Öffentlichkeiten der Frühen Neuzeit: Teilnehmer, Formen, Institutionen und Entscheidungen öffentlicher Kommunikation im Herzogtum Preußen von 1525 bis 1618 9783110810707, 9783110156003


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German Pages 550 [552] Year 1998

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Abkürzungen
Grundsätzliche Überlegungen
I. Öffentlichkeitsformen in der frühen Neuzeit
II. Das herzogtum preußen im 16. und frühen 17. Jahrhundert
ΙII. Quellen- und Literaturbericht
IV. Ziele der arbeit
Erstes Kapitel. Die Öffentlichkeit der Macht
I. Teilnehmerkreis
II. Kanäle der Kommunikation
III. Entscheidungen in der frühneuzeitlichen Macht-Öffentlichkeit am Beispiel des preußischen Landtags
IV. Verbreitungsstrukturen: Post- und Nachrichtenwesen im frühneuzeitlichen Preußen
V. Das Verhältnis von Aikanpolitik und „Publikum"
Zweites Kapitel. Die Öffentlichkeit der Bildung
I. Teilnehmelkreis
II. Kommunikationsformen
III.Verbreitungsstrukturen: Institutionen des Buchwesens
IV. Prinzipien und methoden der Entscheidungsfindung in der Bildungs-Öffentlichkeit
Drittes Kapitel. Die Öffentlichkeit der Informationen
I. Teilnehmerkreise
II. Informationsformen
III. “Warhafftige erschröckliche Newe Zeitung” – Kriterien der Bewertung von Informationen
IV. Verbreitungsstrukturen
V. Verhältnis zu den anderen Öffentlichkeiten
Zusammenfassung und Ausblick. Geschichte der öffentlichkeiten in der Neuzeit
I. Öffentlichkeiten im 16. und frühen 17. Jahrhundert
II. Von der obrigkeitlichen zur Gleichheitlichen Öffentlichkeit: Die Entwicklung der Beziehungen zwischen den Öffentlichkeiten vom 17. zum 20. Jahrhundert
Anhang
Verzeichnis der Autoren
Verzeichnis der Drucke
Quellen- und Literaturverzeichnis
Orts-, Personen- und Sachregister
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Öffentlichkeiten der Frühen Neuzeit: Teilnehmer, Formen, Institutionen und Entscheidungen öffentlicher Kommunikation im Herzogtum Preußen von 1525 bis 1618
 9783110810707, 9783110156003

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BEITRÄGE ZUR KOMMUNIKATIONSGESCHICHTE

Herausgegeben von Bernd Sösemann

BAND 7

W OE G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998

ESTHER-BEATE KÖRBER

ÖFFENTLICHKEITEN DER FRÜHEN NEUZEIT

Teilnehmer, Formen, Institutionen und Entscheidungen öffentlicher Kommunikation im Herzogtum Preußen von 1525 bis 1618

W DE _G

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einbettsaujnabme Körbet, Esther-Beate: Öffentlichkeiten der frühen Neuzeit: Teilnehmer, Formen, Institutionen und Entscheidungen öffentlicher Kommunikation im Herzogtum Preußen von 1525 bis 1618 / Esther-Beate Körber. Berlin ; New York : de Gruyter, (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte ; Bd. 7) ISBN 3-11-015600-8

© Copyright 1998 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Oas gilt insbesondere fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Druck: WB-Druck, Rieden Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

VORWORT

Am Tag, an dem ich eine mir wichtige Arbeit abschließe, möchte ich all jenen danken, die dazu beigetragen haben, daß sie entstehen konnte. An erster Stelle ist Herr Professor Dr. Bernd Sösemann in Berlin zu nennen, der mir während der schwierigen Aufbauphase seines Lehrstuhls großzügig Gelegenheit zu eigener Forschung gab und das entstehende Werk durch Zuspruch und Kritik gefördert hat. Herr Dr. Bernhart Jähnig im Geheimen Staatsarchiv und Frau Dr. Eva Bliembach in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin haben mir besonders in der Anfangs- und Schlußphase der Arbeit hilfreich beigestanden. Herrn Dr. Ernst Vogelsang, Hermannsburg, verdanke ich Hinweise auf interessante Akten zum Postwesen. Ferner bin ich den Bibliothekarinnen verpflichtet, die meine Suche nach Königsberger Drucken unterstützten oder meine Anfragen beantworteten, in Wolfenbüttel, Rostock und beiden Teilen Berlins, in Helsinki und Uppsala, Den Haag und Warschau. Die Dr. Meyer-Struckmann-Stiftung hat durch ein zweieinhalbjähriges Stipendium sichergestellt, daß ich die Arbeit ohne finanzielle Sorgen abschließen konnte. Frau Urszula Czerska und Frau Dorota Strojnska, „meine" beiden Übersetzerinnen, haben es mir möglich gemacht, die „Drukarze dawnej Polski" zu erschließen; Herr Dr. Walter Andresen in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin und Frau Nomeda Kazlauskaite aus Vilnius halfen mit ihrem Litauisch. Viele andere noch haben das Werk gefördert, durch Anteilnahme, Gespräche, Hinweise und kritische Fragen. Ihnen allen danke ich und hoffe, daß das Ergebnis auch ihre Mühe lohnt. Das Manuskript des Textes wurde im Januar 1993 abgeschlossen. Die Monographie von Andreas Gestrich: Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 103), Göttingen 1994, ist noch berücksichtigt. Ich widme diese Arbeit Frau Professor Dr. Emma Brunner-Traut und Herrn Professor Dr. Ernst Walter Zeeden, zum Dank für die so oft mir ge-

VI

Vorwort

widmete Zeit und für eine Haltung der Lehre, durch die viele die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als spannungsvolles und spannendes Zwiegespräch haben erleben können. Berlin, den 11. Dezember 1997

Esther-Beate Körber

INHALT

VORWORT

V

ABKÜRZUNGEN

XI

GRUNDSÄTZLICHE ÜBERLEGUNGEN I. Öffentlichkeitsformen in der Frühen Neuzeit

1

Π. Das Herzogtum Preußen im 16. und frühen 17. Jahrhundert

23

ΙΠ. Quellen- und Literaturbericht

36

IV. Ziele der Arbeit

47

ERSTES KAPITEL Die Öffentlichkeit der Macht I. Teilnehmerkreis

53

1. 2. 3. 4. 5.

53 60 67 71 76

Herzog und Amtleute Landstände Städte Bauern in Preußen als Teil der Macht-Öffentlichkeit Beziehungen des Herzogtums Preußen zur polnischen Krone und den Ständen Polens

Π. Kanäle der Kommunikation

86

1. Mündliche versus schriftliche Kommunikation in der Politik 2. Symbolische Kommunikation in der Politik

86 91

VIII

Inhalt

ΠΙ. Entscheidungen in der frühneuzeitlichen Macht-Öffentlichkeit am Beispiel des preußischen Landtags 1. 2. 3. 4.

Ablauf des Landtags Prinzipien der Entscheidung Geschäftsordnung und Sachentscheidungen als Ausdruck des Macht^eichgewichts Die Bildung von Ausschüssen als Indiz der Veränderung von Entscheidungsprinzipien

98 98 103 110 115

IV. Verbreitungsstrukturen: Post- und Nachrichtenwesen im frühneuzeitlichen Preußen

121

1. Verkehrsverhältnisse 2. Stufen der Entwicklung des Informationssystems a) Informationsübermittlung b) Nachrichtenbeschaffung 3. Leistungen des preußischen Post-und Nachrichtensystems

121 124 124 135 141

a) Beteiligte

141

b) Reichweite der herzoglich preußischen Post- und Nachrichtenverbindungen

146

c) Nutzung durch Privadeute

154

V. Das Verhältnis von Aikanpolitik und „Publikum"

157

1. Tendenz zur Geheimhaltung 2. Anfänge politischer Publizistik

157 159

ZWEITES KAPITEL Die Öffentlichkeit der Bildung I. Teilnehmelkreis

167

1. 2. 3. 4.

Die „Bildungspolitiker" Die tätigen Streiter DieVermitder Die Lernenden

167 169 173 177

Π. Kommunikationsformen

182

1. Mündliche lind schriftliche Kommunikationsformen 2. Symbolische Kommunikation in Kirche und Universität 3. Das Lied als Kommunikaüonsform

182 188 192

Inhalt

IX

4. Theater und verwandte Ausdrucksformen

201

5. Das öffentliche Gebet

203

Ed. Verbreitungsstrukturen: Institutionen des Buchwesens

206

1. Buchdruck

206

a) Die Entwicklung der Königsberger Druckereien

206

b) Anfänge des Verlagswesens

211

c) Wirtschaftliche Probleme der Druckereien

214

d) Umfang des preußischen Buchdrucks 2. Buchhandel

218 221

3. Geschichte der preußischen Bibliotheken bis etwa 1620

227

a) Korporative Bibliotheken

227

b) Bibliotheken einzelner

233

4. Abschreiben als Verbreitungsmodus

236

IV. Prinzipien und Methoden der Entscheidungsfindung in der Bildungs-Öffentlichkeit

241

1. Ablauf der Entscheidungsprozesse

241

2. Prinzipien der Entscheidung

243

3. Veränderung der Entscheidungsmaßstäbe von der Reformation zur Orthodoxie

248

V. Wechselseitige Beeinflussung von Macht- und Bildungs-Öffentlichkeit

253

1. Institutioneller Aufbau

253

2. Steuerungsversuche durch die Obrigkeit

261

a) Zensur

261

b) Andere obrigkeitliche Beeinflussungsversuche

273

3. Konfessionell bestimmte Bildungsinhalte als Gegenstände politischer Auseinandersetzung bis 1618

281

4. Das Eindringen „gelehrter" Entscheidungsprinzipien in die politische Kommunikation

289

DRITTES KAPITEL Die Öffentlichkeit der Informationen I. Teilnehmetkreise

297

1. „Alles Volk"

297

2. Die Sprachgemeinschaft

298

3. Die „Lesewelt"

301

Inhalt

Χ

Π. Informationsformen

305

1. 2. 3. 4. 5.

305 308 311 314 324

Information durch Tatsachen im Gegensatz zu medialer Information Signalinformation Bildliche Information Mündliche und schriftgestützte Formen der Information Schriftliche Informationsformen

ΙΠ. „Warhaffüge erschröckliche Newe Zeitung" — Kriterien der Bewertung von Informationen

336

IV. Verbreitungsstrukturen

348

V. Verhältnis zu den anderen Öffentlichkeiten

352

1. Obrigkeitliche Zensur und Informationssteuerung 2. Wechselbeziehungen zur Bildungs-Offentlichkeit 3. Einfluß der Informationen-Öffentlichkeit auf Bildung und Politik

352 358 364

ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK Geschichte der Öffentlichkeiten in der Neuzeit I. Öffentlichkeiten im 16. und frühen 17. Jahrhundert

367

Π. Von der obrigkeitlichen zur gleichheitlichen Öffentlichkeit: Die Entwicklung der Beziehungen zwischen den Öffentlichkeiten vom 17. zum 20. Jahrhundert

388

ANHANG VERZEICHNIS DER AUTOREN

407

VERZEICHNIS DER DRUCKE

423

QUELLEN-UND LITERATURVERZEICHNIS

489

ORTS-, PERSONEN- UND SACHREGISTER

521

ABKÜRZUNGEN

Bei der wörtlichen Wiedergabe von Hand- oder Druckschriften wurden standardisiert abgekürzte Wörter und Wortteile wie n[n], p[ro], p[er] stillschweigend ausgeschrieben. Durch „Schlenker" in Handschriften abgekürzte Wortteile wurden in eckigen Klammern [ ] ergänzt.

A.Z. Abt. ADB AMS Anm. ApB ARG Aufl. betr. BN BPM Brit. Bsp. Cat. d.Ä. DBA d.J. dens. Dep. ders. DKL EM

fl.

fol. gen. GStAPK HAB

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Aktenzeichen Abteilung Allgemeine Deutsche Biographie Altpreußische Monatsschrift Anmerkung Altpreußische Biographie Archiv für Reformationsgeschichte Auflage betreffend Biblioteka Narodowa Bundespostmuseum British Beispiel Catalogue der/des Altere(n) Deutsches Biographisches Archiv der Jüngere denselben Depositum derselbe Das deutsche Kirchenlied Etatsministerium Gulden folio genannt Groschen Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

Α bkürzungen

χπ HBA Hg(g). hg. HZ Konz. Mf. mk Ndr. NL Nr. o. D. o.J. Opr. Fol. pag. Psl r RGG S. SBPK sq StA Str. Suppl. SVRG ν v. VD 16

= = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = =

vgl. z.B.

= =

Herzogliches Briefarchiv Herausgeber herausgegeben Historische Zeitschrift Konzepte Mikrofilm Mark Nachdruck, Neudruck Nachlaß Nummer ohne Datierung ohne Jahresangabe Ostpreußische Folianten pagina Polski slownik biograficzny recto Religion in Geschichte und Gegenwart Seite Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin et sequens Staatsarchiv Strophe Supplement Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte verso von Verzeichnis der im deutschen Sprachgebiet erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts vergleiche zum Beispiel

Im DruckuerTeicbvs verwendete Abkürzungen Auge biogr Daub dial drama dt ethn

= = = = = = =

Augezdecki (Drucker) Biographie Daubmann (Drucker) Dialektik Drama Deutsch Völkerkunde

Abkürzungen Fabr Flbl gene geogr gesch Ψ iur LA. lat lett lit Uta Male math med milit mus natwiss NewZt Neyk O.J. occult Oste phil poet pol poln r

P rel rhetor Sege spr th thgesch thkont thmus thpoet thpol

= = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = — = = = = =

ΧΙΠ

Fabricius (Drucker) Flugblatt Genealogie Geographie Geschichtsschreibung Griechisch (Sprache) Recht, Jurisprudenz keine Angabe Latein Lettisch Literatur (Thema) Litauisch (Sprache) Maletius (Drucker) Mathematik (auch Kalender) Medizin Militaria Musikalien Nadirwissenschaft „Neue Zeitung" (Nachrichtenpublizistik) Ney(c)ke (Drucker) ohne Angabe des Druckjahrs Occulta Osterberger (Drucker) Philosophie Dichtung Politik (Thema) Polnisch (Sprache) Prußisch (fremde) Religionen Rhetorik Segebade (Drucker) Sprache, Sprachwissenschaft Theologie Kirchengeschichte Theologie/ kontrovers Kirchenmusik, geistliche Lieder geistliche Dichtung Kirchenordnungen, Mandate in geistlichen Sachen und Verwandtes

XIV

Abkürzungen

thtr

-

univ Wein

-

Theologie/ traditionell (Erbauungsliteratur und Verwandtes) universitäts-offizielle Schriften Weinreich (Drucker)

Im Autormuerzeichnis verweidete Zeichen und Abkürzungn (-)

=

vor Christi Geburt

+

= = = = = = = = = = • = = =

abgeschlossenes Studium an einer Universität kein Universitätsstudium; bei Jahresangaben: bis fraglich circa Drucker Jurist Mathematiker; Rechenmeister Am, Mediziner Musiker nach „Artist" Dichter regierender Fürst; Diplomat Theologe vor unbekannt

? c dru iur mat med mus η phi poet pol th ν xxx

GRUNDSÄTZLICHE ÜBERLEGUNGEN I

Offentlichkeitsformen in der Frühen Neuzeit Seit die Kulturgeschichtsschreibung im letzten Jahrhundert ihr Interesse für die Flugschriften der Reformationszeit entdeckte, faszinieren die Äußerungsformen der „Öffentlichkeit" im Jahrhundert der Reformation Historiker und Kommunikationswissenschaftler. Die Faszination beruhte darauf, daß man annahm, damals sei zum ersten Mal das Phänomen der Öffentlichkeit aufgetreten, das in der eigenen Gegenwart so große Bedeutung hatte1. Flugschriften und Flugblätter wurden als Vorläufer oder Frühformen der Zeitung reklamiert2, und gelegentlich entstand der Eindruck, als führe eine ungebrochene Entwicklungslinie von dem aufgeweckten Bauern der Reformationszeit als Flugschriftenleser zur „Öffentlichkeit" des modernen Zeitungs-Lesepublikums3. Bei näherer Betrachtung stellte sich freilich heraus, daß sowohl der Begriff „Öffentlichkeit" als auch die Erscheinungsformen der öffentlichen Kommunikation, des Meinungsaustausches und der Nachrichtenverbreitung sich im Laufe der Jahrhunderte gewandelt haben und die „reformatorische Öf1 Bsp.: Prutz, R[obert] E[duard]: Geschichte des Journalismus, Zum ersten Male vollständig aus den Quellen gearbeitet, Erster Theil, Hannover 1845, 15—17. 2 Prutz 98 £.; Schottenloher, Karl: Flugblatt und Zeitung. Ein Wegweiser durch das gedruckte Tagesschrifttum, Bd. I, Von den Anfängen bis zum Jahre 1848, Neu herausgegeben, eingeleitet und ergänzt von Johannes Binkowski (Bibliothek für Kunstund Antiquitätenfreunde, Bd. XXI), München (1985), 18; Schmidt, Wieland: Die Anfänge: 15. und 16. Jahrhundert, in: Dovifat, Emil (Hg.): Handbuch der Publizistik, Bd. 3, Praktische Publizistik, 2. Teil, Berlin 1969, 66—68. 3 So referiert bei Ukena, Peter: Tagesschrifttum und Öffentlichkeit im 16. und 17. Jahrhundert in Deutschland, in: Presse und Geschichte [1]. Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung. Referate einer internationalen Fachkonferenz der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Deutschen Presseforschung/Universität Bremen (Studien zur Publizistik, Bremer Reihe, Deutsche Presseforschung, hg. v. Elger Blühm, Bd. 23), München 1977, 35.

2

Grundsätzliche Überlegungen

fentlichkeit"4 sich mit der heutigen kaum vergleichen läßt. Auch wurde darauf hingewiesen, daß die Flugschriftenpublizistik nur einen kleinen Teil dessen darstellt, was öffentlich genannt werden kann und muß5. Es ist aber bis jetzt noch nicht versucht worden, für die Zeit vor dem Absolutismus zu beschreiben und zu definieren, was Öffentlichkeit nach Begriff und Erscheinungsformen insgesamt bedeutete und worin sich die Öffentlichkeit der Frühen Neuzeit von der heutigen unterscheidet6. Zwei Schwierigkeiten stellen sich einem solchen Unternehmen entgegen. Die eine liegt im damaligen, die andere im heutigen Sprachgebrauch begründet. Die erste Schwierigkeit besteht darin, daß es den Begriff „Öffentlichkeit" im 16. Jahrhundert noch nicht gab. Die Zeit kannte zwar das Adverb „öffentlich", das „offen", aber auch „allgemein sichtbar und zugänglich" bedeutete7, und das lateinische Adjektiv „publicus" als Gegenbegriff zu „privatus"8. Das zugehörige Abstraktum „Öffentlichkeit" war aber unbekannt; „publicitas" kommt in den Akten nicht vor. Wer untersuchen will, was „Öffentlichkeit" im 16. Jahrhundert hieß und wie sie sich ausprägte, muß also einen späteren Begriff auf die frühere Zeit übertragen. Das gelingt immer nur mit Einschränkungen; die Erscheinungen der früheren Zeit lassen sich mit noch so genauen Definitionen heutiger Begriffe weder beschreiben noch erklären. Will man ein Bild davon erhalten, was „Öffentlichkeit" im 16. Jahrhundert war, so darf man nicht erwarten, heutige Erscheinungsformen von Öffentlichkeit uneingeschränkt und bis in Einzelheiten genau in der Reformationszeit wiederzufinden. Vielmehr muß man den Definitionen eine gewisse Unscharfe zugestehen. Sucht man in der Reformationszeit nicht nach paral4 Ausdruck bei Wohlfeil, Rainer: „Reformatorische Öffentlichkeit", in: Grenzmann, Ludger/Stackmann, Karl (Hgg.): Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981 (Germanistische Symposien, Berichtsbände, hg. v. Albrecht Schöne, Bd. V), Stuttgart (1984), 41—52; Diskussionsbericht dazu von Günter Peperkorn ebenda 53 f. 5 Benzinger, Josef: Zum Wesen und zu den Formen von Kommunikation und Publizistik im Mittelalter. Eine bibliographische und methodologische Studie, in: Publizistik 15/1970, 303. 6 Nach Fertigstellung dieser Arbeit erschien die Monographie von Gestrich, Andreas: Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 103), Göttingen 1994. Sie wird in bezug auf den Öffentlichkeitsbegriff noch berücksichtigt. 7 Wohlfeil, Reformatorische Öffentlichkeit, 47; Martens, Wolfgang: Öffentlich als Rechtsbegriff, Bad Homburg v. d. H./Berlin/Zürich (1969), 24. 8 Martens, Öffentlich, 25; 29.

Öffentlichkeitsformen in der Frühen Neuzeit

3

lelen, sondern nach analogen oder verwandten Erscheinungen zur heutigen „Öffentlichkeit", so wird sich eher ein Bild ergeben. Die zweite Schwierigkeit liegt darin, daß der heutige Sprachgebrauch die Worte „öffentlich" und „Öffentlichkeit" nicht eindeutig definiert. Das deutsche Begriffspaar „öffentlich/Öffentlichkeit" ebenso wie das englische „public/the public" hat drei Grundbedeutungen. „Öffentlich" werden erstens Dinge und Vorgänge genannt, die mit der Ausübung von Macht über größere Gruppen von Menschen in Zusammenhang stehen9. Zweitens nennt man Meinungen öffentlich, die als der staatlichen Gewalt gegenüberstehend angesehen werden und für das Leben der Gesellschaft maßgeblich oder bedeutsam sind10. Drittens heißt „öffentlich" alles, was allgemein zugänglich ist. In jeder der drei Grundbedeutungen kann „Öffentlichkeit" wiederum drei verschiedene Spezialbedeutungen haben. „Öffentlichkeit" läßt sich erstens als Abstraktum, als Eigenschaft von Dingen oder Vorgängen verstehen. Mit „Öffentlichkeit" wird aber auch die Gesamtheit der Personen bezeichnet, welche die Eigenschaft der „Öffentlichkeit" haben oder sich mit den „öffentlichen" Dingen und Vorgängen beschäftigen. Schließlich kann „Öffentlichkeit" „die geistigen Inhalte" bezeichnen, die in „der Öffentlichkeit" jeweils diskutiert, verhandelt oder bearbeitet werden11. Das Bedeutungsfeld von „Öffentlichkeit" umfaßt also drei Grundbedeutungen, innerhalb derer mit „Öffentlichkeit" jeweils eine abstrakte Eigenschaft, ein Personenkreis oder eine Gruppe von Diskussionsthemen gemeint sein kann. Diese Arbeit wird „Öffentlichkeit" zunächst entsprechend der drei Grundbedeutungen untersuchen müssen: erstens Öffentlichkeit als etwas „Staatliches" im weitesten Sinne; zweitens Öffentlichkeit als etwas Maßgebliches und das gemeinschaftliche Leben Bestimmendes und drittens Öffentlichkeit als die „Unmöglichkeit, auszuschließen" („impossibility

9 Ahnlich Rusciano, Frank Luis: Isolation and Paradox. Defining „The Public" in Modern Political Analysis, New York/Westport, Connecticut/London (1989), 5. In der Diskussion um Wohlfeil, Reformatorische Öffentlichkeit, führte Wohlfeil an, daß es auch „eine politisch-obrigkeitliche Öffentlichkeit" gebe, die „besonders in ihrer Propaganda faßbar würde", Wohlfeil, Reformatorische Öffentlichkeit, Diskussionsbericht, 53; auch Gestrich 19. Zum Folgenden vgl. auch Martens, Öffentlich, 22; 33; 38 f.

Wohlfeil, Reformatorische Öffentlichkeit, 41. Dovifat, Emil: Handbuch der Publizistik, Bd. 1, Allgemeine Publizistik, Zweite, durchgesehene Auflage, Berlin 1971, 16. Dovifat bezeichnet ebenda auch unartikulierte Meinungen als öffentlich, allerdings ohne besondere Begründung. 10 11

4

Grundsätzliche Überlegungen

of exclusion"), wie Frank L. Rusciano formuliert hat12. Innerhalb dieser drei Grundbedeutungen gilt das Augenmerk jeweils den teilnehmenden Personen oder Institutionen und den Themen der Debatte in der jeweiligen Öffentlichkeit. Da es für jeden Aspekt von Öffentlichkeit jeweils charakteristisch war und ist, wie diese Debatte abläuft, müssen auch die Eigenheiten der Debatte betrachtet werden: die besonderen Formen der Kommunikation; die Regeln, nach denen verhandelt und entschieden wurde; die Möglichkeiten der Informationsverbreitung und zuletzt die Art, wie verschiedene Teilnehmerkreise, Themen und Kommunikationsformen aufeinander einwirkten, einander durchdrangen, förderten und gelegentlich auch störten. In der ersten Grundbedeutung hat „Öffentlichkeit" mit der Macht oder Verfügungsgewalt über größere Gruppen von Menschen zu tun. Jürgen Habermas kennzeichnete diese Öffentlichkeitsform mit Bezug auf die Frühe Neuzeit als Repräsentation von Herrschaft vor dem Volk 13 im Gegensatz zur bürgerlichen Öffentlichkeit, die sich im Gefolge von Manufakturkapitalismus und Aufklärung herausgebildet habe14. Der Begriff der Repräsentation von Herrschaft vor dem Volk läßt sich sehr einleuchtend auf die absolutistische Herrschaftsauffassung Ludwigs XIV. anwenden, eventuell auch auf bestimmte Aspekte der Papstkirche. Die Übertragung des Begriffs „Repräsentative Öffentlichkeit" auf das 16. Jahrhundert stößt jedoch auf Schwierigkeiten. Schon den Begriff „Herrschaft" im absolutistischen Sinne gab es im 16. Jahrhundert noch nicht. Das Wort „Herrschaft" war im Deutschen des 16. Jahrhunderts kein Abstraktum, sondern bezeichnete die Angehörigen einer regierenden Familie, die Gerechtsame oder den Machtbereich eines Herrn 15 , in Preußen auch die Angehörigen eines herausgehobenen Standes, der

12

Rusciano 5.

13

Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer

Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (Darmstadt und Neuwied (17)1987, 20. Mit diesem Begriff arbeitet auch Brüning, Rainer: Herrschaft und Öffentlichkeit in der Herzogtümern Bremen und Verden unter der Regierung Karls ΧΠ. von Schweden 1697—1712, Stade 1992, Erläuterungen zum Begriff ebenda, S. 8. 14

Habermas 2 8 - 4 1 .

15

Koselleck, Reinhart: Herrschaft, Einleitung, in: Brunner, Otto/Conze, Wer-

ner/Koselleck, Reinhart (Hgg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3 (Stuttgart 1982), 2 f.; Günther, Horst: .Herrschaft' von der frühen Neuzeit bis zur Französischen Revolution, [Abschnitt] I.—ΙΠ., ebenda 15.

Öffentlichkeitsformen in der Frühen Neuzeit

5

„Herren"16. „Herrschaft" als Rechtsverhältnis wurde im 16. Jahrhundert ebenfalls anders verstanden als in späterer Zeit. Der absolutistische Begriff von Herrschaft schließt ein, daß der Herrscher nur an das göttliche Recht gebunden ist und sich nicht unbedingt an die Anordnungen halten muß, die er selbst erlassen hat. Die „Herrschaft" des 16. Jahrhunderts kannte keine „souverainete absolue"17. Das Verhältnis der „Herrschaft" band den Herrn ebenso wie den Untergebenen. Der Herr verpflichtete sich zu „Schutz und Schirm", zu politischem und militärischem Schutz vor allem, der Untertan zu „Rat und Hilfe", vor allem zu Natural- und Geldleistungen18. Das Verständnis von Herrschaft als eines beiderseits bindenden Rechtsverhältnisses herrschte im 16. Jahrhundert in Mitteleuropa noch vor und prägte Handlungen und Denkweisen der politisch Handelnden auf allen Ebenen. Versuche der Herren, das Rechtsverhältnis zugunsten ihrer eigenen „Souveränität" und Unabhängigkeit zu verändern, führten regelmäßig zu Konflikten. Beispiele dafür sind die Auseinandersetzungen zwischen Grundherren und Bauern im Bauernkrieg19, aber auch die Kämpfe zwischen einem Landesherrn und dem landsässigen Adel, wie in Preußen etwa unter Herzog Georg Friedrich (1577/78—1603)20. Herrschaft, als wechselseitig bindendes Verhältnis verstanden, schloß den Gedanken der Souveränität aus. Die „Herrschaft" ohne Souveränität konnte nicht „vor" dem Volk repräsentiert werden, weil sie ohne die aktive Beteiligung der Beherrschten nicht hätte bestehen können. Die umständliche Prozedur der Huldi16

Bsp.: Regimentsnotel, Privilegia 53 v.

17

Vgl. auch Koselleck, Herrschaft, 2.

18

Schulze, Winfried: Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen

Neuzeit (Neuzeit im Aufbau. Darstellung und Dokumentation. Hg. von Richard van Dülmen, Jörn Rüsen und Winfried Schulze, Bd. 6, Stuttgart-Bad Canstatt 1980), 6 2 — 64; 86. Schulze 64 sieht diese Herrschaftsauffassung im 16. Jahrhundert schon auf dem Rückzug. Sie erklärt aber noch viele Phänomene der Herrschaftsausübung und des politischen Lebens des 16. Jahrhunderts. 19

Wunder, Heide: Zur Mentalität aufständischer Bauern. Möglichkeiten der Zu-

sammenarbeit von Geschichtswissenschaft und Anthropologie, dargestellt am Beispiel des Samländischen Bauernaufstandes von 1525, in: Wehler, Hans-Ulrich (Hg): Der Deutsche Bauernkrieg 1524—1526 (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 1), Göttingen (1975), 30 f. 20

Petersohn, Jürgen: Fürstenmacht und Ständetum in Preußen während der Regie-

rung Herzog Georg Friedrichs 1578—1603 (Marburger Ostforschungen, hg. im Auftrage des Johann Gottfried Herder-Forschungsrates e. V. von Hellmuth Weiss, Bd. 20), Würzburg 1963.

6

Grundsätzliche Überlegungen

gung beim Amtsantritt eines neuen Herrschers21 macht deutlich, daß die persönliche Zustimmung der Regierten zur Amtsübernahme des Herrschers als unabdingbar notwendig angesehen wurde. Der Antritt der Herrschaft vollzog sich nicht „vor" den Regierten — wobei sie nur passiv als Zuschauer und Applaudierende hätten zustimmen können und müssen —, sondern mit ihnen. Demnach kann man in Bezug auf die Öffentlichkeit des 16. Jahrhunderts schwerlich von Repräsentation sprechen. Ludwig XIV. repräsentierte seine Herrschaft wirklich „vor" dem Volk, indem sogar intime Vorgänge wie das Lever und Coucher zu öffentlichen, „repräsentativen", Vollzügen stilisiert wurden. Durch solche Stilisierung unterscheidet sich nach Habermas die repräsentative Öffentlichkeit des Absolutismus von der stärker „bürgerlichen" der Renaissance22. Ferner repräsentieren die „öffentlichen Personen", die im Rahmen repräsentativer Öffentlichkeit handeln, stets eine abstrakte Größe von hohem Wert23, etwa die Souveränität oder „den Staat". Die politisch Handelnden des 16. Jahrhunderts repräsentierten aber nicht in dem von Habermas gemeinten Sinn. Sie kannten weder die Stilisierung intimer Vorgänge zu öffentlichen noch überhaupt das politische Abstraktum, das sie hätten repräsentieren können. Sie wiesen nicht auf etwas Abstraktes von öffentlicher Bedeutung hin, sondern sie „waren" öffentliche Charaktere, eben „die Herrschaft". In seiner begriffsgeschichtlichen Untersuchung über „Land und Herrschaft" hat Otto Brunner24 unter anderem gezeigt, daß die politischen Begriffe des Mittelalters wie „Land", „Stand", „Freundschaft" nicht Abstrakta, sondern Konkreta waren. Person und politische Funktion wurden nicht getrennt gedacht, sondern vereinigt gesehen. Für die politische Begriffswelt des Mittelalters — und in hohem Maße noch des 16. Jahrhunderts — gab es keine politischen Abstrakta, die durch konkrete Personen hätten repräsentiert werden können, sondern Begriff und Person fielen in eins zusammen. Die Angehörigen des Herrenstandes waren „die Herrschaft", die Landbesitzer waren „das Land", die zur Rechtshilfe 21 Bsp.: Beschreibung des Huldigungsritts 6. bis 8. Juni 1578, Opr. Fol. 534, 11 r— 12 v; Formel eines Huldigungseides HBA J 3 1023, loses Blatt. Auf die Bedeutung der Huldigung noch im 18. Jahrhundert weist Gestrich 118—120 hin. 22 Habermas 22 f. 23 Habermas 20. 2 4 Brunner, Otto: Land und Herrschaft. Grundlagen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter. Vierte, veränderte Aufl., Wien/Wiesbaden (1959).

Öffentlichkeitsformen in der Frühen Neuzeit

7

verpflichteten Personen „die Freundschaft". Sinngemäß könnte man ergänzen, daß für das politische Denken des 16. Jahrhunderts „die Öffentlichkeit" — die es als Begriff noch nicht gab — als die Gesamtheit der „öffentlichen Personen" verstanden werden kann. Brunners Untersuchung erweist sich auch als hilfreich für die Aufgabe, den Kreis der „öffentlichen Personen" zu bestimmen. Brunner stellt fest, daß im frühen Mittelalter nur der König — in einem einzelnen Territorium der Landesherr — als „persona publica" galt25. Erst später wurde der Begriff „publicus" auf andere „herrschaftliche" Personen, Dinge oder Verhältnisse übertragen26. Die Trennlinie zwischen Öffentlich und Privat verlief jedoch anders als im 18. Jahrhundert. Brunner nennt vier Charakteristika, die im Mittelalter die „persona publica" auszeichneten27: 1. rechtliche Verfügungsgewalt über Untergebene; 2. das Recht und die Fähigkeit, im Bereich ihrer Verfügungsgewalt für Frieden zu sorgen, ζ. B. für den Landfrieden oder den Hausfrieden; 3. Immunität. Immunität bedeutete, daß in den Bereich der Verfügungsgewalt einer „persona publica" von außen nicht oder wenigstens nicht ungestraft eingegriffen werden durfte. Infolgedessen genoß die „persona publica" 4. Selbständigkeit gegenüber den außer ihr stehenden Gewalten. Die „personae publicae" standen einander als „Völkerrechtssubjekte" gegenüber28. Die Kombination von rechtlicher Verfügungsgewalt, Friedensgewährung, Immunität und Selbständigkeit kann man als „Macht" bezeichnen. Im 16. Jahrhundert war Macht nicht Selbstzweck, sondern an das Recht gebunden — dessen göttlicher Ursprung noch weitgehend geglaubt wurde — und ohne Bindung an das Recht undenkbar. Durch das Recht gebundene Macht kennzeichnete die „öffentliche Person" und machte sie überhaupt erst öffentlich. „Macht" konstituierte die Öffentlichkeit. Der Kreis der „öffentlichen Personen" insgesamt sowie der Bereich ihrer

25

Brunner 123.

26

Hölscher, Lucian: Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Un-

tersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit (Sprache und Geschichte, hg. v. Reinhart Koselleck und Karlheinz Stierle, Bd. 4), (Stuttgart 1979), 53. 27

Zur rechtlichen Verfügungsgewalt vgl. Brunner 113; 253; 256; 257; 266; zur Frie-

denswahrung ebenda 51 f. (Fehderecht) und 95 f.; zum Haus als Friedensbezirk 256; zur Immunität ebenda 283; 289 f; 334—336; zur Selbständigkeit ebenda 4; 130; 253. 28

Brunner 17; 145 f.; 352.

Grundsätzliche Überlegungen

8

Handlungen und Wirkungen wird daher im folgenden als „Öffentlichkeit der Macht" bezeichnet. Wie Brunner weiter feststellt, wiesen im Mittelalter nicht nur Territorialherren im engen Sinne und in großem Maßstab die Charakteristika einer „öffentlichen Person" auf. Herren verschiedensten Ranges und Verfügungsbereichs, vom Kaiser bis zum einfachen Hausherrn, waren „öffentliche" Personen. Es gab also nicht eine scharfe Trennlinie zwischen schlechthin Öffentlichem und schlechthin Privatem, sondern nur verschiedene Grade von Öffentlichkeit29. Je größer und je höher im Rang der Bereich der Verfügungsgewalt einer Person war, in desto höherem Grade war sie „öffentliche Person". Die niederste öffentliche Gewalt übte der Hausherr über Ehefrau, Kinder und Gesinde30. Die Öffentlichkeit der Macht hatte also mehrere Schichten größerer oder geringerer Öffentlichkeit. Es gab dabei zwar schlechthin private Personen, zum Beispiel Frauen, Kinder und Lohnabhängige, aber keine schlechthin öffentlichen Personen, sondern nur mehr oder minder öffentliche. Dieses Verständnis von Öffentlichkeit und öffentlicher Gewalt läßt sich mit wenigen Veränderungen auf das 16. Jahrhundert übertragen. Die Abstufungen öffentlicher Gewalt bestanden fort. Allerdings muß man entschiedener als Brunner die städtischen Obrigkeiten als „öffentliche Personen" in die Erörterungen einbeziehen. Auch versuchten die Landesherren zunehmend, die Charakteristika der „öffentlichen Person" auf sich zu konzentrieren und damit die minder öffentlichen Personen ihres öffentlichen Charakters zu berauben und sie auf den Status von „Privatleuten" herabzudrücken. Kraft Landfriedensordnungen und Fehdeverbot seit dem Ende des 15. Jahrhunderts übernahmen die Landesherren den Friedensschutz auch für die Herrschaftsgebiete ihrer Untergebenen mehr und mehr selbst, obgleich die Bewaffnung von Bauern noch selbstverständlich war31. Obrigkeitliche Bauernschutzpolitik und die Vorschriften der Landesordnungen höhlten die Verfügungsgewalt von Dorfherren und Stadtobrigkeiten über ihre Untergebenen allmählich aus. Zur völligen „Privatisierung" aller Untertanen kam es aber nicht. Neben Elementen des neuzeitlichen Untertanenverbandsstaats — 29

Brunner 243.

30

Dazu vgl. auch Koselleck, Herrschaft, 3.

31

Horn, Alexander]: Die Verwaltung Ostpreußens seit der Säcularisation 1 5 2 5 —

1875. Beiträge zur deutschen Rechts-, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Königsberg 1890, 224.

Öffentlichkeitsformen in der Frühen Neuzeit

9

ihn einen Flächenstaat zu nennen, bedeutete eine unzulässige Abstraktion und Verengung — bestand das aus dem Mittelalter überkommene System abgestufter öffentlicher Gewalten weiter. Der erste Teil dieser Arbeit soll beschreiben und analysieren, wer im Preußen des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts zum Kreis der „öffentlichen Personen" gehörte, wie diese „Öffentlichkeit" strukturiert war und welcher Kommunikationsformen und Prozesse sie sich bediente bzw. durch welche sie sich bildete und aufrechterhielt. Zwar lebt das obrigkeitliche Verständnis von „Öffentlichkeit" in festen Wortbildungen wie „öffentliche Hand", „öffentlicher Dienst", „öffentliche Gewalt" weiter. Das gegenwärtige deutsche Wort „Öffentlichkeit" umfaßt jedoch noch weitere Bedeutungen. Wenn heute davon gesprochen wird, daß „die Öffentlichkeit" ein politisches Ereignis mit Genugtuung oder Empörung zur Kenntnis genommen habe, so bedeutet „die Öffentlichkeit" weder den Kreis von Gewalthabern in politischen Herrschaftsfunktionen noch schlechthin „alle", wie es die Grundbedeutung des Wortes „öffentlich" nahelegt. Gemeint ist vielmehr eine begrenzt gedachte, aber nicht genau bestimmbare Gruppe von Menschen, auf die „es ankommt" und deren Äußerungen als „öffentliche Meinung" zur Kenntnis genommen werden müssen, wenn — und weil — sich Herrschaft vor ihnen legitimieren muß32. Den Zusammenhang zwischen Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung hat Rainer Wohlfeil33 vor Augen, wenn er definiert, Öffentlichkeit sei die „Bezeichnung jener Allgemeinheit in gesellschaftlichen Kommunikations-, Informations- und Partizipationsprozessen, die eine .öffentliche Meinung' als Gesamtheit der gegenüber Staat und Gesellschaft formulierten [...] Ansichten, Wünschen und Absichten der Mitglieder einer sozialen Einheit entstehen und fortwährend wirksam werden läßt".

Zeeden, Ernst Walter: Hegemonialkriege und Glaubenskämpfe. 1556—1648 (Propyläen Geschichte Europas, Bd. 2), (Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1975), 9, spricht von einer „dünnen, aber wichtigen Schicht der gebildeten Geistlichen und Laien", um die „Öffentlichkeit" des 16. Jahrhunderts zu charakterisieren. Ahnlich definieren allgemein Everth 4 f. und Habermas 90 f. 32

33

Wohlfeil, Reformatorische Öffentlichkeit, 41.

Grundsätzliche Überlegungen

10

Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts34 kann der Begriff „Öffentlichkeit" diese Bedeutung haben. Es ist aber bis heute schwierig, anzugeben, welcher Personenkreis diesen Aspekt von Öffentlichkeit trägt und worin seine besonderen Kennzeichen bestanden oder bestehen, die ihn von anderen Aspekten der Öffentlichkeit unterscheiden. Habermas nennt die der staatlichen Gewalt entgegengesetzte Öffentlichkeitsform die bürgerliche im Gegensatz zur repräsentativen des Absolutismus35. Als Prinzip der Entstehung bürgerlicher Öffentlichkeit nimmt er an, daß die als Privatleute betrachteten Menschen sich in der Privatsphäre eine neue Schicht der Gesellschaftsbeziehungen erschlossen36. Diese Schicht nennt Habermas „publikumsbezogene Subjektivität" 37 oder „publikumsbezogene Privatheit" 38 . Sie steht für ihn gleichsam zwischen der intimen Sphäre und der als öffentlich definierten Staatsgewalt39. In dieser Schicht werden die Privatleute fähig, die Legitimität von Herrschaft zum Thema der Diskussion zu machen40. Damit entsteht nach Habermas die „öffentliche Meinung" 41 . Sie zwingt mit zunehmender Stärke und Bestimmtheit auch die „öffentliche Gewalt", auf sie Rücksicht zu nehmen42. Die Öffentlichkeit macht nach Habermas die Herrschaftslegitimation im ,,öffentliche[n] Räsonnement" 43 zum Thema. Einmal definiert das Räsonnement Legitimität prinzipiell, indem es festlegt, unter welchen Bedingungen ein Gesetz oder eine Herrschaftsmaßnahme als legitim angesehen werden kann. Als Beispiel nennt Habermas die Diskussion über

34

Hölscher, Lucian: Öffentlichkeit, in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck,

Reinhart (Hgg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, (Stuttgart 1978), 413. 35

Habermas 31—33.

36

Habermas 33; 42—44.

37

Habermas 44.

38

Habermas 60; 69.

39

Habermas 39; 43 f.

40

Habermas 42; 48; 52 f.; 103 f. Gestrich verwendet den Begriff „Öffentlichkeit"

ebenfalls im Zusammenhang mit Herrschaftslegitimation, bringt ihn aber auch mit dem Phänomen allgemeiner Zugänglichkeit von Taten der Herrscher in Verbindung (Gestrich 11 f.). Eine begriffliche Unterscheidung zwischen den beiden Formen von „Öffentlichkeit" wird nicht getroffen. Sie erweist sich aber für die Erforschung des 16. Jahrhunderts als unabdingbar. 41

Habermas 45 f.; 72 f.

42

Habermas 40; Beispiele: die englische Entwicklung (ebenda 80) und die französi-

sche (ebenda 89). 43

Habermas 42.

Öffentlichkeitsformen in der Frühen Neuzeit

11

die Maßstäbe der Gesetzgebung im Frankreich des 18. Jahrhunderts44. Zum andern legitimiert die Öffentlichkeit Herrschaft inhaltlich, indem sie darüber debattiert, was staatliche Gewalt um des öffentlichen Wohles willen zu tun hätte45. Das besondere Kennzeichen der bürgerlichen Öffentlichkeit ist also nach Habermas die Diskussion über die Grundlagen und Erfordernisse politischer Herrschaft. Der Personenkreis der bürgerlichen Öffentlichkeit umfaßt alle Menschen, die an dieser Diskussion teilnehmen. Ein ähnliches Konzept von Öffentlichkeit liegt Erich Everths Buch „Die Öffentlichkeit in der Außenpolitik von Karl V. bis Napoleon" zugrunde46. Everth bezeichnet Stellungnahmen als öffentlich, die die erkennbare Absicht hatten, auf die Politik zu wirken47. Beide, Everth und Habermas, kennzeichnen die von ihnen gemeinte „Öffentlichkeit" durch dieselben Charakteristika: Sie habe erstens eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den Trägern von Macht48, sei zweitens auf ein „Publikum" bezogen, das über den Kreis der Teilnehmer an „öffentlicher Gewalt" hinausreiche49; und sie lege drittens in Form und Inhalt fest, was „legitime", rechtmäßige, „richtige" Herrschaft sei und wie sie sich zu äußern habe50. Habermas beschreibt als Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit auch gesellschaftliche Institutionen, die den bürgerlichen Salons nur strukturell analog sind, wie zum Beispiel die Musikkritik und das Theater51 und überhaupt das gesamte „literarische Räsonnement"52. Solche strukturellen Analogien lassen sich nicht auf frühere oder spätere Zeiten übertragen. Es gab im 16. Jahrhundert keine Salons oder Lesegesellschaften und kaum literarisches Leben außerhalb der Kirche. Eine bürgerliche Öffent-

44

Habermas 72 f.

45

„Konsens über das im allgemeinen Interesse praktisch Notwendige" (Habermas

105); Diskussion von Regierungs- und (in England) Parlamentsmaßnahmen (ebenda

80 £.) 46

Everth, Erich: Die Öffentlichkeit in der Außenpolitik von Karl V. bis Napoleon

(Politik und Öffentlichkeit. Beiträge zur Lehre von der Publizistik, Jena 1931). 47

Everth 1; 16. Kriterien für die Ermittlung dieser Absicht gibt Everth allerdings

nicht an. 48

Everth 2, Habermas 69.

49

Everth 2; 11; 16; Habermas 70—72.

50

Everth 2—16; Habermas 70—73.

51

Habermas 54—58.

52

Habermas 69.

12

Grundsätzliche Überlegungen

lichkeit im Sinne Habermas' existierte im 16. Jahrhundert nicht. Aber auch das 16. Jahrhundert diskutierte über die Grundlagen sinnvollen Herrschens und über Form und Inhalt der Maßnahmen, die dafür getroffen werden sollten. Die Grenzlinie zwischen Öffentlich und Privat verlief zwar im 16. Jahrhundert anders als im achtzehnten. Aber auch zur Zeit der Reformation und der Glaubenskämpfe gab es eine „Öffentlichkeit", welche die von Everth und Habermas genannten Kennzeichen aufwies: Unabhängigkeit, Orientierung an einem Publikum und Legitimation von Herrschaft. Die Herrschaft legitimierende Macht schlechthin, teilweise unabhängig von den Trägern politischer Macht und dennoch sie einschließend, war im 16. Jahrhundert die christliche Religion. Sie wurde, trotz der Konfessionskämpfe, als Grundlage aller rechtmäßigen Herrschaft allgemein anerkannt, legitimierte die Herrschaft also in noch umfassenderem Sinne, als es die bürgerlichen Salons im 18. Jahrhundert konnten. Religiöse Äußerungen berührten im Reformationszeitalter und weit darüber hinaus auch die Lehre von der politischen Herrschaft. Die christliche Religion in konfessioneller Auslegung beantwortete die Frage, unter welchen Voraussetzungen Herrschaft „recht" sei und was die Regierenden dafür zu tun hätten. Insofern hatte das Christentum gerade im 16. Jahrhundert öffentliche Bedeutung, war und bildete „öffentliche Meinung", sogar ohne sich wie die bürgerlichen Salons auf neue Strukturen stützen zu müssen. Christliche Amtsträger wandten sich in Gottesdienst, Predigt und Katechese an ein Publikum, das die Inhaber „öffentlicher Gewalt" einschloß, traten den Machtträgern also in einer gewissen Unabhängigkeit gegenüber. Zudem vollzog sich im säkularisierten Preußen die Trennung von politischer Macht und religiösem Amt besonders radikal: Die Bischöfe verzichteten zugunsten des Herzogs auf ihre weltlichen und territorialen Herrschaftsbefugnisse53; und nach dem Tod der letzten „Prälaten" erhielten Geistliche auch keine Landstandschaft mehr54. Die christliche Religion und — in Preußen — die neu entstehende lutherische Kirche erfüllen also die Charakteristika, die sowohl von Habermas als auch von Everth einer herrschaftlegitimierenden „Öffentlichkeit" zugeschrieben werden. Regimentsnotel, Privilegia 51 v. Gause, Fritz: Die Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen, I. Bd.: Von der Gründung der Stadt bis zum letzten Kurfürsten (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart, hg. vom Johann Gottfried Herder-Forschungsrat, Schriftleitung: Ernst Birke, 10/]), Köln/Wien 1972, 230. 53

54

Öffentlichkeitsformen in der Frühen Neuzeit

13

„Kirche" darf dabei nicht als Gemeinschaft ausschließlich der Kleriker oder berufenen Prediger mißverstanden werden. Gerade in den konfessionell-polemisch aufgeregten Zeiten beschränkte sich die religiöse Debatte nicht auf die Amtsträger. Laien mit oder ohne theologische Vorbildung griffen teilweise mit maßgeblichen Äußerungen in die Debatten ein wie etwa der Mathematiker Matthias Lauterwald, der mit seinen Thesen den Streit um die Theologie Oslanders auslöste55. Die Laien nahmen wie die Amtsträger teil an der herrschaftlegitimierenden Öffentlichkeit. Diese Öffentlichkeitsform mit Habermas als „bürgerlich" zu kennzeichnen, würde für das 16. Jahrhundert freilich in die Irre führen. Gab es doch damals weder ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein des Bürgers als eines Individuums noch ein bürgerliches Standes- oder Klassenbewußtsein. Eher könnte man schon von einer christlichen Öffentlichkeit sprechen, da sie auf dem Grund des Christentums stand oder zu stehen behauptete. Darin unterschied sie sich aber nach damaligem Verständnis nicht von der Öffentlichkeit der Macht; denn auch die Machtträger begriffen sich als „christliche Obrigkeiten". Um die herrschaftlegitimierende Öffentlichkeit genau zu bezeichnen, muß man sie nach der Eigenschaft benennen, durch die sie gerade im 16. Jahrhundert konstituiert wurde und sich von anderen „Öffentlichkeiten" grundsätzlich unterschied. Diese unterscheidende Eigenschaft war im 16. Jahrhundert die Orientierung an einem religiös-erzieherischen Ideal, einem Ziel, zu dem die herrschaftlegitimierende Öffentlichkeit alle Menschen bilden wollte. Religion und Kirche, Erziehung, Unterricht und Wissenschaft standen im Dienst der Aufgabe, ein von der christlichen Tradition vorgegebenes, jetzt neu verstandenes Ideal vom Menschen vorzuleben und weiterzugeben. Anders als die Öffentlichkeit der Macht hatte die herrschaftlegitimierende Öffentlichkeit diese Aufgabe ausschließlich und verpflichtend. „Personae publicae" konnten zwar an dem religiösen Bildungsprogramm mitwirken, etwa Schulen oder Universitäten gründen, auf Unterrichtsfächer oder die Ausbildung von Pfarrern oder Lehrern Einfluß nehmen. U m ihre Maßnahmen zu rechtfertigen, konnten sich die Machtträger aber nicht auf Argumente der Politik und der staatlichen Gewalt berufen. Vielmehr stellten sie sich ausdrücklich in den Dienst des religiösen

55

Fligge, Jörg Rainer: Herzog Albrecht von Preußen und der Osiandrismus 1 5 2 2 —

1568, Diss, ph.il. Bonn 1972, 57.

14

Grundsätzliche

Überlegungen

Erziehungsprogramms, das die herrschaftlegitimierende Öffentlichkeit ihnen vorschrieb. In ihr konnten Personen, Institutionen und Ideen nur insoweit Einfluß gewinnen, als sie sich dem religiösen und pädagogischen Programm unterwarfen, wie es Humanismus und Konfessionskirchen in wechselnder Stärke, aber mit weitgehendem Geltungsanspruch definierten. Die Gesamtheit der vermittelten Inhalte und ihre Orientierung auf ein Menschenbild und ein erzieherisches Ideal kann man mit dem Ausdruck „Bildung" bezeichnen. Das Charakteristikum von Bildung liegt nicht in ihren besonderen Inhalten, sondern darin, daß die Inhalte in einer für sinnvoll gehaltenen Weise geordnet und vielfach aufeinander und auf das umfassende Menschenbild bezogen sind. Mit „Öffentlichkeit der Bildung" wird daher die Gesamtheit der Personen bezeichnet, die an dem religiös-erzieherischen Ideal teilhaben, indem sie es verändern, bestimmen, interpretieren, vermitteln oder auch lernen, sowie die Institutionen und Räume, durch die und in denen das geschieht. „Bildung" konstituierte im 16. Jahrhundert ebenso eine Öffentlichkeit wie die Macht. Daher kann man mit Fug eine „Öffentlichkeit der Bildung" von anderen Formen und Strukturen der Öffentlichkeit abgrenzen. Für das Entstehen, die Verbreitung und Bewahrung von Bildung spielten die Schrift und die Organisation des förmlichen Unterrichts eine zwar nicht beherrschende, aber hervorragende Rolle56. Überliefertes und Neues im Dienste der Erziehung und Ausbildung wurde schriftlich weitergegeben. Regeln des Disputs, wie sie aus der Scholastik überkommen waren, steuerten den Prozeß der Wahrheitsfindung und des Wissenserwerbs. Daher könnte man statt von einer Öffentlichkeit der Bildung auch von einer „gelehrten Öffentlichkeit" sprechen. Der umfassendere Begriff „Bildung" läßt aber eher deutlich werden, daß zum Bildungsprozeß auch nichtschriftliche Bestandteile gehören sowie Vorgänge, die mit formaler Bildung nichts zu tun haben, etwa das Lernen durch Vorbild, Eingewöhnung und Mitmachen. Religion und das erzieherische Ideal der Reformation wirkten als ganze herrschaftlegitimierend, nicht nur in ihren formal festgelegten „gelehrten" Bestandteilen.

Toeller, Monika: Die Buchmesse in Frankfurt am Main vor 1560. Ihre kommunikative Bedeutung in der Frühdruckzeit, Diss. München 1983, 127 spricht davon, daß das Buch eine eigene Gemeinschaft, die der Gelehrtenrepublik, mit eigenen Wissenschafts- und Wertgrundlagen konstituiere. Diese Grundlagen reichten aber über die Gelehrtenrepublik weit hinaus und müssen daher umfassender verstanden werden. 56

ÖffmtlichkettsföYMM in

tkr Frühen Neusät

15

Sieht man sich die „Öffentlichkeit der Bildung" im 16. und frühen 17. Jahrhundert genauer an, so fallen zwei Eigenschaften auf, die auch die „öffentliche Gewalt" kennzeichneten, nämlich Universalität und Stufung. Dem großen und umfassenden Erziehungsprozeß, den die Religion in Gang setzte, konnte im 16. Jahrhundert so gut wie niemand entgehen; denn religiös ungebildet zu bleiben, hieß soviel, wie unmündig, kein vollständiger und vollwertiger Mensch zu sein. Fremdreligiöse Gruppen, Juden, Muslime, Antitrinitarier, blieben außerhalb der Gesellschaft; „Ketzer" schlossen sich nach dem Verständnis der Zeit selbst aus der Gesellschaft aus. Wer sich zur „Christenheit" zählen wollte, mußte in irgendeiner Art an der Öffentlichkeit der Bildung teilnehmen. Insofern war diese Öffentlichkeit universal, eine Privatsphäre ihr gegenüber gab es nicht. Aber nicht jeder nahm an der Öffentlichkeit der Bildung in gleichem Maße teil. Während sehr viele nur lernten, was andere ihnen vortrugen oder vorlebten, gaben einige das Bildungsideal durch Lehre weiter, andere formten es selbst um, diskutierten einzelne Gegenstände und erreichten durch Bücher ein nach Hunderten, unter Umständen nach Tausenden zählendes Publikum. Ähnlich wie für die öffentliche Gewalt läßt sich daher auch für die Öffentlichkeit der Bildung eine Stufenfolge von Öffentlichkeitsgraden aufstellen. Sie hängt allerdings nicht von der Ausdehnung des politischen Wirkens ab und läßt sich auch nicht immer zwingend aus einer hierarchischen Position ablesen. Hochrangige kirchliche Amtsträger, etwa Bischöfe, oder große Gelehrte üben nicht immer auch großen Einfluß auf den Bildungsprozeß in ihrem Land oder ihrer Stadt aus. Uber die Öffentlichkeit einer Person im Bildungsprozeß entscheiden nur die Reichweite und Stärke ihres Einflusses. Je größer der Teil des Bildungsideals, der durch das Wirken von einzelnen oder Institutionen beeinflußt — verändert oder auch stabil gehalten — werden kann, desto größer ist der Einfluß dieser Person oder Gruppe, und desto „öffentlicher" ist sie in der Öffentlichkeit der Bildung. Differenzierung, Stufung und Beschaffenheit der Bildungs-Öffentlichkeit im allgemeinen und im Preußen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts im besonderen sollen im zweiten Teil dieser Arbeit beschrieben werden. Nach dem dritten Öffentlichkeitsbegriff des heutigen Sprachgebrauchs ist öffentlich das allgemein Zugängliche, das von allen wahrgenommen oder benutzt werden kann, unabhängig davon, ob auch tatsächlich alle von dieser Möglichkeit Gebrauch machen57. In diesem 57

Habermas 13. Auf der gleichen Grundlage nennt Dovifat (Dovifat, Emil: Hand-

16

Grundsätzliche Überlegungen

Sinne sprechen wir von „öffentlichen Parks" oder einem „öffentlichen Vortrag". Ihre Öffentlichkeit besteht in der allgemeinen Zugänglichkeit, nicht in einer besonderen politischen oder geistigen Bedeutung. Der Begriff der allgemeinen Zugänglichkeit wird in Definitionsversuchen von „Öffentlichkeit" fast immer genannt 58 . Einige Forscher sehen allgemeine Zugänglichkeit sogar als das einzige Kriterium für Öffentlichkeit an59. Sofern diese Definition von „Öffentlichkeit" uneingeschränkt und ausschließlich gilt, läßt sich der Kreis der Teilnehmer an dieser Öffentlichkeit prinzipiell nicht abgrenzen; er besteht tatsächlich aus „allen", ohne irgendwelche Zugangskriterien oder Gradunterschiede. Die Grenze zwischen Öffentlich und Privat tritt scharf und unzweideutig hervor. Privatheit bedeutet Ausschließung: Wenn auch nur ein einziger Mensch vom Recht auf Zugang ausgeschlossen ist, kann im Sinne der Zugänglichkeit nicht mehr von „öffentlich" gesprochen werden. Josef Benzinger geht so weit, Gespräche und Versammlungen von Bauern im Mittelalter nicht als öffentlich anzusehen, weil nicht jeder Beliebige an ihnen habe teilnehmen können 60 . Mit demselben Argument spricht Wieland Schmidt im „Handbuch der Publizistik" den Nachrichten des Hauses Fugger den Charakter der „Öffentlichkeit" ab61. Aber auch Bildung und

buch der Publizistik, Bd. 1, Allgemeine Publizistik, Zweite, durchgesehene Auflage, Berlin 1971) drei Definitionen von „Öffentlichkeit", nämlich 1. das allgemein Zugängliche (publice, ebenda 13 f.), 2. „die geistigen Inhalte", die in der Masse, noch unartikuliert, im Schwange seien (ebenda 13 f., Zitat ebenda 16) und 3. die Menschen, die diese Inhalte trügen (publicum, ebenda 14). Alle diese Definitionen sind auf einen einzigen Begriff von „Öffentlichkeit" bezogen, der hier mit „Öffentlichkeit der Informationen" umschrieben wird. Dovifats Definitionen bezeichnen 1. die Konstituierung, 2. die Themen und 3. den Teilnehmerkreis dieser Öffentlichkeit näher. Sie werden deshalb im folgenden nicht als gesonderte Definitionen von Öffentlichkeit genannt noch besprochen. 58 Hölscher, Öffentlichkeit, in: Brunner/Conze/Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, 414 f.; ders.: Öffentlichkeit und Geheimnis, 12 f.; Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Reinhard Kaiser, (Frankfurt/Main 1983); 29; Martens 22; 24; 42. 59 Ukena 36; Benzinger 307; vgl. die Auseinandersetzung um den Öffentlichkeitscharakter reformatorischer Flugschriften bei Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations-und Kommunikationstechnologien, (Frankfurt/Main 1991), 283—285. 60 Benzinger 307. 61 Schmidt, Wieland, 72.

Öffentlichkeitsformen in der Frühen Neuzeit

17

Macht sind, von diesem Begriff von Öffentlichkeit aus gesehen, „privat", weil in gewissem Sinne elitär und ausschließend. Die Definition von Öffentlichkeit im Sinne allgemeiner Zugänglichkeit zieht den Trennungsstrich zwischen Öffentlich und Privat sehr klar62. Daraus folgt, daß diese Öffentlichkeit nicht gegliedert, differenziert oder strukturiert werden könnte. Denn es gäbe in ihr weder Unterschiede noch Stufungen, sondern nur ein Entweder-Oder: öffentlich oder privat, der Öffentlichkeit zugehörig oder nicht; Zwischenstufen sind nicht denkbar. Die allgemeine Zugänglichkeit definiert auch die Inhalte, die in dieser Öffentlichkeit mitgeteilt oder besprochen werden können. Was allen zugänglich sein soll, muß von allen unmittelbar oder mit einfachen Hinweisen verstanden werden können. Die Möglichkeit des Verstehens darf nicht von Voraussetzungen der Bildung abhängen, mit Ausnahme von sehr elementaren Kenntnissen oder Fähigkeiten. Was allgemein zugänglich mitgeteilt werden soll, darf nicht selbst in einem Kulturzusammenhang stehen, der zum Verständnis erst notwendig wäre und erlernt werden müßte, es darf also nicht zum Bildungsgut gehören. Für die Öffentlichkeit allgemeiner Zugänglichkeit eignen sich nur solche Mitteilungen, die nicht erst in einen Kulturzusammenhang eingeordnet werden müssen, sondern sofort und unmittelbar zum Gebrauch und Verbrauch dienen können. Diese Mitteilungen werden im folgenden Informationen genannt. Das Kriterium der Neuheit oder Wissenserweiterung63 spielt für diese Definition keine Rolle. Informationen sind, anders als Machtverhandlungen und Bildungsgüter, nicht von vornherein öffentlich, sondern werden erst dazu gemacht, und zwar durch Entscheidungen, die, wie wir heute sagen, Öffentlichkeit herstellen64. Die Öffentlichkeit allgemeiner Zugänglichkeit kann nichts anderes enthalten als Informationen; denn die anderen, von vornherein „öffentlichen" Mitteilungen sind nur aufgrund besonderer Vor62

Rusciano 5.

63

Genannt bei Fiehler, Reinhard: Kommunikation, Information und Sprache. All-

tagsweltliche und wissenschaftliche Konzeptualisierungen und der Kampf um die Begriffe, in: Weingarten, Rüdiger (Hg.): Information ohne Kommunikation? Die Loslösung der Sprache vom Sprecher, (Frankfurt/Main 1990), 108. 64

Rusciano 6; „Hergestellt" wird Öffentlichkeit ζ. B. laut Zoll, Ralf (Hg.): Manipu-

lation der Meinungsbildung. Zum Problem hergestellter Öffentlichkeit, Kritik Bd. 4, Opladen 1971, passim. Vgl auch ders.: Einleitung, ebenda 10 (gesamter Aufsatz ebenda 9—26).

18

Grundsätzliche Überlegungen

aussetzungen verständlich oder zugänglich. Informationen konstituieren also die Öffentlichkeit allgemeiner Zugänglichkeit. Dieser Aspekt von Öffentlichkeit wird daher im Folgenden „Öffentlichkeit der Informationen" genannt. Wenn von Öffentlichkeit im Sinne „allgemeiner" Zugänglichkeit die Rede ist, setzt das moderne Verständnis drei Annahmen als selbstverständlich voraus. Erstens wird angenommen, daß öffentliche Informationen auch in schriftlicher Form praktisch jedermann zugänglich sind, das heißt, daß in jeder denkbaren Gruppe von Menschen mindestens einer lesen und damit die „öffentliche" Information den anderen mitteilen kann. Zweitens wird angenommen, daß Sprachunterschiede keine Rolle spielen, daß es also eine einzige Verkehrssprache gibt, die in jeder denkbaren Gruppe mindestens einer wenn nicht korrekt sprechen, so doch verstehen und wenigstens sinngemäß übersetzen kann. Drittens setzt man voraus, daß jede „öffentliche" Information, auch zum Beispiel sprachlich komplizierte Gesetzestexte oder die Fernsehnachrichten mit ihrer standardisierten Sprache, von allen wenigstens ungefähr intellektuell verstanden werden können. Moderne Überlegungen zur Öffentlichkeit als allgemeiner Zugänglichkeit rechnen unausgesprochen mit dem sprachlich einheitlichen „National"-Staat lese- und schreibkundiger Bürger mit einer gewissen Grundlage von „Allgemeinbildung". Keine dieser Voraussetzungen kann für das 16. Jahrhundert als selbstverständlich erfüllt gelten. Nach Schätzungen konnten im Heiligen Römischen Reich in der Reformationszeit etwa 5% der Bevölkerung lesen und schreiben, in den Städten mehr, auf dem Lande erheblich weniger65. Im Herzogtum Preußen gab es zwar in Königsberg, in vielen kleinen Städten und in einigen Dörfern Schulen66. Doch war der Schulbesuch

65

Traitler, Konfession und Politik, 9. Schön, Erich: Der Verlust der Sinnlichkeit

oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800 (Sprache und Geschichte, hg. von Reinhart Koselleck und Karlheinz Stierle, Bd. 12), (Stuttgart 1987), 37, rechnet um 1600 etwa 2—4% der Bevölkerung des Reiches zu den regelmäßigen Lesern, vermutet aber, daß die Zahl der elementar Lesefähigen unter Umständen „ein Vielfaches dieser Zahlen" betragen habe. 66

Zu den mittelalterlichen Domschulen Harder, Hans-Bernd: Zentren und Regio-

nen. Grundlagen der schriftlichen Kultur des 16. Jahrhunderts in Polen, in: Olesch, Reinhold/Rothe, Hans (Hgg.): Fragen der polnischen Kultur im 16. Jahrhundert. Vorträge und Diskussionen der Tagung zum ehrenden Gedenken an Alexander Brückner, Bonn 1978, Bd. 1 ( = Bausteine zur Geschichte der Literatur bei den Slawen, hg. v. Hans-Bernd Harder und Hans Rothe, Bd. 14,1), Gießen 1980, 193; ebenda

Öffentlkkkeitsformen in der Frühen Neuzeit

19

nicht Pflicht, und was die Kinder gelernt hatten, ging ihnen als Erwachsenen oft wieder verloren, wenn sie es nicht übten. Unter den nichtdeutschen Einwohnern war die Analphabetenrate vermutlich noch höher, zumal etwa im Litauischen erst im 16. Jahrhundert Druckwerke erschienen67, das Prußische erst durch die Bemühungen des Herzogs Albrecht zur Schriftsprache wurde68. Eine „Allgemeinbildung" unabhängig von Stand und Herkunft kann man also für Preußen im 16. Jahrhundert nicht voraussetzen. Sprachlich war das Territorium alles andere als einheitlich. Neben dem Latein als Verkehrssprache der Gelehrten wurden als Volkssprachen Deutsch, Polnisch, Litauisch, Lettisch, Kurisch und Prußisch gesprochen — kleine Einwanderergruppen wie die Holländer und Böhmen machten die Sprachlandschaft noch bunter. Unter diesen Bedingungen konnten schriftliche oder auch nur in einer einzigen Sprache mitgeteilte Informationen gar nicht „allen" zugänglich sein, weil es die „Allgemeinheit", das sprachlich und kulturell einigermaßen homogene „Publikum" noch nicht gab, von dem heute ausgegangen wird, wenn man von „Öffentlichkeit" als allgemeiner Zugänglichkeit spricht69. Mitteilungsformen, die heute als „öffentlich" im Sinn von „allgemein zugänglich" gelten, zum Beispiel Bekanntmachung, „öffentliche" Rede oder Nachrichtendruck, können im 16. Jahrhundert nicht für schlechtweg „alle" gedacht gewesen sein, weil nur eine sprachlich eng begrenzte und intellektuell ausgebildete Gruppe sie aufnehmen und verstehen konnte. Zugespitzt und daher paradox formuliert: Mitteilungen, die ihrem Charakter nach für „alle" bestimmt sein mußten — wie amtliche 198 wird die Gründung des Pädagogiums in Königsberg 1541 erwähnt. Breysig 63 erwähnt die Gründung der Provinzialschulen in Lyck, Saalfeld und Tilsit unter Herzog Georg Friedrich. Vgl. auch Replik an die Stadt Wehlau wegen ihrer „Specialbeschwer", 9. Mai 1553, Opr. Fol. 572, 480 r, Datierung ebenda 486 r. Hubatsch, Albrecht von Brandenburg-Ansbach, 271, erwähnt bereits Stadtschulen in Wehlau, Bartenstein und Rastenburg. 67

Luthers Katechismus in der Ubersetzung von Martin Mosvidius gilt als „das erste

gedruckte Prosawerk der ütauischen Literatur", Thielen, Kultur, 114; als das erste gedruckte Werk in litauischer Sprache überhaupt bezeichnet ihn Hubatsch, Kirche I, 89. Nach Tschackert ist das erste Werk litauischer Literatur ein Passionslied von Stanislaus Rapagelanus, das 1612 im Gesangbuch von Sengstock gedruckt wurde (Tschackert, Urkundenbuch I, 289). 68

Tschackert, Urkundenbuch, 88.

69

Zur Bedeutung von „Publikum" als „Mehrheit unbestimmter Personen" vgl.

Martens, Öffentlich, 33 f.

20

Grundsätzliche Überlegungen

Mandate —, waren ersichtlich nicht allen zugänglich, weil sie beispielsweise in einer einzigen Sprache erschienen oder zu hohe Verstehensanforderungen stellten. Aus diesem Paradox gibt es zwei Auswege. Entweder erkennt man die Voraussetzungen des modernen Begriffs von „Öffentlichkeit" an: Gleichheit aller „Staatsbürger" in Bezug auf Sprache, elementare Bildungsvoraussetzungen und Lesefähigkeit. Daraus würde folgen, daß es im Preußen des 16. Jahrhunderts keine Öffentlichkeit der Informationen gab. Man müßte dann mit dem Paradox umgehen, daß gleichwohl Formen der beabsichtigten Mitteilung an „alle" bestanden, etwa die amtliche Bekanntmachung, die in mehrere Sprachen übersetzt wurde70. Oder man nimmt an, daß im 16. Jahrhundert auch die Öffentlichkeit der Informationen gestuft war und verschiedene Öffentlichkeitsgrade aufwies. Eine Information wäre dann umso mehr öffentlich, je größer der Kreis derer ist, die sie potentiell aufnehmen und verstehen können. Der Grad der Öffentlichkeit einer Information richtete sich also nach der Zahl der potentiellen Empfänger, nach dem Umfang des „Publikums". Der dritte Teil der Arbeit versucht, auf der Grundlage dieser Annahme ein Bild der preußischen Öffentlichkeit der Informationen im 16. Jahrhundert zu entwerfen. Als Einwand gegen diese Definitionsversuche kann formuliert werden, daß die drei genannten Öffentlichkeiten personell nicht voneinander abgegrenzt werden können, da das größte denkbare Publikum schlechthin „alle" umfaßt. Eine personelle Abgrenzung der Öffentlichkeiten ist aber ohnehin in den wenigsten Fällen möglich. Personelle und institutionelle Verbindungen zwischen verschiedenen Öffentlichkeiten kennzeichneten das 16. Jahrhundert sogar in stärkerem Maße als die heutige Zeit; und die folgende Untersuchung wird solche Verbindungen in jedem Falle darlegen müssen, wo sie bestanden. Die drei „Öffentlichkeiten" unterscheiden sich nicht prinzipiell durch ihren Personenkreis voneinander, sondern durch die Eigenschaften, durch die sie konstituiert werden: „Macht" im Falle der „öffentlichen Gewalt", „Bildung" im Falle der „gelehrten", „Information" im Falle der „Informationen-Öffentlichkeit". Eine einzelne Person oder Institution kann durchaus allen drei 70

Bsp.: Mandat gegen umherziehende Schotten, 22. September 1589, deutsche Fas-

sung: Verordnungen usw. insbesondere für das Herzogtum Preußen, Bd. 1, [offizielle Drucke aus Königsberg und Warschau, 1589—1649], Sammelband, SBPK Gu 570 fol., Nr. 8; dasselbe litauisch ebenda Nr. 9; Mandat König Sigismunds EL wegen plündernder Soldaten, polnisch und deutsch, Warschau, 30. Mai 1622, ebenda Nr. 42.

Öffentlichkeitsformen in der Frühen Neuzeit

21

Öffentlichkeiten angehören. Sie spielt dann aber möglicherweise in jeder der drei Öffentlichkeiten eine andere Rolle und hat unterschiedlichen Einfluß, je nachdem, in welcher Öffentlichkeit sie handelt. Zwei preußische Beispiele mögen diesen Sachverhalt illustrieren. Der „Reformationsbischof" von Pomesanien, Erhard von Queiß 71 , war als Diplomat und Jurist in der Öffentlichkeit der Macht von hoher Bedeutung. Als Reformator des Bistums Pomesanien hatte er zeitweise großen Einfluß auf die Bildung, regelte er doch durch die „Themata episcopi Riesenburgensis"72 die Reformation in seinem Bistum und bestimmte damit auf lange Zeit den Charakter und die Kirchenverfassung des preußischen Luthertums. Danach blieb der persönliche Einfluß des Bischofs jedoch verdeckt, da er sich an den theologischen Streitgesprächen der Zeit nicht beteiligte. Für die Verbreitung von Informationen sonstiger Art war er anscheinend nicht von Bedeutung. Sein Amtsnachfolger Tilemann Heßhus gehörte zwar als „Prälat" noch dem Landtag, also dem Kreis der „personae publicae" an — die Landstandschaft der Bischöfe wurde erst nach dem Tod des letzten „Prälaten" 1587 abgeschafft73. Heßhus trat jedoch weder im Landtag noch in der Landespolitik überhaupt besonders in Erscheinung. Gewaltigen Einfluß aber hatte Heßhus auf den Bildungsprozeß in Preußen — und anderswo — als einer der produktivsten Kontroverstheologen seiner Zeit74. Auch als Verbreiter von Informationen spielte er eine Rolle, da ihm seine Beziehungen die Weitergabe von Nachrichten aus Preußen ermöglichten. Die drei „Öffentlichkeiten" bezeichnen also nicht unmittelbar Personenkreise oder Institutionen — das würde bedeuten, einen abstrakten Begriff konkret zu verstehen, ähnlich wie es die Menschen des 16. Jahrhunderts taten. Wenn in der folgenden Untersuchung und Darstellung ein Vorgang, eine Institution oder Person einer „Öffentlichkeit" zugewiesen werden, so sagt diese Zuschreibung in der dem Begriff gemäßen dreifachen Differenzierung etwas darüber aus, in welcher Weise und in

71

Zu ihm vgl. Gause 194; Hubatsch, Walther: Geschichte der evangelischen Kirche Ostpreußens, Bd. I, Göttingen 1968, 26—30; Thielen, Peter G[errit]: v. Queiß, Erhard, in: ΑρΒ Π, 526 f. 72 Sehling 4, 29 f. 73 Rachel, Hugo: Der Große Kurfürst und die ostpreußischen Stände (1640—1688) (Erstes Buch, Teil Π), Diss. Berlin 1904, 20. 74 Gaß: Heßhusen, Tileman H., in: ADB 12, 315.

22

Grundsätzliche Überlegungen

welchem Grad der jeweilige Vorgang, die Institution oder Person öffentlich sind. Die dreifach definierte „Öffentlichkeit" und ihre besonderen Ausprägungen im Herzogtum Preußen bis zum Tode Herzog Albrecht Friedrichs (1618) sollen der Gegenstand der folgenden Untersuchung sein.

π Das Herzogtum Preußen im 16. und frühen 17. Jahrhundert Das Herzogtum Preußen verdankte seine Entstehung als staatliches Gebilde einem äußeren und einem inneren Konflikt, deren Folgen die preußische Geschichte lange Zeit prägen sollten. Der äußere Konflikt bestand darin, daß der Landesherr, Hochmeister Albrecht von Hohenzollern, in einen Krieg mit Polen verwickelt war, der das Land, den Staat des Deutschen Ordens, völlig zugrundegerichtet hatte, als 1521 der Waffenstillstand auf vier Jahre geschlossen wurde75. Hochmeister Albrecht verfügte nicht mehr über die Mittel, den Krieg nach Ablauf der Waffenstillstandsfrist fortzuführen. Deshalb unternahm Albrecht persönlich eine Reise ins Reich und warb um diplomatische Unterstützung für seinen Friedensschluß mit dem polnischen König76. Möglicherweise wollte Albrecht auch für einen künftigen neuen Krieg Verbündete gewinnen77. Politisch war die Reise ein Mißerfolg. Außer unverbindlichen Erklärungen konnte der Hochmeister, wie sich herausstellte, aus dem Reich keine Hilfe erwarten78. Zudem wurde die Reise der Anlaß für den zweiten, den inneren Konflikt des zerfallenden Ordensstaates. Hochmeister Albrecht lernte Martin Luther und vor allem den Nürnberger Prediger Andreas Oslander kennen. Der gewann ihn für die Lehre Luthers79. Als Anhänger und bald entschiedener Bekenner dieser Lehre aber konnte Albrecht aus politischen und aus Gewissensgründen nicht das Oberhaupt eines geistlichen Ordensstaates bleiben. Denn Luther hielt die 75

Zum Folgenden vgl. Luther und die Reformation im Herzogtum Preußen. Aus-

stellung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz zum Lutherjahr 1983 (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin 1983), 21; Dolezel, Lehensverhältnis, 17; Freiwald 81; 85; 94. 76

Freiwald 91 f.

77

Bogucka, Maria: Die preußische Huldigung (Panorama der polnischen Geschich-

te. Fakten und Mythen), Warschau 1986, 82—84. 78

Bogucka 84.

79

Schott 474.

24

Grundsätzliche Überlegungen

Ordensgelübde für „Menschenwerk", für überflüssige Zusätze zur reinen christlichen Lehre, und riet den Ordensrittern in einer Schrift von 1523, den Orden zu verlassen und sich zu verheiraten80. In einer persönlichen Unterredung und einem Schriftwechsel mit Luther 81 fand Albrecht eine Lösung beider Konflikte, die ihm auch noch Vorteile bot. Er beschloß, sich offen zur Lehre Luthers zu bekennen und konsequenterweise den preußischen Zweig des Deutschen Ordens aufzulösen. Da der Ordensstaat durch einen solchen Akt seine Daseinsberechtigung verlöre, würde Albrecht das Territorium vom polnischen König zu Lehen nehmen, da er es kriegerisch gegen Polen ohnehin nicht halten konnte. Als der Waffenstillstand abgelaufen war, Schloß Albrecht Frieden mit dem polnischen König Sigismund dem Alten (1506— 1548) und huldigte ihm als Lehensmann für den ehemaligen Ordensstaat. Die Säkularisierung bedeutete für Preußen eine Art von Revolution, aber eher in den politischen Formen und Titeln als in Personen und Rechtsverhältnissen. Der Hochmeister wurde zum Herzog, die Inhaber von Amtern im Ordensstaat erhielten weltliche Amtsbezeichnungen als „Oberräte" und „Amtleute". Die ständische Struktur des Ordenssstaates blieb im wesentlichen erhalten; an den überkommenen Lehens- und Loyalitätsverhältnissen änderte sich nichts. Nur der Herzog selber war nach 1525 ein vom polnischen König lehensabhängiger Fürst, nicht mehr wie als Hochmeister dem Kaiser unterstellt und Glied des Reiches. Die lehensrechtliche Stellung des Herzogs war im Krakauer Vertrag von 1525 definiert82; die tatsächliche Ausgestaltung des Lehensverhältnisses blieb eine Sache der Vereinbarung zwischen Lehensherr und Vasall, vor allem bei den späteren Thronwechseln in Preußen. Aus dieser teils herkömmlichen, teils neuen Konstellation erwuchsen die Konflikte, welche die Geschichte des Herzogtums in den kommenden hundert Jahren kennzeichnen sollten: Konflikte zwischen dem Herzog und den Stän-

80

Luther, Martin: An die Herren deutschs Ordens, daß sie falsche Keuschheit mei-

den und zur rechten ehelichen Keuschheit greifen, Ermahnung, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 12, Weimar 1891 (unveränderter Ndr. Graz 1966), (228) 232—244. 81

Luther und die Reformation in Preußen, 26.

82

Dolezel, Stephan u. Heidrun (Bearb.): Die Staatsverträge des Herzogtums Preu-

ßen, Teil I: Polen und Litauen. Verträge und Belehnungsurkunden 1525—1657/58 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Bd. 4), (Köln/Berlin 1971), 12—30. Vgl. auch Dolezel, Lehensverhältnis, 19—31; Freiwald 116 f.

Das Herzogtum Preußen im 16. undfrühen 17. Jahrhundert

25

den, ein gespanntes Verhältnis Preußens zum Reich und die lehensrechtlichen Auseinandersetzungen mit dem polnischen König. Zum Krieg führte allerdings keiner dieser Konflikte. Der Krakauer Vertrag bot tatsächlich eine dauerhafte Regelung des preußischpolnischen Verhältnisses. Umso mehr war die preußische Geschichte bis zum Dreißigjährigen Krieg bestimmt vom Krieg der Zungen und der Pamphlete, von weniger gewaltsamen politischen Auseinandersetzungen und Versuchen der Konfliktlösung. Diese Auseinandersetzungen in Schrift und Rede sind es, die das Herzogtum Preußen bis zum Ende der Herzogszeit als Gegenstand einer Untersuchung zur Geschichte der öffentlichen Kommunikation Interesse gewinnen lassen. Konflikte zwischen Herzog und Ständen ergaben sich in Preußen wie im übrigen Europa des 16. Jahrhunderts meistens daraus, daß der Landesherr mehr Geld brauchte, als seine eigene Wirtschaft eintrug. Kriege, prunkvolle Bauten oder, wie bei Herzog Albrecht, eine aufwendige Hofhaltung 83 verschlangen so große Summen, daß ein Landesherr der Renaissance sich so gut wie ständig in Geldnöten befand. Die Stände, die das Recht hatten, Steuern zu bewilligen, konnten diese Bewilligung an politische Bedingungen knüpfen und damit ihre Mitwirkungsrechte im politischen Leben des Territoriums sichern oder ausbauen. In Preußen profitierte vor allem der einheimische Adel politisch von dem ständischen Steuerbewilligungsrecht. Trotzdem konnte Herzog Albrecht sich die längste Zeit seiner Regierung auf die Loyalität „seiner" Stände verlassen. Schwierig wurde die Lage für ihn erst seit dem Ende der fünfziger Jahre, als er sich außenpolitisch übernahm und die Stände ebensosehr durch politische wie durch religiöse Entscheidungen brüskierte. Auf die Huldigung Albrechts gegenüber dem polnischen König hatte Kaiser Karl V. damit reagiert, daß er 1527 die Hochmeisterwürde dem bisherigen Deutschmeister Walter von Kronberg verliehen und ihn 1530 mit dem Gebiet des ehemaligen Ordensstaates belehnt hatte 84 . 1532 folgte die Achterklärung gegen Albrecht, die im Jahr darauf publiziert wurde85. Die Acht wurde zwar suspendiert 86 , aber nie aufgehoben 87 . Al83 Gause 243; Thielen, Peter Gerrit: Die Kultur am Hofe Herzog Albrechts von Preußen (1525—1568), (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, Heft 12), Göttingen 1953, 11 f.; Breysig 20. 84 Dolezel 34 und 51. 85 Dolezel 54; Publikation der Acht 1533: Hubatsch, Kirche I, 20. 86 Dolezel 56. 87 Dolezel 95.

Grundsätzliche Überlegungen

26

brecht fürchtete — vermutlich zu Recht —, daß der Orden versuchen würde, Preußen zurückzuerobern, am ehesten von dem noch intakten Ordensstaat Livland aus88. Daher setzte Albrecht außenpolitisch alles daran, Livland nach preußischem Muster evangelisch zu machen und es wie Preußen der polnischen Oberhoheit zu unterstellen. Er ließ seinen Bruder Wilhelm zum Erzbischof von Riga und Christoph von Mecklenburg zu dessen Koadjutor wählen89, die im livländischen Landtag seine Sache führen sollten. Der dänische Historiker Rasmussen vermutet, daß Albrecht die diplomatische Krise um Livland bewußt verschärfte, um die livländischen Territorien dazu zu zwingen, sich nach preußischem Muster unter polnische Oberhoheit zu begeben90. Die preußischmecklenburgischen Pläne für Livland scheiterten jedoch kläglich. Der livländische Zweig des Ordens unter dem Landmeister Heinrich von Galen verband sich mit einer Mehrheit der livländischen Stände gegen den Erzbischof und seinen Koadjutor91. 1556 wurden sie gefangengenommen92. Zwar erreichte Albrecht schließlich insofern sein Ziel, als ein Teil Livlands sich 1561 Polen unterstellte. Vom livländischen Orden hatte das preußische Herzogtum seither also nichts mehr zu befürchten. Dennoch blieb Albrecht auf die Unterstützung Polens angewiesen, weil die konkurrierenden Ostseemächte Polen, Schweden und Rußland weiterhin Krieg um Livland führten und sich die außenpolitische Lage im Nordosten für Preußen nicht verbesserte. Im Zuge der Bemühungen Albrechts um Livland erhielt Mecklenburg Einfluß auf die preußische Landespolitik93, zu wachsendem Mißvergnügen der preußischen Stände94. Schließlich brachte sich Herzog Albrecht 88

Dazu vgl. Arnold, Udo: Rückeroberung Preußens durch den Deutschen Orden

am Ende des 16. Jahrhunderts?, in: Preußenland 28/1990, 18 f. 89

Zur Wahl Markgraf Wilhelms vgl. Hubatsch, Kirche I, 100; Gundermann, Iselin:

Grundzüge der preußisch-mecklenburgischen Livlandpolitik im 16. Jahrhundert, in: Baltische Studien, bd. 52/1966, 37. Zur Wahl Herzog Christophs vgl. Gundermann, Livlandpolitik, 42—44. 90

Rasmussen, Knud: Die livländische Krise 1554—1561, Kopenhagen 1973, 28—32;

39. 91

Wermter, Ernst Manfred: Herzog Albrecht von Preußen und die Bischöfe von

Ermland (1525—1568), in: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands 2 9 / 1 9 5 7 , 278; vgl. auch Gundermann, Livlandpolitik, 37—44. 92

Zum Folgenden vgl. Wermter, Albrecht von Preußen und die Bischöfe von Erm-

land, 280—283. 93

Kleinertz 108.

94

Zum Folgenden vgl. Dolezel 155 f.

Das Herzogtum Preußen im 16. undfrühen 17. Jahrhundert

27

in eine unhaltbare Situation, indem er den zwielichtigen Gelehrten Paul Scalich förderte und ihm Einfluß auf die Regierungsgeschäfte einräumte. Zudem verärgerte der Herzog die Stände und die Kirche des Landes durch seine eigenwillige Religionspolitik, die zwar von persönlicher Überzeugung getragen war, aber die preußische Kirche tief spaltete. Als die Stände gegen ihn aufbegehrten, ließ Albrecht mit mecklenburgischer Hilfe Truppen um Königsberg zusammenziehen95. Die Stände fühlten sich bedroht und baten den polnischen König durch eine Gesandtschaft, in die preußischen Verhältnisse einzugreifen96. König Sigismund August schickte 1566 vier „Kommissare" unter Führung des Wojwoden von Brest, Johannes Sluzewski, mit weitreichender Vollmacht nach Preußen97. Nach ihren Vorstellungen wurden nun politische und religiöse Streitfragen entschieden. Albrecht mußte sein Testament revidieren98, die Rechte des Adels erweitern und zulassen, daß drei seiner Berater hingerichtet wurden, darunter sein Hofprediger Funck, der sich wie Albrecht zur Theologie Oslanders bekannt hatte99. Scalich hatte schon vorher das Land verlassen100. Zwei Jahre später starb der Herzog. Um zu verhindern, daß das Schicksal der jungen Dynastie „auf zwei Augen" stünde, hatte Albrecht mit dem König Sigismund August verhandelt, um die Mitbelehnung der übrigen Hohenzollern-Linien für Preußen zu erreichen. 1563 wurde die Lehensnachfolge der anderen Linien des Hauses Brandenburg zugelassen, 1569 auf dem Lubliner Reichstag die Mitbelehnung des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg und seiner Erben mit dem Herzogtum Preußen förmlich ausgesprochen101. Sie sollte in den folgenden Jahrzehnten zu einem Anspruch werden, der die preußische Geschichte entscheidend mitbestimmte. Denn Albrechts einziger Sohn und Nachfolger, Herzog Albrecht Friedrich (1568—

Dolezel 157 f. Dolezel 158; 166. 9 7 Dolezel 163. 9 8 Hubatsch, Walther: Albrecht von Brandenburg-Ansbach. Deutschordens-Hochmeister und Herzog in Preußen 1490—1568 (Studien zur Geschichte Preußens 8), Heidelberg (1960), 214. 9 9 Dolezel 169; Hubatsch, Kirche I, 86. 1 0 0 Dolezel 158. 101 Zernack, Klaus: Polen in der Geschichte Preußens, in: Büsch, Otto (Hg.): Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. Π, Das 19. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens, Berlin/New York 1992, 409 f. 95 96

Grundsätzliche Überlegungen

28

1618), war infolge einer Geisteskrankheit regierungsunfähig102. 1577 wurde er förmlich entmündigt103. An seiner Stelle konnten und mußten die Hohenzollern-Verwandten die Regierung in Preußen übernehmen. Allerdings errangen sie diese Stellung nicht selbstverständlich, sondern mußten um die Vormundschaft über den kranken Herzog (Kuratel) und die Nachfolge in der Vasallität (Sukzession), gegebenenfalls sogar um den Einzug in Preußen selbst (Immission)104, mit dem polnischen König verhandeln. Das stärkte seine Stellung bei jedem Regierungswechsel in Brandenburg. Gestärkt wurde aber mittelbar auch die Position der preußischen Stände, weil sie die Möglichkeit hatten, sich in diese Verhandlungen einzumischen und eigene Forderungen anzumelden und gegebenenfalls auch durchzusetzen. Im brandenburgischen Hause selbst entschied erst der Onolzbacher Vergleich von 1603 die Auseinandersetzungen um das Erbe, indem festgelegt wurde, daß sowohl das Kurfürstentum Brandenburg als auch die Anwartschaft auf die Lehensnachfolge im Herzogtum Preußen in gerader Linie im kurfürstlichen Hause vererbt werdem sollten105. Der erste der stellvertretenden „Herzöge in Preußen", Markgraf Georg Friedrich von Brandenburg-Ansbach (1577/78—1603), stellt in der Geschichte der preußischen Stände-Auseinandersetzungen eine Ausnahmeerscheinung dar. Durch gute Wirtschaft in seinen Stammlanden konnte er seine Herrschaft finanziell so sichern, daß er die Beteiligung der Stände kaum brauchte — die anderen Herzöge aus dem Brandenburger Haus konnten das nicht. Er hatte eine hohe Meinung von seiner Stellung als Fürst gegenüber den Adligen — was auch darin zum Ausdruck kommt, daß er sich als erster „Fürstliche Durchlaucht" nennen ließ106. Wenn die Stände ihm widersprachen oder gar Widerstand leisteten, setzte er sich in früh-absolutistischer, für das Land untypischer Manier ebenso zäh wie energisch durch. Fast zehn Jahre lang stritt er sich heftig und grundsätzlich mit der Adelsopposition, die unter der Führung

102

Gause 333 f.

