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German Pages [179] Year 2019
Schriften zur politischen Kommunikation
Band 24
Herausgegeben von Angela De Benedictis, Gustavo Corni, Brigitte Mazohl, Daniela Rando und Luise Schorn-Schütte
Cecilia Cristellon / Luise Schorn-Schütte (Hg.)
Grundrechte und Religion im Europa der Frühen Neuzeit (16.–18. Jh.)
V& R unipress
Reihe des Internationalen Graduiertenkollegs »Politische Kommunikation von der Antike bis in das 20. Jahrhundert«
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Francesco Mazzola gen. Parmigianino, Selbstbildnis im Konvexspiegel (um 1523/1524). Kunsthistorisches Museum, Wien. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-6312 ISBN 978-3-7370-0725-2
In memoriam Merio Scattola (1962–2015)
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Luise Schorn-Schütte / Cecilia Cristellon Einleitung. Grundrechte und Religion im Europa der Frühen Neuzeit
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Volker Leppin Gewissenszwang, Gewissensbindung und Gewissensfreiheit in der Wittenberger Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christopher Voigt-Goy »Gewissen« im Protestantismus des 16./17. Jahrhunderts . . . . . . . . .
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Merio Scattola (1962–2015) Gewissen und Gerechtigkeit in den Beichtbüchern der Frühen Neuzeit . .
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I. Grundrechte in theologischen, politischen und juristischen Debatten
II. Politik, Praxis und Erfahrung der Grundrechte. Perspektiven aus den Römischen Kongregationen Cecilia Cristellon Mit dem Recht des Glaubens: Juden und Katholiken im Spannungsfeld von Taufe und Ehe in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Silvana Seidel Menchi Gewissen, Ohrenbeichte, Inquisition. Aus den Protokollen des Heiligen Offiziums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
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Inhalt
Andreea Badea Nach bestem Wissen ein schlechtes Gewissen? Selbstanzeigen bei der Römischen Inquisition und die Vergabe von Leselizenzen im 17. und 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
III. Grundrechte und die Herausforderungen der Säkularisierung Ellinor Forster Das Einpassen von religiösen Rechten und Gewohnheiten in die zivilrechtliche Kodifikation. Diskussionen über katholische, protestantische und jüdische eherechtliche Bestimmungen im Österreich des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Namenregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Vorwort
Dieses Buch ist das Ergebnis der sehr fruchtbaren Forschungsarbeit im Exzellenzcluster Normative Ordnungen, der durch die DFG von 2007–2018 an der Goethe Universität Frankfurt/M. gefördert wurde. Das Teilprojekt unter dem Titel »Die Bibel als norma normans« widmete sich dem Normwandel in der europäischen Frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert), dessen Richtschnur für die Zeitgenossen immer wieder im biblischen Text gesucht wurde. Die Vielfalt der wissenschaftlichen Deutungen konnte in einer Arbeitstagung im Winter 2014 durch die Bündelung internationaler und interdisziplinärer Kompetenz zusammengeführt werden. Die Frage nach der Entstehung bzw. Rechtfertigung von Grundrechten in der Frühen Neuzeit ist in den letzten Jahrzehnten immer wieder aufgenommen worden. Historiker, Theologiehistoriker, Rechtshistoriker, Philosophen und Politikwissenschaftler sind nicht immer einer Meinung, wenn es darum geht zu begründen, ob es Grundrechte schon vor dem konstitutionellen Zeitalter gegeben habe. Die Beiträger des nun vorliegenden Bandes waren sich einig darin, dass es nicht um eine erneute Debatte der Theorien der »Höhenkammliteratur« gehen sollte. Vielmehr war es das Anliegen, die Normdebatten in den zeitgenössischen religiösen bzw. konfessionellen Konflikten aufzusuchen. Daraus haben sich neue, auch interkonfessionelle Perspektiven ergeben, die die Diskussionen beleben sollten. Die Drucklegung des Bandes wurde durch Gelder des IGK »Politische Kommunikation von der Antike bis ins 20. Jahrhundert« ermöglicht. Auch das Internationale Graduiertenkolleg (getragen durch die Universitäten von Bologna, Innsbruck, Trient, Pavia und Frankfurt/M.) wurde durch die DFG finanziert (2004–2016). Die beiden Herausgeberinnen widmen den Band dem viel zu früh verstorbenen Kollegen Merio Scattola (1962–2015) Univ. Padua, der nicht nur durch den hier publizierten Beitrag die Kooperation innerhalb der europäischen Frühneuzeitforschung maßgeblich geprägt hat. Frankfurt/M. 31.10.18 Dr. habil. Cecilia Cristellon
Prof.em. Dr. Luise Schorn-Schütte
Luise Schorn-Schütte / Cecilia Cristellon
Einleitung. Grundrechte und Religion im Europa der Frühen Neuzeit
I.
Methodische Überlegungen
Gab es überhaupt »Grundrechte« in der europäischen Frühneuzeit, oder anders gefragt: konnte es sie im Verständnis der Zeitgenossen geben? Diese Frage eröffnet die legitime Debatte darüber, mit welchen zeitgebundenen Erwartungen Historiker die Vergangenheit interpretieren können. Ist es sinnvoll, nach Vorformen der aktuellen Rechtsformen, Institutionen, Verfassungsstrukturen zu suchen, also eine Erzählung über den langen Weg in die Gegenwart zu rekonstruieren? Oder ist eine solche Erzählung unangemessen, weil Vergangenheit dann stets nur als Vorgeschichte der fragenden Historikergeneration verstanden werden kann, ihr eigenes Recht verliert? Kein Historiker allerdings kann sich aus seiner Zeitgenossenschaft lösen, umso unverzichtbarer ist die Distanz gegenüber den eigenen Zeitbindungen. Diese Einsichten sind in der gegenwärtigen Forschung (fast) unbestritten. Die Suche nach den Mustern historischen Wandels, nach den Normen, die die Veränderungen legitimierten, bleibt der Kern historischer Forschung. Jüngere Arbeiten zur Begründung langfristiger Umbrüche wie der Erklärung der nordamerikanischen Unabhängigkeit1, der Entstehung landständischer Verfassungen2 oder der Erschaffung des Souveränitätsbegriffs3 haben deutlich gemacht, dass es nicht nur um die Entstehung von Institutionen geht, sondern auch und zugleich um den Nachweis deren praktischer politischer Wirksamkeit. Die Bezeichnung dieser Prozesse als »invention of traditions« ist anschaulich, weil es einerseits um langfristigen Wandel geht, andererseits um dessen Wahrnehmung auf Seiten der beteiligten Zeitgenossen in der Frühen Neuzeit. Damit ist die Blickrichtung variiert: es geht nicht nur um das unangefochtene, kontinuierliche 1 Lynn Hunt, Inventing human Rights. A History. New York/London 2007. 2 Tim Neu, Die Erschaffung der landständischen Verfassung. Kreativität, Heuchelei und Repräsentation in Hessen. Köln/Weimar/Wien 2013. 3 Richard Tuck, The Sleeping Sovereign. The Invention of Modern Democracy Cambridge 2016.
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Luise Schorn-Schütte / Cecilia Cristellon
Voranschreiten in die Moderne. Vielmehr ist die Realität von Diskontinuitäten zu konstatieren, von Parallelentwicklungen und Wegen der Differenzierung, die den vermeintlichen Hauptstrang durchkreuzen. Die Verzahnung von Gegensätzen motiviert den Wandel, die Zeitgenossen sind auf allen Pfaden zu finden.4 Der so veränderte Blick wendet sich auch dem Prozess der »Erschaffung« der Grund- und Menschenrechte seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts zu. Damit zeigt sich eine Erweiterung des Forschungsfeldes. Denn während die rechtshistorische Forschung eine Existenz von Rechten ausschließlich dann anerkennt, wenn sie als rechtsnormierend nachgewiesen werden können, also als positives Recht identifizierbar sind,5 gibt es seit den 60iger Jahren des 20. Jahrhunderts unter Historikern auch die Annahme, dass Grundrechte aus Werthaltungen entstehen können. Grundrechtsgeschichte sollte als Geschichte grundrechtlicher Werthaltungen geschrieben werden.6 Die Rechtsgeschichtsschreibung hält daran fest, dass bestimmte Rechtsqualitäten mit Freiheiten und Grundrechtsformen verbunden sein müssen,7 die Formulierung eines solchen Katalogs von »unveräußerlichen und natürlich gegebenen« Rechten sei abhängig von der Einsicht, dass es das Individuum ist, das 4 Dieser methodische Zugang wird in der gegenwärtigen Forschung als Distanzierung gegenüber den Modernisierungstheorien der vergangenen Jahrzehnte weitgehend anerkannt. Unter der Überschrift »Genealogie als ideengeschichtliche Methode und die Idee der Menschenrechte« hat dies jüngst Marcus Llanque für die Erforschung der Geschichte der Menschenrechte skizziert, siehe ders., in: D. Timothy Goering (Hrsg.), Ideengeschichte heute. Traditionen und Perspektiven. Bielefeld 2017, 171–194. Ein konziser Überblick zu den verschiedenen Aspekten der Kritik an der Modernisierungstheorie bei Detlef Pollack, Modernisierungstheorie – revised: Entwurf einer Theorie moderner Gesellschaften, in: Zeitschrift für Soziologie, 45, 2016, 219–240. 5 Diese Position wird zusammengefasst skizziert durch Diethelm Klippel, Menschenrechte, in: Enzyklopädie der Neuzeit (EdN) Bd. 8. Stuttgart 2008, Sp. 347–368, hier Teil 2: Forschungsprobleme, Sp. 349. 6 Wichtig für die Formulierung dieser Position war Gerhard Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, 2. durchgesehene und ergänzte Aufl. Berlin 1978; der Begriff weiter differenziert durch Günther Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte. Beiträge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Mittelalter bis zur Revolution 1848. Göttingen 1981. 7 Klippel, Menschenrechte (wie Anm. 5) warnt Sp. 350 davor, »die ganze Rechtsgeschichte zur Freiheitsgeschichte zu verwandeln«. Gegenüber dem Ansatz Gerhard Oestreichs lautet seine Kritik, Sp. 349, dass jener in Verfassungsquellen (Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte) eine allen immer wieder gemeinsame »rechtliche und moralische Sicherung menschlicher Freiheit und Würde« identifiziert habe. Dies sei eine »überzeitliche Zuschreibung« und daher unhistorisch. Klippel akzeptiert allerdings, dass sich beide Positionen über eine Definition dessen, was Werthaltungen umfassen und eine präzise Abgrenzung von grundrechtlichen gegenüber sonstigen Werthaltungen miteinander vermitteln lassen. Die Tendenz der Forschung (u.a bei Peter Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. München 2003), einfache subjektive Rechte als Hinweis auf grundrechtliche Werthaltungen zu charakterisieren kritisiert Klippel, Menschenrechte (wie Anm. 5), Sp. 349 als Versuch, die Rechtsgeschichte »unter freiheitsrechtlichen Gesichtspunkten neu zu erfinden«.
Einleitung
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die Rechte trägt, das Individuum, das unabhängig von ständischen Gruppenzugehörigkeiten agiert.8 Dass sich diese Festlegungen in der europäischen Geschichte erstmals in der Virginia Bill of Rights der englischen Kolonien in Nordamerika von 1776 und wenig später in der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 finden, ist unbestritten.9 Zugleich wird aber auch anerkannt, dass eine »Archäologie der Grund- und Menschenrechte« in der europäischen Frühneuzeit nachvollzogen werden kann.10 Dazu gehören die Forderungen nach Glaubens- und Gewissenfreiheit, wie sie in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts als Teil der reformatorischen Bewegung in den Blickpunkt rückten. Durch deren Bezug auf das biblische Naturrecht legitimiert u. a. durch Ph. Melanchthon wurde die Einzigartigkeit der Beziehung zwischen jedem einzelnen Gläubigen und seinem Schöpfer unterstrichen.11 Die politische Wirkung jener Freiheitsrechte aber lag weiterhin allein bei den Handlungskompetenzen der ständisch gebundenen Amtsträger. Eine Verbindung von individuellen, theologisch begründeten Freiheitsrechten und politischen Kompetenzen war zu diesem Zeitpunkt nicht artikulierbar. Dennoch ruht auf dieser theologischen Grundannahme die Verpflichtung des christlichen Hausvaters als Inbegriff weltlicher Obrigkeit zur gleichmäßigen Fürsorge für alle Gemeindeglieder.12 Und bei aller Anerkennung der Trennung beider Sphären ist die Aufwertung des Individuums im Rahmen der reformatorischen Theologie nicht zu bestreiten. Es bleibt eine breite »archäologische Übergangsphase«, sie ist Anlass genug, um die Forschungsmethoden zu erweitern. Nicht nur die institutionalisierte Form der Rechte ist zu analysieren, ebenso sehr muss deren inhaltliche Füllung z. B. in Gestalt von Werthaltungen untersucht werden.13 Neben die Untersu8 Siehe dazu mit präzisen Nachweisen Eike Wolgast, Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte. Stuttgart 2009, 11–19. Ein knapper Überblick auch bei Luise Schorn-Schütte, Menschenwürde. Begriff und Gegenstand im Europa der Frühen Neuzeit, in: Clemens Sedmak (Hrsg.), Menschenwürde. Vom Selbstwert des Menschen. Darmstadt 2017, 99–109. 9 Wolgast, Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte (wie Anm. 8), 39–46 und 53–69. 10 Grundlegend dazu Wolfgang Schmale, Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit. Ein deutsch-französisches Paradigma. München 1997. 11 Zum Naturrechtsdenken bei Theologen und Juristen im 16. Jahrhundert siehe Merio Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ius naturae im 16. Jahrhundert. Tübingen 1999. 12 Wolgast, Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte (wie Anm. 8), 15 »Wie die Gleichheit war die Freiheit , die aus der Gotteskindschaft resultierte, nicht identisch mit der weltlichen Freiheit[…] Die ständisch verfasste Gesellschaft und das sie abbildende Herrschaftssystem gewährten nicht abstrakte Freiheiten, sondern Freiheiten im Kontext eines Privilegienrechts.« 13 Eine Untersuchung mit dieser Zielsetzung ist die Arbeit zur landständischen hessischen Verfassung von Neu, Die Erschaffung der landständischen Verfassung (wie Anm. 2), der sie als Verfassung »in fieri« beschreibt, ebd. 477–500.
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chungen der ideengeschichtlichen Wurzeln normativen Wandels treten die konkreten Konflikte vor Ort und damit neue Quellengruppen und Überlieferungsformen.14 Ein solcher Wandel von Normen ist als streitbarer Austausch über Unterschiede unter den Zeitgenossen durchaus wahrgenommen worden. Dass als deren Ergebnis dann doch immer wieder das »alte Herkommen« bemüht wurde, ist Folge einer Kontinuitätsbehauptung, die das frühneuzeitliche Weltbild fundierte.15 Hinter dieser Annahme »verschwanden« Streit und Diskontinuitäten, die Zeitgenossen erschufen sich »ihre« legitimierende Tradition. Mit dieser allein wird sich aber kein Historiker begnügen können.16
II.
Grundrechte in theologisch-juristischen Debatten der Frühneuzeit
An dieser Stelle setzen die vorliegenden Beiträge von Historikern und historisch arbeitenden Theologen und Juristen an. In einem ersten Teil werden die zeitgenössischen juristischen und theologischen Argumentationen skizziert, die als Rechtfertigung für oder gegen Normwandel herangezogen wurden. Als eine zentrale Kategorie für diese Bewertung erwies sich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts die Kategorie »Gewissen« (conscientia). Sie war Teil eines ganzen Arsenals von Begriffen, die seit den 30iger Jahren des 16. Jahrhunderts zum Einsatz kamen: Notwehr, Gegenwehr, Obrigkeitskritik, Machtteilung legitimiert durch die Drei-Stände-Lehre u.a.m. Der Begriff des »Gewissens« hatte eine lange philosophisch-theologische Tradition, sie reichte bis in Antike und europäisches Mittelalter. Auf sie wurde in der politisch-theologischen Debatte, die sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts zuspitzte, auch durch die Wittenberger Reformatoren insbesondere durch Lu14 So auch die Argumentation durch Llanque, Genealogie als ideengeschichtliche Methode (wie Anm. 4). 15 Siehe dazu Luise Schorn-Schütte, Was ist Wandel normativer Ordnungen im Europa der Frühen Neuzeit? In: Andreas Fahrmeir/Annette Imhausen (Hrsg.), Die Vielfalt Normativer Ordnungen. Konflikte und Dynamik in historischer und ethnologischer Perspektive. Frankfurt a. M. 2013, 109–126, hier 110. 16 Diese Interpretation von Wandel durch Kontinuitätsvergewisserung findet sich bei Neu, Die Erschaffung der landständischen Verfassung (wie Anm. 2). Er betont, dass den Zeitgenossen die Gegenläufigkeit mancher Entwicklungen durchaus bewusst gewesen sei, sie aber hinter der Betonung der Kontinuität sozialer und politischer Ordnungen »versteckt« werden musste. Diese These ist zu diskutieren, in der Tat gab es aber die Grundannahme der Zeitgenossen, dass Wandel nur durch die Wiederherstellung einer als gerecht anerkannten, ursprünglichen Ordnung legitimerweise vollzogen werden könne. Siehe so auch SchornSchütte, Was ist Wandel normativer Ordnungen (wie Anm. 15), 109/110.
Einleitung
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ther zurückgegriffen. Jener habe das Gewissen, so Volker Leppin, nicht als virtus operandi, als Aufforderung zum Handeln, sondern als virtus iudicandi beschrieben, als Ort also, an dem der Mensch sich vor Gott verantwortet. Damit transformierte Luther das mittelalterliche Gewissensverständnis, ohne es zu sprengen, wie Leppin gegen die Interpretation durch K. Holl, den Vertreter der Lutherrenaissance des frühen 20. Jahrhunderts betont. In Fortsetzung der Argumentation von B. Lohse betont Leppin17, dass Luther »im Gewissen den Ort erblickt, an welchem der Mensch erfährt, was und wer Gott ist.« Dies habe er zwar in seiner Rede vor dem Ausschuss des Wormser Reichstages 1521 formuliert, ausdrücklich aber ging es Luther dabei nicht um eine Absetzung von politischen Instanzen, sondern um die Betonung der Bindung des Gewissens durch den Glauben und damit dessen Charakterisierung als intangible Größe. Diese Sicht wurzelte, wie Leppin nachweist, tief in der mittelalterlichen Theologie und im zeitgenössischen Kirchenrecht.18 In den seit 1521 publizierten Schriften und vor allem in der Obrigkeitsschrift von 1523 hat Luther für einzelne Fälle das Gewissen als individuellen Schutzraum gegen obrigkeitliches Handeln beschrieben, das Gewissen als Grenze gegen den Zugriff weltlicher Obrigkeit. Dies aber ist keine generelle Regel gewesen, Luther hat stets, wie Leppin unterstreicht, das Gewissen nur des Einzelnen im Blick gehabt. Die Trennung zwischen dem Gewissensbegriff ständischer Amtsträger wie er u. a. in der Speyrer Protestation von 1526 zum Ausdruck kommt19 und jenem individuellen Gewissensbegriff bleibt für Luther unumstößlich, damit blieb er ganz Zeitgenosse. Eine Weiterführung dieses bei Luther identifizierbaren Gewissensbegriffs findet sich in Melanchthons Schriften, sie prägten die folgenden Generationen lutherischer Gelehrter. Christopher Voigt-Goy skizziert auf dieser Basis die Grundlinien eines Gewissensverständnisses, das sich im deutschsprachigen lutherischen und im anglikanischen Protestantismus ausformte – nicht nur als Rechtsbegriff, sondern sehr wohl als Werthaltung. Dies ist eine Forschungslücke – trotz der Arbeit von H.D. Kittsteiner.20 Seit den 1530er Jahren erhielt der Begriff des bona conscientia (gutes Gewissen) für Melanchthon Relevanz. In der Konfrontation des Menschen mit dem Gesetz, die seine völlige Unzulänglichkeit illustriert, reagiert der Gläubige mit Angst und Schrecken. Der Ort, an dem diese Erfahrung verarbeitet wird, ist für Melanchthon das Gewissen. Mit der conversio, der Anerkennung der Sündenschuld wird der Einzelne zur Vergebung geführt – aus Angst und Schrecken wird Trost und Friede. Im Gewissen des Menschen wird 17 18 19 20
Bei Anm. 58, S. 35. Bei Anm. 62, S. 36. Bei Anm. 82, S. 39. Heinz – Dieter Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt a. M. 1995. Der Verfasser blendete einerseits die innerprotestantische Differenzierung aus, andererseits die Entwicklungen im protestantisch anglikanischen England.
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die Gnade sichtbar, die in der Vergebung durch Gott liegt.21 Hier wird das menschliche Gewissen als passiv, als empfangend charakterisiert. Als eigenständige Instanz moralischer Handlungsorientierungen ist es nicht zu verstehen, wohl aber als Instanz, die Werthaltungen artikulieren kann. In einigen Bekenntnisschriften des europäischen Protestantismus wird das »gute Gewissen« weitergetragen. Diese Entwicklungen lassen sich auch im Katholizismus beobachten, der sich seit dem Tridentinum reformierte. Jener binnenkonfessionellen Kommunikation zum Gewissensbegriff hat sich Merio Scattola zugewandt. Dazu charakterisierte er zunächst die argumentativen Strukturen katholischer Beichtbücher des 16./17. Jahrhunderts, für die der Begriff der conscientia bedeutsam war. Sein Ergebnis ist bemerkenswert, war doch die protestantische Gewissenslehre seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts den katholischen Interpretationen sehr nahe gerückt. Verfasst wurden die Beichtbücher bzw. die Beichtspiegelliteratur von gelehrten katholischen Theologen, die einerseits als Hochschullehrer lehrten, andererseits als Beichtväter an katholischen Höfen wirkten. Dieser spezifische Austausch zwischen Lehrstuhl und Beichtstuhl wurde zur charakteristischen Form katholischer politischer Kommunikation (F. de Vitoria in Spanien ebenso wie J. Drexel in Bayern). Als Sammlungen von konkreten Gewissensfällen boten die Beichtspiegel vielfältige Möglichkeiten, den Begriff der conscientia zu konkretisieren. Ins Zentrum der Debatte rückte seine Funktion in theologischen und juristischen Systemen, denn es war umstritten, ob das Gewissen institutionalisierte Bindungswirkung im theologischen und /oder im juristischen Raum bekommen sollte. Damit ist die zeitgenössische Spannung zwischen Rechtsnorm und Werthaltung identifiziert. Eine Unterscheidung verschiedener Wirkungskreise des Gewissens in kirchlicher Gerichtsbarkeit (forum conscientiae) einerseits, weltlicher Gerichtsbarkeit (forum civile) andererseits setzte sich in Fortführung der mittelalterlichen Traditionen des Th. v. Aquin durch. Im forum civile gründeten Natur-und Zivilrecht, im forum conscientiae galt ausschließlich das göttliche Recht, das von menschlichen Gesetzen unabhängig bleibt. In diesem Raum werden zwei weitere Kreise unterschieden, das forum internum als innerer Geltungsbereich des Gewissens und das forum externum22, das als geistlich begründete Leitungsinstanz für die Gemeinde gilt mit der Aufgabe, für praktische Gerechtigkeit im Gemeindeleben zu sorgen. Im Schnittpunkt zwischen forum externum und forum civile ist die Funktion weltlicher Obrigkeit angesiedelt, hier liegt deshalb auch die Schnittlinie zwischen Religion und Politik. Dass sich die Beziehungen zwischen beiden Bereichen als konfliktträchtig erweisen, beruht auf dem in beide Richtungen wir21 Voigt-Goy, in diesem Band, S. 54. 22 Scattola, in diesem Band, S. 73–78.
Einleitung
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kenden Geltungsanspruch des Gewissens: einer conscientia, die einerseits in juristischen, andererseits in theologischen, nicht rechtsnormierenden Kontexten gedacht wird. Am Beispiel der Predigten des protestantischen sachsen-weimarischen Hofpredigers Georg Strigenitz (1548–1603) kann Scattola die systematisch- theologischen Unterschiede der konfessionsbezogenen Modelle der Gewissensbindungen erläutern. Wie im katholischen Raum gab es auch bei Strigenitz das Dreiersystem der Geltungsansprüche. Das forum civile als weltliche Obrigkeit steht neben dem forum conscientiae als kirchlicher Gerichtsbarkeit für die Gemeinde, verkörpert im Konsistorium. Ein forum internum als innerster Bereich des Gewissens wird auch im Protestantismus anerkannt. Hier aber geschieht die Vermittlung zwischen göttlichem Gebot und dem seinem Gewissen verpflichteten Gläubigen genuin lutherisch, also unmittelbar, ohne Vermittlung etwa durch einen Priester. Scattola weist nach, dass diese protestantische Deutung einer nichtjuristischen Gewissensbindung im forum internum über die Rezeption der Predigten des Strigenitz in anglikanischen Texten bis in die niederländischen Debatten des 17. Jahrhunderts gewirkt hat. Auf diesen konfessionsbezogenen Vergleich zum Gewissenbegriff konzentriert sich seit kurzem ein Teil der jüngeren rechtshistorischen, historischen und theologiegeschichtlichen Forschung.23 Im Mittelpunkt stehen dabei die gelehrten Rechts- und theologischen Lehren, die die zeitgenössische Praxis geprägt haben. Wie diese Umsetzung aber geschah, wurde bisher nur selten untersucht.24
III.
Frühneuzeitliche Grundrechtspraxis und -erfahrung
Deshalb widmen sich ihr die Beiträge im zweiten Teil der Aufsatzsammlung. Im Zentrum stehen die praktischen Erfahrungen von Zeitgenossen, die entweder als konvertierte Juden oder als sündige Christen ihr Recht auf (Wieder)aufnahme in die römischkatholische christliche Gemeinschaft beanspruchten. Inwieweit sich dieser Anspruch als Grundrecht charakterisieren lässt, ist ein begriffsgeschichtliches ebenso wie kirchenrechtliches Problem. Als Legitimationsbasis 23 Zentral ist Michael Germann/Wim Decock (Hrsg.), Das Gewissen in den Rechtslehren der protestantischen und katholischen Reformationen. Leipzig 2017. 24 Für die Konflikte um den Gewissensbegriff in einem protestantischen Territorium sind die Auseinandersetzungen um die Einführung der sogenannten »Verbesserungspunkte« in der Landgrafschaft Hessen – Kassel 1604/5 aufschlussreich. Dazu ausführlich Therese Schwager, Das theologie-politisch umstrittene Gewissen in hessischen Ständekonflikten des 16./ 17. Jahrhunderts, in: Maciej Ptaszynski/Therese Schwager/Luise Schorn-Schütte (Hrsg.), Machtteilung oder »Republikanismus«? Debatten um Herrschaftsbegrenzung und Teilhaberechte im frühneuzeitlichen Europa. Göttingen 2019 (in Vorbereitung).
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finden sich Rechtsansprüche, die u. a. mit dem Begriff des Gewissens/der Gewissensfreiheit, dem Naturrecht auf Kindererziehung (patria potestas) und dem Recht der Eheschließung (privilegium paulinum) verbunden wurden. Anhand der Spruchpraxis der römischen Kongregationen wird eine Bedeutungsvielfalt vor allem des Gewissenbegriffs sichtbar. War es gruppenspezifisches Grundrecht zur Abwehr zentralisierender Herrschaftsansprüche oder bürokratisierte Verfahrensregel in den Inquisitionsprozessen? Die gelehrten Debatten der – in den hier untersuchten Fallstudien ausschließlich römisch-katholischen Theologen und Juristen – waren als Grundannahmen zwar präsent, in der konkreten Umsetzung aber vielfach durchbrochen und differenziert. Mit dem Beitrag von Cecilia Cristellon wird der Blick auf die frühneuzeitlichen (15.–18. Jahrhundert) Beziehungen zwischen Judentum und Christentum gerichtet. Anhand von Auseinandersetzungen um Taufe und Ehe als Übergangsritualen werden rechtliche Konfliktzonen benennbar, in denen Normen des kanonischen Rechts einander auszuschließen schienen. In der Spruchpraxis führte dies wiederholt zur Verletzung des verbindlichen Charakters des kanonischen Rechts auch und gerade für Nichtchristen (im Sinne eines Grundrechts). Mit der Taufe als dem Instrument der Wiedergeburt war die exklusive Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde verbunden. In den Debatten darüber, unter welchen Bedingungen Nichtchristen in diese exklusive Gemeinschaft aufgenommen werden könnten, zeigte sich die Beschädigung jenes Rechtsanspruches nachdrücklich. Entsprechendes weist Cristellon auch für die Eheschließungen zwischen Christen und Juden nach, wobei sich die Rechtssetzungen in Europa an die kanonischen Rechtsnormen anlehnten, die sich in den Kolonialgebieten des 16./17. Jahrhunderts entwickelt hatten. In etlichen Fällen etablierte sich die päpstliche Gewalt als Instanz, die über den kanonischen Rechtsnormen zu stehen beanspruchte. Obwohl damit geltendes Kirchenrecht beschädigt wurde, erhielt der Eingriff u. a. in jüdische Eherechtsregelungen durch die Wiederholung Legitimität. Zusammen mit den Vorschriften für das Erziehungsrecht der Eltern (patria potestas), das nach kanonischem Recht allen Menschen unabhängig von ihrem Glauben zustand, setzte sich die Päpstlicherseits postulierte Norm der »Rechtsgunst des Glaubens« (favor fidei) gegen die Grundnormen naturrechtlicher Legitimität durch. Der Anspruch der katholischen Kirche, die Rechtsgunst des Glaubens (favor fidei) als theologische Norm zur zugleich rechtlichen Grundnorm zu formen und damit das kanonische Recht zu begrenzen, steht vermutlich auch hinter den Debatten um die Beichte, die sich nach dem Tridentinum in etlichen italienischen Gemeinden entfalteten. Silvana Seidel-Menchi bezeichnet die Wirkungen, die das neue, durch das Konzil verbindlich gemachte Eherecht hatte, in ihrem
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Beitrag als »regelrechte Revolution«.25 Denn sie berührten das Beichtgeheimnis und seine Grenzen und führten zur Verwendung des Gewissensbegriffs als Legitimation durch beide Seiten. Da es seit dem Tridentinum, so die italienische Forschung, einen Zielkonflikt zwischen der Einhaltung des Beichtgeheimnisses und der Unterdrückung der Häresie gegeben habe, erklärt bereits dieser Kontext die semantische Differenzierung, gar Gegensätzlichkeit der Verwendung des Begriffs »conscientia.« Die Forschung betritt hier Neuland. Ganz offensichtlich wandelten sich Inhalt und Funktion des Gewissensbegriffs über den Zeitraum vom ausgehenden 16. bis ins 18. Jahrhundert. Andreea Badea geht diesem Phänomen anhand von Inquisitionsverfahren nach, die aufgrund von Selbstanzeigen wegen der Lektüre verbotener Bücher eingeleitet wurden. Im Inquisitionsverfahren wurde das Gewissen in einem sehr formalen Sinne verstanden. Es galt als Antriebskraft für die Verfahrenseröffnung und unterlag damit nachvollziehbaren formalisierten Regeln der kirchlichen Bürokratie. Sowohl für die Bürokratie als auch für denjenigen, der sich freiwillig einem solchen Verfahren unterzog, wurde das Gewissen zu einem Gegenstand, den die kirchliche Instanz zur Beruhigung und zur Reinigung desjenigen, der seine Sünde bekannte, einsetzen konnte.26 Das Gewissen galt sowohl als subjektives Wissen als auch als Externalisierung des inneren Gerichts (forum conscientiae) mithilfe des Inquisitionsverfahrens. In der Zusammenschau wird deutlich, daß ein durch jene Verfahren stark formalisiertes Gewissen kaum mehr etwas mit dem individualisierten Anspruch auf Gewissensfreiheit zu tun hatte, um den die konfessionsübergreifenden Debatten der gelehrten Juristen und Theologen des 16./17. Jahrhunderts kreisten.
IV.
Grundrechte in der Säkularisierung
In den österreichischen Erblanden setzten sich unter dem Einfluss naturrechtlichen Denkens bereits seit dem Ausgang des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts Reformbestrebungen durch, die auf eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung für alle sozialen Gruppen zielten. Damit auf das Engste verbunden war die Vorstellung des Kaisers und seines Verwaltungsapparates, dass insbesondere die verschiedenen Religionen bzw. Konfessionen in gleichwertigem Mit- und Nebeneinander agieren sollten. Dass damit die Traditionen der Rechtsprechung in Ehesachen vornehmlich der katholischen Kirche berührt wurden, war den politisch Handelnden sehr wohl bewusst. Der Widerstand des katholischen Klerus erwies sich denn auch als grundsätzlich und heftig. 25 Seidel Menchi, in diesem Sammelband, S. 122. 26 Badea, in diesem Sammelband, S. 137.
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Ellinor Forster charakterisiert diese Auseinandersetzungen als grundsätzlichen Normkonflikt, der in Grundzügen bereits im 16. Jahrhundert artikuliert worden war : das durch die Obrigkeit zu schützende Recht der Gläubigen, ihre Religion frei leben zu können, wird durch den Anspruch der weltlichen Obrigkeit, das Eherecht zu gestalten, infrage gestellt. Denn damit greift die weltliche Macht in den geistlichen Kernbereich der Religion ein, sie beschwert die Gewissen der Gläubigen, sie wird zur ungerechten Obrigkeit. Mit der strikten Trennung eines weltlichen von einem geistlichen Bereich beschreitet die weltliche Obrigkeit im Österreich des ausgehenden 18. Jahrhunderts nun aber einen Lösungsweg, der für die Jahrhunderte zuvor noch nicht denkbar gewesen wäre. Mit der Fiktion der Existenz zweier Räume, eines geistlichen Binnenbereichs und eines weltlichen Raums, der jenen zu schützen hat, konnten die beiden, einander zunächst unversöhnlich gegenüberstehenden Ehekonzepte nebeneinander agieren: Einerseits die Vorstellung der katholischen Kirche von der Ehe als Sakrament, womit jene unauflöslich sei, andererseits die Vorstellung von der Ehe als Vertrag, der prinzipiell auch wieder aufgelöst werden könne. Dies war die unter dem Einfluss des Naturrechts entwickelte Position der weltlichen Obrigkeit. Von Seiten der katholischen Kirche wurde das Gewissen in diesem Konflikt als religiöses Recht der Individuen charakterisiert – und funktionalisiert. Es war aber damit ein entscheidender Schritt aus dem amtsgebundenen, ständisch definierten Begriff des Gewissens herausgetan, wie er noch in den Jahrhunderten zuvor maßgeblich gewesen war. Zugleich anerkannte auch die weltliche Obrigkeit dessen Schutzwürdigkeit im österreichischen Ehepatent von 1783. Dadurch, dass dieses für alle christlichen Konfessionen gleichermaßen galt, war das politische Ziel der Gleichrangigkeit der Glaubensgemeinschaften praktisch durchgesetzt.
V.
Fazit
Der Gang durch die Debatten um den Begriff, den Geltungsanspruch und die sozialen Gruppen, denen das Recht zuerkannt wurde, mit dem Gewissen zu argumentieren, zeigt, dass es einen theologisch definierbaren Kern der conscientia gab. Diesen zu schützen, war die Aufgabe weltlicher Obrigkeit. Aber auch und gerade dieser Kern unterlag historischem Wandel. Die konfessionsübergreifenden Debatten darüber, wo die Grenze zwischen geistlichem Innenraum und weltlichem Schutzanspruch verlief, belegt dies nachdrücklich. Als Kern dieser Grundnorm galt im Christentum die Existenz einer unmittelbaren Beziehung des einzelnen Gläubigen zu seinem Schöpfer. Die reformatorische Bewegung hat diese Beziehung als neutestamentliches Erbe wieder in den Mittelpunkt gerückt, die keines Vermittlers bedarf. Die katholische Kirche
Einleitung
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hielt an der Hierarchisierung des geistlichen Binnenraumes fest, ohne dass damit der Ort der Beziehung, das Gewissen aufgegeben worden wäre. Aufgabe weltlicher Ordnung war der Schutz dieses forum internum, nur hier konnte die Glaubensfreiheit des Einzelnen ausgeübt werden. Eine politische Argumentation unter Berufung auf das Gewissen stand bis zum Endes 17. Jahrhunderts nur den ständisch qualifizierten Amtsträgern zu, hieraus entwickelten sich in regionalen Bezügen spezifische Ansprüche auf Machtteilung und die Praxis der Obrigkeitskritik. Sowohl aus dem Anspruch individueller Gewissensfreiheit als auch auf der Basis, ständisches Recht als Gewissensrecht gegen ungerechte Herrschaft einzusetzen, entwickelten sich die eingangs diskutierten Werthaltungen. Sie waren Teil des Normwandels auch ohne institutionalisierte Gesetzgebung. Insofern ist für die Debatte um die Reichweite und die Wirkung des Gewissens eine doppelte Tradition zu erkennen. Beide Pfade liefen durchaus parallel, aber sie traten nicht in allen Regionen mit gleichem Gewicht in Erscheinung. Die Einzelfallstudien haben die Rolle der Ehegesetzgebung für die Normdebatten der Zeitgenossen in überzeugender Klarheit zutage treten lassen. Die Überlieferung aus den vatikanischen Archiven bietet eine breite Basis für weitere, differenzierende Forschungen. Angesichts eines nicht mehr sakralen Eheverständnisses ist die Überlieferung für die protestantische Seite weniger eindeutig, zudem regional differenzierter. Dass es eine Verzahnung der theologischjuristischen Debatten um den Gewissensbegriff über die Konfessionsgrenzen hinweg gegeben hat, ist mit den Beiträgen dieses Bandes unbestreitbar geworden. Es bleibt die Aufgabe, die Umsetzungen auch in die protestantischen Normdebatten vor Ort zu erfassen.
I. Grundrechte in theologischen, politischen und juristischen Debatten
Volker Leppin
Gewissenszwang, Gewissensbindung und Gewissensfreiheit in der Wittenberger Reformation
Abstract Martin Luther verstand das Gewissen nicht als »virtus operandi«, sondern als »virtus iudicandi«, als den Ort, an dem der Mensch vor Gott steht. Damit transformierte er das mittelalterliche Gewissensverständnis, in welcher seit der Spätantike conscientia und synderesis / syntheresis unterschieden wurden. Letztere beschrieb insbesondere in mystischen Traditionen die unmittelbare Gottesbegegnung, und eben dieses Anliegen nahm Luther unter Verzicht auf den syntheresis-Begriff in sein conscientia-Verständnis auf. Hiermit begründete Luther, dass das Gewissen eine letztlich durch politische Instanzen intangible Größe darstellt, so wie schon das Decretum Gratiani erklärt hatte, wer gegen sein Gewissen handele, beschreite den Weg zur Hölle. Berufung auf Freiheit des Gewissens bezieht sich in der Wittenberger Reformation also stets auf diesen Ort freier Begegnung mit Gott. Entfaltet hat Luther den Gedanken vom Gewissen als Grenze obrigkeitlichen Handelns 1523 in seiner Obrigkeitsschrift – dies hielt ihn allerdings nicht davon ab, unter Berufung auf die Blasphemiegesetzgebung Gewissenszwang gegen Dissidenten zu befürworten. Schlagworte Reformation, Gewissensfreiheit, Gewissen
Der Reichstag von Worms im Jahr 1521 gehört zu den großen Ursprungserzählungen des Protestantismus – und der modernen Freiheitsgeschichte, jedenfalls sofern und soweit das entsprechende Narrativ evangelisch konturiert ist1: Da steht einer allein, gegen alle kirchlichen und weltlichen Instanzen und 1 S. etwa Paul Wappler, Inquisition, und Ketzerprozesse in Zwickau zur Reformationszeit. Dargestellt im Zusammenhang der Ansichten Luthers und Melanchthons über Glaubens- und Gewissensfreiheit. Leipzig 1908, 1; Michael G. Baylor, Action and Person. Conscience in Late Scholasticism and the Young Luther. (Studies in Medieval and Reformation Thought 20) Leiden 1977, 2, verweist darauf, dass dieses Narrativ in die Aufklärung zurückreicht; vgl. Heinrich Hoffmann, Reformation und Gewissensfreiheit. Gießen 1932, 5. Einen negativen Ausdruck des konfessionellen Kampfes um die Deutungshoheit in diese Frage stellt das Werk von Nikolaus Paulus, Protestantismus und Toleranz im 16. Jahrhundert. Freiburg 1911, dar, dessen Hauptanliegen es ist, Nachweise für mangelnde Toleranz in der reformatorischen Bewegung zu erbringen. Vor dem Hintergrund dieser Deutungstradition kann es dann zu
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reklamiert gegen deren Ansprüche seine Gewissensbindung. Gleichwohl wäre dieses Geschehen seinem Ursprung nach mit dem modernen Begriff der Gewissensfreiheit nur unzureichend erfasst und erheblich verfremdet. Dies soll im Folgenden in zwei Schritten nachgezeichnet werden: zunächst in der Rekonstruktion von Luthers Auffassung vom Gewissen als Grenze obrigkeitlichen Handelns, anschließend in einem Blick auf die theologisch geforderte und rechtlich normierte Begrenzung der Gewissensfreiheit bei Luther und im Kurfürstentum Sachsen.
I.
Die Präsenz Gottes im Gewissen
Nicht allein die Szene in Worms ist im protestantischen kulturellen Gedächtnis erheblich überhöht worden, sondern auch der dahinter stehende Begriff des Gewissens. Indem Karl Holl Luthers Religion als Gewissensreligion deutete2 und gerade darin einen tiefen Bruch des Reformators mit dem Mittelalter festmachen zu können meinte3, führt die Frage nach Luthers Gewissensverständnis mitten hinein in die Stärken und Problematiken der Lutherdeutung im 20. Jahrhundert.4 Ein wichtiger Bezugspunkt ist hierfür gewesen, dass Luther selbst 1522 in einer »schulmäßige[n] Definition«5 das Gewissen nicht als »virtus operandi«, sondern als »virtus iudicandi« verstanden hat6 : Im Gewissen steht der Mensch vor Gott. Handlungsanleitungen zu empfangen ist hingegen hierfür nicht entscheidend. Ausgehend von der Wormser Szene lässt sich jedoch nachzeichnen, dass auch dieser Gewissensbegriff den mittelalterlichen nicht einfach »sprengt«7, sondern
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eigenartigen Aktualisierungen kommen, wenn etwa Heinz Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. München 2012, 222, über die Sätze des Wormser Bekenntnisses sagt, dass sie »die Protestanten bis heute selbstbewusst machen, sie aber auch binden, auch und gerade im ökumenischen Dialog, wenn es um das Papstamt geht«. Karl Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. Bd. 1: Luther. Tübingen 61932, 35: »Luthers Religion ist Gewissensreligion im ausgeprägtesten Sinne des Worts«; kritisch zu seinem Konstrukt Baylor, Action and Person (wie Anm. 1), 7f. Holl, Gesammelte Aufsätze (wie Anm. 2), 27f. S. zur Holl-Schule Heinrich Assel, Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance – Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910–1935). (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 72) Göttingen 1994; Johannes Wallmann, Karl Holl und seine Schule, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche. Beih. 4: Tübinger Theologie im 20. Jahrhundert. Tübingen 1978, 1–33. Emanuel Hirsch, Lutherstudien. Bd. 1. Gütersloh 1954, 128. Luther, De votis monasticis (WA 8, 606, 32–34): »Conscientia enim non est virtus operandi, sed virtus iudicandi, quae iudicat de operibus.« Hirsch, Lutherstudien (wie Anm. 5), 128.
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einiges aus ihm ausgreift und ihn so transformiert.8 Die berühmten Sätze in Worms lauten: »Quando ergo S. Maiestas vestra dominationesque vestrae simplex responsum petunt, dabo illud neque cornutum neque dentatum in hunc modum: Nisi convictus fuero testimoniis scripturarum aut ratione evidente (nam neque Papae neque conciliis solis credo, cum constet eos et errasse sepius et sibiipsis contradixisse), victus sum scripturis a me adductis et capta conscientia in verbis dei, revocare neque possum nec volo quicquam, cum contra conscientiam agere neque tutum neque integrum sit.«9
Diese Aussage hat einen unmittelbaren Kontext in der Wormser Rede, der aber auf den weiteren Zusammenhang in der bisherigen Entwicklung von Luthers Gewissensbegriff verweist. Im Zusammenhang der Ansprache ist es nicht die erste Stelle, an der von der conscientia gesprochen wird. Vielmehr hatte Luther es zuvor zu einer offenkundigen Tatsache erklärt, dass der Papst die Gewissen der Gläubigen misshandle und quäle.10 Dieser Gedanke der durch den Papst, beziehungsweise die alte Kirche hervorgerufenen Gewissensbedrängnis war bereits unmittelbar im Zusammenhang der Auseinandersetzung um den Ablass entstanden: Am 27. Juli 1516 hielt Lu8 Mit einem zweiten Wort spricht Hirsch, Lutherstudien (wie Anm. 5), 128, auch davon, Luthers Gewissensbegriff habe den tradierten ›verwandelt‹. 9 WA 7, 838, 2–8: »Weil Eure geheiligte Majestät und Eure Herrschaften es verlangen, will ich eine schlichte Antwort geben, die weder Hörner noch Zähne hat: Wenn ich nicht durch das Zeugnis der Heiligen Schrift oder vernünftige Gründe überwunden werde – denn weder dem Papst, noch den Konzilien allein vermag ich zu glauben, da es feststeht dass sie wiederholt geirrt und sich selbst widersprochen haben –, so halte ich mich überwunden durch die Schriften, die ich angeführt habe, und mein Gewissen ist durch Gottes Worte gefangen. Und darum kann und will ich nichts widerrufen, weil gegen das Gewissen zu handeln weder sicher noch lauter ist.«; zu der folgenden Schlusszeile, die wohl nicht den Satz »hier stehe ich, ich kann nicht anders«, enthielt, s. Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. Bd. 2, Gotha 1896 (Deutsche Reichstagsakten. Jüngere Reihe 2), 555f Anm. 1; vgl. auch Kurt-Victor Selge, Capta conscientia in verbis Dei, Luthers Widerrufsverweigerung in Worms, in: Fritz Reuter (Hrsg.), Der Reichstag zu Worms von 1521. Reichspolitik und Luthersache. Köln/Wien 21981, 180–207, 180; Anm. 1; Armin Kohnle, Martin Luther und das Reich – Glaubensgewissheit gegen Zwang, in: Mariano Delgado/Volker Leppin/David Neuhold (Hrsg.), Ringen um die Wahrheit. Gewissenskonflikte in der Christentumsgeschichte. (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 15) Fribourg/Stuttgart 2011, 195. Selge, Capta conscientia (wie in dieser Anm.), 180f Anm. 2 weist auch auf den häufig übersehenen Sachverhalt hin, dass Luther sich auch gegenüber Kardinal Cajetan in Augsburg schon auf sein Gewissen berufen hatte: »Istae et multae aliae auctoritates, tam expresse, tam copiose, ducunt, cogunt, captivant me in sententiam, quam dixi. Quare, Reverendissime in Christo pater, quando divino munere es unus insignibus dotibus, praesertim iudicii acrimonia donatus, rogo humiliter, R. P. T. dignetur clementissime mecum agere et conscientiae meae compati ac demonstrare lucem, qua possim haec aliter intelligere, et non cogere ad revocationem eorum, quae etiam teste conscientia non alia duco quam ea, quibus me necesse sit consentire. Et stantibus his auctoritatibus aliud facere [Apgsch. 5, 29.] non possum, nisi quod obediendum esse deo magis quam hominibus scio.« (WA 2, 16, 4–12). 10 WA 7, 833, 10–13.
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ther eine Predigt hierüber11, in welcher er bereits ausführte, dass jedenfalls der größere Teil des Volkes meine, durch die Ablässe sofort aller Sünden ledig zu werden – und gerade darin seine Verschlingung in den Fesseln des Gewissens verschlimmere.12 Diese Passage zeigt sehr deutlich, dass das Gewissen selbst dann den Menschen bedrängt, wenn er vermeint, seine Belastung durch die Sünde los zu sein. Das Gewissen, von dem Luther spricht, ist also im Grundsatz eines, das um die eigentliche Situation des Menschen vor Gott weiß – auch wenn Luther den Umstand einer conscientia erronea benennt.13 Wirklichen Frieden des Gewissens aber gibt es nicht, solange Sünde besteht.14 Das Vergehen des Papstes besteht für Luther darin, die Menschen auf den falschen, nämlich unmöglichen Weg der Gewissensentlastung durch Werke zu führen.15 Den theologischen Gesamtzusammenhang hat Luther vor allem infolge seines Protestes gegen den Ablass entfaltet. In seinem Widmungsschreiben an Staupitz, mit welchem er die Resolutiones zu den Ablassthesen am 30. Mai 1518 begleitete, 11 S. zu dieser Predigt im Zusammenhang der Entwicklung von Luthers Ablasskritik Lothar Vogel, Zwischen Universität und Seelsorge. Martin Luthers Beweggründe im Ablassstreit, in: ZKiG 118, 2007, 187–212, 195 Anm. 35. 12 WA 1, 65, 20–23. 13 WA 14, 648, 12–14. Diese Stelle, in der Luther das falsche Gewissen mit dem Falschgötterglauben nach dem Ersten Gebot gleichsetzt, ist auch für die weitere Entwicklung seiner Theologie bedeutsam. Luther folgt mit dem Satz: »Qualis enim est conscientia, talis Deus« (a. a. O. Z. 14) – ein offenkundiger Anklang an die Aussage: »Worauff du nu (…) dein hertz hangest und verlessest, das ist eygentlich dein Gott« (WA 30/1, 133, 7f) in seiner Auslegung des Ersten Gebotes im Großen Katechismus. Eben hierin zeigt sich der Umstand, dass das Gewissen als Verankerung des Gotteswillens im Menschen fehlgehen kann, aber im Kern nicht subjektivistisch zu interpretieren ist (s. Albrecht Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen, hrsg. v. Gottfried Seebaß. Bd. 1: Die Zehn Gebote. Göttingen 1990, 110–112). 14 Luther, Auslegung des 109. (110.) Psalms, 1518 (WA 1, 703, 40–704, 1). Allerdings gilt an dieser Stelle wie an manchen anderen auch, dass Luthers Begrifflichkeit nicht ganz konsistent ist: Der faktischen Unruhe des Gewissens im Stand der Sünde steht in der Auslegung des Vaterunsers von 1519 die Kritik an denen, »Dye aber sich auff yre gewissen verlassen unnd nit da fuer halten, das sie gottis namen uneren« gegenüber (WA 2, 93, 37f). Hier denkt er offenbar an eine Situation des irrenden Gewissens, die den Menschen in securitas (ebd. Z. 39: »sicher«) verführt und damit von Gott selbst ablenkt. 15 S. Luther, Sermon von dem Sakrament der Taufe, 1519: »Drumb meynen sie ettwas anders zu finden, die sund zuvortilgen, nemlich die werck, unnd machen alßo yhn selb und allen andern boeß erschrockene unsichere gewissen, vortzagung am todt, und wissen nit wie sie mit gott dran seynd« (WA 2, 733, 11–14). Luther sah die spätmittelalterliche Frömmigkeit geradezu durch diese Gewissensbedrängung geprägt: »Hab zu letzt mich bewegen lassen E. F. G. andacht zu der heyligen schrifft, die mir hochlich gepreyßet ist, ettlich sermon unter E. F. G. namen auß zulassen von den heiligen hochwirdigen und trostlichen sacrament der Puß, der Tauff, des heiligen leychnams, angesehen, das ßovil betrubt und beengstet gewissen erfunden, und ich bey mir selb erfaren, die der heiligen und voller gnaden sacrament nit erkennen, noch zu prauchen wissen, sich leyder mit yhren wercken mehr vormessen zu stillen, dan durch die heiligen sacrament yn gottis gnaden frid suchen« (Luther, Sermon von dem Sakrament der Buße. Geleitwort an Herzogin Margarete von Braunschweig-Lüneburg, 1519 [WA 2, 713, 17–24]).
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erklärte er die Sorge um die Gewissensbedrängnis geradezu zu einem Ausgangspunkt seines eigenen Protestes.16 Eine Ruhe des Gewissens, so führte Luther dann in den Resolutiones selbst aus, sei nur durch das Vertrauen auf das Verheißungswort Christi zu gewinnen.17 Diese Position stellte er der Auffassung der jüngeren Theologie entgegen, dass man von der Sünde durch eigene Reue oder Werke entlastet werden könne; ihr warf er vor, die Gewissen zu belasten.18 Angesichts dieser Konstellation kann die conscientia geradezu der Ort sein, an dem sich schon 1519 die Grundopposition von Luthers entstehender19 Rechtfertigungslehre festmachen lässt: Dem durch den Zwang zu Werken belasteten Gewissen steht das durch den Glauben befreite Gewissen gegenüber20, weswegen es bei Luther dann auch zur Wortbildung »libertatis conscientia«21 und, 1521, »libertas conscientiae«22 kommen kann. Im Einzelnen entfaltete Luther den theologischen Zusammenhang in den Thesen für eine Zirkulardisputation23 »zur Untersuchung der Wahrheit und zur Tröstung der in Angst versetzen Gewissen« (»Pro veritate inquirenda et timoratius conscientiis consolandis conclusiones«), welche er im unmittelbaren Zusammenhang der Auseinandersetzungen um den Ablass verfasste. Er geht darin von der in der Ablassverkündigung nicht immer streng gewahrten Unterscheidung von poena, Schuld, und culpa, Strafe, im Bußsakrament aus.24 Auch nach 16 Luther, Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute. Widmungsschreiben an Staupitz, 1518 (WA 1, 525, 7f). 17 Ebd. (WA 1, 541, 4f; 543, 4–8). 18 Ebd. (WA 1, 542, 34–37): »Ad hoc autem conscientiae malum Theologi recentiores nimis foeliciter cooperantur, dum sacramentum poenitentiae sic tractant et docent, ut populus discat per suas contritiones et satisfactiones confidere se peccata sua posse delere«. 19 Zur Entwicklung Luthers s. zusammenfassend Volker Leppin, Art. Reformatorische Entdeckung, in: Ders./Gury Schneider-Ludorff (Hrsg.), Das Luther-Lexikon. Regensburg 2014, 589–592. Ältere Vorstellungen von einem schroffen Durchbruch und damit auch die früheren Debatten um eine ›Früh-‹ oder ›Spätdatierung‹ können bei dem heutigen differenzierteren Stand der Forschung wohl als obsolet gelten; zur Kritik an einem solchen ›Wende-Konstrukt‹ s. Berndt Hamm, Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung. Tübingen 2010, 27. 20 Luther, Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute, 1518 (WA 1, 555, 9–13). 21 Luther, De captivitate Babylonica (WA 6, 537, 15); vgl. hierzu Joseph Lecler, Geschichte der Religionsfreiheit im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Stuttgart 1965, 234. 22 Luther, De votis monasticis. Iudicium (WA 8, 606, 31); vgl. hierzu Bernhard Lohse, Gewissen und Autorität bei Luther, in: Kerygma und Dogma 20, 1974, 1–22, 9f; Joseph Lecler, Die Gewissensfreiheit. Anfänge und verschiedene Auslegung des Begriffs, in: Heinrich Lutz (Hrsg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit. Darmstadt 1977, 331–372, 337; zur Wortbildung libertas conscientiae schon vor Luther s. ebd. 334. Wichtigster Beleg hierfür ist Boethius, De consolatione philosophiae I, 4, 9 (CSEL 67, 8, 23); vgl. auch Pierre de Celles, Liber de conscientia (PL 202, 1084D). 23 S. die Zuordnung hierzu und die offene Frage der Datierung in WA 1, 629. 24 Vgl. hierzu Nikolaus Paulus, Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters. Darmstadt 22000, 277–296. Wenn Luther den Eindruck hatte, dass beides nicht ausreichend un-
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mittelalterlichem Verständnis konnte der Ablass sich allein auf die Strafen beziehen, da er theologisch in den Bereich der satisfactio als des dritten Elementes der Buße nach contritio und confessio gehörte. Hatte Luther noch in den Thesen gegen den Ablass nahegelegt, dass er im Sinne seiner mystischen Vorläufer25 das Bußsakrament letztlich in die wahre contritio auflösen wollte26, so führte offenbar die Auseinandersetzung mit dem spätmittelalterlichen Kontritionismus27 zu der oben angeführten Kritik an zu hoher Gewichtung der contritio als Voraussetzung der Sündenvergebung. Entfaltet hat Luther diese Überlegungen dann in der erwähnten Zirkulardisputation. Er betonte, dass das Gewissen nur durch Vergebung der Schuld, nicht aber der Strafen Ruhe gewinnen könne.28 Diese Vergebung der Schuld aber beruhe allein auf dem Glauben an das Wort Christi, nicht aber auf dem Amt des Priesters oder der individuellen Reue des Sünders.29 Sinn dessen war es, die Gewissen der Menschen nicht jener Ungewissheit zu überlassen, in welcher sie nach Luthers Auffassung verharren müssten, wenn ihr Heil allein auf dem für keinen Menschen zuverlässigen Bewusstsein seiner eigenen Reue beruhte30 : allein die Verheißung Christi selbst, die promissio, konnte Grundlage zuverlässiger Gewissheit sein.31 Damit war eine fundamentale Ver-
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terschieden wurde, so hatte er hierzu guten Grund: In seinem unmittelbaren Umfeld sprach das Wittenberger Heiltumsbuch im Blick auf den auf das Wittenberger Allerheiligenstift in der Schlosskirche übertragenen Portiuncula-Ablass von »vergebung Peyn vnd schuld« (Dye zaigung des hochlobwirdi-j gen hailigthums der Stifft j kirchen aller hailigen zu j wittenburg, Wittenberg 1509, A3v). S. hierzu den von Luther als Utilissimum consilium (WA 9,104,12) bezeichneten Ratschlag Johannes Taulers für einen von Sünden beschwerten Menschen: »dring dich wider in got also o o schwindiglichen dz dir dein sünde zu mal entpfallen. so du da mit zu der beichte kommest. o o das du jr nitt wissest zu sagen. Dis sol dich nit entsetzen. es ist dir nit aufgefallen zu schaden. o sunder zu ainer bekentnuß deines nichtes.« (Sermones: des hochj geleerten in gnaden erleüchten dojctoris Johannis Thaulerii sannt j dominici ordens die da weißend j auff den o nächesten waren weg im j gaist zu wanderen durch überswej bendenn syn. Von latein in e e teütsch j gewendt manchem menschenn zu j saliger fruchtbarkaitt, Augsburg: Hans Otmar 1508 [zugänglich unter http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb 10813511_00005.html; Zugriff am 11. 10. 2014], 192v). In der zweiten Ablassthese erklärt Luther lediglich für die confessio oris und die satisfactio operis, dass sich Jesus Bußruf hierauf nicht beziehe (WA 1, 233, 12f), lässt den Bezug auf die contritio als das erste Element des Bußsakramentes also zumindest offen (s. hierzu demnächst ausführlicher den von mir und Alberto Melloni verfassten Kommentar zu den ersten vier Ablassthesen, in: Theo Dieter/Wolfgang Thönissen, Ökumenischer Kommentar zu den Ablassthesen, in Vorb.). S. zur spätmittelalterlichen Debatte Heiko Augustinus Oberman, Spätscholastik und Reformation. Bd. 1: Der Herbst der mittelalterlichen Theologie. Zürich 1965, 140–143. WA 1, 630, 7–10. WA 1, 631, 3–6. WA 1, 631, 13f. WA 1, 631, 17f.
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bindung zwischen dem Gewissen und dem Wort Gottes geschaffen, die für Luther konstitutiv blieb. Hiermit ist allerdings noch nicht der weiterreichende theologische Hintergrund seiner Ausführungen erfasst. Dieser liegt vielmehr im Begriff des Gewissens selbst, welchem in der mittelalterlichen Theologie nicht allein die conscientia entspricht, sondern auch die syntheresis / synderesis. Beide Begriffe traten auseinander, als Hieronymus in seiner Erklärung des Ezechielbuches das griechische syneidesis (woraus durch eine Textkorruption synderesis / Syntheresis wurde32) als scintilla conscientiae deutete33, mithin beide Begriffe – synderesis und conscientia – zugleich aufeinander bezog und voneinander unterschied.34 Neben der conscientia als einem auf das ethische Handeln bezogenen Prinzip war auch ein fundamentaleres Moment der synderesis beziehungsweise des ›Fünkleins‹ zu behandeln. Eigenständige Bedeutung gewann Letzteres sowohl in der scholastischen als auch in der mystischen Literatur. Letzteres ist besonders deswegen von hoher Bedeutung, weil in manchen vereinfachten Darstellungen der – dann als moralisch oder semipelagianisch gedeutete – scholastische Begriff35 unmittelbar mit dem Luthers konfrontiert 32 S. zu den philologischen Grundlagen Terry L. Miethe, Natural Law, The Syndeiresis Rule, and St. Augustine, in: Augustinian Studies 11, 1980, 91–97, 92f. 33 Hieronymus, In Ezecheliem l. 1 c. 1 (PL 25, 22B). 34 Zu diesem Vorgang Hieronymus Wilms, Das Seelenfünklein in der deutschen Mystik, in: Zeitschrift für Aszese und Mystik 12, 1937, 157–166, 157; Baylor, Action and Person (wie Anm. 1), 26f. 35 Ohnehin sind – das berücksichtigen Ebeling und andere im Prinzip auch – die mittelalterlichen akademischen Lehren in sich hochgradig differenziert. Als markante Positionen seien hervorgehoben: 1.) Thomas von Aquin, der im Sentenzenkommentar l. 2 d. 24 q. 2 a. 4 sehr klar differenziert: »Et secundum hunc modum patet, qualiter differant synderesis, lex naturalis et conscientia: quia lex naturalis nominat ipsa universalia principia juris; synderesis vero nominat habitum eorum, seu potentiam cum habitu; conscientia vero nominat applicationem quamdam legis naturalis ad aliquid faciendum per modum conclusionis cujusdam« (S. Thomae Aquinatis Scriptum super libros sententiarum, hrsg. v. Pierre Mandonnet. Bd. 2, Paris, 1929, 613). Hiernach wäre also die syntheresis als Präsenzform des im Naturgesetz gefassten göttlichen Willens im Menschen zu bestimmen. Als solcher Habitus lenkt sie den Menschen auf das Gute hin (ST I q. 79 a. 12 resp. [Thomae Aquinatis Opera omnia {Editio Leonina}]. Bd. 5, Rom 1889, 280): »Unde et principia operabilium nobis naturaliter indita, non pertinent ad specialem potentiam; sed ad specialem habitum naturalem, quem dicimus synderesim. Unde et synderesis dicitur instigare ad bonum, et murmurare de malo, inquantum per prima principia procedimus ad inveniendum, et iudicamus inventa. Patet ergo quod synderesis non est potentia, sed habitus naturalis«. Mit Heinrich Scholler, Martin Luther on Jurisprudence – Freedom, Conscience, Law, in: Religion, Staat, Gesellschaft 11, 2010, 71–89, 73, könnte man das Verhältnis von syntheresis und conscientia bei Thomas auch als das von »original conscience« und »practical reason« bestimmen; vgl. auch Baylor, Action and Person (wie Anm. 1), 36 der betont, dass die synteresis »a more fundamental and permanent feature« zur Grundlegung der conscientia darstellt; eine umfassende Darlegung von Thomas’ Lehre von der syntheresis bietet Luc-Thomas Somme, The Infallibility, Impeccability and Indestructibility of »Synderesis«, in: Studies in Christian Ethics 19, 2006, 403–416,
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wird.36 Dessen Position gewinnt aber ein deutlich anderes Profil, wenn man beachtet, dass für die Begriffsgeschichte insgesamt und auch insbesondere für Luthers Reflexion daneben auch die mystische Literatur von entscheidender Bedeutung war37, welche sich in der Lehre von der syntheresis deutlich von der scholastischen unterschied.38 Bei Meister Eckhart gewann die Lehre vom funkel%n beziehungsweise der scintilla animae zentrale Bedeutung für seine mystische Konstruktion der Gottesbegegnung.39 Durch ihn wurden Begriff und Vorstellung auch Johannes Tauler bekannt. In seiner Predigt über Lk 10,23f zum 13. Sonntag nach Trinitatis40 erklärte er : »Vonn disem innwendigen adel der seel der in dem grunde verborgen leyt, von dem selben habenn vil mayster geredt bayde. Der alten ee vnd der neüwen ee. Aber bischoff
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404–413, der auch auf Entwicklungen zwischen dem frühen Werk und der Summa hinweist. 2.) Gabriel Biel bietet eine stärker intellektive und darin auch moralisch auf Handlungsanweisungen ausgerichtete Fassung des synteresis-Vermögens: »Posset ergo synderesis sic describi: Est potentia nata assentire naturaliter principio practico evidenti ex terminis, dictanti, id est significanti, in universali aliquid operandum, appetendum vel fugiendum« (Biel, Sent II d. 39 q. un. a. 1 [Biel, Collectorium II, 659, 65–68]; vgl. hierzu Baylor, Action and Person (wie Anm. 1), 94; zum weiteren Hintergrund in Ockhams Ethik s. Sigrid Müller, Handeln in einer kontingenten Welt. Zu Begriff und Bedeutung der rechten Vernunft [recta ratio] bei Wilhelm von Ockham. [Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie 18] Stuttgart 2000, 166–169). Gerhard Ebeling, Disputatio de homine (= ders., Lutherstudien. Bd. 2). Dritter Teil: Die theologische Definition des Menschen. Kommentar zu These 20–40. Tübingen 1989, 316–319; ders., Das Gewissen in Luthers Verständnis, in: Ders., Lutherstudien. Bd. 3, 108–125, 114f; zur Kritik an solchen in der Forschung tief verankerten vereinfachenden Auffassungen von der Syntheresis Baylor, Action and Person (wie Anm. 1), 178–183. Diese Spannung bemerkt auch Lohse, Gewissen und Autorität (wie Anm. 22), 3f, ohne allerdings dem synteresis-Verständnis bei mystischen Autoren und ihrer Rezeption durch Luther genauer nachzugehen. Sehr viel umfassender geht hier in seinem ganz der Frage des Gewissens bei Luther gewidmeten Sammelband Hirsch, Lutherstudien, (wie Anm. 5), vor: Er würdigt Gerson und Tauler ausführlich (80–105), umgeht aber gerade die entscheidende Frage, indem er erklärt, der Zusammenhang von gewissen und syntheresis bei Eckhart und Tauler sei »so verwickelt, daß ihre Darlegung dem Rahmen dieser Arbeit nicht gut eingefügt werden kann.« (a. a. O. 106) – eben der Zusammenhang beider ist aber die Pointe für Luthers Entwicklung! Man kann Luthers Gebrauch der syntheresis freilich nicht vollständig aus der Lektüre Johannes Taulers ableiten, da er schon in der ersten Psalmenvorlesung, also vor seiner Taulerlektüre, die in die Anfangszeit der Römervorlesung gefallen sein dürfte (s. u.), hiervon Gebrauch machte; s. etwa WA 3, 94, 16; 238, 12. Ein gewisses Gespür für den mystischen Hintergrund zeigt, ohne der historischen Ableitung nachzugehen, Scholler, Martin Luther (wie Anm. 35), 77, wenn er das Gewissen bei Luther als »mystical sphere« bestimmt. S. Hirsch, Lutherstudien (wie Anm. 5), 105. Heinrich Appel, Die Synteresis in der mittelalterlichen Mystik, in: ZKiG 13, 1892, 535–544, 543. Beim derzeitigen Stand der Taulerphilologie ist eine Identifikation des Jahres noch nicht möglich.
