerpalast im Kaiserlichen Sommergarten, einem neuen repräsentativen Großbau in St. Petersburg.20 Zweitens gewann der Nevskij prospekt unter Elisabeth I. an Bedeutung als die repräsentative Magistrale der Hauptstadt.21 Der Sennaja-Platz wurde also in der Mitte des 18. Jahrhunderts sukzessive ins repräsentative Gefüge der Residenzstadt einbezogen. Darüber hinaus verstärkte die Umsetzung der Eropkinschen Projektierung seine Verbindung zwischen dem Zentrum und den Slobody (Vororte). Der Platz wurde also zu einer Schnittstelle zwischen Stadt und Vorstadt: Eine solche Lage, verknüpft mit der Funktion als Handelsort, machte den Platz zu einem Anziehungspunkt für Händler und Käufer unterschiedlicher sozialer Stellung aus der Stadt und den Vorstädten St. Petersburgs. Auch die Sadovaja Straße wurde zunehmend zu einer wichtigen Magistrale der Stadt: Sie verlief entlang der Schloss- und Parkanlagen an der Fontanka und kreuzte sich mit dem Nevskij prospekt. Der weitere Abschnitt dieser Trasse erfüllte die Funktion einer Handelsmagistrale, an deren einem Ende sich der vornehme Kaufhof (Gostinyj dvor) und am anderen Ende ein großer Handelsplatz – der Heumarkt – befanden.22 Somit zeigt sich auch die Rolle des Nevskij prospekts als eine Schnittstelle zwischen den repräsentativen und den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Räumen der Stadt. Die Sadovaja Straße verband als eine Querachse alle diese Stadtbereiche und 20 Ausführliche Hinweise zur Geschichte und zur baulichen und raumbildenden Funktion der Sadovaja-Achse im Zusammenhang mit Projektierung der Stadt und des Sennajas seit den 1730er Jahren beinhaltet die Arbeit von Guljanickij: Peterburg, S. 180, S. 184 und S. 198-200. 21 Dies verdeutlicht das 1753 zum 50. Gründungstag St. Petersburgs angefertigte sogenannte Machaev-Album: eine beeindruckende Kupferstichsammlung mit Stadtveduten Petersburgs, ergänzt durch den großformatigen und detaillierten Generalplan der Stadt, der bis heute als eine der Hauptquellen zur Baugeschichte Petersburgs im 18. Jahrhundert bleibt. Siehe Kaiserliche Akademie der Wissenschaften zu Sankt Petersburg: Sankt Petersburg und Umgebung in Russischen Veduten, S. 48-53; Larissa Salmina-Haskell: Panoramic Views of St. Petersburg from 17161835, Ausst.-Kat. Ashmolean Museum, Oxford 1993, S. 10ff. Ausführlicher zur baulichen Entwicklung Petersburgs und des Nevskij prospekts in der Mitte des 18. Jahrhunderts vgl. Arthur George/Helena George: St. Petersburg. The first three centuries, Gloucestershire 2004, S. 132-144; sehr detailreich Konstantin V. Malinovskij: Sankt-Peterburg XVIII veka, St. Petersburg 2008, S. 299-347, insbes. S. 322-325. 22 Guljanickij: Peterburg, S. 198.

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bestimmte die städtebauliche Situation des Sennaja-Platzes zur Zeit der Thronbesteigung Katharinas II.

Der Heumarkt in der katharinäischen Stadtplanung Die Ansprüche der gesellschaftlichen Politik Katharinas II. verlagerten den Schwerpunkt der städtebaulichen Entwicklung im Zarenreich von staatlichrepräsentativen Bauten auf öffentliche Bauprojekte. Die von der neuen Kaiserin angestrebte umfassende bauliche Regulierung St. Petersburgs griff immer mehr in den Raum zwischen Mojka und Fontanka ein, was unmittelbare Auswirkungen auf den Raum auf und um den Sennaja-Platz zur Folge hatte. Der Umbau des Flusses Krivuša zu einem Kanal23 verwandelte ihn zu einer Wassermagistrale zwischen den größeren natürlichen Transport- und Repräsentationsmagistralen Fontanka und Mojka.24 (Abb. 4) Der Bau des Katharinenkanals sowie die umfassenden Baumaßnahmen für Uferbefestigungen und Errichtung von Anlegestellen sind die bedeutendsten Bauprojekte für die städtische Infrastruktur der katharinäischen Regierungszeit. Sie erleichterten unter anderem den Warenzugang auf den Heumarkt und erweiterten somit seinen Einzugsbereich. Darüberhinaus wuchs später infolge der Schließung des Neuen Maritimen Marktes (Novyj morskoj rynok) nach dem Brand 1782 der Warenzustrom auf den Heumarkt wesentlich an.25 Die Baukommission nahm in der zweiten Hälfte der 1760er Jahre die bauliche Regulierung der Räume um den entstehenden Katharinenkanal in Angriff.26 Die Lage des Heumarktes im räumlichen und funktionalen Stadtgefüge änderte sich infolge der katharinäischen Regulierungsmaßnahmen nachhaltig: Die Sadovaja Straße und der Heumarkt befanden sich in unmittelbarer Nähe zum neuen Kanal, berührten ihn sogar. Dieser Stadtteil war nicht mehr so peripher wie noch unter den Kaiserinnen Anna Ivanovna und Elisaveta Petrovna, zumal gerade der Uferlinie der Fontanka im Rahmen der funktionalen Einteilung St. Petersburgs fortan die Funktion als ein öffentlicher und wirt-

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Katharinen-, heute Griboedov-Kanal (Ekaterininskij Kanal, Kanal Griboedova) RGIA, Bestand Nr. 1310, Register Nr. 1, Opredelenija, Akte Nr. 18, Blatt 4. Vgl. dazu Jahn: Heumarkt, S. 164f. PSZ, Bd. 17, Nr. 12546.

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Abb. 4: Projekt des Admiralitätsviertels 1766, kolorierte Zeichnung, Staatliches Museum der Geschichte St. Petersburgs. Aus: Guljanickij: Peterburg, S. 209 schaftlicher Bereich zugewiesen worden ist.27 Es entstand eine Notwendigkeit, den Sennaja-Platz in Hinblick auf die Räume um die Sadovaja Straße und zwischen Katharinenkanal und dem Fluss Fontanka baulich und polizeilich neu zu regulieren. Hinzu kam die problematische bauliche und hygienische Situation auf dem Sennaja-Platz, die sich auch auf die zentralen Stadtbereiche, die seit den 1760er Jahre einer verstärkten baulich-repräsentativen Regulierung unterworfen waren,28 auswirkte. Der Zustand des Platzes entsprach nicht den 27 Ausführlicher zur funktionalen Zonierung der Stadt unter Katharina II. vgl. Malinovskij: Sankt-Peterburg, S. 365-374, v.a. aber Guljanickij: Peterburg, S. 206-221, insbes. S. 216-221, sowie einige Hinweise in den Unterlagen der Kommission für Steinbauten: RGIA, Bestand 1310, Register 1, Opredelenija, Akte Nr. 15, Blatt 8, 14, 17. 28 RGIA, Bestand 1310, Register 1, Opredelenija, Akte Nr. 1, Blatt 18-19, Akte Nr. 3, Blatt 8, Akte Nr. 6, Blatt 12, Akte Nr. 8, Blatt 7; auch im Zusammenhang mit dem Bau des neuen Gostinyj dvor (Kaufhof) und der Regulierung des umliegenden Stadtraums gewann das Fontankaufer als Wirtschafts-, Handels- und Transport-

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Wunschvorstellungen katharinäischer Stadtbaupolitik: kleine Landhäuser waren nicht mehr zeitgemäß und die Spaskaja-Kirche, die in den 1750er Jahre auf der südöstlichen Ecke des Platzes erbaut wurde, verstärkte nur die architektonische Dissonanz des Platzes.29 Die Einwohner der Sadovaja Straße klagten beim Oberpolizeimeister über die Menschenmengen, die insbesondere an Markttagen den Platz und die umliegenden Straßen füllten und den Schmutz vom ungepflasterten Platz weit in die Stadt bis ins Stadtzentrum trugen. Regelmäßig wurde die Sadovaja vom Andrang der handelnden Bauern und Kaufleute auf dem Sennaja-Platz blockiert.30 Infolge der Intensivierung des städtischen Handels und des Wachstums der Bevölkerung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, gefördert durch die aufklärerisch-physiokratische Wirtschaftspolitik Katharinas II.,31 wuchs die Belastung der öffentlichen Plätze und Handelsräume. Dies stellte die Herrschaft offenbar vor die Herausforderung, die Stadträume baulich und ordnungspolizeilich so zu reglementieren, dass die Menschen- und Warenströme in der Hauptstadt wirksam reguliert und geleitet werden konnten. Der Sennaja-Platz wurde in katharinäischer Zeit durch seine vorteilhafte Verkehrslage auf dem Hintergrund des wirtschaftlichen und Bevölkerungswachstums der Hauptstadt endgültig zum Kern des städtischen Handels in St. Petersburg, was jedoch seinen problematischen Charakter in der Nähe des repräsentativen Stadtkerns nur noch verstärkte. Erschwert wurde die Situation durch den Zustrom der Gewerbetreibenden aus dem Umland, die sich meistens in den Vorstädten niederließen und ihre Erzeugnisse in der Stadt verkauften. Ebenso füllten den Platz die sogenannten handelnden Bauern, die ungeachtet der bestehenden Vorschriften in der ganzen Stadt ihre Ware anboten.32 Diese Entwicklung führte zu einer gewissen sozialen Konfliktlage in St. Petersburg. Schon in der Instruktion der Deputierten der Hauptstadt an die Gesetzgebende Versammlung 1767 beanspruchte die Petersburger Kaufmannschaft das Handelsmonopol in der Stadt für sich und bekundete ihr Interesse an einer strengeren ordnungspolizeilichen Regulierung des Handels. In ihrer Argumentation wiesen die Kaufleute nicht nur auf ihre wirtschaftliche Lage hin sondern

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raum an Bedeutung; vgl. RGIA, Bestand 1310, Register 1, Opredelenija, Akte Nr. 19, Blatt 17. Zu Bau und Lage der Mariä-Entschlafungskirche (Spas auf der Sennaja bzw. Spasskaja Kirche) vgl. Jurkova: Sennaja plošþad, S. 23-24, S. 31-36. RGIA, Bestand 1310, Register 1, Ukazy Senata, Akte Nr. 2, Blatt 66. George/George: St. Petersburg, S. 182-184. RGIA, Bestand 1310, Register 1, Ukazy Senata, Akte Nr. 2, Blatt 317.

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appellierten zudem an die disziplinarregulativen Bestrebungen der Krone. Die Kaufleute beargwöhnten die Händler von außerhalb, ihnen missfiel auch, dass diese Ankömmlinge sich frei in der Stadt bewegten, um ihre Ware zu verkaufen.33 Kaufleute waren offensichtlich daran interessiert, den Warenhandel an bestimmte Räume zu binden, um den Handel und die Preisbildung besser überwachen zu können. Der Staat teilte zwar diese Ansicht, allerdings gab es dafür ganz anderen Beweggründe: erstens eine umfassende Durchregulierung der Stadt, zweitens die Absenkung der Brotpreise in St. Petersburg, die in der Zeit des ersten russisch-türkischen Krieges stark anstiegen,34 drittens die Beschränkung des Zwischenhandels, der die Preissteigerung zusätzlich förderte.35 Gegenüber den handelnden Bauern musste sich die Kaiserin allerdings wohlwollend verhalten, denn hinter diesen Bauern stand oft der Adel. Es galt also Wege einer rationalen baulichen Regulierung der Stadträume zu finden, die zu einem Kompromiss zwischen den Interessen des Staates, der Kaufmannschaft und der handelnden Bauern führten. Bei der Lösung des Problems wandten sich Katharina II. und ihre Stadtplaner dem Sennaja-Platz zu.

Der Sennaja-Platz in Kvasovs Generalplan St. Petersburgs von 1769 Zunächst galt es, den Sennaja-Platz gemäß den Maximen katharinäischer Stadtbaupolitik zu regulieren. Auf dem von Aleksej Kvasov, dem Architekten der Kommission für Steinbauten in St. Petersburg und Moskau im Jahre 1769 vorgelegten Generalplan für die Hauptstadt lässt sich das bauliche und regulative Vorhaben auf dem Platz ablesen: Kvasov versuchte dem Problem des steigenden Waren- und Menschenverkehrs beizukommen, indem er auf der Achse 33 »Ot žitelej Carstvujušþego grada Sankt-Peterburga v komissiju o soþinenii proekta novogo uloženija … Nakaz«, in: P. N. Petrov: Istorija Sankt-Peterburga. S osnovanija goroda do vvedenija v dejstvie vybornogo gorodskogo upravlenija po uþreždenijam o gubernijach 1703-1782, St. Petersburg 1885 (Nachdruck Moskau 2004), S. 652, S. 653, S. 657f. 34 Einige Hinweise zu den Preisen in St. Petersburg sowie zum Preisanstieg seit den 1770er Jahren finden sich in den von J. G. Georgi besorgten ausführlichen Beschreibung der Hauptstadt: Johann Gottlieb Georgi: Opisanie rossijskoimperatorskogo stoliþnogo goroda Sankt-Peterburga i dostopamjatnostej v okrestnostjach ego, s planom, St. Petersburg 1996, S. 437-441. 35 Jurkova: Sennaja plošþad, S. 27.

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Abb. 5: Aleksej Kvasov, Generalplan St. Petersburgs 1769, kolorierte Zeichnung von S. S. Bronstein. Aus: Guljanickij: Peterburg, S. 208 der Sadovaja Straße mehrere Plätze projektierte, auf die der auf dem Heumarkt konzentrierte Handel verteilt werden sollte. (Abb. 5) In Kolomna, im Westen St. Petersburgs, sah Kvasov drei Plätze vor (vgl. auch Abb. 4): Der halbrunde Platz zur Fontanka hin sollte zum größten Handelsplatz und für den Handel mit Heu bestimmt werden. Der rechteckige Platz (heute Turgenev-Platz) war für den Handel mit Brennholz gedacht. Der Sennaja-Platz selbst sollte als Markt für Lebensmittel und kleine Ware dienen.36 Kvasov beabsichtigte also ein Platzanlagensystem auf der Achse der Sadovaja Straße zu schaffen, das sie endgültig zur größten Handelsmagistrale der Hauptstadt und des Imperiums konstituierte37 und den Sennaja-Platz entlastete. Dies sollte auch durch die Erweiterung des Handels in umliegende Stadträume bewirkt werden: Entlang der Sadovaja und in den vom Platz ausgehenden Gassen sowie am FontankaUfer sollten Handelsstände errichtet und ihre Fassaden nach Musterplänen ge-

36 Vgl. Guljanickij: Peterburg, S. 209. 37 Ebd.

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Abb. 6: Stadtplan St. Petersburgs 1792. Aus: Guljanickij: Peterburg, S. 211 staltet werden. Kvasovs Plan sah eine Verbesserung der Infrastruktur dieses Stadtraums vor: eine Art Hafen an dem Fluss Fontanka sollte die Möglichkeiten schaffen, die Ware kostengünstiger und schneller in die Stadt einzufahren und zu entladen. Dies sollte ebenso eine Preissenkung für Grundnahrungsmittel bewirken. Kvasovs Generalplan zeigt deutlich, dass die Baukommission die Notwendigkeit erkannte, mehr Handelsplätze für spezialisierten Handel in der Stadt zu errichten und sie stärker in die städtische Infrastruktur einzubinden. So verwandelte die kvasovsche Projektierung auch den Sennaja-Platz zu einem regulierten Raum, der in die umliegenden Bezirke der Stadt ausgriff und mit ihnen durch zahlreiche Zufahrten und Gassen in alle Richtungen verbunden war. (Abb. 6) Kvasov sah ebenfalls eine bauarchitektonische ›Regulierung‹ des SennajaPlatzes vor: dabei orientierte er sich auf die bestehende Dominante der baulichen Komposition des Platzes – die Spaskaja-Kirche. (Abb. 7) Sie ragte jedoch in den Platzraum hinein, störte die Leitlinie der Platzausgestaltung und brachte eine scharfe Asymmetrie hervor. Kvasov löste das Problem, indem er gegenüber der Kirche ein kleines Gebäude – die Hauptwache – projektierte. So sollte die östliche Seite des Platzes architektonisch abgeschlossen werden. Die schiefe Lage der Kirche zu der Platzachse korrigierte er durch die Errichtung eines Gitterzauns mit Steinsockel, so entstand ein symmetrisches Rechteck. In diese

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Umrahmung der Kirche baute Kvasov von der Seite der Sadovaja einen Glockenturm ein.38 Eropkins dreißig Jahre altes Planungsschema löste sich also auf: anstelle kleiner Parzellen mit Landhäusern entstanden zwei- bis dreistöckige Häuser in einer Linie, darunter repräsentative palastähnliche Bauten wie bspw. das Haus der reichen Kaufmannsfamilie Jakovlev.39 Der anfänglich ländlich gestaltete Platzraum erlangte allmählich einen urbanen Charakter.

Der Sennaja-Platz in der katharinäischen Gesetzgebung: ordnungspolizeiliche Regulierung des Platzes Per Ukaz vom 1. März 1774 wies Katharina II. »den vorstädtischen Bauern für den Verkauf von eingeführten oder allerlei essbaren Produkte an die Stadteinwohner den kostenfreien Sennaja-Platz«40 zu. Die Handelsplätze auf dem Markt wurden nicht mehr vermietet, sondern per Losziehung ohne Entgelt verteilt. Der Markt wurde zum Eigentum der Stadtkasse, was ihn der Willkür der Kaufmannschaft entzog und die Überwachung der Preise und des Handels wesentlich erleichterte. Die Bauern wurden von der Zahlung einer Steuer für einen Handelsstand befreit. Jeder Händler auf dem Sennaja-Platz durfte nur einen Verkaufstand besetzen. Der Warenverkauf wurde sowohl von Fuhrwerken als auch in Handelsständen erlaubt. Der Handel auf dem Heumarkt fand nicht täglich statt sondern an festgelegten Tagen.41 Der reguläre Handel sollte am frühen Morgen beginnen und am Mittag schließen. Der Zwischenhandel war nur nach der Schließung des Marktes und nur auf dem Platz zugelassen und es durften nur unverkaufte Waren zwischengehandelt werden. Die unverkaufte Ware durfte aber auch bis zum nächsten Markttag auf dem Platz bleiben. Durch die Reglementierung des Handels auf dem Heumarkt und die Zuweisung dieses Raums unter anderem an die Verkäufer vom Lande hoffte Katharina II. offensichtlich, die Bauern des Petersburger Gouvernements zu

38 Jurkova: Sennaja plošþad, S. 23-26, v.a. die Fragmente des Projekts des 3. Admiralitätsteils S. 26. 39 Ebd., S. 25. 40 Zit. n. ebd., S. 27 (dt. Übersetzung A.B.). 41 Ebd., S. 27f.

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verstärkter Aktivität auch im Handel zu animieren und somit die stets angespannte Versorgungslage der Hauptstadt zu verbessern.42 Die neue Ordnung des Handels in St. Petersburg durch Katharina II. korrespondierte mit den städtebaulichen Plänen der Baukommission und erfolgte vor allem mittels der räumlichen Regulierung. Der Handel in der Stadt wurde nach Warenkategorien verteilt, d.h. bestimmten Warenarten war ein bestimmter Platz zugewiesen: der Sennaja-Platz diente dem Verkauf von Gemüse, Grün, Obst, Fleisch; für den Viehverkauf war der Obuchovskaja Platz vorgesehen; von entfernten Abschnitten des Nevaufers wurde der Handel mit Rohfleisch und Waren aus Wolle und anderen Stoffen auf den Aleksandronevskaja Platz verlegt, dessen Projektierung die Baukommission auf kaiserlichen Befehl in den 1780er Jahre vornahm.43 Die Berichte des Oberpolizeimeisters, die Preislisten sowie die bildliche Darstellungen des Sennaja-Platzes aus dieser Zeit legen die Vermutung nahe, dass die Vorschriften Katharinas II. gewirkt haben: Die Preise für Grundnahrungsmittel auf dem Heumarkt waren die niedrigsten in St. Petersburg und der Warenstrom konnte in die gewünschten Bahnen gelenkt werden: der Obuchovskaja Platz und Nikol’skaja Platz wurden zu den Orten des Großhandels, von denen die Ware in der Stadt verteilt, vor allem aber auf den Heumarkt für den Einzelverkauf geliefert wurde. Die vom Sennaja-Platz zur Fontanka und zum Katharinenkanal führenden Straßen und Gassen wurden vorschriftsgemäß mit Läden bebaut und somit in die Marktfunktion des Platzes miteinbezogen, was ihn zusätzlich entlastete.44 Im »Ustav blagoþinija« – »Reglement der guten Ordnung« – wurde der Handel in der ganzen Hauptstadt einer offiziellen Regulierung unterworfen. Katharina II. verordnete die Projektierung von Marktplätzen in jedem Stadtteil.45 Bereits im Jahre 1783 legte Katharina II. die Konstituierung zunächst von sechs Handelsplätzen in St. Petersburg fest, die vor allem für ländliche Händler zur Verfügung gestellt werden sollten. 42 Über die dauerhaften Schwierigkeiten, St. Petersburg mit Nahrungsmitteln infolge der schwachen Landwirtschaft in der naturräumlich ungünstigen Petersburger Gegend zu versorgen, berichtete bereits Georgi: Opisanie, S. 431. 43 RGIA, Bestand 1310, Register 1, Dela, Akte Nr. 4, Blatt 1-12. 44 Einige Hinweise zur Infrastruktur des den Heumarkt umgebenden Raums enthält Georgis Beschreibung des Dritten Admiralitätsteils, vgl. Georgi: Opisanie, S. 104106; laut Georgi und einiger bildlicher Darstellungen aus der Zeit behielt der Platz seine unregelmäßige Bebauung wie sie sich in Zeiten Annas und Elisabeths formierte; vgl. ebd., S. 104; vgl. auch Jurkova: Sennaja plošþad, S. 36 (Aquarell Ende 18. Jahrhundert), S. 41 (Lithographie von Beggrow, 1820er Jahre) und Abb. 7. 45 PSZ, Bd. 21, Nr. 15.379.

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Abb. 7: Benjamin Patersen, Sennaja-Platz, vor 1797, Öl auf Leinwand, 57,5 x 89,5 cm, Staatliche Eremitage St Petersburg, Inv. Ž-1904. Aus: Galina Komelova/Galina Princeva/Irina Kotel’nikova: Peterburg v proizvedenijach Patersena, Moskau 1978, Abb. 81 Die Orte für die Plätze sollten so gewählt werden, dass die Verbindung der Hauptstadt mit den umliegenden Bezirken (Uezdy) gewährleistet werden konnte.46 Mit diesen Maßnahmen entsprach die Zarin gleichzeitig der im Paragraphen 8 der Instruktion der Petersburger Deputierten geäußerten Bitte, eine angemessene Zahl der Märkte in St. Petersburg zu organisieren und den Handel zu regulieren.47 Der Oberpolizeimeister sollte passende Orte für die Plätze zuweisen.48 Die soziale Regulierung solcher Plätze orientierte sich offensichtlich an der auf dem Heumarkt erprobten Praxis: die Verkaufsstände auf diesen Märkten sollten in erster Linie den ärmeren Kaufleuten und Kleinbürgern (mešþane) per Losziehung zur Verfügung gestellt werden, jeder Händler durfte nur einen Stand haben und diesen weder verpachten noch vererben. Jeder dieser Märkte musste von Gendarmen der Kanzlei der Oberpolizei regelmäßig beaufsichtigt werden: Sie prüften die Preise und die Qualität der Ware, sowie deren vorschriftsgemäße Verteilung im Marktraum und die Einhaltung der 46 RGIA, Bestand 1310, Register 1, Ukazy Senata, Akte Nr. 21, Blatt 122 Rückseite. 47 Nakaz, in: Petrov, S. 653. 48 PSZ, Bd. 21, Nr. 15.379.

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Ordnung und vorschriftsgemäßen Handelsabläufe.49 Nach Inkrafttreten der Gnadenurkunde an die Städte im Jahre 1785 galten diese Vorschriften im ganzen Zarenreich.50

Der Sennaja-Platz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts änderte sich die Situation auf dem Heumarkt. Zum einen wuchs der Handel und mit ihm die Differenzierung der auf dem Platz angebotenen Ware. Als Händler kamen auf den Markt kleine und mittlere Kaufleute der Hauptstadt, Bauern aus den Vororten St. Petersburgs, aus Jaroslavl’ und anderen Gouvernements des Imperiums, deutsche Kolonisten, Finnen und viele andere zusammen.51 Der Heumarkt verwandelte sich zu einer Art Nucleus der mittleren und niederen Bevölkerungsschichten des Imperiums. Außerdem war das Gebiet um den Sennaja-Platz – der Dritte Admiralitätsteil – um 1815 der am Dichtesten besiedelte Stadtteil St. Petersburgs.52 Dieser Umstand prägte zunehmend das architektonische Bild dieses Stadtbezirks: Hier begann man am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts mit dem Bau von mehrstöckigen Mietshäuser. So wurde bereits in den 1820er Jahren entgegen der geltenden Vorschriften das erste fünfstöckige Mietshaus der Stadt gebaut.53 Die Waren- und Menschenströme des Heumarktes überforderten jedoch die Infrastruktur der umliegenden Stadträume: Gedränge und Staus auf der Sadovaja Straße und auf dem Platz waren an der Tagesordnung. Eine Durchfahrt über den Sennaja-Platz konnte oft nur mit Einsatz von Polizei gewährleistet werden.54 Außerdem trennte das Wachstum der Stadt, insbesondere in den zentral liegenden Admiralitätsteilen, die Vorstädte und das Umland zuneh49 Ebd.; RGIA, Bestand 1310, Register 1, Ukazy Senata, Akte Nr. 21, Blatt 122 Rückseite. 50 PSZ, Bd. 22, Nr. 16.187. 51 Jahn: Heumarkt, S. 165. 52 Ebd., S. 166. 53 Ebd.; E.I. Kiriþenko: Žilaja zastrojka Peterburga ơpochi klassicizma i ee vlijanie na razvitie architektury, in: Architekturnoe nasledstvo, Nr. 16, Moskau 1967, S. 82, S. 84ff.; ders., »Dochodnye žilye doma Moskvy i Peterburga (1770-1830-e gody)«, in: Architekturnoe nasledstvo 14 (1962), S. 154-158. 54 Jahn: Heumarkt, S. 165.

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mend vom Markt. Die Bauern konnten sich den Weg bis ins Stadtzentrum nicht mehr leisten und verkauften deswegen ihre Ware direkt in den Vorstädten an Petersburger Kaufleute. Dies führte dazu, dass die katharinäische Vorschriften der realen Praxis auf dem Heumarkt nicht mehr entsprachen: Der Handel wurde den Spekulationen der Zwischenhändler unterworfen und beschränkte sich nicht mehr auf bestimmte Tage. Der Staat war kaum noch in der Lage, die Preise und den Handel zu überwachen. Vom Wachstum der Stadtbevölkerung in St. Petersburg war vor allem das Stadtviertel um Fontanka betroffen und der Sennaja-Platz war der Raum, der nun die ärmsten Zuwanderer anzog. Dies führte dazu, dass sich die Siedlungen um den Heumarkt hinsichtlich ihrer sozialen und ethnischen Zusammensetzung von den übrigen zentralen Stadtteilen unterschieden: Zuwanderer vom Land, Kleinbürger, kleine Kaufleute, Handwerker bewohnten das Viertel um den Heumarkt.55 Die Straßen um den Platz verwandelten sich in Armensiedlungen. Die Verschlechterung der hygienischen Bedingungen auf dem Platz und den benachbarten Quartalen war die Folge. Die Gegend um den Sennaja-Platz wurde zu einem Seuchenkessel. 1831 brach hier die Cholera-Epidemie aus, die schließlich in den sogenannten Cholera-Aufstand mündete. Mehrere Dutzend Opfer waren zu beklagen, darunter auch Ärzte und andere Vertreter des Bürgertums. Die aufgebrachte Menge konnte nur mit dem Einsatz des Militärs und schließlich durch schiere Präsenz des Kaisers beruhigt werden.56 Angesichts dieser Erfahrung wurde der Sennaja-Platz von Staats- und Stadtmacht als ein Ort wahrgenommen, von dem eine virulente Gefahr ausging.57 Um weiteren Krankheitsausbrüchen vorzubeugen, beschloss die Stadtduma eine Sanierung des Platzes sowie eine neue Regulierung der Handelsordnung. Die Regelungen aus dem 18. Jahrhundert wurden teilweise aufgehoben. Bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die polizeiliche Überwachung des Heumarktes nicht mehr von Gendarmen der Stadtpolizei durchgeführt, sondern der Garde anvertraut, die einen ständigen Posten auf dem Platz einnahm. Dort

55 Ebd., S. 166; Manfred Hildermeier: Bürgertum und Stadt in Russland 1760-1870. Rechtliche Lage und soziale Struktur, Köln/Wien 1986, S. 234-245; V.N. Solov’ev (Hg.): Social’naja istorija Sankt-Peterburga, St. Petersburg 2005, S. 76-127 (Kapitel 2). 56 I. R. v.d. Hoven: »Bunt na Sennoj plošþadi v S.-Peterburge 22-go ijunja 1831 g.«, in: Russkaja starina XLVII (Juli 1885), S. 61-68. 57 Jurkova: Sennaja plošþad, S. 68f., S. 71, S. 120-127.

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befand sich das Gebäude der Hauptwache,58 das zwischen 1816-1818 gemäß der kvasovschen Projektierung in die nordöstliche Ecke, direkt gegenüber der Kirche, verlegt wurde. Diese Baumaßnahmen erfolgten im Rahmen einer baulichen Neuregulierung St. Petersburgs unter dem Kaiser Alexander I.59 Das Gebäude der Hauptwache sollte in symmetrischer Achse gegenüber dem Eingang der Kirche mit einem klassizistischen Portikus platziert werden. Somit bildeten diese zwei Bauten eine architektonisch harmonisierende Flankierung der Einfahrt in die Sadovaja Straße und somit in den repräsentativen Stadtteil St. Petersburgs.60 (Abb. 8) Die architektonische Umrahmung des Heumarktes wurde in den 1820er Jahren vom Petersburger Stadtarchitekten Vikentij Beretti neu projektiert.61 Die einheitliche klassizistische Bebauung verlieh dem Platz einen repräsentativeren Charakter. Zugleich stieß die bauliche Neuprojektierung des Heumarktes jedoch an die Grenzen, die von den sozialen Besonderheiten des Platzes gesetzt wurden. Während zentrale repräsentative Platzanlagen wie Schloss- und Michaelsplatz der Krone gehörten und mit staatlichen Mitteln gestaltet wurden, gehörte der Sennaja-Platz der Stadt. Die Finanzierung seiner Bebauung befand sich in privater Hand, vor allem der Kaufleute des Heumarktes. Diese hatten unterschiedliche finanzielle Möglichkeiten und waren nicht immer bereit, die staatlich initiierten Bauvorhaben durchzuführen.62 Schon in später alexandrinischen und früher nikolaitischen Zeit gab es Projekte zur Besserung hygienischer Zustände und zur Auflösung des offenen Marktes auf dem Heuplatz. So sah das Projekt des Architekten Antoine (russ. Anton) Mauduits von 1823 eine Verlegung des Marktes auf eine zum Platz angrenzende Straße vor, der Platz selbst sollte zu einem Park mit Brunnen verwandelt werden. Ein anderes Projekt Mauduits, um 1826 sah die Errichtung 58 Gauptvachta bzw. Karaul’nyj dom, Architekten Luigi Rusca und Vekentij Beretti. Solche karaul’nye doma bzw. karaul’nye budki bzw. kordegardii gab es in der Hauptstadt spätestens seit der Zeit Elisabeths I. Für ihre Verteilung im städtischen Raum war der Petersburger Oberpolizeimeister zuständig. Die Hauptwache des Heumarktes befand sich allem Anschein nach zunächst im Zentrum des Platzes, um eine umfassende Übersicht des Marktes und den schnellen Zugang in alle seine Bereiche zu ermöglichen. Vgl. Jurkova: Sennaja plošþad, S. 51f. 59 Guljanickij: Peterburg, S. 228-269; George/George: St. Petersburg, S. 245-251. 60 Jurkova: Sennaja plošþad, S. 52; Guljanickij: Peterburg, S. 228. Siehe auch die Lithographie von Karl Beggrov (nach Aleksandr Brjullov), 1822, in: Jurkova: Sennaja plošþad, S. 41. 61 Ausführliche Beschreibung des Projekts bei Jurkova: Sennaja plošþad, S. 38, S. 41. 62 Vgl. dazu ebd., S. 38f.

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Abb. 8: Louis Jules Arnout: Sennaja-Platz, 1840er Jahre, kolorierte Lithographie eines Marktpavillons auf dem Platz und zwar auf der Achse der Sadovaja Straße vor. Um den Einwohnern, die um den Heumarkt siedelten, den Zugang zum sauberen Trinkwasser zu ermöglichen, beinhaltete dieser Plan die Errichtung von zwei Brunnen.63 Beide Projekte scheiterten offensichtlich daran, dass ihre Umsetzung den Ankauf privater Grundstücke um den Heumarkt und damit zusätzliche finanzielle Investitionen erforderte. Daraufhin projektierte Mauduit einen »Neuen Sennaja-Platz«64 – einen gigantischen wirtschaftlich-administrativen Komplex auf der anderen Seite der Fontanka auf dem Carskosel’skij Prospekt in direkter axialer Verbindung mit dem alten Sennaja-Platz, der zu einem Stadtpark werden sollte.65 Mauduits Plan entsprach offensichtlich den für damalige Zeit neuesten Hygienestandards, um Krankheitsausbrüchen unter

63 Ebd., S. 42-44. 64 Ebd., S. 45. 65 Ausführliche Rekonstruktion und Beschreibung des Projekts bei Jurkova: Sennaja plošþad, S. 43-51 sowie ders., »Anton Antonoviþ Modjui«, in: Rekonstrukcija gorodov i geotechniþeskoe stroitel’stvo, 2005, Nr. 9, S. 264-278.

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der Bevölkerung und der Armee vorzubeugen. Der Architekt machte sogar Vorschläge zur Abwasserreinigung und projektierte einen großen Wasserspeicher, in dem das Wasser aus der Fontanka gesammelt, filtriert und in die Brunnen des Neuen Sennaja-Platzes gepumpt werden sollte.66 Doch die Stadtduma lehnte das ehrgeizige Projekt Mauduits aus finanziellen Gründen ab, die Verlegung des Marktes vom Sennaja-Platz scheiterte. Auch im 19. Jahrhundert unterlag der Handel auf dem Platz weiterhin einer verstärkten Überwachung. Bestimmte Warengruppen, vor allem die leicht entzündlichen Wolle und Flicken, durften seit katharinäischer Zeit auf den innenstädtischen Märkten nicht mehr angeboten werden.67 Den Gardeneinheiten des Heumarktes oblag es, die Ware sowie die Platzierung der Läden und Fuhren auf den je nach Warenart obrigkeitlich zugewiesenen Stellplätzen zu kontrollieren.68 Eine solche Praxis der Gliederung und Zuweisung des Handelsraums wurde bereits in den Vorschriften des Oberpolizeimeisters und der Baukommission Katharinas II. angewandt.69 Allerdings änderte sich das Verteilungsprinzip der Handelsstellplätze seit Beginn der 1850er Jahren: Statt einer kostenfreien Verteilung per Losziehung, so wie es unter Katharina II. praktiziert wurde, sollten die Plätze auf dem Heumarkt durch eine Art Versteigerung an die Händler vermietet werden.70 So hoffte die Stadtregierung offenbar, die Zahl der Händler und vielleicht auch der Käufer auf dem Platz zu beschränken. Doch diese Maßnahme führte schließlich zu den Spekulationen mit Handelsständen,71 wodurch die Möglichkeit einer wirksamen ordnungspolizeilichen Kontrolle ganz aufgehoben wurde. Nach dem Choleraaufstand 1831 wurde der Gedanke einer Verlegung des Marktes vom Sennaja-Platz virulent. Doch zugleich wurden die Möglichkeiten eines wirksamen obrigkeitlichen Zugriffs immer geringer, denn die Bevölkerung wuchs, der Handel auf dem Markt fand täglich statt, die Kriminalität nahm stets zu. Schon die Versuche der Stadtregierung, die in St. Petersburg 1831 aufgetretene Choleraepidemie einzuschränken, stießen auf den Widerstand der Stadtbevölkerung, sodass die weitere Verschärfung der Quarantäne 66 67 68 69

Jurkova: Sennaja, S. 48f. RGIA, Bestand 1310, Register Nr. 1, Dela, Akte Nr. 4, Blatt 4-6. H.F. Jahn: Heumarkt, S. 166. So z.B. Vorschriften für den Aleksandronevskaja Platz und für den Gostinyj dvor, RGIA, Bestand 1310, Register Nr.1, Dela, Akte Nr. 4, Blatt 6-8, Opredelenija, Akte Nr. 19, Blatt 17ff. 70 Jurkova: Sennaja, S. 69. 71 Ebd.

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nicht in Frage kam. Das Zentrum dieses Widerstandes war der Heumarkt.72 Zum ersten Mal wurde ein öffentlicher Raum in St. Petersburg zum Ausgangspunkt sozialer Massenunruhen.73 Die hygienischen Bedingungen auf dem Heumarktplatz verschlechterten sich weiterhin. Es begann eine langwierige Suche nach passenden Lösungen. Die Stadtregierung und der Gouverneur diskutierten unterschiedliche Maßnahmen: Abschiebung der armen Einwohner in die Vorstädte und aufs Land, Verlegung oder gar Auflösung des Marktes und seine Verwandlung in einen Stadtpark.74 Doch zwischenamtlicher Streit zwischen der Stadtduma und dem Gouverneur sowie der Widerstand der Kaufmannschaft in ihrem Kampf um den Platz standen der Lösung im Wege.

Bilanz Der Sennaja-Platz gehörte im 18. Jahrhundert zu den Räumen, die ich als Räume des Dialogs zwischen Herrschaft und Gesellschaft bezeichnen möchte. Die Konstituierung und gesetzliche Reglementierung solcher Plätze durch die Autokratie sollte sichere Räume für bestimmte gesellschaftliche Aktivitäten stiften und zugleich die obrigkeitliche Kontrolle gewährleisten, d.h. die von der Krone gestellte Bedingungen waren zugleich die Grundlage der Existenzberechtigung solcher Räume. Der Heumarkt fungierte nicht nur als eine Projektionsfläche für die Grundrichtungen der gesellschaftlichen Politik der Staatsmacht, sondern stellte auch ein Indikator des Zusammenwirkens zwischen Herrschaft und Gesellschaft im Rahmen dieser Politik dar. Somit lassen sich an seiner Geschichte das Zusammenwirken zwischen der Staatsmacht und der städtischen Gesellschaft sowie der funktionale Wandel des Heumarktes selbst ablesen. Der Sennaja-Platz avancierte zu einem Bestandteil des Aushandlungsprozesses zwischen Herrschaft und Stadteinwohnern, der durch Katharina II. in den 1760er Jahren angestoßen wurde: Gemeint sind hier vor allem die »Große Instruktion«, Nakazy der Deputierten St. Petersburgs an die Gesetzgebende Kommission, regulative Maßnahmen auf dem Heumarkt und schließlich die Gnadenurkunde an die Städte. So vermochte die katharinäische Herrschaft eine Art sozialer Ordnung im Rahmen dieses Platzes zu stiften, 72 Jahn: Heumarkt, S. 167f.; Jurkova: Sennaja, S. 120-127. 73 Vgl. dazu die Überlegungen von Jahn: Heumarkt, S. 168. 74 Für diese Lösung sprach sich Alexander II. aus.

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durch ordnungspolizeiliche Regulierung dauerhaft vor Ort zu stabilisieren und sie vor allem durch die Gnadenurkunde an die Städte auf das gesamte Imperium auszudehnen. Die katharinäische Stadtbaupolitik griff somit über den Bereich der baulichen Regulierung hinaus. Sie wurde zum Instrument der Sozialund Wirtschaftspolitik. Durch die bauliche und infrastrukturelle Entwicklung des Handelsraums um Fontanka und Katharinenkanal sowie durch die ordnungspolizeiliche Regulierung des Heumarktplatzes und des Handels auf ihm, versuchte die Krone einen Interessensausgleich zwischen den handelnden Bauern und den Petersburger Kaufleute zu erwirken. Als Folge der gelungenen Regulierung des Platzes konnte Katharina II. die Absenkung der Preise für Lebensmittel in der Hauptstadt als einen ihrer politischen Erfolge ansehen: die Herrschaft errichtete eine Art Markt für das Volk, der den »humanen« aufgeklärten Charakter der Autokratie widerspiegeln sollte. Gepaart mit den sozialen und wirtschaftlichen Prozessen im 19. Jahrhundert trug diese Regulierungspolitik jedoch zugleich der Marginalisierung des Stadtraums rund um den Sennaja-Platz bei. Das soziale Portrait des Platzes wandelte sich im Laufe des Jahrhunderts dergestalt,75 dass der Platz nicht nur als ein Gegensatz zum Nevskij prospekt als dem Raum der Elite in Literatur, Presse und offiziellen Berichten thematisiert wurde, worauf bereits Hubertus Jahn hinwies,76 sondern sich in einem Ausnahmezustand zum Ort eines sozialen Protests gegen die obrigkeitliche Regulierung verwandelte. Gerade solche öffentlichen und funktionalen Räume der Stadt wie der Heumarktplatz in ihrer Eigenschaft als Agglomerationen sozialer und wirtschaftlicher Energie, wurden im Zarenreich des 19. Jahrhunderts zu den Projektionsflächen sozialer Probleme, zu den Räumen sozialer Grenzen und Gegensätze und der politischen Opposition.

75 Für eine zusammenfassende und veranschaulichende Darstellung der sozialen Eigenart des Heuplatzes und seiner Einwohner vgl. Cejtlin: »Sennovskij obyvatel’«, S. 111-115. 76 Jahn: Heumarkt, S. 171, S. 177.

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Umformen und Integrieren

Zerstören oder Bewahren? Die Umstrukturierungen des Weißensteiner Parks in Kassel unter Landgraf Wilhelm IX. KRISTINA STEYER

Kurz nach seinem Regierungsantritt im Jahr 1785 ließ Landgraf Wilhelm IX. von Hessen-Kassel tiefgreifende Veränderungen im bereits bestehenden Weißensteiner Park vornehmen. Er ließ das Gebiet am Habichtswald in einen weitläufigen Landschaftspark umstrukturieren, zahlreiche Staffagebauten abreißen, die unter seinem Vorgänger Friedrich II. entstanden waren, und initiierte Projekte wie den Umbau des Schlosses Weißenstein, den Bau der Löwenburg, der Teufelsbrücke, des Steinhöfer Wasserfalls und des Aquädukts. Trotz der umfassenden Neukonzeptualisierung blieb dem Park die mächtige, unter Landgraf Karl erbaute barocke Anlage, das Oktogonbauwerk mit Herkules, Wassertheatern und Kaskaden, erhalten. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, welche Gründe für den Erhalt des Karlsbauwerks gesprochen haben mögen – scheint doch ein barockes Bauwerk in einem Landschaftspark deplatziert zu sein. Dabei soll der Bau nicht nur als dynastisches Herrschaftszeichen und Beispiel höfischer Erinnerungskultur berücksichtigt, sondern auch die Problematik einer Neuinterpretation aus dem Geist der Romantik fokussiert werden, die durch seine Integration in den Landschaftspark erforderlich wurde. Die Umgestaltung der Wilhelmshöhe war also nicht nur von einem Geschmackswandel, sondern auch einem veränderten Geschichtsdenken bestimmt.

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Die bauliche Entwicklung des Parks 1705 veröffentlichte der römische Baumeister Giovanni Francesco Guerniero das Bauvorhaben, das er vier Jahre zuvor dem Landgrafen Karl von HessenKassel vorgelegt hatte. In dem Stichwerk Delineatio Montis, das mehrmals überarbeitet und aufgelegt wurde, sind Pläne und Ansichten Guernieros zu sehen, die seine Gartenentwürfe für den Karlsberg am Osthang des Habichtswalds zeigen.1 Es handelt sich hierbei um eine Kaskade, etwa dreimal so lang wie die tatsächlich ausgeführte, die mehrmals von Grotten, Brunnen und Wassertheatern durchbrochen werden und sich vom Oktogon bis zum Schloss Weißenstein erstrecken sollte. Realisiert wurde lediglich der obere Teil des ursprünglichen Entwurfs: das Oktogonbauwerk mit Herkules, die Vexierwassergrotte mit Artischockenbrunnen, das Riesenkopfbecken und die 250 Meter lange Kaskade, die sich schließlich in das Neptunbecken, dem Abschluss des Bauwerks, ergießt. (Abb. 1) Die Entwürfe für den Bau am Karlsberg, sein Figurenprogramm, die Wasserorgel und hornblasenden Figuren orientierten sich an den Gärten italienischer Villen wie sie um 1600 in der Umgebung von Rom oder Florenz entstanden und die Landgraf Karl auf seiner Italienreise 1699/1700 besichtigt hatte. Die Wasserorgel der Villa d’Este, die Kaskadentreppen und der unter Steinen begrabene, Wasser speiende Riesenkopf der Villa Aldobrandini oder die Statue des Herkules in der Villa Farnese gehörten zum Besichtigungsprogramm Karls und bilden einen deutlichen Bezug zum späteren Bauvorhaben am Karlsberg. Die Ikonographie orientiert sich an der Herkulessage und der Gigantomachie. Herkules auf der Spitze der Pyramide ruht sich nach seinen zwölf kanonischen Taten auf seine Keule gestützt aus, die Äpfel der Hesperiden in der Hand haltend. Exakt in der Achse des Herkules, vor der untersten Nische der Pyramide, war die Büste Karls angebracht. An den Fensternischen der Pyramide, auf der Brüstung und in den Nischen des Oktogons sowie in dem darunter liegenden mit Tuffstein verkleideten Bereich befanden sich einstmals zahlreiche Statuen, deren symbolische Bedeutung auf die Tugenden des Herrschers und seine Regierung Bezug nahmen. Die Figuren sind heute zum großen Teil nicht mehr erhalten. (Abb. 2) Das Figurenprogramm diente als Herrscherlob für Karl, der im Spanischen Erbfolgekrieg, der von 1701 bis 1714 dauerte, an der Seite des Habs-

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Vgl. Giovanni Francesco Guerniero: Delineatio Montis [...], Rom 1705.

Die Umstrukturierungen des Weißensteiner Parks in Kassel

Abb. 1: Giovanni Francesco Guerniero, Idealplan des Karlsberges, 1749. Aus: Ulrich Schmidt (Hg.): Der Schloßpark Wilhelmshöhe in Ansichten der Romantik. Ausst.-Kat. Ballhaus am Schloß Wilhelmshöhe, Kassel 1993, S. 77 burger Kaisers gegen den französischen König Ludwig XIV. gekämpft hatte, was ihm den Ruhm einbrachte, Frieden und Wohlstand für sein Land gesichert zu haben.2 Die Herkulessage diente seit der Renaissance als Sinnbild für die Omnipotenz eines Herrschers und wurd neben zahlreichen europäischen Fürsten auch von Karl genutzt. Adrian von Buttlar erkennt hierin eine Allegorie der »Überwindung des Todes durch Kunst und Gesittung«3. Darüber hinaus zeuge die Symbolsprache der Anlage vom »kulturell verkleideten politischen Machtstreben des Landgrafen, der sich in der Herkulesikonographie als siegreicher Verbündeter des Habsburger Kaisers in die erste Reihe der europäischen

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Vgl. Agnes Tieze: »Von Herkules gekrönt. Zur Ikonographie des Oktogons«, in: Sandra Kress/Jennifer Verhoeven (Hg.), Hortus ex Machina. Der Bergpark Wilhelmshöhe im Dreiklang von Kunst, Natur und Technik (= Arbeitshefte des Landesamtes für Denkmalpflege Hessen, Band 16), Wiesbaden 2010, S. 50-56. Adrian von Buttlar: Der Landschaftsgarten, München 1980, S. 162.

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Abb. 2: Jan van Nickelen, Ansicht des Oktogons, um 1716. Aus: Schmidt: Schloßpark Wilhelmshöhe, S. 78 Fürsten stellte«4. Der bezwungene Ludwig XIV. ist in der Figur des durch Herkules überwundenen Enkelados wiedergegeben, der im Riesenkopfbecken unter Felsmassen begraben ist und eine Fontäne aus dem Mund speit. Die Begehung der barocken Anlage erfolgt heute, wie schon zu Zeiten Karls, von oben nach unten und orientiert sich am Lauf und der Geschwindigkeit der Wassermassen. Auf der Ebene des Wassertheaters, bzw. der Vexierwassergrotte, wurde einst durch Wasserkraft eine Wasserorgel in Gang gesetzt, und Wasserscherze überraschten die Besucher. Die einsturzgefährdete Grotte ist heute für Besucher gesperrt. Auf derselben Ebene befindet sich ein Bassin 4

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Adrian von Buttlar: »Vom Karlsberg zur Wilhelmshöhe. Die Sonderstellung des Kasseler Bergparks in der Geschichte der Gartenkunst«, in: Kress/Verhoeven: Hortus ex Machina, S. 13-22, hier S. 16.

Die Umstrukturierungen des Weißensteiner Parks in Kassel

mit steinerner Artischocke, aus deren Mitte eine von mehreren Wasserstrahlen begleitete Fontäne schießt und heute den Auftakt bei der Besichtigung der Wasserspiele bildet. Daraufhin fließt das Wasser die künstlichen Felsen des Riesenkopfbeckens hinab, lässt den unter Felsen begrabenen Enkelados eine Fontäne speien und bringt die Hörner des Kentauren und des Fauns, die sich in den beiden Nischen des Beckens befinden, zum Klingen. Am Riesenkopfbecken beginnen die Kaskaden, die das Wasser über 250 Meter Länge und neun Meter Breite hinableiten. Die Kaskaden münden in einen sechs Meter hohen Wassersturz, der sich in das Neptunbecken ergießt und hinter dem sich die Neptungrotte mit dem auf einem Muschelthron sitzenden Meergott befindet. Das Neptunbassin bildet den Abschluss der unter dem Landgrafen Karl errichteten Anlage.5 Nach dem Tod Karls im Jahr 1730 wurden Oktogonbauwerk und Wasserspiele instand gehalten, regelmäßig ausgebessert und blieben so den folgenden Generationen erhalten. 1763 ließ Landgraf Friedrich II. weitere Arbeiten am Park durchführen und beauftragte den Hofgärtner Daniel August Schwarzkopf den Teil des Gartens umzugestalten, der Schloss Weißenstein mit der barocken Anlage verband. Vor dem Schloss entstand ein Bowling Green und Staffagebauten zierten zu beiden Seiten der Herkulesachse die neu angelegten Waldwiesen und Bachtäler. Neben dem chinoisen Dörfchen Mulang südlich des Schlosses entstand auch das ›Tal der Philosophen‹, in dem in einfachen Einsiedeleien lebensgroße Holzfiguren griechischer Philosophen aufgestellt wurden.6 Der Gartentheoretiker Christian Cay Lorenz Hirschfeld lobte das Tal und empfahl Schriften der entsprechenden Philosophen in jeder Hütte auszulegen, um den Parkbesucher zum Studium anzuregen. Bisweilen waren die Umgestaltungen geleitet vom rokokohaften »Verlangen nach Variété, nach sentimentalem Spiel und größerer Natürlichkeit«7, so Dieter Hennebo und Alfred Hoffmann. Die dritte Bauphase wurde durch Wilhelm IX. geprägt. Der spätere Kurfürst Wilhelm I. von Hessen-Kassel ließ weitere Arbeiten auf dem Weißenstein 1785, unmittelbar nach seinem Regierungsantritt, beginnen und verfolgte 5 6

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Vgl. Siegrfried Hoß: »Die Faszination von Wasser und Topographie«, in: Kress/Verhoeven: Hortus ex Machina, S. 57-67. Vgl. Urte Stobbe: Kassel-Wilhelmshöhe. Ein hochadeliger Lustgarten im 18. Jahrhundert (Diss. Göttingen 2008), München 2009, S. 57-72, die in den Umgestaltungen eine kulturelle Orientierung Friedrichs an Frankreich sieht. Dieter Hennebo/Alfred Hoffmann: Geschichte der deutschen Gartenkunst in drei Bänden, Band 3, Der Landschaftsgarten, Hamburg 1963, S. 173.