103

Petersohn 30.

104

Opr. Fol. 594 a, 257 r; Immekeppel 63; 90; 97.

105

Heinrich, Gerd: Geschichte Preußens. Staat und Dynastie, (Frankfurt/Main,

Berlin, Wien 1981), 61. 106

Petersohn, Jürgen: Fürstenmacht und Ständetum in Preußen während der Regie-

rung Herzog Georg Friedrichs 1578—1603 (Marburger Ostforschungen, hg. im Auftrage des Johann Gottfried Herder-Forschungsrates e. V. von Hellmuth Weiss, Bd. 20), Würzburg 1963, 55.

Das Herzogtum Preußen im 16. undfrühen 17. Jahrhundert

29

Friedrichs von Aulack stand. Diese Auseinandersetzung hat zuletzt Petersohn in einer Monographie ausführlich beschrieben107. Erst 1586 konnte der Herzog sich mit den Ständen aussöhnen108. Danach verließ er das Herzogtum, ließ das Land aber so „gezähmt" zurück, daß er es ohne wesentlichen Widerstand von Ansbach aus regieren konnte. Die Ansprüche der Stände waren aus ihrer Sicht legitim. Daher ist es fraglich, ob Herzog Georg Friedrich sich so entschieden gegen sie hätte durchsetzen können ohne die Unterstützung des polnischen Königs Stephan Bathory (1576— 1586). Bathory stand in den Ständestreitigkeiten auf Seiten der Herzogsmacht109, weil er glaubte, in seinen Auseinandersetzungen mit Rußland110 und wohl auch in seiner Stellung als polnischer Wahlkönig eher Rückhalt zu haben, wenn der preußische Herzog loyal zu ihm stand. Bathorys Nachfolger, Sigismund ΙΠ. Vasa (1587—1632), dachte über diese Konstellation anders und unterstützte ebenso konsequent den Anspruch der Stände, besonders des Adels, auf Machtbeteiligung zuungunsten des Herzogshauses. Die Belehnung, Kuratel und Immission, um die die Brandenburger mit ihm verhandeln mußten, ließ er sich unter anderem mit rechtlichen Zugeständnissen an den preußischen Adel bezahlen, welche die hoheitlichen Rechte der Herzöge in Preußen erheblich schmälerten. Fast alles, was Herzog Albrecht der Altere an Hoheitsrechten in Preußen beansprucht und behauptet hatte, ging unter den Vormundschaftsregierungen der Kurfürsten von Brandenburg wieder verloren. Die Brandenburger Kurfürsten Joachim Friedrich (1603—1608) und Johann Sigismund (1608/11—1619) wollten zwar Preußen beim brandenburgischen Hause halten, und der Mitbelehnungsvertrag gab ihnen das Recht dazu. Aber sie waren auch bereit, dafür den Preis zu zahlen, den der polnische König verlangte, und hatten weder die Energie noch das diplomatische Geschick, sich gegen die Forderungen Sigismunds ΙΠ. von Polen durchzusetzen. Zusätzlich wurden die Verhandlungen dadurch erschwert und kompliziert, daß der preußische Adel sich bald 107

Petersohn, passim.

108

Zum Folgenden vgl. Petersohn 37; Arnold, Ständeherrschaft, 96.

109

Gause 336; Arnold, Udo: Ständeherrschaft und Ständekonflikte im Herzogtum

Preußen, in: Baumgart, Peter (Hg.): Ständetum und Staatsbildung in BerandenburgPreußen. Ergebnisse einer Internationalen Fachtagung (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 55, Forschungen zur preußischen Geschichte), Berlin/New York 1983), 94. 110

Petersohn 6; Bogucka 171.

30

Grundsätzliche Überlegungen

nach 1600 in fraktionsähnliche Meinungsgruppen trennte, je nachdem, wie der einzelne Adlige zu den Brandenburgern und ihren Ansprüchen auf Preußen stand. Die „Protestierenden" verfochten den Anspruch der Brandenburger auf die Belehnung mit Preußen und gaben sich wahrscheinlich selbst ihren Parteinamen nach ihrer ersten „Protestation" für die Rechte Brandenburgs111. Die „Querulierenden" räumten dagegen der Verteidigung der Stände- und Adelsrechte die erste Priorität ein112. Sie wollten zwar riicht unbedingt die brandenburgische Herrschaft mit der direkten Oberhoheit des polnischen Königs vertauschen. Aber die Erweiterung ihrer Rechte war ihnen doch so wichtig, daß sie nichts dabei fanden, die brandenburgische Belehnung zumindest zu verzögern, wenn nicht zu hintertreiben. Die Verhandlungen Kurfürst Joachim Friedrichs mit König Sigismund ΙΠ. zogen sich hin, solange der Kurfürst lebte. Er erwarb zwar 1605 die Vormundschaft über den kranken Herzog 113 , erreichte aber die Belehnung nicht 114 . Sein Sohn und Nachfolger Johann Sigismund mußte um die förmliche Belehnung durch den polnischen König noch weitere drei Jahre verhandeln lassen, ehe der entsprechende Vertrag zustandekam 115 . Zusätzlich schuf der neue Kurfürst politische Verwicklungen durch seinen Entschluß, zum Calvinismus überzutreten116. Diese religiöse Entscheidung entsprang zwar sicher der persönlichen Uberzeugung des Kurfürsten, aber sie war politisch bedenklich, weil der Lubliner Vertrag nur das Luthertum und den Katholizismus als Konfessionen in Preußen zuließ. Durch seinen Ubertritt beunruhigte der Kurfürst sowohl den katholischen polnischen König als auch die lutherischen preu111

Breysig 113 und ebenda Anm. 3 und 4.

112

Breysig 140. Ausdruck „querulantes" für diese Gruppe in „Der Kön. herrn Ab-

gesandten Protestationsschrifft contra die Protestirenden LandtRhäte Abgesandten von der Ritterschafft vnd Städte", 6. [?] Dezember 1616, Opr. Fol. 613, 114 r. 113

Heinrich 65.

114

Zum Folgenden vgl. Immekeppel 60.

115

Zum Folgenden vgl. Literae reversales des Kurfürsten Johann Sigismund, 26. Mai

1612, Opr. Fol. 594 a, 100 r, Datierung ebenda 107 r.; 213 r—215 v; Descripito Qvo Ordine Fevdvm Hlvstrissimo Ioanni Sigismundo Marchioni & Electori Brandenburgensi collatum, Privilegia 120 r—121 v. Datierung ebenda 120 r: „Die 16. Nouembris, homagij solennitas peracta"; Gause 379. 116

Matz, Klaus-Jürgen: Festigung der Landesherrschaft und Aufstieg des Adels: Die

Mark Brandenburg im Zeitalter der Reformation 1486—1618, in: Schlenke, Manfred (Hg.): Preußen-Ploetz. Eine historische Bilanz in Daten und Deutungen, Freiburg/Würzburg (1983), 120.

Das Herzogtum Preußen im 16. und frühen 17. Jahrhundert

31

ßischen Stände. Beide politischen Kräfte sahen nicht nur ihren religiösen Besitzstand bedroht, sondern sahen und nutzten auch die Möglichkeit, sozusagen mit Rückendeckung der bestehenden Verträge neue Ansprüche anzumelden. Die Lösungen dieser Konflikte führten zu den Toleranz-Verfügungen, die für die Zeit noch untypisch waren, den preußischen Staat aber auf lange Zeit prägen sollten. Buchstäblich nur am Rande berührte Preußen der Konflikt um Jülich und Kleve von 1609 bis 1614117. Kurfürst Johann Sigismund beanspruchte das Erbe des 1609 gestorbenen Herzogs Wilhelm von Jülich und Kleve, da seine Gattin, die Kurfürstin Anna, zu den nächsten Erbberechtigten gehörte. Nach einer Phase hektischer Diplomatie und militärischer Drohungen erwarb der Kurfürst durch den Xantener Vertrag von 1614 Kleve, Mark, Ravensberg und Ravenstein. Von nun an gab es brandenburgische Herrschaften vom Rhein bis an die Memel — ein Gebiet, das die Kurfürsten mehr als vorher durch gute Nachrichtenverbindungen und die Berufung jeweils „ausländischer" Diplomaten und Räte zusammenzuhalten versuchen sollten. Im Jahre 1618 endete die „Herzogszeit" in Preußen. Der geisteskranke Herzog Albrecht Friedrich starb, und aufgrund der bestehenden Verträge fiel die Herzogswürde den Brandenburger Kurfürsten zu. Zwar blieb das Herzogtum Teil des polnischen Lehensverbandes118 bis zu den Verträgen von Königsberg (1656)119 und Wehlau (1657)120, durch die es erst schwedisches Lehen, dann selbständig wurde. Es betrieb aber nach 1618 keine selbständige Politik mehr, sondern wurde von Berlin aus regiert. Im Brandenburger Staat rückte es an die Peripherie, wurde zu einem Nebenland, das dem entstehenden Staat „Preußen" zwar den Namen gab, aber politisch keine wichtige Rolle mehr spielte — weder im Herrschaftsgebiet der Brandenburger Kurfürsten noch gar in der europäi-

Zum Folgenden vgl. Zeeden 232—234; Lutz, Heinrich: Reformation und Gegenreformation (Oldenbourg Grundriß der Geschichte, hg. v. Jochen Bleicken u. a., Bd. 10), München/Wien 1982, 101 f.; Koch, H. W.: A History of Prussia, London/ New York (1977), 40 f. Kohl, Wilhelm: Das Zeitalter der Glaubenskämpfe (1517— 1618), in: Ders. (Hg.): (Westfälische Geschichte in drei Textbänden und einem Bildund Dokumentenband, Bd. 1:) Von den Anfängen bis zum Ende des Alten Reiches, Düsseldorf (1983), 525. 117

Zernack 413. Schlenke, Manfred: Preußen-Ploetz. Preußische Geschichte zum Nachschlagen, Freiburg/Würzburg 1987, 28. 1 2 0 Schlenke, Preußen-Ploetz, 33. 118

119

32

Grundsätzliche Überlegungen

sehen Politik. Es erscheint daher sinnvoll, die Untersuchung mit dem Jahr 1618 abzuschließen. An einigen Stellen werden aber Ausblicke gegeben, da das Ende der Herzogszeit zwar im politischen Leben des Herzogtums Preußen einen bedeutenden Umbruch darstellt, andere Gebiete, etwa die Buchdruckgeschichte, aber von diesem Umbruch weniger berührt wurden. Die geistige und religiöse Geschichte Preußens in der Reformationszeit war teilweise eng mit der politischen verknüpft. Schon durch die Begründung des Herzogtums fiel nicht nur eine politische und dynastische, sondern auch eine religiöse Entscheidung. Herzog Albrecht nahm die Reformation an und begann, sie mit Unterstützung seiner beiden Bischöfe Erhard von Queiß und Georg von Polenz durchzusetzen. Durch die Gründung der Universität 1544 wollte der Herzog beginnen, eigene reformatorische Pfarrer, Lehrer und Juristen heranzuziehen. Albrecht war von dem Nürnberger Theologen Andreas Oslander für die Lehre Luthers gewonnen worden. Der Einfluß Oslanders prägte sowohl Albrechts persönliche Frömmigkeit als auch bald die preußische Kirche. 1548 hatte Oslander aus Nürnberg weichen müssen, weil er das Interim ablehnte121. Albrecht berief ihn nach Königsberg und machte ihn zum Professor Primarius der Theologie. Aber Oslander bekam bald Streit mit seinen Fakultätskollegen. In der Rechtfertigungslehre vertrat Oslander eine von der Wittenberger Theologie abweichende Meinung. Er erklärte, nicht das historische Ereignis des Leidens und Sterbens Christi mache „gerecht", sondern die persönliche Wirkung Gottes in dem Gläubigen, denn dadurch empfange er die zum Wesen Gottes gehörende „wesentliche Gerechtigkeit"122. Die Wittenberger betonten demgegenüber die Bedeutung des historischen Kreuzestodes Christi123 und verdammten Oslanders Lehre. Der Streit um diese Lehrmeinungen spaltete in der folgenden Zeit nicht nur die protestantische Pfarrerschaft, sondern auch das Kirchenvolk in Preußen und im „Ausland". Der Unterschied zwischen den beiden Positionen galt als so schwerwiegend, daß vermittelnde oder abwä121

Zum Folgenden vgl. Schott, Th.: Oslander: Andreas O., in: ADB XXIV, 478— 480; Stupperich, Martin: Oslander in Preußen, 1549—1552 (Arbeiten zur Kirchengeschichte, hg. v. Kurt Aland u. a., Bd. 44), Berlin/New York 1973, 23—29; zur Rechtfertigungslehre am klarsten ebenda 138. 122 Referiert in der „Repetitio Corporis doctrinae", zitiert nach Hubatsch, Kirche ΙΠ, 172. 123 Stupperich 138.

Das Herzogtum Preußen im 16. und frühen 17. Jahrhundert

33

gende Äußerungen selbst in den Geruch der Ketzerei kamen. Sogar sol-

che Theologen, die der Herzog um Vermittlung zwischen den streiten-

den Konfessionsrichtungen gebeten hatte, mußten sich schließlich für eine der Gruppen erklären. Der Hofprediger Johann Funck wurde Oslanders treuer Anhänger, Interpret und Verteidiger124. Joachim Mörlin, Prediger an der Kirche der Altstadt Königsberg, entwickelte sich zu seinem schärfsten Gegner125. Die königlich-polnischen Kommissarien entschieden schließlich 1566 den Konflikt durch politischen Druck. Die Osiandergegner Joachim Mörlin und Georg von Venediger wurden zu Bischöfen ernannt126, und eine Synode erhielt den Auftrag, eine einheitliche Lehrgrundlage für die preußische Kirche auszuarbeiten127. Dieses Bekenntnis galt als „Wiederholung" der grundlegenden Bekenntnisschriften der Lutheraner und hieß deshalb „Repetitio Corporis doctrinae"128. Pfarrer und Hochschullehrer wurden auf diese Bekenntnisformel verpflichtet129. Wer sich nicht fügte, mußte damit rechnen, sein Amt zu verlieren. Wie tief die Spaltung gedrungen war, zeigen die Auswirkungen dieser Anordnung. Auch Pfarrer in Landstädten gingen lieber ins Exil, als der Lehre Oslanders öffentlich abzuschwören130. Die preußische Kirche blieb nicht lange ruhig. Der streitlustige Bischof von Samland, Tilemann Heßhus, löste 1574 mit seiner Schrift „Adsertio Sacrosancti Testamenti [...]" einen dogmatischen Streit über das Verständnis der zwei Naturen Christi aus131. Es ging darum, ob die Eigenschaften der göttlichen Natur Christi, zum Beispiel die göttliche 124

Gause 302.

125

In einem Brief vom 1. Mai 1555 fragte Herzog Albrecht Mörlin, ob er auf die

Seite der Osiandergegner übergegangen sei, wie seine Predigten vermuten ließen, und erinnerte ihn an die ihm zugedachte Vermittlungsaufgabe, Koch, Franz (Hg.): Briefwechsel Joachim Mörlins mit Herzog Albrecht, Wolf von Cöteritz und Christoph von Creutz, in: AMS Neue Folge 39/1902, 555. 126

Hubatsch, Kirche I, 29.

127

So berichtet in der Narratio der „Repetitio Corporis doctrinae" von 1567, zitiert

nach: Hubatsch, Kirche ΙΠ, 150. 128

"Repetitio Corporis doctrinae", zitiert nach Hubatsch, Kirche ΙΠ, 190.

129

Zum Folgenden vgl. Repetitio, zitiert nach Hubatsch, Kirche ΙΠ, 150 f.

130

Gause 304.

131

Hubatsch, Kirche I, 113; Erscheinungsdatum der „Adsertio" genannt im Short

Title Catalogue of Books printed in the German-speaking countries and german Books printed in other countries. From 1455 to 1600 Now in the British Museum, London 1962, 401; Titel nach VD 16 Η 2995 (Hubatsch hat nur „Adsertio sancti testamenti").

34

Grundsätzliche Überlegungen

Allmacht, der menschlichen Natur Christi „in concreto" als wirkliche Eigenschaften oder nur gleichsam als Begriffe „in abstracto" zugechrieben werden könnten. Heßhus behauptete, „Humanitati Christi [...] in abstracto tribui et poße et debere omnipotentiam, vivificationem et adorationem" 132 , während sein Gegenspieler Benedikt Morgenstern, Prediger am Dom 133 , das „in concreto" dagegenhielt. Auch dieser Streit beschäftigte die preußische Kirche sehr heftig, bis Herzog Georg Friedrich ihn 1577 durch einen Gewaltakt beendete. Der Herzog ließ Heßhus' Lehre durch eine Synode verurteilen134, ihn selbst absetzen und ausweisen und übertrug seinem Gegner Johann Wigand die Verwaltung beider preußischen Bistümer135. Vielleicht, um derartig zermürbende Auseinandersetzungen künftig zu vermeiden und sich des Rückhalts der Evangelischen im Reich zu versichern, nahm die preußische Kirche 1579 die Konkordienformel an136. Nach dem Tode Bischof Wigands 1587 schaffte der Herzog die Bischofswürde ganz ab, ließ die bischöflichen Einkünfte für die Förderung von Schulen verwenden137 und übertrug die geistlichen Befugnisse des Bischofs zwei Kollegialbehörden, den Konsistorien für Samland und Pomesanien138. Wahrscheinlich wollte der Herzog damit den politischen Einfluß religiöser Streitigkeiten begrenzen. Zwar gestand Kurfürst Johann Sigismund nach langem Lavieren die Einrichtung von „Inspektoren" an Stelle der Bischöfe zu139. Verwirklicht wurde dieses Projekt jedoch nicht. Für die nächste Aufregung in der preußischen Kirche sorgte die brandenburgische „Herrschaft" selber. Kurfürst Johann Sigismund konvertierte 1613 zum Calvinismus und versuchte, die Anerkennung des reformierten Bekenntnisses auch in Preußen durchzusetzen. Der Berliner Hofprediger Martin Fussel (Fusselius) verteidigte in einem Traktat die

Akten der Synode vom 17. Januar 1577, HBA J 2 1014, 1 r. Hubatsch, Kirche I, 113; zu Morgenstern ferner Hase, Carl Alf.: Morgenstern, Benedikt M., in: ADB 22, 228—230. 134 Hubatsch, Kirche I, 114. 135 Vgl. Akten der Synode vom 17. Januar 1577, HBA J 2 1014, berichtet von Heßhus' Amtsenthebung. Breysig 58 erklärt, daß Heßhus' Bischofsstuhl nicht wieder besetzt wurde. 136 Hubatsch, Kirche 1,116. 137 Vgl. Hubatsch, Kirche 1,119. 138 Hubatsch, Kirche I, 29 f.; Horn 178. 139 Zum Folgenden vgl. Hubatsch, Kirche I, 125. 132 133

Das Herzogtum Preußen im 16. und frühen 17. Jahrhundert

35

calvinische Lehre und damit die Konversion des Kurfürsten140. Der Kurfürst ließ am 20. Oktober 1616 im Schloß zu Königsberg den ersten reformierten Gottesdienst auf preußischem Boden abhalten141. Doch diese Akte des Bekennens wirkten als Provokationen, da der Calvinismus im lutherischen Preußen als Ketzerei galt. Im Reich, damit auch in Brandenburg, konnte sich der Kurfürst auf das ius reformandi berufen, das ihm der Augsburger Religionsfriede zugestand, auch wenn er den Calvinismus nicht eindeutig als reichsrechtlich geduldete Konfession schützte. Das im Reich verbindliche Recht galt aber nicht für Preußen, das zum polnischen Lehensverband gehörte. Die preußischen lutherischen Theologen, allen voran die beiden Theologieprofessoren Martin Behm und Philipp Arnold, griffen in Schriften und Predigten den Calvinismus heftig an142. In der Folge entspann sich ein langdauernder „Schriftenstreit", und die Auseinandersetzung hatte auch unmittelbar politische Folgen. Der des Calvinismus verdächtigte Hauptmann von Brandenburg, Fabian von Dohna der Jüngere, mußte nach langen Verhandlungen auf Druck der Stände zurücktreten143. Der Konflikt endete mit einem für die Zeit noch nicht typischen Etappensieg der Toleranz. Der Kurfürst mußte sich mit der „privaten" Ausübung seiner Religion begnügen. In Mandaten 1614 und 1615 ließ er die Kanzelpolemik verbieten144 und bereitete damit der konfessionell indifferenten Haltung den Weg, die den preußischen Staat des sich entwickelnden Absolutismus kennzeichnen sollte. Auch den Katholiken mußte Johann Sigismund laut seinem Belehnungsvertrag von 1611 die private Religionsausübung zugestehen, ihnen eine Königsberger Kirche einräumen und einen katholischen Pfarrer anstellen und bezahlen145. Diese „Toleranz" hatte nichts mit einer konfessionell oder gar religiös gleichgültigen Haltung zu tun, sondern bedeutete nur im Wortsinne „Duldung" der fremden Minderheitskonfession. Diese Duldung aber bildete die Ausgangsbasis für die rechtliche Gleichstellung der christlichen Konfessionen, die in der Aufklärungszeit proklamiert und in den „konstitutionellen" deutschen Einzelstaaten im 19. Jahrhundert als Verfassungsnorm festgesetzt wurde. 140 141 142 143 144 145

Immekeppel 110. Hubatsch, Kirche I, 123. Hubatsch, Kirche I, 123. Immekeppel 127. Hubatsch, Kirche I, 123. Gause 380 f.; Hubatsch, Kirche I, 122.

III Quellen- und Literaturbericht Die Quellenlage für die Erforschung Preußens in der Herzogszeit stellt sich relativ günstig dar, trotz der Verluste des Zweiten Weltkriegs und trotz der Schwierigkeiten, die der Kalte Krieg lange Zeit gerade den Forschungen zur preußischen Geschichte entgegengestellt hat. Für die Erforschung der Kommunikation in der „Macht-Öffentlichkeit" stehen vor allem die obrigkeitlichen Akten zur Verfügung: Landtagsprotokolle146 und andere Ständesachen147, der Schriftwechsel des Herzogs mit seinem obersten Regierungsgremium, der Oberratsstube148, sowie die Akten mit Bezug auf Städte und Dörfer. Dazu gehören noch einige Akten über den Bauernaufstand (HBA J 916). Für das Machtverhältnis zwischen Fürst und Ständen sowie das preußisch-polnische Lehensrecht sind die 1616 gedruckten „Privilegia der Stände deß Herzogthumbs Preussen" die wichtigste Quelle149. Das Nachrichtenwesen, das Kommunikationssystem der MachtÖffentlichkeit, erschließen die Postakten in einem eigenen Teilbestand (EM 113) und bei den verschiedenen Provenienzen, vor allem Städten und Ämtern. Eine besondere Quelle zur Erforschung des Nachrichtenwesens stellen ferner die geschriebenen „Zeitungen" dar, die am herzoglichen Hof zusammenliefen150. Da die Nennung des Nachrichtenortes Bsp.: Opr. Fol. 480; 572; 595/1; 607; 630. Bsp.: EM 87 e 965; EM 87 e 48. 1 4 8 Teilweise ediert bei Klinkenborg, Melle (Hg.): Acta Brandenburgica, 4 Bde., Berlin 1927—1930. 146

147

1 4 9 PRIVILEGIA//[rot:]Der Stände deß Hertzog=//thumbs Preussen/ darauff das Landt fun=//[schwarz:]diert vnd biß jtzo beruhen, //[rot·.] A u f f Verordnung der Herren Königlichen /'[schwarz:] Commissarien nach jnnhalt deß A n n o 1612, Reces=//ses den Ständen in den Druck gefertiget.//Turpe est homini praesertim Nobi=/'U ignorare jus in quo ipse natus sit.//[rot:] Brvnsbergae,//[schwarz:] Typis GEORGII Schonfels.//[rot:] A n n o 1616.—Im folgenden zitiert: Privilegia. 150

Bsp.: H B A He 908; Hh 912; Hi 913; Hk 914; H m 915.

Quellen- und Literaturbericht

37

und der Quelle schon im 16. Jahrhundert sozusagen zu den Berufspflichten eines „Zeitungers" gehörte, läßt sich aus den Nachrichten ein ganzes Netz von Nachrichtenverbindungen, Zentren und Knotenpunkten rekonstruieren. Aus ihnen können, wenigstens annähernd, die Reichweite und die Art der herzoglichen Nachrichtenverbindungen bestimmt werden. Die Fülle und Vielfalt der Quellen sollte aber nicht über ihre Aussagekraft täuschen. Trotz großer Quellenmengen ist der Alltag öffentlicher Kommunikation aus den Quellen nur zu erschließen, nicht unmittelbar abzulesen. Im 16. und bis weit ins 17. Jahrhundert bestand Verwaltung nicht in der Festlegung und Überwachung alltäglicher Abläufe, sondern beschränkte sich in den weitaus meisten Fällen auf die Beilegung von Konflikten. Daher sind die Landtage als eine Institution der Konfliktregelung besonders ausführlich dokumentiert. Auch herrscht selbst in den Akten das Prinzip vor, weniger Vorgänge als Beschlüsse zu dokumentieren. Aus Beschlüssen kann aber weder auf ihre Entstehung noch auf ihre praktische Umsetzung geschlossen werden. Trotz der Quellenfülle ist die Uberlieferung punktuell und zeigt Vorgänge, wenn überhaupt, als eine Abfolge von Augenblicksbildern. Zudem wurde die große Menge der mündlichen Kommunikationsvorgänge — mit Ausnahme mancher Landtagsreden — nicht schriftlich festgehalten und kann allenfalls aus indirekten Zeugnissen erschlossen werden. Für die wissenschaftliche Darstellung ergibt sich das Paradox, daß die genaue Wiedergabe von Quellen weder genau noch vollständig den vergangenen „Tatsachen" entspricht und daß eine Darstellung, die Quellen nur als Hinweise auf diese Tatsachen versteht, der vergangenen „Wirklichkeit" vermutlich näher kommt. Interpreten und Lesern muß bewußt sein, daß ihnen die überlieferten Quellen nur Hinweise auf das vergangene Geschehen geben. Vermutlich noch schlechter steht es um die Überlieferung dessen, was man als Vorform der „Massenkommunikation" bezeichnen könnte 151 , also um die Zeugnisse einer möglichen Öffentlichkeit der Informationen. Illustrierte Flugblätter waren zwar in der Frühen Neuzeit nicht ausschließlich tagesaktuell und wurden auch länger aufbewahrt. „Gemalte brieff" schmückten zum Beispiel die Wand einer Königsberger Stu-

151

Dazu vgl. Koszyk, Kurt: Vorläufer der Massenpresse. Ökonomie und Publizistik zwischen Reformation und Französischer Revolution. Öffentliche Kommunikation im Zeitalter des Feudalismus, München (1972), passim.

38

Grundsätzliche Überlegungen

dentenbude152. Flugblätter hatten jedoch eine viel geringere Chance, lange Zeit zu überdauern, als Flugschriften oder gar Bücher 153 . In Königsberg erschienen, soweit bekannt, nicht besonders viele Flugblätter, so daß sich aus dem Erhaltenen keine kontinuierliche Überlieferung rekonstruieren läßt. Wir sind also nicht oder kaum orientiert über die Informationsbedürfnisse preußischer Leser und Hörer und darüber, was für diese Bedürfnisse produziert wurde. Viele Berichte über „Massenkommunikation" stammen zudem aus sozusagen amtlicher Feder. Vorschriften, betreffend üble Nachrede, Fluchen, Schwören und Gotteslästerung, stehen in den Landesordnungen und sollten ausschließlich dem Zweck dienen, diese der Obrigkeit unerwünschten Kommunikationsvorgänge zu unterbinden oder wenigstens zu kontrollieren. Dadurch entsteht die interpretatorische Schwierigkeit, daß die Vorgänge, auf die es einer Geschichtsschreibung der Kommunikation unter anderem ankommen muß, von den Zeitgenossen planmäßig unterdrückt wurden und daß nur Quellen überliefert sind, die dieses Unterdrücken rechtfertigten oder erst ermöglichten. Für die Erforschung der „Öffentlichkeit der Bildung" scheinen die Quellen auf den ersten Blick reichlicher zu fließen. Vorgänge innerhalb der Universität Königsberg einschließlich der Druckereigeschichte sind durch die Universitätsakten (EM 139) zugänglich. Sie geben auch über einige Teile der Geschichte des Buchhandels Auskunft, der neben dem Buchdruck die Verbreitung von Bildungsgütern möglich machte. Zur Ermittlung der Buchdruck-Tätigkeit in Königsberg stehen einige bibliographische Hilfsmittel zur Verfügung, darunter als wichtigste das „Verzeichnis der im deutschen Sprachgebiet erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts" (VD 16)154 und die Kataloge der Wolfenbütteler Bibliotheksbestände von Martin Bircher 155 und Ursula Zachert 156 . Da die Kata-

152 „gedenck zedell Bastian Zuckenramfft sein bruder ludwigk zuckenramfft belangendtt", Januar 1553, EM 139 j 274,1 r; Bezeichnung des Schriftstücks ebenda 2 v. 153 Dazu Esch, Arnold: Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers, in: HZ 240/1985, 555 und 569. 1 5 4 Verzeichnis der im deutschen Sprachgebiet erschienen Drucke des 16. Jahrhunderts—VD 16—I. Abteilung: Verfasser—Körperschaften—Anonyma, Bd. 1—18, Stuttgart 1983 ff. 1 5 5 Bircher, Martin (Hg.): Deutsche Drucke des Barock 1600—1720 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, München 1977 ff.

Quellen- und

39

Literaturbericht

löge aber die Königsberger Buchproduktion bei weitem nicht vollständig aufführen, erwiesen sich weitere Konsultationen in speziellen Verzeichnissen sowie

einige Bibliotheksstudien

als notwendig.

Die

Herzog

August Bibliothek Wolfenbüttel verfügt über ein nach D r u c k o r t e n geordnetes Bücherverzeichnis. Hinweise auf Flugblätter aus P r e u ß e n geben auch die Edition v o n H a r m s , Schilling und W a n g 1 5 7 sowie das bibliographische Verzeichnis v o n Zawadzki 1 5 8 . Darüber hinaus k o n n t e ich in den Bibliotheken in Berlin (Staatsbibliothek U n t e r den Linden), R o stock, Uppsala und Helsinki weitere D r u c k e besonders des 17. Jahrhunderts ausfindig machen 1 5 9 . F ü r die Musikdrucke wurden unter anderem das Repertoire International des Sources Musicales (RISM) 1 6 0 und das Bestandsverzeichnis der Königsberger Stadtbibliothek v o n J o s e p h Müller herangezogen 1 6 1 . Eine vollständige Liste der Königsberger D r u c k e aus den ersten hundert Jahren des Buchdrucks in der Stadt w u r d e angestrebt, ist aber nicht mit letzter Sicherheit zu erreichen. Das dieser A r -

1 5 6 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (Hg.): Verzeichnis medizinischer und naturwissenschatlicher Drucke 1472—1830, bearbeitet von Ursula Zachert, Bd. 9, Reihe C: Ortsindex, Tl. 2, Η—M, Nendeln 1978. 157 Harms, Wolfgang, zusammen mit Michael Schilling und Andreas Wang (Hgg.): Die Sammlung der Herzog August-Bibliothek in Wolfenbüttel, Kommentierte Ausgabe, Bd. 2: Historica (Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts, hg. v. Wolfgang Harms, Bd. Π), München 1980. 158 Zawadzki, Konrad: Polnische und Polen betreffende Flugschriften des 16—18. Jahrhunderts, Bibliographie, Wroclaw 1984. 159 Körber, Esther-Beate: Königsberger Frühdrucke in der Universitätsbibliothek Helsinki, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Neue Folge, Bd. 1/1991, Η. 1,129—136. 1 6 0 Repertoire international des sources Musicales Β / V m / I : Das deutsche Kirchenlied (DKL). Kritische Gesamtausgabe der Melodien, hg. von Konrad Ameln, Markus Jenny und Walther Lipphardt, Bd. I, Teil 1: Verzeichnis der Drucke, Kassel/ Basel/ Tours/ London 1975; Repertoire international des sources Musicales B / VDI/ 2; Bd.I, Teil 2: Verzeichnis der Drucke, Register, Kassel/ Basel/ London 1980; Repertoire international des sources Musicales, Publie par la Societe Internationale de Musicologie et l'Association Internationale des Bibliotheques Musicales A I, Einzeldrucke vor 1800, 9 Bde., Kassel/Basel/Tours/ London 1971—1981. 161 Müller, Joseph: Die musikalischen Schätze der Königlichen- und UniversitätsBibliothek zu Königsberg in Preußen. Aus dem Nachlasse Friedrich August Gottholds. Ein Beitrag zur Geschichte und Theorie der Tonkunst. Im Anhang[:] MüllerBlattau, Joseph: Die musikalischen Schätze der Königüchen- und UniversitätsBibliothek zu Königsberg in Preußen, (Bonn 1870) Ndr. Hildesheim/New York 1971.

40

Grundsätzliche Überlegungen

beit angefügte Verzeichnis der Königsberger Drucke des Zeitraums von 1523 bis 1625 nennt die bis jetzt aufgefundenen Druckwerke. Es sind insgesamt etwa 1 100 — für einen Zeitraum von 100 Jahren verschwindend wenige. Sie für einen repräsentativen Ausschnitt des in Königsberg Gedruckten zu halten, dürfte vermessen sein. Quantitative Schlüsse lassen sich aus dem Bestand daher nicht ziehen. Wohl aber erlaubt der gefundene Ausschnitt des Druckaufkommens Aussagen darüber, welche Themen und Sprachen für die preußische „Öffentlichkeit der Bildung" von Belang waren. Umfang und Thematik des Buchdrucks, seine Sprachen und die für ihn schreibenden Autoren bestimmen die „Öffentlichkeit der Bildung" nicht allein. Darüber hinausgehende Mitteilungen sind jedoch weitaus unsicherer und bruchstückhafter. Nur zwei Kataloge öffentlicher Bibliotheken des 16. Jahrhunderts im Herzogtum Preußen haben sich erhalten: ein Inventar der herzoglichen „Kammerbibliothek" 162 und ein Verzeichnis der ehemaligen Ordensliberei Tapiau163. Beide gingen in die 1540 öffentlich gemachte164 Schloßbibliothek in Königsberg über 165 . Inventare privater Bibliotheken gibt es so gut wie nicht mehr. Eine Ausnahme bildet das Verzeichnis der Bücher des pomesanischen Bischofs Erhard von Queiß (f 1529)166. Trotzdem können private Bibliotheken für die Kommunikation der Gelehrten untereinander große Bedeutung gehabt haben; denn Verleih und Versand von Büchern waren üblich. Für die Pfarrbibliotheken des „platten Landes" hat Iselin Gundermann167 die Bestände aus amtlichen Akten erschlossen. Buchhändlerkataloge ließen sich für die Erschließung preußischer Drucke nicht heranziehen. Von 1590 bis 1630 ist kein einziger Königs162

Thielen, Peter G[errit]: Ein Katalog der Kammerbibliothek Herzog Albrechts

von Preußen aus dem Jahre 1576, in: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg Bd. IV, Kitzingen 1954, 202—226; Bd. V, Kitzingen 1954, 242—252. 163

Malz, Hans-Georg: Das Bibliothekswesen des Deutschen Ritterordens in Preu-

ßen unter besonderer Berücksichtigung des Verzeichnisses der Ordensliberei Tapiau, Köln 1970 (masch.). 164

Schottenloher, Karl: Bücher bewegten die Welt. Eine Kulturgeschichte des Bu-

ches, Bd. I: Vom Altertum bis zur Renaissance, Stuttgart 1968, 222. 165

Tondel, Janusz: Das Schicksal der Königsberger Schloßbibliothek, in: Preußen-

land 25/1987, Nr. 2/3, 39 f.; Malz 55. 166

EM 39 d 4, 7 r; 10 r—13 r; 18 r—27 v.

167

Gundermann, Iselin: Die Anfänge der ländlichen evangelischen Pfarrbibliothe-

ken im Herzogtum Preußen, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte, Göttingen, 110/1974, 104—154.

Quellen- und Literaturbericht

41

berger Druck im Frankfurter Meßkatalog aufgeführt168. Dabei besuchten die Königsberger Drucker und Buchhändler regelmäßig die Messen169 und handelten gewiß nicht nur mit fremder Ware. Unbeabsichtigte Ungenauigkeit könnte beim Meßkatalog ebenso eine Rolle gespielt haben wie Rücksicht auf die kaiserliche und darum katholische Bücherzensur170. Nur zwei Quellen führen Bücher auf, die von preußischen Buchhändlern feilgeboten wurden. Der Buchhändler Fabian Reich legte 1558 ein Verzeichnis der Bücher an, die sein Sohn Jonas ins Ermland mitgenommen hatte, um sie dort zu verkaufen171. Der ermländische Bischof hatte die Bücher als Contrebande beschlagnahmen lassen, und Reich wollte mit Hilfe des Verzeichnisses seinen Anspruch auf Rückgabe der Bücher und Schadensersatz stützen. Das zweite Bücherverzeichnis nennt für 1590 die im Laden des Druckers und Buchhändlers Osterberger verkauften Bücher172. Inventare fremder Buchhändler in Königsberg haben sich nicht erhalten. Auch die Geschäftsbeziehungen der Buchhändler sind nur bruchstückhaft anhand von Schuld- oder Paßbriefen rekonstruierbar. Der nachlebende Historiker erhält von Königsberg als Druckort und Knotenpunkt von „BildungsH-Kommunikation darum einen in mehrfacher Hinsicht verfälschten Eindruck. Bücher, die in Königsberg verfaßt oder gedruckt wurden, müssen nicht notwendig auch dort verkauft worden sein. Andererseits war in Königsberg möglicherweise sehr viel mehr und anderes Gedruckte zugänglich und käuflich, als die Drucker 168

Lohmeyer, K[arl]: Geschichte des Buchdrucks und des Buchhandels im Herzog-

tum Preußen I, in: Archiv für Geschichte des deutschen Buchhandels 18/1896, 76. 169

ζ. B. Moritz Guttich (Lohmeyer 73 f.); Jonas Specklins Witwe (Lohmeyer,

K[arl]: Geschichte des Buchdrucks und des Buchhandels im Herzogtum Preußen I, in: Archiv für Geschichte des deutschen Buchhandels 19/1897, 301). Außerdem Grimm, Heinrich: Die Buchführer des deutschen Kulturbereichs und ihre Niederlassungsorte in der Zeitspanne 1490 bis um 1550, in: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 7/1967, 1687; Erwähnung Daubmanns im Meßkatalog von 1569 (Lohmeyer 76). Allgemein Grimm 1171. Segebades Paß nach Leipzig: EM 139 k 188, 1 r—2 r. 170

dazu vgl. Hemels, Joan: Pressezensur im Reformationszeitalter (1475—1648), in:

Fischer, Heinz-Dietrich (Hg.): Deutsche Kommunikationskontrolle des 15. bis 20. Jahrhunderts (Publizistik-Historische Beiträge, hg. v. Heinz-Dietrich Fischer, Bd. 5), München/New York/London/Paris 1982, 32. 171

Zum Folgenden vgl. Verzeichnis der Bücher Fabian Reichs, 6. Dezember 1558,

E M 139 k 167, 5 r—11 r, datiert 11 v. Zu den Vorgängen vgl. Schreiben Fabian Reichs an den Herzog, 6. Dezember 1558, ebenda 4 r, datiert 7 v. 172

Zitiert nach Lohmeyer 93 f.

42

Grundsätzliche

Überlegungen

aus eigener Produktion anboten. Doch der private Buchkauf und Verleih, der Kolportagehandel von Krämern auf dem Lande und der Import überhaupt lassen sich bis auf geringe Ausnahmen nicht mehr erschließen. Beim Blick auf die erhaltenen Akten und Bücher tritt Königsberg also stärker als Druckort in Erscheinung denn als Ort des Austauschs von Bildungsgütern, obwohl die Stadt dies auch und vielleicht in noch höherem Maße war. Da sich das verfügbare traditionelle und aktuelle Buchangebot kaum, das aktuelle Druckschaffen aber in höherem Grade rekonstruieren läßt, erscheint die Zusammensetzung des Buchangebots vermutlich „aktueller", als sie war. Da der größere Teil des Königsberger Druckschaffens auswärts verhandelt wurde, in Polen und Deutschland, kommt aufgrund der Quellenlage auch mehr die Ausstrahlung des Königsberger Buchdrucks als seine Wirkung im Lande selbst in den Blick. Gerade den Buchmarkt, das tatsächliche aktuelle und wechselnde Angebot von Büchern und anderen Druckwerken zum Kauf und Verleih kann ein bibliographisches Verzeichnis eher andeuten als beschreiben. Vorgänge im Kreis der Universität sind aus dem Bestand des Herzoglichen Briefarchivs (HBA), vor allem aus seiner Abteilung J zu erschließen. Dort findet man neben Akten und Briefen zum Osianderstreit weitere Korrespondenz zu Universitätsvorgängen, einzelne handgeschriebene Flugblätter und Anschläge sowie Predigtnachschriften. Als gleichsam halboffizielle Zeugnisse gewähren sie Einblick in Kommunikationsstrukturen außerhalb des Buchdrucks, die sonst ganz verdeckt bleiben müßten. Ein vollständiger Uberblick über derartiges Material läßt sich aber nicht gewinnen, da der Bestand des HBA erst zu geringen Teilen geordnet ist. Eine wichtige, wenn nicht sogar die zentrale Institution der „Öffentlichkeit der Bildung" stellte die Kirche dar, auch außerhalb der universitären Theologie. Die Kirchenverfassung des Herzogtums Preußen ist auch in ihren vielen Veränderungen gut bekannt durch die gedruckten und edierten Kirchenordnungen bei Sehling173 und Hubatsch174 sowie durch die Landesordnungen. Das kirchliche Leben auf höherer und nie-

173 Sehling, Emil (Hg.): Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, hg. von Emil Sehling, Vierter Bd.: Das Herzogtum Preußen. — Polen. — Die ehemals polnischen Landestheile des Königreichs Preussen. — Das Herzogthum Pommern, Leipzig 1911. 174 Hubatsch, Walther: Geschichte der evangelischen Kirche Ostpreußens, Bd. ΙΠ, Dokumente, Göttingen 1968.

Quellen- und Literaturbericht

43

dererer Ebene spiegelt sich in den Konsistorial- und Synodalakten175. Zufallsfunde in den Akten der Dorfschaften ergänzen das Bild. Allerdings gilt es immer die prinzipiell fragmentarische Uberlieferung zu bedenken, auch wenn die historische Darstellung noch so geschlossen und lückenlos aussieht. Studien, die sich über den gesamten Bereich dieser Arbeit erstreckten, liegen bis jetzt nicht vor. Eine „empirische" Untersuchung auch nur einer der drei genannten Strukturen von Öffentlichkeit für ein Territorium existiert so wenig wie eine Gesamtdarstellung der „Öffentlichkeiten" eines Territoriums im 16. Jahrhundert überhaupt. Einzelne Aspekte dieser Öffentlichkeiten im Herzogtum Preußen sind aber untersucht oder gar systematisch erforscht. Gemäß älteren Auffassungen von dem, was als Geschichte zu würdigen sei, haben Konflikte und Veränderungen lange Zeit größeres Interesse gefunden als das Gleichbleibende und Unscheinbare. So sind die Auseinandersetzungen zwischen Fürst und Ständen auf den Landtagen schon im 19. Jahrhundert erforscht 176 , von Breysig zusammengefaßt177 und von der Schule Walther Hubatschs weiter untersucht worden. Die Arbeiten von Kleinertz 178 , Ommler 179 , Petersohn 180 , Fligge und Immekeppel181 sind — neben anderen — daraus hervorgegangen. Dolezels Arbeit 182 beleuchtet das ebenfalls konfliktreiche Verhältnis Preußens zu Polen zur Zeit Herzog Albrechts. Bei der Erforschung der Öffentlichkeit der Bildung lag das Schwergewicht auf den großen religiös-politischen Konflikten, dem Streit um Oslanders Theo-

175

Bsp.: H B A J 2 1014; H B A Konz. J 2 1303; EM 34 j 428.

176

Toeppen, Max: Die preußischen Landtage während der Regentschaft des bran-

denburgischen Kurfürsten Johann Sigismund (1609—1619), in: AMS 33/1896, 4 1 7 — 549. 177

Breysig, Kurt (Hg.): Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte des Kurfürsten

Friedrich Wilhelm von Brandenburg, 15., Ständische Verhandlungen 3 (Preussen), Berlin 1894. 178

Kleinertz, Everhard Karl Bernhard: Die Politik der Landstände im Herzogtum

Preußen 1562—1568, Diss. phil. Bonn 1971 (1972). 179

Ommler, Norbert: Die Landstände im Herzogtum Preußen 1543—1561, Diss,

phil. Bonn 1967. 180

Petersohn, passim.

181

Immekeppel, Heinz: Das Herzogtum Preußen von 1603 bis 1618, Studien zur

Geschichte Preußens, hg. von Walther Hubatsch, Bd. 24), (Köln und Berlin 1975). 182

Dolezel, Stephan: Das preußisch-polnische Lehensverhältnis unter Herzog Al-

brecht von Preußen (1525—1568), (Studien zur Geschichte Preußens, Bd. 14, Köln und Berlin 1967).

44

Grundsätzliche Überlegungen

logie (Fligge, Stupperich183) und der Auseinandersetzung um die Konversion Johann Sigismunds zum Calvinismus184. Die theologischen Auseinandersetzungen Heßhus' und Wigands in den 70er Jahren des 16. Jahrhunderts haben dagegen noch keine ausführliche Darstellung gefunden. Sie galten vermutlich wie schon den Biographen Heßhus'185, so auch späteren Forschern als scholastische Spitzfindigkeiten, die der Erörterung nicht wert seien. Die Vor- und Frühformen der Massenkommunikation, die per definitionem konfliktlos ist, blieben in dieser Betrachtungsweise völlig unberücksichtigt. Einblick in eher gleichbleibende Strukturen des politischen, geistigen und kulturellen Lebens Preußens verdankt die Geschichtswissenschaft den kulturgeschichtlichen Bemühungen einzelner. Buchdruck und Buchhandel Königsbergs — die Kapp noch vernachlässigte186 — sind von Meckelburg 187 , Lohmeyer 188 , Schwenke189, Benzing190 und Grimm 191 erforscht worden. Krollmann 192 und Gundermann 193 widmeten sich der Geschichte preußischer Bibliotheken. Viele Einzelzüge des kulturellen, aber auch des politischen Lebens der Stadt Königsberg schilderte Fritz

183 Stupperich, Martin: Oslander in Preußen 1549—1552 (Arbeiten zur Krichengeschichte, hg. v. Kurt Aland u. a., Bd. 44), Berlin/New York 1973. 184 Kniebe, Rudolf: Der Schriftenstreit über die Reformation des Kurfürsten Johann Sigismund von Brandenburg seit 1613, Halle 1902. 185 Gaß: Heßhusen, Tileman H., in: ADB 12, 314—316. 186 In Kapp, Friedrich: Geschichte des deutschen Buchhandels bis in das 17. Jahrhundert, Bd. 1, Leipzig 1886, ist Königsberg nicht erwähnt. 187 [Meckelburg, Friedrich Adolf]: Geschichte der Buchdruckereien in Königsberg, Ausgegeben am Tage des in Königsberg stattfindenden Buchdrucker-Jubiläums am 5. December 1840, Königsberg [1840]. 188 Lohmeyer, Karl: Geschichte des Buchdrucks und des Buchhandels im Herzogtum Preußen (16. und 17. Jahrhundert), (Sonderdruck aus dem Archiv für Geschichte des Deutschen Buchhandels. Erste Abtheilung, Bd. XVIII).Leipzig 1896, Β (Zweite Abtheilung, Bd. XIX,) Leipzig 1897. 189 Schwenke, Paul: Hans Weinreich und die Anfänge des Buchdrucks in Königsberg, in: AMS 33/1896, 67—109. 190 Benzing, Joseph: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 12), Wiesbaden 1963. 191 Grimm 1153—1772. 192 Krollmann, C[hristian]: Geschichte der Stadtbibliothek zu Königsberg. Mit einem Anhang: Katalog der Bibliothek des M. Johannes Poliander 1560, Königsberg/Pr. 1929. 193 Gundermann, passim.

Quellen- und

Literaturbericht

45

Gause in seiner Stadtgeschichte194. Für die Darstellung politischer Strukturen sind heute noch ältere verwaltungs- und verfassungsgeschichtliche Arbeiten benutzbar195. Kirchengeschichte und religiöses Leben in Preußen dokumentierten Hubatsch196 und die Dissertation von Andreas Zieger über die preußischen Kirchenordnungen197. Massenkommunikation geriet allerdings auch bei diesen Untersuchungen kaum in den Blick, zumal die Landesordnungen noch auf ihre Edition warten. Die Literatur seit 1960 hat Bernhart Jähnig zusammenfassend besprochen198. Eine Stellung zwischen Literatur und Traditionsquelle nehmen heute die Forschungen zur Postgeschichte Preußens ein. Der preußische Postbeamte Albert Gallitsch (f 1961199) machte die preußische Postgeschichtsschreibung zu seinem wissenschaftlichen Lebenswerk. Erschienen sind nur wenige Aufsätze200. Zwei unvollendete Manuskripte großer Gesamtdarstellungen201 und viele Notizen befinden sich in seinem Nachlaß, der teils im Geheimen Staatsarchiv in Dahlem, teils im Archiv des Deutschen Postmuseums in Frankfurt/Main liegt202. Manche der dort vorhandenen Notizen, Kopien, Exzerpte und Manuskripte müssen heuGause, passim. Conrad, Georg: Geschichte der Königsberger Obergerichte. Mit Benutzung amtlicher Quellen, Leipzig 1907; Horn, passim. 196 Hubatsch, Walther: Geschichte der evangelischen Kirche Ostpreußens, 3 Bde., Göttingen 1968. 197 Zieger, Andreas: Das religiöse und kirchliche Leben in Preußen und Kurland im Spiegel der evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands, Bd 5), Köln/Graz 1967. 198 Jähnig, Bernhart: Die landesgeschichtliche Forschung des Preußenlandes (Ostund Westpreußen) seit 1960 im Uberblick, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittelund Ostdeutschlands, im Auftrage der Historischen Kommission zu Berlin hg. von Otto Büsch und Klaus Zernack, Bd. 38, Mit Beiträgen zum Schwerpunktthema [:] Historische Landschaften des östlichen Mitteleuropa in der Forschung, Erster Teil, Berlin 1989, 81—141. 199 Vogelsang, Ernst; Ein fast vergessener Nachlaß, in: Preußenland 18/1980, 56. 200 Bsp.: Gallitsch, Albert: Der Hamburg-Danziger (pommersche) Postkurs (Druckfahnen im GStAPK, Rep. 92 Gallitsch 14, 21 Seiten). Gallitsch, Albert: Der Zeitungsdebit als Pertinenz der Postmeister (Mskr., GStAPK, Rep. 92, Nr. 27, 59 S.). Weitere Aufsätze mitgeteilt in: Ε. M. F.: Zur Erinnerung an den Postgeschichtier Albert Gallitsch, in: Archiv für deutsche Postgeschichte 9/1962, Heft 2, 52—57. 201 Gallitsch, Albert: Vom Reise-, Boten und Postwesen im ehemaligen Ordenslande Preussen. Ein Beitrag zur ostdeutschen Kulturgeschichte (Honnef/Rhein 1959), (GStAPK Rep. 92 Gallitsch, Nr. 26, 17 Hefte). 202 Vogelsang, Nachlaß, 57. 194

195

46

Grundsätzliche Überlegungen

te verlorene originale Akten ersetzen. Auf die Interpretationen Gallitschs kann man sich jedoch im einzelnen nicht verlassen; seine Darstellung hat nicht den Rang einer Traditionsquelle. Neben den im engeren Sinne fach- oder themenspezifischen Werken wurden für diese Arbeit auch Darstellungen aus Nachbardisziplinen wie Publizistik, Politologie, Rechtswissenschaft und anderen herangezogen, da die „Öffentlichkeit" auch das Thema dieser Wissenschaften bilden kann. In Spezialaspekten können sie der historischen Analyse von Öffentlichkeit zuarbeiten, gerade wenn sie Öffentlichkeit unter ihren eigenen Fragestellungen behandeln.

IV Ziele der Arbeit Die folgende Untersuchung strebt vor allem zwei Ziele an. Einmal will sie die Strukturen und Erscheinungsformen von Öffentlichkeit der Frühen Neuzeit in den genannten drei Bedeutungen anhand der Verhältnisse eines Territoriums darstellen. Zum anderen sollen, soweit möglich, grundsätzliche Aussagen zu den „Öffentlichkeiten" im 16. und frühen 17. Jahrhundert getroffen werden. Für jede Art der Öffentlichkeit wird zunächst der Teilnehmerkreis beschrieben. Darauf folgt die Analyse der für die jeweilige Öffentlichkeit typischen Kommunikationsformen. In jeder Öffentlichkeit, zuweilen in jeder Schicht einer Öffentlichkeit in verschiedener Weise, konkurrierten im 16. Jahrhundert Schriftlichkeit und Mündlichkeit miteinander. Das Verhältnis schriftlicher Ausdrucksformen zu mündlichen und anderen läßt erkennen, inwiefern jede Öffentlichkeit bzw. jede Schicht einer Öffentlichkeit das Gepräge der Schriftkultur trug. Der dritte Schritt der Analyse erschließt jeweils die „dynamische Dimension"203 der Öffentlichkeiten, die ablaufenden Entscheidungsprozesse, die Kriterien und Prinzipien der Entscheidung sowie wichtige Veränderungen in den Entscheidungsstrukturen. Dabei geht es nicht in erster Linie um die verhandelten Themen, die ihre eigene Dramatik und Geschichte haben. Die inhaltlichen Debatten dienen im Folgenden nur als Ausgangspunkt für Untersuchungen über die Formen der Auseinandersetzung und Entscheidung. Die formale Analyse empfiehlt sich aus drei Gründen. Erstens wird jede Öffentlichkeit durch die Form ihrer Debatten weit stärker geprägt als durch ihre Inhalte. Dasselbe Thema nimmt unterschiedliche Gestalt an, je nachdem, in welcher Öffentlichkeit es diskutiert oder verbreitet wird. Zweitens bleibt die Beschreibung eines Teilnehmerkreises nur un2 0 3 Ausdruck bei Giesecke, Michael: Die Untersuchung institutioneller Kommunikation. Perspektiven einer systematischen Methodik und Methodologie (Studien zur Sozialwissenschaft, Bd. 78, Opladen 1988), 22; 157 f.

48

Grundsätzliche

Überlegungen

vollkommen verständlich, wenn nicht erklärt wird, welche Rollen und Funktionen einzelne Teilnehmer und Gruppen im Prozeß der Konfliktlösung und Entscheidung übernehmen. Drittens zeigen sich Veränderungen der Öffentlichkeitsstruktur weitaus öfter an Veränderungen der Form als am Wechsel der Themen. Beispielsweise konzentrierte sich die gelehrte Diskussion im 16. und 17. Jahrhundert durchgehend auf Themen der Religion und Konfession, während die Öffentlichkeit der Bildung von der Reformation über die Orthodoxie bis zu den Anfängen des Pietismus bedeutende Wandlungen durchmachte. Den Abschluß der Analyse einer Öffentlichkeit bildet die Darstellung der Strukturen, durch welche die jeweilige Öffentlichkeit Mitteilungen verbreitete oder verbreiten ließ. Von den Verbreitungsstrukturen hing es ab, welche und wieviele Menschen höchstens an den Prozessen der jeweiligen Öffentlichkeit teilnehmen konnten und über welche räumlichen Entfernungen hinweg Nachrichten bekannt wurden. Darüber hinaus entschied die Art der Nachrichtenverbreitung darüber, wie rasch man auf Mitteilungen reagieren konnte und in welchem zeitlichen Abstand vom Ereignis eine Nachricht noch als neu oder aktuell galt. Der Schlußabschnitt jedes größeren Kapitels behandelt die Beziehungen der jeweiligen Öffentlichkeit zu den anderen. Um Wiederholungen und Verweise zu vermeiden, wird im Hinblick auf die Öffentlichkeit der Macht zunächst nur das Problem ihrer grundsätzlichen Öffnung oder Abschließung gegen andere Öffentlichkeiten untersucht. Der Einfluß der Macht-Öffentlichkeit auf die anderen Öffentlichkeitsstrukturen kommt in den entsprechenden weiteren Abschnitten zur Sprache. In einigen Fällen erwies es sich als möglich und sinnvoll, gut dokumentierte Kommunikationsverläufe exemplarisch für die Entscheidungsfindung in den Öffentlichkeiten zu behandeln. So wurde als Beispiel für die Konfliktregelung in der Macht-Öffentlichkeit der Landtag gewählt, eines der Entscheidungszentren des Territoriums. Landtagsvorgänge sind ausführlich dokumentiert und geben daher am genauesten über die Mechanismen der Konfliktregelung Auskunft. Auf Parallelen in der Entscheidung von Streitfällen vor Gericht wurde bei Gelegenheit hingewiesen. Als Beispiel für die Kommunikationsvorgänge der gelehrten Welt dient die Entscheidung gelehrter Kontroversen. Sie bildet das geistige Zentrum, an dem sich das Bildungsideal immer wieder überprüfen und verändern lassen muß. Der Vergleich zwischen der Entscheidung von Macht- und von gelehrten Kontroversen zeigt Parallelen und Unter-

Ziele der Arbeit

49

schiede auf, die zum Teil die spezifische Spannung zwischen Religion und Politik in der Frühen Neuzeit verursachten. Dagegen mußten Gebiete unberücksichtigt bleiben, deren Erforschung den Rang größerer selbständiger Arbeiten gehabt hätte, etwa die Politik Königsbergs in und gegenüber der Hanse204, die besonderen Beziehungen zum „königlichen Preußen" und die meisten der vielfältigen außenpolitischen Aktivitäten von Herzog und Ständen. Vor allem, weil die Bestände des HBA großenteils noch ungeordnet sind, stellt sich die Quellenlage auf diesen Gebieten undurchsichtig dar. So kann auf die Desiderata nur hingewiesen werden, ohne daß diese Arbeit auch dort die notwendige Detailforschung übernehmen könnte. In ihrer Gesamtheit möchte die Untersuchung deutlich machen, daß und auf welche Art sich Erkenntnisse über Vorgänge öffentlicher Kommunikation in der Frühen Neuzeit gewinnen lassen. Ausgehend von den Ergebnissen dieser Arbeit wird man, wie zu hoffen steht, die weitere Entwicklung der Öffentlichkeiten in der Neuzeit klarer erkennen und beurteilen und vielleicht auch die Diskussion um das gegenwärtige Verständnis von Öffentlichkeit auf festere Grundlagen stellen können.

204

Bsp. dazu bei Ommler 135; Kleinertz 179.

ERSTES KAPITEL

Die Öffentlichkeit der Macht

I Teilnehmerkreis 1. Herzog und Amtleute Da in der Öffentlichkeit der Macht der Offentlichkeitsgrad an Ausdehnung und Rang der Herrschaftsbefugnisse abgelesen werden kann, war der „öffentlichste" Charakter des Herzogtums natürlich der Herzog selbst. Zusammen mit den vier Oberräten bildete er die Regierung. Gleichsam durch Säkularisation der Großgebietiger-Amter des Deutschen Ordens waren die Amter der Oberräte entstanden205. Dem Rang nach waren dies der Landhofmeister, der Oberburggraf, der Obermarschall und der Kanzler206. Sie wurden vom Herzog zu ihren Amtern bestellt207. Bei Anwesenheit des Herzogs im Territorium fungierten die Oberräte als eine Art Kabinett — zusammen mit den vier obersten Hauptleuten, den Hof- und Gerichtsräten und Vertretern der drei Städte208, die zusammen Königsberg bildeten und daher die „drei Städte Königsberg" genannt wurden, nämlich Altstadt, Kneiphof und Löbenicht. In Abwesenheit des Herzogs agierten die Oberräte als seine Stellvertreter. Sie wurden dann die Regenten genannt209. In Zeiten einer Vormundschaft oder eines Interregnums hatten sie die Regierungsgewalt und

Hubatsch, Walther: Verwaltung, in: Gundermann, Iselin: Albrecht von Brandenburg-Ansbach und die Kultur seiner Zeit. Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum Bonn, 16. Juni—25. August 1968, Düsseldorf [1968], 11. 2 0 6 Zum Folgenden vgl. Regiments Nottel://Wie es in Geistlichen vnd Welt=// liehen Regiment zuhalten/ von Marggraff Albrechten/ Christ milder gedächtnuß/ einer gantzen Erbarn Landtschafft//ertheilt. Datiret Konigßbergk den 18. Nouembr. Anno 1542, Privilegia 53 v. 205

207

Rechnungslegung für die Jahre 1568—1570 am 12. März 1573, EM 87 b 2, pas-

sim. Zum Folgenden vgl. Privilegia 53 ν sq. Zu der Bezeichnung „die drei Städte Königsberg" vgl. Rachel 39. 2 0 9 Regimentsnotel, Privilegia 55 v. 208

I. Die Öffentlichkeit der Macht

54

mußten gleich dem Herzog nur den polnischen Oberlehnsherrn über sich anerkennen 210 . Permanent wurde ihr Amt erst unter Kurfürst Joachim Friedrich in den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts 211 . Das sogenannte Kleine Gnadenprivileg von 1546212 und das Testament Herzog Albrechts setzten fest, daß alle acht ranghöchsten Stellen nur mit in Preußen begüterten Adligen besetzt werden dürften213, so daß die Regierung territorialisiert und feudalisiert wurde. Nur das Amt des Kanzlers stand auch bürgerlichen Juristen offen214. Die Regenten mußten außerdem nach dem Testament Herzog Albrechts „deutscher Geburt" sein215. Die Bevorzugung der eingeborenen Preußen vor „Ausländern" wurde 1611 im Belehnungsvertrag des Kurfürsten Johann Sigismund auf alle öffentlichen Amter ausgedehnt216. Eine Art von Ressortaufteilung zwischen den Oberräten scheint sich in der Herzogszeit allmählich herausgebildet zu haben217. Danach oblag dem Landhofmeister die Aufsicht über die Kammerämter; der Oberburggraf hatte hauptsächlich die „innere policey", Handels- und Finanzangelegenheiten zu überwachen, der Obermarschall Heerwesen und Hofökonomie, der Kanzler leitete den amtlichen Schriftverkehr in den Angelegenheiten der Justiz und der Kanzlei. Quellen aus der Zeit Herzog Albrechts lassen noch eine leicht davon abweichende Aufgabenverteilung erkennen, die Hubatsch wiedergibt218.

210

Privilegia 53 v.

211

Breysig 74 f.

212

Es wurde auf 1542 vordatiert, vgl. Arnold, Ständeherrschaft, 90.

213

Kleines Gnaden-Privilegium, 14. Nov. 1542, Privilegia 50 r sq; Regimentsnotel,

ebenda 53 v; Testament Herzog Albrechts: Privilegia 76 v. 214

Testament Albrechts, Privilegia 80 r.

215

Testament Albrechts, Privilegia 76 v.

216

Literae reversales des Kurfürsten Johann Sigismund, 26. Mai 1612, Opr. Fol.

594 a, 104 r. 217

Zum Folgenden vgl. Horn 99—103. Horn beruft sich auf Quellen des 17. Jahr-

hunderts. 218

Hubatsch, Albrecht von Brandenburg- Ansbach, 193 f. Nach ihm war der

Obermarschall zuständig für das Hofgesinde, die herzogliche Tafel und Heizung, der Oberburggraf für Mühlen, Bauwesen und „Sittenpolizei" [was wohl ungefähr dem bei Horn genannten Aufgabenkreis entspricht]. Der Landhofmeister habe als Zeremonienmeister und „eine Art Flügeladjutant" fungiert und das Frauenzimmer beaufsichtigt, der Kanzler den amtlichen Schriftwechsel geführt. Ahnlich auch bei Arndt 26—29.

Teilnehmerkreis

55

Die Trennung der Gewalten existierte noch nicht; die Oberräte hatten neben ihren exekutiven Befugnissen auch Aufgaben in der Rechtsprechung und der Legislative. Zum Beispiel bildeten sie zusammen mit sechs oder acht anderen das Hofgericht219. Es war Berufungs- oder Revisionsinstanz für alle Fälle im Herzogtum und für diese das letztinstanzliche Gericht220. Die erste Instanz bildete es hingegen für Streitigkeiten zwischen dem Herzog und seinen Beamten, dem Bischof, dem Rat oder dem Stadtgericht221. Auch das Hofgericht versuchte der Adel ausschließlich zu beherrschen oder sich wenigstens eine Mehrheit darin zu sichern222. Das gelang ihm aber nicht ganz. Schon die Regimentsnotel von 1542 — sie sollte die Regierungsverhältnisse für den Fall einer Vormundschaft regeln, wurde nach Herzog Albrechts Tod aber häufig als eine Art von Verfassungsurkunde angesehen — schrieb vor, daß unter den sechs Beisitzern des Hofgerichts mindestens zwei Juristen zu sein hätten223. In der „Confirmatio" der polnischen Kommissarien von 1566 wurde die Zahl von fünf Adligen und drei Juristen festgelegt224. Erst 1574 bahnte sich durch die Ernennung eines adligen „Hofrichters" die Trennung von Oberratsstube und Hofgericht an225. Im Landtag waren die Oberräte ebenfalls vertreten und wirkten an der Gesetzgebung mit226. Wohnte der Herzog dem Landtag nicht persönlich bei, so hatten die Oberräte die herzogliche Meinung den Ständen bekanntzumachen227. Andererseits mußten sie die ständischen Vorschläge und Beschwerden dem Herzog zur Kenntnis bringen228. Dadurch gerieten sie bei Konflikten nicht selten zwischen die Gewalten Herzog und Landtag. Horn bezeichnet die Oberräte als „Vertrauenspersonen sowohl des Fürsten als des Landtages", womit er ihre schwierige Mittlerstellung treffend beschreibt.

219

Regimentsnotel, Privilegia 53 v.

220

Horn 25, 41; Conrad, Obergerichte, 13; Ommler 28 f.

221

Conrad, Obergerichte, 13.

222

Breysig 92.

223

Regimentsnotel, Privilegia 53 v.

224

Confirmatio der Königlichen Commissarien, 5. Oktober 1566, Privilegia 61 r.

225

Conrad, Obergerichte, 19 f.; Kleinertz 132.

226

Horn 137.

227

Bsp.: Instruktion Kurfürst Joachim Friedrichs für die Oberräte bezüglich des

Landtags 1605, zitiert nach Klinkenborg 1, 521—530. 228

Zum Folgenden vgl. Horn 131 und 137.

I. Die Öffentlichkeit der Macht

56

Für die oft prekäre Stellung auf den Landtagen entschädigte eine große Macht und Autorität im Lande. Die Oberräte entschieden grundsätzlich im Namen des Herzogs 229 , wenn auch oft erst nach Rücksprache mit ihm 230 . Ihre Amtsgewalt erstreckte sich über das gesamte Herzogtum mit Ausnahme der von Zwischengewalten dominierten Gebiete und Rechtsverhältnisse. Die Oberräte konnten im Namen des Herzogs sogar das Kirchenregiment ausüben231 und waren weisungsbefugt gegenüber niedriger stehenden Personen der Verwaltung232. Die Oberräte hatten das Recht, die jährliche Erbhuldigung abzunehmen, Amtsinhaber einoder abzusetzen und von Eiden zu dispensieren233. 1616 erwarben sie ein Vorschlagsrecht bei Amterbesetzungen234. Auch in der Außenpolitik hatten sie mitzureden. So gaben die preußischen Oberräte dem Kurfürsten Johann Sigismund von Brandenburg Empfehlungen für seine Verhandlungen mit dem polnischen König über den Belehnungsvertrag235. Daß das Oberrätekollegium einstimmig entscheiden mußte 236 , machte die internen Entscheidungsprozesse sicher komplizierter, trug aber nach außen zu einem einheitlichen Erscheinungsbild der Oberratsstube bei. Die nächstniedrige Instanz unter den Oberräten oder Regenten bildeten die Hauptleute der Amter. Die Zahl der Amter schwankte um etwa fünfzig237, ebenso die der Hauptleute. Die vier ranghöchsten und wich-

229

Breysig 122 f.

230

Bsp: Bericht der Oberräte vom Landtag, 20. Dez. 1605, zitiert nach Klinkenborg

1, 580, erwähnt eine Erklärung des Kurfürsten, welche die Räte brieflich erhalten hätten; ferner kurfürstliches Reskript an die Oberräte, 8./18. Jan. 1606, zitiert nach Klinkenborg 2, 9 f.; Zustimmung des Herzogs zur oberrätlichen Proposition, 5. April 1607, zitiert nach Klinkenborg 3, 2. 231

Bsp.: Bericht Caspars von Olsen und anderer an die Oberräte, 3. April 1605, E M

126 d 1593, 3 r—5 r; Aktenvermerk der Oberräte vom 9. April 1605, ebenda 8 v. 232

Bsp.: Schreiben zur Steueraufbringung, erwähnt im Bericht der Oberräte, 24. Ju-

li/3. Aug. 1606, zitiert nach Klinkenborg 2, 303. 233

Regimentsnotel, Privilegia 54 v.

234

Breysig 153.

235

Protokoll der Oberratsstube, Oktober 1605, zitiert nach Klinkenborg 1, 507 f.

236

Regimentsnotel, Privilegia 53 v; Rezeß der polnischen Kommissare 1566, Privi-

legia 69 [65] v. Dagegen behaupten Breysig 28 und Arndt, Felix: Die Oberräte in Preussen 1525—1640, in: AMS 49/1912, 18, die Abstimmung im Oberrätekollegium nach dem Mehrheitsprinzip. 237

Horn 242 f.; auch Einnahmenverzeichnis mit 50 Amtern von 1572/73 ebenda

258 f.

Teilnehmerkreis

57

tigsten, aus denen sich in der Regel die Oberräte rekrutierten 238 , waren die sogenannten Hauptämter: Tapiau, Schaaken, Fischhausen und, als ranghöchstes, Brandenburg 239 . Ihre hervorragende Stellung führt Felix Arndt 240 darauf zurück, daß sie nahe bei Königsberg lagen und die Hauptleute daher rasch zu Beratungen gerufen werden konnten. Der Hauptmann von Brandenburg galt auf den Landtagen als ranghöchster Ständevertreter nächst den Oberräten und führte den ersten Stand an241. Was die Regenten für das gesamte Herzogtum waren, das waren die Hauptleute für das Amt. Sie leiteten die Verwaltung und trafen exekutive Entscheidungen 242 , beaufsichtigten die Kirchen 243 , präsidierten dem Landgericht 244 , der ersten Instanz auf dem Lande245, und konnten auf den Landtagen an der Gesetzgebung mitwirken. Sie hatten auch das Recht, Amterversammlungen einzuberufen, sofern der Landesherr das genehmigte oder befahl246. Bei den Verwaltungs- und Gerichtsarbeiten wurde der Hauptmann vom Amtsschreiber unterstützt 247 . Die Weisungsbefugnis des Hauptmanns erstreckte sich über das gesamte Amt. Darüber hinausgehende Belange konnte er im Landtag mitverhandeln. Die Hauptleute gehörten kraft Amtes dem Stand der Landräte an, der im Landtag der „vornehmste" war248.

238

Regimentsnotel, Privilegia 54 v. Regimentsnotel, Privilegia 53 v. 240 Arndt 49. 241 Immekeppel 13. 242 Horn 91. 243 „Fürstlicher durchleuchtigkeit zu Preussen bevelch, in welchem das volk zu gottesforcht, kirchengang, empfahung der heiligen sacramenten und anderm vermant wird", 1. Februar 1543, zitiert nach Sehling IV, 58. 244 Reskript Johann Sigismunds an den Hauptmann von Tapiau (Zurückverweisung einer Klage zu erneuter Zeugenvernehmung), 31. August 1616, EM 137 j 343, passim. 245 Conrad, Obergerichte, 1. 246 Bitte des Tapiauischen Adels um Einberufung einer Ämterversammlung an Georg Friedrich, 12. April 1602, EM 87 e 965, 7 r—8 v; Regenten an den Hauptmann zu Insterburg und den Burggrafen zu Taplacken, 13. April 1602, ebenda 9 r sq. 247 Verlesung eines Ausschreibens durch Amtsschreiber: EM 87 e 965, 15 r. Schreiben an einen Amtsschreiber, 19. April 1602, ebenda 18 v; Amtsschreiber übergibt einen Brief, 1615: „Extract Auß den Receßen Ao ρ 1612", ohne genauere Datierung, Opr. Fol. 607, 41 r. 248 Immekeppel 14. 239

58

I. Die Öffentlichkeit der Macht

Niederste „Verwaltungs"-Instanz war der Dorfschulze, meist der Gründer des Dorfes oder sein Nachfahre249. Auch er übte sein Amt ohne Teilung der Gewalten aus. Zweimal im Jahr hatte er gemeinsam mit dem Landrichter Gericht zu halten250. Ferner überwachte er den Kirchgang251 und übte exekutive Funktionen aus: Er hatte dafür zu sorgen, daß die Dorfordnung eingehalten wurde252, daß der Schutz der Dorfgrenzen 253 und die ausreichende Bewaffnung der Bauern sichergestellt waren254, daß die Steuern eingingen255 und unfähige Bauern von ihren Stellen abgesetzt wurden256. Seine Anordnungsgewalt reichte jedoch nicht über das Dorf hinaus, es sei denn, daß er zu den freien Grundbesitzern gehörte und als solcher zu den „Wählern" oder sogar Wählbaren für den Landtag. Alle genannten Amtleute waren unmittelbar abhängig vom Herzog, da er allein sie in ihr Amt einsetzte oder, wenn sie es ererbt hatten, darin bestätigte. Selbst ein Dorfschulze empfing sein Amt vom Herzog oder den Regenten — bzw. zur Ordenszeit vom Orden 257 —, nicht etwa von dem unmittelbar nächsthöheren Inhaber von Amtsgewalt, dem Hauptmann. Es gab also — was für die Art der Kommunikation wichtig ist — keinen Instanzenzug in der Verwaltung und keine Hierarchie mit spezialisierter Befehlsgewalt, sondern nur Amtsgewalten verschiedenen Ranges, die sich jeweils unmittelbar vom Herzog herleiteten. Deshalb war ein Amtsträger nicht prinzipiell weisungsgebunden, sondern konnte innerhalb seines Machtbereichs frei und aus eigenem, wenn auch verliehenem Recht entscheiden. Das verliehene Recht hatte territoriale, nicht hierarchische oder ressortspezifische Grenzen. Beschränkt war es daher auch weniger durch die Befehlsgewalt einer höheren Instanz als durch Gleich- oder Minderrangige, die ihrerseits Herrschaftsgewalt über Untergebene ausübten. Adlige Grundbesitzer etwa hatten auf ihrem Gut dieselben exekutiven, richterlichen, legislativen und sogar kirchlichen Befugnisse — aufgrund des Patronatsrechts — wie der Herzog auf sei249

Horn 200 f. Horn 206. 251 Horn 221 252 Horn 227. 253 Horn 206. 254 Horn 224. 255 Horn 206. 256 Horn 224. 257 Plehn 53.

250

Teilnehmerkreis

59

nem Territorium258. Den Untertanen eines Adligen konnte der Herzog weder unmittelbar befehlen noch sie gegen den adligen Grundherrn unterstützen259. Der Rechtsbezirk des Adligen war von der herzoglichen Gewalt ausgenommen. Wenn man mit Otto Brunner die von der königlichen Stellung abgeleitete Befehlsgewalt als „Öffentlichkeit" versteht260, so gab es demnach in Preußen nicht nur verschiedene Grade, sondern auch verschiedene Arten von „Öffentlichkeit" selbst innerhalb der Verwaltung. Sie lassen sich grob als Grundherrschaft und Amtsgewalt beschreiben. Die „Öffentlichkeit" eines Grundherrn beruhte in erster Linie auf seiner Verfügungsgewalt über Land, das ihm der Landesherr verliehen hatte. Aus der Grundherrschaft leiteten sich weitere Rechte ab, zum Beispiel das Patronats- und das Gerichtsrecht261. Obwohl diese Rechte nur verliehen waren, nahm der Grundherr sie selbständig wahr und setzte der landesherrlichen Gewalt damit manchmal enge Grenzen. Der öffentliche Charakter eines Hauptmanns oder Regenten dagegen ergab sich ausschließlich aus seinem Amt. Zwar stellte der grundbesitzende Adel in der gesamten Herzogszeit den größten Teil der fürstlichen Amtleute. Aber auch Bürgerliche, die nicht unbedingt über verliehenen Grundbesitz verfügten, konnten Amtleute und sogar Kanzler werden und damit in die Oberratsstube aufsteigen. Die Bevorzugung der einheimischen Grundbesitzer bei den öffentlichen Amtern mußte von den Adligen erst erstritten werden262. In der recht lockeren Verbindung von Recht und Land wirkten noch die Verhältnisse der Ordenszeit nach, in der die Amtsträger oft aus eingewandertem Adel kamen und erst nachträglich begütert wurden263. Zwischen der an Grundbesitz gebundenen Herrschaft und der verliehenen Amtsbefugnis nahm die „öffentliche Gewalt" des Dorfschulzen

258

Bericht des Kanzlers Rappe, 6. Nov. 1605, zitiert nach Klinkenborg 1, 608.

259

Regenten an den Burggrafen zu Tapiau, 7. Juni 1591, E M 137 d 1493.

260

Brunner 123; 367 f.; Hölscher, Öffentlichkeit, 53.

261

zum Gerichtsrecht: Plehn 70; Patronatsrecht hatte der Herzog in den meisten

Fällen selbst, vgl. Wermter, Ernst Manfred: Herzog Albrecht von Preußen und die Bischöfe von Ermland (1525—1568), in: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands 29/1957, 205. 262

Kleines Gnadenprivileg, Privilegia 50 r sq.

263

vgl. zur Begüterung von Adligen nach dem Thorner Frieden Wiehert E.: Die po-

litischen Stände Preußens, ihre Bildung und Entwickelung bis zum Ausgange des sechszehnten Jahrhunderts, in: AMS 5/1868, 425.

60

I. Die Öffentlichkeit der Macht

eine Mittelstellung ein. In der Anfangszeit der „Kolonisierung" Preußens war der Schulze häufig auch der Gründer des Dorfes gewesen. Er erhielt vom Landesherrn, dem Orden, die Verschreibung über ein Stück Land zur Besiedlung264 und zugleich die einer Amtsbefugnis ähnliche Aufgabe, für dieses Land Siedler anzuwerben und später als Schulze über die Dorfordnung zu wachen. Der Schulze übte also eine an das Land gebundene Amtsgewalt aus. Das Schulzenamt begründete aber nicht wie die feudale Leihe Herrschaft über das Dorf, sondern nur eine herausgehobene Stellung in ihm. Der Schulze gehörte zum Dorf ebenso wie auf höchster Ebene der Herzog zum Land. Grundherrschaft, Amtsgewalt und die landgebundene Befugnis des Dorfschulzen leiteten sich alle von der umfassenden Gewalt des Herzogs her und waren in sich ungeteilt. Sie umfaßten exekutive, legislative und richterliche Befugnisse und erstreckten sich prinzipiell über alle Menschen des Amts- oder Gutsbezirks, es sei denn, daß es Zwischengewalten zwischen Herrn und Untertanen gab. Die „innenpolitische" Befehlsgewalt eines Herrn endete an den Grenzen des Machtbereichs der Zwischengewalt. Dagegen hatten, wie Brunner auch für das Mittelalter feststellte, alle Amtsträger das Recht und die Möglichkeit, „Außenpolitik" zu treiben265, d. h. als Rechtssubjekte über Verhältnisse außerhalb des Bereiches ihrer Befehlsgewalt mitzubestimmen. Gewaltenteilung, Spezialisierung und Ressortaufteilung gab es in der Regel nicht, selbst an der Spitze der Verwaltung nur in Ansätzen.

2. Landstände Entscheidungen, die das Gesamtterritorium oder mehrere seiner Teile betrafen, wurden auf dem Landtag besprochen und gefällt. Nach mittelalterlichem Verständnis versammelte sich auf einem Landtag „das Land", die Gesamtheit der Grundbesitzer sowie gegebenenfalls Vertreter des städtischen Bürgertums266. Im Herzogtum Preußen gab es drei Gruppen freier Landbesitzer. Die „Herren" waren zum großen Teil Nachkommen jener Söldnerführer, die im 15. Jahrhundert dem Orden in seinen

264

Plehn 53.

265

Brunner 145 f.; 352. Brunner 239.

266

Teilnehmerkreis

61

Kämpfen gegen Städte und landsässigen Adel beigestanden hatten 267 . Die „Ritterschaft", auch „Adel" genannt, war aus dem einheimischen Adel hervorgegangen 268 . Dazu kamen noch die prußischen und deutschen Freien. A m Landtag durften allerdings nur diejenigen Freien teilnehmen, die für ihre Güter Ritterdienste leisteten. Das städtische Element vertraten auf den Landtagen Ratsmitglieder der drei Städte Königsberg und Vertreter einiger kleinerer Städte in wechselnder Anzahl 269 . In der frühen Herzogszeit bestand der Landtag aus zwei Kurien 270 . Zur Kurie des Adels gehörten Herren, Ritterschaft und „die von [...] amptleutenn, vnnd lantreten" 271 . „Landräte" hießen vom Herzog bestimmte oder auch delegierte Ständevertreter 272 . Sie waren nicht kraft Amtes, sondern persönlich landtagsfähig. Auch die beiden Bischöfe von Samland und Pomesanien hatten als „Prälaten" Landstandschaft 273 . Der Bischof von Samland als der ranghöhere von beiden stand an der Spitze der gesamten Ständeversammlung 274 . Das kommt auch darin zum Ausdruck, daß er auf dem Landtag von 1540 im Namen aller Stände auf die herzogliche Eröffnung des Landtags antworten konnte. Die zweite Kurie war die der Städte275. In den Vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts trennten sich die „Herren" und die „Landräte" vom übrigen Adel und 267 [Voigt, Johannes:] Geschichtliche Notizen über den Herren=Stand, die Assecurations-Acte und das Donativ. Für den Preussischen Landtag, welcher am 5. September 1840 eröffnet wird., Königsberg 1840, 1—4; Biskup, Marian: Das Königliche und das Herzogtum Preußen von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis 1772. Demographische, soziale, ethnische und ständische Probleme, in: ZHF 22/1995, 62; Neugebauer, Wolfgang: Politischer Wandel im Osten. Ost- und Westpreußen von den alten Ständen zum Konstitutionalismus (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 36), Stuttgart 1992, 44 und S. 43, Anm. 68. 268 Zum Folgenden vgl. Horn 119 f. Die Differenzierungen zwischen Ritterschaft und Adel, die noch bei Voigt 2 als zwei getrennte Stände genannt werden, spielten im 16. Jahrhundert keine Rolle mehr. 269 Ζ. B. 1549: 12 Städtevertreter; Opr. Fol. 480, 160 v. Städtische Vollmachten für den Landtag 1602: EM 87 e 965, 77 r sq. Nie waren alle Städte und Ämter anwesend, vgl. Ommler 36. 270 Breysig 21. 271 Ausschreiben an die Landräte, Opr. Fol. 480, 102 r. 272 Arnold, Ständeherrschaft, 85. 273 vgl. Teilnahme des Bischofs von Samland am Landtag 1548/49, Opr. Fol. 480, 8v; Ausschreiben an die Prälaten ebenda 102 r. 274 Zum Folgenden vgl. Protokoll der Landtagsverhandlungen, Montag nach Michaelis [= 4. Oktober] 1540, EM 87 e 48, 2 r. 275 Breysig 21.

62

I. Die Öffentlichkeit der Macht

bildeten fortan gemeinsam den ersten Stand276. Seitdem gab es die drei Stände „herrschafft", „Ritterschafft und adel" sowie die „stete"277. Die Position als fürstliche Vertrauensleute und zugleich Landtagsmitglieder brachte die Landräte allerdings noch Ende der Vierziger Jahre in Rollenkonflikte, die sie den Mitständen erklären mußten: Sie säßen nicht als fürstliche Räte, sondern als Landsassen auf dem Landtag278. Nach 1566 wurden Regenten und Landräte für die Dauer ihres Amtes aus der ersten Kurie ausgeschlossen, so daß dort der Herrenstand fortan den Ton angab279. Unter den Städten trat meistens nur Königsberg mit selbständiger Politik hervor. Die kleineren Städte schlossen sich ihm an280. Nur selten brachten sie auf den Landtagen eigene Beschwerden ein281. Dann führte der Bürgermeister von Bartenstein das Wort für sie282. Die Bindung der Landtagsfähigkeit an Grundbesitz oder Stadtrecht sowie das Ubergewicht des adligen Grundbesitzes nach Rang und Zahl hatte der preußische Landtag mit fast allen europäischen Ständevertretungen der Zeit gemein. Daneben aber gab es preußische Besonderheiten, die man modern nennen kann, weil sich die Sprengkraft ihrer Grundsätze erst Jahrhunderte später auswirken sollte. Diese Besonderheiten waren der Grundsatz der Repräsentation und die recht hohe Zahl bürgerlicher Landtagsdeputierter. Das bürgerliche Element kam nicht nur durch die Städtevertreter in den Landtag, sondern auch durch die Amtleute, die bürgerlicher Herkunft sein durften. Herzog Georg Friedrich zum Beispiel berief gezielt Bürgerliche zu Hauptleuten283. Erst 1605 wurde beschlossen, daß sie

Breysig 30—32. So im Protokoll einer Rede des Kanzlers, 31. Dezember 1548, Opr. Fol. 480, 25 r, Datierung 19 r. 2 7 8 Rede des Kanzlers auf dem Landtag, 31. Dezember 1548, Opr. Fol. 480, 25 ν sq, Datierung 19 r. 2 7 9 Arnold, Ständeherrschaft, 91. 280 ]Sf ac h dem Protokoll der Oberratsstube vom Oktober 1605 galt das als das übliche Verfahren, vgl. zitiert nach Klinkenborg 1, 511. 2 8 1 Bsp.: Hilfsgesuch der Stadt Gilgenburg auf dem Landtag 1578, Opr. Fol. 531, pag. n,v; Protestation der Stadt Memel 1573/74, Opr. Fol. 527, pag. a,v; Bedenken der kleinen Städte wegen Gehalt und Residenz der Inspectoren, Opr. Fol. 619/1 (Landtag 1617), fol. b, r; Replik der kleinen Städte auf die Verabschiedung der Gravamina, 3. Februar 1606, Opr. Fol. 572, 477 v, datiert 479 r. 282 Neugebauer 52. 283 Petersohn 57; Arnold, Ständeherrschaft, 94 f. 276

277

Teilnehmerkreis

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künftig nicht mehr zum Stand der Landräte gehören sollten284. Die Hauptleute waren kraft Amtes landtagsfähig285 und scheinen den Ersten Stand so geprägt zu haben, daß er lange Zeit der Herzogsgewalt loyal blieb286. Das Element der Repräsentation ergab sich daraus, daß nie alle Grundbesitzer einen Landtag besuchten. Vielmehr versammelten sich, wenn ein Landtag bevorstand, die Adligen und Freien jedes Amtes auf sogenannten Ämterversammlungen287 und bestimmten einen bis zwei „Abgeordnete" oder „Deputierte" für den Landtag288. Die Deputierten konnten dem Ersten oder dem Zweiten Stand angehören, also adliger oder bürgerlicher Herkunft sein289. Die Freien hatten zwar insgesamt Stimmrecht290, wählbar waren aber nur diejenigen, die nach ihren Gütern Ritterdienste leisteten291. Jedes Amt war berechtigt, aber nicht verpflichtet, einen Deputierten zu bestellen292. So kam es auch vor, daß ganze Ämter sich entschuldigen ließen und keine Deputierten schickten — sei es, daß sie nach eigener Aussage kein Deutsch verstanden und daher den Verhandlungen nicht folgen konnten293, sei es, daß mehrere Ämter gemeinsam einen einzigen Deputierten schickten, um Spesen zu sparen294. Im strengen Sinne „war" also der preußische Landtag nicht „das Land", sondern repräsentierte es tatsächlich. Die Repräsentation 2 8 4 „Formvia Jvramenti. Der Herren Landt Rähte in Preussen wie es auff allgemeinem Landtage 1605 den 14. Decembris stylo veteri, von Ihr. Churfürstliche Gnaden Marggraff Joachim Friderichen Christmilder angedencken Hertzogen inn Preussen/ etc. etc. an einen/ vnd dann/ den beyden Oberstenden andern theils beliebet/ vnd in ewigkeit zugesaget: Dabey dann auch diese vergleichung getroffen/ das zu den Vier HauptAmptern noch Acht andere/ das ist/ zu alles Zwölff Personen/ Herrn vnnd Adel. Standes in solchem Collegio sein sollen/ [...]", Privilegia 94 r.