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albrecht41 vnd maister dieterich42. vnd maister Eckhart die haissen ews ainen funcken der seel«.43
Bekanntlich hat Luther um 1515 Taulers Predigten gelesen44, also von hier aus das Konzept des ›Seelenfünkleins‹ kennengelernt. Dass er es auch in seine Gewissenslehre einbezog, zeigt der sprachliche Umstand, dass er in seinen Randbemerkungen zu Tauler das syntheresis-Vokabular aufgriff.45 Besonders markant ist dies bei seinen Bemerkungen zur Predigt »Ubi est qui natus est«. Luther gab zu einer Stelle eine ausführlichere Erläuterung: Johannes Tauler hatte erklärt: o
»Nun hie sind drey ding zu mercken. Das ain ist das da suchet. daz ist die begerung. Das ander ist die weyse des suchens. Das drit ist das finden der geburt. Nu seynd drey ding o hie. das ain klebet an der nature in flaisch vnd in blut. als die leiplichnn synne vnn sinlikait. Das ander ist die vernunfft. Das drit ain lauter blose substantz der seel die alle seind vngleich. Vnd enpfinden auch vngeleich iglichs nach seinem wesen.«46
Eben dieses Schema nahm Luther auf. In seiner Randbemerkung führte er eine lateinischsprachige Trias aus sensus, ratio und »Mens vel apex mentis sive Syn41 Gemeint ist Alberts Magnus; zu ihm s. Albert Zimmermann (Hrsg.), Albert der Große. Seine Zeit, sein Werk, seine Wirkung. (Miscelannea mediaevalia 14) Berlin/New York 1980; Walter Senner (Hrsg.), Albertus Magnus. Zum Gedenken nach 800 Jahren. Neue Zugänge, Aspekte und Perspektiven. (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens. N. F. 10) Berlin 2001. 42 Gemeint ist Dietrich von Freiberg; zu ihm s. Karl-Hermann Kandler (Hrsg.), Dietrich von Freiberg. Neue Perspektiven seiner Philosophie, Theologie und Naturwissenschaft. (Bochumer Studien zur Philosophie 28) Amsterdam/Philadelphia 1999; Kurt Flasch, Dietrich von Freiberg. Philosophie, Theologie, Naturforschung um 1300, Frankfurt/M. 2007. 43 Tauler, Sermones (wie Anm. 25), 131v-132r : vgl. Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, hrsg. v. Ferdinand Vetter. (Deutsche Texte der Mittelalters 11) Berlin 1910, 347, 9–11; vgl. zur Stelle Wilms, Seelenfünklein (wie Anm. 34), 162. Wegen der Bedeutung der Ausgabe für Luther (s. Henrik Otto, Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption. Annotationen und Drucken des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts. [Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 75] Gütersloh 2003, 317–320) wird Tauler hier in der Regel nach dem Augsburger Druck von 1508 wiedergegeben. Dass Luther die fragliche Predigt tatsächlich gelesen hat, ist durch Randbemerkungen zu einer etwas späteren Stelle derselben Predigt dokumentiert (WA 9, 103, 21–41). 44 Vgl. die sehr vorsichtige Datierung auf »vor dem 29. Mai 1516« bei Otto, Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption (wie Anm. 43), 183; zu früheren Datierungen s. Karl-Heinz zur Mühlen, Nos extra nos. Tübingen 1972, 97; vgl. allerdings zu den Datierungsschwierigkeiten Leif Grane, Modus loquendi theologicus. Luthers Kampf um die Erneuerung der Theologie (1515–1518). Leiden 1975, S. 121f; Steven E. Ozment, Homo spiritualis. Leiden 1969, 185. 45 Baylor, Action and Person (wie Anm. 1), 180, suggeriert einen stärker scholastischen Hintergrund durch Verweis auf Luthers Bemerkungen zu Sent. II d. 39. Hier findet sich aber der Begriff syntheresis nicht (Martin Luther, Erfurter Annotationen 1509–1510/11, hrsg. v. Jun Matsuura, [Archiv zur WA 9] Köln u. a. 2009, 494f). 46 Tauler, Sermones (wie Anm. 25), 11r.
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theresis« ein.47 Für Letztere verwies er auf Gersons mystica theologia, die mithin als maßgebliche Quelle für sein Verständnis von syntheresis in Anschlag zu bringen ist.48 In De theologia mystica. Consideratio 14 fasste dieser tatsächlich die syntheresis als apex mentis49, zugleich auch im Sinne der mystischen Tradition als scintilla intelligentiae50, welcher unmittelbar von Gott eine Hinneigung zum Guten beigegeben sei.51 Bezieht man für ein Verständnis des apex mentis, der Spitze des Geistes, die oben angeführte Predigt ein, so bezeichnet er jene Seelenregion, in der das Licht sich ausbreitet und allein noch die Gottesgeburt gewusst wird.52 Sie ist Zentralmoment der mystischen Begegnung, »im Menschen der Ort der unio mystica« (Sven Grosse).53 Auch wenn Luther diesen Kontext an dieser Stelle – und auch einer weiteren Bemerkung zu Tauler, in welcher er auf die syntheresis eingeht54 – nicht ausführlich entfaltet, ist er als Hintergrund für jene Stellen der frühen Vorlesungen, in welchen er syntheresis und conscientia einander zuordnet55 oder je eigenständig behandelt, in Rechnung zu stellen. Bemerkenswert ist hier insbesondere die Deutung von Röm 1,19 durch den syntheresis-Begriff, da diese hierdurch als eine allgemeinmenschliche Größe bestimmt wird, die sogar inobscurabilis, unverdunkelbar, ist.56 In etwa in der Zeit der Römerbriefvorlesung hielt Luther eine 47 WA 9, 99, 37–40; diese Stelle interpretiert sorgfältig Sven Grosse, Der junge Luther und die Mystik. Ein Beitrag zur Frage nach dem Werden der reformatorischen Theologie, in: Berndt Hamm/Volker Leppin (Hrsg.), Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther. (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 36) Tübingen 2007, 187–235, 208f. 48 Vgl. zur synteresis-Lehre Gersons Appel, Synteresis (wie Anm. 39), 541f. 49 Jean Gerson, Oeuvres ComplHtes, hrsg. v. Pal8mon Glorieux. Bd. 3, Paris u. a. 1962, 261. 50 Ebd., 261. 51 Ebd., 260. 52 Tauler, Sermones (wie Anm. 25), 11r. 53 Grosse, Luther und Mystik (wie Anm. 47), 210. 54 WA 9, 103, 22–27. 55 Am deutlichsten Luther, Dictata super Psalterium (WA 4, 253, 23–25): »Auditio mala est duplex similiter bona, scilicet interior conscientie [bei Hirsch, Lutherstudien I (wie Anm. 5), 113 Anm. 1 fehlerhaft und missverständlich zitiert als »interior conscientia«], que est vermis et murmur syntheresis, vel gaudium et susurrus spiritus sancti«. 56 WA 56, 177, 15f. Theologiegeschichtlich bemerkenswert ist, dass Luther in einer Predigt 1515 die syntheresis ausdrücklich als einen im sündigen Menschen verbleibenden Rest der Gottespräsenz bezeichnet hat (WA 1, 32, 1–6); dies entspricht etwa dem, was Yrjö J.E. Alanen, Das Gewissen bei Luther. (Annales Academiae Scientiarum Fennicae B, XXIX, 2) Helsinki 1934, 28, als Zusammenfassung der scholastischen Lehre von der syntheresis bietet: »Die scholastische Lehre von der Synteresis ist wie ein Zufluchtsort für das natürlich Gute und Göttliche im Menschen, eine Bürgschaft dafür, dass nicht alles in ihm verdorben ist«. Lennart Pinomaa, Der existentielle Charakter der Theologie Luthers. Das Hervorbrechen der Theologie der Anfechtung und ihre Bedeutung für das Lutherverständnis. (Annales academiae Scientiarum Fennicae, Bd. 47.) Helsinki 1940, 47, ordnet diese Stelle einer Position Luthers vor seinem »Umschwung« (ebd. 49) zu. Dies setzt ein Modell von einem schroffen reformatorischen Durchbruch voraus, welches heute nicht mehr ohne weiteres selbstver-
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Predigt, in welcher er die syntheresis einmal der ratio und einmal der voluntas zuordnete und in beiden Fällen als dasjenige bezeichnete, dass auch dann auf eine Gleichförmigkeit mit Gottes Weisheit hinstrebte, wenn ratio und voluntas dies selbst nicht vermöchten.57 Es handelt sich hiernach also um ein vorbewusstes Element im Menschen, das diesen unmittelbar auf Gott bezieht: eine Bestimmung, die sehr gut zu den mystischen Hintergründen passt. Es sind diese – gewiss nicht im Sinne einer Instanz zur moralischen Handlungsanweisung zu verstehenden – Grundauffassungen von der syntheresis, die Luthers Gewissensbegriff formten und ihn dazu führten, die conscientia als eine Stelle unmittelbarer Berührung mit Gott zu entfalten. Dieser Begriff sog immer mehr die Bestimmungen der syntheresis in sich auf: Luthers Entwicklung führte dazu, »daß er synteresis und conscientia nicht mehr gegeneinander abgrenzt, sondern sie miteinander verbindet und nun im Gewissen den Ort erblickt, an welchem der Mensch erfährt, was und wer Gott ist« (Bernhard Lohse)58 – dies mündete in die Wormser Rede, hatte aber seinen primären Bezugspunkt gerade nicht im Gegenüber zu politischen Instanzen: Das erste Mal berief Luther sich darauf, dass er nicht gegen sein Gewissen vorgehen könne, wenn er nicht durch die Schrift überzeugt wurde, im Zusammenhang seines Verhörs durch Kardinal Cajetan in Augsburg, mithin im Rahmen des kirchlichen Ketzerprozesses.59 Dabei konnte Luther die Frage der Gewissensbedrängung durchaus leichtfüßig in das politische Gebiet übertragen: Die Bedrängung der Gewissen durch den Papst sah er »praesertim in hac inclita Garmaniae natione« gegeben60 – diese
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ständlich ist (s. Anm. 19). Berücksichtigt man die Begriffsverlagerung hin zur conscientia, so wird erkennbar, dass der Gedanke einer gegenwärtigen Wirkung Gottes im Gewissen des Menschen eine höhere Kontinuität, bis hin zur Rede von Worms, aufweist, als Pinomaa es für plausibel hält. In gleicher Weise beruht die Einschätzung von Gerhard Ebeling, Lutherstudien. Bd. 2: Disputatio de homine. 3. Teil. Tübingen, 1989, 319f, Luther habe sich im Scholion zu Röm 4,7 (WA 56, 268, 26–291, 14) komplett von der mittelalterlichen syntheresis-Vorstellung abgewandt, beruht auf einer einseitig-anachronistisch moralisierenden Auslegung derselben, die insbesondere die mystischen Konzeptionen ganz unberücksichtigt lässt. WA 1, 38, 11–20; vgl. zu dieser vor dem Hintergrund vorheriger Debatten erstaunlichen doppelten Zuordnung Uta Störmer-Caysa, Gewissen und Buch. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 14) Berlin/New York 1998, 388. Lohse, Gewissen und Autorität (wie Anm. 22), 5. Diese Entwicklung und ihre Gründe fasst Baylor, Action and Person (wie Anm. 1), 196, in Auseinandersetzung mit den verbreiteten Vorstellungen, Luther habe den Begriff der syntheresis im Zuge der Römerbriefvorlesung verabschiedet, weil er ihn für semipelagianisch gehalten habe (s. Pinomaa, Charakter [wie Anm. 56], 46–56), treffend zusammen: »The scholastic synteresis did not disappear from Luther’s thought as the result of any general anthropological reorientation. Rather, I would suggest, he came to discard it because he found it increasingly irrelevant to what for him had become the most important religious function of the conscience« (vgl. ähnlich auch Lohse, Gewissen und Autorität [wie Anm. 22], 4). Hinzuzufügen ist nur, dass »syntheresis« keineswegs ein ausschließlich scholastischer, sondern auch ein mystischer Begriff war. Luther an Friedrich den Weisen, 21. November 1518 (WA.B 1, 242 (Nr. 110, 231f). WA 7, 833, 14.
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auf die Adelsschrift rekurrierende Anspielung auf die Gravamina nationis Germanicae61 hat mehr mit kirchenpolitischen, ökonomischen und juristischen Fragen zu tun als unmittelbar mit der Rechtfertigungslehre. Gewiss kann man sie im Sinne pauschal vorgebrachter »Werkgerechtigkeit« hierauf beziehen, aber man wird doch eher in Anschlag bringen müssen, dass Luther die Situation in Worms nutzte, um sehr kühn und manchmal auch kurzschlüssig seine theologischen Anliegen mit den poltischen zu verbinden. Eben hieraus ergibt sich auch die besondere Note seiner expliziten Berufung auf die Bindung des Gewissens, die im Kern an spätmittelalterliche Selbstverständlichkeiten anknüpft. Der Gedanke, dass das Gewissen eine letztlich intangible Größe darstellt, war nämlich – entgegen der im evangelischen Raum verbreiteten Vorstellung, die Luther gelegentlich geradezu zum Begründer der Gewissensfreiheit stilisiert62, keineswegs neu, sondern hatte sogar Eingang in das Kirchenrecht gefunden: Gratian hatte in einer Nachbemerkung zu C. 28 q. 1 c. 14 die Aussage aus Röm 14,23: »Quod non ex fide peccatum est« in dem Sinne interpretiert: »omne quod contra conscientiam fit, edificat ad gehennam«.63 Für Luthers Einlassung vor dem Reichstag dürfte dieser rechtlich determinierte Kontext entscheidend gewesen sein.64 Doch auch diese rechtliche Grenzsetzung für politisches Handeln durch die Gewissensbindung hat theologiegeschichtliche Hintergründe: Thomas von Aquin, der die Aussage Gratians als Teil der Glossa anführte65, folgerte hieraus mit einer Klarheit, die an das anklingt, was 61 S. Heinz Scheible, Die Gravamina, Luther und der Wormser Reichstag 1521, in: Ders., Melanchthon und die Reformation. Forschungsbeiträge, hrsg. v. Rudolf May und Rolf Decot. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beih. 41.) Mainz 1996, 393–409. 62 Paradigmatisch Gerhard Ebeling, Der kontroverse Grund der Freiheit. Zum Gegensatz von Luther-Enthusiasmus und Luther-Fremdheit in der Neuzeit, in: Ders., Lutherstudien. Bd. 3. Tübingen 1985, 366–394, 386, der Luther zwar nicht »zum Urheber dieser Entwicklung (…) erklären« will, seinem Vorbild aber »bei der Prägung und Durchsetzung der modernen Idee der Gewissensfreiheit eine erhebliche Rolle« zuspricht. 63 Corpus Iuris Canonici. Bd. 1, hrsg. v. Emil Friedberg. Leipzig 1879, 1088. 64 Selge, Capta conscientia (wie Anm. 9), 197f, verweist auch darauf, dass insbesondere die Berufung auf die Schrift als zwingende Autorität durchaus dem geltenden Kirchenrecht entsprach, insbesondere d. 9 c. 3–11 (Corpus Iuris Canonici [Friedberg] 17f); C. 25 q. 1 c. 6–8 (ebd. 1008f). In diesem Zusammenhang begegnet auch der Verweis auf die gesunde Vernunft als Kriterium der Rechtgläubigkeit: d. 9 c. 11 (ebd. 18). 65 Thomas, Quodlibet III q. 12 a. 2 Sed contra (S. Thomae Aquinatis Opera Omnia, hrsg. v. Roberto Busa. Bd. 3, Stuttgart – Bad Cannstatt 1980, 456); angesichts dessen, dass bislang noch eine umfassende kritische Ausgabe der Glossa ordinaria fehlt, ist nicht auszuschließen, dass Thomas tatsächlich eine Glossa ordinaria mit diesem Text vorlag. Gängiger ist eine ohne den conscientia-Begriff operierende Fassung: »Non tamen omne quod fit cum fide bonum est, quia ignorantia quae est ex culpa, nocet. Omnis vita infidelium peccatum est, quia omnis infideliter vivens vel agens, vehementer peccat, et nihil bonum sine summo bono, ubi deest agnitio veritatis aeternae. Falsa virtus est etiam in optimis moribus. Opera quae videntur probabilia, praeter fidem sic sut, ut magnae vires et cursus celerrimus extra viam. » (PL 114,
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Luther später in Worms formulierte: »et ideo dicendum est quod omnis conscientia, sive recta, sive erronea, sive in per se malis, sive in indifferentibus, est obligatoria; ita quod qui contra conscientiam facit, peccat«.66 Angesichts des komplexen Verhältnisses Luthers zu Thomas67 kann man diese Tradition schwerlich als einschlägig für Luther annehmen. Bemerkenswert ist aber, dass der von Röm 14 ausgehende Verweis auf das Gewissen, gegen das zu handeln Sünde wäre, in den Bibelkommentar des Nikolaus von Lyra gelangt ist68 und von hier aus Luther zur Kenntnis gekommen sein dürfte.69 Hinzu kam auch die Theologie Gabriel Biels, die ihm wohlvertraut war. Dieser hat die Lehre von der Bindungskraft des Gewissens noch erheblich differenziert, indem er die allerdings naheliegende Unterscheidung von irrendem und nicht irrendem Gewissen einführte: Klar war, dass letzteres den Menschen zwingend verpflichtete.70 Das irrende aber konnte ihn nicht gegen das göttliche Gesetz binden71, es sei denn, der Irrtum bezog sich auch auf dessen Inhalt. Das heißt, der Irrende wisse gar nicht, dass sein Handeln dem göttlichen Gesetz widerspreche.72 Vor allem ist auch an dieser Stelle die nachhaltige Wirkung Johannes von Staupitz in Rechnung zu stellen, der in einer Predigt erklärt hatte: »Quidquid fit contra conscienciam edificat ad gehennam«73 – offenkundig die negative Kehrseite dessen, was Luther wenige Jahre später in Worms äußern sollte. All dies prägte Luthers Vorstellung von der Gewissensbindung: In den Glossen interpretierte er Röm 14,22f zwar ohne das conscientia-Vokabular.74 Im
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316; vgl. Eine ähnliche Fassung in BIBLIORVM j SACRORVM j CVM GLOSSA ORDINARIA […] Annotatis etiam ijs, quae confuse antea citabantur, locis: j Et Postilla Nicolai Lyrani […] TOMVS SEXTVS, Venedig 1603, 178). Thomas, III q. 12 a. 2 contra (Thomas, Opera Omnia [Ed. Busa] 456). Dennis R. Janz, Luther on Thomas Aquinas. The Angelic Doctor in the thought of the reformer. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, 140.) Stuttgart 1989, 96–113, hat den Nachweis zu erbringen versucht, dass Luther entgegen früheren Annahmen in der Forschung das Werk des Aquinaten sehr wohl gekannt habe. Diese Argumentation wurde allerdings von Stefan Gradl, Inspektor Columbo irrt. Kriminalistische Überlegungen zur Frage »Kannte Luther Thomas?«, in: Luther 77, 2006, 83–99, gründlich destruiert, so dass man die Debatte zumindest wieder für offen halten muss. S. Nikolaus von Lyra zu Röm 14, 23 »damnatus est, quia non ex fide«: »id est ex conscientia facit hoc, sed contra conscientiam, et omne tale est peccatum« (Bibliorum sacrorum cum glossa ordinaria et Postilla Nicolai Lyrani 178). Zur intensiven Kenntnis des Lyraners bei Luther s. Gerhard Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik. München 1942 (Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus 10/1), 152–154. Biel, Collectorium II d. 39a. 3 dubium 2 (Gabrielis Biel, Collectorium circa quattuor libros Sententiarum., Liber secundus, hrsg. v. Wilfried Werbeck und Udo Hofmann. Tübingen 1984, 665, 22f; 666, 1f; s. hierzu Alanen, Das Gewissen (wie Anm. 56), 29. Biel, Collectorium II d. 39a. 3 dubium 2 (Biel, Collectorium [wie Anm. 70], 666, 7–15). Biel, Collectorium II d. 39a. 3 dubium 2 (Biel, Collectorium [wie Anm. 70], 666, 16–20). Iohannis Stavpitii Opera. Bd. 1, hrsg. v. Joachim K. F. Knaake, Potsdam 1867, 40. WA 56, 135, 12–17.
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Scholion zur Stelle aber zeigte er nicht nur, dass ihm der exegetische Bezug auf conscientia bekannt war75, sondern er stellte sich auch ausdrücklich in diese Tradition, indem er die Stelle auf ein nicht zulässiges Handeln »contra conscientiam in fide« bezog.76 Auch in den Glossen hat er der Sache nach hier mit der Aussage, dass die Sünde dessen, der gegen seinen Glauben handelte, darin liege, dass er gegen sein Urteil darüber, wie er zu handeln habe77, exakt das benannt, was im Zusammenhang seines ausgeführten Gewissensverständnisses der Kern seiner Haltung in Worms war : dass gegen das Gewissensurteil zu handeln, Sünde sei. Seine Wormser Stellungnahme konnte er mithin genau so abgeben, weil er damit tief in der mittelalterlichen Tradition stand78 – und dies war ihm, wie der Hinweis in den Scholien zeigt, durchaus bewusst. Was Luther in Worms zur Bindung des Gewissens sagt, ist mithin alles andere als neu. Man kann sogar hinzusetzen, dass Luthers Verweis auf eine mögliche Korrektur durch Schrift oder Vernunft79 exakt der Position entsprach, die Gabriel Biel entwickelt hatte: dass man in dem Falle auch an das irrende Gewissen gebunden sei, dass das Wissen um Gottes Willen unzureichend sei. Die Einordnung in den mittelalterlichen Horizont wird auch dadurch unterstrichen, dass selbst die Leitung des Reichstages Luthers Berufung auf das Gewissen als legitim anerkennen konnte und ihr nur insofern widersprach, als Luthers Gewissen, wie Johann von Ecken erklärte, irrig80 und dementsprechend nicht verpflichtend sei.81 Der Gewissensbegriff, den Luther gebraucht, wurzelt also tief in vormodernen Konzepten. Mit diesen ist auch die letzte Intangibilität des Gewissens verbunden. Was nun aber bei Luther geschieht, ist, dass er in apologetisch-selbstlegitimierender Weise diesen Gewissensbegriff zum politischen Handlungsbegriff ummünzt. Dass man Luther als Repräsentanten der Gewissensfreiheit deuten kann, 75 76 77 78
WA 56, 513, 28. WA 56, 513, 30–514, 1. WA 56, 135, 12–14. Hierauf verweist, speziell im Blick auf Thomas von Aquin, auch Walter Rupprecht, Protestantische Gewissensfreiheit. Gedanken zu Luthers Entscheidung auf dem Reichstag zu Worms 1521, in: Im Lichte der Reformation 25, 1982, 64–80, 73. 79 WA 7, 838, 4; vgl. zum geistesgeschichtlichen Hintergrund dieser Formel, der bis zu Tertullian und Augustin zurückreicht, Hans Preuß, Was bedeutet die Formel »Convictus testimoniis scripturarum aut ratione evidente« in Luthers ungehörnter Antwort zu Worms?, in: Theologische Studien und Kritiken 81, 1908, 62–83, 65–67. 80 WA 7, 839, 33–840, 5. 81 Zu dieser Deutung s. Selge, Capta conscientia (wie Anm. 9), 181. Angesichts solcher Befunde wird man die Einschätzung von Kohnle, Martin Luther (wie Anm. 9), 191, es habe »zwischen Luther und der an einem spätmittelalterlichen Verständnis festhaltenden kaiserliche-altgläubigen Seite in der Situation von 1521 eine tiefe Kluft hinsichtlich des theologischen Bedeutungsgehalts des Gewissens« bestanden, erheblich relativieren müssen. Ebeling, Gewissen in Luthers Verständnis, wie Anm. 20, 115, zieht die Aussage von Eckens eigenartigerweise gerade heran, um die Differenz zu Luther herauszustreichen, ohne die gemeinsame Grundlage in der spätmittelalterlichen Theologie zu bemerken.
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ergibt sich also nicht etwa aus einer theoretischen Grundlegung eines solchen Konzepts, sondern aus der Anwendung eines bekannten Gewissenskonzepts auf die akute Situation in Worms.
II.
Theoretische Annahmen zum Gewissen als Grenze obrigkeitlichen Handelns
In der faktischen Anwendung bedeutete die Szene von Worms natürlich auch, dass das Gewissen für den individuellen Fall als Schutzraum gegen obrigkeitliches Handeln reklamiert wurde.82 Allerdings wäre es vermessen, hieraus eine allgemeine Regel zu folgern. Die eigene Bedrängnis konnte recht leicht zur Forderung nach Gewissensfreiheit führen.83 Diese relativierende Einschätzung 82 Die gelegentlich angeführte Speyerer Protestation (s. etwa Hoffmann, Reformation und Gewissensfreiheit [wie Anm. 1], 7; Kohnle, Martin Luther [wie Anm. 81], 199f) kann hier trotz der expliziten Berufung auf das Gewissen (Deutsche Reichstagsakten. Jüngere Reihe. VII/2, Stuttgart 1935, 1286, 22) außer Acht bleiben, da es hier nicht um eine individuelle Gewissensfreiheit von Untertanen geht, sondern um die Nutzung einer ständischen Rechtsform (vgl. Johannes Kühn, Die Geschichte des Speyrer Reichstags 1529. [Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 146] Leipzig 1929, 257; aufgenommen bei Rainer Wohlfeil, Bedingungen der Neuzeit, in: Ders./Hans-Jürgen Goertz [Hrsg.], Gewissensfreiheit als Bedingung der Neuzeit. Fragen an die Speyerer Protestation von 1529. [Bensheimer Hefte 54] Göttingen 1980, 7–24, 18). 83 Verwiesen sei auf das etwas spätere Analogiebeispiel Johann Friedrichs, der als lutherischer Kurfürst, wie unten noch zu zeigen sein wird, keineswegs Toleranz gegenüber seinen täuferischen Untertanen übte. Als er aber selbst in Gefangenschaft geraten war, erklärte er, wohl Anfang 1549 (s. »Die Einsortierung bei Der Römischen Keyser Und j Königlichen Maiesteten /j Auch deß heiligen Rö. Reichs / geist=j licher und weltlicher Stände / Churfürsten / Fürsten / Graffen /j Herren / Reichs= und anderer Stätte / zusampt der heiligen Schrifft /j geistlicher und weltlicher Rechte Gelehrten j Handlungen und Ausschreiben/ j Rathschläge / Bedencken / Send= und andere Brieffe / Bericht / Sup=j plicationschrifften / Befehl / Entschüldigungen / Protestationes, Recusationes, Auß=j führungen / Verantwortungen / Ableinungen / Absagungen / Achtserklärugen / Hülffsbrieffe /j Verträge / Historische Beschreibungen / und andere viel herzliche Schriff=j ten und Kunden mehr :j Von Rechtmässigkeit / Anfang / Fort= und endlichen Außgang deß Teutschen j Kriegs / Keyser Carls deß Fünfften / wider die Schmalkaldische Bundsoberste […] Durch Herrn Friderich Hortledern […]«, Frankfurt/ Main: Nikolaus Hoffmann 1618, 720: »Dan es ist kundt und offenbar allen Christlichen lehrern die die heilige Schrift gelesen / das man nirgendt findet das man die lehr des glaubens mit straff pein und marter zu bewilligen In die leute dringen und zwingen soll« HStAWeimar, Reg. M. pag. 435 Nr. 121–18, 245r-v ; das handschriftliche Bekenntnis ist nicht identisch mit der 1558 abgedruckten offiziellen, dem Kaiser überreichten Stellungnahme zum Interim: »Christliche j Bestenndige Bekenntnis j und abschlegige Antwort auffs Interim /j des Durchleuchtigsten Hochgebornen Fürsten und j Herrn / Herrn Johans Friderichen des Eldern /[….]«, Jena: Thomas Rewart 1558 (auch bei: Hortleder : Teutscher Krieg …., 717–719); vgl. zu diesem Text Daniel Gehrt, Kurfürst Johann Friedrich I. und die ernestinische Konfessionspolitik zwischen 1548 und 1580, in: Volker Leppin/Georg Schmidt/Sabine Wefers (Hrsg.), Johann Friedrich I. – der lutherische Kurfürst. (Schriften des Vereins für Refor-
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ist wohl auch auf eine der scheinbar weitestreichenden Aussagen Luthers zur Duldung Andersgläubiger anzuwenden. In der Schrift »Von der Wiedertaufe an zwei Pfarrherrn«84 schrieb er 1528: »Doch ists nicht recht, und ist mir warlich leid, das man solche elende leute so iemerlich ermordet, verbrennet und grewlich umbbringt, Man solt ia einen iglichen lassen gleuben, was er wolt, Gleubet er unrecht, so hat er gnug straffen an dem ewigen fewr ynn der hellen. Warumb wil man sie denn auch noch zeitlich martern, so ferne sie allein ym glauben yrren und nicht auch daneben auffrhurisch odder sonst der oeberkeit widderstreben? Lieber Gott, wie bald ists geschehen, das einer yrre wird und dem teuffel ynn strick fellet? Mit der schrifft und Gottes wort solt man yhn weren und widder stehen, Mit fewr wird man wenig ausrichten.«85
Der eigentliche Sinn wird erst durch den Kontext deutlich: Die unbekannten Adressaten waren offenbar altgläubige Pfarrer86, die mit dem Problem des Täufertums befasst waren, während Luther für das eigene Kurfürstentum freimütig bekannte, dass man »noch nichts von dem geschmeis solcher prediger« erfahren habe.87 Der Ratschlag zu Toleranz richtete sich also nicht an das eigene Lager, sondern an die Altgläubigen, und Ernst Thiele dürfte zu Recht vermuten, dass Luther hier von der Sorge geleitet war, es möchten sonst auch »Anhänger seiner Lehre« von Verfolgungen betroffen sein.88 Auf einen stärker prinzipiellen Ansatz zum Gewissen als Grenze der Obrigkeit weist Luthers Obrigkeitsschrift von 1523 hin. Sie wird üblicherweise – und zu Recht – als Grundlegung von Luthers Zwei-Reiche- oder Zwei-Regimente-Lehre gelesen, ist in ihrem Ansatz aber eine Schrift, in der eben dies: die Begrenzung
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mationsgeschichte 204) Gütersloh 2006, 307–326, 311f. Dieser sehr prinzipiell klingende Satz eines ehemaligen Regenten ist wohl weniger als theoretischer Ausdruck von dessen Herrschaftsverständnis zu lesen, in welchem, wie unten noch zu zeigen sein wird, durchaus Gewissenszwang vorkam, sondern hat schlicht mit der eigenen Bedrängnis zu tun, in welcher Johann Friedrich nach Argumenten zum eigenen Schutz suchte. Vor diesem Hintergrund ist es alles andere als erstaunlich, dass der Gedanke der Religionsfreiheit vor allem von Täufern vertreten wurde (s. Harold S. Bender, Täufer und Religionsfreiheit im 16. Jahrhundert, in: Lutz, Geschichte der Toleranz [wie Anm. 22], 111–134). Karl-Heinz zur Mühlen, Luthers Tauflehre und seine Stellung zu den Täufern, in: Helmar Junghans (Hrsg.), Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546. Festgabe zu seinem 500. Geburtstag. 2 Bde. Göttingen 1983, 119–138. 765–770, 129f, zeigt an dem Traktat erhellend auf, wie Luther die Täufer einerseits als eine Art Wiederkehr Müntzers deutete, andererseits, befangen vom gleichzeitigen Abendmahlsstreit, theologisch vorwiegend in die Nähe Zwinglis rückte. Luther, Von der Wiedertaufe (WA 26, 145, 22–146, 7). Angesichts dieser Aussagen scheint es vereinseitigend, wenn John S. Oyer, Lutheran Reformers against Anabaptists. Luther, Melanchthon and Menius and the Anabaptistis of Central Germany, The Hague 1964, 117, Luther eine »stiffly authoritarian and archly conservative« Haltung zuspricht. Luther, Von der Wiedertaufe (WA 26, 145, 16f). Ebd. (WA 26, 145, 11f). WA 26, 138.
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obrigkeitlichen Zugriffsrechts auf das Gewissen der einzelnen das Thema ist. So lautet schon die Überschrift: »Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei«.89 Den Anlass für diese im März 152390 veröffentlichte Schrift bildete ein mittlerweile verschollenes91 Buch des Freiherrn Johann von Schwarzenberg, auf welches Luther seinerseits mit einem Buch über die Frage des weltlichen Schwertes kritisch antworten wollte.92 Grundlage dieser Ausarbeitung waren zwei Predigten, die der Reformator am 24. und 25. Oktober in der Weimarer Schlosskirche hielt.93 Während insbesondere die zweite Predigt sich – dem Ort und Anlass gemäß – weitgehend auf einen traditionellen Fürstenspiegel konzentrierte94, ging Luther die Fragen der Obrigkeit und ihrer Grenzen im Traktat von 1523 grundsätzlicher an und griff erst im dritten Teil diese Aspekte des individuellen fürstlichen Verhaltens intensiver auf.95 Nur knapp sei daran erinnert, dass die Schrift von der Einteilung der Menschheit in zwei Reiche ausgeht: das »reych Gottis« und das »reych der welt«; zum ersteren gehören hiernach die Gläubigen96, zum anderen aber die, die nicht Christen sind.97 Da nun aber beide Reiche zwar im Angesicht Gottes unterschieden sind, in ihrer sozialen Existenzform aber untrennbar ineinander liegen, gilt für alle, Christen wie Nichtchristen, neben dem geistlichen Regiment, das die Glaubenden unter Christus versammelt, die Einsetzung des weltlichen Regiments, »wilchs den
89 WA 11, 245–281. 90 WA 11, 230. 91 S. Volker Mantey, Zwei Schwerter – Zwei Reiche. Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund. (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 26) Tübingen 2005, 236–241. 92 Luther an Johann Freiherr von Schwarzenberg am 21. September 1522 (WA B 2, 600f [Nr. 538, 24–26]). 93 WA 10/III, 371–379. 379–385. 94 S. insbesondere WA 10/III, 380–285. 95 Luther, Von weltlicher Oberkeit (WA 11, 271–280). 96 Ebd. (WA 11, 249, 24–27). 97 Ebd. (WA 11, 251, 1f). Gerade bei der Abgrenzung beider Reiche gegeneinander findet sich ein markanter Unterschied: In der ersten der beiden Weimarer Predigten hatte Luther sie in der Weise unterschieden, dass das weltliche Reich die Zeit des alten Bundes von Moses bis Jesus abgedeckt habe und unter dem Gesetz gestanden sei, Christus dies dann aber mit der Menschwerdung habe »lassen fallen« und das geistliche errichtet habe (WA 10/III, 371, 19–23). Zwar sei Christus auch Herr der Welt geblieben, habe hierfür aber nun die Fürsten beauftragt (ebd. 371, 24–26). Diese zeitliche Abfolge wie auch die den etwas undifferenzierten Gebrauch des Gesetzes hat Luther dann in der Obrigkeitsschrift zugunsten einer dialektischen Bezogenheit beider Reiche aufeinander aufgelöst und zugleich deutlich gemacht, dass die Verbindung von Reich der Welt und Gesetz letzteres allein so weit betrifft, wie es im politischen Gebrauch ist. Im theologischen Gebrauch bleibt es auch im Reich Christi Teil der Predigt, während Luther am 24. Oktober 1522 noch eine ausschließliche Predigt des Reiches Christi im Gegensatz zu den Gesetzen vertreten hatte (a. a. O. 372, 25–28).
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unchristen und boßen weret«.98 Hier also hat das Gesetz in seinem politischen Gebrauch, als Schranke des Bösen99, seinen Ort.100 Wegen dieser klaren Begrenzung ist es – so führt Luther im zweiten Teil der Obrigkeitsschrift aus – der Obrigkeit untersagt, jemanden mit Gewalt zum Glauben zwingen zu wollen. »Weil es denn eym iglichen auff seym gewissen ligt, wie er glewbt odder nicht glewbt, o und damit der welltlichen gewallt keyn abbruch geschiciht, sol sie auch zu friden seyyn und yhrs dings wartten und lassen glewben sonst oder so, wie man kann unnd will, und niemant mit gewallt dringen. Denn es ist eyn frey werck umb den glawben, datzu man niemandt kann zwingen. Ya es ist eyn gottlich werck ym geyst, schweyg denn das es eußerliche gewallt sollt erzwingen und schaffen.«101
Ausdrücklich wandte Luther sich gegen den Gedanken, Ketzerei durch die Obrigkeit untersagen zu wollen.102 Hier bewegte er sich also auf die Vorstellung einer weitreichenden Gewissensfreiheit zu – allerdings ist zum rechten Verständnis der Passagen die Situation zu beachten, in welcher er sich äußerte: Noch gab es kein evangelisches Territorium. Die Beispiele, die Luther zum negativen Erweise seiner Auffassung wählte, setzen mithin auch eine altgläubige Obrigkeit voraus, die die evangelische Bewegung illegitimerweise unterdrückt.103 Dem entspricht das feste Vertrauen auf Gottes Wort, das eben unter diesen misslichen Bedingungen zur Durchsetzung des rechten Glaubens führen soll. Die Vorstellung einer glaubensunterdrückenden evangelischen Obrigkeit ist noch nicht im Blick. 98 Luther, Von weltlicher Oberkeit (WA 11, 251, 12–21). 99 S. auch ebd. (WA 11, 250, 26–29). 100 Vgl. zu dem komplexen Zusammenhang neben der schon angeführten Arbeit von Mantey, Zwei Schwerter (wie Anm. 91); Paul Althaus, Luthers Lehre von den beiden Reichen im Feuer der Kritik, in: Heinz-Horst Schrey (Hrsg.), Reich Gottes und Welt. Die Lehre Luthers von den zwei Reichen. (Wege der Forschung 107) Darmstadt 1969, 105–141; Johannes Heckel, Lex charitatis. Eine juristische Untersuchung über das Recht in der Theologie Martin Luthers. (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. N. F. 36) München 1953; ders., Im Irrgarten der Zwei-ReicheLehre Luthers, in: Ders., Im Irrgarten der Zwei-Reiche-Lehre. Zwei Abhandlungen zum Reichs- und Kirchenbegriff Martin Luthers. (Theologische Existenz heute 55) München 1957, 3–39; Ulrich Duchrow, Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zwei-Reiche-Lehre, Stuttgart 21983; Volker Leppin, Grenzen und Möglichkeiten der Obrigkeit – Zu Entstehung und Kontext von Luthers Zwei-ReicheLehre, in: Irene Dingel/Christiane Tietz (Hrsg.), Die politische Aufgabe von Religion. Perspektiven der drei monotheistischen Religionen. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte 87) Göttingen 2011, 247–258. 101 Luther, Von weltlicher Oberkeit (WA 11, 264, 16–22); vgl. zur Bedeutung dieser Schrift für die Frage der Gewissensfreiheit Wappler, Inquisition (wie Anm. 1), 2. 102 Luther, Von weltlicher Oberkeit (WA 11, 268, 22f). 103 S. ebd. (WA 11, 267, 1–5. 14–16). Hierauf weist – trotz seiner klar erkennbaren apologetischen Absicht – durchaus zu Recht Lecler, Religionsfreiheit (wie Anm. 21), 237, hin.
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Die Hinweise für die Anhänger der eigenen Lehre bleiben allerdings dennoch bemerkenswert: Ausdrücklich soll sich ein evangelischer Christ der Konfiszierung evangelischer Bücher widersetzen und gegebenenfalls auch die Strafe an Haus und Besitz erdulden.104 Lässt sich diese Aussage als eine verallgemeinernde Erweiterung der beschriebenen Situation der Verteidigung der eigenen Position verstehen, so begibt Luther sich in derselben Schrift an einer anderen Stelle wieder ganz auf die Bahnen der von Gabriel Biel übernommenen und in Worms auf seine eigene Situation angewandten Lehre vom Gewissen als Grenze obrigkeitlichen Handelns. Im Zusammenhang des Kriegsfalls führt er den Gedanken eines möglichen Widerstands ein: Ausdrücklich sind Untertanen nicht verpflichtet, einem Oberherrn zu folgen, wenn er eindeutig nicht im Recht ist.105 Hier gilt der Vers Apg 5,29, nach dem man Gott mehr gehorchen muss als den Menschen106, auf den Luther selbst sich schon 1518 im Blick auf seine Auseinandersetzung mit Kardinal Cajetan berufen hatte.107 Wo sich die Untertanen aber über die Berechtigung des Vorhabens ihres Herrn nicht sicher sind, sind sie verpflichtet, ihm zu folgen108 und müssen keine Strafe Gottes befürchten, »wenn nur deyn gewissen unschuldig ist«.109 Die Obrigkeitslehre Luthers weiß also um den möglichen Konflikt zwischen dem vor Gott stehenden Gewissen und der Obrigkeit und entscheidet sich im harten Grenzfall für ersteres – freilich nicht generell im politischen Handeln, sondern lediglich in der definierten Situation des militärischen Konflikts. Damit wird auch diese Stelle nicht anachronistisch als Vorspiel der Neuzeit zu interpretieren sein. Vielmehr zeigt sich in ihr, dass Luther jene Auffassung teilte, die Ernst-Dieter Hehl als charakteristisch für die Kanonistik des hohen Mittelalters beschreibt: »Wie sehr die Theorien der Kanonisten die Konzentration der Herrschaft auf die Spitzen der staatlichen Organisation förderten und legitimierten, zeigt die Erörterung, ob und wann im Krieg dem Befehlshaber Gehorsam zu leisten sei. Zweifel, ob ein Befehl zum Kampf gerechtfertigt sei, entbanden nicht davon. Nur wenn der Befehl offensichtlich gegen Gott verstieß, war seine Erfüllung verboten.«110
Die angeführten Äußerungen Luthers lassen sich also weitgehend im Rahmen einer Eigenschutzlogik für den Reformator und seine Anhänger einerseits und einer schlichten Fortsetzung mittelalterlicher Maßnahmen andererseits interpretieren. 104 105 106 107 108 109 110
Luther, Von weltlicher Oberkeit (WA 11, 267, 1–11). Ebd. (WA 11, 277, 28–31). Ebd. (WA 11, 277, 30f). Luther, Acta Augustana (WA 2, 16, 11f). Luther, Von weltlicher Oberkeit (WA 11, 277, 32f). Ebd. (WA 11, 278, 10). Ernst-Dieter Hehl, Kirche, Krieg und Staatlichkeit im hohen Mittelalter, in: Werner Rösener (Hrsg.), Staat und Krieg. Vom Mittelalter bis zur Moderne. Göttingen 2000, 17–36, 34f.
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Nur scheinbar dehnt eine Äußerung des Jahres 1524 das Vertrauen in die Selbstdurchsetzung des göttlichen Wortes weiter aus: In seinem Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist Thomas Müntzer fiel Luthers bemerkenswerte Formulierung: »Man lasse die geyster auff eynander platzen und treffen«111 zusammen mit dem Hinweis, man solle nicht der Predigt wehren.112 Allerdings handelt es sich hier nicht wirklich um eine nach innen gewandte Forderung der Gewissensfreiheit.113 Denn für den konkreten Fall Müntzers hatte Luther zum Zeitpunkt der Niederschrift der wohl Ende Juli 1524 entstandenen Schrift114 offenkundig schon vom Sturm auf die Mallerbacher Kapelle am 24. März115 gehört, denn er klagte darüber, dass Müntzer seinen Geist e »mit kirchen und kloster zubrechen und heyligen verbrennen« beweisen wolle.116 Hiergegen richtete sich dann Luthers Mahnung in derselben Schrift, dass »alles mit dem wort Gottes ynn disen sachen gehandelt werde«.117 Müntzer selbst aber war nach Luthers Kenntnis schon über das Wort Gottes hinaus zur Tat mit der Faust geschritten118 – und in dieser Situation hatte die Obrigkeit Recht und Pflicht einzugreifen.119 Die Mahnung zu einem Kampf allein mit dem Wort, einem Aufeinanderplatzen der Geister war also rein theoretischer Natur – für den Fall Müntzer war Luther bereits zur Kontrolle durch die Obrigkeit übergegangen, die dann auch seine weiteren Ratschläge prägen sollte.
III.
Gewissenszwang gegen Dissidenten
Wie Luthers praktische Ratschläge liefen auch die faktischen rechtlichen Rahmenbedingungen im Sachsen der Reformationszeit keineswegs auf eine Freiheit des Gewissens hinaus. Das bekam schon in demselben Jahr, in dem Luther gemahnt hatte, die Geister aufeinander platzen zu lassen, Andreas Karlstadt zu 111 Luther, Brief an die Fürsten von dem aufrührischen Geist (WA 15, 219, 1f). 112 Ebd. (WA 15, 218, 17–20). 113 Insofern vereindeutigt die Aussage von Lecler, Religionsfreiheit (wie Anm. 21), 239, Luthers Aussage zeige »ein optimistisches Vertrauen in seine Sache« die konkrete Äußerung wohl zu sehr ; auch Marc Lienhard, Die Grenzen der Toleranz. Martin Luther und die Dissidenten seiner Zeit, in: Norbert Fischer/Marion Kobelt-Groch (Hrsg.), Außenseiter zwischen Mittelalter und Neuzeit. FS Hans-Jürgen Goertz. (Studies in Medieval and Reformation Thought 61) Leiden u. a. 1997, 127–134,128, suggeriert mit der isolierten Zitierung, als sei es Luther um eine rein auf das Wort bezogene Auseinandersetzung mit Müntzer gegangen. 114 WA 15, 203. 115 Walter Elliger, Thomas Müntzer. Leben und Werk. Göttingen 1975, 417–419. 116 Luther, Brief an die Fürsten von dem aufrührischen Geist (WA 15, 213, 14f). 117 Ebd. (WA 15, 221, 2f). 118 Ebd. (WA 15, 221, 4f). 119 Ebd. (WA 15, 219, 5–7).
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spüren, der in seiner Pfarrei Orlamünde gewiss nicht zu derart gewaltsamen Maßnahmen gegriffen hatte wie Müntzer : Zwar richtete sich Luthers Ratschlag an Johann Friedrich von Sachsen vom 22. September 1524 nur darauf, Karlstadt nicht mehr in Orlamünde tätig sein zu lassen120, aber dies stand im Rahmen von nun schon eingeleiteten Maßnahmen zu seiner Ausweisung aus Sachsen: schon am 18. September hatte Karlstadt den Befehl erhalten, das Land zu verlassen.121 Freilich ist zu bedenken, dass Luther hier gar nicht in den Sinn kam, Karlstadt um seines Gewissens Willen zu schonen, weil er in ihm vornehmlich den Aufrührer und Parteigänger des nun schon als »Mördergeist« diffamierten Müntzer sah.122 Die weitere, repressive Entwicklung soll im Folgenden anhand des Umgangs mit den Täufern dargelegt werden, da diese als abweichende christliche Gruppierung in den Bereich des klassischen Ketzerrechts fallen.123 Hier finden sich eine Fülle von Aussagen, in denen Luther die Obrigkeit aufforderte, Andersgläubige mit Strafmaßnahmen zu belangen. Zwar hat Luther, wie oben ausgeführt, zunächst auch gegenüber den Täufern eine gewisse Duldung für denkbar gehalten, doch änderte sich dies zusehends, je mehr die Täufer auch als akute Bedrohung im Kurfürstentum Sachsen wahrgenommen werden. So erklärte Luther in seiner Auslegung des 82. Psalms 1530:
120 Luther an Johann Friedrich von Sachsen, 22. 9. 1524 (WA.B 3, 353 [Nr. 778, 6–9]). 121 Hermann Barge, Andreas Bodenstein von Karlstadt. II. Teil: Karlstadt als Vorkämpfer des laienchristlichen Puritanismus. Leipzig 1905, 138. 122 Luther an Johann Friedrich von Sachsen, 22. 9. 1524 (WA.B 3, 353 [Nr. 778, 14]). 123 Der Umgang mit den Juden, auf den daher hier nicht eingegangen werden kann, stellt eine eigene rechtliche und theologische Kategorie dar. Zu den späten Judenschriften, in denen Luther zur Zerstörung der äußeren Grundlagen jüdischer Religionsausübung aufrief s. Thomas Kaufmann, Luthers »Judenschriften«. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung. Tübingen 2011; zu den Maßnahmen im Kurfürstentum Sachsen; s. [Carl August Hugo] Burkhardt, Die Judenverfolgungen im Kurfürstentum Sachsen von 1536 an, in: Theologische Studien und Kritiken 70, 1897, 593–598. Hinsichtlich der bekannten Entwicklung in Luthers Stellung zu den Juden griffe es in jedem Falle zu kurz, die spärlichen Hinweise am Ende der Schrift »Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei« aus dem Jahr 1523 im Sinne einer programmatischen Toleranz zu werten. Sie lauten: »Will man yhn helffen, so mus man nicht des Bapsts, sonder Christlicher liebe gesetz an yhn uben und sie freuntlich annehmen, mit lassen werben und erbeytten, da mit sie ursach und raum gewynnen, bey und umb uns tzu seyn, unser Christlich lere und leben tzu horen und sehen.« (Luther, Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei [WA 11, 336, 30–34]). Eine begrenzte Duldung von Juden war in den Städten des spätmittelalterlichen Reiches durchaus üblich (s. Michael Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich. München 32013, 50–55) – hier unterscheidet Luther sich allenfalls durch den Verzicht auf eine explizite zeitliche Beschränkung. Vor allem aber ist zu bedenken, dass dieser Ratschlag im Gesamtzusammenhang der Absicht dieser Schrift steht, »villeicht auch der Juden ettliche (…) tzum Christen glauben reytzen« zu wollen (Luther, Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei [WA 11, 314, 37f]).
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»Nu ist yhe die oberkeit schuldig die offentlichen lesterer zu straffen, als man die strafft, so sonst fluchen, schweren, schmehen, lestern, schelten, schenden, verleumbden & c.. Denn solche lerer schenden mit yhrem lestern Gottes namen und nemen dem nehisten seine ehre fuer der wellt.«124
Diese Strafforderung erhob er gegen die Täufer125 ebenso wie gegen alle, die leugneten, dass Christus für unsere Sünden gestorben sei.126 Freilich sollte man dies nicht vorschnell als Bruch mit früheren Positionen verstehen, denn Luther gibt dem Gedanken eine doppelte Regulierung: Zum einen geht es in diesem Zusammenhang um solche Glaubensartikel, die »klerlich ynn der schrifft gee grundet und ynn aller wellt geglaubt« werden.127 Eben im Blick auf solche klaren Einsichten hatte auch Biel und mit ihm Luther 1521 keineswegs Gewissensfreiheit eingeklagt, sondern diese lediglich auf Zweifelsfälle bezogen. Zudem definierte Luther den Rechtstatbestand um: von Ketzerei zu Lästerung.128 Diese Änderung ist deswegen bedeutsam, weil der Reformator damit den Umgang mit den Täufern und anderen Andersgläubigen aus dem Horizont kirchenrechtlicher Zusammenhänge herauslöste und in den weltlichen Bezugsrahmen einordnete. Dies entsprach dem Rechtsdenken der Zeit129, wie es sich wenig später in der 1532 beschlossenen Constitutio Criminalis Carolina zeigte. Diese kannte zwar in Art. 109 den Straftatbestand der Gotteslästerung130, nicht aber den der Ketzerei.131 Luther ordnete mithin den Umgang mit Andersgläubigen einem Rechtstatbestand zu, für welchen klar die weltliche Obrigkeit zuständig war, so dass sich 124 Luther, Der 82. Psalm ausgelegt (WA 31/1, 208, 18–21); vgl. Wappler, Inquisition (wie Anm. 1), 58f. 125 Luther, Der 82. Psalm ausgelegt (WA 31/1, 208, 16). 126 Ebd. (WA 31/1, 208, 21f). 127 Ebd. (WA 31/1, 208, 11f). 128 Ebd.: »Denn sie sind auch nicht schlecht allein ketzer, sondern offentliche lesterer« (WA 31/ 1, 208, 17f). Ähnlich argumentierte Luther bereits 1525 gegen die Duldung der Privatmesse (Luther, Vom Greuel der Stillmesse [WA 18, 36, 18–25]). Diese rechtliche Pointe ist Marc Lienhard, Luther und die Menschenrechte, in: Luther 48, 1977, 12–28, 24, entgangen, der stärker auf den Gedanken der öffentlichen Ordnung abhebt. Auch in seinem Referenztext, Luthers Schreiben an Spalatin vom 11. 11. 1525, werden aber die blasphemiae als Vergehen genannt (WA.B 3, 616 [Nr. 946, 31]); vgl. zu dieser rechtlichen Kategorialisierung Gottfried Seebaß, Luthers Stellung zur Verfolgung der Täufer und ihre Bedeutung für den deutschen Protestantismus, in: Ders., Die Reformation und ihre Außenseiter. Gesammelte Aufsätze und Vorträge, hrsg. v. Irene Dingel. Göttingen 1997, 267–282, 276f; Gury Schneider-Ludorff, Der fürstliche Reformator. Theologische Aspekte im Wirken Philipps von Hessen von der Homberger Synode bis zum Interim. (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 20) Leipzig 2006, 136f. 129 Vgl. hierzu allgemein Wappler, Inquisition (wie Anm. 1), 5. 130 Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. (Carolina), hrsg. v. Friedrich-Christian Schroeder, Stuttgart 2000, 71f. 131 Wilhelm Gottlieb Soldan, Geschichte der Hexenprozesse, Aus den Quellen dargestellt, Stuttgart/ Tübingen 1843, 289.
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hier gar nicht die Frage der religiösen Toleranz stellt. Wie sehr ihm an dieser Zuordnung lag, zeigt die bemühte Begründung, dass auch der Leugner der Erlösungsbedeutung des Todes Jesus eine »offentliche lesterung widder das Euangelion« anstelle.132 Auf dieser Linie bewegten sich nun auch die gutachterlichen Stellungnahmen zur Täuferfrage: Im Nachgang zum Schmalkaldischen Bundestag erstellte Melanchthon 1531 ein Gutachten zur Täuferfrage, dem sich auch Luther anschloss.133 Es begründete die Anwendung der Todesstrafe für Täufer zum einen mit deren aufrührerischen Lehren134, zum anderen aber auch, ganz im Sinne des Dargelegten, mit der blasphemia gegen das Wort Gottes.135 Bemerkenswert ist allerdings, dass hierbei das Kriterium der pertinacia, welches nach dem mittelalterlichen Kirchenrecht die Häresie vom Irrtum unterschied136, Anwendung fand137: Melanchthon war sich durchaus bewusst, dass die Verschiebung der Strafe zu bürgerlichen Rechtsnormen zwar eine Transformation des mittelalterlichen Ketzerrechts darstellte, dieses aber keineswegs gänzlich hinter sich ließ. Auf dieser Linie bewegte sich auch das Gutachten, das Luther, Caspar Cruciger, Bugenhagen und Melanchthon 1536 für Landgraf Philipp von Hessen verfassten. Gegen Philipps Bedenken138 betonten die Wittenberger : »Oberkeit straffet nicht von wegen der meinung und opinion im hertzen, sondern von wegen der euse serlichen unrechten rede und leer, da durch andere auch verfuret werden«, und schärften ein, dass der entscheidende Grund für den obrigkeitlichen Eingriff gegen die Täufer deren Aufruf zum Aufruhr sei.139 Damit war der Umgang mit 132 Luther, Der 82. Psalm ausgelegt (WA 31/1, 208, 24). 133 MBW.T 5, 39–43 (Nr. 1119); Luthers Zustimmung a. a. O. Z. 92 mit einem ausdrücklichen Zusatz zur Rechtfertigung der Todesstrafe trotz ihrer Grausamkeit ebd. Z 94–96. 134 MBW.T 5, 41 (Nr. 1119, 28–30). 135 MBW.T 5, 41 (Nr. 1119, 33). 136 C. 24 q. 3 c. 29 (CIC [Friedberg] I 998): »Dixit Apostolus: ›Hereticum hominem post primam et secundam correctionem deuita, quia subuersus est huiusmodi, et peccat, in semetipso dampnatus.‹ Sed qui sentenciam suam, quamuis falsam atque peruersam, nulla pertinaci animositate defendunt, presertim quam non audacia suae presumptionis pepererunt, sed a seductis atque in errorem lapsis parentibus acceperunt, querunt autem cauta sollicitudine ueritatem, corrigi parati, cum inuenerint, nequaquam sunt inter hereticos deputandi«. 137 MBW.T 5, 41 (Nr. 1119, 30). 138 S. hierzu Wappler, Inquisition (wie Anm. 1), 57, das Zitat aus dem Schreiben Philipps: »Wir können noch zur Zeit in unserm Gewissen nit finden, jemants des glaubens halber, wo wir nit sonst genugsam Ursach der verwirrung finden mögen, mit dem Schwerd richten zu lassen. Dann so es die meynung haben sollte, müssten wir keinen Judden, noch papisten, die Christen am höchsten blaßphemiren, bei uns dulden und sie dergestalt richten lassen«. Bemerkenswert ist diese Stellungnahme auch deswegen, weil Philipp sich das Argument der Gotteslästerung zwar zu eigen macht, es aber gerade nicht zur Grundlage strafenden Vorgehens nimmt; vgl. zu Philipps Position in dieser Frage Schneider-Ludorff, Der fürstliche Reformator (wie Anm. 129), 136–144. 139 Luther u. a., Dass weltliche Oberkeit den Wiedertäufern mit Strafe zu wehren schuldig sei (WA 50, 10, 34–11, 6).
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den Täufern klar aus dem Kontext potenzieller Gewissensfreiheit und ihrer Respektierung herausgenommen und in den Bereich obrigkeitlichen Zugriffs eingeordnet. Die Äußerungen in Luthers Auslegung des 82. Psalms zeigen, dass dies mit anderen Argumentationsmustern prinzipiell auch für den Umgang mit dem alten Glauben galt, der als Blasphemie unter kaiserlich-obrigkeitliches Recht fiel. Dem entsprach auch die Gesetzgebung in Sachsen. Schon die erste Instruktion der Visitatoren vom 16. Juni 1527 sah als Idealbild für das Kurfürstentum die Befragung (›inquisition‹) von Pfarrern wie Gemeindegliedern vor. Die Maßgabe der Regelung war schon hier die Vermeidung von Aufruhr.140 Wer sich hartnäckig nicht dem allgemeinen Landesglauben anschließen wollte, musste mit Landesverweisung141 rechnen. Im folgenden Jahr, am 24. Februar 1528, wurde ein Mandat erlassen, das unter Strafandrohung dazu aufforderte, Täufer und Verächter des Altarsakraments anzuzeigen, damit sie ins Gefängnis geworfen und von den kurfürstlichen Behörden belangt werden konnten.142 So wurde ein flächendeckendes Netz der Täuferverfolgung geschaffen. Am 10. April 1536 erneuerte Johann Friedrich diesen Befehl seines Vaters und drohte nun klar die Todesstrafe an.143 Dass er sich auf der Linie der bisherigen Argumentation befand, also das weltliche Vergehen in den Vordergrund stellte, zeigte nicht allein die Berufung auf »Keiserliche vnd des Reichs Constitution«144, sondern auch die Reihenfolge der monierten Falschlehren: Die ersten fünf betrafen das allgemeine bürgerliche Leben (Verzicht auf weltliche Ämter, Leugnung der Obrigkeit, Eidverweigerung, Kritik an Privatbesitz, Auflösung der Ehen zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden), erst die folgenden drei, unter der eigenen Überschrift »Von der Tauff«, dann die Fragen der Kindertaufe.145 Die Verurteilung und 140 Instruction und befelch dorauf die visitatores abgefertiget sein: »Dann, wie wol unser meinung nit ist, jemandts zuvorpinden, was er halten ader glauben sol, so wollen wir doch zuvorhutung schedlicher aufrur und ander unrichtigkait kein secten nach trenung in unsern furstenthumben und landen wissen nach gedulden« (Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, hrsg. v. Emil Sehling. Bd. 1: Sachsen und Thüringen nebst angrenzenden Gebieten. 1. Halbbd. Leipzig 1902,144). 141 Instruction und befelch dorauf die visitatores abgefertiget sein (Die evangelischen Kirchenordnungen 1 [wie Anm. 140], 144). 142 Gedruckt bei Wappler, Inquisition (wie Anm. 1), 164f. Hierbei handelte es sich offenbar um die sächsische Umsetzung des Wiedertäufermandats Karls V. vom 4. Januar 1528, das zu eben solchen einzelnen Mandaten aufforderte (abgedruckt in: Paul Wappler [Hrsg.], Die Täuferbewegung in Thüringen von 1526–1584. [Beiträge zur neueren Geschichte Thüringens 2] Jena 1913, 268f [Nr. 15]; vgl. auch den Aufruf Herzog Georgs vom 21. 1. 1528 zur Rüstung gegen die Täufer ebd. 273f [Nr. 17]). 143 Das Mandat ist abgedruckt in Wappler, Inquisition (wie Anm. 1), 181–183, die Todesstrafe ebd. 182 benannt. 144 Mandat wider die Widertäufer, Sakramentierer und Schwirmer vom 10. April 1536 (Wappler, Inquisition [wie Anm. 1], 182). 145 Ebd.