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das Ziel, mit dem Park zahlreiche Natur- und Kunstfreunde anzuziehen. Er ließ alle Stilelemente des Rokoko entfernen und war bestrebt, die Natur in ihren vielfältigen Erscheinungsformen in den Vordergrund zu rücken.8 Seine Bauprojekte waren bestimmt von nüchternem Klassizismus und romantischer Begeisterung für das Mittelalter, während der Oktogonbau nunmehr in »historisch-romantischer Verklärung«9 neu zu schätzen gelernt wurde. Zwischen 1786 und 1798 entstand an der Stelle, an der sich zuvor das Jagdschloss Weißenstein befand, das heutige Schloss Wilhelmshöhe. (Abb. 3) Die Entwürfe stammten von den Architekten Heinrich Christoph Jussow und Simon Louis du Ry, die auch für die Neubauten im Park verantwortlich waren. Als weitere Persönlichkeiten, die wesentlich an der Neugestaltung des Gartens mitwirkten, sind u.a. der Hofgärtner Daniel August Schwarzkopf und Karl Steinhöfer, der den Bau der Wasserkünste leitete, zu nennen. Die Veränderungen im Park waren tiefgreifend. Terrassen und Substruktionen wurden geschleift und wichen einer natürlich wirkenden, steilen Böschung. Die vorhandenen, geometrisch angelegten kleinen Gärten verschwanden ebenso wie strenge Heckenwände, Rahmungen und Baumreihen sowie einige Staffagebauten, die unter Friedrich II. entstanden waren. Stattdessen erzeugten gewundene, ausgedehnte Wege, Haine, Waldstücke und sanfte Hügel das Gefühl einer von der Natur geformten Landschaft. Das Wasser blieb jedoch weiterhin das beherrschende Thema des Parks. Es entstand ein Hauptwasserlauf, der durch verschiedene Wasserfälle unterbrochen wurde. Das erste Projekt von Steinhöfer und Jussow waren die Peneuskaskaden (1786-90). Sie verbinden den Fontainenteich mit dem als antike Ruine konzipierten Aquädukt (1788-92) (Abb. 4), der die Grenze zwischen dem alten, deutlich gestalteten und dem neuen, scheinbar von der Natur geformten Bereich des Parks bildet. Die Arbeiten für ein weiteres Projekt Jussows und Steinhofers, die Teufelsbrücke über einem künstlichen Wasserfall, wurde 1792 begonnen. (Abb. 5) Den natürlichen Abfall des Wassers am Hüttenberg nutzend, errichtete Steinhofer mit Basaltstelen den Steinhöfer Wasserfall. Als wichtiger Neubau neben dem Schloss entstand zwischen 1793 und 1801 die Löwenburg, eine an das Mittelalter gemahnende künstliche Ruine, die Wilhelm als Park

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Vgl. Bernd Modrow: »Das ›Künstliche‹ und das ›wie Natürliche‹ kunstvoll vereint in der Kasseler Gartenlandschaft. Wilhelmshöhe – Karlsaue – Wilhelmsthal«, in: Kress/Verhoeven: Hortus ex Machina, S. 23-33. Buttlar: Der Landschaftsgarten, S. 167.

Die Umstrukturierungen des Weißensteiner Parks in Kassel

Abb. 3: Johann Erdmann Hummel, Ansicht der Wilhelmshöhe, 1799/1800. Aus: Schmidt: Schloßpark Wilhelmshöhe, S. 60 staffage, Rückzugsort, Lustschloss und Mausoleum diente.10 Damit waren die Bauvorhaben Wilhelms IX. im Wesentlichen abgeschlossen.

Wertschätzung und Integration der barocken Anlage In Kassel-Wilhelmshöhe wurde also der barocke Bergpark während der Regierungszeiten der Landgrafen Friedrich II. und dessen Sohn Wilhelm IX. in einen Landschaftsgarten eingebettet. Die Umgebung des Parks bot durch ihre herausragende Lage ideale Voraussetzungen für die Neugestaltungen. 10 Vgl. Modrow: Das Künstliche, bes. S. 26-29; Hennebo/Hoffmann: Die Gartenkunst, S. 173-185. 1805 zwangen die Napoleonischen Kriege Wilhelm das Land zu verlassen. Auch wenn er nach seiner Rückkehr 1813 Schäden am Park beheben ließ und weiterhin an diesem gearbeitet wurde, hatte der Park mit seinen Wasseranlagen seinen Höhepunkt bereits überschritten.

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Abb. 4: Johann Heinrich Tischbein d.Ä, Der Aquädukt, 1786. Aus: Schmidt: Schloßpark Wilhelmshöhe, S. 63 Ein wichtiges Bindeglied, das für die Einfügung der barocken Anlage in den Landschaftsgarten sorgte, war das Wasser. Der Aquädukt, die Wasserfälle, Teiche und Bäche des Landschaftsparks sind als Fortsetzung der Kaskaden und Fontänen am Karlsberg zu bewerten.11 Das Riesenschloss, die Kaskaden und Grotten, die sich ins Neptunbecken ergießen, bildeten weiterhin die zentrale Achse und die Hauptszenerie des Parks. Dieses Wechselspiel der alten und neuen Wasserspiele und die Wirkungskraft des Wassers als eines zentralen Gestaltungselements gingen in den Kanon der gartenhistorischen Forschung ein: »Diese vielgestaltige Anlage war nicht nur zu machtvoll, um für das Erlebnis einfach beiseite gerückt zu werden, sie kam auch durch ihren Gehalt an Gefühlswert dem romantischen Stil viel zu sehr entgegen. Führt sie doch in

11 Vgl. Buttlar: Der Landschaftsgarten, S. 159ff.

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Abb. 5: Gottlieb Kobold, Die Teufelsbrücke, um 1798. Aus: Schmidt: Schloßpark Wilhelmshöhe, S. 65 großartiger Schau Park, Stadt und Landschaft als Zusammengehörendes vor, ja, scheint doch von ihr und der in die Weite des Raums ausstrahlenden Ader geheime Impulse auszugehen, denen die rauschenden Wasser letzte Steigerung verleihen.«12

Das Bauwerk am Karlsberg ist schon früh zum Wahrzeichen der Stadt Kassel geworden und so schreibt Georg Jonathan Holland, Erzieher des Prinzen Ludwig, dem zweiten Sohn des Herzogs Friedrich Eugen von Württemberg, über den Besuch des Weißensteiner Parks im Jahr 1775: »Nach dem Mahle sah ich mir mit dem Prinzen Ludwig die Wasserspiele an, die Kaskaden, die Grotten und die Gebäude. [...] Alles, was man dort sieht, ist 12 Hennebo/Hoffman: Die Gartenkunst, S. 178f.

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Kristina Steyer wunderbar, und die Alten hätten sicherlich das achte Weltwunder daraus gemacht. Der Landgraf [Friedrich II.] läßt viel daran arbeiten, teils um das auszubessern, was die Zeit oder die Franzosen zerstört haben, teils um den Plan des Landgrafen [Karl] fortzusetzen, den der Tod daran hinderte den kühnsten Gedanken, der je einen Architektenkopf erfüllte, auszuführen.«13

Johanna Schopenhauer, Mutter des Philosophen Arthur Schopenhauer, bezeichnete 1787 den Karlsberg dann tatsächlich als achtes Weltwunder: »Den Winterkasten auf Weißenstein aber, wie damals die jetzige Wilhelmshöhe genannt wurde, war ich bereit, mitsamt seinem Herkules für das achte Wunder der Welt anzuerkennen. Die rohe phantastische Größe dieses kaum zu Hälfte vollendeten Riesenbaus stand wie ein kolossales Traumbild aus einer, ich wusste nicht, ob überirdischen oder unterirdischen Wunderwelt vor mir. Mag man immerhin geschmacklos mich schelten, ich hoffe, unsere neue überschwengliche Zeit wird sich nie bis zu der Höhe versteigen, es untergehen lassen zu wollen.«14

Bereits kurz nach seiner Fertigstellung stellte sich heraus, dass das Bauwerk am Karlsberg immense Unterhaltungskosten aufwerfen würde. Darüber hinaus war es durch die Schäden bedroht, die durch den Siebenjährigen Krieg und die Napoleonischen Kriege entstanden waren. Trotz der hohen Kosten, die die Kaskade und der Oktogonbau verursachten, wurden sie weder dem Verfall preisgegeben, noch fielen sie Umgestaltungen späterer Fürsten zum Opfer. Es liegt daher nahe zu vermuten, dass auch folgende Generationen der Herrscher aus dem Bauwerk einen Vorteil zogen. Die Gründe hierfür sollen im Folgenden erläutert werden. Inken Formann vermutet, dass gleich mehrere Ursachen für den Erhalt der barocken Wasserkünste durch die Nachfolger Karls vorgelegen haben könnten.15 Zunächst benennt sie die über Jahrzehnte investierten Gelder, die bereits 13 Georg Jonathan Holland: »Wir wohnten täglich der Parade bei«, zit. n. Klaus-Jörg Ruhl: Kassel in alten und neuen Reisebeschreibungen, Düsseldorf 1991, S. 59. Zu den Gartenbesuchern und -beschreibungen siehe Stobbe: Kassel-Wilhelmshöhe, S. 73-92, S. 161-167 und S. 183-210. 14 Johanna Schopenhauer: »Wilhelmshöhe – das achte Wunder der Welt«, zit. n. Ruhl: Reisebeschreibungen, S. 79. 15 Vgl. Inken Formann: »Warum wurde erhalten, was bereits im Bau verfiel? Gedanken über die Gründe für die Erhaltung der Wasserkünste des Schlossparks Wil-

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für den Bau und Erhalt aufgewandt wurden, und es den Nachfolgern geradezu unmöglich erscheinen ließen, sich für einen Abbruch der Anlage zu entscheiden. Daneben berücksichtigt Formann die Faszination, die von dem Bauwerk ausging, und von seiner Einzigartigkeit, die nicht nur Karls Zeitgenossen, sondern auch spätere Generationen noch immer begeistern konnte. Die Anlagen wurden über die Ländergrenzen hinaus, u.a. durch das Ausgeben von Medaillien, auf denen der Karlsberg eingeprägt war, und Guernieros Stichwerk Delineatio Montis bekannt gemacht. Auch nach dem Tod Karls erfreute sich das Bauwerk großer Beliebtheit und lockte kontinuierlich Reisende an. Neben diesen Gründen scheinen aber die folgenden noch entscheidender für den Erhalt des Oktogons, des Herkules und der Kaskaden gewesen zu sein: Ebenso wie Karl verstanden es auch spätere Generationen, das Bauwerk zu repräsentativen Zwecken zu nutzen. Der Erhalt der Anlage war Teil der höfischen Erinnerungskultur und würdigte nicht nur die Bauleistungen Karls, sondern auch seine kulturellen Interessen und politischen und wirtschaftlichen Erfolge: Er galt als generöser Förderer der bildenden Künste und der Musik, berief Denis Papin und Christian Wolff als Professoren der Mathematik nach Marburg und war Sammler von Kunstgegenständen, Messinstrumenten und Kuriositäten. Er baute ein beeindruckendes Heer auf, das er erfolgreich im Spanischen und Pfälzischen Erbfolgekrieg einsetzte und belebte Handel und Verkehr unter anderem durch Förderung des Finanzwesens oder den Ausbau des Postwesens und der Straßennetze. Das hohe Ansehen, das Karl genoss und von seinen Nachfolgern befördert wurde, spiegelt sich noch 150 Jahre nach seinem Tod in einer Passage der Allgemeinen Deutschen Biographie wider: »Uebrigens kann man Karls patriotischen Eifer in den vorausgehenden Kämpfen nicht genug würdigen. Stets war er zur Vertheidigung des Reiches bereit, sobald dessen Grenzen von Feinden bedroht wurden, und trotzdem er sich mehr als einmal bitter darüber beklagte, daß die unbeständige und zögernde Wiener Politik elentlich jedes erfolgreiche Handeln unmöglich mache, trotzdem man alle seine Anstrengungen von Seiten des kaiserlichen Hofes mit Undank lohnte, war er immer wieder mit seinen wohlgerüsteten Truppen der

helmshöhe«, in: Dies./Michael Karkosch (Hg.), »Alles scheint Natur, so glücklich ist die Kunst versteckt«. Bernd Modrow zum 65. Geburtstag, München 2007, S. 33-48.

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Kristina Steyer erste im Felde. Höher als des Reiches Interesse stand ihm freilich noch der Schutz des Protestantismus.«16

Doch nicht nur repräsentative Motive spielten beim Erhalt der barocken Anlage eine Rolle. Sie wurde darüber hinaus dazu genutzt, Grundsätze aktueller Weltanschauung metaphorisch zu vermitteln. Zur Zeit seiner Erbauung spielte das Bauwerk auf die Thematik der Naturbeherrschung durch den Menschen an. Cornelia Jöchner hat auf diesen Aspekt hingewiesen: Am Karlsberg »zeigt Gartenkultur auch das technisch Machbare und verweist auf die Beherrschung der Natur durch den Menschen – in dem Falle des Wassers«17. Zu Zeiten Wilhelms IX. war der Wunsch von einer Begrenzung und Kontrolle der Natur im Gartenraum obsolet geworden. Darauf zielen die zeitgenössischen Äußerungen der Gartentheoretiker wie William Mason, für den der gewundene Pfad des Landschaftsgartens im Gegensatz zu den starren Alleen des Barockgartens zum »Emblem konstitutioneller Freiheit«18 wurde. Das Konzept zur Umgestaltung des Weißensteiner Parks in Kassel erlaubte es jedoch, die Ikonographie des barocken Baus im Sinne des nunmehr verbreiteten aufgeklärten Absolutismus und den Leitfäden der Aufklärung umzudeuten. Inken Formann fasst diese Umdeutung wie folgt zusammen: »Wie der Mensch im Lauf der Geschichte befreit sich das zunächst in der Kaskade geführte Wasser vom strengen Korsett des Absolutismus, wenn es in landschaftlichen Bächen und Wasserfällen seinen Weg natürlich und frei fortsetzt.«19

Das von Ideen der bürgerlichen Aufklärung geleitete Konzept des Landschaftsgartens wurde in Kassel-Wilhelmshöhe so angewandt, dass das Oktogonbauwerk integriert wurde und in die Umdeutung einbezogen wurde.

16 Theodor Ilgen: »Karl (Landgraf von Hessen-Kassel)«, in: Allgemeine Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 15, Leipzig 1882, S. 292-296, hier S. 295. 17 Cornelia Jöchner: »Geometrie oder Landschaft. Auflösung barocker Gartengrenzen am Karlsberg in Kassel«, in: Jörg Jochen Berns/Detlef Ignasiak (Hg.), Frühneuzeitliche Hofkultur in Hessen und Thüringen, Erlangen/Jena 1993, S. 142-166, hier S. 154. Siehe zur Thematik der Naturbeherrschung auch Stobbe: KasselWilhelmshöhe, S. 32ff. 18 Siehe dazu ausführlich Buttlar: Der Landschaftsgarten, S. 12. 19 Formann: Schlosspark Wilhelmshöhe, S. 43

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Dass Bauwerke früherer Jahrhunderte noch immer als reizvoll und erhaltenswert für einen Landschaftspark des späten 18. Jahrhunderts bewertet wurden, bestätigt auch Christian Cay Lorenz Hirschfeld in seiner Theorie der Gartenkunst, die zwischen 1779 und 1785 entstand. Explizit hebt er den künstlerischen Wert des Oktogonbaus am Karlsberg in Kassel hervor. Er schreibt, es handele sich um ein »heroisches Werk«, das sich durch seine Gestaltung und die verwendeten Materialien passend in die Landschaft einfüge. Dieser Eindruck entstehe dadurch, dass die Materialien, aus denen der untere Teil des Oktogons und die darunter liegenden Grotten und Bassins erbaut und eingefasst sind, so erscheinen, als ob sie aus natürlich belassenen Felsenformationen und Steinen aus der Umgebung errichtet wären. Das wie aus natürlicher Quelle aus dem Verborgenen an die Oberfläche gelangende Wasser war ein weiteres Kriterium, das der deutsche Gartentheoretiker am Oktogonbau lobte und das das Bauwerk mit den Prinzipien, nach denen sich ein Landschaftspark zu richten hatte, verband. Hirschfeld kritisiert jedoch die Künstlichkeit der verspielten Kaskaden und Fontänen, da sie der steinig-rauen Umgebung nicht entsprächen: »Nur stimmen zu der Würde dieses Charakters weder die kleinen Springwasser, und die Cascade selbst, noch die zierlichen Pflanzungen und Ausschmückungen am Fuß des Carlsberges.«20

Den vorhandenen Wasserspielen sei ein »gewaltiger Strom, wild und von keiner Verzierung begleitet[, der] die rohen Felsstufen hinunter brauste, und sich ganz unten auf einmal in finstern Dickigten verlöre«21 vorzuziehen. Diese Forderung Hirschfelds ist eine gartenliterarische Wunschvorstellung geblieben. Formann vermutet, dass der Abriss der Kaskaden und der Bau eines natürlich wirkenden Wasserfalls zu hohe Kosten mit sich gebracht hätte und zweifelt an der Ausführbarkeit und Stabilität eines solchen Projekts.22 Gegen diese pragmatische Einschätzung ist zu argumentieren, dass auch der Erhalt der Kaskaden und Wasserspiele sehr hohe Kosten mit sich brachte, die jedoch von den Nachfolgern Karls getragen wurden. Eine realisierbare Alternative zum Neubau der Kaskaden hätte eine Veränderung ihres Verlaufs durch den

20 Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, Band 4, Leipzig 1782, S. 126. 21 Ebd. 22 Vgl. Formann: Schlosspark Wilhelmshöhe, S. 45.

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Einsatz recht einfacher Mittel sein können. Felsbrocken und Geröll aus Steinbrüchen der Umgebung, die auch für die von Steinhofer gebauten Wasserfälle verwendet wurden, hätten hier eingefügt werden können und den Wasserlauf soweit verändert, dass er den Anschein größerer Natürlichkeit erhalten hätte. Außerdem hätten die Springwasser, Automaten und als unpassend empfundene Staffagefiguren abgebaut werden können. Darüber hinaus hätte der natürliche Verfall der Anlage ein ruinöses Aussehen gegeben, das mit dem Geschmack der Zeit vereinbar gewesen wäre. Stattdessen beließ man das Karlsbauwerk wie es war und führte Instandsetzungsarbeiten durch, um es möglichst so zu erhalten, wie es zu Zeiten Karls gewesen war. Geld wurde vermutlich also wenig gespart und dürfte bei der Umgestaltung des Parks unter Friedrich und Wilhelm ohnehin großzügig investiert worden sein. Wichtiger als die Scheu vor hohen Kosten scheint für den weitgehenden Erhalt gewesen zu sein, dass das Landschaftsbauwerk, von den Kritikpunkten Hirschfelds einmal abgesehen, nicht im Widerspruch zu den Motiven und Prinzipen des neu entstandenen Landschaftsparks stand und sich mit ihm harmonisch ergänzte. Richtig ist, dass man sich in den im 18. Jahrhundert entstandenen Landschaftsparks von den Stilelementen der Gärten, die im sogenannten französischen Geschmack gestaltet wurden, distanzierte. Dass dies aber nicht bedeuten musste, bei der Umgestaltung des Parks alle Bauwerke und Bepflanzungen früherer Zeiten abzubrechen, zeigt auch ein genauer Blick in Friedrich Ludwig von Sckells Beiträge zur bildenden Gartenkunst. Hier gibt Sckell Anweisungen, wie ein Landschaftsgarten zu gestalten sei und benennt u.a., welche Bauten, Gewässer und Bepflanzungen je nach Größe des Gartens ausgewählt werden können. Er empfiehlt in seiner Gartenkunst vor allem das Schaffen von malerischen Bildern im Gartenraum, die sich harmonisch in die Umgebung einfügen, wie ein kleiner Hügel mit Ruhesitz oder ein kleines Tal, dass sich in die Ebene senkt.23 »Auch die Quellen dürfen in den Gärten erscheinen, wenn ein kleines Wasser unter schönen Felsen=Massen hervorquillt.«24 Was Sckell vor allem an der »alten, symmetrischen Gartenkunst« zurückweist sind »kleinliche, widernatürliche Formen«, »widersinnig geschnörkelte Bux-Parterres« und geometrisch geformte, »verstümmelte

23 Vgl. Friedrich Ludwig von Sckell: Beiträge zur bildenden Gartenkunst für angehende Gärtner und Gartenliebhaber, Worms 1982, S. 3-14 und S. 34-36. 24 Ebd., S. 9f.

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Abb. 6: Giusto Utens, Park der Villa Medicea zu Pratolino, 1599. Aus: Stiftung Schloss und Park Benrath/Seminar für Kunstgeschichte der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf (Hg.): Wunder und Wissenschaft: Salomon de Caus und die Automatenkunst in Gärten um 1600. Ausst.-Kat. Museum für Europäische Gartenkunst, Düsseldorf 2008, S. 143 Bäume«25. Folgt man Sckells Ausführungen, so findet man verschiedene Beschreibungen, die den Leser an Elemente der Gartenkunst früherer Jahrhunderte denken lassen. So ist er bereit, Statuen von hohem künstlerischen Wert vergangener Zeiten oder nach der Natur gestaltete künstliche Grotten anzuerkennen, wenn sie sich harmonisch in den sie umgebenden Raum einfügen. Künstliche Ruinen empfiehlt er ebenfalls für einen Landschaftspark, insofern ihre Erscheinung den Betrachter glauben lässt, ihr Verfall wäre durch Verwitterung und nicht durch Brand oder Krieg verursacht worden. Zeigen die Abhandlungen von Sckell und Hirschfeld auf, dass spielerische Elemente wie Springwasser, Automaten und streng eingefasste Kaskaden aus der Mode gekommen waren, so gibt es parallel jedoch Stimmen, wie die Johanna Schopenhauers, die die Wasserspiele und Kaskaden am Karlsberg sehr schätzten. Mit dieser Wertschätzung stand der Kasseler Karlsberg nicht alleine, sondern gehört zu einer Reihe weiterer Beispiele in Europa, bei denen ältere Gestaltungsformen und technische Verfahren auch um 1800 noch vom Publikum für an25 Ebd., S. 3.

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gemessen gehalten wurden. Unter diesen Beispielen nimmt die Villa Medicea in Pratolino einen besonderen Rang ein.

Exkurs: Der Park der Villa Medicea in Pratolino Blickt man auf ein anderes prominentes Beispiel frühneuzeitlicher Wasserund Automatenkünste – die Villa Medicea in Pratolino bei Florenz –, so führt einem insbesondere die Reiseliteratur aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor Augen, dass sich auch hier zahlreiche Liebhaber der Wasserspiele früherer Epochen fanden.26 (Abb. 6) so schreibt John Boyle in den 1770er Jahren mit Begeisterung über seinen früheren Besuch in Pratolino: »Ein oder zwei Meilen vor Florenz entfernten wir uns einige Schritte von der Straße um ein kleines Landhaus, Pratolino genannt, zu sehen [...]. Die Wasserkünste an diesem Ort müssen ein Vermögen gekostet haben. Sie sind vollkommen im alten Geschmack erbaut, aber da wir diese Art Wasserspiele seit Jahren nicht mehr in England gesehen hatten, erschienen sie uns vollkommen neu und brachten uns von neuem Vergnügen, das uns an die Freuden unserer Kindheit erinnerte.«27

Etwa zur selben Zeit bezeichnet Charles-Henri de Blainville einige der noch funktionstüchtigen Automaten im Florentiner Park immerhin als »sehr angenehm«28. Solche Äußerungen bestätigen also keinesfalls die von Detlef Heikamp geäußerte Vermutung, dass die Automaten und Wasserspiele den Gartenbesuchern in dem Zeitalter der Aufklärung lediglich als veraltet und abstrus 26 Buttlar: Vom Karlsberg zur Wilhelmshöhe, S. 17, deutet die formalistischen und ikonographischen Analogien der Anlagen am Karlsberg und in Pratolino an. 27 »Within a mile or two of Florence we stept some few paces out of the road, to see a small country house belonging to the emperor, called Pratolino. The water-works at this place must have been made at an immense expence. They are entirely in the old taste; but that old taste, by not having been visible in England for many years past, is now become so new, that, at least, it gave us the pleasure of novelty, and made us recollect the delights and amusements of our childhood.« John Boyle Earl of Cork and Orrery: Letters from Italy in the Years 1754 and 1755, London 1773, S. 73 (dt. Übersetzung K.S.) 28 Charles-Henri de Blainville: Reisebeschreibung durch Holland, Oberdeutschland und die Schweiz besonders aber durch Italien, hrsg. von Georg Turnbull und Wilhelm Guthrie, übers. von Johann Tobias Köhler, Band 5, Lemgo 1767, S. 384.

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erschienen.29 Besucher wie Boyle und Blainville schätzten die noch verbliebenen, aus der Mode gekommenen Automaten – sei es aus sentimentalen Gründen oder tatsächlicher Anerkennung der Leistung der beteiligten Ingenieure und Künstler. Der folgende Abschnitt befasst sich näher mit dem Park der Villa Medicea. Ebenso wie in Kassel wurde der Park zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einen Landschaftspark umstrukturiert, wobei die aufeinander folgenden Bauherren Ferdinand III. von Habsburg-Toskana und dessen Sohn Leopold II. vor der Frage gestanden haben mögen, welche Gebäude und Attraktionen vom Ende des 16. Jahrhunderts erhalten bleiben und welche abgetragen werden sollten. Ähnlich wie in Kassel stellt sich die Frage, welche Gründe für den Erhalt bestimmter Bauten gesprochen haben mögen und welchen repräsentativen oder ästhetischen Ansprüchen sie noch immer genügten. Nach dem Erwerb des Geländes bei Pratolino 1568 beauftragte Francesco de’ Medici den Architekten Bernardo Buontalenti mit dem Bau der Villa und des Gartens. War die Villa bereits 1575 fertiggestellt, dauerte der Bau der Parkanlage bis in die 1580er Jahre an. Jedoch bereits um 1600 genoss sie einen ausgezeichneten Ruf wegen der künstlichen Grotten, die mit Muscheln und Mosaiken aufwarteten, sie wurde berühmt für ihre plötzlich hervorschießenden Wasserscherze und ihre zahlreichen, kleine Szenen vorführenden Automateninszenierungen. Der Park der Villa Medicea begeisterte unzählige Reisende und galt als Vorbild für eine Reihe von Gärten mit Automaten, die in der Folgezeit entstanden sind. Nach dem Tod Francescos im Jahr 1587 blieb die Villa im Besitz der Großherzöge. Besonders im 17. Jahrhundert wurden immer wieder neue Umgestaltungen nach aktueller Mode initiiert, bis im Verlauf des 18. Jahrhunderts das Interesse der Besitzer für die Anlage zunehmend erlosch.30 Die künstlichen Grotten, die einstmals ihre Besucher mit Wasserspielen, Mosaiken und kunstvoll ausgezierten Gewölben begeisterten, verfielen und auch die Villa wurde allmählich zur Ruine. Erst 1814 zog der verwaiste und verfallene Park in Pratolino das Interesse Ferdinands III. von Habsburg-Toskana erneut auf sich. Dieser war bestrebt, den Glanz der Entstehungszeit wieder aufleben zu lassen und beauftragte 1818 den Ingenieur Joseph Friechs mit der Planung einer Umgestaltung der Villa und des Parks. Friechs überzeugte seinen Auftraggeber von einem Neubau der Villa. Im Jahr 1820

29 Vgl. Detlef Heikamp: »Pratolino nei suoi giorni splendidi«, in: Antichità Viva 8,2 (1969), S. 14-34. 30 Vgl. Luigi Zangheri: Pratolino il giardino delle meraviglie, Band 1, Testi e documenti (= Documenti inediti di cultura toscana, Band 2), Florenz 1979, S. 47-50.

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begann er mit den Abrissarbeiten und dem Anlegen eines Landschaftsparks. Doch noch vor Beginn der Bauarbeiten an der Villa im Jahr 1824 starb der Großherzog Ferdinand. Sein Sohn und Nachfolger Leopold II. verwarf die kostspieligen Pläne für den Neubau einer Villa und suchte stattdessen nach einer möglichst einfachen und kostengünstigen Alternative. So gab er dem Architekten Pasquale Poccianti den Auftrag, hier kein repräsentatives Anwesen, sondern ein recht einfaches, bürgerliches Landhaus entstehen zu lassen. In diesem Zusammenhang wurden die Grotten unter der ehemaligen Villa und die Überreste der meisten Wasserkünste, die ohnehin in einem schlechten Zustand waren, zerstört. Die verbliebenen Statuen wurden größtenteils nach Florenz transportiert oder dienten als Füllmaterial für die Zisternen und Grotten vor Ort. In seiner Funktion als Landhaus sollte Pratolino nun wieder vom herzoglichen Hof frequentiert werden und als Ausgangspunkt für Jagden oder kurze Aufenthalte dienen.31 Die tiefgreifenden Veränderungen im Park stießen bei dem Architekten Leo von Klenze auf heftige Empörung.32 Bereits vor der Umgestaltung des Parks hatte er Pratolino besucht und zeigte sich in seinen frühen Reisebeschreibungen fasziniert von diesem Ort. Er hielt den Garten für den vollkommensten ganz Italiens – auch wenn der Verfall der Anlagen bereits deutlich vorangeschritten war: »Vor dem Pallaste dehnte sich, von hohen Bäumen umgeben und beschattet, ein weites Parterre bis zu dem Hauptbassin, in welches Giovanni da Bolognas Koloß, den Apennin vorstellend, seine Fluten ergoß. Dieser weite Raum prangte mit allem Reichthum, den Flora und der Frühling erzeugen; und ihre Kínder mit tausendtfachem Reitz der Formen, Farben und des wohlgeruchs ausgestattet, umgeben hier in geregelten, schön umschriebenen Massen Bassins, Ruheplätze und Marmorstatuen. [...] Hinter dieser Anlage, welche den Anblick vom Pallaste aus höchst malerisch und fantastisch schließt, dehnt sich den Berg hinauf eine grade Alee zu deren Seiten in dem Gebüsche und Walde alle Arten von Gängen, Labyrinthen und Ruheplätzen angelegt sind, deren Heimlichkeit, Kühlung und stiller Reitz mit nichts zu vergleichen ist.«33

31 Vgl. ebd., S. 65-71; Jane Ross: Florentine Villas, New York 1901, S. 95f. 32 Vgl. Detlef Heikamp: »Leo von Klenze im Park von Pratolino«, in: Martin Sperlich/Helmut Börsch-Supan (Hg.), Schloß Charlottenburg, Berlin, Preußen. Festschrift für Margarete Kühn, München u.a. 1975, S. 313-334. 33 Leo von Klenze, zit. n. Zangheri: Pratolino, S. 293f.

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Die Beschreibungen von Klenzes dokumentieren zwar den schlechten Zustand des Parks, in dem verschiedene Wasserspiele und Automaten nicht mehr funktionstüchtig sind. Aber er bewertet die Gartenanlage als ein wichtiges Zeugnis der italienischen Gartenkunst überhaupt, an der zahlreiche bedeutende Künstler mitgestaltet haben. Er lobt diesen einzigartigen Ort, an dem sich Kunst und Natur vereint haben. Als von Klenze um 1820 erneut den Garten in Pratolino betrat, fand er Arbeiter vor, die im Begriff waren, den Garten in einen Landschaftspark umzugestalten. Offenbar erzeugte die Zerstörung des alten Parkteils bei dem Architekten und seinen Begleitern große Betroffenheit. In der nach diesem späteren Aufenthalt entstandenen Reisebeschreibung kritisiert von Klenze den Abriss des einstmals herausragenden Beispiels italienischer Gartenkunst und bedauert den großen Verlust: »Also auch du bist über die Alpen gedrungen, fader Affengeschmack! [...] Und hier grade auf dem Platze, wo die Gartenkunst zum erstenmale ihren Gipfel erreicht hatte, hier muß das Unwesen anfangen.[...] Was der Freund eines Medizäers, was Buontalenti mit hohem Geiste schuf, was Bologna, Vasari und Bronzino mit ihrem Meißel und Pinsel zierten, das zerstört jetzt ein – böhmischer Gärtner.«34

Die Reaktion auf die Zerstörung der alten Anlagen zeigt, dass auch ein vom Zahn der Zeit gezeichneter und im Verfall begriffener Garten wie Pratolino von Besuchern des 19. Jahrhunderts wertgeschätzt wurde. Die erste Beschreibung von Klenzes hält das Bild von einem verwilderten, langsam verfallenden Park fest, in dem sich die Natur der bebauten Flächen und Gebäude langsam wieder bemächtigt: Der Reiz der Anlage schien dadurch noch gesteigert zu werden. Hier wurde die Natur nicht durch die Kunst begrenzt, sondern ihre Schönheit hervorgehoben. Dass der Garten in Pratolino bereits vor seiner zerstörerischen Umgestaltung den von der avancierten Gartenästhetik geforderten Eindruck von Natürlichkeit und Wildheit evozierte, hält der Bericht eines anonymen Reisenden von 1809 fest: »Von allen Seiten sprudelten Quellen, die man in weite Becken sammelte, und dann wiederum in Bächen oder verdeckten Kanälen weiter strömen ließ, bis sie plötzlich in hohen Gräben emporstiegen, in Wasserfällen weiter rauschten, und 34 Ebd., S. 295.

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Abb. 7: Giovanni da Bologna, Kolossalfigur des Apennin im Park der Villa Medicea, 1580/81. Aus: Stiftung Schloss und Park Benrath u.a.: Wunder und Wissenschaft, S. 140 überall Leben, sanftes Gemurmel und Kühlung verbreiteten. Ewiges Grün deckte diese Pinien und Lorbeern und Steineichen. [...] Kurz, Pratolino erinnerte an die wollüstigen Landhäuser der Beherrscher des alten Roms, die Epicurs Rath befolgend, dort gern den Purpur gegen Blumenkränze vertauschten.«35

Leo von Klenze und der Anonymus zeigen in ihrer Begeisterung für den Garten eine Sensibilität für die malerischen Bilder, die Natürlichkeit und Wildheit, die ein Landschaftspark gemäß Sckell und Hirschfeld besitzen soll. Was ihnen an Pratolino gefällt ist also die »Heimlichkeit«, das »Malerische« und offenbar das romantische Gefühl, das es in ihnen auslöst. Sie begegnen dem Garten mit dem Blick ihrer Zeit. Darüber hinaus würdigen sie die Bedeutung des Parks für die Gartenkunst und die Leistungen der Künstler, die an seiner Gestaltung mitwirkten. 35 [Anonymus:] »Pratolino«, in: August von Kotzebue (Hg.), Die Biene oder neue kleine Schriften 3 (1809), S. 62-92, hier S. 75f.

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Abb. 8: Giovanni Guerra, Zeichnung der Cupido-Grotte im Park Villa Medicea, um 1598. Aus: Stiftung Schloss und Park Benrath u.a.: Wunder und Wissenschaft, S. 147 Entgegen der Befürchtung von Klenzes hat einiges, was einst unter Francesco erbaut wurde, die radikale Umgestaltung Pratolinos in einen Landschaftsgarten überlebt. (Abb. 7, 8) Neben Giambolognas Riesenstatue des Apennin, der aus Felsen und Stalaktiten zusammengesetzt schien, blieben dem Garten der Jupiterbrunnen, die Peschiera della Maschera, der Mugnone-Brunnen, die Kapelle von Buontalenti und die Cupido-Grotte erhalten. Erneut lohnt es sich zu fragen, warum vorwiegend die Gartengebäude in die neuen Anlagen übernommen, anderes jedoch, etwa die meisten Grotten mit Automaten, nicht wiederhergestellt wurden. Der schlechte Zustand der künstlichen Grotten und die damit verbundenen hohen Kosten des Wiederaufbaus scheinen den Bauherren des 19. Jahrhunderts offenbar die Entscheidung gegen ihren Erhalt aus den Händen genommen zu haben. Andere Bauwerke waren in einem besseren Zustand und wurden in den Landschaftspark integriert.

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Am Beispiel des Apennin ist ablesbar, dass nicht nur sein Erhaltungszustand, sondern auch seine Wertschätzung als Kunstwerk und Monument des Parks für seinen Erhalt gesprochen haben mögen.36 Der Apennin galt um 1800 noch als ein Zeichen hoher Kunstfertigkeit.37 Insbesondere sein Changieren zwischen natürlichem Felsgestein und von Menschen geschaffener Skulptur beeindruckte die Besucher ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts besonders und wird in Reisebeschreibungen dieser Zeit wiederholt thematisiert. Auch der bereits erwähnte Gartenbesucher Charles-Henri de Blainville bewertet den Apennin als ein herausragendes Meisterwerk und behauptet nichts Vergleichbares jemals gesehen zu haben: »Je weiter wir von dem rauhen Haufen von Felsen zurück gingen, je mehr entwickelte sich unsern Augen die Gestalt der Statue, und wir musten die gute Wirkung rühmen, die sie that. Es ist ein Werk des durch so viele Verdienste berühmten Johans von Bologna.«38

Wasser brauste, wie aus einer Quelle stammend, den, wie aus natürlichen Felsformationen geformten, Körper der Figur hinunter und ergoss sich in ein nunmehr ruinöses Bassin, dem man jedoch die klar eingefassten Konturen und damit die Künstlichkeit des Gebauten noch deutlich ansah. Etwa dreißig Jahre später stimmt die Ansicht der Riesenstatue Ernst Moritz Arndt bedenklich, denn durch die offensichtliche Vernachlässigung könne der Apennin der Anlage verloren gehen. Die Wertschätzung dieses kunstvollen Wahrzeichens des Parks ist in seiner Italienreisebeschreibung nicht zu überlesen: »Unten [im Innern des Apennin] sind Grotten, mit Muscheln und Gestein künstlich und zierlich besprengt, es rieseln kleine Wasserröhren und Sprützen, und in seinem Bauche selbst ist ein niedliches Zimmerchen für eine Neriede, mit Perlmutter, Muscheln Tuffstein und kleinen Wasserspielen geschmückt. Aber

36 In seiner Beschreibung des Parks beklagt Ernst Moritz Arndt: Bruchstücke aus einer Reise durch einen Theil Italiens im Herbst und Winter 1798 und 1799, Leipzig 1801, S. 201, den Verfall der Villa und des Parks. Unter anderem bemängelt er, die Verkleidung des Apennins bröckele ab und sei von Gras und Moos bedeckt. 37 Philippe Florent Ouisieux Maihows: Voyage En France, En Italie Et Aux Isles de L’Archipiel Ou Lettres Crites D Plusieurs Endroits de L’Europe Et Du Levant En 1750, Et Avec Des Observations de L’Auteur Sur Les Diverses Productions de La Nature Et de L’Art, frz. Übers. des engl. Orig., Band 3, Paris 1763, S. 304-306. 38 Blainville: Reisebeschreibung, S. 384f.

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Die Umstrukturierungen des Weißensteiner Parks in Kassel auch dieses einzige Denkmal wird bald zusammenfallen, woran Johann von Bologna so lange gearbeitet hat.«39

Bewahrung des Bestehenden – Schaffung neuer Deutungshorizonte Der Exkurs nach Pratolino zeigt, dass das Interesse Ferdinands III. und Leopolds II. von Habsburg-Toskana an einzelnen Bauten ähnliche Gründe gehabt haben mochte, wie die Wertschätzung, die die Hessischen Landgrafen für das Oktogonbauwerk besaßen. Beide Bauten wiesen Merkmale auf, die sie für ihre späteren Besitzer als erhaltenswert, repräsentativ und vereinbar mit dem neu entstehenden Landschaftspark erscheinen ließen. Die Riesenstatue des Apennin war das weithin bekannte Wahrzeichen des Gartens, das Arndt als Denkmal bezeichnete. Darüber hinaus vereinte sie mit ihrem Changieren zwischen natürlichem Felsgestein und gestalteter Figur Aspekte in sich, die sie in den Landschaftspark integrierbar machte. Das verfallene Bassin, in das sich die Wasser, die aus dem Apennin strömen, einst ergossen, wurde in einen Teich umgestaltet, um dadurch größere Naturnähe zu erlangen. Das Bild der Natur, die sich die ihr einst durch Kunst entzogenen und überformten Bereiche zurückerobert, konnte dem Konzept einer Umgestaltung in einen Landschaftspark durchaus entsprechen. Obwohl die Villa und der Park über mehrere Jahrzehnte hinweg von der großherzoglichen Familie wenig Beachtung fanden, erinnerte man sich offenbar nun erneut ihres repräsentativen Potenzials. An den Ruhm, den der Park einstmals genoss und der unter anderem auf den außergewöhnlichen Grottenautomaten beruhte, sollte angeknüpft werden. Der Park sollte jedoch nicht restauriert und sein ursprünglicher Zustand wiederhergestellt werden, vielmehr wurden einzelne, herausragende Bauwerke als Verweise auf diese Zeit erhalten. In Kassel war das Oktogongebäude mit Herkules, Kaskaden, Bassins und Wasserspielen ein Wahrzeichen des Parks geworden, das sich durch Umdeutung seines einstmaligen Gestus der Naturbeherrschung in den neu entstehenden Landschaftspark integrieren ließ.40 Als ein weithin sichtbares Herrschafts-

39 Arndt: Bruchstücke, S. 201. 40 Jöchner: Geometrie oder Landschaft, S. 160ff., sieht in der Öffnung des Karlsberg zur Landschaft, wie sie in der eingangs erwähnten Stichserie Delineatio Montis

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Abb. 9: C. Hess, Der Innenhof der Löwenburg, 1805. Aus: Schmidt: Schloßpark Wilhelmshöhe, S. 97 zeichen war es erhaltenswert und konnte auch effektvoll in die Dienste der Nachfahren Karls gestellt werden. Durch den direkten Verweis auf den berühmten Erbauer diente das Oktagonensemble als Beleg für die Rechtmäßigkeit der Herrscherposition seiner Nachfolger überhaupt.41 Die an das Mittelalter gemahnende, als künstliche Ruine von Jussow geplante Löwenburg ist ein weiteres deutliches Beispiel für den Stellenwert, den die Legitimation der Herrschaft durch Rückgriffe auf die Vergangenheit auch für Wilhelm IX. besaß. (Abb. 9) Durch die Integration von Ausstattungselementen aus fünf Jahrhunderten, dem Anbringen von Jahreszahlen, Wappen

vermittelt wird, eine formale Voraussetzung für die Umgestaltung in einen Landschaftsgarten. Zudem seien die verwilderten italienischen Renaissancegärten, wie sie von englischen Reisenden im 18. Jahrhundert erlebt wurden, eine wichtige Quelle für Motive des Landschaftsgartens gewesen. 41 Selbst Jérôme Bonaparte nutzte den Karlsbau zu repräsentativen Zwecken. Auf dem Portrait des Königspaares von Fançois-Joseph Kinson von 1810 ist dieser deutlich im Hintergrund zu erkennen.

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Die Umstrukturierungen des Weißensteiner Parks in Kassel

Abb. 10: Mamorrelief mit der Einführung Kurfürst Wilhelms ins Elysium. Aus: Dötsch: Die Löwenburg, Tafel 149 und anderen mittelalterlichen Zeichen, die auf das vermeintlich Jahrhunderte andauernde Bestehen der Burg verweisen, wurde der Eindruck eines traditionsbehafteten Sitzes vermittelt. Aus dieser selbstgeschaffenen Tradition speiste sich der Herrschaftsanspruch Wilhelms, der sich als Nachfolger der heldenhaften Ritter als Beschützer der Untertanen inszenierte.42 Der Bezug zur Dynastie wird besonders in der Gruft der Kapelle der Löwenburg sichtbar, in der Wilhelm 1821 bestattet wurde. Dem bereits 1804 fertiggestellten, klassizistischen Marmorsarkophag an der östlichen Wand gegenüberliegend befindet sich ein reinweißes Marmorrelief, das die Einführung des verstorbenen Wilhelm ins Elysium thematisiert.43 (Abb. 10) Am rechten Bildrand befindet sich vor dem Hintergrund der angedeuteten Wilhelmshöhe die trauernde Hassia. Sie blickt auf Wilhelm, der seiner Wilhelmshöhe den Rücken zuwendet und ins Jenseits geleitet wird, in dem seine Mutter, sein als Kind verstorbener Sohn und sein Urgroßvater Landgraf Karl auf ihn warten. Die Integration Karls in das Relief stellt in eindrücklicher Weise dar, wie stark Wilhelm die Verbindung zu seinem berühmten Vorfahren suchte. Es wird deutlich, wie sehr die dynastische Legitimation von Bedeutung war und wel-

42 Siehe dazu ausführlich Anja Dötsch: Die Löwenburg im Schlosspark KasselWilhelmshöhe, Textband, Regensburg 2006, S. 11 und S. 84f. 43 Ebd., S. 67 und Tafel 149.

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che Wertschätzung Wilhelm Landgraf Karl und dessen Landschaftsbauwerk entgegenbrachte. Durch die Beibehaltung des zentralen Motivs des Wassers und durch die Verweise auf vorangegangene Baustile wurde das repräsentative Bauwerk mit seinen Kaskaden und Wasserspielen in den neu angelegten Landschaftspark am Karlsberg integriert. Wie bereits seine Vorgänger entschied sich auch Wilhelm IX. dafür, das Bauwerk aus dem frühen 18. Jahrhundert in seiner ursprünglichen Form zu erhalten und somit das etablierte Machtsymbol für die Dynastie in der Parkanlage zu bewahren. Darüber hinaus schrieb er seine eigenen Herrschaftszeichen in den von ihm geschaffenen Gartenraum ein. Mit seinen eigenen Bauprojekten versuchte Wilhelm IX. die dynastische Verbindung zwischen sich und dem Landgrafen Karl von Hessen-Kassel auch auf ästhetischer Ebene zu festigen.

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Der Landschaftsgarten als Herrschaftsraum Aufklärung und staatliche Ordnung in Wörlitz INA MITTELSTÄDT

1. Die Rezeptionsgeschichte des Dessau-Wörlitzer ›Gartenreiches‹ Der Wörlitzer Park gehört zu den Berühmtheiten des 18. Jahrhunderts; jeder Gebildete scheint ihn als das Muster eines englischen Landschaftsgartens und als das Symbol für die Erfüllbarkeit aufklärerischer Utopien gekannt zu haben. Die Menge der überlieferten Rezeptionszeugnisse zum Wörlitzer Park und zum Wirken seines Schöpfers Fürst Leopold III. Friedrich Franz von AnhaltDessau ist vermutlich einzigartig.1 Es sind über 40 längere Zeugnisse bekannt, in denen es um Wörlitz geht, die in der Zeit zwischen 1776 und 1816 entstanden sind und zeitnah veröffentlicht wurden; dazu kommen ausführlichere pri-

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Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau (1740-1817), hier als Leopold Friedrich Franz bezeichnet, so wie er seine Briefe unterschrieben hat (meistens mit dem Kürzel LFF). Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, DE, Abt. Dessau, A 10: Correspondenz von Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau. – Ein sehr hilfreiches Mittel zur Erkundung der Rezeptionsgeschichte des Dessau-Wörlitzer ›Gartenreichs‹ ist die von Erhard Hirsch zusammengetragene Quellensammlung: Erhard Hirsch (Hg.): Von deutscher Frühklassik. Dessau-Wörlitz im Urteil der Aufklärung. 5 Bände (= Zwischen Wörlitz und Mosigkau, Bände 55,1-5; DessauWörlitz-Beiträge, Bände XI,1-5), Dessau 2003-2008. Hier wird indes – so weit möglich – aus den Originalquellen zitiert.

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vate Äußerungen in Tagebüchern oder Briefen von 26 weiteren Personen und zahllose kürzere Erwähnungen. An diesen Zeugnissen fällt zunächst eines auf: Während Adelige schon in den 1770er Jahren nach Anhalt-Dessau gereist sind, um den Wörlitzer Park zu besichtigen, war er für bürgerliche Anhalt-Dessau-Reisende zunächst nur eine Nebenattraktion, etwas, das man auch noch besuchte, wenn man schon einmal in Anhalt-Dessau war, aber kein eigenes Reiseziel.2 Im Laufe der nächsten Jahrzehnte hat sich, wie der erste Teil dieses Aufsatzes zeigen wird, diese Sicht auf den Wörlitzer Park stark gewandelt. Den Konjunkturen in der Rezeption entsprechen allerdings keine ähnlich signifikanten Veränderungen in der Gestaltungsweise des zwischen 1764 und 1810 entstandenen Parks, so dass die Vermutung aufgestellt werden kann, dass die Zeitgenossen den Park nicht objektiv, sondern mit einem durch verschiedene Prämissen und Vorannahmen gelenkten Blick betrachtet haben. Das erste gedruckte Zeugnis, das den Park erwähnt – Johann Gottlieb Schummels Fritzens Reise nach Dessau (1776) – stellt eigentlich eine Werbeschrift für das Philanthropin dar, eine seinerzeit Aufsehen erregende Dessauer Reformschule. Das erzählende fiktive Kind Fritz berichtet in Schummels Text begeistert von der im Mai 1776 vom Philanthropin durchgeführten öffentlichen Prüfung. Ein Ausflug nach Wörlitz wird danach spontan angehängt; dort ist der Erzähler vor allem von den Bildungsmöglichkeiten beeindruckt, die die im Schloss zu findende Kunstsammlung bietet. Es ist offensichtlich, dass der nahegelegene Park hier nur als ein weiteres ›Verkaufsargument‹ für das Philanthropin erwähnt wird.3 Dem Philanthropin widmen sich auch die 1778 in Halle erschienenen Bemerkungen auf einer Reise in Briefen an eine Freundin. Ihr anonymer Verfasser schildert einen mehrtägigen Aufenthalt in Dessau und einen kurzen Ausflug nach Wörlitz, wo er anscheinend lediglich das Schloss besichtigt hat. Den

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Zu den frühen adeligen Besuchern des Parks, von denen eine Beschreibung überliefert ist, gehören Ernst Ahasverus Graf von Lehnsdorff und Ernst Traugott von Gersdorf, die den Wörlitzer Park 1777 bzw. 1779 besucht und ihre Eindrücke in ihren Tagebüchern festgehalten haben. Vgl. Hirsch: Von deutscher Frühklassik, Band 1, Sp. 82ff. und Sp. 96ff. Vgl. Johann Gottlieb Schummel: Fritzens Reise nach Dessau, Leipzig 1776, S. 94ff.

Der Landschaftsgarten als Herrschaftsraum

Park erwähnt er nur am Rande, obwohl dort mittlerweile schon viel zu sehen war. 4 Eine Interessenverschiebung lässt sich im Sendschreiben von einer kleinen, in die Fürstl. Anhaltischen Gegenden, gethanen Reise (1781) des Oberwiederstedter Pfarrers Johann Christoph Meinecke erkennen. Er gehört zu den ersten bürgerlichen Anhalt-Dessau-Besuchern dieser Zeit, die nicht in erster Linie des Philanthropins, sondern des Wörlitzer Schlosses wegen gekommen sind.5 Meinecke beschreibt neben dem Schloss auch relativ detailliert den Park. Dabei vermittelt er einen guten Eindruck davon, wie Gartenanlagen vor der Durchsetzung der Ideen der ›Gartenrevolution‹ – von denen er offensichtlich unberührt ist – wahrgenommen wurden.6 Der Verfasser kennt keine ideologische Frontstellung von Landschaftsgarten und formalen Gartenanlagen; für ihn besteht der Unterschied nur in praktischen Vorteilen des ersteren: »Sonst habe ich an der Art französischer und deutscher Gärten, mit hohen Hekken, geschnittenen Wänden, figurirten Blumenbeeten, bedekten und mit Gitterwerk versehenen Gängen und dergleichen mehr Vergnügen gefunden; aber hier ist mein Urtheil anders gestimmt worden. Gärten nach dieser Anlage haben noch den Vortheil, daß man leicht neue Veränderungen anbringen kann, da jene so bleiben müssen, wie der erste Zuschnitt gemacht worden.«7 4

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Vgl. [Anonym:] Bemerkungen auf einer Reise in Briefen an eine Freundin, Halle 1778, S. 33-89. Zu sehen waren schon das Schloss, das Nymphäum, der Englische Sitz, die Goldene Urne, das Rote Wallwachhaus, Küchengebäude und Marstall, ein Vorläufer des Gotischen Hauses, einige Brücken sowie verschiedene andere Kleinarchitekturen. Johann Christoph Meinecke: »Sendschreiben von einer kleinen, in die Fürstl. Anhaltischen Gegenden, gethanen Reise«, in: Neueste Mannigfaltigkeiten 4 (1781), S. 641-652 und S. 657-667. Vgl. zur ›Gartenrevolution‹ die Studien von Hans von Trotha, Michael Gamper und Ana-Stanca Tabarasi. – Hans von Trotha: Angenehme Empfindungen. Medien einer populären Wirkungsästhetik im 18. Jahrhundert vom Landschaftsgarten bis zum Schauerroman, München 1999, Kap. 2; Michael Gamper: »Die Natur ist republikanisch«. Zu den ästhetischen, anthropologischen und politischen Konzepten der deutschen Gartenliteratur im 18. Jahrhundert, Würzburg 1998; Ana-Stanca Tabarasi: Der Landschaftsgarten als Lebensmodell. Zur Symbolik der »Gartenrevolution« in Europa, Würzburg 2007. – Diese Arbeiten rekonstruieren, wie und aus welchen Überzeugungen, Motiven, Interessen und vor welchen philosophischen und politischen Hintergründen dem Landschaftsgarten im 18. Jahrhundert eine so große Bedeutung beigemessen wurde. Meinecke: »Sendschreiben von einer kleinen, in die Fürstl. Anhaltischen Gegenden, gethanen Reise«, S. 660.

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Noch bis 1784 finden sich Zeugnisse, die von den sich seit den 1770er Jahren etablierenden Ideen der ›Gartenrevolution‹ unbeeinflusst sind. Dazu gehören die von einem »Chur-Hannöverischen Bedienten« verfassten, sehr ironischen Beobachtungen über verschiedene Gegenstände auf einer Reise im Sommer 1783. Der Verfasser ordnet den Wörlitzer Park der traditionellen adeligen Repräsentationskunst zu und vergleicht ihn mit den zuvor besuchten formalen Gärten von Potsdam und Dresden.8 Nur zehn Jahre später war eine solche Wahrnehmung nicht mehr selbstverständlich. Im Wörlitzer Park sieht der Verfasser der Beobachtungen nur einen neuen Stil, aber keine neue Weltanschauung oder gar ein ›Symbol für Freiheit‹: »So wie Friedrich Königlich, so hat sein minder mächtiger Nachbar Fürstlich gebauet und ausgeschmücket.«9 Die Sichtweise des Hannoverschen Hofangestellten unterscheidet sich dabei nicht von der des Pfarrers Meinecke. Einen Wendepunkt in der Rezeptionsgeschichte des Wörlitzer Parks bzw. des Dessau-Wörlitzer ›Gartenreiches‹ markiert der 1784 im Deutschen Museum abgedruckte Reisebrief eines unter dem Pseudonym Anil schreibenden Verfassers.10 Ziel seiner Anhalt-Dessau-Reise waren Schlösser und Parks; sein von der Aufklärung geprägter Blick richtet sich aber auch auf die Landschaft sowie die sozialen Zustände im Fürstentum:11 »Zuerst ging ich nach meiner Gewohnheit, einige Tage in der kunstlosen Natur, um meinen Geschmack an natürlicher Schönheit recht fest, und das Gefühl für ihre wahre Größe und liebenswürdige Einfalt, recht lebendig zu machen. Hernach mit diesem Probierstein versehen, fing ich an, die Anlagen der Kunst, die Landhäuser und Gärten des hiesigen fürstlichen Hauses zu besehen. Luisium ist ein Garten und ein Landhaus für die Fürstin. Der Weg hinaus ist artig, schön genug um zu gefallen, doch nicht so anziehend, daß er den willkührlichen Gang meiner Gedanken unterbrochen hätte. Ich hatte in diesen Tagen so schöne und fruchtbare Landschaften, und – welches einem Reisenden, der aus Sachsen komt, immer auffallen muß – so wenig Dörfer, und in den Dörfern, so wenig

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Beobachtungen über verschiedene Gegenstände auf einer Reise im Sommer 1783 nach Pyrmont, Braunschweig, Lauchstädt, Leipzig, Dresden, Töplitz, Berlin, Potsdam, Dessau und Bremen. In Briefen von einem Chur-Hannöverischen Bedienten, Hannover 1784. 9 Ebd., S. 65. 10 Anil: »Auszüge aus Briefen. Dessau, den 29. Mai 1784«, in: Deutsches Museum 7,2 (1784), S. 177-181. 11 Ebd., S. 178f.