Immekeppel 14. Breysig 30 f. 2 8 7 Breysig 117; Bsp.: Regenten an alle Ämter, 23. April 1602, EM 87 e 965, 25 r. 2 8 8 Bsp.: Hans Fischer an Herzog Georg Friedrich, 5. Mai 1602, E M 87 e 965, 56 r— 57 r; Georg Friedrich an den Hauptmann von Preußisch Eylau, 4. Mai 1602, ebenda 54 r sq.; Hans von Arnswald an den Herzog, 9. Mai 1602, ebenda 66 r sq. Breysig 41 spricht etwas anachronistisch von „Landtagsabgeordneten". 2 8 9 Ommler 208. 2 9 0 Breysig 117. 2 9 1 Horn 119 f. 2 9 2 Rede des Kanzlers auf dem Landtag 1548/49, 29. Dezember 1548, Opr. Fol. 480, 12 v, Datierung 8 v. 2 9 3 Freie des Amtes Angerburg an den Oberburggrafen, 21. Januar 1549: Opr. Fol. 480, 200 r sq. 2 9 4 Christoph von der Dehle an den Fürsten, 19. April 1602, EM 87 e 965, 23 ν sq. 285 286

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I. Die Öffentlichkeit der Macht

kam auch dadurch zum Ausdruck, daß die Deputierten von ihren „Wählern" eine Beschlußvollmacht erhielten295. Nach dem Landtag sollten sie den „Wählern" die Ergebnisse der Versammlung mitteilen296. Es gab also wenigstens in Ansätzen eine Art von „Verantwortlichkeit" der Deputierten. Von einem voll ausgebildeten und durchgängigen Prinzip der Repräsentation kann man allerdings noch nicht sprechen. Noch der Landtag von 1618 debattierte darüber, ob Männer, die auf den Ämterversammlungen kein schriftliches Votum abgegeben hatten oder auf dem Landtag nicht erschienen waren, den Ergebnissen des Landtags widersprechen dürften297. Das landrätliche Gutachten von 1618 zur Geschäftsordnung schlug vor, solchen Widerspruch zu verbieten. Demnach glaubten zumindest einige der preußischen Adligen und Freien, sie müßten die Beschlüsse eines Landtags nur dann befolgen, wenn sie ihnen selbst ausdrücklich zugestimmt hätten, akzeptierten also keinerlei Stellvertretung oder Repräsentation. Für die Geschichte der preußischen Landtage ist es jedoch kennzeichnend, daß der Adel versuchte, das bürgerliche Element zurückzudrängen und die „modernen" Prinzipien zu unterdrücken oder unwirksam zu machen — und daß es ihm gelang. Schon im Kleinen Gnadenprivileg von 1546 setzten die Adligen den Grundsatz durch, daß die Oberratsstellen und die vier wichtigsten Hauptmannsstellen nur von einheimischen Adligen besetzt werden dürften298. Die Regimentsnotel — auf die sie sich, ob zu Recht oder Unrecht, später immer wieder beriefen299 — erwähnte zwar noch die Möglichkeit, Bürgerliche zu berufen, wenn geeignete Adlige nicht zur Verfügung stünden300; und das Gnadenprivileg Schloß auch die Berufung von Ausländern nicht aus301. Aber die „KannVorschriften" spielten in den späteren Verfassungskämpfen keine Rolle mehr. 1567 wurde durch das geänderte Testament Herzog Albrechts die 295

Confirmatio der Königlichen Commissarien, 5. Oktober 1566, Privilegia 63

[62] r. Bsp.: Vollmacht von Fischhausen 1548/49; Opr. Fol. 4 8 0 , 1 9 2 ν sq. 296

Das geht aus dem Druck des Landtagsabschieds vom 29. Mai 1578 hervor, Opr.

Fol. 531, 158 r. Eingeschärft durch die Acta et Decreta commissionis vom 13. Juli 1609, Privilegia 106 r; vgl. auch Immekeppel 79 und 81. 297

Zum Folgenden vgl. Opr. Fol. 630, pag. 267.

298 Privilegia 50 r sq. 299

Breysig 120.

300

Regimentsnotel, Privilegia 53 v.

301

Kleines Gnadenprivileg, Privilegia 50 v.

Teilnehmerkreis

65

Bevorzugung von Adligen auf alle Oberratsstellen ausgedehnt302. Danach ließ sich absehen, daß der Erste Stand sich allmählich „feudalisieren" würde. Eine ähnliche Wirkung hatte die in denselben Urkunden erwähnte Vorschrift, Hauptleute müßten „Einzöglinge", d. h. im Lande geboren und dort begütert sein303. Sie erschwerte die Berufung „ausländischer" Berater auf wichtige Stellen und stützte damit den einheimischen Adel. 1605 beschloß der Landtag, die Zahl der Landräte, die auf einem Landtag erscheinen durften, auf zwölf zu begrenzen und im Landrätestand nur Adlige zum Landtag zuzulassen304. Drei Jahre später wollte die Ritterschaft sogar für die zwölf Landratsstellen das Vorschlagsrecht haben305. Alle Hauptmannsstellen „adlig" zu machen, gelang dem Adel allerdings nicht. Ein entsprechender Vorschlag von 1604306 wurde nicht ausgeführt. Das Repräsentationsprinzip wurde zwar nicht förmlich durchbrochen, aber in seinen Wirkungen gewissermaßen neutralisiert. Einmal scheint die Bestimmung der Landtagsdeputierten eher von einer Art von Gewohnheitsrecht geprägt als frei gewesen zu sein. Die Adelsfamilien Dohna, Eulenburg, von der Gröben, Truchseß von Wetzhausen, Kunheim oder Wallenrodt stellten über Jahrzehnte hinweg Deputierte für die Landtage307. Bei den Abgesandten der Städte war die Kontinuität anscheinend geringer; doch auch dort wurden Stadtschreiber oder Bürgermeister bzw. Altbürgermeister mehrmals zu Landtagen deputiert 308 . Eine Vorschrift von 1609 schloß den Kreis der Landtagsfähigen endgültig ab309, so daß aufsteigende Familien keine Landstandschaft mehr erringen konnten. Zum andern vernachlässigten die Deputierten häufig

302

Breysig 46. 303 Privilegia 50 r sq. und 53 v. 304 Formula iuramenti vom 14. Dezember 1605, vgl. Anm. 284, Privilegia 94 r. 305 Rezeßentwurf, zitiert nach Klinkenborg 4, 238. 306 Breysig 80. 307 vgl. Unterschriftenliste der Regimentsnotel, Privilegia 46 r; Verzeichnis der Landtagsdeputierten 1548/49, Opr. Fol. 480, 5 ν—7 r; Verzeichnis der Landtagsteilnehmer von 1604 bis 1612, zitiert nach Immekeppel 154—167. 308 Bsp.: Sebald Pfelau, Bürgermeister zu Osterode bzw. Altbürgermeister: Immekeppel 155; 157; 159; 163; Valentin Blümchen, Stadtschreiber zu Preußisch Holland: ebenda 155; 157; 159; David Reich, Stadtschreiber zu Rastenburg: ebenda 155; 157; 159; 161; 163. 309

Breysig 119.

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I. Die Öffentlichkeit der Macht

ihre Pflicht zur Berichterstattung vom Landtag310 und zeigten damit, daß sie auf die Verbindung zu ihren „Wählern" keinen großen Wert legten und sich ihres Charakters als Vertreter des Landes nicht bewußt waren. Aufgrund der doppelten Abschließung nach außen und nach unten entwickelte sich der Landtag im Laufe der Herzogszeit immer stärker zu einer Versammlung weniger Familien. Die anderen Landbesitzer und die Städter verloren nicht nur an Einfluß, sondern erfuhren auch immer seltener von den Ergebnissen der Verhandlungen. Der Teilnehmerkreis des Landtags wurde enger und „adeliger", als er es zu Beginn der Herzogszeit gewesen war. Weil das Repräsentationsprinzip sich im Landtag nicht durchsetzte, kann man die Landtagsdeputierten nicht als Abgeordnete im modernen kontinentaleuropäischen Sinne bezeichnen. Die Wähler erteilten dem Deputierten zwar eine Beschlußvollmacht311 und ermächtigten ihn damit, im Namen seiner „Wähler" zu verhandeln und zu beschließen. Seine Rechtsstellung aber änderte sich dadurch nicht. Der Deputierte blieb noch im Landtag der Vertreter seines Standes und des Amtes, das ihn abgesandt hatte. Im Unterschied zu dem Abgeordneten eines modernen kontinentaleuropäischen Parlaments wurde der Landtagsdeputierte der Frühen Neuzeit durch die Deputation nicht zum Vertreter des „ganzen Landes", geschweige denn zum Anwalt oder Ausübenden einer etwa im Landtag ruhenden Souveränität. Die Beschlußvollmacht gab dem Deputierten ausdrücklich nur das Recht, im Benehmen mit den anderen auf dem Landtag Versammelten zu beraten und zu beschließen312. Die zu erwartenden Beschlüsse der Versammlung erkannten die Wähler im vorhinein als für sich verbindlich an313. Die Landtagsdeputierten „vertraten" ihr Amt und ihren Stand also nur insofern, als sie kein imperatives Mandat von ihren Wählern hatten. Sie konnten aber nicht als Repräsentanten des ganzen Landes handeln. Erst der Beschluß „mit bewilligung" aller Mitglieder des Landtags314 gab dem Landtagsabschied bindende Kraft. Der Landtag als ganzer allerdings „repräsentierte" das Land tat310

Acta & decreta commissionis Sacrae Regiae Maiestatis, Regiomonti habitae Anno Domini, MDCEX, Privilegia 106 r; datiert 108 v: 13. Juli. 311 Bsp.: Vollmacht der Stadt Memel für den Landtag 1548/49, Opr. Fol. 480, 7 r sq. 312 Vollmacht von Fischhausen 1549, Opr. Fol. 480,160 v. 313 Vollmacht für Gilgenburg, Osterode, Hohenstein u. a., 20. Januar 1549, Opr. Fol. 480, 198 ν sq.; Georg von Diebels, Rhein, an Kanzler Johann von Creytzen, 28. Januar 1549, ebenda 199 v. 314 Vollmacht der Stadt Friedland 1549, Opr. Fol. 480, 203 v.

Teilnehmerkreis

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sächlich. Er war zwar eine Versammlung von Partikulargewalten bzw. ihren Vertretern, aber insgesamt keine Partikulargewalt wie die anderen Einheiten, die „Macht-Öffentlichkeit" darstellten. Die Teilnehmer eines Landtags wurden weder für eine feste Zeitspanne deputiert wie Ratsmitglieder, noch vererbten sie ihre Stellung wie ein Grundherr oder Dorfschulze315. Der Landtag trat nur nach Bedarf zusammen, als eine punktuell gedachte Institution des „Krisenmanagements" bei Störungen und Konflikten. Der Landtag stellt also einen der wenigen Fälle dar, in denen in der Frühen Neuzeit „Öffentlichkeit" erst hergestellt werden mußte. Periodizität gewann der Landtag nicht. Die hergestellte Öffentlichkeit zerfiel wieder, sobald der Anlaß für die Versammlung nicht mehr bestand.

3. Städte Die Städte des Herzogtums waren von noch geringerem „Öffentlichkeitsgrad" als der Landtag; doch auch sie bestimmten über das Schicksal des gesamten Territoriums mit. Auf den Landtagen bildeten sie eine eigene Kurie neben dem Adel, später den beiden Oberständen. Die Zahl der Städtevertreter schwankte, da nie alle Städte Deputierte schickten316; und der Adel suchte ihren Einfluß möglichst zu begrenzen. Dennoch hatten sie, vor allem noch in der Zeit Herzog Albrechts, viele Möglichkeiten einer eigenständigen Politik. Sie brachten den größten Teil der Steuern auf, entschieden also durch ihre Steuerverweigerung oder -bewilligung darüber, ob die Regierung eine geplante Maßnahme durchsetzen konnte oder nicht. 1579/80 ließen die Städte Königsberg allein durch ihre Steuerverweigerung das gesamte Steuersystem zusammenbrechen317. Die Steuerbewilligung der Städte wirkte sich unter Umständen sogar außenpolitisch aus. Als in den Jahren 1559/60 die Städte sich weigerten, Geld für einen Krieg aufzubringen, konnte Preußen nur mit

zur Erblichkeit des Schulzenamtes vgl. Horn 201. ζ. B. im Februar 1549: 12 Städtevertreter, Opr. Fol. 480, 160 v; 17. Mai 1602: 24 Städtevertreter, EM 87 e 965, 77 r. 1559/60: 16 Bevollmächtigte allein aus Königsberg (Ommler 187); Januar 1549: 17 Städtevertreter ohne Königsberg (Ommler 213). Häufig fehlen überhaupt Angaben zur Zahl der Städtevertreter, vgl. Ommler 213. 317 Petersohn 140. 315

316

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I. Die Öffentlichkeit der Macht

Verzögerung Hilfe nach Livland schicken318. Um den Aufbringungsmodus einer Steuer wurde auf den Landtagen heftig gestritten319, da indirekte Steuern die Städte besonders belasteten. Auf dem Landtag brachten die Städte auch ihre „internen" Sorgen vor, etwa das Eindringen unzünftiger Handwerker, sogenannter Bönhasen320, oder das Fischereirecht321; und sie beteiligten sich an der Revision des Kulmischen Landrechts322. Die Städte wirkten jedoch nicht nur als Kurie auf den Landtagen, sondern stellten selbst eine Öffentlichkeit mit eigenen Strukturen und Entscheidungen dar. An der Spitze einer Stadt stand der Bürgermeister, der mit den Ratmannen den Rat der Stadt bildete323. In Königsberg wie in Thorn und Danzig bestand der Rat aus einem Inneren, eigentlich regierenden, und einem weiteren, der beratende Funktion hatte und aus dem der engere Rat sich rekrutierte324. Die kleineren Städte kulmischen Rechts — das waren alle preußischen Landstädte — hatten einen „einfachen" Rat; er bestand aus 12 Ratmannen und zwei oder drei Bürgermeistern; dazu kamen noch die 12 Schöffen325. Bürgermeister, Rat und Gericht wurden jährlich gewählt326 in Anwesenheit des Hauptmanns327. Im Laufe der Zeremonie vor der Kirche wurde auch die Jahresrechnung abgenommen, bei Landstädten im Beisein des zuständigen Amtshauptmanns oder Burggrafen. Nur wenn einer dieser Amtleute als Repräsentant des Stadtherrn die Wahl bestätigte, war sie gültig328. So konnte der Kleinertz, Everhard Karl Bernhard: Die Politik der Landstände im Herzogtum Preußen 1562—1568, Diss. phil. Bonn 1971 (1972), 19. 3 1 9 Derer Von der herrschafft, LandRäthe, Vnd Abgesandt[enJVom Adel E: Erb: Landsch: Fürschlage de modo Contribuendi, Item der Schütze[n], Vnd Dergleichen, d[en] 23 [.] April: Anno 79. übergebe[n], Opr. Fol. 530 Π, 87 r—89 v; Opr. Fol. 533, pag. d,r. 3 2 0 Bsp. bei Ommler 125 f. (Landtag 1549). 3 2 1 Antwort des Herzogs auf die triplica der Landschaft, 8. Mai 1612, Opr. Fol. 595/1, 282 r—283 r. 322 Entschuldigungsschreiben von Bürgermeister und Rat der Stadt Holland an die Oberräte, 17. Juni 1569, EM 86 a 5, 12 r—15 v. 323 Horn 509. 3 2 4 Gause, Königsberg, 78. 3 2 5 Horn 509. 3 2 6 Zum Folgenden vgl. Horn 509. 3 2 7 Ommler 24. 328 Zum Folgenden vgl. Schreiben der Oberräte an den Hauptmann zu Holland, 22. Dezember [1549], Opr. Fol. 1006, 205 r [alt 189 r ]. Schreiben der Oberräte an Rat und Kirchspielskinder zu Holland, 22. Dezember [1549], ebenda 205 ν—206 ν. 318

Teilnehmerkreis

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Amtshauptmann oder Burggraf über die Zusammensetzung der städti-

schen Gremien und über die Besetzung der Ämter mitentscheiden und

bestimmenden Einfluß ausüben. Bei den Bürgermeister-, Rats- und Gerichtswahlen in Preußisch Holland 1549 setzte der Hauptmann, durch einen Befehl der Oberräte unterstützt, die Wahl des ihm genehmen Kandidaten Lucas Knochenhauer zu einem der Bürgermeisterposten durch und legte zugleich eine Liste vor, die angab, wie er die Rats- und Schöffenbank besetzt haben wollte. In den Grenzen ihres Territoriums betrieben die Städte ihre eigene Politik. Die Landesordnungen setzten städtischer Eigeninitiative allerdings enge Grenzen. Preise und Löhne waren festgelegt329, regionale Unterschiede wurden gerügt330. Der Rat hatte im wesentlichen über die Einhaltung gegebener Ordnung zu wachen. Er verfügte nicht über eigene legislative Kompetenz, „Satzungen vnndt Pollicey Ordnungen zumachen"331. Die Ratsherren durften nur aus bestimmten ratsfähigen Familien stammen. Zu den Ratsfähigen zählten in jeder Stadt die Kaufleute, in den drei Städten Königsberg außerdem die Mälzenbrauer332. Die Handwerker wurden, wenn sie in einer Stadt überhaupt ratsfähig waren, durch die Altesten der Gewerke vertreten333. In der Altstadt Königsberg erlangten die Handwerker in der Reformation die Ratsfähigkeit334; im Löbenichter Rat saßen gelegentlich auch Handwerker335. Von der Stadt Tilsit verlangte der Herzog, daß die Handwerker ratsfähig bleiben sollten336. Landtagsvollmachten und andere offizielle Schreiben verraten, wer als die Stadt repräsentierende Körperschaft galt: „Burgermeister und Rathmanne"337; „Wir Burgermeister vnnd Rathmanne zu Bartenstein vnnd wir Eidestenn der Wercke vnnd gantze gemeyne daselbst"338; „Wir Bsp.: Landesordnung 1529: Avszugk etlicher Articul auss/Zgemeyner Landesordnung des H Hertzogthumbs γηη// Preussen [1529], E M 86 b 2, 16 r—22 v; Georg Friedrich an Räte und Gerichte der drei Städte Königsberg, 8. September 1592, EM 70 ρ 4 Nr. 10, 2 r—4 v, datiert ebenda 7 [ = 6 v], 329

Ζ. B. durch den Herzog auf dem Landtag 1549: Opr. Fol. 480, 188 r. Gerog Friedrich an die Städte Königsberg, 1585, E M 86 b 16, 8 v. 3 3 2 Immekeppel 15. 3 3 3 Bsp.: Bartenstein 1549: Opr. Fol. 480, 202 r. 3 3 4 Freiwald, Helmut: Markgraf Albrecht von Ansbach-Kulmbach und seine landständische Politik 1521—1528, Kulmbach 1961, 142 und 146. 3 3 5 Freiwald 143. 3 3 6 Ommler 135. 3 3 7 Kneiphof an den Herzog, 10. Oktober 1543, EM 70 a 4, 10 r sq. 3 3 8 Landtagsvollmacht Bartenstein, 24. Januar 1549, Opr. Fol. 480, 202 r. 330

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I. Die Öffentlichkeit der Macht

Burgermeister vnd Rathmanne sampt den geschwornen vnnd die gantze gemeine"339. Versammlungen der Gemeinden allein durften nur mit Erlaubnis der „oberherschafft" stattfinden340. Wie die Städte im Land, so führten in der Stadt die Zünfte oder Gewerke ein selbständiges Leben, übten Exekutiv- und Gerichtsbefugnisse aus eigenem Recht aus341. Daher müssen auch sie als Teil der MachtÖffentlichkeit gelten. Selbst gegenüber dem Herzog gebärdeten sie sich nicht einfach als Untergebene, sondern wandten sich als Korporation in eigener Sache an ihn342. Auch mehrere oder gar alle Gewerke konnten gemeinsam Verhandlungsvollmachten erteilen343, zum Beispiel bei Unstimmigkeiten mit dem Rat. Zwar nahm der Landesherr im 16. Jahrhundert zunehmend Einfluß auf die Gewerke, indem er etwa Preise und Löhne festsetzte344, die „Rollen" (Zunftstatuten) bestätigte345 oder sogar erst gab346. Abgesehen davon, agierten die Gewerke jedoch selbständig. Ihre Altesten, auch Elterleute genannt, kontrollierten die Einhaltung der Handwerksregeln und der Qualitätsnormen347 — in Streitfällen traten die Elterleute als eine Art Gutachter auf348 —, den Ausbildungsgang im Handwerk349 und die Aufnahme neuer Mitglieder350. Auch die Ältesten der Gewerke hatten also rechtliche Verfügungsgewalt über Untergebene und waren damit nach der Definition Otto Brunners „öffentliche" Personen. Ihr Charakter als zünftische „Öffentlichkeit" zeigte sich in ihrer

Landtagsvollmacht Rastenburg 1549, Opr. Fol. 480, 203 ν sq. Landesordnung 1526, Opr. Fol. 13741, 52 v. 341 Horn 533; 541 f.; 560. 3 4 2 Bsp.: Meister des Tischlerhandwerks der drei Städte Königsberg an den Herzog, 12. Sept. 1581, EM 81 c 2, 652. 3 4 3 Von den Zunft-Elterleuten aller drei Städte Königsberg ausgestellte Vollmacht für Verhandlungen mit Oberräten und dem Herzog, Opr. Fol. 13803, 34 r—39 r, datiert ebenda 36 r: 31. Dezember 1599. 344 Bsp.: Herzogliche Mahnung zur Preisbilligkeit: Georg Friedrich an Räte und Gerichte der drei Städte Königsberg, 8. September 1592, EM 70 ρ 4 Nr. 10, 2 r—4 v, datiert ebenda 7 [ = 6 v]. 3 4 5 Genehmigung der Buchbinderrolle 1586, Schwenke/Lange 2 f. 3 4 6 Bsp.: Rolle der Tuchmacher für Neidenburg und andere Städte, Horn 527 f. 3 4 7 Horn 533. 348 Eid der Elterleute der Stadt Tilsit, StA Königsberg, Dep. Stadt Tilsit, Pak. I, Nr. 2, 11 r. Die Aufzeichnung der Eidesformulare stammt aus dem 17. Jh., die Formeln selbst sind aber wahrscheinlich älter. 3 4 9 Horn 528. 3 5 0 Horn 539. 339

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besonderen, repräsentativen Rolle bei den Zeremonien der Zunft und bei den jährlichen Sitzungen des Zunftgerichts. Alle Zeremonien und Zunftversammlungen fanden rund um die „Lade" statt351, in der die „Rolle" aufbewahrt wurde. Falls die Zunft nicht über ein eigenes festes Versammlungslokal verfügte wie die Königsberger Kaufleute und Mälzenbräuer352, „wanderten" Zunftlade und Versammlungsort in jährlichem Turnus von einem Altesten zum andern353. Was die Altesten der Zünfte und Gewerke „repräsentierten", kann man allerdings kaum Herrschaft nennen, es sei denn die Gewalt über Lehrlinge und Gesellen. Repräsentiert wurde vielmehr die Regel des Handwerks selbst, in gewissem Sinne seine „Ehre". Die repräsentative Funktion der Zunftältesten blieb bestehen, auch wenn die faktische Kontrollbefugnis der Zünfte über die Handwerksausübung mehr und mehr durch die landesherrliche Gewalt ausgehöhlt wurde.

4. Bauern in Preußen als Teil der Macht-Öffentlichkeit Wie für die Adligen, so galt auch für die Bauern der Grundsatz, daß Recht am Land hing. Nur der Eigentümer eines Stückes Land durfte auch in den Angelegenheiten des gesamten Territoriums mitreden. Das Forum für diese Art der Mitbestimmung war auf unterster Ebene die Amterversammlung. Auf ihr hatten prußische und deutsche Freie als Grundeigentümer Rederecht354. Auch auf dem Landtag brachten sie gelegentlich Beschwerden vor. So führten die Freien des Amtes Lyck auf dem Landtag von 1549 Klage darüber, daß ihr Hauptmann versuche, ihre Rechtsstellung zu verschlechtern und sie zu scharwerksähnlichen Diensten zu verpflichten355. Als „Wähler" von Deputierten werden gelegentlich auch Dörfer und sogar Fischer genannt356; doch dürfte es sich dabei nicht um Abhängige gehandelt haben.

351

Horn 519; 528; 533; 541. «2 Horn 531. 353 Horn 532. 354 Breysig 117 f. 355 Opr. Fol. 480, 328 ν sq. 356 Ommler 210.

72

I. Die Öffentlichkeit der Macht

Bauern unter Grundherrschaft, ob Deutsche zu Kulmischem Recht oder Prußen mit niedererer Rechtsstellung357, hatten diese Mitwirkungsrechte nicht. Sie waren minderfrei, aber dadurch weder rechtlos noch bloße Privatleute. Bei Bauern zu Kulmischem Recht legte meist eine „Handfeste" oder ein Privileg die bäuerlichen Rechte und Pflichten vertraglich fest 358 . Versuchte der Grundherr, die Rechte der Bauern zu beschneiden oder ihre Pflichten zu vermehren, so konnten die Bauern daran denken, sich mit ihm auf einem „Rechtstag" gütlich zu einigen359. Gelang das nicht, so hatten Untertanen von Adligen kaum Möglichkeiten, sich zu wehren, weil der Landesherr nicht direkt in die Jurisdiktion eines Adligen eingreifen durfte 360 . Der Landesherr selbst übte die Grundherrschaft durch seine Amtleute aus. Gab es Streit mit ihnen, so konnten die Bauern sich entweder an den Rechtsverletzer selbst wenden oder sich beim Herzog beschweren 361 . Als ein weniger gravierendes Mittel baten die Bauern von Crapellen, A m t Osterode, 1595 den Herzog, für ihren Streit mit dem Hauptmann und dem Schreiber eine Schiedskommission einzusetzen, „salva semper appellatione"362. Als Maßstab der Entscheidung sollte die Handfeste gelten. Im Fall verbrieften Rechtes und eines unparteiischen Richters hatten die Bauern in einem solchen

357 Unterscheidung zwischen Freien und „Bauern" vgl. die Lyckische Beschwerde, Opr. Fol. 480, 329 r. Unterscheidung zwischen deutschen und prußischen Bauern Plehn 119. 358 Beispiel: Handfeste des Kulmischen Dorfes Nadrausdorf (Abschrift) von St. Dionysii 1419, EM 105 d 243, 9 r—10 v; Verschreibung für Friedrich von Kirschappen über das Kölmische Gut Kirschappen, 16. November 1551, EM 126 d 679. Vgl. ferner Conrad, Georg: Die erneuerte Handfeste von Gilgenau (Kreis Orteisburg) von 1472, in: AMS 33/1896, 568—570. 359 Beispiel: Bescheid des Hauptmanns an die Dorfschaft Domkau, 10. Juni [1553, EM 105 d 58, 2 v; Georg Meyer von Kraftshagen an Herzog Albrecht Friedrich, [nach Sept. 1569], EM 114 d 450, 29 r. 360 Regenten an den Burggrafen zu Tapiau, 7. Juni 1591, EM 137 d 1493. 361 Beispiele: Brief Herzog Albrechts an die Räte Johann Aurifaber, Achatius von Dohna, Johann und Wolf von Kreytzen, Franz von Sülchau und Georg von der Gablentz, 7. November 1561, EM 105 b 2, 1 r, datiert 2 r; Beschwerden von Dörfern im Amt Tapiau, 1566, 1568, 1570 und o. D., EM 137 d 19, passim. 362 Zum Folgenden vgl. Schreiben von Gemeinde und Untertanen zu Craplau an den Herzog, Aktenvermerk vom 17. September 1595, EM 105 d 31, 1 v, Datierung 2 v. Weitere Beispiele der Berufung auf die Handfesten im Konfliktfall: Thomas Beyern an den Herzog, 5. März 1588, EM 126 d 1047, 4 r, datiert 5 v; Lorenz Krause an [die Oberräte?], Aktenvermerk vom 12. April 1584, EM 114 d 892, passim.

Teilnehmerkreis

73

Streit Chancen, Recht zu behalten. Die Einwohner von Nadrauen, Amt Hohenstein, behaupteten ihr eigenes Land 1559 gegen den Hauptmann, weil der Herzog ihr Argument der „Billigkeit" akzeptierte363. Wenn, wie meist bei den Prußen 364 , der Rechtsstatus der Bauern nicht in einer Handfeste fixiert war oder wenn der Grundherr ihr Land für sich selbst beanspruchte, bekamen sie seine Gewalt deutlicher zu fühlen. Zuweilen mußten sie sogar die Vermehrung ihrer Dienste hinnehmen wie die Bauern von Kraftshagen, Amt Preußisch Eylau/Bartenstein, im Streit mit ihrem adligen Grundherrn Fabian Bärwald365. Auch kleinere Bauernaufstände kamen vor, wie 1551 im Amt Insterburg366. Die Bauern gewannen dadurch aber nichts, sie mußten im Gegenteil noch die Verschlechterung ihrer Lage dulden. In all diesen Vorgängen traten die Bauern als geschlossene Gruppe mit zusammenfassendem Namen auf, nämlich als „die Dorfschaft" 367 oder „das dorff"368; „Die einwohner des dorfs michelaw im Rudawisch[en]"369; „die gantze nachbarschafft zu Nadrawsdorff" 370 oder auch differenzierend „schulzen, geschworne, vnd der gantzen dorfschafft"371; „Freye, Kruger vnd dorfschafften"372. Sie handelten als Gruppe eigenen Rechtes und beteiligten sich auf diese Weise an Entscheidungen, die über das „private" Leben einzelner hinausreichten und den Rechtsstatus ganzer Gruppen bewahrten oder veränderten. Prozesse gehörten in der bäuerlichen Welt zu den selbstverständlichen Formen öffentlicher Auseinan-

363

Akten betr. das Dorf Nadrauen, 1558, 1559 und o. D., EM 105 d 243, passim. Zur Berufung auf Billigkeit vgl. Abschied an Nadrauen vom 9. Oktober 1559, ebenda 7 v. 364 Ommler 15. 365 Der Rechtsstreit wird dokumentiert durch Beschwerden der Dörfler aus der Zeit von 1561 bis 1570, EM 114 d 450, 2 r—18 v; Zwischenbescheid vom 16. Juli 1574, EM 114 d 451, endgültiger Vergleich vor dem Hofgericht, o. D., EM 114 d 452, 3 r—4 ν [beiliegender Vertragsausschnitt, ebenda 2 r, datiert vom 17, Sept. 1575]. 366 Zum Folgenden vgl. Ommler 156 f. 367 Dorfschaft Domkau an Herzog Albrecht [1553], EM 105 d 58, 1 v. 368 Pattauen, Amt Tapiau, nach Aktenvermerk datiert 11. Januar 1548, EM 137 d 1215. 369 Schreiben der Dörfler an den Herzog, [nach September 1570], EM 126 d 1062, 2 r. 370 Supplikation der Dofschaft Nadrausdorf, o. D., EM 105 d 243, 1 v. 371 Petersdorf, Amt Tapiau, 3. April 1585, EM 137 d 825, 1 r. 372 Kremitten, 17. Januar 1613, EM 137 d 1520, 5 r—6 v.

74

I. Die Öffentlichkeit der Macht

dersetzung373; und die Bauern nahmen oft lange Prozesse in Kauf, wenn sie hoffen konnten, dadurch ihre Rechtsstellung zu halten oder zu verbessern374. Die Bauern von Kraftshagen prozessierten vierzehn Jahre lang mit Fabian Bärwald375, ehe sie sich endlich geschlagen geben mußten. Zur „Nachbarschaft" oder „Gemeinde" gehörten nur die „Nachbarn", die unmittelbar den Boden nutzten376. Nur die Nachbarn entschieden über Verteilung und Nutzung der Felder und Weiden sowie Überfahrrechte über fremdes Feld377, hielten Gericht über Verstöße gegen die Dorfordung378 und setzten Termine für gemeinsame Arbeiten fest, ζ. B. für das Ausbessern von Wegen379. In einigen Dörfern bestimmten die Bauern selbst die dörflichen Schöffen, in anderen lag dieses Recht bei der Herrschaft. Auch das Dorf war also nicht schlechthin eine Ansammlung von Privatpersonen, sondern hatte sein gemeinschaftliches öffentliches Leben. Dörfliche Entscheidungen waren allerdings im Vergleich zu Entscheidungen auf Amterversammlungen oder Gerichtstagen mit dem Grundherrn minder öffentlich, weil die Entscheidungen der Gemeinde buchstäblich nicht über die Gemarkungsgrenze hinausreichten. Aufs ganze gesehen, wirkten Bauern nur in sehr beschränktem Maße an öffentlichem Leben mit, wobei ihre Möglichkeiten zudem von ihrem Rechtsstatus abhingen. Landlose, Abhängige und nichtbäuerliche dörfliche Handwerker zählten nicht zur Gemeinde und nahmen auch an den Entscheidungsprozessen im Dorf nicht teil380. Leibeigene — die es trotz der formellen Aufhebung der Leibeigenschaft durch das Testament Herzog Albrechts381 immer gab382, — konnten kaum eigenverantwortlich

373 Schulze, Winfried: Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit (Neuzeit im Aufbau. Darstellung und Dokumentation. Hg. von Richard van Dülmen, Jörn Rüsen und Winfried Schulze, Bd. 6, Stuttgart-Bad Canstatt 1980),95— 99; 104—111. 3 7 4 Schulze 119 f.; 122. 3 7 5 vgl. Anm. 365. 3 7 6 Wunder, Dorf um 1600, 79. 3 7 7 Wunder, Dorf um 1600, 77. 378 Wunder, Dorf um 1600, 75. 379 Zum Folgenden vgl. Wunder, Dorf um 1600, 79. 3 8 0 Wunder, Dorf um 1600, 76; 79. 3 8 1 Testament Herzog Albrechts, Privilegia 81 r, dat. 82 r, 17. Februar 1567. 382 Breysig 53.

Teilnehmerkreis

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handeln oder entscheiden, da selbst ihre Arbeitskraft unter fremder Verfügung stand. Der samländische Bauernkrieg von 1525383 stürzte die gewohnte Ordnung abgestuften Rechtes auf dem Lande insofern um, als er Bauern unabhängig von ihrem Rechtsstatus und ihren verschiedenen Herren zu gemeinsamen Forderungen und Aktionen zusammenführte. Auf kurze Zeit bildete sich eine bäuerliche Bewegung über die Grenzen des Rechtsstatus hinweg. Den Herren als Gesamtheit, die versucht hatten, den Rechtsstatus aller Bauern zu verschlechtern384, traten die Bauern ihrerseits als statusübergreifende Gesamtheit gegenüber. „Wir gemain vnd bekenner des heyligen Evangelij" nannten sie sich in einem Brief an die Städte Königsberg385. Eine Bauernschaft, die sich unabhängig vom Rechtsstatus definierte, trat gleichsam als neue selbständige Korporation mit den Städten in Verbindung386, stellte Forderungen, fertigte Boten ab387, empfing Nachrichten388 und traf Entscheidungen. Es entstand eine neue, gemeinbäuerliche „Öffentlichkeit" jenseits der vielfältigen rechtlichen Unterschiede. Die Aktivitäten der Bauernschaft im Samland setzten die gestufte Ordnung der Macht-Öffentlichkeit nicht völlig außer Kraft. Sie schufen keine grundsätzlich neue Ordnung gleicher „Staatsbürger" und keine „Masse" im modernen Sinn. Die neue gemeinbäuerliche Öffentlichkeit blieb eine Korporation und beachtete weiterhin die Verhandlungsregeln der Macht-Öffentlichkeit und sogar die Rangunterschiede außerhalb der Bauernschaft. Allein unter den Bauern verschiedener Rechtsstellung erkannte die gemeinbäuerliche Öffentlichkeit keine Unterschiede mehr 383

Darstellung bei Franz, Günther: Der deutsche Bauernkrieg. Zehnte, verbesserte

und durch einen Bildanhang erweiterte Aufl., Darmstadt 1975, 276—279 noch immer grundlegend. Daneben zum samländischen Bauernkrieg Wunder, Heide: Zur Mentalität aufständischer Bauern. Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Geschichtswissenschaft und Anthropologie, dargestellt am Beispiel des Samländischen Bauernaufstandes von 1525, in: Wehler, Hans-Ulrich (Hg): Der Deutsche Bauernkrieg 1524—1526 (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 1), Göttingen (1975), 9—37 (passim). 384

Wunder, Mentalität, 30 f.

385

H B A J 3 1023, 1525 Montag nach Egidy.

386

vgl. Brief an Königsberg, Montag nach Egidy 1525, H B A J 3 1023; Bauernschaft

im Samland an Kaufleute und Mälzenbräuer der Stadt Königsberg, Empfangsvermerk vom 18. Oktober 1525, ebenda, Α. Ζ. VI. 28.30 387

Rundschreiben Hans Schlegels an alle Dörfer, H B A J 3 1023, IV. 28. 37, o. D.

388

Bsp.: Brief Polenz' an die Versammlung der samländischen Bauern, Barten,

9. September 1525, H B A J 3 1023, VI. 28. 58.

76

I. Die Öffentlichkeit der Macht

an. Sie durchbrach die Rechtsschranken im Innern, wollte aber außerhalb ihrer selbst die Regeln der Macht-Öffentlichkeit und die Rangunterschiede nicht ändern oder abschaffen. Da die gemeinbäuerliche Öffentlichkeit des samländischen Bauernkriegs nicht in grundsätzlicher Opposition zur übrigen Macht-Öffentlichkeit stand, fiel es den Beauftragten des Herzogs leicht, die Bauern hinzuhalten; und der Herzog konnte des Aufstandes Herr werden, indem er die Anführer hinrichten ließ.

5. Beziehungen des Herzogtums Preußen zur polnischen Krone und den Ständen Polens Das Herzogtum Preußen verkehrte mit Polen nicht als gleichberechtigter „souveräner Staat" im modernen Sinne. Vielmehr beruhte das Verhältnis der beiden Territorien auf dem Lehnsrecht, einer Rechtsgrundlage des mittelalterlichen Personenverbandsstaates. In der Frühen Neuzeit setzte sich allmählich, aber immer stärker, die Auffassung durch, daß ein Staat ein unabhängiges Gebilde eigenen Rechtes darstelle. Aus der Spannung zwischen mittelalterlichem Lehnsrecht und neuzeitlicher „Staats"auffassung erwuchs die Eigenart auch der preußischpolnischen Beziehungen vom Krakauer Vertrag 1525 bis zum Vertrag von Königsberg, mit dem das Herzogtum 1656 kurzfristig schwedisches Lehen wurde389, bevor ihm der Wehlauer Vertrag 1657 die Unabhängigkeit sicherte390. Der Krakauer Vertrag beschrieb die künftige lehnsrechtliche Stellung des Herzogs und seiner Hintersassen und Untertanen zum polnischen König391 nicht eindeutig. Insbesondere blieb offen, inwieweit der Herzog als Glied des polnischen Reiches anzusehen sei392. Im allgemeinen erkannte der König eine gewisse Sonderstellung des Herzogs an, bestritt sie aber in Konfliktfällen393. Der Vertrag gestand dem Herzog Sonderrechte zu, die dahingehend interpretiert werden konnten, als sei der Herzog in Preußen ein im modernen Sinne „souveräner" Herrscher: 389

Schlenke, Manfred: Preußen-Ploetz. Preußishce Geschichte zum Nachschlagen,

Freiburg/Würzburg 1987, 28. 390

Schlenke, Preußen-Ploetz, 33.

391

Dolezel 25—28.

392

Dolezel 25 und 52 f.

393

Dolezel 131.

Teilnehmerkreis

77

Laut dem Krakauer Vertrag verfügte er über Münzrecht — es war eine gesamtpreußische Münzunion vorgesehen394 — und Geleitrecht395. Außerdem sollte dem Herzog die „erste Stimme" im Senat zustehen396, dem ranghöchsten Teil des polnischen Reichstags397. In der Folgezeit versuchten die Herzöge, ihre Sonderrechte zur vollen Souveränität auszubauen, während die polnischen Könige bestrebt waren, die vertraglichen Zusicherungen zurückzunehmen oder umzudeuten und Preußen dadurch mehr dem übrigen Polen anzugleichen. Anlässe zu Konflikten ergaben sich außerdem immer wieder aus dem Verhältnis preußischer Untertanen zur polnischen Krone und aus dem Eingreifen polnischer Kommissare auf den preußischen Landtagen. Der Krakauer Vertrag hatte eine einheitliche Währung für ganz Preußen vorgesehen398. 1526 verfügte König Sigismund I. die Einführung des polnischen Münzfußes auch im herzoglichen und Königlichen Preußen399. Herzog Albrecht wollte daneben die alte preußische Münze weitergelten lassen, was der König aber verweigerte400. Der Streit brach offen aus; Albrecht mußte seine Münze zeitweilig schließen, weil der König die Silberausfuhr nach Preußen sperrte401. Erst nach dem Tod Sigismunds des Alten 1547 wurde das herzogliche Münzrecht vorläufig wieder respektiert402. Doch auch sein Nachfolger Sigismund August änderte bald seine Einstellung zum preußischen Münzrecht403. Herzog Albrecht Friedrich mußte 1569 die alleinige Münzhoheit des polnischen Königs anerkennen.

394

Dolezel 98. Dolezel 133 f.; Müller, Ulrich: Das Geleit im Deutschordensland Preußen (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Beiheft 1), Köln/ Weimar/Wien 1991, 232 f. 396 „primum et proximum locum in consiliis terrarum, comitiis et publicis conventibus apud R. Mtem. habere debet" (Krakauer Vertrag, Art. 14, zitiert nach Dolezel 25). 397 Hoensch 95. 398 Dolezel 98. 399 Dolezel 96; 98. 400 Zum Folgenden vgl. Dolezel 101 f. 401 Dolezel 111 f. 402 Dolezel 114 f. 403 Zum Folgenden vgl. Dolezel 116 f. 395

78

I. Die Öffentlichkeit der Macht

Auch das Geleitrecht, ein ursprünglich königliches Recht, konnte im 16. Jahrhundert fürstliche Landeshoheit ausdrücken404. Im Ordensstaat Preußen hatte der Hochmeister das Geleitrecht ausgeübt; und Albrecht der Ältere führte als Herzog den Brauch weiter405. Der polnische König als Oberlehnsherr hatte ebenfalls Geleitrecht im Gebiet des Herzogtums. In normalen Zeiten gewährte er aber den Feinden des Herzogs kein freies Geleit 406 , so daß die Ausübung des königlichen Rechtes dem Herzog nicht schadete. Erst der energische Herzog Georg Friedrich suchte das Geleitrecht des Königs zu verdrängen und mißachtete die vom König ausgestellten Geleitbriefe407. Polnische Kommissare übten 1609 in einem Schreiben an den preußischen Landtag gewissermaßen nachträglich Kritik an diesem Verfahren und mahnten die Beachtung des königlichen Geleits an. In den Belehnungsverhandlungen für den Kurfürsten Johann Sigismund setzte der König endgültig sein eigenes Geleitrecht durch408. Er nahm das Recht in Anspruch, für sechs Monate Geleitschutz zu geben — mit der selbstverständlichen Ausnahme, daß auf frischer Tat ertappten Verbrechern („facinosis [...] in crimine [...] deprehensis") kein Geleit gewährt werden durfte409. Das Stimmrecht des preußischen Herzogs im Sejm war wie die anderen Rechte durch den Krakauer Vertrag geregelt. Der Herzog sollte sogar die „erste und vornehmste" (primum et proximum) Stimme im Senat innehaben410. Die preußischen Landstände selbst drängten den Herzog, von seinem Stimmrecht auch Gebrauch zu machen und regelmäßig auf den polnischen Reichstagen zu erscheinen411. Sejm und König aber suchten ihn auszuschließen, indem sie ihn nur unregelmäßig einluden und drohten, ihm das Stimmrecht zu entziehen, wenn er sich nicht vollstän-

404

zum Charakter des Geleitrechts als Ausweis von Souveränität vgl. Eitz, Erwein:

Die Reise zum Reichstag, in: Kohler, Alfred/ Luth, Heinrich (Hgg.): Alltag im 16. Jahrhundert. Studien zu Lebensformen in mitteleuropäischen Städten (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, Bd. 14/1987), München 1987, 207. 405

Zum Folgenden vgl. Müller, Geleit, 232 f.

406

Zum Folgenden vgl. Dolezel 133 f.

407

Zum Folgenden vgl. Acta & Decreta Commissionis, 1609, Privilegia 102 r. sq.

408

Zum Folgenden vgl. Literae reversales des Kurfürsten Johann Sigismund, 26. Mai

1612, Opr. Fol. 594 a, 104 ν sq. 409

Opr. Fol. 594 a, 104 v.

410

Krakauer Vertrag, Art. 14, zitiert nach Dolezel 25.

411

Dolezel 125.

Teilnehmerkreis

79

dig dem polnischen Reichsverband eingliedere412. Zum Wahlreichstag von 1559 wurde Albrecht nicht geladen und konnte nur noch nachträglich dagegen protestieren413. Da Sejm und König das Stimmrecht des preußischen Herzogs wiederholt ablehnten und auch die mehrheitlich protestantischen Landboten - die Angehörigen der niedereren Kammer des Sejm - das Anliegen Albrechts nicht befördern konnten414, erreichte er keine verbindliche Anerkennung seines Stimmrechtes. Albrecht Friedrich konnte es seiner Krankheit wegen nicht ausüben. Herzog Georg Friedrich nahm zwar nicht am Sejm teil, legte aber Wert auf die Ausübung des preußischen Stimmrechts bei der polnischen Königswahl415 wie auch auf die anderen Souveränitätsrechte416. Nach ihm erreichte erst Kurfürst Johann Sigismund wieder die förmliche Belehnung. Ob er aber ein Stimmrecht im Sejm ausübte, ist nicht bekannt. Am längsten und härtesten umkämpft wurde das Recht der Appellation nach Polen, weil es unmittelbar in das Verhältnis zwischen dem Herzog und seinen Untertanen eingriff. König und Herzog interpretierten die entsprechende Passage im Krakauer Vertrag unterschiedlich417. Da die polnischen Magnaten über das Privilegium de non appellando verfügten418, empfand Albrecht es als demütigend, daß der König die Appellation vom herzoglichen Hofgericht nach Polen gestattete. Uber den Fall zweier Danziger Holzhändler, Kropp und Ketting, brach der Konflikt 1532 offen aus419. Die beiden Händler hatten nach Polen appelliert; der preußische Gesandte Georg von Kunheim protestierte dagegen. Schließlich verbot der Herzog den beschuldigten Kontrahenten Kettings, zur Appellation nach Polen zu reisen, und ließ das Verfahren damit scheitern420. König Sigismund antwortete mit dem Vorwurf der Felonie421. In einem ähnlich gelagerten Fall um einen rebellischen Söldnerführer namens Fasolt 1534 gab Sigismund allerdings stillschweigend

412

Dolezel 126—132.

413

Dolezel 117 f. und 127 f.

414

Dolezel 122.

415

Hartmann, Stefan: Die preußische Gesandtschaft nach Warschau im Frühjahr

1589, in: Zeitschrift für Ostforschung 41/1992, Η. 1, 71. 416

Hartmann, Gesandtschaft, 75.

417

Dolezel 135 f.

418

Dolezel 137.

419

Zum Folgenden vgl. Dolezel 133 f.

420

Dolezel 141.

421

Dolezel 135.

I. Die Öffentlichkeit der Macht

80

nach422. Zwischen Albrecht und Fasolt konnte es zum Vergleich kommen. Trotz dieser einen pragmatischen Lösung dauerte der Konflikt um das Appellationsrecht an. Albrecht verbot seinen Untertanen die Ausübung der Appellation nach Polen423, während Sigismund I. sowie sein Sohn und Nachfolger Sigismund August das königliche Gericht zur Appellationsinstanz machten und preußische Rechtsfälle vor ihr eigenes Gericht zogen424. Eine erste grundsätzliche Entscheidung fiel 1569425. Herzog Albrecht Friedrich mußte die freie Appellation von Adligen nach Polen zulassen. In allen anderen Fällen wurde die Appellation verboten. Als Grund für diese Abmachung nennt Dolezel die Überlastung der königlichen Gerichte. Wohl deshalb beruhte die Übereinkunft mehr auf Taktik und bestand nicht lange. Dem Herzog Georg Friedrich genügte die begrenzte Souveränität in der Appellationsfrage nicht mehr. Durch die Hofgerichtsordung von 1583 verbot er die Appellation nach Polen völlig426, was in einem polnischen Schreiben von 1609 ausdrücklich moniert wurde427. Der König wiederum gestattete die Appellation und wies den Vorschlag zurück, ein besonderes Gericht zu bilden, das als Zwischeninstanz zwischen dem herzoglichen und dem königlichen Gericht dienen sollte428. So setzte sich der Streit auch unter den Nachfolgern Georg Friedrichs fort. 1605 legte ein königliches „Responsum" fest, in Fällen ab einem Streitwert von 500 Gulden dürfe an ein königliches Gericht appelliert werden429. Stände konnten sich seit 1606 jederzeit mit Beschwerden an den König wenden430. Der Belehnungsvertrag von 1611 bestätigte die bis dahin getroffnen Abmachungen. Freies Appellationsrecht galt nur noch für Fälle mit einem Streitwert von über 500 fl.; bei geringerem Streitwert sollte das herzogliche Hofgericht letzte Instanz

422

Zum Folgenden vgl. Dolezel 133; 139 f..

423

Dolezel 141.

424

Dolezel 142—145.

425

Zum Folgenden vgl. Dolezel 146 f.

426

Conrad, Obergerichte, 26.

427

Acta et decreta Commissionis, 29. April 1609, Privilegia 100 v.

428

Zum Folgenden vgl. Conrad, Obergerichte, 29.

429

Responsum Sacrae Regiae MtisV/ILLVSTRISSIMI P R I N = / / C I P I S A C DOMINI

I O A C H I M I / / F R I D E R I C I [...] datum^Warsauiae, die XI. Mensis Martij A n n o / / D o mini, M.DC.V., Privilegia 140 v, datiert 139 v. 430

RESPONSVM/'Sacrae Regiae Maiestatis Nobilitati Duca=^tus Prussiae die 2.

Mensis Maij An = / / n o 1606. VVarsauiae datum, Privilegia 95 r.

Teilnebmerkreis

81

sein431, wie es die Hofgerichtsordnung bestimmt hatte. Aber schon ein Jahr später gestattete ein Rezeß polnischer Kommissare grundsätzlich die Appellation vom Hofgericht an den polnischen König432. Ihr Geschäftsgang wurde genau festgelegt433; und man plante sogar — wohl ein Spezifikum preußisch-polnischer politischer Kommunikation — Zeit für die Ubersetzung der Aktenstücke vom Deutschen ins Lateinische ein434. Mit dem Rezeß von 1612 hatte der polnische König erreicht, was Herzog Albrecht hatte verhindern wollen. Das herzogliche Hofgericht war grundsätzlich nicht mehr letzte Instanz des Rechtsweges im Herzogtum Preußen. Der Herzog stand in Bezug auf seine rechtliche Souveränität schlechter da als andere polnische Adelige. Ein besonderes Kapitel in den preußisch-polnischen Beziehungen bildete das Verhältnis der preußischen Stände zu Polen. Einerseits trennte der Unterschied der Konfessionen die mehrheitlich lutherischen Landstände von dem katholischen polnischen König und machte sie zu potentiellen Gegnern. Andererseits konnten die Stände den König als machtpolitischen Verbündeten betrachten, wenn sie sich über ihren Herzog beschweren oder ihre Stellung ihm gegenüber stärken wollten. Wie bekannt ist, sahen die preußischen Stände vor allem die zweite Möglichkeit und nutzten sie nach Kräften. Seit 1566 nahmen an den preußischen Landtagen häufiger polnische Kommissare teil435. Sie beeinflußten die Verhandlungen durch mündlichen Vortrag436 oder königliche Briefe437. Allerdings konnten sie sich nicht immer durchsetzen. Schon die Kommissare von 1566 mußten erleben, daß der preußische 431

Literae reversales des Kurfürsten Johann Sigismund, 26. Mai 1612, Opr. Fol.

594 a, 104 v.; Erklärung Wie es künfftig bey dem Churfürstlichen Hoffgericht mit dem Remedio Reuisioonis [!], vnd andern Extraordinariis beneficiis sol gehalten werden, 29. April 1614, Privilegia 138 r sq. 432

Recessus commissionis vom 29. Mai 1612, Privilegia 131 r sq.; dasselbe auch im

Diploma regium, 5. August 1614, Privilegia 133 ν—134 ν. 433

Diploma regium, 5. August 1614, Privilegia 133 ν sq.

434

ebenda, Privilegia 134 v.

435

Wiehert 438.

436

Bsp.: Formel „angehört vnndt vernommen" in der ständischen Antwort an die

polnischen Gesandten, 30. April 1578, Opr. Fol. 531, 61 r; Rede des polnischen Kastellans in der Sache Dohna vor den Ständen, 3, Dezember 1616, Opr. Fol. 613, 104 r—105 v. 437

Bsp.: Kreditivschreiben für Samuel Laski auf dem Landtag von 1604/05, Opr.

Fol. 572, 22 r sq.; Stephan Zadorski überbringt einen königlichen Brief, 31. Oktober 1615, Opr. Fol. 607, 149 v—150 v.

I. Die Öffentlichkeit der Macht

82

Adel zwar ihre Forderungen unterstützte, sofern sie ihm zustatten kamen, sich aber nicht für polnische Interessen benutzen ließ438. Die Gesandten Stephan Bathorys erwiesen sich häufiger als Gegner denn als Verbündete des Adels. Sie griffen oft zugunsten der herzoglichen Rechte in die Landtagsverhandlungen ein439. Die Nachfolger Stephan Bathorys unterstützten in Konfliktfällen eher den preußischen Adel und vor allem die der Herzogsgewalt opponierende Partei. König Sigismund ΙΠ. gestattete und berief zum Beispiel ausdrücklich eine Versammlung der Landräte, auf der sie nach eigenem Bekunden darauf achten wollten, bei ihren Privilegien geschützt und erhalten zu werden440. Es hing also auch vom Verhältnis des Königs zum Herzog und den Ständen ab, in welcher Richtung die polnischen Kommissare wirkten und wie weit sie sich durchsetzen konnten. Der polnische König stärkte seine Machtposition im Laufe der Herzogszeit vor allem dadurch, daß er seine Oberlehnsherrschaft voll zur Geltung brachte und in das Verhältnis zwischen Herzog und Ständen eingriff. Schon die Kommission von 1566 setzte fest, daß die Stände in Zukunft Beschwerden nach Polen richten könnten „ohne Vorwurf der Rebellion" 441 . In der Zeit nach Herzog Georg Friedrich wurden Gesandtschaften der Stände nach Polen fast ein fester Bestandteil der informellen Geschäftsordnung des Landtags442. Nachdem der Adel sich im Streit über die landesherrlichen Rechte in fraktionsähnliche Gebilde getrennt hatte, schickte die herzogsfeindliche „querulierende" Adelspartei in eigener Sache Gesandte nach Polen443. Die dem Herzog loyalen „Protestierenden" machten ihren Gegnern diese Sondergesandtschaften zum Vorwurf und ließen vor dem König erklären, die Beschwerden stammten nur von einer kleinen Gruppe von Adligen, nicht vom gesamten

438

Kleinertz 141.

439

Petersohn 24 f.; 70; 79—81.

440

Sigismund ΙΠ. an die Regenten[?], 20. Oktober 1615, Opr. Fol. 607, 44 r.; der

Zweck der Versammlung ist angegeben in einem Schreiben der Landräte an die Regenten vom 9. Februar 1615, ebenda 18 ν—19 ν. 441

Confirmatio der Königlichen Commissarien, 1566, Privilegia 63 [62] r.

442

Bsp.: Landräte und Adel an den Kurfürsten, l . / l l . Juli 1607, zitiert nach Klin-

kenborg 3. 117; Eingabe der „barones et nobiles ducatus Prussiae" an den König von Polen, 1607, ebenda 123 f.; Instruktion für Gesandte nach Warschau, 20./30. November 1608, zitiert nach Klinkenborg 4, 317. 443

Bsp.: Landräte und Adel an den Kurfürsten, l . / l l . Juli 1607, zitiert nach Klin-

kenborg 3, 117—119.

Teilnehmerkreis

83

Adel444. Gemäß dem Selbstverständnis des ständischen Landtags alter Prägung handelte es sich damit um „Privathandel", die nicht vor den Landtag, geschweige denn vor den König von Polen gehörten. Der König jedoch sicherte 1606 zu, nicht nur eine Gruppe von Landständen, sondern jeder einzelne Stand könne, wenn er sich in seinen Rechten verletzt glaube, Beschwerden an den König richten 445 . Der Geschäftsgang für solche Beschwerden lag seit 1609 fest446. Damit galt das Lehnsrecht auch bei Ständebeschwerden in einer sehr extensiven Auslegung. Das Verhältnis der preußischen Herzöge und ihrer Stände zum Sejm gestaltete sich zunächst nach anderen Kategorien als denen des Lehnsrechts. Herzog Albrecht hätte, wäre nach dem Krakauer Vertrag verfahren worden, zum Senat und damit zum Sejm gehört. Der Herzog verstand sich selbst als Teil der polnischen Adelsnation und legte Wert darauf, entsprechend behandelt zu werden, also den übrigen Senatoren mindestens gleichgestellt zu sein. Wie wir gesehen haben, gelang es ihm nicht, dieses Recht durchzusetzen. Die nachfolgenden Brandenburger waren in einer rechtlich und politisch grundlegend anderen Situation. Sie verfügten über Stammlande im Reichsgebiet und waren damit vollberechtigte Stände des Heiligen Römischen Reiches, während der geächtete Herzog Albrecht seine Rechte als Reichsglied nicht hatte wahrnehmen können. Für ihre Stammlande brauchten die Brandenburger den besonderen lehnsrechtlichen Schutz Polens nicht und konnten es sich daher leisten, die Frage ihrer Mitgliedschaft und Stellung im Sejm nicht so wichtig zu nehmen wie Herzog Albrecht. Allerdings mußte der Sejm der Belehnung der Brandenburger Kurfürsten und ihrer Vormundschaft über den kranken Herzog Albrecht Friedrich zustimmen. Die Brandenburger traten also vor dem Sejm zunächst nicht als Glieder des polnischen Reiches auf, sondern als auswärtige Bewerber um ein politisches Amt. Ihre Ziele suchten sie mit den Mitteln der Zeit zu erreichen: durch Verhandlungen 447 auch halboffizieller Art, zum Beispiel in Privataudienz

444 Bericht der preußischen Gesandten vom Warschauer Reichstag 1606, zitiert nach Klinkenborg 2, 638; Kurfürst an die Querulierenden, 19./29. April 1613, Opr. Fol. 607, 192 r sq. 445 Responsum Sacrae Regiae Maiestatis, 2. Mai 1606, Privilegia 95 r. 446 Acta & Decreta Commissionis, 29. April 1609, Privilegia 99 ν sq. 447 Johann Sigismund an Adam zu Putlitz, 14/24. September 1608, zitiert nach Klinkenborg 4, 134; Instruktion für Jäsky, 24. September/4. Oktober 1606, ebenda 146 f.

84

I. Die Öffentlichkeit der Macht

vor dem König448, durch offizielle Werbung für ihre Sache vor beiden Kammern des Sejm449 und durch Bestechung450. Es scheint, daß die Brandenburger nur in dieser Situation so etwas wie diplomatische Beziehungen zum Sejm entwickelten. Bei ihren Verhandlungen standen die Unterhändler der brandenburgischen Kurfürsten Joachim Friedrich und Johann Sigismund oft in Konkurrenz zu Abgesandten der preußischen Stände, die mit prinzipiell denselben Mitteln für ihre Ziele warben451. „Preußische" und „brandenburgische" Gesandte trafen sich auf den polnischen Reichstagen nicht immer in freundlicher Gesinnung452. Nominell verfolgten beide das gleiche Ziel, die Belehnung und „Immission" der Brandenburger, und versicherten diese Gemeinsamkeit auch beflissen453. Die „preußischen" Gesandten legten jedoch Wert auf die Ausdehnung der Stände- und Adelsrechte454, während die „brandenburgischen", offenbar zögerlich und mit wenig Geschick oder Erfolg, die herzoglichen Rechte zu erweitern suchten455. Die Auseinandersetzung zwischen dem künftigen preußischen Herzog und den Ständen verlagerte sich damit in die Belehnungsverhandlungen. Das nach modernem Verständnis innenpolitische Problem des Verhältnisses zwischen Herzog und Ständen erschien vor

448 Instruktion für Putlitz und Hübner 19/29. Dezember 1608, zitiert nach Klinkenborg 4, 365. 449 Johann Sigismund an Adam zu Putlitz, 14./24. September 1608, zitiert nach Klinkenborg 4, 134 f. 450 Instruktion für Putlitz und Hübner, 19./29. Dezember 1608, zitiert nach Klinkenborg 4, 365; Instruktion für Wedigo von Putlitz, 18./28. Dezember 1608, zitiert nach Klinkenborg 4, 298. 451 Instruktion für die Abgesandten der preußischen Landschaft nach Warschau, 22. Dezember 1604, Opr. Fol. 572, 35 r, 36 r sq.; 37 v; Instruktion für die preußischen Gesandten, 20./30. November 1608, zitiert nach Klinkenborg 4, 317—319. 452 Bericht der brandenburgischen Gesandten aus Warschau, 4./14. April 1606, zitiert nach Klinkenborg 2, 167; Bericht der preußischen Gesandten 1606, zitiert nach Klinkenborg 2, 634. 453 Gesandte der preußischen Ritterschaft an Markgraf Johann Sigismund, 10/20. April 1606, zitiert nach Klinkenborg 2, 175 f.; Bericht der preußischen Gesandten auf dem Warschauer Reichstag 1606, zitiert nach Klinkenborg 2, 634. 454 Instruktion für die preußischen Gesandten nach Warschau, 22. Dezember 1604, Opr. Fol. 572, 36 v; Instruktion für die preußsichen Gesandten vom 20./30. November 1608, zitiert nach Klinkenborg 4, 319. 455 Bericht der Gesandten vom Warschauer Reichstag 1606, zitiert nach Klinkenborg 2, 639.

Teilnehmerkreis

85

dem Sejm als eine Art doppelter Außenpolitik, nämlich als Schiedsverfahren zweier selbständiger politischer Gewalten vor einer dritten, dem Sejm, der auf Belehnung und Kuratel nur mittelbar Einfluß hatte. Nichts könnte besser illustrieren, daß das neuzeitliche Verständnis der Staatssouveränität, aus dem das Prinzip der „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten" folgt, im 16. Jahrhundert keine Kategorie des politischen Denkens und Handelns war.

π Kanäle der Kommunikation

1. Mündliche versus schriftliche Kommunikation

in der Politik

Im allgemeinen nimmt man als selbstverständlich an, daß die Kommunikation in allen Hochkulturen sich in ständig steigendem Maße schriftlich vollzogen habe. Gerade für den Bereich der Macht gibt es aber bezeichnende Ausnahmen. Das 19. Jahrhundert entdeckte und forderte die Mündlichkeit der Gerichtsverhandlung, der Parlamentsdebatte und der öffentlichen Rede neu; und im zwanzigsten treffen Minister und Staatssekretäre ihre Entscheidungen häufiger mündlich am Telefon, als einen Brief aufzusetzen. Die schriftliche Kommunikation scheint sich nicht überall als überlegen bewährt zu haben, und die mündliche Kultur ist alles andere als ein primitives Relikt. Das 16. Jahrhundert verließ sich häufig auf mündliche Mitteilung, weil viele Menschen noch nicht lesen konnten. Doch auch davon abgesehen, wies jede Kommunikationsform spezifische Vor- und Nachteile auf, die ihren Gebrauch in der Politik bestimmten. In allen nicht von elektronischen Kommunikationsmitteln geprägten Zeitaltern und Kulturen ist mündliche Kommunikation direkt und flexibel. Nur zu besonderen feierlichen Anlässen wird sie zeremoniell reglementiert. In der Regel kann sie schnell auf veränderte Situationen reagieren und paßt sich der Aufnahmesituation und dem Fassungsvermögen der Zuhörer an. Schriftliche Kommunikation dagegen ist vermittelt und fixiert. Das hat den Nachteil der Langwierigkeit und Starre, aber auch den Vorteil der Festlegung und Sicherheit. Freilich hängt die Schriftlichkeit von vielen Voraussetzungen ab. Mindestens einer der Kommunikationspartner muß lesen und schreiben können. Man braucht Schreibmaterial, vor allem Papier, und genügend Zeit zur Ausarbeitung eines Schriftsatzes. Keine dieser Voraussetzungen war in der Frühen Neuzeit selbstverständlich, und oft hielten die Verhandlungspartner, wie heute, Schriftlichkeit nicht für sinnvoll. Schriftliche und

Kanäle der Kommunikation

87

mündliche Verständigung konkurrierten, und es hing von der Situation ab, welche von beiden den Vorzug erhielt. Auf den unteren Ebenen der „Macht"-Kommunikation erübrigte sich schriftliche Kommunikation oft, weil die Teilnehmer nicht lesen konnten. Die „Nachbarschaft" auf den Dörfern verhandelte und entschied im unmittelbaren Gespräch. Der Schriftform bedurften nur solche Vorgänge, die über das Dorf hinaus rechtswirksam werden sollten, etwa das Urteil eines Landgerichts456, die Beschwerde über einen Dorfgenossen oder Adligen457 und erst recht die gemeinbäuerliche Forderung im Bauernkrieg458. Konnten die Bauern nicht selbst schreiben, so boten offenbar die Amtleute des Herzogs um ein geringes „Schreibgeldt" ihre Dienste an459. Zu Anfang des 17. Jahrhunderts (1602) verlangten die Amtleute für einen Schriftsatz fünf Groschen. Der Herzog hielt diesen Preis jedoch für zu hoch („vbersatz") und verlangte, den Mißbrauch abzuschaffen. Auch in den Städten Königsberg und erst recht in den kleinen Städten des Territoriums spielte sich das öffentliche Leben weitgehend mündlich ab. Ratsprotokolle haben sich nur aus Tilsit aus der Zeit nach 1640 erhalten; die meisten Stadtarchive müssen als verloren gelten. Aus der fragmentarischen Uberlieferung läßt sich nicht einmal schließen, ob die Beschlüsse der Stadträte überall protokolliert wurden. Schriftlich fixierten die Städte höchstens ihre „Handfesten"460, also die vermeintlich „ewig" gültigen Festlegungen ihrer Rechte und Pflichten und des Verhältnisses zu ihrer Herrschaft, sowie Verschreibungen von Grundbe-

456

Bsp.: Todesurteil der Landgeschworenen zu Rudau, o. D. [1608], E M 126 D

1596, 13 v. 457

Bsp.: Beschwerde des Clement Buncke zu Klein Schleusen über eine Hube, 16.

Dezember 1570, E M 137 d 1263; vgl. auch Schulze, Bäuerlicher Widerstand, 39. 458

Brief von Bauernführern an den Statthalter zu Tapiau, Montag nach Egidy 1525,

H B A J 3 1023, VI. 28. 48, 1 v; Brief von Bauernführern an Rat und Gemeinde der Stadt Königsberg, ebenda 2 r sq. 459

Zum Folgenden vgl. Steuerausschreiben Georg Friedrichs vom 24. Juni 1602, in:

Verordnungen usw. insbesondere für das Herzogtum Preußen, Bd. 1, [offizielle Drucke aus Königsberg und Warschau, 1589—1649], Sammelband, SBPK Gu 570 fol.), Nr. 22. 460

Bsp.: Handfeste für Preußisch Holland, Michaelis 1297, EM 51 a 2, Nr. 7, pas-

sim; Handfeste von Gilgenau, mitgeteilt bei Conrad, Georg: Die erneuerte Handfeste von Gilgenau, 568—570; Kopie des Gründungsprivilegs der Stadt Tilsit, 2. November 1552, Dep. Stadt Tilsit, Pak. I Nr. 1, 1 r—7 r.

I. Die Öffentlichkeit der Macht

88

sitz461. Alle weiteren wichtigen Prozesse regelten die Städter im direkten Gespräch, entweder, weil sie selbst nicht alle lesen konnten, oder weil der Kreis der Verhandelnden so klein war — der Rat einer kleinen Stadt bestand aus 12 Personen462 —, daß die Schriftform die Verhandlungen unnötig kompliziert hätte. Auf dem Landtag war die mündliche Verhandlung vom 16. zum 17. Jahrhundert immer weiter auf dem Rückzug. Den Landtagsprotokollen noch von 1548/49 sieht man an, daß sie mündliche Reden und Diskussionsbeiträge zusammenfassen. Stereotyp erscheint zum Beispiel die Formel „man hat gehört"463, sobald ein Redner die Aussagen seines Vorredners resümierte. Selbst die Ständekurien als Gesamtheit antworteten dem Herzog selten schriftlich464. Nur der Abschied bedurfte der Schriftform, da er ähnlich wie eine Handfeste Rechtskraft haben und verfügbar sein sollte. Der erste Landtag Herzog Georg Friedrichs dagegen lief schon überwiegend schriftlich ab. Nicht nur der Abschied wurde aufgeschrieben, sondern die einzelnen Kurien reichten ihr „Bedenken" in Schriftform dem Herzog ein; und dieser antwortete darauf in schriftlichen „Resolutionen"465. Die einzelnen Schritte des Landtags, die Verhandlungen selbst, konnten nun überprüft werden und legten die Teilnehmer auf die einmal fixierten Worte fest wie früher nur der Landtagsabschied. Sofern man nicht annehmen will, daß Herzog und Stände einfach das technisch Mögliche auch taten, ζ. B. größere Papierkapazität nutzten, muß man annehmen, daß hinter dieser Veränderung ein Wandel im Verständnis des Landtags und in der Einschätzung der schriftlichen Kommunikationsformen in der Politik stand. Der Landtag galt nicht mehr als ein Prozeß, bei dem nur das Ergebnis „für immer" aufgezeichnet werden mußte. Vielmehr zerfiel der kontinuierliche Verhandlungsprozeß in eine Folge von Einzelschritten, von denen tendenziell jeder die gleiche Rechtsverbindlichkeit beanspruchte. Zwar machte das schriftliche Verfahren die Verhandlungen langwieriger und mühsamer; aber es ent461

Gründungsprivileg, Handfeste und Verschreibungen der Stadt Kreuzburg, E M

18 a 1, passim. 462

Horn 509.

463

Opr. Fol. 480, 23 ν: „haben abermals angehört". Vgl. Mündliche Wiedereröff-

nung nach der Winterpause, Opr. Fol. 480, 130—133. 464

Bsp.: Opr. Fol. 480, 9r sq; 33 r—39 ν (ein schriftliches „Bedenken"); 47 r—49 r.

465

Bsp.: Inhaltsverzeichnis zu den Landtagsprotokollen 1578, Opr. Fol. 531, pag.

a—h.

Kanäle der Kommunikation

89

sprach offenbar besser den Auffassungen und Bedürfnissen der Verhandlungspartner. Der Vorschlag der protestierenden Landräte, wieder mehr mündlich zu verhandeln, um die Landtage abzukürzen466, fand 1615 im Landtag keine Unterstützung. Die preußischen Landtage verhandelten weiterhin schriftlich. Bald galt ein mündlicher Vortrag so sehr als Ausnahmeerscheinung, daß er in den Landtagsprotokollen eigens als etwas Besonderes erwähnt wurde467. Außere Faktoren könnten die Entwicklung zur Schriftlichkeit begünstigt haben. Die Stände verhandelten 1579 nicht mehr wie zu Zeiten Herzog Albrechts gemeinsam, sondern an getrennten Orten, wenn auch noch alle im fürstlichen Schloß. Sie konnten die Beratungen der jeweils anderen Kurie nicht mehr mitverfolgen, sondern mußten sich nachträglich, wahrscheinlich durch Boten, über die gefaßten Beschlüsse unterrichten. Dem Berichterstatter mochte es leichter fallen, die Beschlüsse vorzutragen, wenn ihm eine schriftliche Fassung mitgegeben wurde. Doch die Ausarbeitung und vor allem die Prüfung der Schriftsätze kosteten viel Zeit. 1615 war es ein Vorschlag zur Verkürzung der Landtage, jeder Stand solle das Gutachten eines anderen nur „eine quernacht" behalten dürfen468. Die in späteren Jahren häufigen Beschwerden nach Polen begünstigten die Schriftform weiter, hätten sie aber nicht zwingend erfordert. Wahrscheinlich kam im Lauf der Landtagsgeschichte ein sich selbst verstärkender Prozeß der Verschriftlichung in Gang. Die Erleichterung für den Informanten, die Vorteile verbindlicher Fixierung und die Aufwertung der Einzelschritte des Landtags mögen einander wechselseitig bedingt haben. Weil das schriftliche Wort den Gegner oder Verbündeten auf Handlungen oder Auffassungen festlegen konnte, taugte es zum Mittel der Beglaubigung. Im Konfliktfall keinen schriftlichen Nachweis zu verlangen, galt als politischer Fehler. Als der mecklenburgische Rat Johannes Horst zu der Stellung des Söldnerführers Wobeser verhört wurde, erklärte Horst,469

466

Opr. Fol. 630, 259.

467

mündlicher Bericht des Kanzlers Rappe, 1605, zitiert nach Klinkenborg 1, 603;

Erwähnung eines mündlichen Bedenkens des Kanzlers auf dem Landtag von 1612, Opr. Fol. 595/1, fol. a.v. 468

Opr. Fol. 630, pag. 265.

469

Protokoll der Aussage Horsts vom 28. Oktober 1566, Opr. Fol. 492, 182 ν sq.

90

I. Die Öffentlichkeit der Macht „daß Wobitzer keine schrifftliche instruction gehabett, wunderte sich auch daß die Fr. Redte so nachlessigk gewesen, das sie keine instruction von im gefordertt vnd also seinen Blossen worten glauben gegebenn hetten".

Der Vorwurf zeigt, wie hoch in der Politik die Glaubwürdigkeit eines Schriftsatzes eingeschätzt wurde, auch und besonders in strittigen oder undurchsichtigen Situationen. Der Landtag mag auch deshalb zur Schriftlichkeit übergegangen sein, weil die Deputierten ein schriftliches „Bedenken" prinzipiell für glaubwürdiger hielten als die mündliche Mitteilung. Einen weiteren Grund für die Hochschätzung des Schriftlichen kann man einer Äußerung der drei Städte Königsberg auf dem Landtag von 1605 entnehmen 470 . Als die Oberstände ihnen üble Nachrede und Verunglimpfung vorgeworfen hatten, legten die Bürgermeister Widerspruch ein und bestanden darauf, daß die Vorwürfe gegen sie schriftlich fixiert würden: „Weilen aber hierunter ihr [der Städte] Ehr, Glimpf und gutter Nahm versiren thete, alß bethen sie, die von der Ritterschafft und Adell müchten ihr Suchen, auch der kunfftigen Posteritet zum Besten, in Schrifften ufsetzen." Wie die Äußerung zeigt, dachten die drei Bürgermeister — wie vermutlich alle politisch Handelnden jener Zeit — in weiter geschichtlicher Perspektive. Sie wünschten ihre „Ehre" nicht nur für die Gegenwart, sondern auch vor der Nachwelt zu bewahren. Deshalb legten sie Wert auf Schriftlichkeit, weil allein die Schrift den Konflikt und seinen Ausgang für die Nachwelt dokumentieren würde. Die Schrift sicherte das Andenken und die „Ehre" der politisch Handelnden über ihre Lebenszeit hinaus. Auf der höchsten Stufe der Öffentlichkeit, im verwaltungsinternen Verkehr und in der Diplomatie, konnte auf Schriftlichkeit niemand verzichten. Einesteils waren Verhandlungspartner in der Regel weit voneinander entfernt, und die Aufgabe, Nachrichten über große Entfernungen genau wiederzugeben, überstieg möglicherweise das Fassungsvermögen eines Boten. Andernteils beanspruchten manche Formulierungen höchste politische Verbindlichkeit und mußten den Empfänger wörtlich genau erreichen. Mündliche Verhandlungen boten jedoch Vorteile, wenn es auf Geheimhaltung oder auf besondere Flexibilität ankam. 470 Zum Folgenden vgl. Bericht der Oberräte vom Landtag, 20./30. Dezember 1605. zitiert nach Klinkenborg 1, 579.

Kanäle der Kommunikation

91

Da Briefe abgefangen werden und in die falschen Hände geraten konnten, wurden geheime Informationen dem Boten mündlich mitgeteilt 471 . Schriftliche Instruktionen für Diplomaten enthielten oft nur Angaben über das Verhandlungsziel 472 und eventuelle Handlungsalternativen. Die endgültigen Entscheidungen mußten die Diplomaten im unmittelbaren Gespräch zu erreichen suchen. Vertrauliche Mitteilungen ließen sich nur dann fixieren, wenn man eine Geheimschrift verwendete, wie das im Briefverkehr kurfürstlich-brandenburgischer Diplomaten zu Anfang des 17. Jahrhunderts gelegentlich geschah473.

2. Symbolische Kommunikation

in der Politik

Neben der schriftlichen und mündlichen hat die symbolische Kommunikation in der Politik große Bedeutung, nicht nur im Fernsehzeitalter politischer „Inszenierungen"474. Die Frühe Neuzeit, vom Mittelalter zu schweigen, verfügte über ein reiches Repertoire an politischen und vor allem rechtlichen Symbolen. Man denke an das „Stabbrechen" vor der Vollstreckung eines Todesurteils 475 oder an zeichenhafte Handlungen bei der Ubergabe und Übernahme eines Rechtes: Spottzeremonien

471 Bsp.: Instruktion für Reichardt Beyer, 24. September 1604, zitiert nach Klinkenborg 1, 30 f.: Johann Sigismund schickte 1604 einen Diplomaten zu Verhandlungen nach Polen, um die Vertraulichkeit nicht zu gefährden. Dohna an Beyer, 25. Februar/7. März 1607, zitiert nach Klinkenborg 2, 535: Dohna hofft auf vertrauliche Verhandlungen bei Ankunft Beyers. 472 Zum Folgenden vgl. als Bsp.rlnstruktionen für die Gesandten der preußischen Landschaft nach Warschau, 22. Dezember 1604, Opr. Fol. 572, 38 r—40 r. 473 Fabian Dohna d. A. übersendet Chiffrentafel. Dohna an Beyer, 26. Januar/3. Februar 1607, Klinkenborg 2, 499. Zu Dohna vgl. Dohna, Fabian: Die Selbstbiographie des Burggrafen Fabian zu Dohna (* 1550—+ 1621) nebst Aktenstücken zur Geschichte der Sukzession der Kurfürsten von Brandenburg in Preussen aus dem fürstlich dohnaischen Hausarchiv zu Schlobitten, hg. von C[hristian] Krollmann, Leipzig 1905. 474 Ein Beispiel für zeitgenössische, aber traditionelle politische Symbolik bietet Pawlowsky-Flodell, Charlotta: Staatsbesuche als Medienereignisse. Eine Analyse impliziter Botschaften, in: Publizistik 34/1989, 437—447. 475 Mitteis, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Ein Studienbuch, Neubearbeitet von Heinz Lieberich (Kurzlehrbücher für das juristische Studium), 10., ergänzte Auflage, München und Berlin 1966, 26.

92

I. Die Öffentlichkeit der Macht

bei der Lossprechung von Lehrlingen476, den Schwur beim Hut des Bürgermeisters bei der Übernahme des Bürgerrechts477, die Überreichung eines mit Pfennigen gefüllten Handschuhs als Zeichen der Treue478 oder die Berührung der Lehnsfahne479. Im heutigen Recht sind symbolische Handlungen weitgehend belanglos — nicht das Erheben der Schwurhand, sondern der gesprochene Wortlaut beglaubigt den Eid vor Gericht; und kaum ein Vertrag dürfte mehr durch Handschlag abgeschlossen werden. In der Frühen Neuzeit aber hatten symbolische Zeichen und Handlungen öffentliche Bedeutung. Die angeführten Beispiele aus der Frühen Neuzeit weisen eine Gemeinsamkeit auf: Symbolische Handlungen begleiteten den Übergang in einen neuen Rechtszustand. Dabei scheint die Symbolisierung eher öffentlichen Charakter getragen zu haben als der schriftliche Vertrag, der den Wechsel des Rechtsstatus formulierte. Aus den Eigenheiten des Symbols als Mittel der Mitteilung läßt sich seine hohe Bedeutung in der politischen Kommunikation leicht ableiten. Vor der Erfindung des Buchdrucks war Geschriebenes nur durch Abschreiben zu verbreiten, also mühsam und teuer. Eine öffentlich vollzogene Handlung dagegen ging sofort und unmittelbar sehr vielen Menschen ein. Bedeutsame symbolische Handlungen fanden an Plätzen statt, auf denen viele Menschen zusammenkamen. Bestrafungen bis hin zur Hinrichtung wurden vor Zuschauern vollzogen480. Die Zeremonie des Ratswechsels hielt man auf dem Markt, in oder vor der Kirche ab481. Auch die Belehnung des Herzogs Johann Sigismund vollzog sich 1611 auf einem öffentlichen Platz, einer Bühne („theatrum"), die beim Kloster St. Bernhard in Warschau aufgerichtet worden war482. Die Wahl des Ortes hatte zwar keine symbolische, wohl aber politische Bedeutung. Die Belehnung am Regie-

476

Horn 538. Gause 81. 478 Gause 333; Petersohn 28. 479 Literae reversales des Kurfürsten Johann Sigismund, 16. Mai 1612, Opr. Fol. 594 a, 100 r. 480 Hölscher 16; 27; Mitteis/Lieberich 27. Vgl. auch Bericht über die Hinrichtung von Funck, Horst und Schnell auf dem kneiphöfischen Markt, 1566, Opr. Fol. 492, 186 v; Opr. Fol. 493, 160 r. 481 Horn 509. 482 Formula praescripta solennis Investiturae, o. D., Opr. Fol. 594 a, 213 r sq.; zur Erklärung des „theatrum" und der Ortlichkeit vgl. Hartmann, Gesandtschaft, 83. 477

Kanäle der Kommunikation

93

rungssitz des polnischen Königs zeigte, daß der preußische Herzog in den polnischen Lehnsverband eintrat. Die Belehnungszeremonien der Herzöge Albrecht (1525)483 und Joachim Friedrich (1611) 484 lassen bei vergleichender Analyse die notwendigen Elemente symbolischer Kommunikation in der Politik erkennen. Der Vergleich erweist außerdem, daß symbolische Riten erstaunlich stabil sind. Trotz eines zeitlichen Abstandes von fast hundert Jahren spielten sich die beiden Zeremonien annähernd gleich ab. Der Symbolhandlung lag in beiden Fällen die gleiche Veränderung des Rechtsstatus zugrunde, die Ubergabe des Lehens an den Herzog von Preußen unter Mitbelehnung seiner Brüder485. Die Belehnung war zuvor in Verhandlungen vereinbart worden. In beiden Fällen datierte der Vertrag früher als die zeremonielle Handlung; sie bestätigte ihn nur 486 . Symbol für die Belehnung mit einem weltlichen Fürstentum war die Lehnsfahne, das vexillum, das der Herzog und seine Brüder berührten487. Nach Lehnsrecht repräsentierte die Fahne sowohl das Lehen als auch die mit ihm übernommenen Regalien. Sie stand demnach nicht als Zeichen mit einer einzigen Bedeutung, sondern als Symbol für die Vasallität als ganzes und alle sich daraus ergebenden Verpflichtungen. Durch die Ubergabe bzw. Dolezel 15 f. Formula praescripta solennis Investiturae, o. D., Opr. Fol. 594 a, 213 r—215 v. Die bei Hartmann, Gesandtschaft, 84—86 beschriebene Belehnungszeremonie von 1589 weicht im Protokollarischen leicht von den beiden genannten Zeremonien ab, da der Herzog nicht persönlich anwesend war. 483

484

4 8 5 Literae reversales des Kurfürsten Johann Sigismund, 26. Mai 1612, Opr. Fol. 594 a, 100 r; Dolezel 16. 4 8 6 Für 1525: Vertrag: Pax Perpetua inter Sigismvndvm I. Regem, & Regnum Poloniae, & Magistrum Prussiae, eiusdem Ordinem Cruciferorum, Cracouiae 1525 confecta, zitiert nach Privilegia 32 ν—36 ν. Datierung 36 r: 8. April 1525.—Sequitur Approbatio Pacis Perpetuae [...] Nona Die Aprilis facta, ebenda 37 r—38 v, dort nochmals datiert. Zeremonie am 10. April (Dolezel 15). Für 1611: Vertrag: Confirmatio Sacrae Regiae Maiestatis eiusdem [des Kurfürsten] Cavtionis data Varsauiae die 5. Mensis Nouemb. Anno 1611, Privilegia 115 ν—118 v.Zeremonie zitiert nach: Descripito Qvo Ordine Fevdvm fflvstrissimo Ioanni Sigismundo Marchioni & Electori Brandenburgensi collatum, ebenda 120 r—121 v. Datierung ebenda 120 r: „Die 16. Nouembris, homagij solennitas peracta." 4 8 7 Literae reversales des Kurfürsten Johann Sigismund, 16. Mai 1612, Opr. Fol. 594 a, 100 r; 214 v; Dolezel 16. Zur Bedeutung der Lehnsfahne hier und im folgenden vgl. Spieß, Karl-Heinz: Lehn(s)recht, Lehnswesen, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hg. von Adalbert Erler und Ekkehard Kaufmann unter philologischer Mitarbeit von Ruth Schmidt-Wigand, Bd. Π, (Berlin 1978), Sp. 1732.

94

I. Die Öffentlichkeit der Macht

die Berührung der Lehnsfahne anerkannten König und Herzog ihre wechselseitigen Verpflichtungen. Die Belehnung drückte wie andere symbolische Handlungen das Eingehen eines neuen Rechtsverhältnisses aus, das sich in Schriftform nur sehr viel umständlicher hätte darstellen lassen. In allen genannten Vorgängen beschreibt das Symbol das neue Rechtsverhältnis nicht in allen Einzelheiten, sondern stellt es zusammenfassend dar. Es macht die Komplexität des Rechtsverhältnisses auf sinnenfällige Art deutlich, wie es der Vertrag nicht könnte. Gleichzeitig weist es darauf hin, daß das Rechtsverhältnis eine von der Schrift nicht erfaßbare Qualität hat. Insbesondere kann die Schrift die Beziehung einer Handlung zu einer Gemeinschaft und die emotionale Bedeutung eines Vorgangs nur unvollkommen erfassen. Daher werden Amtseinsetzungen auch heute noch immer dann von symbolischen Riten begleitet, wenn das Amt sich auf eine Gemeinschaft bezieht und nicht nur als gleichsam sachliche Funktion, sondern auch als besondere Beziehung zu (Gott und) den Menschen verstanden wird. Unter den politischen Amtseinsetzungen haben heute wohl nur noch die Königskrönungen solch herausragende Bedeutung, außerhalb der Politik etwa die Ordination oder Weihe zu geistlichen Ämtern. Anders als die „nur" rechtlich und schriftlich fixierte Amtsübergabe soll die symbolische Handlung bei einer Amtseinsetzung den ganzen Menschen auch in seinen Beziehungen verändern und verpflichten. Die Kernhandlung der Lehnsübergabe wurde von einem Dialog zwischen den Hauptakteuren umrahmt und begleitet. Vertreter des Herzogs baten um die Belehnung, der polnische Kanzler als Vertreter des Königs gewährte sie488. 1611 stimmten die Senatoren vorher pro forma über die Gewährung des Lehens ab. Wahrscheinlich zeigte sich in diesem Verfahren die starke Stellung, die der polnische Adel inzwischen gegenüber dem König gewonnen hatte489. Nach der förmlichen Gewährung der Belehnung nahm der König den Herzog mit Worten in den polnischen Lehnsverband auf490. Der Herzog und seine Brüder faßten die Lehnsfahne und sprachen die Eidesformel; danach wurde der Herzog zum Ritter geschlagen491. Der gesprochene 488

Dolezel 15; Formula praescripta solennis Investiturae, o. D., Opr. Fol. 594 a, 213 rund214 r. 489 Opr. Fol. 594 a, 213 r. 490 Dolezel 15; Opr. Fol. 594 a, 214 ν sq. 491 Dolezel 16; Opr. Fol. 594 a, 214 ν sq.

Kanäle der Kommunikation

95

Ablauf der symbolischen Handlung endete mit einer Danksagung492 bzw. einem Tedeum, an dem sich alle Umstehenden beteiligten493. Die öffentliche Danksagung gehörte aber, anders als das Tedeum, nicht zwingend zur Symbolhandlung. 1611 wurde festgelegt, sie könne bei schlechtem Wetter („cum non satis commoda tempestas esset") auch ausfallen494. Welche Bedeutung hatten die mündlichen Elemente der Belehnungshandlung? Zweifellos sollten sie den Zuschauenden das Geschehen erklären; denn die Beteiligten kannten seine Bedeutung ohnehin aufgrund der vorausgegangenen Verhandlungen. Für eine einfache Erklärung aber waren die mündlich vorgetragenen Bitten und Gewährungen zu stark stilisiert. Ihr Wortlaut wurde 1611 schon vor der Zeremonie schriftlich festgelegt495. Wie ein Vergleich dieser Festlegung mit der offiziellen Beschreibung der Belehnung in den „Privilegiis"496 erweist, wich die Zeremonie in den wichtigsten Textteilen — den Bitten um Belehnung und der Belehnungsformel — bis auf wenige Ausnahmen nicht von dem vereinbarten Text ab497. Auch die mündlichen Aussagen wurden also dem Gesetz der Stilisierung unterworfen, das für symbolische Handlungen allgemein gilt. Kann man ihnen eine eigenständige symbolische Bedeutung zuschreiben? Zunächst fällt auf, daß der stilisierte Dialog den Abstand zwischen dem König und den Herzögen stark betonte. Die Herzöge mußten bitten, der König gewährte. Der König erschien in vollem Ornat und mit den Reichsinsignien498; die Vasallen hingegen trugen keine besonderen Machtzeichen. Die Zeremonie verlangte herkömmlicherweise von dem 492

Descripito, 16. November 1611, Privilegia 121 r sq.

493

Dolezel 16.

494

„DESCRIPTIO, Q V O O R D I N E / / F E V D V M DLLUSTRISSIMO JOANNI//Si-

gismundo Marchioni & Electori/Brandenburgensi collatum", Privilegia 121 v. 495

Formula praescripta solennis investiturae, o. D., Opr. Fol. 594 a, 213 r—215 v;

die Zeremonie wird im Futur beschrieben. 496

Descriptio quo ordine, Privilegia 120 r sq.