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Hinrichtung von Angehörigen dieser Bewegung folgte damit nach dem Verständnis dieser Ordnung zwar den Erkenntnissen aus der Schrift146, waren aber darin im Sinne der von Luther begründeten Legitimationsstrategie als »Gotteslesterliche …artikel« bestimmt147, so dass sie klar unter weltliches Recht fielen. ***
Die Wittenberger Reformation kann allenfalls retrospektiv in die Vorgeschichte der Gewissensfreiheit eingeordnet werden148 : Insbesondere der Reichstag von Worms konnte zum Anlass genommen werden, Gewissensfreiheit als Gut schon der Reformation zu reklamieren. Die historischen Prozesse selbst waren um vieles komplexer. Zunächst wird man festhalten müssen, dass die Hypostasierung des Ereignisses von Worms aus dem kulturellen und weitgehend auch dem wissenschaftlichen Gedächtnis nahezu vollständig verdrängt hat, dass Luther sich mit seiner Berufung auf die Gewissensbindung mit großer Selbstverständlichkeit innerhalb des spätmittelalterlichen Diskurses befand. Wohl weniger strittig ist der Hinweis darauf, dass die Reformation für Andersgläubige keine Gewissensfreiheit brachte. Theologische Bedenken konnten hier durch Definitionsprozesse, welche Häresie als weltlichen Straftatbestand, sei es Blasphemie oder Aufruhr, verstehen ließen, überwunden werden. So wurde der Umgang mit Täufern paradigmatisch für den Übergang der Reformation in die sich konfessionalisierende Gesellschaft, in welcher die Freiräume kleiner und die Gewissenszwänge größer wurden, als sie im Mittelalter jemals gewesen waren.
146 Ebd.: »jrrige artikel der Widderteuffer / wider klare und helle Göttliche schrifft«. 147 Ebd. 148 Dies geschah schon im 16. Jahrhundert: Sebastian Castellio stellte den zweiten Teil der Obrigkeitsschrift an den Anfang seiner Sammlung von Autoritäten gegen den Glaubenszwang (de j haereticis, an sint persequen-j di, et omnino quomo-j do sit cum eis agendum, multorumj tum veterum, tum recentio-j rum sententiae, Straßburg: Johannes Karl 1610, 28ff); Lienhard, Die Grenzen der Toleranz (wie Anm. 113), 130f, verweist darauf, dass sich einzelne Täufer auf Luthers früher Position berufen haben, um Gewissensfreiheit zu erlangen. Zu der Position des Johannes Brenz, die Castellio auch intensiv rezipiert hat, s. Gottfried Seebaß, An sint persequendi haeretici? Die Stellung des Johannes Brenz zur Verfolgung und Bestrafung der Täufer, in: ders., Reformation und Außenseiter (wie Anm. 128), 283–335.
Christopher Voigt-Goy
»Gewissen« im Protestantismus des 16./17. Jahrhunderts
Abstract Der Aufsatz legt Grundlinien der Entwicklung des Gewissensbegriffs im lutherischen und puritanischen Protestantismus des 16. und 17. Jahrhunderts dar. Ausgangspunkt ist die von Philipp Melanchthon vorgenommene Begriffsprägung des »guten Gewissens«, die mit seiner Lehre vom »dritten Gebrauch des Gesetzes« verbunden ist. Anhand der Positionen von William Perkins und Johann Conrad Dannhauer wird die vermögenspsychologische, in den Spuren der mittelalterlichen Scholastik erfolgende Differenzierung des Gewissensbegriffs skizziert. Zum Schluss wird mit Blick auf Richard Baxters Christian Directory (1672/3) der Übergang von einer an der Sprache der Gnade orientierten Gewissenstheorie zu einer Gewissenstheorie umrissen, die ihre Semantiken aus dem Bereich des Gefühls und des Sinns entnimmt. In dieser Entwicklung wird, so die abschließende These, durchgängig der Anspruch auf die Gestaltung der Welt durch die Christen legitimiert, die ein »starkes Gewissen« haben. Schlagworte Gewissen, Ethik, Kasuistik
Die Zu- und Aneignung der göttlichen Gnade geschieht allein im und durch den Glauben, der im Gewissen wirklich wird. Das stand für Luther in seiner Hebräerbriefvorlesung in den Jahren 1517/18 nach einem bis in die frühesten Vorlesungen zurückreichenden Denk- und Klärungsprozess fest: Dass Gott die Sünden vergibt, Gnade verleiht und Herrlichkeit schenkt »ist das Zeugnis unseres Gewissens, weil der Geist Gottes unserem Geist erweist, wovon der Apostel sagt: Unsere Herrlichkeit, das ist das Zeugnis unseres Gewissens (2. Kor 1, 12)«.1 Zeitgleich attackierte Luther im Ablassstreit die Vorstellung, dass das unmittelbare Gotterleben im Gewissen durch äußere Einflussnahmen bewirkt werden könne; etwa durch die sakramentale Kraft, die dem Priester durch seine potestas ordinis eigen sei, oder durch die der Papstkirche zugeschriebene potestas jurisdictionis in foro interiori. In seiner sechsten von insgesamt 95 Thesen hält 1 WA 57/III, 169.
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Luther fest: »Der Papst kann keine Schuld vergeben, außer indem er die Vergebung durch Gott verkündet und bestätigt«.2 Luthers Eintritt in eine breitere Öffentlichkeit ist für die Geschichte des protestantischen Gewissensverständnisses und -begriffs in zweifacher Hinsicht von Bedeutung: Erstens begann mit dem Ablassstreit ein Prozess, in welchem Luther das gläubige Gewissen in immer deutlicheren Gegensatz zu den Objektivitätsanmutungen der Papstkirche und ihrer Heilsmittel brachte, bis er es schließlich davon ablöste.3 Eine – wenn man so will – sakramental garantierte Hintergrunderfüllung des heilssuchenden Gewissens war damit ersatzlos aufgegeben. Zweitens hat Luther in den Schriften, die seit dem Ablassstreit erschienen, nicht nachgeholt, was schon seine frühen Schriften vermissen ließen, nämlich die Formulierung einer systematisch einigermaßen geschlossenen und dann auch werkgeschichtlich so bleibenden ›Gewissenslehre‹. Ohnehin kein Freund dogmatischer Stillleben hat Luther sein Gewissensverständnis in immer wieder neuen Anläufen in ständig sich ändernden Situationen artikuliert, und er hat sich dabei oft in freier Art und Weise begrifflicher und metaphorischer Versatzstücke aus der scholastischen und frömmigkeitstheologischen Tradition bedient.4 Eine für den werdenden Protestantismus unmittelbare begriffsgeschichtliche Wirkung ist hiervon nicht ausgegangen. Es war vielmehr Philipp Melanchthon, welcher der folgenden Diskussion über den Gewissensbegriff den Weg wies. Im ersten Teil werde ich die von Melanchthon formulierte folgenreiche Problem- und Begriffskonstellation umreißen, die um das »gute Gewissen« (bona conscientia) kreist. Daran schließe ich die Skizze von zwei Weichenstellungen an, welche die Begriffsgeschichte des protestantischen Gewissens vom Ende des 16. Jahrhunderts bis in das letzte Drittel des 17. Jahrhunderts hinein prägten. Sie sind der Gewissenskasuistik bzw. der Moraltheologie entnommen, die sich im englischen ›Puritanismus‹ und in der lutherischen ›Orthodoxie‹ entwickelte.5 2 WA 1, 233. 3 Vgl. dazu Christopher Voigt-Goy, Potestates und Ministerium Publicum. Eine Studie zur Amtstheologie im Mittelalter und bei Martin Luther. (SMHR 78) Tübingen 2014, 109–122. 4 Vgl. den Beitrag von Volker Leppin in diesem Band. 5 Eine neuere Studie zur Geschichte des protestantischen Gewissensbegriffs in der Frühen Neuzeit gibt es nicht, trotz der Arbeit von Heinz Dieter Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt 1995. Freilich enthält diese Arbeit viele wichtige Hinweise, justiert aber schon ihre Ausgangsfrage für die Frühe Neuzeit unter jeglicher Absehung von Melanchthon und hebt ganz auf Luthers begriffsgeschichtliche Bedeutung ab (ebd., 167–175), woraus dann – durchaus folgerichtig – ein herber Kontrast zwischen Luther und der lutherischen »Orthodoxie« in kritischer Absicht konstatiert werden kann; die englischen Theologen kommen bei Kittsteiner nicht vor. Weitere wichtige Hinweise und Darstellungen enthalten die älteren Arbeiten von Wilhelm Gass, Die Lehre vom Gewissen. Ein Beitrag zur Ethik. Berlin 1869; ders., Geschichte der christlichen Ethik. Zweiter Band: Bis zur Gegenwart. Berlin 1886; Christian Ernst Luthardt, Geschichte der christlichen Ethik. Zweite Hälfte: Geschichte
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I.
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Bona conscientia
Der Begriff bona conscientia tritt bei Melanchthon ab den 1530er Jahren allmählich in den Vordergrund und wird bis zur tertia aetas von Melanchthons Loci communes in den 1550er Jahren beibehalten. Mit ihm versucht Melanchthon die moralischen Folgen der religiösen Gewissenserfahrung für den Gläubigen einzufangen. Die Einführung des Begriffs mit seiner sittlichen Perspektivierung des christlichen Lebens ist neben inneren Entwicklungen, die vor allem in der Neubewertung des Naturrechts seit der Mitte der 1520er Jahre zu erblicken sind,6 durch äußere Anlässe motiviert gewesen: Im Zug der kirchlichen Konsolidierung der Wittenberger Reformation war es zu Streitigkeiten darüber gekommen, ob die Predigt des Gesetzes Gottes, das die Sünde des Menschen offenlegt und deren gerechte Bestrafung anzeigt, überhaupt einen Platz in der neuen Kirche habe.7 Das Proprium der Predigt des Wortes Gottes sei nämlich, wie vor allem Johannes Agricola betonte, das Evangelium, durch das Gott die Sünde vergibt und das Gesetz aufhebt. Fragen der moralischen Lebensführung, wie sie hervorgehoben im Dekalog als dem Ausdruck des göttlichen Gesetzes niedergelegt sind, gehörten – wie Luther diese Position polemisch pointiert zusammenfasste – »aufs Rathaus, nicht auf den Predigtstuhl«.8 Eine so scharfe, bald ›antinomistisch‹ genannte Trennung von Gesetz und Evangelium rief bei Melanchthon Widerspruch hervor. Der betraf nicht den Umstand, dass das Gesetz auf das Rathaus gehöre. Für Melanchthon war ja die politische Obrigkeit eine der Instanzen, welche die äußere Einhaltung des Gesetzes, darunter die Gebote der zweiten Tafel des Dekalogs, notfalls mit Zwang durchzusetzen hat (usus civilis legis oder usus politicus). Es war vielmehr die Verabschiedung des usus theologicus, die Melanchthon zum Widerspruch drängte:9 Denn in der Konfrontation mit dem Gesetz, das die völlige Unzu-
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7 8 9
der christlichen Ethik seit der Reformation. Leipzig 1888; Ottmar Dittrich, Geschichte der Ethik, Bd. 4. Leipzig 1932. Zum Forschungsstand der gegenwärtigen englischsprachigen Debatte vgl. die Literaturhinweise bei Christopher Voigt-Goy, William Perkins und die Anfänge der protestantischen Gewissenskasuistik, in: Stefanie Frost/Ute Mennecke/Jorg Christian Salzmann (Hrsg.), Streit um die Wahrheit. Kirchengeschichtsschreibung und Theologie. Göttingen 2014, 245–264. Vgl. dazu Christoph Strohm, Zugänge zum Naturrecht bei Melanchthon, in: Günter Frank (Hrsg.), Der Theologe Melanchthon. (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten, Bd. 5) Stuttgart 2000, 339–356. Zur Entwicklung Melanchthons in den 1520er und 1530er Jahren vgl. Nicole Korupka, Philipp Melanchthon: Wissenschaft und Gesellschaft. Ein Gelehrter im Dienst der Kirche (1526–1532). Tübingen 2002 (SuR 21). Siehe dazu Timothy Wengert, Law and Gospel. Philip Melanchthon’s Debate with John Agricola of Eisleben over Poenitentia. Grand Rapids, 1997. WA 39/I, 374. Vgl. zum Folgenden die detaillierten Analysen von Rolf Schäfer, Christologie und Sittlichkeit in Melanchthons frühen Loci. Tübingen 1961 (BHTh 29), bes. 30–59 und 101–109; sowie
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länglichkeit aufdeckt, Gott in irgendeiner Form gefallen zu können, hebt die conversio des Menschen an. Der Ort an dem das geschieht ist, wie Melanchthon schon in seinen Loci von 1521 darlegte, das Gewissen: Es wird durch die Gesetzesdrohung in Angst und Schrecken versetzt. Mit der affektiven Erkenntnis der eigenen Sündenschuld wird der Mensch in seiner verzweifelnden Suche nach Rettung auf Christus und seine Sündenvergebung hingeführt. Der usus theologicus legis oder usus elenchticus ist also bei Melanchthon geradewegs auf das Evangelium bzw. dessen Verkündigung hin ausgerichtet. Hierdurch wird die conversio zu ihrem Ziel gebracht. Das besteht in dem im Gewissen stattfindenden Umschlag, der die affektive Erkenntnis der eigenen Sündenschuld in die affektive Erkenntnis der Vergebung dieser Sündenschuld durch Gott verwandelt: Aus Angst und Schrecken wird Trost, Freude und Frieden. Der eigentliche Autor der Gewissensaffekte und deren Umschlag ist aber nicht der Mensch, sondern der Geist und Wille Gottes, der im Gewissen Gericht über den Menschen hält wie er ihm Gnade schenkt. In diesem Gedankengang Melanchthons ist das Gewissen als rein passives, empfangendes konzipiert. Für den Menschen stellt das nur im Affekt erfahrene Gewissen eine Art inneres Sensorium dar, das dem Menschen Gottes Urteil über ihn anzeigt. Beide affektiven Zustände, also das unmittelbare Gotterleiden wie der unmittelbare Friede mit Gott, sind dabei gleich wichtig. Eine scharfe Trennung von Gesetz und Evangelium kommt für Melanchthon, und das ist sein Haupteinwand gegen Agricola, einer falschen Vorstellung der conversio gleich. Jedoch bleibt Melanchthon im Konflikt mit Agricola nicht bei der Wiederholung seiner Loci von 1521 stehen, da er einem möglichen Missverständnis wehren will. Dieses Missverständnis wäre, dass das Gesetz nach der conversio für den Menschen keine Bedeutung mehr habe, da ja durch die Gnade Gottes das Gesetz für ihn aufgehoben und zerstört worden ist. Gegen diese Vorstellung führt Melanchthon nun in der zweiten Ausgabe seiner Loci den tertius usus legis ein, der auch usus in renatis genannt wird.10 Melanchthons Ausführungen zu diesem Gebrauch des Gesetzes bleiben allerdings doppeldeutig. Denn einmal kann Melanchthon damit nicht mehr meinen, als dass der Mensch auch nach der conversio auf das Gesetz angewiesen bleibt, da er der Sünde nicht völlig entwachsen ist. Der usus politicus und der usus theologicus legis dienen dem Wiedergeborenen nun zur Abtötung der in ihm verbliebenen Sündenreste. In diesem Sinn ist der tertius usus eigentlich kein eigener Gebrauch des Gesetzes. Jedoch kann Melanchthon sodann eine weitergehende These mit dem tertius usus verbinden. Sie lautet, dass das Gesetz dem ausführlich Wolfgang Matz, Der befreite Mensch. Die Willenslehre in der Theologie Philipp Melanchthon. Göttingen 2001 (FKDG 81). 10 Siehe Wengert, Law and Gospel (wie Anm. 7), 191–210.
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Wiedergeborenen den Weg der Heiligung der eigenen Lebensführung im neuen Gehorsam (nova oboedientia) weist, auf dem er Gottes Willen auch tatsächlich im Handeln erfüllt, also bona opera vollbringt. Und die Richtschnur dieses Wandels im neuen Gehorsam ist die bona conscientia, die dem Gläubigen anzeigt, ob seine Lebensführung dem Willen Gottes entspricht.11 Wie in den beiden anderen Gebrauchsfällen des Gesetzes ist damit das Gewissen als passiv-empfangende Urteilsinstanz des göttlichen Willens bestimmt. Als eine eigenständige Instanz der moralischen Handlungsorientierung wird das Gewissen von Melanchthon also nicht verstanden. Auch für den Wiedergeborenen konstituiert sich die sittliche Lebensführung wie für den natürlichen, sündhaften Menschen in dem Zusammenspiel von rationaler Erkenntnis des Naturgesetzes und einer daran ausgerichteten habituellen Prägung des Willens. Freilich gehören hier die Affekte als handlungsleitende bzw. -hemmende Faktoren mit dazu.12 Nur das Urteil Gottes über den eigenen sittlichen Lebenswandel bleibt dem natürlichen Menschen verschlossen, während es den Wiedergeborenen in allen seinen Handlungen begleitet. Konsequenterweise spielt der Gewissensbegriff – habe ich nichts Wesentliches übersehen – in der Moralphilosophie Melanchthons keine tragende Rolle. Umso erstaunlicher mutet es deshalb an, dass Melanchthon an jeder näheren Analyse der bona conscientia kein Interesse zeigte. Das behinderte die Rezeption des Begriffs nicht. Der tertius usus legis war mit dem von Melanchthon aufgespannten Begriffsgeflecht von nova oboedientia, bona opera und bona conscientia eine den Protestantismus europaweit prägende Vorstellung. Mit der Confessio Helvetica posterior13 und der Konkordienformel14 ist sie sogar in zentrale Bekenntnistexte des 16. Jahrhunderts eingegangen. Dies wiederum erhöhte zweifelsohne den Klärungsbedarf, wie der Begriff der bona conscientia näher zu verstehen ist und – vor allem – von was er abzusetzen ist. Seit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts griffen die protestantischen Theologen zur Analyse des »guten Gewissens« ebenso vermehrt auf die scholastische Tradition der Moraltheologie und ihren Gewissensbegriff zurück, wie sie deren zeitgenössische Fortbildung im werdenden tridentinischen Katholi-
11 CR 21, 308–311. 12 Vgl. zur Bedeutung der Affekte für Melanchthons Ethik Henning Ziebritzki, Tugend und Affekt: Ansatz, Aufriß und Problematik von Melanchthons Tugendethik, dargestellt anhand der »Ethicae doctrinae elementa« von 1550, in: Frank (Hrsg.), Der Theologe Melanchthon (wie Anm. 6), 357–373. 13 Emidio Campi (Hrsg.), Confessio Helvetica Posterior, in: Reformierte Bekenntnisschriften. Bd. 2,2: 1562–1569. Neukirchen-Vluyn 2009, 243–345, hier Kapitel 14 und 15. 14 Irene Dingel (Hrsg.), Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche (BSELK), Göttingen 2014, 1442–1453 (Art. 6).
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zismus aufmerksam verfolgten.15 Diese Entwicklung hatte Melanchthon ebenfalls vorbereitet, wenn er auch selbst kein aktiv-produktives Verhältnis zur scholastischen Tradition ausbildete. An zwei Stellen seines Werkes, einer kurzen Bemerkung in seinem Kommentar zu Aristoteles’ De Anima16 und einer Lehrdefinition im Anhang zur dritten Ausgabe der Loci17, hat Melanchthon auf sie hingewiesen. Diesen Stellen ist aber nicht mehr zu entnehmen, als dass Melanchthon meint, dass man das von ihm Gesagte wohl auch mithilfe solcher scholastischen Terminologien ausdrücken könne. Die um 1600 ansetzende Gewissensanatomie ist diesem Hinweis Melanchthons nachgegangen.
II.
Gewissensanatomie
Im Jahr 1603 erschien in Basel eine Schrift mit dem Titel Anatomia sacra humana Conscientia.18 Hierbei handelte es sich um die lateinische Übersetzung des Discourse of Conscience, den der Startheologe des englischen ›Puritanismus‹, William Perkins, 1596 veröffentlicht hatte.19 Die lateinische Titelwahl ist aufschlussreich. Denn im frühen 17. Jahrhundert wurde unter »Anatomie« eine hermeneutische Haltung verstanden, nach der man ein Buch bzw. einen Text ebenso zu sezieren habe, wie ein Arzt den Körper, um ihn zu verstehen.20 Perkins’ Umgang mit dem Gewissen entspricht dieser Perspektive. Es ist eine Gewissensanatomie in pastoraltheologisch-seelsorgerlicher Absicht, welche der Prediger von Great St. Andrews in Cambridge entwirft, und die ein ganzes Tableau von Gewissensarten hervorbringt. Das »Gewissen« versteht Perkins dabei als ein Verstand und Wille umgreifendes Vermögen, das in zwei Funktionen besteht: Erstens rechnet die conscientia als ›Mitwissen‹ die Gedanken, Willensregungen und Handlungen dem Menschen als je seine eigenen zu. Zweitens beurteilt das Gewissen die Gedanken, Willensregungen und Handlungen als ›wahr‹ und ›falsch‹ (theoretical under15 Vgl. zu diesen, vor allem durch die Jesuiten angestoßenen Debatten Albert R. Jonsen/Stephen Toulmin, The Abuse of Casuistry. A History of Moral Reasoning, Berkley 1988, bes. 146–175. 16 MStA III, 337. 17 MStA II/2, 790f. 18 William Perkins, Anatomia Sacra Humanae Conscientiae … Qua ipsius Natura, Proprietates, ac Differentiae dextre poduntur, cum curandi conservandiq[ue] genuina Methodo: Ex Fonte Anglico, Basel 1603. 19 William Perkins, A discourse of conscience: wherein is set downe the nature, properties, and differences thereof: as also the way to get and keepe good conscience, Cambridge: Iohn Legate 1596. Vgl. dazu Voigt-Goy, William Perkins (wie Anm. 5). 20 Die Geschichte dieser hermeneutischen Haltung hat differenziert analysiert Lutz Danneberg, Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers. Das Lesen im liber naturalis und supernaturalis. (Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit Bd. 3) Berlin/ New York 2003.
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standing) bzw. ›gut‹ und ›böse‹ (practical understanding). Damit hat Perkins fast vollständig den vermögenspsychologischen Gewissensbegriff der Scholastik aufgenommen; er erwähnt auch ausdrücklich Thomas von Aquin.21 Allein die seit dem Hohen Mittelalter wichtige, auf einem Abschreibefehler der Spätantike beruhende Gewissensfunktion der syntheresis, womit eine grundsätzliche affektiv-voluntative Neigung des Menschen zum Guten bezeichnet wurde, kommt bei ihm nicht vor. Eine eigenständige, aus ihm selbst entspringende Handlungsorientierung ist dem Gewissen nämlich nach Perkins nicht möglich, da es durch die Sünde so verderbt ist, dass es auf äußere Gesetze angewiesen bleibt: Von der Offenbarung der Göttlichen Gebote in den Schriften des Alten und Neuen Testaments als Quelle aller Gesetze angefangen bis hin zu den Verordnungen der politischen Obrigkeit.22 Gleichwohl ist das Gewissen bei Perkins kein rein passiv-empfangendes, sondern eben ein Urteil über die Handlung des Menschen gebendes, über bereits geschehene Handlungen wie über zukünftige. Das Urteil des Gewissens entspringt einer rational-affektiven Gemengelage. Mit Bezug auf bereits geschehene Handlungen besteht das Urteil in Anklage und Verdammung einerseits, Verzeihung und Vergebung andererseits. Die rationale Komponente des Urteils ist die durch ein syllogistisches Schlussverfahren festgestellte Inkongruenz bzw. Kongruenz der Handlung mit der vorgegebenen Norm; ich komme später noch einmal auf diesen syllogismus practicus zurück. Die affektive Komponente besteht darin, dass die Inkongruenz bzw. Kongruenz der Handlung mit der vorgegebenen Norm vom Menschen als Scham, Traurigkeit und Furcht, als Mut, Zuversicht und Freude erfahren wird.23 Soweit das Gewissen und die vergangenen Handlungen. Mit Bezug auf die zukünftigen Handlungen sieht das deutlich anders aus. Hier zeigt das Gewissen nur an, dass eine Handlung entweder gut oder schlecht werden kann. Deshalb bleibt hier faktisch nicht mehr übrig, als mit Mut, Zuversicht und Freude ans Werk zu gehen.24 Nach diesen Zergliederungen beginnt Perkins’ Gewissensanatomie im eigentlichen Sinn, die in der Unterscheidung von verschiedenen Gewissensarten besteht. Sie entspinnt sich allerdings nicht entlang der möglichen internen Spannungen der erwähnten rational-affektiven Urteilsstruktur. Vielmehr will Perkins mit den Gewissensarten darlegen, welches Gewissen überhaupt zu einer guten Handlung fähig ist und so letztendlich Gottes Willen erfüllt; die moralischen Fähigkeiten des natürlichen Menschen interessieren Perkins nicht. Perkins’ Ergebnis ist daher auch wenig überraschend: Ein dem Willen Gottes ent21 22 23 24
Perkins, A discourse (wie Anm. 19), 1f. Ebd., 6–83. Ebd., 83–89. Ebd., 89–95.
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sprechendes »gutes Gewissen« war dem Menschen vor dem Sündenfall gegeben und ist es nach erfolgter Wiedergeburt in der conscience regenerate.25 Sie weist dem Menschen den Weg der new obedience, den er in der Erfüllung von good works beschreitet.26 Alle anderen Arten des Gewissens fallen unter die Kategorie des »bösen Gewissens«, der evil conscience.27 Es tritt einmal in der Form des »toten Gewissens« auf, welche aus Vernunft- oder Hirndefekten, unkontrollierbarer Gewalt der Affekte und Ignoranz gegenüber Gottes Willen entspringt. Seine Grade sind das betäubte und ausgetrocknete Gewissen.28 Die andere Form des »bösen Gewissens« ist das übermäßig geschäftige, das als Ausdruck des fleischlichen Menschen ein rein fleischliches ist und bleibt. Es ist gleichwohl besonders grausam, weil es seine eigenen Defekte bemerkt und an ihnen leidet, ohne Aussicht auf Besserung.29 Letztlich bleiben also die Gewissensarten bei Perkins rein dogmatisch gesetzte Kategorien. Jedoch hat Perkins bei allen gedanklichen Grobheiten, die ihm die Feder führten, mit dem Discourse of Conscience einen weithin beachteten Versuch zur Analyse des Gewissens vorgelegt. Zusammen mit dem später, 1603 postum erschienenen Treatise of the Cases of Conscience30, die bereits 1609 ins Lateinische übersetzt wurde31, welcher die materialethische Durchführung seines Gewissensprogramms enthält, hat Perkins wichtige Impulse gegeben. Besonders folgenreich war Perkins’ Verknüpfung von vermögens- und moralpsychologischen Motiven. Sie hat in Aufnahme und Verfeinerung von Perkins’ Überlegungen auch das Konkordienluthertum geprägt. Die Gewissensanatomie wird hier im Verlauf des 17. Jahrhunderts in vollem Umfang ausgeschöpft und dann auch erschöpft. Nach den Vorarbeiten der Wittenberger Theologen Balthasar Meisner32 und Friedrich Balduin33, denen schnell eine kaum überschau25 26 27 28 29 30
Ebd., 96f. Vgl. nur ebd., 144–147. Ebd., 149. Ebd., 151–153. Ebd., 154–156. William Perkins, The first part of The cases of conscience. Wherein specially, three maine questions concerning man, simply considered in himselfe, are propounded and resolued, according to the word of God. Taught and deliuered, by M. William Perkins in his Holy-day lectures, by himselfe revised before his death, and now published for the benefit of the Church. Cambridge 1604. 31 William Perkins, Aureæ Casuum Conscientiae Decisiones: Tribus Libris comprehensæ / Primo nunc recens ex lingua Anglica in Latinam conversæ, & cum reliquis eiusdem Authoris scriptis diligenter collatæ, ac magna acceßione locupletatæ: Opera & studio Wolgangi Mayeri In Evangelii dispensatione Ministri. 3 Bde. Basileae 1609. 32 Balthasar Meisner, Dissertatio de summo bono. Wittenbergae 1614. 33 Friedrich Balduin, Tractatus Luculentus, Posthumus, Toti Reipublicae Christianae Utilissimus, De Materia rarissime antehac enucleata, Casibus nimirum Conscientiae. Wittenbergae 1654 (zuerst 1628).
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bare Menge an Gewissenstraktaten und Gewissenskasuistiken folgte34, stellen die Überlegungen des Straßburger Theologen Johann Konrad Dannhauer (1603–1666) so eine Art Summe der lutherischen Bemühungen dar. Dannhauers Liber Conscientiae Apertus ist zwischen 1662 und 1667 erschienen und insgesamt mit seinen 1725 Quartseiten, die meisten davon mit Petitdruck gefüllt, von bedrohlicher Gestalt.35 Wilhelm Gass urteilte einmal über Dannhauer, er sei »dogmatisch überbildet(e)« gewesen.36 Für unseren Zusammenhang sind einige Aspekte aus dem ersten Teil des Werks, der Iatrik – der Theorie der Heilkunst –, wichtig: Das Gewissen ist ein jedem Menschen von Gott eingesenktes Vermögen zur »Maßgabe für die gegenwärtigen, zur Zensur für die vergangenen, zur Ratgebung für die zukünftigen Handlungen«.37 Maßstäbe aller Handlungen sind, wir kennen das bereits, die Gesetze Gottes und alle anderen, letztlich auf sie bezogenen Gebote und Vorschriften. Strukturell besteht das Gewissen aus drei Prinzipien: 1.) Der syntheresis, die Dannhauer in Anschluss an Balduin als innerer Aufbewahrungsort der teils angeborenen teils erworbenen Normvorstellungen eines jeden Menschen versteht; 2.) der syneidesis, das ist die Fähigkeit zur Applikation der Normen auf eine bestimmte Situation bzw. Handlung; 3.) die krisis, das ist die tatsächlich getroffene Normentscheidung für eine Handlung.38 Das Gewissen ist also ein Schlussvermögen, das einen Obersatz mit einer Konklusion durch einen Mittelsatz verbindet. Kurzum: Bei Dannhauer ist das Gewissen gleichbedeutend mit dem schon in der Scholastik gelegentlich mit dem Gewissen identifizierten syllogismus practicus. Jedoch hebt Dannhauer hervor, dass das Gewissen immer wieder durch die Sündenmacht verdunkelt wird. Dann wird der syllogistische Gewissensschluss unkorrekt. Im Fall einer falschen Normwahl für eine bestimmte Situation ist das Gewissen als »gutes« (bona) oder ein »schlechtes« (mala conscientia) anzusprechen. Mit Bezug auf den aus einer Normwahl gezogenen Schluss kann das Gewissen – und hier kommen bei Dannhauer systematisch einigermaßen überraschend die Affekte hinzu – glücklich sein oder unglücklich, felix oder infelix. Entsprechend unterscheidet Dannhauer ein gutes Gewissen, das glücklich oder unglücklich ist, von einem schlechten Gewissen, das glücklich oder unglücklich ist. Eben je nachdem, wie das Gewissen sich zu den Normen und der
34 Vgl. Kittsteiner, Die Entstehung (wie Anm. 5), 177. 35 Ich verwende die zweite vollständige Ausgabe: Johann Konrad Dannhauer, Liber Conscientiae Apertus Sive Theologiae Conscientiariae, Argentorati 1679. Vgl. Dittrich, Geschichte der Ethik (wie Anm. 5), 388–391. 36 Gass, Geschichte der christlichen Ethik (wie Anm. 5) 2, 337. 37 Dannhauer, Liber Conscientiae (wie Anm. 35), 40. 38 Ebd., 47–49.
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Normbeurteilung stellt. Diese viergliedrige Grundunterscheidung wird daraufhin von Dannhauer in nicht weniger als 19 Unterarten zerlegt.39 Mit Dannhauers Werk bekommt der Pfarrer, an den es sich richtet, ein ungemein differenziertes vermögens- und moralpsychologisches Beratungsangebot geliefert. Dabei betont Dannhauer natürlich immer wieder, dass der Urheber eines »guten glücklichen Gewissens«, um das es ihm letztlich geht, Gott selbst ist. Man könnte für das »gute glückliche Gewissen« bei Dannhauer auch problemlos das ›starke wiedergeborene Gewissen‹ sagen. Allein muss für Dannhauer das zarte und durch die Sündenmacht bedrohte Pflänzlein des Glaubens gehegt und gepflegt werden, durch richtige Handlungsanweisungen, Aufdeckungen des möglichen Selbstbetrugs und Zerstörung falscher Normvorstellungen; auch durch Beichte und Abendmahl. Sogar eine Physiognomik des Gewissens führt Dannhauer aus, die den aufrichtigen Blick und das feste Händeschütteln als mögliche Indizien des Gewissenszustandes eines Menschen versteht. Doch diese Physiognomik bleibt, wie Dannhauer schnell anzuführen bemüht ist, eine »scientia stochastica«.40 Nach Dannhauers Liber apertus ist keine nur annähernd so ausführliche Gewissensanatomie mehr erschienen. Das Genre war, so wird man wohl urteilen dürfen, auch ausgereizt. Zugleich wird in Dannhauers Werk deutlich, dass die Gewissensanatomie dem Gewissensphänomen nur unzureichend gerecht wird. Das liegt weniger an der moraltheologischen Schlagseite, welche die Gewissensthematik insgesamt bekommt, als in dem eben nur von außen auf das gläubige Gewissen gerichteten Blick. Mit der Inversion der gewissenshermeneutischen Perspektive, also in dem Moment, in dem das Gewissen sich selbst angesichts Gottes und seiner Gebote befragt und analysiert, nimmt das protestantische Gewissensverständnis und der dazu gehörende Begriff seine letzte hier zu beschreibende Wendung.
III.
Self-Government
Dannhauer hatte in seinem Liber Apertus die zeitgenössischen englischen Gewissenstheorien und -kasuistiken umfangreich rezipiert, die teils selbst wiederum die lutherischen Diskussionen verarbeiteten. In der Zeit des Interregnums kam in England sogar die Idee auf, durch eine umfassende Sammlung von Gewissensfällen eine moralische Einigung des englischen mit dem kontinentalen Protestantismus zu erreichen, als Vorstufe einer evangelischen kirchlichen Vereinigung. John Dury hatte, angestoßen durch einen Brief von Hanauer Pas39 Übersicht ebd., 51. 40 Ebd., 229.
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toren, einen entsprechenden Plan entworfen, der jedoch in seinen Ansätzen stecken blieb.41 Vergessen war der Plan dennoch nicht: »It is long ago since many foreign divines subscribed a request, that the English would give them in Latin a Sum of our Practical Theology, which Mr. Dury sent over … Had this been done, it is like my labour might have spared. But being undone, I have made this essay«.42 – So schreibt Richard Baxter, der Nonkonformist wider Willen, nach Abschluss seiner berühmten, aber wenig bekannten Schrift A Christian Directory, Or, A Summ of Practical Divinity and Cases of Conscience. Etwa zeitgleich zu Dannhauers Liber in den 1660er Jahren verfasst, erschien Baxters Schrift zuerst 1672/73. Der Begriff »Gewissen« ist in Baxters Directory allgegenwärtig. Auch die Kategorien, die in der casus conscientiae-Literatur seit Perkins verwendet wurden – das irrende Gewissen, das erschrockene, das schlafende usf. –, kommen vor. Nur die vermögenspsychologische Explikation des »Gewissens«, die üblicherweise die Gewissenskasuistiken eröffnet, ist völlig an den Rand gerückt. Erst im letzten Teil seines sehr umfangreichen »Essay«, der die »Christliche Politik« behandelt, kommt Baxter kurz auf ihn zu sprechen, wenn er den Verbindlichkeitsstatus menschlicher Gesetze abwägt.43 Begriffliche Subtilitäten interessieren Baxter dabei nicht. Die naheliegende Vermutung, dass Baxter den Begriffsausdruck »Gewissen« nur noch als leere, moraline Chiffre benutzt, erweist sich allerdings als falsch. Das zeigt ein Blick in die Anrede an den Leser des Directory, welche an die Stelle der früheren vermögenspsychologischen Ausführungen gerückt ist. Hier erörtert Baxter, unter welchen Voraussetzungen die folgenden Ausführungen nützlich sein können und sollen. 18 Punkte weiß Baxter dabei aufzuzählen.44 Er eröffnet sie damit, dass er davon ausgehe, dass der Leser ein Mensch sei, zudem einer mit gesunder Selbstliebe. Ihm sei anzunehmenderweise der Gedanke an eine ewige Strafe für moralisches Fehlverhalten – zumindest – unangenehm. Und nach vielen weiteren Annahmen beschließt Baxter seine Punkte wie folgt: »Yes, 41 John Dury, An earnest plea for a Gospel-communion in the way of godliness which is sued for by the Protestant churches of Germanie, unto the churches of Great Brittaine and Ireland: in a letter written by them to these, which was sent hither to that effect, by the hand of John Dury, minister of the Gospell. London 1654. Vgl. zu den näheren Hintergründen des Entwurfs: Tim Cooper, John Owen, Richard Baxter and the Making od Nonconformity. Burlington 2011, 141–146 und Jan van de Kamp, Ein frühes reformiert-pietistisches Netzwerk in der Kurpfalz in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: ARG 103, 2012, 238–265. 42 Richard Baxter, A Christian directory, or, A summ of practical theologie and cases of conscience directing Christians how to use their knowledge and faith, how to improve all helps and means, and to perform all duties, how to overcome temptations, and to escape or mortifie every sin: in four parts. London 1673, Advertisment, unpag. [im Folgenden mit Kurztitel und den eigens paginierten Teilen I–IV zitiert]. 43 Baxter, A Christian Directory (wie Anm. 42), IV, 36f. 44 Ebd., I, 3–6.
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one thing more I think I may suppose in all or most that will read this book; that you take on you also to believe in Jesus Christ, and in the Holy Ghost the Sanctifier, and that the Scriptures are the Word of God«.45 Den Hintergrund von Baxters 18 Punkten bildet dabei deutlich die Vorstellung der Bekehrung, welche durch sein Directory begleitet und unterstützt werden soll. Baxters Directory ist insgesamt dann auch darum bemüht »die Dynamik und Dramatik des religiösen Lebens« zu beschreiben, wie Claus-Dieter Osthövener jüngst formulierte: »… die Fortschritte und die Rückschritte, die Anfechtungen und die Durchbrüche«.46 Letztendlich soll der Leser als wiedergeborener, im Glauben ›starker‹ Mensch seine ganze Lebensführung im Angesicht des Willens Gottes und im Wissen um Gottes Vergebung führen können. Baxter nennt das »self-government«.47 Dass damit genau das Programm formuliert ist, dass seit Melanchthon dem Begriff der bona conscientia unterliegt, dürfte offensichtlich sein. Blickt man von hier aus noch einmal auf die von Baxter aufgezählten einleitenden Punkte, wird dann auch ersichtlich, dass mit ihnen all jene Voraussetzungen benannt sind, die seit Melanchthon in den Begriff der bona conscientia eingewickelt wurden. Just hier liegt die ingeniöse Pointe von Baxters Directory : Indem er nämlich alle Voraussetzungen aus dem Gewissensbegriff wieder auswickelt, kann er in seinen Ausführungen auf Fremdzuschreibungen von Gewissenszuständen weitgehend verzichten. Seine Überlegungen werden zum darstellenden Vollzug des Gewissens als reflexiver religiöser Urteilskraft, die den ganzen Menschen bedenkt: Vom niedrigsten Begehren des Fleisches über die Affekte bis hin zu den großen Spekulationen der Vernunft. In ihrer brillanten Untersuchung zur Geschichte der englischen moralischen Sprache hat Isabel Rivers Richard Baxter als einen der Autoren charakterisiert, die an der Schwelle einer tiefgreifenden Umformung standen: Die Sprache der Gnade, die sich der objektiven Wahrheiten des religiösen Lebens wie Sünde und Gnade, Himmel und Hölle, Gott und Teufel bediente und auf sie angewiesen war, wird allmählich von einer Semantik des moralischen und religiösen Lebens abgelöst, die ihren Wortschatz aus dem Bereich des Gefühls und des Sinns entnimmt.48 Dass diese Umformung auch tiefgreifende Auswirkungen auf die Geschichte des protestantischen Gewissensbegriffs hatte, deutet Baxters A Christian Directory an.
45 Ebd., I, 6. 46 Claus-Dieter Osthövener, Affectionate Religion, in: Roderich Barth/Christopher Zarnow (Hrsg.), Theologie der Gefühle. Berlin/Boston 2015, 79–112, hier : 83. 47 Baxter, A Christian Directory (wie Anm. 42), I, Titelblatt. 48 Isabel Rivers, Reason, Grace, and Sentiment. A Study of the Language of Religion and Ethics in England, 1660–1780, Volume I: Whichcote to Wesley, Cambridge 1991, bes. 130–163.
»Gewissen« im Protestantismus des 16./17. Jahrhunderts
IV.
63
Vielspältiges
Ideal und Ziel des hier betrachteten altprotestantischen Gewissensdiskurses war es, ›starke‹ Christen hervorzubringen. Hierfür hat Melanchthon die Erfüllung des Gesetzes Gottes zur Aufgabe eines jeden wahrhaft Gläubigen gemacht. Hierfür haben die Pathologen von Perkins bis Dannhauer das Gewissen bis in seine abscheulichsten Einzelteile zerlegt. Hierfür hat Richard Baxter den inneren Menschen wieder zusammenzusetzen versucht. Das ist, so hoffe ich, im nun zu beschließenden Durchgang deutlich geworden. In welche Stellung der ›starke‹ Christ sein Gewissen in der Welt mit ihren Institutionen bringen sollte, konnte in den materialethischen Ausführungen freilich sehr unterschiedlich ausfallen. Es entstand ›Vielspältiges‹ (Ernst Troeltsch)49, weil die von dem in den biblischen Schriften bezeugten Willen Gottes erwartete demonstratio moralis nicht anders zu haben war als durch eine interpretatio sacra. William Perkins etwa sieht den Christen in der Pflicht, vor Gericht den Mund zu halten, wenn es um Sünden seines Nächsten geht.50 Friedrich Balduin erwartet von einem Strafrechtssystem, dass es das Gewissen eines Richters nicht belastet.51 Richard Baxter erhofft von christlichen Politikern eine bessere, nämlich theokratischere Regierung.52 Doch in jedem Fall artikuliert sich in diesem Vielspältigen der Anspruch auf fromme Weltgestaltung. Das ist zugleich das Grundrecht, welches der protestantische Gewissensbegriff in der Frühen Neuzeit zu begründen versucht.
49 Vgl. Ernst Troeltsch, Grundprobleme der Ethik (1902), in: Ders. (Hrsg.), Zur religiösen Lage Religionsphilosophie und Ethik. Aalen 1962 (=GS II, ND der zweiten Auflage Tübingen 1922), 552–672, bes. 657f. 50 Vgl. dazu Voigt-Goy, William Perkins (wie Anm. 5), bes. 255f. 51 Vgl. Balduin, Tractatus, 872–876. Zu der ganz anders gelagerten Debatte in England vgl. James Q. Whitman, The Origins of Reasonable Doubt. Theological Roots of the Criminal Trial. New Haven/London 2008, 163–172. 52 Richard Baxter, A holy commonwealth, or Political aphorisms, opening the true principles of government: for the healing of the mistakes, and resolving the doubts, that most endanger and trouble England at this time: (if yet there may be hope.) And directing the desires of sober Christians that long to see the kingdoms of this world, become the kingdoms of the Lord, and of his Christ. London 1659, 209 (Theses 192).
Merio Scattola (1962–2015)
Gewissen und Gerechtigkeit in den Beichtbüchern der Frühen Neuzeit
Abstract Der Beitrag analysiert die Frage des Gewissen und der Gerechtigkeit in den katholischen Beichtbüchern und der kirchenrechtlichen Literatur der Frühen Neuzeit. Solche Texte entsprechen einem bis ins 20. Jahrhundert beibehalten und weiterentwickelten Modell von drei Gerichtsinstanzen (dem forum civile oder der weltlichen Gerichtsbarkeit, dem forum spirituale externum und dem forum internum, der kirchlichen Gerichtsbarkeit). Während sich die letztgenannte auf das göttliche Gesetz beruft, begründet sich die weltliche Gerichtsbarkeit durch das Natur-und Zivilrecht. Es sollte deshalb vom Gewissen als Instanz absehen, zumal dieses die kirchliche Gerichtsbarkeit betrifft. Solange die Sünden geheim in der geschlossenen Sphäre des einzelnen Menschen gehandelt werden, sind sie Gegenstand der Beichte und werden vom Beichtvater erforscht. Breitet sich die Sünde jedoch auf die kirchliche Gemeinde aus, so muss eine öffentliche Instanz (forum externum) eingreifen, die allerdings der Gerichtsordnung der Kirche entspricht. Das Muster, das katholische Theologie und katholisches Kirchenrecht bis jüngst verfolgt haben, wurde jedoch zuerst von der protestantischen Theologie inkorporiert. Neben dem weltlichen Gericht der politischen Obrigkeit war demnach eine Instanz der christlichen Gemeinde vorgesehen, die öffentlich mit den Mitteln der kirchlichen Gerichtsbarkeit urteilte und bestrafte. Dieser Gerichtshof entsprach zwar dem forum externum der katholischen Theologie, war aber vom Konsistorium eingesetzt und geleitet. Vor dem Gericht des Gewissens spricht Gott unmittelbar zu den Menschen, ohne der sakramentalen Vermittlung der Kirche zu bedürfen. Eine weitere Entwicklung dieser Lehre versteht das Gewissen als direkten Vermittler zwischen Gott und dem Menschen, der seine Sünde erforscht, erkennt, verurteilt und bestraft. Die christliche Gemeinde kann über das Benehmen ihrer Mitglieder wachen, aber nur im Hinblick auf die äußere Disziplin und auf den Anstand der Christen, damit sie keinen Skandal verursachen und keine Unschuldigen verführen. Schlagworte Gewissen, Gerechtigkeit, Beichtbücher
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I.
Merio Scattola
Die literarischen Gattungen der theologischen Fakultät
Der gelehrte Betrieb des sechzehnten Jahrhunderts wie auch der ganzen Frühen Neuzeit war dadurch gekennzeichnet, dass die Erfindung, Verteilung, Aufbewahrung von alten und neuen Kenntnissen streng geregelt wurde. Für jede Fakultät und für jeden Wissenszweig wurde klar festgelegt, wer, wo und wie Wissen verarbeiten und übertragen durfte. Man könnte erfolgreich einen Versuch unternehmen und sämtliches europäisches Wissen der Frühen Neuzeit nach den verschiedenen Gemeinschaften beschreiben, die unter sich den gelehrten Diskurs teilten und sich voneinander unterschieden, weil sie bestimmte Formen, Orte und Stile bevorzugten.1 Ähnliche Schlüsse lassen sich auch für die katholische Theologie des sechzehnten Jahrhunderts ziehen. Die Vertreter der spanischen Scholastik profilierten sich zum Beispiel durch eine zweifache Aufgabe, denn sie waren Professoren an den Universitäten des Königreichs, etwa Alcal# oder Salamanca, und gleichzeitig wirkten sie als Beichtväter und Räte der Könige von Spanien oder hatten wichtige Stellen in der Verwaltung des Königreichs und dessen Justiz inne. Daher wirkten diese Theologen nicht nur auf dem Lehrstuhl, sondern auch auf dem Beichtstuhl, und beide, Lehrstuhl und Beichtstuhl, dürfen als die wahren Orte oder sedes ihrer Tätigkeit angesehen werden.2 Wie ihr Wirkungsort zweierlei war, so war auch ihre Literatur zweifach, denn neben dem Tractatus de iustitia et iure verfassten die großen Vertreter der katholischen Theologie oft und gern Werke, die in die literarische Gattung der Beichtväter, den Speculum confessorum oder die Summula confessariorum gehörten. Francisco de Vitoria (1483–1546) schrieb neben den berühmten Vorlesungen und Kommentaren zur Summa theologiae des Thomas von Aquin auch ein Handbuch für den Beichtvater und eine Summa de sacramentis.3 Mart&n de Azpilcueta (1491–1586), der doctor Navarrus, war im sechzehnten Jahrhundert weit berühmter für sein Manual de confessores y penitentes (1553) als für seine 1 Merio Scattola, Zu einer europäischen Wissenschaftsgeschichte der Politik, in: Christina Antenhofer/Lisa Regazzoni/Astrid von Schlachta (Hrsg.), Werkstatt Politische Kommunikation. Netzwerke, Orte und Sprachen des Politischen. Officina Comunicazione politica. Intrecci, luoghi e linguaggi del »politico«. Göttingen 2010, 23–54; ders., Begriffsgeschichte und Geschichte der politischen Lehren, in: Riccardo Pozzo/Marco Sgarbi (Hrsg.), Eine Typologie der Formen der Begriffsgeschichte (= Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 7). Hamburg 2010, 71–90. 2 Ders., Domingo de Soto e la fondazione della Scuola di Salamanca, in: Veritas. Revista de filosofia, 54, 3, 2009, 52–70. 3 Francisco de Vitoria, Confessionario util y provechoso. Compuesto per F. Francisco de Victoria, cathedratico de theologia en Salamanca (1562. C ¸ aragoÅa 1564; ders., Summa sacramentorum ecclesiae, ex doctrina fratris Francisci de Victoria, ordinis Praedicatorum apud Salmanticam olim Primarii Cathedratici, per reverendum patrem Praesentatum fratrem Thomam a Chaves illius discipulum (1560). Romae 1567.
Gewissen und Gerechtigkeit in den Beichtbüchern der Frühen Neuzeit
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Kommentare zum kanonischen Recht oder für seine Abhandlungen über die ökonomischen Themen.4 Man kann beide Orte oder Kommunikationsmittel oder -wege den Lehrstuhl und den Beichtstuhl und ihre beiden literarischen Gattungen, den Tractatus de iustitia et iure und die Summula confessorum, als die beiden Seiten oder Gesichter derselben Tätigkeit verstehen, wobei das eine Gesicht nach oben zur Theologie und zur Wissenschaft gerichtet ist, während das andere Gesicht nach unten in die Praxis und die Lösung von konkreten Fällen schaut. Wenn beide Bereiche auf diese Weise verbunden sind, kann man auch mit Recht annehmen, dass ein gelehrter Austausch zwischen ihnen stattfand, und dass diese Kommunikation in beide Richtungen ging; man kann auch vermuten, dass Themen, Lösungen, Überlegungen aus dem Tractatus de iustitia et iure in die Beichtväterspiegel hinunterflossen und, dass Probleme, Fragestellungen, Fälle wiederum aus dem Bereich der Beichte in die Sphäre der Theologie heraufdrangen.
II.
Das Thema des Gewissens in den Beichtväterspiegeln
Auch das Gewissen ist ein solcher Fall, der in der niedrigen Literatur der Summulae confessorum vertreten und auch von der überlegenen Literatur der Tractatus behandelt wurde. In der Gattung der Beichtväterspiegel war das Thema des Gewissens auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig vorhanden. Dieses Thema war hier gleichsam endemisch, indem die Beichte auf die genaue Untersuchung aller Gewissensfälle angewiesen ist. Tatsächlich wurden einige von diesen Schriften als Sammlungen von Gewissensfällen verfasst.5 Der erste Schritt der Beichte bestand eigentlich in der richtigen Anerkennung der Sünden und setzte daher ein sorgfältiges und genaues examen conscientiae, eine Handlung der erkennenden Seele, voraus, die im Inneren des Menschen stattfinden soll. In diesem Sinn hatte die Idee des Gewissens immer eine erkenntnistheoretische Bedeutung und verwies auf die verschiedenen Grade von Gewissheit, die man in der Handhabung von moralischen Argumenten und Umständen erreichen kann. So erinnerte Francisco de Vitoria in seiner Summa de sacramentis, dass das menschliche Gewissen nicht immer eine genaue Ein4 Mart&n de Azpilcueta, [Martinus Navarrus ab Azpilcueta], Manual de confessores y penitentes, que clara y brevemente contiene la universal y particular decision de quasi todas las dudas, que en las confessiones suelen occurrir de los peccados, absoluciones, restituciones, censuras et irregularidades (1553). Medina del Campo 1554. 5 Juan de Pedraza, Summa de casos de consciencia. Nuevamente compuesta por el doctor fray Juan de Pedraza, necessaria a ecclesiasticos y seglares, confessores y penitentes (1568). Alcal# 1575.
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Merio Scattola
sicht erreichen kann, wenn man den Stand seiner Seele untersucht, und er beschrieb die unterschiedlichen Mittel, mit denen der Beichtvater dem Sünder oder der Sünderin zu einer besseren Einsicht verhelfen kann.6 Aber das Problem des Gewissens betraf nicht nur die Beichtenden, sondern auch den Beichtvater, der über die zu gestehenden Sünden und über deren Rahmenbedingungen urteilen sollte und auch in Konflikt mit dem eigenen Gewissen geraten konnte. In diesem Sinn erörterte derselbe Vitoria die Frage, ob ein Beichtvater auch dem eigenen Gewissen die Absolution erteilen durfte.7 Auf diesen beiden allgemeinen Ebenen der Summulae confessorum wurde aber das Gewissen nicht direkt thematisiert, sondern wurde operativ als eine unentbehrliche Prämisse vorausgesetzt. Es gab aber auch eine besondere Stelle in der Summula confessoris, eine sedes materiae, in der Topologie der literarischen Gattung, an der das Gewissen direkt und inhaltlich angesprochen wurde, und dies geschah sowohl in den Büchern, die ihre Materien alphabetisch sortierten, als auch in den systematischen Darstellungen. Hier, unter dem Stichwort Conscientia wurde immer die Frage nach dem fehlerhaften Gewissen erörtert und die Frage aufgeworfen, ob man auch durch das fehlerhafte Gewissen juristisch und theologisch gebunden ist. Vorausgesetzt war hier immer die frühneuzeitliche scholastische Lehre des Gewissens, die wesentlich auf Thomas von Aquin zurückging, wenn auch der charakteristische Unterschied zwischen conscientia und synderesis (syneidesis) nicht immer genau und richtig beibehalten wurde. Wir erwähnen hier eine kurze Beschreibung des Gewissens aus den Drei Büchern über das Gewissen (1541) des Humanisten Iohannes Rivius (1500–1553), die alle wesentlichen Elemente jener Lehre enthält. »Das Gewissen ist daher nichts anderes als jenes Urteil des menschlichen Verstands, das die Entscheidungen oder die Handlungen eines jeden Menschen billigt oder verwirft und sowohl schweigend zum gerechten Handeln führt und drängt als auch von den Sünden abhält und vom Verbrechen und Frevel abschreckt. Es gibt nämlich gewisse Ideen in unserer Seele, die von Gott eingepflanzt worden sind, und es gibt gleichsam gewisse natürliche Flämmchen, welche uns zeigen, was gut und gerecht und was dagegen böse und frevelhaft ist. Dieses Urteil der Vernunft, die unsere Handlungen beschuldigt oder entschuldigt, stammt von jenem allen Menschen angeborenen und in ihre Seelen gleichsam eingeschriebenen und göttlich angegebenen Naturgesetz her, das auch die Heiden als Gesetz in ihrem Busen eingeschrieben haben, wie uns der Apostel Paulus im Römerbrief (12, 2) bezeugt; solches Gesetz gebietet die gerechten Handlungen und verbietet die ungerechten. Aber Gott wollte, dass wir dieses Gesetz, das im innersten unserer Seele eingeprägt ist und, wie er sagt, gleichsam ein bestimmter Teil 6 De Vitoria, Summa sacramentorum ecclesiae (wie Anm. 2), num. 129, 153–154 und num. 161, 188–190. 7 Ebd., num. 177, 205–207.
Gewissen und Gerechtigkeit in den Beichtbüchern der Frühen Neuzeit
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des göttlichen Hauches ist, nicht minder beachten, als dass wir jenes Gesetz befolgen, das von seiner eigenen Hand geschrieben wurde und uns in den steinernen Tafeln Mosis erhalten bleibt. Dies Naturgesetz und diese in den Seelen aller Menschen eingeprägten Ideen, wovon das Gewissen herkommt, lehren uns, dass es einen Urheber und Schöpfer der Welt gibt und dass derselbe Gott die Schöpfung regiert und leitet.«8
Ähnlichen oder noch ausführlicheren Beschreibungen begegnen wir in vielen anderen Abhandlungen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, zum Beispiel im Traktat »Der Abschreiber oder das Gewissen des Menschen« (verfasst 1632, gedruckt 1656) von Jeremias Drexel (1581–1638), Hofprediger des Kurfürsten Maximilian I. von Bayern, oder in den »Sechs Büchern über das Gewissen« (1638) des brabantischen Jesuiten Martinus Bresserus (1584–1635).9 In diesen Definitionen werden immer die allgemeinen Voraussetzungen des Gewissens erklärt. Es ist nämlich in erster Linie eine Handlung der inneren Wahrnehmung und gehört zum Bereich der menschlichen Erkenntnis zusammen mit den anderen geistigen Fertigkeiten des Wissens, wie es der Verstand, die Vernunft, die Wissenschaft oder die Klugheit sind. Das Gewissen besteht daher in Urteilen, welche die Form des Syllogismus und besonders des praktischen Syllogismus oder Enthymems haben,10 wie letztere von Aristoteles in seiner »Rhetorik« definiert wurde und in die dialektische Tradition aufgenommen wurde.11 8 Iohannes Rivius, De conscientia libri tres. Eiusdem De spectris et apparitionibus umbrarum seu de veteri superstitione liber unus. Lipsiae 1541, lib. I, Bl. A4v–5r : »Est igitur conscientia nihil fere aliud nisi iudicium illud humanae mentis, quod vel probat vel improbat cuiusque seu consilia sive facta et cum tacite quodammodo ad recte faciendum impellit et incitat, tum a peccatis avocat et ab scelere flagitioque deterret. Sunt enim notiones quaedam divinitus insitate in animis hominum ac naturales quidam quasi igniculi, qui ostendunt, quae sint honesta, quae contra prava et turpia. Hoc rationis iudicium excusantis aut accusantis facta, ab illa omnibus innata et in animis hominum quasi insculpta et divinitus indita lege naturae proficiscitur, quam legem in pectore gentes, ita ut ad Romanos [cap. 12, v. 2] testatur Paulus, inscriptam habent, quae et recte facere iubeat et vetet delinquere. Hanc ipsam autem sic in intimis animorum nostrorum sensibus impressam legem et quasi quandam divinae particulam aureae (ut ille ait) haud minoris a nobis fieri vult Deus quam eam, quae in ipsis saxeis Mosi tabulis digito suo praescripta extat. Docet enim haec naturae lex et hae in omnium animis impressae notiones, unde conscientia manat, esse aliquem effectorem atque conditorem eundemque administratorem et rectorem mundi [Bl. 5r] Deum.« 9 Jeremias Drexel, Antigrapheus sive conscientia hominis coram serenissimo Maximiliano electori Bavaro illustrata per Hieremiam Drexelium societatis Iesu anno 1632. Neoburgi 1652, lib. I, cap. 1, 3–19; Martinus Bresserus, De conscientia libri sex. Ad omnigenas conscientias dirigendas idonei. Antverpiae 1638, lib. I, capp. 1–3, 1a–17a. 10 Drexel, Antigrapheus (wie Anm. 9), lib. I, cap. 1, 6. 11 Aristoteles, Rhetorica, lib. I, cap. 2, 1357a 7–18; Quintilianus, Institutio oratoria, lib. V, cap. 10, par. 3; Averroes, Tractatus de rhetorica demonstrativa, in Aristoteles und Averroes, Tomus tertius operum Aristotelis Stagiritae Peripateticorum principis, qui Rhetoricorum libros ad artem dicendi attinentes atque Poeticam affert. Venetiis 1560; Christof Rapp, Kommentar, in Aristoteles, Rhetorik. Berlin 2002, Bd. 2, 187–188. Vgl. Gottfried Strauß, De
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Merio Scattola
Auch der praktische Syllogismus setzte aber die Existenz von ersten und allgemeingültigen Prinzipien der Erkenntnis voraus, die nicht induktiv aus der Erfahrung gewonnen werden konnten, sondern unmittelbar allen Menschen einleuchten mussten. Wie man in der spekulativen Philosophie die Existenz solcher ersten Grundsätze annehmen musste, so mussten entsprechende allgemeingültige Prämissen auch in der praktischen Philosophie wirken. Da aber solche Prinzipien aus keiner induktiven Erfahrung entsprangen, mussten sie ursprünglich und ewig in der menschlichen Seele unmittelbar vorhanden sein. Sie waren daher als angeborene Ideen zu verstehen, die zusammen mit der menschlichen Seele entstanden und also von Gott erschaffen wurden. Gott hat demzufolge die ersten und allgemeinen Normen des gerechten Handelns in das Herzen von allen Menschen aller Zeiten und aller Erdteile eingeschrieben. Dieselben Regeln hat Gott aber auch im Dekalog von Moses wiederholt und demzufolge dürfen die Zehn Gebote als eine Zusammenfassung oder eine Liste der Prinzipien des Gewissens angesehen werden. Gewissen und Dekalog sind daher gleichsam austauschbare Begriffe.12 Diese Erklärung, die zur oberen theologischen Literatur gehört, hat aber auch eine weitere wichtige Folge, die schon von Thomas von Aquin in seiner Summa theologiae klar gezogen wurde.13 Wenn nämlich angeborene Ideen oder ein ähnlich unmittelbares, wenn auch nicht angeborenes Verfahren in der menschlichen Seele wirken, müssen die daraus fließenden Erkenntnisse immer wahr sein. Eine unmittelbare Wahrnehmung ist tatsächlich immer wahr, wie auch jede Wahrnehmung, in sich selbst betrachtet, immer wahr ist. Wenn ich nämlich kalt empfinde, ist es wahr, dass ich kalt empfinde, obwohl es Hochsommer ist und ich an einer Störung des Nervensystems leide. Das gilt aber auch für die unmittelbaren Erkenntnisse der spekulativen Philosophie. Im euklidischen Raum ist die Vorstellung des Dreiecks unmittelbar wahr, weil ich mir kein Dreieck vorstellen kann, das nicht drei Ecken hat und dergestalt beschaffen ist, dass die Summe seiner inneren Ecken einem gestreckten Winkel gleicht. Wenn ich an ein beliebiges Dreieck denke, muss ich auch gleichzeitig jene Summe mitdenken. Auch die ersten Ideen oder Wahrnehmungen der menschlichen Seele im praktischen Bereich sind in demselben Sinn unmittelbar wahr ; dagegen syllogismo iuridico, iuridicam dissertationem, Resp. Antonius Guntherus Löscher, Wittembergae, Praelo Christiani Schrödteri, 1695; Ludger Jansen, EnthymÞma, in: Christoph Horn/ Christof Rapp (Hrsg.), Wörterbuch der antiken Philosophie. München 2002, 137; Katharina von Schlieffen, (Hrsg.), Das Enthymem. Zur Rhetorik des juridischen Begründens. Berlin 2011. 12 Zur Gleichsetzung vom Dekalog und Naturrecht vgl. Merio Scattola, Models in History of Natural Law, in: Ius commune. Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte, 28, 2001, 91–159, hier 109–110. 13 Thomas Aquinas, Opera omnia. Volumen primum. Summa theologica. Pars prima seu Summa naturalis. Parisiis 1871, part. Ia, quaest. 79, artt. 12–13, 504a–506a.