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Der Landschaftsgarten als Herrschaftsraum wohlhabende Bauern gesehen, daß ich darüber nachdenkend geworden war. O ihr Großen, dacht’ ich, welch ein Unterschied ist doch zwischen einem menschlichen Körper mit Herz und Leben, und einer todten unempfindlichen Gestalt von Marmor oder Stein!«

Daraufhin kritisiert der Verfasser die Mächtigen der Welt, weil sie sich zu wenig um das Wohl ihrer Untertanen und zu sehr um »Ruhm und Grösse« kümmerten, die sie durch »Bauen und pflanzen« zu erwerben suchten.12 Er lehnt repräsentatives Bauen und Gartengestalten ab, weil er die dafür nötigen Mittel lieber auf die Untertanen angewendet sähe. Den Dessauer Fürsten nimmt er zwar aus, weil dieser sich trotzdem (wie etwa mit dem Philanthropin oder mit Abgabenerlässen) um das Wohl der Einwohner seines Landes bemühte. Bis zum Betreten des ebenfalls vom Dessauer Fürsten angelegten Landsitzes der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau (Abb. 1) ist der Reisende Anil jedoch davon überzeugt, dass das Gemeinwohl nur durch Gesetze und Wirtschaftsförderung bewirkt werden könne – nicht, wie später allgemein geglaubt wird, durch Gärten. Seine Meinung ändert sich schlagartig im Landschaftsgarten des Luisiums: »Mit dieser Standrede war ich eben fertig, als ich ins Luisium trat. Eine schöne Stimmung bemeisterte sich gleich meiner ganzen Seele. Alle meine Sinne genossen auf einmal; und doch war ich mir keines Gedankens und keines Sinnes bewußt. […] So war ich bei lachenden Blumen, bei hellem Wasser, bei unzählichen angenehmen Gegenständen vorbei, durch ein heiliges Dunkel, bis an eine Einsame Grotte gekommen. Hier wurd’ ich dann, nach und nach, mich meines Glücks und der Gegenstände um mich her bewußt. Mein Bewußtsein fing sich nach einem Dank zu Gott an, für die Gabe, welche er den Menschen verlieh, daß sie sich die Erde so schön machen können.« 13

Bemerkenswert ist der Schluss, den Anil aus seinem Erlebnis des Luisiums zieht, da er mit der bis dahin üblichen formalästhetischen Betrachtungsweise bricht. Sein Bewertungskriterium ist die Wirkung des Parks auf seine Empfindungen – eine neue und deshalb noch recht vage formulierte Idee:

12 Ebd., S. 179. 13 Ebd., S. 179f.

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Abb. 1: Luisium (© Ina Mittelstädt) »Bewunderst Du nicht mit mir den Geschmack des Fürsten, der gerade so diesen Garten schuf, wie er sich für eine so zarte feine Seele schickt, ihn so schuf, wie er sein muß, wenn er die Mutter des Landes, zur vorzüglichen Güte und zum Wohlwollen des Herzens, zur größten Delikatesse der Empfindung stimmen soll? […] Bei meinem Rückwege wandte ich mich wieder an die Grossen der Erde; allein in einer andern Manier. Ich segnete die Guten unter ihnen, welche die Schönheiten der Erde zu nuzen suchen, um ihren Herzen eine Stimmung zu geben, welche sich für die Besten und Weisesten unter den Menschen schickt […]. Und es ist doch auch nichts Geringes, wenn man diesem oder jenen schuldlosen Leidenden Trost und Erquickung gegeben, einen andern zu seinen Gesinnungen gestimt, einen dritten zum Leben des Schöpfers ermuntert hat!«14

Das Neue an Anils Wahrnehmung wird etwa beim Vergleich mit dem im Jahr zuvor veröffentlichten Reisebericht von Johann Wilhelm von Archenholz deutlich, der noch keinen Zusammenhang zwischen der von ihm gelobten »Freyheit im Denken und Handeln« in Anhalt-Dessau und den dortigen Land14 Ebd., S. 180f.

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Der Landschaftsgarten als Herrschaftsraum

schaftsgärten sah. Der von ihm erwähnte Wörlitzer Park ist für ihn nur ein »Vorzug« unter anderen.15 Anils Eloge auf die Herrscher, die »die Schönheiten der Erde zu nuzen suchen, um ihren Herzen eine Stimmung zu geben, welche sich für die Besten und Weisesten unter den Menschen schickt«16, und sein Lob dafür, dass der Dessauer Fürst sich nicht nur um das äußere, sondern auch das ›innere‹ Wohl der Menschen kümmere, nimmt zentrale Ideen der ›Gartenrevolution‹ auf, wie sie Christian Cay Laurenz Hirschfeld mit seiner zwischen 1779 und 1785 erschienenen fünfbändigen Theorie der Gartenkunst für den deutschsprachigen Raum zu kanonisieren begann. Die »Bestimmung und Würde der Gärten« definiert Hirschfeld im ersten Band der Theorie gleich zweifach. Gärten beeinflussten erstens das politische Ansehen eines Landes, und zweitens kultivierten sie ihre Besucher: »Landhäuser und Gärten sind Zeugen des öffentlichen Geschmacks, die niemals der Politik gleichgültig seyn sollten, nicht so wohl, weil von ihrer Beschaffenheit ein Theil der Achtung oder des Tadels für eine Nation abhängt, als vielmehr, weil auch diese Gegenstände eine sittliche Gewalt über die Gemüther der Bürger haben.« 17

Damit gesteht Hirschfeld der herrschaftlichen Gartenkunst zwar weiterhin eine repräsentative Funktion zu, deutet diese jedoch in einem entscheidenden Punkt um: Er behauptet nämlich, dass Gärten nicht nur zum höheren Ansehen allein der Herrscher, sondern der ganzen »Nation« beitragen.18 Damit erklärt er die Gartenkunst zu einem Teil der Regierungsverantwortung der Herrscher, eine Wendung, die nicht unmittelbar einleuchtet. Gartenliebhaberei hat es zwar sicherlich immer gegeben und als Symbol für das Paradies haben Gärten auch 15 [Johann Wilhelm] v[on] A[rchenholz]: »Schreiben eines Reisenden an seinen Freund. Dessau, 12. Junius 1783«, in: Litteratur und Völkerkunde 2 (1783), S. 127131, hier S. 130 und S. 128. 16 Anil: »Auszüge aus Briefen«, S. 180. 17 Christian Cay Laurenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, Band 1, Leipzig 1779, S. 157. 18 Später wurde daraus eine Debatte über einen deutschen Gartenstil. Vgl. dazu Adrian von Buttlar: »Das ›Nationale‹ als Thema der Gartenkunst des 18. und frühen 19. Jahrhunderts«, in: Gert Gröning/Uwe Schneider (Hg.), Gartenkultur und Nationale Identität. Strategien nationaler und regionaler Identitätsstiftung in der deutschen Gartenkultur, Worms 2001, S. 21-34; Clemens Alexander Wimmer: »Die Fiktion des deutschen Nationalgartens im 19. Jahrhundert«, in: Ebd., S. 35-51.

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in der gesamten Neuzeit Faszinationskraft entwickelt. Eine solche politische Aufladung – von Seiten der Gartenbetrachter, nicht wie bis dahin der Gartenbesitzer – verwundert jedoch, zumal Hirschfeld bis zur Veröffentlichung seiner Gartentheorie weder in England gewesen ist noch bedeutendere deutsche Landschaftsgärten gesehen hat oder an der Gestaltung einer entsprechenden Anlage beteiligt gewesen war.19 Der Grund für die im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts zu verzeichnende und sich besonders mit dem Namen Hirschfeld verbindende Garteneuphorie ist denn auch eine Idee, die mit realen Gärten zunächst einmal wenig zu tun hat. Sie geht auf naturphilosophisches Denken zurück20 und gewann für Hirschfeld auch nicht beim Besuch eines Landschaftsgartens, sondern während eines Aufenthaltes in der Schweiz an Plausibilität. Die Naturerlebnisse, die er dort hatte, brachten ihn zu der Überzeugung, dass eine schöne Landschaft wie kaum etwas anderes Menschen positiv beeinflussen könne, wie er es 1767 in seiner Schrift Das Landleben ausformuliert hat.21 Dem liegt der zu dieser Zeit weit verbreitete Glaube zugrunde, dass über die Empfindungen eine Aufklärung des Geistes möglich sei.22 Hirschfeld übertrug diese Natureuphorie auf die Gartenkunst und behauptete, dass zur Einübung eines sittlich richtigen Empfindungshorizonts nichts so geeignet wäre wie der Besuch eines Land19 Ausführlicher und genauer belegt finden sich diese Überlegungen zu Hirschfeld in meinem Aufsatz: »Idylle als Politik. Wörlitz und Puáawy – Hochadelige Gartenkunst in Mitteleuropa um 1800«, in: Walter Schmitz/Matthias Weber/Jens Stüben (Hg.), Adel in Schlesien. Band 3: Adel in Schlesien und Mitteleuropa. Literatur und Kultur von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, (= Schriften des Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa; 48), München 2013, S. 181-217. Vgl. zu den biographischen Hintergründen Wolfgang Kehn: Christian Cay Laurenz Hirschfeld 1742-1792. Eine Biographie, Worms 1992, S. 92ff. 20 Vgl. zur Ideengeschichte der Garteneuphorie im 18. Jahrhundert Tabarasi: Der Landschaftsgarten als Lebensmodell und Heinz-Joachim Müllenbrock: Der englische Landschaftsgarten des 18. Jahrhunderts und sein literarischer Kontext, Göttingen 1986. 21 Siehe dazu Kehn: Christian Cay Laurenz Hirschfeld, S. 41ff.; Michael Breckwoldt: »Das Landleben« als Grundlage für eine Gartentheorie. Eine literaturhistorische Analyse der Schriften von Christian Cay Lorenz Hirschfeld, München 1995, v.a. S. 15 und S. 47ff. 22 Vgl. zu den theoretischen Grundlagen der Empfindsamkeit Gerhard Sauder: Empfindsamkeit, Band 1, Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart 1974. – Zur diskursiven Ausprägung siehe Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988. – Zur Wirkungsästhetik vgl. Trotha: Angenehme Empfindungen, S. 70ff.

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schaftsgartens, weil in ihm alle die Elemente der Natur versammelt werden können, die die besten und sittlichsten Empfindungen auslösen.23 Hirschfeld und seine Nachfolger sahen folglich im Landschaftsgarten weniger ein Werk der Kunst als konzentrierte Natur. Dieses Konzept des Landschaftsgartens als Instrument zur niedrigschwelligen und angenehmen Selbstaufklärung hat in der Folge in der deutschen Literatur zu einer enormen Gartenbegeisterung geführt. Die Forderung, dass ein Garten vor allem Empfindungen auslösen müsse, führte allerdings dazu, dass verstandesmäßig zu entschlüsselnde Botschaften – also die traditionelle ikonographische Gestaltungsweise – abgelehnt wurden.24 Der Sinn eines Gartens sei – so die Überzeugung der ›gartenrevolutionären‹ Autoren – nur noch über die individuellen Empfindungen seiner Besucher zu erschließen. Herrschafts- und Selbstrepräsentation, denen die Gartenkunst traditionell immer wieder gedient hatte, ist indes bei einer solchen Gartenauffassung unmöglich. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass die üblicherweise adeligen Schöpfer von Kunstgärten dieses Interesse plötzlich aufgegeben haben sollen. Nicht zu vergessen ist außerdem, dass auch die Entstehung des landschaftlichen Gartenstils in England zunächst auf politische Partikularinteressen zurückgeht, nicht auf den idealistischen Wunsch nach der Aufklärung der gesamten Menschheit.25 Es gab also vermutlich einen Unterschied in den Eigenlogiken von Gartentheorie und Gartenpraxis in dieser Zeit. Die ›Gartenrevolution‹ war damit indes ›revolutionär‹, da sie einen radikalen Blickwechsel vollzog: Herrscher konnten ihrer Auffassung zufolge Ansehen eben nicht mehr durch die in ihrem Garten entfaltete besondere Pracht oder Kunstfertigkeit erwerben, sondern nur noch, wenn ihre Gärten Empfindungen auslösen, die die Aufklärung der Menschen (der »Nation«) und damit auch der ihre eigenen Gärten nutzenden Herrscher selbst befördern. Diese Überzeugung von der aufklärenden Wirkung der im Landschaftsgarten zu erlebenden Natur hat sich anscheinend zumindest bei den schreibenden Zeitgenossen schnell durchgesetzt. Während der Dessauer Fürst in den 1770er und frühen 1780er Jahren in gedruckten Rezeptionszeugnissen noch vor allem für seine Unterstützung des Philanthropins, seine aufklärerische Gesetzgebung und seine Liebenswürdigkeit gelobt wird, entwickelte sich in den 1780er Jah23 Vgl. Breckwoldt: »Das Landleben«, S. 83ff. 24 Vgl. für das und das folgende Gamper: »Die Natur ist republikanisch«, S. 201ff. 25 Vgl. zur Entstehungsgeschichte des Landschaftsgartens in England Adrian von Buttlar: Der englische Landsitz 1715-1760. Symbol eines liberalen Weltentwurfs, Mittenwald 1982; Tim Richardson: The Arcadian Friends. Inventing the English Landscape Garden, London 2007.

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ren der Wörlitzer Park (sowie das Luisium) zu einem wichtigen Argument für eine positive Bewertung des Fürsten. Begeisterung weckte dabei vor allem auch die Tatsache, dass Leopold Friedrich Franz nicht nur Gärten angelegt hat, sondern sich um eine gartengleiche Kultivierung seines gesamten Landes bemüht hat.26 Dass das »ganze schöne Land […] nur ein einziger Garten zu seyn« scheint, wie es beispielsweise in den 1788 erschienenen Reisen des grünen Mannes durch Deutschland und Ungarn heißt, ist ein in den Rezeptionszeugnissen immer wiederkehrender Topos.27 Fraglos war Leopold Friedrich Franz ein aufgeklärter und für die Aufklärung besonders engagierter Fürst. Doch was heißt Aufklärung hier genau? Hatten er und die Autoren, die über ihn geschrieben haben, dieselbe Vorstellung vom Sinn, Zweck und Ziel von Aufklärung? Die ›Gartenreich‹-Forschung ist bisher meist davon ausgegangen.28 Sicherlich bestand auch Konsens über 26 Vgl. zu den deutlich an den Ideen der Aufklärung orientierten Reformbemühungen des Dessauer Fürsten Erhard Hirsch: Die Dessau-Wörlitzer Reformbewegung im Zeitalter der Aufklärung. Personen-Strukturen-Wirkungen, Tübingen 2003. Seine zahlreichen Aufsätze zu einzelnen Aspekten der Dessau-Wörlitzer Geschichte sind jüngst in einem Band zusammengefasst worden, vgl. Ders.: Kleine Schriften zu Dessau-Wörlitz, Halle a.d. Saale 2011. 27 [Anonym:] Reisen des grünen Mannes durch Deutschland und Ungarn, Halle 1788, S. 16. Vgl. außerdem: Christian Ulrich Detlev von Eggers: »Briefe über eine Reise nach Dessau im Jahre 1780«, in: Deutsches gemeinnütziges Magazin 1 (1791), S. 127-160 und S. 265-288, hier S. 131f; Archenholz: Briefe eines Reisenden, S. 128; [Anonym:] Meine Reise im Wonne u. Brach Mond 1792, Berlin 1792. Zit. n. Hirsch: Von deutscher Frühklassik, Band 3, Sp. 460; Andreas Riem: Reisen durch Deutschland, Frankreich, England und Holland in verschiedener, besonders in politischer Hinsicht, Erster Band, Eigenverlag 1797. Zit. n. ebd., Sp. 515; Karl Gottlob Schelle: Die Spatziergänge oder die Kunst spatzieren zu gehen, Leipzig 1802, Widmung. Zit. n. ebd., Band, Sp. 765. Ähnlich in [Anonym:] Triumph der schönen Gartenkunst, Leipzig 1804. Zit. n. ebd., Sp. 735; Johann Volkmar Sickler: »Beyspiele zur Beförderung der Obstkultur zum Besten der Länder durch Vorgang seiner Fürsten«, in: Der teutsche Obstgärtner 12 (1799). Zit. n. ebd., Sp. 753; Johann Friedrich Droysen: Bemerkungen gesammelt auf einer Reise durch Holland und einen Theil Frankreichs im Sommer 1801, Göttingen 1802. Zit. n. ebd., Sp. 764; Johann Kaspar Häfeli: Erinnerungen an einige Gegenden um Dessau und Wörlitz von dem sel. Superint. Dr. Häfeli zu Bernburg vorgelesen zu Bremen in der literarischen Gesellschaft Freytags am 23. November 1798. Zit. n. ebd., Band 3, Sp. 624; [Anonym:] »Briefe auf einer Reise nach Hamburg [1799]«, in: Hesperus 6,3 (1815). Zit. n. ebd., Sp. 658. 28 Vgl. etwa Erhard Hirsch: »Utopia realisata. Utopie und Umsetzung: Aufgeklärthumanistische Gartengestaltung in Anhalt-Dessau«, in: Richard Saage/Eva-Maria Seng (Hg.), Von der Geometrie zur Naturalisierung. Utopisches Denken im 18. Jahrhundert zwischen literarischer Fiktion und frühneuzeitlicher Gartenkunst, Tü-

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die Vernünftigkeit von Wohlstand, Sicherheit und zumindest einigen Freiheiten. Es ist jedoch anzunehmen, dass sich die Vorstellungen des Fürsten und vieler ›Gartenreich‹-Besucher in einem zentralen Punkt unterschieden: Es war offensichtlich nicht im Interesse des Fürsten, seine Untertanen zu mündigen Bürgern zu machen, die seine Machtausübung hätten hinterfragen und kritisieren oder gar selbst Verantwortung für sich hätten fordern können. Eben als solche mündigen Bürger sahen sich aber im Grunde die meisten der hier zitierten Autoren und von einem solchen Menschenbild gingen sie auch aus. Dass diese Differenz erkannt und möglicherweise als problematisch angesehen wurde, ist allerdings in den Rezeptionszeugnissen höchstens andeutungsweise zu erkennen. Die Zeugnisse der 1780er Jahren zeigen eine ungebrochene Überzeugungskraft der Ideen der ›Gartenrevolution‹. In den 1790er Jahren erreichte die Begeisterung für das Dessau-Wörlitzer ›Gartenreich‹ dann ihren Höhepunkt – freilich vor allem, weil es als eine friedliche Reformalternative zum chaotischen und gewaltvollen Umsturz in Frankreich wahrgenommen wurde, wie Michael Niedermeier argumentiert hat.29 Die Euphorie, mit der diese Alternative in den 1790er Jahren gefeiert wurde, schlug indes schon bald nach 1800 in Desinteresse um.30 Die Gründe dafür sind bis heute nicht klar. bingen 1999, S. 151-179; ders.,: »Hortus didactus. Der Garten als permanente moralische Anstalt. Der Dessau-Wörlitzer Kulturkreis – aufgeklärte gebaute ›Pädagogische Provinz‹«, in: Rudolf W. Keck (Hg.), Spätaufklärung und Philanthropismus in Niedersachsen. Ergebnisse eines Symposions, Hildesheim u.a. 1993, S. 285301; Frank-Andreas Bechtoldt/Thomas Weiß (Hg.): Weltbild Wörlitz. Entwurf einer Kulturlandschaft, Ostfildern 1996; Kulturstiftung DessauWörlitz (Hg.): Unendlich schön. Das Gartenreich Dessau-Wörlitz, Berlin 2006. Siehe auch: Horst Möller: »Europäische Kultur im Fürstentum Anhalt-Dessau. Fürst Franz und die Wörlitzer Anlagen«, in: Dieter Albrecht/Karl Otmar Freiherr von Aretin/Winfried Schulze (Hg.), Europa im Umbruch 1750-1850, München 1995, S. 229-240. 29 Michael Niedermeier: »Arkadien als Alternative. Wörlitz und die arkadische Parthie im Kontext europäischer Gartenentwicklung«, in: »... Mittelpunkt des Einfachen und Erhabenen.« Erhard Hirsch zum 80. Geburtstag, (= Neue Beiträge zum Dessau-Wörlitzer Kulturkreis; I), Sandershausen 2008, S. 131-152, hier S. 135. Hingewiesen auf diese Konjunktur hat Hirsch: Von deutscher Frühklassik, Band 3, Sp. 503. 30 1808, zum Regierungsjubiläum des Fürsten, erschienen noch einmal eine Reihe von Artikeln zu Leopold Friedrich Franz und seinem ›Gartenreich‹. Danach wurde es jedoch still um ihn. 1810 veröffentlichte Theodor Körner eine kleine ironische Erzählung unter dem Titel »Die Reise nach Wörlitz«, in der es jedoch mehr um die schöne Reisegefährtin der Protagonisten als um den Park geht. 1816 und 1823 wird der Wörlitzer Park in zwei Publikationen erwähnt: in den angesichts des Verlagsortes Rathenow vermutlich wenig beachteten »Vier Erholungs-Wochen« und in ei-

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Die teilweise schon den 1790er Jahren zu findende Kritik, dass der Wörlitzer Park mit seinen vielen Staffagen nicht dem neuesten ästhetischen Geschmack entspreche oder dass die in ihm zu findende Adaption von kulturhistorischen oder natürlichen Vorbildern wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genüge, scheint keine ausreichende Begründung für diesen Meinungswandel.31 Viel wahrscheinlicher ist, dass er mit der in dieser Zeit sich vollziehenden Distanzierung von den Ideen der ›Gartenrevolution‹ zusammenhängt.32 Der Blick auf die Rezeptionsgeschichte des Dessau-Wörlitzer ›Gartenreiches‹ macht deutlich, dass die in den überlieferten Zeugnissen zu findenden Zuschreibungen und Wertungen in einem sehr großen Maße von den Ideen geprägt sind, die ihre Verfasser von Sinn und Funktion der Gartenkunst haben. Daher eignen sie sich nur bedingt für Rekonstruktion des intrinsischen Sinnes der Gartengestaltungen in Anhalt-Dessau oder des Handelns des Dessauer Fürsten insgesamt. In dem zweiten Teil dieses Aufsatzes wird deshalb versucht, sich diesem Eigensinn auf anderen Wegen zu nähern.

2. Aufklärung und staatliche Ordnung in Wörlitz Die Ideen, Absichten und Prämissen des Dessauer Fürsten zu rekonstruieren, ist eine schwierige Aufgabe, weil er sich nirgendwo schriftlich zu ihnen geäußert hat.33 Ebenso wenig haben seine Zeitgenossen klar zum Ausdruck gebracht, was sie an ihm und seinem Wirken zunehmend gestört hat. Hilfreiche nem Jugendbuch »Rinaldo’s Reisen durch Deutschland. Ein Unterhaltungsbuch für die Jugend zur Beförderung der Vaterlandsliebe«. Eine längere Beschreibung findet sich noch einmal 1827 in einem anhaltischen Lokalblatt: [Anonym:] »Wanderbilder«, in: Anhaltisches Magazin 1 (1827), S. 314-318. 31 Etwa wie Johann Friedrich Droysen: Bemerkungen gesammelt auf einer Reise durch Holland und einen Theil Frankreichs im Sommer 1801, Göttingen 1802 (vgl. Hirsch: Von deutscher Frühklassik, Band 4, Sp. 765); Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Brief an seine Eltern, vom 1. Juli 96 [von seiner Reise als Hofmeister zweier Barone von Riedesel] (vgl. Hirsch: Von deutscher Frühklassik, Band 3, Sp. 498); Adolf Müller: Briefe von der Universität in die Heimat. Aus dem Nachlaß Varnhagens von Ense, 4. Band, Leipzig 1874 [1804/1805] (vgl. Hirsch: Von deutscher Frühklassik, Band 4, Sp. 813f.). 32 Vgl. Tabarasi: Der Landschaftsgarten als Lebensmodell, S. 303ff. 33 Die fast dreißig Jahre nach seinem Tod erschienene und auf Gesprächsnotizen beruhende Biographie des Wörlitzer Probstes Friedrich Reil ist nur eine bedingt verlässliche Quelle. Vgl. Friedrich Reil: Leopold Friedrich Franz, Herzog und Fürst von Anhalt-Dessau, nach Seinem Wirken und Wesen, Dessau 1845.

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Ansatzpunkte bieten deshalb zwei jüngere Zeugnisse, deren Wahrnehmung zwar ebenfalls merklich von den Deutungsrahmen und Selbstverständnissen ihrer jeweiligen Zeit geprägt ist, die aber insofern einen neutraleren Blick bieten, als sie nicht in der Gemengelage von Ideen, Überzeugungen und Wünschen der Rezeption um 1800 gefangen sind. Entsprechend unterscheiden sich ihre Sichten auch deutlich von denen früherer Zeugnisse. Beim ersten Text handelt es sich um eine der 1834 erschienenen Reisenovellen Heinrich Laubes.34 Dass der Text zu Anhalt-Dessau einen recht prominenten Platz direkt hinter den Ausführungen zu Laubes ehemaligem Wohnort Breslau haben, lässt vermuten, dass der frühere Ruf des Landes auch in den 1830er Jahren noch nachwirkte. Laube kann ihn jedoch nicht nachvollziehen. Anhalt-Dessau sei »das Land der Hasen, der Mittelmäßigkeit und des Obstes«; der »ganze Ausdruck des Landes und der Bewohner« sei »so mittelmäßig ausdruckslos, daß er auch nicht den kleinsten Gedanken erzeugt«35. Über Wörlitz schreibt er: »[Anhalt-Dessau] hat sehr anmuthige Familienbegräbnisse: den Park beim Schlosse, das Luisium und Georgium, und wenn man einen ganz aparten Gottesacker sehen will, so geht man einen schattigen Weg einige Stunden weit bis nach Wörlitz. Dort giebt es kleine Seen und Tempel und Raritäten, unter andern eine medicäische Venus, die schriftstellerisch dressirt ist, und auf einen Federdruck schamhaft erscheint. Damen werden dabei nicht zugelassen, die dürfen so etwas nicht sehen. Anhalt ist protestantisch, und wenn man eine schöne Frau lieben will, muß man mit ihr verheirathet seyn. […] Und jenes gesegnete Land der Philister ist in Teutschland Anhalt.«36

Vor allem die letzte Bemerkung legt die Vermutung nahe, dass Aufklärung als Beförderung von Mündigkeit nicht das Ziel des Wirkens des Fürsten gewesen ist – und auch die Landschaftsgärten des ›Gartenreiches‹ nicht in diese Richtung gewirkt haben, wie es die ›Gartenrevolution‹ gehofft hatte. Laube findet in Anhalt-Dessau statt mündigen Bürgern obrigkeits- und regelhörige Spießer. Von der Schwierigkeit, (trotz Bemühens) im Wilhelminischen Kaiserreich Verständnis für den Dessauer Fürsten und seinen Wörlitzer Park aufzubringen, zeugt der 1901 erschienene Reisebericht von Karl Emil Franzos. Am meisten 34 Heinrich Laube: »Anhalt«, in: Ders.: Reisenovellen. Bd. 1. Leipzig 1834, S. 47-63. 35 Ebd., S. 55, S. 56 und S. 57. 36 Ebd., S. 58.

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stört den Erzähler die Stadt Wörlitz, die er auf seinem Weg vom Bahnhof zum Park zwangsweise ansehen muss: »Ich habe bei meinen Streifereien durch die Mark und Mitteldeutschland manches armselige Ackerstädtchen gesehen und gerochen, ein solches nur selten. Und dieses hässliche, schmutzige Städtchen liegt wenige Minuten vom herzoglichen Schloss zu Wörlitz und ist auf drei Seiten vom herrlichen Park umschlossen!«37

In der Tat ist Wörlitz bis heute kein besonders hübscher Ort. Dass er schon zu Lebzeiten des Fürsten so wahrgenommen wurde, zeigt eine Randnotiz in einem Brief der Dichterin Elisa von der Recke aus dem Jahr 1795, in dem sie klagt, dass die »schönen Anlagen […] mit den hässlich schmutzigen Häusern des Dorfes sehr unangenehm«38 kontrastierten. Zu sehen sind dort bis heute vor allem gewachsene Straßenführungen und trutzige, nicht eben gefällige zweistöckige Bauernhäuser. Die gestalterischen Eingriffe durch den Fürsten waren eher gering, vor allem, wenn man sie mit denen seiner Urgroßmutter, der aus der Niederlande stammenden Fürstin Henriette Catharina, vergleicht. Sie hat das nahegelegene Dorf Nischwitz radikal barock umgestaltet und in Oranienbaum umbenannt. Leopold Friedrich Franz ließ in Wörlitz 1773 einen neuen Friedhof anlegen, 1783 einen Wirtschaftshof und 1792-1795 ein neues Rathaus mit Marktplatz erbauen. Auch das Brauhaus in Wörlitz geht auf den Fürsten zurück. All das hat den Charakter der Stadt jedoch nicht grundlegend gewandelt, da die Wohnhäuser unverändert geblieben sind. Statt die Bauern zu einer Verschönerung des Dorfes zu zwingen, hat Leopold Friedrich Franz versucht, sie durch Subventionen davon zu überzeugen, ihre Häuser in einer von ihm vorgegebenen Qualität neu zu bauen oder zu sanieren.39

37 Karl Emil Franzos: »Elysäische Felder«, in: Ders., Aus Anhalt und Thüringen, hg. von Herbert Weißhahn, Berlin 2000, S. 77-128, hier S. 82. 38 Elisa von der Recke: Brief vom 27. März 1795. Zit. n. Niedermeier: Arkadien als Alternative, S. 138. 39 Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt (LHASA), DE, Z 44, C 2b III Nr. 6: Acta, enth. verschiedene die Stadt Wörlitz angehende Sachen (1759-1823), fol. 16: Ankündigung des Fürsten vom 15. Januar 1778.

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Abb. 2: Postkarte von Wörlitz, 1930er Jahre. (Unbekannter Urheber)40 In dem bereits erwähnten Reisebericht von 1901 weist Franzos zudem auf die in der Tat nicht selbstverständliche Tatsache hin, dass der Park sehr nah am Ort liegt und dieser an der Südseite des Wörlitzer Sees sogar bis an den Parkweg hinanreicht. Die vorhandenen Sichtschutzpflanzungen sind dabei nur wenig effektiv und verbergen kaum die Wohnhäuser des Städtchens. (Abb. 2) Auffällig sind besonders auch Standort und Ausrichtung des 1769 begonnenen neuen Schlosses, die nicht der englischen Tradition bei der Gestaltung von Landsitzen entsprechen, die Leopold Friedrich Franz auf seinen Reisen kennengelernt hatte und deren Einfluss an anderen Stellen des Wörlitzer Parks (wie beim Englischen Sitz) deutlich zu bemerken ist. Deren auffälligstes Charakteristikum war offenbar, wie Tom Williamson pointiert darstellt, die Tendenz zu Abgeschiedenheit und Privatheit: »This, then, is the first and arguably the most important way in which we should read the park: as the landscape of polite exclusion.«41 Während in England durch entsprechende Platzierung bei

40 Der Waldstreifen im Hintergrund umschließt die Elbe; davor sind die Überflutungswiesen zu sehen. Die Baumgruppen in der Mitte des Bildes sind der Wörlitzer Park. Das weiße Gebäude zwischen See und Kirche ist das Schloss. 41 Tom Williamson: Polite Landscapes. Gardens and Society in Eighteenth-Century England, Baltimore/Maryland 1995, S. 107. Siehe auch Rafael de Weryha-

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einem Neubau oder durch die Verlegung des Einganges oder die Errichtung von schützenden Torgebäuden bei älteren Gebäuden immer mehr die Abschließung von den nächsten Ansiedlungen gesucht wurde, ließ Leopold Friedrich Franz sein Wörlitzer Schloss nicht nur in direkter Nachbarschaft zur Stadt bauen, sondern richtete dessen Front und Eingang auch auf den Wörlitzer Marktplatz aus.42 Er schuf zwar mit dem Schlossplatz ein wenig Abstand zur Stadt, indem er 1770 den Freihäuslern auf dem Schlossplatz kündigte; allerdings sind die Häuser auf einer Karte von 1789 immer noch eingezeichnet. (Abb. 3) Die Texte von Laube und Franzos weisen also auf drei Aspekte hin, von denen sich möglicherweise Rückschlüsse auf den Sinn der Herrschaft des Fürsten und davon abgeleitet auf den Sinn des Wörlitzer Parks ziehen lassen:

WysoczaĔski: Strategien des Privaten. Zum Landschaftspark von Humphry Repton und Fürst Pückler, Berlin 2004. 42 So befinden sich die meisten englischen Landsitze, die der Dessauer Fürst während seiner Englandreisen besucht hat, in einiger Entfernung zur nächsten Ortschaft, wie Stowe, Rousham, Bowood, Wentworth Woodhouse oder Axwell House. Am Kimbolton Castle in Cambridgeshire, das er 1766 besucht hat, wurde schon Anfang des 18. Jahrhunderts durch den berühmten klassizistischen Architekten John Vanbrugh der Haupteingang von der zum Dorf ausgerichteten Westseite an die östliche Frontseite verlegt hat, die der Landschaft zugewandt ist, wovon Leopold Friedrich Franz möglicherweise erzählt wurde. Zwei Jahre vor dem Besuch des Dessauer Fürsten ließ der damalige Besitzer zudem durch Robert Adam eine weitere Abgrenzung zum Dorf in Form eines breiten Torhauses im palladianischen Stil errichten. Zu Kimbolton Castle vgl. http://www.kimbolton-parish.org.uk/local_info/kimbolton_castle.asp vom 10. November 2011. – Die Stationen der Englandreisen des Fürsten sind in Tagebüchern seiner jeweiligen Reisebegleiter vermerkt: Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff: »Travel Notes from the Year 1764«, hg. u. komm. v. Thomas Weiß, in: Kulturstiftung DessauWörlitz, Institut für Auslandsbeziehungen (Hg.), For the Friends of Nature and Art. The Garden Kingdom of Prince Franz von Anhalt-Dessau in Age of Enlightenment, Ostfildern-Ruit 1997, S. 37-71; Georg Heinrich Berenhorst: Journal de voyage de princes Leopold Frederic Francois et Jean George d’Anhalt du 18 Octobre 1765 jusqu’au 3 Mars 1768 connuit par de Berenhorst le 19 Avril 1775. Anhaltische Landesbücherei, Wissenschaftliche Bibliothek und Sondersammlung, Abt. Stadtbibliothek Dessau, HB 23841a (Typoskript); Johanna Geyer-Kordesch (Hg.): Die Englandreise der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau im Jahr 1775, Berlin 2007.

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Abb. 3: Karte von Wörlitz (1789/90): Die roten sind die städtischen, die schwarzen die fürstlichen Gebäude. Umkreist im Uhrzeigersinn (von unten): Friedhof, Brauerei, Rathaus (1790 noch nicht gebaut), Schloss, Gotisches Haus (grün), Synagoge, Domäne (Markierungen: I.M.). Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, DE, Slg. 19, 19/D 435 Die Unmündigkeit der Anhalt-Dessauer Untertanen, den Verzicht des Fürsten, sie zu ästhetisch wünschenswerten Umbaumaßnahmen zu zwingen sowie seine nicht konventionelle bauliche Annäherung der Gartenanlagen an und ihre Ausrichtung auf die Stadt. Diese drei Aspekte kennzeichnen die Herrschaft des Fürsten offenbar auf spezifische Weise, die einer der umfangreicheren zeitgenössischen Texte zu Leopold Friedrich Franz, ein Artikel in der Zeitung für die elegante Welt von 1808, folgendermaßen beschreibt: »In Absicht der innern Vortreflichkeit und Humanität der Regierung herrscht hier nur eine Stimme. In kleinen Ländern ist gemeiniglich das vaterländische Glück einheimischer, als in den größeren Reichen, wo die Bitten und Wünsche der Unterthanen viel seltener, und gewöhnlich erst durch so vielerlei Atmosphären zu den Ohren des Regenten gelangen. Ich fand im Dessauischen nicht gerade reiche, aber zufriedene Unterthanen; überall Industrie, Thätigkeit und heitere Gesichter. Nirgends hörte ich Klagen über drückende Abgaben, über Blutigel der Regierung, über Soldatenpresse und Verschwendungen des Hofes. – Die Polizei, welche in den meisten Städten Deutschlands das Unkraut, statt es aus-

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Ina Mittelstädt zureißen, nach Belieben aufschießen läßt, wird in Dessau mit weiser Strenge und Ordnungsliebe verwaltet. Der Fürst bekümmert sich selbst um das Detail der Dinge. Er ist für jeden seiner Unterthanen accessibel; es beleidigt seinen humanen Sinn, wenn ihm irgend ein Mensch auf der Straße auszuweichen sucht, oder ihm die Leiden seiner Unterthanen verschwiegen werden. Er sieht mit eigenen Augen, und betrachtet seine Unterthanen wie eine große Familie, welcher sein Herz und sein Leben angehört.«43

Der Verfasser spricht hier drei wichtige Punkte an: Die auf allgemeinen Wohlstand abzielende Wirtschaftspolitik des Fürsten, die personalisierte Form der Herrschaftsausübung des ›Landesvaters‹ und schließlich die Ordnungsliebe des Fürsten, durch die »Unkraut« nicht habe »aufschießen« können. Für die nach 1800 zu beobachtende Distanzierung der aufklärerischen Öffentlichkeit vom ›Gartenreich‹ scheint dabei das sich verändernde Verständnis vom richtigen Verhältnis zwischen Ordnung und Freiheit am entscheidendsten gewesen zu sein. Die vom Verfasser des zitierten Artikels verwendete Metapher vom Unkraut schließt dabei nahtlos an die Metaphorik der ›Gartenrevolution‹ an. Dort bezog sie sich darauf, dass man zwar den gewaltvollen Umgang mit der Natur verurteilte, den man im formalen Garten französischer Prägung zu erkennen glaubte, dass man jedoch auch nicht einem völligen Wildwuchs das Wort redete. Es wurde gefordert, dass bei der Gartengestaltung die Natur mit ihren inhärenten Regeln – der Genius loci – beachtet werden und diesem das eigene Kunstwollen untergeordnet werden muss. Vordringlichstes Ziel war dennoch Verschönerung oder Verbesserung (improvement), also die Veränderung der vermeintlich in ihrem Eigensinn verehrten Natur. Sowohl der von Leopold Friedrich Franz geförderte Philanthropismus als auch der Wörlitzer Park verdanken ihren Ruhm offensichtlich zu einem nicht unwesentlichen Teil der Tatsache, dass sie Muster für eine gewaltlose, von der Natur abgeleitete ›richtige‹ Kultivierung zu sein schienen.44 43 [Anonym:] »Kleine Reisen durch Obersachsen. Erstes Fragment«, in: Zeitung für die elegante Welt Nr. 86 vom 30. Mai 1808, Sp. 684-686, hier Sp. 685. 44 Auch die Philanthropisten forderten, dass man die Natur »entwickeln« müsse und verwendeten zur Erläuterung mit Vorliebe Metaphern aus dem gärtnerischen Bereich. Frappierender noch als in der ›gartenrevolutionären‹ Literatur fällt beim Philanthropismus auf, dass die Idee von Freiheit – hier als Freiheit von Zwang – ein Wunschtraum ist, weil es sich in der Praxis als notwendig erwies, bestimmte Bereiche der Natur des Menschen als schlecht zu kennzeichnen und zu unterdrücken

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Dass Herrschaft nicht auf den ersten Blick sichtbar ist, zeugt jedoch nicht von ihrer Abwesenheit. So ist der Wörlitzer Park nicht nur Stimmungsraum, sondern auch Träger eines der Legitimation und Sicherung der absolutistischen Herrschaft des Dessauer Fürsten und seiner Nachfahren dienenden ikonographischen ›Textes‹.45 Allerdings konnte der Park auch ohne die Lektüre dieses ›Textes‹ als sinnvoll wahrgenommen werden. Die Untertanen des Fürsten mussten sich indessen an die Gesetze des Fürsten halten, die verbindlich festlegten, was ›natürlich‹ gut und was ›Unkraut‹ war. ›Unkraut‹ war alles, was die öffentliche Ordnung, Ruhe und auch Sauberkeit stören konnte, also nicht nur Bettler, fahrendes Volk oder unehelich schwangere Dienstmägde, sondern auch das Urinieren auf der Straße. Gegen diese Vergehen wurden drastische Strafen verhängt: geschwängerte Dienstmägde ohne Familie wurden des Landes verwiesen, Bettler und Gaukler wurden verprügelt oder längere Zeit (oder sogar lebenslang) in ein Arbeitshaus gesperrt.46 Wer sich allerdings in Anhalt-Dessau dieser Ordnungsvorstellung fügte, erlebte in der Tat kaum staatlichen Zwang. Bedingung für die daraus entstehenden Freiheiten war jedoch eine weitaus größere Verpflichtung des einzelnen auf die Vernunft und insbesondere auf den ›Landesvater‹, als es zuvor üblich wie unter anderem die Onanie. Vgl. u.a. [Johann Karl Wezel:] »Präliminarien über deutsche Erziehung«, in: Pädagogische Unterhandlungen 2 (1778), S. 5-20; zur Onanie-Debatte Michael Niedermeier/Thomas Höhle (Hg.): Das Gartenreich Dessau-Wörlitz als kulturelles und literarisches Zentrum um 1780 (= Zwischen Wörlitz und Mosigkau, Heft 44: Dessau-Wörlitzer Beiträge, Band VI), Dessau 1995, Kap. 4.6. 45 Vgl. dazu insgesamt meine voraussichtlich 2014 erscheinende Dissertation: »Gartenkunst und Macht. Ideen und Interessen bei der Gestaltung und Rezeption der fürstlichen Landschaftsgärten von Wörlitz, Weimar und Muskau« (betreut von Prof. Dr. Walter Schmitz, Neuere deutsche Literatur und Kulturgeschichte, TU Dresden). 46 Vgl. Sammlung landesherrlicher Verordnungen, welche in dem Fürstenthum Anhalt-Dessau ergangen, Band 1, Dessau 1784, Nr. 115: Die Reinlichkeit der Straßen betrl. (1783); Sammlung landesherrlicher Verordnungen, welche im Herzogthum Anhalt-Deßau ergangen sind, Band 2, Dessau 1819, Nr. 142: Verordnung gegen das Verunreinigen der Straßen (1787), Nr. 196: Verordnung wegen schwangerer ausländischer Mägde (1797), Nr. 230: Anlegung des Zwangs-Arbeitshauses zu Zerbst (1801), Nr. 230: Instruction die Aufgreifung und Transportirung der Vagabonden und Bettler betreffend (1801), Nr. 247: Verordnung wegen fauler Armen (1802), Nr. 310: Verordnung wegen der Einführung von Tagewachen in den Dörfern (1809). Ähnliches: Ebd., Nr. 149: Verbot der Fastnachtsaufzüge (1788), Nr. 211: Verbot des Schlittschuhlaufens und Schlitterns auf den Gassen (1799), Nr. 198: Verordnung wegen lügenhafter Gerüchte (1797).

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gewesen war. Dass es »seinen humanen Sinn« beleidige, »wenn ihm irgend ein Mensch auf der Straße auszuweichen sucht, oder ihm die Leiden seiner Unterthanen verschwiegen werden«, wie die Zeitung für die elegante Welt über den Dessauer Fürsten schreibt, hat eben auch eine dunkle Seite: Dass er »seine Unterthanen wie eine große Familie« betrachtet, heißt eben auch, dass sie unmündige Kinder bleiben müssen, damit die von ihm konzipierte Gesellschaftsordnung funktioniert.47 Gefördert werden damit nicht Kreativität, Innovation, eigenes Denken oder gar Kritik, sondern ein angepasstes und unauffälliges Verhalten – eben die »Mittelmäßigkeit«, an der sich Laube stört. Leopold Friedrich Franz regierte natürlich durch Gesetze, Anordnungen und Strafen. Zum Verständnis des ›Gartenreiches‹ sind indessen ebenso die ›weichen‹ Elemente seiner Herrschaft von Bedeutung, also seine Versuche, durch mentale Beeinflussung die freiwillige Einordnung seiner Untertanen in sein patriarchalisches Gesellschaftsmodell zu bewirken. Daraus lässt sich sein nachweisbares Interesse an Theorien der Wirkungsästhetik erklären.48 In diesem Sinne hat er wohl auch Hirschfelds Theorie der Gartenkunst rezipiert, in der ja versprochen wird, dass der »öffentliche Geschmack«, wie er sich in Landhäusern und Gärten ausdrückt, eine »sittliche Gewalt über die Gemüther der Bürger«49 hat. Der Einsatz von visuellen Mitteln zur Durchsetzung von Herrschafts- bzw. Gesellschaftsvorstellungen lässt sich besonders deutlich in Wörlitz ablesen. Leopold Friedrich Franz zwang zwar seine Untertanen nicht, ihre Häuser auf eine bestimmte Weise umzubauen, doch er ließ auf seinen Grundstücken in der Stadt suggestive Vorbildbauten errichten: die Domäne, die Friedhofsbauten, das Rathaus, die Brauerei. Für alle wählte er – bzw. wählten er und sein Freund, der Kavaliersarchitekt Erdmannsdorff, – den neopalladianischen klas-

47 [Anonym:] Kleine Reisen durch Obersachsen, S. 685. 48 Im 1778 angefertigten Bücherkatalog des Fürsten ist Sulzers »Theorie der schönen Künste« verzeichnet. Der 1829 angefertigte Katalog der Dessauer Hofbibliothek führt weitere theoretische Werke, die sich einer empfindsamen, d.h. auf die Auslösung von Empfindungen abzielenden Wirkungsästhetik widmen, wie Henry Homes »Grundsätze der Kritik« (dt. Ausgabe, Leipzig 1772 und 1790), Friedrich Justus Riedels »Theorie der schönen Künste und Wissenschaften« (Wien/Jena 1774) oder Johann Christoph Königs »Philosophie der schönen Künste« (Nürnberg 1784). Siehe dazu: Karin von Kloeden/Ute Pott/Uwe Quilitzsch (Hg.): Der Blick ins Innere. Das Verzeichnis der fürstlichen Bibliothek zu Wörlitz 1778, Dessau 2008; Katalog der Herzoglichen Bibliothek zu Dessau, Dessau 1829. 49 Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, S. 157.

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Abb. 4: Schloss Wörlitz (© Ina Mittelstädt) sizistischen Stil, der zumindest in Anhalt-Dessau auch Ende des 18. Jahrhunderts unverkennbare politische Implikationen hatte. Er geht zurück auf Vitruvs Architekturtheorie, auf Andrea Palladio und andere Renaissancearchitekten, die in der Symmetrie und den Proportionen klassizistischer Bauwerke ein Symbol für ein wohlgeordnetes Staatswesen sahen, in dem jedes Einzel(mit)glied angemessen und harmonisch in das Ganze eingefügt ist.50 Auf diesen Hintergrund ist auch die Wahl des neopalladianischen klassizistischen Stils für das Wörlitzer Schloss bezogen. (Abb. 4) Seine Inschrift »Liebe und Freundschaft haben es erbaut / Ruhe und Frieden werden es bewohnen / Dann werden häusliche Freuden nicht fehlen« lässt zwar einen persönlichen und auf private Erfüllung abzielenden Charakter des Schlosses vermuten. Die Ehe des Fürstenpaares war jedoch eine unfreiwillig geschlossene Konvenienz

50 Vgl. Hans-Joachim Fritz: Vitruv. Architekturtheorie und Machtpolitik in der römischen Antike, Münster 1995; Howard Burns: »Andrea Palladio (1508-1580). Die Entwicklung einer systematischen, vermittelbaren Architektur«, in: Jörgen Bracker (Hg.): Bauen nach der Natur. Palladio. Die Erben Palladios in Nordeuropa, Ostfilder 1997, S. 40-49; Andreas Heyer: Sozialutopien der Neuzeit. Bibliographisches Handbuch, Bd. 2, Berlin 2009, S. 284-286 (zu dem für die Dessauer wichtigen Leon Battista Alberti).

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Abb. 5: Gotisches Haus Wörlitz Nordfront (© Ina Mittelstädt) ehe. Für die Bewahrung der öffentlichen Ordnung, die sich eben patriarchalisch auch als »häusliche Freuden« interpretieren lässt, sowie für die Glaubhaftigkeit des Konzeptes der ›Landeseltern‹ und ihre Autorität war ein zumindest nach außen hin friedliches und liebevolles Zusammenleben notwendig, das freilich beide zur Unterdrückung von Bedürfnissen zwang. Die politische bzw.staatsbezogene Sinnebene des neopalladianischen klassizistischen Stils wird besonders deutlich mit Blick auf das Gotische Haus im Wörlitzer Park, in das der Fürst 1786 nach der inoffiziellen Trennung von seiner Frau mit seiner bürgerlichen Nebenfrau einzog. (Abb. 5, 6) Fürstin Louise erhielt durch die ›Scheidung‹ weniger Freiheit: Sie wurde zwar von den ehelichen Pflichten entbunden, musste aber weiterhin gegen ihren ausdrücklichen Wunsch im Wörlitzer Schloss wohnen bleiben und dort Besucher empfangen, während das Gotische Haus für Fremde verschlossen blieb.51 Auf diesen bei aller Orientierung am aufgeklärten Geschmack doch deutlich repräsentativen Charakter des Wörlitzer Schlosses hat auch Michael Rüffer in seiner profunden Studie zu

51 Siehe dazu August Rode: Beschreibung des Fürstlichen Anhalt-Dessauischen Landhauses und Englischen Gartens zu Wörlitz, Leipzig 1788, S. 162; Christian Eger (Hg.): August Rode: Beschreibung des Fürstlichen Anhalt-Dessauischen Landhauses und Englischen Gartens zu Wörlitz. Neue vollständige Ausgabe von 1814 mit Ergänzungen von 1818, Halle a.d. Saale 2008, S. 76.

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Abb. 6: Gotisches Haus Wörlitz Südfront (© Ina Mittelstädt) dessen Entstehungsgeschichte hingewiesen.52 Dass Leopold Friedrich Franz freilich die Verantwortung des ›Landesvaters‹ wichtiger einschätzte als die Erfüllung seiner individuellen Bedürfnisse, symbolisiert vielleicht das 17831784 auf das Dach des Schlosses aufgesetzte Belvedere, von dem aus der erleuchtet-aufgeklärte ›landesväterliche‹ Blick den gesamten Park (also mit dem Gotischen Haus) wie auch die Kirchen von Coswig und Wittenberg erfasst. Die Wahl von neugotischen Formen für den eher privaten Rückzugsort des Fürsten rekurriert dabei auf die individualistischen Mittelalterinterpretationen des 18. Jahrhunderts und auf die idealistischen Vorstellungen von heldenhafter 52 Vgl. Michael Rüffer: Das Schloss in Wörlitz. Ein fürstliches Landhaus im Spannungsfeld zwischen Absolutismus und Aufklärung, München/Berlin 2005, S. 146f. und S. 281ff.

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Ritterlichkeit. Der gotische Baustil wurde dabei oftmals mit einem Wald, also mit urtümlichem Wildwuchs assoziiert.53 Prinzipiell entspricht die gotisierende Bauweise damit dem ›Unkraut‹, das sonst im Staat ›ausgerissen‹ werden soll – das aber offenbar seine Berechtigung hat, so lange es die öffentliche Ruhe und Ordnung nicht stört. Bei kirchlichen Gebäuden entschied sich Leopold Friedrich Franz im gesamten ›Gartenreich‹ für den neugotischen Stil, weil dieser eben in der Vorstellung der Zeit der naturwüchsigen inneren Individualität entsprach, die der Mensch als Mitglied der Gesellschaft zwar zu deren Nutzen und Frieden zivilisieren muss, in der er aber immerhin vor Gott frei sein darf. Im öffentlichen Alltag galt jedoch die aufgeklärte, oft rigide gesellschaftliche Ordnung, die in Wörlitz unter anderem mit dem klassizistischen Rathaus auch symbolisch in die Stadt eingeschrieben ist. Es ist freilich fraglich, ob die Wörlitzer Einwohner diese elaborierte Architektursymbolik verstanden haben. Dass sich der Fürst von den klassizistischen Gebäuden (nicht nur) in Wörlitz dennoch einen Effekt auf seine Untertanen versprochen hat, lässt noch eine andere Architekturtheorie vermuten, mit der sich Leopold Friedrich Franz auseinandergesetzt hat, nämlich die 1785 anonym veröffentlichten Untersuchungen zum Charakter der Gebäude.54 Diese Schrift geht von dem Gedanken aus, dass Gebäude einen »Charakter« oder Sinn hätten, der »eine merkliche Wirkung auf unser Herz thut« und der deshalb von jedem intuitiv verstanden werden könne. Der Autor dieser Schrift bricht mit der ikonographischen Architekturtradition und betrachtet so etwa die Säulenordnungen nur in Hinblick auf ihre Wirkung. Für öffentliche Bauten empfiehlt indes auch er eine Anlehnung an die griechische sowie römische Architektur, allerdings mit der wirkungsästhetischen Begründung, dass diese die potentielle Fähigkeit hätten, »Liebe zum Vaterlande« zu kommunizieren oder gar zu erwecken. Ansonsten rät er für öffentliche Bauaufgaben zum »einfältigsten ländlichen Styl«, weil dieser den Traum vom »goldene[n] Weltalter« befördern könne.55

53 Vgl. Georg Germann: Neugotik. Geschichte ihrer Architekturtheorie, Stuttgart 1974, S. 27ff. 54 Hanno-Walter Kruft (Hg.): Untersuchungen über den Charakter der Gebäude; über die Verbindung der Baukunst mit den schönen Künsten und über die Wirkungen, welche durch dieselben hervorgebracht werden sollen, Nördlingen 1986 (Faksimile der Ausgabe Leipzig 1788), S. 11. Die erste Ausgabe erschien 1785 in der Dessauer Buchhandlung der Gelehrten, eine zweite 1788 in Leipzig; beide sind im Katalog der Dessauer Hofbibliothek (Dessau 1829) verzeichnet. 55 Untersuchungen über den Charakter der Gebäude, S. 20f.