497

Bsp.: Opr. Fol. 594 a, 213 r „in ducatum Prussiae"/ Privilegia 120 r „in Prussia";

Opr. Fol. 594a, 215 r „gratamque propter eam [beneficentiam]/ Privilegia 121 r „gratamque pro eo". Von diplomatischer Bedeutung dürfte gewesen sein, daß die vorher festgelegte Formel „ordinum autoritate et consensu", die in der Antwort des Königs auf die Belehnungsbitte auftauchen sollte (Opr. Fol. 594 a, 214 r), in der Zeremonie selbst weggelassen wurde (Privilegia 121 r). Ob die polnischen oder die preußischen Stände damit gemeint waren, läßt sich dem Text nicht sicher entnehmen. 498

Dolezel 1 5; Privilegia 120 r.

96

I. Die Öffentlichkeit der Macht

Vasallen sogar eine symbolische Erniedrigung, den Kniefall, wenn der Herr bei der Lehnsübergabe saß499. 1525 knieten die Vasallen bei der Bitte um Belehnung, 1611 auch bei der Lehnsübergabe500. Die Zeremonie präsentierte, die tatsächlichen Machtverhältnisse gewiß übertreibend, die überlegene Hoheit des Oberlehnsherrn. Ein zweites Gefalle bestand zwischen den beiden Hauptakteuren König und Herzog einerseits und ihren diplomatischen Stellvertretern andererseits. Der symbolische Dialog machte dabei in konzentrierter und stilisierter Form die Vorgeschichte der Lehensübergabe deutlich: Die Stellvertreter hatten durch ihr Einvernehmen bei Verhandlungen den Weg dafür geebnet, daß das Lehen übergeben werden konnte. Der Dialog der Diplomaten entrückte zudem die Hauptakteure aus der „profanen" Sphäre des politischen Verhandeins und Verträgeschließens. König und Herzog schwiegen während der Zeremonie. Sie wurden dadurch symbolisch erhöht und mit der Aura des Geheimnisses umgeben. Das dritte Gefälle der Symbolhandlung blieb den zuschauenden Zeitgenossen verborgen, enthüllt sich aber, wenn man den Ablauf der Zeremonie von 1611 mit den Festlegungen vergleicht, die vorher getroffen worden waren501. Der Herzog und seine Gesandten hielten sich bei der Zeremonie streng, meist sogar wörtlich, an die Festlegungen. Die Antworten des Königs wichen dagegen stärker vom festgelegten Text ab. Die erste Antwort des Königs stimmt nur inhaltlich und in wenigen Formulierungen am Anfang mit der vorher getroffenen Festlegung überein. Der in der symbolischen Handlung Überlegene genoß also auch gegenüber der Zeremonie selbst mehr Freiheit. Er konnte sie eher nach seinem Willen gestalten, während der bittende Herzog fester an die Anforderungen der symbolischen Handlung gebunden blieb. Danksagung und Tedeum bezogen schließlich alle Umstehenden in das Geschehen ein. Der Ritus dankbarer Zustimmung stammte aus dem mittelalterlichen Krönungszeremoniell und hatte ursprünglich die

4 9 9 Diestelkamp, B.: Homagium, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hg. v. Adalbert Erler und Ekkehard Kaufmann, Bd. Π, (Berlin 1978), Sp. 226. Auch Hartmann, Gesandtschaft, 84, deutet den Kniefall als symbolische Erniedrigung. 5 0 0 Dolezel 16; Formula praescripta solennis Investiturae, o. D., Opr. Fol.594 a, 213 r—215 v. 5 0 1 Zum Folgenden vgl. Opr. Fol. 594 a, 213 r—215 v; Descriptio, 16. November 1611, Privilegia 120 r—121 r.

Kanäle der

Kommunikation

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Rechtsgültigkeit der Königserhebung besiegelt502. 1611 hatte die Zustimmung des „Volkes" ersichtlich keine Rechtskraft mehr, sondern war zu einer unverbindlichen Bestätigung geworden, die man sogar weglassen konnte. Das Tedeum als Teil der Riten eines Herrschaftsantritts hingegen sollte sich bis ins 19. Jahrhundert erhalten und besteht in Form von Thronbesteigungs-Gottesdiensten auch heute noch. Der Dank an Gott bindet das politische Symbol an die religiöse Welt, die im 16. Jahrhundert noch als eine die Politik umgreifende Wirklichkeit anerkannt wurde. Im konfessionellen Zeitalter standen außer der Belehnung viele weitere symbolische Handlungen der Macht-Öffentlichkeit in einem religiösen Rahmen. Der Ratswechsel fand in oder vor der Kirche statt503; eine Session des Landtags begann mit einem Gottesdienst504. Zwar wird man gerade für das 16. Jahrhundert, in dem so viele religiöse Normen brüchig wurden oder sich wandelten, die religiöse Einbettung poltischer Vorgänge nicht überbewerten dürfen. Aber die religiöse Zeremonie diente doch nicht nur der feierlichen Überhöhung des sonst säkularen Geschehens. Gerade protestantische Territorien schafften diese religiöse Einbettung nicht etwa ab, sondern schufen sie sogar neu, zum Beispiel in Gestalt des Predigtgottesdienstes zu Beginn eines Landtags505. In einer Art Symbol der Symbole zeigten sie damit, daß Politik für sie nicht nur bedeutete, eine für Menschen erträgliche Ordnung aufzurichten und zu bewahren, sondern auch, einem göttlichen Willen und Auftrag zu entsprechen.

5 0 2 Der Ritus ist also nicht nur eine Bestätigung, wie bei Giesecke, Untersuchung, 84, für moderne Verfahren festgestellt wird. 503 Horn 509. 5 0 4 Protokoll Beyers über den Königsberger Landtag 26. September/6. Oktober 1608, zitiert nach Klinkenborg 4, 148. 5 0 5 Bsp.: Ausschreiben vom 30. April 1602 zum Landtag, EM 87 e 965, 38 v. Bericht des kurfürstlichen Sekretärs Beyer vom Landtag in Königsberg am 26. September/6. Oktober 1608, Erwähnung der Landtagspredigt des Magisters Müller, zitiert nach Klinkenborg 4, 148. Zu Müller vgl. Opr. Fol. 13063 (Verzeichnis der Hofbediensteten), 139 r.

in Entscheidungen in der frühneuzeitlichen Macht-Öffentlichkeit am Beispiel des preußischen Landtags

1. Ablauf des Landtags Jede Mitteilung in der Öffentlichkeit der Macht — gleichgültig, in welcher Form,— dient grundsätzlich zwei Zwecken. Die Mitteilung steht erstens im Zusammenhang eines sachlichen Entscheidungsprozesses, der Probleme außerhalb der Macht-Öffentlichkeit betrifft. Zweitens dient die Mitteilung im Machtgefüge dazu, die rechtlichen und informellen Beziehungen der Machtträger untereinander entweder zu bestätigen oder zu verändern. Die Entscheidungen über Sach- und Machtfragen fallen in der Öffentlichkeit der Macht in ein und demselben Prozeß. In jedem einzelnen Vorgang verbinden sich Sach- und Machtentscheidungen untrennbar miteinander. In Preußen bildete im 16. und frühen 17. Jahrhundert der Landtag wenn nicht das Zentrum, so doch einen der Knotenpunkte politischer Entscheidungen. Der Landtag debattierte und entschied über Sachfragen, die das gesamte Territorium betrafen; die Macht-Entscheidungen beeinflußten die Beziehungen zwischen dem Herzog und den Landständen, das ranghöchste Machtverhältnis im Lande. Da Herzog und Stände einander im Prinzip als unabhängige „Völkerrechtssubjekte" gegenübertraten, lag die Machtverteilung zwischen Herzog und Ständen nie fest und mußte — in gewissen Grenzen — auf jedem Landtag neu bestimmt werden. Dazu bot die Landtagsverhandlung allen Beteiligten Gelegenheit, im Gegensatz zu Befehl oder Anweisung, die dem Untergebenen nicht die Möglichkeit lassen, das Machtverhältnis zu verändern. Da die Landtagsverhandlungen ausführlich überliefert sind, kann man an ihnen die Eigenheiten des Entscheidungsverfahrens in der Öffentlichkeit der Macht sehr klar und über einen langen Zeitraum hinweg studieren.

Entscheidungen in derfrühneuzeitlichenMacht-Öffentlichkeit

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Da Sach- und Machtentscheidungen des Landtags sich nicht von vornherein voneinander trennen lassen, setzt die Untersuchung im Folgenden bei den Abläufen an, von denen die Landtagsprotokolle Zeugnis geben. Auf der Basis eines Vergleichs mehrerer Landtage wird zunächst ein Schema für den Verlauf eines Landtags rekonstruiert. Es kann zwar, da es eine Abstraktion darstellt, nicht jede Einzelheit im Ablauf eines bestimmten Landtages erklären. Aber es hält typische Abläufe fest und läßt dadurch sowohl punktuelle Abweichungen als auch längerfristige Veränderungen erkennen und in ihrer Bedeutung abschätzen. Im zweiten Schritt der Analyse werden die Grundprinzipien bestimmt, auf denen der Entscheidungsprozeß eines Landtags beruhte und durch die ein Landtag der Frühen Neuzeit sich von den Tagungen moderner Volksvertretungen unterscheidet. Danach wird im dritten Schritt untersucht, auf welche Weise und mit welchen Mitteln einzelne Teilnehmer oder Gruppen des Landtags während der Tagung auf Machtverhältnisse zwischen Fürst und Ständen Einfluß nehmen konnten. Vor dem Hintergrund der Landtagsabläufe wird zuletzt das etwas flexiblere politische Verfahren der Ausschüsse behandelt. Landtag und Ausschüsse ähnelten einander sowohl in der Zusammensetzung als auch in der Funktion. Dennoch entwickelte sich aus der Tagung der Auschüsse ein besonderer Stil der Entscheidung, der sich von dem des Landtags unterschied und Veränderungen in den Entscheidungsprinzipien und im Machtgefüge insgesamt einleitete. Eine förmliche Geschäftsordnung der Landtage gab es in Preußen nicht. Der Ablauf eines Entscheidungsprozesses richtete sich nach altem Herkommen; Abweichungen vom gewohnten Verfahren wurden damit begründet, daß alte Gebräuche wiederhergestellt werden müßten. Auf dem Landtag von 1548/49 argumentierten die Landräte mit dem „alten Herkommen", um zu rügen, daß sich die Städte mit Vertretern des Adels beraten hatten506. 1609 legten die Stände auf dem Landtag das „alte Herkommen" als alleinigen Maßstab ihrer Verhandlungen fest507. Seitdem durfte das durch Gewohnheit fixierte Ablaufschema nicht mehr verändert werden; es erhielt sozusagen den Rang einer informellen Geschäftsordnung.

506 Reden Sparweins und des Kanzlers auf dem Landtag, 31. Dezember 1548, Opr. Fol. 480, 22 v—24 r, Datierung 19 r. 507 Breysig 119.

100

I. Die Öffentlichkeit der Macht

Landtage wurden im allgemeinen vom Herzog, in wenigen Fällen von den Regenten als seinen Stellvertretern einberufen, und zwar durch „Ausschreiben" an die einzelnen Amter 508 . Dort fanden daraufhin die Amterversammlungen statt und wurden die Deputierten bestimmt. Die Tagesordnung ließ der Herzog zu Beginn des Landtags als „Antragen" verlesen509. 1566 setzten die polnischen Kommissarien fest, daß die Tagesordnung eines Landtags schon im Ausschreiben genannt werden mußte 510 . Die Stände hatten ihrerseits das Recht, die Liste der Tagesordnungspunkte durch eigene Beschwerden, die „Gravamina", zu ergänzen511. Auf die landesherrliche Proposition hin sollten die Stände zunächst beraten, was sie auf das „Antragen" antworten wollten. Die getrennte Beratung der einzelnen Kurien war nicht durchgehend üblich. 1549 mußten die Städte ausdrücklich um getrennte Beratung bitten 512 . Noch 1615 galt sie als Veränderung des gewöhnlichen Verhandlungsmodus513. Die Städte wünschten sie damals nicht 514 . Auf dem Landtag 1548/49 formulierte der Kanzler die Modellvorstellung des Geschäftsgangs515. Sie tauchte in einem Geschäftsordnungsvorschlag einer Gruppe von Landräten auf dem Landtag 1618 wieder auf und stellte offenbar ein verbreitetes Ideal dar. Es sah vor, daß zuerst der oberste Stand, der der Landräte, eine einhellige Meinungsäußerung zu den landesherrlichen Forderungen erarbeiten sollte516. Danach sollten die Landräte den zweiten Stand informieren und sich mit ihm unterreden, bis ein einvernehmliches gemeinsames Gutachten zustandekäme.

508

Befugnis der Regenten: Regimentsnotel, Privilegia 55 r.

509

Bsp.: Rede des Kanzlers auf dem Landtag 1548/49, 29. Dezember 1548, Opr. Fol.

480, 13 r, datiert 8 v; Rappes mündliche Proposition auf dem Landtag 1608, zitiert nach Klinkenborg 4, 149. 510

Confirmatio der Königlichen Commissarien, 5, Oktober 1566, Privilegia 61 v.

511

Protokoll der Oberratsstube, Oktober 1605, zitiert nach Klinkenborg 1, 511.

512

Opr. Fol. 480, 15 v.

513

Gutachten der Landräte, Opr. Fol. 630, pag. 260 f.

514

Opr. Fol. 630, pag. 307.

515

Zum Folgenden vgl. Rede des Kanzlers auf dem Landtag, 31. Dezember 1548,

Opr. Fol. 480, 25 r sq, Datierung 19 r. 516

Opr. Fol. 480, 25 v; Geschäftsordnungsvorschlag der Landräte, Opr. Fol. 630,

pag. 261.

Entscheidungen in derfrühneuzeitlichen Macht-Öffentlichkeit

101

Erst das Resultat dieses Kompromisses sollte an die Städte gelangen517 und von ihnen wiederum modifiziert werden können, so daß schließlich eine gemeinsame Antwort aller Kurien formuliert und dem Herzog mitgeteilt werden könnte. Der Vorschlag von 1615 sah ausdrücklich vor, die Verhandlungen nur dann fortzusetzen, wenn die Stände unter sich uneins wären518. So sollte der Landtag innerhalb von drei Wochen zu Ende gehen519. Die Praxis der Landtage entsprach dem Modell einer raschen Einigung durch Konsens fast nie. Zu Zeiten Herzog Albrechts kam es häufig vor, daß die Stände sich untereinander nicht einigen konnten und der Adel entweder mit den Herren und Landräten520 oder mit den Städten gemeinsame Sache machte wie auf dem Landtag von 1548/49 521 . In solchen Fällen gaben die Stände zwei verschiedene Gutachten ab, sehr zum Mißfallen des Herzogs und mancher seiner Räte522. Seit dem Landtag von 1609 zerstritten sich gar die beiden Oberstände, „Herren" und Ritterschaft, „durch die Bank" über der Frage der herzoglichen Rechte und bildeten ständisch gemischte Gruppen523. Man könnte sie Fraktionen nennen, da jede von ihnen ein festgelegtes, wenn auch taktisch variables Programm verfolgte. Die „Querulierenden", wie sie von ihren Gegnern genannt wurden, strebten konsequent danach, die Macht der Stände auf Kosten der Herzogsrechte zu erweitern524. Sie traten für weitgehende religiöse und politische Selbständigkeit der Stände gegenüber dem Herzog ein und suchten für diese Politik Rückhalt beim polnischen Ober5 1 7 Rede des Kanzlers auf dem Landtag, 29. Dezember 1548, Opr. Fol. 480, 13 r, datiert 8 v; ähnlich ebenda 25 ν sq.; Erklärung der Landschaft zur Geschäftsordnung auf dem Landtag von 1573, Opr. Fol. 527, 6 r. 5 1 8 Geschäftsordnungsvorschlag der Landräte, Opr. Fol. 630, pag. 262. 5 1 9 Opr. Fol. 630, pag. 263. 5 2 0 Bsp.: Bericht der Oberräte vom Landtag, 20. Dezember 1605, zitiert nach Klinkenborg 1, 578. 5 2 1 Rede des Kanzlers auf dem Landtag, 31. Dezember 1548, Opr. Fol. 480, 22 r sq., Datierung 19 r. 5 2 2 Rede des Kanzlers nach einem Hintergang, 12. Januar 1548 [1549?], Opr. Fol. 480, 101 ν sq., datiert nach 105 r; Rede des Kanzlers vom 29. Dezember 1548, ebenda 12 ν sq., datiert 8 v; ständische Eingabe vom 27. Oktober/6. November 1608, zitiert nach Klinkenborg 4, 214. 5 2 3 Zum Folgenden vgl. Breysig 111—113 und 140. 5 2 4 Breysig 140. Ausdruck „querulantes" für diese Gruppe in „Der Kön. herrn Abgesandten Protestationsschrifft contra die Protestirenden LandtRhäte Abgesandten von der Ritterschafft vnd Städte", 6. [?] Dezember 1616, Opr. Fol. 613,114 r.

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I. Die Öffentlichkeit der Macht

lehnsherrn525. Die Gegenpartei gab sich wahrscheinlich selbst den Namen der „Protestierenden" aufgrund ihrer ersten „Protestation" für die Rechte des Herzogs526. Sie verhielt sich im großen loyal gegen die Herzogsmacht527. Seit 1609 teilte sich der Landtag immer häufiger nicht nach Ständen, sondern nach Meinungen. Unabhängig von einer Fraktionierung galt es aber als mißlich, wenn die Landtagskurien in sich oder unter sich nicht zu einem einstimmigen Votum gelangten. Die Verhandlungen zielten grundsätzlich auf Konsens, zunächst innerhalb der Kurien, dann zwischen ihnen und schließlich mit dem Herzog. Konnten die Stände untereinander oder mit dem Herzog nicht einig werden, so begannen langwierige Verhandlungen, in denen der Herzog — in seiner Abwesenheit das Regentenkollegium — versuchen mußte, eine Einigung herbeizuführen. Diese Verhandlungen wurden mündlich oder schriftlich geführt. Auf die landesherrliche Meinung folgten nach Ständen oder Fraktionen getrennte Gutachten528, die bei Schriftwechsel bis zu Tripliken und Quadrupliken reichen konnten529. Aufgrund der langwierigen Einigungsbemühungen zogen sich die Landtage hin — zum Mißfallen der „Wähler", die die Spesen aufbringen mußten530. Aber nicht nur die Einigung der Landtagsteilnehmer untereinander kostete Zeit. Vor allem die Vertreter der Städte legten Wert darauf, auch während der Landtage mit den Städten selbst Kontakt zu halten und sich vor einer Entscheidung mit ihnen zu beraten. Das Verfahren wurde „Hintergang" genannt531 und vom Herzog und den anderen Ständen in der Regel nicht gern gesehen532. Die Städte handelten gemäß der Auffassung, der Landtagsdeputierte habe eine Art imperatives Mandat und müsse sich deshalb während des Entscheidungsprozesses immer wieder mit den Breysig 106—113 und 140. Breysig 113 und ebenda Anm. 3 und 4. 5 2 7 Breysig 140. 5 2 8 Gemeinsames Gutachten von Herren und Adel auf dem Landtag von 1548/49: Rede des Kanzlers, 31. Dezember 1548, Opr. Fol. 480, 25 v, Datierung 19 r. 5 2 9 Antwort des Herzogs auf die triplica der Landschaft, 8. Mai 1612, Opr. Fol. 595/1, 280 v.—284 r. Quadruplik auf dem Landtag von 1584 erwähnt bei Wiehert, 442. 5 3 0 Hans Fischer an Herzog Georg Friedrich, 2. Mai 1602, EM 87 e 965, 48 r sq.; Antwortschreiben Georg Friedrichs vom 5. Mai, ebenda 59 r.; Christoph von der Dehle an den Herzog, 19. April 1602, ebenda 24 r. 5 3 1 Beispiele vom Landtag 1548/49: Opr. Fol. 480, 23 r; 101 v; 133 r. 5 3 2 sp.: Rede des Kanzlers auf dem Landtag, 31. Dezember 1548, Opr. Fol. 480, 25 v, Datierung 19 r. 525 526

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Wählern abstimmen. Herzog und Oberstände neigten mehr der Ansicht zu, die Deputation zum Landtag bedeute eine allgemeine Vollmacht. Sie gestanden also den Landtagsdeputierten ein mehr repräsentatives Mandat zu. Dafür verlangten sie aber auch eine rasche Entscheidung ohne „Hintergang". Im Idealfall dauerte der Schriftwechsel oder die Verhandlung an, bis man sich völlig geeinigt hatte, wobei der Sieger in der Auseinandersetzung nicht von vornherein feststand. Augenblickliche Machtmittel, taktisches Verhandlungsgeschick und eventuell akute äußere Bedrohungen erleichterten es dem Herzog, Geldforderungen durchzusetzen. Drohten dagegen die Stände mit völliger Steuerverweigerung oder verhandelten sie geschickt, mußte er auf Teile der beabsichtigten Steuern verzichten. Was Herzog und Stände endlich gemeinsam beschlossen hatten, fand Eingang in das Schlußdokument des Landtags, den schriftlichen „Abschied".

2. Prinzipien der Entscheidung Insbesondere zwei Prinzipien bestimmten den Ablauf des Landtags und die endgültige Gestalt seiner Entscheidungen: das Prinzip des Rangs und das Prinzip des Konsenses. Der Rang entschied darüber, in welcher Weise der einzelne Landtagsteilnehmer die Verhandlungen beeinflussen konnte und welches Gewicht seine Aussagen oder Handlungen hatten. Der Konsens bildete das formale Ziel jedes Verhandlungsschrittes und prägte damit den Stil der gesamten Tagung. Durch Rang- und Konsensprinzip unterschied sich der Landtag der Frühen Neuzeit am stärksten von einem modernen Parlament. Aus beiden Prinzipien entspringen die weiteren dem modernen Verständnis fremden Eigenheiten des frühneuzeitlichen Landtags, vor allem die strenge Kollektivität der Entscheidung und das Fehlen „privater" Meinungen. Gemäß dem Rangprinzip trat jeder Teilnehmer an einem Landtag nicht als Einzelperson oder als Ziffer einer Abstimmung in die Verhandlung ein. Vielmehr gehörte er aufgrund seines Rangs mit Beginn des Landtags zu einer Kurie, die innerhalb des Entscheidungsablaufs eine festgelegte Position und Funktion hatte. Die einzelnen Kurien verhandelten jeweils die gesamte Tagesordnung, jedoch zu verschiedenen Zeiten und mit unterschiedlich starkem Einfluß auf das Ergebnis. Da nicht Einzelpersonen, sondern Kurien sich einigen mußten, wurden die Stimmen nicht einzeln gezählt, sondern sozusagen gruppenweise gewo-

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I. Die Öffentlichkeit der Macht

gen. Die Stimme von etwa 25 Landräten533 galt so viel wie die von 20 bis 30 Baronen534 und zwischen 30 und 120 Städtevertretern535. Auch innerhalb der einzelnen Kurien gab es Rangunterschiede, die Entscheidungen maßgeblich beeinflußten. Unter den Städten nahm Königsberg eine führende Stellung ein. Die übrigen Städte, „Hinterstädte" genannt, wiesen ihre Deputierten oft ausdrücklich an, sich der Meinung Königsbergs anzuschließen536. Innerhalb des Adels scheinen keine besonderen Rangunterschiede bestanden zu haben, vielleicht deshalb nicht, weil die Deputierten der Amter jedem der beiden Oberstände angehören konnten537. Eine herausgehobene Stellung auf dem Landtag hatte nur — seit einer Festlegung vom 13. Juli 1609 — der Brandenburgische Hauptmann als Landtags„direktor"538. Das genannte Dokument führte auch Differenzierungen innerhalb der Landrätekurie ein, indem es die Reihenfolge der Abstimmung vorschrieb. Zuerst sollten die „dignitarii" abstimmen — womit wahrscheinlich die Hauptleute gemeint waren —, danach die übrigen „Herren". Da frühneuzeitliche Entscheidungsorgane offen abstimmten, verschaffte die Abstimmungsreihenfolge denjenigen Landräten einen Vorteil, die nicht im Dienst des Fürsten standen. Die Amtleute mußten ihr Votum abgeben, ohne die Meinung ihrer Kurienkollegen zu kennen; die übrigen „Herren" dagegen konnten auf das Abstimmungsverhalten der Amtleute reagieren und gegebenenfalls ihr Votum ändern, wenn sie die Position der Amtleute schwächen wollten. Besonders die „Herren" der querulierenden Adelspartei dürften den taktischen Vorteil ausgenutzt haben. Rangunterschiede berührten also nicht nur Fragen des Prestiges, sondern entschieden bis in kleinste Differenzierungen über den Grad politischen Einflusses. Das Prinzip der Verhandlung und Entscheidung nach Rang und mit ungleichen Stimmen hatte zur Folge, daß die zahlenmäßige Mehrheit in 533

Ommler 212. Ommler 213. 535 Ommler 214. 536 Bsp.: Stadt Holland an Herzog Albrecht Friedrich, 15. Mai 1570, betr. die Revision des Landrechts, EM 86 a 5, 18 r. 537 vgl. Petersohn 57 zur Berufung bürgerlicher Amtleute durch Herzog Georg Friedrich. Daneben Ommler 214 f.: es gab auch adlige Städtevertreter. 538 Zum Folgenden vgl. Acta et Decreta Commissionis vom 13. Juli 1609, Privilegia 105 r; Breysig 119; zum Landtagsdirektorium ferner: Entgegnung von Herrenstand, Ritterschaft und Adel auf den landrätlichen Geschäftsordnungsvorschlag, 10. Mai [1618], Opr. Fol. 630, pag. 269; Immekeppel 14. 534

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Verlauf und Ergebnis der Entscheidung nichts galt. Selbst die Festlegung einer Abstimmungsreihenfolge, wie 1609 im Landrätekollegium, bedeutet nicht zwangsläufig Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip. Wahrscheinlich folgten die Landräte dem auch im Kurfürstenkolleg des Reichstags üblichen Verfahren des „Umfragens". Dabei wurde die offene Abstimmung in festgelegter Reihenfolge so oft wiederholt, bis man sich geeinigt hatte. Eine deutliche Mehrheit akzeptierten frühneuzeitliche Versammlungen nur als Notlösung, wenn sich kein einstimmiges Votum erreichen ließ. Das Rangprinzip führte mit gewisser Zwangsläufigkeit zum zweiten Entscheidungsprinzip frühneuzeitlicher Gremien, dem Prinzip des Konsenses. Weil die Landtagsteilnehmer aufgrund ihrer Ränge in getrennten Kurien verhandelten, konnten Einzelmeinungen nur während der Verhandlung innerhalb einer Kurie deutlich hervortreten. Bei den entscheidenden Abgleichungen zwischen den Kurien gab die einzelne Kurie ein einheitliches Votum ab; die Einzelmeinung ging im Kurienkonsens auf. Rangunterschiede innerhalb der Kurien spielten zwar möglicherweise bei der Entscheidungsfindung der Einzelkurien eine Rolle, beeinflußten aber die Verhandlung zwischen den Kurien nicht mehr. Bei der interkurialen Verhandlung hatte die Landrätekurie einen leichten Vorteil, da ihr Votum die Grundlage der Verhandlungen abgab. Die Oberstände beeinflußten das Ergebnis stärker als die Städte, weil diese den Kompromiß der Oberstände nur noch geringfügig modifizieren konnten. Bei der abschließenden Verhandlung mit dem Herzog aber standen — im Idealfall — die Stände als Gesamtheit dem Herzog gegenüber und antworteten ihm gemeinsam, ohne daß die abweichenden Meinungen einzelner Kurien sich auswirkten. Im Gesamtablauf des Landtags wurden Rangunterschiede also durchgehend beachtet. Das Konsensprinzip aber stellte sicher, daß die endgültige Entscheidung nicht nach Rängen geteilt war und daher für alle Verhandlungsteilnehmer gleiche Verbindlichkeit beanspruchen konnte. In der von Rangunterschieden bestimmten Gesellschaft der Frühen Neuzeit bot das Konsensprinzip die beste Gewähr dafür, daß Entscheidungen von allen Betroffenen akzeptiert wurden. Rang- und Konsensprinzip kennzeichneten im frühneuzeitlichen Preußen nicht nur den Landtag, sondern prägten die politischen Entscheidungsprozesse auf allen Ebenen. Als die Gewerke der drei Städte Königsberg 1599 eine gemeinsame Beschwerde an den Herzog richten wollten, stimmten sie sich vor Abgabe der Beschwerdeschrift in einer

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Weise ab, die dem Vorgehen des Landtags sehr ähnelte. Die Beschwerdeschrift wurde 539 „vonn der Erbarn Zunfft der Kaufleute anfengklich concipiret, vnnd vonn den drey Gemeinden vnnd Zunfften der gewercke in den dreyen Stedten Königsberg nach dem Inen dieselben mitgeteilet, [...] approbiret vnd daneben einer Jedern[!] Zunfft vonn den Gewercken Ihre sonderliche beschwer aufgestellet". Als Gemeinde, Rat und Gericht sich untereinander nicht einigen konnten, empfahlen die Oberräte, es sollten zunächst die Elterleute miteinander verhandeln und das Ergebnis ihrer Einigung den Gewerken mitteilen. Daraufhin könnten die Beschwerden gesammelt und den Räten der drei Städte übergeben werden, damit diese sich um Abhilfe kümmern könnten 540 . Gerichtsurteile wurden wie politische Entscheidungen nicht aus allgemeinen Grundsätzen abgeleitet, sondern durch Verhandlungen — mit dem Ziel des Konsenses — ermittelt 541 . Überall, wo Macht und Recht von einzelnen oder Gruppen in Frage standen, galt die Einigung durch Konsens als das geeignete Verfahren, „richtige" Entscheidungen zu treffen. Die Ergebnisse der Konsensfindung fielen wenig grundsätzlich aus, da ein abstrakter, allgemein gültiger Urteilsmaßstab außerhalb des Verfahrens nicht existierte. Augenblickliche Machtverhältnisse oder Druckmittel konnten den Entscheidungsprozeß in höherem Maße beeinflussen, als das moderne politische Bewußtsein für akzeptabel hielte. Gegenüber der prinzipienbestimmten Entscheidung nach einem abstrakten Rechtssatz oder nach Mehrheit hatte die Einigung durch Konsens aber auch Vorteile. Wenigstens der Form nach erlitt keiner der Teilnehmenden eine eindeutige Niederlage oder Demütigung. Der Unterlegene oder Verurteilte hatte sich mit seinem Kontrahenten geeinigt und empfand die Entscheidung nicht als aufgezwungen. Daher unterwarf er sich ihr wahrscheinlich eher, als wenn sie nicht einvernehmlich zustandegekommen wäre. Für die vor-absolutistische Zeit, in der politisch Mächtige über nur wenige Zwangsmittel verfügten, einmal getroffene Entscheidungen durchzusetzen, bildete die 539

Älteste der Gewerke in den drei Städten an die Regimentsräte, o. D. Opr. Fol. 13802, 21 r, Datierung des Antwortschreibens der Räte 24 v: 16. Oktober 1599. 540 Oberräte an Gemeinde, Räte und Gericht der drei Städte Königsberg, 16. Oktober 1599, Opr. Fol. 13802, 23 v—24 v. 541 vgl. Landesordnung 1571, Opr. Fol. 13741, 28 v.

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Einigung durch Konsens ein taugliches Mittel, auch die politisch Unterlegenen zum Vollzug der Entscheidung zu bewegen. Für fundamentale Opposition bot das Konsensusmodell keinen Raum. Ebensowenig konnten prinzipielle Veränderungen der Machtverhältnisse diskutiert werden. Stets ging es nur um graduelle Verschiebungen eines im Prinzip austarierten und feststehenden Machtgleichgewichts. Eine Ausnahme in der Landtagsgeschichte des Herzogtums Preußen bildete nur die Zeit des Herzogs Georg Friedrich, Markgrafen von Brandenburg-Ansbach. Sein Anspruch auf fürstliche Souveränität und Machtvollkommenheit bedeutete eine nicht nur graduelle Verschiebung des Machtgleichgewichts, sondern einen prinzipiellen Bruch mit der bisherigen Ordnung. Dementsprechend legte der Herzog auch keinen Wert darauf, dem Konsensprinzip Genüge zu tun. Georg Friedrich machte auf seinem ersten Landtag 1579 den Ständen klar, daß er nicht als Fürst im Landtag — wie ein „king in parliament" noch heute —, sondern über ihm und unabhängig von ihm zu regieren wünschte542. Die nach altem Brauch eingereichten Gravamina der Stände auf dem Landtag von 1582 erklärte er für Privatangelegenheiten und antwortete mit fürstlichen Gegengravamina543. Als er sich mit den Ständen überworfen hatte, Schloß er den Landtag eigenmächtig und ohne Abschied544. Doch auch die Landtagsopposition bemerkte offenbar, daß der Herzog das Konsensprinzip grundsätzlich anfocht, und handelte unter Führung Friedrichs von Aulack545 ähnlich konsequent. Die Stände akzeptierten die Auflösung des Landtags nicht, sondern tagten in Königsberger Bürgerhäusern weiter546. Damit setzten sich die Stände ebenfalls über den bisherigen Brauch hinweg, gemäß dem sie nur gemeinsam mit der Landesherrschaft die für das Land bindenden Beschlüsse fassen konnten. Dem Versuch des Herzogs, ohne seine Stände zu regieren, setzten die Stände die kaum weniger radikale Absicht entgegen, ohne Landesherrschaft einen Landtag abzuhalten. Herzog und Stände setzten den hergebrachten Konfliktlösungs-Mechanismus außer Kraft, indem sie den Landtag sprengten. Beide Seiten handelten offenbar in dem klaren Bewußtsein, in einer Ausnahmesituation zu stehen, in der die herkömmli542

Breysig 51. Gegengravamina Herzog Georg Friedrichs, o. D. [nach 11. März 1582], Opr. Fol. 537, 247 r sq; vgl. auch Arnold, Ständeherrschaft, 95. 544 Breysig 60. 545 Petersohn ΧΙΠ; 64. 546 Breysig 60. 543

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chen Regeln der Konfliktbewältigung nicht mehr galten. Herzog Georg Friedrich erklärte die Handlungsweise der Stände für ungesetzlich und rebellisch547 und ließ den Führer der Adelsopposition, Friedrich von Aulack, erst wegen Majestätsbeleidigung, Aufruhr und Verrat anklagen und dann ächten, als Aulack sich der Verhandlung vor dem Hofgericht durch die Flucht entzog548. Aulack wiederum sah in dem Vorgehen Georg Friedrichs eine Verletzung der Pflicht des Landesherrn gegen seinen Adel und suchte Schutz und Hilfe in Polen549 wie ein von seinem Herrn im Stich gelassener Lehnsmann. Wie der Fortgang der Ereignisse zeigt, ließ sich das Konsensprinzip zwar nicht dauerhaft beseitigen. Aber ein energischer Fürst setzte seinen Willen auch im Konsensverfahren durch. Die Abordnung von Adligen, die sich unter Führung Friedrichs von Aulack nach Polen gewandt hatte, fand bei König Stephan Bathory keine Unterstützung. Der König verweigerte den Adligen freies Geleit und erklärte, sie hätten dem Herzog zu gehorchen550. Aulack starb 1589 im Exil in Polen551. Der Herzog wiederum sah zwar die Einigung mit den Ständen als wichtig an, wollte ihr aber nicht seine selbständige Politik opfern. 1586 söhnte er sich mit den Ständen aus, verließ aber dann das Herzogtum und regierte fortan in Ansbach552. Auf den Landtagen bis 1603 setzte sich das Konsensverfahren wieder durch, als sei die „frühabsolutistische" Episode nie geschehen553. Die Bedeutung des Ranges und das Konsensprinzip sind mit dem alteuropäischen Staatengefüge untergegangen — das Konsensprinzip offenbar so gründlich, daß ein Interpret des späten 19. Jahrhunderts die Urteilsfindung des Hofgerichts durch Konsens nur noch „eigentümlich" fand554. Das moderne Verständnis von Politik hält Entscheidungen durch Kompromiß für wenig akzeptabel. Es nimmt an — wie Niklas Luhmann formuliert hat —, ein Gerichtsverfahren diene der Ermittlung

547

Breysig 60.

548

Petersohn 92.

549

Breysig 60 f.; Petersohn 93 f.

550

Petersohn 81.

551

Petersohn 92.

552

Petersohn 37; Arnold, Ständeherrschaft, 96.

553

Bsp. bei Bujack: Der preußische Landtag in Königsberg im Jahre 1594, in: AMS

22/1885, 472—485. 5 5 4 Horn 33.

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von „Wahrheit"555; die Gesetzgebung habe „richtige", durch ein Prinzip legitimierte Entscheidungen hervorzubringen 556 . Das moderne politische Verfahren aber garantiert nach Luhmann weder prinzipienorientierte Entscheidungen noch „Wahrheit" und bleibt daher immer hinter dem Anspruch des Politikverständnisses zurück557. Die Menschen der Frühen Neuzeit handelten und dachten auf dem Gebiet der Politik pragmatischer. Sie unterschieden genauer zwischen der Wahrheitsfrage und politischen Entscheidungen. Wenn eine politische Entscheidung durch Konsens geregelt wird, kann das Bewertungskriterium für eine Entscheidung nicht die „Wahrheit" oder absolute Richtigkeit, sondern nur die Annehmbarkeit der Entscheidung sein. Die Entscheidungsmaßstäbe gelten nicht absolut, sondern ergeben sich aus der Verhandlung selbst. Das Konsensprinzip entlastete das politische Verfahren von, wie Luhmann es nennt, „ideologischen Zusatzannahmen"558 — außer der für die Frühe Neuzeit fast durchgehend grundlegenden, daß Recht und Macht durch Gott vor aller menschlichen Setzung legitimiert seien. Dem modernen Politikverständnis fremd bleibt auch die Tatsache, daß der Wille einzelner, die Einzelmeinung, in dem kollektiv bestimmten Entscheidungsprozeß kaum zur Geltung kam. Die Situation, daß Einzelpersonen sich für eine „Sache" einsetzten und sich mit ihr identifizierten, konnte in einem konsensbestimmten politischen Leben nicht auftreten. Der Konsens verlangte die Unterordnung der Einzelmeinung unter den kollektiven Kompromiß. Wie Jürgen Petersohn bemerkte, traten allein in der Zeit des Herzogs Georg Friedrich in der preußischen Landtagsgeschichte auf beiden Seiten, bei Fürst und Ständen, ausgeprägte „Persönlichkeiten" aus der „scheinbar ungegliederte[n] Einheitlichkeit der gemeinschaftlich auftretenden Landtagskurien" hervor559. Mit „Persönlichkeit" meinte Petersohn das Hervortreten eines autonomen Willens vor dem kollektiven Konsens, das im frühneuzeitlichen Europa die Ausnahme, nicht die Regel darstellte. Nicht die Selbstbehauptung und der Durchsetzungswille der „Persönlichkeit", sondern Einigung und Unterordnung unter Rang und Konsens bestimmten das politische Leben in einem Maße, wie es sich das 20. Jahrhundert offenbar nur schwer vorstellen kann. 555

Luhmann 17 f. Luhmann 15 f. 557 Bsp.: Luhmann 13—22. 558 Luhmann 11. 559 Petersohn ΧΙΠ. 556

I. Die Öffentlichkeit der Macht

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3. Geschäftsordnung und Sachentscheidungen als Ausdruck des Machtgleichgewichts Für das 16. Jahrhundert wie in der Gegenwart lassen sich MachtEntscheidungen nicht nur an Inhalt und Ergebnis der Debatten ablesen, sondern auch weniger mittelbar an der Form der Entscheidungsprozesse. Insbesondere drei Tatsachen geben über die bestehenden Machtverhältnisse innerhalb eines entscheidenden Gremiums Auskunft: erstens das Recht oder die Möglichkeit, Sitzungen des Gremiums einzuberufen und zu beenden; zweitens das Hausrecht am Tagungsort, drittens das Recht oder die Möglichkeit, die Tagesordnung festzusetzen. Zur Veränderung der Machtverhältnisse bieten sich zwei Möglichkeiten: einmal die Drohung, bestimmten Sachentscheidungen nur dann zuzustimmen, wenn damit Machtveränderungen zu eigenen Gunsten verknüpft werden, zum andern die graduelle oder prinzipielle Änderung der „Geschäftsordnung". Das Recht der Ausschreibung eines Landtags hatte in der Frühen Neuzeit grundsätzlich die monarchische Spitze, in Preußen auch das Regentenkollegium in Vertretung des Fürsten560. In Konfliktfällen nahm sich der polnische König als Oberlehnsherr das Recht, einen Landtag einzuberufen. Sigismund III. berief den Landtag vom 26. Mai 1609561 und schrieb im Oktober 1615 einen Generallandtag aus, obwohl die Landräte nur um eine Partikularversammlung gebeten hatten562. Die Stände erlangten nicht das Recht, über die Einberufung von Landtagen zu entscheiden. Zwar wurde in der ersten Zeit des 17. Jahrhunderts die Periodizität der Landtage mehrmals vorgeschlagen — so auf dem Landtag 1605563 und im königlichen „Responsum" vom 11. März 1605564 —, doch nie verwirklicht. Unregelmäßige Tagungen lagen jedoch nicht nur im Interesse des Landesherrn. Auch die Stände optierten nicht uneingeschränkt für die periodische Tagung, da sie die Spesen für den Landtag bezahlen mußten565. Schon bei selteneren Tagungen überstieg der Aufwand für Landtage die Finanzkraft mancher Amter, so daß sie keinen 560

Regimentsnotel, Privilegia 55 r.

561

Acta & Decreta Commissionis, Privilegia 98 r.

562

„Extract Auß den Receßen Ao ρ 1612", ohne genauere Datierung, Opr. Fol. 607,

41 r. sq. Bitte um Partikularversammlung der Landräte ebenda 18 v. 563

Breysig 82.

564

Responsum Sacrae Regiae Mtis., 11. März 1605, Privilegia 140 r, datiert 139 v.

565

Hans Fischer an Herzog Georg Friedrich, 1. Mai 1602, E M 87 e 965, 48 r—49 r.

Entscheidungen in derfrühneuzeitlichen Macht-Öffentlichkeit

111

eigenen Deputierten schickten566. Andere Ämter taten sich bei der Wahl zusammen und bestimmten einen gemeinsamen Deputierten567. Dieses Verfahren war ausdrücklich anerkannt568. Durch periodische Tagung hätten die Stände das Machtgleichgewicht unter Umständen zu ihren Gunsten verändern können, zumal der Fürst sich angesichts chronisch knapper Geldmittel immer wieder Steuern vom Landtag bewilligen lassen mußte. Die Stände aber legten keinen Wert darauf, periodisch zu tagen, da sie häufigere Zusammenkünfte nicht hätten bezahlen können. Das Recht der Schließung des Landtags lag formell bei Fürst und Ständen gemeinsam, denn sie formulierten gemeinsam den „Abschied". An Ausnahmesituationen sieht man jedoch, daß zwar der Fürst allein einen Landtag für beendet erklären konnte, nicht aber die Stände allein. Herzog Albrecht schloß den Landtag von Januar/Februar 1549, nachdem die Verhandlungen sich festgefahren hatten569; Herzog Georg Friedrich schickte die Deputierten 1583 ohne Abschied nach Hause570. Die selbständige Tagung der Stände 1583 stellte eine einmalige Ausnahme dar und konnte vom Fürsten offenbar ohne weiteres zur rebellischen Handlung erklärt werden. Letztlich galten nur Fürst und Stände gemeinsam als „Landtag"; die Stände allein bildeten kein Gremium, das zu Entscheidungen befugt gewesen wäre. Das Hausrecht übte in den meisten Fällen ebenfalls der Fürst aus. Der Landtag trat, wenn die Sitzung in Königsberg stattfand, im Schloß zusammen571; auch bei den anderen Landtagen, etwa in Heiligenbeil572 oder Saalfeld573, werden die Tagungsorte fürstliche „Häuser" gewesen sein. In doppeltem Sinn war das herzogliche „Haus" ein „öffentliches" Gebäude. Den Ständen lag offensichtlich nichts an einem eigenen Tagungslokal. Dagegen verlangten sie ein eigenes „Haus" für die Aufbewahrung ihrer Privilegien. Schon die Regimentsnotel sicherte ihnen zu, daß sie das „Haus" Tapiau, Brandenburg oder ein anderes dafür erhalten sollten574. 566 In einer Landtagsrede vom 29. Dezember 1548 erklärte der Kanzler, daß kein Amt gezwungen sei, Gesandte zu schicken, Opr. Fol. 480,12 v, Datierung 8 v. 567 EM 87 e 965, 24 r. 568 Rede des Kanzlers auf dem Landtag, 29. Dezember 1548, Opr. Fol. 480, 12 v. 569 Ommler 122 f. 570 Breysig 60. 571 Ausschreiben für den Landtag von 1617, Opr. Fol. 619/1, 17 r. 572 Ausschreiben auf 17. Mai 1602, EM 87 e 965, 38 r. 573 Landtag 1584/85, Petersohn 105 f. 574 Regimentsnotel, Privilegia 55 v; Breysig 26.

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I. Die Öffentlichkeit der Macht

Da der Landtag formal ganz in der Hand der monarchischen Spitze lag, blieb den Ständen für die Veränderung des Machtgleichgewichts nur noch die Tagesordnungsdebatte. An ihr zeigt sich das interne Machtgleichgewicht im Landtag besonders ausgeprägt. Zum Beispiel wurde häufig darum gestritten, ob die ständischen Gravamina sofort im Zusammenhang mit dem „Antragen" der Landesherrschaft behandelt werden müßten575. Bei frühzeitiger Behandlung der „Gravamina" hätten die Stände damit drohen können, die herzoglichen Forderungen nur dann zu erfüllen, wenn auch den ständischen Beschwerden entsprochen würde. Die Landesherrschaft und die ihr loyalen Landräte versuchten daher — verstärkt seit dem Ende des 16. Jahrhunderts —, die landesherrliche Proposition in den Vordergrund der Beratungen zu stellen576. Ständische Beschwerden sollten grundsätzlich danach und nur ergänzend zum herzoglichen Tagesordnungsvorschlag behandelt werden577. Die ständischen Gravamina wären dadurch zu einem bloßen Anhang der herzoglichen Tagesordnung geworden und hätten in den Hauptverhandlungen keine Rolle gespielt. Verständlicherweise wollten die Stände ihre Anliegen nicht an den Rand der Tagesordnung drängen lassen. Die Landesherrschaft konnte den Vorrang des herzoglichen „Antragens" nicht durchsetzen. 1608 erreichten es die Stände sogar, daß die ihnen wichtige Religionssache noch vor der landesherrlichen Proposition verhandelt wurde578. Ein starker Fürst, wie es Herzog Albrecht bis in die fünfziger Jahre des 16. Jahrhunderts war, konnte ohne weiteres sein „Antragen" durchsetzen und ging erst danach außerhalb der Tagesordnung auf die ständischen Beschwerden ein579. Stärkten dagegen wie im frühen 17. Jahrhundert die Stände ihre Stellung, so brachten sie ihre Gravamina gleich zu Anfang des Landtags und im Zusammenhang mit den fürstlichen Forderungen vor, so daß die Gravamina eine Art von GegenTagesordnung darstellten580. Folgerichtig regte der Geschäftsordnungsvorschlag der protestierenden Landräte wieder an, die fürstliche Tages-

575

So verlangt in der Antwort auf die landesherrliche Proposition für den Landtag

1578, Opr. Fol. 531, 7 v. 576

vgl. den Geschäftsordnungsvorschlag der Landräte, Opr. Fol. 630, pag. 259.

577

So 1605 erreicht: Bericht der Oberräte vom Landtag, 20. Dezember 1605, zitiert

nach Klinkenborg 1, 580. 578

Protokoll Beyers vom Landtag, zitiert nach Klinkenborg 4, 163.

579

Petersohn 108—111. Allerdings ging ein Schriftwechsel dem Landtag voraus,

ebenda. 580

Bsp: Landtag im April 1549: Ommler 123—129.

Entscheidungen in der frühneuzeitlichen Macht-Öffentlichkeit

113

Ordnung Punkt für Punkt durchzugehen und die ständischen Beschwerden erst daran anzuschließen581. Innerhalb der Verhandlungen über Sachfragen war das stärkste Druckmittel der Stände ihr Recht zur Bewilligung oder Verweigerung von Geldmitteln. Selbst in außenpolitisch bedrohter Lage mußte der Herzog oft um Geldbewilligungen kämpfen, etwa 1534, als die Stände ihm das Geld zur Unterstützung des dänischen Krieges gegen Lübeck verweigerten582. Sogar als das Moskauer Reich 1558 Livland angriff und damit mittelbar auch Preußen gefährdete, konnte der Herzog sich mit den Ständen nicht über Hilfszahlungen einigen583. Zugeständnisse in wichtigen Sachfragen ließen sich die Stände gelegentlich gegen die Erweiterung ihrer politischen Rechte abhandeln. 1542 mußte Herzog Albrecht die ständische Zustimmung zu seiner Nachfolgeregelung dadurch erkaufen, daß er dem Adel Vorzugsrechte bei der Besetzung der öffentlichen Ämter einräumte584. Gemeinsame äußere Bedrohung dagegen konnte die Stände gefügig machen. Die „querulierenden" Landräte des 17. Jahrhunderts unterstützten sogar das brandenburgische Gesuch, mit Preußen belehnt zu werden585. Andernfalls wäre nämlich das Herzogtum nach dem Tode des Herzogs Albrecht Friedrich als Lehen an Polen heimgefallen und die Selbständigkeit des Landes gefährdet gewesen. Die gemeinsame Bedrohung trieb selbst den sonst widerstrebenden Adel an die Seite des Herzogs. Da die Verhandlungen grundsätzlich auf Konsens zielten, kam Obstruktionspolitik nur selten vor. Die Stände konnten zwar die Verhandlungen zu verschleppen versuchen, um ihre Macht zu demonstrieren. Aber für gewöhnlich lag auch den Deputierten daran, die Sitzungen rasch zu beenden, weil jeder Landtag hohe Kosten verursachte. Zudem waren die Stände in Gefahr, ihrem Anliegen zu schaden, wenn sie die Verhandlungen zu lange verzögerten. Wenn nämlich der Landtag scheiterte, weil man sich trotz langer Verhandlungsbemühungen nicht einigen konnte, und kein Abschied zustandekam, so hatten die Stände ihr 581

„Einer E. Landtschafft von allen Ständen Schluß der übergebenen Landtbe-

schwer wegen. 1578 d[en] 30[.] Aprilis übergeben", Opr. Fol. 530/1, pag. 259 r — 261 v, Uberschrift und Datierung 249 v. 582

Breysig 22. Zu der Auseinandersetzung mit Lübeck vgl. Gundermann, Iselin:

Beziehungen zu Skandinavien, in: dies., Albrecht von Brandenburg-Ansbach, 48. 583

Ommler 185—187 (Landtag 1559/60).

584

Breysig 23 f.

585

Immekeppel 69; 88.

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I. Die Öffentlichkeit der Macht

Recht auf Mitwirkung an der Politik eher geschädigt als geschützt. Denn der Herzog konnte das Scheitern zum Anlaß nehmen, Teilversammlungen seiner Untertanen einberufen zu lassen586 oder einzelne Deputierte vor sich zu bescheiden und von ihnen zu verlangen, was der allgemeine Landtag nicht bewilligt hatte587. Auch die Regenten verfuhren so, nachdem der Landtag von 1607 gescheitert war 588 . Stände, die den Landtag scheitern ließen, stellten damit dem Herzog oder den Regenten einen Freibrief aus, ihrerseits außerhalb der regulären Mechanismen der Konfliktlösung zu tun, was sie für richtig hielten. Das Konsensprinzip zwang die Stände letztlich zu verhältnismäßig rascher Einigung, wenn sie nicht dem Fürsten selbst die politische Initiative zurückgeben wollten. Insgesamt befanden sich die Stände also formal in der schwächeren Position. Nach der durch Herkommen festgelegten „Geschäftsordnung" der Landtage hatte die fürstliche Gewalt das Ubergewicht. Das einzige unabweisbare Druckmittel der Stände war die Steuerverweigerung, da der Fürst nicht über die Zwangsgewalt verfügte, Steuern ohne ständische Einwilligung zu erheben589. Nur eine starke selbständige Wirtschaft gab ihm die Mittel, auf ständisch bewilligte Steuern und damit auf die Einberufung von Landtagen zu verzichten. Die Stände für ihren Teil konnten ihre prinzipiell schwache Position gegenüber dem Fürsten nur dann verändern, wenn sie ihr Steuerverweigerungsrecht ausspielen konnten oder wenn der Fürst in einer anderen Sachfrage, zum Beispiel der Nachfolgeoder Vormundschaftsregelung, die Zustimmung der Stände brauchte. Die Stände des Herzogtums Preußen hatten darüber hinaus die Möglichkeit, sich mit ihren Anliegen an den König von Polen als den Oberlehnsherrn zu wenden. Besonders zur Zeit der Kurfürsten Joachim Friedrich und Johann Sigismund wurde es eine Art Gewohnheit des Landtags, auch Belange von geringer Bedeutung durch polnische Kommissare entscheiden zu lassen und so die Stellung des Herzogs zu schwä5 8 6 Bsp.: Verfahren Herzog Albrechts nach dem gescheiterten Landtag von 1532 (Ommler 53); Kreistag 1571 (Opr. Fol. 514, 1—3); Kreistage nach dem gescheiterten Landtag 1577 vgl. Petersohn 36. 5 8 7 Bsp.: Herzog Albrecht verfuhr so nach dem für den Herzog erfolglosen Landtag von 1548/49 (Ommler 112 f.), ebenso Herzog Georg Friedrich nach dem gescheiterten Landtag von 1584, vgl. Wiehert 442 f. 5 8 8 Bericht der Oberräte, 7./17. April 1608, zitiert nach Klinkenborg 3, 449—451. 5 8 9 Confirmatio der Königlichen Commissarien, 5. Oktober 1566, Privilegia 61 v. Zur Finanzhoheit der Stände vgl. Ommler 26 f.

Entscheidungen in der frühneuzeitlichen Macht-Öffentlichkeit

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chen. Der polnische König Sigismund ΕΠ. bestätigte und unterstützte diese Politik, indem er das Beschwerderecht fixieren ließ. Durch das Beschwerderecht nach Polen und den Rückhalt beim König konnten die Stände die fürstliche Macht im Landtag entscheidend schwächen, was ihnen aufgrund ihrer formalen Position oder ihres Steuerverweigerungsrechtes allein kaum gelungen wäre.

4. Die Bildung von Ausschüssen als Indiz der Veränderung von Entscheidungsprinzipien Neben dem Plenum des Landtags hat die Forschung in neuerer Zeit auch die Ausschüsse genauer untersucht590. Ein Ausschuß ist eine Gruppe von Menschen, denen von einer größeren Gruppe — in der Territorialpolitik vom Landtag — ein bestimmter Arbeitsauftrag zugewiesen wird591. Einen Ausschuß einzusetzen, bedeutete für die Entscheidung von Sachfragen im Plenum des Landtags eine Entlastung in zweifacher Hinsicht. Erstens ersparte der Ausschuß dem Plenum die Debatte über eine bestimmte Sachfrage, die eventuell spezielle Kenntnisse erforderte. Zweitens führte die Einsetzung eines Ausschusses dazu, daß die Ausschußmitglieder Fachkenntnis erwarben, auf die das Plenum in künftigen ähnlichen Fragen würde zurückgreifen können. Kurz, das politische Alltagsgeschäft konnte durch Ausschüsse rationalisiert, spezialisiert und professionalisiert werden. In Preußen waren Ausschüsse schon vor der Umwandlung des Territoriums in ein Herzogtum bekannt. Auf dem Landtag von 1521 wurde ein Ausschuß von achtzehn Personen eingesetzt — je sechs von Landräten, „Landschaft" und Städten —, der beraten sollte, wie man den Umlauf minderwertiger Münzen bekämpfen könne592. Auch wenn die Landtage in der Zeit Herzog Albrechts noch oft klein waren593, erwies sich 5 9 0 Lange, Ulrich: Landtag und Ausschuß. Zum Problem der Handlungsfähigkeit landständischer Versammlungen im Zeitalter der Entstehung des frühmodernen Staates. Die weifischen Territorien als Beispiel (1500—1629), (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen XXIV, Untersuchungen zur Ständegeschichte Niedersachsens, Band 6), Hildesheim 1986. 5 9 1 Lange, Landtag, 1. 5 9 2 Freiwald 88 f. 5 9 3 Landtag 1549: 25 Teilnehmer (Opr. Fol. 480, 160 v); Landtag 1548/49: je 20 Teilnehmer von erstem und zweitem Stand, keine Angaben über Städte (Ommler

I. Die Öffentlichkeit der Macht

116

das Verhandeln in Ausschüssen als vorteilhaft. Ausschüsse befaßten sich mit Sachentscheidungen, die den Landtag als ganzen verpflichteten, aber besondere Fachkenntnis erforderten, meist juristische Kenntnisse oder militärische Erfahrung. Auf dem Landtag von 1538 beriet ein Ausschuß aus Deputierten der Oberstände über die Türkenabwehr594. Der Landtag von 1540 setzte einen großen und einen kleinen Ausschuß ein, die den Modus der Steuererhebung diskutieren sollten595. Außerdem gab es spezielle Ausschüsse für weltliche und geistliche Sachen596. 1543 sollte einer der Landtags-Ausschüsse sich mit der Türkenhilfe beschäftigen, ein anderer die Steuereinnahmen überprüfen597. Ein dritter Ausschuß befaßte sich hauptsächlich mit Verteidigungsfragen598. Zur Revision der Landesordnung und zur Beratung anderer Entscheidungen wurde auf dem Landtag von 1543 ein Ausschuß von 18 Personen gebildet, sechs aus jeder Kurie599. 1559/60 sollte ein Ausschuß von je sechs Mitgliedern des Ersten und des Zweiten Standes über die Livlandhilfe verhandeln600. Ferner gab es einen Ausschuß für die Revision der Kirchenordnung601. Auch die Verhandlungen des Landtags mit den polnischen Kommissaren 1566 vollzogen sich großenteils in Ausschüssen, nicht vor dem Plenum602. Ein Jahr später schaltete sich ein ständischer Ausschuß in die Verhandlungen mit den Kandidaten für die Bischofsämter ein, mit Joachim Mörlin und Martin Chemnitz603. 1568 diskutierte ein Ausschuß über die beste Methode zur Auslösung des verpfändeten Amtes Liebemühl604.

107); Landtag 1559/60: 20 Mitglieder des ersten Standes, 16 Städtevertreter allein aus den Städten Königsberg, keine Angaben über Adel (Ommler 185—187). Teilnehmerzahlen schwankten beträchtlich. Ommler nennt für die Zeit Herzog Albrechts 1 9 — 31 Deputierte des ersten, 15—20 des zweiten Standes und zwischen 33 und 116 Städtevertreter (Ommler 211—214). 594

Ommler 54.

595

Landtagsprotokoll 1540, EM 87 e 48, 5 v—7 r.

596

Landtagsprotokoll 1540, EM 87 e 48, 7 v—11 r.

597

Ommler 57 f.

598

Ommler 59 f.

599

Opr. Fol. 477, 58 sq., zitiert nach Ommler 80.

600

Zum Folgenden vgl. Ommler 185 f.

601

Ommler 191.

602

Kleinertz 92. Datierung ebenda 84.

603

Kleinertz 113.

604

Kleinertz 117 f.

Entscheidungen in der frübneuzeitlkbm Macht-Öffentlichkeit

117

Nicht nur für die Entscheidung von Sachfragen, sondern auch für die Machtentscheidungen bedeutete die Einsetzung eines Ausschusses wahrscheinlich eine Erleichterung oder Vereinfachung. Die sachliche Frage, mit der sich ein Ausschuß befaßte, stand außerhalb der Verhandlungen des Plenums und damit außerhalb der Entscheidungen über das Machtgleichgewicht. Sie konnte in größerer Unabhängigkeit vom Streit um Machtverhältnisse verhandelt werden; sie wurde gewissermaßen erst dadurch zu einer reinen Sachfrage, daß der Ausschuß sie dem politischen Streit um Machtverhältnisse entzog. Das Verfahren der Ausschüsse unterschied sich nicht in allen Territorien vom Entscheidungsverfahren des Landtags. In den braunschweigischen Herzogtümern verhandelten die Ausschüsse ähnlich wie das Landtagsplenum605. Im Herzogtum Preußen wählten die Ausschüsse anscheinend ein anderes Verfahren. Sie gaben grundsätzlich gemeinsame, nicht nach Ständen getrennte Gutachten ab606 und verhandelten offenbar nicht in getrennten Kurien. 1566 wurden die Herren und Landräte in den Ausschüssen vom übrigen Adel majorisiert607, und auch die Städte formulierten keine ständisch einheitliche gemeinsame Politik. Durch die gemeinsame Beratung in den Ausschüssen verstärkte sich mittelbar der Einfluß des Adels, der „Ritterschaft". In den Ausschußverhandlungen spielte also das Stände- und Rangprinzip eine geringere Rolle als im Plenum des Landtags. Wie stark es tatsächlich außer Kraft gesetzt wurde, läßt sich nicht ermitteln, da die Verhandlungen innerhalb der Ausschüsse nicht schriftlich überliefert sind. 1566 scheint das Rangprinzip eine geringe Rolle gespielt zu haben; die paritätische Besetzung von Ausschüssen mit Mitgliedern aller Kurien zeigt, daß es jedenfalls noch beachtet wurde. Je stärker das Rangprinzip sich Geltung verschaffte, desto traditioneller gestaltete sich die Macht-Öffentlichkeit auch in den Entscheidungsvorgängen der Ausschüsse. Ob die Entscheidungsfindung mehr von der Sachkompetenz einzelne Mitglieder abhing oder ob sich das Mehrheitsprinzip durchsetzte, läßt sich den verstreuten Hinweisen auf den Verhandlungsmodus nicht sicher entnehmen. Eine Garantie für sachliche Entscheidungen bot das Verhandeln in Ausschüssen allerdings nicht. Auf einer Tagung in Königsberg 1570, auf der es laut schriftlicher 605

Lange 155—160. Bsp.: „Des ausschusses von Landen vnd Stetten, erstes einbringen den 19. Martij auffgeben, ao p. [15]70, Opr. Fol. 504 [2. Teil, mit besonderer Paginierung], 7 ν — 606

10 ν . 607

Zum Folgenden vgl. Kleinertz 93 f.

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I. Die Öffentlichkeit der Macht

Proposition um die Eintreibung des Bierpfennigs, Einlösung verpfändeter Schlösser und anderes gehen sollte608, reichten die Ausschußmitglieder gleichsam nach Landtagssitte ständische Gravamina ein609 und verschleppten die Verhandlungen zwei Wochen lang, vom 26. April bis zum 9. Mai, weil der Herzog sich weigerte, seine Antwort schriftlich niederzulegen610. Danach endeten die Verhandlungen ohne förmlichen Beschluß. Der Ausschuß konnte also auch die Funktionen eines ErsatzLandtags übernehmen und mußte nicht unbedingt ein reines Sachverständigengremium sein. Von den Ausschüssen des Landtags muß man Versammlungen unterscheiden, die zwar auch „Ausschüsse" genannt wurden, deren Mitglieder aber nicht aus dem Kreis der Landtagsdaputierten bestimmt, sondern unabhängig vom Landtag durch den Herzog berufen wurden. Meist hatten sie die Aufgabe, die Arbeit des Landtags vorzubereiten. Die Landesordnung von 1525 beriet ein vom Herzog berufener Ausschuß der „Vornehmsten" aus allen Ämtern611, dem wiederum juristische und theologische Fachleute vorgearbeitet hatten612. Die Regimentsnotel wurde 1542 einem Ausschuß vorgelegt, bevor sie an den Landtag gelangte613. Auch die Revision des Landrechts übernahm ein vom Herzog berufener Ausschuß. Das erste Ausschreiben zu diesem Ausschuß stammt aus dem Jahre 1547614. Albrecht ließ zur Beratung der Revision mehrere Landund Stadtgerichte, insgesamt zehn, sowie die beiden Vögte auf Samland zu einer Tagung in Königsberg einladen. Die Revision nahm aber längere Zeit in Anspruch und zog sich bis ins 17. Jahrhundert hin; erst 1620 wurde das neue Landrecht veröffentlicht615. Die Zusammensetzung des Revisions-Ausschusses wechselte. 1569 ließ sich die Stadt Preußisch Hol-

Proposition vom 17. April 1570, Opr. Fol. 504 [Teil 2], 1 r—2 v. „Des ausschusses von Landen vnd Stetten, erstes einbringen den 19. Martij auffgeben, ao p.70", Opr. Fol. 504, [Teil 2], 7 v—11 r. 610 Zum Folgenden vgl. „Recessirung wes den 26. vnnd 27. Apprilis ao p. 70. mündtlich gehandlet", Opr. Fol. 504 [Teil 2], 39 ν sq.; „Die letzte schrifft des ausschusses vbe[r]geben den 9. May ao p.70.", ebenda 93 ν sq. 611 Freiwald 177. 612 Freiwald 151. 613 Ommler 34—36 und 56; Breysig 25. 614 Zum Folgenden vgl. Opr. Fol. 1005, 69 ν sq, zitiert nach Ommler 95 und ebenda, Anmerkungen; Ommler 38 f., Anm. 364. 615 Ommler 203. 608 609

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land entschuldigen, da sie keinen Deputierten dafür bestellt habe616. Sie bat, Königsberg möge sie vertreten. Im Jahre 1609 traten 17 Mitglieder des Ausschusses zusammen. Für die Zeit von 1594 bis 1602, in der keine Landtage stattfanden, erwähnt Wiehert einen „Ausschuß der Landschaft', der hie und da von der herzoglichen Regierung zu Rathe gezogen" 617 . Dieser „Ausschuß" wurde demnach von der Regierung berufen, da der Herzog selbst nicht mehr ins Land kam. Die Mitglieder der vom Herzog berufenen Ausschüsse sollten also wie die der Landtagsausschüsse Spezialaufgaben erledigen und damit die Landtagsdebatten entlasten und verkürzen. Von den Landtagsausschüssen unterschieden sich die vom Herzog berufenen Ausschüsse wohl weniger in der fachlichen Kompetenz als dadurch, daß sie keine Verbindung mehr zu den Macht-Auseinandersetzungen des Landtags hatten. In den berufenen Ausschüssen konnte der Herzog Sachfragen völlig unabhängig vom Landtag verhandeln lassen, sie also nicht nur der MachtAuseinandersetzung, sondern auch der fachlichen Zuständigkeit des Landtags entziehen. In solchen Ausschüssen kann man daher am ehesten eine Vorstufe des späteren absolutistischen Kabinetts sehen. Für diesen Zusammenhang spricht auch, daß ein berufener Ausschuß im geheimen verhandeln und als eine Art Vorschaltgremium vor dem Landtag benutzt werden konnte. Den politisch brisanten Pfandvertrag mit Albrecht dem Jüngeren, Markgrafen von Ansbach, ließ Herzog Albrecht zunächst in einem „engeren Rat" besprechen, ehe die Sache an den Landtag gelangte618. Von den Ausschußmitgliedern forderte Albrecht strengste Geheimhaltung. Wahrscheinlich wollte er sich vor dem „engeren Rat" vergewissern, ob sein ungewöhnliches Vorgehen — er hatte dem jüngeren Markgrafen sein halbes Land verpfändet — sich vor dem Landtag würde durchsetzen lassen. Für die Veränderung der Macht-Öffentlichkeit waren die Ausschüsse deshalb von Bedeutung, weil sie, auch ohne daß die Beteiligten das gewollt haben müssen, die „modernen" Charakteristika der Macht-Öffentlichkeit verstärkten, die Repräsentativität und die Aufhebung oder Min6 1 6 Zum Folgenden vgl. die folgenden Dokumente: Entschuldigungsschreiben von Bürgermeister und Rat der Stadt Holland an die Oberräte, 17. Juni 1569, EM 86 a 5, 12 r. Kurfürst Johann Sigismund beruft die Mitglieder des Ausschusses zu einer Tagung ein: Schreiben Johann Sigismunds an diese Ausschußmitglieder, Abgangsvermerk vom 19. Juli 1609, EM 86 a 5, 47 r—48 v. 617 618

Wiehert 444. Zum Folgenden vgl. Ommler 88 f.; zum Pfandvertrag vgl. ebenda 76—78.

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derbewertung des Rangprinzips. Ausschüsse stellten selbstverständlich keine Repräsentativ-Körperschaften im modernen Sinne dar. Aber die Tätigkeit eines Ausschusses konnte das repräsentative Element im Landtag verstärken619. In den Ausschüssen des Landtags traf eine Gruppe von Menschen Entscheidungen, die den gesamten Landtag verpflichten sollten, oder bereitete diese Entscheidungen bis zur Beschlußreife vor. Die Mitglieder des Ausschusses verhandelten zwar im Namen ihrer „hindergelassen[en]"620, gegebenenfalls auch nach Rücksprache mit ihnen621, also ähnlich wie Landtags-Deputierte mit quasi-imperativem Mandat. Ihren Auftrag hatten sie jedoch nicht von „Wählern" in den Ämtern und Städten, sondern vom Landtag bzw. seinen einzelnen Kurien. Ausschußmitglieder konnten deshalb ein Bewußtsein der Verantwortlichkeit für den gesamten Landtag oder eine Kurie entwickeln, ein Amtsverständnis, das der modernen Auffassung von Repräsentativität näher stand als dem traditionellen Bild „öffentlicher Personen".

vgl. dazu Lange, Landtag, 7. Zum Folgenden vgl. Erstes Einbringen des Ausschusses, 19. März 1570, Opr. Fol. 504 [Teil 2], 8 r. 6 2 1 Letzte Schrift des Ausschusses, 9. Mai 1570, ebenda 96 v. 619

620

IV Verbreitungsstrukturen: Post- und Nachrichtenwesen im frühneuzeitlichen Preußen

1. Verkehrsverhältnisse Die heutige Kommunikationselektronik läßt leicht vergessen, daß in der mittelbaren Kommunikation nicht nur das Medium, sondern auch der Ubertragungsweg der Nachricht eine wichtige Rolle spielt. In der Frühen Neuzeit konnte keine Nachricht schneller befördert werden, als die Tagesleistung eines Menschen, eines Fuhrwerks oder eines Pferdes betrug. Je größer die Entfernung, desto mehr wirkte sich die Beschränkung der Geschwindigkeit aus und desto störanfälliger war die Nachrichtenübermittlung. Aus den Berichten über das Postwesen läßt sich geradezu ein Katalog von Störungen und Verzögerungen zusammenstellen: versumpfte Wege622 — das Instandhalten von Wegen und Straßen mußte durch Mandate wiederholt befohlen werden623 —; Flüsse, die nur im Winter über Eis passierbar waren624; Zeitverlust durch das Warten auf Fähren625 oder durch das Aufnehmen weiterer Briefe626. Nach Einbruch der Dunkelheit hielten die Boten für gewöhnlich Rast. Auf der

622

Bsp.: Bürgermeister und Rat von Königsberg-Löbenicht an den Kurfürsten, 28. April 1608, EM 70 ρ 2, Nr. 4, 4 r—5 v. 623 ζ. B. Landesordnung 1526, Opr. Fol. 13741, 29 ν—30 ν. Mandat Herzog Georg Friedrichs wegen der Straßen, 13. März 1592, mit Verweis auf frühere unbeachtete Mandate, in: „Verordnungen usw. insbesondere für das Herzogtum Preußen, Bd. 1, [offizielle Drucke aus Königsberg und Warschau, 1589—1649], Sammelband, SBPK Gu 570 fol.), [Nr. 14], 624 Ausschreiben des Herzogs Georg Friedrich an das Amt Balga, 21. Januar 1587, EM 113 f 6, 2 r. 625 Bsp.: Amtsschreiber zu Marienwerder an die Regenten, 29, Juni 1620, EM 113 d 9, 13 r. 626 Bsp.: Oberräte an Amtsschreiber zu Memel, 27. Jan. 1620, EM 113 d 1, 2 r sq; Oberräte an Neidenburg 5. Aug. 1616, EM 113 d 10, 1 r sq.

122

I. Die Öffentlichkeit der Macht

1586 eingerichteten627 Strecke von Marienwerder nach Falkenburg mußten die Krüger von Stibbelau und Landeck nachts die Boten beherbergen628. Im Kurfürstentum Brandenburg galt es noch 1651 als ungewöhnlich, nachts zur Postbeförderung die Stadttore zu öffnen629. In Preußen mußte die Beförderung „bey tag vnnd nacht" zwar ausdrücklich befohlen werden630, doch bürgerte sie sich offensichtlich früher ein. Botenbestallungen und Boteneide enthielten gelegentlich die Verpflichtung, Post bei Tag und Nacht zu befördern631. In Könitz gab es 1587 einen besonderen Nacht-Postboten 632 . Laut einem fürstlichen Befehl vom 21. Januar 1587 wurde für die Aufnahme von Post bei Nacht ein besonderes Zeichen festgesetzt633. Die Boten sollten einander „zuschreyen". Den Zusatz „vnd blasen" enthielt die Reinschrift des Befehls nicht mehr. Er weist aber darauf hin, daß das Blasen mit dem Posthorn auch in Preußen als Zeichen für die ankommende Post üblich war. Am Ziel angekommen, mußte der Bote für gewöhnlich einige Tage warten, bis der Antwortbrief geschrieben war. Dafür bekam der Bote eine Aufwandsentschädigung, das „Wartegeld"634. Eine Wartezeit von 4 bis 5 Tagen galt als normal635; aber es kamen Wartezeiten von ebensoviel Wochen vor 636 . Neben diesen natur- oder gesellschaftsbedingten Widrig-

Bestellung der Postboten, 17. November 1586, EM 113 a 1, 10 r. Befehl Georg Friedrichs an Eberhard Hultingk, Amtsschreiber zu Holland, 12. Oktober 1586, E M 113 d 1, 14 r. 6 2 8 Bestellung der Post von Marienwerder nach Falkenburg, o. D. [1586], EM 113 d 1, 17 r sq. 6 2 9 Stephan 18. 6 3 0 Oberräte an Hauptmann und Amtsschreiber zu Holland, 29. Dezember 1590, E M 51 ρ 2, 3 r sq. Ähnliche Befehle: Georg Friedrich an den Hauptmann zu Holland vom 15. September 1587, ebenda 1 r sq; Michael Giese an den Stadtschreiber von Könitz, Michael Leuttickh [?], 30. November/10. Dezember 1586, EM 113 a 1, 15 r sq. 6 3 1 Eid der Postreiter nach Pillau, o. D., EM 113 a 1, 11 r; Eid der Boten zwischen Marienwerder und Falkenburg, o. D. [1586], EM 113 b 2, 1 r—2 r. 6 3 2 Bericht des Leonhard Gögitz d. Ä. über seine Nachforschungen wegen der Post, Eingangsvermerk 2. August 1587, 3 r sq. 6 3 3 Zum Folgenden vgl. EM 113 f 6, 1 v. 6 3 4 Gallitsch, Preußen, 81. 6 3 5 Paßbrief für einen Boten nach Warschau, EM 113 d 1, 23 r sq. 6 3 6 Tuchmacher Caspar Babolt an Herzog Albrecht, o. D., E M 113 c 1, 7 r; Bote Leonhart Hannemann, o. D., E M 113 e 2, 1 r. 627

Verbreitungsstrukturen: Post- und Nachrichtenwesen

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keiten drohte manchmal der Verlust der Briefe durch Wegelagerei637 oder durch Diebstahl, wenn der Bote auf freiem Feld übernachtet hatte638. All diese Gefahren galten prinzipiell für jede Beförderung von Nachrichten, Personen oder Sachen über weite Strecken. Jeder, der Botendienste versah oder versehen ließ, mußte sie einkalkulieren. Die verschiedenen Arten des Boten- und Postwesens in der Frühen Neuzeit kann man deshalb als Versuche begreifen, die Schwierigkeiten der Nachrichtenbeförderung so zu überwinden, daß möglichst schnell möglichst viele Nachrichten möglichst sicher an ihr Ziel gelangten. Der folgende Versuch, Entwicklungsstufen der Nachrichtenübermittlung in der Frühen Neuzeit am Beispiel Preußen zu skizzieren, folgt daher einer systematischen, nur bedingt chronologischen Gliederung. Die verschiedenen Arten der Nachrichtenübermittlung lösten einander nicht ab, sondern bestanden nebeneinander. Auch muß eine vergleichsweise primitive Art der Nachrichtenbeförderung nicht Rückständigkeit bedeuten. Wie heute ließ sich auch im 16. Jahrhundert ein Kommunikationssystem nur mit finanziellem Aufwand auf- und ausbauen. Dieser Aufwand wiederum lohnte nur, wenn man auf die schnelle Beförderung von Nachrichten wirklich angewiesen war. Wo es auf die Aktualität einer Nachricht nicht unbedingt ankam, sondern nur auf ihre sichere Beförderung, blieb man oft beim „primitiven" System, auch wenn es rationellere — damit aber auch störanfälligere — Möglichkeiten bereits gab. Zur Rationalisierung der Nachrichtenübermittlung kann man prinzipiell zwei Wege einschlagen. Einmal kann man die Nachrichtenübermittlung selbst beschleunigen und zum andern die zu übermittelnden Nachrichten sammeln und bündeln, so daß mehr Information auf einer Strecke befördert werden kann. Die beiden Rationalisierungswege ergänzen und verstärken einander, müssen aber nicht notwendig parallel laufen. Der eine Weg führt zum System einfacher und kombinierter Staffeln in Richtung auf den regulären „Post"-Kurs. Der andere führt zur stärkeren Institutionalisierung des Nachrichtensammelns bis hin zum Korrespondenten- und Avisendienst.

637 Schreiben der Ansbacher Räte an die preußischen wegen erbrochener Briefe, 2. Juli 1587, EM 113 f 7, lrsq.; Moller an Kurfüst Joachim Friedrich, 10. Januar 1607, zitiert nach Klinkenborg 2, 491. 638 Burggraf Hans Naps und Amtsschreiber Daniel Fritz an den Herzog Georg Friedrich, 1. September 1589, EM 113 f 7, 16 r—17 v.

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I. Die Öffentlichkeit der Macht

2. Stufen der Entwicklung des Informationssystems a) Informationsübermittlung Den Boten mit einer Nachricht oder einem Brief in der Hand könnte man als die informationelle Grundeinheit der Frühen Neuzeit bezeichnen. Seine Leistung bestimmte das Tempo der Nachrichtenübermittlung, setzte aber auch der Menge übertragbarer Nachrichten Grenzen. Zum mindesten hatte er eine einzelne Nachricht mündlich auszurichten — etwa ein Gerichtsbote, der eine Vorladung aussprach639 — oder einen einzigen Brief zu überbringen640. Meist wurden ihm mehrere Briefe an verschiedene Empfänger mitgegeben641, im höchsten Falle mehrere Bündel („Pakete") von Briefen, wobei er jedes an einen anderen Empfänger abliefern sollte642. Das System, bei dem ein Mann ohne Ablösung und Wechsel einen Weg hin und zurück absolvierte, war das älteste und bis weit ins 16. Jahrhundert gebräuchlichste System der Verbreitung von Nachrichten, auch über weite Entfernungen. Manche Boten versahen den Dienst nur bei Gelegenheit — Diplomaten643, Gelehrte644 oder Kaufleute645 etwa 6 3 9 Laut Hofgerichtsordnung, 1583 (Hoffgerichts Ord=//nung des Hertzogthumbs// Preussen:/^Von dem Durchlauchtigen/ Hochge=//bornen Fürsten vnd Herrn/ Herrn Georgen Fri=//derichen Marggrafen zu Brandenburg/ in Preussen/ zu//Stettin [etc.]// auffs newe corrigiret/ gemehret vnd//gebessert/Anno 1585//[Vignette]//Gedruckt zu Königsberg in Preussen//bey Georgen Osterbergern), C 4 v, gab es zwei geschworene Gerichtsboten, Conrad, Obergerichte, 5 nennt nur einen. Vorladung: Conrad, Obergerichte, 11. 6 4 0 Bsp.: D. Georg Longig an den Präsidenten Johann Aurifaber, 23. April 1555, HBA J 3 989, erwähnt, daß ihm ein Bote des Präsidenten das Schreiben gebracht habe. Das entsprechende Schreiben Aurifabers an Longig findet sich ebenda 1 r sq, Brief Longigs ebenda 2 r sq. 6 4 1 Post- und Botenbuch, Opr. Fol. 14 231, passim; anderes Bsp.: Der preußische „Silberbothe" Hans Weiger an den König von Ungarn, Markgraf Johann Georg und den Pfalzgrafen bei Rhein, 26. Juni 1608, zitiert nach Klinkenborg 4, 38. 6 4 2 Bsp. Bote Endreß, Pakete sind Α bis Ε durchgezählt, vgl. das Botenregister des Endreß, EM 113 f 11, 6 r—7 v, o. D. Benennung mehrerer Briefe als Paket vgl. Opr. Fol. 14 231 [1579] 64 r: „Ein gros packet". 6 4 3 Bsp.: Paß für Kanzler Georg Schultz, Boten nach Ungarn, EM 52, 2 aa 1, Nr. 4. 6 4 4 ζ. B. Vergerio als Briefbote aus Württemberg 1559, HBA J 2, 1000, 10. 12. 1559, zitiert nach Fligge 453. 6 4 5 Bsp.: Tuchmacher Caspar Babolt, EM 113 e 1, 5 r —7 r, o. D.

Verbreitungsstrukturen: Post- und Nachrichtenwesen

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nahmen auf ihren Reisen auch Briefe mit. Das preußische Botenbuch erwähnt zum Beispiel am 21. Mai 1567 den königlichen Sekretär Sokolowski als Briefboten646. Am 4. März 1570 ist „Friedrich Kanitz" genannt647, am 12. April 1571 Melchior von Kreytzen648. Vom 6. Dezember 1596 stammt ein Paßbrief für den Kanzler Georg Schulz, der als Bote nach Ungarn geschickt wurde649. Die Gelehrten des 16. Jahrhunderts standen meist durch Gelegenheitsboten miteinander in Verbindung650. Die Synode von Saalfeld bat 1554 um die Erlaubnis, Boten an andere Kirchen schicken zu dürfen, um ihre Ergebnisse mitzuteilen651. Auch die dörflichen Boten, mit denen die Bauern im Bauernkrieg ihre Rundschreiben „eylende von dorff zu dorff" gelangen ließen652, muß man sich als Gelegenheitsboten vorstellen. Bei den machtpolitisch wichtigeren Nachrichten von der Vorladung bis zur diplomatischen Korrespondenz spielte der Gelegenheitsbotendienst eine geringere Rolle. Vielmehr wurde für diese Fälle der Botendienst organisiert und besonderen Personen anvertraut, die sich ständig zur Verfügung halten mußten. In Preußen hatte bereits der Deutsche Orden über einen organisierten Botendienst verfügt653. Die Boten wurden „Bryffjongen" genannt654. Es soll jedoch neben ihnen andere, auch berittene Boten gegeben haben655. Zu Ordenszeiten kamen die meisten

646

Opr. Fol. 14231, 34 r.

647

ebenda 44 r. Zu Friedrich von Kanitz vgl. Thiele, Ernst-Theodor: Das Gesandt-

schaftswesen in Preußen im 16. Jahrhundert (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, Bd. 15), Göttingen/ Frankfurt [/Main]/ Berlin (1954), 48. 648

Opr. Fol. 14231, 47 r.

649

E M 52, 2 aa 1, Nr. 4.

650

Bsp.: Konzeptbuch D. Andreas Aurifabers mit Schreiben an verschiedene Emp-

fänger, H B A Konz. J 2 1303, 1553/54 [nur Jahr angegeben]; Schreiben Melanchthons an Oslander, 3. Dezember 1548, H B A a 4, 220. 651 Pügge 225. 652

Rundschreiben Hans Schlegels an alle Dörfer, Maria Geburt 1525, H B A J 3

1023, IV.28.37. 653

Lemke, passim; vgl. auch Mortensee/Jahnke/Zimmermann: Die Postwege des

Deutschen Ordens (1. Hälfte 15. Jh.), in: Historisch-geographischer Atlas des Preußenlandes, Lieferung 1, Wiesbaden 1968. dazu: Jahnke, Jürgen/Zimmermann, Heinz: Erläuterungen zur Karte, S. 1 f.; Routenliste S. 3—8. 654

Zum Folgenden vgl. Lemke 34.

655

Rotter, Ekkehard: Die Organisation des Briefverkehrs beim Deutschen Orden,

in: Lötz, Wolfgang (Hg.): Deutsche Postgeschichte. Essays und Bilder, (Berlin 1989), 36.

126

I. Die Öffentlichkeit der Macht

Briefe am Sitz des Hochmeisters an656, auf der Marienburg, ab 1457 in Königsberg 657 . Dort wurde über ein- und ausgehende Briefe Buch geführt 658 ; und im „Briefstall" standen Pferde für die Postbeförderung bereit 659 . „Briefställe" existierten auch in anderen preußischen Städten. Wahrscheinlich war der Pferdewechsel beim Ritt über längere Strecken üblich. Der Herzog ließ das Botenwesen der Ordenszeit weiter bestehen, nun mit der Residenz Königsberg als eindeutigem Zentrum 660 . Dort wurde das Botenbuch über ein- und ausgehende Briefe geführt. Die Pflicht zur Führung des Botenbuches wechselte zunächst halbjährlich unter den „gesellen" der Kanzlei 661 . Spätestens 1582 gab es ein festes A m t des „Botenmeisters", der das Botenbuch führen mußte 662 . Neben den Gelegenheitsboten beschäftigte der Herzog ständig vier Haupt- und vier Beiboten 663 . Feste Boten taten auch Dienst beim Hofgericht und beim Konsistorium. Das Hofgericht hatte zunächst einen 664 , seit der Hofgerichtsordnung von 1583 zwei Boten 665 , das Konsistorium ebenfalls zwei 666 . Ob die Landstände und einige Städte eigene Boten fest besoldeten oder Gelegenheitsboten schickten, ist nicht sicher. Königsberg als Hansevorort hatte die Pflicht, Nachrichten aus Lübeck entgeRotter 24 und 26. Benkmann 13; Arnold, Udo: Der Deutsche Orden und Preußen, in: Rothe, Hans (Hg.): Ostdeutsche Geschichts- und Kulturlandschaften, Teil Π: Ost- und Westpreußen (Studien zum Deutschtum im Osten, hg. von der „Kommission für das Studium der deutschen Geschichte und Kultur im Osten", Heft 19/Π), Köln/Wien 1987, 52. 658 Rotter 36. 659 Zum Folgenden vgl. Rotter 31. 660 Bräuer, Hans-Jochen: Die Entwicklung des Nachrichtenverkehrs. Eigenarten, Mittel und Organisation der Nachrichtenbeförderung, Diss. oec. Nürnberg (1957), 57 vermutete noch, das System sei mit dem Ende des Ordens untergegangen. Schwierigkeiten muß es allerdings gegeben haben, denn in der Visitations-Instruktion von 1526 wurden die Visitatoren aufgefordert, Sorge zu tragen, „damit man macht ufs neu ein rechte bosst legen" (Sehling 4, 42). 661 Botenordnung, 1559, Opr. Fol. 14231, 1 r. 662 Nach der Kanzleiordnung von 1582 oblag die Pflicht zum Führen des Botenbuches „dem, welchem das Bothen Meister Ambt befohlen", EM 19 a 36, 94 r sq. Ähnlich formuliert eine undatierte Kanzleiordnung, EM 19 b 161, 1 r. 663 Botenordnung am Anfang des Botenbuches von 1559, Opr. Fol. 14231, 2 r. 664 Conrad, Obergerichte, 5. 665 Hofgerichtsordnung C 4 v. 666 Konsistorialordnung 1583, zitiert nach Sehling 4, 129. 656

657

Verbreitungsstrukturen: Post- und Nachrichtenwesen

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genzunehmen und seinerseits seine „Hinterstädte" zu informieren 667 . Gallitsch nennt die dabei eingesetzten Boten Privatleute, nimmt also an, daß sie nicht von der Stadt fest besoldet waren. Für Vorladungen und andere „Dienste in Gerichtlichen Sachen" 668 verfügten die Städte Königsberg über „Stadtknechte". 1599 baten die Gemeinden aller drei Städte die jeweiligen Stadträte, „den Stadtknechten eine gewiße ordtnungk zumachen was sie für ladungen vnnd andere Ihre dienste in Gerichtlichen Sachen vonn burgern nehmen sollen". Die Stadtknechte dienten also den Städten Königsberg über längere Zeit — sonst hätte es eine Amtsbezeichnung dieser Art nicht gegeben —, wurden aber nicht oder nicht nur von der Stadt, sondern von den Bürgern bezahlt. Das Stadtknechtsamt könnte demnach eine ständige Verpflichtung zu Gelegenheits-Botendiensten gewesen sein. Bei allen bisher genannten Botendiensten galt unabhängig von der Länge der Strecke das Prinzip „Ein Mann, ein Weg". Wegen der Unsicherheit der Straßen auf weite Entfernungen gab es keine festen Ankunfts- und Abgangszeiten. Gegenüber dem Gelegenheitsbotendienst hatte der organisierte den Vorteil, daß gleichzeitig Briefe in verschiedene Richtungen abgehen konnten und die Boten Orts- und Personenkenntnis erwarben, wenn sie denselben Weg öfter zurücklegten. Dafür ließ sich der organisierte Botendienst nur mit erheblichen Unkosten aufbauen und aufrechterhalten. Ein Gelegenheitsbote mochte einen Brief unentgeltlich oder gegen geringes Entgelt mitnehmen. Ein Bote in ständigem Dienst hatte zumindest Anspruch auf die Auslage seiner Spesen, wie eine Abrechnung für den Boten Johann Rettich vom 1. Februar 1537 zeigt669. Dazu kamen „Trinkgeld" für die Verpflegung unterwegs670 und möglicherweise „Wartegeld". Die meisten ständigen Boten erhielten eine feste Besoldung in Geld pro Quartal oder Jahr, gelegentlich auch Lebensmittel oder Brennholz 671 . Viele Botenbesoldungen erwähnen auch andere MaterialleistunZum Folgenden vgl. BPM Ffm, N L Gallitsch, Ε 13/1, Nr. 6, 76—79. Zum Folgenden vgl. Schreiben der Gemeinden an die Räte der drei Städte Königsberg, actum 23. November 1599, Opr. Fol. 13802, 28 v, Datierung ebenda 40 v. 6 6 9 E M 113 d 4, 2 r sq. 6 7 0 erwähnt ζ. B. im Brief Caspar Babolts, EM 113 e 1, 5 r. 6 7 1 Kostgeld von 6 fl. 24 gr. für Michael Vieheberg, 3. September 1601, E M 19 b 162, 1 r—2 v. 1608 wird eine Besoldung von 20 sgr. für „Hans Weigern den preußi667 668

128

I. Die Öffentlichkeit der Macht

gen. Der Bote Michael Vieheberg erhielt 1601 Stoff zu einem Kleid 672 ; der Kanzleibote Adam Baumgart bekam im April 1561 ein Kleid als Botenlohn 673 . Daraus zu schließen, daß die Postboten schon im 16. Jahrhundert Uniform getragen hätten, wie Gallitsch nahelegt 674 , scheint allerdings zu weit zu gehen. Boten, die lange Strecken zurücklegten, bekamen zusätzlich ein „Meilengeld"675. Es war, wie der Name sagt, nach Länge der Strecke gestaffelt und betrug 1559 für Wege im Herzogtum Preußen zwei Schilling, im königlichen Teil Preußens zwei Groschen und in Deutschland vier Schilling pro Meile für die preußischen Boten. Im Lauf der Herzogszeit verlor es an Bedeutung, da es trotz steigender Preise nicht erhöht wurde: 1579 lehnte der Herzog die Erhöhung auf zwei Groschen im Inland ab676; und noch 1624 wurden zwei Groschen pro Meile für eine Strecke im Inland, drei pro außerhalb des Landes zurückgelegter Meile gezahlt 677 . Den Boten sicherten wahrscheinlich die Naturalleistungen sehr viel mehr als die Besoldung in Geld. Außerdem übernahm der Dienstherr des Boten eine gewisse, auch ökonomische, Verpflichtung gegen ihn

sehen Silberbothen" erwähnt („Rechnung über die preußnische Reise von dem 11. Juli annno p. 1608 biß den 23. Augusti anno 1609 durch Johann Grabowend, Cammerschreibern", Teilstück aus Ottelsburg, 26. Januar [1609], zitiert nach Klinkenborg 4, 38). Quartalsbezahlung für einen Briefboten nach Dänemark, Abschied 23. November 1566, EM 113 b 1, 60 r, datiert 61 r. Besoldung von 30 gr. polnisch pro Woche für den Postboten in Borzechau, Andreß Schneider, o. D., EM 113 b 9, passim. Einmalige Auslieferung von Brennholz: Valtin Grassmann an den Fürsten, o. D., EM 19 b 159 a, 15 r. Supplik des Hans Dollschläger, Bürgers zu Könitz, der den Weg Könitz—Borzechau als Postbote macht, er erhält 1 fl. polnisch pro Woche: Hans Dollschläger an den Kurfürsten Joachim Friedrich, 23. August 1611, EM 113 b 1, 100 r. 672 3. September 1601, EM 19 b 162, 1 r. 673 Adam Baumgart an den Kanzler, Abschied vom 11. April 1561, EM 19 b 159 a, 1 r sq. 674 Gallitsch, Brandenburg, 400 und 408. Die Behauptung wird auch schon für die Ordensboten aufgestellt, vgl. North, Gottfried: Die Post. Ihre Geschichte in Wort und Bild, (Heidelberg 1988), 25. 675 Zum Folgenden vgl. Gallitsch, Botenwesen Brandenburg, 256. Gallitsch gibt als Quelle: Opr. Fol. 13460. Vgl. aber auch Schreiben der acht geschworenen Boten an den Herzog, o. D. [vom Archivar datiert August 1559], EM 113 b 13, 1 r sq. 676 Geschworene laufende Boten an den Herzog, Abschied vom 24. Januar 1579, EM 113 b 5, 1 r sq, Datum und Abschied 2 v. 677 Notiz im Hofstaatsverzeichnis von Ostern 1624, Opr. Fol. 13035, 32 r.