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beobachten wir, dass die Schlüsse unseres Gewissens manchmal auch falsch sein können. Man muss daher zwei Schichten oder zwei Sphären in der Erkenntnis von ethischen Angelegenheiten unterscheiden. Einer lange Tradition folgend bezeichnete Thomas von Aquin (1225–1274) diese getrennten Elemente als synderesis und als Gewissen (conscientia). Die synderesis, ein Wort, das vom Griechischen syneidesis kommt, ist eine Fertigkeit, mit dem wir die ersten Prinzipien des Handelns unmittelbar wahrnehmen.14 Mit einem Verlust an philosophischer Schärfe kann man auch sagen, dass die synderesis das Vermögen der angeborenen Ideen oder sogar die Sammlung aller angeborenen Ideen sind, die die menschliche Seele umfasst. Sie ist daher eine Fertigkeit von der unmittelbaren Erkenntnis der ersten moralischen Grundsätze; ihr Wissen ist immer wahr und kann mit der entsprechenden Fertigkeit der spekulativen Philosophie, mit dem intellectus oder mit dem nous der aristotelischen Lehre verglichen werden.15 Es ist also immer an sich wahr, dass ein Mensch nicht töten oder nicht stehlen darf. Die conscientia ergibt sich dagegen aus einer Operation oder einer Handlung mit den ersten Grundsätzen der synderesis. Sie nimmt die besonderen Umstände einer bestimmten Handlung wahr, sie zählt sie auf, sie vergleicht sie mit den Grundsätzen. In diesem Sinn kann das Gewissen mit der Wissenschaft der theoretischen Philosophie verglichen werden, und wie die Wissenschaft kann auch das Gewissen sich irren, weil es Operationen gewährleisten soll, bei denen Fehler möglich sind. Die Entscheidung, mit der das Gewissen im Fall der Notwehr zur Anwendung der Gewalt rät, kann daher auch falsch oder zweifelhaft sein. Tatsächliche kann das Gewissen unterschiedliche Grade an Gewissheit erreichen: es kann richtig, ungewiss oder falsch sein. Die Ungewissheit kann aber derart beschaffen sein, dass man ihr zustimmen oder von ihr absehen soll. Dementsprechend entstehen vier Grade oder Stufen im Gewissen: Wahrheit, Beifall, Zweifel und Fehlurteil.16 Das Gewissen kann endlich auch übertrieben skrupelhaft sein.17 14 Ebd., part. Ia, quaest. 79, art. 12, resp., 504a–b ; Domingo de Soto, De iustitia et iure libri decem. Salmanticae 1553, lib. I, quaest. 4, art. 1, 28b–30a. 15 Drexel, Antigrapheus (wie Anm. 9), lib. I, cap. 1, 3–5. Vgl. Angelo Carletti (Angelus de Clavasio), Summa Angelica reverendi patris fratris Angeli de Clavasio (1486). Lugduni 1534, voc. Conscientia, Bl. 77vb–78ra ; Battista Trovamala (Baptista de Salis), Summa Rosellae, de casibus conscientiae (1489). Argentinae 1516, voc. Conscientia, Bl. 43rb ; Bartolomeo Fumo, Summa aurea armilla nuncupata, casus omnes ad animarum curam attinentes breviter complectens (1549). Venetiis1587, voc. Conscientia, 255. 16 Azpilcueta, Manual de confessores (wie Anm. 4), cap. 26, parr. 13–15, numm. 274–276, S. 557–558; Bresserus, De conscientia (wie Anm. 9), lib. II, cap. 1, 130a–133b ; lib. III, capp. 1–2, 261a–270b ; lib. IV, cap. 1, 350a–354a ; lib. V, cap. 1, 456a–461b. 17 Azpilcueta, Manual de confessores (wie Anm. 4), cap. 26, parr. 16–19, numm. 277–278, 558–559; Bresserus, De conscientia (wie Anm. 9), lib. VI, cap. 1, 562a–566b.
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Merio Scattola
Wahre Erkenntnisse muss man aber immer befolgen. Wie ist es aber, wenn man Entscheidungen nach falschen oder unsicheren Kenntnissen trifft? Sind auch die Folgen aus diesen Fehleinschätzungen verbindlich? Die Argumentation war bis auf diesen Punkt ein Thema der spekulativen Theologie, die das Wesen des Gewissens untersuchte, und wurde daher aus den größeren Summen entnommen. Von diesem Punkt aus begann die Aufgabe des Beichtvaters, und die Argumentation trat in den Bereich der Summulae confessorum, die fast ausschließlich dieses Problem des falschen Gewissens behandelten. Diese Frage ist nämlich am engsten mit der besonderen Form von Gerechtigkeit verbunden, die in der Beichte ausgeübt wurde, und zeigt den Sonderstatus der religiösen Rechtsprechung, wenn man sie mit der zivilrechtlichen vergleicht. In diesem Fall half sich Thomas de Vio (1469–1534), der Kardinal Caietanus, in seiner »Summula de peccatis« (1525) mit folgendem Beispiel.18 Wenn ein Christ irrig glaubt, dass das Spucken in einer Kirche eine Todsünde sei, was eigentlich nur eine lässliche Sünde ist, was für eine Sünde begeht dieser Christ, wenn er in seiner irrigen Meinung auf den Boden einer Kirche speit: eine tödliche oder eine lässliche? Mit Hinweis auf Thomas von Aquin antwortete Caietanus auf folgende Weise.19 Um eine Sünde zu begehen, müssen zwei wesentliche Umstände mitwirken. Erstens muss man wissen, dass eine bestimmte Handlung eine Sünde ist; zweitens führt man jene Handlung bewusst aus. Man will jene Handlung durchführen, obwohl man weiß, dass sie sündhaft ist, oder gerade, weil man es weiß. Im Falle des irrigen Gewissens, glaubt man, dass eine Handlung eine Todsünde ist, und will sie bewusst ausführen. Dieser Mensch will also eine Todsünde begehen, und indem er es will, begeht er sie. Silvestro (1456–1523) und Bartolomeo Fumi (1490?–1555?) gaben dieselbe Antwort wie Tommaso de Vio, aber mit ausführlicheren Argumentationen.20
18 Thomas de Vio Caietanus, Summula de peccatis. Salmanticae 1551, voc. Conscientia, Bl. 46ra : »Conscientia licet erronea semper obligat. Conscientia etiam erronea, in tantum quod si conscientia alicuius haberet, quod spuere in ecclesia esset peccatum mortale, et tamen contra perseverantem talem conscientiam spueret in ecclesia, peccaret mortaliter, quia quantum in se est, consentiret in peccatum mortale formaliter. Et similiter si conscientia dictat, quod est veniale, et tamen facit, peccat venialiter, quia, quantum est ex parte sui, consentit in peccatum veniale formaliter. Deponat autem huiusmodi erroneam conscientiam ex se vel aliorum consilio, et sic libere operetur, ut alii operantur.« 19 Thomas Aquinas, Opera omnia. Volumen octavum: Commentum in librum secundum Sententiarum. Parisiis 1873, lib. II, dist. 29, quaest. 1, art. 4, 391a–393a ; ders., Opera omnia. Volumen secundum. Summa theologica. Continuatio partis Primae et Prima pars Secundae seu Summa moralis universalis. Parisiis 1872, part. I, quaest. 19, art. 5, 188b–190a. 20 Battista Trovamala (Baptista de Salis), Summa Rosellae, de casibus conscientiae (1489). Argentinae 1516, voc. Conscientia, Bl. 43rb ; Carletti, Summa Angelica (wie Anm. 15). voc. Conscientia, Bl. 77vb–78ra ; Mazzolini, Sylvestrinae summae (wie Anm. 20) voc. Conscientia,
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III.
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Forum conscientiae
Auch in ihrer Knappheit zeigt uns diese Argumentation aus den »Summulae« von Caietanus und von den anderen Autoren eine wichtige Beschaffenheit oder sogar die Natur des Sakraments der Beichte, das nicht nur die Tatsache und die begleitenden Umstände berücksichtigt, sondern auch nach der Intention fragt und ihr eine kanonistische Bedeutung beimisst. Aus dem Gesagten ist nämlich klar, dass das korrekte oder irrige Gewissen den Wert derselben Handlung radikal ändern kann, die in einem Fall als gut und im anderen Fall als böse beurteilt wird. Dies kann aber nur nach folgender Regel geschehen. Verbotene Handlungen bleiben immer ungerechtfertigt, auch wenn man sie in einer irrigen Meinung ausführt. Das Misshandeln der Eltern bleibt immer ein Frevel, auch wenn man überzeugt ist, dass man dadurch in den Himmel kommt. Diese Handlungen werden nämlich schon vom natürlichen Gesetz verboten, und dieses Verbot leuchtet unmittelbar in der menschlichen Seele als Gewissen, das den Übeltäter anklagt. Erlaubte Handlungen, die an sich weder gut noch böse sind, wie es das Säen von Pflanzen ist, können dagegen zu sündhaften Handlungen werden, wenn man bei ihren Ausführungen vom falschen Gewissen verleitet wird oder wenn man sie mit einer lasterhaften Absicht verbindet. Diese Asymmetrie ist durch die Absonderung von einem eigenen forum conscientiae bedingt, in dem nur das göttliche Recht gültig ist, das vom menschlichen Gesetz unabhängig bleibt und von ihm nicht geändert werden kann. Wenn die menschlichen Gesetze gerecht sind, dann erzeugen sie auch eine Verpflichtung im Gewissen, weil sie vom ewigen Gesetz abgeleitet werden, das sowohl mit dem menschlichen als auch mit dem göttlichen Recht kongruent ist. Demzufolge bedingt ihre Verletzung auch eine Sünde. Wenn aber die menschlichen Gesetze ungerecht sind, kann dies auf zweierlei Weise geschehen, denn sie können gegen das menschliche oder gegen das göttliche Gebot verstoßen. Im ersteren Fall erzeugen sie keine Verpflichtung für das Gewissen, jedoch darf man ihnen aus Klugheitsgründen gehorchen. Im letzteren Fall darf man ihre Befehle auf keinen Fall befolgen.21 Dieses Schema des Thomas von Aquin bestimmt einen innerlichen Kreis des Gewissens, in dem nur das göttliche Recht wirkt und der von der Anwendung der menschlichen Gerechtigkeit streng unterteilt wird. Solange auf diesem forum conscientiae nur die Sünden des einzelnen Christen beurteilt werden und solange sie in der geschlossenen Sphäre des einzelnen Menschen und geheim gehalten 194b–195b ; Bartolomeo Fumo, Summa aurea armilla nuncupata, casus omnes ad animarum curam attinentes breviter complectens (1549). Venetiis 1587, voc. Conscientia, 255. 21 Thomas Aquinas, Opera Omnia, (wie Anm. 19) Summa theologica. Continuatio partis Primae et Prima pars Secundae, part. Ia IIae, quaest. 96, art. 4, resp., 591a–b.
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werden, bleiben sie Gegenstand der Beichte und werden durch den Beichtvater erforscht. Das forum conscientiae bildet daher in diesem Sinn ein forum internum. Solange eine heterodoxe Meinung ein persönlicher Zweifel bleibt, kann in dieser inneren Dimension der Beichte vergeben und abgebüßt werden. Wenn aber die Sünde ihre Wirkungen in der kirchlichen Gemeinde verbreitet, dann muss eine öffentliche Instanz tätig werden, und man fordert ein forum externum, das der Gerichtsordnung der Kirche entspricht.22 Beides, forum internum und forum externum, sind zwei Grade oder zwei Ebenen des forum ecclesiasticum, der kirchlichen Gerichtsbarkeit, die sich auf das göttliche Gesetz beruft. Diese ist klar vom forum civile, von der weltlichen Gerichtbarkeit, getrennt, die sich nur auf das Natur- und Zivilrecht gründet. Der französische Jesuit ValHre Regnault (1543–1623) fasste in seiner »Praxis fori poenitentialis« (1616), einem enzyklopädischen Handbuch zur Unterweisung der Beichtväter und der Kirchenrichter, mehr als zweihundert Jahre kanonistischer und theologischer Literatur über dieses Thema auf folgende Weise zusammen und zitierte Autoren wie Juan de Torquemada (1388–1468), Gabriel Biel (1415?–1495), Francisco de Vitoria, Domingo de Soto (1494–1560) und Francisco Su#rez (1548–1617). Man muss davon ausgehen, dass Christus seiner Kirche und den Vertretern seiner Kirche, den Aposteln, ihrem Haupt, Petrus, und dessen Nachfolgern seine Autorität über den eigenen Körper erteilt hat. Die Kirche versammelt sich eigentlich und wird zu einer communio um die Sakramentalhandlung der Eucharistie. Der Körper Christi kann aber auf zweierlei Weise verstanden werden. Einerseits ist er der eigentliche Körper von Jesus Christus, der in der Eucharistie wahrhaftig vorhanden ist und zur Vergebung der Sünde geopfert wird. Andererseits ist er der Körper der ganzen Kirche, der Christus als sein Haupt anerkennt. Ersterer ist der sakramentale und eucharistische Körper Christi; letztere ist sein mystischer und »gemeinschaftlicher« Körper (corpus mysticum et civile).23 Aus diesen zwei Seiten oder Betrachtungsweisen der Kirche erwachsen zwei 22 Diego Antonio Franc8s de Urrutigoyti, Forum conscientiae sive pastorale internum. Caesaraugustae 1651, tract. 1, quaest. 1, 2a–4a. 23 ValHre Regnault, Praxis fori poenitentialis ad directionem confessarii, in usum sacri sui muneris (1616). Moguntiae 1617, to. 1, lib. I, cap. 1, sect. 1, num. 2, 1b : »Ut autem intelligatur quaenam sit potestas ordinis sacerdotalis, observandum est, quod, ut duplex distinguitur corpus Christi, unum naturale, quod est verum illud ex beatissima Virgine natum, invisibiliter in sacramento altaris et visibiliter in caelo existentem, alterum civile seu mysticum, quod est ecclesia coetusve fidelium, ita etiam duplicem distingui potestatem ordinis sacerdotalis (quam divisionem pluribus persequitur a Turrecremata lib. I De ecclesia, capp. 93–95), unam in corpus Christi verum, ad ipsum scilicet conficiendum in sacrosanctae eucharistiae consecratione et offerendum sacrificandumque, alteram in corpus Christi mysticum, nimirum ad sacramenta fidelibus administranda in peccatorum remissionem et divinae gratiae adeptionem.« Vgl. Juan de Torquemada (Iohannes de Turrecremata), Summae ecclesiasticae libri quatuor. Salmanticae 1560, lib. I, capp. 93–95, 158a–166a.
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unterschiedliche Aufgaben und zwei Kompetenzbereiche, denn einerseits besitzen die Kirche und deren Vertreter das Vermögen zur Erteilung der Sakramente, in ersten Linie zur Verrichtung der Eucharistie, ein Vermögen, das den Priestern unmittelbar durch ihre Ordnung übertragen wird. Dieses ist die potestas sacramentalis oder auch potestas ordinis, ein Vermögen zur Verteilung der Sakramente, das dem Orden der geweihten Priester zusteht. Andererseits hat der Stellvertreter Christi auch die Gewalt, die Mitglieder des christlichen Körpers zu leiten, und wenn sie irren, auch sie zu verurteilen und zu bestrafen. Diese ist offensichtlich eine potestas iurisdictionis.24 Letztere wird auch potestas clavium genannt.25 Diese beiden Gewalten sind als Vermögen des geistigen Bereichs zu verstehen und bilden zusammen die geistige Gewalt der Kirche (potestas spiritualis). Sie sind eng verbunden, können aber durch zwei Eigenschaften voneinander unterschieden werden. Die erstere Gewalt wendet sich auf die Pflege der Seelen im inneren Bereich der Beichte, im forum internum. Durch diese Gewalt des priesterlichen Ordens werden die Verstöße gegen das göttliche Gesetz und die Kränkungen Gottes vergeben und gesühnt. Der Beichtvater hat zwar die Gewalt, das Gewissen des Sünders zur aufrichtigen Erforschung zu zwingen, danach auch eine Buße zu verhängen und die Wiedergutmachung zu fordern. Alle diese Leistungen dürfen aber nur von Freiwilligen verlangt werden, denn das Sakra-
24 Ebd. cap. 93, 158b : »Postquam ad reipublicae Christianae regimen perfectum duas in ea ostendimus necessario dandas esse potestates, secularem scilicet et spiritualem, consequens est, ut, quid nomine spiritualis intelligamus, de qua nunc principaliter loqui proposuimus, subiungamus. De seculari vero iterum in sequenti libro [capp. 52–53, S. 251b–256b] (opitulante Deo) repetemus sermonem, cum an in summo pontifice ambae potestates concurrant, discutiemus. Dicimus autem, quod potestas spiritualis ecclesiae duplex est: quaedam scilitet ordinis sive sacramentalis et quaedam iurisdictionalis. Potestas autem ordinis sive sacramentalis dicitur, quae per aliquam consecrationem confertum ad confectionem et administrationem sacramentorum. Potestas vero iurisdictionalis est ad regendum populum secundum legem divinam in ordine ad beatitudinem supernaturalem, quae non est per consecrationem, sed simplici iniunctione Dei aut hominis confertur.« 25 Regnault, Praxis fori poenitentialis (wie Anm. 23) , to. 1, lib. I, cap. 1, sect. 2, num. 3–4, 2a. Vgl. Domingo de Soto, In quartum Sententiarum commentarii. Tomus I[–II] (1560). Duaci Catuacorum 1612, dist. 20, quaest. 1, art. 1, concl. 1, 500a–b ; Vitoria, Summa sacramentorum (wie Anm. 2), num. 143, 168–170; Pius IV pontifex, Canones et decreta sacrosancti oecumenici et generali concilii Tridentini sub Paulo III, Iulio III, Pio IIII pontificibus maximis. Index dogmatum et reformationis. Romae 1564, sess. 6, cap. 7, 33–34; Roberto Bellarmino, Tertiae controversiae generalis controversia secunda principalis, quae est de iustificatione impii et bonis operibus generatim quinque libris explicata, in: Ders., Disputationum de controversiis Christianae fidei adversus huius temporis haereticos. Tomus quartus (1586). Neapoli 1858, (pp. 804), 460–635, lib. I, cap. 2, 462a–463a ; Mart&n de Azpilcueta (Martinus Navarrus ab Azpilcueta), Commentaria in septem distinctiones de poenitentia (1542), in: Ders., Opera omnia […]. In quinque tomos divisa. […]. Tomus primus. Venetiis 1601, dist. 6, cap. 1, numm. 78–79, 335v ; ders., Manual de confessores (wie Anm. 4), cap. 21, par. 41, 257.
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ment erreicht seine Wirkung erst dann, wenn es von einem freien Priester erteilt und vom Sünder freiwillig empfangen wird. Sonst bleibt das Sakrament ungültig. Die andere Gewalt der Kirche richtet sich dagegen auf die Leitung der christlichen Gemeinde im äußeren Bereich, in dem die gerechten Verhältnisse unter den Christen gestört werden und Kontroversen oder sogar Klagen entstehen. Sie gilt daher für das forum externum, in dem die Richter, die nicht unbedingt Priester sein sollen, die Materie des Streites unter den Untertanen bestimmen, das Recht sprechen, das Urteil fällen, die Strafe verhängen und die Parteien zur Exekution zwingen.26 Die Strafen, die sie verhängen, gehören zur Disziplin der Kirche und gehen von der Mahnung bis zur Exkommunizierung und zum Interdikt.27 Daher ist diese Gewalt von zwingender Natur.28 Der Unterschied zwischen beiden Formen der geistigen Gewalt wurde von Gabriel Biel auch dadurch formuliert29, dass die erstere die Fälle zwischen Gott und dem 26 Regnault, Praxis fori poenitentialis (wie Anm. 23), to. 1, lib. I, cap. 2, sect. 1, num. 11–12, 3a : »Duplex autem est potestas iurisdictionis: una temporalis seu secularis, ad temporale bonum ordinata, qualis est civilis regum et aliorum principum, instituta ad reipublicae pacem. Altera spiritalis, qualis est ecclesiastica in papa et in aliis ecclesiasticis gerentibus curam animarum, ad quarum salutem ea ordinatur. De qua divisione pluribus a Turrecremata lib. I De ecclesia, cap. 87 et aliquot sequentibus. Spiritalis adhuc duplex est: una ad regendum populum Christianum in externo causarumque foro, altera ad curandum eumdem populum in interno poenitentialique foro. Per illam potest quis in definiendis causis, quae inter ipsius subditos controvertuntur, ius dicere sententiamve ferre, etiam in invitos. Unde coercitivam dictam esse notat a Turrecremata in lib. I De ecclesia, cap. 96, concl. 1. Per hanc vero in causa Dei offensi, facta a subdito suo confessione, potest illum absolvere a culpa et obligare ad satisfactionem, non tamen invitum, quia nemo, nisi volens, suscipit poenitentiae sacramentum, ad quod eiusmodi prolatio sententiae pertinet, ideoque voluntaria esse debet, non modo ex parte proferentis, sed etiam ex parte eius, in quem profertur. De hac etiam divisione pluribus a Turrecremata in citato cap. 96 et sequentibus.« 27 Für ein Verzeichis der Befugnisse der potestas coercitiva iurisdictionis vgl. Ebd., to. 1, lib. I, cap. 3, num. 15, 3b–4a : »Primum est, quod ea se extendat ad actus varios, qui sunt visitare subditos, inquirere in illorum mores et punire, legatos mittere, contumaces rebellesque accersere et illorum compescere audaciam, ad concilium vocare eos, quorum interest adesse, determinata in concilio confirmare, poena ecclesiastica coercere delinquentes, ut excommunicare, et a talibus poenis, ut ab excommunicatione, absolvere, casus reservare et reservatos relaxare, dare indulgentias, dispensare in voto et in iuramento, haereticos et scripta ipsorum condemnare, scripta antequam in lucem edantur examinare et iudicare, num sanam an pestiferam doctrinam contineant, qui vere sunt articuli fidei exponere, quae sint canonicae scripturae testari, dubia circa fidem et circa religionem orientia solvere, ritus et caeremonias ordinare, constituere episcopos et alios ecclesiae ministros, beneficia ecclesiastica distribuere et de bonis temporalibus ad ecclesiam pertinentibus disponere, aliquem vita functo in catalogo sanctorum cum Christo regnantium scribere, ordinare, [S. 4a] ut certis diebus memoria illius sit venerabilis in populo Christiano, et forte adhus plures alii, de quibus, qui ex professo disserere voluerit, in unoquoque materiam longi tractatus inveniet. Sed ne quidem de illis, qui ad hoc nostrum institutum pertinent, iste est proprius dicendi locus.« 28 Torquemada, Summae ecclesiasticae (wie Anm. 23), lib. I, cap. 96, concl. 1. 167a. 29 Gabriel Biel, In quartum librum Sententiarum, [In famatissimo Lugdunensi emporio arte et
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Menschen entscheidet; sie heißt potestas clavium, weil sie das Tor zum Himmel öffnet. Die letztere urteilt dagegen die Fälle zwischen Menschen und Menschen und wird auch potestas gladii genannt, weil sie die Untertanen zwingen kann.30 Was bisher beschrieben worden ist, umfasst den Bereich des Gewissens, das sich sowohl nach innen sakramental als nach außen juristisch ausdehnt. In der äußeren Sphäre wirkt aber auch die politische Obrigkeit, die auch über das Handeln des Menschen mit dem Menschen oder des Bürgers mit dem Bürger wachen soll. Man muss demzufolge eine weitere Stufe in der Hierarchie der Gewalten berücksichtigen. Juan de Torquemada hatte sämtliche Gewalten auf folgende Muster zurückgeführt. Beginnend von außen und oben, muss man zuerst im christlichen und vollkommenen Gemeinwesen zwei Gewalten unterscheiden, die säkulare und die geistige. Erstere erzielt das natürlich gute Leben der Menschen, und ihr gebührt die Aufsicht über die Ordnung der christlichen Gemeinschaft, soweit diese vom natürlichen Gesetz und dessen Auswirkungen im Zivilrecht bestimmt und geregelt wird. Die geistige Gewalt der Kirche entspringt dagegen dem göttlichen Gesetz. Alle Sorten des Gesetzes sind dann mit dem ewigen Gesetz kongruent, das ihr gemeinsamer Ursprung ist. Auch die geistige Gewalt der Kirche ist wiederum zweifach, denn sie kann juristischer oder sakramentaler Natur sein. Die erstere Form, die juristisch geistige Gewalt der Kirche, bezweckt die Regierung der christlichen Gemeinde nach dem göttlichen Gesetz, um die übernatürliche Seligkeit zu erzielen. Sie wird durch einen Befehl Gottes oder eines Menschen erteilt und übertragen. Sie wird im forum externum ausgeübt. Die letztere Form, die sakramental geistige Gewalt der Kirche wird von Gott durch die Weihe gegeben, und ihre Aufgabe ist nur die
industria probi viri Iohannis Cleyn Alemanni impressum, 1501], lib. IV, dist. 18, quaest. 2, art. 2, concl. 3, Bl. ii3va–b. 30 Regnault, Praxis fori poenitentialis (wie Anm. 23), to. 1, lib. I, cap. 2, sect. 2, num. 14, S. 3b : »Ex qua doctrina intelligitur duplex adhuc esse inter easdem spirituales iurisdictiones discrimen. Unum est, quod per posterioris collationem, duntaxat subiiciatur materia, in quam exerceatur clavium potestas adepta in susceptione ordinis sacerdotalis; per collectionem vero prioris obtineatur praelatio, qua quis in eos, quibus praeficitur, possit in externo publicoque fore de iis, quae ad spirituale regimen ipsorum pertinent, sententiam proferre etiam in invitos. Quod quidem additur, quia ad talis sententiae validitatem non requiritur voluntas ei submittendi, sicut ad validitatem sententiae, quae in interno foro profertur, prout iam num. 12 attigimus. Alterum discrimen est illud, cuius meminit Gabriel in IV Sententiarum, distinct. 18, quaest. 2, art. 2, concl. 3, quod prior potestas sit arbitrandi inter hominem et hominem, dicaturque gladius, quia subditos poenis coercet; posterior vero sit arbitrandi inter Deum et hominem, et dicatur clavis eo, quod aditum aperiat ad coelum, quae sola quidem ad usum sacramenti poenitentiae necessaria est. Quia tamen in eodem usu pendet ex priore, per quam dari, limitari, tolli aut suspendi potest, non erit abs re incidenter de ea paucis dicere.«
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Ausführung und Verwaltung der Sakramente. Sie wird im forum internum ausgeübt.31 Nach diesem Schema muss eine hohe juristische Relevanz des Gewissens mindestens in kirchenrechtlichen Angelegenheiten und als Auswirkung des göttlichen Rechtes anerkannt werden, denn letzteres erstreckt sich nicht nur auf das forum internum des Gewissens im eigentlichen Sinn, sondern betrifft auch den Bereich des forum externum, der mit äußeren und öffentlichen Handlungen zu tun hat, aber weitgehend durch die Einstellung des Gewissens und durch die Intention geregelt wird, weil es sich nicht auf das Naturrecht und das irdische Wohl, sondern auf das göttliche Gesetz und das überirdische Heil bezieht. Alles oder viel ist voll von Gewissen, und dies rechtfertigt den Eingriff der kirchlichen Obrigkeit in den Handel des Menschen mit dem Menschen.
IV.
Die Tugend der Gerechtigkeit
Diese Asymmetrie zwischen Naturrecht und Gewissen, zwischen natürlicher und göttlicher Gerechtigkeit hat ihren Ursprung in dem Wesen der Gerechtigkeit selbst. Wie schon Aristoteles in der »Nikomachischen Ethik« vorschlug, kann die Gerechtigkeit zuerst als die »vollkommenste« Fertigkeit definiert werden, die »kein bloßer Teil der Tugend, sondern die ganze Tugend« ist.32 Derselbe Aristoteles erkannte aber sofort an, dass die Gerechtigkeit auch in einer engeren Bedeutung gilt und lediglich als eine der vier Kardinaltugenden verstanden wird.33 Diese »besondere« Gerechtigkeit34 unterschied sich aber von den übrigen Kardinaltugenden dadurch, dass sie – wie schon Aristoteles festgestellt hatte – eine relationale Tugend ist. »Das Recht ist demnach etwas Proportionales.«35 31 Torquemada, Summae ecclesiasticae (wie Anm. 23), lib. I, cap. 93, 158b ; lib. I, cap. 77, par. 1, 147a : »Plane quemadmodum (ut supra cap. 59 explanavimus) fidelium universitas duos in generali complectitur ordines, laicos scilicet et clericos, quasi duo latera corporis unius, ita in generali duae in ipsa fidelium universitate sunt potestates, scilicet secularis et spiritualis, ut magister Hugo de Sancto Victore libro De sacramentis, parte secunda inquit. In laicis quippe, ad quorum studium et providentiam ea, quae terrenae vitae necessaria sunt, pertinent, potestas est terrena. In clericis vero, ad quorum studium spectant ea, quae spiritualis vitae sunt bona, potestas est divina. Illa ergo potestas secularis dicitur, ista spiritualis nominatur.« Vgl. Hugo de Sancto Victore, De sacramentis libri duo (1170?), in ders., In hoc volumine continentur tractatus infrascripti venerabilis magistri Hugonis de Sancto Victore canonici regularis viri doctissimi et sanctissimi. Venetiis 1506, Bl. 2ra–118rb, hier lib. II, part. 2, cap. 4, Bl. 67ra–b. 32 Aristoteles, Ethica Nicomachea, lib. V, cap. 3, 1130a 8–9. 33 Ebd., lib. V, cap. 4–5, 1130a 14–1131a 9. 34 Ebd., lib. V, cap. 5, 1130b 30. 35 Ebd., lib. V, cap. 6, 1131a 10–b 8, hier 1131a 30; lib. V, cap. 3, 1129b 26–27. Vgl. Thomas Aquinas, Opera Omnia (wie Anm. 19). Volumen tertium. Summa theologica, part. IIa IIae,
Gewissen und Gerechtigkeit in den Beichtbüchern der Frühen Neuzeit
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Die Autoren der spanischen Scholastik, die hier Aristoteles und Thomas von Aquin folgten, bewiesen die Relationalität der Gerechtigkeit mit drei Argumenten. Zum ersten kann man beobachten, dass alle anderen Tugenden immer und allein in Bezug auf den Agenten betrachtet werden, während die Gerechtigkeit das Handeln des Einzelnen im Verbindung mit anderen Menschen berücksichtigt. »Prima: quod cum proprium sit omnium virtutum rectum perficere opus, rectitudo tamen reliquarum virtutum existimatur in ordine ad ipsum agentem, iustitia vero in ordine ad alterum. Et ratio est quod iustitia est virtus ordinans habentem ad alium, reliquae vero ipsum ordinant ad seipsum.«36
Die Gerechtigkeit setzt tatsächlich immer ein Verhältnis zwischen zwei Menschen voraus, das entweder erst gebildet wird oder gestört wurde und demzufolge verbessert werden soll. In beiden Fällen hat man mit einer ›Angleichung‹, einer adaequatio zu tun, in der die Größe auf der einen Seite mit der Größe auf der anderen Seite verglichen und ›angeglichen‹ werden soll. Im Falle eines neuen Verhältnisses, das zum ersten Mal eingeführt wird, tauscht man Gleiches mit Gleichem aus, wie zum Beispiel, wenn man eine Ware kauft oder wechselt. Wenn aber ein schon bestehendes Verhältnis verletzt wird, wird eigentlich eine Proportion verändert, die dann zum ursprünglichen Maß zurückgeführt werden soll, wie es im Fall des Strafrechts geschieht. Gerechtigkeit ist daher die Suche nach dem rechten Verhältnis zwischen zwei Elementen, so dass iustificare das gleiche wie adaequare und iustum das gleiche wie aequum bedeutet. Demzufolge muss die aequitas als der wahre Gegenstand der Gerechtigkeit angesehen werden. Das zweite Argument, mit dem man die Gerechtigkeit von den übrigen Kardinaltugenden unterscheiden kann, betrifft die Stellung des Subjektes und dessen Absichten. »Secunda ex hac nascitur differentia, quod in materia reliquarum virtutum nihil vere ac legitime censetur rectum, nisi respectu agentis. Exempli gratia, Si avarus parca utatur mensa, non ut temperate vivat, sed ne pecuniam dispendat, opus illud non censetur rectum, neque virtuti admensuratum. Si vero debitor quantum aeris debet tantum creditori persolvat, sinistra tamen intentione, nempe ut illud dilapidet, vel si gladium quem in deposito habet, domino restituat, sciens in malum usum esse ab illo repetitum; tunc tale opus iustum simpliciter censetur, quia est debito aequale, licet non opus virtutis neque qui solvit sit studiosus.«37
quaest. 57, art. 1, S. 475b–477a ; Francisco de Vitoria, De iustitia. Tomo primero (2. 2. qq. 57–66), hrsg. von Vicente Beltr#n de Heredia. Madrid 1934, quaest. 57, art. 1, 1–6. 36 Soto, De iustitia et iure (wie Anm. 14), lib. III, quaest. 1, art. 1, 192a. 37 Ebd., lib. III, quaest. 1, art. 1, 192a–b.
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Anders als bei den anderen Tugenden, wird der Wert einer gerechten Handlung nicht an der Intention des Subjekts gemessen, sondern einzig an ihrem Gehalt, der einer gewissen, ›angeglichenen‹ Proportion entsprechen soll. Wann man eine Schuld begleicht, bleibt diese Handlung immer gerecht, auch wenn man sie aus Bosheit vollführt hat, um wahrlich dem Mitmenschen zu schaden. Alle anderen Tugenden orientieren sich dagegen an der Intention des Subjekts, sodass dieselbe enthaltsame oder mutige oder kluge Handlung sowohl gut als auch böse sein kann, je nachdem, ob ein guter oder böser Zweck durch sie verfolgt wird. Zum dritten unterscheidet sich die Gerechtigkeit von den anderen Kardinaltugenden auch dadurch, dass sie einen eigenen Gegenstand hat, das Gerechte, während die übrigen drei Kardinaltugenden unterschiedslos die gleichen Handlungen berücksichtigen. Dieses aristotelische Schema38 hat eine wichtige Folge im Hinblick auf das Wirken des Gewissens, denn es ist klar, dass die Gerechtigkeit das Gewissen und die Intention des handelnden Subjekts, des Täters, nicht berücksichtigt, solange dies nicht irgendwie zur Bestimmung oder Störung des gerechten Verhältnisses, des iustum oder des ius beiträgt. Die menschliche Gerechtigkeit, die im Naturund Zivilrecht ausgeübt wird, sollte daher vom Gewissen absehen. Aber dasselbe Gewissen ist gerade eine entscheidende Konstante in der Ausübung der potestas spiritualis und nicht nur im forum internum, sondern auch im forum externum. Diese Asymmetrie hat die Folge, dass eine und dieselbe Handlung zwei entgegengesetzte Urteile erfahren kann, wenn sie einerseits von der säkularen und andererseits von der kirchlichen Gerechtigkeit beurteilt wird. Ein wichtiger Fall, in dem diese Asymmetrie besonders sichtbar wird, war die Kriegslehre, denn die Beichtväterspiegel erkannten ausdrücklich, dass es zwischen der menschlichen und himmlischen Gerechtigkeit einen Unterschied gab und dass diese Schwierigkeit vom Wirken des Gewissens bedingt wurde.
V.
Das Urteil über den Krieg
Die Beichtväterspiegel berücksichtigten vor allem zwei Themen der Kriegsführung, die mit den Gewissensfällen der Befehlshaber und der Kriegsleute eng verbunden waren. Zum ersten behandelten sie die Frage, ob und unter welchen Umständen ein Krieg als gerecht angesehen werden durfte. Diese war eine wichtige Frage der antiken und vormodernen Kriegslehre, die in der Moraltheologie intensiv besprochen wurde, denn der Krieg war immer als eine Handlung der Gerechtigkeit oder sogar der Rechtsprechung verstanden, die auf gerechte Anlässe gegründet werden sollte. Zum zweiten formulierten sie diese 38 Aristoteles, Ethica Nicomachea (wie Anm. 32), lib. V, cap. 1, 1129b 25–1130a 13.
Gewissen und Gerechtigkeit in den Beichtbüchern der Frühen Neuzeit
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Frage auch vom Gesichtspunkt der Untergeordneten, worunter man sowohl das einfache Fußvolk als auch den mittleren Offizier, den Hauptmann, verstehen konnte. Sollte man nämlich immer dem oberen oder höchsten Befehlshaber Gehorsam leisten oder durfte man ihm auch den Gehorsam verweigern? Und unter welchen Umständen durfte dies geschehen? Hier ist vor allem die erstere Frage wichtig. Beide Fragen wurden vorbildlich in der »Summula de peccatis« des Kardinals Caietanus abgehandelt. Ein ungerechter Krieg ist nämlich an sich immer eine Todsünde. Der Beichtvater muss ihn daher mit der höchsten Genauigkeit erkennen können, damit er auch lehren kann, wie man diese Sünde vermeidet und abbüßt. Wie also ein Krieg aus drei Ursachen (aus gerechtem Anlass, legitimer Obrigkeit und guter Absicht) gerecht wird, so wird ein Krieg aus den entgegengesetzten Ursachen ungerecht, wenn nämlich eines unter den folgenden Elementen fehlt: der gerechte Anlass, die legitime Obrigkeit oder die gute Absicht. Die Kirchenväter und vor allem Augustin (354–430) hatten schon alle drei Voraussetzungen deutlich erkannt. Erstens ist der Krieg gerecht, wenn einem Unrecht vorgebeugt oder es bestraft wird; zweitens sind nur die Fürsten und die vollkommenen Gemeinwesen befugt, die Gewalt anzuwenden, und drittens soll die Strafhandlung nicht aus Leidenschaft durchgeführt werden.39 Dementsprechend soll der Beichtvater auf dreierlei Umstände aufpassen. Er soll zuerst den gerechten Anlass bestimmen, und wenn er ihn nicht richtig unterscheiden kann, darf er sich an glaubwürdige Personen wenden. Eine legitime Obrigkeit lässt sich dann immer als ein vollkommenes Gemeinwesen (res publica perfecta) definieren, und darunter muss man den Papst, den Kaiser, die Könige und alle freien Herrschaften zählen, welche niemand über sich anerkennen. Wenn auch diese beiden Bedingungen erfüllt worden sind, kann ein Krieg trotzdem ungerecht sein, wenn man ihn nämlich mit einer bösen Absicht führt. Wenn man Räuber 39 Caietanus, Summula de peccatis (wie Anm. 18), Bellum, 15va–b : »Bellum quando dicatur iustum vel iniustum, licitum vel illicitum. Bellum iniustum ex propria ratione constat esse peccatum mortale. Circa quod primo videndae sunt conditiones, ex quibus bellum est iniustum. Et quia ad bellum iustum tria exiguntur (scilicet primo iusta causa bellandi, secundo authoritas indicendi bellum, tertio recta intentio), ideo bellum tripliciter contingit inveniri iniustum: vel ex defectu iustitiae in causa vel ex defectu authoritatis in capite vel ex defectu rectitudinis in intentione. Quicunque siquidem horum defectuum acciderit, bellum redditur iniquum. Et quidem de iusta causa Augustinus dicit [Decretum, part 2,] caus. 23, quaest. 2, cap. [2:] Dominus noster : ›Iusta bella solent definiri, quibus ulciscuntur iniurias, si gens vel civitas plectenda est, quae vel vindicare neglexerit, quod a suis improbe factum est, vel reddere, quod per iniuriam ablatum est‹. De authoritate vero principium caus. 23, quaest. 1, cap. [4:] Quid culpatur, idem dicit: ›Ordo naturalis mortalium paci accomodatus hoc poscit, ut suscipiendi belli authoritas atque consilium penes principes sit‹. De rectitudine autem intentionis idem dicit ibidem: ›Nocendi cupiditas, ulciscendi crudelitas, implacabilis animus, feritas bellandi, libido dominandi et si qua sunt similia, haec sunt, quae in bellis iure culpantur‹.«
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mit Gewalt bestraft, führt man zweifellos einen gerechten Krieg, aber man begeht trotzdem eine Sünde, wenn man dabei die Waffen nicht aus dem Gerechtigkeitssinn, sondern aus dem Hass führt. Beide ersten Voraussetzungen oder causae wurden auch in der theologischen und juristischen Literatur abgehandelt; diese dritte gehörte dagegen zum eigenen Wirkungsfeld des Beichtvaters, der hier in erster Linie mit der Tugend des Befehlshabers oder des Hauptmanns konfrontiert wird und die Existenz des forum internum voraussetzte. Hier musste nämlich der Beichtvater das Gewissen und die Gemütsverfassung des Feldherrn erforschen und bewerten.40 Tatsächlich soll man in diesem Fall eine wichtige Unterscheidung, eine distinctio dialectica, einführen. Wenn nämlich eine der beiden ersten Voraussetzungen des gerechten Krieges fehlt, wenn man aus keinem gültigen Anlass handelt oder durch eine unbefugte Obrigkeit geführt wird, ist der Krieg schlechthin ungerecht, und gleichfalls ungerecht und unzulässig sind auch alle seine Folgen. In diesem Fall ist man dazu verpflichtet, alle ungerechten Wirkungen und Schädenwiedergutzumachen. Wenn dagegen beide ersten Bedingungen erfüllt worden sind und nur die dritte unbefriedigt bleibt, weil man mit einer bösen Gemütsverfassung handelt, dann ist der Krieg in seinem allgemeinen Wert ungerecht, seine Folgen bleiben aber bestehen und sollen nicht abgetan werden, weil sie äußerlich gerecht bleiben. Ein Beispiel kann diesen Fall erklären. Wenn ein Hauptmann Räuber mit den Waffen bekämpft, werden beide ersten Voraussetzungen (iusta causa, legitima potestas) eindeutig erfüllt. Wenn aber der Hauptmann die Banditen mit einer bösen Intention verfolgt, begeht er eine tödliche Sünde, die seinen Krieg abwertet. Dies geschieht aber nur vor dem Gericht des Gewissens und vor Gott oder vor der Kirche, die jenen Hauptmann durch die geistigen Mittel sowohl des inneren als auch des äußeren Gerichtshofs verurteilen darf. Vor den Menschen bleibt aber die Handlung des Befehlshabers gerecht und gültig, denn er bestraft Übeltäter. Seine Sünde wird dann durch Beichte und Sühne wiedergutgemacht, sie erfordert poenitentia, aber keine restitutio.41 40 Ebd. 15vb–16ra : »Tu autem confessor, qui iustam causam belli certa [16ra] ratione invenire nequis, fide dignis credere potes. Principis autem nomine in proposito intellige rempublicam perfectam, hoc est papam, imperatorem, regem, dominium liberum, hoc est, quod superiorem non habet, sed est velut princeps. Intentionem quoque malam, vitiosum reddere bellum secundum alias conditiones iustum intellige. Sicut latronis quoque iusta punitio vitiosa redditur, si ex odio iustitia exercetur. Peccatur enim ex prava intentione in opere iusto. Et ideo sola poenitentia aboletur nec est opus restitutione, quoniam laesus latro vel debellatus est iuste laesus in nulloque iniuste damnificatus, quamvis ex parte animi iustitiam exercentis malitia affuerit, in suae animae damantionem nolens iustum iuste efficere. Causa vero iusta aut authoritas si defuerit in bello, non est bellum, sed invasio de facto, caedes rapinaque est.« 41 Thomas de Vio Caietanus, Commentaria, in Thomas Aquinas, Opera omnia iussu impen-
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Ähnlich hatte schon auch Silvestro Mazzolini alias Sylvester Prierias (1456–1523) erklärt, dass die richtige Intention der Streitenden als die dritte Bedingung des gerechten Krieges angesehen wurden sollte, und darunter sollte man verstehen, dass sie das Gute fördern und das Böse bekämpfen sollten.42 Daher durfte man keineswegs aus Hass oder aus einer ähnlichen Gemütslage Krieg führen, sondern nur, um Gerechtigkeit und Liebe auszuüben.43 Dieser Schluss war eigentlich schon von Augustin im Buch »Gegen den Manichäer Faustus« anerkannt worden und war als Leitprinzip für die Kriegsführung in den »Decretum« des Magister Gratianus aufgenommen worden.44 Aber die letzte und saque Leonis XIII p. m. edita. Tomus octavus Secunda Secundae Summae theologiae a quaestione I ad quaestionem LVI, cura Fratrum eiusdem ordinis. Romae 1895, ad part. IIa IIae, quaest. 40, art. 1, 313a–314b, hier 314b : »In eodem articulo, circa rectitudinem intentionis, scito quod, quemadmodum carnifices iudicum, si ex odio vel feritate occidunt damnatos iuste, peccant quidem mortaliter, sed non tenentur ad restitutionem laesis ex morte, nec vestium occisorum, ita milites bellum iustum exercentes et concessa auferentes, quamvis pessimo animo faciant, peccant, sed non tenentur restituere«; Thomas Aquinas, Opera Omnia (wie Anm. 19), Summa theologica. Continuatio partis Primae partis Secundae et Secunda pars Secundae, part. IIa IIae, quaest. 66, art. 8, Ad primum, 545b : »Ad primum ergo dicendum, quod circa praedam distinguendum est, quia si illi, qui depraedantur hostes, habeant bellum iustum, ea quae per violentiam in bello acquirunt, eorum efficiuntur et hoc non habet rationem rapinae, unde nec ad restitutionem tenentur ; quamvis possint in acceptione praedae iustum bellum habentes peccare per cupiditatem ex prava intentione, si scilicet non propter iustitiam, sed propter praedam principaliter pugnent. Dicit enim Augustinus in lib. De verbis Domini, serm. 82, col. 1901, to. 5, quod ›propter praedam militare peccatum est‹. Si vero illi qui praedam accipiunt, habeant bellum iniustum, rapinam committunt et ad restitutionem tenentur.« 42 Mazzolini, Sylvestrinae summae (wie Anm. 20) pars prima, voc. Bellum I: De bello publico, 89b–95a, hier num. 2., . 90b : »Tertium est intentio bellantium recta, quae intendit, vel ut bonum promoveatur, vel malum evitetur. Unde bellare non licet ex odio vel huiusmodi, sed propter iustitiam et charitatem, ut in dicto capite Quid culpatur et capite Militare [Decretum, part 2, caus. 23, quaest. 2, cap. 4 und cap. 5]. Sed istud tertium intellige requiri ad vitandam culpam, non autem ad licite retinenda, quae capiuntur in bello, quia iniqua intentio non variat rerum inaequalitatem vel aequalitatem, ex quibus dependet ius retentionis et restitutionis.« 43 Vgl. Giuseppe Pirola, La teologia della guerra di Tommaso d’Aquino, in: Merio Scattola (Hrsg.), Figure della guerra. La riflessione su pace, conflitto e giustizia tra Medioevo e prima et/ moderna. Milano 2003, 43–62. 44 Gratianus de Clusio, Decretum magistri Gratiani, cur. Aemilius Ludovicus Richterus et Aemilius Friedberg. Leipzig 1879, part. 2, causa 23, quaest. 1, can. 4: Quid culpatur, Sp. 892–893. Vgl. ebd., can. 5: Militare non est delictum, Sp. 893; Aurelius Augustinus, Contra Faustum Manichaeum libri triginta tres, in: Jacques-Paul Migne (Hrsg.), Patrologiae cursus completus. Series Latina. Parisiis 1845, Bd. 42, Sp. 209–518, hier lib. XXII, capp. 74–75, Sp. 447–448; [Pseudo] Aurelius Augustinus, Sermones de verbis Domini. Basileae 1494, serm. 19, Bl. d6ra–vb, hier d6rb = ders., Sermones, in: Jacques-Paul Migne (Hrsg.), Patrologiae cursus completus. Series Latina. Lutetiae Parisiorum 1846, to. 39, Sp. 1735–2354, hier Appendix tomi quinti operum s. Augustini complectens sermones supposititios, Classis prima. De Veteri et Novo Testamento, Sermo 82: De verbis Evangelii Lucae, cap. 3, 12–14: Venerunt autem et publicani ad Ioannem, Sp. 1904–1906, hier num. 1, Sp. 1904–1905:
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dritte Voraussetzung ist nur die Bedingung dafür, dass man der Sünde im Krieg ausweicht, aber sie kann nicht erwirken, dass man die im Krieg erworbenen Güter verliert, weil die boshafte Intention die Gleichheit oder Ungleichheit in der Proportion eines gerechten Verhältnisses nicht ändern kann. Und aus dieser Proportion oder aequalitas entspringt das Recht auf den Besitz. Auch Angelo Carletti alias Angelus da Clavasio (1411–1495) hatte in seiner »Summa Angelica« (1486) argumentiert, dass solche Fälle nur in das forum poenitentiale gehören und nicht dem weltlichen Richter zustehen.45 Auch Battista Trovamala (1430?–1500?) (1484–1489) schlug dieselben Argumente vor46, und diese wurden von Bartolomeo Fumi und von Diego de Covarrubias y Leyva (1512–1577) Mitte des sechzehnten Jahrhunderts nochmals wiederholt.47 »Num. 1. Conditio nulla excusat peccatorem. Stipendia. Militia christiani prima. Nonnulli fratres, qui aut militiae cingulo detinentur, aut in actu sunt publico constituti, cum peccant graviter, hac solent a peccatis suis prima se voce excusare, quod militant; et ne bene aliquando faciant, occupatos se malis actibus conqueruntur : perinde quasi militia hominum, non voluntas in culpa sit; ita quod ipsi gerunt, officiis suis adscribunt. Non enim militare, delictum est; sed propter praedam militare, peccatum est. Nec rempublicam gerere, criminosum est; sed ideo agere rempublicam, ut rem familiarem potius augeas, videtur esse damnabile. Propterea enim providentia quadam militantibus sunt stipendia constituta; ne dum sumptus quaeritur, praedo grassetur. Illud autem quale est quod cum ob errorem aliquem a senioribus arguuntur, et imputatur alicui de illis cur ebrius fuerit, [Sp. 1905] cur res alienas pervaserit, caedem cur turbulentus admiserit; statim respondeat, quid habebam facere, homo saecularis et miles? Numquid monachum sum professus, aut clericum? Quasi omnis qui clericus non est aut monachus, possit ei licere quod non licet. Cunctis igitur officiis, sacris in Litteris, praescribitur norma vivendi, omnis ad bene vivendum provocatur sexus, aetas et dignitas. Igitur nemo se excuset publicis actibus, nemo de occupatione militiae conqueratur. Apud omnem christianum prima honestatis debet esse militia.« 45 Carletti, Summa Angelica (wie Anm. 15), voc. Bellum, fo. 79va–81va, hier num. 5, Bl. 80rb. 46 Trovamala, Summa Rosellae (wie Anm. 20), voc. Bellum, Bl. 23vb–25va, hier num. 3, Bl. 24ra. 47 Fumo, Summa aurea (wie Anm. 20), voc. Bellum, 120–130, hier num. 8, 123: »Capta violenter ab hostibus in bello secundum Thomam IIa IIae, quaest. 66, art. 8, Ad primum sunt capientium nec tenentur restituere, licet quamquam mortaliter peccant, ut si ex cupiditate, odio vel alia mala intentione faciant principaliter. Idem tenent Hostiensis et Archidiaconus in cap. Dominus, [Decreti, caus.] 23, quaest. 2«; Diego de Covarrubias y Leyva, Regulae Peccatum, De regulis iuris, Libro Sexto, relectio (1554), in: Ders., Opera omnia multo quam prius emendatiora ac multis in locis auctiora, in duos divisa tomos. Tomus primus. Venetiis 1581, 521–586, part. 2, par. 9, numm. 1–2, 565a : »Ad iustitiam belli non tantum est necessaria authoritas eius, qui potest bellum indicere, sed et iusta indicendi belli causa et praeterea recta bellantium et indicentium intentio, ut sane fiat et bellum geratur animo propulsandi iniuriam a republica eidemque irrogatam vindicandi. Sed quia haec ultima causa non pertinet ad restitutionem captorum in bello, cum, et si desit recta bellantium intentio, nihilominus capta in bello alioqui iusto et indicto ab eo, qui indicere potuit, non ex hoc sunt restituenda, quod in specie notat Hadrianus [in IV Sententiarum, tract. De restitutione], in dicto cap. Aggredior, [Bl. 32v–35r]; Caietanus [in IIam IIae], dicta quaest. 40, art. 1, ad finem; Maior [in IV Sententiarum, dist. 15], in dicta quaest. 20, versic. Istis notatis; Sylvester in verbum Bellum, quaest. 1 et Ioannes Eckius in dicta homilia [ultima Dominicae tertiae post Epiphaniam], col. 4, siquidem restitutionis obligatio nunquam oritur a prava capientis intentione, authore Thoma IIa IIae, quaest. 66, art. 8, Ad primum.«
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Für diese Tradition wurde also dieselbe Handlung desselben Hauptmanns unterschiedlich beurteilt, wenn er vor einen weltlichen oder vor einen kirchlichen Richter tritt. Der erstere sprach ihn los, der letztere verurteilte ihn, und dies Urteil konnte auch nicht ohne äußerliche Folgen bleiben, denn die kirchliche Jurisprudenz durfte auch äußere Strafen verhängen.
VI.
Die protestantische Theologie und die Folgen für das Gewissen
Das Modell der drei Gerichtsinstanzen, das drei unterschiedliche Gewalten und Gerichtbarkeiten, forum civile, forum spirituale externum und forum spirituale internum, vorsah und umfasste, wurde von der Beichtväterliteratur und von der kirchenrechtlichen Literatur der Frühen Neuzeit und der Neuzeit beibehalten und bis ins zwanzigste Jahrhundert weiterentwickelt, sodass sie auch in den Codex iuris canonici von den Jahren 1917 und 1983 aufgenommen wurde.48 In diesem Sinn vervielfachte oder verfeinerte die katholische Theologie zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts die Unterscheidungen unter den verschieden Ebenen der Argumentation. Der spanische Kartäuser Juan Valero (1560?–1625?) unterschied das forum internum in zwei weitere Bereiche, deren erster mit dem Sakrament der Buße zusammenfiel, während der zweite die Versöhnung mit Gott erzielte, die auch außer dem Sakrament geschehen konnte.49 Die Auswirkungen dieser Bestrebungen ließen sich noch im achtzehnten Jahrhundert in den ausführlichen Abhandlungen von Benedikt Schmier (1682–1744) wahrnehmen, der 1729 und 1731 in enzyklopädischer Form sowohl das forum internum als auch das forum externum abhandelte.50
48 Georg May, Forum, in: Walter Kasper (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche. Dritte, völlig neu bearbeitete Auflage. Freiburg im Breisgau 2009, Bd. 3, Sp. 1368–1369. 49 Juan Valero, Differentiae inter utrumque forum, iudiciale videlicet et conscientiae. Cartusia Maioricarum 1616, Praeludia, num. 2, Bl. 1va : »Secundo observa, quod per forum interiorem vel conscientiae aliquando intelligitur forus animae in iudicio poenitentiali sacramenti confessionis. Aliquando etiam extra confessionem, ad distinctionem fori contentiosi. […] Et probatur in cap. 6, sess. 24 Concilii Tridentini De reformatione, ubi datur potestas episcopis dispensandi super irregularitatibus et suspensionibus ex delicto occulto provenientibus et absolvendi a quibuscumque casibus, etiam Sedi Apostolicae reservatis, in foro conscientiae per se vel per suos vicarios, ad id specialiter deputatos. Ubi per forum conscientiae non intelligitur tantummodo forus sacramenti poenitentiae, sed extra ipsum sacramentum.« 50 Benedikt Schmier, Potestas clavium fori interni, cum virtute et sacramento poenitentiae, ad supplementum Tertiae partis Summae Angelicae, […] authore et praeside p. Benedicto Schmier […]publice propugnanda a r. r. f. Ferdinando Mayer. Salisburgi 1729; ders., Potestas clavium fori externi, circa censuras ecclesiasticas, ad supplementum Tertiae partis Summae Angelicae, cum Tractatu de irregularitatibus, et parergis ex universa theologia collectis […]
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Die Entwicklungen und die historischen Veränderungen in diesem Modell werden deutlich, wenn man die Literatur über das Gewissen berücksichtigt. Das Muster, das die katholische Theologie und das katholische Kirchenrecht bis auf die jüngsten Zeiten verfolgt haben, wurde zuerst auch von der protestantischen Theologie beibehalten. Der fürstlich Sachsen-Weimarische Hofprediger Georg Strigenitz (1548–1603) veröffentlichte 1593 eine Sammlung von 31 Predigten unter dem Titel »Conscientia, d. i. Bericht vom Gewissen des Menschen«, die wieder 1596, 1600, 1602, 1619 aufgelegt und noch 1654 als »Bericht vom Gewissen« gedruckt wurde.51 Hier wollte er zeigen, was das Gewissen sei und wie weit man an das Gewissen in weltlichen und religiösen Angelegenheiten appellieren durfte und sollte. Er begann seine erste Rede mit einer genauen Bestimmung aller Begriffe, die in der Argumentation angewandt wurden, und fing mit den Gerichten an, die er als vier an der Zahl anerkannte. »In Heliger Schrifft finden wir, das unser lieber Gott vier unterschiedliche Gerichte verordnet hat, wieder alle ungehorsame, Mißhendler, Verächter, unnd Ubertreter seines Gesetzes. 1. Iudicium Fori, das weltliche Gerichte. 2. Iudicium poli, das Geistliche Gerichte. 3. Iudicium Conscientiae, das heimliche Gewissens Gerichte. 4. Iudicium extremum, das öffentliche Jüngste Gerichte. Diese müssen die execution thun und die Straffe ergehen lassen, uber alle, so das Gesetze ubertreten.«52
Neben dem weltlichen Gericht der politischen Obrigkeit wird auch hier eine Instanz der christlichen Gemeinde vorgesehen, die öffentlich mit den Mitteln der kirchlichen Gerichtsbarkeit urteilt und bestraft. Dieser Gerichtshof entspricht offenbar dem forum externum der katholischen Theologie und soll selbstverständlich vom Konsistorium betätigt und geleitet werden.53 Auch in diesem auctore et praeside p. Benedicto Schmier […] publicae disputationi proposita ab admodum reverendo, Petro Nepomuceno Riederer. Salisburgi 1731. 51 Gregor Strigenitz, Conscientia: Das ist, Einnfeltiger unnd gründtlicher Bericht, vom Gewissen deß Menschen, aus heiliger Schrifft zusammen gezogen, und in ein und dreyssig Predigten verfasset, und geprediget zu Weymar in der Schloß Kirchen. Jena 1593; ders., Bericht vom Gewissen. Ausz H. Göttlicher Schrifft, bewärten Kirchenlehrern und Historienschreibern, auch täglicher Erfahrung zusammen gezogen, und in underschiedliche Predigten verfasset. An jetzo aber, umb Bequemlichkeit und nutzlichen Gebrauchs willen, in gewisse Capitel gerichtet. Ulm 1654. 52 Strigenitz, Conscientia (wie Anm. 51), Pred. 1, Bl. 6v. Vgl. Alexander Bixel, »›Er schreibe es dem Teufel zu, und nicht mir‹. Erwägungen zu Gregor Strigenitz’ Predigten über das Gewissen«, in: Johann Anselm Steiger (Hrsg.), Gregor Strigenitz (1548–1603), ein lutherischer Kirchenmann in der zweiten Hälfte des Reformations-Jahrhunderts. Neuendettelsau 2003, 105–128. 53 Strigenitz, Conscientia (wie Anm. 51), Pred. 1, Bl. 6v–7r : »1. Das Iudicium Fori, Weltliche Obrigkeit ist von Gott darzu verordnet, daß sie mit dem Schwerdt und eusserlicher gewalt straffen soll, was offentlich ist, Sünde und Laster, und was wieder Gottes Gebot und ordnung, wieder das natürlich unnd beschriebne recht gehandelt, und begangen wird, das soll sie straffen nach Gottes befehl. ›Du solt das böse hinweg thun, auff daß die andern eine schew haben, du solt dich nicht erbarmen‹ (Deut. 13, [v. 9?]). Rom. 13, [v. 4]: ›Sie tregt das Schwerdt
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Modell wird eine dritte und tiefste Ebene vorgesehen, die dem katholischen forum internum entspricht. Hier aber wird ein wichtiger Unterschied im Vergleich mit der katholischen Tradition eingeführt, denn das Verhältnis zwischen Gott und Menschen lässt sich hier nicht durch die sakramentale Vermittlung der Kirche oder durch den geweihten Priester regeln, sondern Gott spricht unmittelbar zum Menschen im Gericht des Gewissens, welches das Handeln des Menschen verurteilt und bestraft, ohne dass weitere Instanzen eingreifen dürfen. »Derhalben so hat Gott uber die vorigen zwey Gerichte, einem jeden einen sonderlichen Schöppen Stuel, und Gerichte in sein Hertz verordnet, das Iudicium Conscientiae, sein eigen Gewissen, welches sein Ankläger, Richter und Hencker ist, und ihn uberzeuget, und dahin bringt, dass er bekennen muß, Ja Ich habs gethan, und wenn mich gleich die gantze Welt entschüldigte, So hilfft es doch nichts. Ich weis es anders.«54
Dieser Unterschied wurde in denselben Jahren noch stärker von der reformierten Theologie der Puritaner unterstrichen, die dem unmittelbaren Verhältnis Gottes zu jedem einzelnen Menschen eine so entscheidende Funktion oder heilstheologische Bedeutung beimaß, dass sie die Wirkung des mittleren Gerichts, des kirchlichen oder kirchenrechtlichen forum externum, ablehnten und im allgemeinen nur zwei Gerichtsinstanzen anerkannten: einerseits das forum saeculare des politischen Magistrats und andererseits das forum internum des Gewissens, das in einem direkten Verhältnis zu Gott steht. Das Urteil und die Strafe konnten daher nur auf zwei Ebenen geschehen: entweder im Inneren des Gewissens oder in der Öffentlichkeit des weltlichen Gerichts. Für eine Justiz der Kirche, die im äußeren Bereich, aber über innere Angelegenheiten entschied, gab es keinen Raum mehr. Dieser Schritt kann im »Traktat über das Gewissen« (ATreatise of Conscience, 1596) von William Perkins (1558–1602) und in seiner »Sammlung der Gewisnicht umb sonst. Sie ist Gottes Dienerin, eine Racherin zur straffe uber den der böses thut.‹ ›Wer tödtet, der ist des Gerichts schuldig‹, sagt der Herr Christus selbs, Matth. 5, [v. 21]. Uber dem soll die weltliche Obrigkeit halsgerichte halten, und [Bl. 7r] jhn wieder lassen umbbringen, nach dem Urteil Gottes: ›Wer Menschen Blut vergeust, des Blut sol wider vergossen werden durch Menschen‹ (Gen. 9, [v. 6]). Denn das unschüldige Blut fodert Rache, Gen. 4, [v. 10]. Und ist ein groß und wunderlich ding, wenn einer ist entleibt, erstochen, oder erschlagen worden, und der Theter nahe dabey stehet, jhn ansihet oder anrüret, daß die Leiche, oder der todte Cörper anfehet zu bluten unnd schweissen, das ist Gottes Rache, der kann man nicht entflihen. 2. Darnach ist noch ein Gericht Gottes, welches mann nennet Iudicium poli, das Geistliche Gerichte, oder Kirchen Gerichte, das wird nun nicht geführet mit dem Schwerd, und eusserlicher gewalt, Sondern mit Gottes Wort, und dem Bann, da man in der Christenheit falsche Lehrer und Ketzer, und mutwillige, halstarrige sünder, nach gnugsamer warnung und vermanung, mit rath und bedencken des Consistorii, aus der Christlichen Gemeine schleust, und versagt jhnen alles das, so ein Christ sich zugetrösten hat, bis sie ware Busse thun.« 54 Ebd., Pred. 1, Bl. 10v.