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Abb. 7: Rathaus Wörlitz (© Ina Mittelstädt) Die im Auftrag des Fürsten errichteten Gebäude in der Stadt Wörlitz dürften den Vorstellungen des Verfassers von diesem ›ländlichen‹ Stil entsprochen haben. (Abb. 7, 8) Diese Auffassung von Architektur lässt aber auch wieder fragen, warum Leopold Friedrich Franz nicht mehr auf eine Umgestaltung der Stadt Wörlitz gedrängt hat. Wenn ein Gebäude den »Zustand des Menschen schildert«, wie in den Untersuchungen zu lesen ist, so zeugen die Wörlitzer Häuser kaum vom Wohlstand oder der Aufgeklärtheit ihrer Bewohner und werfen damit auch ein schlechtes Licht auf ihren Herrscher.56 Eine Antwort auf diese Frage findet sich ebenfalls in den Untersuchungen: Der Verfasser wertet nämlich zugleich die ärmlichen Häuser von Bauern positiv, weil sie »Einfalt

56 Ebd., S. 10.

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Abb. 8: Friedhofsgebäude Wörlitz (© Ina Mittelstädt) der Sitten, Ruhe und Sorglosigkeit« ausdrückten.57 Deshalb wäre es unangemessen, ihnen einen anderen Baustil aufzudrängen. Dass eine obrigkeitlich verordnete Dorfverschönerung aus Zwang und nicht aus Einsicht zur Verbesserung führen würde, entspricht offensichtlich auch der Vorstellung von Aufklärung des Dessauer Fürsten. Er hat deshalb anscheinend durch gute Vorbilder die Einsicht seiner Untertanen zu befördern versucht, statt ihnen Verschönerung zu verordnen. Vor allem durch das enge Nebeneinander der traditionellen dörflichen Gebäude und der ästhetisch anspruchsvollen fürstlichen Bauten in der Stadt erscheinen ja die Bauernhäuser als so defizitär, wie von der Recke und Franzos es empfunden haben – und wie es die Bauern dem Willen des Fürsten nach vielleicht selbst empfinden sollten. Auch wenn die Einwohner von Wörlitz nicht in den Park gingen, konnten sie sich damit der Wirkung der 57 Ebd.

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Abb. 9: Fährüberfahrt Weidenheger (© Ina Mittelstädt) fürstlichen Bauten in der Stadt nicht entziehen – das mag die Absicht des Fürsten gewesen sein. Erfolg hatte diese Intention augenscheinlich nur in beschränktem Maße. Die von Franzos als so merkwürdig empfundene Nähe der Stadt Wörlitz zum Park hat anscheinend noch eine andere Bedeutung, die sich an der Szenerie um die nach dem Vorbild des Vestatempels von Tivoli erbauten Synagoge fassen lässt. An kaum einer anderen Stelle liegen Park und Stadt so eng nebeneinander wie hier: Auf der einen Seite der Synagoge endete (und endet) eine Straße mit Wohnhäusern, auf der anderen Seite grenzt sie ans Ufer des Wörlitzer Sees. Nur wenige Meter entfernt befindet sich dort eine Fähranlegestelle, deren Gegenüber mit der Statue einer Venus aus dem Bade dekoriert ist. (Abb.

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9) Mit einiger Plausibilität lässt sich diese Szenerie als Allusion auf die Meerfahrt des Aeneas und seine Ankunft an den Gestaden des späteren römischen Reiches interpretieren.58 Der Legende nach ist an der Landestelle des Aeneas später der Vestatempel errichtet worden, in dem die Mutter von Remus und Romulus als Priesterin gedient hat. Da die Synagoge als Träger dieser Inszenierung der Ankunft des Aeneas nur wenige Meter von den ersten Häusern der Stadt entfernt ist, liegt die Deutung nahe, dass die Stadt Wörlitz hier als Vorläufer eines neuen Roms präsentiert wird. In diesem Sinne lassen sich auch das als römisch aufzufassende neue Rathaus mit dem nach dem Vorbild römischer Rennbahnen umgestalteten Marktplatz sowie die fürstliche Domäne in Wörlitz, die nach palladianischen Vorbildern und anscheinend unter dem Einfluss von Vergils Georgica geplant wurde, deuten. Eine Beschreibung oder Ausformulierung dieses Programms sucht man indessen in den Rezeptionszeugnissen oder in anderen Quellen vergeblich. Ein Grund dafür mag sein, dass die politische Botschaft des Parks bewusst ignoriert und abgelehnt wurde. Ähnliches hat Urte Stobbe für die Rezeptionsgeschichte von Kassel-Wilhelmshöhe nachgewiesen.59 Das heißt jedoch nicht, dass Leopold Friedrich Franz seine Herrschaft deshalb nicht so aufgefasst oder symbolisiert hat – sondern lediglich, dass die Rezeptionszeugnisse nur bedingt hilfreich sind bei der Auseinandersetzung mit seinem Werk. Dass sie dennoch immer wieder als Beleg für den Sinn des Wörlitzer Parks und für das Handeln des Fürsten herangezogen werden, hat freilich ganz konkrete Gründe, auch neben der schlechten sonstigen Quellenlage. Erhard Hirsch orientierte etwa seine Forschung so deutlich an der ›Gartenreich‹-Begeisterung, um das ›Gartenreich‹ gegenüber der feudalismusfeindlichen DDR-Führung als humanistische Ausnahme darzustellen, die erhalten und gefördert werden müsste. Heute sind die Lobpreisungen der Zeitgenossen – nicht zuletzt Goethes Beschreibung des Wörlitzer Parks als »unendlich schön« – ein gern genutztes Argument für die touristische Vermarktung. Wissenschaftliche Bedeutung haben indes eher die sich in der Gestaltung der Gärten und der Herrschaft von Leopold Friedrich Franz sowie in ihrer Rezeption manifestierenden Deutungsrahmen, also die Ideen, Annahmen, Überzeugungen, Werte und Normen der jeweiligen Akteure. Die Rezeptionszeugnisse sollten deshalb weniger als zuverlässige Quellen

58 Vgl. Christian Reimann: »Zur Beschwörung des Altertums in Wörlitz. Mythos, Vision und Tatsachen«, in: Die Gartenkunst 11 (1999), S. 308-314. 59 Vgl. Urte Stobbe: Kassel-Wilhelmshöhe. Ein hochadeliger Lustgarten im 18. Jahrhundert, Berlin 2009, Kap. 7.

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über historische Sachstände und mehr als Konserve historischer Befindlichkeiten und Denkweisen aufgefasst werden. Wie notwendig eine solche Herangehensweise ist, um nicht der eigenen historischen Prägung geschuldeten Fehldeutungen zu erliegen, zeigt ein weiterer Auszug aus Franzos’ Wörlitzbeschreibung. In diesem lässt er einen Reisegefährten, einen Berliner Kunsthistoriker, zu Wort kommen, dessen Beitrag ein Musterbeispiel für eine historisch unreflektierte Sichtweise ist: »›Da haben Sie‹, wetterte der Gelehrte, ›die ganze innere Verlogenheit jener Zeit! O du verdammtes Aufkläricht, was war dir die Natur und was selbst die Humanität, mit der du dir die Pausbacken schminktest! Der lieben Eitelkeit wegen der Natur Daumschrauben anzulegen und Theaterkulissen aus lebenden Bäumen und Blumen zu schaffen, dazu waren diesem gelobhudelten Herzog Franz Millionen nicht zu viel, aber weitere hunderttausend Taler den armen Leuten als Beisteuer zu gewähren, damit sie das Nest zum Villenstädtchen umgestalten, fiel dem Mäzen gar nicht bei.‹«60

60 Franzos: Elysäische Felder, S. 82.

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Von der wandelbaren Gunst der Götter Die Transformation des Palazzo Durazzo zur königlichen Residenz der Savoyer in Genua BETTINA MORLANG-SCHARDON

1. Die gesamte Frühe Neuzeit hindurch, verstärkt aber nach dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieges und hochgradig verdichtet in der Napoleonischen Ära, kam es in Europa zu Herrschaftswechseln, welche beinahe zwangsläufig Bestrebungen nach sich zogen, Akzeptanz für die neuen Verhältnisse zu erzielen.1 Eine wesentliche Rolle im Prozess des Machtwechsels – sei er dynastischer oder institutioneller Natur – und der mit ihnen einhergehenden Aushandlungen von Macht-, Gesellschafts- und Wissensordnungen spielt die Medialisierung und künstlerische Legitimierung der neuen Herrschaft, die sich verschiedenster Strategien von vollständiger Überschreibung oder Zerstörung über Transformation und Umdeutung bis hin zu Konservierung oder Monumentalisierung bedienen konnte. In der Beschäftigung mit der Kunst der Frühen Neuzeit ist das Verständnis von herrschaftlicher Distinktion und Macht1

Herrschaftswechsels stehen in engem Zusammenhang mit Legitimitäts- und Illegitimitätsdiskursen, die um den Begriff der Fremdherrschaft zentriert sind. Ihre Bedeutung ist in systematischer Hinsicht im Rahmen einer Publikation des Trierer Sonderforschungsbereichs »Armut und Fremdheit« zuletzt erläutert worden. Siehe Helga Schnabel-Schüle: »Herrschaftswechsel – zum Potential einer Forschungskategorie«, in: Dies./Andreas Gestrich (Hg.), Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa. Frankfurt a.M. 2006.

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demonstration als Katalysator von Kunstproduktion und kulturellen Prozessen seit Jahrzehnten eines der zentralen Paradigmen, in dessen Rahmen jedoch zumeist vom Ergebnis aus und dabei selten historisch differenziert argumentiert wird. Der vorliegende Beitrag möchte daher als Versuch verstanden werden, den abstrahierenden Blick wieder am Detail zu schärfen und die Objekte der Macht als Kristallisationspunkte sozialer und politischer Prozesse zu begreifen, um sie so in ihrer historischen Wertigkeit transparent werden zu lassen.

2. Mit der Angliederung Genuas an das Königreich Sardinien-Piemont im Jahre 1815 bereitete der Wiener Kongress einer über Jahrhunderte schwelenden Fehde ein Ende. Die finanzkräftige Handelsrepublik hatte, mit der Unterstützung ihrer mächtigen Bündnispartner Frankreich und Spanien, mehrfach dem Bestreben des Hauses Savoyen trotzen können, die Stadt, und damit einen der militärisch und handelspolitisch wichtigsten Häfen der Mittelmeerküste, unter ihre Kontrolle zu bringen. Doch die Annektierung Genuas durch Napoleon hatte die Superba zu Fall gebracht und die Entscheidung des Wiener Kongresses besiegelte nun ihr Schicksal. Die ehrgeizigen Pläne, die die Savoyer für Genua hegten, bedingten die herausragende Stellung, die ihr als der zweiten Residenzstadt unter den Besitzungen des Königshauses Sardinien-Piemont zukam. Es folgte die Stationierung der königlichen Kriegs- und Handelsmarine, die der strategisch günstigen Lage der Hafenstadt geschuldet war. Im Jahr 1854 wurde eine Eisenbahnlinie ausgebaut, die für die Genuesische Wirtschaft den ersten Schritt in Richtung der Industrialisierung darstellte.2 In diesem Sinne bedeutete die Übernahme der Seerepublik für Savoyen einen enormen Machtzuwachs, der es erforderlich werden ließ, die Ansprüche der neuen Herrschaft auch residential angemessen zu formulieren. In den nach 1815 folgenden Jahrzehnten manifestierte sich der Herrschaftswechsel daher in zahlreichen Bau- und Urbanisierungsprojekten im Auftrag der Monarchie, 2

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Vgl. Filippo Ambrosini: Carlo Alberto re, Turin 2005, S. 189-207. Zu der urbanistischen Entwicklung der Stadt unter den Savoyer im Allgemeinen vgl. Paolo Cevini: »L’Ottocento: i rettilinei fuori mura e i piani di ampliamento«, in: Ennio Poleggi/Ders., Le città nella storia d’Italia. Genova, Roma/Bari 1981, S. 161-210.

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welche der oligarchischen Folie das Zeichenvokabular einer absolutistischen Regierung aufprägte. Als ein Kulminationspunkt dieser Metamorphose der Macht kann die einstige Residenz der Savoyer gelten, welche im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen wird. Hierfür sei kurz ihr historischer Bedeutungs- und Nutzungskontext skizziert. Der heute als Palazzo Reale bekannte ehemalige Königspalast wurde in den 1640er Jahren als einer von insgesamt fünf Familienpalästen der neuadeligen Familie Balbi erbaut. Diese hatte im Rahmen der auf die Reformation der Republik folgenden Urbanisierungsmaßnahmen den kostspieligen und prestigereichen Ausbau der zweiten Genuesischen Prachtstraße übernommen und in einen persönlichen Triumph verwandelt.3 War die erste Prachtstraße, die von fünf altadeligen Familien finanziert worden war, noch Symbol der Vorherrschaft des Feudaladels gewesen, demonstrierte der Bau der sogenannten Strada Balbi die gestärkte Position des neuen Adels und die Stabilität der reformierten Republik.4 Im Jahr 1679 ging der Palast in den Besitz der mit den Balbi über Handel und Heirat eng verbundenen Familie Durazzo über, welche als eine der ein3

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Zur Genese, Planungs- und Baugeschichte der zwischen 1601 und 1618 entstandenen Strada Balbi vgl. Carolina Di Biase: Strada Balbi a Genova. Residenza aristocratica e città, Genua 1993. Umfassend zur Geschichte der Familie Balbi und speziell zur Person Stefano Balbis vgl. Eduardo Grendi: I Balbi. Una famiglia genovese fra Spagna e Impero, Turin 1997, S. 163-185. Zur Bedeutung des Projekts Strada Balbi als Instrument sozialen Aufstiegs im Kontext der frühen Republik vgl. Bettina Morlang: »Strada Balbi – die Straße zur Macht. Aufstiegs- und Etablierungsstrategien der Familie Balbi in Genua«, in: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal (2011), http://www.kunstgeschichte-ejournal.net/126 vom 19.11.2012. Am 14. Mai 1550 erließen der Doge Gasparo Grimaldi sowie die Stadtprokuratoren von Genua ein Dekret, das die Padri del Comune zur Eröffnung einer »nobile strada« ermächtigte, die, am nördlichen Stadtrand unterhalb des ursprünglichen Castelletto gelegen, von den Fontane im Osten über die zona malfamata bis hin zur Kirche San Francesco oberhalb der Gärten der Familie Grimaldi im Westen der Stadt reichen sollte. Von den zehn etwa gleichgroßen Parzellen erwarben die Spinola vier, die Familien Pallavicini und Lomellini jeweils zwei und die Familie Lercari eine. Das verbleibende zehnte Grundstück behielt die Familie Grimaldi in ihrem Besitz und erbaute dort den Palazzo Doria-Tursi, welcher später ebenfalls in den Besitz der Savoyer übergehen sollte. Vertiefend zur Genese, Funktion und Bedeutung der Strada Nuova, heute Via Garibaldi, und ihrer Paläste vgl. Ennio Poleggi: Strada Nuova, una lottizzazione del Cinquecento a Genova, Genua 1968; Bettina-Martine Wolter: »Genueser Palastarchitektur zwischen Staatsreform und Machtstreben«, in: Mary Newcome-Schleier (Hg.), Kunst in der Republik Genua, Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt, Frankfurt a.M. 1992, S. 32-42.

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flussreichsten und wohlhabendsten Familien des Genueser Neuadels gelten kann.5 Unter ihnen erfolgten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine erhebliche Vergrößerung und Restrukturierung des Palastes, sowie eine partielle Neudekoration der Innenräume.6 Als der Palast nach über hundert Jahren im Besitz der Durazzo schließlich gemeinsam mit dem größten Teil seines Interieurs zu einem Preis von 2.250.000 Lire Nuove di Piemonte an den König von Sardinien-Piemont veräußert worden war, begann erneut eine Phase der Transformation, die seiner neuen Funktion als königlicher Residenz geschuldet war.7 Wenngleich aufgrund des traditionell selektiven Blickes der Genua-Forschung auf die eigene Geschichte eine umfassende und sozialhistorisch fundierte Betrachtung der Bau- und Nutzungsgeschichte des Palazzo unter der Herrschaft der Könige von Sardinien-Piemont noch aussteht, werde ich mich im Folgenden auf die Umformung des Repräsentationsgeschosses beschränken. Im Zentrum der Analyse steht dabei nicht die Zerstörung oder Umformung der historischen Substanz, sondern die Rekontextualisierung und ideologische Translation ursprünglich oligarchisch geprägter Zeichen- und Dekorationssysteme des Palastes, wobei die Entscheidung für die Umgestaltung oder Überschreibung beziehungsweise die Umkodierung oder Beibehaltung des Bestehenden als legitimatorische Strategie begriffen und hinsichtlich ihres identitäts- oder gedächtnisstiftenden Potenzials hin befragt werden sollen. Als ein erster bedeutsamer Schritt in der Inszenierungsstrategie der Savoyer muss bereits die Wahl des Königspalastes verstanden werden, deren Umstände im Folgenden kurz umrissen werden sollen.

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Schon seit 1670 hatte Francesco Maria Balbi das Piano Superiore des Palastes an Carlo Emanuele Durazzo und seine Ehefrau Paola Francesca Balbi vermietet, die dort bereits kleinere Verschönerungsarbeiten, etwa im Bereich der Fußböden, vornehmen ließen. Im Juli 1679 schließlich wird der Palast von Eugenio Durazzo erworben und dem familiären Fedeikomiss hinzugefügt. Vgl. Di Biase: Strada Balbi, S. 138f. Einführend zur Familie Durazzo vgl. Angela Valenti Durazzo: I Durazzo. Da schiavi a dogi della Repubblica di Genova, Roccafranca 2004. Vertiefend zu den Planungen und Restrukturationen unter Eugenio und Marcello Durazzo vgl. Di Biase: Strada Balbi, S. 139-160, sowie Luca Leoncini: »Palazzo Balbi Durazzo Reale. Note per la Storia di un Museo«, in: Ders. (Hg.), Palazzo Reale di Genova. Studi e Restauri 1993-1994, Genua 1997, S. 43-70, hier bes. S. 51-55. Der Kaufvertrag von 1824 wird erwähnt in Leonicini: Palazzo Balbi Durazzo Reale, S. 64, Anm. 51.

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3. Schon bald nach dem Beschluss des Wiener Kongresses und der Einnahme des neugewonnenen Territoriums der Stadtrepublik Genua durch das Königreich Sardinien-Piemont war im Jahr 1816 aus Sicht des Hauses Savoyen der Zeitpunkt gekommen, sich der Suche nach einer königlichen Residenz im neuen Herzogtum zu widmen.8 In den zeitgenössischen Dokumenten finden sich keine Hinweise für das Vorhaben, einen neuen Palast errichten zu lassen, vielleicht auch, da dies aufgrund der Hanglage Genuas und der dichten Bebauung innerhalb der Stadtmauern ein schwieriges Unterfangen gewesen wäre. Zum einen hätten Demolierungen die politisch ohnehin angespannte Lage zusätzlich verschärfen können, zum anderen hätte ein Neubau einen erheblichen Zeitund Kostenaufwand bedeutet.9 Der Bau eines Palastes außerhalb der Stadtmauern war ebenso ausgeschlossen, wie der Ankauf und Ausbau einer der zahlreichen prachtvollen suburbanen Villenbauten, die sich nicht nur durch weite Areale, elegante Gärten und unverbauten Seeblick auszeichneten, sondern in der Regel sowohl zu Wasser als auch zu Land hervorragend zu erreichen waren. Nicht ohne Grund hatte man im Fall eines hohen Staatsbesuches diesem des Öfteren eine Villa als Quartier zugewiesen, da so Problematiken der Zugänglichkeit ebenso zu umgehen waren wie sanitäre Schwierigkeiten oder das für Genua typische launische Klima.10 Stattdessen wurde der Architekt Giuseppe Cardone nach Genua entsandt, um vier der größten und schönsten Paläste auf ihre Tauglichkeit als königliche Residenz hin zu begutachten, darunter auch den ehemaligen Palazzo Ducale. Unter den historischen Gebäuden der Superba wäre der einstige Sitz der Regierung sicherlich in legitimatorischer Hinsicht die naheliegende Wahl für 8

Vertiefend zu dem Auswahlprozess und den ihm zugrundeliegenden Parametern der savoyischen Residenzkultur im Genua des beginnenden 19. Jahrhunderts vgl. Bettina Morlang Schardon: »Von königlichen Visionen und oligarchischen Realitäten. Die Suche nach einem Palast für Vittorio Emanuele I von Savoyen in Genua«, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 38 (2011), S. 197-249. 9 Für einen Einblick in die komplexe Geschichte der langwierigen kriegerischen Fehde zwischen Savoyen und Genua vgl. Paolo Lingua: Breve storia dei Genovesi, Roma/Bari 2001, S. 177-194. 10 Weiterführend zur der Genueser Villenkultur und der repräsentativen Bedeutung der Villen vgl. Lauro Magnani: Il tempio di Venere. Giardino e villa nella cultura genovese, Genova1987, sowie Stephanie Hanke: Zwischen Fels und Wasser. Grottenanlagen des 16. und 17. Jahrhunderts in Genua, Münster 2008, S. 22-34 u. S. 228-246.

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den künftigen Königspalast gewesen.11 Als Mnemotop, als Ort, an welchem sich das Geschichts- und Identitätsbewusstsein der genueser Gesellschaft verdichtet hat, wäre der Palazzo Ducale für die Inszenierung und Visualisierung des Machtwechsels überaus geeignet gewesen. Durch die Inbesitznahme des einstigen Regierungs- und Wohnsitzes der Dogen hätte der Herrschaftswechsel als Ereignis historischer Kontinuität inszeniert werden können. Die neue Regierung wäre gleichsam als eine Art Erfüllungszustand der Genuesischen Republikgeschichte präsentiert worden, schließlich hatte die Superba bereits in den 1630er Jahren auf der Grundlage seiner Besitzrechte an dem Königreich Korsika die Königswürde für sich beansprucht und nach einem Mehrheitsbeschluss des Senats 1637 die Jungfrau Maria zur Königin von Genua proklamiert. Zwar hatte der überwiegende Teil der europäischen Mächte den neuen Status der Republik damals offiziell anerkannt, eine vorbehaltlose Akzeptanz wurde jedoch nie erreicht. Erst mit der Ernennung zum Herzogtum und der Anschließung an das Königreich Savoyen-Piemont erhielt die Stadt ihren Platz unter den fürstlichen Residenzstädten.12 Aus dem Bericht, in welchem der Architekt seine Beobachtungen und Empfehlungen formuliert hat, wird jedoch deutlich, dass die königliche Residenz neben repräsentativen Kriterien auch strukturelle Anforderungen zu erfüllen hatte. Bei aller machtpolitischen Symbolkraft – diesen Vorstellungen vermochte der einstige Dogenpalast nicht zu entsprechen. Sein Erscheinungsbild, 11 Die Bedeutung der historischen Dimension eines Gebäudes oder Ortes für dessen legitimatorisches Potenzial konnte bereits Marcus Kiefer: »Mediceische Erinnerungsräume: Cosimo I im Palazzo Vecchio«, in: Andreas Beyer/Ulrich Schütte/Lutz Unbehaun (Hg.), Bildnis, Fürst und Territorium (= Rudolstädter Forschungen zur Residenzkultur, Band 2), München u.a. 2000 S. 59-87, hier S. 59-61, für den einstigen florentinischen Kommunalpalast veranschaulichen. Am Beispiel der von Francesco Salviati ausgemalten Sala dell’Udienza vermochte Kiefer zu zeigen, wie im von kollektiver Erinnerung besetzten Florentiner Palazzo Vecchio die Herrschaftsvorstellungen der zu Landesfürsten gewordenen Medici bewusst in republikanische Traditionen eingebettet wurden. – Vertiefend zur Frage kultureller Erinnerungstechniken vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis in Schrift, Erinnerung und politischer Identität in frühen Hochkulturen, 2. Aufl., München 1997, sowie Aleida Assmann/Dietrich Harth: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kuturellen Erinnerung, Franfurt a.M. 1991. 12 Vgl. Carlo Bitossi: »A republic in search for legitimation«, in: James R. Mulryne/Helen Wantanabe-O’Kelly/Margaret Shewring: Europa Triumphans, Aldershot 2004, S. 239f. – Zu den zeremonialen und diplomationen Folgen des Genuesischen Legitimierungsversuches siehe Matthias Schnettger: »Principe sovrano« oder »civitas imperialis«? die Republik Genua und das alter Reich in der Frühen Neuzeit (1556-1797), Mainz 2006, hier S.169-237.

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Abb. 1: Giovanni Guidotti, Plan der Stadt Genua, 1766. Der blaue Punkt kennzeichnet das westliche Stadttor, der rote den Palazzo Durazzo, der grüne den Palazzo Ducale. Aus: Poleggi/Cevini: Genova, S. 156 die kaum ausreichenden Räumlichkeiten, deren Disposition mitnichten den Anforderungen eines Hofstaats entsprach, sowie die durch enge Gassen geradezu als einkesselnd zu bezeichnende urbanistische Situation der Altstadt schlossen die gewünschte Hofhaltung im Stil Turins, wo Hof und Regierungsapparate, wenn auch nicht unter einem Dach, so doch in beieinanderliegenden Gebäudekomplexen vereint wurden, ebenso aus, wie eine angemessene Durchführung des höfischen Zeremoniells.13 (Abb. 1) Dass die Wahl Carlo Felices, der 1821 die Nachfolge seines Bruders angetreten hatte, 14 schließlich auf den Palazzo Durazzo, und damit überraschender13 Vgl. Morlang-Schardon: Von königlichen Visionen und oligarchischen Realitäten, S. 205-210. Vertiefend zur Genese und Geschichte des Palazzo Ducale vgl. Franco Sborgi: Il palazzo ducale di Genova: stratificazione urbanistica e architettonica (= Quaderni dell'Istituto di Storia dell'Arte della Università di Genova, Band 6), Genua 1970. 14 Zur Person Carlo Felice von Savoyen vgl. Giuseppe Locorotondo: »Carlo Felice di Savoia, re di Sardegna«, in: Alberto M. Ghisalberti (Hg.), Dizionario Biografico degli Italiani, Band 20, Rom 1977, S. 365-379.

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Abb. 2: Giovanni Guidotti, Plan der Stadt Genua 1766, Detail. Umrandet ist das Areal des Palazzo Durazzo. Aus: Poleggi/Cevini: Genova, S. 156 weise auf einen Privatpalast, fiel, lässt sich demnach zunächst pragmatisch begründen. Da die für Genua vorgesehene Hofhaltung nicht nur viel Platz, sondern auch eine dem Rang und Status der Ämter und Höflinge angemessene räumliche Diversifizierung erforderte, war der Palazzo Durazzo aufgrund seiner für Genua raren urbanistischen Gegebenheiten geradezu prädestiniert dafür. Abgesehen von dem Palast der Familie umfasste der Besitz verschiedene Gebäude und Häuser, darunter das im Osten anschließende Teatro del Falcone sowie zahlreiche angrenzende Gebäude.15 Mittels des Ankaufs weiterer Besitzungen und diverser Um- und Anbauten entstand dort in den folgenden Jahren ein Re-

15 Die Besitzungen erstreckten sich bis zum Vico Grande und dem Vico piccolo di S. Antonio, und umfassten in nördlicher Richtung zudem das an der Strada Balbi gelegene ehemalige Jesuitenkolleg, welches 1816 bereits als Universität fungierte, sowie die Chiesa S. Vittore, die ehemalige Chiesa Parrocchiale di San Carlo. In südlicher Richtung erstreckte sich das Areal bis zur Strada di Prè und der Strada della Marina, verlief entlang des Bacino Darsena und wurde in westlicher Richtung von dem Vico del Cenio begrenzt und formte so ein großes Trapez zwischen der Strada Balbi und dem Meer. Vgl. Bericht des Architetto Ispettore del Reale demanio Giuseppe Cardone an das Ministerio della Real Casa abgedruckt in MorlangSchardon: Von königlichen Visionen und oligarchischen Realitäten, S. 225-246, hier S. 232.

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Abb. 3: Pierre Martin Gauthier, Grundriss des Erdgeschosses des Palazzo Durazzo, 1818-1832. Aus: Pierre Martin Gauthier: Les plus beaux édifices de la ville de Gênes et de ses environs, Paris 1818-1832, Pl. 16 gierungskomplex, der wie in eine Insel innerhalb der Stadt lag und den einstigen Adelspalast funktional und ästhetisch aus der oligarchischen Stadtsubstanz hervorhob. Hinsichtlich der für ein angemessenes Zeremoniell unabdingbaren Zugänglichkeit und städtebaulichen Einbettung entsprach der Palazzo Durazzo dank der in Genua beispiellosen Breite der Strada Balbi, die überdies von zwei Platzanlagen – östlich lag die Piazza dell’Annunziata, im Westen die Piazza di Acquaverde – abgeschlossen wurde, den Anforderungen Turiner Residenzkultur. (Abb. 2) Die Lage des Palastes ermöglichte es jedoch nicht nur, angemes-

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sen zu repräsentieren, sondern bot zudem durch seine Nähe zum westlichen Stadttor Porta di S. Tommaso und seine direkte Anbindung an den Hafen auch das für eine königliche Familie erforderliche Maß an Sicherheit. Überdies vermochten der symmetrischer Baukörper und die beachtlichen Dimensionen der Architektur sowie ihr elegantes Erscheinungsbild, welches unter den Genueser Adelspalästen herausragend war, den savoyischen Anspruch von Magnifizenz und Pracht ebenso zu erfüllen, wie die räumlichen Kriterien zur Unterbringung eines Hofstaats. Insgesamt verfügte der Palast über fünf Stockwerke, darunter zwei Mezzaningeschosse. Von den vier monumentalen Marmortreppen des weitläufigen Vestibüls führten zwei in Richtung Fassade über Emporen in die Räume des Primo Piano Nobile, während die beiden anderen den Aufgang zum Secondo Piano Nobile darstellten. (Abb. 3) In den Guiden und Reiseberichte des 18. Jahrhunderts, aber auch im Bericht des Turiner Architekten, ist die prachtvolle Ausstattung des Palastes dokumentiert, welche auch die beiden Mezzaningeschosse mit einschloss.16 Gleichermaßen ausschlaggebend für die Wahl wie seine materiellen Vorzüge mag jedoch sein historischer Wert gewesen sein, welcher den Savoyern sicherlich zur Kenntnis gebracht wurde. Die Familie Durazzo gehörte nicht nur zu den reichsten Familien der einstigen Republik, sie war eine der führenden Familien und im 18. Jahrhundert sogar die einflussreichste unter den genuesischen Oligarchen. Eine kluge Heiratspolitik, geschickte politische Allianzen und eine Regulierung der Nachkommenschaft hatten den Clan an die Spitze befördert und seinen Mitgliedern die höchsten politischen, wirtschaftlichen und kirchlichen Ämter eingebracht. Neben zahlreichen Senatoren, Prokuratoren und Botschaftern stellte die Familie insgesamt neun Mal den Dogen, das Oberhaupt der Republik – dies gelang außer ihnen nur zwei der ältesten Familien Genuas.17 Die Pracht des Palastes und die Kostbarkeit seiner Ausstattung 16 Exemplarisch sei verwiesen auf Carlo Giuseppe Ratti: Istruzione di quanto può vedersi di più bello in Genova in pittura, scultura ed architettura, Genua 1766, S. 170-190 (2. Aufl.: Instruzione di quanto […]. Nuovamente ampliata, ed accresciuta in questa seconda edizione dall’autore medesimo, Genua 1780); Jean-Claude Saint-Non/Jean-Honoré Fragonard: Panopticon italiano. Un diario di viaggio ritrovato. 1759-1761, hrsg. Von Pierre Rosenberg, Roma 1986; Aubin Louis Millin: Voyage en Savoie,en Piemont, à Nizza e à Gênes, Paris 1816; Federico Alzieri: Guida artistica per la città di Genova, 3 Bände, Genua 1846-1847. 17 Vgl. Luigi Maria Levati: Dogi Biennali di Genova, 2 Bände, Genua 1930. Weiterführend zur Geschichte des jüngeren Familienzweigs vgl. Giovanni Assereto: »L’Durazzo di Palazzo Reale. Breve storia di una grande famiglia patrizia«, in: Luca Leoncini (Hg.), Da Tintoretto a Rubens. Capolavori della collezione Duraz-

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sind so nicht nur Zeichen ihres Status als Adelsfamilie, sie reflektieren zudem, nicht als Dogenpalast, aber als Palast der Dogen, den Erfolg der Superba. Dass die Adelspaläste der Genueser Oligarchen zu Zeiten der Republik als Unterkünfte der Staatsgäste und für staatspolitische Anlässe instrumentalisiert wurden, wird diese Wertung zusätzlich gestützt haben.18 In diesem Sinne war der Palazzo Durazzo nicht nur aufgrund seiner monumentalen Ausmaße und seines prachtvollen Erscheinungsbildes, sondern auch wegen seiner Geschichte als Residenz des erfolgreichen Genueser Neuadels, sowie wegen seines Standorts in der Strada Balbi, ihrerseits bereits ein Ereignis- und Gedächtnisort, ein Kristallisationspunkt der Erfolgsgeschichte der einstigen Republik und somit als Ort der Inszenierung der neuen Herrschaft geradezu prädestiniert.

4. In seiner Funktion als Königspalast erfuhr der Palazzo Durazzo die folgende Gliederung: Im westlichen Teil des Primo Piano Nobile befanden sich die Räumlichkeiten des Principe di Carignano, welche späterhin als Arbeitszimmer und Wohnung des Ministro della Real Casa dienten, sowie die Unterkünfte verschiedener ranghoher Hofbeamter. Der östliche Flügel beherbergte das sogenannte »appartamento inferiore«, welches unter der sabaudischen Herrschaft einer umfassenden Neudekoration unterzogen wurde und zunächst der ersten Ehrendame der Königin, späterhin Luigi Amedeo von Savoyen-Aosta, Duca degli Abruzzi, und anderen Mitgliedern der königlichen Familie während deren Staatsbesuchen zur Verfügung stand.19 Angrenzend langen Unterkünfte für die königlichen Kinder, sowie ein »appartamento di riserva«, eine prachtvoll ausgestattete, variabel zu nutzende Wohnung für Gäste des Hofes.20

zo, Ausst.-Kat. Palazzo Reale, Teatro del Falcone Genova, Milano 2004, S. 25-40, sowie A. Durazzo Valenti: I Durazzo, S. 358f. 18 Einführung zum System der Palazzi dei Rolli vgl. Ennio Poleggi: Una reggia repubblicana. Atlante die Palazzi di Genova 1576-1664, Turin 1998. 19 Zur Person Luigi Amedeo von Savoyen-Aosta vgl. Carlo Pischedda: »Amedeo Ferdinando Maria di Savoia-Aosta«, in: Ghisalberti: Dizionario Biografico degli Italiani, Band 2, S. 756. 20 Vgl. Leoncini: Palazzo Balbi Durazzo Reale, S. 57. Zur Dynastie der Savoyer und ihren Territorien vgl. Walter Barberis (Hg.): I Savoia.I secoli d’oro di una dinastia europea, Turin 2007.

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Das Secondo Piano Nobile hingegen diente ab 1824 den Königen von Sardinien-Piemont und Herzögen von Genua als Repräsentationsgeschoss und übernahm damit eine Funktion, die es bereits unter den Durazzo innegehabt hatte.21 (Abb. 4) Nach seiner Umgestaltung im ausgehenden 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert war es im Rahmen von Festen, Empfängen, Banketten und Zeremonien Ort der Inszenierung der Familie und der Republik geworden. Malerisch ausgestattet von den ersten Künstlern des Genueser Barock, darunter Domenico Parodi (1630-1702) und Giacopo Antonio Boni (1688-1766), und mit goldenen Stuckaturen reich verziert, zeigten die Räume ein prächtiges Interieur, dessen Krönung eine der umfangreichsten und kostbarsten Gemäldesammlungen Genuas war.22 Unter den Savoyern wurden in diesem Bereich des Palastes nur wenige Veränderungen vorgenommen, darunter die Neudekorierung des Salone da ballo, des zentral gelegenen Festsaals, dessen Ausstattung der Glorifizierung der Familie Durazzo gewidmet gewesen war. Im Verkaufsinventar des Palazzo Durazzo ist überliefert, dass die Wände mit großformatigen Ölporträts der Dogen, Kardinäle und Botschafter aus dem Hause der Durazzo geschmückt gewesen waren. Decken und Wände des dank großer Fenster lichtdurchfluteten Raumes waren mit aufwendigen vergoldeten und versilberten Stuckaturen aus dem 18. Jahrhundert überzogen. Über eine allegorische Ausstattung gibt das Inventar jedoch keine Auskunft.23 Wie der Turiner Architekten Giuseppe Cardone in seinem Bericht von 1816 noch einmal herausstellte, kam diesem repräsentativen, den Appartementfolgen vorgeschalteten Raum im königlichen Zeremoniell der sabaudischen Könige eine herausragende Bedeutung zu, welche eine Neuausstattung unbedingt erforderlich werden ließ. Im Appartement des Königs, das sich im westlichen Flügel des Palastes befand, hatten überdies drei von vier Sälen mit settecentesken Fresken von der 21 Vgl. Piero Boccardo/Lauro Magnani: »La committenza«, in: Federica Lamera/Giorgio Pigafetta (Hg.), Il Palazzo dell’Università. Il collegio dei Gesuiti nella strada dei Balbi, Genova 1987, S. 67f. 22 Einen Einblick in die Sammlung sowie eine kurze Beschreibung der Interieurs gibt [Anonym:] Nouvelle description des beautés de Gênes et de ses environs, Genua 1823, S. 88-101. Weiterführend zur Geschichte der Gemäldesammlung der Durazzo vgl. Luca Leoncini: »Ascesa e caduta della quadreria dei ›Durazzo di Palazzo Reale‹«, in: Ders.: Da Tintoretto a Rubens, S. 41-74, sowie Paola Astrua: »La quadreria del Palazzo Reale di Genova e la Reale Galleria di Torino durante la Restaurazione«, in: Ebd. S. 75-84. Zu den Ausbauten und der Gestaltung der Interieurs unter den Durazzo vgl. Di Biase: Strada Balbi, S. 139-159. 23 Vgl. Archivio di Stato di Turino, Casa di Sua Maestà, Inv. 12826, 13v-14r.

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Abb. 4: Plan des Secondo Piano Nobile des Palazzo Reale mit den historischen Bezeichnungen der Räume nach Luca Leoncini. Digitalisat: http://www.palazzorealegenova.it/en/palazzo/palazzo.html vom 30.08.2012 Hand Tommaso Aldrovandinis (1653-1736) zum Thema der vier Elemente der Einrichtung des königlichen Schlafzimmers, des Audienzzimmers und seines Badezimmers zu weichen.24 Die Neugestaltung der genannten Räume erfolgte in jenem klassizistischen Stil, in dem Carlo Felices Nachfolger König Carlo Alberto auch das Appartement seiner Gemahlin im Secondo Piano Nobile sowie den großen Festsaal in der Turiner Residenz hatte modernisieren lassen.25 Mit der Umgestaltung der Genueser Residenz beauftragte man die 24 Vgl. Di Biase: Strada Balbi, S. 234, sowie Leoncini: Palazzo Balbi Durazzo Reale, S. 57, die sich beide auf das anlässlich des Verkaufs erstellte Inventar des Palazzo Durazzo von 1823 stützen. Einzig die Ausstattung mit dem Sujet der Luft ist bis heute erhalten geblieben. Vgl. Ezia Gavazza/Lauro Magnani: Pittura e decorazione a Genova e in Liguria nel Settecento, Genua 2000, S. 71. 25 Zur Person Carlo Alberto von Savoyen vgl. Giuseppe Talamo: Carlo Alberto di Savoia, re di Sardegna, in: Ghisalberti: Dizionario Biografico degli Italiani, Band 20, S. 310-326. Für die Planung und Durchführung der Modernisierungsarbeiten am Palazzo Reale in Turin anlässlich der Vermählung Vittorio Emanueles war Pelagio Palagi (1775-1860) verantwortlich, der 1832 auf Einladung Carlo Albertos nach Turin gekommen und 1836 von diesem zum »Maler für die königlichen Pa-

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Künstler Michele Canzio (1788-1868), Santo Varni (1807-1885), Giuseppe Frascheri (1809-1886), Cesare Michele Danielli (1821-1853) und Giuseppe Isola (1808-1893). Sie gehörten zu den angesehensten Vertretern der Accademia Ligustica, so dass diese Autragspolitik durchaus als bedeutsam gewertet werden kann.26 Die Zusammenarbeit mit Genueser Künstlern im Rahmen der Transformation des Palastes stellt eine stilistische und symbolische Anknüpfung an die Genueser Tradition dar. Insgesamt wurden von zweiundzwanzig Räumen des Gran Piano Nobile nur sechs zur Gänze neu dekoriert. In den übrigen Fällen wurde die Ausstattung beibehalten oder nur geringfügig verändert. Obgleich hierfür durchaus pragmatische Gründe wie etwa Sparsamkeit denkbar wären, vermögen diese auf den zweiten Blick nicht recht zu überzeugen. Zum einen war man beim Kauf des Palastes und dessen Einrichtung bereit gewesen, einen nicht unbeachtlichen Preis zu zahlen, zum anderen wurden bis 1840 eine Vielzahl von teils kostspieligen Umgestaltungen vorgenommen, die der Steigerung der Repräsentativität, dem Zeremoniell oder dem Luxus geschuldet waren. Exemplarisch sei hier der Einbau eines Aufzugs, die Neugestaltung der Fassade und die Anlage von Gärten einschließlich der für diese erforderlichen privaten und öffentlichen Zugänge genannt.27 Überzeugender scheint die Annahme, dass sich in der nur partiellen Neuordnung der Baustruktur und der Interieurs eine Strategie verbirgt, welche den im ersten Teil des Aufsatzes vorgestellten Gedanken der historischen Identität in inszenierter Form weiterführen würde. Für den Residenzbau des späten 15. und des 16. Jahrhunderts hat Matthias Müller gezeigt, dass das durch Erhaltung und Integration alter Bau- und Ausstattungselemente oftmals heterogene Erscheinungsbild deutscher Schlösser mitnichten das Ergebnis einer aus Sparsamkeit geborenen Verlegenheitslösung war. Vielmehr fungierten diese in ihrem neuen Kontext als historische Bedeutungsträger, in denen sich zentrale Aspekte fürstlicher Herrschaft, etwa dynastische Kontinuität und die Tradition läste« ernannt worden war. Vgl. Enrico Barbero: »Pelagio Palagi«, in: Daniela Biancolini (Hg.), Comunicare la maestà. Gli architetti e lo spazio del principe, Ausst.-Kat. Palazzo Reale, Turin 2008, S. 46-53. sowie Franca Dalmasso: »Pelagio Palagi nel palazzo reale di Torino e notizie relative a Racconigi«, in: Renzo Grandi (Hg.), Pelagio Palagi artista e collezionista, Ausst.-Kat. Museo Civico Bologna, Bologna 1976, S. 203-214. 26 Weiterführend zur Accademia Ligustica vgl. Franco Sborgi: Pittura e cultura artistica nell'Accademia ligustica a Genova, 1751-1920 (= Quaderni dell’Istituto di storia dell'arte della Università di Genova, Band 7), Genua 1974. 27 Vgl. Di Biase: Strada Balbi, S. 230-236.

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territorialer Ansprüche, materialisiert hatten.28 Könnte ein ähnliches Prinzip auch mehr als 300 Jahre später in Italien zum Tragen gekommen sein? Wenn der Beschränkung auf partielle Neustrukturierung des Palastes eine repräsentationspolitische Strategie zugrunde lag, müssten die bewahrten Räumlichkeiten basierend auf ihrer historischen Bedeutung durch zeichenhafte Symbolik charakterisiert gewesen sein, die sich in ihren Ausstattungen widerspiegelte. Zu klären wäre dabei, in welcher Weise die bestehenden Dekors und die neu entstandenen Räume zu einer semantische Einheit zusammengeführt werden konnten, die in Hinblick auf die neue Herrschaft eine identitätsstiftende Funktion erfüllte. Aus dem Jahr 1844 ist zunächst der Auftrag umfassender Restaurierungsund Reinigungsarbeiten überliefert, die den historischen Ausstattungen zu neuem Glanz verhelfen sollten. Wie uns die Irin Lady Sydney Morgan in dem Tagebuch ihrer Italienreise von 1819 zu berichten weiß, war der Zustand der Räumlichkeiten desolat.29 Mit der Oberaufsicht über die Sanierung und Aufarbeitung der bestehenden Substanz betraute man mit dem Architekten und Maler Michele Canzio wiederum einen Künstler der renommierten Accademia Ligustica.30 Die Dekorationen mit Stuck oder Fresken beließ man im Bereich der Decke weitestgehend in ihrer historischen Form, wobei im Rahmenbereich oftmals Einfügungen klassizistischer Ornamente vorgenommen wurden. In der 28 Vgl. Matthias Müller: Das Schloß als Bild des Fürsten. Herrschaftliche Metaphorik in der Residenzarchitektur des Alten Reichs (1470-1618), Göttingen 2004. 29 »[...] and after repeatedly ringing at the folding doors of the anti-room of the Mezzari Nobili Superiori, they were at last thrown open by a man with a boot on one hand and a brush on the other – who at once understanding the object of our visit, drew on a fine old livery coat, whitch hung above a marble bust of Filippo Parodi, and led the way through that long and interminable suite of apartments, whose walls were enriched with chefs d'œuvre of the arts, whose floors were of marble, and whose roofs were of gold. Galleries, cabinets, terraces, rooms variously named and variously decorated appeared in endless succession-all covered with dust, touched by decay, and abandoned to solitude.« Lady Syndney Morgan: Italy, Band 1, London 1821, S. 240. 30 Die Arbeiten schlossen neben der Marmorausstattung auch alle Stuckaturen und Wandbemalungen mit ein. Canzio beaufsichtigte überdies die Arbeiten an den Gartenanlagen des Palastes, sowie der die Planung und Herstellung der Festdekorationen für die Hochzeit von Vittorio Emanuele und Maria Adelaide von Österreich im Jahre 1842, die in Genua aufwendig gefeiert wurde. Weiterführend zur Person Michele Canzios und seinem Wirken für die Savoyer in Genua vgl. Giovanna Terminiello Rotondi: »Michele Canzio«, in: Ghisalberti: Dizionario Biografico degli Italiani, Band 18, S. 360-361.

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Wandzone wurden Teile der Freskierungen übermalt oder mit kostbaren Stoffen verkleidet, mit dem Ziel, eine größere Hängungsfläche zu erhalten.31 Zudem fand in den Appartements aus Turin eingeführtes Mobiliar Aufstellung.32 Durch diese für die Zeit marginalen Veränderungen der Ausmalungen und die Modifikation der Interieurs ließen sich die Räume modernisieren und im Sinne der Repräsentation des Königshauses Sardinien-Piemont neu kontextualisieren. Im Thronsaal etwa blieb der aufwendige Stuckdekor der Decke erhalten, sodass hier seit dem 19. Jahrhundert vergoldete Faune – zentrale Figuren des naturmetaphorischen Repräsentationsvokabulars der einstigen Republik – über Savoyische Wappen wachen. Auch in der sogenannten Galerietta, der südlichen Verbindung zwischen Ost- und Westflügel, behielt man die aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammenden Freskierungen bei, deren Sujets zum Themenkanon der oligarchischen Selbstinszenierung gehören (Abb. 5). Das von Giovanni Battista Carlone geschaffene Deckenfresko hat Die Aufnahme Astraeas unter die Götter zum Thema und zeigt den auf einer Wolkenbank thronenden Göttervater Zeus, welcher die mit Waage und Schwert attributierte Göttin in Empfang nimmt und ihr einen Platz im Olymp zuweist (Abb.6). Die aus derselben Ausstattungsphase stammenden Sopraporten, die dem Sohn des Künstlers, Giovanni Battista Carlone, zugeschrieben werden, zeigen ebenfalls Szenen der antiken Mythologie. Über der Tür zum Ballsaal ist Prometheus zu sehen, der den geistigen Funken in einem der von ihm aus Ton geformten Menschen entzündet. Die von Zeus ob dieser Anmaßung über ihn verhängte Strafe bringt der Künstler über der rechten Tür ins Bild, das den an einen Felsen gefesselten Giganten zeigt, dessen Leber just von dem Adler Ethon herausgerissen wurde.33 Über der rechten Tür begegnet uns der Retter des Prometheus, Herkules, der bei der Fesslung des Zerberus dargestellt ist.

31 Dieses Vorgehen war sehr wahrscheinlich der Schaffung von Ausstellungsfläche für die umfangreiche Gemäldesammlung geschuldet, welche sich aus der kurz nach dem Palast erworbenen kostbaren Sammlung der Durazzo, der 1816 von Vittorio Emanuele I angekauften Sammlung des Conte Andrea Gabaldoni, sowie einigen Stücken der Turiner Sammlung des Königshauses zusammensetzte. 32 Vgl. Leoncini: Palazzo Balbi Durazzo Reale. 33 Bisher deutete die Forschung die Szene als Folter des Giganten Tityos. Näher liegt jedoch die Deutung als Bestrafung des Prometheus, zumal hier nicht zwei Geier, sondern ein Adler das blutige Werk vollführen. Vgl. Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Reihe 2, Band 6, Stuttgart 1937, S. 654-729, hier bes. S. 698.

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Abb. 5: Blick von Osten in die Galerietta des Palazzo Reale. Aus: Leoncini: Palazzo Reale di Genova, Taf. 4C Das auf den ersten Blick eigenwillige Programm erschließt sich im Zusammenwirken mit der an die Galerie anschließenden kleinen Kapelle. Die Aufnahme Astraeas in den Himmel, wo sie als Sternbild Jungfrau ihren Platz einnimmt, gibt sich in diesem Kontext als ein Verweis auf die Himmelfahrt Mariens zu erkennen. Prometheus’ Belebung des Menschen zeichnet die Schöpfung Adams und Evas vor, während seine Strafe als Präfiguration der Passion Christi verstanden werden kann, indem sich beide für das Wohl der Menschheit hingeben. Der Abstieg des Herkules in die Hölle lässt sich in diesem Sinne mit dem Tode Christi und dessen Abstieg in die Vorhölle parallelisieren, wobei Auffahrt des Herkules im Sonnenwagen der Himmelfahrt des Gottessohnes gegenübergestellt werden kann.34 Gleichwohl impliziert die Darstellung 34 Vgl. Heinz Hofmann: »Von Africa über Bethlehem nach America: Das Epos in der neulateinischen Literatur«, in: Jörg Rüpke (Hg.), Von Göttern und Menschen er-

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Astraeas als Präfiguration der Jungfrau Maria und als Allegorie der Gerechtigkeit den Hinweis auf die einstige Republik und ihre himmlische Königin. Die Dekoration der Wandzone wurde erst in den 1730er Jahren von Lorenzo di Ferrari ergänzt. Hier stehen sich in Form gemalter Skulpturengruppen zwei typische Sujets oligarchischer Repräsentation gegenüber: Die Entführung der Helena durch Paris und Die Flucht des Äneas aus Troja mit Ascanius und Anchises. Als fingierter Relieftondo ist der ersten Gruppe mit der Darstellung des Triumph des Herkules, der zweiten das Thema Der Triumph der Venus über Mars je ein Motiv der guten Regentschaft beigegeben.35 Zur Zeit der Durazzo verband die Galerietta die östlichen und westlichen Appartements miteinander und beide mit dem Festsaal. Die Ausrichtung der Fresken nach Süden, ebenso wie der politische Charakter des Programms weisen auf ihre einstige Bedeutung als christlich-mythologischer Auftakt zur familienrepräsentativen Dekoration des Festsaales hin, wo den Betrachter die Porträts der erfolgreichen Diener von Kirche und Republik erwarteten. Dass die Galerietta unter den Savoyern in ihrer historischen Gestalt nur geringfügig durch klassizistisch ausgeformte Stuckelemente modifiziert überdauern konnte, ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit. In direkter Verknüpfung mit den modernen Dekors des neugestalteten Festsaals und des Thronsaals muss die sei- und settecenteske Ausstattung mit ihren komplexen Ikonographien und barocken Formen von einem Zeitgenossen als ästhetischer Bruch wahrgenommen worden sein. Dieser Effekt bindet aber gleichzeitig in besonderem Maße die Aufmerksamkeit des Publikums. In der Verklammerung mit den beiden wichtigsten Repräsentationsräumen der Krone wird das ursprünglich oligarchische Programm vor den Augen des Betrachters um die

zählen. Formkonstanzen und Funktionswandel vormoderner Epik, Stuttgart 2001, S. 130-182, hier bes. S. 170. Im Unterkapitel Christliche Epik (S. 162-172) beleuchtet der Autor verschiedene Varianten der Verschränkung von antiker Mythologie und christlicher Geschichtsschreibung. Das Prinzip der Präfiguration zur Herausstellung einer Kontinuität zwischen antiker und christlicher Götterwelt verdeutlicht Hofmann anhand des 1526 in Rom erschienen Bibelepos De vita et gestis Christi des Jacobus Bonus, in welchem dieser die Taten Jesu Christi mit denen des Herkules parallelisiert. 35 Vgl. Gerhard Bender: »Der brauchbare Held: Aneas. Stationen der Funktionalisierung eines Ursprungsmythos«, in: Hans Jürgen Horn/Walter Hermann: Die Allegorese des antiken Mythos (= Wolfenbütteler Forschungen, Band 75), Wiesbaden 1997, S. 311-330, sowie Ernst Schmidt: »Vergils Aeneis als augusteische Dichtung«, in: Rüpke: Von Göttern und Menschen erzählen, S. 65-92.