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und seine Familie, falls der Bote krank wurde 678 , altershalber nicht mehr arbeiten konnte 679 oder in Ausübung seines Dienstes starb680. Den Dienstherrn kostete der eigene Botendienst also über lange Zeit einiges an Geld und Naturalien. N u r einige große Städte681, Handelshäuser und größere Territorialherren konnten es sich leisten, fest besoldete Boten zu beschäftigen. Wirtschaftlichen Erwägungen könnte daher die nächste wesentliche Rationalisierung des Systems der Nachrichtenübermittlung entsprungen sein, nämlich der eigentliche „Post"-Dienst und, damit verbunden, die Nutzung fremder Boten- und „Post"-Systeme für die eigene Nachrichtenübermittlung. Das Wort „Post" kommt aus dem Latein bzw. dem Italienischen682. Eine „posta" (aus „posita statio equorum" 683 ) war eine Station, an der ein Bote das Pferd wechseln konnte. Stationsweiser Pferdewechsel war schon in der Antike bekannt, in karolingischer Zeit in Deutschland 684 , seit dem 10. Jahrhundert in Polen 685 , um 1300 bei einigen oberitalienischen Städten686 und am Ende des 15. Jahrhunderts bei der kaiserlichen Unterstützungsgesuch des durch Krankheit arbeitunfähigen Boten Hieronymus Wessel, 19. Dezember 1590, EM 113 b 15, 1 r—2 r. Unterstützungsgesuch des Boten Lorenz, 24. August 1559, EM 113 b 1, 46 r sq. 679 Bsp.: Stoffel Plessingk aus Ansbach an Herzog Georg Friedrich, Aktenvermerk 15. Mai 1583, EM 19 b 159 a, 3 r, datiert 6 v. Plessingk bittet um eine jährliche Rente in Korn nach seiner Dienstentlassung. Hieronymus Wessel an Herzog Georg Friedrich, Abschied vom 12. Dezember 1590, EM 113 b 22, 1 r sq, datiert 2 v. Zu den Boten rechnet Gallitsch auch den Kanzleiknecht Hans, Opr. Fol. 13042, zitiert nach Gallitsch, Brandenburg, 268. 680 vgl. Schreiben des Hauptmanns zu Holland an die Oberräte wegen des verunglückten Postreiters Peter von Leiße [?], 1. Aug. 1541, EM 51 ρ 1; Bitte der Anna Hempp [?] um Geld für die Bestattung ihres Mannes, o. D., EM 19 b 162 a, 42. Gesuch der Margareta, Witwe des laufenden Boten Mathes Granau, wegen des Rechtes auf ihr Haus, EM 113 b 15, 1 r—2 v, datiert von fremder Hand: 1565. 681 vgl. North, Michael: Nachrichtenübermittlung und Kommunikation in norddeutschen Hansestädten im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit, in: Archiv für deutsche Postgeschichte 1991, Heft 2, 10 f. 682 Zum Folgenden vgl. Meyers Enzyklopädisches Lexikon (in 25 Bänden, Neunte, völlig neu bearbeitet Auflage zum 150jährigen Bestehen des Verlages, mit 100 signierten Sonderbeiträgen), Bd. 19, München/Wien/Zürich (1977), 162, Stichwort „Post". Dort wird „posta" als Station zum Wechseln von Pferden und Boten erklärt. 683 Kießkalt, Ernst: Die Entstehung der Post, Bamberg 1930, 35. 684 Kießkalt 29 685 Kießkalt 27. 686 Kießkalt 31. 678

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Post687, in Frankreich688 und in England689. Die Taxis'sche Post führte als erste das System ein, daß an den „Posten" nicht nur die Pferde, sondern auch die Boten wechselten690. Dadurch mußten die einzelnen Pferde und Boten kürzere Strecken zurücklegen; die dafür benötigte Zeit ließ sich besser abschätzen; und man konnte feste Ankunfts- und Abgangszeiten einführen. Die Boten der Kaufmannschaft von Nürnberg auf der Strecke über Leipzig nach Breslau richteten sich 1573 nach festen Zeiten691, ebenso die Kölner Boten zu Antwerpen692. Das System der „Posten" arbeitete verläßlicher und — weil es ausgeruhte Pferde und Boten einsetzte — auch schneller als das primitivere „Ein Mann, ein Weg"-System. „Posten" erforderten aber auch mehr Aufwand, da erheblich mehr Pferde und Boten ständig unterhalten werden und bereitstehen mußten. Auch war das System der „Posten" verhältnismäßig starr. Ein Bote einer „gelegten Post"693 konnte nicht dem Empfänger eines Briefes nachreiten, wie es von anderen Boten gelegentlich verlangt wurde694. Daher empfahl sich das Posten- und Staffelsystem nur auf Strecken, die absehbar über längere Zeit konstant blieben und bei denen es auf eine schnelle Nachrichtenverbindung ankam. Für das Herzogtum Preußen bestanden Staffelverbindungen erst nach 1570 und auch dann zunächst nur auf drei sozusagen brandenburgischen Hauslinien: Königsberg — Stolp — Stargard — Berlin695; Königsberg —

687 Kießkalt 24. 688

Kellenbenz, Hermann: Wirtschaft und Gesellschaft Europas 1350—1650, in: Fischer, Wolfram, u. a. (Hgg.): Handbuch der Europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 3 (Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom ausgehenden Mittelalter bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, hg. v. Hermann Kellenbenz, Stuttgart 1986), 300. 689 Kießkalt 26. 690 Beyrer, Klaus: Die Postkutschenreise (Untersuchungen des Ludwig-UhlandInstituts der Universität Tübingen, Bd. 66). Tübingen 1985, 41. 691 Gallitsch, Botenwesen Brandenburg, 373 f. 692 Dallmeyer, Quellen 1, 68. 693 zitiert nach der Photokopie eines Postzettels bei Gallitsch, Postwesen Preußen, 91, Anlage 2. 694 Bsp.: von Krakau nach Zamosc für den Sekretär Heidenstein, 1588, EM 96 g 3. 695 Strecke über Stolp für 1567 belegt durch Opr. Fol. 14231, 34 v. Von Stolp nach Königsberg führte außerdem eine alte Hansestraße, vgl. Benkmann 18.

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Marienwerder — Landeck — Carzig — Küstrin — Berlin 696 und Königsberg — Ansbach 697 . 1579 ließ Herzog Georg Friedrich eine Post von Ansbach über Königsberg nach Mitau und in das neu erworbene 698 Grobin legen699. Anders als die Kaufmannspost, die schon feste Zeiten anbieten konnte, existierten aber diese Posten nicht ständig. Die Post Königsberg — Landeck — Berlin wurde erst im Jahre 1586 gelegt700, weil eine frühere Verbindung über Gnesen und Posen wegen Seuchengefahr aufgegeben werden mußte 701 . Die alte Strecke wurde zwar 1587 wieder aufgenommen; daneben blieb aber die Verbindung über Landeck erhalten, die sich offensichtlich bewährt hatte. Eine andere Art von Staffelsystem gab es in Preußen seit Ordenszeiten: die sogenannte Amterpost 702 . Diese Einrichtung bedeutete, daß Bauern anstelle des gewöhnlichen Scharwerks verpflichtet wurden, Briefe von einem Amt zum anderen zu befördern und so die Kommunikation der Amtleute untereinander und mit der Regierung aufrechtzuerhalten 703 . Der Dorfschulze oder Bürgermeister mußte die dienstverpflichte-

6 9 6 belegt durch Postzettel von 1612 (EM 113 e 4), 1614 (EM 113 d 9, 1 r—3 v), 1614/5 (EM 113 a 6) und 1619 (EM 113 e 6). Außerdem vgl. Schreiben des Friedrich Erbtruchß an den Kanzler, 23. November 1604, EM 113 d 9, 7 r. 6 9 7 Bsp.: für die Benutzung der Strecke: EM 113 f 7, passim; Befehl Georg Friedrichs vom 12. Oktober 1586, EM 113 d 1,14 r. 6 9 8 Hubatsch, Verwaltung, 11; Hubatsch, Kirche 1,101. 699 Zum Folgenden vgl. Schreiben Herzog Georg Friedrichs an die Regimentsräte, 29. September 1579, StA Bamberg C 3 Nr. 257 Π Pr 193, pag. 14 Die Benutzung der Grobiner Strecke ist noch belegt für 1589: Oberräte an den Hauptmann von Labiau wegen der Post nach Grobin, Hasenpoth und Pilten, 10. Oktober 1589, EM 113 e 3, 1 r sq., datiert ebenda 3 [ = 2 v].

Die Boten wurden ab 24. November [15]86 quartalsweise bezahlt, vgl. das Schreiben zur Bestellung der Post von Marienwerder nach Falkenburg, o. D., terminus ante quem die Angabe in dem Schriftstück, EM 113 d 1, 17 r sq. Vgl. ferner die Verpflichtung der Boten in Stibbelau, Landeck, Könitz und Falkenburg, 17. November 1586, EM 113 a 1, 10 r; Befehl Georg Friedrichs an Eberhard Hultingk, Amtsschreiber zu Holland, 12. Oktober 1586, EM 113 d 1, 14 r. 700

Zum Folgenden vgl. Befehl Georg Friedrichs an Eberhard Hultingk, Amtsschreiber zu Holland, 12. Oktober 1586, EM 113 d 1, 14 r; Schreiben der Oberräte an Burggrafen und Amtmann zu Marienwerder, 15. September 1587, EM 113 d 2, 1 r sq.; EM 113 d 6, passim, 1587. 7 0 2 Ausdruck „Amter- und Schulzenpost" bei Horn 368. 703 Bsp.: Brief Heinrich Baubelleits aus dem Amt Tilsit an Herzog Albrecht, Aktenvermerk 3. August 1561, EM 138 ρ 6. 701

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ten Bauern zur Arbeit anweisen704 und die Post abfertigen705. Manchmal übernahmen die Krüger dieses Amt oder gar die Postzustellung selber. Wenigstens in einigen Orten wurde auch über ein- und ausgehende Post Buch geführt706. Pferde und gegebenenfalls Fuhrwerk mußten die Bauern selbst stellen. Da beides für die Feldarbeit gebraucht wurde, war der Dienst nicht sehr beliebt. Hans Bienwolf, Bürgermeister der kleinen Stadt Heiligenbeil, eines Knotenpunktes von Postlinien, beschwerte sich 1581 beim Hauptmann zu Balga, die Bauern drückten sich nach Möglichkeit vom Postdienst; statt der Bauernfuhren solle man lieber einen herzoglichen Boten verpflichten, wie es Albrecht der Ältere getan habe707. Die Ämterpost kann demnach weder sehr schnell noch besonders zuverlässig gearbeitet haben, vor allem nicht in Zeiten der Belastung durch hohes Postaufkommen. Aber Herzog Georg Friedrich wollte offenbar den Boten sparen oder hielt die schnelle Beförderung gerade in Heiligenbeil nicht für dringend nötig. Jedenfalls ging er auf den Vorschlag der Stadt nicht ein. Bauern wurden in der Regel nur dazu verpflichtet, Briefe zum nächsten Verwaltungssitz und herzoglichen „Haus" zu bringen. Ein Gänsehirt Thomiß Pathmann zum Beispiel ging von seinem Heimatdorf Preußisch Cremitten nach Tapiau oder Königsberg (1585)708. Dort konnten andere Bauern oder herzogliche Boten die Briefe übernehmen. Das System der Ämterposten hatte daher, anders als das herzogliche Botensystem, keine eigentliche Zentrale. Wichtige Knotenpunkte bildeten die grenznahen Ämter. Uber Marienwerder lief im allgemeinen die Post nach Deutschland709. Neidenburg710 und Soldau711 sammelten Briefe, die

704 Georg Friedrich an den Hauptmann zu Preußisch Eylau, 6. März 1589, EM 113 f 3, 1 r—2 v. 705 Zum Folgenden vgl.: Visitationskommission an die Krüger zu Taplacken, 10. Nov. 1585, EM 137 c 23; Postordnung Albrecht Friedrichs für Heiligenbeil vom 13. Nov. 1577, EM 10 ρ 2, 3 r—4 r. 706 Postbuch von Marienwerder, Briefe vom 22. September bis 14.November 1604, EM 113 d 9, 10 r sq. 707 Bienwolf an M. von Lehndorf, Hauptmann zu Balga, 21. Dez. 1581, EM 10 ρ 2, 8 r—9 v. Den Boten Albrechts erwähnt außerdem Matthäus Fraunholz in einem Schreiben an den Hauptmann, o. D., ebenda 18 r—19 r. 708 Pathmann an den Landhofmeister, 2. Okt. 1586, EM 137 d 1486, passim. 709 Postbuch aus Marienwerder von 1604, EM 113 d 9, 10 r sq. 7 1 0 Regenten an Hauptmann zu Neidenburg, 2. und 20. April 1616, EM 113 d 1, 24 r sq; 25 r sq. Weiterleitung der Post nach Warschau: EM 113 d 8, passim.

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auf die polnische Strecke nach Süden gehen sollten. Rhein und Lyck brachten Nachrichten auf den Weg nach Osten712, Ragnit713 und Memel714 nach Norden. Für die Weiterleitung der Briefe hatten meist die Hauptleute zu sorgen715, manchmal sogar mit eigens bereitzuhaltenden Pferden716. Das Staffelsystem arbeitete zuverlässig und schnell, kostete aber viel Geld. Außerdem erforderte es verpflichtete Boten auch in weiter Entfernung — wo man sie schwer kontrollieren konnte —, möglicherweise sogar auf fremdem Territorium. Wer, wie die Kaufleute, Gelehrten oder auch größeren Territorialfürsten, auf Nachrichten-Fernverbindungen angewiesen war, mußte aus nachrichtentechnischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Gründen danach trachten, sein eigenes System der Nachrichtenverbreitung mit den Systemen anderer zu vereinigen, also Mitbenutzungsrechte einzuräumen und in Anspruch zu nehmen. Das geschah sowohl bei dem alten „Ein Mann, ein Weg"-System als auch bei den neueren Staffelsystemen. Beim Botendienst nach dem „Ein Mann, ein Weg"-Prinzip „benutzte" man fremde Boten, indem man ihnen Briefe zur Weiterleitung mitgab. Dabei scheint es gewisse Traditionen gegeben zu haben. Die grenznahen Amtshäuser in Preußen sammelten Briefe und leiteten sie mit eigenen Boten weiter. Auch außerhalb Preußens ergaben sich Verbindungen. So konnte ein Bote, der nach Warschau ging, von dort einen Brief nach Radom weiterleiten lassen717. Von Danzig aus sollte 1562 ein Brief nach Riga befördert werden718, höchstwahrscheinlich per Schiff. Ein Bote nach Stuttgart erhielt ein ganzes Bündel Briefe, darunter auch solche zur

Regenten an Hauptmann zu Soldau, 5. Mai 1614 und 25. Juni 1616, EM 113 d 1, 22 r sq; 23 r sq. Ferner EM 113 e 5, passim, und ebenda 113 d 1, 20 r—25 v. 712 Oberräte an den Hauptmann von Lyck, 23. Dez. 1586, EM 93 ρ 1, 1 r sq., ebenda weitere Breife, die über Lyck nach Grodno weitergeleitet serden sollten. Vgl. auch EM 113 d 7, passim. 713 Betr. Post nach Wilna, 15. Februar 1620. EM 113 d 1, 3 r. 714 Bitte um Postweiterleitung von Memel, 27. Januar 1620, EM 113 d 1, 2 r sq. 715 ζ. B. zwischen Pr. Eylau und Königsberg, vgl. das Schreiben Georg Friedrichs an Pr. Eylau, 6. März 1589, EM 113 f 3, 1 v. 716 Georg Friedrich an mehrere Amter, 21. Januar 1587, EM 113 f 16, 1 r sq. Bereitzuhaltende Pferde für die Post nach Piken: EM 113 e 3, passim, 10. Oktober 1589. 717 Der Bote Marsin [?] wurde nach Warschau geschickt, ihm war auch ein Brief an Kunheim in Radom mitgegeben, vgl. Opr. Fol. 14231, 26 r, 15. 2. 1564. 718 11. Januar 1562, Opr. Fol. 14231, 17 r. 711

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Weiterleitung nach Urach und Tübingen 719 . Durch Verabredungen ergab sich eine Art von Staffel, die freilich in ihrer Organisation ganz von Gelegenheits-Botendiensten abhing. Komplizierter waren die Absprachen, wenn zwei oder mehrere Staffelsysteme sich miteinander verknüpften. Die Posten von Königsberg nach Berlin benutzten alte Handelswege, die von den Hansekaufleuten unterhalten wurden720. Briefe von Königsberg nach Ansbach wurden zu Zeiten Herzog Georg Friedrichs auf der Strecke von Danzig bis Lauenburg von Kaufleuten befördert, die regelmäßig durchzogen721. Von Küstrin ab wurden die Briefe durch sächsische „Postboten" bis Dresden weitertransportiert, von dort über Chemnitz und Zwickau bis Plauen von sächsischen Amtsbauern — in entsprechend langsamerem Tempo. In Plauen schließlich übernahmen Ansbacher Boten die Briefe und brachten sie ans Ziel. Dieser Kurs soll von etwa 1573 bis 1575 bestanden haben und 1577 wieder aufgerichtet worden sein722. 1589 wurde die Verbindung Königsberg — Ansbach neu organisiert und von Küstrin ab über Weimar und Saalfeld gelegt, so daß man die Dienste der Amtsbauern nicht mehr brauchte723. Durch Absprachen sicherte sich Herzog Georg Friedrich auch die Mitbenutzung der damals modernsten Posteinrichtung, der regelmäßigen Brief- und Nachrichtenbeförderung. Die Kaufleute Nürnbergs konnten in den siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts bereits regelmäßige Postbeförderung anbieten, also Post-„Kurse" im eigentlichen Sinne. Beispielsweise ging „die Post" im Jahre 1573 jeden Sonntag um zehn Uhr vormittags von Nürnberg aus in Richtung Nordosten ab und kam am Freitag, bei Eilbeförderung um höhere Gebühr sogar schon am Mittwoch, nach Leipzig724. Der Nürnberger Faktor des Herzogs Georg

Caspar Babolt an den Herzog, 29. Oktober 1562, EM 113 b 1, 16 r, Datierung nach dem Abschied ebenda 17 v; ders. an dens., 21. November 1563, ebenda 34 r sq, Datierung nach dem Abschied ebenda 35 v. 7 2 0 Gallitsch, Der Hamburg-Danziger Postkurs, GStAPK Rep. 92, N L Gallitsch, Nr. 14., passim. Handelsstraße und reitende Hansepost von Stolp nach Danzig: Koch, Alfred: Die deutsche Post im Memelland. Historischer Rückblick auf die Entwicklung des Postwesens 1230—1945, in: Archiv für deutsche Postgeschichte 8/1961, Heft 1, 10. 7 2 1 Zum Folgenden vgl. Gallitsch, Preußen, 89—91. 7 2 2 Gallitsch, Preußen, 19 f. 723 Gallitsch, Preußen, 102. 7 2 4 Zum Folgenden vgl. Gallitsch, Preußen, 87 f. 719

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Friedrich, Melchior Peundtner, vermittelte dem Herzog diese Dienstleistung. Peundtner berichtete, gegen entsprechendes Aufgeld könne die Kaufmannschaft auch die Weiterleitung über Posen, Danzig oder sogar bis Königsberg übernehmen. Die Beförderung über die gesamte Strecke von Nürnberg bis Königsberg sollte 17 Tage dauern und 17 Gulden kosten, Eilbeförderung in 15 Tagen 19 Gulden. Das System der kombinierten Staffeln arbeitete zwar vielleicht weniger zuverlässig als das der Botenstaffel oder der Einzelboten, da die Arbeit auf mehr Hände verteilt war. Dafür konnte auf Staffelstrecken ein regelmäßiger Postverkehr einsetzen, den die „personae publicae" gewiß zu schätzen wußten. Auch brauchte man für die kombinierten Staffeln nicht unbedingt besonders ausdauernde oder ortskundige Boten. Das System funktionierte gewissermaßen sachlicher, unabhängiger von Personen und persönlichen Beziehungen.

b) Nachrichtenbeschaffung Die zweite Möglichkeit, den Wert der informationellen Grundeinheit „Bote mit Nachricht" zu erhöhen, bestand darin, den Brief selbst möglichst dicht mit Informationen zu füllen und Nachrichten planmäßig für den Brief zu sammeln. Kaufleute und Diplomaten, in geringerem Maße auch Gelehrte, brauchten vielseitige Informationen und benutzten ihre Briefe auch zur Übermittlung politischer und wirtschaftlicher Nachrichten. Sie standen für gewöhnlich am Schluß des Briefs, oft nach einer überleitenden Formel725, manchmal auch in einer Anlage726. Der Empfänger konnte die Nachricht verwerten oder sie seinerseits abschreiben oder abschreiben lassen und weitergeben. In einem Bestand von „Zeitungen" an Herzog Albrecht befinden sich beispielsweise eine Zeitung, die der Königin Isabella von Ungarn geschrieben worden war727, und der Brief eines Antwerpener Kaufmanns an den Wittenberger Buchhändler Barthel Vogel728. Gelegentlich überschritt das Abschreiben und Weiterleiten politischer Nachrichten die Grenzen zur Spionage. Ein unbekannter Korrespondent berichtete im Februar 1552 an Herzog Albrecht, 725 Bsp.: Brief Michael Gieses an die Oberräte erwähnt beigefügte Zeitung, 16. Sept. 1588, EM 96 g 3, 1 r. 726 Wolf von Kotteritz an den Herzog, 21. [März] 1552, HBAJ 2, 978/22. 727 o. D., HBA Hk 914, VI. 16. 88. 728 o. D., HBA Hk 914, VI. 16, 90. Zur Herkunft Vogels vgl. Grimm 1615 f.

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I. Die Öffentlichkeit der Macht

Herzog Moritz von Sachsen habe sich mit den Franzosen verbündet und seinem Landtag das Vorhaben auseinandergesetzt, den Kaiser anzugreifen729. Dieser Brief dürfte einer der ersten Hinweise auf die bevorstehende „Fürstenrevolution" gewesen sein. Auch abgefangene Briefe wurden kopiert, manchmal sogar mitsamt den Formeln, die den Empfänger zur Vertraulichkeit ermahnten730. Den Informanten gab man namentlich oder auch in allgemeiner Form an: „von Nantzen [Nancy] wird auisirt"731; „Aus dem Haage"732; „Meylandische Brieff berichten"733; „sie scribunt boni et prudentes viri ex Italia"734. Die Ich-Form kam selten vor und kann zum Stil eines einzigen, vielleicht eines Kölner Korrespondenten gehört haben: „Auß dem Haag vernehme ich" 735 ; „So wurt mir von dannen [aus Aachen] geschriben"736. Bis ins 17. Jahrhundert wurden schriftliche Nachrichten noch sehr oft — außerhalb der Macht-Öffentlichkeit fast immer — durch Gelegenheitsboten weitergegeben. Politikern und vor allem Kaufleuten genügte die gelegentliche Nachrichtenübermittlung jedoch bald nicht mehr. Zwar gab es im 16. und frühen 17. Jahrhundert noch keine Spezialisten, die sich ausschließlich dem Sammeln und Auswerten von Nachrichten gewidmet hätten. Die „personae publicae" und die Kaufleute brachten jedoch viel Zeit damit zu. Sie gingen auch als erste dazu über, die „Zeitungen" vollständig vom Brief zu trennen und gesondert zu verbreiten. Gleichsam von Berufs wegen sammelten Geschäftsträger („Agenten") an ausländischen Höfen, Gesandte und andere Diplomaten Nachrichten für ihre jeweiligen Herren737. Aber auch gegen fremde Fürsten konnten sie sich als Nachrichtenzuträger („Korrespondenten") verpflichten. Sie wurden dafür mit einer festen Jahresbesoldung und gelegentlich mit wertvollen Geschenken bezahlt738. Die Bezahlung richtete sich also nicht

HBA J 2, 978/22, o. D. [nach Rosenmontag 1552], HBA He 908, 99 v. 7 3 1 HBA He 908, 24 r. 7 3 2 HBA Hh 912, VI. 16. 44 a. 7 3 3 HBA He 908, 14 r [1618], 7 3 4 HBA Hk 914, VI. 16. 96. 7 3 5 HBA Hm 915, VI. 16. 141, 26 r. 7 3 6 ebenda 16 v. 7 3 7 vgl. Bestallung für Wenzel von Dogken und Peter Cleymen, 4. April 1549, Opr. Fol. 917, 241. 7 3 8 zur Jahresbesoldung vgl. Kleinpaul, Johannes: Das Nachrichtenwesen der deutschen Fürsten im 16. und 17. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der Geschrie729 730

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nach Menge oder Häufigkeit der mitgeteilten Nachrichten. Die preußischen Agenten Wenzel von Dogken und Peter Cleymen erhielten 1549 ein festes Jahresgehalt von 50 Mark sowie Spesen („Zehrpfennig")739. Auch Kaufleute wurden für Territorialherren als Korrespondenten tätig. Große Handelshäuser wie die Fugger740 und Jeremias Grasser in Augsburg741 hatten ihr eigenes System der Nachrichtenbeschaffung742. Von Nürnberg gingen nachweislich von 1587 bis 1590 wöchentlich geschriebene Zeitungen aus743. Herzog Albrecht von Preußen als Territorialfürst „vhast in der wiltnus" — so seine eigene Formulierung744 — und in schwieriger politischer Lage brauchte dringend zuverlässige Nachrichtenverbindungen und nahm die Dienste von Korrespondenten verschiedenster Art in Anspruch. Er ließ sich von Kaufleuten Nachrichten zutragen wie von Hieronymus Schürstab in Nürnberg745 und einem Lübecker Korrespondenten, der Niederdeutsch schrieb746. Der Nürnberger Goldschmied Georg Schultheiß mußte für Albrecht nicht nur Schmuck und Kleinodien, sondern auch Nachrichten beschaffen747. Aus Krakau empfing Albrecht Nachrichten in polnischer Sprache748; vom Speyrer Reichstag von 1529

benen Zeitungen, Leipzig 1930, 120 f.; 127. Beispiele für Besoldungen und Spesenerstattung an Korrespondenten vgl. ebenda 155—161. Die Möglichkeit von Ehrengeschenken, ζ. B. zu Neujahr, erwähnt Kleinpaul ebenda 118 f. 739

Opr. Fol. 917, 242 r sq. Ein weiteres Beispiel für feste Bezahlung nennt Kleinpaul 13 (Korrespondent Johann Winter für Moritz von Hessen, Bezahlung 100 fl. jährlich). 740 Koszyk, Vorläufer, 35, Sporhan-Krempel, Lore: Nürnberg als Nachrichtenzentrum zwischen 1400 und 1700, Nürnberg 1968, 30 f. 741 Sporhan-Krempel 124. Grasser scheint ein „Nachrichtenbüro" mit für Lohn tätigen Schreibern unterhalten zu haben. Dazu vgl. auch Kleinpaul 22 f. 742 Sporhan-Krempel, 113 und 124. 743 Sporhan-Krempel 114. 744 Albrecht an Ludwig Senfl, 22. November 1535, Opr. Fol. 27, 339, zitiert nach: Thielen, Kultur, 87. 745 Fligge 19; Sporhan-Krempel 88 f. 746 H B A Hk 914, VI.16.105. Wohl 1534, da der Brief von der Wiedereinsetzung des württembergischen Herzogs berichtet. HBA H m 915, VI. 16. 140 [wahrscheinlich 1552, der Brief berichtet über den Friedensschluß zwischen Herzog Moritz von Sachsen und dem Kaiser]. 747 Sporhan-Krempel 83—87. 748 HBA H m 915, VI. 16. 44/c, o. D.

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I. Die Öffentlichkeit der Macht

erfuhr er in lateinischen „Zeitungen"749. Melanchthon bat er um Mitteilungen aus Wittenberg 750 . Weitere gelehrte Korrespondenten waren Justus Jonas 751 und Pierpaolo Vergerio, der aus Frankreich berichtete 752 . Herzog Georg Friedrich unterhielt als Markgraf von BrandenburgAnsbach Verbindungen zum Nürnberger Rat 753 . Sein Faktor in Nürnberg war Melchior Peundtner754. Auf dem Fürstentag zu Regensburg 1569 einigten sich mehrere Fürsten Augsburgischer Konfession — neben dem Markgrafen der Herzog Ludwig von Württemberg, Landgraf Wilhelm von Hessen, Pfalzgraf Friedrich, Markgraf Karl von Baden, Kurfürst Joachim von Brandenburg und Kurfürst August von Sachsen —, wechselseitig Nachrichten auszutauschen und einander auf diese Weise politisch auf dem laufenden zu halten755. 1590 ist der „Kanzleiverwandte" Georg Schlerid oder Schleriden aktenkundig756. Er diente als Musterschreiber in Polen und hatte sich verpflichtet, „Zeitungen" von dort zu schreiben. Sie sollten über Marienwerder nach Königsberg geschickt werden. Die meisten „Korrespondenten" für die preußischen Herzöge versahen ihren Dienst als Nebenbeschäftigung. Der erste Korrespondent, dessen Bestallung ausschließlich die Verpflichtung zur Mitteilung von „Avisen" enthielt, war ein als Capitain La Blanque bezeichneter Militär 757 . Die preußische Regierung schickte ihn im Jahre 1611 nach Smolensk, woher er als eine Art von Kriegsberichterstatter „Avisen" über die polnisch-schwedischen Auseinandersetzungen liefern sollte. Der kurfürstli-

749

H B A H m 915, VI. 16. 137. Datierung wahrscheinlich, da von der Gefährdung

Wiens und vom Friedensschluß zwischen dem Kaiser und dem König [von Frankreich] gesprochen wird. 750

Rehberg 2.

751

H B A A 4, 237, Briefe Jonas' an Herzog Albrecht vom 23. April 1559 und 4. Mai

1559. 752

H B A J 2 999, Briefe Vergerios an Herzog Albrecht vom 18. Januar 1561 und 15.

Februar 1562, zitiert nach Fligge 464 f. 753

Sporhan-Krempel 44 f.

754

zu ihm Sporhan-Krempel 89; außerdem vgl. Schreiben Georg Friedrichs an die

Oberräte, 14. Oktober 1587, EM 113 d 6, 4 r, Adreßblatt 7 v, datiert 4 v. 755

Zum Folgenden vgl. Kleinpaul 40.

756

Zum Folgenden vgl. Schreiben Georg Friedrichs an Burggraf und Amtsschreiber

zu Marienwerder, 3. Juni 1590, EM 94 ρ 6, 1 r sq. 757

Zum Folgenden vgl. Schreiben der Oberräte an Capitain La Blanque, Akten-

vermerk vom 3. Juni 1611, EM 113 f 14, passim, Datierung Seite 2.

Verbreitungsstrukturen:

Post- und Nachrichtenwesen

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che „Diener" Salomon Leuper758 wurde 1609 zur Berichterstattung aus Moskau und Smolensk verpflichtet759. Mindestens seit 1610 schickte er aus dem königlich polnischen Feldlager Nachrichten nach Königsberg760. 1609 berichtete ein „Feldt Obrist" Chodkiewickz aus Pommern761 an die preußischen Regenten. Uberall, wo und sobald es einen regelmäßigen Postdienst mit feststehenden Zeiten gab, konnten Nachrichten auf den Posttermin hin gesammelt werden, so daß ein regelmäßiger Avisendienst entstand762. Die ersten gedruckten periodischen Nachrichtensammlungen im deutschen Sprachgebiet waren die Rohrschacher Monatsschrift763 und die halbjährlichen Meßrelationen des Michael von Aitzing in Köln764. In Preußen gab es keine bedeutende Messe und daher keine Notwendigkeit zu dieser Art der Periodizität. Wie andere größere Städte erhielt aber auch Königsberg sehr bald nach 1600 periodisch handgeschriebene Nachrichten. Die Adelsfamilie Dohna soll schon zu Ende des 16. Jahrhunderts im Abstand von jeweils acht Tagen „ordinari Zeitungen", also handgeschriebene Nachrichten, erhalten und für Freunde und Bekannte abgeschrieben und verschickt haben765. Der erste Hinweis auf regelmäßige Zustellung

758 so genannt in einem Schreiben der Oberräte an den Kurfürsten, 16. Februar 1611, EM 121 a 106, 32 r. Ferner vgl. Dohna, Selbstbiographie, 176. 759 Schreiben der Regenten an Kurfürst Johann Sigismund, 22. Dezember 1609, EM 121 a 106, 1 r. Weitere Briefe der Regenten an den Kurfürsten mit Erwähnung Leupers 8. Juni 1610, EM 121 a 106, 23 r. A. Borck an Oberburggraf Fabian von Dohna d. A. und Christoph Rappe, 28. August 1610, ebenda 10 r. Hofmeister und Burggraf an den Kurfürsten, 22. September 1610, ebenda 11 r sq.; Regenten an den Kurfürsten, 16. Februar 1611, ebenda 32 r sq.; Burggraf, Marschall und Kanzler an den Kurfürsten, 15. Juni 1611, ebenda 34 r sq. 760 Oberräte an den Kurfürsten, 16. Februar 1611, EM 121 a 106, 32 r. 761 EM 121 a 106, 8 r, datiert 9 v: 13. Oktober 1609. Zu Beruf und Stellung Chodkiewiczs vgl. Schreiben der Regenten an Kurfürst Johann Sigismund, 19. Dezember 1609, ebenda 2 r sq. 762 dazu auch Kieslich, Gunter: Berufsbilder im frühen Zeitungswesen. Vorstudien zu einer Soziologie des Journalismus zwischen 1609 und 1615, in: Publizistik 11/1966, 253. 763 Lindemann 84 f; Koszyk, Vorläufer, 23. 764 Lindemann 82; Koszyk, Vorläufer, 47. 765 Dohna, Fabian: Die Selbstbiographie des Burggrafen Fabian zu Dohna (* 1550— 11621) nebst Aktenstücken zur Geschichte der Sukzession der Kurfürsten von Brandenburg in Preussen aus dem fürstlich dohnaischen Hausarchiv zu Schlobitten, hg. von Cfhristian] Krollmann, Leipzig 1905, S. 138, Anm. 1.

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von Avisen nach Königsberg stammt aus dem Jahre 1603766. Damals verpflichteten sich die Elbinger Bürger Michael von Elbing und Georg Rieden, in einer Art von Staffel regelmäßig die Avisen von Danzig nach Preußisch Holland zu bringen. Von dort sollten die Avisen „vf der verordenten post" nach Königsberg transportiert werden. Die Berichterstattung Leupers aus Moskau und Smolensk und die Avisen aus dem Lager der Schweden in den Jahren 1609 und 1610767 weisen kein erkennbares Regelmaß auf. Doch schon in der Zeit von 1612/13 bis 1618 kamen numerierte Avisen nach Königsberg768. Das Auftreten von Numerierungen wertet die Forschung als Anzeichen dafür, daß das Bewußtsein von der Einheitlichkeit und sozusagen dem selbständigen Wesen eines Nachrichtenorgans erwachte769. Der Beginn einer der Avisenreihen läßt sich ungefähr erschließen, weil die „Nr. 49" vom 31. Dezember 1615 datiert770. Die übrigen erhaltenen Nummern können nur nach Datum und Ort der letzten angefügten Nachricht identifiziert und ungefähr datiert werden. Der Abstand zwischen ihnen dürfte etwa eine Woche betragen haben. Da von 17 „letzten" Nachrichten in Avisen von 1612/13 bis 1618 sechs aus Köln an der Spree datieren, läßt sich diese Avisenreihe mit hoher Wahrscheinlichkeit dem brandenburgischen Postmeister Christoph Frischmann771 als Korrespondenten zuweisen. Er hatte sich gegen die preußische Regierung zur regelmäßigen Lieferung von Avisen verpflichtet und 1613 das erste Gehalt dafür bezogen772. Aus der Zeit um 1617/18 existiert eine zweite Avisenreihe mit Nummern, deren „jüngste" Nachrichten aus Prag stammen773. Dort kann also der Sitz eines weiteren Korrespondenten vermutet werden. Die „Nr. 3" dieser Avisenreihe

7 6 6 Zum Folgenden vgl. Schreiben von Hofmeister, Burggraf und Marschall an Georg Rieden, 12. Dezember 1603, EM 113 f 14, passim. 7 6 7 EM 121 a 106. 7 6 8 HBA Hm 915, VI. 16. 141, und HBA He 908. 7 6 9 Rosenfeld, Hellmut: Flugblatt, Flugschrift, Flugschriftenserie, Zeitschrift. Die „Hussiten-Glock" von 1618 im Rahmen der Entwicklung der Publizistik, in: Publizistik 10/1965, 556—580; Koszyk, Vorläufer, 47. Ähnlich schon Walz, Kurt: Die älteste Zeitung Ostpreußens, in: Zeitungswissenschaft 15/1940, 459. 7 7 0 HBA He 908, 27 v, Datierung des Adreßblatts. 7 7 1 Sein Amt nennt er in seinem Schreiben an den Kanzler vom 18. Dezember 1613, EM 113 b 2 4 , 1 v. 7 7 2 Frischmann an den Kanzler, 18. Dezember 1613, EM 113 b 24, 1 r. Zeitung von Frischmann vom 15. Januar 1612 aus Frankfurt/Oder: HBA He 908, lv. 7 7 3 HBA He 908.

Verbreitungsstrukturen: Post- und Nachrichtenwesen

141

nennt als einzige eine Jahresangabe774. Eine Nachricht aus Paris datiert vom 24. Dezember 1616, die letzte Nachricht stammt aus Prag vom 18. Januar [1617].

3. Leistungen des preußischen Post- und Nachrichtensystems a) Beteiligte Entsprechend den verschiedenen Stufen der organisatorischen Entwicklung hatten die preußischen Herzöge verschiedene Möglichkeiten, Botendienste in Anspruch zu nehmen: den adligen Gelegenheitsboten, den zum Fuhrdienst verpflichteten Bauern und den eigenen Botendienst. Gelegenheitsboten und Bauern standen den Herzögen selbstverständlich zur Verfügung. Amtshauptleute, vor allem in den Grenzämtern, leiteten Post weiter775 und schickten gelegentlich selbst Boten776. Nur der herzogliche Botendienst ist daher als eigenständige Leistung der herzoglichen Post anzusehen. Die Anfänge des herzoglichen Boten- und Postwesens liegen im dunkeln. Möglicherweise versahen die Boten des Deutschen Ordens einfach weiter ihren Dienst. Der Bote Hans Wagner von Wunsiedel, genannt Samtschopf, gab in einem Gesuch an den Herzog 1545 an, er habe 23 Jahre lang im Dienste Albrechts gestanden777, also seit 1522 und damit noch seit Ordenszeiten. Aus dem Jahre 1540 stammt die Dienstverpflichtung des Boten Hans Henitz auf ein Jahr778; eine ähnliche Verpflichtung gibt es für den Boten Till Lang aus dem Jahre 1549/50 779 . Doch erst für die sechziger Jahre des 16. Jahrhunderts läßt sich ein differenziertes Boten- und Postsystem des Herzogs belegen, das verschiedene Tätigkeiten und Positionen kannte.

774

Zum Folgenden vgl. H B A He 908, 10 r.

775

Ausschreiben des Herzogs Georg Friedrich an die Amter Brandenburg, Balga,

Holland, Preußisch Mark, Riesenburg, Marienwerder, Hohenstein,

Neidenburg,

Soldau, Liebstadt und Osterode, 21. Januar 1587, EM 113 f 6, 1 r sq. 776

ehemals Kunheimischer Bote erwähnt

777

Zum Folgenden vgl. EM 113 b 1, 48 r—49 v.

778

E M 113 b 11.

779

E M 113 b 10, l r sq.

776

Opr. Fol. 14231, 14 r; 11 r sq; 25 r.

142

I. Die Öffentlichkeit der Macht

An der Spitze des herzoglichen Boten- und Postwesens stand — nach der Botenordnung von 1559 — ein „geselle" der Kanzlei 780 , der das Botenbuch führen, die Post quittieren und abfertigen mußte. Die Pflicht dazu sollte halbjährlich unter den „gesellen" wechseln, das Amt war also noch nicht ständig. Ein ständiges Amt eines Mannes, „so die Bothen in Befehlich hat", sah erst die Kanzleiordnung von 1582 vor 781 . Seit dieser Zeit kennt man die Namen preußischer Post- und Botenmeister. Bis 1619 amtierten nacheinander Leonhard Gögitz d. J. 782 , Georg Schumann 783 , Thomas Roeder 784 und Gottfried Blankenfeld785. An den Besoldungen läßt sich die Preissteigerung des frühen 17. Jahrhunderts ablesen: Gögitz bezog 1582 ein festes Gehalt von jährlich 14 Mark; außerdem bekam er ein Hofkleid und Anteile an den Kanzleigefällen786. Blankenfeld erhielt 1624 eine Jahresbesoldung von 143 Mark 48 Schilling, dazu drei Mark Kostgeld wöchentlich und ein Hofkleid 787 . Daß es neben dem Botenmeisteramt in Preußen ein eigenes Amt des Postmeisters gegeben habe, wie Gallitsch behauptet788, geht aus den erhaltenen Akten nicht hervor. Analog zur Unterscheidung von Post- und Botenmeisteramt nimmt Gallitsch mehrere getrennte Botensysteme an: Kanzlei- und Postboten, Ämter- und Schulzenpost789. Diese rein begriffliche Unterscheidung fin-

780

Zum Folgenden vgl. Opr. Fol. 14231, 1 r—2 r, Botenordnung 1559.

781

Ordnung von 1582, EM 19 a 36, 91 r und 94 r sq.

782

Alle Namen bis zu Röder sind aufgeführt in einem Verzeichnis der Hofbedien-

steten, [Ende 16. Jh.], Opr. Fol. 13063, 194 r. Gögitz' Name wird außerdem erwähnt in einem Aktenvermerk vom 25. Juli 1583, 113 b 1, 87 v. 783

Gallitsch, Brandenburg, 231.

784

Gallitsch, Botenwesen Preußen, 83; ders., Botenwesen Brandenburg, 231, gibt

Roeders Dienstzeit mit 1585—1624 an. Das kann aber nicht stimmen, da das Verzeichnis der Hofbediensteten, Opr. Fol. 13063, 194 r den Abschied Schumanns aus dem Botenmeisteramt am 25. Mai 1593 aufführt, danach sei Roeder Botenmeister geworden. 785

genannt in einem Hofstaatsverzeichnis von Ostern 1624, Opr. Fol. 13065, 28 v;

vgl. Gallitsch, Brandenburg, 231 786

Gallitsch, Brandenburg, 231.

787

Opr. Fol. 13065, 28 v.

788

Gallitsch, Botenwesen Brandenburg, Π; 311; 361.

789

Zum Folgenden vgl. Gallitsch, Botenwesen Brandenburg, 311. Ebenda 407 wird

sogar zwischen Ämter- und Schulzenpost unterschieden. Gallitsch, Preußen, 99, unterscheidet ebenfalls zwischen Post- und Kanzleiboten, wobei vielleicht mit den Postboten Postreiter oder im „Ausland" verpflichtete Boten gemeint sind.

Verbreitungsstrukturen: Post- und Nachrichtenwesen

143

det sich jedoch in den Akten in dieser Form nicht wieder. Die Post- und Botenbücher unterscheiden schon dem Namen nach nicht zwischen Kanzlei- und Postboten. Von dem Kanzleiboten Hans Hunold, der 1592 steckbrieflich gesucht wurde, wird erwähnt, daß er „vnnser Dhoosen gleich denn andern vnsern geschwornen potten füret"790. Diese Dose sieht Gallitsch aber als Kennzeichen der „Post"-Boten an791. Die Unterscheidung zwischen Kanzlei- und Postboten läßt sich nicht halten. Zwar existierten besondere Eidesformeln für Boten, die nicht zur Kanzlei gehörten792. Die besonderen Formeln galten aber ausschließlich für die im Ausland verpflichteten Boten einer Staffel. Sie sprechen daher nicht für das Bestehen zweier getrennter Botensysteme. Nach der Terminologie der Quellen kann man von einem einzigen System des Post- und Botenwesens sprechen. Statt die einzelnen Teile dieses Systems nach ihrer Funktion oder bestimmten Charakteristika der Boten zu unterscheiden, empfiehlt sich die einfache Unterscheidung nach dem Mittel der Nachrichtenbeförderung. Demnach gab es drei Arten herzoglicher Boten: reitende, laufende und fahrende. Die reitenden Boten nannte man „Postreiter"793. Aktenkundig wurden nur wenige, etwa der berittene Bote Endreß 1536794, Hieronymus Horn um 1550795, die Postreiter Sigmund Tolck 796 und Caspar Goede797

Steckbrief für Hans Hunold, 12. Oktober 1592, EM 19 b 159 a, 13 r, datiert 13 v. Gallitsch, Brandenburg, 388. 7 9 2 Kanzleiboteneid 1619: EM 19 a 39, 4 r—5 r. Eide für andere Boten: Boteneid Jacob Beckmanns „mit der einen Hand", 31. Januar 1540, EM 15 b 79, 3 r / 4 r. Eide der laufenden Boten von 1562—1568, Opr. Fol. 13035, 18 r—19 r. Eid der Postreiter nach Pillau, o. D., EM 113 a 1, 11 r. „Eydt, Der Bothen, so auff die Post zwischen Marienwerder und Falckenburg gelegt", o. D. [1586], EM 113 b 2 , 1 r—2 r. 790

791

Opr. Fol. 14231, 61 ν sq [1576]. Botenregister, EM 113 f 11, 6 r—7 v, 24. November o. J.; Datierung nach Gallitsch, Preußen, 77, er heißt dort Ende[r]li, in 113 f 11, 6 r heißt er „Endreß Bot" und „Enderli Bot". 7 9 5 Gallitsch, Brandenburg, 237. 7 9 6 Opr. Fol. 13063, 335 r. Ungefähr datierbar, weil nach Hans Hunold (t 1592, vgl. Anm. 790) auf fol. 233 r zwei weitere Boten genannt sind. ^ P p r . F o l . 13063, 336 r, Gallitsch, Brandenburg, 310.Goede wird erwähnt im Empfehlungsbrief von Michael Giese, 6. Juli 1588, EM 113 b 1, 93 r sq. 793

794

144

I. Die Öffentlichkeit der Macht

um 1600 oder die Brüder Thomas und Jan Mazinski 1606798. Die meisten Namen erscheinen nur einmal, so daß sich, außer im Falle Horns799, nicht ermitteln läßt, wie lange die Postreiter dienten. Gallitsch vermutet in Horn einen adligen „Knappen"800 und damit gewissermaßen einen späten Nachfahren der „Bryffjongen", die ebenfalls adlig gewesen sein sollen801. Da die Postreiter ihre „Klepper" auf eigene Kosten beschaffen mußten802, müssen sie über ein gewisses Vermögen verfügt haben. Unter den laufenden Boten gab es stets nur wenige fest besoldete und sehr viele Gelegenheitsboten. Laut dem Post- und Botenbuch, das 1559 begonnen wurde, hatten sich ständig vier „geschworene Boten" und vier Beiboten — sozusagen Lehrlinge im Botendienst — der Kanzlei zur Verfügung zu halten803. Um 1600 dienten in der Kanzlei sechs geschworene und drei Beiboten804. 1624 führte das Hofstaatsverzeichnis sechs geschworene Boten, zwei „Kanzleijungen" und einen „Kanzleiknecht" auf805. Die Post- und Botenbücher sowie die Botenakten nennen jedoch sehr viel mehr Namen. Für die kurze Zeit von 1560 bis 1565 erscheinen zum Beispiel im Botenbuch sechzehn verschiedene Namen laufender Boten, dazu drei von Postreitern und ein adliger Bote, nicht gezählt diejenigen, die ausdrücklich als fremde Boden gekennzeichnet sind806. Entweder dienten die Boten jeweils nur für außerordentlich kurze Zeit, oder — was wahrscheinlicher ist — es arbeitete neben den acht fest besoldeten Boten und Beiboten eine große Zahl von Gelegenheitsboten für den Herzog. Neben reitenden und laufenden Boten gab es spätestens in den sechziger Jahren des 16. Jahrhunderts auch Fuhrleute im Postdienst, die keine 798

zu Jan Mazinski vgl. EM 113 f 15, von fremder Hand datiert. Zu Thomas M. vgl.

Brief des Thomas Mazinsky an den Kurfürsten, o. D., EM 113 b 1, 114 r; Erwähnung seines Bruders „Hans Massinskij" ebenda 114 v. 799

Horn diente etwas über ein Jahr, Horn an den Fürsten, Abschied datiert vom

4. Februar 1553, E M 113 b 12, 1 r sq. 800

Gallitsch, Brandenburg, 237; Galllitsch, Preußen, 63.

801

Gallitsch, Preußen, 63; ebenso Bundes-Postmuseum, Nachlaß Gallitsch, Ε 13/1,

Nr. 6, S. 69. 802

Spesenrechnung eines Unbekannten von 1566, der einen Knecht mit eigenen

Pferden fortschickte, EM 113 b 1, 60 r, Abschied datiert 23. November 1566. 803

Opr. Fol. 14231, 1 r.

804

Opr. Fol. 13063, 218 r / 224 r. Ungefähr datierbar, weil nach Hans Hunold

(f 1592, vgl. Anm. 790) auf fol. 233 r zwei weitere Boten genannt sind. 805

Hosfstaatsverzeichnis von Ostern 1624, Opr. Fol. 13065, 32 r.

806

Opr. Fol. 14231, 2 r—29 v.

Verbreitungsstrukturen: Post- und Nachrichtenwesen

145

scharwerkenden Bauern waren. 1577 wird ein Bote Christoph mit dem Beinamen „Einspänniger" im Botenbuch geführt807. Amtsbezeichnungen wie „Fuhrmann"808, „Einspänniger"809 und „Mitfuhrmann"810 bezeugen, daß es sich um eine Funktion am herzoglichen Hof handelte. Der Mitfuhrmann erhielt die Hälfte der Besoldung eines Fuhrmanns, 4 Mark pro Quartal, und wird daher eine Art Anwärter auf den Fuhrmannsdienst gewesen sein. Nach der Weiterentwicklung des Botendienstes vom „Ein Mann, ein Weg"-System zur Staffel mußte der Herzog auch auswärtige Bürger zum Postdienst verpflichten und besolden. 1586 begannen die Boten Bartelt Lübbenau, Andreas Hase und Georg Han den Staffeldienst zwischen den Städten Marienwerder und Landeck auf der Strecke von Königsberg nach Ansbach811. Botendienste durch fremde Boten wurden nicht besonders abgegolten, sondern beruhten auf Gegenseitigkeit812. Das Netz der Korrespondenten und „Agenten" Herzog Albrechts ist bis jetzt nur bruchstückhaft bekannt. Informationen aus dem Nachrichtenzentrum Nürnberg erreichten ihn über die Nürnberger Ratsherren Veit Dietrich813 und Hieronymus Schürstab814 sowie den Goldschmied Georg Schultheiß815. Schultheiß erhielt eine feste Jahresbesoldung von 50 Mark preußisch und einem Hofkleid, vielleicht aber nicht speziell für die Nachrichtenübermittlung, sondern für seine gewöhnliche Handwerksarbeit. Vornehme Korrespondenten im fürstlichen Dienst durften ein jährliches „Ehrengeschenk" erwarten816. Die Folianten der „Verschreibungen" aus Herzog Albrechts Zeiten enthalten verstreut Formu807

Opr. Fol. 14231, 62 r.

808

Hausvogt Bonifatius Daubmann an den Obermarschall, 21. Januar 1604, E M 113

b 1, 2 v. 809

Michael Giese an die Oberräte , 16. September 1588, E M 96 g 3, 1 r.

810

Zum Folgenden vgl.Schreiben des Mitfuhrmanns Lorenz Brincke an den Ober-

marschall, datiert nach dem beigefügten Schreiben Bonifatius Daubmanns, 21. Januar 1604, E M 113 b 1 , 1 r sq. 811

17. November 1586, EM 113 a 1, 10 r.

812

Kurfürst Joachim Friedrich empfahl dem Herzog Philipp von Pommern ein sol-

ches Verfahren. Joachim Friedrich an Herzog Philipp, 13. Juli 1615, Staatsarchiv Stettin, Rep. 4 Pars I Tit. 30 Nr. 57, tit. 7 , Nr. 22, zitiert nach Gallitsch, BPM N L Gallitsch, Bibl. I Caa—08, Anlage 8. 813

Bsp.: H B A A 4 220, 3. Dezember 1548. Eingelegt ein Brief von Brenz.

814

Fligge 19.

815

Zum Folgenden vgl. Sporhan-Krempel 83—87.

816

Kleinpaul 118 f.

146

I. Die Öffentlichkeit der Macht

lare für die Bestallung von „Agenten"817. Zu den Pflichten dieser Hofleute im diplomatischen Dienst gehörte auch die Beschaffung von Nachrichten. Herzog Albrechts Nachfolger verließen sich ebenfalls auf hochrangige „Agenten". Daneben bedienten sie sich des nun schon rationalisierten Systems des Zeitungensammelns, wie es die Kaufleute aufgebaut hatten. Wenn der Schreiber der Zeitung die Nachricht nicht mehr selbst einholte, sondern nur noch abschrieb, brauchte der Korrespondenzdienst im engeren Sinn nicht mehr in den Händen von Diplomaten zu liegen, sondern konnte auf niedriger besoldete Personen übergehen. Diese bleiben allerdings meist anonym. Die ersten regelmäßigen Avisen, die anfangs des 17. Jahrhunderts nach Preußen gelangten, stammten aus Berlin von Christoph Frischmann und aus Prag. Die Besoldung Frischmanns stand fest, wurde aber unregelmäßig ausgezahlt. Die Besoldung des Prager Korrespondenten ist unbekannt.

b) Reichweite der herzoglich preußischen Post- und Nachrichtenverbindungen Herzog Albrecht ließ das Boten- und Postwesen aus der Ordenszeit prinzipiell weiterbestehen, baute es aber nach Reichweite und Leistungsfähigkeit aus. Die Amterpost mit ihrem Staffelsystem der Bauernfuhren blieb als Einrichtung erhalten. Darüber hinaus nimmt Gallitsch schon für die frühe Herzogszeit fünf „Postkurse" an, nämlich 1. Königsberg — Wehlau — Tilsit und 2. Königsberg — Tapiau — Insterburg — Ragnit, von wo die Post nach Wilna weitergeleitet worden sei, ferner 3. Königsberg — Domnau — Rastenburg — Rhein, 4. Königsberg — Domnau — Orteisburg und 5. Königsberg — Holland — Preußisch Mark mit Zweig-Kursen nach Deutsch Eylau — Osterode — Hohenstein — Soldau — Gilgenburg und nach Marienwerder818. Zumindest für die frühe Herzogszeit führt die Bezeichnung „Kurs" jedoch eher in die Irre, da es einen regelmäßigen Postdienst frühestens zu Zeiten Herzog Georg Friedrichs gab. Die Strecke Königsberg — Heiligenbeil — Preußisch

8 1 7 Ζ. B. für Wenzel von Dogken [?] und Peter Cleymen, 4. April 1549, Opr. Fol. 917, 241 v. 8 1 8 Gallitsch, Preußen, 121. Als Quelle gibt Gallitsch Opr. Fol. 1234 an, was aber nicht stimmt — der Foliant enthält „Kammersachen" der Zeit 1632—1634.

Verbreitungsstrukturen:

Post- und

Nachrichtenwesen

147

Holland — Preußisch Mark — Riesenburg — Marienwerder gehörte tatsächlich zu den am meisten benutzten Strecken im Herzogtum819. Die Verbindung Domnau — Orteisburg dagegen ist eher unwahrscheinlich, da 1576 die in Orteisburg ankommenden Briefe aus Warschau nicht über Domnau, sondern über Hohenstein nach Königsberg weitergeleitet werden sollte"820. 1588 bestand eine reitende Post zwischen Rhein und Lyck821, wo wiederum Briefe nach Grodno zusammenliefen822. Die Verbindung Preußisch Holland — Elbing — Danzig ist erst für den Avisenverkehr ab 1603 belegt823, bestand aber vermutlich schon früher. Die Verbindung Königsberg — Danzig über die Frische Nehrung richtete Christoph Frischmann 1616 ein824, ebenso einen festen Postkurs von Königsberg nach Berlin825. Die wichtigsten mittelosteuropäischen Postverbindungen liefen über Küstrin und Frankfurt/Oder oder durch Pommern nach Berlin sowie nach Pilten. Von Marienwerder über Graudenz — Thorn — Gnesen —Posen — Breslau826 führte eine schon zu Ordenszeiten benutzte Handelsstraße827. An sie schlossen der Ansbacher Postkurs und die Verbindung nach Leipzig und Nürnberg an828. Der Kurs nach Ansbach, 1574

Vgl. Schreiben Fabian Brolhöfers an Herzog Albrecht, 1. August 1541, EM 51 ρ 1, 1 r sq; Schreiben der Oberräte an den Burggrafen zu Marienwerder, 14. Oktober 1589, EM 113 a 3, 1 r; Oberräte an den Amtmann von Preußisch Holland wegen der Post nach Elbing und Königsberg, 12. Februar 1591, EM 51 ρ 2, 5 r und 6; ebenda passim: Weiterleitung von Briefen zwischen Elbing und Königsberg über Preußisch Holland in den Jahren 1587, 1590 und 1591. 820 Postreiter Thomas Schulz an die Oberräte, 11. April 1576, EM 113 a 20, 20 r sq., mit Abschied. 821 Oberräte an den Burggrafen zu Lyck, Gregor Hüsingk, 31. Dezember 1588, EM 113 d 7, 2 r, datiert 3 v. 822 nach Grodno: EM 93 ρ 1, passim (1586—1589); Oberräte an den Burggrafen von Lyck, Gregor Hüsingk, 31. Dezember 1588, EM 113 d 7, 1 r—2 v. 823 Schreiben der Oberräte an Georg Rieden in Elbing, 12. Dezember 1603, EM 113 f 14, passim, datiert 1 v. 824 Benkmann 23. 825 Stephan 13. Koch, Alfred: Die deutsche Post im Memelland, 10 leitet aus der Erwähnung von Boten nach Königsberg in der preußischen Botenordnung vom 20. Juni 1614 ab, daß es diesen Kurs schon 1614 gegeben habe. 826 Strecke genannt in einem Brief Steffen Kannengießers an den Oberburggrafen, o. D, EM 113 a 2. 827 Gallitsch, Preußen, 9 f, und 64. 828 Opr. Fol. 14231, 41 v; Gallitsch, Preußen, 10. 819

148

I. Die Öffentlichkeit der Macht

eingerichtet829, ging über Dresden — Zwickau — Plauen — Hof 830 , ein späterer (1589) über Weimar und Saalfeld831. Als Kurfürst Joachim Friedrich sich um die Nachfolge des Herzogs Wilhelm von Jülich bewarb, ließ er 1593 eine Post nach Düsseldorf legen, deren Weg Wittenberg, Bitterfeld und Halle passierte832. Die Verbindung muß allerdings früher bestanden haben, entweder durch Kaufmannspost oder nach dem „Ein Mann, ein Weg"-Prinzip. Ein Schreiben aus Düsseldorf bestätigte 1592 den Empfang von Briefen aus Berlin, aber auch solcher, die als „zu Halle empfangene" bezeichnet werden833. Der Bote hatte demnach auf dem Weg nach Düsseldorf in Halle Briefe aufgenommen. Die ein Jahr später gelegte Post folgte also wahrscheinlich einer bereits bekannten und bewährten Strecke. Botenwege einzelner führten über das lose Netz der häufig befahrenen Straßen weit hinaus, nicht nur in die abgelegenen Ostgebiete Preußens834. Zu den polnischen Reichstagen in Petrikau835, Warschau und Krakau 836 sowie gegebenenfalls zur polnischen Residenz in Wilna 837 oder Knischin 838 bestanden zeitweise Post- oder Botenverbindungen. Herzog Albrecht pflegte die ihm politisch wichtigen Verbindungen nach Riga839 — das er evangelisch zu machen suchte, — und nach Dänemark und

Auftrag zur Einrichtung des Postkurses an Melchior Peundtner 1573: Gallitsch, Preußen, 373. Postzettel von 1574, bezeichnet: 343 Β 2, Bl. 1—5, zitiert nach Gallitsch, Brandenburg, Anlage bei S. 91. 8 3 0 Gallitsch, Brandenburg, 88 f.; 373 f. 8 3 1 EM 113 e, zitiert nach Gallitsch, Preußen, 103. 8 3 2 „Verzeichnus wie die Posten auß Gülich zubestellen", o. D., HBA Konz. Κ 6 1330, [Jahr] 1593, 1 r sq. 8 3 3 Zum Folgenden vgl. Verzeichnis von Briefen aus Berlin an die Herzogin, HBA Konz. Κ 6, 1330, 26. Mai 1592, 32 v. 8 3 4 ζ. B. nach Ragnit zur Weiterleitung von Briefen nach Livland, 8. Januar 1566, Opr. Fol. 14231, 30 r. 8 3 5 im Jahre 1563: Opr. Fol. 14231, 21 r; 22 r. 8 3 6 Matz Kaminski an den Herzog, Aktenvermerk vom 18. Dezember 1588, EM 113 b 1, 89 r—90 v. 8 3 7 Opr. Fol. 14231, 23 v—25 v. (1563). 8 3 8 Opr. Fol. 14231, 35 r (4. Juli 1567). 8 3 9 HBA D 636 und D 645; eine spätere Verbindung belegt der Paß für Friedrich Kanitz nach Riga, 28. Februar 1575, EM 113 b 1, 75 r sq. 829

Verbreitungsstrukturen: Post- und Nachrichtenwesen

149

Schweden840. Herzog Georg Friedrich ließ 1579 die Posten nach Mitau und Grobin auch deshalb legen, um „eylende vnnd gewisse Kundtschafft" vom polnisch-russischen Krieg um Livland zu erhalten841 — der Rat Niklas Schulz hielt sich eigens zur Nachrichtenbeschaffung im Feldlager des polnischen Königs auf. Einzelne Botenwege in die protestantischen Städte Deutschlands, nach Wittenberg842, Braunschweig843, Magdeburg, Lübeck und Hamburg 844 , dienten wahrscheinlich der Verständigung in Religionssachen. Nach Westen müssen Verbindungen bis nach Frankreich bestanden haben845. Was die eigene Post an Nachrichtenverbindungen nicht herstellen oder aufrechterhalten konnte, suchten Herzog Albrecht und seine Nachfolger durch Korrespondenten und mit Hilfe des kaufmännischen Nachrichtenverkehrs zu erreichen. Die ausgedehnte Korrespondenz Herzog Albrechts nach dem Reich846, Polen847, Livland und in die skandinavischen Länder848 beweist, daß er sich mehr auf eigene als auf fremde Nachrichtengeber verlassen mochte. Mindestens in Riga849, Lübeck850 und Nürnberg 851 unterhielt er eigene Korrespondenten. Erhard von Kunheim berichtete ihm aus Wilna852. Namentlich genannt werden in den „Zeitungen" ferner Dr. Carl Drachstedt, der vom Augsburger

840

Jacob Beham Einspänniger an den Herzog, o. D., EM 113 b 1, 23 r sq; Quartalsbezahlung für einen Briefboten nach Dänemark, Abschied 23. November 1566, EM 113 b 1, 60 r, datiert 61 r. 841 Zum Folgenden vgl. Schreiben Herzog Georg Friedrichs an die Regimentsräte, 29. September 1579, StA Bamberg C 3 Nr. 257 Π Pr. 193, pag. 14. 842 Caspar Babolt an den Herzog, Abschied vom 11. April 1562, EM 113 b 1, 25 r— 26 v. 843 Opr. Fol. 14231, 44 ν (1570). 844 Opr. Fol. 14231, 59 ν (Februar 1576). 845 Unterhaltsgesuch der Katharina Backfarkin, deren Mann in Frankreich unterwegs war, datiert im Abschied 22. Oktober 1553, EM 113 b 1, 36 r—38 v. 846 Jähnig 9—13. 847 Jähnig 8 f. 848 Jähnig 10; Carlsson, passim. 849 Wenzeslaus Schacke 1563, HBA D 645, Mappe 4. Nachrichtenbrief von Lomoller aus Riga an Polentz, 22. Juli 1525, Tschackert, Urkundenbuch 2,127. 850 HBA Hm 914, VI. 16. 140, o. D. 851 Jähnig 9. 852 vgl. Briefe Kunheims an Herzog Albrecht vom 11. August und 1. Oktober 1560, gedruckt bei Wotschke[, Theodor]: Abraham Culvensis. Urkunden zur Reformationsgeschichte Lithauens, in: AMS 42/1905, 221 f. und Anmerkungen.

150

I. Die Öffentlichkeit der Macht

Reichstag 1555 berichtete 853 , Moritz Danitz aus Wollin 8 5 4 , der Diplomat Hans Nimptsch 855 und Georg Rexin, der von der Kaufmannsfamilie Loitz in Danzig Nachrichten empfangen hatte 856 . Auch die brandenburgischen Verwandten versorgten Albrecht mit Nachrichten. V o m Tod des Herzogs Moritz v o n Sachsen (1553 857 ) berichtete ihm eine „newe zeytung von meynem lieben Vetter Marggraff Albrecht" 858 . Mit den Bischöfen v o n Ermland begann der Nachrichtenaustausch 1530 859 . Den Kardinal Stanislaus Hosius bat Albrecht, ihm Nachrichten und Flugschriften zuzuschicken, wenn Hosius das Konzil in Trient besuchen würde 860 . Hosius erfüllte die Bitte und empfing seinerseits v o n Albrecht Nachrichten aus Deutschland 861 . Eustachius von Knobeisdorff, der während der Abwesenheit Hosius' als Statthalter im Ermland fungierte,

HBA Hk 914, VI 16. 82, o. D. um 1547, HBA Hi 913, VI. 16. 65. 855 HBA Hi 913, loses Blatt. Zu Nimptsch vgl. Gause 260; Freytag, Hermann: Zur Lebensgeschichte des Hans Nimptsch, Danziger Stadtschreibers und späteren Kammerrates des Herzogs Albrecht, in: AMS 35/1898, 456—462; Hubatsch, Albrecht von Brandenburg-Ansbach, 192. 856 HBA Hi 913, VI. 16. 68, o. D. 857 Geschichte der deutschen Länder. „Territorien-Ploetz", 1. Band: Die Territorien bis zum Ende des alten Reiches, hg. v. Georg Wilhelm Sante und A. G. Ploetz-Verlag, Würzburg (1964), 364. 858 HBA Hh 912, VI. 16. 23, o. D. 859 Wermter, Albrecht von Preußen und die Bischöfe von Ermland, 215. Zur Korrespondenz mit den Bischöfen von Ermland ferner Hartmann, Stefan (Bearb.:) Herzog Albrecht von Preußen und das Bistum Ermland (1525—1550). Regesten aus dem Herzoglichen Briefarchiv und den Ostpreußischen Folianten (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Bd. 31), Köln/Weimar/Wien 1991 (im Folgenden zitiert: Hartmann, Herzog Albrecht I), 3. Regesten der entsprechenden Briefe ebenda 120 f.: Nr. 205 (Bischof Mauritius an Herzog Albrecht, 17. Juni 1530) und Nr. 206 (Herzog Albrecht an Bischof Mauritius, 22. Juni 1530). 860 Herzog Albrecht an Hosius, 29. September 1560, zitiert nach Wermter, Ernst Manfred (Hg.): Kardinal Stanislaus Hosius Bischof von Ermland und Herzog Albrecht von Preußen. Ihr Briefwechsel über das Konzil von Trient (1560—62), (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, Heft 82), Münster/Westfalen (1957), 17 (gesamter Brief ebenda 15—18). 861 Bsp.: Albrecht an Hosius, 26. Juli 1561, zitiert nach Wermter 77 f., ansonsten vgl. ebenda, passim. 853

854

Verbreitungsstrukturen: Post- und Nachrichtenwesen

151

stand im Nachrichtenaustausch mit dem Herzog und mit den Räten der Städte Königsberg 862 . Die Herzöge Albrecht Friedrich — solange er bei geistiger Gesundheit war — und Georg Friedrich sowie die preußischen Regenten hielten ebenfalls Nachrichtenverbindungen aufrecht 863 . In den „Zeitungen" oder beigefügten Notizen findet man die Namen von Friedrich Kanitz als Korrespondenten aus Krakau 864 ; Wilhelm Wydolt, der Nachrichten aus Krakau vermittelte 865 , und Bart Horning [?] aus Breslau866. Der Nachrichtenaustausch mit dem Ermland ging weiter, „Zeitungen" wurden allerdings, den erhaltenen Akten nach, weniger häufig versandt 867 . Aus erhaltenen vermischten „Zeitungen", großenteils vom Anfang des 17. Jahrhunderts, läßt sich erschließen, wie weit die Nachrichtenverbindungen der preußischen Regierung damals reichten. Die wichtigsten „Umschlagplätze" von Nachrichten waren schon früh die Handelsstädte, an den Küsten Antwerpen, Lübeck und Danzig, an Flüssen oder anderen Handelsstraßen Köln, Augsburg, Nürnberg, Breslau und Lyon 868 . Uber die vielfältigsten Nachrichtenverbindungen verfügte Venedig. Die dortigen Korrespondenten schrieben über alles: Nachrichten aus den Niederlanden, Frankreich und Spanien gingen ebenso durch ihre Hand wie Berichte aus dem Osmanischen Reich. Die

862 Bsp.: Knobeisdorff an Statthalter und Räte zu Königsberg, 25. Juni 1563, zitiert nach Hartmann, Stefan (Bearb.:) Herzog Albrecht von Preußen und das Bistum Ermland (1550—1568). Regesten aus dem Herzoglichen Briefarchiv und den Ostpreußischen Folianten (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Bd. 37), Köln/Weimar/Wien 1993 (im Folgenden zitiert: Hartmann, Herzog Albrecht Π), 215; Albrecht an Knobeisdorff, 13. Oktober 1565, ebenda 262; Knobeisdorff an Albrecht, 12. Juli 1566, ebenda 278. 863 ersehbar aus Adreßblättern an die Oberräte in Preußen, HBA Hm 915. VI. 16. 141. Vgl. auch Hartmann, Stephan 864 Brief Gieses an die Oberräte, 16. September 1588, EM 96 g 3, 1 r sq. 865 HBA Hk 914, VI. 16. 81, o. D. 866 ebenda, VI. 16. 80, o. D. 867 Bspp.: Martin Kromer an Herzog Albrecht Friedrich, 21. Februar 1575, Hartmann ΙΠ, 117; Bischof Simon von Ermland an die preußischen Oberräte, 10. März 1611, Hartmann ΙΠ, 330; Oberräte an Bischof Simon, 15./25. Juni 1611, ebenda 331. 868 Di e folgenden Ausführungen beruhen auf der Auswertung der Zeitungen in HBA He 908, Hh 912, Hi 913, Hk 914 und Hm 915. Zu Venedig vgl. auch Koszyk, Kurt: Vorläufer der Massenpresse. Ökonomie und Publizistik zwischen Reformation und Französischer Revolution. Öffentliche Kommunikation im Zeitalter des Feudalismus, München (1972), 39.

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I. Die Öffentlichkeit der Macht

anderen Handelsstädte hatten, wie man sagen könnte, ihre Spezialitäten. Uber Köln liefen Nachrichten aus den Niederlanden und Frankreich; Antwerpen bot französische, englische und skandinavische Mitteilungen; Nürnberg berichtete Neues von den Türkenkriegen, Breslau aus Ostmitteleuropa. Danzig als der Königsberg am nächsten gelegene Handelsplatz versorgte Königsberg mit Nachrichten aus den Handelsstädten bis nach Antwerpen. Nach den Handelsplätzen lieferten die Regierungssitze den meisten Nachrichtenstoff: Den Haag, Paris, London, Kopenhagen, Warschau und Krakau, Wien, Moskau und Rom. In Den Haag, Krakau, Warschau, Rom und Wien liefen außerdem wichtige Nachrichten aus anderen Orten zusammen. Den Haag sammelte Nachrichten aus West-, Warschau und Krakau aus Süd- und Osteuropa. Rom bediente die Welt mit italienischen und französischen, aber auch mit afrikanischen Meldungen. Prag und Wien ernährten ihre Korrespondenten durch Hof- und Ständeberichte, Wien auch durch Nachrichten vom ständig nahen Türkenkrieg. Kleinere Städte wie Trient oder Speyer869 machten nur durch die in ihnen stattfindenden Versammlungen von sich reden und hatten als Nachrichtenorte keine dauernde Bedeutung. Insgesamt sieht man dem Bestand erhaltener Zeitungen die große Reichweite der herzoglichen Post- und Nachrichtenverbindungen an. Selbst ein Territorium „fast in der Wildnis" konnte Nachrichten aus ganz Europa empfangen und unterhielt Verbindungen, die teilweise noch darüber hinausreichten. Das herzogliche Post- und Nachrichtenwesen hatte sich gegenüber dem des Ordens aber nicht nur ausgeweitet, sondern auch verbessert. Der organisierte Botendienst nach dem Prinzip „Ein Mann, ein Weg" spielte zwar noch die Hauptrolle. Nach 1570 waren aber auf den wichtigen Verbindungen nach Berlin und Ansbach, zeitweise auch nach Mitau, Botenstaffeln eingerichtet. Fremde Botensysteme wurden mitbenutzt. Die Rationalisierung der Beförderung durch die Staffel machte die Post zwar sicherer, aber nicht unbedingt schneller. Botenwege scheinen zu Herzogszeiten eher mehr Zeit gebraucht zu haben als früher. Der Weg von Brandenburg nach Königsberg etwa dauerte zu Ordenszeiten

869

HBA Hm 915, VI. 16. 137 [1526],

Verbreitungsstrukturen:

Post- und

Nachrichtenwesen

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zwischen drei und zehn Stunden, meist vier bis fünf Stunden870; zwischen Holland und Königsberg war ein Brief etwa einen Tag unterwegs871. Die Differenz-Strecke von Holland nach Brandenburg wurde zu Herzogszeiten bestenfalls in acht Stunden gemeistert872, sonst dauerte dieser Weg allein zwischen einem und zwei Tagen873. Vielleicht hatte die Ordenspost auf diesen Strecken reitende Boten verwendet, während die Herzöge sich des Scharwerks von Bauern bedienten. Von Mohrungen nach Königsberg dauerte ein Botengang 1588 fünf Tage874. In sechs Tagen sollte 1563 der Bote Wilhelm Merkerk von Königsberg nach Mecklenburg gekommen sein875. Für den Weg von Königsberg nach Küstrin brauchte ein Bote zwischen acht und zwanzig Tagen876, nach Ansbach etwa sechzehn Tage877. Auf den längeren Strecken scheint sich die Verwendung reitender Boten ausgezahlt zu haben. Den Weg nach Wilna, zu Ordenszeiten zwischen zwölf und vierzig Tagen lang878, meisterte der ortskundige Postreiter Michel 1559 in zehn Tagen879, Postreiter Friedrich brauchte 1561 sieben Tage880, allerdings auch einmal etwa vierzehn Tage881. Der Postbote Stenzel wurde am 30. Juli 1564 zum Kurfürsten nach Berlin geschickt und übernahm schon am 6. August einen neuen

Jancke/Zimmermann, Erläuterungen, 3; für die Herzogszeit sind die entsprechenden Geschwindigkeiten nicht feststellbar, da Königsberg Zentrum war und die Ankunftszeit dort nicht vermerkt wurde. 871 Jahncke/Zimmermann 7. 872 Postzettel von Juli 1590, EM 113 f 11, 4 r. 873 Einen Tag: Postzettel vom Oktober 1604, Em 113 d 9, 4 ν sq.; September 1619, EEM 113 e 6, passim. Anderthalb Tage: Postzettel vom Oktober 1614, EM 113 d 9, 3 r. Zwei Tage: Postzettel vom Januar 1615, EM 113 a 6, 1 ν. 874 Brief Michael Gieses an die Oberräte, 16. September 1588, EM 96 g 3, 1 r sq, Empfangsvermerk und Adreßblatt 2 v: 21. September 1588. 875 Opr. Fol. 14231, 23 v. 876 EM 113 e 4, 1 r—2 ν (17.—25. Januar 1612); ebenda 113 e 6, 1 r sq (3.—20. September 1619); ebenda 113 d 9, 1 r—3 ν (29. September — 17. Oktober 1614). 877 BPM NL Gallitsch I Caa—Ο 8, Anlagen, Nr. 79 und 80. 878 Jahncke/Zimmermann, Routenliste, S. 3—5. Es ist allerdings auch einmal eine Zeit von nur viereinhalb Tagen genannt, ebenda Nr. 70, S. 3. 879 Er erhielt am 25. Juli und am 16. August 1559 je ein Briefpaket nach Wilna, Opr. Fol. 14231, 21 ν sq. Seine Ortskunde ist dadurch bezeugt, daß er mehrmals nach Wilna geschickt wurde, ζ. B. 1560: Opr. Fol. 14231, 4 r—5 v. 880 Er erhielt Aufträge nach Wilna am 5. und 19. September 1561 (Opr. Fol. 14231, 12 ν sq). 881 Aufträge am 9. Februar und 12. März 1561, Opr. Fol. 14231, 9 v. 870

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I. Die Öffentlichkeit der Macht

Auftrag nach Danzig882. Damit hatte er für den einfachen Weg Königsberg — Berlin höchstens drei Tage gebraucht — weniger als die spätere Staatspost, die einen Brief von Berlin nach Königsberg in vier Tagen beförderte883. Der Vorteil des Staffelsystems könnte demnach weniger in der Steigerung des Tempos gelegen haben als darin, daß die kurzen Etappen leichter zu kontrollieren und Versäumnisse schneller aufzudekken waren. Wesentlich verläßlicher wurde die Post, als die Kaufmannschaft begann, feste Ankunfts- und Abgangszeiten einzuführen. Die Herzöge von Preußen bedienten sich der neuen festen „Kurse", konnten aber zunächst noch kein eigenes Postkurssystem aufrichten. Erst im 17. Jahrhundert erreichten die Verbindungen nach Königsberg eine gewisse Regelmäßigkeit, die einen Avisendienst möglich machte.

c) Nutzung durch Privatleute Daß die herzoglichen Post- und Nachrichtenverbindungen als leistungsfähig und zuverlässig galten, zeigt sich daran, daß sie recht früh durch Privatleute außerhalb der Erfordernisse politischer Kommunikation genutzt wurden. Im Jahre 1592 schickte der Dorfschulze Baran seinem in Königsberg studierenden Sohn Abraham auf dem Weg amtlicher Schreiben einen Wechsel884. Als das Schreiben verlorenging, ließen die Regenten bei der Universität nachforschen885, erkannten also die Verantwortung der herzoglichen Post auch für dieses private Schreiben an. Herzog Georg Friedrich und seine Nachfolger ermahnten die vielbefahrenen Poststationen Marienwerder, Holland und Brandenburg des öfteren, nur solche Personen zu befördern, die einen amtlichen „Postzettel" mit der Erlaubnis zur Benutzung der Postfuhr vorweisen konnten, bzw. die Boten nicht in privaten Angelegenheiten einzusetzen886. Die Herzöge 882

Opr. Fol. 14231, 27 r sq. Beyrer 49. 884 Student Abraham Baran an die Regenten, 15. März 1592, EM 113 a 4, 1 r (dat. nach Aktenvermerk auf 21 r) Amtsschreiber von Marienwerder an den Kanzlisten Paul Bancke, 29. Mai 1592, ebenda 4 r, 7 r; Bittschrift Abraham Barans an den Herzog, ebenda 10 r sq., o. D. 885 Herzog an Universität, 22. März 1592, EM 113 a 4, 2 r—3 v. 886 Offenes Patent vom 28. Juli 1590, EM 113 f 11, 2 r—3 v; Mandat wegen der Ämterschulden, 2. April 1597, SBPK Sammelband „Verordnungen", [Nr. 19]; Abschrift 883

Verbreitungsstrukturen: Post- und Nachrichtenwesen

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wollten mit solchen Mahnungen ersichtlich die Nutzung der Post durch Private unterbinden — verständlicherweise, da der Postdienst die Bauern zusätzlich belastete. Doch die Mahnungen blieben wirkungslos, vor allem dann, wenn die Amtleute glaubten, in eigener Sache die Fuhrdienste der Bauern beanspruchen zu müssen. So erließen Herzog Georg Friedrich und die Kurfürsten Joachim Friedrich und Johann Sigismund ebenso wie Georg Wilhelm mehrere Mandate, die das private Benutzen der Postfuhr unter Strafe stellten887. Die wörtlichen Wiederholungen der Mandate in einigen Jahren Abstand zeigen aber, daß man dem Mißbrauch nicht durch Verordnungen vorbeugen konnte. Auch die Dienste herzoglicher Boten scheinen schon früh von „Privaten" genutzt worden zu sein. Gallitsch und Benkmann vermuten, schon zu Ordenszeiten hätten die Boten der Brüder gegen Gebühr Privatschreiben mitgenommen 888 . Ob der herzogliche Botendienst diesen Brauch bruchlos weiterführte, ist nicht sicher. Die Postbücher wurden unregelmäßig geführt und verzeichnen nur offizielle Briefe. Wenige Ausnahmen betreffen Schreiben von Hofbediensteten oder Personen aus der Umgebung des Hofes889. In den achtziger Jahren wurde laut Botenbuch auch die Staffel Königsberg — Ansbach von privaten Briefschreibern in Anspruch genommen890. 1619 erwähnte die Kanzleibotenordnung den Mißstand, daß die „Kanzleiverwandten" herzogliche Boten für

des Mandats vom 18. Juli 1615, BPM N L Gallitsch, Ε 13/1, Nr. 5, ohne Paginierung. EM 113 a 7, 3 r sq. (1621); Mandat vom 13. Dezember 1619, Sammelband „Verordnungen", [Nr. 37], Α Π ν sq. 887 EM 113 f 11, 2 r—3 ν (28. Juli 1590); Abschrift des Mandats vom 18. Juli 1615, BPM N L Gallitsch, Ε 13/1, Nr. 5, ohne Paginierung; EM 113 a 7, 3 r sq. (1621). 888 Gallitsch, Preußen, 128 („seit alters"), Benkmann, Horst-Günter: Königsberg (Pr.) und seine Post: Ein Beitrag zur Geschichte der Post in Königsberg (Pr.) von der Ordenszeit bis 1945, (München 1981), 17. 889 Bsp.: ein Doktor an „Her Jorg" und M. Andreas Mylius, 25. September 1561, Opr. Fol. 14231, 13 r.; Vergerio an Jan Maczinski, 28. November 1561, ebenda 14 r. „allerlei beibrieff ahn gutte gesell[en]", ebenda 12 v, 10. September 1561; weitere Verzeichnung von „Beibriefen" ebenda 13 v, 14. November 1561; 16 r, 5. Januar 1562, 20 v, 6. Dezember 1562 („Beibriefe ins Frauenzimmer gehörig" in einer Briefsendung nach Mecklenburg). 890 Schreiben an Paul Cremer von seiner Frau, vor August 1587, Opr. Fol. 14232, 26 r; Schreiben des Mathematikers Menius Opr. Fol. 14232 37 r. und Opr. Fol. 14233, 7 ν (1587, beim zweiten Brief Datum fraglich); verschiedene Opr. Fol. 14233, 30 r (1586). In Brandenburg wurde durch die Botenordnung von 1604 die Beförderung von Privatbriefen erlaubt, sofern der Botenmeister einverstanden wäre (Stephan 13).

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I. Die Öffentlichkeit der Macht

ihre Privatgeschäfte einsetzten891. Über Gebühren für die Nutzung der herzoglichen Post durch Privatleute berichten die Quellen bis 1618 nicht. Herzog und Regierung dagegen bedienten sich selbstverständlich privater Gelegenheitsboten. In der Technik der Nachrichtenübermittlung stand das Herzogtum Preußen zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges auf der Höhe seiner Zeit. Es verfügte über die damals modernste Posteinrichtung, die verknüpfte Staffel, und befand sich im Ubergang zum regelmäßigen Avisendienst jedenfalls in wichtige Orte wie Danzig und Berlin. Aus dem Korrespondentennetz hatte sich an einigen Stellen, so durch Frischmann in Berlin und von Prag aus, ein Avisendienst entwickelt, der Vorformen der späteren „Zeitung" erkennen ließ. Privatleute nutzten die herzoglichen Posteinrichtungen selbstverständlich, wenn auch noch nicht in großem Umfang. Nachrichten und Postwege standen im Begriff, im modernen Sinne zu „öffentlichen", allgemein zugänglichen Einrichtungen zu werden. In nuce bestanden schon jene Nachrichtenverbindungen, die durch die Königsberger gedruckten Avisen892 und die preußische Staatspost (1651)893 allgemein zugänglich werden sollten.

Kanzleibotenordnung, EM 19 a 39, 3 r sq. 892 vgl. drittes Kapitel dieser Arbeit. 893 Stephan 54. 891

ν Das Verhältnis von Arkanpolitik und „Publikum" 1. Tendenz zur Geheimhaltung Die Nachrichten kaufmännischer Dienste und die Einrichtungen der herzoglichen Post konnten zu Anfang des 17. Jahrhunderts entweder schon der „Allgemeinheit" zugänglich sein oder standen kurz davor. Die Postverbindungen wurden früh und recht selbstverständlich von Privaten in Anspruch genommen. Dagegen blieben Informationen und Vorgänge in der Machtwirklichkeit geheim. Privatleute, die nicht zum Kreis der Macht-Kommunikationspartner gehörten, erfuhren nichts über Macht-Vorgänge, „öffentliche" Personen aller Grade nur insoweit, als sie selbst Machtbefugnisse innerhalb der Öffentlichkeit hatten. Die früheste gedruckte und damit zweifelsfrei über den Kreis der „personarum publicarum" hinausgelangte „Neue Zeitung" aus Preußen stammt aus dem Jahre 1563894. Sie behandelt die polnische Niederlage gegen Moskau bei Polock im gleichen Jahr. Auch spätere „Neue Zeitungen", die in Königsberg gedruckt wurden895, enthielten nur außenpolitische Nachrichten, die überhaupt in jener Zeit öfter verbreitet wurden als Nachrichten

894

Gar Erschreckliche/'Newe zeytung von dem Moschcowiter [...], Zawadzki Nr.

60, Daubmann zugeschrieben, weil sie „durch Johannem Reinhardum Grawingellinum" verfaßt ist wie die „Warhafftige newe zey = /'tung/ von dem yetzigen Sieg der vnsern/ //so da geschehen ist den 26. Januarij/ von dem//Littawischen

Kriegsvolck/

wider die// Muscowitter/ dieses 1564[.]//Jars/ etc.//Item//Ein schön new Geystiich Lied/ w i e d e r den Muscowitter gestelt/ Im Thon Nu frewt//euch lieben Christen gemein /etc. Durch J o h a n = / / nem Reinhardum Grawingellinumy/ zu Königsperg in Preussen." [Bild mit Umschrift: Die sterck Gottes Ist aller menschen Sigill], o. O. o. J. Nach Zawadzki Nr. 68 und 69 kann sie zweifelsfrei Daubmann zugeordnet werden. 895

Begräbnis Stephan Bathorys, 1586, Zawadzki Nr. 209; Der Danziger Niederlag,

1579, Zawadzki Nr. 147; Newe Zeitung aus Polen, 1588, Zawadzki Nr. 210; Tod der Maria Stuart 1587, Zawadzki Nr. 1597; Hungersnot Livland, 1602, Zawadzki Nr. 286—288.