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sensfälle« (The first part of the cases of conscience) aus dem Jahre 1604 klar abgelesen werden. Es ist die natürliche Eigenschaft und Beschaffenheit des Gewissens, in einem jeglichen Menschen ein solch Ding, das in Ansehung seiner Macht und Gewalt in die Mitten zwischen Gott und den Menschen gesetzet wird, dergestalt, dass es unter Gott, und doch über den Menschen ist. Diese natürliche Eigenschafft und Beschaffenheit aber des Gewissens, wird in zwey Theil [S. 54] abgetheilet. Der Erste ist derselben Unterwürfflichkeit, danach es Gott und seinem Wort unterthan ist. Von dieser Unterwürfflichkeit müssen wir diese Regul behalten: Gott allein bindet und verpflichtet das Gewissen mit seinem Worte allein, indem es dasselbige in allen Thun, entweder entschuldiget, üm dass es wolgethan; oder anklaget und straffet, üm dass es übel gethan und gesündigt hat [S. 55]. Der ander Theil der Eigenschaft und natürlichen Bewandniß des Gewissens, ist die Macht und Gewalt, die es über den Menschen hat und verübet, in dem es denselben, was die vorhin verlauffenen und von ihm gethane Stücke anlanget, entweder entschuldiget oder beschuldiget.55
Dieselbe Lehre wurde später von William Ames (1576–1633), einem Schüler von William Perkins, der vor allem in den Niederlanden tätig war, im Traktat »De conscientia et eius iure« (1631) wiederholt und ausführlich entwickelt. Auch für Ames ist das Gewissen ein inneres Vermögen des Menschen, das ihn direkt in Verbindung mit Gott setzt. Es ist ein direkter Vermittler zwischen Gott und dem 55 William Perkins, Gewissens-Spiegel, Darinn zuersehen allerley Zufälle des Menschlichen Gewissens, durch welche dasselbe mag angefochten werden, Sammt Bey-gefügter gründlicher Lehre, wie mann sich in alle dieselbige zu richten habe, Übersetzet, Durch T. D. (1604–1608). Franckfurt und Leipzig 1690, Buch I, Kap. 3, 53 und 55. Vgl. ders., The Whole Treatise of the cases of conscience, distinguished into three books. Cambridge 1608, 167, book I, chapt. 3, 44 und 46: »The naturall condition or propertie of every mans conscience is this, that in regard of authoritie and power it is placed in the middle betweene man and God, so as it is under God and yet above man. And this naturall condition hath two parts: the first is the subiection of conscience to God and his word. […] [S. 55] The second part of the Naturall condition of conscience is the Power which it hath over man to accuse or excuse him in respect of things done«; ders., The first part of the cases of conscience. Wherein specially, three maine Questions concerning Man, simply considered in himselfe, are propounded and resolved, according to the word of God. Taught and delivered, by M. William Perkins in his Holy-day Lectures, by himselfe revised before his death, and now published for the benefit of the Church. Cambridge 1604, part 1, 45: »The fourth and last Ground is touching the subiection and power of Conscience. Conscience is a knowledge ioyned with a knowledge. For by conscience we knowe what we know; and by it we knowe that thing of our selves which God knoweth of us. The naturall condition of every mans conscience is this, that it is placed in the middle betweene man and God, under God and above man. And this naturall condition hath two parts: the one is the subiection of conscience to God and his word, the second is a power whereby the conscience is over the man and urge and binde him«; [ders.], A Discourse of Conscience. Cambridge 1596, chap. 2, 6–12, hier 11: »The cause is the Binder of the conscience. The Binder is that thing whatsoever hath power and authority over conscience to order it. To bind is to urge, cause and constraine it in every action either to accuse for sinne or to excuse for well doing, or to say, this may be done or it may not be done.«
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Menschen, der die Sünden des Menschen erforscht, anerkennt, verurteilt und bestraft.56 Nach seinen Befugnissen ist daher das forum conscientiae gleichzeitig ein forum internum und ein forum externum, um die Terminologie der katholischen Theologie hier anzuwenden. Bei diesem Begriff des Gewissens benötigt man demzufolge kein kirchliches Gericht und kein Kirchenrecht.57 Freilich darf und soll die christliche Gemeinde über das Benehmen ihrer Mitglieder wachen, aber dieses Interesse gilt nur im Hinblick auf die äußere Disziplin und auf den Anstand der Christen, damit sie keinen Skandal verursachen und keinen Unschuldigen oder keine Unschuldige durch ihren korrupten Lebenswandel verführen.58 Andererseits werden alle Prinzipien und Gebote des göttlichen Rechts schon vom politischen Magistrat bewahrt, denn das göttliche Recht fällt mit dem Naturrecht zusammen, das ausschließlich von der politischen Obrigkeit gewährleistet wird.59 Trotz dieser radikalen Vereinfachung des alten, kirchenrechtlichen Schemas, das hier nur zwei Momente umfasste, das forum internum des Gewissens und das forum civile des Magistrats, behielt Ames die traditionelle Argumentation über die Aufgabe des Gewissens in Kriegsangelegenheiten. Er beteuerte zwar, ein reines Gewissen sei zu einem gerechten Krieg erforderlich und daher begehe man eine Sünde, wenn man einen Krieg mit einer unreinen Intention führe. Gleichzeitig wiederholte Ames die alte Erklärung, man sei in diesem Fall zu keiner Wiedergabe oder Wiedergutmachung verpflichtet, denn der Begriff der naturrechtlichen Gerechtigkeit sei enger als die Idee der göttlichen Gerechtigkeit.60
VII.
Die Folgen in der Kriegslehre
Die bei Ames noch ausbleibenden Folgen für die Kriegslehre wurden 1625 von Hugo Grotius in seinen »De iure belli ac pacis libri tres« gezogen. Zur Frage der Wiedergutmachung bezog sich Grotius auf die klassischen Quellen der spanischen Scholastik und auf die berühmtesten Summulae confessorum des sechzehnten Jahrhunderts und wiederholte die traditionelle Lehre, dass ein Krieg wegen einer boshaften Absicht zwar sündhaft vor dem Gewissen und vor Gott, aber nicht ungerecht vor einem menschlichen Richter ist.61 Demzufolge bleiben 56 William Ames, De conscientia et eius iure vel casibus libri quinque. Amstelodami 1631, lib. I, cap. 2, parr. 9–15, 5–6. 57 Ebd., lib. IV, cap. 15: De confessione, 182–186. 58 Ebd., lib. IV, cap. 29: De disciplina, 235–240. 59 Ebd., lib. V, cap. 1: De iure, 249–258 und cap. 2: De iustitia, 258–262. Vgl. auch [Perkins], A Discourse of Conscience (wie Anm. 55), chapt. 2, parr. 4–6, 14–22. 60 Ames, De conscientia et eius iure (wie Anm. 56), lib. V, cap. 33, 337. 61 Hugo Grotius, De iure belli ac pacis libri tres, in quibus ius naturae et gentium item iuris
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alle seine Folgen gültig, und, wenn man in einem sonst gerechten Krieg Beute aus einer lasterhaften Gemütslage erworben hat, ist man zu keiner Wiedergabe verpflichtet. Mit einem heutigen Begriff könnte man aber sagen, dass Grotius die überlieferte Lehre vollkommen dekontextualisierte. Er fügte gleichsam eine katholische Lehre in einen reformierten Kontext ein, weil er zwar die Möglichkeit der Sünde im Krieg wahrnahm, aber keine kirchliche Instanz zur Verwaltung dieser Angelegenheit vorsah. Daher wurden alle mittleren juristischen Instanzen, sowohl das forum externum als auch die Vermittlung des Priesters im forum internum, von Grotius abgeschafft. Was blieb waren zwei entgegengesetzte Formen der Gerechtigkeit: die externe und die interne. Erstere ist juristisch vor einem Gericht oder durch den Krieg erzwingbar, der eigentlich als eine Art vom Gerichtsverfahren gilt; letztere ist eine innere Tugend und ist keineswegs erzwingbar, sondern entsteht aus der freiwilligen Liebe oder aus den Überlegungen der Klugheit. In demselben Sinn argumentierte Grotius auch an anderen Stellen seines Werkes, die von der darauffolgenden Literatur als topische Beweise erwähnt wurden62, und unterschied zwischen den bösen oder lasterhaften Handlungen, die von den Menschen bestraft werden dürfen, und denen, die unbestraft bleiben sollen, und kam zum Schluss, dass die bloß innerlichen Handlungen der letzteren Kategorien angehören, obwohl sie von einem moralischen Laster erregt werden. Die bloß inneren Handlungen sind eben derart beschaffen, dass sie von publici praecipua explicantur (1625), hg. von B. J. A. de Kanter-van Hettinga Tromp. Lugduni Batavorum 1939, Nachdr. Aalen 1993, lib. II, cap. 22, par. 17, 564–565. Vgl. Augustinus, Contra Faustum Manichaeum libri triginta tres, lib. XXII, cap. 74, Sp. 447: »Nocendi cupiditas, ulciscendi crudelitas, impacatus atque implacabilis animus, feritas rebellandi, libido dominandi et si qua similia, haec sunt, quae in bellis iure culpantur, quae plerumque ut etiam iure puniantur. Adversus violentiam resistentium, sive Deo, sive aliquo legitimo imperio iubente, gerenda ipsa bella suscipiuntur a bonis, cum in eo rerum humanarum ordine inveniuntur, ubi eos vel iubere tale aliquid vel in talibus obedire iuste ordo ipse constringit«; Thomas Aquinas, Summa theologica (wie Anm. 21), Continuatio partis Primae partis Secundae et Secunda pars Secundae, part. IIa IIae, quaest. 66, art. 8, Ad primum, 545b ; Trovamala, Summa Rosellae (wie Anm. 20), voc. Bellum, Bl. 23vb–25va ; Carletti, Summa Angelica (wie Anm. 15), voc. Bellum, fo. 79va–81va ; Mazzolini, Sylvestrinae summae (wie Anm.20), pars prima, voc. Bellum I: De bello publico, 89b–95a ; Thomas de Vio Caietanus, Commentaria, in: Thomas Aquinas, Opera omnia (wie Anm. 19), Tomus octavus Secunda Secundae Summae theologiae a quaestione I ad quaestionem LVI, ad part. IIa IIae, quaest. 40, art. 1, 313a–314b ; Francisco de Vitoria, De iure belli. Über das Kriegsrecht, in: Ders., Vorlesungen II (Relectiones). Völkerrecht, Politik, Kirche, hrsg. von Ulrich Horst/Heinz-Gerhard Justenhoven/Joachim Stüben. Stuttgart 1995, 542–605, hier quaest. 3, 556–561; Covarrubias y Leyva, Regulae Peccatum (wie Anm. 47), De regulis iuris, Libro Sexto, relectio, part. 2, par. 9, numm. 1–2, 565a. 62 Vgl. unten Anm. 70, Charisius. Ferner: Grotius, De iure belli ac pacis (wie Anm. 61), lib. II, cap. 20, par. 18; Anm. 72, Stryk: Grotius, De iure belli ac pacis libri tres, lib. II, cap. 20, parr. 18 und 20; Anm. 75: Bruckner : Grotius, De iure belli ac pacis libri tres, lib. III, cap. 7, par. 7; cap. 10, par. 1.
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der Gerechtigkeit der Menschen nicht erreicht werden können. Nur Gott kann sie verurteilen.63 Daraus ergeben sich zwei wichtige Folgen. Einerseits kann nämlich keine bloß innerliche Handlung eine Verpflichtung erzeugen, und sie erhält den Rechtscharakter nur in dem Maße, als sie sich als äußeres Zeichen darstellt.64 Andererseits kann keine rein innere Verpflichtung Wirkungen im Bereich der äußeren Gerechtigkeit ausüben, und wenn man einer solchen inneren Verbindlichkeit nachgibt, geschieht dies nur aus einer freiwilligen Entscheidung, aus Milde, aus Liebe für die Menschheit, und diese Leistung darf auf keinen Fall durch das Zivil- oder das Völkerrecht verlangt werden. Dies war in der Argumentation des Grotius auch der Fall, wenn Menschen versklavt wurden, weil sie einen ungerechten Krieg angefangen hatten. Die Sieger verfügten vollkommen über die unrechtmäßig Kämpfenden und Besiegten, und wenn sie ihr Leben schonten, geschehe dies nur freiwillig und aus Überlegungen der Klugheit.65 Daher könne man im Verhältnis zwischen Herren und Knechten dieser Sorte nur ein äußeres Recht berücksichtigen und man müsse die Existenz von einer inneren Verbindlichkeit des Herrn oder des Knechtes hier ausschließen, obwohl letztere von einigen Theologen, wie Diego de Covarrubias oder Leonardus Lessius (1554–1623), vorausgesetzt worden sei.66 Im allgemeinen müsse man demzufolge das Recht von der Gerechtigkeit genau unterscheiden, denn als Recht könne nur eine Norm gelten, die vor einem äußeren Gerichtshof beansprucht werden solle. Und wiederum erlaube solch ein äußeres Recht viele Maßnahmen
63 Grotius, De iure belli ac pacis (wie Anm. 61), lib. II, cap. 20, par. 18, 491: »Nunc illud videamus, sint ne omnes actus vitiosi tales, ut puniri ab hominibus possint. Pro certo habendum est, non omnes esse tales. Primum enim actus mere interni, etiamsi casu aliquo, puta per confessionem, ad notitiam aliorum perveniant, puniri ab hominibus non possunt, quia, ut alibi diximus [lib. II, cap. 4, par. 3], naturae humanae congruum non est, ut ex actibus mere internis ius aut obligatio inter homines nascatur. Et hoc sensu accipiendum est, quod dictant leges Romanae: ›Cogitationis poenam neminem mereri‹. Id tamen non obstat, quo minus actus interni, quatenus in externos fluunt, in aestimationem veniant non sui proprie, sed actuum externorum, qui inde meriti sui accipiunt qualitatem.« 64 Ebd., lib. II, cap. 4, par. 3, 221. 65 Ebd., lib. III, cap. 7, parr. 6–7, 709–711. 66 Leonardus Lessius, De iustitia et iure ceterisque virtutibus cardinalibus libri IV. Ad 2. 2. D. Thomae, a quaest. 47 usque ad quaest. 17. Lovanii 1605, lib. II, cap. 5, dubit. 5, 44a–45b ; Soto, De iustitia et iure (wie Anm. 14), lib. IV, quaest. 2, art. 2, 288b–291a ; Domingo B#Çez (1594), Scholastica commentaria in Secundam Secundae angelici doctoris sancti Thomae. Tomus tertius (1586). Duaci 1615, ad IIam IIae, quaest. 40, art. 1, dub. 13, 541a–542a ; Diego de Covarrubias y Leyva, Variarum ex iure pontificio, regio et Caesareo resolutionum liber primus[–quartus] (1552 und 1561), in: Ders., Operum tomus secundus. Venetiis 1581, 1–412, hier lib. I, cap. 2, num. 7, 13a–14a ; ders., Regulae Peccatum (wie Anm. 47), De regulis iuris, Libro Sexto, relectio, part. 2, par. 11, num. 6, 577b–578a ; Azpilcueta, Manual de confessores y penitentes (wie Anm. 4), cap. 17, num. 103, 154.
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und Handlungen, die der Tugend der Gerechtigkeit und anderen menschlichen Tugenden widersprechen würden.67 Da man auf diese Weise alle mittleren Instanzen abgeschafft hat, benötigt man kein Gericht mehr für die öffentliche Behandlung von inneren Angelegenheiten, und der moralische Erfahrungsraum lässt sich einfach in zwei Sphären und zwei Gerichtsbarkeiten einteilen, in ein forum internum und ein forum externum. Das forum externum umfasst alle Angelegenheiten und Fälle, in denen die weltliche Gerichtsbarkeit der Fürsten, der Gemeinwesen oder auch einfach der Menschen eine vollkommene Verpflichtung auferlegen kann. Hier kann der Schuldige auf die Leistung des Versprochenen oder auf Wiedergutmachung des Unrechts erzwungen werden. Auch der Krieg gehört zu dieser Kategorie. Das forum internum bezieht sich dagegen auf alle Fragen, die direkt unter die Jurisdiktion des Gewissens oder des klugen Verstandes fallen und vor einem irdischen Gericht nicht erzwungen werden können, sondern ihre Verpflichtung ausschließlich in einem außerweltlichen Bereich und vor Gott und seinem jüngsten Gericht ausüben. Die Namen und die Begriffe erfahren damit eine Verschiebung oder eine Umbesetzung, denn das kirchenrechtliche Gericht des forum externum wird abgeschafft und verschwindet vom Schema der Gerichtsbarkeiten. Seine Materien und seine Zuständigkeit werden dem ehemaligen forum internum zugeteilt, das nun sämtliche Fragen des Gewissens, innerliche und äußerliche, behandelt. Gleichzeitig wird der Name forum externum für den weltlichen und säkularen Gerichtshof in Anspruch genommen. Am Ende dieser Entwicklung – und wir können schließen, dass mit dem achtzehnten Jahrhundert diese Linie ihren extremen Punkt erreicht hat – hat man also ein forum internum für sämtliche potestas spiritualis und ein neues forum externum für die ganze potestas saecularis. In der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts kann man diese begriffsgeschichtliche Entwicklung klar bei einigen Autoren beobachten, die sich explizit auf Hugo Grotius beriefen und aus seinen Argumentationen die Begründung dieser neuen Einteilung und dieses neuen Rechtsverständnisses gewannen. Die Frage des Gewissens und seines Rechtes wurde im Jahre 1673 von Christian Ehrenfried Charisius (1647–1697) unter dem Vorsitz von Samuel Stryk (1640–1710) in einer breitangelegten »Disputatio de conscientiae foro« ausführlich abgehandelt.68 Charisius listete im ersten Kapitel seiner Disputation alle traditionellen Bedeutungen des Ausdrucks forum conscientiae, lehnte sie aber 67 Grotius, De iure belli ac pacis (wie Anm. 61), lib. III, cap. 10, par. 1, 731–733. 68 Christian Ehrenfried Charisius (Respondens), Disputationem de conscientiae foro inauguralis loco ventilandam in illustri ad Viadrum academia […] propono Christian-Ehrenfried Charisius. Francofurti ad Viadrum 1673.
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alle ab. Er erinnerte zwar daran, dass die evangelischen Territorien die religiösen Angelegenheiten durch einen konsistorialen Kirchenrat regelten; er schloss aber diese Anstalt vom forum internum aus, weil keine äußerliche Instanz über die Fragen des Gewissens richten kann. Andererseits hatte es in der apostolischen Kirche der ersten Zeiten kein Gericht mit externer Gerichtsbarkeit von solcher Natur gegeben, sondern diese Gewalt hatte sich allmählich in der Kirchengeschichte herausgebildet und war den Bischöfen zugefallen, während sie in den evangelischen Territorien von den Konsistorien ausgeübt wurde.69 Die Definitionen des forum internum und des forum externum mussten dagegen auf rein formelle Elemente gegründet werden, und tatsächlich unterschied sie Charisius ausschließlich nach der Art und Weise ihres Wirkens. Als forum internum gilt nämlich dasselbe Gericht, in dem Angeklagter, Ankläger, Zeuge und Richter in einer Person verkörpert sind. Dieser Umstand ergibt sich nur aus dem Urteil durch das Gewissen. In jedem anderen Gericht fallen dagegen dieselben vier Personen notwendig auseinander, und daher ist jedes andere Gericht ein forum externum.70 Diese Unterscheidung des Respondens Christian Ehrenfried Charisius zwischen beiden Gerichtshöfen ging auf eine längere Beweisführung zurück, die der Vorsitzende derselben Disputatio, Samuel Stryk, 1671, zwei Jahre vor dieser akademischen Schrift, in seinem erfolgreichen »Tractatus de iure sensuum« geliefert hatte. Hier fragte sich Stryk, ob auch Gedanken als Verbrechen ver69 Ebd., parr. 77–78, 18: »Sumitur forum conscientiae pro foro ecclesiastico exteriori, quod vocamum hodie den Kirchen-Rath. Vide Covarrubiam to. 2 Practicarum quaestionum, cap. 11, num. 4. Cuiusmodi forum, suam habens iurisdictionem externam, olim in ecclesia non fuisse docent dominus Ziegler dicta Commentatione ad Lancellotum [scil. Ius canonicum ad Lancelloti Institutiones enucleatum], lib. III, tit. 1, par. 2, [p. 644]; Paulus Vo[tius dicto tractatu De usu iuris civilis et canonici in Belgio, cap. 5, par. 4, p. 94, ubi eam in rem allegat totum titulum Codicis De episcopali audientia [Codex, lib. I, tit. 4]. Successu autem temporis devenit ad episcopos et in terris nostrorum principum exercitatur per consistoria. [par. 78] Verum neque illud forum huc pertinet et de illius processu videnda sunt magnifici et beati domini Brunnemanni dicto De processu consistoriali [scil. Tractatus de iure ecclesiastico, 1681].« 70 Ebd., par. 80,18–19: »Ita autem iam differt forum conscientiae a foro exteriori et potissimum quidem in his: 1. quod in exteriori alius est iudex, alius actor, alius reus, alius testis, sed in interiori seu conscientiae mens hominis omnem hanc repraesentat personam, quod exemplis opus non habet. Vide magnificum dominum Zieglerum in Dicastice, concl. 12, parr. 1 et 2, [pp. 166–168]. 2. Quod obiectum fori exterioris sint actus hominum exteriores, cum de internis nemo iudicium ferat, arg. l. 18, Digesti De poenibus; Grotius, De iure belli ac pacis (wie Anm. 61), lib. II, cap. 20, num. 18 et dominus Zieglerus, [In Grotius notae et animadversiones, lib. II], ad dictum cap. 20, par. 39, 464, de quibus nec fieri posse legem probat Sanderson, De obligatione conscientiae, prael. 9, par. 6; [Stephanus] a Sancto Paulo Theologia moralis, tract. 2, dispt. 3, dub. 5, sed in conscientiae foro tam actus interni quam externi diiudicantur. Videatur latius excellentissimus dominus praeses, dominus praeceptor meus et fautor observandissimus De iure sensuum, diss. 10, cap. 6. Addatur Valerus, [Differentiae inter utrumque forum,] tit. Iudicium, diff. 1.«
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standen werden können, und unterschied dabei zwei Betrachtungsweisen unter Berücksichtigung einer reichen moraltheologischen und scholastischen Literatur.71 Wenn man nämlich die inneren Bewegungen der Seele aus der Perspektive des forum interius, das ist des göttlichen Gesetzes, ansieht, können sie Anlass zur Sünde geben, weil das göttliche Gesetz eine vollkommene Liebe gebietet, und das bloße Wollen eine boshafte Handlung schon an sich einen Verstoß gegen das göttliche Gesetz beinhaltet, obwohl die gewollte Handlung nicht ausgeführt wird. Das forum exterius kann dagegen keinen Gedanken an sich wahrnehmen und verurteilen, solange der Gedanke innerhalb der Seele bleibt und zu keiner Handlung übergeht. Interne Angelegenheiten darf weder die Kirche noch der Zivilrichter untersuchen oder beurteilen. Gesetzt auch der Fall, dass ein Mensch ein Verbrechen vorsätzlich konzipiert und sorgfältig in seinen Gedanken vorbereitet, darf derselbe Mensch keineswegs verurteilt werden, wenn auch er später ein vollkommenes Geständnis von seiner Intention ablegt. »Die Sünden, welche der bürgerlichen Gesellschaft nicht schaden, bleiben außerhalb der bürgerlichen Jurisdiktion, und über sie darf man kein Recht sprechen.«72 Charisius und Stryk begründeten ihre Unterscheidung von forum interius und forum exterius durch den Hinweis auf Hugo Grotius, und auch Wilhelm Hieronymus Bruckner (1656–1736) griff 1691 in seiner »Disputatio iuridica de eo, quod iustum est in foro externo (iustitia externa) et interno (iustitia interna)« auf die »Drei Bücher der Kriegs- und Friedensrecht«, um seine Unterscheidung zwischen interner und externer Gerechtigkeit oder internem und externem Gerichtshof zu erklären.73 Die Frage nach dem Umfang beider Rechtssphären
71 Samuel Stryk, Tractatus de iure sensuum, in quo quae in utroque iure de sensibus perspicue exhibentur et materiae fere omnes, quae in iudiciis et causis decidendis sensuum experimenta desiderant, dilucide explicantur. Francofurti ad Oderam 1671, disp. 10: De iure cogitationum, cap. 6, par. 1, 609: »Delicta an cogitationibus committi possint, prius videndum, quam de poena inquiramus. Merito autem forum interius a foro exteriori separamus, cum diversa in utroque cogitationum habeatur ratio. In foro exteriori cogitationum gradus distinguendi et exinde peccata cogitationum iudicanda.« 72 Ebd., parr. 12–16, 611–612: »Ita in foro interiori cogitationum delicta paucis consideravimus. Iam, quid in foro exteriori obtineat, videndum. Breviter vero dicimus, delicta cogitationum, quatenus actus mentis elicitos non egrediuntur, seu quatenus in terminis cogitationum manent, in foro exteriori non attenduntur nec puniuntur. De internis enim nec iudicat ecclesia nec cognoscit iudex civilis. Huc spectat Germanorum illud: Die Gedancken sind Zollfrey. […] [par. 13, 612] Quod non saltem in cogitatione vaga, de delicto aliquo perpretando, sed et in plena delicti volitione et intentione. Etiamsi enim haec intentio casu aliquo, ut pote per confessionem subsecutam, ad notitiam aliorum pervenerit, puniri tamen ab homine non potest, cum naturae humanae congruum non sit, ut ex actibus mere internis ius aut obligatio inter homines nascatur. Grotius, De iure belli ac pacis (wie Anm. 61), lib. II, cap. 20, num. 18. Peccata enim, quae civilem societatem non laedunt, extra civilem iurisdictionem sunt, hinc de illis ius dici nequit. Dominus Zieglerus, Ad Grotium, dicto cap. 20, par. 39, p. 464.« 73 Wilhelm Hieronymus Bruckner, Disputationem iuridicam de eo, quod iustum est in foro
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kann nämlich durch die Definition beider Formen von Gerechtigkeit beantwortet werden. Wenn nämlich ein Mensch nur das leistet, was die menschlichen Gesetze, worunter auch das Naturrecht zu verstehen ist, verordnen, handelt er ausschließlich durch die externe Gerechtigkeit. Man achtet in diesem Fall nur auf die äußeren Handlungen und auf ihre Folgen ohne Rücksicht auf die inneren Bewegungen der Seele, ob sie tugendhaft oder lasterhaft sind.74 Auf dieser Basis kann man auch das forum internum vom forum externum unterscheiden. Das erstere ist das bloße Gericht des Gewissens, darf keineswegs hintergangen werden und formuliert Anklagen, obwohl es nicht immer eine Buße auferlegt. Das letztere kann dann nicht gleich mit dem Gerichtshof des Zivilrechts identifiziert werden, weil auch das Völkerrecht in vielen Angelegenheiten des forum externum wirksam ist.75 Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts wurde auch der Kreis dieser Überlegungen geschlossen, denn man erkannte nicht nur, dass die Zahl der Gerichtshöfe verringert werden sollte, dass nur der zivilrechtliche und gegebenenfalls der völkerrechtliche Gerichtshof als forum externum gelten durften und dass dabei die Gerichtsbarkeit der Kirche ausgeschlossen werden sollte, sondern man erklärte auch, warum man zu jener Vervielfältigung der Instanzen gekommen war und welche die Gründe für jene Fehlentwicklung gewesen waren. Mit seiner »Disputatio iuridica de discrimine fori externi et interni« (1707) wollte Johann Friedrich Hombergk zu Vach (1673–1748) beweisen, dass es keinen Unterschied zwischen beiden Gerichtshöfen eigentlich geben darf, solange man die gültigen Gesetze berücksichtigte, denn es war ausgeschlossen, dass der einzige und alleinige Schöpfer sich selbst widersprochen hatte, als er die Lebenssphären des Menschen ordnete.76 Wenn aber die Unterscheidung forum externo [iustitia externa] et interno [iustitia interna]. […] Praeside Dn. Wilhelmo Hieronymo Brucknero […], disquisitioni publicae subiiciet Christophorus Frise. Ienae 1691. 74 Ebd., cap. 1, par. 5, 6: »Distinctio iustitiae in externam et internam convenit iustitiae, quatenus tribuitur vel personis vel actionibus. Et quidem, si persona ex perpetua et constante voluntate tribuit alteri id, quod conscientia tribuendum dictitat, dicitur agere secundum iustitiam internam, et, si tribuit alteri id, ad quod potest de iure ab homine cogi, agit secundum iustitiam externam. Et cum illud velit iustitia attributrix, potest dici interna, et cum hoc exigat iustitia expletrix, vocari potest externa.« 75 Ebd., cap. 1, par. 8, 7: »Dicitur autem iustitia interna et externa a foro interno et externo. Nam iustitia, quae in foro interno pro tali habetur, interna, et quae in foro externo probatur, externa vocatur. Confer Grotium, De iure belli ac pacis, lib. III, cap. 7, par. 7 et cap. 10, par. 1. Forum internum dicitur alias forum conscientiae, Dei, poli, animae, ubi Deus spectatur tanquam legislator et iudex, quem nihil potest fugere, qui omnes sub suo habet imperio, et qui actionum nostrarum exiget rationem. Forum externum dicitur alias contentiosum, hominum, soli, ubi homines sunt legislatores, observatores et vindices. Huius poenae obnoxium est corpus, illius et corpus et anima.« 76 Johann Friedrich Hombergk zu Vach, Disputatio iuridica de discrimine fori externi et interni, quam sub praesidio Iohannis Friderici Hombergii zu Vach […] defendet Iohann-Vitus Marggraff. Marburgi Cattorum 1707, sect. 2, cap. 2, par. 5, 17–18: »In his ergo negotiis, quae a
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internum et forum externum keinen wahren Grund im Wesen vom Recht und von der Gerechtigkeit hatte, sollte man auch erklären, warum und mit welcher Intention sie eingeführt wurde. Da sich aber keine Trennung von dieser Art aus der inneren Natur der Gerechtigkeit rechtfertigen lässt, sollen ihre Gründe in äußerlichen, der Gerechtigkeit fremden Anlässen gesucht werden. Tatsächlich erklärte Hombergk zu Vach in Anlehnung an Samuel Pufendorf (1632–1694)77 die Einführung eines abgesonderten inneren Gerichtshofs mit der Machtgier der Kirche, die sich durch den vermeintlichen Widerspruch des kanonischen Rechtes zum Zivilrecht einen weiten Bereich verschafft hatte, in dem sie ihren Einfluss auf das Handeln der christlichen Seelen ausüben durfte.78 Während die katholische Theologie und Beichtväterliteratur am traditionelnatura non sunt determinata, cum alia nulla sit forma nullaque iustitia quam ea, quam legislator humanus eis tribuit, sequitur necessario apud Deum etiam illa pro iustis haberi. Si enim haec aliter se haberent, Deum contradictoria voluisse statuendum esset, permittendo nempe hominibus certarum rerum arbitrium, illud vero deinde improbando ut iniustum; videretur dedisse facultatem quid agendi eamque simul et eodem tempore ademisse, quod absurdum. Quare, si iusti notionem habent dispositiones legum humanarum, non alibi quam in conscientiae iustae erunt nec vinculum iniicient nisi voluntati. Hoc enim fine feruntur leges, ut secundum scientiam ab iis informatam voluntas dirigatur. Iustus adeo atque tutus erit ille, qui eas [S. 18] sequitur, non minus inter homines quam in iudicio mentis suae et apud Deum. Posito igitur potestatem civilem non excedere terminos facultatis sibi concessae, ridiculum est dubitare, num lex civilis obliget in conscientia, quod negant Gerson, Almayn, Decius, vide Osiandrum Theologiae moralis cap. 13, th. 17. Contradictionem enim involvit, legem esse et non obligare, non minus quam montem dari sine valle. Obligari autem sine dubio nihil potest nisi voluntas.« 77 Samuel Pufendorf, De iure naturae et gentium libri octo. Londini Scanorum 1672, lib. I, cap. 3, parr. 4–5, 38–39; ders., De iure naturae et gentium libri octo. Cum annotatis Ioannis Nicolai Hertii iureconsulti. Editio nova a mendis diligentissime repurgata. Francofurti ad Moenum 1716, lib. I, cap. 3, parr. 4–5, 39a–40b. 78 Hombergk zu Vach, Disputatio de discrimine fori externi et interni, sect. 1, parr. 4–8, 7–9, hier par. 5, 7: »Porro, si de fori huius constitutione et eius iure ipsorum etiam pontificorum iudicia perpendimus, forte non vanum esse derprehendemus, quod Cynus venustus interpres, referente Struvio, fateri ausus est: ›Nova illa iura canonistas excogitasse ambitione usurpandae secularis iurisdictionis‹. Nam si verum est, quod Panormitanus dicto loco [scil. ad Liber Extra, lib. II, tit. 1: De iudicibus, cap. 13], num. 2 affirmat: ›Iurisdictionem temporalem esse penes papam in habitu‹, poterat sane ea commodissime in actu quoque sub praetextu charitatis Christianae, curae animarum et poenitentiae super peccatis agendae in omnes etiam seculares magistratus exerceri. Utile quoque erat, hunc in finem iura iniquitatis argui, canones autem tanquam veras leges et vim obligandi in conscientia habentes (uti Petrus a Navarra putavit, teste Voetio dicto loco [Politicae ecclesiasticae lib. I, part. 1, tract. 2, cap. 13, par. 3]) extolli« und par. 7, 8: »Denique si casuistarum scripta evolvamus, apparebit etiam, quatenus verum sit, quod de casuum conscientiae origine iudicat Puffendorf De iure naturae et gentium, lib. I, cap. 3, par. 4 inquiens: ›Vocabulum conscientiae a Scholasticis primo introductum ac nuperis seculis casus conscientiae inventos a callidis sacerdotibus, flectendis ad suam libidinem hominum animis‹. Tradunt etiam illi omnem probabilem opinionem, licet falsam et divinae legi contrariam, a peccato coram Deo excusare eamque probabilitatem esse conscientiae normam. Per intentionem porro dicunt actionem per se illicitam emendari tanquam innoxio fine.«
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len Muster festhielt und die alten Lehren fortsetzte, bereicherte und weiter ausbaute, endete auf diese Weise eine Linie des Gewissenrechts zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts mit einer drastischen Vereinfachung der inneren und äußeren Gerichtsbarkeit, sogar mit der Idee, dass die innere Gerichtsbarkeit des Gewissens eigentlich nicht existieren sollte und dass sie ein ideologisches Konstrukt in den Machtkämpfen der politischen Gesellschaft war. Dieser neue Ansatz, der wie ein Hinweis auf die Ideologiekritik anmutet, erforderte aber ein neues Bewusstsein und neue Mittel in der Geschichte der menschlichen Gelehrsamkeit, die seit dem letzten Drittel des siebzehnten Jahrhunderts vom Unternehmen der historia literaria zur Verfügung gestellt wurden.79 Damit waren aber neue und vorher unbekannte Bedingungen gegeben, die ihre volle Entfaltung im ersten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts finden sollten, besonders im Werk von Christian Thomasius und dessen Schüler und in der Frühaufklärung hallescher Prägung.
79 Merio Scattola/Friedrich Vollhardt, Historia litteraria, Geschichte und Kritik. Das Projekt der Cautelen im literarischen Feld, in: Manfred Beetz/Herbert Jaumann (Hrsg.), Thomasius im literarischen Feld. Neue Beiträge zur Erforschung seines Werkes im historischen Kontext. Tübingen, 2003, 159–186; Merio Scattola, Geschichte aus dem Negativen. Christian Thomasius und die Historiographie des Fehlers und Vorurteils, in: Martin Espenhorst (Hrsg.), Unwissen und Missverständnisse im vormodernen Friedensprozess. Göttingen 2013, 145–165.
II. Politik, Praxis und Erfahrung der Grundrechte. Perspektiven aus den Römischen Kongregationen
Cecilia Cristellon
Mit dem Recht des Glaubens: Juden und Katholiken im Spannungsfeld von Taufe und Ehe in der Frühen Neuzeit
Abstract Der Beitrag betrachtet die Taufe und die Ehe als Medium der Interaktion zwischen Katholiken und Juden. Basierend auf den Quellen aus vatikanischen Archiven geht es dabei zum einen um die theologischen Kontroversen und Polemiken sowie die rechtlich-normativen Grundlagen der Koexistenz, zum anderen um die sozialen Praktiken und die alltägliche Wahrnehmung individueller Rechte, die die Taufe und Ehe in der Kommunikation zwischen Christen und Juden in den Mittelpunkt stellten. Die Betrachtung der Taufe von Juden (insbesondere jüdischer Kinder) und der Ehe konvertierten Juden erlaubt, die Rechtfertigungsnarrativen und die Prozesse der Inklusion und Exklusion zu analysieren, die das innere Leben lokaler Gemeinschaften prägten und einen entscheidenden Einfluss auf die Lebenswege der einzelnen Individuen nahmen. Darüber hinaus bietet sie besonders interessante Untersuchungsansätze in der Frage der Gewissensfreiheit beziehungsweise des Gewissenszwangs, der Rechte an der Kindererziehung, der Freizügigkeit sowie zur Frage der Grenzen von katholischer Gerichtsbarkeit. Die untersuchten Fälle entstammen zwar durchgehend dem italienischen Raum, doch sind sie nicht nur im europäischen, sondern auch im außereuropäischen Kontext aussagekräftig, weil das sie regelnde kanonische Recht nicht nur innerhalb des Kontinents befolgt, sondern auch in die Gebiete der Mission übertragen und implementiert wurde, um es in der Konsequenz wieder auf Europa auszustrahlen. Der Aufsatz versteht sich daher auch als Plädoyer für eine Religionsgeschichte als entangeld history und für die Anwendung der Quellen aus den vatikanischen Archiven für die Auffassung der globalen Perspektive in der Geschichtsschreibung. Schlagworte Taufe, Ehe, Juden
Ich bedanke mich bei Andreea Badea für ihre Hilfe bei der deutschen Fassung dieses Aufsatzes und für ihre anregenden Bemerkungen, bei Antonio Staude für die Übersetzung der Seiten 105–112 und bei Alexey Tikhomirov für die kritische Lektüre.
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Einleitung Der vorliegende Beitrag betrachtet die Taufe und die Ehe als Medium der Interaktion zwischen Katholiken und Juden. Basierend auf den Quellen aus vatikanischen Archiven geht es dabei zum einen um die theologischen Kontroversen und Polemiken sowie die rechtlich-normativen Grundlagen der Koexistenz, zum anderen um die sozialen Praktiken und die alltägliche Wahrnehmung individueller Rechte, die die Taufe und Ehe in der Kommunikation zwischen Christen und Juden in den Mittelpunkt stellten. Die Betrachtung der Taufe von Juden (insbesondere jüdischer Kinder) und der Ehe konvertierter Juden erlaubt, die Rechtfertigungsnarrative und die Prozesse der Inklusion und Exklusion1 zu analysieren, die das innere Leben lokaler Gemeinschaften prägten und einen entscheidenden Einfluss auf die Lebenswege der einzelnen Individuen nahmen. Darüber hinaus bieten sie besonders interessante Untersuchungsansätze in der Frage der Gewissensfreiheit beziehungsweise des Gewissenszwangs, der Rechte an der Kindererziehung, der Freizügigkeit sowie zur Frage der Grenzen von katholischer Gerichtsbarkeit. Der Aufsatz beschäftigt sich mit der Herausbildung einer normativen Ordnung, die keine oktroyierte, sondern eine, die von Fall zu Fall ausgehandelt war2. Diese konflikthafte Aushandlung führte zu einem andauernden Prozess der Revision und daher zu einer Überwindung der Divergenz zwischen normativer »Idealität« und sozialer »Faktizität«.3 Die daraus entstehenden Rechtfertigungsnarrative, die Macht ausüben und generieren, stehen im Mittelpunkt dieser Untersuchung. Die Entscheidungen der Römischen Kongregationen orientierten sich an der politischen Angemessenheit und am politischen Vorteil. Argumentativ bezogen sie sich aber auf die Autorität der theologischen und juristischen Tradition und auf die Bibel. Die untersuchten Fälle entstammen zwar durchgehend dem italienischen Raum, doch sind sie nicht nur im europäischen, sondern auch im außereuropäischen Kontext aussagekräftig, weil das sie regelnde kanonische Recht nicht nur innerhalb des Kontinents befolgt, sondern auch in die Gebiete der Mission übertragen und implementiert wurde, von wo es auf Europa zurückwirkte. Der Aufsatz versteht sich daher auch als Plädoyer für eine Religionsgeschichte als 1 Niklas Luhmann, Inklusion und Exklusion, in: Niklas Luhmann, Soziologische Aufkla¨ rung 6: Die Soziologie und der Mensch. Opladen 1995, 237–264. 2 Cecilia Cristellon, Does the Priest Have to Be There? Contested Marriages Before Roman Tribunals. Italy, Sixteenth to Eighteenth Centuries, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 3, 2009, 10–30, 10–11. 3 Rainer Forst/Klaus Günther, Die Herausbildung normativer Ordnungen. Zur Idee eines interdisziplinären Forschungsprogramms, in: Rainer Forst/Klaus Günther (Hrsg.), Die Herausbildung normativer Ordnungen. Interdisziplinäre Perspektiven. Frankfurt am Main 2011, 11–30, 16.
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entangeld history und für die Verwendung der Quellen aus den vatikanischen Archiven in eine globale Perspektive in der Geschichtsschreibung.4
1.
Die Taufe: Aufnahme-Ritual und (Un-)rechte der Zugehörigkeit
Die Taufe stellt einen wichtigen Übergangsritus dar, der (die verschiedenen Konfessionen) vereinte und (Christen von Juden und Muslimen usw.) trennte. Sie war auch die Grundvoraussetzung für die Entfaltung der kirchlichen Rechtsprechung über eine Person.5 Die Doktrin zum Taufsakrament entwickelte sich in einer Situation, in der die christliche Religion die einzig erlaubte im römischen Reich war. Damals wurden im Codex des Teodosius die ersten Maßnahmen gegen die Verweigerer der Taufe festgelegt.6 Genau auf diese politische Regelung beriefen sich in der Neuzeit die Staatsmächte bei ihrer Unterdrückung der Wiedertäufer, deren Doktrin als Gefahr für die politische Einheit verstanden wurde. Die Taufe wurde während des gesamten Mittelalters und der Neuzeit als Instrument zur Erlangung der Geschlossenheit eines politischen Gebildes genutzt – bereits bei der Bildung der neuen Reiche im frühmittelalterlichen Europa 4 Anregende Bemerkungen in Sebastian Conrad/Randeria Shalini (Hrsg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002; Sebastian Conrad/Andreas Eckert/Ulrike Freitag (Hrsg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansa¨ tze, Themen. Frankfurt am Main 2007; Thomas Duve (Hrsg.), Entanglements in Legal History. Conceptual Approaches, in: Global Perspectives on Legal History 1, 2014.; ders., European Normativity-Global-Historical Perspective. Introductory remarks, in: Rechtsgeschichte/Legal History, 22, 2014, 51. Zur Frage der Verwendung vatikanischer Quellen in globaler Perspektive: Benedetta Albani, The Apostolic See and the World: Challenges and Risk Facing Global History. Invitation to Debate, in Rechtsgeschichte/ Legal History, 20, 2102, 330–331; Giuseppe Marcocci, Is there Room for the Papacy in Global History?, ebd., 366–367. Über die globalisierenden Anspruche und Wirkungen des kanonischen Recht: Carlo FantappiH, La Santa Sede e il mondo in prospettiva storico-giuridica, ebd., 332–338. 5 Richard Helmholz, Baptism in the Medieval Canon Law, in: Rechtsgeschichte/Legal History, 21, 2013, 118, 117–118. Für die einleitenden Anmerkungen zu der Taufe in diesem Absatz: Adriano Prosperi, Battesimo, in: Adriano Prosperi (Hrsg.), Dizionario storico dell’Inquisizione. Pisa 2010, Bd 1, 143–145. Stimulierende Beobachtungen zur rechtlichen und politischen Rolle der Taufe in Christoph H. F. Meyer, Taufe und Person im ersten Jahrtausend. Beobachtungen zu den christlichen Wurzeln einer Grundkategorie europäischen Rechtsdenkens, in: Rechtsgeschichte/Legal History, 21, 2013, 89–11; Wolfram Brandes, Taufe und soziale/politische Inklusion und Exklusion in Byzanz, ebd., 75–88; Christiane Birr, Titulus ad regnum coelorum: Zur Taufe und ihren Wirkungen in der theologisch-juristischen Argumentation der Schule von Salamancae, ebd., 129–141; Michael Sievernich »Baptismus barbarorum« oder christliche Initiation in der Neuen Welt Amerika (16. Jahrhundert), ebd., 142–154. 6 Stefania Malavasi, Anabattismo, in: Prosperi, Dizionario, Band 1 (wie Anm. 5), 57–59.
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drückte die Taufe der Herrscher den Übergang der Bevölkerung zum Christentum aus; später wurde für den Aufbau der Kolonial- und Imperialherrschaft auch die Praxis der Massentaufe eingesetzt.7 Die Taufproblematik erlangte erst am Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert größeres Gewicht für die Geschichte der Inquisition als Kirchentribunal8 : im Zusammenhang mit der Apostasie von Hexen und Magiern als Gefolgsleute Satans; mit dem Glaubensabfall getaufter Juden, die weiterhin ihrem alten Glauben anhingen9 ; mit dem Übertritt von Christen zum Islam, der mit dem Vorrücken der Muslime im Mittelmeerraum und in Europa aufkam10 ; sowie in Bezug auf die Leugner der Gültigkeit der Kindstaufe, die ihre Zelebration im Erwachsenenalter forderten und damit dem Glauben den Wert des Sakraments zuerkannten.11 In der Beziehung zwischen Christen und Juden erwies sich die Taufe als besonders komplexes Thema. Vor allem seit den Kreuzzügen führte das Verlangen, die Juden zu konvertieren, häufig zu Episoden von Zwangstaufen12 sowie zu – bisweilen gewalttätiger – Druckausübung durch die süditalienischen Inquisitoren gegen Ende des 14. Jahrhunderts.13 Mit dem Konzil von Trient (1545–1564) wurde das Prinzip der Effizienz ex opere operato des Sakraments in verschärfter Verengung erneut bekräftigt. Trotzdem kam es zu weiteren Anfragen zur Geltung und zum Ritual der Taufe, die innerhalb der römischen Kongregationen heftige Diskussionen auslösten.14 Dieses allen Konfessionen gemeinsame Sakrament unterschied sich in seinem rechtlichen Gehalt je nachdem, ob der Getaufte in einem katholischen, in einem reformierten oder in einem Land lebte, wo verschiedene Konfessionen aufeinandertrafen. In den katholischen Ländern war die Taufe ein zivilrechtlicher Akt und gleichzeitig eine die religiöse Zugehörigkeit bezeugende obligatorische 7 Boris Jeanne, Diplomatie pontificale et sacrements. La querelle autour des baptÞmes de masse au Mexique (1524–1584), in: Paolo Broggio/Charlotte de Castelnau-L’Estoile/Giovanni Pizzorusso, Administrer les sacraments en Europe et au Nouveau Monde, MEFRIM 121, 2009, 139–154 ; Michail Khodarkovsky, Russia’s Steppe Frontiers. The Making of a Colonial Empire, 1500–1800. Bloomington IN 2002; Paul W. Werth, Coercion and Conversion: Violence and Mass Baptism of the Volga Peoples, 1740–55, in: Kritica: Explorations in Russia and Eurasian History 4.3, 2003, 543–569. 8 Früher betraf sie nur einige Aspekte des Missbrauchs des Sakraments zu magischen Zwecken. 9 Peter Mazur, The New Christian of Spanish Naples, 1528–1671 A Fragile Elite. London 2013. 10 Bartolom8 Benassar/Lucile Bennassar, Les chr8tiens d’Allah. L’histoire extraordinaire des ren8gats XVIe et XVIIe siHcles. Paris 2006; Giuseppina Minchella, Musulmani, ebrei e cristiani nella Repubblica di Venezia. Roma 2014. 11 Giovanni Grado Merlo, Inquisitori e Inquisizione nel medioevo. Bologna 2008. 12 Es sei hier nur an die Politik der Alternative von Taufe oder Ausweisung auf der iberischen Halbinsel im 15. und 16. Jahrhundert erinnert. 13 Elena Brambilla, La giustizia intollerante. Inquisizione e tribunali confessionali in Europa (secoli IV–XVIII). Roma 2006, 79–104; Prosperi, Battesimo (wie Anm. 5). 14 Beispiele dazu in ACDF, SO, Dubia de baptismo 1–9.
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Angelegenheit. Bis zum 19. Jahrhundert, fast überall in Europa, verlieh die Taufe bei der Geburt die elementaren Bürgerrechte.15 Jedoch war es gerade die Inklusionskraft der Taufe, die insofern juristische Konsequenz hatte, dass sie eine Bedrohung individueller Freiheit darstellte, die akquirierten Rechte zur Debatte stellte und ein Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen und bisweilen gegensätzlichen Rechten schuf. Der um Folgenden vorgestellte Fall der jüdische Dichterin Debora Ascarelli ermöglich nicht nur di Rekonstruktion bisher vollkommen unbekannter Abschnitte ihres Lebens, sondern belegt zugleich welch tragische juristische Konsequenzen bisweilen auf der Taufe abgeleitet wurden16. Im Jahr 1605 wandten sich Debora Ascarelli und ihr Ehemann, der einflussreiche Rabbiner Giuseppe Ascarelli, an dem Papst, um die Zwangtaufe ihres jüngsten Sohnes zu verhindern. Genau wie seine älteren Geschwister – zwei Mädchen von zwölf und sieben Jahren und ein fast sechsjähriger Junge – war auch dieses Kond gewaltsam von seinen Eltern getrennt, allerdings hatte er noch nicht einmal seinen vierten Geburtstag zu diesem Punkt begangen. Im Zuge eines von der Norm abweichenden Verfahrens wurde der Fall nicht dem Heiligen Offizium, also dem eigentlich für derartige Fälle zuständigen Inquisitionsgericht vorgelegt, sondern der Konzilskongregation, in deren Archiv wir die Konvolute zu diesem Fall einsehen können17. Etwa acht Monate zuvor hatte Giulia, die Ehefrau des Neophyten Michele Boncompagni und Tochter von Debora Ascarelli, Papst Clemens VIII. eine 15 Felix Hafner/Adrian Loretan/Christoph Spenl8, Naturrecht und Menschenrecht: Der Beitrag der Spanischen Spätskolastik zur Entwicklung der Menschenrechte, in: Frank Grunert/Kurt Seelmann (Hrsg.), Die Ordnug der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spätskolastik. Tübingen 2001, 123–153, 146; Elena Brambilla, The Definition of Citizenship and the Sacramental System of the Churches, in: Ausma Cimdina (Hrsg.), Religious and Political Change in Europe: Past and Present. Pisa 2003, 75–86; Christoph Meyer, Taufe und Recht. Einige einführende Bemerkungen, in Rechtsgeschichte/Legal History, 21, 2013, 68–73, 68. 16 Es gibt kaum biographische Informationen zur Dichterin. Weder der Entzug der Kinder noch ihre Zugehörigkeit zur Familie Corcos sind bisher erforscht worden. Mario Quattrucci, DBI, Bd. 4, 1962, ad vocem; Michela Procaccia, L’»ape ingegnosa« Debora Ascarelli, poetessa romana, in: Rivista di storia del cristianesimo, 2, 2007, 355–367. Howard Tzvi Adelman, Ascarelli, Devora, in: Michael Berenbaum/Fred Skolnik (Hrsg.), Encyclopaedia Judaica, Bd 2. Detroit 2007, 545; Umberto Fortis, La difesa della donna ebrea: Sara Copio Sullam e Debora Ascarelli, in: Altre modernit/, 5, 2014, 48–66. 17 ASV, Congr. Concilio, Positiones, b. 8, c. 314. Einige Informationen über den Fall der Ascarelli findet man auch in ACDF, St. St. CC 4-a. Dieses aus dem Endes des XVII Jhs. stammendes Dokument beinhaltet eine Liste der denunzierten Juden, die gleich in das Kathekumenenhaus eingeschlossen wurden. Unten ihnen werden auch die kleinen Ascarelli genannt. In der Tat wurden sie bei den bekehrten Verwandten untergebracht, wie es nach den gegenwärtigen Quellen, die ich hier analysiere, deutlich wird. Darüber hinaus wäre Mardocheo, laut der späteren Quelle, zusammen mit den Geschwistern getauft worden. Das hier analysierte Verfahren wird in ACDF, St. St. CC 4-a. nicht genannt.
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»Bittschrift« vorgelegt, in der sie erklärte, ihre Mutter hätte »in Wort und Tat« die Absicht erklärt, zum Christentum überzutreten. Darin bat sie also den Papst darum, ihre Mutter für einen gewissen Zeitraum in Gewahrsam zu nehmen, um ihre Absichten zu erforschen.18 Der Papst leitete die Bittschrift von Giulia Boncompagni also weiter an den Kardinal Bianchetti, den damaligen Protektor des Neophyten-Kollegs, der Deboras Festnahme anordnete.19 Dem Anwalt der Familie zufolge drang eine Schar von rund fünfzig Schergen in das Haus der Familie Ascarelli ein und führte die Dichterin zum Haus des »Neophyten Michelangelo«, dem Ehemann der Giulia Boncompagni20. Allein Giuseppe Ascarelli entging zunächst der Verhaftung, doch da er während einer früheren Krankheit einem Mönch seinen Bekehrungswunsch eröffnete und angeblich sogar Lieder komponiert haben soll, in denen er den Papst als »Vikar des Messias, der das heilsame Schiff der Kirche inmitten der Fluten lenkte, außerhalb der es kein Heil gibt«, bezeichnet haben soll21, wurde er nach acht Tagen »mit einer Kutsche abgeholt« und zum Kloster der Minerva gebracht, wo er 43 Tage lang festgehalten, »vornehm bedient« und schließlich entlassen wurde, da er beharrlich seinem Judentum treu geblieben sei.22 In der Zwischenzeit hatte auch Debora, da auch sie die Bekehrung ablehnte, mit den Kindern nach Hause zurückkehren können. Der hier untersuchte Fall war in den Augen der kirchlichen Obrigkeit von besonderer politischer Bedeutung. Debora war nämlich die Tochter des Neophyten Ugo Boncompagni, der einer wohlhabenden römischen Familie entstammte und vormals unter dem Namen Salomone Corcos bekannt gewesen war. Seine durch Filippo Neri in die Wege geleitete Bekehrung sollte später sogar eine wichtige Rolle bei Neris Heiligsprechungsprozess spielen.23 Die Relevanz des Bekehrungsereignisses wurde durch die Spende des Taufsakraments durch Papst Ugo Boncompagni selbst untermauert, der dem Familienoberhaupt den Namen gab, wobei er ihn zum Pfalzgrafen kürte und zum römischen Adel hinzuzählte, während seine ebenso bekehrten Familienmitglieder in Kirchen- und Kurien18 ASV, Congr. Concilio, Positiones, b. 8, c. 318. 19 Darüber hinaus war Bianchetti u. a. Mitglied der Inquisition und der Konzilskongregation. Über Bianchetti: Maria Teresa Fattori, Clemente VIII e il Sacro Collegio (1592–1605), (PuP 33). Stuttgart 2004, 124. Wolfgang Reinhardt, Paul V. Borghese (1605–1621). Mikropolitische Papstgeschichte. Mit CD-ROM (Mitglieder und Positionen der Kurie Pauls V.) (PuP 37). Stuttgart 2009, 292; Was die Betrachtung der institutionellen Aspekte des Falls angeht, s. Fn. 17. 20 ASV, Congr. Concilio, Positiones, b. 8, c. 314. 21 Ebd., c. 313. 22 ACDF, St. St. CC 4-a. 23 Marina Caffiero, I processi di canonizzazione come fonte per la storia dei rapporti tra ebrei e cristiani e delle conversioni, in: Alessandra Bartolomei Romagnoli/Ugo Paoli/Pierantonio Piatti (Hrsg.), Hagiologica. Studi per R8ginald Gr8goire. Fabriano 2012, 115–126.
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ämter aufstiegen.24 Deboras Beharrlichkeit in jenem Glauben, den die Familie Corcos ihr vermittelt hatte, erwies sich nunmehr als unvereinbar mit der Politik der Familie Boncompagni, die ihm abgeschworen hatte; das »im Irrtum Beharren« eines Mitglieds der einflussreichen Familie verhüllte in den Augen der katholischen Obrigkeiten den symbolischen Erfolg, den die Bekehrung des Geschlechts für die römische Kirche bedeutet hatte. Erst wenn auch Debora und ihr Ehemann den katholischen Glauben annehmen würden, würde dieser Erfolg vervollkommnet sein. Die Tatsache, dass Giuseppe ein einflussreicher Rabbiner war, steigerte freilich den propagandistischen Wert seiner etwaigen Bekehrung.25 Als sich die Hoffnung auflöste, die Konversion der Familie Ascarelli mittels der üblichen »Quarantäne« zu erreichen, erschien die Entziehung der Kinder sowohl den verwandten Neophyten als auch den Kirchenobrigkeiten als einzig wirksames Mittel, um das Paar zum Abschwören zu bringen. So kam es zehn Tage später, dass die Denunzianten Debora vorspiegelten, ein behagliches Zuhause für ihre Familie anzubieten, und sie überredeten, eine Kutsche zusammen mit ihren Kindern zu besteigen. Allerdings zwangen sie sie nach einer kurzen Strecke auszusteigen, ohne ihr zu erlauben, die Kinder mitzunehmen. Allein der kleine Mardocheo, der sich an der Mutter festhielt, entkam der Gefangennahme. Doch nach einigen Tagen begaben sich zwei Geistliche von der Chiesa Nuova26 zum Haus der Frau »und indem sie vorgaben, das Kindlein zu streicheln, sagten sie: ›O schönes Kindlein‹. Einer von ihnen drängte es aus dem Zimmer, während der andere das Kind unter den Arm nahm und über die Treppe flüchtete«.27Nachdem sie dem jüdischen Umfeld der Familie entzogen waren, erklärten die drei älteren Kinder alsbald, sich bekehren zu wollen und wurden in der Chiesa Nuova getauft.28 Und auch der Kleine erschien den katholischen Obrigkeiten dazu geeignet, die Taufe zu empfangen, wie wir noch sehen werden. Als Giuseppe Ascarelli, der die Bekehrung beharrlich verweigert hatte, freigelassen wurde, reichten die Eheleute eine Bittschrift beim Papst ein, in der sie um die Aufhebung der Taufe der drei älteren Kinder und um die Rückgabe des kleinen Mardocheo noch vor seiner Taufe ersuchten29. Die Konzilskongregation war dazu aufgefordert zu drei Fragen Stellung zu 24 Marina Caffiero, Battesimi forzati. Storie di ebrei, cristiani e convertiti nella Roma dei papi. Roma 2004, 276–277 und 296. 25 Über den propagandistischen Wert der Rabbinen-Bekehrung Marina Caffiero, Konvertitinnen in Rom der frühen Neuzeit – zwischen Zwang und neuer Chance, in: Ute Luig/Edith Sauer (Hrsg.), Historische Anthropologie. Kultur Gesellschaft Alltag, Themenschwerpunkt Konversionen, 15, 2007, 24–41, 36. 26 In der Chiesa Nuova waren die bekehrten Mitglieder der Familie Corcos/Boncompagni getauft worden. 27 ASV Congr. Concilio, Positiones, b. 8, c. 314. 28 Ebd. 29 ASV Congr. Concilio, Positiones, b. 8, c. 318.
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nehmen: 1. ob die Verhaftung der Ascarellis zulässig und gesetzmäßig gewesen sei (iuridice facta); 2. ob die drei Kinder rechtmäßig getauft worden seien; 3. ob der jüngste Sohn an die Eltern zurückgegeben werden müsse. Tatsächlich aber betraf der Rechtsstreit, wie wir sehen werden, nur die Rückgabe des kleinen Mardocheo. Nach kanonischem Recht war die Zwangstaufe untersagt, und als solche wurde auch die Taufe der Kinder ohne Zustimmung der Eltern angesehen, welche die väterliche Gewalt (patria potestas) über sie innehatten.30 Die erzwungene Durchsetzung der Taufe hätte mithin eine Bedrohung für ein grundlegendes Prinzip innerhalb der -zivilrechtlichen- Rechtstradition bedeutet, wonach die Fortpflanzung und die Kindererziehung ein Grundrecht darstellen.31 Es war ein natürliches und somit göttliches Recht, das alle Lebewesen eint und folglich auch den Juden – trotz ihres Zustands »ewiger Knechtschaft«, der ihnen zumindest seit Anfang des 13. Jahrhunderts zugeschrieben wurde – nicht verwehrt war.32 Ferner ist zu berücksichtigen, dass jüdische Kinder, wenn sie erst getauft waren, ihrer Herkunftsfamilie entzogen wurden, da ihnen der Umgang mit ihren Angehörigen ebenso wie mit allen übrigen ehemaligen Angehörigen verwehrt war. Die Praxis der Denunziation von Juden, die angeblich ihre Absicht geäußert haben sollten zum Christentum überzutreten, war nichts Ungewöhnliches. Sie wurde vor allem – häufig von Seiten der Neophyten – aus den verschiedensten Gründen vorgenommen etwa aus religiösem Eifer, aus Rache oder um jenen zu helfen, die aus dem Ghetto fliehen und zum Christentum übertreten wollten, ohne dafür durch die Herkunftsgemeinde moralisch verurteilt zu werden.33 Die denunzierten Juden wurden von Amts wegen aus dem Ghetto abgeführt, um sicherzustellen, dass ihr Bekehrungswunsch frei und ehrlich war. Allerdings wurden sie nicht an einen ›neutralen‹ Ort geführt; meistens wurden sie im Haus der Katechumenen, im Neophytenkolleg oder bei frommen katholischen
30 Für eine Rekonstruktion der juristischen Debatte, die zur Taufe jüdischer Kinder geführt wurde: Sylvain Piron/Elsa Marmursztejn, Duns Scot et la politique. Pouvoir du prince et conversion des juifs, in: Olivier Boulnois/Elisabeth Karger/Jan-Luc SolHre/Gerard Sondag (Hrsg.), Duns Scot / Paris, 1302–2002. Paris 2004, 21–62. Darüber hinaus Kenneth Stow, Favor et odium fidei: Conversion invitis parentibus in Historical Perspective, in: Archivio italiano per la storia della piet/, 25, 2012, 55–86. Kenneth Stow, Anna and Tranquillo. Catholic Anxiety and Jewish Protest in the Age of Revolution. Yale 2016, 92–96. 31 Christian Zendri, Umanesimo giuridico ed ebraismo. La questione del battesimo invitis parentibus nel pensiero di Ulrich Zasius. Milano 2011, X. Stevan Rowan, Ulrich Zasius and the Baptism of Jewish Children, in: Sixteenth Century Journal, VI, 2, 1975, 3–25. 32 Von einer theologischen Knechtschaft sprach aber die patristisch-theologishe Tradition bereits ab dem IV Jahrhundert. Zendri, Umanesimo giuridico (wie Anm. 31), 19 und Fn. 76. 33 Caffiero, Battesimi forzati (wie Anm. 24), 203–256.