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Abb. 6: Giovanni Battista Carlone, Jupiter und Astraea, Deckenfresko der Galerietta, Palazzo Reale, Genua, ca. 1680 (© Bettina Morlang-Schardon) monarchische Regentschaft als krönende Herrschaftsform erweitert. Die Ausstattung kann in diesem Sinne als Verweis auf das Gottesgnadentum und damit als Legitimation der neuen Herrschaft verstanden werden, die hier als eine gerechte und friedliche Regierung angekündigt wird. Als Teil der historischen Bausubstanz und als Relikt des vergangenen politischen Systems, als das sie im Kontrast zu den anliegenden Räumen deutlich in Erscheinung tritt, versinnbildlicht die Galerietta aber gleichzeitig den chronologischen Aspekt des hier paradigmatischen Kontinuitätsgedankens, indem sie ihn für den Betrachter physisch erfahrbar werden lässt. Anders stellt sich der Umgang mit Teilen der historischen Dekorationen im östlichen Flügel des Palastes dar, welcher unter der sabaudischen Herrschaft als Repräsentationsappartement des Herzogs von Genua fungierte. Durch ihre architektonische Einbettung in sich geschlossen, überdauerten dort drei Ausstattungen aus der Balbi-Periode sowie eine prächtige settecenteske Spiegelgalerie aus der Zeit der Durazzo. Zwei der Dekorationen zeigen zudem, anders

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Abb. 7: Valerio Castello, Fama der Familie Balbi, Deckenfresko einer Sala, Palazzo Reale, Genua, ca. 1650. Aus: Steffi Röttgen: Wandmalerei in Italien. Barock und Aufklärung 1600-1800, München 2007, S. 280 als die übrigen erhaltenen Beispiele des 17. und 18. Jahrhunderts, durch Wappen und Symbole der ursprünglichen Besitzer individualisierte Ikonographien, die eine Rekontextualisierung in der zuvor beschriebenen Form per se ausschlossen. Der in den Inventaren als Vorzimmer des Herzogs von Genua titulierte Raum zeigt eine Ausmalung von der Hand des Genueser Malers Valerio Castello (1624-1659). (Abb. 7) Im Zentrum des Deckenspiegels schwebt die Göttin Fama, welche mit ihrer Fanfare den Triumph des Hauses Balbi verkündet. Den Verweis auf die Familie stellt ihr Wappentier, der Fisch, her, das hier als Tierkreiszeichen des Zodiak in seiner schicksalsbringenden Dimension ins Bild gebracht wurde. Kommentierend sind im Übergang zwischen Deckenund Wandzone Tugenden und Allegorien sowie Personifikationen der freien Künste beigegeben. Dass dieses bereits Mitte des 17. Jahrhunderts ausgeführte Fresko die Umgestaltung des Palastes durch die Durazzo überdauerte, ist vermutlich der engen Verbindung zwischen den beiden Familien geschuldet.

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Abb. 8: Blick von Osten in die Spiegelgalerie des Palazzo Reale, Genua, um 1730. Aus: Di Biase: Strada Balbi, S. 165 Bemerkenswert ist, dass der Raum während seiner Nutzung durch die Savoyer nicht nur unverändert blieb, sondern ihr als Anticamera, in der der Herzog von 301

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Genua zu empfangen und Audienzen zu geben pflegte, eine äußerst repräsentative Funktion zugewiesen wurde. Die der Anticamera del Duca di Genova unmittelbar vorgelagerte Galerie entstand auf Auftrag Gerolamo Ignazio Durazzos in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Abb. 8). Sie stellt nicht nur das imposanteste Beispiel einer genuesischen Spiegelgalerie dar, sondern zeigt gleichzeitig ein für die oligarchische Inszenierung der Superba innovatives Ausstattungskonzept, das der repräsentativen Bedeutung dieses Raumes Rechnung trug.36 Im Zentrum des moralisierenden Programms stehen, wie uns die Inschriften an den Stirnseiten verraten, die drei Gottheiten, deren ungebührliches Verhalten beispielhaft für jene Todsünden steht, welche die vier großen antiken Imperien, Assyrien, Persien, Rom und Griechenland, zum Niedergang verdammten.37 Dargestellt sind im Deckenspiegel Die Toilette der Venus als Sinnbild der Wollust, während an den Stirnseiten Der Wettkampf zwischen Apoll und Marsyas und Der Triumph des Bacchus vom Stolz des Ersten und der Maßlosigkeit des Zweiten zeugt (Abb. 9). Im Übergang zur Wandzone zeigen Porträts die letzten Herrscher der gefallenen Reiche, denen im Wandbereich, dargestellt durch Putten in fingierten Stuckmedaillons, die Untugenden zugeordnet werden, durch die sie ihren Reichen den Untergang brachten. In der Mitte der Längsseiten wird diesen Negativbeispielen das positive Exempel der Durazzo entgegengestellt. Jeweils zwei Tugenden halten eine große Kartusche mit dem Wappen der Familie, von denen eines, flankiert von Glaube und Frömmigkeit, als Verweis auf die kurialen Karrieren der Familie verstanden werden kann, während das andere durch die Assoziation mit Gerechtigkeit und Klugheit an die weltlichen Ämter und Errungenschaften der Familienmitglieder denken lässt. Im Wandbereich begründen, ebenfalls in Form von Stuckmedaillons, die Kardinaltugenden den Erfolg der Familie. Überdies lässt sich, vor dem Hintergrund des im Programm postulierten Kausalzusammenhangs zwischen den Taten und Eigenschaften von Herrschern und der Stabilität und dem Erfolg ihrer Reiche, der übergeordnete Bezug zu Genua herstellen. Als Senatoren und Botschafter,

36 Vertiefend zur machtpolitischen Funktion italienischer Galeriebauten auch am Beispiel der Spiegelgalerie des Palazzo Durazzo Reale in Genua vgl. Christina Strunck: »Les galeries italiennes comme lieux de pouvoir. Relations croisées avec la France, 1580-1740«, in: Claire Constans/Mathieu Da Vinha (Hg.), Les grandes galeries européennes, Paris 2010, S. 133-158. 37 Eine erste Datierung und stilistischer Einordnung der Ausmalungen erfolgte bereits bei Gavazza/ Magnani: Pittura e Decorazione, S. 86-89.

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Abb. 9: Blick von Westen in die Spiegelgalerie des Palazzo Reale, Detail, Genua, um 1730. Aus: Gavazza/Magnani: Pittura e Decorazione, S. 93 insbesondere aber als Dogen, haben die Durazzo durch eine kluge und gerechte Politik wie kaum eine andere Familie zur Konsolidierung und Stärkung der Republik beigetragen.

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Die Beibehaltung dieser beiden Dekorationen, die das Streben und die Tugenden zweier hochrangiger Genueser Adelsfamilien thematisieren, lässt sich kaum anders als herrschaftsstrategisch deuten. Bedacht werden muss, dass sie nicht nur der individuellen Repräsentation dienten, sondern besonders vor dem Hintergrund der staatlichen Nutzung der Paläste zu Zeiten der Republik gleichermaßen deren Erfolg veranschaulichen, der naturgemäß auf den Talenten, Ambitionen und Verdiensten der Oligarchen beruhte. Somit wurden sie, bedingt durch die politischen Ereignisse und Veränderungen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, zu historischen Zeugnissen der oligarchisch geprägten Geschichte Genuas. Allein die Nutzung als Empfangs- bzw. Audienzzimmer des Herzogs von Genua überführte die politischen Dekorationen in einen neuen Wirkungs- und Bedeutungskontext, ohne dass eine Modifizierung durch Übermalungen oder die Hinzufügung von Wappen oder Emblemen vorgenommen werden musste. Der Besucher oder Höfling, welcher den Dekorationen im Bewusstsein der neuen Herrschaft begegnete, konnte das Programm in der Gegenwart vollenden und erweiterte es dabei im Sinne einer politischen Genealogie um die Herrschaft des Königshauses SardinienPiemont. Verstärkend dürfte im hier beschriebenen Fall die Art der Ausstattungen gewirkt haben. Die mit Tugendallegorien und Sündendarstellungen alternierenden Spiegelflächen der Galerie, ebenso wie die Trompe l’œilMalerei der Anticamera, vermochten die Grenze zwischen fiktiver Realität und Betrachterraum aufzulösen und den Besucher in das ikonographische Programm zu inkorporieren, was einer individuellen Reflexion Vorschub geleistet haben mag.

5. Am Beispiel der Transformation des einstigen Palastes der oligarchischen Familie Durazzo zur königlichen Residenz der Savoyer konnte verdeutlicht werden, wie mittels einer strategischen Verschränkung von Bewahrung, Neukodierung und Überschreibung eine neue Herrschaft in das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft eingeschrieben werden kann. Die durch konträre Ansprüche und komplexe Umstände begründete Pluralität der einwirkenden Variablen zeigt die Legitimationsbestrebungen der neuen Regierung in ihrem historischen Spannungsfeld. Hier erweisen sie sich nicht als dem konkreten Vollzug des Herrschaftswechsels vorangestellte unumstößliche Entscheidung,

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Abb. 10: Detail der Wanddekoration mit dem Wappen der Durazzo flankiert von den Personifikationen der Gerechtigkeit und der Klugheit, Spiegelgalerie des Palazzo Reale, Genua, um 1730 (© Bettina Morlang-Schardon) sondern als genuiner Teil der politischen Aushandlungsprozesse in deren Rahmen sie sich als konkrete Strategien sukzessive ausformen. Das problematische Verhältnis zwischen der einstigen Republik Genua und dem Haus Savoyen und die Umstände der Herrschaftsübernahme stellten ein nicht zu unterschätzendes Konfliktpotenzial dar und bedrohte die Stabilität des neuen Herzogtums. Für die Genuesen, und speziell für den mächtigen Adel, bedeutete die Eingliederung der Seestadt in das Königreich Sardinien-Piemont eine Beschneidung ihrer Freiheit und Privilegien. Dass Genua 1833/34 zum Schauplatz der ersten Aufstände unter Mazzinis Führung wurde, zeigt, wie tief der Groll der Genuesen saß und wie sehr diese die Ambitionen der neuen Herzöge zu sabotieren vermochten.38 Trotz dieser schwierigen Ausgangslage fin38 Der Fall der Doria-Pamphilj wird illustriert bei Alessandra Sisto: »Dei feudi imperiali della famiglia Doria Pamphilj Landi durante il periodo napoleonico e la Restaurazione«, in: Bollettino storico bibliografico subalpino 42 (1940), S. 190-220. Zu Mazzini und den Aufständen in Genua vgl. Franco Della Peruta: Mazzini e i

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den sich ab den ausgehenden 1830er Jahren vermehrt die Namen Genueser Adeliger unter den Hofbeamten des Herzogtums, was darauf hindeuten mag, dass den Savoyern sukzessive eine Einbindung des Genueser Adels in das politische Handeln des neuen Herzogtums gelungen war.39 Folgte die Wahl des Königspalastes zeitlich auch unmittelbar auf die Entscheidung des Wiener Kongresses, so fand die Mehrheit der Umgestaltungs- und Restaurierungsarbeiten doch erst im Anschluss an die ersten Aushandlungsprozesse in den ausgehenden 1830er und beginnenden 1840er Jahren statt. Durch die Erweiterungen des Palastareals und die diversen Um- und Anbauten, aber auch mit der Umgestaltung des Repräsentationsgeschosses und dem Ausbau der königlichen Repräsentationsräume, schufen die Savoyer im Folgenden ein explizites und dauerhaftes Zeichen ihres Ranges und ihrer herrschaftlichen Ansprüche. Statt einer Überschreibung, Neuausrichtung historischer Orte und Architekturen oder einer umfassenden Neugestaltung des urbanen Raumes entschied man sich in Genua für eine Strategie der Mehrfachkodierung. Bereits die Wahl des Palazzo Durazzo zur Residenz, besonders aber der beschriebene Umgang mit seiner Bausubstanz, sind als Methode der Bedeutungsgebung zu verstehen, die auf einer Überlagerungsstrategie zur Inszenierung von Kontinuität basiert. Die optische Herausschälung des Palastes aus seinem urbanistischen Kontext einerseits und die Würdigung und Konservierung seiner historischen Pracht andererseits hatte eine symbolische Aufladung des Palastes zufolge, indem es ihn als einen Gedächtnisort der einstigen Republik hervorhob und ihn als solchen in die neue Herrschaft einband. Guiden, Reisetagebücher und Berichte von Zeitgenossen zeigen, dass seine Geschichte als Familiensitz der neuadligen Familie Durazzo auch in den folgenden Jahrzehnten stets gemeinsam mit seinem neuen Nutzungskontext reflektiert wird.40 Das Ungewöhnliche dieses Vorgehens wird spätestens dann deutlich, wenn man sich das zwischen den Familien herrschende Ranggefälle vor Augen führt. Während die Savoyer bereits im 15. Jahrhundert den Stand des Grafen gegen den der Herzöge einge-

revoluzionari italiani. Il »partito d’azione« 1830-1845, Mailand 1974, S. 99ff. und S. 233ff. 39 Marziano Brignoli: Carlo Alberto re di Sardegna, Mailand 2007, S. 161ff., sowie Francesco Salata: Carlo Alberto inedito. Il diario autografo del re lettere intime ed altri scritti inediti, Milano 1931. 40 Aus der umfassenden Menge der Reiseberichte und Guiden dieser Zeit seien hier beispielhaft genannt Giuseppe Banchero: Guida delle bellezze di Genova, Genova 1844; August von Goethe: Auf einer Reise nach Süden. Tagebuch 1830, hrsg. von Andreas Beyer, München/Wien 1999.

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tauscht hatten und diesem im beginnenden 18. Jahrhundert die Königswürde Sardiniens hinzufügten, gelang es den Durazzo trotz Reichtum und Dogenamt nicht, sich über den Stand eines Marchesen zu erheben. Indem wichtige Räume der einstigen oligarchischen Repräsentationsappartements nur geringfügig modifiziert erhalten blieben und lediglich durch Raumnutzung und Zeremoniell symbolisch-ideelle Überformung erfuhren, beließ man die historische Folie deutlich sichtbar. Über die Betonung des oligarchischen Gedächtnisses und der Konservierung der damit zusammenhängenden visuellen Argumentation gelang die materielle Schaffung einer Identität für die Sabaudische Herrschaft in Genua, die zwischen Kontinuität und hierarchischer Machtdemonstration changierte. Durch diese Form der Transformation, welche die drei Besitzperioden miteinander verwob, wurde aus dem einstigen Adelspalast ein Hybrid repräsentativer und politischer Zeichensysteme. Bis heute vermag die Ausstattung des Palastes sowohl seine oligarchische Geschichte als auch den finalen Triumph Savoyens über die Republik zu kommunizieren.

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Erinnern und Monumentalisieren

Die Räume der Architekturzeichnung Verortung und Erinnerung in den Zeichnungen von Landgraf Moritz von Hessen-Kassel SEBASTIAN FITZNER

Die Transformation von Herrschaftsräumen bedeutet immer auch eine Reflexion über den Raum und den Ort.1 In der Vergegenwärtigung und Aushandlung räumlicher Begebenheiten kommt jenen Medien eine besondere Rolle zu, die Raum und Ort nicht nur notierbar, sondern auch manipulierbar und memorierbar machen. Im Folgenden soll dieser Aspekt anhand der Architekturzeichnungen von Landgraf Moritz von Hessen-Kassel exemplarisch in den Fokus genommen werden. Aus der Hand des hessischen Landgrafen sind an die 400 Zeichnungen überliefert.2 Von keinem anderen fürstlichen Dilettanten der Zeit 1

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Dieser Aufsatz versteht sich als genuin kunstwissenschaftlicher Beitrag und nimmt die Medialität von Architekturzeichnungen in den Blick. Somit sind weniger theoretische Fragen des allgemeinen spatial turn von Interesse als solche der Konstruktion und Medialität des Raumes; im weiteren Sinne auch des topographical turn. Vgl. hierzu Stephan Günzel: »Einleitung«, in: Ders. (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 13-29, hier S. 21. Der Verf. dankt Sascha Winter (Jena) für Diskussion und Kommentare. Erst in jüngster Zeit haben sich Forschungsarbeiten den rund 400 überlieferten Zeichnungen gewidmet. Hier sei insbesondere auf das grundlegende DFGErschließungsprojekt »Online-Bestandskatalog der architektonischen Handzeichnungen des Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel in der Universitätsbibliothek Kassel (2° Ms. Hass. 107)« von Ulrike Hanschke verwiesen: http://www.ub.unikassel.de/1623.html vom 16.11.2012. Vgl. auch das DFG-Projekt zur Erforschung

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ist eine solche produktive Auseinandersetzung mit Architektur und Gartenanlagen im Medium der Zeichnung bekannt.3 Hierbei entstand in den Jahren 1604 bis 1632 ein loses Konvolut vorrangig niederhessischer Ortschaften;4 nur wenige der Darstellungen zeigen Architekturen anderer Herrschaftsgebiete. Insgesamt sind rund fünfzig Residenzen, Jagd- und Lustschlösser oder einfachere Landsitze, Vorwerke und Güter auf den Vorder- und Rückseiten der stark im Format abweichenden und oftmals mehrfach verwendeten Blätter festgehalten (Abb. 1). Es handelt sich hierbei um zentrale Orte der Herrschaftslegitimation, die landgräflichen Schlösser in Eschwege, Melsungen oder Rotenburg; aber auch um strategisch bedeutsame Burgen wie die Trendelburg und Plessenburg bei Göttingen;5 genauso wie um eine Vielzahl der 1527 aufgelösten Klöster Breitenau, Kaufungen6 oder Heydau7. Weniger ist hingegen

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der Architektur- und Ingenieurzeichnungen der deutschen Renaissance (15001650) unter http://www.architektur-und-ingenieur-zeichnung.de vom 16.11.2012. Zu Moritz weiterhin die einführende Studie von Ulrike Hanschke: »›…uns ein BIBLIOTHECAM ARCHITECTONICAM zu machen‹ – Die Architekturzeichnungen des Landgrafen Moritz«, in: Heiner Borggrefe u.a. (Hg.), Moritz der Gelehrte. Ein Renaissancefürst in Europa, Ausst.-Kat. Weserrenaissance-Museum Schloß Brake Staatliche Museen Kassel, Eurasburg 1997, S. 265-271. Ebenso Wolfgang Lippmann: »Der Fürst als Architekt. Überlegungen zu Wertung und Bedeutung des Architekturdilettantismus während des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum«, in: Georges-Bloch-Jahrbuch des Kunstgeschichtlichen Instituts der Universität Zürich 8 (2001/2003), S. 111-135, und jüngst Stephan Hoppe: »Paper Villas. The Drawings by the Landgrave Moritz von Hessen (15721632) for some Lustschlösser in the Countryside«, in: Monique Chatenet (Hg.), Maisons des champs dans l’europe de la Renaissance, Paris 2006, S. 87-98. Eine umfassende Übersicht und Geschichte der »Fürstenzeichnung« steht noch aus. Einführend hierzu W. Lippmann: Fürst, und Walter Wagner: »Der Architekturunterricht außerhalb der Kunstakademien in Mitteleuropa vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts«, in: architectura 10 (1980), S. 58-91. Eine Analyse der Fürstenzeichnungen für das 16. und frühe 17. Jahrhundert wird derzeit im Rahmen des Dissertationsvorhabens zu Architekturzeichnungen der deutschen Renaissance vom Verf. erarbeitet. Ob die Zeichnungen tatsächlich einer Erstellung einer »Bibliotheca Architectonica« dienten, wie Hanschke: Die Architekturzeichnungen, S. 266, diskutiert, ist fraglich und bedarf einer weiteren Analyse. Siehe auch die Einschätzung bei Hoppe: Paper Villas, S. 93f. Vgl. Martin Last: »Burg Plesse«, in: Plesse-Archiv 10 (1975), S. 9-249. Etwa die zeichnerische Bestandsaufnahme des Klosters in Oberkaufungen. Vgl. Ulrike Hanschke: »Die Zeichnungen des Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel von der ehemaligen Klosteranlage in Kaufungen«, in: Gemeindevorstand der Ge-

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Abb. 1: Landgraf Moritz, Schloss Melsungen (Detail), um 1630. Landes- und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, 2° Ms. Hass. 107 [238] die Residenz Kassel in den Darstellungen, die allesamt bestehende Bauten wie konkrete und imaginierte Umbauprojekte thematisieren, präsent. Die zeichnerische Auseinandersetzung ist dabei keinesfalls als eine systematische Dokumentation von Orten im Sinne einer kartographischen Landesaufnahme zu verstehen. Vielmehr visualisiert sich der Landgraf einzelne Orte, um diese konkret baulich zu verändern.8 Insofern haben die Zeichnungen einen dezidiert operativen Charakter: Mittels der Studien und Entwürfe wird der Um- und Ausbau landgräflicher Schlösser und Gärten projektiert.9 Die enorme Planungsintensität kommt etwa in den nahezu fünfzig Zeichnungen für das Lustschloss Fahre zum Ausdruck, indem hier Architektur und Garten in

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meinde Kaufungen und Sparkassenstiftung Landkreis Kassel – Kultur (Hg.), 1000 Jahre Kaufungen. Arbeit – Alltag – Zusammenleben, Kaufungen 2011, S. 38-45. Marc Rohrmüller: »Heydau – ein Lustschloss dreier Landgräfinnen von HessenKassel«, in: Denkmalpflege und Kulturgeschichte 1 (2002), S. 3-9 über den Umbau zum Lustschloss ab 1606 für Landgräfin Juliane. Allerdings sind keine Entwürfe von Moritz überliefert, jedoch ein Instruktion von 1616, die eine minutiöse Rekonstruktion der Umbauten dokumentiert, siehe ebd., S. 4f. Ebd. und Rudolf Helm: »Bauprojekte des Landgrafen Moritz«, in: Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde 75/76 (1964/65), S. 185-190. Exemplarisch analysiert bei Hoppe: Paper Villas.

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immer wieder neuen Formen und Typen zeichnerisch durchdacht werden. Von den zahlreich zeichnerisch avisierten Projekten konnten tatsächlich nur wenige realisiert werden, wenngleich dennoch Umbauten tatsächlich stattfanden.10 Dies hatte zwei Gründe: Erstens einen praktischen der die Ressourcen betraf, und zweitens entstand ein Teil der Zeichnungen nach der Abdankung des Landgrafen. Dieser musste 1627 auf Drängen der Landstände abtreten und hatte sich auf Schloss Melsungen und ab 1630 bis zu seinem Tode 1632 auf Schloss Eschwege niedergelassen,11 womit die zahlreichen Entwürfe aus der Zeit ab 1627 zudem ohne Aussicht auf eine Verwirklichung entstanden.12 Die nun dem Zugriff weitestgehend entzogenen Objekte wurden allerdings aus dem Exil zeichnerisch besetzt und dabei symbolisch zu gestaltende Herrschaftsorte generiert.13 Die Besonderheit der Zeichnungen aus Moritz’ Hand liegt so auch in der Transformation gängiger Repräsentationsmedien von Herrschaftsräumen. Ist es doch nun der Herrscher selbst, der sich im Modus einer kreativen ortsschöpferischen Auseinandersetzung in sein Territorium entwerfend einschreibt und dieses permanent neu stiftet und generiert. So scheint es berechtigt, trotz der zum Teil funktionalen und operativen Dimension der Architekturzeichnungen, diese vielmehr im Sinne der Verbildlichung von Handlungsräumen zu analysieren.14 Denn ein Großteil der landgräflichen Zeichnungen thematisiert den Herrschaftsraum, indem Distanzsetzung und Raumbesetzung medial durchgespielt werden. Damit einher geht auch die symbolische Besetzung von Landund Ortschaften. Eine derartig akribische Reflexion über den eigenen Ort ist merkwürdig und bedenkenswert. Eine erste These, oder erste Transformation, die hier relevant erscheint und die es zu diskutieren gilt, betrifft genau dieses Moment: Herrschaftsraum wandelt sich in einen Erinnerungsraum einzelner bedeutungstragender Orte. Eine solche Lesart setzt die Zeichnungen in Kontrast zu den gängigen Repräsentationsstrategien von Herrschaftsräumen, insofern, dass Raum und Ort weniger repräsentiert sondern in Gestalt des kreativen

10 Hanschke: Die Architekturzeichnungen, S. 266, und Rohrmüller: Heydau. 11 Claudius Sittig: Kulturelle Konkurrenzen. Studien zu Semiotik und Ästhetik adeligen Wetteifers um 1600, Berlin 2010, S. 177. 12 Helm: Bauprojekte, S. 190. 13 Für das moritzsche Großprojekt des Lusthauses in Fahre gilt dies allerdings nicht. Fahre blieb auch nach der Abdankung im persönlichen Besitz; vgl. ebd., S. 185. 14 Vgl. hierzu Stephan Hoppe: »Drei Paradigmen architektonischer Raumaneignung«, in: Katharina Krause (Hg.), Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Band 4, Spätgotik und Renaissance, München/Berlin 2007, S. 236-243.

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Fürsten aktiv generiert werden. Die Zeichnungen vergegenwärtigen folglich weniger ein definiertes Territorium, sondern sind die personalisierte Erfassung von Orten, die, wie zu zeigen sein wird, aus verschiedenen Gründen erinnerungs- und entwurfswürdig waren und damit nicht nur allein didaktischer oder planerischer Natur sind.15 Im Folgenden gilt es daher, exemplarisch architektonische wie hortikulturelle Orte als medial vermittelte Handlungsräume in den Blick zu nehmen. Drei Aspekte stehen hierbei im Fokus: Raum und Ort im Medium der Architekturzeichnung, Typologien der zeichnerischen Erfassung, und die Architekturzeichnung als Ausdruck einer Topophilie.

1. Raum und Ort der Architekturzeichnung Die Architekturzeichnungen Moritz’ sind an die reale Topographie des Landgrafentums gekoppelt, insofern sich in diesen die kartographische Wirklichkeit des Herrschaftsterritoriums abbildet. Die Chorographie vorrangig niederhessischer Gebiete ist der Tatsache geschuldet, dass Moritz’ Vater, Landgraf Wilhelm IV., bedingt durch die Landesteilung von 1567 Gebietserweiterungen nur im Norden und Nordwesten vornehmen konnte,16 womit das zeichnerische Terrain Moritz’ weitestgehend umrissen war.17 Hervorzuheben ist, dass diese neueren Gebietserwerbungen – wie etwa der Lehnsheimfall von Plesse im Jahr 157118 – auch in den Zeichnungen dokumentiert sind und diese damit zugleich territorialpolitische Belange thematisieren. Ginge man diesen Realitätseffekten der Architekturzeichnungen weiter nach, ließe sich auch das System der Residenzlandschaft des Landgrafentums in seinem Wegenetz und der räumlichen Verteilung von Jagd- und Lustschlössern analysieren. So wäre zu konstatieren, dass (I.) in Richtung Süden über eine große Fernstraße die Residenz Kassel mit den Schlossanlagen Melsungen, Fahre und Rotenburg verbunden sind; (II.) in 15 Die von Hanschke: Online Bestandskatalog, und Hoppe: Paper Villas, detailliert ausgeführten funktionalen Kontexte der Zeichnungen als Entwurfsmedien bleiben hiervon unberührt; vielmehr soll der immer wieder angedeutete vage Notizcharakter der Zeichnungen hier in seiner Medialität konkretisiert werden. 16 Ursula Braasch/Friedrich Uhlhorn: »Hessen-Kassel in Nordwestdeutschland«, in: Fred Schwind (Hg.), Geschichtlicher Atlas von Hessen. Text- und Erläuterungsband, Marburg 1984, S. 149-151, hier S. 150f. 17 Die Oberhessischen Gebiete finden keinen Eingang. 18 Braasch/Uhlhorn: Hessen-Kassel, S. 150.

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nördliche Richtung ausgehend von Kassel über eine große Fernstraße Hofgeismar, Trendelburg und Sababurg erschlossen sind; und (III.) in östliche Richtung die Schlösser Kaufungen, Lichtenau und Eschwege wiederum über eine große Fernstraße zu erreichen waren.19 Alle genannten Ortschaften finden sich auch in den Zeichnungen wieder. Im Folgenden soll aber nicht die Ebene der realräumlichen Kartographie der Architekturen im Fokus stehen, sondern zugunsten der Realitätseffekte der Zeichnungen die mediale Verfasstheit des Bildgebungsverfahrens einzelner Orte und Bauten analysiert werden.20 Die Verortung ausgewählter Architekturen und Gartenanlagen der Niederhessischen Territorien folgt einem festen Schema. Dabei werden in der Regel folgende Elemente hervorgehoben: Bau und Garten21, unmittelbare landschaftliche Umgebung und Wegesysteme. Exemplarisch sei hier auf das Blatt einer Mühlenanlage bei Schmidtfahrt verwiesen (Abb. 2). Bis an den Blattrand ziehen sich die Abbreviaturen der Landschaft. Die Andeutung des Flusslaufs bleibt dabei ebenso schematisch wie die generelle Frage des Maßstabs; wenngleich die Architekturen in der Regel mit detaillierten Bemaßungen versehen sind. Die Vielansichtigkeit der Orte, die durch verschiede Standpunkte und Betrachterwinkel dargestellt werden, ist ein weiteres Kennzeichen der Zeichnungen. Es handelt sich keinesfalls um kartographische Aufnahmen im strengen Sinn, denen etwa Messungen oder Koordinatennetze zugrunde liegen. Vielmehr um ein Darstellungsdispositiv, das Raum örtlich und punktuell visualisiert und zugleich Beziehungen und Relationen herstellt. Exponiert die Steilaufsicht den Baukörper, insofern dieser als überschaubares Objekt inszeniert ist, so dient der vogelschauartige Blick auch dem Erkennen des mikroräumlichen Umfelds: von Hügeln und Bergen, ebenso wie Wasserverläufen oder Vorwerken (Abb. 3). Diese baulichen Einheiten stehen relativ losgelöst von einer Einbettung in den Herrschaftsraum: Die auf den Zeichenblättern anund abgeschnittenen Mikroräume werden so als lokale Funktionseinheiten

19 Ebd. 20 Eine zu kurz greifende Analyse der Zeichnungen als Objekte einer Baugeschichte bei Siegfried Lotze: »Die Handzeichnungen des Landgrafen Moritz – Über Sababurg und Trendelburg«, in: Jahrbuch Landkreis Kassel 84 (1983), S. 40-44, und Ulrich G. Großmann: Renaissanceschlösser in Hessen. Architektur zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg, Regensburg 2010, S. 131-134. Letzterer zudem ohne Kenntnisnahme von Hoppe: Paper Villas, und Lippmann: Fürst. 21 Dies schließt neben dem Lustgarten in der Regel den Nutzgarten mit Baumgarten und Küchengarten ein.

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Abb. 2: Landgraf Moritz, Schmiedemühle bei Schmidtfahrt (Detail), um 1628. Landes- und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, 2° Ms. Hass. 107 [309] präsentiert. Dennoch endet mit der Blattgrenze nicht immer der Raum. Durch die Benennung der Wege wird der minimale Blattraum geographisch entgrenzt. Das räumliche Bezugszentrum bildet hierbei oftmals die Kasseler Residenz, insofern gerade die Aufschrift »Gasse nach Cassel« oder »Weg nach Cassel« häufig auf den Blättern zu finden ist. Regeln die Wege die makroräumliche Verortung der Architekturen, so wird gleichzeitig deren raumerschließende Funktion immer ins Bild gesetzt. Der von außen über die Brücke

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Abb. 3: Landgraf Moritz, Trendelburg mit Vorwerk an der Diemel, um 1626. Landes- und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, 2° Ms. Hass. 107 [318] nach Melsungen hinein führende Weg aus Kassel wird dann zu Gasse, die sich weiter verzweigt und den konkreten Ort begehbar macht (vgl. Abb. 1). Das Exponieren der raumfunktionalen Aspekte wird vor allem aber auf Ebene der Architektur und Gartenanlagen deutlich. Fast immer geht es um die Frage der Erschließung, der Lage und Relation von Funktionseinheiten, die in Bezug zueinander gesetzt werden. Mittels der Steilaufsichten kann das Zurücklegen bzw. Durchqueren der verschiedenen Räume nachvollzogen werden; besonders auch Höhenunterschiede und die Lage der Gärten. Somit wird hier weniger allein Architektur, sondern ein kohärenter Mikroraum als (zeichnerisches) Handlungsmodell ansichtig gemacht. Die Wegebezeichnungen entfalten darüber hinaus auch immer Bezugsstellen der Lokalisierung und setzten die Lustschlösser in Relation zur landgräflichen Residenz in Kassel. Die Zeichnungen lassen sich damit von den Produkten einer wissenschaftlichen Kartographie und einer offiziellen und politischen Repräsentation von

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Abb. 4: Wilhelm Dilich, Spezialtafel des Amts Melsungen, 1616. Aus: Baumgärtner Stercken Halle: Wilhelm Dilich, S. 192 Herrschaftsraum deutlich unterscheiden, insofern hier keine exakten Vermessungen, trotz der zahlreichen Maßangaben in den Blättern,22 zugrunde gelegt werden, wie es etwa für die aufwendigen Routenberechnungen und Kartierungen des sächsischen Territoriums Kurfürst Augusts von Sachsen belegt ist.23 Zeitgleich fand zudem die von dem Architekten, Ingenieur, Geographen und Maler Wilhelm Dilich betriebene tatsächliche kartographische Aufnahme hessischer Ämter statt (Abb. 4).24 Von 1607 bis 1625 sind im Auftrag des Land-

22 Beispielhaft an Fahre belegt bei Helm: Bauprojekte, S. 186f. 23 Vgl. hierzu Wolfram Dolz (Hg.): Genau messen = Herrschaft verorten. Das Reißgemach von Kurfürst August, ein Zentrum der Geodäsie und Kartographie, Ausst.Kat. des Mathematisch-Physikalischen Salons Berlin, München 2012. 24 Jüngst Ingrid Baumgärtner/Martina Stercken/Axel Halle (Hg.): Wilhelm Dilich. Landtafeln hessischer Ämter zwischen Rhein und Weser 1607-1625 (= Schriftenreihe der Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, Band 10), Kassel 2011.

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Abb. 5: Landgraf Moritz, Karte mit Ämtern und ausgewählten Landesdefensionswerken, 1607-1615. Landes- und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, 2° Ms. Hass. 107 [212] recto

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grafen Moritz vorrangig die Oberhessischen Gebiete in unterschiedlichen Kartenwerken visualisiert worden. Diese reichen von im kleinen Maßstab gehaltenen »Generaltafeln«, die eine große Übersicht des ganzes Landes bilden, bis hin zu den detaillierten Amtskarten der einzelnen Ämter und Herrschaften wie Vogteien. Ergänzt wird die amtliche Kartierung durch eine Serie von Ansichten der wichtigsten Burgen und Schlösser der einzelnen Herrschaften.25 Das einzige Zeichenblatt, das sich in dem Konvolut von Landgraf Moritz befindet und sich als Karte bestimmen lässt (Abb. 5), dokumentiert zwar ebenso verschiedene Ämter mit Ortschaften, auffälliger Weise auch solche, die für die Niederhessischen Landesdefensionswerke eine wichtige Rolle spielten und ist damit in einem militärpolitischen Kontext zu betrachten.26 Für die hier interessierenden hortikulturellen Räume gibt es eine solche Karte nicht. Deutlich wird damit, dass entgegen der Kampagnen der Landesvermessung eben nicht der »von den Territorialherren beanspruchte Raum ›gerastert‹ und die Lage vor allem wichtiger Orte zueinander zum Beispiel durch Kompassortungen bestimmt«27 wird, sondern Raum in den Zeichnungen Moritz’ über einzelne Bauten und Ortschaften symbolhaft Präsenz erlangt. Folglich sind es jeweils die konkreten Orte der Niederhessischen Landschaft, die ein durch »individuelle Erfahrung definiertes raum-zeitliches Element«28 bilden und den Ort zugleich historisieren.

25 Eine eingehende Analyse der Ansichten mit ihren Tekturen erfolgt im Rahmen des Dissertationsvorhabens vom Verf. siehe Anm. 3. Vgl. auch Tanja Michalsky: »Land und Landschaft in den Tafeln Wilhelm Dilichs«, in: Baumgärtner/Stercken/Halle: Wilhelm Dilich, S. 53-72. 26 Das Recto verzeichnet in Listenform unterhalb der Darstellung der befestigten Residenzstadt Kassel die Ober- und Niederhessischen Quartiere des Landesdefensionswerkes. Vgl. hierzu auch die Auflistung der Quartiere bei Gunter Thies: Territorialstaat und Landesverteidigung. Das Landesdefensionswerk in Hessen-Kassel unter Landgraf Moritz (1592-1627) (= Quellen und Forschungen zur Hessischen Geschichte, Band 23), Darmstadt/Marburg 1973, S. 38-39. 27 Yvonne Fritz: »Einleitung. Genau messen = Herrschaft verorten«, in: Dolz: Genau messen, S. 9-10, hier S. 10. 28 Siehe das Verhältnis von Raum und Ort der Landschaft bei Tanja Michalsky: Projektion und Imagination. Die niederländische Landschaft der Frühen Neuzeit im Diskurs von Geographie und Malerei, München 2011, S. 32.

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2. Zeichnerische Typologien Für alle Zeichnungen gilt, dass ein gleiches Set von Darstellungstechniken verbindlich ist (Abb. 6): Die von Moritz fast durchgängig verwendete Aufsicht in Form einer Vogelschauperspektive, ausführliche Kommentare, Detailstudien und differenzierte An- und Nahsichten sind hier charakteristisch. Eine solche Praxis der Bild-Text durchdrungenen holistischen und vor allem räumlichen »Repräsentation« von Architektur und Gärten macht damit nicht nur das Objekt im Sinne einer Modellhaftigkeit ansichtig, sondern hebt insbesondere auch auf die gestaltete Erscheinung desselbigen im Herrschaftsraum als signum ab. Damit sind bestimmte orthogonale Darstellungsmodi, Schnitte und Aufrisse, fast vollständig ausgeblendet. Die Verwendung von Grundrissen in Erweiterung als Raumfunktionszeichnungen und Schnittmodellen (horizontal geschnittene Gebäude analog auseinander zu nehmender hölzerner Architekturmodelle)29 wird hingegen als exzeptionelles Darstellungssystem einer Verortung und funktionsgebundenen Perspektivierung von Architektur neben den Vogelschauperspektiven vielfältig eingesetzt. Folgt man der Kernthese Stephan Hoppes, dass »architektonischer Raum damals [bis ins 16. Jahrhundert] immer noch vor allem ein funktional und symbolisch determiniertes und determinierendes Medium war«, und auch »leiborientierte Raumzugriffe«30 dominierten, so sind die für Entwurf und Planung produktiv gemachten Raumfunktionszeichnungen Moritz’ hier von besonderer Relevanz: insofern Raumfunktionen und Raumrelationen durch das Kartieren von Körperbewegungen prozessual definiert, korrigiert wie festgeschrieben werden können. Mit der Konzeption eines Obst- und Lustgartens für das Lustschloss Fahre nahe Melsungen ab 1628 liegen uns nicht nur eine, sondern gleich in mehrfachen Varianten überlieferte Entwurfszeichnungen vor (Abb. 7),31 die einen Einblick in die Entwurfstypologie der hortikulturellen Räume der Zeichnungen geben. Der Gartenraum ist mittels der Bezeichnung der Beete innerhalb des Blattes besonders markiert und nimmt damit eine hervorgehobene Stellung ein. Des Weiteren ist ersichtlich, dass der Garten unterhalb des Schlosses angelegt werden soll, umgeben von einer Mauer ausgehend zweier Ecktürme des befestigten Lustschlosses. Die Beete sind in Größe variierend als flache Rechtecke

29 Der Bezug zum Schnitt- und Architekturmodell bei Hoppe: Paper Villas, S. 93. 30 Hoppe: Drei Paradigmen, S. 236. 31 Zu Fahre Hanschke: Die Architekturzeichnungen, S. 268 und Helm: Bauprojekte.

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Abb. 6: Landgraf Moritz, Entwürfe für das Lustschloss und den Garten Fahre mit „necessarium“, 1628. Landes- und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, 2° Ms. Hass. 107 [129]

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dargestellt. Der Garten wird ferner mit einer Mauer, schwer sichtbar am Blattrand, und zwei kleineren Ecktürmen abgeschlossen. Soweit die Lesart. Nimmt man eine weitere Zeichnung hinzu, ändert sich dieser Befund jedoch maßgeblich (Abb. 8). Die um 90 Grad gedrehte Ansicht präsentiert den Garten nun mit wesentlich weniger Beeten, die zugleich an Größe gewonnen haben und auch nicht mehr bezeichnet sind. Zudem verläuft die abschließende Mauer nicht mehr rechtwinklig, sondern, bedingt durch den Darstellungsmodus, schräg, womit auch der Garten andere Dispositionen zu haben scheint. Auch die zuvor noch fast die gesamte Länge der Umfassungsmauer angrenzenden unteren Beete sind hier in signifikanter Weise nach rechts verrückt. Der Gartenraum unterliegt in seiner Disposition damit dem übergeordneten Darstellungsmodus und auch seiner Relation zur umgebenden Architektur. Gartenarchitektur wird zu einer Chiffre, die als zur Architektur und zum Architekturtypus des Lustschlosses gehöriges Entwurfsmedium eingesetzt wird. Die Symbolhaftigkeit der bei Landgraf Moritz gezeichneten Gärten wird auch in einem anderen Punkt ersichtlich: die Pflanzennamen sind, wie bereits Ulrike Hanschke deutlich machte, in der Regel nach dem Alphabet eingetragen.32 Hier kommt zeichnerisch der gebildete Dilettant der Botanik zum Ausdruck, womit solche Visualisierungen auch einen stark formelhaften Charakter tragen, als dass sie als konkrete Anweisungen oder Umsetzungen zu verstehen sind. Gleiches gilt für die Notationen in dem Lustgarten des Schlosses Eschwege, der durch die Planetennamen bestimmt ist.33 Das Entwerfen mit typologisierten Elementen führt oftmals zu einer eigentümlichen Raumdarstellung, insofern der umbaute Raum stark in seiner Begrenzung, nicht aber in seiner internen formalen Ausgestaltung thematisiert wird. Den Studien liegen per se austauschbare Formen zugrunde, die verstärkt in ihrer typologischen Reihung zu einem praktikablen Schema werden. Als Platzhalter steuern sie zudem die Imagination des Ortes. Ist der Lustgarten hier tatsächlich nur mit zwei unvollständigen Zeilen von Beeten zu denken oder sollten sich diese nicht über das gesamte Parterre erstrecken?34 32 Ulrike Hanschke: »Die Gartenanlagen der Landgrafen Wilhelm IV. und Moritz in Kassel im Spiegel handschriftlicher Quellen«, in: Die Gartenkunst 3,1 (1991), S. 175-188, hier S. 187. 33 Siehe Landes- und Murhardsche Bibliothek Kassel, 2° Ms. Hass. 107 Eschwege, Bl. 4a und 5a. 34 Das von Moritz verwendete Formrepertoire ist in vielerlei Hinsicht nicht ortsspezifisch zu denken, vielmehr wird immer wieder ein Formenapparat durchgespielt der dabei fast diagrammatische Bilder einer Herrschaftsarchitektur generiert. So wird

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Abb. 7: Landgraf Moritz, Entwurf für das Lustschloss und den Garten Fahre (Detail), um 1629. Landes- und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, 2° Ms. Hass. 107 [128] Die Zeichnungen des Landgrafen lassen sich in ihrer grundsätzlichen medialen Struktur von zwei unterschiedlichen Darstellungssystemen ableiten. Einerseits von der genuin aus der Praxis der Architekturzeichnung stammenden Verwendung von Architekturmodellen und deren gezeichneten Derivaten in Form sogenannter Schnittmodellzeichnungen als Horizontalschnitte.35 Andererseits von den populären Stadtansichten in Braun-Hogenbergs Civitates Orbis Terrarum 1572-1618 oder auch Ducerceaus Darstellungen (»Portraicture«) Les plus etwa in einer Zeichnung des Schlosses Ansbach von Moritz in auffälliger Weise ein geographisch untypisches norddeutsches Fachwerk wiedergegeben. Exemplarisch hierzu Josef Maier: Residenzschloss Ansbach. Gestalt und Ausstattung im Wandel der Zeit (= Jahrbuch des Historischen Vereins für Mittelfranken, Band 100), Ansbach 2005, bes. S. 58-60. 35 Vgl. Hoppe: Paper Villas, S. 93.

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excellents bastiments de France 1576-1579 (Abb. 9),36 womit die Einbettung der moritzschen Zeichnungen in topo- und chorographische Modi der Welterfassung evident ist.37 Zieht man solche Vorbilder heran, wäre besonders auch die Hypotyposis arcium, palatorium 1591 Graf Heinrich Rantzaus von Peter Lindeberg zu berücksichtigen, die zudem als »eine der ersten panegyrischen Baubeschreibungen nach antikem Muster ein Vorläufer und Wegbereiter der Gattung der repräsentative [sic!] Architekturstichserie«38 anzusehen ist (Abb. 10). Eine Anverwandlung derartiger tradierter Darstellungsdispositive der Welttheater, Atlanten und Architekturstichserien erklärt aber noch nicht, warum raumfunktionale Details oder Schnittmodellzeichnungen kartiert sind. Zwar greift Moritz auf populäre und erprobte Darstellungsmodi zurück, ergänzt diese aber – wie oben dargelegt – um weitere Darstellungsdispositive der Architekturzeichnung: (I.) den Grundriss in seiner Spezifizierung als Raumfunktionszeichnung, (II.) das Schnittmodell als Objekt einer modellnahen Raumausteilung und (III.) den Lageplan sowie Augenschein als makroräumliche Einheit, die allesamt in der Vogelschau zusammengeführt werden (vgl. Abb. 15). Bei den Zeichnungen kommt es folglich zu einer Synthese der Darstellungsdispositive von »Lineamenta« (orthogonales Entwurfssystem) und »Portraicture« (bildhaftes Entwurfssystem).39 Immer sind es Grundriss und räumliche Darstellung, die seine zahlreichen Entwurfsideen strukturieren. Dadurch gewinnen die Räume in den Zeichnungen auch an Dynamik. Der Entwurf und die Darstellung von Architektur vollziehen sich hier in der Einheit von Lineamenta und Portraicture: Erst durch die Verschränkung beider Dispositive erlangen das Zeichenblatt und damit der Entwurf einen auch imaginierten Handlungsraum, der Mikro- und Makrorelationen sichtbar macht und zudem mögliche Bewegungsräume bildlich wie schriftlich kartiert. Die solcherart zu Bild gebrachten Abbreviaturen von Bauten sind somit gerade operative Darstellungen von möglichen Handlungsszenarien und nicht allein zu betrachtende Abbildungen von Architektur, Ort und Raum. 36 Der Bezug zu Ducerceau bei U. Hanschke: Die Architekturzeichnungen, S. 187. 37 Vgl. zu dem Themenfeld der Topo- und Chorographie mit weiterer Literatur Michalsky: Projektion und Imagination. 38 Michaela Völkel: Das Bild vom Schloss. Darstellung und Selbstdarstellung deutscher Höfe in Architekturstichserien 1600-1800, München 2001, S. 28. 39 Dieser zentralen Frage von Darstellungsdispositiven geht das DFG-Forschungsnetzwerk »Schnittstelle-Bild. Architektur und Bildkritik im Dialog« nach www.schnittstelle-bild.de vom 16.11.2012.

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Abb. 8: Landgraf Moritz, Entwurf für das Lustschloss und den Garten Fahre, um 1629. Landes- und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, 2° Ms. Hass. 107 [125]

Abb. 9: Jacques Androuet Ducerceau, Chateau de Bury aus Les plus excellents bastiments de France, 1579. Bildarchiv des Instituts für Kunstgeschichte München

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Abb. 10: Peter Lindeberg, Schloss Wandsbek aus Hypotyposis arcium palatiorum et monumentorum […], 1591. Bildarchiv des Instituts für Kunstgeschichte München

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3. Topophilie und Zeichenlust Die Zeichnungen vergegenwärtigen folglich die personalisierte Erfassung von erinnerungs- und entwurfswürdigen Orten. Dieses Vorgehen ist hier versuchsweise mit dem Begriff der Topophilie, der Raumliebe, bestimmt. Die Topophilie muss hinsichtlich des in seiner Historizität problematischen Terminus Liebe allerdings als heuristisches Instrument verstanden werden. Es geht nicht darum, moderne Konzepte der Liebe respektive der Ortsliebe retrospektiv zu übertragen,40 jedoch bewusst eine Begrifflichkeit in Anschlag zu bringen, die die frühneuzeitliche Zeichenpraxis des Landgrafen Moritz in ihren medialen Strukturen auszuloten in der Lage ist. Insofern seit den Arbeiten von Henri Lefebvre Raum per se als angeeigneter und konstruierter Raum verstanden werden kann,41 ist das Bezugsfeld des Raums immer auch auf das Individuum als Medium der Vergewisserung und Selbstverwirklichung zu verstehen.42 Karlheinz Wöhler nimmt diese Überlegungen zum Ausgangspunkt der Konkretisierung der Topophilie. Wöhler versteht den Raum nicht allein physikalisch oder operativ, sondern als für eine bestimmte Person bedeutungsvollen Raum, der durch Handlungen angeeignet und imaginiert wird. Im performativen Prozess der Aneignung generiere sich so eine eminente Bedeutungshaftigkeit und Sinnfälligkeit. Ein derart perspektivierter Begriff der Topophilie wird in dieser Lesart bereits bei Gaston Bachelard einschlägig verwendet, wenn dieser unter dem »geliebten Raum« vor allem das Moment der Imagination »emotional-werthafter« Räume verstehe, so Wöhler. Solche geliebten Räume erzeugten nach Bachelard »›Bilder des glücklichen Raumes‹«, die eine affektive Bindung an den Raum darstellen.43 Zugleich sind diese Räume positiv kon-

40 Claudia Jarzebowski: »Art. ›Liebe‹«, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Band 7, Stuttgart/Weimar 2008, Sp. 896-905. Hier erscheint besonders das Konzept der Liebe als Ausdruck einer Herrschaftsbeziehung in metaphorischer Lesart aufschlussreich: »[…] als Code einer Verhaltensweise, die den herrschaftlichen Raum strukturierte und hierarchisierte, nicht als ein im modernen Sinn auf Innerlichkeit oder Wahrhaftigkeit gerichtetes Gefühl.« Ebd., Sp. 897. 41 Henri Lefebvre: The Production of Space, Oxford 1991. Vgl. zudem Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006. 42 Karlheinz Wöhler: »Topophilie. Affektive Raumbindung und raumbezogene Identitätsbildung«, in: Werner Faulstich/Jörn Glasenapp (Hg.), Liebe als Kulturmedium, München 2002, S. 151-169, hier S. 153. 43 Zit. n. ebd., S. 153.

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notiert oder rufen positive Gefühle hervor, werden diese so liebenswürdig, wie Wöhler weiter ausführt: »In dem Maße, wie der Raum als Mittel der Selbstvergewisserung und Selbstverwirklichung attraktiviert, sich also für das Individuum aus dem homogenen ›Raum‹ quasi als sakraler Raum heraushebt, wird er zu einem geliebten Raum, und es stellt sich eine emotionale Raumbindung ein. Raumliebe ist eine Strukturierungsmodalität«44.