158

I. Die Öffentlichkeit der Macht

aus dem eigenen Land. Es ist aber nicht zu ermitteln, auf welchem Weg die Informationen der „Neuen Zeitungen" Preußen erreichten. Aus amtlicher Korrespondenz stammten sie wahrscheinlich nicht. Eher könnte ein Drucker oder Buchführer die Informationen von einer Messe mitgebracht haben, ohne daß die Macht-Öffentlichkeit mit ihnen befaßt gewesen wäre. Aus den einzelnen Institutionen der Macht, etwa den Gerichten oder den Landtagen, drang in der Regel nichts nach außen. Zwar die Landtagsausschreiben wurden gelegentlich gedruckt896, aber nicht zur Unterrichtung der „Allgemeinheit", sondern nur, weil sich die Texte im Wege des Drucks schneller und billiger herstellen ließen als durch handschriftliches Vervielfältigen. Daß ein Abschied eines Landtags gedruckt wurde, kam äußerst selten vor. Eventuelle Drucke von Landtagsabschieden wurden nur den Amtern zugänglich gemacht und deshalb nur in kleiner Auflage hergestellt897. Der Abschied von 1578 enthielt sogar eine ausdrückliche Erklärung des Inhalts, daß der Druck nicht in großer Auflage erscheinen dürfe und daß die Amtleute ihn nicht abschreiben lassen oder „in gemein diuulgiren" sollten. Landtagssachen und überhaupt die Rechts- und Verwaltungsfragen gehörten nach Auffassung der Zeit nicht zur „Legitimation von Herrschaft", sondern zur Herrschaft selber. Daher sollten sie nicht außerhalb der Macht-Öffentlichkeit debattiert werden und blieben geheim. Der Landtag verstand sich also zwar als „Öffentlichkeit" in dem Sinn, daß auf den Landtagen „des Landes Nutz und Wohlfahrt" und nicht Privatinteresse zur Verhandlung anstehe. „[...] land= vnndt Privat beschwer" wurden sorgfältig unterschieden898. Hätte der Landtag seine Beschlüsse durch massenhaften Druck allgemein zugänglich gemacht, so hätte er damit eine Öffentlichkeit neben sich anerkannt, die er nur vertreten hätte und die ihn hätte kontrollieren können. Solchen Gedanken standen Herzog und Stände aber völlig fern. Einen gewissen Widerspruch erzeugt diese Erklärung dennoch. Im preußischen Landtag gab es ja, sogar stärker als in anderen, sowohl das Element der Vertretung als auch Kontrollmöglichkeiten. Die Landtagsdeputierten „vertraten" das Land tatsächlich, denn es war zu groß, als 896

Druckerrechnung Daubmanns, nach 1569, EM 139 k 47, 34 r. Zum Folgenden vgl. Druck des Landtagsabschieds vom 29. Mai 1578, Opr. Fol. 531, 158 r. 898 undatiertes Bedenken der Städte auf dem Landtag von 1579, Opr. Fol. 530/Π, 12 v. 897

Das Verhältnis von Arkanpolitik und „Publikum"

159

daß sie es hätten „sein" können. Die Repräsentation des Landes durch den Landtag und die Kontrollmöglichkeit lagen darin, daß die Deputierten nach ihrer Rückkehr ihren „Wählern" berichten mußten. Doch die Berichtspflicht wurde immer wieder vernachlässigt, so daß sogar ein königlich-polnisches Mandat an sie erinnern mußte899. Der Landtag sah sich offenbar nicht als Vertretungsorgan des Landes, sondern mittelalterlich als „das Land". Er erkannte keine anderen Formen von „Öffentlichkeit" an als die der „personarum publicarum" und der MachtDiskussion. So suchte er die Öffentlichkeit des Landtags zu begrenzen oder sogar zu verkleinern, indem Macht-Informationen nicht einmal über den Kreis der Landtags-Teilnehmer hinausgelangten. Auf allen Ebenen der Macht-Öffentlichkeit herrschte das Bestreben, die Kenntnis der „arcana" möglichst einzugrenzen und ihre Zugänglichkeit zu beschränken.

2. Anfänge politischer Publizistik Dem Bedürfnis nach Geheimhaltung der politischen Vorgänge scheinbar widersprechend, entwickelte sich in Preußen zumindest in Ansätzen eine politische Publizistik, wie es sie in Deutschland und in anderen europäischen Staaten schon seit längerer Zeit gab900. Angehörige der Macht-Öffentlichkeit traten in Schriften aus dem Kreis der Mächtigen heraus und versuchten, vor einer größeren Zahl von Lesern ihre Politik zu rechtfertigen. Am Anfang galt dieses Verfahren noch als ungewöhnlich, wenn nicht gar als schockierend. Als Herzog Albrecht 1526 seinen Ubertritt zu Luthers Lehre in einer bekenntnishaften Flugschrift erläutern und verteidigen ließ, nahm Sigismund der Alte, Albrechts Lehnsherr, dieses Verhalten sehr übel901. Brieflich ermahnte er Albrecht, Fürsten sollten ihre Konflikte nicht wie Gelehrte in Pamphleten austragen. 1556 erschienen in Königsberg zwei Schriften livländischer Adliger, des Landmarschalls Caspar von Münster902 und des Kanzlers Christoph 899

Confirmatio privilegiorum, 1612, zitiert nach Immekeppel 81. Bsp.: Latimer, Berkley Wells: Pamphleteering in France During the Wars of Religion: Aspects of Ephemeral and Occasional Publications, 1562—1598, Diss. Duke University (Ann Arbor/Michigan) 1975. 901 Zum Folgenden vgl. Dolezel 39. 902 Caspar von Münster: Warhafftiger/ // kurtzer vnd wolgegründter be=// rieht/ des Ehrwirdigen/ Hochachtba«// ren/ vnd Ehrenuesten Herren Caspar/'von Mün900

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I. Die Öffentlichkeit der Macht

Botticher 903 , die sich von den Meistern des livländischen Ordenszweiges übervorteilt und in ihren Rechten gekränkt fühlten. Die beiden Adligen hielten es nicht für selbstverständlich, in Schriften hervorzutreten. Beide rechtfertigten sich damit, daß sie ihre „Ehre" nicht anders verteidigen oder wiederherstellen könnten 904 . Botticher bezeichnete seine Schrift sogar ausdrücklich als Verteidigung gegen „vnwarhaffte/ ehrenrurige schrifften", die seine Gegner ausgestreut hätten. Die Rettung der eigenen Ehre und die Abwehr übler Nachrede scheint der erste und lange Zeit der wichtigste Grund für politische Publizistik gewesen zu sein. Trotzdem verstand sich das Verfahren noch lange nicht von selbst. Der vor einem Landtagsausschuß angegriffene Rat Albrecht Truchseß von Wetzhausen erbot sich 1570, seine „entschuldigung in öffentlichen Truck an den Tag zu geben" — allerdings nur dann, wenn seine Verwandten damit einverstanden wären 905 . Eine solche Schrift Albrecht Truchseß' hat sich bisher nicht gefunden — vielleicht hatte die Familie des Adligen eine Veröffentlichung tatsächlich verhindert. Aber die politische Publizistik bot den Angehörigen der Macht-Öffentlichkeit offenbar so viele Vorteile, daß sich die politische Verteidigungsschrift als Gattung im Laufe des Jahrhunderts immer mehr durchsetzte. 1577

ster/ Teutsches Ordens Landmar=// schalcks zu Leyfflandt/ Daraus meniglich die// vrsache warumb seine Ehrwürde von etlichen ab//günstigen vnd jhren widerwertigen des Ordens/ // zur vnschuld/ wider Gott/ Ehr/ vnd recht/ vn = // rechtmessiger weyse/ an seinen Ehren/ Wir=/'den/ vnd Stande/ geschmehet vnd erni=//driget/ seiner Heuser/ Haben vnd Gu = // tes entsetzet/ nach Leyb vnd Le = //ben getrachtet/ auß dem// Lande zu entweichen/ verursachet vnd %dl drungen woi=// den/ sehen// mögen./'Zu Königs-perg in Preussen truckts/ZHans Daubman.//1556. 903 Botticher, Christoph: Wunderbarliche//Handlung des jetzigen Mey=//sters auß Leyffland vnnd seines/' Stallbruders oder Coadiutorn Wil// helmen Fürstenberg vnd ]rem// anhang.//Wie sie sich gegen jhre getrewe//Diener mit entlicher ablonung halten.z/NIcht allein zu redlicher Verantwortung deß//Erbaren vnd Achtbaren Christofferi Botti=// chers/ etwas jhres Cantzlers/ den die selben vber bt=// weysete trewe vnnd langen dienst/ ohne redliche Vrsa=//chen/ wider jhre eygen gegeben vnd vnterschrieben/'Siegel vnd Brieffe/ auch wider Recht vnd Billigkeiyt/ //jemerlich verfolgen/ Darüber auch jhne des seinen/ Hohne vorgehende rechtmässige ordentliche eukantnuß [!]// entsetzt vnd beraubt haben. Darauß in ßolchem// vnd gleichem fahl meniglich jhre arth vnd gewonheit erlernen vnd erfaren kon=H nen sich vor dieselben/ so vielH weislicher zuhuten vnd vor zusehen. [Königsberg: Daubmann] M. D. LVI. 904 905

Zum Folgenden vgl. Caspar von Münster A 3 r; D 3 v; D 4 v; Botticher A 3 r sq. Protokoll der Ausschußverhandlungen 1570, Opr. Fol. 504 [Teil 2], 92 r.

Das Verhältnis von Arkanpolitik und „Publikum "

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rechtfertigte sich die Stadt Danzig in Flugschriften dafür, daß sie sich dem polnischen König Stephan Bathory nicht unterwerfen wollte906, und setzte dafür die Druckerei von Jakob Rhode ein. Aber nicht nur zur Verteidigung bestehender Positionen, sondern auch zum Angriff und zur Veränderung ließen sich politische Traktate benutzen. Friedrich von Aulack, Anführer der Adelsopposition gegen Herzog Georg Friedrich, ließ einen „Discursus" verbreiten, in dem dazu aufgefordert wurde, dem Herzog das Lehen Preußen abzuerkennen und zu nehmen907. Danach gab es anscheinend längere Zeit keine politische Publizistik mehr im Herzogtum. Als aber in den Landtagen der kollektive Konsens zerbrach und die Kurien sich „durch die Bank" in Fraktionen teilten, schlug offensichtlich wieder die Stunde der Pamphlete. Uber einen „Diskurs" mit dem Titel „Der Herr Schwager" entrüsteten sich 1606 die „preußischen" Gesandten für den zurückliegenden Warschauer Reichstag908. Sie berichteten über den Inhalt des „Discurses", daß „[...] darin der leichtfertige Discurent nicht allein uns Abgesandten gröblich berühret, sondern er schencket es auch nicht der löblichen Krön [Polen] unnd dießer gantzen Ritterschafft, in dehm er saget, das die Herrn preußischen Abgesandten [...] I. Ch. G. so eine Hinderung an ihren Sachen geben, der kein ehrlicher Preuß, viel weniger ein ander Deutscher, Spanier, Welscher ... guet heißen, unnd wie der contextus ferner das gantze Blatt durchlaufft [...]"

9 0 6 Zum Folgenden vgl. Lasicki, Jan: Der Dantziger Niderlag://Welche geschehen im //Jar Christi/ M. D.L XXVII.//Den XVÜ.tag Aprilis.//Erstlich dem E. Wol=// gebornen H. Herrn Johan Zborom=//skij/ Castelan zu Gnisen/ etc. In Lateinischer// sprach/ zugeschrieben von//Johanne Lasitio.//Jetzt aber dem E. Ehrnvesten/ Hoch/' vnd Weitberümbten Herrn Leonhardt Thur=// neisser zum Thum/ Churfürstlichen Branden=Hburgischen bestalten Leibs Medico/ HTM Ehren/ vnd gantzer Teutscher// Nation/ zum wolgefallen// trewlich verdeutscht./' M.D. LXXVIII. [ ebenda F 4 v: Gedruckt zu Künigsberg/ //Anno Μ D. LXXIX.], Β 1 r. 9 0 7 Seraphim, Α.: Eine politische Denkschrift des Burggrafen Fabian von Dohna (1606), in: Forschungen zur brandenburg-preußischen Geschichte 24/1911, 1. Hälfte, 137, Anm. 1. Von einer „intensive[n] publizistische[n] Agitation" Aulacks spricht Hartmann, Gesandtschaft, 70. 9 0 8 Zum Folgenden vgl. Bericht der preußischen Abgesandten auf den Reichstag zu Warschau 1606, verlesen am 12. Mai 1607 auf dem Landtag, zitiert nach Klinkenborg 2, 646; Datum der Verlesung ebenda Anm. 2.

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I. Die Öffentlichkeit der Macht

Die anonyme Flugschrift trat also für das brandenburgische Recht auf Preußen ein und stand der später so genannten „protestierenden" Partei nahe. Auch Fabian von Dohna der Altere, angefeindet sowohl wegen seines reformierten Glaubens als auch wegen seiner Loyalität zürn kurfürstlichen Hause Brandenburg, ergriff als Flugschriftenautor die Partei der „Protestierenden". In seiner Selbstbiographie bekannte er sich zu „Discursen, die Neuen Petita, davon meinen Vettern wol bewust, zu widerlegen"909. Zwei von ihnen konnten ihm bis heute zugewiesen werden, nämlich „Eine treuhertzige Vermahnung an alle drey Stende deß Hertzogthumbs Preußen" von 1606910 und ein lateinischer Brief, den Dohna im gleichen Jahr unter dem Pseudonym „Ulricus Pachgeber Colbergensis" veröffentlichte911. Darin griff er die querulierenden Adligen scharf an mit dem Argument, sie benutzten ihr Engagement für ihre Privilegien nur als Vorwand, um das Herzogtum unter die unmittelbare Oberhoheit Polens zu bringen912. Damit antwortete Dohna wahrscheinlich auf einen „Diskurs", der sich dafür ausgesprochen hatte, Preußen nach dem Aussterben der herzoglichen Linie an Polen fallen zu lassen913. Auch in der „Vermahnung" nahm Dohna die Rolle eines „königlichpreußischen" Adligen an914. Diesmal griff er die Forderungen der Adligen einzeln auf, kritisierte sie als überflüssig oder dem Anliegen des Adels sogar schädlich915 und warnte davor, Forderungen zu stellen, die man nicht zuvor mit dem Kurfürsten besprochen habe916. Die „Vermahnung" ist in deutscher Sprache geschrieben, wandte sich also nicht nur an „gebildete" Lateinkundige. Gedruckt wurden die beiden Traktate wahrscheinlich nicht. Sie dürften kaum über die Öffentlichkeit der Macht hinaus interessiert haben, da der Landtag über seine Verhandlungen nichts nach außen dringen 909 910

Dohna, Selbstbiographie, 102. Dohna, Selbstbiographie, 102, Anm. 4.; Druck: Seraphim, Denkschrift, 120—

146. 9 1 1 Dohna, Selbstbiographie, 140—144, zur Auflösung des Pseudonyms vgl. ebenda 140, Anm. 1. 9 1 2 zitiert nach: Dohna, Selbstbiographie, 140. 9 1 3 Seraphim, Denkschrift, 113. 9 1 4 Dohna, Vermahnung, zitiert nach: Seraphim, Denkschrift, 120. 9 1 5 Dohna, Vermahnung, zitiert nach: Seraphim, Denkschrift, 123—130; 135—138; 140 f. 9 1 6 Dohna, Vermahnung, zitiert nach: Seraphim, Denkschrift, 131; 142; 146.

Das Verhältnis von Arkanpolitik und „Publikum"

163

ließ. Dohna könnte aber auch noch weitere, vielleicht politischkonfessionell akzentuierte Traktate verfaßt und auch in Druck gegeben haben. In einem Brief an den kurfürstlichen Sekretär Reichardt Beyer917 kommentierte Dohna: „Was nhu die beiden gedrugkten Tractattlein anlangen, wünsche ich von Hertzen, daß solche Arbeit bei frommen verstendigen polytischen Leutten viel Gutteß möge schaffen, bei etlichen Geistlichen ist meines Besorgenß krisam undt tauff verloren."

Über den Verfasser der Flugschriften sagen die wenigen Sätze allerdings nichts. Möglicherweise bezog sich Dohna auf Traktate, die ihm Beyer zur Verbreitung zugeschickt hatte. Da ein eigener Begriff für politische Publizistik noch fehlte, faßten die Zeitgenossen den politischen Traktat oft als beleidigende „Schmähschrift" auf. 1609 erwähnte die polnische Kommission in ihren Dekreten Schmähschriften, die im Namen der Städte ausgegangen seien und sowohl den Adel als auch den polnischen König in ihren Rechten angriffen und sogar zum Ungehorsam gegen den König aufriefen918. Im Juli 1616 monierte der polnische König selbst Schmähschriften919. Diese letzteren Traktate müssen auch außerhalb des Landtags verbreitet worden sein, denn der König trug den Visitatoren auf, gegen die Verfasser vorzugehen. In einem Schreiben an die Regenten verlangten die königlichen Gesandten im November, daß die Autoren der gegen den König gerichteten Schriften ausgeliefert und bestraft würden920. Zumindest vom späten 16. Jahrhundert an konnten Informationen über politische Vorgänge also doch nach außen dringen, wenn auch in apologetischer Haltung und gelegentlich in polemischer Form. Auch wenn nur wenige der tatsächlich kursierenden Traktate bis heute bekannt und von diesen wiederum nur wenige gedruckt sind, so machen sie doch deutlich, daß die Vorgänge der Politik sich seit dem Ende des 9 1 7 Zum Folgenden vgl. Brief Dohnas an Beyer, 22. September/2. Oktober 1606, zitiert nach Klinkenborg 2, 381 f. Zur Position Beyers vgl. Immekeppel 104; Dohna, Selbstbiographie, 162, Anm. 1. 9 1 8 Acta et Decreta commissionis, 1609, Privilegia 100 r. 9 1 9 Zum Folgenden vgl. Responsum Sacrae Regiae Maiestatis, 10. Juli 1616, zitiert nach Privilegia 144 r. 9 2 0 Proposition DD Legatorum Regior[um] ad Consiliarios Regentes, 26. November 1616, Opr. Fol. 613, 45 r sq.

164

I. Die Öffentlichkeit der Macht

16. Jahrhunderts immer weniger geheimhalten ließen. Das Heraustreten der Politik aus der Geheimsphäre wurde nicht durch politischen Druck oder durch Informationsbedürfnisse außerhalb der politischen Öffentlichkeit erzwungen, sondern durch Bedürfnisse der „personarum publicarum" selber. Mit Hilfe von „Discursen", „Schmähschriften" oder Traktaten, die sie verfaßten oder verfassen ließen, konnten die „personae publicae" die verschiedensten Absichten verfolgen: die persönliche Ehre eines Gegners zu treffen oder die eigene wiederherzustellen; politische Maßnahmen zu kritisieren oder zu verteidigen oder für persönliche und politische Ziele zu werben. In unmittelbarem Gespräch hätten sich alle diese Absichten jedoch ebenfalls und vielleicht sogar sicherer erreichen lassen. Wenn die „personae publicae" sich stattdessen auf den Austausch von Traktaten verlegten, so warben und argumentierten sie ausdrücklich außerhalb der Landtags-Öffentlichkeit, entweder bei entfernt wohnenden Adligen, im Reich oder in Polen. Mit der entstehenden politischen Publizistik durchbrachen die „personae publicae" selbst das Prinzip der „ arcana", auf dem Politik grundsätzlich beruhte. Um ihre eigene Politik zu verteidigen, traten sie aus der Arkansphäre und wandten sich an eine andere, zahlenmäßig größere Öffentlichkeit.

ZWEITES KAPITEL

Die Öffentlichkeit der Bildung

I Teilnehmerkreis 1. Die „Bildungspolitiker" In der Bildungs-Öffentlichkeit richtet sich der „Öffentlichkeitsgrad" nach dem Einfluß einer Person oder Institution auf den Bildungsprozeß. Demgemäß sind diejenigen Personen und Institutionen von höchster Öffentlichkeit, die das Bildungsideal selbst bestimmen oder verändern, also „Bildungspolitik" betreiben können. Noch im 16. und 17. Jahrhundert bestimmten zumeist „altes Herkommen" und Uberlieferung das Bildungsideal. Zwar die großen Erziehungsbewegungen des Humanismus und der Reformation forderten ausdrücklich, alte Bildungsideale abzuschaffen und das gesamte Bildungsprogramm auf ein neues Zentrum auszurichten. Aber die Anreger und Planer wie Erasmus, Luther und Melanchthon griffen nicht dauernd in das Bildungswesen ein, sondern entwarfen selbst ein statisch gedachtes Bildungsideal. Nach der Epoche der Reform sollte das neue Ideal seinerseits eine Tradition bilden und als prinzipiell unantastbares „altes Herkommen" gelten. So blieb „Bildungspolitik" im wesentlichen eine Sache einzelner Männer und kurzfristiger Reformbemühungen. Die „öffentlichste" Schicht der Bildungs-Öffentlichkeit existierte nur in wenigen Personen und nur zeitweise. Die Anregungen der „Bildungspolitiker" reichten freilich weit, zeitlich und räumlich. Luther förderte durch sein Plädoyer für „christliche Schulen" in seiner Schrift an die Ratsherren das protestantische Schulwesen921 und lieferte die theologische Begründung für den Unterricht in den alten Sprachen922. Außerdem setzte er sich für die Behandlung der 921

Luther, Martin: An die Burgermeyster und Radherrn allerley stedte ynn Deut-

schen Landen [1524], in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesammtausgabe [Abt. 1], 15. Band, Weimar 1899 (Unveränderter Neudruck Graz 1966), 30 f.; 33; 35; 43; 46. 922

Luther, An die Radherrn, 36—43.

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

168

„Historien", der Musik und Mathematik923 in den Schulen und für die Gründung von Bibliotheken ein924. Melanchthon schrieb selbst Schulbücher925 und etablierte insbesondere den Geschichtsunterricht an Schule und Universität926. Damit stellten die Reformatoren einen Kanon von Fächern auf, der ihr Bildungsideal inhaltlich definierte. Er blieb im protestantischen Deutschland rund dreihundert Jahre lang in Geltung. Noch mehr als die Reform von Schule und Universität bedeutete dem 16. Jahrhundert aber die Kirchenreform. Wie die Schule galt auch die Kirche als Ausbildungs-Institut927. Sie vermittelte das reformatorische Bildungsideal durch die Predigt und die Liturgie im Gottesdienst. Indem die Reformatoren sowohl die Inhalte der Predigt als auch den Kult veränderten, gestalteten sie das Bildungsideal insgesamt um. In Preußen gaben die Bischöfe den Anstoß zur Reformation. Georg von Polenz, Bischof von Samland, berief den ersten evangelischen Prediger, Johannes Briesmann928. Der pomesanische Bischof Erhard von Queiß formulierte 1524 in den „Themata Episcopi Riesenburgensis" ein Programm, nach dem Gottesdienst und Kult im Sinne der Reformation erneuert werden sollten929. Der längerfristigen — besser: periodischen — Überwachung und dem Bewahren des Bildungsideals in Kirche und Schule dienten die Visitationen. Sie wurden von der Öffentlichkeit der Macht angeordnet und von den Bischöfen verantwortet und durchgeführt930. Die preußische Kir-

923

Luther, An die Radherrn, 45 f.

924

Luther, An die Radherrn, 49—53.

925

Karg, Hans Helmut: Reformationspädagogik. Uber die Erziehungslehren bedeu-

tender Reformatoren und die Wirkung auf bestimmte Erziehungstheoretiker (Frankfurt/Main 1986), 262. 926

Karg 86; Grimm, Gunter E. : Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Un-

tersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung (Studien zur deutschen Literatur, hg. v. Wilfried Barner u. a., Bd. 75), Tübingen 1983, 104. 927

Karg 89.

928

Polentz, Georg von: Eyn Sermon des wirdigen yn//Gott

vaters/ Herrn Georgen

vonn//Polentz Bischoff zu Samland/ H am Christag ynn der T h u o m = / / kyrch zuo Königsberg ynn/ZPreusszen gepredigt./Άηηο. Μ. D. X X ΠΠ. [Königsberg 1524], A 3 ν sq. 929

Sehling 4, 29 f.

930

Visitations-Instruktion für das Herzogtum Preußen, 24. April 1528, zitiert nach

Sehling 4, 42—45.

Teilnehmerkreis

169

chenvisitation von 1542 begleitete Herzog Albrecht persönlich931. Nach der Pfarrwahlordnung von 1540 sollten die Bischöfe jährlich oder wenigstens alle zwei Jahre ihr Bistum visitieren932. Tatsächlich fanden Visitationen nur sporadisch statt. Bischof Joachim Mörlin von Samland visitierte 1569933, Bischof Johann Wigand 1586/87934. Die Aufsicht über die Schulen führten ebenfalls die Bischöfe, übertrugen die Ausführung aber den Pfarrern935. Die Stadt Tilsit hatte laut einem Reskript von 1586 ein Mit-Inspektionsrecht über ihre Provinzialschule936. In Lyck besuchte der Pfarrer zweimal jährlich die Schule und prüfte dabei auch die Schüler. In der Schicht der „Bildungspolitiker" griffen Macht- und BildungsÖffentlichkeit also eng ineinander. Dabei gab es anscheinend eine Art von Arbeitsteilung. Die Bildungs-Öffentlichkeit regte die Umgestaltung an, setzte die Leitlinien fest und überwachte periodisch die Inhalte. Die Macht-Öffentlichkeit schuf die Voraussetzungen dafür, daß die „Bildungspolitiker" ihre Ideen auch durchsetzen konnten. Im Mittelpunkt der „bildungspolitischen" Bestrebungen standen Theologie und kirchliches Leben. „Weltliche" Bildungsgüter wie Geschichte und Sprachen spielten nur insofern eine Rolle, als sie sich auf das neue reformatorische Ideal beziehen ließen. Alle anderen Fächer blieben von der religiösen Reformbewegung unberührt. In ihnen bestimmte weiterhin altes Herkommen das Bildungsideal, und Bildungspolitik im Sinne von Veränderung erübrigte sich.

2. Die tätigen Streiter Als tätige Streiter können Menschen bezeichnet werden, die im Rahmen des durch Herkommen und Reform festgelegten Bildungskanons in eigener Person redend oder schreibend in die Kontroversen eingreifen. Sie beeinflussen damit nicht das Bildungsideal selbst, wohl aber seine inhaltliche Ausprägung. In Zeiten der Reform sind sie minder öffentlich, da sie sich den Anordnungen der „Bildungspolitiker" fügen müssen. So931

Hubatsch, Kirche I, 46.

932

Von erwelung und Unterhaltung der pfarrer, 1540, zitiert nach Sehling 4, 52.

933

Sehling 4 , 1 1 £.

934

Opr. Fol. 1281, passim.

935

Zum Folgenden vgl. Zieger 177.

936

„Abschrift der Jura der Stadt Tilsit vom 22.ten November 1696", StA Königs-

berg, Dep. Stadt Tilsit, Pak. I, Nr. 2 a, 2 v.

1/0

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

lange und sofern das Bildungsideal jedoch fest steht, bilden die tätigen Streiter die Schicht höchster Öffentlichkeit in der Öffentlichkeit der Bildung. Im Preußen des 16. Jahrhunderts war die Schicht dieser Kombattanten außerordentlich klein. Selbst wenn man nicht-preußische Autoren, Ubersetzer und die Schriftsteller der klassischen und frühchristlichen Tradition mitzählt — die sich gewissermaßen mit ihren Büchern in die aktuelle Diskussion einmischten —, kommt man für die knapp hundert Jahre von 1525 bis 1618 auf nur 284 Namen 937 . Von ihnen treten zwar die meisten, aber nicht alle als Persönlichkeiten hervor, von denen mehr als ihre Autorschaft an einem bestimmten Buch bekannt ist. Unter den 220 identifizierbaren Personen sind genau 117 Theologen. Fast alle „tätigen Streiter" hatten ein Universitätsstudium absolviert; viele standen im Pfarrdienst oder bekleideten ein anderes Amt in der politischen, kirchlichen oder universitären Öffentlichkeit 938 . Auch wandernde Gelehrte wie Pierpaolo Vergerio betätigten sich als Kontroverstheologen 939 . Neben den Theologen prägten — in Preußen in geringerem Maße — Dichter und Musiker das Bildungsideal in ihren jeweiligen „Fächern". Poesie und Musik gehörten im 16. Jahrhundert zum Fächerkanon des akademischen Unterrichts 940 . Beide sollten ihre Adepten befähigen, innerhalb eines vorgegebenen Regelwerks neue Werke zu schaffen941. Darin ähnelten sie der Theologie, die auch nicht neue Regeln finden, sondern angeblich alte wiederherstellen und befolgen wollte. Weniger produktiv in Schriften waren in Preußen die Mediziner, Mathematiker und Naturwissenschaftler. Zwar gestalteten auch ihre Fächer das Bildungsideal mit, wurden aber von den Kontroversen weniger berührt und bemühten sich — noch — nicht so sehr darum, ihre eigenen wissenschaftlichen Regeln zu systematisieren.

937

Siehe Verzeichnis im Anhang.

938

Zur Universität als Verbindung der Gelehrten untereinander und „eine Art .Öf-

fentlichkeit' " unabhängig von der Ständegesellschaft vgl. Hammerstein, Notker: Zur Geschichte und Bedeutung der Universitäten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, in: H Z 241/1985, 308 f.; Zitat ebenda 308. 939

Zu ihm vgl. Elze, Th.: Vergerio, Peter Paul V., in: ADB 39, 617—621.

940

Musik: Veit, Kirchenlied, 22; Poesie: Grimmm, Gunter E.: Literatur und Ge-

lehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung (Studien zur deutschen Literatur, hg. v. Wilfried Barner u. a., Bd. 75), Tübingen 1983, 4; 68. 941

Grimm, Gunter E., 5; 10; 60 f.

Teilnehmerkreis

171

Selbst die Schicht der Kombattanten, die „öffentlichste" der BildungsOffentlichkeit, bestand nicht nur aus faßbaren Namen. Noch lange Zeit nach der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern erschienen sehr viele Werke anonym. Der Buchdruck hatte also nicht automatisch die Wirkung, die ihm Marshall McLuhan zuschrieb, die Persönlichkeit des Autors überragend wichtig zu machen, ja sie sozusagen erst zu schaffen942. Noch entschied in der Konkurrenz der Druckwerke nicht der Name des Autors, sondern das Werk und — besonders in der Zeit der Reformation — sein Inhalt, die „Wahrheit", die es zu enthalten und deutlich zu machen beanspruchte. Die Sprache der gelehrten Kontroversen war in den meisten Fällen das Latein. In der Universität wurde lateinisch disputiert, schon in den höheren Schulen Latein gesprochen943, und sehr viele kontroverstheologische Schriften erschienen ebenfalls lateinisch. In dieser Sprache erreichte man nur die gelehrten Leser944. Das städtische „Publikum" unterhalb der vereinzelt noch lateinkundigen Kaufmannschaft 945 konnte lateinische Schriften nicht verstehen. Die Autoren lateinischer Werke erreichten nicht den „gemeinen Mann", dafür aber ein gelehrtes Publikum, das von Schweden bis Spanien und von Frankreich bis Polen reichen konnte. Die griechische Sprache kann in dieser Untersuchung außer Betracht bleiben, da in Königsberg nur einige gelehrte Liebhaber sie beherrschten und Gedichte oder Ubersetzungen in dieser Sprache veröffentlichten. Das Deutsche hatte in der gelehrten Öffentlichkeit Preußens eine nicht minder bedeutende, aber ganz andere Rolle als das Latein. Deutsch Geschriebenes richtete sich an alle Lesefähigen, die Deutsch als Muttersprache oder Fremdsprache gelernt hatten, und konnte auch von

942

McLuhan, Marshall: The Gutenberg galaxy. The making of typographic man,

(London 1962), 131—135; ders.: Understanding Media. The extensions of Man, London (1964), 177 f.; wiederholt bei Giesecke, Buchdruck, 323 f. 943

Engelsing, Rolf: Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1500—

1800, Stuttgart (1974), 29 f. 944

Engelsing, Bürger, 38 f.; Forster, Leonhard: Die Bedeutung des Neulateinischen

in der deutschen Barockliteratur, in: Bircher, Martin/Mannack, Eberhard (Hgg.): Deutsche Barockliteratur und europäische Kultur. Zweites Jahrestreffen des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur in der Harzog August Bibliothek Wolfenbüttel 28.—31. August 1976. Vorträge und Kurzreferate (Dokumente des Internationalen Arbeistkreises für deutsche Barockliteratur, Bd. 3), Hamburg (1977), 53. 945

Engelsing, Bürger,30.

172

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

deutschsprachigen Analphabeten verstanden werden, wenn man ihnen vorlas. Das Publikum deutscher Schriften hatte regionale Grenzen, aber kaum soziale Schranken. In Deutsch wurden gelehrte Kontroversen dann ausgetragen, wenn auch der nicht akademisch Gebildete, ja der nicht Lesekundige sie verstehen sollte. Andreas Oslander berief sich auf diese Funktionsteilung zwischen Deutsch und Latein, als er 1551 die Ubersetzung seiner „Disputation von der Rechtfertigung" ins Deutsche und Polnische verteidigte946: „Ich hab nicht gemeint/ das dise meine Disputation/ solt in die Teutsche sprach komen/ Ich hette sie sonst etwas einfeltiger vnd weitleuftiger gestellet/ Sonder gedacht/ ich wurd allein/ mit den geleiten in der Schul/ darüber zuthun gewinnen [...]. Aber hernach/ ist sie im gantzen Teutschland/ durch meine feind/ schrifftlich vnd mündlich/ auffs aller schendlichst gelestert worden/ welche auch bey denen/ so nicht Latein verstehen/ allerley darzu gelogen/ das nicht darinnen ist/ vnd das beste das darinnen ist/ gleich als stund es nicht darinnen verschwigen/ [...] haben/ welcher schalckheit ich nicht besser auff zudecken/ vnd zustraffen gewist/ dan das ich die Disputation Polnisch vnd Teutsch in Truck gebe/ auff das ein jeder selbs sehe/ was er wares vnn gelogens/ davon gehört hab / [...]" Kontroversliteratur in einer Volkssprache, darunter auch dem Deutschen, wurde offenbar absichtsvoll in einfacherem und weniger konzentriertem Stil geschrieben, weil sie nicht nur die Gelehrten erreichen sollte. Oslander verwandte die wörtliche Ubersetzung seiner Disputation nur dazu, einer Art von Gerücht entgegenzutreten, das sich außerhalb der gelehrten Welt über seine Lehre verbreitet hatte. Wie seine Worte belegen, unterschieden sich lateinische und deutsche Literatur üblicherweise nicht nur im Stil, sondern auch im Inhalt. Spezialfragen der theologischen Kontroverse, die nur die Gelehrten interessierten, behandelte man auch nur in der Gelehrtensprache Latein. Die unterschiedliche Funktion der Sprachen wirkte sich bis in Druckform und Schrifttypen aus: Der deutsche Text der Rechtfertigungs-Disputation wurde zusam-

946

Oslander, Andreas: Ein Disputation//Von der /'Rechtfertigung des Glaubens / //

Gehalten am 24. Octobris. H1550// Andreas Oslander./'Vber diser meiner Disputatio n / hat sich das Hgreulich Liegen vnd Lestern/ wider mich e r = / ' h e b t / darwider ich mein Bekantnus von Hdem Einigen Mitler Jhesu CHristo [!] Hvnd der Rechtfertigung desA Glaubens/ in Truck ge = / / geben hab.z/Königsperg in/' Preussen.//Den 12. Septembris.//1551, A 1 v.

Teilnehmerkreis

173

menhängend in Fraktur gesetzt, der gelehrte Anmerkungsapparat auf dem Rand jedoch in Antiqua und lateinisch. Das Polnische entwickelte sich in Preußen erst im Laufe des 16. Jahrhunderts zu einer Sprache der Kontroversliteratur. Nur einige der preußischen Kontroversschriften erschienen in polnischer Ubersetzung947. Die erste bekannte Kontroversschrift in polnischer Originalsprache war das 1606 erschienene „Compendium" von Maciei Rosentreter, ein Angriff gegen die katholische Kirche, der eine Kontroverse mit dem Jesuiten Marcin Laszcz auslöste948. In den anderen Volkssprachen Preußens, dem Lettischen, Litauischen und Prußischen, gab es keine originäre Kontroversliteratur, also keine Öffentlichkeit von tätigen Streitern. Als im vollen Sinne „öffentliche" Sprachen der wissenschaftlichen Debatte in Preußen können nur Deutsch und Latein gelten, wobei Latein auf einen staatenübergreifenden, Deutsch auf einen schichtenübergreifenden Kreis von Lesern oder Zuhörern zielte. Polnisch hatte in der gelehrten Welt des Herzogtums Preußen nur mindere Öffentlichkeit, da Polnischkenntnisse so gut wie keinen Zugang zur Kontroversliteratur eröffneten. Wer sich an den zeitgenössischen Kontroversen beteiligen wollte, mußte Deutsch oder Latein, besser noch beide Sprachen beherrschen.

3. Die Vermittler In der Sphäre der Vermittler geht es traditionell zu — abgerechnet die seltenen Fälle, in denen von Kanzel oder Katheder neue Erkenntnisse oder Kontroversen verkündet werden. Als Vermittler haben Menschen zu gelten, die sich nicht an den zeitgenössischen Kontroversen beteiligen, sondern die Traditionen des Wissens und der Symbole weitergeben. Auch die „gelehrte Öffentlichkeit", so lebendig und aufgeregt sie sich manchmal darstellen mag, lebt in dieser Schicht ganz nach „altem Herkommen". Die Symbole und Zeichen der Kultur werden nicht vermehrt oder verändert, sondern man sorgt dafür, daß sie erhalten bleiben.

Bsp.: Oslander, Disputation von der Rechtfertigung; Heßhus, Wyznanie, V D 16 Η 3010 (Ubersetzer Hieronymus Maletius). 947

948

Drukarze Dawnej Polski od X V do XVIII wieku, Tom. 4: Pomorze,

opracowaty Alodia Kawecka-Gryczowa oraz Krystyna K o r o t a j o w a (Ksi^zka w dawnej kulturze polskiej, Bd. 10/4), W r o c l a w / W a r s z a w a / K r a k o w 1962, 292.

174

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

Für das Herzogtum Preußen des 16. Jahrhunderts läßt sich die Schicht der Vermittler zwar umschreiben, aber kaum in Namen fassen. Zu den Vermittlern gehörten einmal die — nicht nur akademischen — Lehrer und zum andern die Pfarrer aller Gemeinden, in einem speziellen Sinn auch die „Tolken", Dolmetscher, welche die deutsche Predigt des Pfarrers in die Sprache der Kirchspielskinder übersetzten949. In manchen Orten mußten die Schulmeister den Pfarrer vertreten oder in besonderen Situationen, zum Beispiel für abgelegene Dörfer, die Aufgaben des Pfarrers mit übernehmen 950 . Besonders auf dem flachen Land fungierte der Pfarrer-Lehrer oft als einziger Vermittler christlichen Bildungsguts. Die Vorbildung der meisten Lehrer entsprach kaum ihrer hohen Verantwortung. Für das Amt des Dorfschullehrers genügten elementare Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen 951 ; doch einige Lehrer beherrschten selbst die Grundtechniken nur mangelhaft952. Singen, Beten 953 und der Katechismus gehörten zum Lehrstoff954. Nur selten lehrten auf dem Lande auch „Studierte", zum Beispiel Theologen 955 . Die weitaus meisten Vermittler brauchten also keine hohe formale Bildung. Grundkenntnisse in den heute so genannten Kulturtechniken reichten aus. An den Lateinschulen dagegen unterrichteten „studierte" Leute, oft sogar Gelehrte wie Martin Chemnitz, der die Domschule in Kneiphof Königsberg leitete956. Mit Namen kennt man unter den Vermittlern meist nur jene, die als Verfasser handschriftlicher oder gedruckter Werke hervortraten, also in einem Teil ihres Wirkens zu den tätigen Streitern gehörten. Die Unterschriftenliste der „Repetitio corporis doctrinae" von 1567 enthält einige Pfarrernamen957; manchmal werden Pfarrer oder Lehrer in Visitations-

949

Bitte des Freien Paul Megott aus Pobethen um Unterstützung im Alter: EM 126

d 1221. darin Erwähnung seines Tolkendienstes 1 v. 950

Düsterhaus, Gerhard: Das ländliche Schulwesen im Herzogtum Preußen im 16.

und 17. Jahrhundert, Diss. Bonn 1975, 73; 79. 951

Düsterhaus 150 f.

952

Düsterhaus 89.

953

Düsterhaus 169.

954

Düsterhaus 47; vgl. auch Visitationsabschied Bischof Wigands für Heinrichsdorf,

18. November 1578, Opr. Fol. 1291, pag. 101. 955

Düsterhaus 151; 153.

956

Gause, Königsberg, 288 f.

957

Vgl. Unterschriftenliste der Repetitio Corporis doctrinae, zitiert nach Hubatsch,

Kirche ΠΙ, 192 f.

Teilnehmerkreis

175

abschieden genannt958. Meist aber bleiben die reinen Vermittler anonym. Besser bekannt sind die Ubersetzer von Bibel und Erbauungsliteratur in die nichtdeutschen Volkssprachen Preußens: Hieronymus Maletius, Johannes Seclutianus, Jan Radomski und Marcin Kwiatkowski für das Polnische559, Martin Mosvidius960, Bartholomäus Willent961 und Simon Waischnarus für das Litauische962, Johann Rivius für das Lettische963. Die polnische Übersetzung des Kleinen Katechismus Luthers, von dem polnischen Philologen Liborius Schadilka964, soll 1533 in Königsberg, nach anderen Angaben in Wittenberg gedruckt worden sein965. Der Ubersetzer der Rechtfertigungsdisputation Oslanders ins Polnische, der sich Alexander Czech nannte966, ist wahrscheinlich identisch mit dem Drukker Alexander Augezdecki, der böhmischer Herkunft, also ein „Czech" war967. Ein preußischer Freier namens Paul Megott aus Pobethen erwähnte in seinem Unterstützungsgesuch 1595, er habe an der „Vertirung des Preuschen Catechismus" mitgearbeitet968. Er hatte dem Pfarrer von Pobethen, Abel Will969, bei seiner Katechismus-Ubersetzung ins Prußische geholfen970. Johannes Bretke, der Pfarrer der Königsberger litauDüsterhaus 87. Maletius: EM 93 e 2, Nr. 61, Bd. 1, passim. Seine Bestellung zum Ubersetzer des Polnischen am 28. März 1563 ebenda 38 r. Seclutian: Thielen, Kultur, 113. Radomski: Thielen, Kultur, 113 f.; Wotschke, Theodor: Johann Radomski und Martin Quiatkowski. Die beiden ersten Ubersetzer der Augsburgischen Konfession ins Polnische, in: AMS 52/1916, 159—198; zu Kwiatkowski ferner Gause, Königsberg, 272. 960 Thielen, Kultur, 114; Bense, Gertrud: Die frühen Jahrzehnte der Universität Königsberg in Preußen und die Anfänge des litauischen Schrifttums, in: NordostArchiv, Neue Folge 3/1994, Heft 2: Königsberg und seine Universität. Eine Stätte ostmitteleuropäischen Geisteslebens, 321—323. 961 Bense 323 f. 962 Zu ihm vgl. Vaisnoras, Simonas, in: Lietuvskoji Tarybne Enciklopedija 12, Vilnius 1984, 7. 963 Gundermann, Pfarrbibliotheken, 150. 964 Hubatsch, Kirche I, 91. 965 Drukarze 454. 966 vgl. die Angabe seines Namens bei der Ubersetzung von Oslanders „Disputatio de iustificatione", Seebaß 166, Abbildung ebenda 167. 967 Lohmeyer 12; Drukarze 457. Im Polnischen wird er „Alexander Czech" genannt, vgl. Drukarze 79. 968 Megott an den Herzog, EM 126 d 1221, 2 r. Datum auf 2 ν bis auf die Zahl „95" überklebt. 969 Forstreuter, Kurt: Will, Abel, in: Altpreußische Biographie 2, 806 f. 970 Thielen, Kultur, 115; Gundermann, Pfarrbibliotheken, 148, zu ihm vgl. ebenda. 958 959

176

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

ischen Gemeinde, übersetzte aus seiner Sprachkenntnis971 die Bibel ins Litauische. Die Ubersetzung wurde aber nie gedruckt972 und, soweit bekannt, auch nicht handschriftlich verbreitet. Der Bartensteiner Pfarrer Michael Sappuhn, der seine Ubersetzung einer Predigtsammlung ins Litauische 1573 binden, aber nicht drucken ließ973, gehörte zwar als Vermittler — nämlich als Pfarrer —, nicht aber als Ubersetzer der BildungsÖffentlichkeit Preußens an. In der Vermittlungsschicht der Bildungs-Öffentlichkeit hatten die nichtdeutschen Volkssprachen Preußens hauptsächlich ihr Recht und ihren Platz. Man kann sie deshalb für Preußen als beschränkt öffentliche Sprachen bezeichnen. Im Herzogtum erreichten sie ein nur lokales Publikum. Nur selten fanden sie mit Hilfe von Druck und Buchhandel größere Verbreitung. Außerdem waren diese Sprachen von den Verbindungen der zeitgenössischen Kontroverse abgeschnitten — das Polnische in Preußen teilweise ausgenommen — und hatten daher nicht die Möglichkeit, den Wort- und Symbolschatz der Bildungs-Öffentlichkeit zu verändern oder zu ergänzen. Die Wirkung der nichtdeutschen Volkssprachen in der gelehrten Öffentlichkeit darf man sich trotzdem nicht zu gering vorstellen. Volkssprachliche Predigt konnte die Kirchgänger stärker beeinflussen und auch sprachlich prägen, als es die lateinische Kirchensprache vermocht hätte. Auch in den Schulen wurde in den nichtdeutschen Volkssprachen gelehrt und gelernt, und zwar mit bemerkenswertem Mangel an „nationalen" Vorurteilen und Vorbehalten974. Neben dem Deutschen herrschten Polnisch, Litauisch und Prußisch als Schulsprachen vor. In gemischtsprachigen Gebieten mußten die Schulmeister zwei Sprachen beherrschen. Manche Lehrer sprachen ausschließlich eine nichtdeutsche Sprache. Zum Beispiel hatte das Kirchspiel Eichholz im Amt Balga einen eigenen polnischen Schulmeister975. Der geringere Grad an „Öffentlichkeit" dieser Schicht der Vermittlung wurde — und wird — durch größere zahlenmäßige Wirkungsmöglichkeiten kompensiert.

971

Falkenhahn 86. Falkenhahn 124; 227. 973 Hubatsch, Kirche I, 90. Weniger sicher in der Zuweisung der Übersetzerschaft ist Bense 324. 974 Zum Folgenden vgl. Düsterhaus 185 f.; zur Zweisprachigkeit auch ebenda 88 und 152. 975 Düsterhaus 86. 972

Teilnehmerkreis

177

Zuletzt muß man sich vor Augen halten, daß die Vermittlung von Bildungsgütern häufig weder formal organisiert noch institutionell gestützt wurde und wird. Ein „Hausvater", der mit Kindern und Gesinde ein Abendgebet sprach; eine Mutter, die ihren kleinen Kindern erklärt, wohin die Verstorbenen kommen, oder den Heranwachsenden durch Vorbild zeigt, wie man sich beim Abendmahl zu benehmen hat, vermittelten und vermitteln Bildungsgüter, wenn auch ohne den ausdrücklichen Auftrag einer Institution. Aus der Sicht der Macht gelten informelle Vermittlungsprozesse als „privat", und sie mögen im 16. Jahrhundert nicht grundsätzlich häufiger oder korrekter stattgefunden haben als heute. Für die Bildungswelt des 16. Jahrhunderts aber gehörten sie zur Öffentlichkeit, da sie sich auf das kollektiv verbindliche Bildungsideal bezogen. Dem einzelnen stand vielleicht frei, in welcher Form er religiöse Bildung aufnehmen wollte. Daß und vor allem, was er lernen mußte, schrieb ihm das reformatorische Bildungsprogramm verbindlich vor; und er konnte sich ihm nur entziehen, wenn er überhaupt religiös „ungebildet" blieb. Die Normen der Religion und der mit ihr zusammenhängenden Kultur galten als allgemeinverbindlich und gehörten daher der Bildungs-Öffentlichkeit an. Eine fachspezifische Ausbildung dagegen richtete sich höchstens nach Gruppen- und Berufsnormen und hatte deshalb gegenüber der religiösen Bildung einen geringeren Grad an Öffentlichkeit.

4. Die Lernenden Zuletzt soll von den Zuhörern gesprochen werden, die auf Vermittlung durch andere vollständig angewiesen sind. Als Lernende werden sie bezeichnet, weil sie nicht schlechthin zuhören, sondern zugleich einen Kulturzusammenhang und gewisse sinnvoll geordnete Wissensbestände aufnehmen oder aufnehmen sollen. Damit erwerben sie einen Schatz von Symbolen und Bildungsgütern, der ihr Leben prägen kann, zum Beispiel in Gestalt auswendig gelernter Texte, Sätze oder Melodien, im Gedächtnis behaltener Symbol- und Kenntniszusammenhänge oder in Gestalt von Gewohnheiten, die „in Fleisch und Blut" übergehen. Lesekundige können darüberhinaus aus Büchern lernen, die sie aus Bibliotheken ausleihen, dort lesen oder sich im Buchhandel selbst kaufen. Im 16. Jahrhundert konnte man den vielfältigen Prozessen formeller oder informeller Erziehung und Bildung vielleicht leichter entgehen als

178

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

heute und in einem elementaren Sinne „ungebildet" aufwachsen. Bildung aber hieß im 16. Jahrhundert — mehr als heute — Christentum und Kirchlichkeit. Die Kirche galt wie die Schule als Erziehungsinstitut; das Kirchenvolk bildete die größte denkbare Gruppe von Lernenden. Uber die elementare im Gottesdienst vermittelte Bildung gelangten allerdings nur wenige hinaus; und je höhere Voraussetzungen der formale Bildungsgang erforderte, desto kleiner wurde die Schicht der jeweiligen Zuhörer und Lernenden. Schon die Schule besuchten auf dem Land nur wenige Kinder, oft nur für kurze Zeit und meist unregelmäßig, weil sie den Eltern bei der Feld- oder Hausarbeit helfen mußten976. In den Dörfern gingen fast ausschließlich Jungen zur Schule, Mädchen nur sehr selten. Der Visitationsabschied für das Dorf Montig im Amt Deutsch Eylau erwähnte 1571, daß auch Mädchen unterrichtet werden sollten977. Sie waren auf dem Land von der formalen Bildung praktisch ausgeschlossen. Von den Zielen und Inhalten reformatorischer Politik bekamen sie nur das mit, was ihnen im Gottesdienst oder im alltäglichen religiösen Leben vermittelt wurde — wenn es das überhaupt gab. Städte verfügten mit höherer Wahrscheinlichkeit über eine Schule. In Königsberg allein gab es drei Lateinschulen, eine deutsche Schule und verschiedene von Privatleuten betriebene Schulen vor allem für den Unterricht der Mädchen978. Stadtschulen hatten auch Wehlau, Bartenstein und Rastenburg979. 1584 bestand die Wehlauer Schule noch980, aber auf dem Landtag von 1605/06 bat die Stadt erneut um eine Schule981. In Masuren bestanden im 16. Jahrhundert insgesamt 81 Schulen982. Die kleinste Gruppe der Lernenden bildeten die Studenten — 318 zählte die Universität Königsberg bei ihrer Gründung983. Daß die Lernenden der „unterste Stand" der Bildungs-Öffentlichkeit sind, bedeutet

Zum Folgenden vgl. Düsterhaus 181 f. Düsterhaus 89; Datierung ebenda 82. 9 7 8 Gause, Königsberg, 288 f. 9 7 9 Hubatsch, Albrecht von Brandenburg-Ansbach, 271. 9 8 0 Düsterhaus 111. 9 8 1 Replik auf den Abschied der Oberräte wegen der Spezialbeschwerde der Stadt Wehlau, Landtag 1604/06, o. D., Opr. Fol. 572, 480 r. 9 8 2 Mallek, Janusz: Einwirkung der polnischen Kultur auf das Herzogtum Preußen im 16. Jahrhundert. Das polnische protestantische Schrifttum im Herzogtum Preußen zur Zeit Herzog Albrechts, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 37/1988, 57. 9 8 3 Albinus 309. 976 977

Teilnehmerkreis

179

also noch nicht, daß sie kein Ansehen genössen oder ein „Massenpublikum" darstellten. Ihr niederer „Stand" in der Bildungs-Offentlichkeit resultiert allein daraus, daß sie das Bildungsideal nur aufnehmen, aber weder formal noch inhaltlich beeinflussen können, sofern ihnen nicht pädagogische Reformbemühung ein Mitspracherecht gibt. In der Regel können sich Lernende weder im Prozeß des Lernens noch in dem der Katechese selbst artikulieren. Sie haben im wahren Wortsinne keine Stimme, sind geistig gewissermaßen mediatisiert. Dennoch gehören sie zur Bildungs-Offentlichkeit, denn sie machen die Tätigkeit des Vermittlers und Predigers erst sinnvoll. Nur vor Lernenden kann man lehren, nur vor Zuhörern predigen. Nach dem Verständnis der Bildungs-Offentlichkeit sollen die Lernenden zudem nicht konsumierend-unbeteiligtes, sondern beteiligtes Publikum sein. Während die Kontroversen von der Disputation bis zum schriftlich ausgetragenen Meinungsstreit ein Publikum außerhalb des Disputantenkreises nicht unbedingt brauchen, sind Lehre und Katechese ohne Zuhörer absurd. Die Lernenden, nicht die Lehrer, entscheiden über Gelingen oder Scheitern der Vermittlung. Das Publikum der Lernenden hat deshalb bei Auseinandersetzungen eine einzige, nur negative, aber wirksame Waffe, den Boykott. Es kann sich weigern, zu lernen, also sture Trägheit an den Tag legen, oder seinen Unmut deutlich zeigen, indem es „mit den Füßen abstimmt", wie diese Art des sichtbaren Protestes heute heißt. Im 16. Jahrhundert nannte man sie das „Auslaufen". Das Wort bezeichnete den Gang zu einem anderen Prediger als dem des eigenen Kirchspiels. Im Preußen der Reformationszeit nutzten viele Menschen diese Möglichkeit, vor allem während der großen innerprotestantischen Lehrstreitigkeiten, etwa des Osianderstreits in den fünfziger Jahren984. Aus den Grenzgebieten zu Litauen berichtete der Erzpriester von Ragnit, Martin Mosvidius, daß viele Gläubige an den katholischen Feiern jenseits der Grenze teilnahmen, anstatt den evangelischen Gottesdienst zu besuchen985. Bis ins 17. Jahrhundert hinein zogen katholische Feiern und Zeremonien preußische Einwohner der grenznahen Gebiete an, ob diese Menschen nun aus Uberzeugung oder aus Gewohnheit an den Bräuchen der alten Kirche

984 985

Bsp.: Fligge 261; 283. Hubatsch, Kirche I, 62.

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

180

festhielten986. Evangelische Adlige aus dem Ermland wiederum kamen zum Gottesdienst nach Preußen987 — diese sicherlich aus Überzeugung, da sie sich ja für eine damals neue, ungewohnte Form des Glaubenslebens entscheiden mußten. Menschen, deren Funktion in der BildungsÖffentlichkeit äußerlich sozusagen im bloßen Dasein bestand, gaben ihrem Unwillen Ausdruck, indem sie sich weigerten, auch nur „unbeteiligtes Publikum" zu sein. Daß die Zuhörer selbst kollektiv ihre Meinung sagten, kam dagegen äußerst selten vor. Erst, wenn eine Kontroverse in der gelehrten Welt sehr tief gedrungen war und heftig bewegte, fühlten sich auch die nur lernend Beteiligten zur gemeinschaftlichen Parteinahme gedrängt. Im Osianderstreit mußte Herzog Albrecht in seinem Mandat vom 11. August 1555 verbieten, daß das einfache Volk die Streitfragen um Oslander „in Bier Collation vnd andern gleichfals örtern [diskutierte]/ da sichs am wenigsten gebürt noch geziemet"988. Als Oslanders hervorragendster theologischer Gegner, Joachim Mörlin, 1553 vom Herzog des Landes verwiesen wurde, entschlossen sich einige „Lernende" gar zu dem Versuch, durch eine sichtbare Demonstration Einfluß auf die Kirchenpolitik zu nehmen989. Frauen aus Mörlins Gemeinde zogen gesammelt vor das Schloß, den Herzog um die Rückberufung Mörlins zu bitten990. Dieser Bittgang zeigt nicht nur ein Beispiel für die Aktivität der „gemeinen Frau" in der Reformationszeit, sondern auch eine geschickt gewählte Form des Protestes. Die Akteurinnen waren nämlich sozusagen sichtbar Privatpersonen; sie gehörten nicht der Öffentlichkeit der Macht an, wie man es von jedem mündigen Mann der Zeit in gewissem Sinne hätte sagen können. In dem Bittgang der Frauen meldete sich nicht die Öffentlichkeit der Macht, sondern die des reformatorischen Bildungsideals zu 986 Zeeden, Ernst Walter: Die Entstehung der Konfessisonen. Grundlagen und Formen der Konfessionsbildung im Zeitalter der Glaubenskämpfe, München/Wien 1965, 88. Hubatsch, Kirche I, 95; Zieger 146. Albrecht, Herzog von Preußen: Des Durchleüchtig-^sten Hochgebornen Fürsten vnnd/' Herrn/ Herrn Albrechten des Eltern Marg-/' graffen zu Brendenburg/ inn Preussen/ H zu Stettin/ Pommern/ der Cassuben/' vnnd Wenden Hertzogen/ Burg=Agraffen zu Nürmberg/ vnncL/Fürsten zu Rügen/etc./'Mandat//An jhr Fürstlichen Durchleuchtig-//keyt Vnderthanen außgangen den WH Augusti/ H ANNO. M. D. LV.//Gedruckt zu Königsperg inn//Preussen/ durch Johannz/Daubman, A 4 v. 989 piigge 1 9 2 . 987

988

990

Fligge 197.

Teilnehmerkreis

181

Wort. Darauf sollte der Herzog nicht in den Kategorien der MachtÖffentlichkeit reagieren, wie er es vielleicht gegenüber einer ständischen Gesandtschaft getan hätte. Die Frauen sollten ihn als Mitglied der Bildungs-Offentlichkeit verpflichten, der er sich als „Privatperson" und nicht nur als Fürst zurechnete.

π Kommunikationsformen 1. Mündliche und schriftliche

Kommunikationsformen

Wie im Bereich der Macht, so standen auch in der gelehrten Öffentlichkeit schriftliche und mündliche Kommunikation zueinander in Konkurrenz, und nicht immer erwies sich die mündliche Form als unterlegen. In der Schicht des Lernens und Aufnehmens herrschte Mündlichkeit vor, weil die meisten Lernenden nicht lesen konnten. Ins schriftunkundige „Volk" drangen die Streitfragen der Zeit meist durch die Vermittlung der Predigt oder des Liedes — vor allem aus den Osiandrischen Streitigkeiten sind Spottlieder und Spottverse überliefert991. Nicht Lesekundige können durch Vorlesen von den Steitfragen erfahren haben. Viele Verfasser von Flugschriften zählten darauf, daß ihre Werke nicht nur gelesen, sondern auch vorgelesen würden992. So konnten selbst Analphabeten an den Kommunikationsprozessen der „gelehrten" Welt teilhaben, wenn auch nur aufnehmend. Aber auch unter den Lese- und Schreibkundigen spielte die mündliche Kommunikation noch eine große Rolle. Selbst der einsame Leser in der Studierstube las für gewöhnlich laut993; er lernte über Ohr, Auge und Sprechwerkzeuge zugleich. Vorlesung und Disputation zogen Zuhörer an, nicht nur, weil sich viele Studenten keine eigenen Lehrbücher kaufen konnten. Hören galt vielleicht gegenüber dem Lesen als die sicherere und bequemere Art des Lernens; „O du armer Morlein" nach dem geistlichen Volkslied „O du armer Judas, was hast du getan": HBA J2 955, Α. Z. 3. 43. 209. 992 Vgl. das Begleitschreiben Herzog Albrechts zur „Christlichen Verantwortung", HBA Konz. Η 1264 [Mappe datiert vom 29. Oktober 1526], Musterbrief an Erzherzog Ferdinand, Kurfürsten und Fürsten, 1. November 1526, ebenda 7 r, Datierung 7 a, v. Vgl. auch Giesecke, Buchdruck, 288. 993 Schön, Erich: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800 (Sprache und Geschichte, hg. von Reinhart Koselleck und Karlheinz Stierle, Bd. 12), (Stuttgart 1987), 99—104; besonders ebenda 100 f. 991

Kommunikationsformen

183

die Disputation mag mehr Begegnungs- und Beteiligungsmöglichkeiten geboten haben als die einsame Lektüre. Mündliche Formen der akademischen Unterweisung wurden aus Tradition noch im Zeitalter des Buchdrucks weiter gepflegt, etwa die Quaestio, die Beantwortung der „Frage" eines Schülers994. Die humanistische „oratio" schließlich bereitete wohl hauptsächlich als mündlicher Vortrag ästhetisches Vergnügen995. Zum gedruckten Buch hatten Lernende in der Frühen Neuzeit seltener Zugang. Noch waren Bücher teuer und nicht jedem erschwinglich. Das Buch als Lernmittel empfahl sich aber besonders, wenn der Lernende einen bestimmten „Stoff" ständig verfügbar haben und nachprüfen können sollte. Der protestantische „fromme Leser" konnte, wenn er genug Geld hatte, mit Bibel und Katechismus die Elementarbücher seines Glaubens erwerben und besitzen. Der Kaufmann oder Handwerker lernte aus dem Rechenbuch996; die lesekundige Hausfrau mochte den Rat eines Arzneibuches schätzen997; wer auf Reisen ging oder sich mit anderssprachigen Standes- und Berufsgenossen verständigen wollte, konnte ein Lexikon gebrauchen998. Die Postillen dienten als eine Art Lehrbuch des Predigens999. Die Pfarrer wurden ausdrücklich angewiesen, eine Po9 9 4 Bsp.: Heßhus, Tilemann: QVAESTIO// AN FIDELIVM// LIBERI SANCTI SINT//AB V T E R O ANTE//BAPTISMUM://Ecplicata a//TILEMANO HESHVSIO// Episcopo Sambiense in promoti=/^ one Magistrorum quae fuit//2. Aprilis RegiomonxtH 1576^REGIOMONTE BORVSSIAE//typis Georgii Osterbergeri. Zur Gattung vgl. Kristeller, Paul Oskar: Der Gelehrte und sein Publikum im späten Mittelalter und in der Renaissance, in: Jauss, Hans Robert/ Schaller, Dieter (Hgg.): Medium aevum vivum. Festschrift für Walther Bulst, Heidelberg 1960, 216—218. 9 9 5 Bsp.: Heßhus, Tilemann: O R A T I O / / D E VERAE E T S A = / / L V T A R I S CONCORDIAE IN// ECCLESIA STABILI// FVNDAMENTO.// Habita// IN ACADEMLA/ Regiomontana.// AJ/ Tilemano Heshusio Episcopo/' Sambiense./' Regiomonte Borussiae per// Ioannem Daubmannum.// Anno 1573. Zur Gattung vgl. Kristeller 218 f.

Bsp.: Die Coß Christoff Rudolffs mit schönen Exempeln der Coß, durch Michael Stifel gebessert und sehr gemehrt, Königsberg 1553 (1554), zitiert nach Zachert 9 C, 660. 9 9 7 Bsp.: Ociorus: Artzneybuch, fast wunder köstÜch [...], Königsberg 1555, zitiert nach Zachert 9 C, 660. 9 9 8 Bsp.: Wokabularz io//zmaitych Sentenciy y po=//trzebnych / Polskim y N i e m i e = / ' c k i m Mlodziencom nä /^pozytek terras ze=//brany. //Ein Vocabu=/' lar mancherley schönen vnd// notwendigen Sententien/ der// Polnischen vnd Deutschen Jugend zu nutz zu=/'samen getra=/ / gen./Orukowano w Krolewcu V r u = / / skim ν Jana Daubmana/ Rokuz/Panskiego 1571. 9 9 9 Zum Folgenden vgl. Visitationsinstrunktion 1528, zitiert nach Sehling 4, 43. 996

184

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

stille als Predigthilfsmittel zu verwenden. Wahrscheinlich schien die dogmatische Korrektheit auf diese Weise am ehesten gesichert. Uber den Status des lernenden Zuhörers aber kam man schon im 16. Jahrhundert nur dann hinaus, wenn man lesen konnte. Schon auf sehr niedriger Ebene lief die schriftliche Kommunikation der mündlichen eindeutig den Rang ab. In der gelehrten Öffentlichkeit hieß höherer Rang größere Schriftlichkeit und umgekehrt. Zwar konnte sich ein Lehrer unter Umständen noch mit elementaren Kenntnissen begnügen. Der Weg ins protestantische Predigeramt aber verlangte in zunehmendem Maße ein Hochschulstudium. Lutherische Landesherren achteten besonders auf die Ausbildung ihrer Prediger1000. Die Predigt von NichtAkademikern und Leuten ohne besondere Erlaubnis und Prüfung wurde in der Nachfolge Luthers verboten und verfolgt. Vor „kuchen predigern" warnte schon Bischof Polentz in seiner ersten reformatorischen Predigt1001. Die Visitationsinstruktion von 1528 wies die Visitatoren an, darauf zu achten, daß niemand predige, den nicht der Bischof geprüft und für gut befunden habe1002; und auch in der Kirchenordnung für die Böhmen von 1549 wurden die „Winkelkirchen" — Gottesdienste und Zeremonien in den Häusern — ausdrücklich verboten1003. Auch in der Vermittlerschicht, in Predigt und Katechismusunterricht, spielten sich die meisten Kommunikationsprozesse mündlich ab. Vor Analphabeten versteht sich die mündliche Rede von selbst; aber auch vor Lesekundigen bewährt sie sich wegen ihrer Flexibilität und Eindringlichkeit. Nicht nur gelegentlich holte sich der Lehrende für seinen Vortrag Hilfe aus schriftlichen Notizen oder aus Büchern. Die Vermittlung durch Vorlesen spielte eine große Rolle. Die universitäre „Vorlesung" hat von dieser Form der Kommunikation den Namen1004. In der Kirche las der Pfarrer die Bibel in ausgewählten Abschnitten1005 und den 1000 Visitations-Instruktion vom 24. April 1528, Sehling 4, 43; Kirchenordnung 1558, zitiert nach Hubatsch, Kirche ΙΠ, 39 f., mahnt die Pfarrer zu fleißigem Studium. Zum Prinzip vgl. Frick, R.: Pfarrervorbildung und -Weiterbildung, in: RGG, Bd. 5 (3)1961, 295 f.; Hubatsch, Albrecht von Brandenburg-Ansbach, 271. 1001 Polenz, Christtag, A 3 ν sq. 1002

Sehling 4, 43.

1003

Zitiert nach Hubatsch, Kirche ΙΠ, 14.

1004

Engelsing, Rolf: Arbeit, Zeit und Werk im literarischen Beruf (Der literarische

Arbeiter, Bd. I), Göttingen (1976), 103. 1005

Artikel von Ceremonien und ander Kirchen Ordnung, 10. Dezember 1525, zi-

tiert nach Sehling 4, 30; Gottesdienstmandat 1543, zitiert ebenda 59.

Kommunikationsformen

185

Katechismus vor, den die Katechumenen dann auswendig lernen mußten1006. Um die Kenntnisse zu überprüfen, sollte der Pfarrer seine Kirchspielskinder regelmäßig im Katechismus „abhören"1007. Im vielsprachigen Preußen hieß Vermittlungskompetenz oft noch mehr als formale Bildung. Pfarrer und Lehrer mußten je nach Dienstort Polnisch, Prußisch, Kurisch, Lettisch oder Litauisch beherrschen. Konnte der Pfarrer nicht in der Sprache seiner Kirchspielskinder predigen, brauchte er einen Tolken, der die Predigt übersetzte1008. Die Tolken mußten außer ihrer Sprachenkenntnis keine besondere formale Bildung nachweisen. Auch an der Ubersetzung wichtiger Bücher der Tradition wirkten Sprachkundige mit, die nicht studiert hatten, wie ζ. B. an der Übersetzung des prußischen Katechismus1009. Die Leiter der Ubersetzergruppen freilich waren „studierte" Leute, oft Theologen wie Johannes Bretke1010. Bretke ließ seine Bibelübersetzung sogar nur durch Amtsbrüder gegenlesen1011. Selbst die Korrektoren seiner Postillenübersetzung waren zum großen Teil Pfarrer1012. Insgesamt überwog auf der Stufe der Vermittlung wohl noch die mündliche Kommunikation. Nur in besonderen Situationen des Lehrens brauchte man Bücher. Die Kommunikation in den beiden „Oberständen" der gelehrten Welt, unter den aktiven Streitern und den „Bildungspolitikern", setzt dagegen innige Vertrautheit mit der Schriftkultur unabdingbar voraus. Nur vereinzelt hielten sich mündliche Redeformen wie die akademische Disputation1013, das gelehrte Gespräch oder die für die Universität als Korporation wichtige Rechtfertigung1014. Wichtige Auseinandersetzungen wurden den Universitätsangehörigen jedoch schriftlich durch An1006

Gottesdienstmandat 1543, zitiert nach Sehling 4, 59. Zum Prinzip des Auswen-

diglernens vgl. Surkau, H. W.: Katechetik, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Dritte, völlig neu bearbeitete Auflage, in Gemeinschaft mit Hans Frhr. v. Campenhausen, Erich Dinkier, Gerhard Gloege und Knud E. Legstrup herausgegeben von Kurt Galling, Dritter Band, Tübingen 1959, 1175 f. 1007

Sehling 4, 59.

1008 Unterstützungsgesuch des Paul Megott 1595, EM 126 d 1221, passim. 1009

Unterstützungsgesuch des Paul Megott 1595, EM 126 d 1221, 2 r.

1010

Falkenhahn 37—42.

1011

Falkenhahn 102 f.; 114 f.

1012

Falkenhahn 238—241.

1013

dazu Hollerbach 10—15.

1014

Zum Folgenden vgl. als Beispiel: M. loan. Sciurus Scholasticae Iuventuti S.,

H B A J2 955, Α. Z. 3.43.195, 2v sq.

186

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

schlag bekanntgegeben1015. Die gedruckte oder handgeschriebene Ankündigung einer Disputation nannte oft gleich die Thesen, über die disputiert werden sollte1016, und gab damit den Zuhörern Gelegenheit, sich vorzubereiten. Die Form der Disputation lag traditionell fest bis in die Art des Argumentierens. Inhaltlich konnten Disputationen durchaus Neues enthalten und sogar große Kontroversen auslösen wie Luthers frühe Disputationen oder in Preußen die Disputation des Mathematikers Matthias Lauterwald, mit der der Osiandrische Streit begann1017. Die Disputation war an die körperliche Anwesenheit der Teilnehmer gebunden und deshalb auf ein lokales Publikum begrenzt. Die schriftliche Kommunikation gab den Streitern im Konfessionenkampf die Chance, über weite Entfernungen zu wirken, zumal der Druck die Schriften auf die schnellste mögliche Art verbreitete. So wurde im Reformationszeitalter der Austausch von Streitschriften die vorherrschende Form der Auseinandersetzung in der gelehrten Öffentlichkeit. Flugschriftentitel, die mit den Worten „Antwort"1018, „Entgegnung"1019 oder einfach „Wider den"1020 begannen, weisen darauf hin, daß der Schlagabtausch in Streitschriften gewissermaßen als Fortsetzung der Disputation mit anderen Mitteln angesehen wurde. Eine Streitschrift galt als schrift-

Hollerbach 13. Höllerbach 13. 1 0 1 7 Fligge 57. 1018 Mörlin, Joachim: Antwort auff das Buch des Osiandrischen schwer»/'mers in Preussen / M. Vogels / H darinnen er sein beduncken an=H zeiget von der furgefal\n=Hnen zwispalt/ vnd//meinem brieif//an jn.//Joachimus Mörlin D./Altern Matth. Fl. Myrici von dem Gebet einer Ο=Osiandrischen Person/ vber den lxxi. Psalm./Έ. CORINTH. ΠΠ 0 Wir gehen nicht mit schalckheit vmb/ fei=//sehen auch nicht Gottes wort/ sondern mit// öffentlicher warheit/ vnd beweisen vns wol gegen/1 aller Menschen gewissen für Gott. [Magdeburg 1557], HAB J 198 Heimst. (6). 1019 Oslander, Andreas: Widerlegung:/' Der vngegrundten vndienstlichen/ H Antwort Philippi melantho=/'nis/ sampt Doctor Johannes Pomerani vnbe=/Machtem/ vnd Doctor Johannis Försters/falschem Lestergezeugnis/ Wider mein/'Bekantnus zu Witteberg ausgangen./'Vnd ist PHILIPPJ Ant - H wort/ sambt der Andern/'Zeugnissen/ hierin vonHwort zu wort/'eingeleibt./' Andreas Oslander /'Rom. 3./^γ schlund ist ein offen grab [,..]/'Königsperg in/'Preussen./'M. D. LH. 1020 Oslander,Andreas: Wider den Erlogenen Schelmischen /'Ehrndiebischen Titel/ auff D. /ΪΟACHIM Mörleins Buch / ÖVon der Rechtfertigung des Glaubens/' zu dem er seinen Namen/ ans Liecht zusetzen/ H aus Pösem GEWISSEN/ /gescheuhet hat. H Andreas Osiander./'[folgt Motto]/' Gedruckt zu Konigsperg in Preussen./' XXVm. Maij.//M.D.Ln, SBPK Cu 5050 R. 1015 1016

Kommunikationsformen

187

liehe Aussage in einem längeren Diskussionsprozeß, auf die der Gegner wieder mit einer Schrift antworten konnte oder sogar mußte. Oslander erklärte in seiner Streitschrift „Wider den Erlogenen [...] Titel/ auff D. Joachim Mörleins Buch [...]", die Schrift richte sich gegen Mörlins und Venedigers Buch von der Rechtfertigung des Glaubens1021. Dieses Buch wiederum sei die Antwort der Theologen Mörlin, Hegemon und Venediger auf Oslanders Schrift „Von dem einigen Mittler", die er selbst als „Bekenntnis" bezeichnete. Der Kneiphöfische Prediger1022 Matthäus Vogel, ein Osiandrist, schrieb 1557 einen „Dialogus" als Erwiderung auf eine Schrift Joachim Mörlins1023. Mörlin antwortete noch im gleichen Jahr mit einer Gegenschrift, die in Magdeburg gedruckt wurde1024, worauf Vogel, ebenfalls noch 1557, eine „Widerlegung" drucken ließ1025. Mörlin reagierte mit einer „Apologia"1026, gegen die Vogel wiederum eine „Antwort" verfaßte1027. Aufs Ganze gesehen, gab es in der Bildungs-Offentlichkeit vielleicht mehr verschiedene Formen der schriftlichen als der mündlichen Kommunikation. Auch treten die schriftlichen Formen für den nachlebenden Historiker stärker in Erscheinung, weil sie überliefert werden konnten. Zum Folgenden vgl. Oslander, Wider den erlogenen Titel, fol. Π r. Nach: Vogel, Matthäus: Antwort/M. Matthei V o = / gels/ auff D. Joachim Morleins/'zu Braunschweig nechst auß=/gegangene Apologiam/1558. [folgt Motto aus 1. Kor. II]//Gedruckt zu Königsperg inn/Preussen/ durch Johann/Daubman/ M.D. L v m . 1023 Vogel, Matthäus: DIALOGUS oder Gesprech eines/armen Sünders mit Moyse vnad// Christo/ von der Rechtfertigung des// Glaubens/ auß Heyliger Schrifft/ gegründt vnnd gesteh./ durch/ Mattheum Vogel/ Sampt seinem Bedencken von der zugetragenen zwispalt vber solchen/Artickel./Vnd einer antwort auff D./Joachim Mörlein vnge=/stümmen sendbrieff./ Tit.2. [folgt Motto]/1557. 1021

1022

Mörlin, Antwort auf das Buch, [Magdeburg 1557]. Vogel, Matthäus: Widerlegung der// ungegründten Antwort D./Mörlins/ auff mein Buch/ Weichs/ich wider jn zuschreiyben durch/seinen Lesterbrieff bin g e = / drungen worden/'Mattlieus Vogel./l. Pet. 3./Seit aber alzeit vrbütig zur a n t = / w o r tung jederman/ der grundt fordert/ / d e r hoffnung die in euch ist/ [...][Königsberg] 1557. 1026 Mörlin, Joachim: A P O L O G I A / Auff die vermeinte w i = / derlegung des Osiandrischen/schwermers in Preussen/ / M . Vogels./Sampt grundlichem kurtzen B e = / rieht/ Was der Haubtstreit vnd die Lere/Osiandri gewesen sey/ Allen Christen/nützlich zu lesen/ sich fur/den Grewel zu/hüten./Joachimus Mörlin D./[folgen Motti aus Sprüche 17 und Jer. 15].o. O. o. J. [Magdeburg 1557/58]. 1027 Vogel, Antwort M. Matthei Vogels auff D. Joachim Morleins zu Braunschweig nechst außgegangene Apologiam, 1558. 1024

1025

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

188

Dennoch stellte Schriftlichkeit in der Öffentlichkeit der Bildung noch nicht die ausschließliche Norm dar. Die These, die Schrift sei deshalb zum bevorzugten Medium der Wissenschaft geworden, weil schriftliche Aussagen als glaubwürdiger gälten1028, läßt sich zumindest für die gelehrte Öffentlichkeit des 16. Jahrhunderts nicht belegen. Hätte der mündliche Vortrag im 16. Jahrhundert schon erheblich weniger Autorität genossen als die schriftliche Fixierung wissenschaftlicher Äußerungen, so hätten Vorlesung und Disputation schon bald nach der Verbreitung des Buchdrucks aussterben müssen oder bestenfalls als Randformen der öffentlichen Kommunikation weiterexistieren dürfen — was sie heute tatsächlich sind. Im 16. Jahrhundert bestanden sie aber nicht nur fort, sondern dienten als wichtige, wenn nicht als die wichtigsten Formen der Ermittlung und Verbreitung von „Wahrheiten" in der BildungsÖffentlichkeit. Disputationen etwa wurden zwar schriftlich vorbereitet; als wissenschaftlich verbindlich aber galt der tatsächliche Ablauf des Gesprächs1029. Gerade die mündliche Form der Aussage schuf „Autorität", die schriftliche Vorbereitung war nur eine Hilfskonstruktion. Sie erleichterte den Prozeß der Wahrheitsfindung, aber sie stellte ihn nicht selbst dar. Mündliche Kommunikationsformen hatten in der Öffentlichkeit der Bildung nicht nur der Menge, sondern auch dem Rang nach ein erheblich höheres Gewicht als heute.

2. Symbolische Kommunikation in Kirche und Universität Symbolische Kommunikation spielte in der Kirche seit jeher eine bedeutende Rolle. Heilstatsachen zeigen sich sinnbildhaft in den sakramentalen Riten. Freude und Frömmigkeit, Gottesliebe und Bußgesinnung schufen sich ihren Ausdruck in Prozessionen und Wallfahrten, Weihefeiern und allen Arten von Festen. Die symbolischen Formen dienten ebenso der „theoretischen" Vermittlung der christlichen Lehre wie der praktischen Einübung von Frömmigkeitsstilen. Symbolische Ausdrucksformen — neben dem Gemeindegesang, der freilich in der alten Kirche

1028

Cahn, Michael: Die Medien des Wissens. Sprache, Schrift und Druck, in: ders.:

Der Druck des Wissens. Geschichte und Medium der wissenschaftlichen Publikation (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ausstellungskataloge 41), Berlin (1991), 43. 1029

Hollerbach 12 f.

Kommunikationsformen

189

mehr geduldet als bewußt geübt wurde1030 — boten den Lernenden eine Möglichkeit, sich aktiv am Gottesdienst zu beteiligen und für sein Gelingen Verantwortung zu tragen. Die Kenntnis von Formeln, Riten und Zeichen kann darüberhinaus geistiger Besitz werden und ermöglicht das selbständige Mitvollziehen der Feier. Gegenstand der Auseinandersetzung oder gar des Streites wurden die symbolischen Ausdrucksformen mittelalterlichen Glaubens nur selten. Veränderungen im Gebrauch der Symbole zeigten schwere Erschütterungen an, die sich bis ins einfache Kirchenvolk auswirkten wie die Auseinandersetzung um die Bilderverehrung und die Verweigerung oder Gewährung des Laienkelches. Die Reformation bedeutete für die Symbole in der christlichen Kirche einen Einbruch von kaum zu überschätzender Gewalt. Die preußischen „Themata episcopi Riesenburgensis" von 1525 verbannten mit einem Schlag fast sämtliche symbolischen Ausdrucksformen des bisherigen Glaubens aus dem kirchlichen Leben1031. Prozessionen, Wallfahrten, Palmen- und Wasserweihe wurden abgeschafft, dazu natürlich die mit den meisten altkirchlichen Sakramenten verbundenen Handlungen. Übrig blieben nur Taufe und Abendmahl als „öffentliche", gemeindebezogene Sakramente — und eine Zeitlang noch die lateinische Sprache der Liturgie mit der für Preußen bezeichnenden Begründung, dann könnten die „Undeutschen" wenigstens die Form der Messe verstehen, wenn sie schon der deutschen Predigt nicht zu folgen vermöchten1032. Anstelle der vielen altkirchlichen Frömmigkeitssymbole erkannte der lutherische Protestantismus nur noch zwei an, die beiden Sakramente Taufe und Abendmahl. An der Predigt, die dem Protestantismus hervorragend wichtig wurde, beteiligte sich das Kirchenvolk nur empfangend, allenfalls lernend, aber nicht mitvollziehend. Die Abschaffung der Feier von Heiligentagen ließ sich zwar nicht so streng durchsetzen, wie Bischof Erhard von Queiß es zunächst gewünscht hatte1033. Verschiedene Marienfeste wie Mariä Reinigung, Verkündigung, auch Beschneidung Christi und Epiphanias bestanden weiter1034, halbtägige Apostelfeste führte die Kirchenordnung von 1568 sogar neu ein1035. Auch der Exorzismus bei 1030

Brednich 1, 53; 56. Zum Folgenden vgl. Sehling 4, 29. 1032 Artikel von Ceremonien und ander Kirchen Ordnung, 10. Dezember 1525, zitiert nach Sehling 4, 31. 1033 Themata Episcopi, Sehling 4, 29. 1034 Zieger 103. 1035 Zieger 105. 1031

190

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

der Taufe wurde wieder eingeführt, als Unterscheidungsmerkmal des preußischen Luthertums gegen den erstarkenden Calvinismus1036. Aber die von Queiß aufgezählten symbolischen Ausdrucksformen des alten Glaubens blieben verpönt. Für die kirchliche Öffentlichkeit bedeutete das reformatorische Werk zugleich Konzentration und Verarmung. Das öffentliche Bekenntnis des Glaubens konzentrierte sich in vorher nicht gekannter Weise in der Predigt. Damit glich es sich tendenziell den Gebräuchen der gelehrten Welt an 1037 , wurde intellektualisiert und verschriftlicht. Sicher hat die Hochschätzung des Wortes im Protestantismus nicht nur der Lesefähigkeit und dem Schulwesen, sondern auch dem gelehrten Streit Auftrieb gegeben. Das Kirchenvolk aber verlor durch die Reformation viele Möglichkeiten, symbolische Ausdrucksformen des Glaubens zu finden und zu üben. Die „unteren Stände" der gelehrten Welt wurden durch die Reformation nicht befreit, sondern entmündigt, weil „symbolisch mediatisiert". Ihre Aufgabe war nur noch, das Wort zu „hören und [zu] bewahren" (Lk. 11, 28), während ihr symbolisches Glaubenszeugnis in der kirchlichen Öffentlichkeit zurückgedrängt wurde. Der verbreitete Irrtum, Glaube habe hauptsächlich mit dem Fürwahrhalten von Lehrsätzen zu tun, mag auch mit der „Verschriftlichung" der kirchlichen Praxis im Protestantismus zusammenhängen. In der Universität gab es anscheinend weniger symbolische Kommunikationsformen als in der Kirche. Symbolische Handlungen fanden aber wie in Kirche und Politik bei bedeutenden Statusänderungen statt, etwa bei der Verleihung der Magister- oder Doktorwürde. Durch die Magisterpromotion wurde der Magister in die Gemeinschaft der Lehrenden aufgenommen1038. Er erhielt offiziell die akademische Lehrbefugnis — wenn er auch eventuell schon vorher als Baccalar jüngere Kommilitonen unterrichtet hatte1039. Als Zeichen seiner Aufgabe bekam der Magister bei seiner Promotion Buch und Barett 1040 sowie einen goldenen Ring 1041 . Fortan trug der Magister als Amtstracht die cappa, einen ärmel1036

Zeeden, Entstehung der Konfessionen, 91 f.

1037

Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis, 35 vergleicht die protestantische Pre-

digt mit der Schullehre. Ahnlich formuliert Zieger 79, daß die neue Form des Gottesdienstes das Schwergewicht auf die Belehrung gelegt habe. 1038 Wieruszowski 106. 1039 Grimm, Gunter E., 54 f.; ähnlich Wieruszowski 105 f. Wieruszowski 106. 1041 Grimm, Gunter E., 57. 1040

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losen weiten Mantel1042. Die Riten der Magisterpromotion, zu denen der „Bruderkuß" des präsidierenden Magisters gehörte, ähnelten den Initiationsriten der Zünfte1043; die cappa erinnerte an ein Mönchsgewand1044. Die Doktorpromotion fand in der Kirche statt und wurde mit einem eigenen Gottesdienst eingeleitet; auch die Rektorwahl vollzog sich in der Kirche1045. Mit hoher Wahrscheinlichkeit übernahm auch die evangelische Albertina diese akademischen Traditionen. Sie betonten insgesamt die Nähe des akademischen Lebens zum klösterlichen1046. Eher „inoffizielle" Riten des Statuswechsels begleiteten die Aufnahme neuer Studenten. Die Neuen mußten sich von ihren älteren Kommilitonen zeremoniell verspotten lassen1047, ähnlich wie Lehrlinge bei ihrer Lossprechung1048. Für die Neulinge sollen die Initiationsriten sehr kostspielig, oft auch grausam gewesen sein1049. Von der universitären Obrigkeit wurden sie deshalb nur geduldet oder hingenommen, wenn nicht sogar verboten. In den akademischen Riten des Statuswechsels stellte sich die Universität ihren Angehörigen teils als zünftische Handwerksgemeinschaft, teils als klosterartige Kommunität dar. Daran änderte die Reformation offensichtlich nichts, obwohl sie der Kirche sozusagen einen Kahlschlag der Symbolik beschert hatte. Nach wie vor der Reformation waren symbolische Handlungen für die Universität wichtig. Wie die Riten des Statuswechsels zeigen, wurde das Amt des Universitätslehrers — anders als das des evangelischen Predigers — nicht als bloße Funktion, sondern als den ganzen Menschen bestimmendes Verhältnis zu den Mitmenschen und zu Gott verstanden. Alle genannten Statuswechsel-Riten waren von Bedeutung für die Universität als Korporation. Zur Öffentlichkeit der Bildung gehörten nur zwei: die Verleihung des Magistergrades und die Ordination der evangelischen Pfarrer. Beide Riten bezeichneten den Ubergang vom Status des Lernenden zu dem des Vermittlers. Die Doktorpromotion stellte demgegenüber nur eine Erweiterung der Lehrbefugnis dar: Der Doktor 1042 Wieruszowski 111. Zur Amtstracht vgl. auch Grimm, Gunter E., 45 f.; 57. 1043 Wieruszowski 106; zum Ritus auch Grimm, Gunter E., 57. 1044 Wieruszowski 110; Grimm, Gunter E., 45. 1045 1046 1047 1048 1049

Gause, Königsberg, 296. Ellwein 26 f. Wieruszowski 104. Zu diesen Spottzeremonien Horn 538. Zum Folgenden vgl. Wieruszowski 104.

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II. Die Öffentlichkeit der Bildung

durfte grundsätzlich an jeder Universität lehren1050. Daß es sich um selbständige Riten der Gelehrten und nicht der Macht-Öffentlichkeit handelt, zeigt sich daran, daß weder Ordination noch Promotion den Amtsträger automatisch zu einem Mitglied der Macht-Öffentlichkeit machen, zumal wenn, wie im evangelischen Preußen, kirchliche und weltliche Machtfunktionen nicht zusammenhingen. Andere Statuserhöhungen führen eindeutig in politische Amter, etwa zum Dekanat, Rektorat oder zum Bischofsamt. Sie müssen aber nicht unbedingt eine Statusänderung auch innerhalb der gelehrten Öffentlichkeit nach sich ziehen. Für den Eintritt eines Vermittlers in die Schicht der tätigen Streiter oder der „Bildungspolitiker" kennt die Öffentlichkeit der Bildung bis heute keine Symbole. Denn während die Vermittler ihr Amt lebenslang oder zumindest längerfristig ausüben, kann man der Schicht der tätigen Streiter nur punktuell angehören, nämlich, wenn man eine Schrift veröffentlicht und solange sie auf dem Buchmarkt erhältlich ist. Der Ubergang in die Schicht der tätigen Streiter begründet also kein dauerhaft verändertes Verhältnis zu den Mitmenschen und braucht daher keine symbolische Mitteilungsform. Auch „Bildungspolitik" war im 16. Jahrhundert eine punktuelle Aufgabe, kein längerfristig ausgeübtes Amt, und wurde deshalb nicht symbolisch dargestellt. Pfarrer, Bischöfe oder Territorialherren konnten sich zwar langfristig bildungspolitisch betätigen. Dann gehörte „Bildungspolitik" aber zu ihrem Amt und brauchte wiederum keine eigene symbolische Darstellung. Symbolische Riten als Mitteilungen einer dauerhaften Statusveränderung haben zwar in der Macht-Öffentlichkeit der Ämter und Ränge ihren Platz, können aber die meisten Veränderungen in der Bildungs-Öffentlichkeit nicht fassen und daher auch nicht ausdrücken.

3. Das Lied als Kommunikationsform Lieder hatten in der Bildungs-Öffentlichkeit der frühen Neuzeit vier verschiedene Funktionen. Das Lied war entweder Kirchen-Chorlied, Gemeindelied, Spottlied oder für bestimmte Anlässe komponiertes Gelegenheitslied. Der Chorgesang hatte seit dem Mittelalter seinen festen Platz im Gottesdienst. Auch nach der Reformation wurde ein großer Teil des Kir1050

Ellwein 33.