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Christen in Gewahrsam genommen und waren hier einem sehr starken Druck ausgesetzt, der zu ihrer Bekehrung führen sollte.34 Der von uns zu untersuchende Fall wirft zahlreiche Fragen auf: Wo verläuft die Grenze zwischen einer freien und einer erzwungenen Entscheidung? Wer ist der Inhaber der patria potestas? Welche Rolle spielt der Wille der Kinder beim Empfang der Taufe? Ab welchem Alter sind diese dazu fähig, verantwortungsbewusst zu handeln? Kann die potentielle Gefahr der ewige Verdammnis und somit des Heilsverlustes höher gewertet werden als das Recht der Eltern zur Religionsbestimmung der Kinder? Was in den Augen der Opfer als Entführung und in unseren Augen als Gewaltakt erscheint – die Entführung der Ascarelli aus dem Ghetto – war in den Augen des Rektors des Katechumenenhauses ein rechtmäßiger Akt, denn er war auf eine Anzeige hin erfolgt, die der Rektor persönlich durch den Papst erhalten hatte. Die daraus entstandene Taufe konnte somit nicht als Zwangsakt angesehen werden. Zwar bestand kein Zweifel an der Gültigkeit und Rechtmäßigkeit der Taufe der ältesten bereits zwölfjährigen (und daher volljährigen) Tochter, die um die Spende des Sakramentes ersucht hatte, sodass hier nicht mehr interveniert werden konnte. Doch nicht einmal die sieben Jahre des zweiten Mädchens stellten für die kirchliche Obrigkeit ein echtes Hindernis dar. Die Grenze zwischen Kindheit (dem Alter zwischen sieben und zwölf/vierzehn Jahren)35 und Jugend war nicht genau bestimmt, konnte aber je nach der körperlichen und seelischen Reife des Kindes vorgezogen oder aufgeschobenen werden, wobei die Vollendung des siebten Lebensjahres im Allgemeinen als ein für die Bekehrung ausreichendes Alter erachtet wurde.36 Im Falle des jüngsten Getauften, des kleinen Giuda von fünfeinhalb Jahren, hätte die Frage allerdings gestellt werden müssen. Da dieser ganz ohne Zweifel im Kindesalter war, hätte die ohne die Zustimmung der Eltern gespendete Taufe nicht dazu dienen dürfen, ihm »die Prägung oder den Charakter« des Sakraments aufzudrücken. Allerdings konnte man sich zur Begründung der Gültigkeit des Sakraments auf das Decretum Gratiani berufen, wonach die zwangsweise getaufte Person den christlichen Glauben befolgen musste.37 Die Anerkennung der Gültigkeit der Zwangstaufe setzte sich, wenn auch nicht einhellig38, durch. Seitdem galt normalerweise eine 34 Bekehrte Jude waren oft »die eifrigsten Mitarbeiter der Rektoren bei der Unterweisung der Juden während der Quarantäne in den Bekehrungsheimen« obwohl ihnen die Kontakten zu den ehemaligen Religionsgenossen verboten waren. Caffiero, Konvertitinnen (wie Anm. 25), 36. 35 Zwölf für die Mädchen, vierzehn für die Jungen. 36 Laura Luzi, »Inviti non sunt baptizandi«. La dinamica delle conversioni degli ebrei, in: Mediterranea. Ricerche Storiche 10, 2007, 225–270, 254–255. 37 D. 45, c. 5: De Iudeis: »Iudei non sunt cogendi ad fidem, quam tamen si inviti susceperint, cogendi sunt retinere«. 38 So betrachtete Guillaume Durand de Saint-PourÅain die gegen den Willen der Eltern durch-
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Taufe, die ohne die Zustimmung der Eltern gespendet wurde, als gültig; lediglich im Fall eines Formfehlers wurde der Getaufte an die Familie oder an die Herkunftsgemeinde zurückgegeben.39 Daraus wird ersichtlich, warum der hier beschriebene Streit konkret nur den kleinen Mardocheo betraf. Er war seinen Eltern noch vor Vollendung des vierten Lebensjahres entzogen worden, also noch zweifellos im Kindesalter und noch ungetauft. Er war der einzige Sohn, für den es eine berechtigte und realistische Hoffnung auf Rückkehr zur Familie gab. Der Fall war besonders schwierig und die Herangehensweise durch die kirchliche Obrigkeit besonders skrupellos. Der Anspruch, das Kind gegen den Willen beider Eltern zu taufen, stand im Widerspruch zur längst gefestigten Norm des Schutzes der patria potestas. Die Rechtsstreitigkeiten darüber, ob es angebracht sei, jüdische Kinder zu taufen, betrafen hauptsächlich Fälle, in denen sich der Vater oder die Mutter bekehrt hatten und ihre Kinder dem Glauben darbrachten (dies war die übliche Ausdrucksweise) oder Fälle, in denen Neophyten um die Taufe für Kinder von mit ihnen verwandten und verwitweten Juden baten. Die Rechtsprechung neigte in diesen Fällen dazu, die Höherwertigkeit des Rechtsgunst des Glaubens (favor fidei) gegenüber den üblichen Normen zur Vormundschaft gelten zu lassen.40 Kraft dieses Prinzips setzte sich also der Wille der christlichen Mutter gegen jenen des jüdischen Vaters durch, und genauso der Wille des bekehrten Großvaters, unabhängig davon ob väterlicher- oder mütterlicherseits gegenüber jenem der verwitweten jüdischen Mutter.41 Im vorliegenden Fall stimmten jedoch beide Eltern darin überein die Taufe abzulehnen, was gegenüber dem Willen des Vorfahren mütterlicherseits von entscheidender Bedeutung hätte sein müssen. Wie bereits erwähnt, erschien der kleine Mardocheo den katholischen Obrigkeiten dazu geeignet, die Taufe zu empfangen: »Jeden Tag bekreuzigte er sich, hatte das ›Vater unser‹, das ›Ave Maria‹ sowie das ›Credo‹ gelernt, und rief mit gebeugtem Haupt die Namen Jesu Christi und der Jungfrau Maria an«.42 Sein
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geführte Taufe nicht nur als unrechtmäßig, sondern auch als ungültig. Durand De SainPourÅain, In IV Sent., d. 4, q. 6. Lyon 1556, 260. Diese Meinung wurde aber von Benedict XIVals ›einmalig‹ abgelehnt. Zendri, Umanesimo giuridico (wie Anm. 31), 6. Caffiero, Battesimi forzati (wie Anm. 24), 81–87. Helmholz, Baptism (wie Anm. 5) 123–124. Caffiero, Battesimi forzati (wie Anm. 24), 115–201. ASVCongr. Concilio, Positiones, b. 8, c. 312. Beispiele von Kinderbefragungen vor Gericht aus Glaubensgründen in Dagmar Freist, Religious Difference and the Experience of Widowhood in Early Modern Germany, in: Sandra Cavallo/Lyndan Warner (Eds.), Widows in Medieval and Early Modern Europe. London 1999; dies., Zwischen Glaubensfreiheit und Gewissenszwang: Reichsrecht und der Umgang mit Mischehen nach 1648, in: Ronald G. Asch/Wulf Eckart Voß/Martin Wrede (Hrsg.), Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Die europäische Staatenordnung und die außereuropäische Welt. München 2001, 293–322; dies., One Body, Two Confessions: Mixed Marriages in Germany, in: Ulinka Rublack (Hrsg.), Gender in Early Modern German History. Cambridge 2002, 275–305; dies., Recht und Rechtspraxis im
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Bekehrungswunsch konnte – nach der Meinung der Befürworter der Konversion – vom heiligen Geist eingegeben sein, von einem durch frühzeitige Vernünftigkeit gesteuerten Willen, oder aus einem natürlichen Willen heraus. Wäre er durch den heiligen Geist inspiriert worden, so hätte man den kleinen Mardocheo nicht aufhalten dürfen, denn hier gelte der Paulussatz: »Den Geist dämpft nicht; die Weissagung verachtet nicht; prüfet aber alles, und das Gute behaltet« (1. Ths. 19–21). Dass das Kind durch den heiligen Geist inspiriert worden war, schien den Befürwortern der Bekehrung durch die Tatsache erwiesen, dass der Kleine die Gebete aufsagte, zumal das Wort des Apostels galt: »Keiner vermag zu sagen: Herr ist Jesus!, es sei denn im heiligen Geist« (1. Kor 12, 3). Falls Mardocheos Bekehrungswunsch jedoch daher rührte, dass ein verfrühter Gebrauch des Verstandes seinen Willen beeinflusste, wäre es sicherlich unsinnig gewesen, ihm den Zugang zum wahren Glauben zu verwehren. Dass der Kleine in Grundzügen bereits mit Vernunft ausgestattet gewesen war, ist alles andere als unwahrscheinlich. Vielmehr lehrte die allgemeine Erfahrung, dass die Handlungen und Behauptungen der Kinder zuweilen ebenso vernünftig waren wie diejenigen der Erwachsenen. Und wenn die Kinder sich versündigen und auch verdammt werden können, wie Papst Gregor der Große behauptete, wobei er von dem Fall eines fünfjährigen Kindes ausging, das Gott gelästert haben sollte43, dann sind sie auch dazu in der Lage, gut zu handeln und dementsprechend errettet zu werden. Wenn schließlich der kleine Ascarelli aufgrund seines natürlichen Willen gewünscht hätte, Christ zu sein, und zwar geleitet von einer unvollkommenen Vernunft, so wäre dieser Mangel nach dem Prinzip des favor fidei, durch den Glauben der Kirche, behoben worden. Der »Fall Ascarelli« beweist die exklusive wie inklusive Kraft der Taufe und ihre Wirkung auf der Ebene der individuellen Rechte. Sogar die materiellen Elemente der Taufe selbst, also die Art der verwendeten Flüssigkeit, bestimmten das persönliche, soziale und politische Schicksal eines Individuums mit, weil es auf folgenschwere Weise die Beteiligten in die christliche Gemeinschaft ein- oder aus ihr ausschloss. Im Rom der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts taufte ein Mann im Ghetto drei Mädchen ohne Wissen der Mutter. Der Bruder dieser Mädchen entging der Taufe, weil dem Mann »das Wasser ausgegangen war«.44 Dieser Umstand sollte zu völlig verschiedenen Lebensschicksalen der Geschwister führen: Die drei getauften Mädchen wurden der Mutter entzogen und in ein Katechumenatshaus eingewiesen, ihnen wurde der Besuch des Ghettos und das Zusammentreffen mit Juden (selbst mit den nächsten Verwandten) ohne Zeitalter der Aufklärung am Beispiel der Taufe jüdischer Kinder, in: Andrea Gotzmann/ Stephan Wendehorst (Hrsg.), Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich. Berlin 2007, 109–137. 43 Gregorius Magnus, Dialogi, 4,18. 44 Caffiero, Battesimi forzati (wie Anm. 24), 79.
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Sondererlaubnis verboten.45 Sie unterstanden der Gerichtsbarkeit der katholischen Autoritäten und sollten im Falle einer Wiederannäherung an das Judentum als Rückfällige (relapsae) schwer bestraft werden. Der Junge hingegen durfte weiterhin bei seiner Mutter im Ghetto leben – nur weil das Wasser fehlte, mit dem er hätte getauft werden sollen. Über das Schicksal des kleinen Mardocheo verfügte die Konzilskongregation auch ohne eine Entscheidung zu fällen. Denn nachdem seit der Entziehung des Kindes von den Eltern mehr als ein Jahr vergangen war, wurde festgesetzt, dass keine Entscheidung getroffen werden solle, sondern die Angelegenheit solange in der Schwebe bleiben solle bis der Junge das erforderliche Alter erreiche, um eine eigene Entscheidung zu treffen. Nur zwei der zwölf Kardinäle, die dazu ausersehen waren, über den Fall abzustimmen, sprachen sich für die Rückgabe Mardocheos an die Eltern aus.46 Mardocheo wurde letztlich getauft und der Familie endgültig entzogen.47
2.
Das Recht zu heiraten: Das privilegium paulinum und die Ausdehnung der katholischen Gerichtsbarkeit auf die Ehe der Juden
Im Verlauf des 12. und 13. Jahrhundert bemühte sich die Rechtswissenschaft in wachsendem Maße um die Regulierung des hochaktuell gewordenen Instituts der Eheschließung zwischen Personen unterschiedlicher konfessioneller, religiöser oder ritueller Orientierung. Während im Westen die ideologisch-theoretische, bald schon in Repression umschlagende Auseinandersetzung mit den häretischen Strömungen (insbesondere mit der katharischen Häresie) anhob, hatten die Kreuzzüge im Orient die Spaltung zwischen der lateinischen und byzantinischen Welt verschärft. Die Westkirche sah sich Ordnungsstrukturen des täglichen Zusammenlebens gegenüber, in die sich eine ungeregelte Heiratspraxis nicht mehr einfügte. Es ging dabei nicht mehr um die Eheschließung mit Juden oder Ungläubigen, die mittlerweile eine fundierte rechtliche Basis 45 Wie vom Konzil von Toledo vorgesehen »iudeorum filios vel filias, ne parentum ultra involvantur erroribus, ab eorum consortio separari decernimus, deputatos aut monasteriis aut christianis mulieribus ac viris, Deum timentibus, ut sub eorum conversatione cultum fidei discant, atque melius instituti tam in moribus quam in fide proficiant«. 28, q. 1, c. Iudaeorum. 46 ASV Congr. Concilio, Positiones, b. 8, c. 319. Über die »Praktiken des Nichtentscheides« Christian Windler, Uneindeutige Zugehörigkeiten. Katholische Missionare und die Kurie im Umgang mit »communicatio in sacris«, in: Andreas Pietsch/Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit. Gütersloh 2013, 314–345, 314. 47 ACDF, St. St. CC 4-a.
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besaß, sondern um neue Formen, etwa die Vermählung zwischen Christen, die unterschiedlichen Riten folgten oder zwischen Katholiken und »Häretikern«. Im Einzelfall auftretende Probleme wurden den Päpsten zur Entscheidung vorgelegt, die dann einen normativen Bezugsrahmen für die Zukunft schufen. In diesem Rahmen nun wurde das innovativste Konzept zur Mischehenfrage entwickelt, das anfänglich kaum Anklang gefunden hatte, dann aber eine umfangreiche Wirkung entfaltete und bedeutende soziale und politische Konsequenzen hatte. Uguccione da Pisa verknüpfte Ende des 12. Jahrhunderts Ehe und Taufe aufs Engste miteinander, sodass der Hindernisgrund des cultus disparitas nicht mehr auf »Häretiker« zutraf sondern auf »Ungläubige« und Juden (also: nicht Getaufte) beschränkt blieb.48 Auch die Ehe mit einem verheirateten Neophyten unterlag der Rationalisierung in dieser Zeit. Innozenz III. hatte die Doktrin bezüglich des Paulinischen Privilegs durch das favor fidei endgültig auf den Punkt gebracht, indem er es für ausreichend befand, um die nicht vollzogene Ehe aufzulösen. Als solche musste die Ehe mit Nichtgetauften verstanden werden, weil sie selbst im Falle ihres Vollzugs nicht als Sakrament gelten konnte. Der Neugetaufte konnte also erneut heiraten sobald sich der Nichtgetaufte weigerte, das Haus mit ihm zu teilen beziehungsweise mit ihm zusammen zu wohnen ohne dabei gotteslästerlich zu werden, indem er den Christen zur Todessünde verführte. Damit war die Interpellation zu Gunsten des Nichtgetauften notwendig.49 Die diesbezüglichen Dekretalen Innozenz’ III. sollten grundlegend bleiben für die juristische Auslegung bis weit in das sechszehnte Jahrhundert hinein. Neue Aspekte brachten einerseits das Trienter Konzil, das die Unauflösbarkeit der Ehe selbst der nicht sakramentalen bestärkte50 andererseits die neuen Bedingungen, mit denen die Kirche in der Mission konfrontiert war.51 48 Ermanno Orlando, Sposarsi nel Medioevo Percorsi coniugali tra Venezia mare e continente. Roma 2010, 173–237, 173, 182; Marcus Langs, Das Eheverbot wegen Glaubensverschiedenheit. Die Entwicklung von den jüdisch-alttestamentlichen Rechtsgrundlagen bis in das Zweite Deutsche Kaiserreich. Münster 2004; Susanne Ganster, Religionsverschiedenheit als Ehehindernis. Eine rechtshistorische und kirchenrechtliche Untersuchung, Paderborn 2013, 27–90. 49 Das Paulinische Provileg basiert auf Kor 7, 12–15: »12 Den Übrigen sage ich, nicht der Herr : Wenn ein Bruder eine ungläubige Frau hat und sie willigt ein, weiter mit ihm zusammenzuleben, soll er sie nicht verstoßen. 13 Auch eine Frau soll ihren ungläubigen Mann nicht verstoßen, wenn er einwilligt, weiter mit ihr zusammenzuleben. 14 Denn der ungläubige Mann ist durch die Frau geheiligt und die ungläubige Frau ist durch ihren gläubigen Mann geheiligt. Sonst wären eure Kinder unrein; sie sind aber heilig.15 Wenn aber der Ungläubige sich trennen will, soll er es tun. Der Bruder oder die Schwester ist in solchen Fällen nicht wie ein Sklave gebunden; zu einem Leben in Frieden hat Gott euch berufen.« 50 Hubert Jedin, Die Unauflöslichkeit der Ehe nach dem Konzil von Trient, in: Klaus Reinhardt/ Hubert Jedin (Hrsg.), Ehe-Sakrament in der Kirche des Herrn. Berlin 1971, 61–109. 51 Einige Beispiele dazu in Giovanni Pizzorusso, I dubbi sui sacramenti dalle missioni ad
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Als Reaktion auf die pastoralen Bedürfnisse der Missionare, die darum ersuchten, das Paulinische Privileg auch auf Fälle von Polygamie ausdehnen zu können, erließen Paul III., Pius V. und Gregor XIII. drei einschneidende Konstitutionen. Die erste stammt aus dem Jahr 1537, bezog sich auf die Westindischen Inseln und sah vor, dass der konvertierte Polygam nur die erste seiner Frauen behalten durfte. Wer sich nicht daran erinnerte, welche seiner Frauen er zuerst geheiratet hatte, konnte eine unter ihnen aussuchen, mit der er eine Ehe per verba de presenti einzugehen hatte.52 Die Konversion der Frau war nicht notwendig und selbstverständlich galt die Interpellationspflicht der ersten Frau als aufgehoben.53 Die zweite Konstitution von 1571 bezüglich der Westindischen Inseln bot dem Polygam die Möglichkeit, die bevorzugte Frau auszusuchen, auch wenn er sich noch an die Reihenfolge der Eheschließungen erinnerte, allerdings war diese Möglichkeit daran gebunden, dass sie sich noch vor der Eheschließung taufen ließ.54 1585 erließ Gregor XIII. eine Konstitution, die auch konvertierten Sklaven die Ehe erlaubte, die von ihren Partnern getrennt lebten. Zugleich erteilte sie Ordinierten, Pfarrern und jesuitischen Missionaren in Angola, Äthiopien und Brasilien die Erlaubnis, verheiratete Neophyten von der Notwendigkeit einer Interpellation ihres nicht anwesenden, nichtgetauften Ehepartners im Falle einer Neuverheiratung mit einem Christen zu befreien.55 Damit wurde die Möglichkeit der nicht sakramentalen Ehe zusehends zurückgedrängt. Doch geschah dies nicht so sehr im Sinne Innozenz’ III. zum Zwecke des Glaubenserhalts und seiner friedfertigen Ausübung als vielmehr, »um den Glauben zu verbreiten«. Besonders Gregor XIII. erließ seine Konstitution ausdrücklich, um zu verhindern, dass »Männer, die weniger in Zurückhaltung geübt waren, vom Glauben abfielen und anderen damit mit schlechtem Beispiel vorangingen.«56 Manche Theologen und Kanonisten, wie beispielsweise Vasquez, Basilio Ponce de Lejn und Benedikt XIV. versuchten eine Auslegung der drei eben
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infideles: percorsi nelle burocrazie di Curia, in: Broggio/De Castelnau-L’Estoile/Pizzorusso (Hrsg.), Administrer les sacraments (wie Anm. 7), 39–61; Charlotte De Castelnau-L’Estoile, Le e mariage des infidHles au XVI siHcle: doutes missionaires et autorit8 pontificale, ebd., 95–121; Benedetta Albani, In universo christiano orbe. La Sacra congregazione del Concilio e l’amministrazione dei sacramenti nel Nuovo Mondo (secoli XVI–XVII), ebd., 63–73. Das kanonische Recht unterscheidet zwischen dem Ausdruck des gegenwärtigen Konsens (sponsalia per verba de presenti), wodurch eine unauflösbare Ehe geschlossen wird, und dem Ausdruck des zukünftigen Konsens (sponsalia per verba de futuro), wodurch eine Verlobung besiegelt wird. Charles Donahue, Law, Marriage, and Society in the Later Middle Ages. Cambridge 2007, 16–18. Paul III, Const. Altitudo divini consilii, 1. iun. 1537, in DH 1497. Pius V, Const. Romani Pontificis, 2 aug. 1571, in DH 1983. Gregor XIII, Const. Populis ac nationibus, 25 ian. 1585 in DH 1998. Ebd.: »…Ne homines continentiae servandae minime assueti, propterea minus libenter in fide persistant et alios illorum exemplo ad eius perceptionem deterreant«.
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angesprochenen Konstitutionen sowie der Ausnahme im Blick auf die Neophytenehe, die die Abkehr vom nichtgetauften früheren Partner und die Rücknahme des Interpellationsrechts vorsah. Sie legten sie dabei als Anwendung des Paulinischen Privilegs und nicht als Wirkung päpstlicher Gewalt aus. Andererseits gab es auch Stimmen, wie beispielsweise diejenige des Kardinals de Lugo e S. Alfonso Maria de Liguori, die daran festhielten, dass es eben die päpstliche Gewalt gewesen sei, die der Kirche die Befugnis erteilte, nicht nur das Paulinische Privileg auszulegen, sondern auch die Ehe zwischen nicht Getauften auch in den von Paulus nicht vorgesehenen Fällen aufzulösen.57 Tatsächlich war es die päpstliche Gewalt, an die im Einzelfall aus der gesamten katholischen Welt appelliert wurde. Solche Fragen wurden der Konzilskongregation vorgelegt. Bezogen auf Europa handelte es sich bei den Ehen von Christen mit Neophyten zumeist um konvertierte Juden. Die Anfrage betraf oft den Dispens von der Interpellationspflicht des abwesenden Ehepartners. Gedacht waren diese Dispense ursprünglich im 16. Jahrhundert für Indien und Amerika. Im 17. Jahrhundert wurden sie auf Neapel und Venedig und im 18. Jahrhundert auf Livorno übertragen; sie alle waren Diözesen, die durch eine ausgeprägte soziale Mobilität gekennzeichnet waren. Wie sehr es darum ging, neue Katholiken zu gewinnen, ist in der Befugnis zu beobachten, die Benedikt XIV. 1745 dem Nuntius von Venedig erteilte. Darin war vorgesehen, sogar diejenigen, die sich noch im Kathechumenhaus befanden, von der Interpellation zu befreien.58 Sicherlich verfehlten solche Angebote ihr Ziel nicht, sie trugen entschieden zur Attraktivität der Konversion bei. Ein genauerer Blick auf die Anfragen nach Rom in dieser Sache zeigt, dass die Auflösung der nichtsakramentalen Ehe als der schwierigste Aspekt des Ganzen wahrgenommen wurde. Bereits seit Innozenz III. war klar, dass das Ehebündnis bei einer Neuverheiratung des Neophyten mit einem Getauften sofort als aufgelöst galt und dass dies nicht aufgrund einer ablehnenden Haltung des nichtgetauften Partners zu geschehen hatte. Dies bot der Kirche einen möglichst umfassenden Handlungsspielraum im Umgang mit der jüdischen Ehe, den sie bis hin zum Verbot der Erteilung eines Verstoßungsbüchlein (ghet) für die jüdisch gebliebene Frau entfaltete. Dass ghet hätte ihr nach hebräischem Recht die Wiederverheiratung erlaubt. Hätte der konvertierte Mann es ausgestellt, hätte er wegen Apostasie durch die Inquisition verfolgt werden können.59 57 Zbigniew Piłat, Rilevanza giuridica delle interpellazioni e delle cauzioni nello scioglimento del matrimonio. Roma 2007, 49–50. 58 Sanctissimi domini nostri Benedicti Papae XIV Bullarium Thomus Primus in quo continentur constitutines, epistolae, alique edita ab initio pontificato usque ad annum MDCCXLVI, Venetiis MDCCLXVIII, n. CXVII, »Cum Neophitis«, 216. 59 Die Ausstellung des ghets verbot die katholische Kirche als »abergläubische und jüdischen Sitten entsprechende« Praxis explizit. Caffiero, Battesimi forzati (wie Anm. 24) 305.
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Ein anderes Feld, dessen sich die Kirche auf der Grundlage dieser Regelung annahm, war die verbindliche Anerkennung für Ehen, die für Juden als geschieden galten. Im Folgenden soll auf zwei Fälle eingegangen werden, die die Komplexität der in Rom verhandelten Ehefragen illustrieren können. 1722 beschäftigte sich die Konzilskongregation mit dem Fall der Anna Maria Teresa Medici aus Florenz, die mit ihren Kindern seit nunmehr einem Jahr zum Katholizismus übergetreten war.60 Elf Jahre zuvor hatte sie von ihrem jüdischen Ehemann einen Scheidebrief erhalten, wonach sie nach hebräischem Recht als geschieden galt. Als nun nach der Konversion ein Christ um ihre Hand anhielt, wurde die Frage aufgeworfen, ob sie sich in der Frage der Interpellation an ihren jüdischen Mann wenden müsse.61 Der Bischof von Florenz stellte fest, dass die Überreichung des Scheidebriefes lange zurückliege, so dass weder die Mutter noch ihre Kinder über das Befinden des Vaters und Ehemannes informiert sein konnten. Zudem habe er sie in dem Scheidebrief in einem solchen Maß beleidigt, dass eine Wiederversöhnung ausgeschlossen werden konnte. Man vermutete sogar, dass er nicht mehr am Leben sei62. Die zum Fall befragten Autoritäten vertraten unterschiedliche Meinungen. Manche – darunter auch Sanchez – erachteten die Interpellation in solchen Fällen als überflüssig.63 Ponce de Lejn wiederum hielt daran fest, auch wenn dies bedeutete, dass es weiterhin des päpstlichen Dispenses bedurfte, um sie zu umgehen.64 Ihm folgte auch die Konzilskongregation in ihrer Entscheidung und bestand damit auf dem Weiterbestand eines Bündnisses, das nach jüdischem Recht seit 10 Jahren gelöst worden war. Noch deutlicher erscheint diese Einmischung der Kirche in das jüdische Recht im Falle der Florentiner Jüdin Ricca Ester (1727), die viele Jahre zuvor zum Katholizismus konvertierte. Ihr Mann Abram antwortete negativ auf die kanonische Interpellation und Ester zog es vor, sich nicht mit einem Katholiken wiederzuverheiraten.65 1721 heiratete Abram die Jüdin Bianca. Gemeinsam entschieden sie zwar ein Jahr später zu konvertieren, wollten aber ihr Bündnis
60 Thesaurus resolutionum sacrae Congregationis Concilii, Tomus Secundus, Urbino 1789, 116–118. 61 Ebd., 117. 62 Ebd., 118. 63 Thomae Sanchez, De sancto matrimonii sacramento disputationum thomus secunsus in quo continetur liber septimus…, Venetiis 1726, lib. 7 disput. 74. num 14: »Ex quo infertur, quoties infidelis adeo distat, ut commode requiri nequeat, non esse opus hac monitione. Quia ut res modo se habent, est moraliter certum fore ut noli converti, et relinquere suos, ut legitime cohabitet. Atque requisitio est moraliter impossibilis.« 64 Basilio Ponce de Lejn, De sacramento matrimonii, Bruxellis 1632, lib. 7, cap. 48, num 22. 65 Thesaurus resolutionum, tomus quartus, Romae 1751, 30–47.
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beibehalten. Ricca Ester erklärte sich auf Anfrage einverstanden mit der Ehe der beiden, zumal sie auf keinen Fall zu ihrem Mann zurückkehren wollte.66 Diese vermeintlich klare Lage überzeugte den Florentiner Prälaten allerdings nicht, weshalb er sich an die Konzilskongregation wandte. Die Kardinäle befanden, dass der nun konvertierte Abram seine zweite Frau zugunsten der Rückkehr zur ersten verlassen müsse. Einfacher wäre es gewesen, wenn Ricca Ester selbst verheiratet gewesen wäre, doch »im fortgeschrittenen Alter von 40 fühlte sie sich nicht wohl mit dem Gedanken, sich einem neuen Bündnis zu unterwerfen und die Ruhe zu verlieren, in der sie bisher komfortabel und frei leben konnte.«67 Da die Rechtslage ihr diese Ruhe genommen hätte, bot man ihr den Klostereintritt als Kompromiss an. Bei nicht vollzogenen Ehen zwischen Katholiken bestand durchaus die Möglichkeit, einem Orden beizutreten und auch wenn dieser Schritt nur einem der Partner möglich gewesen wäre, würde das Bündnis trotzdem aufgelöst worden sein.68 Die Ehe von Abram und Ricca Ester war allerdings vollzogen worden. Die Konzilskongregation befand aber, dass die zwischen zwei Getauften geschlossene Ehe einer vertraglich geschlossenen und vollzogenen Ehe zwischen nicht Getauften stets vorzuziehen sei. Wenn der Klostereintritt also nach der geschlossenen aber nicht vollzogenen Ehe zwischen Katholiken möglich war, so musste dies auch im Falle von Neophyten gelten, die ihre Ehe als Juden geschlossen und vollzogen hatten.69 Damit hätte Ricca Ester den Schleier nehmen können. Allein, sie wollte es nicht! Der Bischof von Florenz drängte aber auf die Dispensierung von Abram und Bianca, und betonte, dass die beiden weit über ihre eheliche Zuneigung geradezu kongenial miteinander verbunden seien und allein der Tod sie trennen könne. Es war zu befürchten, dass das Paar eher auf die Konversion als auf die Auflösung der Ehe verzichten würde. Zudem schien diese Beziehung bereits in die Zeit der Ehe mit Ricca Ester zurückzureichen. Bianca war Bedienstete im Haus und so sehr von ihrem Herrn geschätzt, dass sie die Eiversucht der Hausherrin auf sich gezogen hatte.70 Der so viele Jahre zurückliegende Ehebruch des Mannes war Riccas einzige Chance, einer Wiedervereinigung mit ihm zu entkommen. Seinerzeit war der Ehebruch notorisch gewesen, womit ihr nach Covarrubias erlaubt gewesen wäre, den Ehebrecher von sich aus zu verlassen.71 66 67 68 69
Ebd., 30. Ebd., 32. X 3. 32. 1–20. Thomus secundus disputationum de sancto matrimonii sacramento aucthore r. p. Thoma Sanchez Cordubensi e Societate Jesu, Antwerpiae 1607, lib. 7, disp. 76, num. 8–9. 70 Thesaurus resolutionum, tomus quartus, (wie Anm. 65), 31. 71 Ebd., 33. Didaci Covarruvias a Leyva Toletani episcopi Segobiensis…opera omnia. Antverpiae 1615, part. 2 de sponsalibus, cap. 2§ 5 num. 12.
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Darüber hinaus überwog die Ansicht, dass die Ehe zwischen zwei nicht Getauften gelöst werden müsse, wenn der Neophyt erneut heiratet, nicht aber, falls der nicht getaufte Partner sich der Konversion oder einem friedlichen Zusammenleben widersetzt. Demnach war Abram noch als Jude in dem Augenblick zum Ehebrecher geworden, in dem er Bianca geheiratet hatte, obwohl seine Frau noch im heiratsfähigen Alter gewesen wäre. Ricca war also nicht mehr gezwungen, zu Abram zurückzukehren, während der Papst Abram einen Dispens für die Eheschließung mit Bianca aufgrund seiner Befugnis, nichtsakramentale Ehen zu lösen, erteilen konnte.
Fazit Taufe und Ehe haben sich als Schlüssel zur Erforschung der Interaktion zwischen Katholiken und Juden erwiesen. Die Entscheidung für die Taufe ist an ihre »rechtliche Wirkung als Wiedergeburt«72 geknüpft, wodurch ihr eine starke exklusive wie inklusive Kraft zukam und der Kirche die Jurisdiktion über die einzelne Person vorgab. Dies wirkte sich nicht nur auf jeweils individueller Ebene aus, sondern verwirklichte sich auch in der Konfrontation unterschiedlicher, bisweilen sogar gegensätzlicher Rechte. Im Falle der getauften jüdischen Kinder, die gewaltsam von ihren Eltern getrennt wurden, wird dies besonders offensichtlich, da hier der favor fidei und damit das Recht des Kindes auf Rettung dem Recht der Eltern auf die patria potestas übergeordnet wurde. Darüber hinaus hieß dies, dass das notwendige Konversionsalter gesenkt, das fehlende Bewusstsein ausgeglichen und geschlechtliche wie hierarchische innerfamiliäre Gegebenheiten aufgehoben werden konnten. Somit galten das Recht der konvertierten Mutter vor demjenigen des jüdischen Vaters und dasjenige der Neophyten unter den Verwandten vor demjenigen der jüdischen Eltern. Das Phänomen fand über eine lange Zeitspanne weite räumliche Verbreitung.73 Die Untersuchung der Ehe legt die Methoden frei, mit deren Hilfe die katholische Kirche agierte, um die eigene Rechtsprechung auch auf die jüdische Ehe zu übertragen, indem sie zwischen unterschiedlich strengen Auslegungen des Paulinischen Privilegs lavierte. Die Referenzgröße war dabei stets die päpstliche Gewalt, der zugestanden wurde, die Ehe zwischen zwei nicht Getauften auch jenseits des gesetzten Rechts auflösen zu können. Dies führte zu einer so tiefgreifenden
72 Walther Ullmann, Autobiographie, in: Hermann Balt/Nikolaus Grass/Hans Konstantin Faussner (Hrsg.), Recht und Geschichte, Ein Beitrag zur österreichischen Gesellschafts- und Geistesgeschichte unserer Zeit. Zwanzig Historiker und Juristen berichten aus ihrem Leben. Sigmaringen 1990, 273–290, 282, zitiert von Mayer, Taufe und Recht (wie Anm. 15). 73 Stow, Favor et odium fidei (wie Anm. 30).
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Einmischung in die jüdischen Ehen, dass sogar das Verbot des Scheidebriefes und die Validierung geschiedener Ehen möglich wurde. Solche Sachverhalte wurden in den Missionsgebieten übernommen und implementiert, um dort Entwicklungen zu begünstigen, die wiederum in Europa Anwendung finden sollten. Genau diese Verflechtung der inner- und außereuropäischen Dimensionen eröffnet eine globale Perspektive auf die Steuerung der religiösen Diversität durch die katholische Kirche im Sinne einer entangled history.
Silvana Seidel Menchi
Gewissen, Ohrenbeichte, Inquisition. Aus den Protokollen des Heiligen Offiziums
Abstract In diesem Beitrag werden folgende drei Quellen benutzt: 1. ein Eheprozess der nachtridentinischen Zeit (Pisa, 1584); 2. einige Beispiele sogenannter »sponte comparentes«, die innerhalb der Prozesse der Inquisition eine besondere Kategorie bilden; 3. die Protokolle des Tribunals des Heiligen Offiziums der Römischen Inquisition, genauer gesagt, der erste Band der Decreta Sancti Officii (Rom, 1548–1558). Aus der Kombination dieser Quellen ergeben sich zweierlei Folgerungen: 1. die geheime Verbindung zwischen dem in der Beichte Erlauschten und den Kirchengerichten (diese Verbindung barg die Gefahr, dass das Beichtgeheimnis in den Dienst der kirchlichen Strafverfahren der Kirche – bzw. der Inquisitionsprozesse – geriet); 2. die conscientia als Grund für Divergenzen zwischen dem Papst und den Kardinälen, die im Tribunal des Heiligen Offiziums an seiner Seite saßen. Schlagworte Gewissen, Ohrenbeichte, Inquisition
Vorbemerkung Zum Osterfest des Jahres 1584 verstieß Salvestro Casini, ein Bauer aus Livorno, gegen das kirchliche Gebot der jährlichen Kommunion. Schon zu Anfang der frühen Neuzeit kam man der Pflicht der jährlichen Kommunion zum Osterfest nach. Salvestro empfing die Kommunion nicht, da die Kommunion der Beichte untergeordnet war. Und in jenem Jahr hatte Salvestro die Absolution nicht erhalten können.1 Die Sünde, die Salvestros Absolution verhinderte, war seine Ehe, oder vielmehr das, was er und seine Braut Caterina als ihre Ehe ansahen. Die Normen des Kirchenrechts, die in der gesamten Christenheit seit dem 13. Jahrhundert Gültigkeit hatten, schrieben dem gegenseitigen Konsens per verba de presenti zwiDieser Aufsatz wurde übersetzt von Antonio Staude. 1 Archivio Arcivescovile di Pisa, Acta Criminalia 1583, fol. 129v–148r, 156.
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schen zwei ungebundenen Ehepartnern im Heiratsalter, gefolgt vom Vollzug des Geschlechtsverkehrs, einen performativen Wert zu: auf diese Weise kam eine rechtsgültige Ehe zustande.2 Salvestro und Caterina hatten ihre verba de presenti vor Zeugen ausgesprochen, sie hatten einander die Hand gereicht, der Bräutigam hatte der Braut einen Ring gegeben. Die beiden lebten fortan in häuslicher Gemeinschaft. Dieses Verfahren ist uns aus Tausenden von Fällen, verteilt über ganz Europa, bekannt.3 Die katholische Kirche, und auch die weltlichen Autoritäten, bestanden auf der Eheschließung in facie ecclesiae, also auf einer stärker ausgeprägten Öffentlichkeit des Vorgangs. Aber die kirchlichen Richter zögerten nicht, solche Ehen für gültig zu erklären: sie beschränkten sich darauf, dem Paar die solemnizatio anzuempfehlen, d. h. die bereits vollzogene Eheschließung segnen zu lassen, und so das geschlossene Band gegenüber der gesamten Gemeinschaft bekanntzugeben.4 Die durch das Trienter Konzil für die Eheschließung eingeführten Normen führten eine regelrechte Revolution herbei.5 In der Toskana gingen diese Normen 1563 in die Gesetze des Großherzogtums der Medici ein. Die tridentinische Revolution verunsicherte den Klerus und fand bei den Gläubigen keine Zustimmung. Ein Hauch von Ressentiment schwingt in den Stimmen der friaulischen Bauern mit, die um das Jahr 1587, also drei Jahre nach der Pisaner Episode, erklärten, dass viele, »noch achtzehn Jahre zuvor«, sich Frauen »von den Feldern holten, um die [dort angetroffene Frau] zu ihrer Ehefrau zu machen«. Und »sie führten die Frau nach Hause«, wobei sie das Hochzeitsfest höchstens mit einem »doppelten Mahl« begingen, jedoch »ohne die Anwesenheit von Pfarrern« und »ohne jene Feierlichkeiten, die jetzt gebräuchlich sind«.6 Das Predigen sorgte allerdings dafür, dass die neuen Normen allgemein bekannt wurden. Auch Salvestro Casini war darüber informiert: So bat er seinen 2 Charles Donahue jr., Law, Marriage, and Society in the Later Middle Ages. Cambridge 2007, 16, sowie ausführlicher, ders., The Canon Law on the Formation of Marriage and Social Practice in the Later Middle Ages, Journal of Family History, 7, 1983, 144–45. 3 Silvana Seidel Menchi, Percorsi variegati, percorsi obbligati. Elogio del matrimonio pretridentino, in: dies./Diego Quaglioni (Hrsg.), Matrimoni in dubbio. Unioni controverse e nozze clandestine in Italia dal XIVal XVIII secolo. Bologna, 2001, 22–31. Siehe hierzu auch die Quellen auf der diesem Buch beiliegenden Daten-CD. 4 Seidel Menchi, Percorsi variegati, percorsi obbligati, (wie Anm. 3), 42–45; Donahue, Law, Marriage, and Society, (wie Anm. 2), 31–33. 5 Seidel Menchi, Percorsi variegati, percorsi obbligati, (wie Anm. 3), 52–55; Diego Quaglioni, Sacramenti detestabili. La forma del matrimonio prima e dopo Trento, in: Seidel Menchi/ Quaglioni, Matrimoni in dubbio (wie Anm. 3), 61–79. Für einen europäischen Überblick: Silvana Seidel Menchi, Introduction, in: Silvana Seidel Menchi (Ed.), Marriage in Europe 1400–1800. Toronto, 2016, 3–30. 6 Giovanna Paolin, Monache e donne nel Friuli del Cinquecento, in: Andrea Del Col (Hrsg.), Societ/ e cultura del Cinquecento nel Friuli Occidentale. Pordenone, 1984, 203.
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Beichtvater, ihn und Caterina zu vermählen. Daraufhin verweigerte der Beichtvater Salvestro die Absolution und erlegte ihm auf, beim Bischof in Pisa vorstellig zu werden. Die Vorstellung in Pisa hatte zur Folge, dass Salvestro verhaftet wurde und wenig später auch Caterina. Salvestro wurde zu öffentlicher Folter und zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt; Caterina, die schwanger war, wurde mit drei Jahren Verbannung bestraft und musste an einem Feiertag mit einer Kerze in der Hand am Eingang der Pfarrei niederknien. Späterhin wurden die Strafen zwar für beide abgemildert, doch die Ehe wurde annulliert und das Paar für immer voneinander getrennt.7 Diese Episode aus der italienischen Sozialgeschichte regt uns dazu an, drei Aspekte zu erörtern: – Das Beichtgeheimnis und seine Grenzen; – das Verhältnis von Beichte und Inquisition; – Beichte und Inquisition: Eine Annäherung an die römischen Protokolle des Heiligen Offiziums; – Was bedeutet Gewissen im Sprachgebrauch der Inquisition?
1.
Das Beichtgeheimnis und seine Grenzen
Die Ehe von Salvestro und Caterina wurde vom Pfarrer von Livorno als ein casus reservatus behandelt. Der casus reservatus ist der Verbindungskanal, der das forum internum mit dem forum externum verbindet, d. h. also die Beichte mit dem kirchlichen Gericht beziehungsweise den kirchlichen Gerichten: solche Fälle, casus, gehören ebenso in den Bereich der zu beichtenden Sünden, wie in den Bereich der durch die Bischofs- und Inquisitionstribunale zu verfolgenden Delikte.8 In der Karwoche des Jahres 1584 verlegte der Beichtvater von Salvestro Casini den Fall Salvestros aus dem forum internum der Beichte in das forum externum des Bischofstribunals. Der Fall wurde durch den Bischofsvikar von Pisa – die Pfarrei von Livorno war der Diözese Pisa unterstellt – als matrimonium clandestinum, als Winkelehe, rubriziert: So lautete die abschätzige Formel, die in der Zeit nach dem Trienter Konzil auf diejenigen Ehen angewandt wurde, die in den dreieinhalb vorausgegangenen Jahrhunderten kirchliche und weltliche Autoritäten zwar zu unterdrücken versucht hatten, die aber in der Praxis als gültig anerkannt worden waren9 sogar durch die venezianischen Patriarchen.10 7 Sara Luperini, La promessa sotto accusa (Pisa 1584), in: Seidel Menchi/Quaglioni, Matrimoni in dubbio, (wie Anm. 3), 371–381. 8 Elena Brambilla, Alle origini del Sant’Uffizio, Penitenza, confessione e giustizia spirituale dal medioevo al XVI secolo. Bologna, 2000, 217–224. 9 Seidel Menchi, Percorsi variegati, percorsi obbligati (wie Anm. 3), 17–28. 10 Silvana Seidel Menchi, Ritratto di famiglia in un interno: I Dandolo di San MoisH
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Silvana Seidel Menchi
War die Entscheidung des Beichtvaters von Livorno, die Verlegung des Falles von Salvestro und Caterina anno 1584 von einem forum ins andere gerechtfertigt? Inwieweit erweist sich dieser Fall als Beispiel für einen Missbrauch des Beichtgeheimnisses? Elena Brambilla, die der Verbindung zwischen forum internum und forum externum zwei Monographien gewidmet hat (Bologna 2000, Rom 2006), kommt zu dem Schluss, dass das System der casus reservati, wie es im 15. Jahrhundert entwickelt wurde, in den Händen der Bischöfe zu einem Instrument wurde, das nicht auf äußere Handlungen beschränkt blieb, sondern unmittelbar ins Gewissen drang. Dadurch wäre den kirchlichen Autoritäten der Zugang zur innersten Sphäre des Gläubigen eröffnet, zumal diesen verborgene Vergehen und Sünden offengelegt würden, die sonst nicht vor Gericht gekommen wären. Das Gebiet der casus reservati wäre also ein raffiniertes Konstrukt im Dienste der bischöflichen und kirchlichen Macht.11 Das System ist umso raffinierter, als »das Beichtgeheimnis formell eingehalten wird« (so Brambilla).12 Nicht der Beichtvater, sondern der Beichtende ist derjenige, der sich an den Bischof beziehungsweise an seinen Vikar zu wenden hat, um die Absolution vom casus reservatus zu erhalten. Aber jeder Gläubige muss imstande sein, auf Anfrage einen Kommunionszettel, den sogenannten »cedolino«, vorzuzeigen – etwa im Verlauf einer Pastoralvisitation –, um nachzuweisen, dass er das österliche Gebot befolgt hatte. Dieses Schriftstück ist zugleich eine Bescheinigung der abgelegten Beichte, denn nur wer die Absolution erhalten hat, darf an der Kommunion teilnehmen. Eine amtliche Bestätigung über die Befolgung des österlichen Gebots wird – laut Brambilla – im 15. Jahrhundert eingeführt, als nämlich das System der Verbindung zwischen forum internum und forum externum kodifiziert wird, um dann im Laufe des 16. Jahrhunderts systematisch umgesetzt zu werden.13 Somit wird die Beichtpraxis einer flächendeckenden Kontrolle unterzogen. In der zahlenmäßig begrenzten Gemeinschaft einer Pfarrei des 16. Jahrhunderts wird eine nicht erteilte Absolution zum öffentlichen Tatbestand, der den Säumigen stigmatisiert. Tatsächlich sucht man in dieser Zeit nach plausiblen Gründen, die die Tatsache erklären sollen, dass sich Gläubige der Kommunion enthalten, und zwar (1514–1526), in: Robert A. Pierce/Silvana Seidel Menchi (Hrsg.), Ritratti. La dimensione individuale nella storia (secoli XV–XX). Studi in onore di Anne Jacobson Schutte. Roma 2009, 117–119. 11 Elena Brambilla, Alle origini del Sant’Uffizio (wie Anm. 8), 217–224; dies., La giustizia intollerante: Inquisizione e tribunali confessionali in Europa (secoli IV–XVIII). Roma 2006, 51–63. 12 Brambilla, Alle origini del Sant’Uffizio (wie Anm. 8), 222. 13 Ebd., 359–409; Brambilla, La giustizia intollerante, (wie Anm. 11), 75–77.
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um zu verhindern, dass sich innerhalb der Gemeinschaft gravierendere Verdächtigungen ausbreiten. Unter den am häufigsten angeführten Gründen für die ausgebliebene Kommunion finden wir z. B. bei Pastoralvisitationen die Aussage, jemandem gegenüber »Hass zu tragen«, da dieses Eingeständnis die nicht erteilte Absolution rechtfertigt.14 Das historische Urteil, das Brambilla über dieses System fällt, ist drastisch: Auf diese Weise sei – zumindest in Italien – durch den Einfluss der römischen Kurie auf die einzelnen Staaten der Apenninenhalbinsel ein flächendeckendes Netz der Repression eingerichtet worden, das sich darauf stützt, die sakramentale Beichte zum Instrument der Denunziation bei den kirchlichen Gerichten zu benutzen.15
2.
Beichte und Inquisition
Zu der Zeit, als ich systematisch die Akten der in italienischen Archiven aufbewahrten Inquisitionsprozesse erforschte, stieß ich auf einen Satz, der bei der Eröffnung dieser Verfahren gelegentlich protokolliert wurde. Dieser Satz, oder besser diese Formel, wird den sogenannten sponte comparentes zugeschrieben, d. h. denjenigen Männern und Frauen, die nicht vor dem Inquisitor erschienen, weil sie zitiert worden waren, sondern ›spontan‹ erschienen. In diesen Fällen zielt eine der ersten Fragen der Ermittler auf den Grund dieses Erscheinens – warum sind sie gekommen; auf diese Frage entgegnet der/die sponte comparens, dass er oder sie erschienen ist infolge einer Anordnung seines/ihres Beichtvaters.16 Die Häufigkeit mit welcher die sponte comparentes sich beim Inquisitionsgericht einfanden, um einer durch ihren Beichtvater festgesetzten Pflicht nachzukommen, beeindruckte mich damals als eine relevante Tatsache, brachte mich jedoch nicht dazu, die diesbezüglich entscheidende Frage zu stellen. Die grundlegende Fragestellung formulierte dann mein Kollege Adriano Prosperi in einer einschlägigen dreiteiligen Monographie von 1996, deren zweiter Teil das Verhältnis zwischen Inquisition und Beichte thematisiert.17 Prosperi beweist darin, dass um die Mitte des 16. Jahrhunderts die Einhaltung des Beichtgeheimnisses mit der Notwendigkeit in Konflikt gerät, die »Häresie« zu unterdrücken. Prinzipiell gesehen wird das Beichtgeheimnis als unerschütterliches, unabdingbares Prinzip proklamiert. Es wird damit begründet, dass das 14 Cecilia Nubola, Conoscere per governare. La diocesi di Trento nella visita pastorale di Ludovico Madruzzo (1579–1581). Bologna 1993, 32–34; Brambilla, Alle origini del Sant’Uffizio (wie Anm. 8), 486–490. 15 Brambilla, La giustizia intollerante (wie Anm. 11), 72–74. 16 Ebd., 75–77, und hier zitierte Literatur, insbesondere Anm. 28. 17 Adriano Prosperi, Tribunali della coscienza, Inquisitori, confessori, missionari. Torino 1996.
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secretum confessionis prinzipiell de iure divino ist und dass »nicht einmal der Papst, und auch nicht die gesamte Kirche die Macht haben«, einen Beichtvater »von dieser Pflicht zu befreien«.18 Andererseits wächst das Bewusstsein darüber, dass das Beichtsakrament das Eingangstor zu der in den Herzen verborgenen Wahrheit darstellt und somit auch als Quelle für entscheidende Informationen bei der Bekämpfung der »Häresie« dienen kann. Und genau dieses Bewusstsein gewinnt mehr und mehr an Stärke und wird unter den beiden Inquisitionspäpsten Paul IV. (1555–1559) und Pius V. (1565–1572) zu einer unwiderstehlichen Versuchung. Prosperi spricht von einer Versuchung, der sich der Machtapparat der Kirche ausgesetzt sah, nämlich die Versuchung, »[die Beichte] als einen Ort der Anzeige und des Sammelns von Informationen« zu instrumentalisieren19 ; jedoch drängt sich am Ende seiner Darstellung eindeutig die Schlussfolgerung auf, dass es sich nicht um eine Versuchung handelte, sondern um eine bewusste Entscheidung.
3.
Beichte und Inquisition: Annährung an die römischen Protokolle des Heiligen Offiziums
In den beiden vorausgegangenen Abschnitten habe ich einige wenige Züge der offenen historiographischen Debatte skizziert, innerhalb welcher die beiden Monographien von Prosperi und Brambilla zwei maßgebliche Positionen markieren. Doch inwieweit lassen sich diese Züge durch weitergehende Forschungen noch verändern? Und vor allem: Welche neuen Erkenntnisse lassen sich aus den römischen Protokollen des Heiligen Offiziums ableiten? Mit der Öffnung des Archivs der Glaubenskongregation zu Forschungszwecken im Jahr 1998 hat eine gewaltige Publikationswelle zum Inquisitionstribunal, zu Glaubensdelikten, sowie zur Buchzensur, den Buchhandel und die Bibliotheken überflutet. Die Protokolle des Heiligen Offiziums, die sogenannten Decreta Sancti Officii – also die grundlegende, fast vollständig erhaltene Dokumentation der weltweit operierenden Inquisitionszentrale – sind jedoch unveröffentlicht geblieben. Das Unternehmen einer Edition ist so komplex, die Probleme so erdrückend, dass es – soviel ich weiß – kein Forscher gewagt hat, sich dieser Aufgabe anzunehmen. Ich gestehe ein, mir selbst nicht zugetraut zu haben, diese Herausforderung alleine anzugehen, obwohl ich sie innerhalb meines Forschungsfeldes als die dringlichste Aufgabe der Geschichtswissenschaft betrachte. Allerdings habe ich versucht, mir den Weg durch den ersten Band der Pro18 Prosperi, Tribunali della coscienza (wie Anm.17), 226. 19 Ebd., 219–243. Die zitierten Stellen befinden sich auf S. 227 und S. 219.
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tokolle – Zeitraum 1548–1558 – zu bahnen. Die Frage des Beichtgeheimnisses und seiner Verwendung zwecks der Ermittlungen in Sache »Häresie« kommt in der Zentrale des Heiligen Offiziums durchaus zu Sprache. Eine entsprechende Debatte fand am 19. August 1557 statt.20 Auf der Tagesordnung stand der Fall eines Kamaldulensermönchs, Don Basilio, der schweren Häresievorwürfen ausgesetzt war und verdächtigt wurde, eine unvollständige und irreführende Beichte über seine Verstöße abgelegt zu haben. Die Kongregation diskutierte die Frage, ob es möglich sei, den Beichtvater des Kamaldulensers ins Heilige Offizium zu zitieren und diesen zu zwingen, den Inhalt der Beichte des Angeklagten offenzulegen. Einberufung und Verhör hätten im Einvernehmen mit dem Angeklagten selbst (damals Häftling im Gefängnis des Heiligen Offiziums) stattfinden sollen. Im Laufe einer heftigen Debatte plädierte einer der einflussreichsten Berater – der Magister Sacri Palatii – für die Einberufung und das Zwangsverhör des Beichtvaters pro habenda veritate. Wie immer, erwies sich auch hier das Wort des Papstes als entscheidend: »Der Heilige Vater verbot ausdrücklich das Verhör des Beichtvaters zum Zwecke der Enthüllung des Inhalts der Beichte, selbst wenn der Angeklagte damit einverstanden sein sollte; und er dekretierte, dass derartige Verhöre weder in diesem noch in irgendeinem anderen Tribunal Erwähnung finden mögen, da sie das Beichtsakrament in Verruf bringen und Vorurteile darüber schüren könnten«.21 Die Lebhaftigkeit der Debatte, der ausführliche Wortlaut der Meinungen und der Verweis auf die übrigen Gerichte lassen auf die Aktualität des Themas der Beichte schließen, sowie auf die Tatsache, dass es für seine Verwendung als Instrument der Inquisition einflussreiche Verfechter gab. Doch im Jahr 1557 gehörte Paul IV. nicht dazu. Im Januar 1559 aber hatte Paul IV. seine Position bezüglich des Dilemmas zwischen Beichtgeheimnis und Wirksamkeit der Verfolgung der Häresie radikal geändert. Am 5. Januar 1559 erließ er eine Bulle, die das gesamte System der Beichte in den Dienst der Häresiebekämpfung stellte.22 Der örtliche Inquisitor avancierte zur ausschließlichen Instanz bei der Freisprechung von der Sünde der Lektüre verbotener Bücher sowie bei jedweder ›häretischen‹ Abweichung, und zwar nicht nur dann, wenn diese unmittelbar auf den Reuigen selbst zurück20 Citt/ del Vaticano, Archivio della Congregazione per la Dottrina della Fede (nachfolgend ACDF), SO, Decreta, 1, Die Jovis 19. Augusti 1557 (dieses wie auch die folgenden Zitate aus den Decreta des Heiligen Offiziums verweisen auf das Datum der jeweiligen Sitzung). 21 »Sanctissimus in hac causa expresse prohibuit examen confessoris ad revelanda aliqua confessata etiam de licentia penitentis et de huiusmodi examinibus nulla mentio fiat in dedecus et preiudicium sacramenti confessionis, neque in hoc neque in alio tribunale«. Das entsprechende Edikt findet sich veröffentlicht bei Ludwig von Pastor, Allgemeine Dekrete der Römischen Inquisition aus den Jahren 1555–1597, Historisches Jahrbuch 33, 1912, 542. 22 Prosperi, Tribunali della coscienza (wie Anm. 17), 230–231. Das Dokument ist veröffentlicht in Annales Ecclesiastici… Auctore Oderico Reynaldo, Bd. 15. Lucae 1756, 29–30.
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gingen, sondern auch, wenn sie diesem nur indirekt bekannt waren. Das gesamte corpus christianorum wird so zu einem einzigen Überwachungsapparat. Jeder Beichtvater sieht sich fortan unter Androhung des Kirchenbanns gezwungen, jeden Beichtenden zu fragen: – ob er verbotene Bücher besitze und ob er solche gelesen habe, – ob er von anderen wisse, die solche besäßen oder gelesen hätten, – ob er von ›häretischen‹ Meinungen in seinem Umfeld wisse bzw. solche vermute. Beantwortet der Reuige mindestens eine der Fragen mit ›Ja‹, so ist der Beichtvater dazu verpflichtet, ihm die Absolution zu verwehren, und muss ihm vorschreiben, sich stattdessen beim Inquisitor vorzustellen, um diesem den Inhalt der Beichte mitzuteilen. Erst nachdem diese Anzeige erfolgt ist, erhält der Beichtende die Absolution.23 Die Frage, wodurch diese Wende der Position Paul des IV. herbeigeführt wurde, kann ich nicht beantworten.
4.
Das Gewissen
Der Schlüsselbegriff, auf dem meine Überlegungen beruhen, ist der Begriff des Gewissens. Was bedeutet ›Gewissen‹ (conscientia) für die Inquisitoren bzw. für die Beichtväter, die ihre Beichtenden zu den Inquisitionsgerichten senden? Auf der Grundlage meiner provisorischen Transkription habe ich das Vorkommen des Wortes Gewissen im ersten Band der Inquisitionsprotokolle untersucht. Dieses Wort kommt zwölfmal vor. In fünf von zwölf Fällen gibt das Vorkommen nur wenig Aufschluss: Durch eines seiner Mitglieder gewährt das höchste Tribunal die Absolution in foro conscientiae tantum einem Verdächtigen, einem Prediger ›häretischer‹ Lehren, einem Mönch, der ein verbotenes Buch gelesen hat, usw. Die Absolution eines Schuldigen in foro conscientiae hat als Formel stets eine einschränkende Implikation (tantum): Wem die Absolution in foro conscientiae gewährt wird, der erhält keine Absolution in foro contentioso, d. h. er muss sich dem Inquisitionsprozess unterwerfen. Die Absolution in foro conscientiae zielt darauf, das Gewissen des Schuldigen zu beruhigen, falls sein Gewissen verunsichert oder unruhig ist, und ermöglicht seine Teilnahme an den Sakramenten; dabei wird er
23 Prosperi, Tribunali della coscienza (wie Anm. 17), 230–236.
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jedoch nicht vor den Strafen geschützt, die das Glaubenstribunal verhängt oder verhängen kann.24 Bedeutungsvoller ist das Vorkommen des Wortes conscientia an vier Stellen, wo das Gewissen, vom dem der Notar des Heiligen Offiziums schreibt, nicht das Gewissen der Angeklagten ist, sondern das Gewissen der Inquisitoren. In diesen Fällen kommt der Begriff conscientia in dem Zusammenhang gravare conscientiam oder onerare conscientiam vor – also ›das Gewissen zu belasten‹, beziehungsweise ›jemanden unter Gewissenszwang zu setzen‹. So wird beispielsweise der Kardinal von Carpi, der ein Mitglied des Gerichts war, der fehlenden Kooperation mit dem Gericht in der Anklage gegen einen Mönch verdächtigt: Aus diesem Grund wird ein Theologe des Tribunals, Magister Theophilus, damit beauftragt, zum Kardinal von Carpi zu gehen et gravet eius conscientiam si non dixerit quae scit contra… fratem Rafaelem (28. Mai 1549).25 Auf dieselbe Art und Weise wird ein Prediger aus dem Bistum Neapel einberufen ad comparendum personaliter, gleichzeitig werden der Prior und der Lektor des Neapolitaner Klosters Santa Caterina dazu angehalten, einen Prediger, Giovanni Battista aus Piacenza, streng zu befragen und zu untersuchen, onerantes eorum conscientias (11. März 1550).26 Auch der Vikar des Bischofs von Neapel wird dazu autorisiert, einigen verdächtigen Predigern die Erlaubnis zu predigen zu nehmen und zwar iuxta eius conscientiam, quam oneraverunt: Dies bedeutet, dass der Vikar vor seinem Gewissen dafür verantwortlich ist, dass die Prediger keine Zwietracht säen (23. April 1553).27 Das hier herausgeforderte Gewissen steht im Dienst der Sache der Inquisition: Das Vergehen, um das es geht, ist wiederum jenes der ›lutherischen Häresie‹. Das bedeutungsvollste Vorkommen des Begriffs Gewissen, das ich in diesem Band der Decreta Sancti Officii fand, stammt aus dem Mund und aus der Feder des Papstes selbst. Am 29. April 1557 setzt Paul IV. seine Mitbrüder über ein Breve in Kenntnis. Das Tribunal setzt sich an jenem Tag aus neuen Kardinälen, drei Erzbischöfen, dem Magister Sacri Palatii, sowie aus vier Theologen und Kanonisten zusammen, wobei der Vorsitz wie immer dem Papst obliegt. Gegenstand des päpstlichen Breve ist die Anwendung der Folter auf die Verdächtigen und Zeugen während des Verhörs in causa haeresis, sowie die mutilatio membri, seu sanguinis effusio etiam ad mortem naturalem inclusive – die Verstümmelung eines Gliedes und das Blutvergießen inklusive des natürlichen Todes – welche durch die Entscheidungen beziehungsweise durch die Stimmen
24 ACDF, SO, Decreta, 1, Die XI Februarii 1552; eodem die 14 Maij 1552; Veneris nona Iulii 1553; Die XXma Octobris 1553; Die Iovis 12 Martij 1556. 25 Ebd., Die 28 Maij 1549. 26 Ebd., XI Martii 1550. 27 Ebd., Die Mercurii 23 Aprilis 1555.
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der Richter des Gerichts hervorgerufen werden konnten.28 Offensichtlich waren die siebzehn Richter in ihrem Gewissen beunruhigt und gequält: Gemäß der Vorschriften fürchteten sie, wegen des Blutvergießens, das ihre Entscheidungen zur Folge hatten, ihrerseits in den Status der irregularitas zu fallen. Nos, so die Erklärung des Papstes, securitati et tranquillitati eorum mentis et conscientiae occurrere volentes. »In der Absicht, die Sicherheit und Ruhe ihrer Seele und ihres Gewissens zu unterstützen, erteilen wir ihnen [den Mitgliedern des Gerichtes] die Erlaubnis und die Befugnis, ihre Stimme abzugeben und das Urteil auszusprechen, nicht allein im Blick auf das Folterverhör, sondern auch dafür, ein Urteil auszusprechen, das die Verstümmelung und das Blutvergießen inklusive des natürlichen Todes zur Folge hat.«29 In diesem Fall wich das Gewissen, oder die Sensibilität des Gewissens der Kardinäle und der Erzbischöfe der Inquisition vom Gewissen des Papstes ab und zwar im Blick auf Folter und Todesstrafe.