Zwar hat Wöhler vor allem die postmoderne Gesellschaft im Blick, dennoch erscheint der Prozess der selektiven Sinnstiftung von differenten Räumen auch für die Frühe Neuzeit zutreffend. Maßgeblich die begriffliche Unterscheidung zweier hortikultureller Räume, des Nutz- und Lustgartens, ist hier wegweisend. Konstituiert sich mit dem Lustgarten ein Ort, der dezidiert als Rückzugsraum einer kontemplativen Betätigung fungiert, so ist der Nutzgarten dessen agrarisch-funktionaler Gegenpart, dessen räumliche Qualitäten eben nicht in der möglichen Rekreation oder Belustigung liegen. Wie Hubert Fischer deutlich macht, ist diese Trennung seit 1616 lexikographisch belegt, wobei das Konzept des Lustgartens maßgeblich durch die Termini der Gartenzier (»Formen und Ornamente«) und Gartenlust (»Organisation von Bewegung und Ruhe des menschlichen Körpers«) bestimmt ist.45 Dem Feldbau hingegen ist zudem eine stärker politische Dimension zu eigen; und so findet dieser agrarisch-praktische Nutzraum auch im gemalten Fürstenstaat des Landgrafen Moritz auf Schloss Eschwege seinen prominenten Darstellungsort, der Lustgarten hingegen nicht.46 Mit dem Terminus der »Lust« kann das dezidiert 44 Ebd., S. 153. 45 Hubert Fischer: »Gartenkunst. Streifzüge durch die Geschichte eines Begriffs und einer Kunst«, in: Deutsche Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur (Hg.), Gartenkunst im Städtebau Geschichte und Herausforderungen (DGGL Jahrbuch), München 2007, S. 8-11, hier S. 10. Weiterhin Sebastian Fitzner: »Die Gartenkunst als Kunstwerk und Gattung. Über den Wandel des Kunstwerkcharakters und die Terminologie eines sich verändernden Gegenstandes«, in: Stefan Schweizer/Sascha Winter (Hg.), Gartenkunst in Deutschland. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Geschichte – Themen – Perspektiven, Regensburg 2012, S. 72-87. 46 Siehe Hermann Fabronius: »Historische Beschreibung Der Policey-Tugende christliche Obrigkeit und Unterthanen. Wie der Durchleuchtigste und Hochgeborne Fürst und Herr, Herr Moritz L. zu Hessen … Dieselbigen nach der Politia und Ethica im Schloß Eschwege in Hessen disponieret, und in Unterschiedenen Gemachen mit schönen Bildern und Historien abmahlen lassen. Dannen aber mit umbstendiger Erzehlung und beygefügten Epigrammatis abgeschrieben und publi-

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modernistische Konzept der Topophilie durchaus für eine historische Lesart produktiv gemacht werden, sofern man philía weniger im strengeren Sinne als Liebe, sondern allgemein als »Lust«, einem Wohlgefallen, perspektiviert.47 Denn im Sinne eines Topophilie-Begriffes, der, wie Wöhler deutlich macht, die Struktur unterschiedlicher Räume betont, lässt sich das Konzept eines dem Vergnügen und Wohlgefallen (»Lust«) gedachten Raums historisch sehr wohl herausarbeiten und als distinkte Einheit im Gegensatz zum funktional und semantisch anders gefassten Nutzraum bestimmen. Das Herausgreifen bestimmter Orte bei Landgraf Moritz und die vielfältige zeichnerische Auseinandersetzung mit diesen deutet auf eben jene »Lust« – eine vielfältig gestimmte emotionale48 Raum- und Ortsbindung – hin, die den Raum eben nicht nur in tradierter Weise als dynastischen Herrschaftsraum perspektiviert noch allein in rein operativer Weise in Form von Bauplänen darstellt. Nicht nur sind es Bestandsaufnahmen und Umbaupläne, sondern kleinteiligste Entwürfe die aus der permanenten kreativen Beschäftigung mit den Orten entstehen. Dieser Gedanke der Topophilie konkretisiert sich an Schloss Rotenburg am auffälligsten (Abb. 11). In einer Steilaufsicht wird die vierflügelige Schlossanlage mit dem Garten und den Wirtschaftsbauten visualisiert. Die Anlage wurde bereits unter Landgraf Wilhelm IV. 1570 neu errichtet, und 1607 der nördliche Fuldaflügel unter Landgraf Moritz fertiggestellt.49 Fest umrissen ist der Bau von seinem Umfeld isoliert und tritt als Bild entgegen. Die als Ansicht, »Facies«, beschriebene Darstellung von 1616 ist dabei prominent um die Notation einer Melodie ergänzt.50 Der lateinische Liedtext transponiert die wirkmächtige Bildlichkeit der Ansicht nun in die Sphäre der Musik.51 Heißt es doch: »Erblicke das herrliche neue Rotenburger Schloß, Ho-

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cieret seynd.«, in: Heiner Borggrefe (Hg.), UT PICTURA POLITEIA oder der gemalte Fürstenstaat. Moritz der Gelehrte und das Bildprogramm in Eschwege (= Studien zur Kultur der Renaissance, Band 1), Marburg 2000, S. 140-237, hier S. 156-159. Marianne Klemun: »Art. ›Lustgarten‹«, in: Jaeger, Enzyklopädie der Neuzeit, Sp. 1034-1038, hier Sp. 1034. Zu der kontrovers diskutierten Emotionen-Forschung vgl. auf methodischtheoretischer Ebene Bettina Hitzer: »Emotionsgeschichte – ein Anfang mit Folgen«, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2011-11-001 vom 30.10.2012. Hanschke: Die Architekturzeichnungen, S. 283. Ebd., S. 285. Nach Auskunft von Klaus Pietschmann (Mainz) handelt es sich um eine zweistimmige Komposition in italienischer Klaviertabulatur, die in dieser Zeit im Kontext mit Vokalmusik eher ungewöhnlich ist. Für den Hinweis danke ich Klaus Pietschmann herzlich.

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Abb. 11: Landgraf Moritz, Schloss Rotenburg mit Notation eines Liedes, um 1616. Aus: Hanschke: Die Architekturzeichnungen, S. 284

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sianna allein dem edlen Lobe Gottes«.52 Das Lob auf das »neue« und »herrliche« Schloss ist eine eindringliche Verhandlung der Ortsliebe, insofern nämlich nicht allein die Zeichnung den Bau adäquat vermitteln kann. Das betonte »Erblicken« spielt zudem auf zwei Dinge an, das in der Zeichnung vergegenwärtigte Schloss und die reale Architektur. Letztere ist insofern von Bedeutung, da das Schloss auch unmittelbar nach der Eheschließung Moritz mit Juliane von Nassau-Dillenburg offensichtlich gerne besucht wurde.53 Der poetische Modus, in dem der Ort nun auch klanglich vergegenwärtigt und erblickt wird ist damit eine veritable Strategie der Semantisierung von Architektur. Damit weist die Zeichnung zugleich eine strukturelle Parallele zu sogenannten Bildmotetten54 des 16. Jahrhunderts auf (Abb. 12), mit denen Moritz der Gelehrte als stupender Kenner der Musik vertraut gewesen sein dürfte. Diese zeichnen sich durch eine Zusammenführung von Bild und Noten aus, womit die Bildmotetten besonders das Musizieren selbst reflektieren.55 Gerade aber in ihrer Funktion als Gebet und Andacht unterstützende Medien scheint die Bildmotette hier auch prägend für Moritz’ Zeichnungskonzept,56 das den Blick auf die Architektur um die Dauer des Lobliedes auch zeitlich auszudehnen in der Lage ist – Architektur und Herrschaftsraum werden hier medial transformiert. Das Loblied ist, wie die raumfunktionalen Bezeichnungen, eine erweiterte Schicht der Reflexion über Architektur als auszuzeichnendem Ort. Mit dem Terminus der Chorographia ist bereits argumentiert worden, dass das Bildgebungsverfahren der moritzschen Architekturzeichnungen mit tradierten Darstellungssystemen der Repräsentation nahsichtiger Mikroräume der Welttheater durchaus Parallelen aufweist. Führt man sich noch einmal die seit Ptolemaeus bekannte Unterscheidung von Chorographia und Geographia vor Augen, die in dem Verhältnis von Mikro- und Makroraum gründet, und weiterhin die berühmte Verbildlichung dieser konträren Modi der Welterfassung

52 Zit. nach Hanschke: Die Architekturzeichnungen, S. 285. 53 Ebd. 54 Für den Hinweis auf die Bildmotetten danke ich Klaus Pietschmann (Mainz) herzlich. Vgl. hierzu besonders Reinhold Hammerstein: »Imaginäres Gesamtkunstwerk. Die niederländischen Bildmotetten des 16. Jahrhunderts«, in: Herbert Schneider (Hg.), Die Motette. Beiträge zu ihrer Gattungsgeschichte (= Neue Studien zur Musikwissenschaft, Band 5), Mainz 1992, S. 165-203. 55 Ebd., S. 166. 56 Ebd., S. 201.

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Abb. 12: Johann Sadeler, Bildmotette mit dem Hohelied Salomos, um 1590. Aus: Hammerstein: Imaginäres Gesamtkunstwerk, S. 190 in Peter Apians Cosmographicus liber,57 ist die Engführung der Chorographia auf die Sinnesorgane von Sehen und Hören bedenkenswert (Abb. 13). Wenn der kleinteilige Raum der Chorographia in diagrammatischer Weise pars pro toto erblickt und erhört zu werden verlangt, ist die um die Notation von Klaviertabulatur und Vokalmusik erweiterte Architektur in der Zeichnung zum Rotenburger Schloss ein eindringliches Beispiel für eine semantische, dezidiert auf die Sinnesorgane gerichtete, und eben nicht ganzheitlich und mathematisch geprägte Welterfassung.58 57 Peter Apian: Cosmographicus liber, Landshut 1524, fol. 3r-3v. 58 Siehe Tanja Michalsky: »Geographie – das Auge der Geschichte. Historische Reflexionen über die Macht der Karten im 16. Jahrhundert«, in: Freundeskreis der Prof. Dr. Frithjof Voss Stiftung und Georg-Eckert-Institut (Hg.), Die Macht der Karten oder: was man mit Karten machen kann, Eckert.Dossiers 2 (2009), S. 1-21, hier S. 10f., http://www.edumeres.net/urn/urn:nbn:de:0220-2009-0002-091 vom 30.10.2012.

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Abb. 13: Peter Apian, Schema von Geographia und Chorographia (Details) aus Cosmographicvs liber […], 1533. Bildarchiv des Instituts für Kunstgeschichte München Weniger die bautechnischen Verhandlungen werden so in den Zeichnungen sichtbar, denn vor allem das Verständnis der Architektur als ortsbezogener und erinnerungswürdiger Bedeutungsträger. Eine solche Sinnstiftung findet nicht nur in den aufwendigeren Steilaufsichten, sondern auch in kleinteiligen entwurfsbezogenen Studien statt. Derartige Strategien der Semantisierung, qua eines poetischen Modus, zeigen gerade in ihrer medialen Transformation, dass über Orte sinnstiftend reflektiert wird ohne dabei rein topischen Charakter zu haben. Schrift und Bild sind hier eng zusammen zu denken und können erst in ihrem Zusammenspiel als semantisierende Begründungen der Architekturwahrnehmung fungieren.

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Dass die Architekturzeichnung nicht nur ein Medium zur Klärung entwurfstechnischer Fragen darstellt, sondern als Objekt der personalisierten Vergegenwärtigung fungiert, zeigt erneut das für Landgraf Moritz wichtige Projekt Fahre. In der Serie zur Konzeption des Lustschlosses findet sich auf einer Entwurfszeichnung für eine kleine Brücke die in auffälliger Weise dem Zeichner und Betrachter zugewandte Abbreviatur »1628 M.M.M. M.L.Z.H.« wieder (Abb. 14).59 Die erste Abbreviatur, »M.M.M.«, lässt sich, wie Claudius Sittig anhand der Leichenpredigt des Eschweger Hofpredigers Sebastian Herrnschwager belegt, wie folgt schlüssig auflösen: »›ich [Landgraf Moritz] habe mein Symbolum C.E.V. eine geraume zeit geendert / vnd darfür M.M.M. geschrieben: Viel haben sich verwundert / aber es heist / Mauriti, Memento Mori, Moirtz / Bedenck dz du must sterben.‹«60

Damit änderte Moritz nach der Abdankung 1627 in programmatischer Weise sein ursprüngliches Motto consilio et virtute.61 Und auch die zweite Abbreviatur, »M.L.Z.H.« geht weit über die semantische Praxis der Signatur als Modus der Kennzeichnung eines Entwurfes hinaus;62 handelt es sich doch hierbei um einen, allerdings bereits seit früher Zeit, weiteren von Moritz verwendeten Sinnspruch, der von seinem Namen Landgraf zu Hessen abgeleitet ist: »Meine Lust zum Höchsten«63. In der Verbindung mit den beiden zeitlich antagonistisch gegenüberstehenden Wahlsprüchen in den letzten Lebensjahren des Landgrafen wird deutlich, dass einerseits Gedanken eines guten Todes formuliert werden und zugleich der frühe Wahlspruch hiermit korreliert wird. Wie Sittig herausarbeitet, lässt sich letzterer Wahlspruch »als superlativische Formulierung im Rahmen einer adeligen Kultur der ›Exzellenz‹ verstehen«, wenngleich eine Deutung im theologischen Sinn aber nicht auszuschließen wäre,64 was in dem Kontext des memento mori durchaus plausibel erscheint. Ungeachtet dieser beiden konträren Deutungen der »Lust zum Höchsten« ließe sich auch vermuten, dass diese hier mit eben jener zeichnerischen Produktion eo ipso zu korrelieren sei. Gerade in der Verbindung dieser beiden Wahlsprü59 Helm: Bauprojekte, S. 187f., benennt die Abbreviatur »M.M.M.« auch für ein Blatt des geplanten Schlosses Moritzheim, was sich allerdings nicht verifizieren ließ. 60 Sittig: Kulturelle Konkurrenzen, S. 177. 61 Ebd. 62 Übliche Signaturen bei Moritz sind vor allem »M.L.H.«. 63 Sittig: Kulturelle Konkurrenzen, S. 177. 64 Ebd., S. 177f.

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Abb. 14: Landgraf Moritz, Entwurf für eine Brücke bei Fahre mit Motti (Detail), 1628. Landes- und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, 2° Ms. Hass. 107 [134] che auf einer Architekturzeichnung zum wichtigsten Projekt des Landgrafens wird deutlich, dass der Zeichnung eine spezifische Imaginationskraft seitens des Zeichners zugesprochen wird. Die topische Mahnung des memento mori des Körpers des Entwerfers wird zugleich an den architektonischen Körper gekoppelt. Damit erhält die bereits im Zeichnungsblatt angelegte und festgeschriebene Architektur eine Memorialfunktion, die, ein Jahr nach der Abdankung, an die Vergänglichkeit gemahnt, zugleich aber auch als zu überdauerndes Monument nach dem Tode fungieren könnte. Die Architektur und den Entwurfsvorgang im Medium der Schrift und der Musik als bedeutungshaft zu reflektieren, und so in Bezug zur handelnden

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Person zu setzen,65 zeigt auch einer der Entwürfe für das Lustschloss Weißenstein bei Kassel (Abb. 15). Das ikonisch wie schriftlich äußerst dicht besetzte Zeichenpapier ist nahezu in der Blattmitte – gleichsam zwischen den beiden Darstellungen von Grundriss und Vogelschau auf neutralem Grund – mit »Si tua res crescit, crescit labor & tibi Cura, Cura tibi seges est, messis & ipsa, Labor«66 bezeichnet. Damit erscheint der auf dem Blatt vollzogene und kommentierte Entwurfsvorgang als weniger erbauliches Vorhaben. Ob und wie diese Einschätzung nun auch jenseits des Zeichenblattes, im Kontext der gesamten Entwürfe seine Berechtigung im Sinne des Urhebers hatte, lässt sich nicht sagen. Mit Blick auf die vielteiligen Entwurfseinheiten und immer wieder neu konturierten Skizzen ließe sich die Wendung von Moritz möglicherweise gerade auf die immer wieder Probleme produzierende Tätigkeit des Entwurfes eo ipso beziehen. Die Topophilie, dies lässt sich zusammenfassen, wird in ihrer Ausprägung einer Zeichenlust auf zwei Ebenen greifbar. Einerseits in dem gewählten Bildgebungsverfahren makro- und mikroräumlicher Notationssysteme und andererseits in der textuellen Verhandlung, wenn die Zeichnungen und damit die repräsentierten und imaginierten Architekturen besungen werden, oder der Urheber die Zeichnungen und Bauprojekte mit Signaturen und Sprichwörtern kommentiert.67

65 Aus dieser Betrachtung müssen bestimmte Annotationen auf den Blättern ausgeschieden werden, insofern offenkundig etwa alte Notizzettel aus der Kanzlei wieder verwendet wurden. Siehe Hanschke: Die Architekturzeichnungen, S. 266. 66 Übersetzung nach Helm: Bauprojekte, S. 190: »Wie das Werk dir wächst, so wachsen Arbeit und Sorge, Sorge ist deine Saat, und deine Ernte ist Arbeit.« Für Hanschke: Online-Bestandskatalog, 2° Ms. Hass. 107 [342] recto, oben steht der Sinnspruch in keinem »inhaltlichen Zusammenhang«. Eine alternative Deutung wird jedoch nicht angeboten. 67 Ein derartig perspektiviertes Konzept einer Topophilie scheint dabei kein singuläres noch medial gebundenes Moment adeliger Orts- und Memorialkultur zu sein. Erinnert sei hier beispielsweise an die Errichtung des programmatisch benannten Jagdschlosses Fröhliche Wiederkunft, das Herzog Johann Friedrich I. von Sachsen während seiner Gefangenschaft plante und erbauen ließ und schließlich 1552 als Exil bezog. Mit weiterer Literatur Heiko Laß: Jagd- und Lustschlösser des 17. und 18. Jahrhunderts in Thüringen, Petersberg 2006, S. 402f.

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Abb. 15: Landgraf Moritz, Entwurf für das Lustschloss und den Garten Weißenstein bei Kassel, um 1627. Landes- und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, 2° Ms. Hass. 107 [342]

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Schlussbetrachtung Die Ausgangsthese war, dass sich Herrschaftsraum durch Topophilie in einen Erinnerungsraum einzelner bedeutungstragender Orte wandele. Damit ist das Kartieren und Zeichnen nicht nur operativ, also im Sinne von Planungskampagnen zu verstehen. Vielmehr lässt sich die enorme Ortsproduktion und -modifizierung als selbstschöpferische und kreative Einschreibung in das Herrschaftsterritorium beschreiben. Zugleich weicht der Modus der Erfassung von tradierten kartographischen Repräsentationen des Herrschaftsraums ab, wie sie zeitgleich durch Wilhelm Dilich entstanden. Unter dem Aspekt Raum und Ort konnte vergegenwärtigt werden, wie einerseits die Orte als Mikroräume erfasst, andererseits aber auch Schnittstellen zu einer makroräumlichen Verortung hergestellt werden. Besonders das Wegesystem entgrenzt die oftmals kleinteiligen Blätter zur Kasseler Residenz hin. Zudem ist der Ort immer in einer vogelschauartigen Übersicht dargestellt, die es ermöglicht die architektonischen und hortikulturellen Räume als modellartige Handlungsräume zu überblicken – insofern das Durchschreiten oder Durchqueren imaginiert wird. Unter Typologien konnte das standardisierte Verfahren der Notation solcher Handlungsräume beschrieben werden. Zugleich ist dabei das Set der Darstellungstechniken auch immer selbst ortsprägend. Die Zeichnungen fungieren hier als Notationssysteme, die über operative Funktionen hinausgreifen; sind diese nicht nur operatives Werkzeug, sondern auch Medium einer permanenten Vergegenwärtigung und Erinnerung von Raum und Ort. Zugleich handelt es sich weniger um eine Einschreibung in den Herrschaftsraum, indem etwa eine Karte besetzt und markiert wird, sondern um einen Prozess des Herausgreifens und Verfügens über Orte. Werden in der Einzelbetrachtung der Blätter konkrete Architekturen und Gärten, Orte und Handlungsräume ersichtlich, liefert jedoch erst die retrospektive Zusammenschau auch eine topographische Bestandsaufnahme Niederhessischer Gebiete. Die Topophilie ist mit dem Loblied auf Schloss Rotenburg in extenso greifbar. Der poetische Modus, in dem der Ort nun auch klanglich vergegenwärtigt und erblickt wird, ist damit eine veritable Strategie der Semantisierung von Architektur. Die Zeichnungen sind weitergehend Medien der Erinnerung und Imagination, denn nicht alle Projekte der Lust- und Jagdschlösser als auch Gartenanlagen konnten, u.a. bedingt durch die Abdankung, realisiert werden: Die Räume der Architekturzeichnung sind es nunmehr, die qua Imagination den Ort substituieren und wie bei dem wichtigen Vorhaben zum Lustschloss Fahre diesen bisweilen in der Überstei-

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gerung zeichnerisch verhandeln. Mit Blick auf die Frage nach den Wandlungen und Ausprägungen von Machträumen lässt sich hier ein besonderer Modus der Transformation von Herrschaftsraum beobachten: Verlagert in die Ebene der Selbstbespiegelung werden qua Entwurf durch den Herrscher selbst Ort und Raum persönlich kartiert, generiert und erinnert.

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Festzüge und Straßenzüge Bilder vom Stadtraum in Charles Perraults Courses de Testes et de Bague (1670) und Gabriel Tzschimmers Durchlauchtigster Zusammenkunfft (1680) THOMAS RAHN

In den staatlichen und höfischen Festveranstaltungen der Frühen Neuzeit, die im städtischen Raum stattfanden,1 unterlag das Stadtbild in der Regel einer Zensur und Umrüstung. Ephemere Festarchitekturen und Illuminationen verwandelten ausgewählte Plätze und Gebäude in ästhetisch ausgezeichnete Sinnbildorte und -flächen.2 Bei den Einzugsveranstaltungen konstitutierte die Ephemerarchitektur »an idealized aesthetic vision of the city as trophy«3, in der die 1 2

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Vgl. als Überblick (mit reichem Bildmaterial) Martha Pollak: Cities at War in Early Modern Europe, Cambridge u.a. 2010, S. 232-289 (Kap. Celebrating Peace. Triumphs, War Games, and the Transformation of Urban Space). Vgl. Werner Oechslin/Anja Buschow: Festarchitektur. Der Architekt als Inszenierungskünstler, Stuttgart 1984; Lydia Kessel: Festarchitektur in Turin zwischen 1713 und 1773. Repräsentationsformen in einem jungen Königtum (= Beiträge zur Kunstwissenschaft, Band 61), München 1995; Anne Spagnolo-Stiff: Die »Entrée solenelle«. Festarchitektur im französischen Königtum (1700-1750), Weimar 1996; Sarah Bonnemaison/Christine Macy (Hg.): Festival Architecture, London/New York 2008; Marion Philipp: Ehrenpforten für Kaiser Karl V. Festdekorationen als Medien politischer Kommunikation (= Kunstgeschichte, Band 90), Münster 2011. Pollak: Cities at War, S. 234.

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auf die Antike rekurrierenden Triumpharchitekturen sehr häufig mit der städtebaulichen Unordnung des ›realen‹ Straßenbildes im Kontrast standen. Karl Möseneder bestimmt als Ziel der diversen Zurüstungsmaßnahmen für Einzugsveranstaltungen, »über die alltägliche Stadt das Bild einer imaginären Stadt antikischen Charakters zu legen«, und spricht in diesem Zusammenhang von der »Ausbildung eines imaginären Urbanismus«4. Mit der Entrée Ludwigs XIV. mit seiner Gemahlin Maria Theresia in Paris (1660) wurde nach Möseneder eine neue Qualität der festlichen Gestaltung des urbanen Raumes erreicht, durch die Paris in der Performanz des Zeremoniells wie im anschließenden Festbericht5 als Stadt erschien, die »deutlich Züge der Idealstadt trägt«: »Die Vereinheitlichung von Straßenzügen und die Heranziehung von Plätzen mit harmonischer Bebauung lassen nicht nur das Besondere und Private verschwinden, sondern verschleiern auch, daß die Stadt etwas geschichtlich Gewordenes ist und der Macht der Zeit, die sich im Verfall manifestiert, unterliegt.«6

Dem ornamentstrategischen Kriterium folgend, »daß die Aufbauten […] grundsätzlich als städtebaulich möglich bewertet werden konnten«7, führte die Einzugsroute (soweit dies möglich war) durch repräsentative Platzanlagen, durch Zonen mit regelmäßiger und gleichförmiger Bebauung und durch symmetrische, gerade Straßenräume, die den Blick auf ein königliches Monument perspektivieren konnten. Dabei waren entlang des Einzugsweges offizielle Tribünen errichtet, der Straßenverkehr stillgelegt, die Geschäfte geschlossen, Ladenschilder, Krambuden und Anbauten an den Häusern und ›wilde‹ Tribünen demontiert sowie Häuserfassaden durch Teppichschmuck einander optisch angeglichen. Der Ausblendung des alltäglichen Stadtraums im städtischen Fest, die im Pariser Zeremoniell von 1660 bis zur Simulation der Idealstadt gesteigert wird, 4 5 6 7 344

Karl Möseneder: Zeremoniell und monumentale Poesie. Die »Entrée solenelle« Ludwigs XIV. 1660 in Paris, Berlin 1983, S. 184. Vgl. generell zum Verhältnis von Festarchitektur und Stadt ebd., S. 182-192. Jean Tronçon: L’Entrée Triomphante De Leurs Maiestez Louis XIV. Roy De France Et De Navarre, Et Marie Therese D’Autriche Son Espouse, Dans La Ville de Paris Capitale De Leurs Royaumes […], Paris 1662. Möseneder: Zeremoniell, S. 188. Ebd., S. 186.

Festzüge und Straßenzüge

arbeiten auch die Festbeschreibungen zu. Die Topik der Bilder8 und Architekturekphrasen9 fokussiert die repräsentativen Plätze, Bauten und Ephemerarchitekturen. In den Illustrationen ist, insbesondere bei der Abbildung von Ehrenpforten,10 die Festarchitektur zumeist aus dem städtischen Kontext ausgeschnitten; die Referate der Zeremoniellhandlungen in den Texten werden dadurch entlastet, dass die Architekturbeschreibungen und Sinnbildkommentare ephemerer Installationen in Anhänge verschoben werden. Solchermaßen von der Ekphrasis entschlackte berichtende Teile der Festbeschreibung evozieren wohl noch Räume, in der Hauptsache aber zeremonielle Funktionsräume des oben/unten, vorne/hinten, links/rechts in der Stellung der Protagonisten zueinander bzw. der Handlung miteinander. Einer Schilderung der städtischen Topographie jenseits ihrer auf den Anlass oder Gegenstand des Festes bezogenen Codierung gewährt der Bericht keinen Raum. Mit einem Abstand von nur zehn Jahren erschienen im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts allerdings zwei Festbeschreibungen, deren Bildausstattung bei der Darstellung des gleichen festlichen Sujets – ganz entgegen den Normen der Gattung – das gewöhnlich ›verdrängte‹ Straßenbild regelrecht ausstellt: Charles Perraults Courses de Testes et de Bague Faittes Par Le Roy (1670) und Gabriel Tzschimmers Durchlauchtigste Zusammenkunfft (1680) präsentieren eindrucksvolle Inventionsaufzüge zu höfischen Turnierveranstaltungen vor 8

Vgl. zu Funktion und Anlage von Abbildungen frühneuzeitlicher Feste (nicht nur im Rahmen von Festbeschreibungen) Michaela Völkel: »Funktionen der Druckgraphik an deutschen Höfen der frühen Neuzeit, oder: Wie zeremonielles Wissen gespeichert, verbreitet und zweckentfremdet wurde«, in: Achim Landwehr (Hg.), Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens (= Documenta Augustana, Band 11), Augsburg 2002, S. 191-217; Henri Zerner: »Looking for the Unknowable: The Visual Experience of Renaissance Festivals«, in: J.R. Mulryne/Helen Watanabe-O’Kelly/Margaret Shewring (Hg.), Europa Triumphans. Court and Civic Festivals in Early Modern Europe, Aldershot/Burlington 2004, S. 75-98. 9 Vgl. zu den Architekturekphrasen in der Gattung Festbeschreibung Thomas Frangenberg: Der Betrachter. Studien zur florentinischen Kunstliteratur des 16. Jahrhunderts (= Frankfurter Forschungen zur Kunst, Band 16), Berlin 1990, S. 162-190 (Kap. »Durch Lektüre sehen«. Die Beschreibung von Festdekorationen); Axel Stähler: »Perpetuall Monuments«. Die Repräsentation von Architektur in der italienischen Festdokumentation (ca. 1515-1640) und der englischen court masque (1604-1640) (= Studien zur englischen Literatur, Band 12), Münster/Hamburg/ London 2000. 10 Vgl. Thomas Rahn: Festbeschreibung. Funktion und Topik einer Festsorte am Beispiel der Beschreibung höfischer Hochzeiten (1568-1794) (= Frühe Neuzeit, Band 108), Tübingen 2006, S. 89f.

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(nicht minder eindrucksvollen) städtischen Häuserzeilen. Die folgenden Ausführungen, die den Schwerpunkt der Analyse auf Perraults Festbuch legen, widmen sich der Frage, wie die gemeinsame Besonderheit die beiden Drucke funktional zu erklären ist und welche Strategie der Abbildung von städtischen und höfischen Architekturräumen sie bestimmt.

1. Der Umzug der Orte Aus Anlass der Geburt des Dauphins im November 1661 veranstaltete Ludwig XIV. im Sommer des Jahres 1662 ein Carrousel vor dem Palais des Tuileries.11 Als Sujet der Veranstaltung, bei der die Turnierteilnehmer am 5. Juni im Kopfrennen und am 6. Juni im Ringrennen gegeneinander antraten,12 wurde ein Streit der »Nations les plus renommées«13 gewählt, bei dem der französische König in der Verkleidung eines römischen Kaisers erschien. 55 Ritter stritten, verteilt auf die fünf Quadrillen der Römer, Perser, Türken, Inder und amerikanischen Wilden, in einem ephemeren ›Amphitheater‹ um den Sieg.

11 Vgl. zu Planung, Durchführung und Programm des Carrousels Joseph Gregor: [Beiheft zu:] Direktion der Nationalbibliothek Wien (Hg.), Denkmäler des Theaters. Inszenierung, Dekoration, Kostüm des Theaters und der großen Feste aller Zeiten nach Originalen der Theatersammlung der Nationalbibliothek, der Albertina und verwandter Sammlungen, 6. Mappe: Courses de testes et de bague faites par le Roy en l’année 1662, München [1926]; Jean-Marie Apostilidès: Le roi-machine. Spectacle et politique au temps de Louis XIV, Paris 1981, S. 41-46; Jean-Pierre Reverseau: »The Parisian carousel of 1662«, in: Lena Rangström (Hg.), Riddarlek och Tornerspel. Sverige – Europa/Tournaments and the Dream of Chivalry. Sweden – Europe, Ausst.-Kat. Livrustkammaren Stockholm, Stockholm 1992, S. 406409; Helen Watanabe-O’Kelly: Triumphall Shews. Tournaments at Germanspeaking Courts in their European Context 1560-1730, Berlin 1992, S. 106f.; Stéphane Castelluccio: Les carrousels en France du XVIe au XVIIIe siècle, Paris 2002, S. 21-29; Wolfgang Settekorn: »Gärten zur Zeit Ludwigs XIV.: Orte genormten höfischen Lebens und barocker Repräsentation«, in: Hans-Peter Ecker (Hg.), Gärten als Spiegel der Seele, Würzburg 2007, S. 51-83; hier S. 72-75. 12 Bezüglich der Dauer des Festes gibt es in der Forschung voneinander abweichende Angaben. Watanabe-O’Kelly: Triumphall Shews, S. 106, geht von drei Tagen aus (vgl. auch die Quellenangaben ebd., Anm. 31), ebenso Arie Graafland: Versailles and the Mechanics of Power. The Subjugation of Circe. An Essay (= Architectural Bodies, Band II), Rotterdam 2003, S. 16. 13 Charles Perrault: Courses de Testes et de Bague Faittes Par Le Roy et par Les Princes et Seigneurs de sa Cour En l’Année 1662, Paris 1670, S. 2 (Kupfertitel).

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Bereits im Jahr 1662 begannen die Arbeiten an einer Prunkpublikation in Großfolio, die als Teil des für den höfischen Geschenkverkehr vorgesehenen Cabinet du Roi14 das Fest dokumentieren sollte und 1670 die Imprimerie Royale als fertiges Produkt verließ.15 Die vier Stecher François Chauveau, Henri Gissey, Gilles Rousselet und Israël Silvestre fertigten insgesamt 97 Darstellungen von Turnieraufzug, Ringrennen, Kopfrennen, Kostümen und Devisen, wobei Silvestre für sieben doppelseitige Tafeln verantwortlich war, die Gesamtüberblicke über die Aufzugsformation und die Ereignisse auf dem Turnierplatz bieten. Charles Perraults Text liefert nicht nur die Fakten zu Organisation und Ausrichtung des Carrousels, sondern zugleich den propagandistischen Überbau der Veranstaltung, die als militärische Übung des Adels legitimiert und explizit als (traditionelle) französische statt (moderne) italienische Spielform des Ritterspiels ausgewiesen wird. In einer Passage der Festbeschreibung, die sich mit der Vorbereitung der Turnierveranstaltung beschäftigt, ist der Frage der angemessenen Verortung des Carrousels im Stadtraum ein eigener Absatz gewidmet:

14 Vgl. zu Zielsetzung und Organisation des Cabinet du Roi Stefan Germer: Kunst – Macht – Diskurs. Die intellektuelle Karriere des André Félibien im Frankreich von Louis XIV., München 1997, S. 286-295 (Unterkap. Wissen als Spektakel); Claudia Schnitzer: »Ein ›Cabinet du Roi‹ für Dresden? – Frankreichrezeption im Kupferstich-Kabinett Augusts des Starken«, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 31 (2004), S. 22-70, hier S. 26-32. Vgl. speziell zur Integration der Festkultur im Cabinet du Roi Christian Quaeitzsch: »Une société de plaisirs«. Festkultur und Bühnenbilder am Hofe Ludwigs XIV. und ihr Publikum (= Passagen/Passages, Band 30), Berlin/München 2010, S. 283-301. 15 Vgl. St. Castelluccio: Les carrousels, S. 29-31 (ebd., S. 49-169, Farbreproduktion des von Jacques Bailly illuminierten Exemplars der Festbeschreibung für die königliche Bibliothek); Quaeitzsch: »Une société de plaisirs«, S. 114f., S. 228f., S. 283-285. – Die Forschung zu den Festbeschreibungen der Fest- und Theaterkultur Ludwigs XIV. legt den Schwerpunkt eindeutig auf die Versailler Veranstaltungen und auf André Félibien als Festbeschreiber; vgl. Germer: Kunst – Macht – Diskurs, S. 235-243 (Unterkap. Das Fest als Text); Andreas Gipper: »Höfische Festkultur und Öffentlichkeit. Die Festberichte des André Félibien«, in: Kirsten Dickhaut/Jörn Steigerwald/Birgit Wagner (Hg.), Soziale und ästhetische Praxis der höfischen Fest-Kultur im 16. und 17. Jahrhundert (= culturæ, Band 1), Wiesbaden 2009, S. 149-167; Jörn Steigerwald: »Madeleine de Scudérys dialogische Inszenierung von Festbeschreibungen oder: Möglichkeiten sozialer Praxis im Theaterstaat von Louis XIV«, in: Ebd., S. 215-233; Quaeitzsch: »Une société de plaisirs«, S. 223-301.

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Thomas Rahn »Il ne restoit plus qu’à trouver un lieu qui fût digne de ce Spectacle, & où l’on pût dresser un Amphitéatre capable de contenir le grand nombre d’hommes & de cheveaux qui le composoient. La Place Royale, qui sembloit estre en possession de servir à ces fortes de magnificences fut trouvée trop petite, & trop referrée, bien que sous LOVIS XIII. on y ait representé un des plus beaux Carrousels qui se soient jamais veûs, l’on chosit donc la grande Place, qui est au devant du Palais de Thuilleries, & qui a peu de pareilles, soit pour son étenduë, soit pour la beauté des batimens qui l’environnent.«16

Als ein Argument für die Wahl des Festortes wird die Schönheit des Bauensembles genannt, welches das Amphitheater umgibt und zu dem neben dem Tuilerienschloss auch der Louvre zählt. Die architektonische Qualität des Stadtraums entspricht dem vom königlichen Fest geforderten decorum. Der wesentliche praktische Grund für die Ausrichtung des Carrousels vor dem Palais des Tuileries sei allerdings die Größe des Areals gewesen, auf dem sich ein Amphitheater errichten ließ, das die große Zahl von Akteuren aufnehmen konnte und auf dessen Tribünen laut Festbeschreibung 15.000 Personen Platz fanden.17 Perrault rückt das pragmatische Argument in eine historische Perspektive, indem er zugleich die Aufgabe der Place Royale als traditionellem Turnierort thematisiert. Die Errichtung der Place Royale du Marais, heute Place des Vosges, als Wohn-, Promenaden- und Festplatz war im Juli 1605 durch Heinrich IV. dekretiert worden.18 Der Platz entstand auf dem Gelände des Parc des Tournelles, d.h. auf jenem Grund, auf dem Heinrich II. im Jahr 1559 bei einem Turnierunfall tödlich verunglückt war. Katharina de Medici hatte nach diesem Unglück das Hôtel des Tournelles, in dem die königliche Familie gelegentlich Logis nahm, abreißen lassen; das solchermaßen von der höfischen Sphäre entkoppelte Gelände beherbergte am Ende des 16. Jahrhunderts nur noch Abfallgruben und einen Pferdemarkt. Auf Initiative Heinrichs IV. entstand nun eine durch 36 Pavillons gerahmte Platzanlage, die sich – zunächst als Wohn- und Wirkungsstätte bürgerlicher Seidenmanufakturunternehmer konzipiert – im Laufe der

16 Perrault: Courses de Testes, S. 2f. 17 Vgl. die ausführliche Beschreibung des ephemeren Baus ebd., S. 3. 18 Vgl. zu der Platzanlage Hilary Ballon: The Paris of Henri IV. Architecture and Urbanism, New York 1991, S. 57-113 und S. 309–323; Andreas Köstler: Place Royale. Metamorphosen einer kritischen Form des Absolutismus, München 2003, S. 48-65 und S. 76-83.

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Abb. 1: Matthaeus Merian d.Ä. nach Claude Chastillon (ca. 1612/13), Carrousel auf der Place Royale in Paris, 1612, Kupferstich, 50,5 x 40 cm (Plattenrand). Aus: Marc de Vulson: Le Vray Theatre D’Honneur, Band 1, Paris 1648, Kunstbibliothek – Staatliche Museen zu Berlin, Lipperheidesche Kostümbibliothek, Sign. Tb 11 Zeit zum Adelsquartier wandelte. Die Einweihung des Platzes fand, bereits unter der Regentschaft Ludwigs XIII., im Jahr 1612, anlässlich der Bourbon und Habsburg verbindenden Doppelverlobung, in Form eines Carrousels statt,19 das zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine kaum noch riskante und unter theatralem Gesichtspunkt innovative Spielform des Turniers darstellte.20 Die ›mnemonische‹ Verknüpfung der Platzanlage mit dem adeligen respektive 19 Vgl. zum Carrousel von 1612 Jacques Vanuxem: »Le carrousel des 1612 sur la place royale et ses devises«, in: Jean Jacquot (Hg.), Les fêtes de la Renaissance, Band 1, Paris 21973, S. 191-203; Castelluccio: Les carrousels, S. 16-19; Kate Van Orden: Music, Discipline, and Arms in Early Modern France, Chicago/London 2005, S. 265-284. 20 Vgl. Castelluccio: Les carrousels, S. 9-14.

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königlichen Ritterspiel wurde auch medial unterstützt: Die Kupferstiche Claude Chastillons,21 Matthaeus Merians des Älteren22 (Abb. 1) und Jan Ziarnkos23 zum Carrousel des Jahres 1612 wählen eine Schrägaufsicht auf den Platz, in der die Häuserreihen als Rahmen dienen, und die eng auf die Ritter fokussierenden Turnierdarstellungen in Antoine Pluvinels weit verbreiteter Reitlehre Maneige royal (zuerst Paris 1623) lassen wiederholt die Fassaden der Platzarchitektur im Hintergrund erscheinen.24 Mit dem Verzicht auf die Place Royale für die Ausrichtung seines Carrousels gab Ludwig XIV. einen Gedächtnisort auf, an dem das französische Königtum und die Turnierkultur – im guten wie im bösen Sinne – assoziiert waren. Nach der damnatio memoriae des ›gefährlichen‹ und traurigen Turnierortes durch Katharina de Medici, die durch das Carrousel Ludwigs XIII. aufgehoben worden war, wurde der Ort nun erneut funktional entwertet. Die explizite Reflexion der Festbeschreibung über den ›Platzwechsel‹, die auf den größeren Raumbedarf des Turniers von 1662 abhebt, dient als Überbietungstopos: Ludwig XIV. überbietet seinen Vorgänger Ludwig XIII. als Turnierherrn.25 Zugleich enthielt die räumliche Verlegung des Turniers auch eine aktuelle politische Botschaft, die der junge König, der nach Mazarins Tod im Jahr 1661 21 Vgl. Ballon: The Paris of Henry IV., Abb. 41. – Claude Chastillon (1559/15601616), der die Vorlage für die erste Darstellung (wohl 1612) der Place Royale lieferte, war Topograph in Diensten Heinrichs IV. und als Architekt an der Entstehung der Place Royale beteiligt. Auf dem Kupferstich befindet sich die Signatur des Künstlers »PAR C. CHASTILLON« just auf dem rückwertigen Mauerstreifen des zweiten südlichen Pavillons an der Ostseite des Platzes: einer Liegenschaft des Künstlers; vgl. Köstler: Place Royale, S. 59. 22 Vgl. Lucas Heinrich Wüthrich: Das druckgraphische Werk von Matthaeus Merian d. Ae., Band 1, Einzelblätter und Blattfolgen, Basel 1966, S. 26. – Merians Stich (wohl 1612/13), der bis auf marginale Unterschiede sehr genau die Darstellung Chastillons reproduziert, war offenbar als bloßer Bilddruck (Nachweis bei Wüthrich) wie auch im Rahmen eines Einblattdrucks verbreitet, der die Bildlegende zu den auf dem Festbild verteilten Ziffern bot; vgl. Sue Welsh Reed (Hg.): French Prints from the Age of the Musketeers, Ausst.-Kat. Museum of Fine Arts Boston, Boston, Mass. 1998, S. 81-83 (mit Abb.). Zudem fand der Stich als Buchillustration im ersten Band von Marc de Vulsons Le Vray Theatre D’Honneur Et De Chevalerie, Ou Le Miroir Heroique De La Noblesse (Paris 1648) Verwendung. 23 Vgl. Pollak: Cities at War, Abb. 5.4. 24 Vgl. den Abschnitt zu Pluvinel in Watanabe-O’Kelly: Triumphall Shews, S. 77-84, sowie Maria Platte: Die »Maneige royal« des Antoine de Pluvinel (= Wolfenbütteler Forschungen, Band 89), Wiesbaden 2000. 25 Als königlichen Turnierherrn, nicht als Turnierritter, denn der 1601 geborene Ludwig XIII. war 1612 noch zu jung, um an dem Carrousel teilzunehmen.

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die Alleinherrschaft übernommen hatte, wohl insbesondere an die Adresse der niedergeschlagenen Fronde richtete, welche 1648 ihren Anfang mit Barrikadenkämpfen der Pariser Bevölkerung genommen hatte.26 Stéphane Castelluccio wertet die Wahl eines alternativen Turnierortes als demonstrative Machtgeste: »La recherche d’espace ne justifia pas à elle seule ce changement, reflet d’une volonté politique: pour marquer le retour d’un pouvoir fort, le carrousel devait se dérouler non plus dans un cadre urbain mais dans l’enceinte même d’une résidence royale. Ceci resta une constante jusqu’à la fin du règne car tous les autres carrousels et courses de bague ou de têtes eurent lieu dans une maison royale (Fontainebleau, Saint-Germain [en Laye] ou Versailles); celui de 1662 fut le seul à avoir été couru dans Paris.«27

Die bedeutsame ›Ausmusterung‹ der Place Royale wird in der Bildausstattung der Festbeschreibung an programmatischer Stelle angespielt: Auf dem von Gilles Rousselet gestochenen Kupfertitel (Abb. 2) findet sich eine Porträtbüste Ludwigs XIV. vor der Ansicht des Platzes postiert, auf dem sich, umstanden von Publikum, (Turnier-)Reiter parallel zu den Fassaden formiert haben. Um das Postament der Büste herum ist Kriegsgerät zerstreut, dessen Bedeutung changiert: zwischen dem Bezug auf das Turnier als Gegenstand des Buches und einer Trophäenikonographie, welche den König als Unterwerfer ausweist. Die Ikonographie des Bildes ist auf raffinierte Weise ambivalent. Einerseits kann der architektonische Hintergrund als affirmativer Verweis auf den historischen Hintergrund des Carrousels von 1662 verstanden werden; Ludwig knüpft ›sichtbar‹ an das durch Ludwig XIII. ausgerichtete Turnier von 1612 an. Andererseits erscheint die ›Aufstellung‹ der Königsbüste im Vordergrund als ein demonstratives Verstellen des Platzes für den Blick des Bildbetrachters. Die Inschrift auf dem Postament benennt das Ereignis von 1662 und ›überschreibt‹ damit das im Bild des Platzes codierte Ereignis von 1612. Das Konkurrenzverhältnis der beiden Veranstaltungen wird im Bild zugunsten der aktuellen entschieden.

26 Watanabe-O’Kelly: Triumphall Shews, S. 106, weist darauf hin, dass Ludwig XIV. durch das Programm des Festes zugleich seinen Friedensschluss mit dem Adel signalisierte, indem er den Prince de Condé als ehemaligen Protagonisten der ›Fronde de Princes‹ eine der fünf Quadrillen anführen ließ. 27 Castelluccio: Les carrousels, S. 25f.

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Abb. 2: Gilles Rousselet, Büste Ludwigs XIV. vor der Place Royale, Kupferstich, 28 x 40 cm (Plattenrand). Kupfertitel zu Perrault: Courses de Testes, S. 2, Kunstbibliothek – Staatliche Museen zu Berlin, Lipperheidesche Kostümbibliothek, Sign. Sg 11 Darüber hinaus ›verdrängt‹ die Königsbüste das Reiterdenkmal Ludwigs XIII., welches, veranlasst durch Kardinal Richelieu, im Jahr 1639 auf der Place Roy-

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ale aufgestellt worden war. Die argute Bildidee, dass die Büste (als imaginäres Denkmal) das reale Denkmal ersetzt, dürfte wohl weniger auf eine Marginalisierung des Vorgängers auf dem Thron zielen, es signalisiert vielmehr eine aktuelle Inbesitznahme der Place Royale – und damit eines architektonischen Funktionstyps, der einen Ort »von der Fläche der Stadt her mit dem Siegel der Monarchie versehen«28 soll – durch Ludwig XIV. Die Porträtbüste des Königs ist als starkes Macht- und Befehlszentrum gesetzt, das von einer disziplinierten Formation von Reitern und Publikum auf dem Platz eingefasst wird. Die Plinthe oberhalb des Postaments lastet quasi auf der Platzarchitektur und verknüpft so das Königsbild mit dem Ordnungsgestus der Platzanlage. Zugleich ist die Plinthe – als ›optischer Verteiler‹ der Königsmacht – an die Hügellinie des Umlandes angeschlossen. Der Augenpunkt des Kupfertitels ist so hoch gewählt, dass der sichtbare Macht-Raum des Königs über den Stadtraum hinaus bis in das Umland hinein erweitert wird. Dabei sind Platz und Territorium als Herrschaftsraum des Königs kurzgeschlossen; das Bild, das auf die Südseite der Place Royale ausgerichtet ist, kontrastiert deutlich mit Merians Darstellung (vgl. Abb. 1), die den Betrachter von hoher Position aus Richtung Westen blicken lässt und in der Platz und Festveranstaltung klar in der städtischen Sphäre verortet sind. Die Häuserzeilen, die den Platz rahmen, erscheinen eingebettet in die topographische Fläche von Paris. Die Platzanlage wird optisch von ihrem Umfeld, der Stadt, her definiert, während sie auf dem Titelkupfer der Festbeschreibung ihre Definition von dem mit der Königsbüste besetzten Zentrum her erfährt. Wenn die Blickposition hier so gewählt ist, dass dieser städtische Rahmen unsichtbar bleibt, mag damit bereits das ›Ausziehen‹ des Ortes – im konkreten Kontext: des Festortes – aus der Stadt angedeutet sein.

2. Der Aufzug als Auszug Den spektakulären Auftakt der Ritterspiele von 1662 bildete ein Festzug der fünf Quadrillen und ihrer Begleitung durch die Stadt. Zur Sicherung der Ordnung hatten am Morgen des 5. Juni zunächst die Kompanien der Französischen und der Schweizer Garde entlang der Aufzugsroute Aufstellung genommen und bildeten eine lebende Absperrung vom Platz hinter dem Hôtel de Vendô-

28 Köstler: Place Royale, S. 13. 353

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me über die Rue de Richelieu, die Rue Saint-Honoré und die Rue SaintNicaise bis zum Eingang des Amphitheaters.29 »Le Roy s’étant rendu avec toute sa Quadrille & son équipage dans l’Hostel de Vandôme, où il s’habilla, les autres Chefs avec leurs Quadrilles, arriverent dans l’ordre qui leur avoit été donné par le Mareschal de Camp general, au rendezvous, où peu de temps aprés, le Roy parut au milieu de sa grande Quadrille.«30

Sodann bewegte sich der Nationenaufzug, eine Zugformation von mindestens 800 kostümierten Personen,31 bis zum Gelände des Tuilerienschlosses, vor dem das gegen die Stadt abgeschlossene Turniertheater errichtet worden war. Die Rolle Ludwigs XIV. als römischer Kaiser war wohl geeignet, die Zuschauer mit der Bewegung des Zuges durch die Stadt einen antiken Triumphzug assoziieren zu lassen (wenngleich im Unterschied zur Pariser Entrée des Königs 1660 keine ephemeren Triumpharchitekturen installiert waren). Zur Dokumentation von Inventionsaufzügen32 hatte sich um 1600 ein Festbuchtyp etabliert,33 der den Zug in Einzelkompartimente zerlegt und in einen hintergrundfreien Leerraum stellt. Diese Papier-Bühne besitzt zwar räumliche Qualität (Schattenwurf der Figuren), bleibt jedoch, bis auf die Andeutung von festem Grund, als Ort unbestimmt. Im Durchblättern vermochte der Betrachter das Vorbeiziehen des Zuges, Teil für Teil zu imaginieren. In Perraults Courses de Testes et de Bague wird der Kostümaufzug bildtopisch auf drei Ebenen dokumentiert: Zunächst präsentiert sich der komplette Zug in Bewegungsrichtung von rechts nach links im Kontext des Stadtraums (1. Ebene: Ereignisbild). Sodann werden die fünf Quadrillen im Detail gezeigt: Man sieht jeweils zunächst die Protagonisten bzw. Gruppen einer Quadrille (nach dem Schema des oben erwähnten Festbuchtyps in Einzelbildern) in Bewegungsrichtung von links nach rechts in einem ›ortlosen Raum‹ (2. Ebene:

29 30 31 32

Vgl. Perrault: Courses de Testes, S. 3f. Ebd., S. 4. Angabe nach Watanabe-O’Kelly: Triumphall Shews, S. 106. Vgl. zu den Inventionen im Rahmen von Ring-, Quintan- und Kopfrennen, Karussels, Rossballetten und Turnieropern Claudia Schnitzer: Höfische Maskeraden. Funktion und Ausstattung von Verkleidungsdivertissements an deutschen Höfen der Frühen Neuzeit (= Frühe Neuzeit, Band 53), Tübingen 1999, S. 144-194. 33 Vgl. Rahn: Festbeschreibung, S. 87-89.

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Abb. 3: Israël Silvestre, Nationenaufzug in Paris, 1662, Kupferstiche, jew. 55,5 x 18,5 cm (Plattenrand). Aus: Perrault: Courses de Testes Kostümfigurine) und sodann einen Katalog der Devisenschilde, welche die einzelnen Ritter führten (3. Ebene: Sinnbild). Exzeptionell vor dem Hintergrund der visuellen Gattungskonventionen ist die sorgfältige Einbettung des Zuges in einen städtisch-architektonischen Rahmen. Statt etwa die häufige Darstellungsformel zu wählen, die vollständige Zugformation auf einem Blatt zu einem Mäander zusammenzufalten (vgl. Abb. 7), wird der Turnieraufzug auf sieben Bildstreifen verteilt, die vier Doppelseiten der großformatigen Festbeschreibung beanspruchen (Abb. 3 und 4). Der Betrachter verfolgt die Zugformation, deren Spitze bereits den Turnierplatz erreicht, von links nach rechts. Mittels einer Zählung im Bild, die auf eine unter dem Bildstreifen verlaufende Bildlegende verweist, können Protagonisten und Zugkompartimente identifiziert werden, so z.B. im dritten Streifen Nr. 63: »Le Roy« auf einem steigenden Pferd (Abb. 3 unten). In gehörigem Abstand zum Zug bildet ein Riegel von Zuschauern die Grenze einer (über)breit

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Abb. 4: Israël Silvestre, Nationenaufzug in Paris, 1662, Kupferstich, jew. 55,5 x 18,5 cm (Plattenrand). Aus: Perrault: Courses de Testes gezeichneten Straße. Die Überbreite der Straße ist eine Darstellungsnotwendigkeit: Damit wirklich alle Teilnehmer des Aufzugs gezeigt werden können, wird eine Schrägaufsicht geboten. Dabei muss dafür Sorge getragen werden, dass der obere Rand des Zuges möglichst nicht die Zuschauerleiste überschneidet und damit in einem ›graphischen Rauschen‹ verschwindet. Um eine optische Freifläche zu gewinnen, wird der Abstand zwischen Straßenpublikum und Aufzug vergrößert. Die fast platzartige Breite, welche die Straße dadurch gewinnt, arbeitet zugleich der repräsentativen Wirkung der Veranstaltung zu. Die Festbeschreibung konstatiert in einer Passage, in der es um die Entscheidung des Königs geht, auch am zweiten Turniertag die Quadrillen durch die (ganze) Stadt ziehen zu lassen, die Magnifizenzsicherung des Zeremoniells durch die Nutzung weiter respektive breiter Stadträume: »Le Roy qui ne gôute point de plaisir plus doux que celuy qu’il partage avec se Peuples, & qui fait sa principale joye de celle qu’il donne à ses Sujets, voulut que les Quadrilles se rendissent à l’Arsenal, pour delà prendre leur Marche vers

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Festzüge und Straßenzüge le Camp, c’est à dire, traverser toute la Ville d’une extremité à l’autre, afin de donner ce divertissement à tous ceux que le lieu destiné pour la Course ne pouvoit contenir; en quoy il préfera la satisfaction des spectateurs à la regularité, & à la beauté de cette Marche, parce qu’encore qu’elle eût l’avantage de passer par des places & par des ruës tres-spacieuses & tres-belles, comme la Place Royale, la ruë Saint Antoine, la ruë Saint Honoré, & quelques autres, il se rencontroit plusieurs ruës étroites où le spectacle perdoit beaucoup de son lustre & de sa magnificence.«34

Die Breite der Straße, in der Stadt wie im Stadt-Bild, entspricht dem decorum der zeremoniellen Aktion; sie gewährleistet die Sichtbarkeit der schönen Ordnung des Zuges. Das Bild hat dabei die Lizenz, die Proportionen des realen Stadtraums zu verändern und die Straße, erweitert, als Bühnenraum anzulegen. In seinen Memoiren thematisiert Ludwig XIV. das Carrousel von 1662 »as an example of how princely spectacles affirmed the social contracts between the king and his people«35. Das von Ludwig selbst reflektierte Konzept, durch die zeremonielle Ausstellung des Monarchen vor seinem Volk das bestehende Herrschaftsverhältnis zu sichern,36 ist auf den Bildern der Festbeschreibung kalkuliert in Szene gesetzt. Hier wird ja nicht allein der Zug gezeigt (der als Amplifikation des Königskörpers gelten kann), sondern vor allem auch das Zeigen des Zuges (das dem Willen des Königs entspricht). Wir werden Zeugen der Zeugenschaft der Stadtbevölkerung, wir sehen das Band der Zuschauer am Straßenrand, eigens errichtete Tribünen (Abb. 3 oben und Abb. 4 unten), Neugierige an (fast) allen Fensteröffnungen und aus Seitenstraßen zudrängende Zuschauermassen (Abb. 3 und 4 unten), wobei die betonte Blickbehinderung der sich bis zum Fluchtpunkt zurückstauenden Menge eine ›grenzenlose‹ Zahl von Schauwilligen andeutet. Der Stadtraum wird auf den Bildern als ›Fassung‹ der städtischen Zeugenschaft funktional. Es ist zu fragen, ob die Darstellungsstrategie der Straßenbilder den Pariser Stadtraum den enthistorisierenden Vereinheitlichungstendenzen unterwirft, die im Vollzug und, sehr deutlich auch, in Tronçons Beschreibung der Entrée von 1660 zum Zuge kamen. Zwar finden sich in Perraults Festbuch einzelne Merk-

34 Perrault: Courses de Testes, S. 67. 35 Orden: Music, Discipline, and Arms, S. 281. 36 Vgl. zu Theorie und Verfahren des Herrschaftszeremoniells im absolutistischen Frankreich Möseneder: Zeremoniell, S. 65-80.