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chengesangs nicht von der Gemeinde, sondern von den Schuljungen des Chors getragen1051. Sie lernten das Singen lateinisch und deutsch in der Schule. Oft übernahmen sie den Gesang zu besonderen Anlässen, zum Beispiel bei Beerdigungen1052. Auch wenigstens ein Teil des deutschsprachigen Gesangs oblag dem Chor der Schüler — und diente offenbar nicht nur der Verkündigung an die Gemeinde. Die Kirchenordnung von 1558 empfahl, die Schüler beim Gottesdienst die auf den Katechismus bezogenen Lieder von Luther und Speratus singen zu lassen, damit das Glaubensgut dadurch „dem jungen Volck dester eher eingebildet, vnd gemein gemacht werde"1053. Das Gemeindelied unterscheidet sich vom Kirchen-Chorlied nicht unbedingt inhaltlich — viele Gemeindelieder konnten zu KirchenChorliedern werden und umgekehrt —, wohl aber in seiner Funktion. Es erklang im Gegensatz zum Kirchen-Chorlied nicht nur in der Kirche, sondern konnte und sollte von den Gemeindegliedern auch außerhalb der Kirche in Gemeinschaft gesungen werden. Dieser Erwartung paßte sich die Verbreitungsform der Lieder an. Die meisten geistlichen Lieder der Reformation wurden zunächst handgeschrieben1054 oder gedruckt als Liedflugblätter verbreitet1055. Bekannte Melodien erhielten neue Texte; neue Melodien wurden mit der Gemeinde einstudiert1056. Lieder prägten sich leicht ein; wer sie einmal gelernt hatte, konnte sie ohne Schwierigkeiten weiter verbreiten und dadurch selbst zum Träger ihrer Aussage werden1057. Das Erlebnis gemeinsamen Singens mag zusätzlich zur Be-

1051

Zieger 91. Zum Musikunterricht an den Schulen vgl. Düsterhaus 190. Düsterhaus 83. 1053 zitiert nach Hubatsch, Kirche ΙΠ, 100. 1054 Ζ. B. das Königsberger „Salve" und „Christe qui lux es", Tschackert, Urkundenbuch Π, 54 f. 1055 Mager, Inge: Lied und Reformation. Beobachtungen zur reformatorischen Singbewegung in norddeutschen Städten, in: Dürr, Alfred/Killy, Walther (Hgg.): Das protestantische Kirchenlied im 16. und 17. Jahrhundert. Text-, musik- und theologiegeschichtliche Probleme (Wolfenbütteler Forschungen 31), Wiesbaden 1986, 25; Brednich, Rolf Wilh[elm]: Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jahrhunderts, Bd. I, Abhandlung (Bibliotheca Bibliographica Aureliana LV), Baden-Baden 1974, 19 f; 85. Tschackert, Urkundenbuch Π, Nr. 573 und 574, erwähnt zwei Lieder von Speratus. 1056 Veit 216. 1057 Hagelweide, Gert: Probleme publizistischer Liedforschung, in: Publizistik 12/1967, 8. 1052

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II. Die Öffentlichkeit der Bildung

liebtheit des Liedes beigetragen haben1058. Auch die Zeitgenossen des 16. Jahrhunderts kannten und nutzten die Eingängigkeit und die affektive Wirkung des Liedes1059. In der Öffentlichkeit der Bildung wirkte das geistliche Lied je nach Aufführungssituation unterschiedlich. In der Anfangszeit der Reformation waren geistliche Lieder gewissermaßen von selbst tagesaktuell, mochten sie inhaltlich mehr auf aktuelle Ereignisse anspielen1060 oder mehr grundsätzliche theologische Fragen erörtern1061. Wer solche Lieder verfaßte oder in der jeweiligen Situation sang, trat damit in die aktuelle Auseinandersetzung mit der alten Kirche ein. Luthers Lieder, vor allem seine Psalmlieder, wurden zu Erkennungszeichen von Protestanten, sowohl untereinander als auch in Abgrenzung gegen Andersgläubige. In Brauschweig sah sich der Rat zur Einführung der Reformation veranlaßt, nachdem ein Bürger im Gottesdienst eines altgläubigen Predigers 1527 Luthers Psalmlied „Ach, Gott vom Himmel, sieh darein" angestimmt hatte1062. Die Öffentlichkeit des Liedes beschränkte sich weder auf Kirche und Gottesdienst noch auf Vermittlung und Hören, sondern wirkte auch in den nicht-kirchlichen Räumen, auf Straße und Markt, und griff in die zeitgenössische Auseinandersetzung ein. Nach der Reformation konnten die Lieder in bestimmten aufgeregten und schwierigen Situationen wieder Mittel des öffentlichen Kampfes werden. So betätigte sich Herzog Albrecht als Liederdichter, um seine Auffassung der Rechtfertigung darzulegen und seinen Glauben zu bekennen1063. Andere Lieder „betonten" im wahren Wortsinne die lutherische Orthodoxie, indem sie um göttlichen Beistand gegen Sekten und „Schwärmerei" baten1064. Auch wenn die Texte nicht auf aktuelle Ereig-

1058

Hagelweide 11. 1059 v e j t ) Patrice: Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers. Eine thematische und semantische Untersuchung (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 20, Abteilung für abendländische Religionsgeschichte, hg. v. Peter Manns), Wiesbaden/Stuttgart 1986, 28 f. 1060 Bsp.: Ein new Lied von den zween Märterern Christi, zitiert nach: Luther, Martin: Martin Luthers geistliche Lieder. Mit Luthers Vorrede zum Waltherschen Chorgesangbüchlein. Auswahl und Nachwort von C. Höfer, (Frankfurt/Main (5) 1983), 7. 1061 Bsp.: Paul Speratus: „Es ist das Heil uns kommen her", EKG 242, zum Verhältnis von Sünde, Gesetz, Gnade, Werken und Rechtfertigung. 1062 Mager 30. 1063 Thielen, Kultur, 94—101. 1064 Bsp.: Nikolaus Selneccer, EKG 207, Str. 2—9.

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nisse anspielten, dienten Lieder dem Kampf und der Abgrenzung der Konfessionen und Bekenntnisrichtungen. Die Liederdichter, aber auch die Sänger, beteiligten sich als tätige Streiter am Konfessionenkampf. Meist änderte sich die Lage aber nach der offiziellen Einführung der Reformation. Das Bekenntnis nach außen, auf der Straße, wurde als Kampfmittel überflüssig. Das Lied zog sich zurück in die Kirchen und die Gottesdienstzeiten. Damit änderte es auch seine Funktion. Es wurde zum Mittel der Bestätigung und Festigung des eigenen Glaubens, diente dem festlichen Schmuck des Gottesdienstes und dem Glaubensausdruck der Gemeinde. Es glich sich also in seiner Funktion dem KirchenChorlied an. Die Lieder wurden nun gesammelt und zum Gebrauch der Chorsänger — nicht der Gemeinde1065 — in Büchern veröffentlicht1066. In Preußen erschienen die ersten deutschsprachigen Gesangbücher 15261067 und 15271068. Sie können nur die Liedertexte enthalten haben, da der preußische Drucker Hans Weinreich damals noch keine Noten drucken konnte1069. Das erste Gesangbuch mit Noten wurde für das Herzogtum im Jahre 1540 in Augsburg gedruckt1070. Das 1552 gedruckte Gesangbuch soll Daubmann in Königsberg herausgegeben haben1071. 1557 erschien in Königsberg ein Choralmelodienbuch1072, 1569 ein weiteres Gesangbuch1073. Auch in tschechischer1074, polnischer1075 und litauischer Sprache wurden Gesangbücher gedruckt1076. Als Gesangbuch- und Gemeindelied ging das protestantische Kirchenlied in die Öffentlichkeit der Vermittlung ein; es konnte geistiger Besitz und Tradition werden. Ursprünglich tagesaktuelle Lieder wie das Lutherlied über zwei in Brüssel hingerichtete protestantische Bekenner1077 1065 y e it ) Patrice, Das Gesangbuch als Quelle, 216; Brednich 1, 126. Brednich 1, 52; 105. Etliche neue [...] geseng, VD 16, Ε 4060. 1 0 6 8 Zum Folgenden vgl. Sehling 4, 7; Hubatsch, Kirche I, 49—51. 1 0 6 9 Erste Notendrucke 1546, Drukarze 460. 1 0 7 0 Gause, Königsberg, 256. 1 0 7 1 Zum Folgenden vgl. Hubatsch, Kirche I, 50 f., Gause, Königsberg, 256. 1 0 7 2 Sehling 4, 22. 1 0 7 3 Hubatsch, Kirche I, 51. 1 0 7 4 1554 bei Augezdecki, Hubatsch, Kirche I, 93. 1 0 7 5 Gesangbuch von Seclutian, 1559, Hubatsch, Kirche I, 91. 1 0 7 6 Gesangbuch von Bretke 1589: Hubatsch, Kirche, I, 90; Gesangbuch von Sengstock, 1612, Tschackert, Urkundenbuch I, 289. 1 0 7 7 "Ein neues Lied wir heben an", Luthers geistliche Lieder, 7, zu seiner Tagesaktualität und Kanonisierung vgl. Brednich 1, 86 f. 1066

1067

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erlangten als Kirchenlieder anhaltende Wirkung. Anstatt als Mittel des Kampfes und der Abgrenzung zu dienen, sprach das Kirchenlied nun eher innerhalb der Glaubensgemeinschaft die verbindlichen gemeinsamen Uberzeugungen aus und ließ sie dem Gefühl erlebbar werden. Als Adlige und Bauern im September 1525 ihr Treffen auf dem Quednauer Berg mit dem Lied „Nun bitten wir den Heiligen Geist" abschlossen1078, wollten sie damit vielleicht eine gemeinsame christliche Grundüberzeugung bekennen oder beschwören. Dasselbe Lied sangen 1566 die Menschen, die der Hinrichtung Funcks und Horsts beiwohnten1079. Das Lied mag die Erschütterung der Umstehenden ausgesprochen haben, vielleicht auch ihre orthodoxe Uberzeugung angesichts der religiös und politisch verurteilten Aktivitäten der beiden Berater des Herzogs. Den preußischen Kirchenordnungen kann man entnehmen, daß trotz der scheinbaren Verfestigung des Liederkanons im preußischen Protestantismus noch lange „Aufbruchstimmung" herrschte. Die Kirchenordnung von 1568 mahnte, es sollten in den Gottesdiensten nicht so viele „neue" Lieder gesungen werden, da man doch die schönen alten Lutherchoräle, Speratus' „Psalm" („Es ist das Heil") und andere habe1080. Offenbar hatten viele Menschen in der aufgeregten Zeit des Osiandrismus den Ausdruck ihres Glaubens in neuen Liedern gesucht und gefunden, zum Mißfallen der lutherischen Orthodoxie. Sei es, daß die Lieder theologisch fragwürdig erschienen, sei es, daß die unkontrollierte schöpferische Initiative den Verdacht der kontrollierenden Herrschaften erregte, jedenfalls hielt es die Obrigkeit offenbar für besser, den Glaubensausdruck in bestimmtere Bahnen zu lenken. Schon die Kirchenordnungen von 15441081 und 1558 hatten für einige Zeiten und Anlässe Lieder vorgeschrieben1082. In der Kirchenordnung von 1568 finden sich ähnliche Festlegungen, unterschiedlich für städtische und Dorfgemeinden1083. Der Gemeindegesang war nun für das Herzogtum im großen einheitlich geregelt; allenfalls in der Auswahl der Psalmlieder herrschte eine gewisse Freiheit1084. 1078

Freiwald, Albrecht von Preußen, 139. Bericht über die Hinrichtung von Funck, Horst und Schnell, 28. Oktober 1566, Opr. Fol. 492,186 ν sq, Datierung ebenda 182 v. 1080 Sehling 4, 75 f. 1081 Sehling 4, 64—67; Zieger 99. 1082 Hubatsch, Kirche ΠΙ, 109—115; 134. 1083 Sehling 4, 75—81. 1084 Sehling 4, 75. 1079

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Mit der Kanonisierung der Kirchenlieder stand das Herzogtum Preußen nicht allein1085, und man darf sie nicht nur als Reaktion auf die osiandrischen Streitigkeiten sehen. Viele andere Territorien führten in ihren Kirchenordnungen Liedkataloge auf, manche sogar für jeden Sonntag des Jahreskreises1086. In den Liedfestlegungen überwog das Liedgut der ersten Reformationsjahre. Nach der Aufrichtung der Orthodoxie änderte das protestantische Kirchenlied zum zweiten Mal seine Funktion, und zwar in der für die Frühe Neuzeit charakteristischen engen Verbindung von Territorialherrschaft und Religionspolitik. Herzog und Synode setzten 1568 gemeinsam fest, wie sich der Glaube der Gemeindeglieder im Gottesdienst zu äußern habe. Das Kirchenvolk wurde wiederum „symbolisch mediatisiert", die kirchliche Öffentlichkeit von den Strukturen der politischen Macht und der religiösen Orthodoxie vereinnahmt. In den dargestellten Entwicklungsschritten wurde das geistliche Lied der Reformation vom aktuellen Mittel der Auseinandersetzung zum Traditionsgut. Als Gemeindelied in den Kirchen wirkte es zwar unter Umständen tiefer und sicherlich auf breitere Volksschichten als der gelehrte Streit. Aber es hatte einen geringeren Grad an Öffentlichkeit als die theologische Debatte, weil es an den Kontroversen um die Ausgestaltung des Bildungsideals nicht mehr teilnahm. Es gehörte nur noch den Öffentlichkeitsschichten der Vermittlung und des Lernens an, in denen der Liederkanon bewahrt und überliefert, aber nicht verändert wurde. Die Verfestigung der Konfessionen ließ das Lied traditionell und minder öffentlich werden. Nach den Kategorien der Öffentlichkeit sank es ab. Die „Erneuerung" des lutherischen Kirchenliedes im 17. Jahrhundert kann man demgegenüber als den Aufstieg neuer Lieder zu größerer Öffentlichkeit beschreiben. Die Lieder des frühen Pietismus sollten ursprünglich der privaten Andacht dienen1087. Sie wurden aber zunehmend in Gemeinschaft gesungen1088 und sogar gesammelt und gedruckt. Ein frühes preußisches Beispiel bieten die Lieder des Petrus Hagius1089. Gesungen, gehört und weiterverbreitet, konnten die Lieder geistiger Besitz Brednich 1, 105. Bsp.: Pommerische Agende von 1569, zitiert nach Sehling 4, 477—480 (Titel ebenda 419: „Agenda, dat is ordninge der hiligen kerckenemter unde ceremonien [...] Anno M. D. LXDC.") 1087 Klemper, Hans-Georg, Das Lutherische Kirchenlied, 88. i°88 Brednich 1, 97 f. 1089 Bertheau: Hagen, Peter v. H., in: ADB X 343. 1085 1086

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und eventuell sogar Gegenstand der Diskussion werden. Dabei blieben sie jedoch insofern „privat", als sie nicht in das für allgemeinverbindlich gehaltene Bildungsideal aufgenommen wurden, solange der offizielle Liedkatalog festlag. Zum Gegenstand der Auseinandersetzung nach außen wurde das Kirchenlied nicht mehr. Die unangefochtene Sicherheit der Lehre hatten alle Konfessionskirchen mit dem Verzicht auf einen Teil ihrer öffentlichen Wirkung erkauft. Das Spottlied war, wie zeitweise das Gemeindelied auch, eine Form tagesaktueller Auseinandersetzung. In Text und Melodie lehnten sich die Spottlieder an Volks- oder geistliche Lieder an, wodurch sie sich wahrscheinlich leichter behalten und weitergeben ließen. Meist wurde der verspottende Text einer bekannten Melodie unterlegt. Ein Spottlied auf Oslander nahm — dem Reimschema und einigen Wort-Übernahmen nach zu schließen — die Melodie des geistlichen Liedes „Lobt Gott, ihr frommen Christen" auf1090: „Eyn loser man ist kommen von nurnbergk auff die bann vnd hatt ihm vorgenommen Eyn spiel zu fahen an Ihm hertzog thum Zu preussen durch neue ketzerey Es schadett auch den Reussen seyne grosse morderey". Auch über weitere Ereignisse des Osianderstreits, etwa den Abschied der anti-osiandrischen Synode von Saalfeld 1554, sollen Spottlieder im Umlauf gewesen sein1091. Ein Lied auf das Augsburger Interim von 1548 wurde „Im Ton AKompt her tzu mir spricht gottes söhn" gesungen1092. Gegner und Befürworter der Lehre Oslanders griffen einander auch persönlich in „Carmina" an und suchten den jeweiligen Gegner zu treffen 1090 ^Eyn neu christlicht [!] liedt von der bestendigkeyt des glaubens von denen getrewen zeugen Christi Jesu vnd maria son", HBA J 2 961, o. D. Melodie bei EKG 202. Die Textgleichheiten dieser Strophe (der dritten des Spottliedes) mit der Strophe 2 des geistlichen Liedes sind unterstrichen. 1091 piigge 253. 1092 Ein Christlich kurtz einfeltig bedenckfen]/' vnd bekantnus, aufs Interim H Im Ton.// Kompt her tzu mir spricht gottes söhn", o. D. HBA J 2 955, Α. Z. 3. 43. 81 (IV), 10 r—20 v.

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oder sich selbst und ihre Gesinnungsfreunde zu „retten"1093. Beide Parteien kämpften heftig und, nach der Sitte der Zeit, gelegentlich auch derb oder verletzend. Der Osiandergegner Mörlin wurde nach dem geistlichen Volkslied „O du armer Judas" als „Morlein" verspottet1094. Die Melodie gibt der Schlußvers an, in dem es heißt: „Mehr will ich nicht singen, sonder es bleiben lan, wo er sich wolt bekeren, Zeit wer es ietz zuthan. vnter des mag er fidlen, diß arme Judas lied, Bis er mit Juda hencket sonst kriegen wir nit frid. Kjrie eleison." Wegen seiner hörbaren tagesaktuellen und persönlichen Bezüge blieb das Spottlied als Gattung an die Tagesaktualität gebunden. Es konnte buchstäblich über seinen Tag hinaus nicht leben und ging nicht in die Offentlichkeitsschicht der Vermittlung und Tradition ein. Spottlieder finden sich deshalb auch nicht in gedruckten Liedersammlungen. Die meisten Spottgesänge wurden mündlich oder handschriftlich weitergegeben. Deshalb hatten sie eine geringere Uberlieferungschance als die Traditionsgut gewordenen Kirchenlieder und gehören heute zu den eher seltenen publizistischen Fundstücken. Von vornherein unabhängig von den kirchlichen Kämpfen wurden die Lieder gesungen, die nur in mittelbarem Zusammenhang mit der Kirche standen. Es handelte sich um Gelegenheitslieder zu Hochzeiten, Amtseinführungen, Einweihungen von Kirchen oder Versetzungen1095. Diese Lieder waren ursprünglich für den Gesang zu einem bestimmten Anlaß gedacht und in diesem Sinne „aktuell" und „zeitbezogen". Aber sie müssen auch unabhängig von ihren Anlässen Liebhaber und Sänger gefunden haben; denn viele Gelegenheitslieder wurden gedruckt. Die preußischen Kapellmeister Kugelmann, Eccard, Riccio und Stobäus sowie Paul Emmel und Caspar Heisius veröffentlichten so viele Liederdrucke, daß sie im Gesamtaufkommen der preußischen Druckerei fast an die Zahl der theologischen Drucke heranreichen. Die Sätze waren meist mehrstimmig für vier oder fünf, manchmal für bis zu acht Stimmen gesetzt. Wahrscheinlich wurden sie an dem jeweiligen Fest im Got1093 Albrecht an Mörlin, Judica 1551, zitiert nach Koch, Briefwechsel, 546; er erwähnt auch die Carmina Aurifabers zu seiner „Rettung", Koch, Briefwechsel, 546 f. 1094 HBA J2 955, A.Z. 3.43.209. 1095 Bsp.: Stobäus, [Glückwunschlied für Andreas Vogler], 1617, DKL 1617(15); ders.: Cantiones gratulatoriae [zur Einweihung der Kirche in Tilsit] 1610, DKL 1610(14)

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tesdienst oder danach angestimmt. Bei ihrer Aufführung dienten die Gelegenheitslieder einer kleinen Gemeinschaft miteinander verbundener Menschen, meist Gelehrter, die durch das Fest und auch durch Beteiligung am Gesang ihren Zusammenhalt deutlich machte. In dieser besonderen Funktion kann man das Singen als „privat" bezeichnen, da es das Bildungsideal weder bezeichnete noch veränderte. Daß diese Lieder aber gesungen und auch gedruckt wurden, erhellt die Bedeutung der Musik für die Bildungs-Öffentlichkeit der Frühen Neuzeit. Wenn ein Chor aus dem Stegreif oder nach Proben vier- bis achtstimmige polyphone Sätze aufführen konnte, muß es eine ausreichende Anzahl von Menschen gegeben haben, die die rhythmischen Formeln der Zeit im Ohr hatten, Noten lesen und „vom Blatt" singen konnten. Tatsächlich bot die Bildungs-Öffentlichkeit Möglichkeiten musikalischer Ausbildung. Lateinschüler lernten die Sprache auch durch den Gesang; Musiktheorie — „musica speculativa" — bildete einen Teil der gelehrten Ausbildung im Quadrivium1096. Infolgedessen verfügte jeder erwachsene Mann, der eine Lateinschule besucht hatte, über eine teilweise sogar reflektierte Kenntnis musikalischer Rhythmen, Formeln und Formen. Auch wer nicht aktiv mitsang, erlebte Musik als Zuhörer im Sonntagsgottesdienst oder bei anderen kirchlichen Feiern und erwarb wenigstens eine unreflektierte Kenntnis — eine „Ahnung" oder ein „Gefühl" — von musikalischen Formgesetzen und Tonsatzregeln, von dem, was als „schön" und was als ungewöhnlich oder häßlich galt, was dem zeitgenössichen Stil und was älteren Stilen angehörte. Musik zählte, vielleicht mehr als in der heutigen Zeit, zum „öffentlichen", kollektiv bestimmten Bildungsgut, das aufgenommen, vermittelt, sinnvoll geordnet und gesammelt werden konnte. Dem kirchlichen Leben stand die Musik zwar nahe, weil sie im Ablauf von Gottesdiensten und Festen nicht fehlen durfte. Aber die Formprinzipien der Musik wie der Dichtung beeinflußte die Kirche nicht. So konnten sie allmählich aus der Kirche heraustreten, konnten „säkularisiert" werden. Musik und Dichtung boten Ansatzpunkte für die Entwicklung einer Bildungs-Offentlichkeit, die sich nicht von kirchlichen Prinzipien leiten ließ. Der Druck erschloß den Musikwerken vielleicht eine weitere Stufe der Öffentlichkeit. Das „Publikum" gedruckter Musikwerke konnte räumlich weiter verstreut sein als die lokal begrenzte Gesellschaft, die 1096 V e i t ; Kirchenlied, 22.

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das Werk zuerst hörte und aufführte. Ein Musikdruck lag gleichzeitig vielen musikkundigen Zeitgenossen vor; und daraus konnte sich so etwas wie ein Disput um das Werk und seine Prinzipien entwickeln. Die Möglichkeit, Druckwerke über lange Zeiten zu überliefern, spielte für das Musikleben der Zeit noch eine geringe Rolle. Vor allem sorgte der Druck dafür, daß das Werk auch außerhalb seines ursprünglichen Aufführungszusammenhangs gesungen und genossen werden konnte: Das ursprünglich kirchliche oder an kirchliche Anlässe gebundene mehrstimmige Lied konnte aus der Kirche gewissermaßen auswandern. So kann der Druck den Prozeß der „Säkularisierung" musikalischen Bildungsguts beschleunigt haben.

4. Theater und verwandte Ausdrucksformen Dem Lied gleicht das Theater als Kommunikationsform darin, daß es Schrift und Mündlichkeit gleichermaßen nötig hat, aber auch Informationen darüber hinaus trägt. Der Text der Spiele wurde in Spielbüchern meist handschriftlich fixiert; sie konnten abgeschrieben und bearbeitet werden1097. Die Arbeit der Schauspieler wurde also leichter, wenn sie lesen konnten: Wer seine Rolle nicht lesend lernte, brauchte einen Helfer, der entweder selbst lesen konnte oder den Text auswendig wußte. Das Spiel aber wirkte durch die mündliche Rede, dazu durch Gestik, Mimik und die gespielte Handlung. Die Stoffe entstammten oft der biblischen Geschichte, so daß Menschen, die regelmäßig zur Kirche gingen, die Stücke wohl ohne weiteres verstanden. Antike oder geschichtliche Vorwürfe setzten dagegen bei den Zuschauern akademische Bildung voraus. In der Gegenreformation bildete das geistliche Schauspiel der Jesuiten eines der Hauptelemente des Bildungs- und Bekehrungswerkes. Im evangelischen Preußen hört man vom Theater nur vereinzelt. In Lateinschulen und in der Universität führten Schüler oder Studenten lateinische Dramen auf, meist, um sich im lateinischen Ausdruck zu üben. Georg Sabinus und einige andere Gelehrte verfaßten Schuldramen1098. Der Leiter der altstädtischen „deutschen" Schule, Daniel Brodach, ließ in seiner 1 0 9 7 Greisenegger, Wolfgang: Szenisches Spiel zu Beginn der Neuzeit, in: Kohler/ Lutz, Alltag im 16. Jahrhundert, 66. 1098 Albinus 314, Stichwort „Theater".

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Schule Dramen nach biblischen, antiken und Sagenstoffen aufführen1099. In den Institutionen formellen Unterrichts diente das Theater hauptsächlich als didaktisches Mittel. Überdies machte es die Gemeinschaft der Universität oder Schule sichtbar. Zuhören konnten im Prinzip alle, die die Sprache der Aufführung beherrschten. Wahrscheinlich aber reichte das Publikum nicht weit über die jeweilige Korporation hinaus. Zu größerer Wirkung kamen Theater und ihm verwandte Ausdrucksformen, wenn sie die lokale Begrenzung der Universität und der Schule verließen. 1552 wurde eine Elegie des Sabinus von der Eroberung Roms im Schloßhof unter Beteiligung von Studenten vorgetragen1100, 1573 ein Spiel vom Sündenfall von Roll aufgeführt1101. Im Jahre 1606 bat ein Theologiestudent namens Andreas Vogler, am Rosenmontag vor dem Hof eine „geistliche Comoedia" aufführen zu dürfen, die er geschrieben und mit Kommilitonen eingeübt hatte1102. Der Rektor der Altstädtischen Lateinschule, Valentin Rasch, zeigte in den Jahren 1601 und 1607 je zweimal ein geistliches Schauspiel vor dem Hof und städtischen Gästen1103. In der Stadt gab es Theateraufführungen durch Handwerker1104, wohl vor gesamtstädtischem, nicht nur zünftigem Publikum. Die breiteste Wirkung hatten Formen, die man nur bedingt als Theater bezeichnen kann, die Fastnachtsspiele. In der Zeit unmittelbar vor der preußischen Reformation dienten sie als Ausdruck des Protestes1105. Auch nach der Reformation sollen sie noch jährlich geübt worden sein1106, wenn auch wohl nicht mehr in den Spottformen der vorreformatorischen Zeit. Die „Geistliche Comoedia" Voglers könnte, wie das Datum der Aufführung — Rosenmontag — nahelegt, ein solches nachreformatorisches Fastnachtsspiel gewesen sein. Ein geistliches Drama von Wilhelm Gnaphaeus, der „Morosophus", wurde 1540 sogar auf

1099

Gause, Königsberg, 290. Albinus 314, Stichwort „Theater"; Thielen, Kultur, 148. 1101 Albinus 314, Stichwort „Theater"; Gause, Königsberg, 258 f. 1102 Brief des Theologiestudenten Andreas Vogler an den Kurfürsten, 17. Februar 1606, EM 139 f 3, 1 r. Zustimmender Abschied vom 24. Februar 1606 ebenda 2 v. 1103 Zu Rasch und seinen Schuldramen vgl. Poschmann, Adolf: Rasche (Raschius), Valentin Georg, in: Altpreußische Biographie Π, 534. 1104 Thielen, Kultur, 153. 1105 Greisenegger 78. 1106 Thielen, Kultur, 153. 1100

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herzogliche Kosten in Danzig gedruckt1107 und erreichte damit ein weit verstreutes Publikum. Insgesamt aber erlangte das Theater in der reformatorischen Öffentlichkeit Preußens keine große Bedeutung. Neben den Schuldramen und Fastnachtsspielen wurden allenfalls Kümmerformen des dramatischen Dialogs geduldet. So sollten in Königsberg Schüler zur Auflockerung des Katechismusunterrichts eine Art von Dialog mit den Fragen und Antworten des Katechismus aufführen1108. Gause zählte zwar für die Zeit zwischen 1525 und 1618 etwa 140 bis 150 „Vorführungen 1109. Dabei rechnete er aber die Vorstellungen von Gauklern mit. Selbst dann ergaben sich nur durchschnittlich eine oder zwei „Vorführungen" pro Jahr, was nicht für ein reges Theaterleben spricht.

5. Das öffentliche Gebet Dem modernen Empfinden wohl am fernsten steht das öffentliche Gebet. Das säkulare Verständnis fragt sich vielleicht sogar, ob das Gebet überhaupt eine Form der Kommunikation sei — und Kommunikation wessen mit wem. Die Menschen des 16. Jahrhunderts hätten auf die Frage nach der Eigenart des öffentlichen Gebets wahrscheinlich eine klare Antwort gegeben. Im öffentlichen Gebet sprach auf Anordnung der Obrigkeit die versammelte Kirche mit Gott, um in besonders schwierigen Situationen des Landes den Schutz und die Hilfe Gottes zu erbitten. Zum Beispiel forderte 1530 die Herzogin Dorothea zum Kirchengebet für den Augsburger Reichstag auf1110. Im Dezember 1563 fand im Dom zu Königsberg aus Anlaß des Livlandkrieges ein öffentliches Bußgebet statt1111. Den Text des Gebets, „Vermanung zur Büß", hatten Herzog Albrecht und sein Hofprediger Funck verfaßt und ließen ihn auch im Druck verbreiten. Ein weiteres Kirchengebet von 1563 wurde vielleicht wegen des preußischen „Nußkriegs" angeordnet1112. Öffentliche Gebete begleiteten ferner jeden Regierungswechsel. Ein Kirchengebet aus dem Thielen, Kultur, 155; zum Druckort Danzig vgl. Tondel, Nova Bibliotheca, 333, Anm. 1 1 0 8 Kirchenordnung 1558, zitiert nach Hubatsch, Kirche ΙΠ, 100. 1 1 0 9 Zum Folgenden vgl. Gause, Königsberg, 258. 1 1 1 0 Hubatsch, Kirche I, 65. 1111 Zum Folgenden vgl. Fligge 491 f. und ebenda 790, Anm. 182. 1 1 1 2 Text und Erläuterung bei Hubatsch, Kirche ΙΠ, 32 f. 1107

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II. Die Öffentlichkeit der Bildung

Jahre 1620 zum Beispiel erflehte die „Succession" des Kurfürsten Georg Wilhelm1113 — denn er hatte zu dieser Zeit zwar schon die Regierung im Herzogtum angetreten, war aber noch nicht belehnt1114. Theologisch gesprochen, stellte das Kirchengebet eine Art von Fürbitte für das Land oder für die gesamte Christenheit dar. Als öffentliche Handlung diente es der Herrschaftslegitimation, weil es implizit deutlich machte, daß auch der Kirche an Kontinuität und Sicherheit der Herrschaft lag — und nicht nur Gott, sondern auch die versammelten Gemeinden sollten diese implizite Aussage hören. Überhaupt bot das Kirchengebet die Möglichkeit, religiöse und politische Anliegen zu formulieren, die nicht nur Gott vorgetragen, sondern auch von der Gemeinde aufgenommen werden sollten. So betete man nach dem Regierungsantritt Georg Wilhelms auch um das leibliche Wohl der lutherischen Kurfürstin-Witwe und um Bewahrung der lutherischen Orthodoxie1115. Die Gemeinden konnten — und sollten wohl auch — die Bitte als Mahnung hören, der Orthodoxie gemäß zu leben. Das Kirchengebet wurde obrigkeitlich angeordnet — wahrscheinlich je nach Anlaß vom Herzog, den Regenten oder einer lokalen Gewalt. Die Verfasser der Gebete kennt man meistens nicht; vermutlich formulierten Theologen die Texte. Worte und Formeln waren konventionell und traditionell1116. Den Anfang bildete eine Art von Narratio, die den Anlaß des Gebetes nannte. Dann folgten Schuldbekenntnis, Dank oder Bitte und eine Schlußformel. Das Kirchengebet von 1620 sollte der Predigt angefügt werden1117, also Teil des Gemeindegottesdienstes sein. Aber auch außerhalb des Gottesdienstes konnten Kirchengebete stattfinden wie 1614 in der Landvogtei Schaaken, wo das Kirchengebet auf Anordnung des Kurfürsten in den Häusern einzelner abgehalten werden sollte1118. Zur Anregung solcher Gebete in den Häusern dienten wahrscheinlich die gedruckten Exemplare der Gebetstexte. Vom Standpunkt der 1 1 1 3 Eine Demütige Beicht//VncL·/Christliches Gebet/ Welches in den Evangelischen vnd Lu=Etherischen Kirchen des Hertzogthumbs Preussen / //zu Gott dem HErrn aus tieffer Andacht der// Hertzen anzustellen verordnet ist.// Königsberg 1620, in: „Verordnungen", [Nr. 38], Β 2 r. 1 1 1 4 Hubatsch, Kirche I, 123. 1 1 1 5 Demütige Beicht, Β 1 r sq.; Β 3 r. 1 1 1 6 Zum Folgenden vgl. Bsp.: Hubatsch, Kirche ΙΠ, 32 f.; Fligge 491 f. 1 1 1 7 Demütige Beicht, A 1 v. 1 1 1 8 Regenten an den Hauptmann zu Schaaken, 20. Dezember 1614, EM 126 e 2, 1 v.

Kommunikationsformen

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Macht aus wurde das Gebet durch den Gebrauch in den Häusern „privatisiert", un-öffentlich gemacht. Für die Bildungswelt war jedoch auch dieses „private" Gebet ein öffentlicher Vorgang, weil es in Form und Inhalt zur Einübung des Christentums beitrug und sich darin auf das allgemeinverbindliche Bildungsideal stützte.

m Verbreitungsstrukturen: Institutionen des Buchwesens 1. Buchdruck a) Die Entwicklung der Königsberger Druckereien In der gelehrten Welt vermittelten im wesentlichen vier Strukturen Meinungen und Erkenntnisse über räumlich und zeitlich große Distanzen. Buchdruck und Buchhandel sorgten hauptsächlich für die räumliche Verbreitung und widmeten sich besonders dem aktuellen Stoff. Bibliotheken dienten dem Sammeln und Aufbewahren über lange Zeit. Sie konzentrierten sich deshalb auf Werke, die Traditionsgut waren oder werden sollten. Schließlich trug — trotz der Dominanz des gedruckten Buches — auch das Abschreiben mitsamt den daran hängenden Verteilungsmethoden noch beträchtlich zur Verbreitung gelehrter Meinungen und Erkenntnisse bei. Die Stadt Königsberg bekam — nach einem ersten erfolglosen Versuch 15191119 — im Jahre 1523 ihre erste Druckerei1120, und zwar auf Wunsch des Herzogs Albrecht und auf Vorschlag eines seiner Räte, Christoph von Gattenhofens1121. Die Eigentumsverhältnisse dieser ersten Offizin sind undurchsichtig. Die meisten Forscher nehmen an, daß Gattenhofen die Druckerei einrichtete und das Kapital zur Verfügung stellte1122. Als Drucker arbeitete seit dem Herbst 1523 der Danziger Drucker Hans Weinreich1123. Nach Schwenke übernahm Weinreich 1524 die Leitung der Druckerei1124. Aber schon auf seinen Drucken von 1523 gab er Kaunas, Dornas: Mazosias Lietuvos spaustuves 1524—1940 metais. Zinynas, Vilnius 1987, 15. 1 1 2 0 Schwenke 69—72. 1 1 2 1 Lohmeyer, Buchdruck, 1—3. 1122 Meckelburg 2; Schwenke 71. 1 1 2 3 Schwenke 69; 76; Benzing, Drucker, 259. 1 1 2 4 Schwenke 76. 1119

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in einer Knittelversstrophe seinen Namen an1125. Sie kennzeichnet die Weinreich-Drucke dieses Jahres. 1524 soll er aber mindestens noch einmal die Knittelversstrophe gedruckt haben1126. Lange Zeit war Weinreich der einzige Drucker in Königsberg und in ganz Preußen. Erst im Zuge der Osiandrischen Wirren bekam er 1549 Konkurrenz durch den Wittenberger Hans Lufft, der eine vollständig eingerichtete Druckerei mitbrachte1127. Da Lufft bald nach Wittenberg zurückkehrte, wurde sie von seinem Schwiegersohn Andreas Aurifaber geführt1128. In dem Streit um Oslanders Theologie ergriff zumindest Aurifaber ausdrücklich die Partei der Osiandristen und stellte seine Presse ihnen zur Verfügung1129. Lufft soll mit der parteilichen Bindung der Druckerei an die Sache Oslanders weniger einverstanden gewesen sein1130. Die Druckerei profitierte allerdings von der Parteilichkeit. Luffts Offizin durfte auch während eines herzoglichen Druckverbots noch produzieren; und nach Aufhebung des Verbots gelang es ihr, die Druckerei Weinreichs so mit Aufträgen „einzudecken", daß die Osiandergegner kaum noch freie Druckkapazitäten fanden1131. 1553 stellte die Offizin aus unbekannten Gründen die Arbeit ein. Das Gebäude muß zunächst leergestanden haben1132. Erst 1561 versuchte ein Verwandter Luffts, die Druckerei-Einrichtung zurückzukaufen. Der Erfolg dieses Versuches ist aber nicht bekannt. Eventuell hat der Drucker Hans Daubmann von dem Vorkaufsrecht Gebrauch gemacht, das der Herzog

Zum Folgenden vgl. Meckelburg 2 f. vgl. Drukarze 459 f. 1 1 2 7 Vgl. Druckerprivileg Luffts vom 29. Mai 1549, EM 139 k 143, 8 r—9 v. 1 1 2 8 Lohmeyer 10; Seebaß, Gottfried: Andreas Oslander und seine Drucker, in: Göpfert, Herbert G., u. a. (Hgg.): Beiträge zur Geschichte des Buchwesens im konfessionellen Zeitalter (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, Bd. 11), Wiesbaden (1985), 144. 1129 D e m Burggrafen Christoph vom Creutz teilte „der drucker", wohl Aurifaber, selber mit, daß „er mitt von der sach sei", also Partei im Osianderstreit. Christoph vom Creutz an Joachim Mörlin, o. D. [1552], zitiert nach Koch, Briefwechsel, 586. 1125 1126

Drukarze 233 f. Zum Folgenden vgl. Seebaß, Oslander und seine Drucker, 144 f. 1 1 3 2 Zum Folgenden vgl. Brief von D. Nikolaus Löper an den Herzog vom 8. Juli 1561: EM 139 k 143, 6 r—7 v. Daubmann hat also nicht, wie Gause, Königsberg, 280 behauptet, die Lufftsche Druckerei unmittelbar übernommen. 1130 1131

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II. Die Öffentlichkeit der Bildung

ihm eingeräumt hatte1133. Weinreich kehrte 1554 oder 1555 zurück nach Danzig, soll aber in Königsberg 1560 gestorben sein1134. Der nächste Königsberger Buchdrucker, Hans Daubmann, trat also strenggenommen nicht Luffts, sondern Weinreichs Nachfolge an, da die Lufftsche Druckerei zunächst leerstand. Daubmann kam 1554 nach Preußen, nachdem er wegen Schwierigkeiten mit dem Rat von Nürnberg und zeitweiliger Haft von dort weggezogen war1135. Anfangs mußte er in Preußen noch Konkurrenz neben sich dulden. Der böhmische „impressor" — so seine Selbstbezeichnung1136 — Alexander Augezdecki arbeitete von 1550 bis 1556 in Königsberg1137. Sein Sohn Cyprian druckte 1549 in Königsberg ein Pestbuch1138. Der Erzpriester von Lyck, Johannes Maletius, hatte eine eigene Druckerei, in der er ein polnisches Neues Testament zu drucken versuchte1139. Aber sowohl dank seiner leistungsfähigen Druckerei als auch dank eines herzoglichen Privilegs wurde Daubmann der Konkurrenz Herr. Die Druckerei Augezdeckis soll zwangsweise geschlossen worden sein1140; die des Maletius kaufte Daubmann wohl 1558 auf1141. Wolf Dittmar, ein Drucker aus Marienburg1142, soll eine Zeitlang im Auftrag der Universität Disputationen gedruckt haben1143. 1557 wurde Dittmar ausgewiesen, weil der Herzog,

Aktenvermerk nach 8. Juli 1561, EM 139 k 143, 7 v. Benzing 259; Schwenke 85. Es kann also nicht stimmen, wie Gause, Königsberg, 279 vermutet, daß Weinreich der Konkurrenz Luffts weichen mußte. Lufft war 1554/55 auf jeden Fall nicht mehr in Königsberg. Gause, Königsberg, 280 berichtet, daß Lufft im Mai 1553 habe schließen müssen, was seiner vorigen Behaptung widerspricht. Evtl. war aber auch nur eine vorübergehende Schließung gemeint. Nach Lohmeyer 13 wurde Weinreichs Druckerei 1554 wiedereröffnet. Bericht über Luffts Druckerei, 3. [?] Mai 1549, EM 139 k 143 passim. 1133 1134

Benzing 260 berichtet, daß Daubmann aus Nürnberg kam. Zu seinen Schwierigkeiten Fligge 148 und Thielen, Kultur, 110. 1 1 3 6 In einem Brief Augezdeckis an den Herzog im Januar 1551, EM 139 k 32, 1 r — 2 v. 1137 Drukarze 17. 1 1 3 8 J[ohannes] Placotomus: Kurtzer Bericht, wie man sich in Pestzeit halten soll, für die einfältigen Einwohner in Königsberg. Gedruckt zu Königsberg bey Cypriann, 1549, zitiert nach: Drukarze 34. 1 1 3 9 Lehnerdt: Maletius (Malecki), Johannes, in: ΑρΒ I, 416. 1 1 4 0 Lohmeyer 13. 1141 Thielen, Kultur, 112. 1 1 4 2 Grimm, Heinrich, 1691. 1 1 4 3 Thielen, Kultur, 110. 1135

Verbreitungsstrukturen: Institutionen des Buchwesens

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wie er ihm sagen ließ, nur Daubmann als Drucker im Lande haben wollte1144. 1564 erlangte Daubmann ein Privileg, das ihn zum einzigen zuge-

lassenen Drucker in ganz Preußen machte und ihn gegen Nachdruck seiner Bücher schützte1145. Von nun an ging der Buchdruck in Preußen nur noch von einer einzigen Königsberger Offizin aus. Den Umsatz der Druckerei konnte Daubmann allerdings trotz der Privilegierung wohl nicht steigern. Nach seinem Tod war die Druckerei nicht mehr liquide1146. Die Daubmannschen Setzer und Druckergehilfen drohten mit Abwanderung, falls ihnen der ausstehende Lohn nicht bald bezahlt würde. Sie sollen von den Erben Daubmanns befriedigt worden sein, als die Postille des Hieronymus Maletius gedruckt war1147. Die Erbengemeinschaft hatte die Druckerei offenbar bis 1575 im Besitz1148. Dann übernahm sie Georg Osterberger, der neben dem Buchdruckergewerbe noch das Amt eines Schreibers am samländischen Konsistorium ausübte1149. Ob das ein „Zubrot" oder sein eigentlicher Lebensunterhalt war, ist nicht zu ermitteln. In die Privilegien Daubmanns trat Osterberger schrittweise ein. 1577 erhielt er ein gegen Nachdruck schützendes Privileg für Polen, 1584 die herzogliche Privilegierung zum einzigen Drucker in ganz Preußen1150. Osterberger starb 1602. Seine Witwe führte mit dem Faktor Johann Schmidt (Fabricius) die Druckerei weiter1151. In den Jahren 1604 bis 1606 Dittmar an Herzog Albrecht, Abschied vom 10. Juli 1557, EM 139 k 52, lr, datiert 3 [ - 2 v]. 1145 Privileg vom 16. August 1564, EM 139 k 47, 19 v, dabei 9 gedruckte Exemplare. 1 1 4 6 Zum Folgenden vgl. Schreiben der Setzer und Drucker in Osterbergers Druckerei [Adressat nicht genannt, wahrscheinlich die Oberräte, da das Schreiben mit anderen derartigen zusammengebunden ist], o. D., [das beigebundene Schreiben ebenda 18 r trägt einen Aktenvermerk vom 14. Januar 1574], EM 139 k 47,13 r sq. 1144

Drukarze 90. Drukarze 300. 1 1 4 9 Genannt in der Privilegienbestätigung vom 18. Februar 1590: EM 139 k 162, 5 r: „Consistorii nostri Regiomontani Secreatrius et Typographus". Vgl. Lohmeyer 35. 1 1 5 0 Zum Folgenden vgl. polnisches Privileg vom 1. Dezember 1577: EM 139 k 162, 1; ebenda auch das preußische vom 14. Juli 1585; ebenda 5 r Bestätigung durch den poln. König Sigismund ΠΙ.,1590. Zur Verwandtschaft Osterbergers mit Daubmann vgl. Albinus, Robert (Hg.): Lexikon der Stadt Königsberg/Pr. und Umgebung, (Leer 1985), 70, Stichwort „Druckereien". 1147

1148

Rehberg 13. Fabricius hatte die technische Leitung der Druckerei seit etwa 1593 innegehabt (Lohmeyer Π, 2). 1151

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II. Die Öffentlichkeit der Bildung

erscheint auf Königsberger Drucken gelegentlich der Name Georg Neyckes1152. Neycke war „Geselle" der herzoglichen Kanzlei1153 und offenbar zeitweilig Druckereifaktor. 1610 übernahm Fabricius die Leitung der Offizin1154. Sie scheint unter seiner Hand heruntergekommen zu sein; denn die Visitationskommission von 1622 sann auf Mittel, sie wieder „zum rechten schwunge" zu bringen1155. Wie das bewerkstelligt werden sollte, verrieten die Herren allerdings nicht. 1623 kaufte der Buchdrucker und Buchbinder1156 Lorenz Segebade die Schmidtsche Druckerei für 3 400 Mark auf1157. Offenbar im Gegensatz zu seinen Vorgängern nutzte Segebade die Offizin zielstrebig zum Gelderwerb und scheute dabei nicht den Streit mit der Universität, bei der er beschäftigt war1158. Unter anderem weigerte er sich, Drucke für die Universität kostenlos auszuführen, mit Ausnahme der Leichenreden und der Disputationsthesen1159. Für die Königsberger Regierung mußte er ohnehin kostenlos drucken1160. Außerdem widmete er sich entschieden dem Avisengeschäft1161. Die Käufer beklagten sich zwar über seine hohen Preise, er aber suchte sie vor der Regierung zu rechtfertigen. Aufs ganze gesehen, trug den preußischen Buchdruck, mit wenigen und kurzlebigen Ausnahmen, im ersten Jahrhundert seines Bestehens eine einzige Königsberger Offizin. Mit den großen und sozusagen klassischen Druckorten wie Nürnberg — wo für das Jahr 1571 zehn1162, für die fünfziger Jahre des 16. Jahrhunderts sogar 25 Buchdrucker genannt sind —, aber auch mit Erfurt — mit im 16. Jahrhundert drei bis acht Druckereien1163 — konnte die preußische Residenz nicht wetteifern. Motive der Erwerbssicherung mögen dabei mitgespielt haben, daß soDrukarze 291. Verzeichnis der Hofbediensteten, [ab spätem 16. Jh.], Opr. Fol. 13063, 206 r.; Brief Georg Neyckes an die Oberräte, 29. Oktober 1601, EM 113 b 1, 94 r sq. 1 1 5 4 Benzing 261. 1 1 5 5 Zum Folgenden vgl. den der Universität Königsberg gegebenen Abschied, EM 139 g 4 , 4 3 r, datiert 48 v: 13. August 1622. 1 1 5 6 Rehberg 16. 1 1 5 7 Abschied des Kurfürsten an Segebade vom 4. April 1623, EM 139 k 188, 4 r sq. 1 1 5 8 Lohmeyer Π 5—11. 1 1 5 9 Lohmeyer Π, 11. 1160 Notiz in einem Hofstaatsverzeichnis von Ostern 1624, Opr. Fol. 13065, 18 v. 1 1 6 1 Segebade an den Kurfürsten, 17. Oktober 1626, EM 139 k 188, 8 r. 1 1 6 2 Brückner, Wolfgang: Populäre Druckgraphik Europas. Deutschland vom 15. bis zum 20. Jahrhundert, München (1975), 43. 1 1 6 3 Hirsch 110. 1152

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Verbreitungsstrukturen: Institutionen des Buchwesens

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wohl die privilegierende Landesherrschaft als auch die Drucker selbst Wert auf die Monopolstellung der Königsberger Drucker legten. Die Beispiele Schmidts und Segebades zeigen aber, daß die landesherrliche Politik der Gewerbebeschränkung auch lähmend wirken konnte.

b) Anfänge des Verlagswesens Wie der Buchdruck selbst, so scheint auch seine organisatorische Weiterentwicklung von Südwesten nach Nordosten fortgeschritten zu sein. Während sich in alten Druckzentren wie Basel, Augsburg und Nürnberg rasch ein eigenständiges Verlegergewerbe entwickelte1164, kam es in Königsberg bis ins 17. Jahrhundert nicht dazu. In den meisten Fällen brachte der Drucker selbst das notwendige Kapital auf und trug das verlegerische Risiko1165. Der Autor hatte bestenfalls von dem Widmungsträger des Werkes eine „Verehrung" zu erwarten1166. Der Typus des „Druckerverlegers"1167 herrschte vor. Ansätze zur Entwicklung der Verlegertätigkeit gab es jedoch in Königsberg in bemerkenswerter Anzahl; und die Quellenfunde lassen vermuten, daß der Königsberger Buchdruck stärker von fremdem Kapital abhing, als bisher angenommen. Schon 1550 ordnete der Herzog an, die Buchhändler Preußens sollten sich an den Verlagskosten der in Königsberg gedruckten Bücher beteiligen1168. Daß eine solche Bestimmung existierte, muß allerdings noch nicht heißen, daß sie auch befolgt wurde. Bei der großen Zahl der amtlichen und im Regierungsauftrag gedruckten Schriften vor allem in der Zeit Daubmanns muß man, streng

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Wittmann, Reinhard: Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick, München (1991), 32—34. 1165 Richter, Günter: Buchhändlerische Kataloge vom 15. bis um die Mitte des 17. Jahrhunderts, in: Wittmann, Reinhard (Hg.): Bücherkataloge als buchgeschichtliche Quellen in der Frühen Neuzeit (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, hg. von der Herzog August Bibliothek u. a., Bd. 10), Wiesbaden (1984), 35. Ferner Helmuth Kiesel in: Kiesel, Helmuth/Münch, Paul: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Markts in Deutschland (Beck'sche Elementarbücher), München (1977), 124. 1166 Kiesel 144; Koszyk, Vorläufer, 18. 1167 Ausdruck „Drucker-Verleger" bei Kiesel 124. 1168 Lohmeyer 69.

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II. Die Öffentlichkeit der Bildung

genommen, die Regierung als Verleger ansehen1169. Der Herzog übernahm persönlich einen Teil der Druckkosten für Funcks „Chronologia"1170. Als Daubmann 1570 die polnische Ubersetzung der Lutherschen Hauspostille drucken sollte, bat er durch Vermittlung des Bischofs den Herzog, die Kosten für das Papier vorzustrecken1171. Daubmanns Schreiben zeigt, wie weit Geld- und Tauschwirtschaft einander im Verlagswesen noch vertreten konnten. Der Drucker bat an erster Stelle um einen Zuschuß von 200 Talern [!], also eine herzogliche Beteiligung an den Herstellungskosten, alternativ um eine Abnahmegarantie für 200 Exemplare des Corpus doctrinae, die bei ihm offenbar „Ladenhüter" waren. Für den Fall, daß der Herzog beides ablehnte, bot Daubmann an, einen Druckkostenzuschuß mit fertigen Exemplaren der Postille zu bezahlen. Ginge auch das nicht, so erinnerte Daubmann an eine fällige Getreidezuteilung, die er dadurch abgelten wollte, daß er Mandate aus der Kanzlei und ähnliches umsonst druckte. Auch die Landstände übernahmen gelegentlich die Finanzierung von Büchern. 1553 schrieb der Rat Caspar von Nostitz eine Art von „Bettelbrief" an Wilhelm Truchseß zu Langkeim und teilte ihm mit, er, Nostitz, habe bei Gelegenheit der Jahresrechnung gemeinsam mit dem Burggrafen eine Geldsammlung begonnen, die sicherstellen solle, daß Matthias Flacius Illyricus seine neue Schrift gegen den Hofprediger Funck drucken könne. Flacius nämlich „hat nicht so vil, das ers vorlags halben, konte drucken lassen"1172. Insgesamt sollten 100 Gulden zusammenkommen, die man Flacius diskret „zum newen Jar zuschicken" wollte. Vor 1613 wollte der „Landcasten" dem Dr. Levin [Buchius, Hofgerichtsrat und Professor der Rechte1173] 2000 Mark preußisch für die Ubersetzung des Landrechts zahlen, und die Landräte erboten sich, es eventuell auf Landschaftskosten drucken zu lassen1174.

Lohmeyer 68; Thielen, Kultur, 115 f. Thielen, Kultur, 163. 1171 Zum Folgenden vgl. Schreiben Daubmanns an den Bischof, Abschied datiert 5. August 1570, EM 139 k 47, 36 r sq., Datierung 37 v. Ausdrücklich als Luthers Hauspostille wird das Buch bei Drukarze 84 bezeichnet. 1172 Zum Folgenden vgl. Caspar von Nostitz an Wilhelm Truchseß zu Langkeim, 21. November 1553, HBA J2 985, Α. Z. 3. 43. 227. 1173 Gause, Königsberg, 299, zu Buchius ferner Conrad, Georg, Obergerichte, 43. 1174 Bedenken der Herren und Landräte wegen des Landrechts, o. D., EM 86 a 5, 34 r. Die Datierung ergibt sich daraus, daß die Bezahlung „auß kunfftiger landt contribution Anno 1613" stammen sollte, ebenda. 1169

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Verbreitungsstrukturen: Institutionen des Buchwesens

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Der erste Verleger, der nicht aus dem Gewerbe der Drucker, sondern der Buchbinder und Buchhändler kam, war Christoph Hoffmann1175. Er brachte 1575 die Druckkosten für einige Schriften Wigands und für das Werk „Vom Ampt vnd gewalt der Pfarrherr" von Heßhus auf1176. Schmidt ließ Werke bei Osterberger drucken, schon bevor er selbst die Druckerei übernahm1177. Ebenso verfuhr Segebade für die Druckerei Schmidt: Segebade beglich 1621 die Druckkosten von Philipp Arnolds „Antinagelius"1178. Johannes Maletius verlegte sein „Neues Testament" und andere polnische Werke selbst1179. Manchmal übernahmen auch „Privatpersonen, die mit dem Druckgewerbe nichts zu tun hatten, die Druckkosten für bestimmte Werke ganz oder teilweise. Die „Coß", das Rechenbuch von Christoph Rudolff, wurde von Augezdecki 1553/54 auf Kosten des Königsberger Bürgers Christoph Ottendorfer gedruckt1180. Zu Zeiten Daubmanns versuchte der Königsberger Notar M. Albertus Pölmann, das kulmische Landrecht auf seine Kosten drucken zu lassen1181. Der Druck wurde allerdings angehalten, da das Landrecht sich noch in Revision befand. Kaspar Hennenbergers großes Werk „Erklärung der preußischen größern Landtafel" wurde zu einem Drittel von einem gewissen Hans Schultz finanziert; zwei Drittel der Druckkosten

1175 Zu ihm Gause, Königsberg, 248. Zu seinem Sortimentsbuchhandel Grimm, Heinrich, 1690. 1176 Benzing, Verleger, 1172. Benzing macht keine genaueren Angaben. Heßhus, „Vom Ampt vnd gewalt der Pfarrherr" ist als Werk „in Verlegung Christoff Hoffmans Buchführers" gekennzeichnet, nach VD 16 Η 3176. Das Titelblatt von Heßhus' „Frage. Ob ein rechtgleubiger Christ mit Vnchristen [...] müge bürgerliche gemeinschafft haben", Königsberg 1575, enthält den Hinweis „In Verlegung Christoff Hoffmans" (Exemplar Helsinki 769. V. 19 (3)). 1 1 7 7 Früher Druck von Fabricius genannt bei Hubatsch, Osten, 8 (1567), es kann sich aber auch um einen Nachdruck handeln. » 7 8 Bircher, Nr. A 3958. 1179 ζ. Β. für die polnische Ubersetzung des Lutherschen Katechismus von Maletius, die bei Weinreich gedruckt wurde (Lohmeyer 7). 1180 Lohmeyer 69. 1 1 8 1 Zum Folgenden vgl. Albrecht Pölmann an die Oberräte, 6. Oktober 1568, EM 86 a 5, 6 r—8 v. Abschied für Pölmann vom 11. Oktober 1568 ebenda 9 r sq.; Schreiben Bonifatius Daubmanns an Herzog Georg Friedrich, 8. Juli 1584, ebenda 23 r sq. Zu Pölmann vgl. Kleinertz 165. Albert(us) Pölmann ließ 1574 ein Handbuch über das Gerichtswesen drucken (o. O., VD 16 Ρ 3824).

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II. Die Öffentlichkeit der Bildung

brachte Hennenberger selbst auf1182. Der „secretarius" Jan Maczynski trug selbst die Kosten für den Druck seines lateinisch-polnischen Wörterbuches1183. Es gab also durchaus Ansätze zur Ausbildung eines Verlagswesens, jedoch kein selbständiges Gewerbe der Verleger. Offenbar war der erreichbare Markt für Bücher noch so klein und die finanzielle Lage der Druckerei wenigstens zeitweise so prekär, daß Gewerbetreibende und andere sich scheuten, das Risiko des Verlags auf sich zu nehmen.

c) Wirtschaftliche Probleme der Druckereien Nachrichten über die Preise eines Drucks oder gebundener Bücher sind spärlich und kaum vergleichbar. Für den Druck eines amtlichen Schreibens von einem Bogen Umfang erhielt der Drucker Daubmann bei einer Auflage von 60 Stück einen Gulden, also pro Bogen einen Groschen1184. Lufft durfte für den Druck einer Disputation zu Anfang seiner Tätigkeit 8 Groschen, später nur noch 6 Groschen verlangen1185. 1567 berechnete Daubmann dem Herzog für eine zwölfbändige Prachtausgabe von Luthers Werken 30 Gulden, für die Hauspostille 3 fl. 10 gr., für die Wittenberger Bibel 5 fl. 10 gr., für Melanchthons „Loci communes"

Hennenberger, Caspar: Erclerung/ der Preüssischen/ grossem Landtaffel oder// Mappen./Mit leicht erfindung aller Stedte/ Schlösser/ Flecken / /Kirchdörffer/ Orter/ Ströme/ Fliesser vnd See so dar-/binnen begriffen. / Auch die erbawunge der Stedte vnd Schösser/ ihre zerstörunge / vnd widerbawunge./Sampt vielen schönen auch Wunderbarlichen Historien/ guten vnd bösen/ / löblichen vnd schentlichen Wercken vnnd Thaten/ Sampt derselbigen Streif vnd beloh=/ nungen/ so darinnen geschehen: vnd wunderlichen Mirackeln/ welche in Preussen z u m / theil sein/ oder sich darinnen zugetragen haben/ nützlich zu lesen. Auch m i t / feinen contrafeiten Figuren gezieret./Aus Alten vnd Newen Scribenten colligiret/ wie dann auch /dabey verzeichnet. Durch Casparum Hennenbergerum/ des Fürstlichen/ Hospitals Königsperg Löbenicht Pfarhern./ Gedruckt zu Königsperg in Preussen/ B e y / Georgen Osterbergern./ANNO M. D. XCV, F 2 r. 1182

1183 Vertrag zwischen Maczynski einerseits, Hieronymus Maletius und Daubmann andererseits vom 20. Juni 1561, gedruckt bei Wotschke, Culvensis, 231—233. 1184 Druckerrechnung Daubmanns für offiziöse Drucke: EM 139 k 47, 34 r sq. Wahrscheinlich 1569 (Datierung nach ebenda 30 r). 1185 Drukarze 231.

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25 gr. und für eine Leichenpredigt des Cyriakus Spangenberg 12 gr.1186 Die genannten Preise dürften freilich Buchbindekosten mit enthalten. Im Einzelhandel wurden Bücher also nicht nach der Menge des verbrauchten Papiers bezahlt wie beim „Verstechen" der Buchhändler untereinander1187. Universitäre Drucke mußte Daubmann kostenlos ausführen1188. Die Preise, die der Drucker kassieren durfte, wurden obrigkeitlich festgesetzt, und zwar — da Buchdruck und die damit zusammenhängenden Gewerbe als „frei" galten1189— nicht in Handwerkerordnungen, sondern im Buchdruckerprivileg oder der Buchhändler-Bestallung. Der Buchhändler Hans Krüger sollte laut seiner Bestallung höchstens einen Groschen für vier Bogen bedruckten Papiers verlangen1190, unabhängig davon, womit dieses Papier bedruckt war. Lufft mußte sechs Bogen bedrucktes Papier für einen Groschen verkaufen1191. Für Daubmann ist eine ähnliche Festlegung nicht überliefert; aber sie muß bestanden haben. Denn Osterberger beklagte sich 1585 darüber, daß die Preise seit Daubmanns Zeiten nicht gestiegen seien, so daß ihm die Buchdruckerei nichts einbringe1192. Die in seinem Privileg erwähnte „Taxa" hatte sich also erhalten. Von einem „freie[n] Markt"1193 für Bücher läßt sich demnach für Preußen nur mit Einschränkungen sprechen: Zwar konnte der Drucker — in Grenzen — selbst entscheiden, was er drucken wollte; die Preise aber lagen von Obrigkeit wegen fest. Die Gestehungskosten eines Buches dagegen schwankten. Die Papierherstellung verantwortete der Drucker selbst. Schon 1523 wurde die erste Papiermühle Königsbergs eingerichtet1194. Papier wurde aus Lumpen hergestellt. Osterberger durfte laut seinem Privileg von 1585 alle im 1186 Rechnung vom 5. und 17. Oktober 1567, EM 139 k 47, bei fol. 28 beigelegter Zettel. 1187 Kiesel 125. 1188 Benzing 260. 1189 Bücher, Karl: Deutsche Buchbinder-Ordnungen, in: Archiv für Geschichte des deutschen Buchhandels, XIX/1897, 314. 1190 Bestallungsurkunde vom 20. April 1537, Opr. Fol. 914, 282 r [alt 289 r], 1191 Buchdruckerprivileg vom 29. Mai 1549, Opr. Fol. 917, 267 r. 1192 Lohmeyer 44. Festsetzung der Bücherpreise wird dem Fürsten anheimgestellt laut dem Privileg für Osterberger vom 14. Juli 1585, EM 139 k 162, 1 r, vgl. auch die Abschrift des auf ihn übergegangenen Privilegs durch Sigmund Lang, 1697, EM 139 k 137, 2 ν sq. 1193 Giesecke, Sinnenwandel, 246. 1194 Schwenke/Lange 8, Anm. 21.

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Herzogtum anfallenden Lumpen in seine Druckerei schaffen lassen1195. Fälle von Veruntreuung von Papier und Lumpen aus der Druckerei1196 belegen, wie begehrt die Rohstoffe und das Papier waren. Dennoch litten die Drucker offenbar nicht unter Rohstoff- oder Auftragsmangel. Schon Weinreich bat 1543 den Herzog, eine zweite Papiermühle errichten zu dürfen1197 — was er wohl kaum getan hätte, hätte sich das Unternehmen nicht nach Auftrags- und Rohstofflage rentiert. Aber der Herzog schlug das Gesuch ab, vielleicht aus Sorge, eine zweite Papiermühle werde sich doch nicht erhalten können. 1592 erhielt Osterberger nach langem Drängen ein herzogliches Darlehen, als er eine zweite Papiermühle gekauft hatte1198. Die Kosten der Arbeitskraft ließen sich schwerer kalkulieren. Daubmann berichtete dem Herzog, seine Gesellen erhielten wöchentlich einen halben Gulden (15 Groschen) Lohn unabhängig von der Auftragslage, dazu freie Kost bei dem Drucker1199. Sie kosteten also bei kleinem Druckaufkommen relativ viel, zumal, wenn ein „Winkeldrucker" in Zeiten der Auftragsflaute dem Drucker die Gesellen abspenstig machte, wie es Daubmann 1564 geschah1200. Eine gute Auftragslage half dem Drucker, die Arbeitskraft seiner Gesellen besser auszunutzen. Dennoch hätte wahrscheinlich keiner der preußischen Drucker vom Verkauf seiner Bücher allein leben können, umso weniger, als alle Drucker für die Universität kostenlos drucken mußten. Daubmann erhielt laut seinem Druckerprivileg eine Verschreibung über ein jährliches Gehalt von 100 Gulden zuzüglich einer Last Korn1201, wurde also vom Herzog bzw. der Regierung wirtschaftlich unterstützt. Osterberger bezog ein Kanzlistengehalt1202, und 1595 wurde ihm auch die Erhöhung des Buchdruckerprivileg Osterbergers vom 14. Juli 1585, EM 139 k 162, 1 r. Osterberger an die Regierung, 1. Juli 1596, EM 139 k 162, 58 r sq. 1197 Zum Folgenden vgl. Brief Hans Weinreichs an den Herzog, 30. Juli 1543, EM 139 k 196, [vor 1] r sq, Datierung ebenda 5 v. 1198 Lohmeyer 49 f. 1199 Daubmann an die Universität [?], o. D. [nach 1568], EM 139 k 47, 11 v; Daubmann an den Bischof, Abschied datiert 5. August 1570, ebenda 36 r, Datierung 37 v; 39 r (1570). 1200 Schreiben Daubmanns an einen unbekannten Empfänger, möglicherweise die Universität, o. D., EM 139 k 47, 12 r sq; Datierung nach Meckelburg 7. 1201 Benzing 260. 1202 Vgl. Taxabrechnung vom 30. Juli 1574, EM 19 b 191, 1 r. Am 9. November 1575 quittiert Osterberger den Empfang von 5 mk 6 gr. „vermöge seines zedels", vgl. ebenda 3 r. 1195 1196

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zugesagten „Deputatkorns" bewilligt1203. Georg Neycke kam ebenfalls aus der Kanzlei1204. Segebade schließlich gab sich erst recht mit den Aufgaben eines Druckers nicht zufrieden, sondern versuchte daneben, sich durch ein Abkommen mit dem Landbotenmeister den Druck und Verkauf von Avisen zu sichern1205. Er zahlte dafür dem Landbotenmeister wöchentlich einen halben Gulden. Für einen Bogen der Avisen verlangte er 1623 drei Groschen. Dem Kurfürsten gegenüber behauptete er, daß dieser Preis ihm nur einen bescheidenen Gewinn ermögliche, vor allem, da Segebade wie seine Vorgänger den Gesellen feste Preise zahlte. Seine Rechnung machte er folgendermaßen auf: Vom Reinerlös gehen ab Druckerlohn Lohn für Jungen 30 Exemplare [?] 20 Gratisexemplare [Reingewinn:]

30 fl. 20 fl. 1 fl. 6 gr. 2 fl. 1 fl. 7 fl. 24 gr.

Segebade rechtfertigte damit seine Bitte um die Erhöhung der — offensichtlich auch obrigkeitlich festgelegten — Auflage1206. Die Königsberger Avisenkäufer hingegen vermuteten, er mache mit seinen Avisen ein gutes Geschäft und verlange „für ein bogen lügen" viel zuviel1207. Gelegentlich fühlten sich frühneuzeitliche Buchdrucker durch sogenannte „Winkeldrucker" bedroht, Drucker ohne obrigkeitliche Konzession. Sie machten den etablierten Buchdruckern oft erfolgreich Konkurrenz. Den Obrigkeiten galten sie als möglicherweise politisch gefährlich, da sie ihre Bücher nicht, wie es den Druckern vorgeschrieben war, vor dem Druck zur Zensur vorlegten1208. Daubmann beschwerte sich als erster 1564 über einen namentlich nicht genannten Winkeldrucker „in D. Göbels Wohnunge", der außerdem noch seine, Daubmanns, Gesellen für

1203

Lohmeyer 50 f. Lohmeyer Π, 179 f. 1205 Zum Folgenden vgl. das Schreiben Segebades an den Kurfürsten, 17. Oktober 1626, EM 139 k 188, 8 r sq. 1206 Segebade an den Kurfürsten, 17. Oktober 1626, EM 139 k 188, 9 r. 1207 Segebade an den Kurfürsten, 17. Oktober 1626, EM 139 k 188, 8 r. 1208 Zur Zensur vgl. unten, Zweites Kapitel, Abschnitt V. 2. a). 1204

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sich arbeiten lasse1209. Das obrigkeitliche Verbot scheint nichts gefruchtet zu haben, denn schon 1568 sah Daubmann sich zu einer weiteren Beschwerde veranlaßt1210. Osterberger klagte im Januar 1590 über die Tätigkeit eines Winkeldruckers1211. 1596 machte Osterberger den Winkeldrucker Felbinger namhaft1212, warf ihm die Veruntreuung von Lumpen und Papier aus seiner Druckerei vor und beklagte sich, daß Felbinger auf dem Steindamm ein Gebetbuch an der Zensur vorbei gedruckt habe, was Osterberger nicht dürfe. Wirtschaftliche und politische Motive durchdrangen sich in den Argumenten des Druckers, wenn er die Konkurrenz loswerden wollte.

d) Umfang des preußischen Buchdrucks Die historische Buchforschung hat vielfältige Anstrengungen unternommen, die Gesamtzahl und die einzelnen Titel der Drucke zu ermitteln, die aus Königsberger Druckereien im ersten Jahrhundert des Königsberger Buchdrucks hervorgingen. Statt der 21 Drucke, die Meckelburg Anfang des Jahrhunderts der Offizin Hans Weinreichs zuschrieb1213, kennt man heute 150 Drucke aus seiner Offizin1214. Einige von ihnen erlebten mehrere Auflagen1215. Anfangs druckte er ausschließlich deutsche Bücher, da er nur über einen Fraktur-Schriftsatz verfügte. Erst seit 1546 produzierte Weinreich auch lateinische Bücher1216. Für Oslanders „Sendbrief an einen guten Freund" ließ sich der Drucker im Jahre 1552 hebräische Lettern schicken; und für Thomas Horners „De

1209 Schreiben Daubmanns an einen unbekannten Empfänger, möglicherweise die Universität, o. D., EM 139 k 47, 12 r sq; Datierung nach Meckelburg 7. "ίο Meckelburg 6 f. 1211 Lohmeyer 49. 1212 Zum Folgenden vgl. den von Osterberger unterschriebenen Zettel, EM 139 k 162, 59 r; von anderer Hand auf 59 ν datiert vom 6. Februar 1596. Der Zettel liegt einem Brief Osterbergers an Herzog Georg Friedrich bei (ebenda 58 r—60 v); Datierung des Briefes nach dem Registraturvermerk auf 60 ν: 1. Juli 1596. m 3 Meckelburg 46—48. 1214 Vgl. Verzeichnis der Drucke im Anhang. ι 2 1 5 Ζ. B. Heydeck, Schreiben an Plettenberg; Cyprianus, Almosensermon; Albrecht, Chrisiana responsio. 1 2 1 6 Schwenke 82.

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ratione componendi cantus" 1546 verwendete er zum ersten Mal bewegliche Lettern von Musiknoten1217. Lufft war allerdings wesentlich vielseitiger und verhältnismäßig produktiver. Aus der kurzen Zeit seiner Tätigkeit 1547 bis 1553 haben sich 77 Drucke erhalten; das ergibt knapp dreizehn Drucke im Jahresdurchschnitt — gegenüber etwas mehr als fünf bei der Presse Weinreichs. Daubmann produzierte 340 Drucke in 20 Druckjahren, durchschnittlich 17 Drucke im Jahr, und übertraf damit noch weit die Jahresproduktion der Lufftschen Offizin. Unter Osterberger und seinen Erben nahm das Volumen des Drucks jedoch ab. Osterbergers Offizin brachte es nur noch auf etwa zehn Drucke pro Jahr (366 Drucke in 34 Jahren), unter denen Disputationsthesen sowie lateinische Gelegenheitsgedichte von nur einem Bogen Umfang die Mehrzahl stellten. Möglicherweise wirkte es sich für Osterberger nachteilig aus, daß in Polen inzwischen mehr Druckereien arbeiteten1218 und dem Drucker dadurch der Markt für polnische Bücher verloren ging. Daubmann hatte noch sehr viele polnische Bücher gedruckt und für Polen und Litauen den Schutz eines königlichen Privilegs genossen. Osterberger druckte kaum noch polnische Bücher1219. Stattdessen hatte er nun die Bibel und einige protestantische Grundschriften in lettischer Sprache zu produzieren1220. Sie wurden teils für das neu erworbene Amt Grobin benötigt, teils ließen sie sich im übrigen Kurland absetzen1221. Ansonsten erwies sich Osterberger mit einer großen Zahl von lateinischen Schriften ganz als Drucker der Universität und der gelehrten Welt. Die „volkstümliche" deutschsprachige Öffentlichkeit wurde von den im Druck verbreiteten Fragen weit weniger erreicht als früher.

Drukarze 460. 1218 Thorn 1568, Posen 1577, Graudenz 1579 (alle nach Benzing, [Joseph]: Die Druckorte des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Ein Kartenbild mit erläuterndem Text, hg. von Erwin Press und Hans Strohmaier, Berlin 1938, [S. 9], Vgl außerdem Rozycki, K. von: Die Buchdruckerkunst in Polen bis zur Mitte des XVII. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Bücherfreunde 10,1906/1907, 490. 1217

1219 Bsp.: Dictionarium trium linguarum, 1592, Wierzbowski, Nr. 2894; Wokabularz rozmaitych, mehrere Auflagen (vgl. Verzeichnis der Drucke im Anhang; Gliczner, Appellatia, 1598, Wierzbowski, Nr. 3045. 1220 Bsp.: Katechismus lettisch, 1586, VD 16 L 5339; Psalmen und Evangelien lettisch, 1587, Hubatsch, Westdeutsche, 116. 1221 Gundermann, Pfarrbibliotheken, 150.

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II. Die Öffentlichkeit der Bildung

Die Produktionsziffern, die sich aus den bekannten Drucken ergeben, können aber nur einen kleinen Teil des Druckschaffens bezeichnen. Von etwa einem Druck pro Monat, unter denen sich einige nur kleine Schriften oder Einblattdrucke befanden, hätten weder Lufft noch Daubmann leben können, selbst dann nicht, wenn man ihre Besoldung und das „Deputatkorn" in Rechnung stellt. Die Geschichte der Druckerei Johann Schmidts zeigt noch deutlicher, daß selbst mehr als zehn Drucke jährlich nicht dazu ausreichten, einem Drucker den Lebensunterhalt zu sichern. Schmidt produzierte durchschnittlich etwa 13 bis 14 Schriften jährlich (205 bekannte Drucke aus 15 Jahren) und konnte es — den bekannten Drucken nach zu urteilen — mit der Leistung des aktiven Druckers Lufft durchaus aufnehmen, wenn er auch Daubmanns Produktivität nicht erreichte. Dennoch resümierte Schmidts Nachfolger Segebade 1626, in den vergangenen 20 Jahren habe die Druckerei kaum etwas drucken dürfen als ein paar Schulbücher und die Bibel1222. Mit der rhetorischen Untertreibung wollte Segebade wahrscheinlich sein eigenes Verdienst um den Aufschwung des Unternehmens herausstellen. Der Vielfalt des Druckschaffens Schmidts wurde Segebades Aussage kaum gerecht. Doch trotz seiner — im Vergleich zu seinem Vorgänger — großen Produktivität und Vielseitigkeit hatte Schmidt die Druckerei materiell nicht erhalten können 1223 und sie 1623 verkauft1224. Entweder hatte sie ihm keinen Gewinn eingetragen oder stak noch aus Osterbergers Zeit in Schulden. Wenn schon die Drucker Johann Schmidt mit mehr als dreizehn Drucken und Daubmann mit siebzehn Drucken im Jahr sich nicht erhalten konnten, so können die zehn Drucke jährlich zu Osterbergers Zeiten oder gar die fünf der Druckerei Weinreich erst recht nicht ausgereicht haben, dem Drucker den Lebensunterhalt zu sichern. U m sich auch nur einigermaßen wirtschaftlich zu behaupten, müssen alle Drukker Königsbergs wesentlich mehr produziert haben, als sich bis heute aufgrund von bibliographischen Forschungen und Bibliotheksstudien ermitteln läßt. Selbst aus Königsberg, das meist nur eine einzige Offizin hatte, kennt die Forschung bis heute nur einen Bruchteil des Druckschaffens. Zudem ist er wahrscheinlich nicht repräsentativ für das gesamte Druckaufkommen. Da seit der Gründung der Universität Königs-

1222

Segebade an den Kurfürsten, 17. Okt. 1626: EM 139 k 188, 9 r sq.

1223

Drukarze 104. Abschied des Kurfürsten an Segebade vom 4. April 1623, E M 139 k 188, 4 r sq.

1224

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berg alle Drucker für sie arbeiteten, machten Dissertationen und Disputationsthesen gewiß einen großen Teil der Gesamtproduktion aus. Auch amtliche Drucke wie Mandate, Landtags- und Steuerausschreiben dürften in höherer Zahl gedruckt worden sein, als bisher bekannt. Flugblätter, „Neue Zeitungen" und andere „Massen"produkte erschienen sehr oft ohne Druckortangabe und lassen sich deshalb schwer einzelnen Offizinen zuordnen. Daher können sich unter Drucken ohne Ortsangabe ebenfalls Königsberger Drucke befinden. Seit eine „Warhafftige newe czeytung ausz Rom" von 1527 aus Weinreichs Druckerei bekannt geworden ist1225, weiß man, daß schon der erste Königsberger Drucker jedenfalls den Versuch unternommen haben muß, auch solche kleinen und daher verhältnismäßig billigen Drucke großer Auflage zu verkaufen. Insgesamt kann man annehmen, daß Flugblätter und „Neue Zeitungen" in Königsberg häufiger hergestellt und verbreitet wurden, als durch bekannte Exemplare belegt ist.

2. Buchhandel Schon auf sehr frühen bildlichen Darstellungen des Buchdrucks wird die Druckerei mit dem Buchhandel verbunden gesehen1226. Buchdruck und Buchhandel trennten sich erst im Laufe des 16. Jahrhunderts voneinander1227. In Preußen übten sämtliche Buchdrucker von Weinreich bis Segebade auch das Buchhändlergewerbe aus. Sie verkauften nicht nur Bücher der eigenen Offizin, sondern auch solche anderer Druckerei-

1225

VD 16 W 357. Darstellung aus dem 1500 in Lyon von Matthias Huß gedruckten Totentanz, zitiert nach: Deutscher Buchdruck im Jahrhundert Gutenbergs. Zur Fünfhundertjahrfeier der Erfindung des Buchdrucks, hg. von der Preußischen Staatsbibliothek und von der Gesellschaft für Typenkunde des 15. Jahrhunderts Wiegendruckgesellschaft, Leipzig 1940, Tafel 2 und Erläuterung. 1227 Kiesel 124: Verleger-Sortimenter erst ab 1564 typisch. 1228 Grimm, Heinrich, 1163 nennt selbständige Buchhandelstätigkeit als Kriterium für die Nennung als Buchhändler. Weinreich (Spalte 1684) und Daubmann (Spalte 1688) sind bei ihm genannt. Daß Osterberger auch Bücher fremder Offizinen vorrätig hatte, ist am Verzeichnis der Bücher seines Ladens zu erkennen: Lohmeyer 93 f. Zu Segebade vgl. Rehberg 16. 1226

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II. Die Öffentlichkeit der Bildung

Außer den Druckern gab es in Preußen zahlreiche andere Buchhändler, damals „Buchführer" genannt. Soweit mehr von ihnen bekannt ist als der Name, stammten sie meist aus dem Buchbindergewerbe. Die Verbindung von Buchbinderei und Buchhandel leitet man daraus ab, daß die Buchbinder von den Druckern Bücher statt Geld als Bezahlung erhielten und so das Recht erwarben, die Bücher weiterzuverkaufen1229. 1525 erwähnen die herzoglichen Rechnungsbücher einen anonymen Buchführer und Johann Orttel1230. 1528 wurde Liborius von dem (oder der) Felde als Buchführer in Königsberg genannt1231. Um 1530 handelte ein Buchführer Michel „besonders" in den Landstädten Bartenstein, Rastenburg, Friedland, Schippenbeil und Wehlau1232. Vom 20. April 1537 datiert die Bestallung des Buchführeres Hans Krüger1233. Er starb aber bereits 15401234. Seine Witwe führte mit Unterstützung seines Bruders Adrian das Geschäft weiter1235. Heinrich Grimm nennt für die Zeit Herzog Albrechts außerdem noch vier andere Buchführer, die ihr Gewerbe in Königsberg ausübten, nämlich Hans Daubmann, Fabian Reich, Georg Wiedemann und Peter Peutter1236. In den sechziger Jahren arbeiteten neben Daubmann sechs weitere Buchhändler in Königsberg: Fabian Reich, Adrian Krüger, Georg Wiedemann, Johannes Seclutianus, Martin Kayser und Moritz Guttich1237. Das Buchhändlerprivileg von 1573 nennt vier Namen, nämlich den Drucker Hans Daubmann, daneben Fabian Reich, Christoph Hoffmann und Zmidgert Rosch1238. Außerdem waren Seclutian bis 1578, Krüger und Guttich bis 1573 aktiv1239. 1581, nach an-

1229 Lohmeyer 66 f., auch Hirsch, Rudolf: Printing, Selling and Reading 1450— 1550, Wiesbaden 1967, 37. 1230 Lohmeyer 54 f. 1231 Lohmeyer 54. Beide Schreibweisen bei Grimm, Heinrich, 1684. 1232 Grimm, Heinrich, 1684. 1233 Bestallungsurkunde vom 20. April 1537, Opr. Fol. 282 r [alt 289 r] sq. 1234 Schreiben der Anna Krüger, seiner Witwe, an den Herzog am 18. Juli 1540, EM 139 k 131, 1 r; Datierung nach dem Aktenvermerk auf 2 v. 1235 Anna Krüger an den Herzog, 18. Juli 1540, EM 139 k 131, 1 r. Spätere Zeugnisse zur Tätigkeit Adrian Krügers vgl. Grimm, Heinrich, 1687. 1236 Grimm, Heinrich, 1688, Lohmeyer 57. 1237 Grimm, Heinrich, 1687 f. 1238 Privilegium der Königsberger Buchführer, 26. August 1573, EM 139 k 1, 6 r sq., datiert ebenda 7 v. 1239 Grimm, Heinrich, 1687 f.

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deren Angaben schon 15711240, privilegierte der preußische Herzog den Buchführer Martin Roth. Für die Zeit danach fließen die Quellen der Königsberger Buchhandelsgeschichte weniger reichlich. Lohmeyer1241 nimmt an, daß der Buchhandel verfiel und holländische und lübische Buchhändler den Handel übernahmen, für den die Königsberger Buchhändler nicht mehr sorgen konnten. Die Nachfolge Moritz Guttichs trat 1578 Josias Specklin an1242. Er starb im Jahre 16001243. Für 1610 stehen drei Königsberger Buchhändler in der Schuldnerliste eines Leipziger Buchhändlers, nämlich Specklins Witwe, der Buchbinder Fabian Meßkerken und Zacharias Behm1244. Nachrichten über die Geschäftsverbindungen der Königsberger Buchhändler und über fremde Buchführer in Königsberg lassen ein lose geknüpftes, aber weit gespanntes Netz von Verbindungen erkennen. Die geschäftlichen Kontakte Weinreichs nach seiner Heimat Danzig rissen wahrscheinlich nicht ab, als er sich in Königsberg niederließ. Seine Drucke gelangten ins Ermland und bis nach Gnesen und Posen, sehr zum Ärger des streng altgläubigen Bischofs Stanislaus Hosius1245. Reisen zu den Messen in Frankfurt und Leipzig waren für viele Drucker und Buchhändler aus Königsberg selbstverständlich1246. Trotzdem kaufte Herzog Albrecht noch 1541 Bücher von einem nicht genannten Buchführer aus Elbing1247. Offenbar konnten die Königsberger Buchführer nicht alle Bücher beschaffen, die der Herzog brauchte. Vielleicht infolge der Verkleinerung des Büchermarktes nach den Osianderstreitigkeiten suchte Hans Daubmann sein Absatzgebiet entschieden zu vergrößern und ging weitreichende Geschäftsbeziehungen

1240 1571 gibt Lohmeyer 60 an. Das Privileg Herzog Georg Friedrichs für Roth vom 6. Juli 1581 (EM 139 k 179, 2 r) hält er für eine Wiederholung. Lohmeyer Π, 62 f. Bestallung am 20. Januar 1578, zitiert nach Fischer, Richard: Briefe und Aktenstücke aus der Zeit der Preussischen Herzöge Albrecht und Albrecht Friedrich, in: AMS 25/1888, 426. 1 2 4 3 Lohmeyer 64. 1 2 4 4 Lohmeyer Π, 301, Anm. 69. 1 2 4 5 Lohmeyer 58 f. 1 2 4 6 Ζ. B. Guttich (Lohmeyer 73 f.); Specklins Witwe (Lohmeyer Π, 301). Außerdem Grimm, Heinrich, 1687; Erwähnung Daubmanns im Meßkatalog von 1569 und Erwähnung Osterbergers im Meßkatalog (Lohmeyer 76). Allgemein Grimm, Heinrich, 1171. Paß für Segebade nach Leipzig, 2. April 1622, EM 139 k 188, 1 r—2 r. 1 2 4 7 Lohmeyer 58. 1241

1242

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ein. Er handelte mit Eustachius Trepka in Posen1248 und mit Christian Egenolff und seinen Erben in Frankfurt am Main1249. Das von Daubmann gedruckte polnisch-deutsche Sentenzen-Wörterbuch konnte 1586 in Posen erworben werden1250. Den Buchhändler Nickel Jentsch in Thorn versorgte Daubmann mit reformatorischen Schriften1251; und die Witwe des dortigen Buchhändlers Stenzel Reimann hatte noch Schulden bei ihm1252. 1557 schrieb Herzog Albrecht an Nikolaus Radziwilt, damit Daubmann in Wilna Bücher verkaufen könnte1253. Auch spätere Bücherlieferungen nach Litauen sind bezeugt1254. U m 1560 tauchte er als erster preußischer Buchhändler in Riga auf1255 und druckte 1564 einen Kalender für die Stadt1256. 1569 wird Daubmann im Frankfurter Meßkatalog erwähnt1257; doch kaufte oder verkaufte er sicher des öfteren persönlich Bücher in Frankfurt. Die Messen in Frankfurt und Leipzig waren für das Römische Reich die wichtigsten Buchhandelsplätze1258. Von ihnen aus gelangten auch Buch-Informationen aus Preußen nach Westen.

1248 v g l . Brief Daubmanns an den Herzog, EM 139 k 47, 3 r sq [von fremder Hand datiert ebenda 1 r: 1562]; Herzog an Bürgermeister und Rat von Posen, 21. Oktober 1562, ebenda 6 ν sq. 1 2 4 9 Herzog Albrecht Friedrich an Bürgermeister und Rat von Frankfurt/Main, Königsberg, „den dritten Ostertag" 1574, EM 139 k 47, 54 r; Datierung 55 v. 1 2 5 0 Wokabularz το// zmaitych Sentenciy y p o = / 7 trzebnych / Polskim y N i e m i e = / / c k i m Mlodziencom nä /^pozytek terras ze=/7brany. //Ein V o c a b u « # lar mancherley schönen vnd// notwendigen Sententien/ der// Polnischen vnd Deutschen Jugend zu nutz zu-//samen getra-//gen./'Drukowano w Krolewcu P r u = / skim ν Jana Daubmana/ Roku/'Panskiego 1571. Das Exemplar HAB 63 Gram. (1) trägt auf der Innenseite des Einbands den handschriftlichen Vermerk „1586 kaufft ich dis Buch In posenn [folgen fünf unleserliche Zeichen] d. 19 August / Jörg Petzoldt". 1251 piroszynski, Jan: Der Buchhandel in Polen in der Renaissance-Zeit, in, Göpfert, Buchwesen, 286.

Lohmeyer 71 f. Herzog Albrecht an Nikolaus Radziwill, 14. Januar 1557, mitgeteilt bei Wotschke, Abraham Culvensis, 204 f. Zum Handel Daubmanns in Wilna vgl. auch Grimm, Heinrich, 1688. 1 2 5 4 Luksaite, Inge: Das deutsche protestantische Buch des 16. und 17. Jahrhunderts im Großfürstentum Litauen, in: Nordost-Archiv, Neue Folge 4/1995, Heft 1: Das deutsche Buch in Ostmitteleuropa. Bestände und Rezeption, 150. 1 2 5 5 Grimm, Heinrich, 1683. 1 2 5 6 Grimm, Heinrich, 1688. 1 2 5 7 Lohmeyer 76. 1 2 5 8 Zum Folgenden vgl. Grimm, Heinrich, 1689. 1252

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Unter den preußischen Landstädten nahmen Bartenstein, Rastenburg, Friedland, Schippenbeil und Wehlau offenbar als Buchhandelsorte eine Sonderstellung ein. Der Buchführer Michel handelte um 1530 in diesen Städten1259; und Martin Roths Privileg bezog sich ausdrücklich auf dieselben Städte1260. Das Privileg von 1573 erlaubte den vier genannten Königsberger Buchhändlern den Handel in allen preußischen Landstädten, auch außerhalb der zweimal jährlich stattfindenden Märkte1261. Im übrigen hatten die Buchführer offenbar ebenso weitreichende Geschäftsverbindungen wie die Drucker-Buchhändler. Hans und Adrian Krüger standen im Austausch mit dem Wittenberger Buchhändler Hans Löffler, der 1541 auch für Schulden des verstorbenen Hans Krüger bürgte1262. Adrian unterhielt außerdem Verbindungen zu Buchhändlern in Leipzig und Frankfurt/Main und zu dem Nürnberger Buchhändler Erhard Hager1263. Georg Wiedemann hatte Schulden bei dem Wittenberger Buchhändler Christoph Schramm1264. Auch Fabian Reich handelte nach Wittenberg1265. Mit dem Danziger Buchhändler Felix Schwabe machte er allerdings eher unangenehme Bekanntschaft. Schwabe hatte ihm 1547 ein Faß mit Büchern erbrochen und die Bücher verkauft1266. Reich mußte versuchen, sein Eigentum durch Vermittlung des Danziger Rates wiederzuerlangen. Neben den Handelsplätzen im Reich bedienten die preußischen Buchhändler auch die polnischen Märkte. Der preußische Buchhandel nach Livland soll lange Zeit das Entstehen eines eigenständigen livländischen Buchhandels verhindert haben1267. Erst 1588 eröffnete Nikolaus Mollin die erste Druckerei in Riga.