Schlusswort Das Thema Gewissen hat in unserer Zeit eine große Aktualität. Das hat wahrscheinlich mit dem Horizont der gegenwärtigen Erfahrungen zu tun, in denen das Gewissen, besonders im Kontext der ›Gewissensfreiheit‹, eine kulturelle Grenze zwischen entgegengesetzten Welten zu identifizieren scheint. Dass sich unter diesen Voraussetzungen die Aufmerksamkeit der Historiker gerade auf diese Erfahrungssphäre wendet, belegt, wie resonanzfähig sie ist.30 Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, darauf hinzuweisen, dass eine genaue Analyse derjenigen Quellen, welche von spezifischen individuellen Erfahrungen herrühren, also insbesondere der relevanten Gerichtsakten31 sich als ebenso ergiebig erweisen könnte wie das breite, interkulturelle Panorama der longue-dur8e,
28 Ebd., Die Iovis 29 Aprilis 1557. 29 Ebd.: »Nos securitati et tranquillitati eorum mentis et conscientiae occurrere volentes… votum et sententiam eorum non solum quoad questionem et torturam ipsis reis pro delictis, quibus pro tempore inquisiti accusati seu denuntiati fuerint, sed etiam ad condignam poenam et mulctam etiam usque ad mutilationem seu sanguinis effusionem usque ad mortem naturalem inclusive, absque alicuius censure vel irregularitatis incursu, dicere et eisdem Congregationibus interesse et immiscere possint, licentiam et facultatem concedimus, ac quo ad preterita si aliquam forsan irregularitatem incurrissent cum omnibus predictis dispensamus.« 30 Martin van Creveld, Conscience. A Biography. London, 2015. 31 Cecilia Cristellon, L’ufficio del giudice: mediazione, inquisizione, confessione nei processi matrimoniali veneziani, 1420–1532: Rivista Storica Italiana, 3, 2003, 851–898; Cecilia Cristellon, Marriage, the Church and its Judges in Renaissance Venice (1420–1545). London 2017, 111–157.
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das die heutige Geschichtsschreibung im Blick auf das Gewissensthema bevorzugt berücksichtigt.32
32 Paul Strohm, Coscience. A Very Short Introduction. Oxford 2011.
Andreea Badea
Nach bestem Wissen ein schlechtes Gewissen? Selbstanzeigen bei der Römischen Inquisition und die Vergabe von Leselizenzen im 17. und 18. Jahrhundert
Abstract Ausgehend von Selbstanzeigen vor dem Sanctum Romanum Officium sowie von rechtmäßigen und gefälschten Leselizenzanfragen vor der Römischen Indexkongregation zwischen den 1680er und den 1760er Jahren untersucht der Beitrag die Praktiken der »Gewissensverwaltung« durch die römischen Zensurinstanzen. Das »Gewissen« spielt in den Protokollen eine zentrale Rolle, weil es sowohl von den kirchlichen Institutionen als auch durch die Befragten dogmatischen Kategorien von ›richtig‹, ›falsch‹ und ›häretisch‹ untergeordnet wird. Deshalb kann sich der Zugriff der kirchlichen Verwaltung auf das institutionell vorausgesetzte Gewissen in der Praxis der Leselizenzvergabe materialisieren, zumal dem Leser damit der Erhalt eines reinen Gewissens attestiert werden kann. War jedoch die Sorge um das jeweils eigene Seelenheil der Leser so einfach mit dem Kontakt zur institutionalisierten Buchzensur in Verbindung zu bringen? Und welche Rolle kam in diesem Kontext dem jeweils individuellen Bedürfnis nach Wissenspartizipation zu? Schlagworte Gewissen, Buchzensur, Leselizenzen
In der Sitzung der Indexkongregation vom 19. Juli 1688 trug der Sekretär Giovanni Maria Bianchi die besorgte Anfrage eines Pariser Beichtvaters vor. Dieser gab an, dass man überall in Paris die einzelnen Bücher der Bibel in französischer Übersetzung und voneinander entkoppelt seit 1678 in zweiter und dritter Auflage kaufen könne. Seinem Bericht schloss der Kleriker die Frage an, ob diese Übersetzungen nicht auch – wie alle anderen – durch die vierte Indexregel verboten seien. Zweitens wollte er wissen, ob er sie lesen oder besitzen dürfe, falls sie nicht verboten seien, zumal seine pastorale Tätigkeit von der Benutzung der Muttersprache deutlich profitieren würde. Die Kardinäle berieten und entschieden, »ad primum nihil respondendum; ad secundum vero responderunt negative.«1 1 Archivio della Congregazione per la Dottrina della Fede (ACDF), Index Diari 8 (1682–1688),
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Es ist hier nicht zu klären, ob der Pariser Kleriker lediglich ›guten Gewissens‹ die Seelsorge im Blick hatte, vielleicht selbst die offiziell absolut verbotenen Bibelübersetzungen bereits besaß und ihn sein ›schlechtes Gewissen‹ plagte oder ihn anderes dazu bewogen hatte, sich an die Indexkongregation zu wenden. Ein Blick auf diesen Fall lässt allerdings Rückschlüsse auf das Verfahren in den kurialen Kongregationen zu, denn nicht nur die Indexkongregation verzichtete auf Normierung und Formalisierung im Sinne einer Verregelung, wenn es um ihre offiziellen Stellungnahmen auf Anfragen ging. Konkrete Antworten aus den römischen Kongregationen waren meistens im Detail des Falls zu finden, wobei sie oft große Fragen umschifften und sich so gegen Präzedenzfallbildung und Nichtbefolgung absicherten.2 Das Pariser Beispiel deutet andererseits auch darauf hin, dass die Regeln der Buchzensur nicht gänzlich im Sinne einer offensichtlichen und letztgültigen Unterscheidung von ›richtig‹ oder ›falsch‹ von den Lesern internalisiert worden waren, obwohl schlimmstenfalls Exkommunikation und die damit verbundenen Konsequenzen die Folge der Lektüre verbotener Inhalte und damit klandestin hergestellter und vertriebener Bücher sein konnten.3 Vielmehr scheinen sie hier eher als juristische Vorgaben, die mit höheren Instanzen stets neu ausgehandelt werden konnten. An diese Beobachtung knüpft der vorliegende Beitrag an, wobei ›Gewissen‹ in der Untersuchung von Selbstanzeigen vor dem Heiligen Offizium nicht als Motivation, sondern als zu verwaltendes Element innerhalb der inquisitorischen Praxis verstanden wird. Das Gewissen, zumal das belastete, wurde im Selbstanzeigeverfahren vor der Inquisition als Antriebskraft vorausgesetzt und eingefordert und seine Erwähnung bot stets den formalen Einstieg in das Verfahren.4 Eine so notwendigerweise aus Gewissensgründen eingereichte Selbstanzeige unterstellt das Seelenheil de facto bürokratischen Regeln. 137v–138v. Zum Verbot der Bibellektüre grundlegend Gigliola Fragnito, La Bibbia al rogo. La censura ecclesiastica e i volgarizzamenti della Scrittura (1471–1605). Bologna 1997 sowie dies.: Proibito capire. La Chiesa e il volgare nella prima et/ moderna. Bologna 2005. Ferner Vittorio Frajese, La censura in Italia. Dall’Inquisizione alla Polizia. (Quadrante Laterza Bd. 195) Roma/Bari 2014, bes. 58–60. 2 Zur römischen Entscheidungsdynamik und vor allem zu den Praktiken des Nichtentscheidens maßgeblich: Christian Windler, Uneindeutige Zugehörigkeiten. Katholische Missionare und die Kurie im Umgang mit ›Communicatio in sacris‹, in: Andreas Pietsch/Barbara StollbergRilinger (Hrsg.), Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit. (Schriftenreihe des Vereins für Reformationsgeschichte, Bd. 214) Göttingen 2013, 314–345, hier bes. 334–339. 3 Frajese, La censura in Italia (wie Anm. 1), 46–47. Zum klandestinen Buchmarkt Ebd., 86–87 sowie Rodolfo Savelli, Censori e giuristi. Storie di libri, di idee e di costumi (secoli XVI–XVII). (Per la storia del pensiero giuridico moderno, Bd. 94) Milano 2011, 268–286. 4 Der Beitrag folgt Adriano Prosperis Ansichten zur Frage des Gewissens in der nachtridentinischen Beichte, vgl. Adriano Prosperi, Die Beichte und das Gericht des Gewissens, in: Paolo Prodi/Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Das Konzil von Trient und die Moderne. (Schriften des
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Ausgehend von diesem formalisierten Begriff von Gewissen soll der Frage nach den in den Quellen angegebenen weiteren Begründungen für das Lesen verbotener Bücher nachgegangen werden. Aus der Sicht der Leser lassen sich ihre jeweiligen Lesepraktiken nicht unbedingt den im Verfahren festgehaltenen dogmatischen Kategorien von ›richtig‹, ›falsch‹ und ›häretisch‹ unterordnen. Es soll gezeigt werden, dass das ›Gewissen‹ über seine formelhafte Benutzung hinaus vor allem bei der Lektüre einerseits galanter bzw. politisch bildender und andererseits fachspezialisierter bzw. gelehrter Literatur kaum eine Rolle spielte, sondern dass es vielmehr zu einem Parameter von Sozialdisziplinierung wurde. Die Quellengrundlage bilden Autodenunziationen vor der Inquisition, sowie rechtmäßige und gefälschte Leselizenzanfragen vor der Indexkongregation zwischen den 1680er und den 1760er Jahren. Ihren schriftlichen Niederschlag finden die Selbstanzeigen in stark standardisierten Protokollen, die heute noch zum Teil im Archiv der Glaubenskongregation in Rom erhalten sind, weil sie aus der Fülle der frühneuzeitlichen Prozessakten Ende des 18. Jahrhunderts vom Archivar der Inquisition Giuseppe Maria Lugani OP extrahiert, abgeschrieben und zu einer Art Handbuch zusammengetragen wurden.5 Umso wertvoller ist dieses Konvolut, wenn man bedenkt, dass ein Großteil der von Napoleon nach Paris überstellten Inquisitionsakten 1815 nicht zurückgeführt wurden, weil sie im Auftrag des Dikasteriums selbst noch vor Ort vernichtet worden waren.6 Der betreffende Faszikel enthält ungefähr 150 Fallbeispiele aus der Zeit zwischen circa 1590 und 1780. Diese beinhalten kurze Zusammenfassungen der einzelnen Verfahren sowie die jeweils verhängten Strafen. Damit geht aber für die Forschung auch eine eminente Einschränkung einher ; die wiedergegebenen Sachverhalte belegen zwar die für Lugani und seine Zeitgenossen relevanten Kriterien einer solchen Kompilation, bilden jedoch nicht zwangsläufig das Spektrum aller tatsächlich eingegangenen Selbstanzeigen ab.7 Beispielsweise lässt sich daraus nur andeutungsweise erseItalienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient, Bd. 16) Berlin 2001, 175–197, bes. 195. Grundsätzlich zum Verfahren vor der Inquisition Maria Pia Lorenz Filograno, Das Inquisitionsverfahren beim Heiligen Offizium. Juristische Aspekte und Analyseperspektiven, in: ZRG KA 132, 2015, 317–372, bes. 352–355. 5 Zur Einführung einer neuen Ordnung im Archiv seit Beginn des 18. Jahrhunderts: Francesco Beretta, L’archivio della Congregazione del Sant’Ufficio. Bilancio provvisorio della storia e natura dei fondi d’Antico Regime, in: Andrea Del Col/Giovanna Paolin (Hrsg.), L’Inquisizione romana. Metodologia delle fonti e storia istituzionale. Atti del seminario internazionale. Montereale Valcellina, 23–24 settembre 1999. Trieste 2000, 119–144, hier 132–137. Das betreffende Handbuch befindet sich im ACDF, St. St. O 2m–1. 6 Beretta: L’archivio della Congregazione del Sant’Ufficio (wie Anm. 5), 138–141. Eine Ausnahme bilden die Konvolute, die sich heute im Trinity College in Dublin befinden. 7 Wertvolle Hinweise zur Einordnung dieses Bestandes verdanke ich Dr. Daniel Ponziani, dem wissenschaftlichen Archivar des ACDF, bei dem ich mich hiermit herzlich bedanken möchte. Luganis Autorschaft wurde einerseits über Handschriftenvergleich erschlossen, andererseits
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hen, welche die verbotenen Bücher waren, die in der Regel zu Selbstanzeigen geführt hatten, oder wie die daraus erfolgten Strafen variierten, beziehungsweise sich im Verlauf der Zeit veränderten. Luganis Mappe hat einen sehr starken Aktualitätsbezug für die Interessen seiner Zeitgenossen, denn auch wenn davon auszugehen ist, dass zumindest in den ersten 50 bis 100 Jahren seit Bestehen des Heiligen Offizium zahlreiche Fälle wegen der Lektüre lutherischer oder calvinistischer Bücher beziehungsweise wegen Erasmus und wegen Fragen der Volksfrömmigkeit eingegangen sein müssten, so nahm er sie trotzdem nur vereinzelt, vermutlich eher exemplarisch, auf. Längst interessierten nicht mehr die im 16. Jahrhundert eifersüchtig beäugten inner- und interkonfessionellen Grenzen, die in der Konsequenz zur engmaschigen religiösen Kontrolle der Untertanen geführt hatten.8 Der Großteil der in der Mappe verzeichneten Fälle beschäftigt sich mit Magie, Aberglauben, Zauberbüchern und bisweilen mit galanter und ›Aufklärungsliteratur‹. Verhältnismäßig viele Fälle sind vermerkt, in denen sich die – ausschließlich männlichen – Büßer mit ihren Büchern über längere Zeit hinweg auseinandergesetzt hatten. Doch auch wenn die Einzelfälle stets im Kontext der Kompilation gesehen werden müssen, können sie dennoch als vereinzelte Beispiele verstanden und ausgewertet werden. Um den methodischen Schwierigkeiten zu begegnen, sollen in einem zweiten Schritt von der Kurie, hier der Indexkongregation, genehmigte Leselizenzen und bei ihr eingegangene gefälschte Petitionen betrachtet werden. Ihre Untersuchung kann Antworten auf die Frage nach dem Spagat zwischen den von den Akteuren angegebenen Kategorien von »Wissen« und »Gewissen« im Falle der Lektüre verbotener Bücher bieten.
gehörte die Neuordnung des Archivs und die Anlegung neuer Serien über Jahrzehnte zu seinen Kernkompetenzen, vgl. Beretta: L’archivio della Congregazione del Sant’Ufficio (wie Anm. 5), 134, vgl. ferner ders., Die frühneuzeitlichen Bestände des Archivs der Glaubenskongregation. Wesentliche Aspekte ihrer Geschichte und Forschungsperspektiven, in: Hubert Wolf (Hrsg.), Verbotene Bücher. Zur Geschichte des Index im 18. und 19. Jahrhundert. (Römische Inquisition und Indexkongregation, Bd. 11) Paderborn/München/Wien/Zürich 2008, 181–208, hier 189–190 und 206–207. 8 Gerade mit Blick auf die so genannten ›animae simplices‹ untersuchte Gigliola Fragnito das Leseverhalten der unteren Schichten am Beispiel der Bibel und von Kavaliersromanen, vgl. Gigliola Fragnito, La censura ecclesiastica in Italia: volgarizzamenti biblici e letteratura all’Indice. Bilancio degli studi e prospettiva di ricerca, in: Mar'a JosH Vega/Julian Weiss/Cesc Esteve (Hrsg.), Reading and Censorship in Early Modern Europe: Barcelona 11–13 de diciembre de 2007. Barcelona 2010, 39–56. Zur strengen Kontrolle der religiösen Inhalte Mario Infelise, I libri proibiti. (Biblioteca Essenziale Laterza, Bd. 18) 8. Aufl. Roma/Bari 2008, 42–49.
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»Per sgravio della mia coscienza«9
Am 29. November 1719 erschien Fabrizio Fagnani aus Rimini vor dem Heiligen Offizium in Rom. Der junge Adlige gab an, ›il Machiavelli‹ vor vier Jahren während des Karnevals in Venedig von einem gewissen Cosmo Peccatoni erhalten und das Buch anschließend gelesen zu haben. Leider sei ihm aber nicht bewusst gewesen, dass es sich um ein verbotenes Werk handle, das habe ihm erst sein Begleiter Silvio Grandi mitgeteilt. Zudem habe ihm der Sohn des Buchhändlers Albrici in Rimini – offensichtlich zeitverzögert – noch einige Seiten aus »L’anima di Ferrante Palavicino« als Leseprobe mitgegeben. Verkauft habe jener sie »a bottega apperta«. Doch habe er sich bei der Lektüre so unwohl gefühlt, dass er sofort zur Beichte gegangen sei, eine Gelegenheit, bei der er sich zugleich auch von den Folgen der längst zurückliegenden Machiavelli-Lektüre befreien habe wollen. Danach sei er von seinen Sünden losgesprochen worden. Fagnanis Seelenruhe sollte jedoch nicht lange währen, weil ihn ein nicht näher beschriebener religioso informiert habe, dass eine solche Absolution nicht im Kompetenzbereich des Beichtvaters liege und er sich am besten an die Inquisition wenden solle, um ordnungsgemäß absolviert zu werden. Danach habe er sich umgehend in Rom eingefunden.10 Die Akten enthalten keinen Kommentar zum Erzählten und sie vermeiden darüber hinaus auch eine kanonistische Einschätzung des geschilderten Sachverhalts, weshalb letztlich nur die Entscheidung, Fagnani loszusprechen und die weitere Klärung des Sachverhalts an den Lokalinquisitor von Rimini zu schicken, verzeichnet ist.11 Der Rat, den der junge Mann erhalten hatte, und zwar, dass der Beichtvater in manchen Situationen nicht absolvieren könne, war eigentlich regelkonform, denn von der Sünde häretischer Lektüre konnte man nach kanonistischen Maßstäben nicht im Beichtstuhl losgesprochen werden, zumal kein Beichtvater, auch kein Pönitentiar von St. Peter, über eine solche Kompetenz verfügte. Der Beichtling hatte sich im Anschluss umgehend an die Inquisition zu wenden, um absolviert zu werden.12 In der Tat war Machiavelli bis 1664 den verbotenen Autoren erster Klasse zugeordnet gewesen und auch Pallavicino galt als verderblich und unter allen Umständen verboten. Deshalb pflegte man an der Kurie auch keine Ausnah9 10 11 12
ACDF, St. St. O 2m–1, 10v. Ebd., 10r. Ebd., 3r. Prosperi, Die Beichte und das Gewissen (wie Anm. 4), 183, 189, 193. Vgl. ferner : Federico Barbierato, Paolo Sarpi, the Papal Index and Censorship, in: Geoff Kamp (Hrsg.), Censorship Moments: Reading Texts in the History of Censorship and Freedom of Expression. London 2015, 63–70, hier 65.
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meregelungen bezüglich dieser beiden Autoren, denn es wurden auch keine Leselizenzen für ihre Lektüre oder ihren Besitz ausgestellt – ein vielleicht etwas irritierender Aspekt in Anbetracht des unglaublichen Absatzes, den ihre Schriften sicherlich bei unterschiedlichen Rezipienten über die gesamte Frühe Neuzeit fanden. Fagnani wurde jedenfalls von den Kardinälen losgesprochen und darüber hinaus entschieden sie auch, dass sein Beichtvater in einem solchen Fall durchaus absolvieren dürfe.13 Viel schwerer fällt aber hier der offene Verkauf der Werke sowie die hohe Anzahl von Mitwissern ins Gewicht, weshalb die Klärung dieser Punkte auch weitergereicht wurde. Lugani hatte den Fall vermutlich aufgenommen, weil die auf Fagnani bezogene Entscheidung durchaus Präzedenzcharakter hatte, zumal das Heilige Offizium im Falle eines als häretisch eingestuften Autors wie Machiavelli die Möglichkeit eröffnete, bei Bedarf auf die Absolution durch den Beichtvater zurückgreifen zu können. Die Sorge des jungen Adligen, in Sünde zu verbleiben, sollte das Verfahren der Absolution nicht korrekt durchgenommen werden, wirft ein Schlaglicht darauf, wie sehr das Gewissen für beide Seiten Gegenstand bestimmter Verwaltungspraktiken war. Der Rekurs auf sie versprach Beruhigung, Reinigung sogar Heilung, wenn dies durch die richtige Instanz im richtigen Kontext geschah. Über dieses Beispiel hinaus ist grundsätzlich für die Praxis der Selbstanzeige festzuhalten, dass sie geradezu als Erfolg der römischen Disziplinierung durch das Zusammenspiel von Beichte und Inquisition gesehen werden kann. Der Konnex zwischen Beichtvater und Inquisitor war nämlich elementar für die Externalisierung des forum conscientiae, des inneren Gerichts.14 Die Verquickung aus der Pflicht zur Beichte im Vorfeld der Kommunion, die den Beichtvater zum Richter und zur vermittelnden Instanz werden ließ, sowie der flächendeckenden Kontrolle durch die Inquisition auf der italienischen Halbinsel ist dabei von zentraler Bedeutung. Das Lesen verbotener Literatur war zudem ein Delikt, das nach dem Konzil von Trient intensiv verfolgt, über Dekrete stets aufs Neue verboten und von jedem Beichtspiegel abgefragt wurde.15 So gesehen war es schwierig sich der 13 Vgl. das Dekret der Kongregation vom 12. Dezember 1719, ACDF, St. St. O 2m–1, 13v. 14 Prosperi, Die Beichte und das Gewissen (wie Anm. 4), 193. 15 In regelmäßigen Abständen ergingen beispielsweise Dekrete, mit denen die Gläubigen an ihre Denunziationspflicht (auch im Falle verbotenen Literaturkonsums) erinnert wurden, vgl. Biblioteca Casanatense, Per.est.18_18.86; Per.est.18_14.058; Per.est.18_27.310. Die Bandibestände der Bibliothek sind digitalisiert, vgl. http://scaffalidigitali.casanatense.it/, Zugriff am 20. 10. 2015. Grundlegend zum Konnex zwischen Beichte und Inquisition Adriano Prosperi, Tribunali della coscienza. Inquisitori, confessori, missionari. (Piccola Biblioteca Einaudi, Bd. 472) 2. Aufl. Turin 2009, 219–257. Vgl. ferner Frajese, La censura in Italia (wie Anm. 1), 24–26. Bisweilen wurde diese Verbindung zwischen den beiden Instanzen so weit
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Frage nach der Lektüre verbotener Bücher zu entziehen; die Beichte sah per se die Lüge nicht in den Antwortmöglichkeiten des Beichtlings vor. Wer dieses Hindernis durch Abwesenheit von der Beichte umgehen wollte, fiel innerhalb einer scharf wachenden Gemeinde durch die Nichteinnahme der Kommunion auf und generierte spätestens an diesem Punkt Fragen mit Blick auf die individuelle Frömmigkeit. Ein solcher disziplinatorischer Kreislauf gewährleistete ein normgerechtes Verhalten, auch wenn die vorgegebenen Regeln im Einzelnen nicht zwangsläufig internalisiert waren. Der Großteil der von Lugani zusammengetragenen Selbstanzeigen geht entweder auf den jeweiligen Beichtvater oder über eine weitere Instanz auf den Pönitentiar von St. Peter zurück. Nicht selten waren sie – wie später zu zeigen sein wird – auch durch die oft lediglich angenommene Existenz eines Mitwissers ausgelöst. Der Sprachgebrauch der aufgenommenen Protokolle folgt dabei den im Heiligen Offizium üblichen Verfahrenspraktiken, wonach jede Selbstanzeige, spontanea comparsio, auf den Wunsch nach Entlastung des eigenen Gewissens, sgravio della propria coscienza, zurückging. Dennoch betonen manche der Selbstankläger einen übergroßen Druck durch ihren Beichtvater verspürt zu haben, unabhängig davon, ob er sie absolvieren konnte oder nicht. Es verwundert wenig, dass dies nie in der Zusammenfassung des Inquisitors zu finden ist, sondern ausschließlich in den narrativen Passagen der Protokolle zum Tragen kommt. Die Protokolle wiederum mussten stets von den sponte comparentes unterschrieben werden, weshalb anzunehmen ist, dass sie sich darin wiederfanden oder das Festgehaltene als nicht für sie selbst nachteilig empfanden. Freilich sind es gerade diese Stellen der Einwirkung des Beichtvaters, an denen der Inquisitor distanzierende und relativierende Bemerkungen wie »seiner Meinung nach« oder »wie er meint« einflocht.16 Vor allem Machiavelli löste immer wieder Unbehagen beim Lesen aus, zumal man sich uneins über die Schwere der Verfehlung zu sein schien. Deshalb erschienen immer wieder Autodenunzianten vor dem Heiligen Offizium, die um Aufklärung bezüglich ihres Seelenheils baten. Dies tat auch der Cavaliere Felice de Muij aus Malta. Auf Anweisung seines Beichtvaters hatte er sich 1731 wegen der Lektüre von Bayle und Machiavelli bei seinem Lokalinquisitor selbst angezeigt. Dabei gab er an, beide Autoren über mehrere Jahre mit Genuss, jedoch ohne das Wissen um ihre Gefahr gelesen zu haben. Der Fall löste in der Malteser Inquisition Verwirrung aus und da ihm der strapaziert, dass Beichtväter – ob freiwillig oder gezwungen – sogar Beichtgeheimnisse an die Inquisitoren weiterleiteten, vgl. Vincenzo Lavenia, L’infamia e il perdono. Tribunali, pene e confessione nella teologia morale della prima et/ moderna. Bologna 2004, 102. 16 Als nur ein Beispiel »come dice« in ACDF, St. St. O 2m–4, 54r.
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Lokalinquisitor durchaus das Potential »che puk essere di norma nell’avvenire« zugesprochen hatte, verlangte man eine Entscheidung von Rom. Das Heilige Offizium beauftragte den Lokalinquisitor, den Adligen ohne die Abjuratio zu absolvieren und anschließend zu entlassen.17 Ähnlich wie Felice de Muij erging es auch Giovanni Antinori, der im Juli 1764 angab, acht Jahre zuvor nach Lissabon gegangen zu sein, wo er Lukrez gelesen hätte. Er habe sich anschließend an den gelesenen Fehlern ›betrunken‹ und sich zwei Jahre lang mit weiteren Gedichten, Romanen, Geschichtswerken sowie philosophischen Abhandlungen auseinandergesetzt. Darüber hinaus habe er sich in diesem Zeitraum mit zahlreichen Personen über seine Lektüre unterhalten, allerdings keinesfalls um ihre Fehler darzulegen, sondern einfach um Konversation zu betreiben. »Zur Entlastung und gezwungen vom Beichtvater, wie er sagte«18, trete er jetzt vor das Heilige Offizium. Eine frühere Selbstanzeige sei ihm aufgrund seiner Lebensumstände leider nicht möglich gewesen. Fast wirkt das Absolvieren dieses Schrittes wie die Ausführung eines für den Umzug nach Rom notwendigen Verwaltungsaktes, an dessen Ende der Austritt aus dem portugisischen Leben und die Einfügung in römische Verhaltensstrukturen besiegelt waren. Die Kardinäle reagierten in der Konsequenz auch strenger als auf die Anzeige des Malteser Adligen, denn sie verlangten eine öffentliche Abjuratio, vermutlich auch um den Fall als Exempel zu festigen. Danach konnte der Selbstdenunziant allerdings gehen, ohne sich einem weiteren Verfahren – auch unter Einwirkung von Folter – unterziehen zu müssen.19 Unter den Einträgen aus dem 18. Jahrhundert mehren sich die Fälle, in denen es um Aufklärungsliteratur ging. Auch der aus Agosta stammende Geistliche Antonio Boviletti gab am 19. März 1763 an, über eine längere Zeit hinweg »De l’esprit des lois« von Montesquieu besessen zu haben. Wie für eine Selbstanzeige zu erwarten, gab er an, interesselos darin geblättert zu haben, dem Gelesenen keinesfalls zuzustimmen und auch nicht gewusst zu haben, dass das Buch »di speciale riserva« verboten sei.20 Sein Beichtvater habe ihn letztlich über das Gewicht des Verbots aufgeklärt, worüber er umgehend seinen Dienstherrn, einen polnischen Grafen, in Kenntnis gesetzt hätte. Es folgt eine umständliche Erklärungskette, um den Grafen zu entlasten sowie mögliche Zeugen des Buchbesitzes zu erwähnen, um damit zugleich denkbaren Anzeigen vorzubeugen. Immerhin war einer der Augenzeugen
17 Für den gesamten Abschnitt: ACDF, St. St. O 2m–1, 15v. 18 Ebd., außerhalb der Faszikelnummerierung, 62r : »per sgravio della propria conscienza, et obligato dal proprio confessore come disse«. 19 Ebd. 20 Ebd., außerhalb der Faszikelnummerierung, 64r/v und 65r–66r.
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ein – allerdings nicht namentlich gekennzeichneter – Minorit, der ihn in einem Gasthaus in Venedig mit dem Buch in der Hand gesehen haben soll.21 Auch Boviletti konnte nach der Abjuratio vor dem Inquisitor wieder gehen, ohne weitere Konsequenzen befürchten zu müssen. Beispiele des freiwilligen Erscheinens vor Gericht standen, abgesehen von der Rolle des Beichtvaters, oft mit mindestens einem potentiellen Mitwisser in Verbindung, auch wenn mögliche Zeugen der verbotenen Lektüre nie als Anlass für die Selbstanzeige genannt wurden, sondern erst im narrativen Teil des Protokolls Erwähnung fanden. Es lässt sich jedoch erahnen, dass das Erscheinen mancher Selbstdenunzianten vor Gericht weniger mit der Angst vor den moralischen und theologisch begründeten Folgen des Konsums verbotener Buchinhalte in Beziehung stand, sondern mit der Angst vor einer Denunziation mit erheblich unangenehmeren Folgen. Ferner fällt auf, dass zwar zahlreiche der Inquirierten zugaben, von der Indizierung der gelesenen Bücher gewusst zu haben, die Skalierung der Verbote, von der sie ausgingen, zeigt letztlich, wie gezielt Unwissen selbst unter den Gebildeten als Strategie verwendet wurde. So erschien es bisweilen opportun, die Umstellung des Index der verbotenen Bücher von der Unterteilung in drei Klassen der Häresie in eine einzige alphabetisch geordnete Liste unter Alexander VII. im Jahr 1664 in den jeweiligen Aussagen gar nicht weiter in Betracht zu ziehen, zumal der Rückgriff auf eine Skalierung gefährlichen Wissens der Argumentation vom Nichtwissen entgegenkam.22 Hierarchisierungen der Verbote wurden dementsprechend auch in der Folgezeit vorgenommen, beispielsweise durch die Nennung der verbietenden Instanz auf dem Bando, dem Aushang, in welchem die verbotenen Werke aufgelistet waren: Bücher falschen bzw. zensurwürdigen Inhalts wurden grundsätzlich von der Indexkongregation verboten, die Inquisition hingegen nahm sich dogmatischer Verstöße sowie der Häresien an und in besonders schwerwiegenden Fällen erging das Urteil im Namen des Papstes.23 Zudem bestand die Möglichkeit, die Bedeutung bestimmter Verbote dadurch zu unterstreichen, dass sie in einem einzelnen und nicht in einem Sammelbando aufgenommen wurden. Der Rückgriff auf die in Rom unterschiedlich praktizierten Verbotsskalierungen als Verteidigungsstrategie vor dem Inquisitor legt nahe, dass die – in den 21 Ebd., 65v. 22 Vgl. dazu Elisa Rabellato, La fabbrica dei divieti. Gli Indici dei libri proibiti da Clemente VIII a Benedetto XIV. Milano/Cremona 2005, besonders 139–142. Vgl. darüber hinaus Jyri Hasecker (Hrsg.): Quellen zur päpstlichen Pressekontrolle in der Neuzeit (1487–1966). (Römische Inquisition und Indexkongregation 19) Paderborn 2017, 107. 23 Zum theologischen Urteil und seiner Skalierung grundlegend Bruno Neveu, L’erreur et son juge. Remarques sur les censures doctrinales / l’8poque moderne. Napoli 1993, besonders 240–381.
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dargestellten Fällen durchgehend sehr gut ausgebildeten – Selbstdenunzianten die Verfahren der Inquisition sehr gut kannten. Sie verfügten allerdings auch über sehr viel weitreichenderes Wissen. Dies zeigt sich, wenn sie beispielsweise behaupteten, nicht gewusst zu haben, dass manche der Autoren Häretiker seien, sondern lediglich von einer Verletzung des guten Geschmacks bzw. von einer Sittenwidrigkeit ausgegangen zu sein.24 Man behielt damit das Argument des Nichtwissens, eröffnete sich aber zugleich weitere Gestaltungsmöglichkeiten für die eigene Aussage. Wie sehr jedoch gerade Machiavellis Bücher mittlerweile jenseits von Moral und Sitte verortet wurden und in der Kommunikation der Gläubigen mit den kurialen Dikasterien schlichtweg zu einer Frage des Geschmacks geworden waren, zeigen die Leselizenzen. Ihre Verfasser bemühten sich darin redlich, die Werke von den jeweiligen Inhalten zu entkoppeln und ausschließlich auf die Ebene der Sprache zu fokussierten. Offensichtlich nahmen sie an, dass man sich selbst in der Inquisition bezüglich der Vollkommenheit von Machiavellis Sprache einig sei und diese eine Lektüre zum Zwecke der jeweils eigenen Stilbildung zumindest nachvollziehbar machen, wenn nicht erlauben würde.25 Zudem scheinen solche Versuche einer allgemeinen Erwartungshaltung zu entsprechen, wonach die Abschwächung der eigenen Sünde durch den Entwurf einer Skalierung und die Beschwörung der jeweils eigenen Verortung auf einer niedrigen Stufe von den Inquisitoren durchaus als mildernder Umstand anerkannt werden konnte.26
2.
Das Geschäft mit den Leselizenzen
Die Leselizenz war eine Form der juristischen und zugleich moralischen abgesicherten Wissensakkumulation, die den Index komplementär begleitete, zumal eine entscheidende Schwierigkeit für die Durchsetzung der römischen Buchzensur von Anfang an in einem Anspruch auf Universalismus lag, der zu Ausnahmen geradezu einlud. Die von verschiedenen Instanzen ausgestellten Leselizenzen lösten jedoch immer wieder Divergenzen und Kompetenzstreitigkeiten 24 Aus dem späten 17. Jahrhundert ist der Fall eines römischen Händlers bekannt, der zwischen Glaube und Geschmack als Ordnungskategorien unterschied und dieser Logik folgend um Nachsicht für die über zwei Jahre stattgefundene Lektüre von Machiavellis »Istorie fiorentine« bat, vgl. ACDF, St. St. O 2m–4, 55r: »lo appersi [il libro] e viddi, che era il Machiavelli, quale benche sapevo esser prohibito, non perk supponevo fosse prohibito in primo grado, ma solamente in quel modo, che sono prohibiti quelli, che sono contra bonos mores«. 25 Vgl. ACDF, St. St. HH-2a, 22r. 26 Zur Standardisierung bestimmter allgemeiner Erwartungshaltungen: Peter N. Stearns/ Carol Z. Stearns, Emotionology : Clarifying the History of Emotions and Emotional Standards, in: AHR 90, 1985, 813–836, hier 813.
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aus, die bisweilen in der zentralen Annullierung aller vorhandenen Dispense kulminierten.27 Unabhängig von den zahlreichen Ausnahmen, die für diverse Orden eingerichtet wurden, nahm die Anzahl der an die Indexkongregation gerichteten Anfragen um Leselizenzen im Verlauf des 17. Jahrhunderts exponentiell zu.28 Ein Großteil stammte von Adligen und aus ihrem Schreibstil, der eher eine Forderung als eine Bitte vermuten lässt, kann geschlossen werden, dass es hier weniger um die Nutzung der Leselizenz in ihrem ursprünglichen Sinn – also als Lektüreerlaubnis – als um ein Statussymbol ging. Solche Lizenzen sollten primär Bücherbesitz legitimieren, so den Bestand umfangreicher, gut sortierter Bibliotheken garantieren und bisweilen sogar der Machtmanifestation dienen.29 Der Rang der eigenen Familie konnte durchaus über die Genehmigung einer Leselizenz abgefragt werden: Man tat dies, indem man Autoren in die Supplik aufnahm, von denen alle wussten, dass sie absolut verboten waren. Neben Charles du Moulin und Paolo Sarpi war Machiavelli einer der rigoros verbotenen Autoren im nachtridentinischen Rom und wurde deshalb von jedem – auch dem adligen – Antrag um Leseerlaubnis systematisch gestrichen.30 Lediglich einige wenige Mitglieder italienischer Fürstenhäuser, denen selbst die Kurie nicht umstandslos Wünsche abschlagen konnte, kamen offiziell in den Genuss solcher Lektüre.31 Fern standesspezifischer Anfragen und stets im Detail der Spezialliteratur bewegten sich die Lizenzanfragen der Kleriker, Anwälte und Ärzte. Der bereits genannte Antonio Boviletti konnte das verbotene Buch über längere Zeit hinweg ungehindert besitzen, weil sein Umfeld die Möglichkeit hatte, anzunehmen, dass er als Ordensmitglied über eine Leselizenz verfüge und das Werk deshalb auch lesen dürfe. Dass bestimmten Standes- und Berufsgruppen solche Genehmigungen auf Anfrage erstellt wurden, schützte vor Denunziationen, da zufälligen Mitwissern eine mögliche Erklärung des Besitzes verbotener Bücher an die Hand 27 Vittorio Frajese, Le licenze di lettura tra vescovi ed inquisitori. Aspetti della politica dell’Indice dopo il 1596, in: Societ/ e Storia 86, 1999, 767–818, hier 769–770 sowie 793. 28 Zum Exklusivitätsverlust der Lizenzen im Verlauf des 17. Jahrhunderts vgl. Giovanni Romeo, L’Inquisizione nell’Italia moderna. (Biblioteca Essenziale Laterza, Bd. 48) 5. Aufl. Roma/Bari 2010, 73. Vgl. darüber hinaus Hasecker (Hrsg.), Quellen zur päpstlichen Pressekontrolle (wie Anm. 22), 121–131. 29 Vgl. Frajese, La censura in Italia (wie Anm. 1), 56. Wie mit den verbotenen Büchern in den jeweils eigenen Bibliotheken umgegangen wurde, welcher Lese- und Expurgationspraktiken man sich bediente, ist zentraler Gegenstand der italienischen Forschung, vgl. besonders Savelli, Censori e giuristi (wie Anm. 3), 345–384. 30 Vittorio Frajese, La nascita dell’Indice. La censura ecclesiastica dal Rinascimento alla Controriforma. Brescia 2006, 414–431. Selbst jemand wie der Herzog Pompeo Castiglione konnte nicht erreichen, dass seine Bibliothek auf legalem Weg Werke von Moulin, Machiavelli oder Sarpi enthielt. Zur Verweigerung des Verbots ACDF, Index Prot. 59 (1699–1700), 258r. 31 Frajese, La nascita dell’Indice (wie Anm. 30), 424.
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gegeben war. Adlige, Kleriker, Anwälte und Ärzte waren von der kirchlichen Obrigkeit explizit als Empfänger von Leselizenzen vorgesehen, was dem Leseverbot ein Stück weit seinen strikt moralisch-dogmatischen Charakter nahm.32 Eine Leselizenz konnte das Gewissen für den Konsum gefährlicher Literatur vorneweg entlasten, zumal davon auszugehen war, dass gut ausgebildete Gläubige auch den Gefahren solcher Bücher leichter widerstehen würden.33 Den genannten Gruppen ging es allerdings schlicht darum, ihrem Beruf ungehindert nachgehen zu können und an dem dazu notwendigen Wissen zu partizipieren. Im Duktus ihrer Suppliken machten sie nicht selten deutlich, dass die Zensur den Erfolg ihrer Arbeit gefährde.34 Deutlich wird dies beispielsweise in der Supplik eines Paolo Bettucci. Dieser Arzt hatte sich 1688 mit der Bitte um eine Leselizenz an die Indexkongregation gewandt. Er argumentierte, dass noch keiner seiner bisherigen Patienten wegen seiner Behandlung verstorben sei und forderte die Kardinäle auf, seine Aussage durch eine Befragung seiner nicht genauer bezeichneten Universität zu prüfen. Allerdings sei er nur imstande, diesen hohen Standard zu halten, wenn er sich mit Astrologie auseinandersetzen könne, ansonsten sei es ihm unmöglich, für die Sicherheit seiner Patienten zu garantieren.35 Die astrologische Medizin hatte seit der Mitte des 16. Jahrhunderts gerade im höfischen Kontext Konjunktur und galt für geraume Zeit als sichere, wissenschaftliche Basis der Heilkunde. Dennoch waren sowohl die Lektüre aller mit Astrologie befassten Bücher als auch das Praktizieren von der Kirche verboten. Aus der Supplik wird sehr deutlich, dass der Arzt den Zugang zum Wissen weit über die Pflege und Sorge um seine Seele stellte. Vielmehr scheint er der Indexkongregation ausschließlich Verwaltungskompetenz in Fragen des Wissens und der Regelung des Buchbesitzes zuzuschreiben. Immerhin handelt es sich in Bettuccis Fall um Spezialwissen, dessen Komplexität seiner Meinung nach den
32 Frajese, La nascita dell’Indice (wie Anm. 30), 419–421. Vgl. ferner ders., Permesso di lettura, in: Adriano Prosperi/Vincenzo Lavenia/John Tedeschi (Hrsg.), Dizionario storiografico dell’Inquisizione, Bd. 3, Pisa 2010, 1193–1195. 33 Vgl. Giorgio Caravale, Illiterates and Church Censorship in Late Renaissance Italy. in: Mar&a Jos8 Vega/Iveta Nakl#dalov# (Hrsg.), Lectura y culpa en el siglo XVI. Reading and Guilt in the 16th Century. (Studia Aurea Monogr#fica, Bd. 3) Barcelona 2012, 93–106, hier 94–95. 34 Zur Bedeutung der Leselizenzen für die gelehrte Praxis und zur Selbstverständlichkeit, mit der davon Gebrauch gemacht wurde vgl. Hannah Marcus, Bibliography and Book Bureaucracy : Reading Licenses and the Circulation of Prohibited Books in Counter-Reformation Italy, in: PBSA 110, 2016, 433–457, hier besonders 434–436. Umfangreiche Studien zu den Bibliotheken frühneuzeitlicher Juristen hat maßgeblich Savelli unternommen, exemplarisch: Roberto Savelli, Biblioteche professionali e censura ecclesiastica (XVI–XVII sec.), in: MEFRIM 120, 2008, 453–472. 35 ACDF, Index Diari 9 (1688–1692), 6r/v. Details zur Anfrage befinden sich in ACDF, Index Prot. 46 (1688–1689), fol. 155r; 156v.
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Perzeptionsrahmen der Theologen in Rom überschritt.36 Die Kardinäle gewährten ihm seine Bitte, indem sie ihm die Leselizenz genehmigten.37 Gerade für diese Berufsgruppe hatte sich die Lizenzerteilung nahezu verselbständigt. Die dreijährig zugestandene Genehmigung wurde zum Instrument, zur Voraussetzung einer, durch Zensur stets aufs Neue gestörten, gelehrten und handwerklichen Praxis. Die Lizenzen gaben den Bedürfnissen ausdifferenzierter Eliten nach und erfuhren ausschließlich in diesem Kontext die konsequente Reduzierung auf ihren formalen Charakter, ohne die ebenfalls dazugehörende moralische und sakrale Dimension zu berühren. Deshalb wurden Leselizenzen bisweilen von Orden und Universitäten wie selbstverständlich als Arbeitsinstrument weiter- bzw. ausgegeben.38 Die Kurie sah sich Ende des 17. Jahrhunderts mit Auswüchsen der Vergabepraxis konfrontiert, derer sie kaum noch Herr werden konnte. So teilte am 4. Juli 1689 der eingangs genannte Indexsekretär Bianchi alarmiert mit, dass man einem im Reich sich anbahnenden Skandal bezüglich der römischen Leselizenzen selbst bei Einschreiten kurialer Instanzen kaum noch Einhalt gewähren könne.39 Seinem Bericht zufolge hatten einige deutsche Kardinäle erfahren, dass ihren Agenten für die Ausstellung von Leselizenzen durch die Indexkongregation Geld abgenommen worden war, dies obwohl die Kongregation keine Gebühren für die Ausstellung von Lizenzen vorsah. Ferner seien im Umfeld der Kongregation Genehmigungen ungeprüft erteilt worden. Bianchi selbst ging diesem Gerücht nach und musste feststellen, dass sich in den Reihen der Kurienmitarbeiter selbsternannte Mittelsmänner befanden, die sich für das Weiterleiten von Suppliken bezahlen ließen.40 Die Kardinäle hielten sich verhältnismäßig bedeckt und suchten nach schnellen Lösungen, weshalb sie die Einführung einer Echtheitsklausel in den von nun an auszustellenden Papieren vom Sekretär einforderten, ohne allerdings Details nach außen zu kommunizieren.41 Das Thema blieb weiterhin auf der Agenda der Indexkongregation: Zu Beginn der 1690er Jahre mussten sich die Kardinäle in immer kürzeren Abständen mit Bianchis systematischer Entdeckung von Fälschungen unter den eingegangenen Lizenzanfragen auseinandersetzen. Zumeist waren es »frisierte« Daten zur 36 Vgl. dazu Sabine Kalff, Eine zu elitäre Wissenschaft. Astrologische Verfahren als Ausweis medizinischer Gelehrsamkeit von Thomas Bodier bis Giovanni Antonio Magini, in: Martin Mulsow/Frank Rexroth (Hrsg.), Was als wissenschaftlich gelten darf: Praktiken der Grenzziehung in Gelehrtenmilieus der Vormoderne. (Campus Historische Studien, Bd. 70) Frankfurt am Main/New York 2014, 139–160, hier 139–141. 37 ACDF, Index Diari 9 (1688–1692), 6v. 38 Vgl. Frajese (wie Anm. 27), 782. 39 ACDF, Index Prot. 46 (1688–1689), 372r–375v. 40 Ebd., 373r/v. 41 Ebd., 374v und 388r.
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Person des Antragsstellers; nichtklerikale Lehrer, die bestimmte Bücher für ihren Unterricht brauchten, logen über ihren Stand und gaben an, geweiht zu sein, andere Laien wiederum gaben sich für Adlige aus. Unter den Religiosen hingegen ging es in der Regel um falsche Altersangaben wegen der Altersgrenzen bei der Antragstellung beziehungsweise um inkorrekte Auskünfte zu ihrer Tätigkeit wegen bestimmter sonst nicht erlaubter Bücher.42 Besonders lieblos gestaltete Fälschungen kamen dem Sekretär im Fall der Verlängerungsanträge unter. Bisweilen entsprach kaum mehr als das benutzte Papier und der Vorname des Bittstellers der Originallizenz, die für den Verlängerungsantrag einzureichen war ; der Familien- beziehungsweise Ordensname, die Ordenszugehörigkeit, die alma mater und das Unterrichtsfach des jeweiligen Antragsstellers sind sogar mit bloßem Auge als grobe Fälschung zu erkennen, zumal der jeweilige Originaleintrag nur durchgestrichen und überschrieben wurde.43 Dies hängt mit der dreijährigen Frist der Lizenzen zusammen, die es notwendig machte, sich regelmäßig an die Obrigkeit zu wenden. Auf diese Weise war die ständige Kontrolle der Lektüre außerhalb des Index der verbotenen Bücher zumindest in der Theorie gesichert; sowohl adlige Bibliotheksbesitzer als auch diejenigen Petenten, die sich aus Berufsgründen an die Kongregation wandten, wären so über die Genehmigung von Leselizenzen im Auge behalten worden. Der Fälschungsskandal zeigt jedoch, dass genau dieser Kontrollansatz nicht nachdrücklich verfolgt wurde. So war beispielsweise vor 1689 kein Verzeichnis der ausgestellten Lizenzen angelegt worden, sondern erst durch Bianchi als Reaktion auf die Entdeckung der Fälschungen. Deshalb war es ihm im Anschluss auch möglich, jede Anfrage binnen kürzester Zeit zu prüfen und mittels eines schnellen Abgleichs Fälschungen sofort zu identifizieren. Gerade die von Bianchi aufgedeckten informellen Wege der Lizenzbeschaffung belegen, dass Lesen und Partizipation an Wissen in bestimmten Kontexten nicht den regulären Kontrollmechanismen unterworfen waren und vor allem auch dem Gewissen als Entscheidungsinstanz entzogen wurden. Alle von Bianchi verzeichneten Fälschungen haben gemeinsam, dass sie zum Zweck einer von bürokratischen Stolpersteinen freien, reibungslosen Berufsausübung vorgenommen worden waren, die sich nicht Kategorien wie ›richtig‹ oder ›falsch‹ unterordnet. Sie entziehen sich dem dogmatischen und kirchenrechtlichen Rahmen, innerhalb dessen sich die römische Leselizenzvergabe verortet, und beziehen sich allein auf die bürokratische Dimension dieser Praxis.
42 Ebd., 185r, vgl. ferner ACDF, Index Prot. 50 (1692–1693), 24r–29r. 43 Ebd., 114r–126v, 133v–143r.
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Fazit Moralische beziehungsweise theologische Vorstellungen setzen ein Gewissen als forum internum voraus, das – bezogen auf die Lektüre verbotener Bücher – auf Fehlverhalten negativ reagiert.44 Ein damit verbundener Anspruch der kirchlichen Obrigkeit auf das belastete Gewissen war in der Konsequenz Auslöser der Selbstanzeige, die Abjuratio und die anschließende Absolution seine beruhigenden Friedensgaranten. Doch gerade dieses Verfahren implizierte einen stark institutionellen Begriff von Gewissen, der zwar intrinsisch gedacht war, letztlich aber Formalie des Verfahrens gegen Selbstanzeiger blieb und sich als solche verselbständigte. Das belastete Gewissen wurde eingangs zwar als verfahrensrelevant genannt, stets werden aber auch diejenigen externen Instrumente genannt, die es erst in diesen Zustand gebracht hatten. Dabei handelt es sich in der Regel um den Beichtvater beziehungsweise um die Mitwisserschaft Dritter. Eine Entscheidung zur Selbstdenunziation ließ schließlich die Entlassung nach der Abjuratio erhoffen, während Fremdanzeigen zumeist peinliche Befragung und Strafe zur Folge hatten. Der Zugriff der kirchlichen Verwaltung auf das institutionell vorausgesetzte Gewissen materialisiert sich in der Praxis der Leselizenzvergabe, indem dem Leser weniger der Erhalt eines reinen Gewissens als die rechtliche Voraussetzung für Buchbesitz und Wissensakkumulation genehmigt wird. Diese kanonische Dimension der Ausnahmeregelungen spielte im Alltag jedoch keine Rolle, schon allein weil die Notwendigkeit der Wissenspartizipation für viele absolute Priorität hatte. Die jeweilige Sorge um das Seelenheil fand unter diesen Umständen keine Berücksichtigung bei der Antragsstellung.
44 Vgl. den Beitrag von Merio Scattola in diesem Band.
III. Grundrechte und die Herausforderungen der Säkularisierung
Ellinor Forster
Das Einpassen von religiösen Rechten und Gewohnheiten in die zivilrechtliche Kodifikation. Diskussionen über katholische, protestantische und jüdische eherechtliche Bestimmungen im Österreich des 18. Jahrhunderts
Abstract Im Entstehungsprozess des österreichischen zivilrechtlichen Gesetzbuches kreuzten sich verschiedene Entwicklungen. Aus den Normen der einzelnen Erbländer begann man, ein Recht zu formulieren, das nicht nur über die älteren Territorialgrenzen, sondern im Verlauf der Überarbeitungen auch über die Grenzen der unterschiedlichen sozialen Milieus hinweg einheitliche Geltung erlangen sollte. Durch die Beanspruchung des Vorrangs der weltlichen vor der geistlichen Gesetzgebung rückte auch die bisher bei den geistlichen Institutionen belassene Ehegesetzgebung in den normierenden Blick. Doch damit stellte sich die Herausforderung, die Normenvielfalt der christlichen Konfessionen und der jüdischen Religion in allgemein geltende Bestimmungen zu fassen. Hier Unterschiede zuzulassen, bedeutete, dem Anspruch des Gesetzbuches nach einem gleichen Recht für alle Bürger nicht gerecht zu werden. Doch scheute man die Auseinandersetzung vor allem mit der katholischen Kirche zu sehr, um auch den letzten Schritt zu einer verpflichtenden Zivilehe zu wagen, die es ermöglicht hätte, die eherechtlichen Normen unabhängig von religiösen Zeremonien und Unterschieden festzuschreiben. Damit wurde aus den Versuchen, in den Gesetzen des 18. Jahrhunderts die Regelungen des Eherechts möglichst allgemein zu fassen, im beginnenden 19. Jahrhundert eine sehr deutliche Unterscheidung zwischen den Konfessionen bzw. der jüdischen Religion – ablesbar vor allem an den differenzierten Bestimmungen für die Auflösung der Ehe. Schlagworte Aufklärung, Kodifikationsprozess, Eherecht
Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war in den österreichischen Erblanden in vielen Bereichen durch das Aufeinandertreffen verschiedener Vorstellungen von Normen und Ordnungen1 geprägt. Vor allem ging es dabei um die Ablösung älterer Normen, die durch neue – mit weitreichenderer Geltung – ersetzt werden 1 Zum Begriff und Konzept normativer Ordnungsvorstellungen vgl. Andreas Fahrmeir/Annette Imhausen, Einleitung: Dynamik normativer Ordnungen – Ethnologische und historische Perspektiven, in: Ders. (Hrsg.), Die Vielfalt normativer Ordnungen. Konflikte und Dynamik in historischer und ethnologischer Perspektive. (Normative Orders, Bd. 8.) Frankfurt am Main 2013, 7–17, 7.
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sollten. Im Hintergrund stand das Bestreben der Landesfürsten, das Geschäft des Regierens effizienter zu gestalten. Dazu griffen sie verstärkt in Gewohnheiten und Privilegien der Länder ein und versuchten diese zu vereinheitlichen. Der Prozess zog sich über gut 50 Jahre hin, in denen Vertretern der Länder – Landständen und höheren Verwaltungsbehörden, die großteils mit landsässigen Adeligen besetzt waren – in unterschiedlichem Umfang die Möglichkeit eröffnet wurde, ihre eigenen Vorstellungen vorzutragen. Unter Berufung auf das »alte Herkommen«2 oder bestehende Landesordnungen3 versuchten vor allem die Landstände, solche als Eingriffe in eigene Rechtstraditionen wahrgenommene Änderungen abzuwehren. Allerdings standen ihnen dafür kaum mehr geeignete Instrumentarien zur Verfügung. Die Möglichkeit, wie im 16. Jahrhundert eine Rücknahme durch Kniefall oder durch Verweigerung der Huldigung zu erzwingen4, existierte unter Joseph II. nicht. Die Kommunikation fand nicht mehr direkt statt und eine Huldigung gab es bei seinem Regierungsantritt 1780 – kurz vor der Hochphase der Reformen – in keinem seiner Länder. Zu sehr hätten ihn dabei die Versprechen, die erwartet wurden und die Privilegien, die hätten bestätigt werden sollen, gebunden.5 Seine Regentschaft schien auch ohne den Akt der Huldigung genügend gefestigt. Erst unter seinem Nachfolger Leopold II. bekamen die Landstände in den österreichischen Erblanden erneut Gewicht. Kurz nach seinem Regierungsantritt 1790 rief er alle Landstände auf, Gravamina zu sammeln und auf offenen Landtagen vorzutragen.6 Zu den Vereinheitlichungsmaßnahmen, die durchgeführt worden waren, zählte auch ein gemeinsames Gesetzbuch für alle »deutschen Erbländer«. 1754 hatte Maria Theresia eine Kommission eingesetzt, die in diesen Ländern die geltenden Rechtsgewohnheiten sammeln und daraus ein gemeinsames Recht schaffen sollte. Im Laufe dieses Prozesses, der von verschiedenen Entwürfen und der Veröffentlichung von Teilgesetzesbüchern bis hin zum Allgemeinen Bür2 Vgl. beispielsweise für Tirol Reinhard Stauber, »Belehret durch Tirol?« Muster administrativer Integration im Alpenraum der napoleonischen Epoche und ihrer Auswirkungen, in: Geschichte und Region/Storia e regione 16/2, 2007, 63–89; allgemein zur Verwendung des Arguments »altes Herkommen« vgl. Luise Schorn-Schütte, Was ist Wandel normativer Ordnungen im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Fahrmeir/Imhausen, Vielfalt (wie Anm. 1), 109–126. 3 Vgl. etwa Ellinor Forster, Die Spiegelung widersprüchlicher Vorstellungen über die Geschäftsfähigkeit von Frauen im österreichischen Privatrecht um 1800, in: Heinz Barta/ Christine Lehne/Monika Niedermayr/Martin Schennach (Hrsg.), Kontinuität im Wandel. 200 Jahre ABGB (1811–2011). Innsbruck 2012, 269–293. 4 Arno Strohmeyer, Rituelle Kommunikation in vormodernen Herrschaftsordnungen: Kniefälle des oberösterreichischen und steirischen Adels (ca. 1570–1630), in: Zeitenblicke 4, 2005 [2005–06–28], URL: http://www.zeitenblicke.de/2005/2/Strohmeyer/index_html (15. 10. 2015). 5 Derek Beales, Joseph II, 2. Bd.: Against the World 1780–1790. Cambridge 2009, 364–366. 6 Barbara Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes? Konzepte landständischer Repräsentation in der Spätphase des alten Reiches. (Historische Forschungen, Bd. 64.) Berlin 1999, 223.
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gerlichen Gesetzbuch (ABGB) von 1811 begleitet war, gab es eine Reihe von Veränderungen. Beispielsweise unterlag die zentrale Frage, ob das neue Gesetzbuch die alten Landesordnungen derogieren sollte, in der Diskussion der kommenden Jahre unterschiedlichen Wertungen. Unter dem Einfluss des Naturrechts war damit der Wandel verbunden, unterschiedliche Normen für die verschiedenen sozialen Gruppen, wie etwa Adelige, Stadtbürger und Bauern schaffen zu wollen, hin zu einem Recht, das für alle Untertanen, die zunehmend als Bürger bezeichnet wurden, in gleicher Weise zu gelten habe.7 Diese Frage stellt sich auch im Blick auf die unterschiedlichen Religionen bzw. Konfessionen. In dem Maß, in dem sich die Vorstellung von einem gleichwertigen Nebeneinander der geistlichen und weltlichen Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit zu einem deutlichen Vorrang der weltlichen zu verändern begann, rückten solche Bereiche, die bisher von geistlichen Institutionen geregelt worden waren, in den normierenden Blick weltlicher Obrigkeiten. Doch wie sollte mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion im »bürgerlichen« Gesetzbuch umgegangen werden? Sollten auch hier Normen entwickelt werden, die für alle in gleicher Weise zu gelten hatten oder waren die Unterschiede zwischen den Religionen bzw. Konfessionen zu berücksichtigen, auch wenn dies dem Anspruch des Gesetzbuches, für alle gleiches Recht zu schaffen, widersprach? Dies kommt am deutlichsten in der Ehegesetzgebung zum Ausdruck. Sie lag in den österreichischen Ländern bis zum Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fast unangefochten in den Händen der Kirchen bzw. der Rabbinate. Einzelne Verordnungen von Seiten der politischen Herrschaft bezogen sich etwa auf den Bereich der Mischehen zwischen katholischen, lutherischen und reformierten Eheleuten. Eingriffe und Verordnungen in diesem Bereich erfolgten jedoch eher vorsichtig und immer in Abwägung der außenpolitischen Wirkung.8 Für die jüdischen Untertanen wurde z. B. der politische Heiratskonsens festgelegt.9 In den 1770er Jahren begann sich diese Haltung zu ändern und von weltlicher Seite wurde das Recht zur Ehegesetzgebung stärker betont. Hauptgegner der landesfürstlichen Herrschaft war dabei die katholische Kirche, die diesen Ansprüchen mit Vehemenz und mit Unterstützung durch den Papst im Hinter7 Margret Friedrich, Vom Umbau der ständischen in die bürgerliche Gesellschaft mithilfe des Rechts. Habilitationsschrift Innsbruck 2002, 233. 8 Bruno Primetshofer, Rechtsgeschichte der gemischten Ehen in Oesterreich und Ungarn (1781–1841). Wien 1967. 9 Eine ausführliche Zusammenstellung der Heiratskonsensregelungen für jüdische Untertanen in den unterschiedlichen österreichischen Ländern findet sich bei Ignaz Graßl, Das besondere Eherecht der Juden in Oesterreich nach den §§. 123–136 des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches. Wien 1838, 10–12.
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grund entgegentreten konnte. Im Vergleich dazu hatten die Institutionen der anderen Konfessionen – das Konsistorium Augsburgischer Konfession in Teschen bzw. ab 1785 in Wien und das Konsistorium der siebenbürgischen Reformierten – sowie die jüdischen Rabbinate kaum Stimmgewalt und wurden in der im Folgenden nachgezeichneten Diskussion kaum sichtbar. Innerhalb der österreichischen Länder waren protestantische und reformierte Untertanen zunächst nur in Schlesien und Ungarn geduldet worden.10 Erst durch die Toleranzedikte Josephs 1780 und 1781 wurde ihnen in allen Ländern eine erweiterte Religionsausübung erlaubt, doch waren sie wie auch die jüdischen Toleranzpatente mehr auf (wirtschaftliche) Integration, denn auf die Gewährung von Sonderrechten angelegt. Rechtsgewohnheiten der griechisch-nichtunierten Christen kamen nur am Rand der Diskussion vor. Wie weit die weltliche Ehegesetzgebung reichen sollte, wurde zunächst ausführlich in der eingesetzten Gesetzeskommission diskutiert. Die Ergebnisse dieser Besprechungen gingen an die Landesfürsten, die die Vorschläge und Gutachten im Staatsrat zur Begutachtung zirkulieren ließen. Darauf erfolgten Nachfragen oder Vorgaben an die Gesetzeskommission, bestimmte Sachverhalte neu zu diskutieren oder in konkrete Gesetzestexte zu fassen. Durch den Justizpalastbrand in Wien 1927 sind die Originalquellen dazu weitgehend verloren gegangen, doch lassen sich die Diskussionen und Vorgänge aufgrund ausführlicher Publikationen des 19. Jahrhunderts rekonstruieren.11 Daraus lässt sich deutlich ersehen, dass man zunächst vor allem an die Regelung der Ehegesetzgebung für Katholiken und die Überführung der Zuständigkeit der katholischen Kirche in die weltliche Kompetenz dachte. Erst rund um diese Festsetzungen wurde offenkundig, dass sich damit auch für die anderen Konfessionen und die jüdische Religion Unklarheiten und Regelungsbedarf ergaben. Darum wird es im Folgenden gehen: Wie und mit welchen Argumenten wurde religiöses bzw. konfessionelles Eherecht in staatliches Eherecht integriert? Kritische Punkte dabei waren der Sakramentscharakter der katholischen Ehe, die Formulierung der Ehehindernisse, Formalitäten bei der Eheschließung und der Komplex der Ehetrennung von Tisch und Bett sowie die Ehescheidung. Die Frage, ob Änderungen in diesen Bereichen auch in religiöse Grundrechte der Untertanen eingriffen und diese belasteten, wurde mitgedacht und konnte als Begründung sowohl für als auch gegen Neuerungen benutzt werden. In der Argumentation bezog man sich dabei jedoch nicht auf Bibelstellen, 10 Jörg Deventer, Gegenreformation in Schlesien. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in Glogau und Schweidnitz 1526–1707. (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte, Bd. 8.) Köln 2003. 11 Philipp Harras von Harrasowsky, Entwurf Horten. (Die Umarbeitungen des Codex Theresianus, Bd. 4.) Wien 1886; Carl von Hock, Der österreichische Staatsrath (1760–1848). Wien 1879.