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Abb. 5: Israël Silvestre, Nationenaufzug in Paris (Detail), 1662, Kupferstich. Aus: Perrault: Courses de Testes male der festlichen Stadt (die ephemeren Tribünen, die an den Fensteröffnungen ausgehängten Teppiche), zwar sind manche Topoi der idealen Stadt umgesetzt (die Breite der Straße, der gerade Straßenverlauf), dennoch sind die Fassaden mit einer Porträthaftigkeit dokumentiert, die das historisch Gewordene – und das andauernde Werden – nicht kaschieren, sondern eher noch betonen. Die Reihe zumeist regelhafter, schöner Gebäude wird stellenweise durchbrochen von Baulücken (Abb. 4 unten) und Durchblicken auf fensterlose Mauerflächen und ältere, nichtrepräsentative Bauten (Abb. 3 und Abb. 4 unten). Selbst ein Ort, der im architektonischen Umfeld einen ›schäbigen Anblick‹ bietet: eine abbruchreife Mauer, auf deren Tordurchgang, ironisch kontrastierend, eine ephemere Tribüne sitzt und die in einen wenig ›boulevardfähigen‹ schuppenartigen Anbau übergeht (Abb. 5), ist mit großer Genauigkeit wiedergegeben. Das Paris der Veranstaltung von 1662 wird im Stadtporträt nicht zur Idealstadt gemacht.

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Abb. 6: Israël Silvestre, Einzug und Aufstellung der fünf Quadrillen auf dem Turnierplatz vor dem Tuilerienschloss (Blick nach Osten), 1662, Kupferstich, 77 x 54 cm (Plattenrand). Aus: Perrault: Courses de Testes Nach den Straßenbildern37 folgen im Festbuch drei doppelseitige Ansichten des von Gaspare und Carlo Vigarani entworfenen ephemeren Amphitheaters,38 in dem die Turnierkämpfe stattfanden.39 Auf der ersten Tafel »COMPARSE 37 Es gibt verschiedene Bindevarianten. Wohl in den meisten Exemplaren sind die Tafeln mit den Turnierbildern erst nach dem Abschnitt zu den einzelnen Quadrillen und ihren Devisenschilden eingebunden; im Exemplar der Kunstbibliothek – Staatliche Museen zu Berlin, Lipperheidesche Kostümbibliothek (Sign. Sg 11) schließen sich die Turnierdarstellungen direkt an die Darstellungen des Umzugs durch die Stadt an. 38 Vgl. Alice Jarrard: Architecture as Performance in Seventeenth-Century Europe. Court Ritual in Modena, Rome and Paris, Cambridge u.a. 2003, S. 206f. 39 Vgl. zu den graphischen Darstellungsstrategien frühneuzeitlicher höfischer Ritterspiele Thomas Rahn: »Der Wandel von der Bewegungssuggestion zur Schauplatzdominanz in druckgraphischen Turnierdarstellungen des 16. Jahrhunderts«, in: Christina Lechtermann/Carsten Morsch (Hg.), Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge, Band 8), Bern u.a. 2004, S. 217-242; Martina Papiro: »Choreographie der Herrschaft: Die druckgraphischen Darstellun-

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des Cinq Quadrilles dans l’Amphiteatre« (Abb. 6) sieht man eine symmetrische Reiterformation, die sich auf dem umschrankten Turnierplan aufgestellt hat, während soeben die letzten Teilnehmer des Zuges in der ›Schleuse‹ eingetroffen sind, die vom Stadtraum auf das Turnierareal führt, und nun in den Prozessionskreisel einmünden, der sich um den Platz im Platz bewegt. Berücksichtigt man die perspektivische Verkürzung, ist Ludwig XIV., durch die Bildlegende identifizierbar als die mittlere Figur im vorderen Halbkreis von Reitern, exakt im Zentrum des Quadrats lokalisiert. Der abgesteckte Turnierplan mit dem König in der Mitte ist als Spiegelung des oben analysierten Kupfertitels angelegt: vorn im Buch die Place Royale mit der programmatisch durch die Königsbüste verdeckten und dabei zu imaginierenden Frontalseite des Reiterstandbilds Ludwigs XIII., hinten, ebenfalls in Frontalansicht und quasi deckungsgleich, Ludwig XIV. als lebendiger Reiter in Denkmalsposition. Die raffinierte Anspielung thematisiert noch einmal den Umzug der Schau-PlatzFunktion von der Place Royale vor den Palais des Tuileries: Die Place Royale scheint in der Performanz des Festes für einen Moment auf und wird als Gedächtnisort zugleich überschrieben. Die erste Totale der Turnierveranstaltung richtet den Blick, weg vom Tuilerienschloss, nach Osten auf die Stadt, die formal als Stadtsilhouette erscheint. Das Amphitheater, faktisch innerhalb der Stadtgrenzen errichtet, ist in ein architektonisch unbestimmtes ›Niemandsland‹ gestellt, das in scharfer horizontaler Linie durch einen (Grenz-)Zaun von der städtischen Sphäre abgetrennt ist. Auf dem Bild scheint der höfische Theaterbau nicht Teil der Stadt zu sein (eher noch ließe sich umgekehrt die Stadt, durch die inkorporierende Geste der Grande Galerie des Louvre rechts oben im Blatt, als Besitz und Territorium des Hofes verstehen). Die besondere Kombination von Stadtsilhouette und Zugformation auf dem Stich produziert die Kontrafaktur eines im 17. Jahrhundert sehr häufigen Darstellungsschemas für fürstliche und königliche Einzüge in Städte, in dem eine mäandrierende Zugformation sich auf eine topographische Stadtansicht in der oberen Bildzone zubewegt (Abb. 7)40. Das Bild des Carrousels von 1662, auf

gen der mediceischen feste a cavallo im 17. Jahrhundert«, in: Anna-Maria Blank/Vera Isaiasz/Nadine Lehmann (Hg.), Bild – Macht – UnOrdnung. Visuelle Repräsentationen zwischen Stabilität und Konflikt (= Eigene und fremde Welten, Band 24), Frankfurt a.M. 2011, S. 89-110. 40 Das späte, aber besonders eindrucksvolle Bildbeispiel stammt aus Friedrich Wilhelm Schönhaar: Ausführliche Beschreibung, Des=zu Baÿreuth im September.

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Abb. 7: Jakob Wangner, Einzug Elisabeth Friederike Sophies von Brandenburg in Stuttgart, 1748, Kupferstich von, 72,5 x 50 cm (Plattenrand). Aus: Schönhaar: Ausführliche Beschreibung, Kunstbibliothek – Staatliche Museen zu Berlin, Lipperheidesche Kostümbibliothek, Sign. Sbd 17 dem der Inventionsaufzug den Stadtraum gerade verlassen hat, nutzt die Folie des geläufigen Einzugsbildtyps als rezeptionsästhetischen Impuls und produziert unterschwellig eine ›Auszugsikonographie‹. Die Ähnlichkeit der Bildlösung zielt darauf ab, das Einziehen des Zuges in das Amphitheater zugleich als einen zeremoniellen Auszug des Königs und seines Anhangs aus der Stadt zu inszenieren, als Rückzug in einen exklusiven Raum, der nicht mehr in der Stadt sein darf.

1748. vorgegangenen HochFürstlichen Beÿlagers, und derer=zu Anfang des Octobers darauf, in denen HochFürstlich Württembergischen Landen, so wohl zu Stuttgardt als Ludwigsburg erfolgten HochFürstlichen Heimführungs Festivitæten […], Stuttgart 1749. In dem aus zwei großen Regalbogen zusammengefügten Einzugsbild, das den Einzug Elisabeth Friederike Sophies von Brandenburg-Bayreuth, der Braut Carl II. Eugens von Württemberg, in Stuttgart zeigt, sind nicht nur die Kompartimente des Zuges nummeriert (die im Buch aufgeschlüsselt werden), sondern auch die wichtigsten Bauten der Stadt; die Bildlegende in einer Kartusche am rechten oberen Bildrand erschließt die Stadtansicht.

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Abb. 8: Israël Silvestre, Kopfrennen auf dem Turnierplatz vor dem Tuilerienschloss (Blick nach Westen), 1662, Kupferstich, 76,5 x 53 cm (Plattenrand). Aus: Perrault: Courses de Testes Das zweite Übersichtsbild, betitelt »COVRSES DES TESTES & Disposition des cinq Quadrilles dans L’Amphiteatre« (Abb. 8), wendet gegenüber dem ersten die Blickrichtung um einhundertachtzig Grad und kehrt der Stadt am unteren Bildrand einen hohen Mauerstreifen zu, deren einziger Durchgang mit einem Tuch verhängt ist, das die Veranstaltung zwar annonciert, aber zugleich den Zugang verhindert. Mehr noch: das Tuch hängt von der abgeschnittenen Schleuse zum Turnierort in einen Leerraum hinein. Das Bild lässt auf diese Weise einen Graben zwischen dem Stadtraum und dem Raum des Hofes imaginieren. Die Brücke über diesen Graben ist allerdings abgeschnitten. Der Blick auf den höfischen Architekturrahmen des Kopfrennens vom 5. Juni zeigt eine Fiktion: Um eine symmetrische Architekturklammer zu schaffen, erfindet Silvestre als Pendant zur Grande Galerie des Louvre, die über den Pavillon de Flore an den Palais des Tuileries anschloss (linke Bildseite), eine entsprechende Galerie im Norden, die am Pavillon de Marsan angesetzt ist (rechte Bildseite); tatsächlich entstand an dieser Stelle erst unter Napoléon I. Bonaparte ein Palastflügel. Dieser fiktive Anbau ist nötig, damit der Stich als

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Gegenbild zur ersten Totale funktionieren kann, d.h. damit die symmetrische Anlage des Schlossbaus das unregelmäßige Ensemble der Stadtbauten, die ihm gegenüber liegen, auskonkurrieren kann. Bezogen auf die Idealisierungstendenz bei der Darstellung der höfischen Architektur lässt sich auch dem realistischen Stadtporträt der Aufzugsbilder, in dem auch Unregelmäßigkeiten und selbst Verfall im Stadtraum gezeigt und nicht kaschiert werden, die Funktion zuschreiben, den Hof als der Stadt ästhetisch überlegene Sphäre auszuweisen. Auch das dritte und letzte Turnierbild »COVRSE DE BAGUE, et Disposition des Quadrilles dans L’Amphitéatre, seconde journée« (Abb. 9), auf dem das Ringrennen vom 6. Juni dokumentiert ist, präsentiert die fingierte Galerie als nördlichen Abschluss des höfischen Terrains. Auf diesem Stich hat sie, außer der Demonstration von Pracht, eine neue Aufgabe: Der Bau verstellt den Blick auf die realen städtischen Bauten dahinter; er schließt, als bildimmanente Zensurmaßnahme, den Stadtraum aus. Am unteren Rand des Blattes versperrt die Rückseite der hölzernen Tribünenarchitektur den Weg. Die Wirkung dieses Balkens von etwa 9 cm Höhe und 74,5 cm Breite lässt sich anhand einer kleinen Reproduktion des Stiches kaum nachvollziehen. Der Benutzer, der die Doppelseite des überformatigen Foliobandes vor sich auf dem Tisch liegen hat, muss aufstehen und sich über die im Bild dominierende Sperre beugen, um Details im oberen Bildfeld studieren zu können. Eine genaue Betrachtung der Tafeln in Perraults Festbuch fordert diese Haltung zwar ohnehin, im letzten Turnierbild ermöglicht die körperliche Performanz des Bildlektüreakts allerdings eine Suggestion: Der Leser/Betrachter überwindet die Blickbarriere der Tribünenrückseite und tritt nun ganz ein in die privilegierte Blickgemeinschaft des ausgewählten Publikums, das auf der Tribüne plaziert ist.41 Die Bilder in den Courses de Testes et de Bague dokumentieren nicht nur ein Zeremoniellereignis, sie verhandeln auch das ›metazeremonielle‹ Thema von höfischer und städtischer Zeugenschaft, von Blickprivilegien und Blickrestriktionen. Zweifelsohne setzte Ludwig XIV. auf das (Sich-)Zeigen, auf eine Akkumulation von Zuschauern; dennoch werden zwei Publikumssphären geschieden. Wenn der König den Aufzug in die Stadt schickt, damit auch dieje-

41 Vgl. zum Publikum und zu den Rezeptionsweisen der Fest- und Theaterkultur am Hof Ludwigs XIV. Quaeitzsch: »Une société de plaisirs«, passim; zur Auswahlpraxis der jeweiligen Öffentlichkeit der Veranstaltungen und speziell zum ›mondänen‹ Publikum ebd., S. 32-44.

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Abb. 9: Israël Silvestre, Ringrennen auf dem Turnierplatz vor dem Tuilerienschloss (Blick nach Norden), 1662, Kupferstich von 75,5 x 53 cm (Plattenrand). Aus: Perrault: Courses de Testes nigen, welche das Amphitheater nicht aufnehmen konnte, des Divertissements teilhaftig werden,42 so ist damit nicht nur eine großzügige Geste gegeben, sondern es wird auch der Surrogatcharakter des Zeremoniells in der Stadt offenbar. Der Ereigniskern des Carrousels, der Turnierwettbewerb, bleibt dem Hof vorbehalten. Die städtische Öffentlichkeit sieht mit dem Aufzug etwas, das sich in den exklusiven Architekturrahmen des Schlossareals zurückziehen wird; sie sieht, dass sie etwas nicht sehen wird. Die Anspielungen auf das Verlassen bzw. Verlegen der Place Royale als Festort, die Inszenierung des Aufzugs als Auszug, das Anlegen des Turnierplatzes als abgeschnittenen ›Grenzort‹, die Betonung von Blickbarrieren: das Festbuch entfaltet mit seinen Illustrationen eine ambivalente Ikonographie, in der das höfische Zeremoniellereignis in der Stadt einer Dialektik von Zeigen und Entziehen unterworfen ist. Ohne grundsätzlich die geltende Forschungsmeinung bestreiten zu wollen, dass der französische Hof unter Ludwig XIV. 42 Vgl. die entsprechende oben zitierte Passage aus Perrault. 364

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erst mit den Versailler Festlichkeiten eine eindeutige zeremonielle Exklusionsstrategie betreibe, lässt sich die Dokumentation des Turniers von 1662 auch als die Veröffentlichung einer Ent-Öffentlichung verstehen.

3. Das Festbuch als Bauausstellung Im Februar 1678 fand in Dresden ein fürstliches Familientreffen der Albertiner statt, das zugleich als politischer Gipfel des Kurfürsten Johann Georgs II. von Sachsen und seiner Brüder August von Sachsen-Weißenfels, Christian von Sachsen-Merseburg und Moritz von Sachsen-Zeitz diente. Diese ›Durchlauchtigste Zusammenkunft‹ wurde von einem vierwöchigen Festprogramm von Karnevalslustbarkeiten gerahmt,43 die der Rat und spätere Bürgermeister von Dresden Gabriel Tzschimmer in einem voluminösen Festbericht in Folio dokumentierte.44 Das Festbuch stellt im Gattungsrahmen der Festbeschreibung

43 Vgl. Uta Deppe: Die Festkultur am Dresdner Hofe Johann Georgs II. von Sachsen (1660-1679) (= Bau + Kunst. Schleswig-Holsteinische Schriften zur Kunstgeschichte, Band 13), Kiel 2006, S. 185-215, S. 258-283, S. 295-306, S. 318-324, S. 329-343 und passim. Vgl. zur höfischen Fest- und Theaterkultur unter Georg II. neben der Monographie von Uta Deppe ferner Helen Watanabe-O’Kelly: »Joseph und seine Brüder. Johann Georg II. und seine Feste zwischen 1660 und 1679«, in: Zur Festkultur des Dresdner Hofes (= Dresdner Hefte, Heft 21), Dresden 1990, S. 29-38; dies.: Court Culture in Dresden. From Renaissance to Baroque, Basingstoke/New York 2002, S. 130-165; Christian Horn: Der aufgeführte Staat. Zur Theatralität höfischer Repräsentation unter Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen (= Theatralität, Band 8), Tübingen/Basel 2004. 44 Gabriel Tzschimmer: Die Durchlauchtigste Zusammenkunfft/ Oder: Historische Erzehlung/ Was Der Durchlauchtigste Fürst und Herr/ Herr Johann George der Ander/ Herzog zu Sachsen […] Bey Anwesenheit Seiner Churfürstlichen Durchlauchtigkeit Hochgeehrtesten Herren Gebrüdere/ dero Gemahlinnen/ Prinzen/ und Princessinnen/ zu sonderbahren Ehren/ und Belustigung/ in Dero Residenz und Haubt=Vestung Dresden im Monat Februario, des M.DC.LXXVIIIsten Jahres An allerhand Aufzügen/ Ritterlichen Exercitien, Schau=Spielen/ Schiessen/ Jagten/ Operen, Comœdien, Balleten, Masqueraden, Königreiche/ Feuerwercke/ und andern/ Denkwürdiges aufführen und vorstellen lassen/ Alles Auf gnädigsten Befehl/ und Anordnung Höchst=ermeldter Sr. Churfürstl. Durchl. genau bemercket/ und das vornehmste nach dem Leben in unterschiedene Kupffer gebracht/ Nebenst etlichen hierzu gefügten Erläuterungen/ Nachdenklichen Geschichten/ heilsamen Sitten=Lehren/ Politischen Erinnerungen und gefasten Sprüchen; wie nicht weniger Religions- Estats-Kriegs= Jagt= und andern dießfalls dienlichen Sachen […]. Nürnberg 1680.

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einen Sonderfall dar:45 zum einen durch die Aufteilung in einen berichtenden Band und einen Band mit einem ethisch und universalhistorisch perspektivierten gelehrten Kommentar zu den Spielformen und dem ikonographischen Programm des Festes, zum anderen durch die besondere Präsenz fürstlicher Bauten und des Stadtraums in den Illustrationen des ersten Bandes. Zu Beginn des Buches wird der Topos des Fürsten als Bauherr mit dem Anlass des Festes verknüpft; Tzschimmer ediert die Einladung des Kurfürsten an seine Brüder, in der man liest: »Und nachdem auch hiernechst Höchstermeldte S. Churfürstl. Durchl. bald bey Antrettung Deroselben Regierung/ und zwar an die Zwey und Zwantzig Jahr sich eifrigst bemühet/ und dahin getrachtet/ wie nicht allein Dero Lande/ und getreue Unterthanen iederzeit in guter Ruhe/ heilsamen Friede/ und ersprießlichen Wohlstande erhalten/ sondern auch die zum theil von dem Alter/ zum theil auch durch das vormahls verderbliche Kriegswesen eingegangenen Vestungs=Gebäude/ Schlößer/ Thürme/ Brücken/ und dergleichen mit großen Kosten hinwiederumb repariret/ und in vorigen Stand gebracht werden möchten/ auch damit meistens zum Ende gekommen. Haben Sie sich auch fernerweit in Dero Residentz und Haubt=Vestung Dresden nebenst Andern das Reit= und nechst darbey liegende Schießhaus von neuen zu erbauen/ zu erweitern/ und auszuzieren nicht unbillich vorgesetzet […]. Wie nun durch Göttliche Verleihung höchstgedachte S. Churfürstliche Durchl. solchen Bau so ferne vollendet/ daß Sie hierunter Dero verlangten Zweck erreichet; Also haben Sie auch nachmahls Jhre Gedanken dahin gerichtet/ wie Sie berührtes Reit= und Schießhaus der Gewohnheit nach/ und/ wie man zu sagen pfleget/ einweihen/ und dem Gebrauche/ darzu selbige erbauet/ öffentlich wiedmen laßen möchten.«46

Johann Georg II. lädt die fürstliche Verwandtschaft ein, eine renovierte Residenzstadt und ein ästhetisch überarbeitetes Residenzschloss zu besichtigen und 45 Vgl. Helen Watanabe-O’Kelly: »Gabriel Tzschimmer’s Durchlauchtigste Zusammenkunft (1680) and the German Festival Book Tradition«, in: Daphnis 22 (1993), S. 61-72; Markus Völkel: »Gabriel Tzschimmers Durchlauchtigste Zusammenkunfft und die Überführung von höfischer Repräsentation in Gelehrsamkeit«, in: Helmut Zedelmaier/Martin Mulsow (Hg.), Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit (= Frühe Neuzeit, Band 64), Tübingen 2001, S. 221-248; Watanabe-O’Kelly: Court Culture in Dresden, S. 158-165. 46 Tzschimmer: Durchlauchtigste Zusammenkunfft, S. 3f.

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an der Einweihung wichtiger Neubauten (Schießhaus und Reithaus) teilzunehmen. Entsprechend bietet die Bildausstattung der Festbeschreibung die Gelegenheit, die Bauten in ›Prospecten‹ zu präsentieren.47 Um etwa das Ergebnis der unter der Leitung Wolf Caspar von Klengels zwischen 1674 und 1678 durchgeführten Bauarbeiten am Residenzschloss vorzuführen, bei denen man den Hausmannsturm erhöht und barock geprägt sowie die Sgraffitomalereien sämtlicher Fassaden restauriert hatte, werden die vier verschiedenen Jagddivertissements zwischen dem 12. und dem 15. Februar 1678 zum Anlass genommen, in einem imaginären Schwenk auf dem Schlosshof in vier Bildern nacheinander den Nord-, Ost-, Süd- und Westflügel des Schlosses auszustellen. Die gezeigte Architektur dient auf den Bildern in fast allen Fällen als Handlungsraum eines bestimmten Festsegments und wird somit immer noch im traditionellen Funktionsrahmen der Festbeschreibung plausibilisiert.48 Die Aufzüge einzelner Reitergruppen und ganzer Zugformationen erscheinen in den Illustrationen der Durchlauchtigsten Zusammenkunfft, analog zum Nationenaufzug in Perraults Festbuch, vor der Kulisse der städtischen Architektur und nehmen, wie dort auch, zum Teil mehrere Bildstreifen in Anspruch. In dieser Weise inszeniert sind acht Festsegmente (im Vorfeld und während des Festmonats): 1. Aufzug der Festungsgarnisonstruppe (28. Dezember 1677), 2. Aufzug der Bürgerschaft zur Musterung (29. Dezember), 3. Heroldsaufzug zur Verkündigung von Cartel und Turnierartikeln zu den Ring- und Quintan-

47 Vgl. die Funktionsbestimmung der Bilder bei Deppe: Festkultur, S. 214: »Gleichermaßen dienten die Kupferstiche der Festchronik mit den Ansichten des Reitund Schießhauses wie auch des Komödienhauses und des Schloßturmes dazu, einer breiteren Öffentlichkeit diese Innovationen zugänglich zu machen, welche die modernen künstlerischen und funktionalen Tendenzen der Barockarchitektur mit dem Traditionellen in der Residenz des sächsischen Kurfürsten vereinten.« 48 Erst im 18. Jahrhundert findet sich mit Pierre des Bretagnes Rejouissances Et Fêtes Magnifiques Qui Se sont faites en Baviere l’an 1722 (München 1723) ein Beispiel für eine Festbeschreibung, in deren Bildern von Schlössern und Gärten sich das Interesse vom ephemeren Ereignis der ›eigentlichen‹ zeremoniellen Aktion gänzlich auf das dauerhafte ›architektonische Kapital‹ eines Hofes verlagert hat. Obwohl zunächst keine Illustrationen vorgesehen waren, wurden des Bretagnes Rejouissances zur Hochzeit des bayerischen Kronprinzen Karl Albrecht mit der Kaisertochter Maria mit 21 doppelseitigen Stichen nach Matthias Diesel versehen, die Schlösser und Gärten der Wittelsbacher zeigen. Vgl. Michaela Völkel: Das Bild vom Schloß. Darstellung und Selbstdarstellung deutscher Höfe in Architekturstichserien 1600-1800 (= Kunstwissenschaftliche Studien, Band 92), München/Berlin 2001, S. 124-126.

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Abb. 10: Inventionsaufzug des Merkur und der Bergleute in Dresden, 1678, Kupferstich (erster Abschnitt des ersten Bildstreifens), 33,5 x 24,5 cm (Plattenrand). Aus: Tzschimmer: Durchlauchtigste Zusammenkunfft, Kunstbibliothek – Staatliche Museen zu Berlin, Lipperheidesche Kostümbibliothek, Sign. Sbe 9 rennen, 4. Inventionsaufzug des Nimrod und der sieben Planeten auf vier Bildstreifen (4. Februar 1678), 5. Aufzug der Schützen zum Armbrust- und Büchsenschießen auf zwei Bildstreifen (6. Februar), 6. der »Dianæ Nympha«Aufzug zur Verkündigung des Cartels zum Ringrennen, 7. Inventionsaufzug der Diana und der Jägerei auf vier Bildstreifen (11. Februar), 8. Inventionsaufzug des Merkur und der Bergleute auf zwei Bildstreifen (21. Februar) (Abb. 10). Die Erfassung des Stadtbildes entlang der Aufzugsrouten ist topographisch korrekt und von großer Genauigkeit.49 Die Architektur ist dabei in den Illustrationen derart dominant, dass man mit Helen Watanabe-O’Kelly konsta49 Vgl. Verein für Geschichte Dresdens (Hg.): Dresdner Straßenansichten vom Jahre 1678. Nach Gabriel Tzschimmers Kupferwerk »Die durchlauchtigste Zusammenkunft« mit Einleitung und Erläuterung von Otto Richter, Dresden 1892.

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tieren kann: Es sind »architectural engravings as much as representations of festivities«50. Barbara Marx bestimmt in ihrer Untersuchung des geplanten – und Fragment gebliebenen – illustrierten Festbuchs zur Dresdener Fürstenhochzeit von 1719 die Präsenz des Stadtraums in Tzschimmers Durchlauchtigster Zusammenkunfft als überwundenes Modell.51 Während in den als Vorzeichnung oder Kupferstich ausgeführten Bildern des Recueil des dessins et gravures representent les solemnites du mariages52 eine Topik der Vogelschau und der kartographischen bzw. militärischen Planperspektive vorherrsche, die August den Starken als Planungs- und Disziplinierungsinstanz im regard des Herrschers anwesend sein lasse, werde in den Illustrationen zum Nimrod-Aufzug 1678 die hinsichtlich der Blickposition realistische Zeugenschaft des Lesers an einer Gemeinschaftsinszenierung simuliert: »Die imposante, festgefügte Häuserfront des rinascimentalen Dresden, dessen bürgerliche Prachtbauten an der Kreuzkirche und am ›Alten Markt‹ als Stein gewordene »Augenzeugen« den Einzug des Kurfürsten Johann Georg II. und seiner Brüder einrahmen und begleiten, bildet das visuelle Pendant zum fiktiven Betracher auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Von beiden Positionen aus – von den Fensters der Häuser wie vom Standort des Bildbetrachters – kann der geordnete Aufzug der Planetengötter und des Nimrod synchron verfolgt werden, denn auch der Leser als virtueller Zuschauer ist durch den Blickwinkel der Stiche auf Augenhöhe des Geschehens als teilnehmender Bürger positioniert. Dieses Arrangement der Sichtebenen in Tzschimmers Werk zielt auf die media-

50 Watanabe-O’Kelly: Court Culture in Dresden, S. 161. 51 Vgl. Barbara Marx: »Disziplinierte Räume. Die visuelle Formierung Dresdens unter König August dem Starken«, in: Gert Melville (Hg.), Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 177-206, hier S. 183 und S. 193f. 52 Vgl. zu den Bildern und zur Planungsgeschichte des Festbuches Monika Schlechte: »Recueil Des Dessins Et Gravures Representent Les Solemnites Du Mariages. Das Dresdner Fest von 1719 im Bild«, in: Pierre Béhar (Hg.), Image et Spectacle. Actes du XXXIIe Colloque International d’Etudes Humanistes du Centre d’Etudes Supérieures de la Renaissance (Tours, 29 juin-8 juillet 1989) (= Chloe, Band 15), Amsterdam/Atlanta 1993, S. 117-169; Claudia Schnitzer: »›… daß dadurch der späten Nachwelt ein unauslöschliches Andencken erwüchße‹. Die Darstellung der Paradegemächer des Dresdener Residenzschlosses in der geplanten Festbeschreibung zur Vermählung 1719«, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 34 (2008), S. 40-83.

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Thomas Rahn le Vergegenwärtigung der vom Bürgermeister verherrlichten, protestantisch grundierten »Sächsischen Tugenden«. Die im Festgeschehen eingeschriebenen Leitwerte »vertrauliche Eintracht und Durchlauchtigste Gesellschaft« regeln qua Text und Bild die Beziehungen zwischen dem Kurfürsten Johann Georg II. und seinen Brüdern ebenso wie die zwischen dem Kurfürsten und seiner Residenzstadt Dresden. Konsens und Eintracht werden deshalb in der durchgängig gemeinsamen Bildpräsenz von städtischem Baukörper und fürstliche[m] Festzug implementiert. Die massive und kompakte Statik der urbanen Baustruktur präsentiert sich ihrerseits als Schutzraum für die Prozession der Planetengötter.«53

Grundsätzlich ist der Deutung von Barbara Marx zuzustimmen, dass die Bilder ein ›Gemeinwesen‹ in Szene setzen, in dem Stadt und Fürst harmonieren. Es sind aber an ihrem zugespitzten Befund, es handle sich hier um einen »suggestiv ins Bild gesetzten Appell an die Teilnahme des Lesers zur Selbstfeier der Stadt im Medium der kurfürstlichen Festlichkeiten«54, Differenzierungen vorzunehmen, was die ›Stadt‹ als Handlungsinstanz und was das Verhältnis von Zeremoniellaktion, Stadtraum, städtischem Zuschauer und Leser betrifft. Auffällig ist nämlich, dass – ganz im Gegensatz zu den Straßenbildern in Perraults Festbuch – die Stadt Dresden in den Bildern der verschiedenen Inventionsaufzüge nicht während der historischen Performanz des Festes gezeigt wird. Natürlich waren die Straßen an den entsprechenden Tagen des Festzyklus von Zuschauern gesäumt. Städtische Zeugenschaft erscheint auf den Bildern aber nur (wenn überhaupt) im disziplinierten Rahmen der Fensterplätze, welche die Zuschauer auf ›Ehrenabstand‹ halten. In den zwei Bildstreifen zum Inventionsaufzug des Merkur und der Bergleute, die von Johann Georg II. als ›Oberstem Bergmeister‹ angeführt wurden,55 zeigt sich sogar kein einziger Zeuge (vgl. Abb. 10); die Stadt ist sozusagen blind gegenüber der fürstlichen Zeremoniell53 Marx: Disziplinierte Räume, S. 193f. 54 Ebd., S. 194. 55 Der Aufzug des Merkur (als ›Erfinder der Bergwerke‹) und der Bergleute bewegte sich vom kurfürstlichen Zeughaus über den Altmarkt, durch die Schlossgasse zum Schloss und sodann zum Reithaus mit der Rennbahn; die Illustrationen zeigen den Zug vor Schlossgasse und Altmarkt. Das Bergmannssujet war in den höfischen Festzügen des silberreichen Sachsen bereits etabliert. Der Zug von 1678, der den Reichtum des Staates vorführen sollte, zeigte Figuren und Szenen, die verschiedenen Tätigkeiten – von der Bodenerkundung bis zur Vermünzung – im Zusammenhang mit der sächsischen Silbergewinnung zur Anschauung brachten. Vgl. zu dem Merkur-Aufzug Deppe: Festkultur, S. 275-283.

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aktion. Das ist mitnichten als subversiver Code zu verstehen, sondern unterstützt vielmehr das Bemühen, eine ›fiktionale‹ Raumsituation zu schaffen, die mit dem ebenfalls fiktionalen Spiel des Hofes zusammengeht. Der Stadtraum ist zwar topographisch korrekt wiedergegeben, er ist aber nicht Gegenstand von Ereignisbildern, sondern Teil von Bühnenbildern. Der Leser wird nicht Zeuge einer Festveranstaltung bzw. suggestiv in einem Zeitsprung zurück zum Festteilnehmer gemacht, er ist vielmehr Zuschauer einer soeben stattfindenden Aufführung in einem Bühnenraum, den er nicht mit den Akteuren teilt. Die Räumung der Straßen von Zuschauern und damit die Tilgung eines entscheidenden ›Realitätsmarkers‹ der historischen Performanz des Festes fingiert einen Raum, in dem nicht zuvorderst verkleidete Fürsten zu erkennen (sprich: zu entlarven) sind, sondern ein ›realer‹ Oberster Bergmann auftritt, ›reale‹ Götter durch das ›reale‹ Dresden ziehen. Das bringt zugleich mit sich, dass die Aufmerksamkeit auf die Stadt als Wahrnehmungsraum der Akteure gelenkt wird. Nimrod bzw. der Anführer der Bergleute (alias Johann Georg II. von Sachsen), Semiramis (alias Christian von Sachsen-Merseburg), Luna bzw. Diana (alias Moritz von Sachsen-Zeitz) und Mars (alias Christian von Sachsen-Weißenfels) sehen (sich) die Stadt (an), durch die sie sich bewegen. Der Marsch der Aufzugsformationen wird, gemäß der Bauaustellungsfunktion der Festbeschreibung, zur ›Musterung‹ und ›Inspektion‹ der schönen, intakten Stadt durch den obersten Bauherrn und seine Brüder. – Auf den Aufzugsbildern des Festbuchs von 1680 wird nicht nur etwas gezeigt (der Festzug, die Stadt), sondern es wird auch gezeigt, dass jemandem etwas gezeigt wird (den Fürsten die Stadt). Diese ausgestellte Bauausstellung findet in einem Stadtraum statt, der durch die radikale Leerung der Straßen für die Aufzüge den Charakter eines Stadtmodells gewinnt. Es lässt sich nur darüber spekulieren, ob Perraults Courses de Testes et de Bague, das als Teilprojekt des Cabinet du Roi in Europa weit verbreitet war, den Anstoß zu der auffälligen Verkoppelung von Festzügen und Straßenzügen in den Illustrationen der Durchlauchtigsten Zusammenkunfft gab. Fest steht, dass eines der Geschenkexemplare des französischen Hofes, ein Maroquinband mit Supralibros Ludwigs XIV., an den Dresdener Hof gelangte.56 Falls Per-

56 Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kuperstich-Kabinett, Inv.-Nr. B 1949,3. Das Exemplar ist allerdings als Eigentum des Dresdener Hofes nicht vor dem ersten erhaltenen Inventar des Kupferstich-Kabinetts von 1738 nachgewiesen und somit gänzlich sicher nur als Sammlungsbesitz Augusts des Starken zu behaupten. Vgl. Schnitzer: Ein ›Cabinet du Roi‹ für Dresden?, S. 36 und S. 39.

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raults Werk als (ein) Vorbild für Tzschimmers Buch diente, hätte man es vielleicht mit einem produktiven Missverständnis zu tun. Denn während die Pariser Straßen, als Rahmen einer akklamierenden Menge und als Kontrastfolie zur höfischen Architektur, in erster Linie um der Amplifizierung Ludwigs XIV. willen ins Bild kommen, lassen sich die Dresdener Straßen, im Kontext einer traditionellen protestantischen Gemeinwohlethik und funktional anknüpfend an die Topik des Städtelobs in älteren Festbeschreibungen,57 als Beweise und Sinnbilder eines funktionierenden Gemeinwesens verstehen,58 wobei die Ausstellung der intakten Stadt wohl in gleichem Maße auf den Fürsten als guten Regenten wie auf die Leistungssphäre der Stadtbürger verweist. Und während im Pariser Festbuch Grenzen und Blickschranken zwischen städtischem und höfischem Areal betont werden, erscheint die Stadt im Dresdener Festbuch hinsichtlich des Verhältnisses von Hof und Stadt als homogenes Gefüge. In Dresden ist, setzt man Perraults Courses de Testes et de Bague als Referenz voraus, die propagandistische Stoßrichtung und Modernität dieses Buches nicht verstanden – oder bewusst nicht aufgegriffen worden.

57 So findet sich in Nicodemus Frischlins Beschreibung der Stuttgarter Fürstenhochzeit des Jahres 1575 ein Beispiel für die Charakterisierung der guten Regierung des württembergischen Landesherrn durch ein Städtelob: Die Erzählinstanz des Textes nimmt, in Annäherung an den Festort, zunächst eine topographische Überblicksperspektive ein und schildert die Lage der Stadt, danach fokussiert sie in einer Architekturekphrasis das Schloss, seine Ausstattung sowie den zugeordneten Tiergarten. Die Wanderung des Erzählers durch das Schloss führt schließlich auf den Altan, von dem der Blick nunmehr auf die Hofkanzlei (als Sitz der Gerechtigkeit) und (summarisch) die Bauten und Befestigungen der Stadt gerichtet wird. Vgl. Nicodemus Frischlin/Karl Christoph Beyer: Sieben Bücher/ Von der Fürstlichen Würtembergischen Hochzeit […], Tübingen 1578, S. 21-34. 58 Als Sinnbild eines – im konkreten Fall als Trauergemeinschaft integrierten – Gemeinwesens findet sich die Kombination von Prozessionszug und städtischem Architekturband auch in einem Kupferstichleporello, das den Trauerzug für Karl X. Gustav in Stockholm im Jahr 1660 zeigt. Der Stich von Jean Lepautre nach Erik Dahlberg findet sich in Samuel Pufendorfs De Rebus A Carolo Gustavo Sueciæ Rege Gestis Commentariarum Libri Septem (Nürnberg 1696). Vgl. Pollack: Cities at War, S. 240-243 (mit Abb.).

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»Öffentliche Denkmäler der Nation« Zur Erfindung des »Russischen« in der Potsdamer Stadt- und Gartenlandschaft ANNA ANANIEVA

1. Gartenlandschaft an der Havel um 1830 Der Wegweiser auf der Pfaueninsel von 1837 empfiehlt, den Spaziergang in dieser Potsdamer Gartenanlage an ihrer Ostseite, bei der Gärtnerwohnung zu beginnen und einem leicht ansteigenden Weg, vorbei an dem Schweizerhaus hin zu dem Schlösschen, einer gotischen Pseudoruine (1795), zu folgen. Von diesem Standpunkt an der Südwestspitze der Insel eröffnet sich nämlich eine panoramatische Aussicht auf die umliegende Garten- und Seenlandschaft, die die Besucher der Pfaueninsel auf den eigentlichen Rundgang durch den Garten einstimmen soll: »Grade vor dem Schlosse überblickt man gegen Westen eine halbe Meile weit den breiten klaren Spiegel der Havel. Zu beiden Seiten von dunklen Fichten umschlossen, begrenzen ihn die freundlichen Umgebungen Potsdams […]. Von der Höhe der Thürme des Schlosses […] gewinnt dieser Blick außerordentlich. Von dort erscheint der Fluss noch ansehnlicher. Zur rechten tritt eine Halbinsel (Sakrow) in das ruhig fliessende Wasser. Weiterhin sieht man ›das MarmorPalais‹ im Neuen Garten, auf dem Hügel dahinter die grüne Kuppel der griechischen Kirche in der russischen Colonie bei Potsdam. Der Insel gegenüber, gegen Süden, [sieht man] auf der Höhe neben der neu (1835-1837) erbauten Kir-

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Anna Ananieva che, das hölzerne Dach und den vorderen Giebel von Nikolskoë, im Stile der besseren russischen Landhäuser ganz von Holz gebaut.«1

Die russischen Gartenreminiszenzen, die Gustav Adolph Fintelmann (18031871), der Hofgärtner der Pfaueninsel, prominent in das Bild der Potsdamer Landschaft zu Beginn seiner Gartenbeschreibung rückt, gehören zu den Anlagen, die nach dem Ende der Napoleonischen Kriege neue semantische Akzente an der Havel setzten. Bekanntlich wird seit den 1820er Jahren im Auftrag von Friedrich Wilhelm III. von Preußen die gesamte Umgebung von Potsdam unter der Leitung von Peter Joseph Lenné (1789-1866) in großem Stil umgestaltet. Nach dem Lennéschen Verschönerungsplan2 wird nach und nach ein Potsdamer Gartenreich geformt, das in einem komplexen System von Baumaßnamen und Sichtverbindungen den städtischen Raum, die alten und neuen Garten-, Villen- und Grünanlagen zu einer pittoresken Landschaft vereint. Das Wechselspiel von »Sichten, Aussichten und Einblicken«, die – nach dem griffigen Ausdruck von Martin Seiler3 – die neue Potsdamer Gartenlandschaft prägen, greift die Druckgraphik der 1830er Jahre dankbar auf. Hat der Text des Wegweisers eine sich öffnende Fächerperspektive von der Pfaueninsel in die Landschaft suggeriert, so lenkt das Mittelbild dieses Souvenirblattes den Blick des Betrachters – sehr deutlich fokussiert – auf die Türme des Ruinenschlösschens zurück. (Abb. 1) Dabei darf sich der Betrachter nun auf der anderen Seite des Flusses und auf der Terrasse des russischen Landhauses wähnen; denn in dem dekorativen Rahmen der gebotenen Aussicht lassen sich unschwer die architektonischen Details des bereits erwähnten Holzhauses von ›Nikolskoë‹ erkennen: ornamentale Schnitzereien der herabhängenden Giebelverkleidung zur Linken sowie Rundholzwand zur Rechten. Die Ansicht der Pfaueninsel von der Galerie zu Nikolskoe rahmen 18 Randdarstellungen, die uns einen Einblick auf die sehenswertesten Architekt-

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Gustav Adolph Fintelmann: Wegweiser auf der Pfaueninsel. Kommentierter Nachdruck der Ausgabe von 1837, hrsg. von Michael Seiler, Berlin 1986, S. 4f. Peter Joseph Lenné: Verschönerungsplan der Umgebung von Potsdam, 1833. Zit. n. Frank Maier-Solgk/Andreas Greuter: Landschaftsgärten in Deutschland, Darmstadt 1997, S. 149. Vgl. Michael Seiler: »Potsdam – Schlösser. Gärten, Stadt und Parklandschaft – Durchsichten, Aussichten, Einblicke und Gesichtslinien«, in: Generaldirektion der Stiftung Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci (Hg.), Potsdamer Schlösser und Gärten. Bau- und Gartenkunst vom 17. Bis 20. Jahrhundert. Ausst.-Kat. PotsdamSanssouci, Potsdam 1993, S. 157-163.

Zur Erfindung des »Russischen« in der Potsdamer Stadt- und Gartenlandschaft

Abb. 1: Ansicht der Pfaueninsel von der Galerie zu Nikolskoe, Souvenirblatt mit 18 Randdarstellungen, nach der Zeichnung von Wilhelm von Möllendorf, um 1830, 29,7 x 35,8 ɫm, Ʉupferstichkabinett Berlin, Inv. KdZ 26561. Aus: Borisova: Russkie izby, S. 50 turstaffagen der umliegenden Gärten gewähren. Unter diesen Miniaturansichten befindet sich auch die von Fintelmann eingangs beschriebene Sicht auf das Ensemble der »neu erbauten Kirche« und das Holzhaus. Die unteren Eckbilder des Blattes stellen die Ansichten beider Bauten von Nikolskoe einzeln dar: hier sehen wir noch einmal die St. Peter und Paul-Kirche und das Landhaus, auch das »russische Haus« genannt. Eine weitere Lithographie aus dieser Zeit bietet uns mehrere Sichten in die zweite Potsdamer Anlage russischer Provenienz: es handelt sich um die sogenannte Kolonie ›Alexandrowka‹, westlich von dem Neuen Garten, an dem Nauener Stadttor gelegen. Von dem Turm des Schlosses auf der Pfaueninsel hat der von Fintelmann geführte Gartenbesucher bereits »die grüne Kuppel der

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griechischen Kirche in der russischen Colonie bei Potsdam« gesichtet. (Abb. 2) Die historischen und baugeschichtlichen Hintergründe der Anlagen von Nikolskoe und Alexandrowka, die auf Initiative von Friedrich Wilhelm III. zwischen 1817 und 1837 in der Potsdamer Gartenlandschaft entstehen, werden nun im Folgenden vorgestellt und erläutert.

2. Nikolskoe und Alexandrowka in Potsdam Den Anfang intensiver politischer Beziehungen zwischen Preußen und Russland markieren die Koalitionskriege gegen Napoleon. Im Herbst 1805 kommt der russische Kaiser, Alexander I., nach Berlin und wird von der Presse und der Bevölkerung des bis dahin neutralen Landes umjubelt.4 Im Potsdamer Schloss werden Koalitionsverhandlungen zwischen Österreich, Russland und Preußen abgehalten, die zu einem Abkommen führen, nach dem Preußen eine Vermittlerrolle zwischen Napoleon I. und der Koalition zuteil wird. Vor der Abreise des russischen Kaisers findet ein Treffen zwischen dem König Friedrich Wilhelm III., der Königin Luise und Alexander I. in der Potsdamer Garnisonkirche statt: am Grab Friedrichs des Großen schwören sich die beiden Herrscher ewige Treue und Freundschaft. Die zeitnah verbreiteten Radierungen mit der Szene am Grab machen den Freundschaftsschwur zu einem medialen Ereignis.5 In den folgenden Jahren gehen Alexander I. und Friedrich Wilhelm III. als politische Verbündete durch die Katastrophen und Krisen der Koalitionskriege, bis es schließlich 1814 zu dem siegreichen Einzug

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Aus Anlass dieses Besuchs wird im Rahmen der offiziellen Feierlichkeiten der Paradeplatz in Berlin in Alexanderplatz umbenannt. Exemplarisch für die ausführliche Berichterstattung siehe Zeitung für die elegante Welt vom 3. Dezember 1805, Sp. 1153-1160; Zeitung für die elegante Welt vom 10. Dezember 1805, Sp. 11811184. Friedrich Wilhelm Meyer nach Franz Catel, Kaiser von Russland verehrt die Überreste Friedrich des Großen und nimmt vom Könige Friedrich Wilhelm III. und der Königin Louise von Preußen Abschied zu Potsdam den 4 ten November 1805, Radierungen, 58,7 x 48,3 cm, Potsdam-Museum, 82/1558 K2. Abgebildet in: Landeshauptstadt Potsdam, Der Oberbürgermeister (Hg.), Königliche Visionen. Potsdam, eine Stadt in der Mitte Europas, Ausst.-Kat. Kutschstall am Neuen Markt, Potsdam 2003, S. 233, Kat. Nr. 5.1.3.

Zur Erfindung des »Russischen« in der Potsdamer Stadt- und Gartenlandschaft

Abb. 2: Hans Otto Herrmann nach Carl Johann Philipp von Motz, Die Russische Kirche und Häuser der Kolonie Alexandrowka, 1829, Lithographie, 53,6 x 45 cm, Potsdam-Museum, Inv. 2003/2050 K2. Aus: Berlin Museum. Potsdam und seine Umgebungen seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts. Ausst.-Kat., Berlin 1980, Abb. 40 der Koalitionsarmee in Paris kommt: Napoleon dankt ab, der »Erste Friede zu Paris« wird abgeschlossen.6 In dem Jahr des Wiener Kongresses wird die freundschaftliche preußischrussische Beziehung mit einer dynastischen Verbindung noch enger: seit 1815 verlobt, heiraten im Jahr 1817 der jüngere Bruder Alexanders, der Großfürst Nikolaj Pavloviþ (1796-1855) und die Tochter Wilhelms III., Prinzessin Char6

Zum Russlandfeldzug als einem europäischen Medienereignis siehe Anna Ananieva/Klaus Gestwa: »1812 in Russland und Europa: Inszenierung, Mythen, Analyse«, in: Manfred Sapper, Volker Weichsel, dies. (Hg.), Mythos Erinnerung. Russland und das Jahr 1812. Berlin: BWV, 2013 [= Osteuropa 1 (2013)], S. 3-14.

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lotte Wilhelmine (1798-1760) in St. Petersburg. Als russische Großfürstin erhält die preußische Prinzessin den Namen Alexandra Fedorovna und wird nach der Thronbesteigung ihres Mannes im Jahr 1826 russische Monarchin. Die Eheschließung, die als Liebesheirat in die historischen Annalen eingeschrieben ist, verbindet nun die nächste Generation russischer und preußischer Machtträger, die künftigen Regenten Kaiser Nikolaus I. und König Friedrich Wilhelm IV., in familiären und freundschaftlichen Banden. Sie markiert den Beginn eines intensiven Kulturtransfers zwischen Berlin und St. Petersburg, der durch zahlreiche Reisen der königlichen Familienmitglieder nachhaltig begünstigt wird. Dieser Austausch führt u.a. zu der Entstehung deutscher Gartenreminiszenzen in der Umgebung der russischen Hauptstadt, er hinterlässt aber auch die bereits erwähnten markanten russischen Spuren in der Potsdamer Landschaft. Folgende Schlüsselereignisse gehören zu der Geschichte der Gartenprojekte im russischen Stil, die in Potsdam realisiert werden: Nach den Hochzeitsfeierlichkeiten im Juli 1817 verbringt das Großfürstenpaar Nikolaj Pavloviþ und Alexandra Fedorovna den Sommer und Herbst in der Sommerresidenz in Pavlovsk, dem Witwensitz der Zarenmutter Maria Fedorovna. Zu der Strategie der sukzessiven Erneuerung dieses herausragenden, weitläufigen Landschaftsparks trägt eine – seit der Jahrhundertwende immer deutlicher werdende – Tendenz bei: Sie äußert sich in der konsequenten Aufnahme spezifisch russischer Elemente in den Gartenraum. Auf botanischer Ebene bedeutet dies die gezielte Verwendung der Pflanzen nördlicher Breiten. In architektonischer Hinsicht wird die Arbeit an einer nationalen Formensprache im Landschaftspark von Pavlovsk erstmals in der Konzeption des Bauernhofs, russ. Ferma, augenfällig. Diese, als ein ländliches Mustergut bewirtschaftete Anlage wird zwischen 1801 und 1805 von dem Hofarchitekten Andrej N. Voronichin (1759-1814) im russischen Stil gebaut7 und zählt zu dem bevorzugten Aufenthaltsort der Besitzerin der Gartenanlage zu der Zeit, als sich das frisch vermählte Paar in Pavlovsk aufhält. (Abb. 3)

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In den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts nimmt Karl Rossi eine Reihe von Veränderungen im »gotischen« Stil vor. – Zu dem ambivalenten Verhältnis zwischen altrussischer und gotischer Semantik im Kontext nationaler Selbstfindung im Russland seit dem 18. Jahrhundert siehe die Studie von Sergej Chaþaturov: »Goticeskij vkus« v russkoj chudozestvennoj kul’ture XVIII veka, Moskau 1999.