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sondern allgemein auf das kanonische Recht und zentrale Publikationen der Zeit. Das Lehrbuch von Joseph Paul Riegger12 etwa eignete sich für die Gesetzeskommission in ihrem Versuch, das Recht zur Ehegesetzgebung weltlich zu definieren, sehr gut als Referenzwerk. Es hatte, von Maria Theresia als Grundlage für den kanonistischen Unterricht in allen Erbländern approbiert, diese Vorstellungen vorbereitet.13 Auch das »Mosaische Recht« von Johann David Michaelis war von der Aufklärung, insbesondere dem Naturrecht, beeinflusst und stand damit den Vorstellungen der Gesetzeskommission nahe.14
I.
Eingriff in die Ehegesetzgebung der katholischen Kirche: Definition der Ehe als zivilrechtlicher Vertrag und als Sakrament
Die Ehegesetzgebung lag zur Jahrhundertmitte, wie erwähnt, noch weitgehend in kirchlicher Hand. Als die 1754 eingesetzte Kommission ihre Arbeit aufnahm, wurden im Blick auf die Ehe auch nur die Vermögensaspekte geregelt. Der erste, nicht in Kraft getretene Entwurf, Codex Theresianus von 1766, beließ die Ehehindernisse, die Formalitäten des Aufgebots und den gesamten Bereich der Ehetrennungen von Tisch und Bett beziehungsweise der Ehescheidungen bei den geistlichen Institutionen. Eine Veränderung dieser Kompetenzen wurde zu diesem Zeitpunkt offensichtlich noch nicht angedacht. Bald darauf begann Maria Theresia jedoch in anderen Bereichen stärker in den Wirkungsbereich der katholischen Kirche einzugreifen: Die juristische Fakultät durfte außer für den Bereich des kanonischen Rechts nur noch mit weltlichen Professoren besetzt werden, Lehrbücher wurden vorgeschrieben und 1770 errichtete sie eine geistliche Hofkommission, die nun staatlicherseits für alle geistlichen Themen zuständig sein sollte. 1773 erfolgte auch in den österreichischen Ländern die Aufhebung des Jesuitenordens.15 Vor diesem Hintergrund begann sich in der Gesetzeskommission, die mit der Überarbeitung des Codex Theresianus beauftragt war, die Sichtweise im Blick auf die Zuständigkeit für die Ehegesetzgebung zu ändern. Zentraler Ausgangspunkt dafür war die Definition der Ehe als Zivilkontrakt. 1772 vertrat dies bereits die Mehrheit der Kommission. Damit falle die Ehege12 Joseph Paul Riegger, Institutiones iurisprudentiae ecclesiasticae. 4 Bde. Wien 1765–1772. 13 Matthias J. Fritsch, Religiöse Toleranz im Zeitalter der Aufklärung. Naturrechtliche Begründung – konfessionelle Differenzen. (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 28.) Hamburg 2004, 324–326. 14 Johann David Michaelis, Mosaisches Recht. Bd. 2. 2. verm. Aufl. Frankfurt am Main 1776. 15 Karl Michael Burger, Die Reformpolitik Maria Theresias und Josephs II. im Vergleich und ihre Nachwirkungen. Diss. phil. Wien 2002.
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setzgebung in keinem Bereich mehr in die geistliche Kompetenz. Argumentiert wurde damit, dass die bisherige geistliche Gerichtsbarkeit nur auf einer Delegation durch den Landeherrn beruhe, die sich daher auch wieder zurücknehmen lasse. Als Kompromisslösung überlegte man zunächst eine Beiordnung von weltlichen Räten in den katholischen Konsistorien. Doch sei dies, befand man schließlich, nicht ausreichend, um die Beachtung der weltlichen Gesetze zu gewährleisten. Allerdings herrschte in der Kommission Uneinigkeit darüber, ob die geistliche Gerichtsbarkeit völlig aufzuheben oder nur einzuschränken sei. Mit den Überlegungen, dass es »dermalen an der Zeit« sei, »wo man sich an keine vorgewesene Vorurtheile mehr zu binden, sondern dasjenige in allen Stücken vorzuwählen hat, was der Natur der Sache der Würde des Landesfürsten und dem Wohlstande der Unterthanen am angemessensten«16 sei, forderte zunächst nur eine Minderheit die vollständige Zuweisung der Ehegerichtsbarkeit an weltliche Gerichte. Die anderen Mitglieder waren hingegen noch zögerlich, die seit Jahrhunderten allgemein anerkannte geistliche Gerichtsbarkeit in Ehesachen auszuschließen. Bei einer vollständigen Übertragung der Ehegerichtsbarkeit an die weltlichen Gerichte würde man zudem nicht umhin kommen, die eherechtlichen Bestimmungen des kanonischen Rechts durch einen Akt der weltlichen Gesetzgebung zu ersetzen. Damit würde man sich in einen offenen Konflikt mit der katholischen Kirche begeben. Die Diskussion drehte sich daher in der Folge um die Frage, inwieweit man an die Bestimmungen des Konzils von Trient gebunden sei.17 Dieses hatte den Sakramentscharakter der Ehe betont und daraus die uneingeschränkte Zuständigkeit der Kirche für die Ehegesetzgebung abgeleitet. Die Formvorschriften – etwa Aufgebot, Schließung der Ehe vor einem Priester, Anwesenheit von Zeugen – für eine gültige Eheschließung von Katholiken waren im Dekret Tametsi festgelegt und damit konserviert worden.18 Im Fall einer Übertragung an die weltliche Rechtsprechung galt es vor allem zu klären, ob man dem Sakramentscharakter der Ehe folgen und damit weiterhin an der Unauflöslichkeit von Ehen festhalten wolle. Einzelne Stimmen in der Rechtskommission und im Staatsrat sprachen sich für eine reine Zivilehe aus. Wenn jemand davon unabhängig die Ehe kirchlich einsegnen lassen wolle, dann sei ihm das nicht zu verwehren, aber das gehe den Staat nichts an. Dem hielten andere Stimmen entgegen, dass damit die Achtung der Ehe und der Glaube daran, dass sie ein von Gott eingesetztes Sakrament sei, untergraben würde. Letztlich verwarf man die obligatorische Zivilehe. Wenn die Ehe von der 16 Beratung der Gesetzeskommission, 20. Oktober 1772, zit. nach: Harrasowsky, Entwurf Horten (wie Anm. 11), 31f. 17 Harrasowsky, Entwurf Horten (wie Anm. 11), 32. 18 Ida Raming, Stellung und Wertung der Frau im kanonischen Recht, in: Ute Gerhard (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. München 1997, 698–712, 704.
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kirchlichen Weihe völlig losgelöst sei, errege das nur Ärgernis. Vor allem aber würde dies das gute Einvernehmen zwischen Kirche und Staat stören und der Geistlichkeit ein weiteres Agitationsfeld eröffnen. Der weltlichen Gerichtsbarkeit geschehe damit kein Abbruch.19 Die Gesetzgebungskommission sprach sich damit für die Beibehaltung der Unauflöslichkeit der Ehe für Katholiken aus, obwohl sie in Zweifel zog, dass jene durch ein katholisches Dogma gefordert werde. Trotzdem sei es möglich, Ehestreitigkeiten vor den weltlichen Gerichten austragen zu lassen, denn die Ehe als Sakrament, so das Argument, könne keinen Streit hervorrufen.20 Damit blieben noch die Fragen der Formalitäten bei der Eheschließung, vor allem aber die Ausgestaltung der Ehehindernisse zu klären. Durch die sorgfältige Unterscheidung zwischen dem Sakrament der Ehe und dem zivilrechtlichen Vertrag der Ehe waren sich sowohl der Staatsrat als auch die Gesetzeskommission einig, dass die Beschlüsse des Konzils von Trient den bürgerlichen Vertrag nicht betreffen würden. Diese sollten vielmehr nur den sakramentalen Charakter der Ehe wahren helfen. Auf den bürgerlichen Vertrag bezogen, könne die Kirche ohne die Zustimmung des Landesfürsten nichts festsetzen.21 Die Beschlüsse des Trienter Konzils in Ehesachen hätten nur insoweit Wirksamkeit erlangt, als sie von den Landesfürsten zu weltlichen Gesetzen gemacht worden seien und damit müsse deren Änderung den Landesfürsten nach dem »natürlichen Staatsrecht« offen bleiben. Man wolle ja nichts normieren, das der katholischen Glaubenslehre entgegenstehe, oder alle kanonischen Vorschriften verwerfen. Jedoch sei es notwendig, den Inhalt der kanonischen Vorschriften zu prüfen und, ohne sich durch sie binden zu lassen, das neue Gesetz im Einklang mit dem »allgemeinen Wohlstand« formulieren.22 1783 wurden die Ergebnisse dieser Diskussionen im Ehepatent endgültig festgelegt und für alle deutschen Erblande in Kraft gesetzt. Damit wurde die bisherige geistliche Ehegesetzgebung und Ehegerichtsbarkeit konsequent durch die weltliche ersetzt. Aus kirchlicher Sicht stellte dies eine Anmaßung und einen Angriff auf alle kirchlichen Rechte bis hin zum Sakrament der Ehe dar. Am vehementesten formulierte der Wiener Erzbischof, Kardinal Christoph Anton von Migazzi, seinen Protest dagegen. Die Bestimmungen des Ehepatentes würden das Gewissen der Menschen beunruhigen und könnten daher nicht akzeptiert werden. In einem Rundschreiben wies er den Klerus an, in Ehesachen trotz des Ehepatents die kirchlichen Gesetze befolgen. Als Reaktion ließ Joseph II. eine Rechtsfertigungsschrift zum Ehepatent verfassen. Die Diskussion war damit 19 20 21 22
Hock, Staatsrat (wie Anm. 11), 247f. Harrasowsky, Entwurf Horten (wie Anm. 11), 35. Hock, Staatsrat (wie Anm. 11), 252. Harrasowsky, Entwurf Horten (wie Anm. 11), 35.
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öffentlich geworden.23 Das Gewissen der Untertanen ließ sich als Gradmesser dafür verwenden, ob Regelungen gerechtfertigt seien oder nicht.
II.
Das Gewissen der Untertanen als Argument
Die Berufung auf das Gewissen als Argument zur Einforderung bestimmter Normen gab es auch im 16. und 17. Jahrhundert. Sowohl die Herrschaft als auch die Untertanen konnten das Gewissen ins Spiel bringen, es miteinander konfrontieren und in der Wertigkeit abwägen. Dabei ging es nicht um das Gewissen von Individuen, sondern darum, einerseits das Recht der Herrschaft zu betonen, bestehende Normen zu korrigieren, andererseits Notwehr gegen einen Herrn zu rechtfertigen, der das Gewissen seiner Untertanen beschwerte.24 In der Auseinandersetzung um die Ehegesetzgebung zwischen Staat und Kirche im 18. Jahrhundert klangen diese Bedeutungen nur noch nach. Das Gewissen der Untertanen diente der Kirche als Argument dafür, zu starke Veränderungen zu verhindern. Über diesen Einwand hinwegzugehen, wagten der Herrscher und seine Beratungsgremien, die Gesetzeskommission und der Staatsrat, nicht. Die Funktion als Schützer des Gewissens der Untertanen ließ sich aufrechterhalten, indem die weltliche und geistliche Seite der Ehe auseinander gehalten und das Argument, dass die weltliche Seite des Ehevertrags die geistlichen Aspekte unberührt lasse, ins Spiel gebracht wurde. In den meisten Punkten waren die Vorschläge der Gesetzeskommission den Bestimmungen des Dekrets Tametsi gefolgt. Äußerlich hatte man danach getrachtet, möglichst wenig abzuändern. So wurde zwar das Recht, die Förmlichkeiten bei der Eheschließung zu normieren, für die weltliche Gesetzgebung in Anspruch genommen, doch sei es »wegen der bei der Heirath gewöhnlichen Einsegnung […] am anständigsten, diese Feierlichkeit, wie bishero ohnabgeändert, mithin es bei der Gegenwart des Pfarrers und zweier Zeugen bewenden zu lassen.«25 Um dies wiederum weltlich einzupassen, wurde der Geistliche in dieser Funktion zum Beamten des Staates umdefiniert.26 Zwar sei »das Wohl der Ehegatten, das Wohl ihrer Angehörigen, ja auch die öffentliche Ordnung und 23 Für eine ausführliche Darstellung der Vorwürfe und Einwände des Klerus nach der Publikation des Ehepatents vgl. Georg Tschannett, Zerrissene Ehen. Scheidungen von Tisch und Bett in Wien (1783–1850). Diss. phil. Wien 2015, 36–39. 24 Schorn-Schütte, Wandel (wie Anm. 2), 118f. 25 Vortrag der Gesetzeskommission über die Beratungen vom 30. Oktober, 6., 9., 13. und 20. November 1782, zit. nach: Harrasowsky, Entwurf Horten (wie Anm. 11), 35. 26 Wilhelm Brauneder, Eheschließung ohne Trauung: Das Naturrechtskonzept des ABGB und was daraus wurde, in: Jens Eisfeld u. a. (Hrsg.), Naturrecht und Staat in der Neuzeit. Diethelm Klippel zum 70. Geburtstag. Tübingen 2013, 409–416.
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Sittlichkeit« zu wichtig, um die Ehen nicht unter »öffentlicher Aufsicht mit Beobachtung gesetzlicher Feyerlichkeiten« zu schließen. Jedoch würden sich die Brautleute bei der Eheschließung, »außer den (erzwingbaren) Vertragsverbindlichkeiten, mehrere Gewissenspflichten« auferlegen, »die keines bürgerlichen Zwanges fähig sind, und eben darum desto sorgfältiger durch die Lehren der Moral und Religion einzuschärfen« seien. Daher habe man vorgeschrieben, dass die Erklärung der Einwilligung zur Ehe vor dem ordentlichen Seelsorger statt zu finden habe.27 Aus der Perspektive der Brautleute änderte sich damit zunächst wenig. Anders gestaltete sich die Frage der Ehehindernisse, insbesondere jenes der Verwandtschaft, das im kanonischen Recht auf den vierten Grad festgelegt war und somit alle Verwandten umfasste, die sich auf gemeinsame Ururgroßeltern zurückführen ließen. Zugleich gab es jedoch die Möglichkeit, über die Bischöfe bzw. den Papst einen Dispens zu erlangen.28 Hier nahm das Ehepatent eine Änderung vor mit dem Argument, dass dies den zeitgenössischen Verhältnissen nicht mehr entspreche. Kaum jemandem sei es möglich, alle Personen zu ermitteln, die man nach kanonischem Recht nicht heiraten dürfe. Daher wurde dieses Ehehindernis auf den zweiten Grad eingeschränkt – in der Seitenlinie bis zu Heiraten von Cousins und Cousinen. Über diesen Grad hinaus sollten Ehen demnach ohne Dispens möglich sein. Diese Frage wurde zur zentralen Auseinandersetzung mit der Kirche, weil zugleich der Landesfürst für sich in Anspruch nahm, von Ehehindernissen dispensieren zu können. Aus landesfürstlicher Sicht wollte man damit die Einmischung des Papstes unterbinden. Falls man die Bischöfe einbezog, dann sollten diese nur aufgrund landesfürstlicher Delegation dispensieren dürfen.29 Die Kirche argumentierte mit Gewissenskonflikten der Untertanen, wenn das weltliche Gesetz Ehen genehmigte, denen nach kanonischem Recht ein Ehehindernis entgegenstehe. Um das Gewissen der Untertanen nicht zu belasten, überlegte die Gesetzeskommission daher zunächst, die Bischöfe zu verpflichten, die ihnen zur Beruhigung des Gewissens überreichten Gesuche um Dispens von kanonischen Ehehindernissen immer zu bewilligen. Die Formulierung »zur Beruhigung bedürfender Gewissenszweifel« wurde zunächst auch in den Ge-
27 Franz von Zeiller, Commentar über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für die gesammten Deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie. Bd. 1. Wien 1811, 227f. 28 Margareth Lanzinger, Staatliches und kirchliches Recht in Konkurrenz. Verwandtenehen und Dispenspraxis im Tirol des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in: Geschichte und Region/ Storia e regione 20/2, 2011 [2013], 73–91. Ausführlicher : Margareth Lanzinger, Verwaltete Verwandtschaft. Eheverbote, kirchliche und staatliche Dispenspraxis im 18. und 19. Jahrhundert. Wien 2015. 29 Harrasowsky, Entwurf Horten (wie Anm. 11), 34f.
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setzestext aufgenommen, doch später wieder gestrichen30 und konsequenterweise die Dispensmöglichkeit nur dem Landesfürst zugesprochen. Erst nach wiederholtem Protest der Bischöfe wurde bei Vorhandensein und Nachweis »eines Gewissensfalles« den Bischöfen die Möglichkeit gegeben, von nur kanonischen Ehehindernissen zu dispensieren. Weiter wollte man nicht gehen, um die Bevölkerung nicht über das Verhältnis zwischen staatlichen und kirchlichen Organen irrezuführen und die Stellung der staatlichen Organe nicht zu erschüttern.31
III.
Die Integration protestantischer und jüdischer Eherechtsbestimmungen
Das Ehepatent hatte nur einen Ausschnitt aus dem gesamten bürgerlichen Recht dargestellt. Die Beratungen über das Gesamtgesetz waren daneben weitergegangen und sollten 1786 in einem ersten Teil – das Personenrecht umfassend – veröffentlicht und im darauffolgenden Jahr in Kraft gesetzt werden. Benannt als »Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch« erhielt es nach Erscheinen des »Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches« von 1811 die Bezeichnung »Josephinisches Gesetzbuch«. Dabei stellte sich hinsichtlich der Ehebestimmungen die Frage, ob man das Ehepatent, das ja nur für die katholischen Untertanen galt, als gesamtes aufnehmen oder einen Schritt weiter hin zu einem einheitlichen Eherecht unabhängig von religiösen und konfessionellen Unterschieden gehen sollte. In der Gesetzeskommission sprachen sich einige Mitglieder gegen die Aufnahme des Ehepatentes aus, weil die konfessionellen und religiösen Unterschiede den Anforderungen, die an ein allgemeines Gesetz zu stellen seien, nicht entsprechen würden. Sie sahen die Regelungen des Ehepatents nur als einen vorübergehenden Zustand an. Stattdessen sollte man jetzt in Bezug auf das Verhältnis zwischen Staat und Kirche viel weiter gehen. Doch konnten sich diese Stimmen nicht gegen die Mehrheit durchsetzen, die weitere Schritte gegen die Kirche scheute.32 Da man damit auch an der Unauflösbarkeit der Ehe für katholische Untertanen festhielt, mussten in das Gesetzbuch eigene Regelungen für die anderen christlichen Konfessionen und für jüdische Ehen aufgenommen werden. Die Überlegung, ob für Protestanten und Reformierte ein eigenes Eherecht zu entwerfen sei, war schon während der Diskussion über das Ehepatent zur Sprache gekommen. So wurde dem Konsistorium Augsburgischer Konfession 30 Harrasowsky, Entwurf Horten (wie Anm. 11), 36. 31 Harrasowsky, Entwurf Horten (wie Anm. 11), 39f. 32 Harrasowsky, Entwurf Horten (wie Anm. 11), 38f.
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und dem Konsistorium der siebenbürgischen Reformierten die Ausarbeitung eines eigenen Eherechtes aufgetragen.33 Zugleich blickte man auch über die Grenzen der österreichischen Länder hinaus. Joseph II. erteilte etwa im März 1782 der Hofkanzlei den Auftrag, sich zu erkundigen, wie es in anderen protestantischen Ländern gehalten werde. Doch sowohl in der Diskussion im Staatsrat als auch innerhalb der Gesetzeskommission riet man davon ab, für Protestanten ein eigenes Gesetz zu erlassen und betonte die Notwendigkeit, zuerst die für die Ehegesetzgebung allgemein maßgeblichen Grundsätze festzuschreiben.34 Im Staatsrat wies man zudem darauf hin, dass es schwierig sei, die verschiedenen nichtkatholischen Konfessionen zu vereinen. Dabei könne man sich leicht dem Verdacht aussetzen, eine neue Konfession einführen zu wollen.35 Offensichtlich hatte man zunächst mehr Scheu davor, in die protestantische Ehegesetzgebung einzugreifen als in die katholische. Inwieweit die neu formulierten weltlichen Ehebestimmungen auch auf jüdische Eheleute auszudehnen seien, stand jedoch vorerst nicht im Fokus der Gesetzeskommission oder des Staatsrats. Erst nach Inkrafttreten des Ehepatentes wurde aufgrund konkreter Nachfragen aus der Praxis offenkundig, dass auch hier eine Entscheidung gefällt werden musste. So kam etwa aus Mähren die Anfrage, ob Ehestreitigkeiten jüdischer Eheleute ebenfalls vor den weltlichen Gerichten zu verhandeln seien. Als erste Reaktion sprach sich die Gesetzeskommission dafür aus. Allerdings seien dabei die besonderen Regelungen der jüdischen Gesetze zu berücksichtigen. Das Gericht sollte nur über den Ehevertrag an sich verhandeln, aber nicht auf den Bestand des religiösen Bandes eingehen. Derart vage und allgemeine Vorschriften taugten jedoch kaum zu einer klaren Anweisung. Daher wurden die Rabbiner in Galizien und Böhmen über das Verhältnis ihrer religiösen Vorschriften zum Ehepatent befragt. Da diese fast für alle Bestimmungen Differenzen feststellten, wurde die Frage in Erwägung gezogen, für die Juden ein besonderes Ehegesetz zu erlassen. Gegen eine zu rigorose Neuregelung wandten andere jedoch ein, dass die Ehe der Juden, auch wenn sie nicht als ein Sakrament aufzufassen sei, doch in Beziehung zur Religion stehe und man nicht etwas befehlen könne, was durch die Religion verboten sei beziehungsweise nichts verbieten könne, was die Religion vorschreibe.36 Im Ergebnis enthielt der eherechtliche Teil des Josephinischen Gesetzbuches von 1786 schließlich vor allem das Ehepatent von 1783, das an einigen Stellen auf die anderen Konfessionen und die jüdische Religion ausgedehnt wurde und zudem einige besondere Bestimmungen aufwies. 33 34 35 36
Hock, Staatsrat (wie Anm. 11), 256. Harrasowsky, Entwurf Horten (wie Anm. 11), 33f. Hock, Staatsrat (wie Anm. 11), 257. Harrasowsky, Entwurf Horten (wie Anm. 11), 37f.
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Zunächst finden sich allgemeine Regelungen im Blick auf die grundsätzliche Natur des Ehevertrags, die Zuständigkeit der weltlichen Gerichte und das Heiratsalter, die für alle gelten sollten. Die Form der Eheschließung in Anwesenheit des Seelsorgers wurde beispielsweise erweitert, um es für alle passend zu machen: Zur »Wesenheit des Ehevertrags, und als ein zu dessen Giltigkeit unumgängliches Bedingniß« werde vorgeschrieben, »daß die beydseitige Einwilligung zur Ehe in Gegenwart des Pfarrers, Pastors, Popen oder Rabbiner, in dessen Pfarre oder Sprengel die Brautleute wohnhaft sind, und im Beyseyn von zween Zeugen ausgedrückt werde.«37 Im Blick auf die Verschiedenheit der christlichen Konfessionen und der jüdischen Religion waren im Wesentlichen drei Punkte diskutiert und schließlich teils verallgemeinernd, teils unterschiedlich in das Gesetz eingebaut worden – das Ehehindernis der Verwandtschaft und Schwägerschaft, das Aufgebot und die Frage der Ehetrennung von Tisch und Bett beziehungsweise der Ehescheidung.
1.
Ehehindernis der Verwandtschaft und Schwägerschaft
Das in der Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche so problematisch gewordene Thema des Ehehindernisses der Verwandtschaft und Schwägerschaft wurde auch für nichtkatholische Ehen geprüft. Doch indem man als allgemeingültige Regelung das landesfürstliche Dispensationsrecht festgesetzt hatte, ließen sich hier mögliche Unterschiede leicht abfedern und mussten nach Ansicht der Gesetzeskommission nicht näher ausgeführt werden.38 Zudem waren die Bestimmungen für Verwandtschaft und Schwägerschaft im protestantischen Eherecht im Vergleich zum kanonischen Recht ohnehin stärker eingeschränkt worden39 und entsprachen bereits mehr den neuen im Ehepatent aufgestellten Regelungen. Im Blick auf die jüdischen Rechtsnormen argumentierte man, dass Christen und Juden ohnehin nicht heiraten dürften, daher sei die Rechtsverschiedenheit in diesem Punkt für die übrige Bevölkerung ohne Belang. Damit könne man das bestehende Gesetz auf die jüdische Bevölkerung ausdehnen und auch hier mögliche Abweichungen durch die Dispensmöglichkeit regeln lassen.40 Dies schien ein einfacher Weg zu sein, um die Besonderheiten der jüdischen Rechtsbestimmungen nicht weiter berücksichtigen zu müssen. Als ein Beispiel, 37 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (Patent vom 1. November 1786), in: Justizgesetzsammlung (JGS) 1786, Nr. 591, Drittes Hauptstück, § 33 (im Folgenden zitiert als JGB 1786). 38 Harrasowsky, Entwurf Horten (wie Anm. 11), 35f. 39 Hartwig Dieterich, Das protestantische Eherecht in Deutschland bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. (Jus Ecclesiasticum, Bd. 10.) München 1970, 61f. 40 Harrasowsky, Entwurf Horten (wie Anm. 11), 37f.
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wie hier die religiösen Normen mit den neuen weltlichen in Konflikt geraten konnten, sei die Leviratsehe angeführt. Zwar galten Ehen zwischen verschwägerten Personen auch laut mosaischem Recht als verboten, doch wurde in einem Fall eine Ausnahme gemacht. Wenn ein Ehemann ohne Erben starb, war sein Bruder verpflichtet, die Witwe zu heiraten, um auf diese Weise doch noch Nachkommen zu zeugen. Der erste Sohn wurde in diesem Fall dem verstorbenen Bruder zugeschrieben. Michaelis datiert diese Vorschrift als einige Jahrhunderte älter als das Gesetz Mose. Moses hingegen habe eine Erleichterung geschaffen, indem der Bruder des Verstorbenen vor Gericht erklären konnte, dass er die Witwe des Bruders nicht heiraten wolle. Dies war in eine Zeremonie eingebunden: Der Mann musste den Schuh ausziehen und zog so das Schimpfwort »Barfüßer« auf sich. Die Schwägerin hatte das Recht, ihn für seine Weigerung zu schelten und anzuspucken. Danach waren beide frei von der Verpflichtung und auch die Witwe konnte einen anderen Mann heiraten. Fand diese Zeremonie vor Gericht nicht statt, war ihr dies nach mosaischem Recht verwehrt – sie blieb eine »gebundene« Frau.41 Mit der Bestimmung im neuen Gesetz, die für alle und damit auch für jüdische Untertanen die Gerichtsbarkeit vor weltlichen Gerichten festschrieb, verloren jüdische Witwen die Möglichkeit, diese Zeremonie einzufordern.42
2.
Ausdehnung der Aufgebotsbestimmungen auf nichtkatholische Christen und Juden
Das mehrmalige Aufgebot der Brautleute vor der Hochzeit sollte verhindern, dass eine Ehe trotz vorliegender Ehehindernisse geschlossen wurde. Durch die Öffentlichkeit in der Kirche schien gewährleistet, dass auch mögliche Hindernisse, die den Brautleuten selbst, dem Seelsorger und den Zeugen nicht bekannt waren, im Vorfeld kundgemacht werden könnten. Ein Dispens vom Aufgebot sollte nur noch in Ausnahmefällen gewährt werden.43 Diese breite Öffentlichkeit schien der Gesetzeskommission aufgrund der im Vergleich zu katholischen Kirchen geringen Dichte von evangelischen Bethäusern und Synagogen für nichtkatholische Christen und Juden nicht gegeben. Wiederum wandte man sich zunächst wieder dem Regelungsbedarf im Blick auf die nichtkatholischen Christen zu. 1784 wurde in einem Hofdekret ausdrücklich 41 Michaelis, Mosaisches Recht (wie Anm. 14), 194–208. 42 Ellinor Forster, Between Law, Gender and Confession: Jewish Matrimonial Law Provisions Against the Background of Catholic and Protestant Regulations in Austria, 18th and 19th Century, in: Karin Gottschalk (Hrsg.), Gender Differences in European Legal Cultures. Historical Perspectives. Essays presented to Heide Wunder. Stuttgart 2013, 95–104. 43 Harrasowsky, Entwurf Horten (wie Anm. 11), 36f.
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Ellinor Forster
bestimmt, dass »künftighin die akatholischen Ehen auch in den katholischen Pfarrkirchen, zu welchen sie nämlich gemäß ihres Wohnortes, wenn sie katholisch wären, gehören würden, eben so wie in ihren Bethhäusern drey Mahl verkündiget werden sollen.«44 1786 – noch vor Publikation des Josephinischen Gesetzbuches – wurde die Anwendung der Verordnungen für Ehesachen auch für jüdische Ehen geklärt. Was von »Pfarrern, Pastoren oder Popen« angeordnet sei, solle »von den Vorstehern der Synagoge, und wo keine Synagoge ist, von dem Vorsteher der Schule verstanden werden. Pfarrkirche ist für die Synagoge oder Schule, wo die Gemeinde sich zum Gebethe versammelt; Pfarrbezirk für den Bezirk, der zu so einer Synagoge oder Schule gehört; Sonntag für den Sabbath; Taufnahmen für den Vornahmen zu nehmen.«45 In der entsprechenden Bestimmung des Josephinischen Gesetzbuchs von 1786 war nur allgemein von der Pfarrkirche die Rede.46 Dies schien in der weiteren Überarbeitung zu wenig präzise. So überlegte die Gesetzeskommission, das Hofdekret von 1784 über die nichtkatholischen christlichen Ehen in den Gesetzestext ausdrücklich aufzunehmen. Der Logik folgend wollte man zunächst auch das Aufgebot jüdischer Eheschließungen in der katholischen Kirche verkünden lassen. Doch wandte dagegen Leopold II. ein, dass dies »bei den tolerirten Religionen eine Gehässigkeit gegen die dominante Religion« verursachen würde.47 Damit war im Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch für die gesammten Deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie (ABGB) von 1811 zunächst sehr allgemein die Rede vom Seelsorger und der gewöhnlichen Kirchenversammlung. Dann hieß es jedoch ausdrücklich, dass bei »Ehen zwischen nicht katholischen christlichen Religions-Genossen« das Aufgebot »nicht nur in ihren gottesdienstlichen Versammlungen, sondern auch in jenen katholischen Pfarrkirchen, in deren Bezirke sie wohnen« stattfinden müsse.48 Franz von Zeiller, selbst Mitglied der Gesetzeskommission und Kommentator des ABGB von 1811, argumentierte ausdrücklich damit, dass »ihre Verhältnisse, und die allenfalls obwaltenden Ehehindernisse dort oft mehr, als in dem Bezirke ihres Bethhauses, der oft entfernt und nicht ihr ordentlicher Aufenthaltsort ist, bekannt seyn können.«49 Die Verkündigung von jüdischen Ehen sollte hingegen in Synagogen oder in den gemeinschaftlichen Bethäusern erfolgen. Falls es solche nicht gab, 44 45 46 47
Hofdekret, 21. Mai 1784, in: JGS 1784, Nr. 292. Patent, 3. Mai 1786, in: JGS 1786, Nr. 543, § 2. JGB 1786 (wie Anm. 37), Drittes Hauptstück, § 35. Kaiserliche Entschließung, 29. Oktober 1791, zit. nach: Harrasowsky, Entwurf Horten (wie Anm. 11), 41. 48 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch für die gesammten Deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie, Wien 1811, § 71 (im Folgenden zitiert als ABGB 1811). 49 Zeiller, Commentar (wie Anm. 27), 222.
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hatte sie »von der Ortsobrigkeit an die Haupt- und besondere Gemeinde, welcher ein und der andere verlobte Theil einverleibt ist, an drey nach einander folgenden Sabbath- oder Feyer-Tagen […] zu erfolgen.«50
3.
Trennung von Tisch und Bett versus Scheidung
Die größten Unterschiede zwischen den einzelnen Konfessionen und der jüdischen Religion lagen darin, ob eine Ehe durch eine Scheidung soweit gelöst sei, dass eine Wiederverheiratung möglich sei oder ob nur eine Trennung von Tisch und Bett erreichbar sein sollte. Durch das Festhalten an der Unauflösbarkeit katholischer Ehen waren im Gesetz notwendige Unterschiede zu den anderen Konfessionen beziehungsweise zur jüdischen Religion vorgezeichnet, wollte man nicht auch für jene die Unauflösbarkeit festschreiben. Das Josephinische Gesetzbuch von 1786 ging stark von der katholischen Norm aus und hielt als allgemein gültige Bestimmung zunächst fest, dass die Ehe »nach Vorschrift der Gesetze« unauflöslich sei und »das Band derselben, so lange beyde Eheleute leben, unter keinem Vorwande getrennet werden« könne.51 Darauf folgte für den Fall, dass das gemeinsame Leben »mit besonderen Beschwerlichkeiten verbunden« sei, der Hinweis, dass bei »grober Misshandlung« und »Verführung zu Lastern und verderbten Sitten« der »beleidigte Theil« auf dem Rechtsweg Hilfe suchen konnte. Doch eine »Sonderung von Tisch und Bett« sei nur möglich, wenn sich die Eheleute darüber einig waren, getrennt zu wohnen und sich über die Regelung des Vermögens und der Erziehung der Kinder verständigt hatten.52 Diese Bestimmungen folgten den Festlegungen im Ehepatent, das im Gegensatz zum kanonischen Recht nur eine einvernehmliche Trennung von Tisch und Bett vorsah. Weigerte sich der Ehemann oder die Ehefrau, in die Trennung einzuwilligen, konnte nicht darauf geklagt werden. Folgerichtig waren weder im Ehepatent noch im Josephinischen Gesetzbuch Trennungsgründe für katholische Eheleute angegeben. Das als Voraussetzung formulierte Einvernehmen entsprach dem naturrechtlichen Vertragsdenken. Doch kam es aufgrund wiederholten Protestes und vieler Fälle, die offenkundig machten, wie problematisch es insbesondere für Frauen bei Misshandlungen werden konnte, wenn sie nicht gegen den Willen des Ehemanns auf eine Trennung klagen konnten, bald zu einem Umdenken in der Gesetzeskommission.53 Noch im Jahr
50 51 52 53
ABGB 1811 (wie Anm. 48), § 126. JGB 1786 (wie Anm. 37), Drittes Hauptstück, § 98. JGB 1786 (wie Anm. 37), Drittes Hauptstück, §§ 99f. Harrasowsky, Entwurf Horten (wie Anm. 11), 37.
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Ellinor Forster
1786 wurden mögliche Gründe, die eine Klage auf Trennung von Tisch und Bett erlaubten, dem kanonischen Recht entsprechend eingefügt.54 Erst nach den allgemeinen und für alle übergreifend geltenden Angaben folgte im Gesetzbuch von 1786 die Ausnahme, dass »Unterthanen dieser Staaten, welche der katholischen Religion nicht zugethan sind,« von der »allgemeinen Regel wegen Unauflöslichkeit der Ehen in folgenden Punkten entbunden«55 seien. Im Fall einer Bedrohung mit Tod, eines Ehebruches, einer »boshaften Verlassung« und »Hauptfeindschaft oder unüberwindlichen Abneigung« konnte um eine Auflösung des Ehebandes gebeten werden.56 Doch war zunächst nur eine Trennung von Tisch und Bett zu genehmigen und erst, wenn »alle angewendeten Mittel fehlschlagen, und alle Hoffnung verschwunden ist, dergleichen Eheleute in Eintracht jemals wieder zu vereinbaren«57, sollte eine gänzliche Ehescheidung möglich sein. Bei diesen Trennungsgründen für nichtkatholische Christen war die Gesetzeskommission von den Normen der Protestanten ausgegangen und hatte diese auf die reformierten und griechisch-nichtunierten Ehen ausgedehnt.58 Spezifika der anderen Konfessionen wurden nicht aufgenommen. So war es beispielsweise griechisch-nichtunierten Christen nach ihren Vorschriften verboten gewesen, öfter als viermal zu heiraten. Dies fand im Gesetzbuch keine Berücksichtigung, sondern es wurde nur darüber diskutiert, ob man das Verbot ausdrücklich aufheben solle. Doch schien das den Mitgliedern der Gesetzeskommission schon mit Hilfe der allgemeinen Gesetzesbestimmungen geregelt, die keine Höchstzahl an Eheschließungen vorsahen.59 Bei den jüdischen Bestimmungen schwankten die Anschauungen in der Gesetzeskommission zwischen dem Versuch, möglichst wenig in religiöse Vorschriften einzugreifen und der Vorstellung, auch grundlegende Veränderungen vorschreiben zu können. Im Prinzip vertrat Joseph II. die Meinung, dass das Ehepatent auch auf jüdische Untertanen ausgedehnt werden könne, weil dadurch die religiösen Vorschriften nicht berührt würden. Doch je mehr man in die Details ging, desto offensichtlicher wurden die Unterschiede, der Versuch, jüdische Ehen stärker den christlichen anzupassen lag auf der Hand. Auch das mosaische Recht sah eine Scheidung vor – mit einer anderen Gewichtung der Gründe als in den Bestimmungen für Protestanten. Sie konnte nur einvernehmlich erfolgen, es sei denn, es handelte sich um einen Ehebruch der Ehefrau. In diesem Fall hatte der Ehemann die Möglichkeit, auch ohne Einwilligung der Ehefrau eine Scheidung zu verlangen. Im umgekehrten Fall stand dies 54 55 56 57 58 59
Tschannett, Zerrissene Ehen (wie Anm. 23), 39f. JGB 1786 (wie Anm. 37), Drittes Hauptstück, § 104. Ebd., §§ 105–107. Ebd., § 108. Harrasowsky, Entwurf Horten (wie Anm. 11), 35f. Ebd., 39.
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einer jüdischen Ehefrau nicht zu. Diese Ungleichbehandlung wurde von der Mehrheit der Gesetzeskommission als problematisch angesehen und man überlegte daher, die Unauflösbarkeit des Ehebandes auch für jüdische Ehen festzusetzen.60 Doch wurde schließlich die jüdische Ehe als Vertrag definiert, der wie jeder andere Vertrag, den kein geistliches Band knüpfe, lösbar sei. Die notwendige Einvernehmlichkeit der Eheleute bei einer jüdischen Ehescheidung wurde übernommen, weil sie auch den bis dahin formulierten Grundsätzen für Katholiken entsprach. Keiner könne »für sich allein davon zurücktreten.«61 Auf die Möglichkeit für einen jüdischen Ehemann, aufgrund des Ehebruchs seiner Frau eine Scheidung zu verlangen, gingen weder das Josephinische Gesetzbuch noch Hofdekrete ein. Allerdings wurde es im ABGB von 1811 aufgenommen62, in dem die Bestimmungen für katholische, nichtkatholische christliche und jüdische Ehen insgesamt deutlicher voneinander abgesetzt und ausführlicher formuliert wurden. Den ursprünglichen Versuch, das Eherecht möglichst einheitlich für alle Religionen und Konfessionen zu gestalten, hatte man offensichtlich aufgegeben. Im Kommentar zum ABGB 1811 rechtfertigte Franz von Zeiller das konfessionell und vor allem für die jüdische Bevölkerung unterschiedlich ausgestaltete Recht. Im Eherecht sei »wie auf andere christliche Religions-Verwandte, so auch auf die Judenschaft besondere Rücksicht zu nehmen« gewesen. Hintergrund seien »vor allem die Erhaltung der bürgerlichen Ordnung, und die über das Verhältniß der Judenschaft zur öffentlichen Verwaltung bestehenden politischen Vorschriften, dann ihre abweichenden religiösen Meinungen und Gebräuche.«63
IV.
Resümee
Im Entstehungsprozess des österreichischen zivilrechtlichen Gesetzbuches kreuzten sich verschiedene Entwicklungen. Aus den Normen der einzelnen Erbländer begann man, ein Recht zu formulieren, das nicht nur über die älteren Territorialgrenzen, sondern im Verlauf der Überarbeitungen auch über die Grenzen der unterschiedlichen sozialen Milieus hinweg einheitliche Geltung erlangen sollte. Durch die Beanspruchung des Vorrangs der weltlichen vor der geistlichen Gesetzgebung rückte auch die bisher bei den geistlichen Institutionen belassene Ehegesetzgebung in den normierenden Blick. Doch damit stellte sich die Herausforderung, die Normenvielfalt der christlichen Konfessionen und 60 61 62 63
Ebd., 37f. Patent, 3. Mai 1786, in: JGS, Nr. 543, § 3. ABGB 1811 (wie Anm. 48), § 135. Zeiller, Commentar (wie Anm. 27), 307.
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Ellinor Forster
der jüdischen Religion in allgemein geltende Bestimmungen zu fassen. Hier Unterschiede zuzulassen, bedeutete, dem Anspruch des Gesetzbuches nach einem gleichen Recht für alle Bürger nicht gerecht zu werden. Doch scheute man die Auseinandersetzung vor allem mit der katholischen Kirche zu sehr, um auch den letzten Schritt zu einer verpflichtenden Zivilehe zu wagen, die es ermöglicht hätte, die eherechtlichen Normen unabhängig von religiösen Zeremonien und Unterschieden festzuschreiben. Damit wurde aus den Versuchen, in den Gesetzen des 18. Jahrhunderts die Regelungen des Eherechts möglichst allgemein zu fassen, im beginnenden 19. Jahrhundert eine sehr deutliche Differenzierung zwischen den Konfessionen bzw. der jüdischen Religion – ablesbar vor allem an den differenzierten Bestimmungen zur Auflösung der Ehe.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Prof. em. Dr. phil et habil. Luise Schorn-Schütte hatte den Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Goethe Universität Frankfurt/M. zwischen 1998 und 2015 inne, zwischen 2004 und 2010 war sie Vizepräsidentin der DFG und bekleidete das Amt der Sprecherin des IGK »Politische Kommunikation von der Antike bis ins 20. Jahrhundert« von 2004 bis 2014. Dr. Cecilia Cristellon promovierte 2005 am Europäischen Hochschulinstitut (Florenz). Sie wurde 2012 und 2018 vom italienischen Ministerium in Geschichte der Frühen Neuzeit habilitiert und ist seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte (SFB »Schwächediskurse und Ressourcenregime«) Frankfurt/M. Prof Dr. Volker Leppin war seit 2000 Inhaber des Lehrstuhls für Kirchengeschichte an der Universität Jena, 2010 wechselte er an die Universität Tübingen, wo er seit 2014 Sprecher des Graduiertenkollegs 1662 »Religiöses Wissen im vormodernen Europa« und von »Gottesbilder« im Rahmen der »Plattform 4« ist. PD Dr. Christopher Voigt-Goy wurde 2001 an der Universität Göttingen promoviert und habilitierte sich 2011 an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/ Bethel. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für europäische Geschichte in Mainz und Sprecher des Forschungsbereichs 1 »Pluralisierung und Marginalität«. Prof. Dr. Merio Scattola (1962–2015) war Professor für Politische Ideengeschichte an der Schule für Human- und Kulturwissenschaften der Universität Padua und Mitglied des Internationalen Graduiertenkollegs »Politische Kommunikation von der Antike bis ins 20. Jahrhundert«.
170
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Dr. Andreea Badea promovierte 2007 an der Universität Bayreuth. Seit 2018 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der DFG-Forschergruppe »Personalentscheidungen bei gesellschaftlichen Schlüsselpositionen« an der Goethe Universität Frankfurt/M. Prof. em. Dr. h.c. Silvana Seidel Menchi war seit 1990 Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Trient. 2003 übernahm sie den Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Pisa, wo sie bis 2010 lehrte. 2011 erhielt sie ein Ehrendoktorat von der Universität Basel. Dr. Ellinor Forster promovierte 2008 in Neuere Geschichte an der Universität Innsbruck, 2017/2018 war sie Senior Lecturer am Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Johannes Kepler Universität Linz und ist seit 2018 Assistenzprofessorin an der Universität Innsbruck.
Abkürzungsverzeichnis
Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch für die gesamten Deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie ACDF Archivio della Congregazione per la Dottrina della Fede AHR American Historical Review Apg Apostelgeschichte Apgsch Apostelgeschichte ARG Archiv für Reformationsgeschichte ASV Archivio Segreto Vaticano BHTh Beiträge zur historischen Theologie BSELK Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche Congr. Conc. Congregazione del Concilio Congr. Congregazione CR Corpus Reformatorum CSEL Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum DBI Dizionario biografico degli italiani Deut. Deuteronomium DH Denzinger/Hünermann, Enchiridion Symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum Dialogi Gregorius magnus, Dialogi de vita et miraculis patrum Italicorum (I–IV). PL 77,127–431. Kritische Ausgabe von U. Moricca, Rom 1924 (Fonti per la Storia d’Italia, 57). EdN Enzyklopädie der Neuzeit FKDG Forschungen zur Kirchen-und Dogmengeschichte JGS Justizgesetzsammlung HstA Hauptstadtarchiv Index Prot. Index Protocolli MBW.T Melanchtons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Abteilung Texte MEFRIM M8langes de l’Pcole franÅaise de Rome – Italie et M8diterran8e MStA Melanchtons Werke in Auswahl, hrsg. Von Robert Stupperich, 7 Bd. Gütersloh 1951–1975/1978–1983 PBSA Papaers of the Bibliographical Society of America ABGB
172 PL PuP q. resp. Rom. Sent. SMHR SO ST St. St. SuR WA ZKiG ZRG KA
Abkürzungsverzeichnis
Patrologia latina Päpste und Papastum questio responsio Romani/Der Brief des Paulus an die Römer Sententiae/Sententiarum Spätmittelalter, Humanismus, Reformation Sant’Ufficio Sacra Theologia/Thomas von Aquin Stanza Storica Spätmittelalter, Humanismus, Reformation/Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation Weimarer Ausgabe Zeitschrift für Kirchengeschichte Zeitschrift der Savigny Stiftung für Rechtsgeschichte Kanonistische Abteilung
Namenregister
Abram aus Florenz 116, 118 Agricola, Johannes 53f. Alanen, Yrjö J. E. 34, 37 Albani, Benedetta 103 Alberici (Buchhändler aus Rimini); dessen Sohn 137 Albert der Große (Albertus Magnus) 33 Almayn, Iacobus 96 Althaus, Paul 42 Ames, William 88f. Antenhofen, Christina 66 Antinori, Giovanni 140 Appel, Heinrich 32, 34 Aristoteles 56, 69, 78–80 Ascarelli, Debora/Devora, geb. Corcos 105–107 Ascarelli, Familie 106f., 111 Ascarelli, Giuda 109 Ascarelli, Giuseppe 105–107 Ascarelli, Kinder 108f. Ascarelli, Mardocheo 107f, 110–112 Asch, Ronald G. 110 Assel, Heinrich 26 Augustinus von Hippo/Aurelius Augustin 31, 38, 81, 83, 90 Averroes 69 Azpilcueta, Martin 66f., 71, 75, 91 Badea, Andreea 19, 101, 133 Balduin, Friedrich 58f., 63 B#Çez, Domingo 91 Barbierato, Federico 137 Barge, Hermann 45 Barta, Heinz 152
Barth, Roderich 62 Bartolomeo Romagnoli, Alessandra 106 Basilio (Kamaldulensermönch) 127 Baxter, Richard 51, 61–63 Bayle, Pierre 139 Baylor, Michael G. 25f., 31–33, 35 Beales, Derek 52 Beetz, Manfred 97 Bellarmino, Roberto 75 Beltr#n de Heredia, Vicente 79 Bender, Harold S. 40 Benedict XIV. (Lambertini, Prospero) 110, 116 Bennassar, Bartolom8 104 Bennassar, Lucile 104 Beretta, Francesco 135f. Bettucci, Paolo 144 Bianca aus Florenz 117f. Bianchetti, Lorenzo 106 Bianchi, Giovanni Maria 133, 145f. Biel, Gabriel 32, 37f., 43, 46, 74, 76 Birr, Christiane 103 Birtsch, Günther 12 Bixel, Alexander 86 Blickle, Peter 12 Bodenstein, Andreas (Karlstadt) 44f. Bodier, Thomas 145 Boethius 29 Boncompagni, Familie 107 Boncompagni, Giulia, geb. Ascarelli 105f. Boncompagni, Michele/Michelangelo 105f. Boncompagni, Ugo, geb. Corcos, Salomone 106
174 Boulnois, Olivier 108 Boviletti, Antonio 140f., 143 Brambilla, Elena 104f.,123–126 Brandes, Wolfram 103 Brauneder, Wilhelm 158 Brenz, Johannes 49 Bresser, Martin de/Bresserus, Martinus 69, 71 Broggio, Paolo 104, 114 Bruckner, Wilhelm Hieronimus 90, 94f. Bugenhagen, Johannes 47 Burger, Karl Michael 155 Burkhardt, Carl August Hugo 45 Busa, Roberto 36f. Caffiero, Marina 106–111, 115 Campi, Emidio 55 Caravale, Giorgio 144 Carletti/da Clavasio, Angelo 71f., 84, 90 Casini, Salvestro 121–124 Castellio, Sebastian 49 Caterina aus Livorno 121–124 Cavallo, Sandra 110 Charisius, Christian Ehrenfried 90, 92–94 Chaves, Thomas de 66 Cimdina, Ausma 105 Clemens VIII. (Aldobrandini, Ippolito) 105f., 141 Conrad, Sebastian 103 Cooper, Tim 61 Corcos/Boncompagni, Familie 105, 107 Cristellon, Cecilia 3, 9, 11, 18, 101f., 130 Cruciger, Caspar 47 Da San Vittore, Ugo 78 Dandolo di San MoisH, Familie 123 Danneberg, Lutz 56 Dannhauer, Johann Conrad 51, 59–61, 63 De Castelnau-L’Estoile, Carlotte 104, 114 De Celles, Pierre 29 De Col, Andrea 122, 135 De Covarrubias y Leyva, Diego 84, 91, 117 De Lugo, Juan 115 De Muij, Felice 139f. De Pedraza, Juan 67
Namenregister
De Soto, Domingo 66, 71, 74f., 79, 91 De Torquemada Juan 74, 76–78 De Urrutigoyti, Diego Antonio Franc8s 74 De Vio, Thomas (Cajetan/Caietanus) 27, 35, 43, 72f., 81f., 84, 90 De Vitoria, Francisco 16, 66–68, 74f., 79, 90 Decock, Wim 17 Decot, Rolf 36 Delgado, Mariano 27 Deventer, Jörg 154 Dieter, Theo 30 Dieterich, Hartwig 162 Dingel, Irene 42, 46, 55 Dittrich, Ottmar 53, 59 Donahue, Charles jr. 114, 122 Drexel, Jeremia 16, 69, 71 Du Moulin, Charles 143 Duchrow, Ulrich 42 Duns Scotus, John 108 Durand de Saint-PourÅain, Guillaume 109f. Dury, John 60f. Duve, Thomas 103 Ebeling, Gerhard 32, 35–38 Eckart Voß, Wulf 110 Eckert, Andreas 103 Eckhart von Hochheim/Meister Eckhart 32 Eisfeld, Jens 158 Elliger, Walter 44 Espenhorst, Martin 97 Esteve, Cesc 136 Fagnani, Fabrizio aus Rimini 137f. Fahrmeir, Andreas 14, 151f. FantappiH, Carlo 103 Fattori, Maria Teresa 106 Faustus (Manichäer) 83, 90 Fischer, Norbert 44 Flasch, Kurt 33 Forst, Rainer 102 Forster, Ellinor 20, 151f., 163 Fragnito, Gigliola 134, 136
175
Namenregister
Frajese, Vittorio 134, 138, 143–145 Frank, Günter 53, 55 Freiberg, Dietrich von 33 Freist, Dagmar 110 Freitag, Ulrike 103 Friedberg, Emil 36, 47, 83 Friedrich III. der Weise von Sachsen Friedrich, Margret 153 Frise, Christophorus 95 Fritsch, Matthias J. 155 Frost, Stefanie 53 Fumi, Bartolomeo 71–73, 84
35
Hermann, Rudolf 26 Hert, Johann Nicolaus 96 Hieronymus (Kirchenvater) 31 Hirsch, Emanuel 26f., 32, 34 Hock, Carl von 154, 157, 161 Hoffmann, Heinrich 25, 39 Hoffmann, Nikolaus 39 Hofmann, Udo 37 Holl, Karl 15, 26 Hombergk zu Vach, Johann Friedrich 95f. Horn, Christoph 70 Horst, Ulrich 90 Hortleder, Friderich 39 Hunt, Lynn 11
Gass, Wilhelm 52, 59 Gehrt, Daniel 39 Gerhard, Ute 156 Germann, Michael 17 Gerson, Jean 32, 34, 96 Giovanni Battista aus Piacenza 129 Glorieux, Pal8mon 34 Goering, Timothy 12 Goertz, Hans-Jürgen 39, 44 Gotzmann, Andrea 111 Grado Merlo, Giovanni 104 Grandi, Silvio 137 Grandl, Stefan 37 Grane, Leif 33 Graßl, Ignaz 153 Gratianus de Clusio/Gratian 25, 36, 83, 109 Gr8goire, R8ginald 106 Gregor I./der Große 111 Gregor XIII. (Boncompagni, Ugo) 114 Grosse, Sven 34 Grotius, Hugo 89–94 Grunert, Frank 105 Günther, Klaus 102
Jacobson Schutte, Anne 124 Jansen, Ludger 70 Janz, Dennis 37 Jaumann, Herbert 97 Jeanne, Boris 104 Jedin, Hubert 113 Jesus Christus 42, 46f., 54, 74, 110 Johann David Michaelis 155, 163 Johann Friedrich I. von Sachsen 39, 45, 48, 83 Jonsen, Albert R. 56 Joseph II. 152, 154f, 157, 161, 166 Julius III. (Ciocchi Del Monte, Giovan Maria) 75 Junghans, Helmar 40 Justenhoven, Heinz-Gerhard 90
Hafner, Felix 105 Hamm, Berndt 29, 34 Harras von Harrasowsky, Phlipp 156–166 Hasecker, Jyri 141, 143 Heckel, Johannes 42 Hehl, Ernst-Dietrich 43 Helmholz, Richard 103, 110
Kalff, Sabine 145 Kamp, Geoff 137 Kandler, Karl-Hermann 33 Karger, Elisabeth 108 Karl V., Kaiser 27, 39, 46, 48 Karl, Johannes 49 Kasper, Walter 85 Kaufmann, Thomas 45
154,
Imhausen, Annette 14, 151f. Infelise, Mario 136 Innozenz III. (Conti, Michelangelo) 114f.
13,
176 Khodarkovsky, Michail 104 Kittsteiner, Heinz-Dieter 15, 52, 59 Klippel, Diethelm 12, 158 Knaake, Joachim Karl Friedrich 37 Kobelt-Groch, Marion 44 Kohnle, Armin 27, 38f. Korupka, Nicole 53 Kühn, Johannes 39 Langs, Marcus 113 Lanzinger, Margareth 159 Lavenia, Vincenzo 139, 144 Lecler, Joseph 29, 42, 44 Legate, Iohn 56 Lehne, Christine 152 Leopold II. 152, 164 Leppin, Volker 15, 25, 27, 29, 34, 39, 52, 169 Lessius, Leonardus/Leys, Leanert 91 Lienhard, Marc 44, 46, 49 Liguori, Alfonso Maria de 115 Llanque, Marcus 12, 14 Lohse, Bernhard 15, 29, 32, 35 Lorenz Filograno, Maria Pia 135 Loretan, Adrian 105 Löscher, Anton Günther 70 Lugani, Giuseppe Maria 135f., 138f. Luhmann, Niklas 102 Luig, Ute 107 Luperini, Sara 123 Luthardt, Christian Ernst 52 Luther, Martin 14f., 25–49, 51–53 Lutz, Heinrich 29, 40 Luzi, Laura 109 Lyranus, Nicolaus/Lyra, Nikolaus, von 37 Machiavelli, Nicolk 137–139, 142f. Magini, Giovanni Antonio 145 Malavasi, Stefania 103 Mandonnet, Pierre 31 Mantey, Volker 41f. Marcocci, Giuseppe 103 Margarete von Braunschwein-Lüneburg 28 Maria Theresia 152, 155 Marmursztejn, Elsa 108
Namenregister
Matsuura, Jun 33 Matz, Wolfgang 54 Maximilian I. von Bayern 69 May, Georg 85 May, Rudolf 36 Mayer Ferdinand 85 Mazur, Peter 104 Mazzolini, Silvestro/Sylvester Prierias 72, 83 Medici, Anna Maria Teresa 116 Medici, Familie 122 Meisner, Balthasar 58 Melanchthon 13, 15, 47, 51–56, 62f. Melloni, Alberto 30 Menius, Justus 40 Mennecke, Ute 53 Meyer, Christoph H. F. 103, 105 Miethe, Terry L. 31 Minchella, Giuseppina 104 Moses 41, 70, 163 Müller, Siegrid 32 Mulsow, Martin 145 Müntzer, Thomas 40, 44f. Neri, Filippo 106 Neu, Tim 11, 13f. Neuhold, David 27 Neveu, Bruno 141 Niedermayr, Monika 152 Nubola, Cecilia 125 Oberman, Heiko Augustinus 30 Ockham, Wilhelm von 32 Oderic Reynald 127 Oestreich, Gerhard 12 Orlando, Ermanno 113 Osiander, Andreas 96 Osthövener, Claus-Dieter 62 Otmar, Hans 30 Otto, Henrik 33 Owen, John 61 Oyer, John S. 40 Ozment, Steven E. 33 Pallavicino, Ferrante Paoli, Ugo 106
137
177
Namenregister
Paolin, Giovanna 122, 135 Pastor, Ludwig von 127 Paul III. (Farnese, Alessandro) 75, 114 Paul IV. (Carafa, Gian Pietro) 126–129 Paul V. (Borghese, Camillo) 106 Paulus (Apostel) 68f., 111, 115 Paulus, Nikolaus 25, 29 Peccatoni, Cosmo 137 Perkins, William 51, 53, 56–58, 61, 63, 87–89 Peters, Albert 28 Petrus (Apostel) 68, 74 Philipp von Hessen 46f Piatti, Pierantonio 106 Pierce, Robert A. 124 Pietsch, Andreas 112, 134 Piłat, Zbigniew 115 Pinomaa, Lennart 34f. Pio, Rodolfo, Kardinal von Carpi 129 Pirola, Giuseppe 83 Piron, Sylvain 108 Pius IV. (Medici, Giovanni Angelo) 75 Pius V. (Ghisleri, Michele) 114, 126 Pizzorusso, Giovanni 104, 113f. Pollack, Detlef 12 Ponce de Leon, Basilio 114–116 Ponziani, Daniel 135 Pozzo, Riccardo 66 Preuß, Hans 38 Primetshofer, Bruno 153 Prodi, Paolo 134 Prosperi, Adriano 104, 125–128, 134, 137f., 144 Ptaszynski, Maciej 17 Pufendorf, Samuel 96 Quaglioni, Diego Quintilian 69
122f.
Rabellato, Elisa 141 Rafael (Mönch) 129 Raming, Ida 156 Rapp, Christo 70 Rapp, Christof 69f. Regazzoni, Lisa 66 Regnault, ValHre 74–77
Reinhardt, Wolfgang 106, 134 Reuter, Fritz 27 Rewart Thomas 39 Rexroth, Frank 145 Ricca Ester aus Florenz 116–118 Riederer, Petrus Nepomucenus 86 Riegger, Joseph Paul 155 Rivers, Isabel 62 Rivius, Iohannes 68f. Romeo, Giovanni 143 Rowan, Stevan 108 Rublack, Ulinka 110 Rupprecht, Walter 38 Salzmann, Jorg Christian 53 Sanchez, Thomas 116f. Sarpi, Paolo 137, 143 Sauer, Edith 107 Savelli, Rodolfo 134, 143 Scattola, Merio 5, 9, 13, 16f., 65f., 70, 83, 97 Schäfer, Rolf 53 Scheible, Heinz 36 Schennach, Martin 152 Schilling, Heinz 26 Schmale, Wolfgang 13 Schmidt, Georg 39 Schmier, Benedikt 85f. Schneider-Ludorff, Gury 29, 46f. Scholler, Heinrich 31f. Schorn-Schütte, Luise 9, 11, 13f., 17, 152, 158, 169 Schrey, Heinz-Horst 42 Schrödter, Christian 70 Schroeder, Friedrich-Christian 46 Schwager, Therese 17 Schwarzenberg, Johann, Freiherr von 41 Sedmak, Clemens 13 Seebaß, Gottfried 28, 46, 49 Seelmann, Kurt 105 Sehling, Emil 48 Seidel Menchi, Silvana 18f., 121–124 Selge, Kurt-Victor 27, 36, 38 Senner, Walter 33 Sgarbi, Marco 66 Shalini, Randeria 103
178
Namenregister
Sievernich, Michael 103 Soldan, Wilhelm Gottlieb 46 SolHre, Jan-Luc 108 Somme, Luc-Thomas 31 Sondag, Gerhard 108 Spendl8, Christoph 105 Stauber, Reinhard 152 Staude, Antonio 101, 121 Staupitz, Johannes von 28f., 37 Stearns, Carol Z. 142 Stearns, Peter N. S. 142 Steiger, Johann Anselm 86 Stollberg-Rilinger, Barbara 112, 134, 152 Störmer-Caysa, Uta 35 Stow, Kenneth 108, 118 Strauß, Gottfried 69f. Strigenitz, Georg 17, 86 Strohm, Christoph 53 Strohm, Paul 131 Strohmeyer, Arno 152 Stryk, Samuel 92, 94 Stüben, Joachim 90 Su#rez, Francisco 74 Tauler, Johannes 30, 32–34 Teodosius 103 Theophilus/Magister Theophilus 129 Thiele, Ernst 40 Thomasius, Christian 97 Thönissen, Wolfgang 30 Tietz, Christiane 42 Tikhomirov, Alexey 101 Toch, Michael 45 Toulmin, Stephen 56 Traianus 96 Troeltsch, Ernst 63 Trovamala, Battista/de Salis, Battista 71f., 84, 90 Tschannett, Georg 158, 166 Tuck, Richard 11 Uguccione da Pisa
113
v. Aquin, Thomas 16, 31, 36–38, 57, 66, 68, 70–73, 78f., 82f., 90 Valero, Juan 85 van Creveld, Martin 130 van de Kamp, Jan 61 Vasquez 114 Vega, Mar&a Jos8 136, 144 Vetter, Ferdinand 33 Vogel, Lothar 28 Voigt-Goy, Christopher 15f., 51–53, 56, 63, 169 Vollhardt, Friedrich 97 von Ecken/von Eck, Johann 38, 84 von Lyra, Nikolaus 37 von Schlachta, Astrid 66 von Schlieffen, Katharina 70 Wallmann, Johannes 26 Wappler, Paul 25, 42, 46–48 Warner, Lyndan 110 Wefers, Sabine 39 Weiss, Julian 136 Wendehorst, Stephan 111 Wengert, Timothy 53f. Werbeck, Wilfried 37 Werth, Paul 104 Whitman, James Q. 63 Wilms, Hieronymus 31, 33 Windler, Christian 112, 134 Wohlfeil, Rainer 39 Wolgast, Eike 13 Wrede, Martin 110 Zarnow, Christopher 62 Zasius, Ulrich 108 Zeiller, Franz von 159, 164, 167 Zendri, Christian 108, 110 Ziebritzki, Henning 55 Ziegler 93f. Zimmermann, Albert 33 Zur Mühlen, Karl-Heinz 33, 40 Zwingli, Huldrych 40