Zur Erfindung des »Russischen« in der Potsdamer Stadt- und Gartenlandschaft

Abb. 3: Vasilij A. Žukovskij (1783-1852)/August Philipp Clara (1790 - ?), Ferma / La Ferme, 1824, Aquatinta, Aquarell, Gouache, 7,7 x 9,7 cm, St. Petersburg, GMZ Pavlovsk. Aus: Ananieva: Russisch Grün, S. 368 Die Ausformulierung eines nationalcharakteristischen Stilgefüges kommt in Pavlovsk besonders deutlich in dem Projekt des russischen Musterdorfes Glazovo zum Ausdruck. Die Entwürfe werden ab 1815 – nach dem Tod Voronichins – von dem Hofarchitekten Carlo Rossi (eigentl. Charles, russ. Karl Ivanoviþ, 1775-1849) im Auftrag der Zarenmutter, Maria Fedorovna, ausgearbeitet. Das Erscheinungsbild dieses Gartendorfes, das am äußeren östlichen Ende der Anlage in der Nachbarschaft von Ferma entstehen soll, greift die Bautechnik und die dekorative Formensprache der ländlichen Architektur der Gegend um Novgorod auf. Im Rahmen dieses Projekts wird erstmals ein idealtypisches Bild einer als charakteristisch »russisch« markierten Gartenarchitektur in Russland entwickelt. Die Errichtung des Gartendorfes Glazovo in Pavlovsk wird erst nach 1818 unter dem nächsten Hofarchitekten, Leone Adamini

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Abb. 4: Auguste Ricard Montferrand (1786-1858), De Paysan, route de Petersbourg à Moscou dans la 3 village près de Tzarskoesello, 1819, St. Petersburg, Nauþno-issledovatel’skij Musej Akademii Chudožestv (NIMACh). Aus: Elena Borisova: Russkaja architekturnaja grafika XIX veka, Moskau 1993, S. 134 (1789-1854), nach den umgearbeiteten Plänen in Angriff genommen.8 Etwa zur gleichen Zeit entstehen unweit von Pavlovsk weitere idealtypische Baupro8

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Ekaterina Anisimova: K istorii sozdanija derevni Glazovo pod Pavlovkom. Ot projektov Karlo Rossi k sozdaniju Leone Adamini 1815-1822 (= Quaderni La Ricerca, Band 4), Montagnola 1997 (mit ital. und dt. Kurzfassung); dies.: »K istorii sozdanija derevni Glazovo pod Pavloskom«, in: N.S. Tret’jakov/L.V. Koval’ (Hg.), Pavlovkie þtenija, St. Petersburg/Pavlovsk 1998, S. 20-26; Anja Hecker/Andreas Kalesse: Die russische Kolonie Alexandrowka in Potsdam: »Zum Forschungsstand«, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 54 (2003),

Zur Erfindung des »Russischen« in der Potsdamer Stadt- und Gartenlandschaft

Abb. 5: Carlo Rossi (1775-1849), Bauern Hof in Rußland (rechts unten: Rossy architécte), 1815 (?), Tusche, aquarelliert, 97,5 x 64,1 cm, SMBPK, Kupferstichkabinett, Berlin, Mappe Top Russland ZM. Aus: Landeshauptstadt Potsdam, Der Oberbürgermeister: Königliche Visionen, S. 253 jekte im russischen Stil; diesmal handelt es sich um die Gestaltung von Mustersiedlungen in unmittelbarerer Umgebung der kaiserlichen Sommerresidenz in Carskoe Selo.9 (Abb. 4) Im Jahr 1819 legt der Hofarchitekt Auguste Montferrand (1786-1858) sein Entwurf eines »russischen Bauernhauses« vor. Vier Jahre später nimmt Montferrand diesen Fassadenplan als Grundlage für die Gartenpartie um das sogenannte ›Russische Haus‹ in dem ersten öffentlichen Vergnügungspark des Stadt St. Petersburg, Ekateringof. (Die Lithographie zeigt die Ansicht des »russischen« Ensembles in der Parkanlage Ekateringof, mit deren Gesamtgestaltung Auguste Montferrand 1823 beauftragt wird.) Kehren wir nun zu den preußisch-russischen Beziehungen zurück. Im Sommer 1818 reist der preußische König nach St. Petersburg zu der Taufe des ersten Kindes seiner Tochter, des Großfürsten Alexander Nikolaeviþ. Friedrich Wilhelm III. gastiert während seines Besuches in den kaiserlichen Sommerre-

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S. 200-218; Galina V. Semova: »Derevnja Glazovo v Pavlovskom Parke», in: Boris Sokolov (Hg.), Prostranstvo i vremja voobražaemoj architektury (= Caricynskie þtenija, Band 7-8), Moskau 2005, S. 139-146 Elena Borisova: Russkaja architektura v ơpochu romantizma, St. Petersburg 1997, S. 118-135; dies.: »Russkie izby«, in: Pinakoteka 10-11 (1999), S. 50-55.

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sidenzen, u.a. in Pavlovsk. Etwa ein Jahr nach dieser Russlandreise gibt er den Auftrag, in dem Waldpark gegenüber der Pfaueninsel bei Potsdam ein Landhaus in russischem Stil zu errichten. Anlass dafür liefert der bevorstehende Besuch seiner Tochter: Im Jahr 1820 unternimmt das russische Großfürstenpaar eine ausgedehnte Europareise und verbringt längere Zeit in den Potsdamer Residenzen. Hier, in dem Wäldchen auf der Anhöhe über der Havel bei Glienicke präsentiert Wilhelm III. seiner Tochter Charlotte, der russischen Großfürstin Alexandra Fedorovna, im Oktober 1820 ein Anwesen, das den Namen ihres Mannes, Nikolskoe, trägt; die Präsentation von Nikolskoe wird laut Überlieferung mit folgenden Worten eingeleitet: »Siehe, ein russisches Blockhaus! Es ist die vollkommene Kopie des Blockhauses, das Dir so gut gefiel, und in welchem wir froh waren, als ich euch in Petersburg besuchte. Du wünschtest damals ein solches und meintest, man könne darin ebenso vergnügt sein wie in einem königlichen Palaste.«10

Die Gestaltung dieses Landhauses mit einem Gehöft entspricht der Blockbauweise der traditionellen russischen Holzarchitektur; mit dem überdachten Torbau und der dekorativen Schnitzereikunst der Giebel- und Fensterverkleidung nimmt das Erscheinungsbild des Anwesens die typischen Formen nordrussischer Bauernhäuser auf. Für den Bau des russischen Landhauses ist der Kapitän der Garde-Pionier-Abteilung Adolf Snethlage (1788-1856) verantwortlich. Als Vorlage für das Bauprojekt dient, so die neuere Forschung, eine Zeichnung des russischen Hofarchitekten Carlo Rossi, die auf seine Projektserie zu dem »russischen« Musterdorf Glazovo in Pavlovsk zurückgeht.11

10 Zit. n. H. Engel: »Entstehung und Geschichte des Blockhauses im 19. Jahrhundert«, in: Das Blockhaus Nikolskoe. Geschichte, Zerstörung, Wiederaufbau, mit Beiträgen von Wolf-Rüdiger Borchardt u.a., Typoskript, Berlin 1987, S. 7-14, hier S. 8 und S. 11; siehe auch Caesar von der Ahé: »Das Blockhaus Nikolskoe und seine Bewohner«, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte Potsdams 7 (1937), S. 348. 11 Bettina Altendorf: »Friedrich Wilhelm III. und die Russische Kolonie Alexandrowka in Potsdam«, in: Landeshauptstadt Potsdam, Der Oberbürgermeister, Königliche Visionen, S. 224-256 und S. 253 (Kat. Nr 5.4.11). Vgl. dazu eine früher geäußerte Vermutung der russischen Architekturhistorikerin Evgenija Kiriþenko: »Iz istorii russko-nemeckich svazej v oblasti architektury«, in: Vzaimosvjazi russkogo i sovetskogo iskusstva i nemeckoj chudožestvennoj kul’tury, Moskau 1980, S. 314f.

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Abb. 6: Ludwig Erhard Lütke jun., Blockhaus von Nikolskoe, um 1830, Lithographie, koloriert, 26 x 30 cm, Potsdam-Museum, V 81/510 K2. Aus: Landeshauptstadt Potsdam, Der Oberbürgermeister: Königliche Visionen, S. 252 Das von Rossi signierte Blatt mit der Bezeichnung Bauern Hof in Rußland befindet sich heute im Kupferstichkabinett der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und zählt mit großer Wahrscheinlichkeit zu den königlichen Mitbringseln von der Russlandreise Wilhelms III. im Sommer 1818. (Abb. 5) Mit dem Bau des Russischen Hauses, wie es im 19. Jahrhundert überwiegend bezeichnet wird, wird bei Potsdam im königlichen Forst an der Havel ein Gartenprojekt im russisch-nationalen Stil verwirklicht, das sich in Russland gerade in der Entwicklungsphase befindet. Die von Rossi für die St. Petersburger Gartenlandschaft projektierte Architekturstaffage wird zwischen 1819 und 1820 bei Potsdam erfolgreich realisiert.12 12 Marcus Köhler: Die Potsdamer Alexandrowka und ihr Beitrag zur Entstehung des »russischen Stils« (Gutachtenim Auftrag des Oberbürgermeisters der Landeshauptstadt Potsdam, Amt für Denkmalpflege), Berlin 1996; Gabriele Kapp/Jutta Markowski/Thomas Sander: Untersuchung zur Bau- und Sozialgeschichte der Kolonie Alexandrowka: Dokumentation und Auswertung aus den Aktenbeständen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs (Typoskript), Potsdam 2003; Anja Hecker: Glasowo bei Pawlowsk. Carlo Rossis Projekt eines russischen Parkdorfes – Vorbild für die Alexandrowka in Potsdam? (Diplomarbeit an der Technischen U-

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Die Anlage Nikolskoe findet bis zum Tod von Wilhelm III. im Jahr 1840 häufige, bevorzugte Verwendung als ein königliches Teehaus. Das sogenannte Russische Haus wird von einem Kastellan bewohnt, einem ehemaligen Leibkutscher beider Herrscher (Alexander I. und nach 1808 Wilhelm III.), der nun dem Hofgärtner der Pfaueninsel untersteht. Im Erdgeschoss des Russischen Hauses wohnen drei Matrosen, die d en Fährverkehr mit der Pfaueninsel organisieren. Die Lithographien der 1830er Jahre setzten das Russische Haus als ein belebtes Ausflugsziel der Berliner Bevölkerung ins Bild. (Abb. 6) Noch im Jahr 1848 wird eine dieser Ansichten wirkungsvoll in die populären Bilderwelten des Pfennig-Magazin aufgenommen (Abb. 7), wobei die Redakteure dieser auflagenstarken deutschen Zeitung der fremden Architektursprache eine Stimmung der Vertrautheit attestieren: »Gegenüber der Pfaueninsel bei Potsdam ist ein eigenthümliches Bauwerk errichtet, treu dem russischen Vorbilde nachgebaut, ein Blockhaus, das durch seine fremdartige Bauart einen eigenthümlichen Eindruck macht. So ungewohnt und seltsam uns das Alles aber auch vorkommt, fühlen wir uns doch recht heimlich darin.«13

Die landschaftsarchitektonische Modellierung des Areals Nikolskoe wurde in den 1830er Jahren erweitert.14 Ab 1835 entsteht hier ein Kirchenbau nach Plänen von Friedrich August Stüler und Albert Dietrich Schadow. Die im Jahr 1837 fertiggestellte Peter-Paul-Kirche erhält ihren russischen Zwiebelturm nach einem Entwurf von Karl Friedrich Schinkel und dient eine Zeit lang als Hofkapelle. Mit der Erweiterung des Wildparks 1841-42 entstehen auf dem Hügel gegenüber der Pfaueninsel weitere Nutzbauten in russischem Stil: das Pförtnerhaus (die sogenannte Einsiedelei) und die Prinzliche Unterförsterei mit Wohnung und Stallungen.

niversität Berlin), Potsdam 2002; Anja Hecker/Andreas Kalesse: »Die russische Kolonie Alexandrowka in Potsdam: Zum Forschungsstand«, in: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte 54 (2003), S. 200-218. 13 Das Pfennig-Magazin für Belehrung und Unterhaltung 261 (1848), S. 4. 14 Michael Seiler: »Landschaftsgärtnerische Gestaltung der Umgebung von Nikolskoe«, in: Wilfried M. Heidemann (Hg.), Evangelische Kirche St. Peter und Paul auf Nikolskoe, 1837-1987, Berlin 1987, S. 37-47.

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Abb. 7: Das Pfennig-Magazin für Belehrung und Unterhaltung, 261 (1848), S. 4 (Ausschnitt). Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek München, Sign. 4 per. 15, or. NF 6 Sechs Jahre nach der Einweihung des Russischen Hauses Nikolskoe bei Glienicke entsteht westlich von dem Neuen Garten, in der Potsdamer Vorstadt unterhalb des Pfingstbergs, eine wesentlich ambitioniertere Anlage: eine russische Siedlung namens Alexandrowka.15 Als Namensgeber fungiert in diesem Fall der 1825 verstorbene russische Kaiser Alexander I. Die Gestaltung der Anlage unterliegt Peter Joseph Lenné. Die überlieferten Varianten seiner Projektplanung lassen auf den gestalterischen Willen des königlichen Auftragge-

15 Hecker/Kalesse: Die russische Kolonie, S. 201-206.

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bers schließen, der die symbolische Form des Grundrisses – des russischen Andreaskreuzes – bestimmt hat.16 Die zweiteilige Anlage, die aus einem regelmäßig gestalteten unteren und einem bewaldeten oberen Teil besteht, wird zwischen 1826 und 1829 gebaut und fügt sich in die Raumordung der Potsdamer Vorstadt harmonisch ein. Die ovale Grundform der Siedlung entspricht der gartenarchitektonischen Figur eines Hippodroms; dieser Teil des Ensembles beinhaltet zwölf Gehöfte mit jeweils einem Wohnhaus, Wirtschaftsbauten und Bauerngärten. Die Wegeführung innerhalb des Hippodroms lehnt sich an die Form des russischen Andreaskreuzes an; alle Kolonistenhäuser ordnen sich an den Straßen des Kreuzes und an den nach außen gerichteten Halbkreisen der Siedlung an; entlang der Hauptstraße nach Nauen befinden sich vier Häuser, die von den oberen Dienstträgern der russischen Kolonisten bewohnt werden. Alle Gebäude sind Fachwerkbauten, die einen Blockbau vortäuschen. Dafür sind an den Außenwänden rundbohlenartige Verschalungen und bei den Wirtschaftsgebäuden einfache vertikale Brettverschalungen angebracht. Die vorderen Giebelseiten sind mit Schnitzereien geschmückt, die Balkone und Veranden gehören jedoch in vielen Fällen nicht zu den funktionalen Teilen der Häuser, können also nicht benutzt werden und sind lediglich Teil der Dekoration. An einer der schmalen Seiten im Norden geht der regelmäßige Teil der Anlage in einen bewaldeten, in freien Formen gestalteten Abschnitt über, der den Namen Alexanderberg erhält. In diesem erhöhten Teil entsteht ein Ensemble aus einem Königlichen Landhaus – das anders als die Häuser der Kolonie in einer echten Blockbauweise ausgeführt wird – und einer Kirche, die dem russischen Heiligen Alexander Newskij geweiht ist. Den Entwurf für diesen Sakralbau, der charakteristische Züge eines neuen »byzantinischen Stils« trägt, liefert der Architekt Vasilij Stasov (1769-1848).17 Die unter Karl Friedrich Schinkel erbaute Kirche erhält bei der Einweihung im Jahr 1829 eine Gedenktafel mit der Inschrift: »Ein bleibendes Denkmal der Erinnerung an die Bande der Freundschaft«. Ein offizielles Porträt von Friedrich Wilhelm III. aus dem Jahr 1828 gibt im Bildhintergrund das Ensemble von Alexandrowka detailgetreu wieder:

16 Peter Joseph Lenné, Die Russische Kolonie am Pfingsberg bey Potsdam (ausgeführter Plan), 1826, Bleistift, Tusche, aquarelliert, 63,2 x 37,7 cm, Kupferstichkabinett Berlin, Top VI (160-602) D/K 169. 17 Siehe dazu Borisova: Russkaja architektura, S. 120.

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Abb. 8: Ernst Gebauer, Friedrich Wilhelm III. von Preußen (1770-1840), 1828 (?), Öl auf Leinwand, 89,3 x 65,2 cm, SPSG, GK I 3005 Aus: Landeshauptstadt Potsdam, Der Oberbürgermeister: Königliche Visionen, S. 231

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links befinden sich die Gehöfte mit den Bauerngärten, rechts im Bild ist die Alexander Newskij-Kirche mit dem Königlichen Landhaus abgebildet. (Abb. 8) Die beiden Bauten des Alexanderbergs in Potsdam besitzen einen besonderen Stellenwert für die russische Architekturgeschichte: Sie verkörpern die frühesten Beispiele einer Formensprache in »russischnationalem« Stil für sakrale und profane Architektur, die im frühen 19. Jahrhundert in Russland im Rahmen von Gartenprojektierung entworfen wird, in russischen und preußischen Anlagen eine Realisierung findet, aber nur in Potsdam bis heute erhalten geblieben ist. Fragt man nach einer symbolischen Aussagekraft der Anlage Alexandrowka, so lässt sich in der Raumordnung und dem idealtypischen Charakter des Projekts eine paternalistische Intention erkennen: ein sakraler und ein königlicher Bau erheben sich malerisch über eine schön geordnete ländliche Siedlung. Eine gleiche Geste eines totalisierenden Verschönerungszugriffs auf das eigene Land bringt zu Beginn des 19. Jahrhundert einer der russischen Gartenliteraten, Aleksandr M. Bakunin, in seinem Text Über Gärten (russ. O sadach, 1804) anschaulich und befremdlich zugleich auf den Nenner: »Ich will nicht, dass mein schöner Garten die Hässlichkeiten meines Dorfes vergrößert, dagegen will ich, dass mein Dorf einen verlockenden Prolog zu meinem Garten darstellt. Es wird, so verspreche ich, bei mir einen Garten geben, und zwar weder einen zugeschnittenen, noch einen geschlängelten, weder einen englischen noch einen chinesischen, es wird ein russischer Garten werden. Die Möglichkeit, alle meine Wälder, Wiesen und Felder zu einem Garten zu vereinen, wird mich zu einem Gärtner machen.«18

18 »ə ɧɟ ɯɨɱɭ, ɱɬɨɛɵ ɤɪɚɫɢɜɵɣ ɫɚɞ ɭɦɧɨɠɢɥ ɛɟɡɨɛɪɚɡɢɟ ɦɨɟɣ ɞɟɪɟɜɧɢ, ɚ ɯɨɱɭ, ɱɬɨɛɵ ɞɟɪɟɜɧɹ ɦɨɹ ɛɵɥɚ ɩɪɢɦɚɧɱɢɜɵɦ ɩɪɟɞɢɫɥɨɜɢɟɦ ɦɨɟɝɨ ɫɚɞɚ. [...] ɛɭɞɟɬ, ɨɛɟɳɚɸ ɜɚɦ, ɢ ɭ ɦɟɧɹ ɫɚɞ ɧɟ ɫɬɪɢɠɟɧɵɣ, ɧɟ ɜɶɸɪɱɚɬɵɣ, ɧɟ ɚɝɥɢɰɤɨɣ ɢ ɧɟ ɤɢɬɚɣɫɤɢɣ, ɚ ɛɭɞɟɬ ɫɚɞ ɪɭɫɫɤɢɣ. ȼɨɡɦɨɠɧɨɫɬɶ [...] ɨɛɪɚɡɨɜɚɬɶ ɦɨɢ ɥɟɫɚ, ɩɨɥɹ, ɩɨɤɨɫɵ [...] ɫɚɞɨɦ [...] ɫɞɟɥɚɟɬ ɦɟɧɹ ɫɚɞɨɜɧɢɤɨɦ.« Aleksandr M. Bakunin: »O sadach [1804]«, in: Pis’ma A.M. Bakunina k N.A. L’vovu. Publikacija L.G. Agamaljan, in: Ežegodnik rukopisnogo otdela Puškinskogo doma na 1997 god, St. Peterburg 2002, S. 43-95, hier S. 55 (Übers. aus dem Russ. A.A.). Siehe zu Bakunin ausführlicher John Randolph: The House in the Garden: the Bakunin Family and the Romance of Russian Idealism, Ithaca 2007. – Zur sozialen Komponente Bakunins Gartenidee vor dem Hintergrund französischer Gartenschriften siehe Andreas Schönle: Julies Garten in der „Nouvelle Héloïse“. Rousseau und die Ideologie der ‚Verbesserung’ in Russland um 1800, in: Die Gartenkunst 24/1 (2013) (im Erscheinen).

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Abb. 9: Alexanderkapelle im Schlosspark Fantaisie. Foto 2009 (© Anna Ananieva)

3. Russische Spuren in Gärten von Weimar und Bayreuth Bei der Gestaltung der Gartenpartien Nikolskoe und Alexandrowka, die einen nationalen Charakter russischer Provenienz effektvoll veranschaulichen, setzt man in Potsdam auf die Formensprache russischer Holzarchitektur. Im Park Belvedere, der Residenz der Weimarer Landesherren Maria Pavlovna, Großfürstin von Russland (1786-1859), und Carl Friedrich von Sachsen-WeimarEisenach (1783-1853) wird westlich des Schlosses eine kleine Partie des Landschaftsparks von Pavlovsk nachgebaut. Dieser aus drei Teilen bestehende, eingezäunte trapezförmige Garten wird als »Russischer Garten« bezeichnet und ist der Nutzung durch die erbgroßherzogliche Familie vorbehalten, als sich die erbgroßherzogliche Familie nach den Napoleonischen Kriegen in Weimar 1816 fest niederlässt. In der Gestaltung des Russischen Gartens werden einzel-

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ne Elemente des elterlichen Parks von Pavlovsk erinnert und sogar zitiert.19 Entscheidend ist im Fall des Weimarer Gartens die Namensgebung der Partie, die auf das Herkunftsland der Gartenbesitzerin verweist und dadurch den russischen Charakter der Anlage markiert. Die Öffentlichkeit ist hier – anders als in den Potsdamer »russischen« Gärten – von dem Besuch des Russischen Gartens ausgeschlossen. Im Schlosspark Fantaisie bei Bayreuth lässt Alexander Friedrich Karl von Württemberg (1771-1833) nach dem Sieg über Napoleon eine Memorialpartie russischer Provenienz errichten, die sich an breitere Besucherkreise richtet und für eine kontemplative, verinnerlichte Wahrnehmung der Erinnerungszeichen im Garten bestimmt ist. Der jüngere Bruder der Pavlovsk-Besitzerin, der Imperatorenwitwe und Zarenmutter Maria Feodorovna, erweitert damit einen, in der Parkanlage bereits bestehenden Gartenbezirk mit memorialem Charakter um zwei selbst sprechende Staffagen: den Borodino-Stein und die Alexanderkapelle. (Abb. 9) Die Gartenanlage Fantaisie hat die Mutter von Maria Fedorovna, Friederike Sophie Dorothee von Württemberg (1726-1798), im Jahr 1793 erworben. In diesem Garten bei Bayreuth wurden innerhalb von zwei Jahren mehrere neue Staffagearchitekturen, darunter ein Gartenbezirk mit dem Charakter eines Gedächtnisortes, errichtet. Den Mittelpunkt dieses Gartenbezirks, der sogenannten ›Katakombe‹, bildete eine Felsengrotte mit einem Blockaltar und zahlreichen Urnennischen, die in den Gängen und Kammern der Grotte angebracht sind. Den Eingangsbereich vor der ersten Kammer schmückten Gedenktafeln und Inschriften, wobei sich über dem Felsen eine Säule der Eintracht erhob. Die Gestaltung der »russischen« Gartenpartien in den deutschen Gartenanlagen des XIX. Jahrhunderts steht in einem zunehmend komplexer gewordenen, generationenübergreifenden Erinnerungszusammenhang. Die »russischen« Partien in dem Weimarer Belvedere und der Bayreuther Fantaisie zeigen interessante Aspekte einer »russischen« Erinnerungskultur im Garten auf, die hier nicht weiter erläutert werden können. Erwähnt werden soll aber, dass auch in diesen beiden Fällen eine auffällige Spur nach Pavlovsk führt. Sowohl 19 Jürgen Jäger: »Der Russische Garten im Schloßpark Belvedere bei Weimar«, in: Impulse 5 (1982), S. 389-398; Viola Klein: Russischer Garten, Weimar 2001; Anna Ananieva: »Garten, Andenken und Erinnerungskultur zwischen Pawlowsk und Weimar«, in: Joachim Berger/Joachim von Puttkamer (Hg.): Von Petersburg nach Weimar. Kulturelle Transfers von 1800 bis 1860 (= Jenaer Beiträge zur Geschichte, Band 9), Frankfurt a.M. 2006, S. 261-285.

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in Belvedere in Weimar als auch in Fantaisie bei Bayreuth knüpft man an eine memorative Praxis an, die den Garten als einen Erinnerungsort privilegiert.20

4. Schlussbetrachtung Die Inszenierung des »Russischen«, die mit den geschilderten Gartenprojekten in der Potsdamer Landschaft vorgenommen wird, findet vor dem Hintergrund intensiver familiärer und politischer Beziehungen zwischen den deutschen und russischen Herrscherhäusern statt, und zwar zu einer Zeit, die sich durch ideologische und ästhetische Konsolidierung nationaler Ideen sowohl in den deutschen Ländern, als auch im russischen Reich auszeichnet. Das »Nationale« wird so auch zum Thema der Gartengestaltung, die sich nun mit einer verstärkten Aufmerksamkeit den architektonischen Bedeutungsträgern zuwendet.21 Die Ausdruckskraft emblematischer Architektur bekommt erneut eine gartengestalterische Konjunktur gegenüber den Formen freier, verschönerter Natur. Blickt man auf die raumästhetischen Strategien der Inszenierung eines nationalen Charakters, die die Theorie und Praxis der Gartengestaltung seit dem späten 18. Jahrhundert bereitstellt, so ist man im Gartenraum entweder mit Denkmälern herausragender Ereignisse oder Persönlichkeiten von nationalkultureller Bedeutung konfrontiert, oder mit architektonischen Gartenstaffagen, die Assoziationen an die charakteristische, »eigentümliche« Bautradition wecken sollen. Bei der Gestaltung der Gartenpartien Nikolskoe und Alexandrowka, die einen nationalen Charakter russischer Provenienz effektvoll veranschaulichen, setzt man in Potsdam auf die Formensprache russischer Holzarchitektur. Was die Anlagen Nikolskoe und Alexandrowka in gartenhistorischer Sicht auszeichnet, ist ihre oszillierende Stellung zwischen traditionellen, spielerischen Formen des Landschaftsgartens und modernen Projekten der Landesverschönerung, die sich in der Projektierung von Musterdörfern und Gartenstädten äußert. Auf den ersten Blick erinnern die russischen Anlagen in Potsdam an eine typische Semantisierung der Gartenlandschaft mit Hilfe von ländlichen Staffagen, der fabric oder im deutschen Sprachgebrauch, dem ›Dörfle‹. Bei genauer Betrachtung erweisen sie sich jedoch als Projekte des 19. Jahrhun20 Anna Ananieva: Russisch Grün. Eine Kulturpoetik des Gartens im Russland des langen 18. Jahrhunderts, Bielefeld 2010. 21 Siehe dazu ausführlicher Marcus Köhler: Der Garten als Geburtsort des russischen Nationalstils, in: Die Gartenkunst 24/1 (2013) (im Erscheinen).

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derts, deren Intention und Wirkung sich im Kontext einer spezifischen Erinnerungskultur des Landschaftsgartens entfaltet. In einem Wechselspiel von Erinnern und Erfinden eines nationalen Charakters verbindet diese Erinnerungskultur biographisches und kulturelles Wissen gesamteuropäischer Provenienz und bringt individuelle und kollektive Dimensionen der Gedächtnisstiftung im Gartenraum zum Vorschein. Auf der Suche nach adäquaten ästhetischen Strategien in der Gartenkultur des neuen Jahrhunderts werden die leitenden Prinzipien des Charakteristischen und des Malerischen, die die Ästhetik des Landschaftsgartens im 18. Jahrhundert prägen, aufgegriffen und in Richtung nationaler Repräsentation transformiert. Vor diesem Hintergrund, so glaube ich, verleiht die Rekonstruktion der »russischen« Spuren in den deutschen Gartenanlagen des 19. Jahrhunderts der griffigen These Hirschfelds neue Facetten, wenn er am Ende des 18. Jahrhunderts postuliert, die Gärten seien »öffentliche Denkmäler der Nation«, die »einen Beweis von dem Nationalcharakter abgeben«22. Interkulturell brisant wird der Prozess einer landschaftsarchitektonischen Monumentalisierung des ›Nationalen‹ dann, wenn die Vorstellungen von einem, in diesem Fall, »russischen« Gartenraum aus einem heterogenen, pluralistisch aufgefassten Ästhetikkonzept des Mannigfaltigen in ein anderes Feld, das der »nationalkulturellen« Ordnung, überführt werden und der Legitimation ihrer homogenen, »authentischen« Beschaffenheit dienen sollen. Darin lässt sich eine eigentümliche Faszination der russischen Gartenreminiszenzen in den deutschen Anlagen ausmachen, die mit einer Art »Offenbarung« einer fremden in einer vertrauten, eigenen Landschaft einhergeht. Ihre Wirkung wird getragen von einem Aufrechterhalten eines Zustandes des oszillierend Heterogenen, der eine deutliche Unterscheidung zwischen den kulturellen Markierungen des Fremden und des Eigenen genauso wenig zulässt wie eine klare Trennung zwischen den Bereichen Kultur und Natur, sofern diese Gartenanlagen in eine Landschaft eingelassen werden, die sich in dem Prozesse einer umfassenden, urbanistischen und landschaftsarchitektonischen Verschönerung befindet.

22 Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, Band 1, Leipzig 1779, S. 6.

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UND

A UTOREN

Ananieva, Anna, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Eberhard Karls-Universität Tübingen und am Institut für Kunstgeschichte der Johannes GutenbergUniversität Mainz. 1992-1998 Studium der Russistik und der Germanistik an der Staatlichen Universität Kazan’ in Russland und an der Justus LiebigUniversität Gießen, 2009 Promotion an der Universität Gießen; 2002-2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich 434 »Erinnerungskulturen« an der JLU Gießen (Leitung: Günter Oesterle); 2007-2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Bonn im DFG-Projekt »Von der ›Aufklärung‹ zur ›Unterhaltung‹: Literarische und mediale Transformationen in Deutschland zwischen 1780 und 1840« (Leitung: Jürgen Fohrmann); 2010-2012 Koordinatorin der Doktorandengruppe »Raum und Herrschaft: Stadt und Garten als Kommunikations-, Disziplinierungs- und Wissensraum in Europa« an der der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Kuratorin mehrerer Ausstellungen zu Literatur und Alltagskultur (u.a. »Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken«, Museum für Angewandte Kunst Frankfurt, 2006). Forschungsschwerpunkte: intermediale und interkulturelle Transfers; Gartenkunst und Literaturgeschichte des 18.-19. Jahrhunderts; Dingkultur und Erinnerungspraxis seit der Empfindsamkeit; Kulturökonomie des literarischen Marktes in der Biedermeierzeit; Historische Semantik und Kulturgeschichte der Eleganz. Buchpublikationen: Russisch Grün. Eine Kulturpoetik des Gartens im Russland des langen 18. Jahrhunderts, Bielefeld 2010 (zugl. Diss. Univ. Gie393

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ßen 2009); zus. mit Natascha N. Hoefer Hg.: Der andere Garten. Erinnern und Erfinden in Gärten von Institutionen (= Formen der Erinnerung, Band 22), Göttingen 2005; zus. mit Dorothea Böck u. Hedwig Pompe Hg.: Geselliges Vergnügen. Kulturelle Praktiken von Unterhaltung im langen 19. Jahrhundert, Bielefeld 2011; zus. mit Manfred Sapper, Volker Weichsel u. Klaus Gestwa Hg.: Mythos Erinnerung. Russland und das Jahr 1812. Berlin 2013 [= Osteuropa 1 (2013)]. Bauer, Alexander, M.A., Stipendiat am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz. 2001-2007 Studium der Osteuropäischen Geschichte und Slavistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; 2008-2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schlossmuseum Jever; 2010-2012 Stipendiat der Doktorandengruppe »Raum und Herrschaft: Stadt und Garten als Kommunikations-, Disziplinierungs- und Wissensraum in Europa« an der Universität Mainz mit einem Dissertationsprojekt zum Thema »Die gebaute Utopie einer Herrschaft: Sankt Petersburg im Zeitalter Katharinas II.«. Forschungsschwerpunkte: Aufklärung im Zarenreich; Herrschaft und Stadtbaupolitik Katharinas II.; russische Literatur im 18. Jahrhundert; Leben und Werk Gavriil Deržavins. Fitzner, Sebastian, M.A., wissenschaftlicher Assistent am Institut für Kunstgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München mit einem Dissertationsprojekt zu »Architekturzeichnungen der deutschen Renaissance 15001650. Bildgrammatik und Funktion«. 2003/04-2009 Studium der Kunstwissenschaft, Mittleren und Neueren Geschichte und Germanistik an der Kunsthochschule und Universität Kassel sowie Universität zu Köln; 2009-2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) im Rahmen des DFG-Projekts »Architektur- und Ingenieurzeichnungen der deutschen Renaissance. Digitalisierung und wissenschaftliche Erschließung des Zeichnungsbestandes von 15001650«. Forschungsschwerpunkte: Medialität von Architekturzeichnungen; Wissens- und Bildgeschichte der Architektur der Frühen Neuzeit; digitale Präsentationsformen von Architekturzeichnungen und Gartenplänen; Stereofotografie und Festkultur im Nationalsozialismus. Publikationen: »Die Gartenkunst als Kunstwerk und Gattung. Über den Wandel des Kunstwerkcharakters und die Terminologie eines sich verändern-

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Autorinnen und Autoren

den Gegenstandes«, in: Stefan Schweizer/Sascha Winter (Hg.), Gartenkunst in Deutschland. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Geschichte – Themen – Perspektiven, Regensburg 2012, S. 72-87; »Die papiernen Arkadenhöfe des Dessauer Schlosses. Funktion und Darstellung nordalpiner Architekturzeichnungen des 16. Jahrhunderts«, in: Burgen und Schlösser in SachsenAnhalt 18 (2009), S. 387-411; »›Raumrausch und Raumsehnsucht‹. Zur Inszenierung der Stereofotografie im Dritten Reich«, in: Fotogeschichte 28/109 (2008), S. 25-37; zus. mit Stephan Hoppe: »Das frühe Studium der Architektur Jerusalems. Zu zwei unbeachteten Zeichnungen im Zusammenhang mit Erhard Reuwichs Reise ins Heilige Land 1483/84«, in: Hanns Hubach u.a. (Hg.), Reibungspunkte. Ordnung und Umbruch in Architektur und Kunst. Festschrift für Hubertus Günther, Petersberg 2008, S. 103-114; »Erinnerung, Gedächtniswert und Bauanleitung. Die Architekturdarstellungen Daniel Specklins im Kontext des Festungsbaus der frühen Neuzeit«, in: Jülicher Geschichtsblätter 74/75 (2006/07), S. 65-92. Friedl, Paul, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Arbeitsbereich Neuere Geschichte mit einem Dissertationsprojekt zum Thema »August der Starke und der polnisch-litauische Adel, 1697-1717: Kommunikation, Repräsentation, Patronage«. 2003-2009 Studium der Osteuropäischen Geschichte, Mittleren und Neueren Geschichte und der Philosophie an den Universitäten Mainz und Wien. Forschungsschwerpunkte: Politische Geschichte Polen-Litauens und der böhmischen Länder; Geschichtstheorie; Wissens- und Wissenschaftsgeschichte. Hoppe, Ilaria, Dr. Phil, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstund Bildgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1989-1997 Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und italienischen Literatur an der Universität Düsseldorf und der Technischen Universität Berlin, 2004 Promotion an der TU Berlin mit der Arbeit »Poggio Imperiale unter Maria Magdalena von Österreich«. Forschungsschwerpunkte: Kunst Italiens in Renaissance und Barock; Hofkultur; Frauen- und Geschlechterforschung; Architektur sowie Architekturund Raumtheorie; Urban Art. Publikationen: Das Gemach einer Regentin: Zu Form, Funktion und Ausstattung der Räume Maria Magdalenas von Österreich in der Villa Poggio

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Imperiale bei Florenz (1625), Berlin 2012 (zugl. Diss. Univ. Berlin., 2003); zus. mit Bettina Uppenkamp u. Elena Zanichelli Hg.: Susanne von Falkenhausen: Praktiken des Sehens im Felde der Macht. Gesammelte Schriften (= Fundus, 209), Hamburg 2011; »Eleonora von Toledo«, in: Irmgard Osols-Wehden (Hg.), Frauen in der italienischen Renaissance, Darmstadt 1999, S. 227-245, S. 279-281; »Räume von und für Frauen? Die Gemächer der Maria Magdalena von Österreich in Florenz«, in: Anne-Marie Bonnet/Barbara Schellewald (Hg.), Lebensentwürfe in Kunst und Literatur, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 213-234; »A Duchess’ Place at Court: The Quartiere di Eleonora in the Palazzo della Signoria in Florence«, in: Konrad Eisenbichler (Hg.), The Cultural World of Eleonora di Toledo, Aldershot 2004, S. 98-118; »Uno spazio di potere femminile: La Villa Poggio Imperiale come residenza della reggente Maria Maddalena d’Austria«, in: Giulia Calvi/Riccardo Spinelli (Hg.), Le donne Medici nel sistema europeo delle corti XVI-XVIII secolo. Akten der internationalen Tagung, Florenz 06.-08.10.2005, 2 Bände, Band 2, Florenz 2008, S. 681-689; Street Art und ›Die Kunst im öffentlichen Raum‹«, in: kunsttexte.de, Gegenwart 1 (2009); »Die junge Stadt. Überlegungen zum Verhältnis von Architektur und Urban Art«, in: Katrin Klitzke/Christian Schmidt (Hg.), Street Art. Legenden zur Straße, Berlin 2009, S. 98-107; »Maria Magdalena von Österreich (1589-1631). Die vergessene Regentin«, in: Christina Strunck (Hg.), Die Frauen des Hauses Medici. Politik, Mäzenatentum, Rollenbilder (1512-1743), Petersberg 2011, S. 107-115. Kusber, Jan, Univ.-Prof. Dr. phil., Professor für Osteuropäische Geschichte an der Johannes-Gutenberg Universität Mainz. 1986-1991 Studium der Osteuropäischen Geschichte, Slavischen Philologie und Neuen und Mittleren Geschichte an der Christian Albrechts-Universität zu Kiel, 1995 Promotion, 2001 Habilitation ebenda; 1992-1996 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Osteuropäische Geschichte und 1996-2002 an der Abteilung für Osteuropäische Geschichte des Historischen Seminars der Universität Kiel; 2002-2003 Oberassistent in Kiel; 2010-2012 zusammen mit Elisabeth Oy-Marra und Matthias Müller Leitung der Doktorandengruppe »Raum und Herrschaft« an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Russische Geschichte vom 15. bis ins 20. Jahrhundert; Geschichte der Sowjetunion; Geschichte Polens in der Neuzeit; Fragen der Aufklärungsrezeption in Osteuropa; Bildungsgeschichte in Osteuropa.

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Autorinnen und Autoren

Buchpublikationen: Krieg und Revolution in Rußland. Das Militär im Verhältnis zu Wirtschaft, Autokratie und Gesellschaft (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, Band 47), Stuttgart 1997 (zugl. Diss. Univ. Kiel 1995); Eliten- und Volksbildung im Zarenreich während des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Studien zu Diskurs, Gesetzgebung und Umsetzung (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, Band 65), Stuttgart 2004 (zugl. Habil. Univ. Kiel 2001); Kleine Geschichte St. Petersburgs, Regensburg 2009. Langewitz, Helena, Lic. Phil, wissenschaftliche Mitarbeiterin des vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Forschungsprojekts »Italienische Oper an deutschsprachigen Höfen des 17. und 18. Jahrhunderts« an der Schola Cantorum Basiliensis (SCB), sowie Regieassistentin von Manfred Weiss (Betreuung der Opernklasse), Doktorandin an der Universität Bern mit einem Dissertationsprojekt zu Opernaufführungen in Schwetzingen der unter Kurfürst Carl Theodor von der Pfalz (1724-1799) zwischen 1753 und 1775. Bis 2008 Studium der Musik- und Theaterwissenschaft an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Die italienische Oper im 17. und 18. Jahrhundert; Natur- und Gartendarstellungen in Opern im 17. und 18. Jahrhundert; Anwendbarkeit der von Hermann Schmitz begründeten Neuen Phänomenologie auf Aufführungs- und Librettoanalyse; Filmmusik der österreichischen Tendenz-Filme. Leis, Daniel, M.A., Stipendiat der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in der Doktorandengruppe »Raum und Herrschaft: Stadt und Garten als Kommunikations-, Disziplinierungs- und Wissensraum in Europa«. 2002-2009 Studium der Kunstgeschichte, Mittlere und Neuere Geschichte sowie Christliche Archäologie und byzantinische Kunstgeschichte an den Universitäten Mainz, Bologna und Berlin; März-November 2012 wissenschaftliche Hilfskraft an dem Kunsthistorischen Institut in Florenz, Max-Planck-Institut; AugustSeptember 2011 Stipendiat am Deutschen Studienzentrum in Venedig. Forschungsschwerpunkte: Politische Ikonographie; Venedig bes. in der Frühen Neuzeit, Urbanistik. Publikationen: »Zentrum und Peripherie – Räumliche und architektonische Bezüge zum Markusplatz in den Städten des venezianischen Territoriums«, in: Die Stadt im Raum – Imaginationen, Interaktionen und Möblierungen (Tagungspublikation, Universität Freiburg im Uechtland, 16.-18. Februar 2012),

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in Vorbereitung; »Rez. von: Arne Karsten: Geschichte Venedigs, München 2012«, in: sehepunkte 12 (2012). Mittelstädt, Ina, M.A., Doktorandin an der Technischen Universität Dresden mit einer Arbeit zum Thema »Gartenkunst und Macht. Ideen und Interessen der Gestaltung und Deutung der Landschaftsgärten von Wörlitz, Weimar und Muskau«, betreut von Prof. Dr. Walter Schmitz. 2000-2008 Studium der Neueren deutschen Literatur- und Kulturgeschichte, Slavistik und Musikwissenschaft an der TU Dresden, Abschluss mit einer Magisterarbeit zum Thema »Das aufklärerische Kulturkonzept des Dessau-Wörlitzer Gartenreiches« (ausgezeichnet mit der Lohrmann-Medaille der TU Dresden für den besten Studienabschluss an der Fakultät Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften). Forschungsschwerpunkte: Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte des Gartens; ideologische und gesellschaftsbezogene Aspekte von Kultur, Kulturgeschichte des Adels. Publikationen: »Idylle als Politik. Wörlitz und Puáawy – Hochadelige Gartenkunst in Mitteleuropa um 1800«, in: Walter Schmitz/Matthias Weber (Hg.), Adel in Schlesien. Band 3, Adel in Schlesien und Mitteleuropa. Literatur und Kultur von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart (= Schriften des Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Band 48), München 2013, S. 181-217. Morlang-Schardon, Bettina, M.A., Stipendiatin an der Bibliotheca Hertziana, Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte in Rom. 2001-2008 Studium der Kunstgeschichte, Neueren deutschen Literatur und Soziologie an der PhilippsUniversität Marburg; 2009-2010 freie Mitarbeit an der VHS Saarbrücken im Bereich Politik / Politische Jugendbildung / Geschichte / Geographie; SoSe 2010 Lehrbeauftragte am Kunsthistorischen Institut der Universität Marburg; 2010-2012 Stipendiatin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in der Doktorandengruppe »Raum und Herrschaft: Stadt und Garten als Kommunikations-, Disziplinierungs- und Wissensraum in Europa«; WiSe 2012/13 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunstgeschichtlichen Institut der Universität Marburg. Forschungsschwerpunkte: Barocke Freskenmalerei; Interieur und Raumästhetik; Politische Ikonographie; Wechselbeziehung Zeremoniell und Raum; Genua in der Frühen Neuzeit.

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Autorinnen und Autoren

Publikationen: »Strada Balbi – die Straße zur Macht. Aufstiegs- und Etablierungsstrategien der Familie Balbi in Genua«, in: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal (2011); »Von königlichen Visionen und oligarchischen Realitäten. Die Suche nach einem Palast für Vittorio Emanuele I von Savoyen in Genua«, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 38 (2011), S. 197249. Müller, Matthias, Univ.-Prof. Dr. phil., Professor für Kunstgeschichte (mit Schwerpunkten im Mittelalter und in der beginnenden Frühen Neuzeit) am Institut für Kunstgeschichte der Johannes Gutenberg-Universität Mainz seit 2006. Studium der Kunstgeschichte, Christlichen Archäologie, Byzantinischen Kunstgeschichte und Neueren deutschen Literatur in Marburg, Berlin und Hamburg, 1995 Promotion, 2001 Habilitation; 1994-1995 wissenschaftlicher Volontär des Landesmuseums Koblenz; von 1995 bis 2001 wissenschaftlicher Assistent, 2001-2006 Privatdozent und Oberassistent am Caspar David Friedrich-Institut (Bereich Kunstgeschichte) der Universität Greifswald; 2002-2006 Vertretungsprofessor (Lehrstuhl für Kunstgeschichte) ebenda. 2007-2010 Geschäftsführender Leiter des Instituts für Kunstgeschichte an der Universität Mainz; 2010-2012 zusammen mit Elisabeth Oy-Marra und Jan Kusber Leitung der Doktorandengruppe »Raum und Herrschaft« an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Formen der Bildlichkeit, Repräsentation und Historizität in der Architektur, Bildkonzepte in der höfischen Malerei, Politische Ikonographie, Kunst als Medium der Erinnerungs- und Residenzkultur, Kunst in Prozessen des Kulturtransfers. Buchpublikationen: Von der Kunst des calvinistischen Bildersturms. Das Werk des Bildhauers Ludwig Juppe in der Marburger Elisabethkirche als bisher unerkanntes Objekt calvinistischer Bildzerstörung (= Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur, Band 43), Marburg 1993; Der zweitürmige Westbau der Marburger Elisabethkirche. Die Vollendung der Grabeskirche einer »königlichen Frau«. Baugeschichte, Vorbilder, Bedeutung (= Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur, Band 60), Marburg 1997 (zugl. Diss. Univ. Marburg 1994); Das Schloß als Bild des Fürsten. Herrschaftliche Metaphorik in der Residenzarchitektur des Alten Reichs (1470-1618), Göttingen 2004; zus. mit Volker Depkat/Andreas Sommer (Hg.): Wozu Geschichte(n)? Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie im Widerstreit, Stuttgart 2004; zus. mit Oliver Auge/Felix Biermann/Dirk Schultze (Hg.): Bereit zum Konflikt. Strategien und Medien der Konflikterzeugung und Konfliktbewälti-

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gung im europäischen Mittelalter (= Mittelalter-Forschungen, Band 20, hg. zus. mit Bernd Schneidmüller u. Stefan Weinfurter), Ostfildern 2008; zus. mit Stephan Hoppe/Norbert Nußbaum (Hg.): Stil als Bedeutung in der nordalpinen Renaissance. Wiederentdeckung einer methodischen Nachbarschaft, Regensburg 2008; zus. mit Klaus Weschenfelder/Beate Böckem/Ruth Hansmann (Hg.): Apelles am Fürstenhof. Facetten der Hofkunst um 1500 im Alten Reich, Ausst.-Kat. der Kunstsammlungen Coburg, Berlin 2010. Oy-Marra, Elisabeth, Univ.-Prof. Dr. phil., Professorin für Kunstgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz seit 2004. Studium der Kunstgeschichte, klassischen Archäologie und Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, 1990 Promotion ebenda, 2003 Habilitation an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg; 1991-1996 wissenschaftliche Assistentin am Kunsthistorischen Institut in Florenz, Max-Planck-Institut; 1996-2004 wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl II für neuere und neueste Kunstgeschichte der Universität Bamberg; 2010-2012 Sprecherin der Doktorandengruppe »Raum und Herrschaft« an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Malerei und Skulptur der Frühen Neuzeit; Kunstliteratur insbesondere Künstlerbiografik; politische Ikonographie, symbolische Kommunikation; Kunsttransfer Rom – Paris; Kunst und Wissensgeschichte. Buchpublikationen: Florentiner Ehrengrabmäler der Frührenaissance (= Frankfurter Forschungen zur Kunst, Band 18), Berlin: Mann 1994 (zugl. Diss. Univ. Frankfurt M. 1989/90); Profane Repräsentationskunst in Rom von Clemens VIII. Aldobrandini (1592-1605) bis Alexander VII. Chigi (1655-1667). Studien zu Funktion und Semantik römischer Deckenfresken im höfischen Kontext (= Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz: Folge 4, Band 5), München u.a.: Dt. Kunstverl. 2005 (zugl. Habil. Univ. Bamberg 2002/03); zus. mit Markus Hörsch (Hg.): Kunst – Politik – Religion. Studien zur Kunst in Süddeutschland, Österreich, Tschechien und der Slowakei. Festschrift für Franz Matsche, Petersberg 2000; zus. mit Katharina Bahlmann/Cornelia Schneider (Hg.): Gewusst wo! Wissen schafft Räume. Die Verortung des Denkens im Spiegel der Druckgrafik (= Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften, Band 5), Ausst.-Kat. Gutenbergmuseum Mainz 2009, Berlin 2009; zus. mit Volker Remmert unter Mitarb. von Kristina Müller-Bongard (Hg.): »Le monde est une peinture«. Jesuitische Identität und die

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Autorinnen und Autoren

Rolle der Bilder (= Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften, Band 7), Berlin 2011. Rahn, Thomas, Dr. phil, Lehrbeauftragter am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin. Studium der Deutschen Philologie, Kunstgeschichte und Europäischen Ethnologie in Kiel und Marburg; 2001 Promotion; 1990-1993 Stipendiat im Marburger Graduiertenkolleg »Kunst im Kontext«; 1993-1994 Forschungsstipendium der Dr. Günther Findel-Stiftung an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel; 1995-2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter am »Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung« in Halle; 2001 bis 2008 Assistent bzw. wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der FU Berlin; 2008-2009 Vertretung des Lehrstuhls Wolfgang Neuber am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der FU Berlin; 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Rahmen des DFG-Projekts »Johann Mattheson als Vermittler und Initiator. Wissenstransfer und die Etablierung neuer Diskurse in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts« an der Universität Hamburg und Gastprofessor der Selbständigen Nachwuchsgruppe »Das wissende Bild« am Kunsthistorischen Institut in Florenz, Max-Planck-Institut. Forschungsschwerpunkte: Theater und Festkultur in der Frühen Neuzeit; Theorie und Geschichte des Zeremoniells; Traumtheorie und Traumprotokolle; Typographie, Literatur und Edition; Text und Bild; historisch-kritische Lohenstein-Ausgabe. Buchpublikationen: Festbeschreibung. Funktion und Topik einer Textsorte am Beispiel höfischer Hochzeiten (1568-1794), Tübingen 2006 (zugl. Univ. Diss. Marburg 2000); zus. mit Jörg Jochen Berns (Hg.): Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (=Frühe Neuzeit, Band 25), Tübingen 1995; zus. mit Markus Bauer (Hg.): Die Grenze. Begriff und Inszenierung, Berlin 1997; zus. mit Claudia Schnitzer/Bernhard Jahn (Hg.): Zeremoniell in der Krise. Störung und Nostalgie, Marburg 1998; (Hg.): Krieg und Rhetorik (= Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, Band 22), Tübingen 2003; zus. mit Wolfgang Neuber (Hg.): Theatralische Rhetorik (= Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, Band 27), Tübingen 2008. Steyer, Kristina, M.A., Promotionsstudentin an der Hochschule für Bildende Künste (HBK) Braunschweig im Fach Kunstwissenschaft. 2001-2007 Studium der Kunstwissenschaft, Medienwissenschaft und Soziologie an der HBK und

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der Technischen Universität Braunschweig, und der Visual Theories an der University of East London; 2007-2009 wissenschaftliche Hilfskraft an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel; 2010-2012 Stipendiatin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in der Doktorandengruppe »Raum und Herrschaft: Stadt und Garten als Kommunikations-, Disziplinierungs- und Wissensraum in Europa«. Forschungsschwerpunkte: Automatenkunst in Gärten und fürstlichen Sammlungen; Reiseberichte der Frühen Neuzeit; Motive der Wissenschaft in der Kunst der Frühen Neuzeit. Publikationen: zus. mit Franziska Jüttner: »Professoren in der Pflicht. Vorlesungsverzeichnisse und Rechenschaftsberichte«, in: Jens Bruning/Ulrike Gleixner (Hg.): Das Athen der Welfen. Die Reformuniversität Helmstedt 1576-1810, Wolfenbüttel 2010, S. 98-105; Tagungsbericht zu: »Dis/simulatio und die Kunst der Maske, Maskerade, Verstellung und Täuschung im Barock«, 3.-5.3.2010 in Wolfenbüttel, in: H-Soz-u-Kult, 29.04.2010, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3086; »Die Wassergrotte in Herrenhausen vor dem Hintergrund zeitgenössischer Grottenbaukunst«, in: Siegrid Thielking/Joachim Wolschke-Buhlmahn (Hg.): Herrenhausen im internationalen Vergleich – Eine kritische Betrachtung (im Erscheinen).

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Mainzer Historische Kulturwissenschaften Ute Frietsch, Jörg Rogge (Hg.) Über die Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens Ein Handwörterbuch Juli 2013, ca. 450 Seiten, Hardcover, ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2248-5

Karen Joisten (Hg.) Räume des Wissens Grundpositionen in der Geschichte der Philosophie 2010, 236 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1442-8

Ursula Kramer (Hg.) Theater mit Musik 400 Jahre Schauspielmusik im europäischen Theater. Bedingungen – Strategien – Wahrnehmungen Dezember 2013, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2432-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Mainzer Historische Kulturwissenschaften Jan Kusber, Mechthild Dreyer, Jörg Rogge, Andreas Hütig (Hg.) Historische Kulturwissenschaften Positionen, Praktiken und Perspektiven 2010, 386 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1441-1

Ricarda Matheus, Elisabeth Oy-Marra, Klaus Pietschmann (Hg.) Barocke Bekehrungen Konversionsszenarien im Rom der Frühen Neuzeit Mai 2013, 342 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1771-9

Salvatore Pisani, Elisabeth Oy-Marra (Hg.) Ein Haus wie Ich Die gebaute Autobiographie in der Moderne August 2013, ca. 404 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2222-5

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Mainzer Historische Kulturwissenschaften Ulrich Breuer, Bernhard Spies (Hg.) Textprofile stilistisch Beiträge zur literarischen Evolution

Tom Müller, Matthias Vollet (Hg.) Die Modernitäten des Nikolaus von Kues Debatten und Rezeptionen

2011, 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1902-7

Januar 2013, 518 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,80 €, ISBN 978-3-8376-2167-9

Matthias Däumer Stimme im Raum und Bühne im Kopf Über das performative Potenzial der höfischen Artusromane 2012, 570 Seiten, kart., 42,80 €, ISBN 978-3-8376-2137-2

Matthias Däumer, Annette Gerok-Reiter, Friedemann Kreuder (Hg.) Unorte Spielarten einer verlorenen Verortung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven

Volker R. Remmert, Ute Schneider Eine Disziplin und ihre Verleger Disziplinenkultur und Publikationswesen der Mathematik in Deutschland, 1871-1949 2010, 344 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1517-3

2010, 382 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1406-0

Andreas Frings, Andreas Linsenmann, Sascha Weber (Hg.) Vergangenheiten auf der Spur Indexikalische Semiotik in den historischen Kulturwissenschaften 2012, 282 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2150-1

Achim Landwehr (Hg.) Frühe Neue Zeiten Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution 2012, 412 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2164-8

Erika Meyer-Dietrich (Hg.) Laut und Leise Der Gebrauch von Stimme und Klang in historischen Kulturen 2011, 220 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1881-5

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