1259

Grimm, Heinrich, 1684. 1260 Privileg Herzog Georg Friedrichs für den Buchführer Martin Roth, 6. Juli 1581, EM 139 k 179, 2r. 1261 Privilegium der Königsberger Buchführer, 26. August 1573, EM 139 k 1, 6 v, datiert 7 v. 1262 Buchführer Hans Löffler an den Fürsten, 3. Februar 1541, EM 139 k 142, 1 r— 2 v; ders. an dens., o. D., ebenda 3 r—4 r. 1263 Grimm, Heinrich, 1687. 1264 Schramm an den Kurfürsten zu Sachsen, HBA A 2, 11. März 1546. 1265 Vgl. Brief Fabian Reichs an Herzog Albrecht, EM 139 k 167, 2 r, Abschied 2 ν datiert vom 28. Januar [?] 1554. 1266 Zum Folgenden vgl. Fabian Reich an Herzog Albrecht, 3. Dezember 1547, EM 139 k 167, 1 r sq. 1267 Zum Folgenden vgl Jessen 24.

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II. Die Öffentlichkeit der Bildung

Für politische Aufregung sorgten vor allem die Verbindungen preußischer Buchhändler ins „katholische Ausland", das in der Gestalt des Bistums Ermland sehr nahe lag. Der ermländische Bischof Stanislaus Hosius wehrte sich gegen die Einfuhr evangelischer Bücher1268, konnte sie aber nicht ganz verhindern. 1558 wurde der Sohn Fabian Reichs, Jonas Reich, von dem Allensteiner Amtmann des Bischofs gefangengesetzt, weil er „ketzerische" Bücher mit sich geführt hatte1269. Die Bücher wurden beschlagnahmt; Fabian Reich mußte versuchen, seine Ware durch Vermittlung des preußischen Herzogs zurückzuerhalten, und legte ein Verzeichnis der beschlagnahmten Bücher an1270. Dieses Verzeichnis enthält in der Tat viele Bücher, die für den ermländischen Bischof „ketzerisches" Schrifttum bedeuteten, Luthers Hauspostille etwa, die „Loci communes" von Melanchthon und Werke des lutherischen Theologen Sleidan. Was aber im katholischen Bistum Ermland als Contrebande galt, war im lutherischen Preußen hochgeschätzt und gehörte, wie zu vermuten steht, zur Grundausstattung jedes Buchladens. Der junge Reich hatte wahrscheinlich nur seine gewöhnliche Handelsware bei sich und betrieb also diese Art von „Ideenschmuggel"1271 häufiger. Herzog Albrecht behauptete gegenüber dem Bischof sogar, unter den Vorgängern Hosius' habe es keinerlei Beschränkungen des Buchhandels aus dem Herzogtum ins Ermland gegeben1272. Aber diese Freizügigkeit der Bücher ließ sich nicht aufrechterhalten, weil die sich bildenden Konfessionskirchen sich zunehmend voneinander abgrenzten und den ungehinderten Austausch von Informationen und besonders Meinungen zu unterbinden versuchten. Der Königsberger Buchhändler Moritz Guttich mußte 1569 seine Handelsware im Ermland beschlagnahmen lassen, weil sich darunter ein antijesuitischer Traktat befunden hatte1273. Herzog Al-

Lohmeyer 58. Zum Folgenden vgl. Lohmeyer 58 f. Ferner Brief Herzog Albrechts an Hosius, 17. Februar 1558, zitiert nach: Hartmann, Herzog Albrecht Π, 103. 1 2 7 0 Zum Folgenden vgl. Schreiben Fabian Reichs an Herzog Albrecht, 6. Dezember 1558, E M 139 k 167, 5 r, datiert 7 v. Zu Sleidan vgl. H. Baumgarten, Sleidan, in: A D B 34,454—461. 1 2 7 1 Der Ausdruck bei Siemann, Wolfram: Ideenschmuggel. Probleme der Meinungskontrolle und das Los deutscher Zensoren im 19. Jahrhundert, in: H Z 245/1987, 71—106. 1272 Wermter, Albrecht von Preußen und die Bischöfe von Ermland, 255. 1273 Zum Folgenden vgl. Herzog Albrecht Friedrich an Bischof Martin Kromer, 2. Oktober 1569, zitiert nach Hartmann ΠΙ, 45; ders. an dens., 16. Oktober 1569, eben1268

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brecht Friedrich versuchte zwar, den Buchhändler zu schützen, indem er vorbrachte, daß Guttich das fragliche Buch nur mit sich geführt, aber nicht verkauft habe. Trotzdem konnte er erst nach drei Jahren die Rückgabe der Bücher erreichen — nachdem Guttich gestorben war. Um die Jahrhundertwende werden die Zeugnisse zur Königsberger Buchhandelsgeschichte weniger. Osterberger pflegte, wie die Bestätigung seines Privilegs für Polen zeigt1274, die polnischen Verbindungen Daubmanns weiter. Von 1590 stammt der erste Beleg für einen buchhändlerischen Kontakt zwischen Königsberg und Warschau, und zwar zu dem dortigen Buchhändler Petrus Faber1275. Bei den engen Beziehungen zwischen Polen und dem Herzogtum bestanden Buchhandels-Verbindungen aber sicher schon früher. Auch im Buchhandel zwischen Königsberg und Lübeck geschah wohl mehr, als die erhaltenen Quellen belegen. Lübeck als Hauptort der Hanse unterhielt zu dem Hansevorort Königsberg enge Handels- und Nachrichtenverbindungen, so daß es erstaunlich wäre, hätte sich der Austausch nicht auch auf Bücher erstreckt. Aber nur eine einzige Quelle aus Königsberg nennt einen lübischen Buchhändler, Samuel Jauch1276. Er bot 1619 in Königsberg Bücher feil und suchte als Gelegenheitsbote Segebades einen Rostocker Buchhändler auf, dem Segebade Geld schuldete.

3. Geschichte der preußischen Bibliotheken bis etwa 1620 a) Korporative Bibliotheken Die Grundlagen des preußischen Bibliothekswesens stammen noch aus der Zeit des Deutschen Ordens. Die Marienburg, Sitz des Hochmeisters, verfügte über große Buchbestände, von denen ein Teil in andere Bibliotheken gewandert sein muß, als die Marienburg 1457/66 an Polen

da 46; ders. an dens., 2. April 1572, ebenda 78; Kromer an Herzog Albrecht Friedrich, 15. April 1572, ebenda 79. 1274 Bestätigung des Buchhändlerprivilegs Osterbergers für Polen, Marienburg, 1. Dezember 1577, EM 139 k 162,1 r. 1275 Offener Brief Herzog Georg Friedrichs, 28. Februar 1590, EM 139 k 162, 51 r sq. 1276 Zum Folgenden vgl. Schreiben von Rektor und Senat der Universität an den Kurfürsten, Aktenvermerk vom 9. September 1619, EM 139 k 114, 1 r; Datierung 3 v.

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II. Die Öffentlichkeit der Bildung

fiel1277. Einiges gelangte in die ohnehin reich bestückte Klosterbibliothek von Tapiau1278. Das Minoritenkloster Wehlau hatte eine eigene Bibliothek von 515 Bänden — damals ein Vermögen in Büchern1279—, und auch das Kloster Saalfeld besaß eigene Bücher1280. In der Neuzeit jedoch verdankte Königsberg seine Bibliotheken den Büchersammlern mit wissenschaftlichem Ehrgeiz, die teils aus der Politik, teils aus dem Gelehrtenstande kamen. Herzog Albrecht begann 15251281 oder 15261282 damit, Bücher zu sammeln. Seine „Kammerbibliothek" behielt er ausdrücklich dem eigenen Gebrauch und dem seiner Familie vor1283. Zur Kammerbibliothek gehörten auch die Bücher der später so genannten Silberbibliothek, die mit wertvollen Silberbeschlägen eingebunden waren1284. Die „Schloßbibliothek" hingegen wollte der Herzog von Anfang an einem größeren Benutzerkreis öffnen, ζ. B. auch den Professoren des Partikulars und später der Universität1285. 1540 machte Albrecht die Schloßbibliothek allgemein zugänglich1286 — was ein Nachruf auf den Herzog im Jahre 1568 rühmend hervorhob1287. Albrecht stellte einen Bibliothekar an, der die Bestände überwachen sollte. Zu den bekannten Bibliothekaren der Schloßbibliothek gehören Felix König aus Gent, genannt Polyphemus1288, und Martin Chemnitz d. Ä.1289.

Malz 57 und 80. ?8 Malz 57. 1 2 7 9 Malz 75; Linck 23 f. 1 2 8 0 Malz 51, Anm. 2. 1281 Schwenke/Lange 2. 1 2 8 2 Tondel, Schloßbibliothek, 39. 1 2 8 3 Tondel, Schloßbibliothek, 39. Zur Kammerbibliothek vgl. ferner Thielen, Peter G[errit]: Ein Katalog der Kammerbibliothek Herzog Albrechts von Preußen aus dem Jahre 1576, in: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg Bd. IV, Kitzingen 1954m 202—226; Bd. V, Kitzingen 1954, 242—252. 1 2 8 4 Schwenke/Lange 6 und 13; die Bücher sind im Nachlaßinventar der Herzogin Marie Eleonore vom 4. November 1608 (EM 50 a 40, 19 r sq, Datierung ebenda 1 r) und als „sondere kunstbücher" im Testament Herzog Albrechts erwähnt (Privilegia 74 v). 1 2 8 5 Buzas 26; Tondel, Nova Bibliotheca, 345. 1 2 8 6 Schottenloher, Bücher bewegten, 222. 1 2 8 7 Bei Daubmann gedrucktes Gedenkblatt für Herzog Albrecht und Herzogin Anna Maria, SBPK Ya 721 gr. 1288 Thielen, Kultur, 127. 1 2 8 9 Thielen, Kultur, 128 f. 1277 12

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Im Zuge der Säkularisierung des Kirchen- und Klosterguts während der Reformation kamen auch die Bücher aus den Klosterbibliotheken in die Bibliothek auf dem Schloß, so etwa der Inkunabelbestand der Dombibliothek1290. In den Jahren 1541 bis 1543 übernahm die Schloßbibliothek nach und nach die Bücher der Ordensliberei Tapiau1291, 1559 die der Klosterbibliothek Saalfeld1292. Einige Bücher könnten allerdings in Tapiau zurückgeblieben sein1293. Auch nachgelassene Bibliotheken von Gelehrten bereicherten die Schloßbibliothek, so die Büchersammlung des herzoglichen Leibarztes Andreas Aurifaber1294 und die Nachlässe des Bischofs Paul Speratus und des Universitätsprofessors Urban Stürmer1295, die Bücher des Kanzlers Friedrich Fischer und des Theologen Johannes Briesmann1296. 1557 ordnete Herzog Albrecht an, daß von jedem in Königsberg gedruckten Buch ein Exemplar für die Schloßbibliothek beschafft werden müsse1297. So dokumentierte sie im besten Falle das gesamte Druckschaffen Königsbergs. Buzas1298 bezeichnet die Schloßbibliothek als für damalige Verhältnisse gut ausgestattet. Sie verfügte zum Beispiel über einen regelmäßigen, wenn auch kleinen Etat und konnte ein heizbares Lesezimmer unterhalten. Bis 1545 hatte Felix König einen alphabetischen Katalog und einen topographischen Index für die Bestände der Bibliothek ausgearbeitet1299. Später legte der Bibliothekar Heinrich Zell einen Sachkatalog an, der aber nicht erhalten ist1300. Die Bibliothek wurde mittwochs und samstags geöffnet; Benutzer konnten die Bücher für acht Tage ausleihen und die Ausleihe gegebenenfalls um weitere acht Tage verlängern lassen, wenn der Herzog oder in seiner Schwenke/Lange 2. Malz 55. 1292 Malz 51, Anm. 2, und 58. 1293 Grunewald, Eckhard: Das Register der Ordensliberei Tapiau aus den Jahren 1541—1543. Eine Quelle zur Frühgeschichte der ehem. [!] Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, in: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte, Bd. 1, München 1993, 59. 1294 zu ihm vgl. Hirsch, Α.: Aurifaber: Andreas Α., (Goldschmid), in: ADB I, 690. 1295 Schwenke/Lange 2. 1296 Thielen, Kultur, 128, zu Fischer ebenda 137. 1297 Gause, Königsberg, 276 f. 1298 Buzas 26. 1299 Tondel, Nova Bibliotheca, 334. 1300 Tondel, Biblioteka Zamkowa (1529—1568) Ksi?cia Albrechta Pruskiego w Krölewcu, Torun 1992 (deutsche Zusammenfassung, übersetzt von Ryszard Lipczuk), 189. 1290 1291

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II. Die Öffentlichkeit der Bildung

Abwesenheit der Kanzler sein Einverständnis gab1301. Außer dem Herzog und seiner Familie durften auch die Bibliothekare und wahrscheinlich die Gäste des Herzogs die Bücher der Schloßbibliothek ohne Einschränkungen sehen und lesen. Die Oberräte, Hof- und Gerichtsräte sowie weitere Hofbeamte nutzten die Bestände für ihren Beruf und manchmal auch für ihr privates Studium1302. Auch Professoren und Studenten der Universität gehörten zu den Benutzern1303. Beim Tode ihres Gründers im Jahre 1568 umfaßte die Schloßbibliothek 600 Handschriften und etwa 2400 Druckschriftenbände1304. In seinem Testament bestimmte Albrecht, die Bibliothek solle erhalten werden und beisammen bleiben1305. Trotzdem verlor sie Bücher, durch Schenkungen und wahrscheinlich auch durch Diebstahl oder durch Verkauf1306. 1587 wurde sie mit der fürstlichen Kammerbibliothek vereinigt; beide waren von nun an öffentlich zugänglich1307. Die Bücher der Silberbibliothek wurden erst 1611 der Schloßbibliothek übergeben1308. Die Zweitälteste der Königsberger Bibliotheken war die Stadtbibliothek. Ihren Kern bildete die Bibliothek des reformatorischen Theologen Johann Graumann (Poliander), der um 1525 nach Königsberg gekommen war1309. In seinem Testament vermachte er sie dem Rat der Stadt unter der Bedingung, daß die Bücher öffentlich zugänglich gemacht würden1310. Die Stadt trat das Erbe an. Die Bücher standen zunächst in der Kirche der Altstadt, ließen sich dort aber nicht sicher aufbewahren1311. Trotz einiger Zugänge, etwa durch Schenkungen1312, schrumpfZum Folgenden vgl. Tondel, Nova Bibliotheca, 335—337. Tondel, Nova Bibliotheca, 342—344. 1303 Tondel, Nova Bibliotheca, 346—349. 1304 Tondel, Janusz: Biblioteka Zamkowa,189. 1305 PHvilegia 74 v. 1306 Tondel, Schloßbibliothek, 41—43 erwähnt, daß Albrechts Tochter Anna Sophia Bücher der Bibliothek nach Schwerin mitnahm (41), und berichtet von ungeklärten Schicksalen verschiedener Bücher. Zur Möglichkeit von Bücherverkäuien vgl. ebenda 42 f. Vgl. auch Tondel, Janusz: Zur Verfügbarkeit der Buchbestände der „Nova Bibliotheca" in Königsberg in der Herrschaftszeit des Herzogs Albrecht von Preußen, in: Nordost-Archiv, Neue Folge 3/1994, Heft 2: Königsberg und seine Universität. Eine Stätte ostmitteleuropäischen Geisteslebens, 338. 1307 Tondel, Schloßbibliothek, 39 f. 1308 Albinus 291 f., Stichwort „Silberbibliothek". 1309 Krollmann 13. 1 3 1 0 Zum Folgenden vgl. Krollmann, Stadtbibliothek, 5 f. »11 Krollmann 7; 25 und 27. 1301

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ten die Bestände sehr zusammen, vor allem durch Diebstähle1313. Wahrscheinlich wurde die Sammlung dann bald eingeschlossen; denn bei der Kirchenvisitation 1618 mußte ausdrücklich an die allgemeine Zugänglichkeit der Bibliothek erinnert werden1314. Aber inzwischen hatte sich auch der Rat wieder auf die ihm anvertrauten Schätze besonnen. Die Bücher wurden 1607 auf das Rathaus geschafft, zusammen mit der Bibliothek des Diplomaten Johannes Lomoller, der seine Bücher um 1550 dem Rat vermacht hatte1315. Dazu kam 1609 die Bibliothek des altstädtischen Ratsherrn Jacob Kreuschner. Für die vergrößerte Bibliothek ließ der Rat ein Gewölbe herrichten. 1612 erging die Bestimmung, jeder Ratsherr habe bei seinem Amtsantritt der städtischen Bibliothek ein Buch zu stiften1316. Außer der städtischen besaß Königsberg eine kleine Kirchenbibliothek1317. Die dritte größere Königsberger Bibliothek gehörte der Universität zu und diente hauptsächlich ihren Professoren und Studenten1318. Professoren versahen die Amter des Bibliothekars und seines Stellvertreters1319. Sie wurden darauf verpflichtet, Bücher nicht zurückzuhalten und über die Ausleihen Buch zu führen1320. Die Leihfrist betrug einen Monat. Da die Bibliothekare ihr Amt nebenberuflich ausübten, fielen die Öffnungszeiten auch der Universitätsbibliothek knapp aus. Nur mittwochs und samstags öffnete die Bibliothek ab zwei Uhr. Auch auf dem Lande gab es Bibliotheken, allerdings nur in den Pfarrhäusern1321. Pfarrbibliotheken galten nicht als Privatbesitz, sondern als Eigentum der Gemeinde1322. Sie dienten dem Pfarrer und gegebenenfalls auch der Schule1323. Die Gemeinde Hohenstein lieh die Bücher ihrer Bi-

Krollmann 8 und 15. Krollmann 27. 1 3 1 4 Krollmann 27 f. 1315 zu Lomoller vgl. Krollmann 22. Zum Folgenden vgl. Krollmann 24—27. 1 3 1 6 Krollmann 27. 1 3 1 7 Krollmann 29. 1318 S-n. (Hg.): Die Gesetze der alten akademischen Bibliothek zu Königsberg, (Aus einer gleichzeitigen Handschrift mitgetheilt.) von S-n., in: AMS 4/1867, 271. 1 3 1 9 Buzas 124; S-n, Gesetze, 1,271. 1 3 2 0 Zum Folgenden vgl. S-n, Gesetze, 272. 1321 Gundermann, Pfarrbibliotheken, passim. 1 3 2 2 Gundermann, Pfarrbibliotheken, 107. 1 3 2 3 Düsterhaus 187—192. 1312 1313

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II. Die Öffentlichkeit der Bildung

bliothek gegen Quittung aus1324, hatte also öffentlichen Leihverkehr, auch wenn die Bücher für gewöhnlich eingeschlossen wurden. Für einige Kirchengemeinden des Landes ließ Herzog Albrecht selbst den Grundstock der Bibliotheken legen. Er schlug vor, jede Pfarre sollte wenigstens die Confessio Augustana, Melanchthons „Loci communes", die Postillen von Luther und Brenz sowie Luthers Kleinen und Großen Katechismus anschaffen1325. Die Kirchenordnungen und Zeremonialvorschriften von 15251326, 15401327 und 15441328 sowie Luthers Hauspostille1329 und die Trauformel1330 ließ er an die einzelnen Gemeinden austeilen. Von dem Gesangbuch des Hans Kugelmann, das 1540 in Augsburg erschienen war, erwarb der Herzog 300 Exemplare, um sie im Lande verteilen zu lassen1331. In der Regel gehörte die Anschaffung von Büchern in den Gemeinden zu den Pflichten der Kirchenältesten1332. Einige Pfarrer vermehrten den Grundbestand der Pfarrbibliothek aus eigenen Mitteln oder wandten sogar all ihr Geld für Bücher auf1333. Dennoch besaßen viele Gemeinden nur kleine Bücherbestände. Das Bischofswahldekret von 1568 stellte einen Katalog von Pflichtanschaffungen auf, der sich von dem früheren leicht unterschied1334. Genannt wurden: „eine deutsche, lateinische oder polnische bibel, nach gelegenheit der ort, da sie deutsch oder anderer spräche seind, item die Repetitio Corporis Doctrinae, der kleine catechismus Lutheri, hauspostil Lutheri und Viti Diterichs, auch was sonst nach erachtung der bischofe will von nöthen sein".

Zum Folgenden vgl. Düsterhaus 189. Hubatsch, Kirche I, 46. 1 3 2 6 Visitationsinstruktion 1526, zitiert nach Sehling 4, 42 („mitgegeben buchlein"). 1 3 2 7 Ausschreiben des Paul Speratus an alle Amtleute und Kirchenväter, 12. März 1542, EM 37 a 5, 3 r—7 v. 1 3 2 8 Gundermann, Pfarrbibliotheken, 109. 1 3 2 9 „Ordnung der pfarr, vnd was für postillen die pfarrer empfangen haben", o. D. [vom Archivar auf beiliegendem Zettel datiert 1529], EM 41 a 1, passim. 1330 Visitationsinstruktion 1528, Sehling 4, 45. 1331 Conrad, Klaus: Bericht über die Jahrestagung der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung in Bonn, in: Preußenland 6/1968, 36 f. 1332 Gundermann, Pfarrbibliotheken, 108. 1333 Gundermann, Pfarrbibliotheken, 113 f. 1334 y o n erwehlung der beiden bischoff, zitiert nach Sehling 4, 115. 1324

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Doch auch diesen Mindestbestand konnten manche Kirchengemeinden sich offenbar nicht leisten. Der Visitationsabschied des Bischofs Wigand für das Amt Orteisburg schlug daher vor, Kirchen- und Schulbibliotheken schrittweise aufzubauen1335: „Vnd weill die Pfarherrs [!], auch die vornembste Bucher zu keuffen vnuermogendt, Vnnd so uiel mehr vrsach haben mögen, zu lesen vnnd zustudirenn So sollen die Pastores neben denn kirchenvettern darob sein, auff dz womuglichen alle Jahr das Inuentarium mit einem Nutzlichen buch vorbessertt werde, welche nicht alleine der Pfarherr, Sonder auch der schulmeister zugebrauchen habe." Die Stiftung oder Erhaltung von Bibliotheken lag, wie man sieht, meist bei Personen und Körperschaften, die wenigstens in gewisser Weise der Öffentlichkeit der Macht angehörten: bei Landesherrschaft, Stadt oder Universität. Die Öffentlichkeit aber, die durch diese Institutionen geschaffen wurde, reichte zumindest tendenziell über den Kreis der Mächtigen hinaus. Bibliotheken als Sammelplätze schriftlich festgelegter Bildungsgüter und Meinungen schufen Möglichkeiten und Voraussetzungen des wissenschaftlichen Austausches und damit Möglichkeiten einer Öffentlichkeit, die mit der Sphäre der „öffentlichen Gewalt" nichts zu tun hatte.

b) Bibliotheken einzelner Rudolf Hirsch bezeichnet mit Recht die „private" Bibliothek als eine Errungenschaft des Buchdruck-Zeitalters1336: Erst nach der Durchsetzung und Verbreitung des Buchdrucks nach Gutenberg wurden Bücher überhaupt für einzelne Personen erschwinglich. Gewiß gab es auch im 16. Jahrhundert Sammler, die ihre Bücher als Prestigeobjekte kauften und ungelesen verstauben ließen. Aber im allgemeinen las ein Bibliotheksbesitzer die gekauften Bücher auch, da er sich jede Anschaffung genau überlegen mußte. Meist diente die Bibliothek ihrem Besitzer zu Studienzwecken oder half ihm für seinen Beruf. Aktuelle Literatur hielt den Büchersammler über neuere geistige Bewegungen auf dem laufen1335

Visitationsabschied Wigands vom 21. November 1586, Opr. Fol. 1281, pag. 362; datiert ebenda pag. 289. 1336 Hirsch 12.

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II. Die Öffentlichkeit der Bildung

den, diente als Waffe im Konfessionenkampf oder lieferte dem Sammler sogar den Anlaß, selbst in die Kontroversen einzugreifen. Für ihren Besitzer stellte die Bibliothek also eine Art Depot von Bildungsgütern dar, auf die er nach Bedarf und je nach seiner Position in der BildungsOffentlichkeit zurückgreifen konnte. Aber auch die Freunde des Bibliotheksbesitzers hatten Zugang zu den Schätzen, lasen im Hause des Büchersammlers oder borgten sich seine Bücher aus. Der Exlibris-Spruch Johannes Polianders, „sibi et amicis comparabat" 1337 , zeugt von der beabsichtigten weiten Wirkung der Bibliotheken einzelner. Die „privaten" Bibliotheken von Gelehrten, zum Beispiel Professoren, galten nicht als Privateigentum, sondern gewissermaßen als Teile der gelehrten Öffentlichkeit. Große Bibliotheken gab es freilich auch im Gelehrtenstand in Preußen nur wenige. Bischof Erhard von Queiß hinterließ bei seinem Tode 1529 eine Bibliothek1338, die von dem politischen Beruf des Bischofs zeugte. Erhard besaß unter anderem die Werke der juristischen Standard-Autoren Bartolus und Baldus, eine Ausgabe des Corpus iuris civilis und des Kanonischen Rechts. Auch Werke von Augustinus, Eusebius und Hieronymus hatte er sich gekauft. An weltlichen Autoren enthielt seine Bücherei Sallust, Livius und andere; die neueren geistigen Bewegungen waren durch die „Enarrationes Martini Lutheri", Melanchthon und Erasmus vertreten. Keines dieser Werke war in Königsberg im Druck erschienen; der Bischof mußte sie sich also durch den Buchhandel oder durch eigene Einkäufer auf den Messen besorgt haben. Auch nach Erhard erwarben hauptsächlich die Juristen und Theologen große Bibliotheken. Der Jurist Christoph Heilsberg hatte seine Bibliothek weniger auf seinen Beruf ausgerichtet1339. Außer einer lateinischen Bibel und theologischen Werken, auch aus Königsberger Produktion — dazu zählen die von Vergerio herausgegebenen „Duae epistolae" und Heßhus' „De coena Domini" — besaß er Werke antiker und zeitgenössischer Geschichtsschreiber und auch politisch-publizistische Traktate, wie ein Titel „De bello Coloniensi" zeigt. Das Inventar der Bibliothek Abraham Culvensis', Professors des Griechischen am Krollmann 9. Zum Folgenden vgl. das Verzeichnis des Nachlasses Queiß', 4. Oktober 1529, EM 39 d 4, 10 r—17 r, Datierung nach dem Brief Ecks von Reppichau an den Herzog, ebenda 3 r. 1 3 3 9 Zum Folgenden vgl. „Die Bücher aus der Hinterlassenschaft des Professors Dr. iur. Chr. Heilsberg", zitiert nach Lohmeyer, Beilage C, 95—97. 1337 1338

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Partikular und später an der Universität von Königsberg, führt hauptsächlich Werke antiker Schriftsteller und Bücher zur hebräischen Sprache auf, daneben „Johannes Huß" ohne genauere Bezeichnung, „Quaestiones musicae", eine „Anatomia" und je ein prußisches und ein polnisches Buch ohne Titelangabe1340. Das Bücherverzeichnis belegt die vielseitigen Interessen dieses Gelehrten. Große Bibliotheken hatten des weiteren Bischof Paul Speratus1341, die Theologen Johann Graumann (Poliander)1342, Hieronymus Maletius1343 und Johannes Briesmann und der Arzt Andreas Aurifaber1344. Verglichen mit diesen Bibliotheken müssen sich selbst die der übrigen Gelehrten bescheiden ausgenommen haben. Reine Sammler ohne eigenen schriftstellerischen Ehrgeiz gab es nur wenige, Queiß etwa oder später Graumanns Schwiegersohn Johannes Lomoller1345, der eine Bibliothek von 300 Bänden besaß1346. Private Bibliotheken außerhalb des Gelehrtenstandes waren offenbar selten. Einiges an Bücherschätzen trugen die Frauen des preußischen Herzogshauses zusammen. Das Inventar der Herzogin Dorothea, 1528 erstellt, verzeichnete allerdings nur ein Gebetbuch und einige Bücher und „Briefe"1347. Herzogin Anna Maria, die zweite Frau des Herzogs Albrecht, hatte etwa 60 Bücher in ihrem Besitz1348. Marie Eleonore, die Frau Herzog Albrecht Friedrichs, hinterließ 175 Bücher, dazu die zwan-

Vgl. Inventarium omnium librorum et supellectilis d. doctoris Abrahami, gedruckt bei Wotschke, Abraham Culvensis, 189 f. Zu Culvensis' beruflicher Tätigkeit vgl. ebenda 163—165. 1341 Gundermann, Pfarrbibliotheken, 151; zu ihm vgl. Tschackert, Paul: Paul Speratus von Röthlen, passim. 1 3 4 2 Zu ihm vgl. Krollmann, Stadtbibliothek, 9—13. 1 3 4 3 Bibliotheksinventar der Kirche von Lyck, 15. November 1579, Opr. Fol. 1283, 64; auf den Bücherbesitz von Maletius schließt daraus Gundermann, Pfarrbibliotheken, 116. Das Inventar nennt 21 Bände, davon 6 polnische. Biographisches zu Maletius vgl. Lehnerdt: Maletius (Malecki), Hieronymus, in: ΑρΒ I, 416. 1 3 4 4 Gundermann, Pfarrbibüotheken, 151. Zu Briesmann vgl. Erdmann: Briesmann: Johannes B; in: ADB ΙΠ, 329—331. Zu Andreas Aurifaber vgl. Hirsch, Α.: Aurifaber: Andreas Α., (Goldschmid), in: ADB I, 690. 1 3 4 5 Krollmann, Stadtbibliothek, 22 f., zu Lomoller ebenda 21—24. 1346 Tondel, Nova Bibliotheca, 344. 1 3 4 7 Inventar des Zimmers der Herzogin in Fischhausen, Montags nach Valentini 1528, EM 50 a 23, 3 r, Datierung ebenda 8 r. 1 3 4 8 Thielen, Kultur, 19. 1340

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II. Die Öffentlichkeit der Bildung

zig in Silber gebundenen der „Silberbibliothek"1349. Aber je niedriger der Rang, desto seltener reichten offensichtlich Geld, Interesse und Zeit für Büchersammlungen. Der polnische Hofmann Marceli Konarski hinterließ bei seinem Tode 1562 drei Bücher1350. Die Hinterlassenschaft des mecklenburgischen Sekretärs Erasmus Behring, 1580 in Königsberg aufgezeichnet, umfaßte unter anderem zwei Bücher, eines, „darinnen der Sonntags Fest der Euangelien Fragstuckh enthalten", also eine Art von Perikopenbuch, und eine „Kinder Postilla"1351. Bibliotheken kennzeichneten demnach hauptsächlich die „Bildungspolitiker" und die Streiter im konfessionellen Kampf. Wer eine Bibliothek ansehnlicher Größe besaß, griff meist aktiv in die Kontroversen seiner Zeit ein und begnügte sich nicht mit dem Sammeln. Doch auch die reinen Sammler konnten als Vermittler eine wichtige Rolle spielen. Wer weder dem Gelehrtenstand angehörte noch ein buchstäblich fürstliches Vermögen besaß, der kaufte sich nur wenige Bücher. Schriftkultur und Schrift-Öffentlichkeit wurden von vermögenden und gelehrten Leuten getragen.

4. Abschreiben als Verbreitungsmodus Es gibt nur verstreute Nachrichten darüber, wann, in welchem Umfang und weshalb in der Öffentlichkeit der Bildung Informationen und Argumente nicht durch den Druck, sondern durch Abschreiben verbreitet wurden. Wo sich Gründe für das Abschreiben als Verbreitungsmodus angeben, erschließen oder vermuten lassen, sind es vornehmlich zwei, die einander scheinbar widersprechen: Man schrieb erstens ab, um ein Werk zu verbreiten, ob in kleinerem oder größerem Kreise, auch zum Beispiel dann, wenn der Druck verboten worden war — also, um es zu „veröffentlichen". Zweitens aber schrieb man ab, um ein Werk zu „verheimlichen", indem man entweder die Herstellung überhaupt oder die Verfasserschaft im dunkeln ließ.

Nachlaßinventar der Herzogin Marie Eleonore vom 4. November 1608, EM 50 a 40, 19 r sq, Datierung ebenda 1 r. Schreibung des Namens hier und im folgenden nach Scheller, Rita: Die Frau am preußischen Herzogshof (1550—1625), (Studien zur Geschichte Preußens, Bd. 13), (Köln/Berlin 1966), 72. 1 3 5 0 Mallek, Einwirkung, 53. 1351 Inventar vom 18. Juli 1580, EM 28 m 33, 51 r, datiert 53 r. 1349

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Als Verbreitungsmodus im weiten Sinne kann man das Abschreiben schon dann bezeichnen, wenn ein Schreiber ein kostbares Einzelstück für eine einzelne Person herstellte. Für den privaten Gebrauch des Herzogs fertigte der Sekretär Franz Freudenhammer 1564 die Abschrift eines Gebetbuchs an1352. Für universitäts-interne Mitteilungen genügten meist wenige handschriftliche Exemplare, zum Beispiel Anschlagzettel1353. An kleine Gruppen richteten sich wahrscheinlich auch die handgeschriebenen, manchmal illustrierten Flugblätter, die wissenschaftliche Nachrichten enthielten1354. Für den Druck solcher Erzeugnisse gab es wohl zu wenig Nachfrage, er hätte sich nicht gelohnt. Zwar hätten illustrierte Flugblätter unter Umständen auch außerhalb Königsbergs Abnehmer gefunden. Vielleicht aber handelt es sich bei den erhaltenen Stücken um private Abschriften von Flugblättern, die bereits gedruckt erschienen waren. Disputationsthesen dagegen scheinen häufiger gedruckt worden zu sein1355. Der Herzog selber ließ 1526 zwar die Rechtfertigungsschrift für seinen Ubertritt zur Lehre Luthers drucken1356, das Begleitschreiben dazu aber, zumindest für einige der Empfänger, handschriftlich vervielfältigen1357. Da ein gedruckter Text des Begleitschreibens existiert1358, die Druckerei also die zusätzlichen Texte sehr einfach hätte herstellen können, muß man annehmen, daß die handschriftlichen Begleitschreiben nicht eine Notlösung, sondern eine Notwendigkeit darstellten. Vielleicht galt es schon 1526 als unziemlich, hochgestellten Briefempfängern eine „Massendrucksache" zu schicken. Im Buchdruckzeitalter diente die Abschrift eines Werkes in den meisten Fällen als Druckvorlage. 1568 veranlaßte der Notar Albertus Pölmann als Verleger, daß das Kulmische Landrecht abgeschrieben wur-

1352

Schwenke/Lange 5. M. loan. Sciurus scholasticae iuventuti, HBA J 2 955, 3. 43. 195, 2 ν sq. 1354 Ey n es Aufrichtigen Catholischen prelaten^bedencken von den dreyen Sonnen, HBA J 2 955, 3. 43. 81 (IV.), 49 r. 1353

1355

Vgl. mehrere Drucke von Disputationsthesen in EM 139 f 2. Christliche Verantwortung, Schwenke 105 f., Nr. 34 und 34 a; Hlustris Principis [...] Christiana responsio, Schwenke 107, Nr. 38. 1357 Begleitschreiben zum Reformationsmandat, [Mappe datiert vom 29. Oktober 1526], HBA Konz. Η 1264, Musterbrief an Erzherzog Ferdinand, Kurfürsten und Fürsten, 1, November 1526, ebenda 7 r sq, Datierung 7 a, v. Liste der Empfänger ebenda 2 r—6 r. 1358 Schwenke 106, Nr. 35. 1356

238

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

de1359. Wahrscheinlich wollte er die Abschrift als Druckvorlage verwenden lassen. In der Zeit bis 1609 wurde das Landrecht durch den Hofgerichtsrat Dr. Levin Buch[ius] für den Druck „buchweis gefasset"1360. Er sollte für einen Teil dieser Arbeit, bei der ihm der Altstädtische Bürgermeister Dr. Michael Wilhelmi geholfen hatte, vierhundert Gulden Bezahlung erhalten1361. Aus der hohen Summe geht hervor, daß es sich nicht um einfaches Abschreiben gehandelt haben kann; dafür hätte man kaum zwei Doktoren beschäftigt und bezahlt. Wahrscheinlich hatten die beiden auch einen Teil der Kompilationsarbeiten übernommen. Handschriftlich sind ferner einige Predigten überliefert, die wahrscheinlich nicht im Druck erschienen, darunter eine sehr sorgfältig angefertigte und rubrizierte Nachschrift einer Predigt Oslanders vom 29. März 15521362. Predigtnachschriften kursierten wohl als wissenschaftliche und religiöse Mitteilungen in kleinem Kreise. Die Nachschrift eines in der Predigt „mitstenographierten" Textes bot die einzige Möglichkeit, einen sicheren Text zu erhalten, wenn der Prediger frei sprach — oder die Erlaubnis zum Abschreiben seiner Predigt nicht gegeben hätte. Dabei waren freilich die Grenzen zur Spionage fließend; denn der Stenograph und Abschreiber konnte auch ohne Zustimmung oder sogar gegen den Willen des Predigers dessen Texte weitergeben und ihn dadurch festlegen. So handelte offenbar Nikolaus Jagenteufel, als er dem Rektor der Universität auf dessen Wunsch über die Predigt eines Magisters Christopherus — wohl des Hofpredigers Christoph Langner1363 — berichtete 1364 . 1359

Zum Folgenden vgl. Albertus Pölmann an [die Oberräte], 6. Oktober 1568, E M

86 a 5, 6 ν—7 ν, datiert 8 ν. 1360

Johann Sigismund an die Mitglieder des Landrechts-Revisions-Ausschusses, Ab-

gangsvermerk vom 19. Juli 1609, E M 86 a 5, 47 r—48 r, Vermerk 48 v. Zur Identifikation von Buch vgl. Seraphim, Denkschrift, 127, Anm. 1. 1361

Bedenken der Herren und Landräte wegen des Landrechts, 3. Juni [1602], E M

86 a 5, 43 r sq; Bedenken von Ritterschaft und Adel darauf, gleiches Datum, ebenda 43 v; Bedenken der Städte auf das der Oberstände, o. D., ebenda 44 r; kurfürstliche Resolution darauf, o. D., ebenda 44 r—45 r. Zur Person Wilhelmis vgl. Seraphim, Dohna, 127 f., Anm. 1. 1362 H B A J 2 978/48, 1 r—15 v. Weiteres Bsp.: Predigt Joachim Mörlins vom 10. Februar 1552, Nachschrift von der Hand Wolfs von Kotteritz, H B A 978/13, 30 v. 1363

zu ihm vgl. Scheller, Rita: Die Hofprediger am preußischen Herzogshof, in:

Preußenland 7/1969, 51. 1364

Nikolaus Jagenteufel an den Rektor, 9. März [1554?], H B A J 2 955, 3. 43. 220.

Auf 1 r sagt Jagenteufel allerdings, daß er aus dem Gedächtnis niedergeschrieben habe;

Verbreitungsstrukturen: Institutionen des Buchwesens

239

Der „Mitschreiber" einer Predigt übte — zumindest, wenn er nicht um die Erlaubnis dazu gefragt hatte, — ein ausgesprochen „heimliches" Verfahren; er verbarg noch seine Tätigkeit selbst. Pamphlete und „Pasquille" mit vorsätzlichen persönlichen und möglicherweise beleidigenden Angriffen wurden dagegen nur deshalb abgeschrieben, weil die Verfasserschaft auf diese Weise leichter im dunkeln blieb. „Schmähschriften" liefen deshalb meist in handschriftlicher Fassung um, zum Beispiel 1547 gegen den Rektor der Universität, Friedrich Staphylus1365, oder in den frühen fünfziger Jahren gegen Oslander und seine Anhänger1366. Schmähschriften hätten von vornherein keine Druckerlaubnis bekommen; und oft enthielten sie auch persönliche Angriffe, die nur Freunde und Gegner im unmittelbaren Umkreis des Angegriffenen interessierten. Dem Opfer der Schmähung selber traten die Pasquillanten manchmal buchstäblich zu nahe: Dem Hofprediger Funck wurde 1555 ein Schmähbrief an die Haustür genagelt1367. Der Verfasser einer Schmähschrift wollte, anders als der heimliche Mitschreiber einer Predigt, das Ergebnis seines Tuns durchaus der Öffentlichkeit vorstellen, ja sogar dem Beleidigten selbst zur Kenntnis geben. N u r seine Verfasserschaft verleugnete der Pasquillant. Doch nicht immer schützte ihn die Heimlichkeit vor Strafverfolgung; und wenn er es ungeschickt anstellte, verriet er auch noch seine Autorschaft, anstatt sie zu verbergen. 1592 überführte die Universität Königsberg den Kirchendiener Abraham Pecelius aus Meißen als den Autor von Schmähschriften politischer und persönlicher Art, „weil es sein Autographum" war, das sich identifizieren ließ1368. Der Doppelcharakter des Abschreibens als eines Verbreitungs- und „Verhinderungs"verfahrens zeigt sich besonders an den Werken, die keine Druckerlaubnis erhielten. Indem Herzog Albrecht den Druck von Werken der Osiandergegner verbot, wollte er ihre Argumente der Diskussion in der Öffentlichkeit der Bildung entziehen, die Werke gewissermaßen „privatisieren". Das Verbot fruchtete nichts, denn die Gegner er referiert auch in indirekter Rede. Es handelt sich also nicht um eine unmittelbare Nachschrift. »65 Ein Beispiel EM 139 b 4, passim. 1366 „Warnung D. Johan: Aurifabri Parasiti", o. D., HBA J 2 955, 3. 43. 207; Spottgedicht gegen Oslander, 1552, HBA J 2 978/48. 1367 Fligge 268. 1368 Offener Brief der Oberräte, 3. Juni 1592, EM 139 j 193, 2r—3 r, Zitat und Datierung 3 r.

240

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

Oslanders wehrten sich auf eine für das Buchdruek-Zeitalter charakteristische Weise. Erstens ließen sie ihre Werke handschriftlich verbreiten1369, nutzten also das Abschreiben als Verbreitungsverfahren. Zweitens schlugen sie das Ersuchen des Herzogs aus, sich mit Oslander persönlich in Briefen oder durch den Austausch handgeschriebener Darlegungen auseinanderzusetzen. Oslanders Hauptgegner Joachim Mörlin schrieb an Herzog Albrecht, er, Mörlin, hätte sich unter anderen Voraussetzungen wohl darauf eingelassen, mit Oslander „in Schrifften" zu verhandeln1370. Nun sei aber ihr Streit schon „publicum", und dabei solle es auch bleiben. Sowohl das Vorgehen des Herzogs als auch die Reaktion des Theologen zeigt, daß das Abschreiben zwar noch als Verbreitungsverfahren anerkannt, aber deutlich als „minder öffentlich" empfunden wurde. Anweisungen des Herzogs Albrecht Friedrich offenbaren einen weiteren Grund für verminderte Öffentlichkeit: die Scheu davor, durch den Druck eines namentlich gezeichneten Werkes die eigenen Informationen und Meinungen in der ganzen gelehrten Welt bekanntzumachen. In Ergänzung zu den Universitätsstatuten ordnete der Herzog Albrecht Friedrich an, es solle von der Universität aus mehr gedruckt werden, damit die Gelehrsamkeit der Königsberger Universität bekannt würde1371. Wie um dieser Vorschrift Nachdruck zu verschaffen, bestimmte er zugleich, alle Vorlesungen und Disputationen sollten gedruckt werden. Den bekannten Drucken nach zu urteilen, wurde diese Bestimmung nicht befolgt. Offenbar gab es auch innere Gründe, weshalb die Gelehrten selbst sich vor dem Druck scheuten. Möglicherweise bedeutete — wie auch heute noch — ein höherer Grad an Öffentlichkeit nicht nur größere Wirkungsmöglichkeiten, größeren Einfluß, sondern auch größere Angreifbarkeit. Die rauhen Sitten des damaligen gelehrten Streites mögen ein übriges dazu getan haben, daß nicht jeder ohne weiteres zum tätigen Streiter in der gelehrten Öffentlichkeit werden wollte.

1369 piigge 67 Zum Folgenden vgl. Mörlin an Albrecht, 26. Juni 1552, zitiert nach Koch, Briefwechsel, 575. 1371 Zum Folgenden vgl. Ergänzung zu den Universitätsstatuten durch Herzog Albrecht Friedrich, o. D., HAB Cod. guelf. 64, 6 Extrav., 49 r—50 v. 1370

IV Prinzipien und Methoden der Entscheidungsfindung in der Bildungs-Offentlichkeit 1. Ablauf der Entscheidungsprozesse Anders als in der Politik, wo sich Angehörige fast aller Schichten der Öffentlichkeit an den Auseinandersetzungen beteiligten, lag die Entscheidung von Kontroversen in der Bildungs-Offentlichkeit im wesentlichen bei einer einzigen Schicht, den tätigen Streitern. Die „darunter" liegenden Schichten bekamen meist nur die Ergebnisse der Entscheidungen mit; „Bildungspolitiker" oder Angehörige der Macht-Öffentlichkeit griffen nur dann ein, wenn das Bildungsideal als ganzes in Frage gestellt schien. Die speziell akademische Form der aktuellen Auseinandersetzung und der Entscheidung wissenschaftlicher Kontroversen war die Disputation. Sie oblag allen Magistern als Pflichtaufgabe; an der Albertina sollte jeder Magister turnusmäßig disputieren1372. Die scholastische Tradition bestimmte die Form des Gesprächs bis in die Art des Argumentierens. Als Grundlage der Disputation dienten die Thesen eines der Magister, der zugleich die Disputation leitete1373. Die anwesenden Baccalaren hatten die Begriffe zu klären, die Magisterkollegen mußten die Thesen des Disputanten entweder mit „Argumenta" stützen oder „opponieren", wobei vor jeder Entgegnung die Argumente des Gegners wiederholt wurden1374. Anschließend hatte der Disputant seine Thesen zu verteidigen1375. Am Schluß gelang es entweder den „Respondenten", das Pro1372

Abschied im Namen des Superattendenten, 26. Oktober 1548, EM 139 b 20, 2 ν sq. 1373 Zum Folgenden vgl. Höllerbach 10 f. 1374 Hollerbach 88. 1375 Zum Folgenden vgl. Hollerbach 10—12. Zu Fragen der Opponenten an den Respondenten vgl. auch Miethke, Jürgen: Die mittelalterlichen Universitäten und das gesprochene Wort, in: HZ 251/1990,28.

242

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

blem der Disputation zu lösen, oder der Leiter der Disputation stellte fest, wer in der Auseinandersetzung gesiegt hatte. Die akademischen Gebräuche der Disputation beherrschten zumindest anfangs noch die Diskussionsregeln in der schriftlichen Auseinandersetzung, dem Flugschriftenkampf. Wie bei der Disputation konnte die Veröffentlichung von Thesen die Debatte auslösen; manchmal stieß auch ein größeres wissenschaftliches Werk die Diskussion an. Gelehrte, die an den Thesen oder dem Werk des Autors sachlich etwas auszusetzen hatten, konnten mit einer Gegenschrift antworten. Auch in der Form glichen die theologischen Streitschriften oft der Anordnung der Disputation. Gegnerische Argumente wurden Punkt für Punkt widerlegt1376, manchmal in längeren Abschnitten ausführlich wörtlich zitiert1377. So hatte ein Leser reichlich Gelegenheit zur eigenen Meinungsbildung, da ihm auch die gegnerischen Argumente ständig vorlagen. Schweigen im Diskussionsprozeß der Flugschriften wurde — wie in der Disputation — als Eingeständnis der Unterlegenheit gewertet. Oslanders Gegner mußten das schmerzlich erleben, als sie vom Herzog nicht die Druckerlaubnis für eine Entgegnung erhielten1378. In der gelehrten Öffentlichkeit entstand durch das Ausbleiben einer Gegenschrift offenbar der Eindruck, Oslander habe in der theologischen Auseinandersetzung gesiegt, während in Wahrheit der Herzog den anti-osiandrischen Theologen das öffentliche Wort verboten hatte. Das Gegengewicht der durch die Disputationsregeln vorgegebenen und offenbar traditionellen „Fairness" in der Wissenschaft bildete eine außerordentlich starke Vermischung von persönlichen und sachlichen Anliegen, verbunden mit offensichtlichem Vergnügen an derben Beschuldigungen in einer Zeit, in der es gegen Beleidigung keinen Schutz gab. Mit dem Vorwurf der Ketzerei ging keiner der Kontrahenten vorsichtig um1379. Den Gegner als Lügner1380, lichtscheuen Schurken1381 oder 1376

Oslander, Wider den erlogenen Titel, fol. Π ν—V r. 1377 Vgi Oslander, Widerlegung der vngegrundten vndienstlichen Antwort, passim. Beispiele für ausführliche Zitate: D 1 r; D 2 ν—D 4 r; G 2 ν sq.; Κ 4 r—Μ 1 r. 1378 Mörlin an Herzog Albrecht, 9. Juni 1551, zitiert nach Koch, Briefwechsel, 563; ebenso Hegemon, Venediger und Mörlin an Albrecht, 13. Februar 1552, ebenda 584. 1379 Sie wurde ζ. B. gegen die Disputation des Gnaphaeus ausgesprochen, Stupperich, Martin: Oslander in Preußen 1549—1552 (Arbeiten zur Kirchengeschichte, hg. von Kurt Aland u. a., Bd. 44), Berlin/New York 1973, 18. Weitere Beispiele: Oslander, Wider den erlogenen Titel, V r. 1380 Oslander, Wider den erlogenen Titel, passim.

Entscheidungsfindung in der Bildungs-Öffentlichkeit M

243

gottlose[n] s c h w e r m e r / k e t z e r / v n d abgefallen Mammaluck" 1 3 8 2 zu be-

schimpfen oder seine Argumente als Teufelswerk zu verdammen 1 3 8 3 , gehört noch zum zitierbaren Arsenal der Auseinandersetzung. Infolgedessen

prägte

das

„Famoslibell" 1 3 8 4 ,

die

beleidigende

persönliche

Schmähschrift, weithin den öffentlichen Disput im „Zeitalter der Glaubenskämpfe" 1 3 8 5 . Die Grenzen zwischen sachlicher Auseinandersetzung und persönlichem Angriff lassen sich bei gedruckten polemischen Flugschriften oft nicht sicher ziehen. Obrigkeiten versuchten zwar, gegen Beleidigungen einzuschreiten 1 3 8 6 , richteten aber zumeist nichts aus



eines der vielen Zeichen dafür, daß Schriftlichkeit die Aggressivität vielleicht verändert, aber nicht zügeln kann.

2. Prinzipien

der

Entscheidung

In der Disputation legte man zwar W e r t darauf, daß die Kontrahenten am Ende „friedlich" voneinander schieden 1387 . D e n n o c h k a m es in der

Oslander, Wider den Liecht/ flüchtigen Nacht-/ Raben [...], Königsberg 1552, zitiert nach Hubatsch, Walther: Königsberger Frühdrucke in westdeutschen und ausländischen Bibliotheken, in: Acta Prussica. Abhandlungen zur Geschichte Ost- und Westpreußens, Fritz Gause zum 75. Geburtstag (Beihefte zum Jahrbuch der AlbertusUniversität Königsberg/Pr. XXIX), Würzburg 1968, 126. 1381

Oslander, Wider den erlogenen Titel, V r. 1383 Mörlin, Joachim, u. a.: Von der Rechtferti-//gung des glaubens:/'Grundtlicher warhafftiger be-bricht/ auss Gottes Wort/ etlichen Theolo - H gen zu Künigsberg in Preussen./^ Wider die newe verfürische vna// Antichristliche Lehr ANDREAE OSIANDRI,//Darinnen er leugnet das Christus in seinem// vnschüldigen Leiden vnd sterben/ v n - / s e r Gerechtigkeit sey. [folgen zwei Bibelverse]//Gedrückt zu Künigs=/ berg in Preussen. Den 23. May.//1552, A 1 r—A 2 r. 1382

1384 Ausdruck ζ. B. im Bericht der Oberräte vom Landtag am 20. Dezember 1605, Klinkenborg 1, 578. Ein Bsp. die Schmähschriften gegen Bischof Mörlin 1571, erwähnt bei Lohmeyer 87. 1385 £ ) e r Ausdruck so bei Zeeden, Hegemonialkriege und Glaubenskämpfe, 12. 1386 Bsp.: Landesordnung 1577, 49 r—50 r. 1387 Bericht über die Disputation zwischen Heßhus und Coelestin (Jena, 14. Aug. 1571), in: Heßhus, Tilemann: DISPVTATIO //AN PECCATVM //ORIGINIS SIT SVBSTANTIA VEL AC-//CIDENS.//INTER //TILEMANNVM HESHVSIVM // EPISCOPVM S A M - / / BIENSEM.// ET// RECENTES MANICHAEOS // QVI ILLYRICI S E N T E N - / / TIAM SEQWNTVR.// Item / // Verzeichniß des Gesprechs/ zwischen D. Tilema. Heßhusio vnd Joh. Fri. Coelestino. //Von //Oer Erb-

244

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

gelehrten Auseinandersetzung nicht wie in der Politik auf Konsens an. Das Gespräch, ob mündlich oder schriftlich, zielte auf die Feststellung eines eindeutigen Sieges oder einer Niederlage. Der Maßstab dafür, was als richtig und künftig verbindlich gelten sollte, ging nicht wie in der Politik aus der Auseinandersetzung selbst hervor, sondern wurde außerhalb ihrer gesucht und gefunden. Uber Sieg oder Niederlage entschied „die Wahrheit". Sie ließ sich nach der Uberzeugung der Zeit ermitteln, indem man die Argumente der gegnerischen Parteien verglich und dann prüfte, ob sie sich aus den anerkannten Autoritäten logisch und widerspruchslos ableiten ließen. Für die Protestanten stellten die Bibel und in geringerem Maße auch die Kirchenväter, vor allem Augustinus, Autoritäten dar, die „Wahrheit" begründen konnten. „Heidnische" antike Philosophen wurden weniger oft zum Wahrheitsbeweis herangezogen. Nur eine Aussage, die sich aus den anerkannten Autoritäten ableiten ließ, galt in der gelehrten Öffentlichkeit als „wahr". Das Entscheidungsprinzip der gelehrten Welt könnte man daher das Prinzip der autoritätsgestützten Wahrheit nennen. Aus dem Wahrheitsprinzip folgt unmittelbar ein weiteres, das die gelehrten Diskussionen maßgeblich prägte und noch prägt, das Prinzip der individuellen Leistung. Die Zugehörigkeit einzelner zu geburtsständischen Gruppen — oder ihre Amtsposition — zählt bei der Diskussion in der Bildungs-Öffentlichkeit im Idealfall nichts. Die Stellung eines einzelnen definiert sich nicht durch Geburt oder Amt, sondern danach, was er tut: ob er lernt und aufnimmt oder vermittelt; ob er am gelehrten Gespräch teilnimmt; ob er das Bildungsideal selbst beeinflussen kann. Im gelehrten Gespräch erringt der einzelne nur dann Geltung, wenn seine Aussagen der „Wahrheit" entsprechen, seine persönliche Leistung dem allgemeinen Maßstab der gelehrten Welt genügt. Ein eventueller Rangunterschied der Teilnehmer am Diskussionsprozeß kann im Idealfall vernachlässigt werden. Die „Wahrheit" als Prinzip macht im gelehrten Gespräch frei und gleich, nämlich unabhängig sowohl von den Verhandlungsregeln, die zum Erreichen eines Konsenses notwendig sind, als auch vom Rang und der Amtsposition einzelner. Die „Freiheit und Gleichheit vor der Wahrheit" in der gelehrten Welt verschafften dem Individuum eine Bedeutung, die in der Politik in Mitteleuropa zumindest noch im 16. Jahrhundert weitgehend unbekannt sünde./'REGIOMONTE BORUSSORVM z/typis heredum Johannis Daubmanni. //

1574.//, Η 2 r.

Entscheidungsfindung

in der Bildungs-Öffentlichkeit

245

war. Weil die Entscheidung einer Kontroverse weder vom Rang noch von kollektivem Konsens abhing, — abgesehen von dem einen Konsens über die Autoritäten, einem Grundkonsens des Glaubens, — sondern

jeder einzelne die Ubereinstimmung seiner Aussage mit der anerkannten Wahrheit nachweisen mußte, traten Einzelmeinungen pointiert aus dem kollektiven Konsens heraus. So konnten einzelne Personen leicht mit bestimmten Lehrmeinungen identifiziert werden und gleichsam für sie stehen. Person und Lehre wurden in der Öffentlichkeit der Bildung austauschbar. Die Gleichsetzung von Person und Lehre scheint auch das Entstehen eines Gegensatzes zwischen „privater" und „öffentlich" geäußerter Meinung befördert zu haben. Auf ein Auseinandertreten von „privater" und „öffentlicher" Meinung weist ein Verfahren Herzog Albrechts hin. Nachdem die verfeindeten Bekenntnisrichtungen in der preußischen Kirche sich in Disputationen und Streitschriften nicht hatten einigen können, ließ Albrecht die Kontrahenten Oslander und Mörlin auffordern, die strittigen Punkte in einer „privaten", persönlichen Zusammenkunft zu klären1388. Offenbar hoffte Albrecht, die Theologen würden sich „privat" leichter einigen, indem keiner der Kontrahenten hätte fürchten müssen, vor der Bildungs-Öffentlichkeit sein Gesicht zu verlieren. Im privaten Gespräch hätten sie verhandeln und um des Friedens und der Einigung willen auch nachgeben können, was ihnen nach den Regeln des gelehrten Disputs als jeweils persönliches Versagen ausgelegt worden wäre. Mörlin allerdings lehnte das vorgeschlagene Verfahren ab; die Öffentlichkeit der Bildung ließ sich auf die Regeln der Arkanpolitik nicht ein. Das starke Hervortreten des Willens und des „eigenen Standpunkts" unter Vernachlässigung aller anderen möglichen Aspekte von „Wahrheit" wird von Marshall McLuhan ursächlich mit dem Buchdruck in Verbindung gebracht: Der Buchdruck habe das perspektivische Sehen1389 und damit die Fixierung auf den eigenen Standpunkt („fixed position of the reader") ermöglicht1390. Als Erfindung ist die Perspektive freilich älter als der Buchdruck, wie McLuhan selbst sagt, so daß allenfalls die Kunst des perspektivischen Sehens den Druck ermöglicht haben könnte, Zum Folgenden vgl. Mörlin an Albrecht, 26. Juni 1552, zitiert nach Koch, Briefwechsel, 575. 1389 ^visual homogenizing of experience", McLuhan, Gutenberg Galaxy, 126. 1390 Zitat McLuhan, Gutenberg Galaxy, 111; ähnlich ebenda 56: „fixed point of view". 1388

246

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

aber nicht umgekehrt13®1. Der Einblick in die Struktur der gelehrten Öffentlichkeit zeigt zudem, daß die „fixed position" in zwei Stufen oder Aspekten errungen werden mußte. Sie bildet sich nur dann, wenn 1. die individuelle Leistung höher geschätzt wird als die kollektive und 2. Einzelne oder Gruppen den Anspruch auf ausschließliche „Wahrheit" ihres eigenen Standpunkts erheben. Die Hochschätzung der individuellen Leistung kennzeichnet, wie wir gesehen haben, die Öffentlichkeit der Bildung insgesamt, und zwar mindestens seit dem späten Mittelalter, noch vor der Buchdruckzeit. Philosophische oder theologische Leistungen wurden im späten Mittelalter wie in der Neuzeit Einzelpersönlichkeiten zugeschrieben und nicht als kollektiv verstanden. In der politischen Öffentlichkeit hingegen galt, obwohl sie sich zunehmend „verschriftlichte" und sogar dem Druck öffnete, das individuelle Moment bis ins 16. Jahrhundert hinein noch nichts. Das Hervortreten individueller Meinungen galt als Abweichung von der Norm. Buchdruck und die Geltung individueller Leistimg hängen also nicht so eng zusammen, wie McLuhan annimmt. In der Hochschätzung des Individuellen setzte die gelehrte Welt der Buchdruckzeit eine Tradition fort, die schon die Gelehrsamkeit des Handschriftenzeitalters zunehmend geprägt hatte. Der exklusive Wahrheitsanspruch verschiedener Lehrmeinungen trat dagegen im 16. Jahrhundert anscheinend plötzlich auf und bedeutete einen scharfen Bruch mit den Traditionen. Aussagen, die im konfessionellen Zeitalter den Anspruch auf „Wahrheit" erhoben, mußten nicht nur mit den anerkannten Autoritäten übereinstimmen, sondern auch die Autoritäten in bestimmter Weise, aus einer festgelegten Blickrichtung interpretieren. Alle weiteren Aspekte, die andere Interpretationen ermöglicht hatten, galten nicht mehr als „wahr". Verschiedene Lehrmeinungen und Interpretationsweisen etwa der theologischen Diskussion konnten buchstäblich nicht mehr nebeneinander bestehen, sondern schlossen einander aus und bildeten streitende, bald verfeindete Gruppen und Bekenntnisrichtungen. Jede von ihnen erhob ihrerseits den Anspruch, allein die vollkommene Wahrheit zu besitzen. Die Entscheidungsprinzipien der gelehrten Welt änderten sich grundsätzlich und, wie es scheint, mit lang anhaltender Wirkung. Innerhalb der Schulen oder Richtungen entwickelte sich eine fixierte Blickrichtung auf die anerkannten Autoritäten, die sich mit der Unbe13,1

McLuhan, Gutenberg Galaxy, 112; 127.

Entscheidungsfindung in der Bildungs-Öffentlichkeit

247

weglichkeit des Blickes beim perspektivischen Sehen durchaus vergleichen läßt1392. Wie die Perspektive sieht der fixierte Standpunkt das Objekt seines Erkennens unter einem einheitlichen Blickwinkel, der während des Wahrnehmungsprozesses nicht wechseln oder schwanken darf. Dadurch entsteht der Eindruck, der Gegenstand des Erkennens sei in sich einheitlich und abgeschlossen. Aspekte, die sich unter dem perspektivegebundenen Blickwinkel nicht darstellen lassen, werden auch nicht wahrgenommen oder geleugnet. Demnach besteht eine strukturelle Analogie zwischen der Durchsetzung der perspektivischen Darstellungsweise und der Konfessionalisierung der Religion. Beide Entwicklungen machten die Fixierung eines bestimmten „Blickwinkels" auf ihre jeweiligen Erkenntnisgegenstände kollektiv verbindlich. Die Konfessionalisierung bestimmte, wie auf ihrem Gebiet die Perspektive, daß nur noch solche Erkenntnisse Anspruch auf „Wahrheit" erheben dürften, die aus einem festgelegten Blickwinkel gewonnen wären. Dennoch läßt sich mit einigem Grund bezweifeln, daß diese Entwicklung mit dem Buchdruck ursächlich zusammenhing. Zweifellos unterstützte der Buchdruck den Prozeß der Konfessionsbildung — ohne Buchdruck hätte es nicht die vielen identischen Exemplare von Bekenntnisschriften oder Katechismen geben können, die jede sich verfestigende Konfessionskirche für ihr Reformwerk brauchte. Auch kann der Buchdruck zur Verbreitung und Popularisierung der perspektivischen Darstellungsweise beigetragen haben. Doch auch beide möglichen Wirkungen zusammengenommen begründen noch keine innere Verbindung zwischen Buchdruck und Perspektive oder Konfessions-Religiosität. Möglicherweise erzeugte das Druckbild eines Buches einen Eindruck von Einheitlichkeit und Abgeschlossenheit, ähnlich wie die Perspektive ihren Gegenstand als aus der Umgebung gelöste Einheit erscheinen läßt. Der Eindruck des Einheitlichen entstand beim gedruckten Buch aber aus der Aneinanderreihung teils gleich-, teils verschiedenartiger Elemente und gerade nicht aus der Fixierung des Betrachterstandpunktes wie bei der Perspektive. McLuhans Versuch, das 1392

Zum Folgenden vgl. Brunner-Traut, Emma: Frühformen des Erkennens. Am Beispiel Altägyptens, Darmstadt (1990), 5 f.; ähnlich ebenda 8; 11—16. Die Herausbildung der Perspektive wird von Brunner-Traut als Harmonisierung der „Aspekte" unter einheitlichem Gesichtspunkt verstanden, wobei andere „Aspekte" geleugnet oder vereinnahmt werden; zur Trennung des Subjekts vom Objekt in der perspektivischen Darstellung ebenda 61 f.; zum „geschlossenen [...] System" — das der Geschlossenheit der Orthodoxie entspricht — ebenda 62.

248

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

Reihungsprinzip des Buchdrucks mit der Perspektive in Verbindung zu bringen1393, weist zwar auf eine Synchronizität der beiden Entwicklungen hin, nicht aber auf Analogie oder Kausalität. Der Buchdruck half wohl mit, das neue „perspektivische" Denken zu verbreiten, war ihm aber nicht analog oder gar sein Anreger.

3. Veränderung der Entscheidungsmaßstäbe von der Reformation zur Orthodoxie In der Reformation stellte die Bildungs-Offentlichkeit den Anspruch, auch die Welt der Macht zu bilden und zu formen. Dadurch stieß das Entscheidungsprinzip der autoritätsgestützten Wahrheit mit dem Prinzip des Konsenses zusammen, wie es in der politischen Auseinandersetzung üblich war. Den Zeitgenossen oft nur halb bewußt, kämpften die beiden Entscheidungsprinzipien um öffentliche Geltung. Ihr Zusammenstoß und die Lösung des Konflikts äußerten sich in der Entwicklung der Gesprächsformen in der gelehrten Öffentlichkeit und insbesondere im Schicksal des Religionsgespräches. Das Religionsgespräch war die für die Reformationszeit typische Form der theologischen Auseinandersetzung1394. Man kann es als einen Disput über die nötige — im 16. Jahrhundert: religiöse — Legitimation von Herrschaft in Habermas' Sinne1395 bezeichnen. Der Form nach — die freilich nicht immer streng eingehalten wurde1396 — stellte das Religionsgespräch eine wissenschaftliche Disputation dar, die den Wahrheitsgehalt gewisser religiöser Aussagen ermitteln sollte. Von akademischen Disputationen unterschied es sich aber dadurch, daß sein Ergebnis unmittelbar als Richtschnur politischen Handelns galt1397. Religionsgespräche hatten in vielen Städten des Heiligen Römischen Reiches zur

1393 „There is then this great paradox of the Gutenberg era, that its seeming activism is cinematic in the strict movie sense. It is a consistent series of static shots or .fixed points of view' in homogeneous relationship."; McLuhan, Gutenberg Galaxy, 127. 1394 Hollerbach; Müller, Gebhard (Hg.): Die Religionsgespräche der Reformationszeit (SVRG 191), Gütersloh (1980). 1395 Zu Habermas' Darstellung des Zusammenhangs zwischen Herrschaftslegitimation und Öffentlichkeit vgl. Habermas 90 f. 1396 Hollerbach 93. 1397 Hollerbach 1.

Entscheidungsfindung in der Bildungs-Öffentlichkeit

249

Einführung der Reformation geführt, etwa in Breslau 15231398. Später wurden sie oft in der Hoffnung abgehalten, streitende Religionsparteien zu versöhnen oder einen akzeptablen Ausgleich zwischen ihnen zu finden, etwa in Marburg 1529, auf Reichsebene in Hagenau 1540, auf territorialer in Altenburg 1568 zwischen kursächsischen Gnesiolutheranern und herzoglich-sächsischen philippistischen Theologen1399. Aber das wissenschaftliche Entscheidungsprinzip der autoritätsgestützten Wahrheit vertrug sich erweislich nicht mit dem in der Politik üblichen Konsensprinzip. Zwischen beiden Prinzipien bestand ein nicht auflösbarer Widerspruch, da das Entscheidungskriterium des Konsenses im Prozeß des Entscheidens selbst liegt, in der gelehrten Diskussion aber außerhalb der Entscheidung gesucht und gefunden wird. Folgte man dem Prinzip der Gelehrten, so scheiterte das Gespräch, weil die disputierenden Wissenschaftler sich nicht auf gemeinsame Prämissen ihrer Argumentation einigen konnten, wie bei Zwingiis Disputationen1400. Wurde aber die letzte Entscheidung von politischen Instanzen getroffen, dann stand sie meist schon vor Beginn des Disputs fest, wie bei den meisten „reformierenden" Religionsgesprächen zumindest nach 15301401. Damit verfehlte der Disput seinen legitimierenden Zweck. So stellte sich schon gegen die Mitte des 16. Jahrhunderts heraus, daß die Form des Religionsgesprächs das religiös-politische Problem der Reformationszeit nicht lösen konnte. Die Zeitgenossen hielten trotzdem noch lange am Religionsgespräch als Mittel der religiösen und politischen Entscheidung fest1402. Herzog Albrecht von Preußen, gebildeter Laie, Politiker und überzeugter Osiandrist, versuchte in den fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts mehrmals, den Osiandrischen Streit durch Religionsgespräche zu lösen. Einerseits forderte der Herzog die Theologen zu persönlichen, formlosen Gesprächen auf1403; andererseits setzte er Termine für förmliche Dis1398

Hollerbach 52—54. Hollerbach 236—242. 1400 Hollerbach 105. 1401 Hollerbach 2; 50. 1402 Bsp. das französische Religionsgespräch von Poissy 1561, vgl. Mieck, Ilja: Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit. Eine Einführung, Fünfte, verbesserte Auflage, Stuttgart/Berlin/Köln (1994), 131. 1403 Mörlin an Herzog Albrecht, 5. Oktober 1551, zitiert nach Koch, Briefwechsel, 579 f. Mörlin berichtet, er habe sich nicht mit Oslander persönlich einigen können, und erwähnt einen Vermittlungsversuch der Herzogin. Ferner ein Bericht Mörlins 1399

250

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

putationen an1404. Aber mit beiden Mitteln hatte der Herzog ebensowenig Erfolg wie andere Landesfürsten vor ihm. Schließlich entschieden die polnischen Kommissare 1566 die religiöse Kontroverse durch politischen Druck. Den Theologen Joachim Mörlin und Martin Chemnitz wurde der Auftrag erteilt, ein für das ganze Herzogtum verbindliches Bekenntnis auszuarbeiten1405. Eine allgemeine Synode in Königsberg nahm das Bekenntnis am 28. Mai 1567 an. Die Bekenntnisformel, „Repetitio Corporis Doctrinae", wurde durch das Privilegium Lublinense vom 19. Juli 1569 Staatsbekenntnis1406. Pfarrer1407 und Universitätslehrer mußten sie vor Amtsantritt beschwören1408. Wer sich dem Bekenntnis nicht fügen wollte, durfte nicht mehr „öffentliche Person" sein. Damit verlor das Religionsgespräch seine legitimierende Funktion. Die Handlungsweise der polnischen Kommissare stellte klar, daß die gelehrten Kontroversen gegenüber der Sphäre der politischen Macht als „Privatsache" zu gelten hatten, so, wie es der Absolutismus in immer größerer Konsequenz durchsetzen sollte. Nach der Etablierung der Orthodoxie wurden konfessionelle Kontroversen immer seltener durch Religionsgespräche entschieden. Die Kanzelpolemiken des Bischofs Tileman Heßhus beantwortete der Herzog gleich mit Amtsenthebung1409 und Landesverweisung1410; und der Ubertritt Johann Sigismunds zum Calvinismus wurde nicht zum Anlaß für Religionsgespräche, obwohl die Polemik von den Kanzeln und in Flugschriften heftig1411 und die Landesherrschaft nicht weniger als im Osianderstreit persönlich in den Disput verwickelt war. Am Religionsgespräch zu Wilna 1585 zwischen Lutheranern und Reformierten beteiüber ein Colloquium mehrerer Theologen mit Oslander, Mörlin an den Sekretär Herzog Albrechts, 13. Dezember 1552, zitiert nach Koch, Briefwechsel, 594. 1404 Fligge 203; 208 (Synode von Osterode, 1. Mai 1553); 212. Colloquium auf dem Schloß am 19. Juli 1554, Fligge 234. 1405 Zum Folgenden vgl. Zieger, Andreas: Das religiöse und kirchüche Leben in Preußen und Kurland im Spiegel der evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands, Bd 5), Köln/Graz 1967, 5 und 30 f. 1406 Privilegium Lublinense, 19. Juli 1569, Privilegia 90 ν sq. 1407 Hubatsch, Kirche, I, 108. 1408 Ergänzung zu den Universitätsstatuten durch Herzog Albrecht Friedrich, o. D., HAB Cod. guelf. 64. 6 Extrav., 49 r. 1409 Akten der Synode vom 17. Januar 1577, HBA J 2 1014, Α. Z. 4. 23. 4. 1 4 1 0 Gaß: Heßhusen, Tileman H., in: ADB 12, 315. 1411 Vgi Kniebe, passim.

Entscheidungsfindung in der Bildungs-Öffentlichkeit

251

ligte sich aus Königsberg nur ein einziger Theologe, der Hofprediger und Professor Paul Weiß1412. Das Religionsgespräch als Form religiöser und politischer Entscheidung hatte sich offensichtlich diskreditiert. Die Orthodoxie legte das Bekenntnis territorialrechtlich eindeutig fest und lieferte damit einen unverrückbaren Maßstab für konfessionelle Entscheidungen. Mit der abgesicherten Lehrautorität der Orthodoxie ließen sich konfessionelle Konflikte offensichtlich schneller und eindeutiger lösen als im Laufe eines langwierigen und in seinem Ausgang unsicheren Konsensverfahrens. Für die Bildungs-Offentlichkeit insgesamt hatte die Entstehung der Orthodoxie zwei wesentliche Wirkungen. Einmal traten die dialogischen Formen der Kommunikation wie Disputation und Religionsgespräch vor den mehr monologisch-belehrenden wie Vortrag, Vorlesung, Predigt und Abhandlung zurück. In minder öffentlichen Schichten der Bildungs-Offentlichkeit wurden dialogische Formen noch geübt wie die akademische Disputation mit nur lokaler Wirkung. Eine Kümmerform des Dialogs lebte im Frage-Antwort-Schema des Katechismus weiter. Für die öffentlichsten Formen der Auseinandersetzung, den gelehrten Streit, hatten sie aber keine Bedeutung mehr. Zum andern legte das politische Machtwort anscheinend gewissermaßen den Stoffwechsel der Bildungswelt lahm. Das Volumen des Drucks ging zurück, sobald die gelehrten Kontroversen aufhörten; und selbst vermehrte Anstrengungen der Vermittlung machten den Verlust für die Drucker nicht wett. An den preußischen Druckereien zeigt sich der Stillstand in der gelehrten Öffentlichkeit geradezu drastisch. Zu Zeiten des Osianderstreits in den fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts ernährte die gelehrte Auseinandersetzung in dem kleinen Königsberg drei Druckereien, in ganz Preußen sogar vier, wenn man die des Maletius, und fünf, wenn man die zeitweilige Beschäftigung des Wolf Dittmar mitzählt. Im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts gab es nur noch eine einzige Offizin, und die Drucker Osterberger und Neycke konnten ohne ihre Kanzlistentätigkeit nicht mehr vom Buchdruck leben. Die niederen Schichten der BildungsOffentlichkeit, denen die Druckerei diente, — Vermittlung und Lernen — zählten für sich genommen nicht genug mögliche Leser und Bücherkäufer, auch nur eine einzige Offizin wirtschaftlich zu erhalten. Folgerichtig suchten Osterberger, Neycke und Fabricius den geschäftlichen Erfolg in der Bildungs-Offentlichkeit mit einem anderen Thema, näm-

1412

Hubatsch, Kirche I, 122.

252

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

lieh mit Musikalien. Daubmann und Osterberger bemühten sich, die Fixierung auf die Bildungs-Öffentlichkeit überhaupt zu durchbrechen, indem sie „Neue Zeitungen" druckten. Wie im Bereich der Macht-Öffentlichkeit der Absolutismus, so hatte im Bildungsbereich die Orthodoxie eine vereinheitlichende und vereinseitigende Wirkung, die der „Perspektivierung" in der bildenden Kunst analog ist. Die „Perspektivierung der Religion" durch die Orthodoxie gab dem Zeitalter der Glaubenskämpfe seine spezifische Dynamik. Wo der orthodoxe Standpunkt sich durchsetzte, führte er sehr oft zu neuer Bewegung nach außen. Im Innern aber behinderte und lahmte er die gelehrte Öffentlichkeit und vor allem jene einzelnen und Gruppen, denen es auf Vielfalt und Vielseitigkeit des Austausches von Bildungsgütern und Informationen ankam.

ν Wechselseitige Beeinflussung von Macht- und Bildungs-Offentlichkeit

1. Institutioneller A ufbau Die Macht-Öffentlichkeit hat grundsätzlich zwei Möglichkeiten, das Bildungsideal und seine Vermittlung zu beeinflussen. Sie kann erstens durch Schul-, Kirchen- und Universitätsgründungen dafür sorgen — oder durch entsprechende Unterlassung verhindern —, daß eine Bildungs-Öffentlichkeit überhaupt entstehen kann. Zweitens kann die Macht-Öffentlichkeit durch inhaltliche Zensur und Kontrolle, die sie ausführt oder ausführen läßt, oder durch Personalpolitik die Ausprägung des Bildungsideals mitbestimmen. Die beiden grundsätzlichen Möglichkeiten sind der institutionelle Aufbau und die Steuerung der Bildungs-Öffentlichkeit, und zwar jeweils in den drei VermittlungsInstitutionen Kirche, Schule und Universität. Da im Herzogtum Preußen die reformatorische Bewegung auch den Herzog und die Geistlichkeit erfaßte, änderte die Reformation die Organisationsstruktur der Kirche nicht. Die alten Institutionen — Bischöfe, Konsistorium, Offiziale — blieben zunächst erhalten1413 und stellten sich in den Dienst der neuen Lehre. Das Kirchenregiment ließ sich Herzog Albrecht aber nicht aus der Hand nehmen. Nach dem Tod der Bischöfe Polenz (1550) und Speratus (1551)1414 gab er den Nachfolgern nicht die Würde von Bischöfen, sondern nur von Präsidenten1415. Damit wollte er wahrscheinlich den Einfluß der hohen kirchlichen Amtsträger auf die Politik des Territoriums verringern. Denn die Präsidenten hatten, anders als die Bischöfe vor ihnen, keine Landstandschaft mehr1416.

1413 1414 1415 1416

Hubatsch, Kirche I, 28. Hubatsch, Kirche I, 109. Horn 176. Ommler 179.

254

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

Außerdem ließ die Rangminderung das landesherrliche Summepiskopat stärker hervortreten. Albrecht nutzte seine kirchenpolitischen Möglichkeiten auch weidlich aus, indem er bis zu seinem Tode die preußische Kirche im Sinne Oslanders lenkte und beeinflußte. So handelten die polnischen Kommissare 1566 nur konsequent, als sie neben der Zerschlagung des Osiandrismus auch die Wiederaufrichtung der Bischofswürde verlangten1417. 1568 wurde eine Wahlordnung für die Bischofswahl erlassen. Die Wahlordnung sah vor, daß je 8 durch die Stände gewählte Adels- und Städtevertreter mit Rat des lebenden Bischofs und der Stände den Nachfolger im Bischofsamt bestimmen sollten. Johann Wigand und Georg Venediger wurden zu Bischöfen ernannt1418. Sie sollten an den Landtagen teilnehmen können 1419 , allerdings nur, wenn es um geistliche Sachen ginge1420. Die Bischofswahlordnung wollte also die Kirche stärker vom Landesherrn unabhängig machen und dafür an die Stände binden. Eine „Kann-Bestimmung" am Schluß ließ allerdings die Möglichkeit offen, die Ordnung zu ändern. So wurde zwar das Recht der Bischöfe wieder eingeführt, an Landtagen teilzunehmen. Die Wahlordnung aber kam bis ins frühe 17. Jahrhundert nicht zur Geltung. Denn Herzog Georg Friedrich setzte nach dem Tode des Bischofs Johann Wigand 1587 wiederum keine Bischöfe ein1421 — Wigand hatte zuletzt beide preußischen Bistümer verwaltet1422 — und ließ die bischöflichen Einkünfte der Universität zukommen sowie den Provinzialschulen in Saalfeld, Lyck und Tilsit 1423 . Die bischöflichen Funktionen übernahm eine kollegiale Behörde, das Konsistori1 4 1 7 Zum Folgenden vgl. Confirmatio der Königlichen Commissarien, 1566, Privilegia 60 v. 1 4 1 8 Hubatsch, Kirche I, 29. 1 4 1 9 Hubatsch, Kirche I, 109 f. 1420 Arnold, Udo: Ständeherrschaft und Ständekonflikte im Herzogtum Preußen, in: Baumgart, Peter (Hg.): Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen. Ergebnisse einer Internationalen Fachtagung (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 55, Forschungen zur preußischen Geschichte), (Berlin/New York 1983), 91. Gause, Königsberg, 340 behauptet daher mit Recht, sie hätten keine Landstandschaft besessen.

Horn 178. Vgl. Akten der Synode vom 17. Januar 1577, HBA J 2 1014, berichtet von Heßhus' Amtsenthebung. Breysig 58 erklärt, daß Heßhus' Bischofsstuhl nicht wieder besetzt wurde. 1 4 2 3 Hubatsch, Kirche I, 119. 1421

1422

Macht- und

Bildungs-Öffentlichkeit

255

um1424. Das samländische Konsistorium in Königsberg trat 1580 zum ersten Mal zusammen1425 und erhielt 1584 seine „Ordnung"1426. Das pomesanische Konsistorium in Saalfeld wurde 1588 gegründet, konnte aber erst 1602 seine Arbeit aufnehmen1427. Auf den Landtagen forderten die Stände zwar immer wieder die Besetzung der Bischofsstühle1428, hatten aber bis 1618 keinen Erfolg. Kurfürst Joachim Friedrich wollte allenfalls das Amt von drei Superintendenten neben den Konsistorien zugestehen1429; aber auch dieser Vorschlag wurde nicht ausgeführt. Dem landesherrlichen Kirchenregiment stand keine Institution eigenen Rechtes im Wege. Die Abhängigkeit der geistlichen von der weltlichen Gewalt wiederholte sich auf niedereren Ebenen in der Institution der Pfarrwahl und im Patronatsrecht. Laut der Landesordnung von 1525 sollten die Pfarrer von dem Adligen, dem die Kirche gehörte, dem „lehenherrn", bestimmt, vom Bischof geprüft und dann der Gemeinde präsentiert werden1430. Wenn die Gemeinde den Kandidaten nicht haben wollte, sollte der Spruch des Bischofs entscheiden. Der Bischof mußte den Vorgeschlagenen prüfen und, wenn er mit ihm einverstanden war, ihn der Gemeinde „zusenden". In der Pfarrwahlordnung von 1540 war ein Wahlrecht der Gemeinde nur noch dann vorgesehen, wenn der Lehnsherr „über gepürliche zeit" die Bestellung eines Pfarrers unterließ. Die Kirchenordnung von 1568 setzte die Frist, innerhalb derer der Lehnsherr den Pfarrer Breysig 63. Hubatsch, Kirche 1,118 f. 1426 Hubatsch, Kirche I, 29. 1427 Hubatsch, Kirche 1,118 f. 1428 Bsp.: Bitte der Laadräte auf dem Landtag 1578 um Wiedereinsetzung des Bischofs von Samland, o. D. Opr. Fol. 533, pag. 17 f. [die auf pag. 1 beginnende Proposition datiert vom 17. April, das auf pag. 27 beginnende Bedenken des Adels auf das landrätliche Gutachten datiert vom 21. April]; Bericht der Oberräte vom Landtag, 20. Dezember 1605, Klinkenborg 1, 582; Bericht der Oberräte vom 7./17. April 1608, Klinkenborg 3,455; Erklärung des Herzogs auf die triplica der Landschaft, 8. Mai 1612, Opr. Fol. 595/1, 280 v; Landtag 1617: Opr. Fol. 619 /I, fol. a, r. Grundsätzlich zu dem Problem vgl. Petersohn, Jürgen: Bischofsamt und Konsistorialverfassung in Preußen im Ringen zwischen Herzog und Landschaft im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts, in: ARG 52/1961,188—205, passim. 1424

1425

Breysig 87. Zum Folgenden vgl. Etliche ausgezogen artikel aus gemeiner landsordnung des herzogthums Preussen. 1525, zititert nach, Sehling 4, 38; ebenso: Von erwelung der pfarrer, 1540, zitiert ebenda 48. 1429

1430

256

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

selbst bestimmen durfte, auf sechs Wochen fest1431. Für die Städte hatte der Herzog das Recht, dem Rat einen Kandidaten vorzuschlagen; der Rat mußte seinerseits der Gemeinde berichten1432. Ob auch Burggraf oder Amtshauptmann als Vertreter des Herzogs Vorschläge zur Pfarrwahl machen konnten, ist nicht bekannt. Die Vorschriften der Ordnungen regelten Einzelheiten nur vage und ließen den Beteiligten viele Möglichkeiten, das „Wahl"-verfahren zu gestalten. Bei der Pfarrwahl zu Schmigwalde 1615 schlug der Hauptmann dem Kurfürsten als dem Patronatsherrn drei mögliche Kandidaten vor, stellte es ihm aber ausdrücklich frei, auch einen anderen zu berufen1433. Da es zu dieser Zeit keine Bischöfe mehr gab, entschied das Konsistorium über die Bewerbungen1434 — und empfahl einen vierten Kandidaten, der auch zur Probepredigt zugelassen wurde und, wenn er sie bestünde, Pfarrer werden sollte1435. Manche Pfarrkandidaten bewarben sich selbst auf eine freie Stelle1436. Als Bewertungskriterien bürgerten sich eine Probepredigt des Kandidaten und die Beurteilung durch die Kirchenältesten ein1437. In Konfliktfällen wie der Pfarrwahl in Rudau 1605 zeigte sich, daß die Meinung der Adligen aufgrund ihres finanziellen und politischen Gewichts den Ausschlag gab1438. Die adligen Kirchenväter setzten mit finanziellem Druck und politischen Drohungen den ihnen genehmen Kandidaten Paulus Bieber durch. Bei der eigentlichen Pfarrwahl waren sie nach eigenem Bekunden übergangen oder überstimmt worden. DesZitiert nach Sehling 4, 109 f.; Kleinertz 115. So berichtet Matthaeus Vogel in: Antwort Matthaei Vogels auff D. Joachim Mörleins zu Braunschweig nechst außgegangene Apologiam, Β 2 r sq. über seine Berufung zum kneiphöfischen Prediger. 1433 Falkenhayn [Vorname unleserlich] an den Kurfürsten, 31. Oktober 1615, EM 105 d401, 1 rsq. 1 4 3 4 Oberräte an das Konsistorium, 3. November 1615, EM 105 d 401, 14 r sq. 1 4 3 5 Kurfürst Johann Sigismund an den Hauptman zu Osterode, 23. November 1615, EM 105 d 401, 15 r sq, Datierung 16 v. 1 4 3 6 Bewerbung David Wagners um die Pfarrstelle in Rudau, abgesandt 3. März 1605, EM 126 d 1591,1 r—2 v. 1 4 3 7 Bericht Caspar von Olsens und anderer an die Oberräte, 3. April 1605, gibt Auskunft über die wirtschaftlichen Verhältnisse des Kandidaten und bittet um Festsetzung eines Termins für die Probepredigt, EM 126 d 1593, 4 r—5 r. 1 4 3 8 Zum Folgenden vgl. Befehl von Burggraf und Kanzler an den Hauptmann von Grünhof, o. D. [März 1605], EM 126 d 1593, 3 r sq.; Adlige des Kirchspiels Rudau an die Oberräte, o. D. 1605, ebenda 6 r sq; Oberräte an den Hauptmann von Grünhof, 9. April 1605, ebenda 8 v. 1431 1432

Macht- und Bildungs-Öffentlichkeit

257

halb behaupteten sie, „peuell und Scharwercks Pauer[n]" hätten den Ausgang der Wahl bestimmt1439. Sicher übertrieb die rhetorische Formulierung, doch sie zeigt, daß die Adligen eines Kirchspiels noch im 17. Jahrhundert den Pfarrer nicht allein wählten, sondern die Gemeinde ein Mitspracherecht hatte. Eine gewisse Selbständigkeit gegenüber der weltlichen Gewalt erlangten die Synoden. Die Kirchenordnung von 1525 schrieb vor, daß der Bischof mindestens einmal jährlich die ihm unterstellten Pfarrer versammeln sollte, um Fragen seines Sprengeis zu regeln1440. Synoden des gesamten Herzogtums konnte nur der Herzog selbst einberufen1441. Die erste Generalsynode, für September 1554 anberaumt, wurde jedoch von den Pfarrern vereitelt, da sie sich schon im Juni in Saalfeld auf einer eigenen Synode versammelten und ihre Unzufriedenheit mit der osiandristischen Politik des Herzogs artikulierten. Die nächste Synode 1556 gab den Forderungen der Pfarrerschaft teilweise nach. Der osiandristische Hofprediger Johannes Funck mußte seine theologischen Vorstellungen widerrufen. Das Bischofswahldekret von 1568 schrieb Partikularsynoden in einbis zweijährigem Turnus vor, außerdem Generalsynoden, „do es die noth erfordert"1442. Aufgrund dieser Anordnung hätte sich eine Institution mit eigener periodischer Tagung bilden können, sozusagen eine institutionalisierte kirchliche Öffentlichkeit. Doch wurde die Ordnung auch in diesem Punkt nicht verwirklicht; und der Widerstand der Pfarrerschaft gegen Anordnungen der politischen Öffentlichkeit blieb die Ausnahme. Die Synoden von 1567 und 1577 unterstützten und bestätigten lediglich, was die Politik schon vorher beschlossen hatte. Den Machtstrukturen der Kirche gelang es nicht, sich von denen der Politik unabhängig zu machen. Die Kirche bildete in ihren Machtstrukturen keine eigene Öffentlichkeit aus. Die Schulen in Preußen standen in erster Linie unter der Aufsicht der Kirche und erst in zweiter unter herzoglicher Gewalt. Nach den Vorstellungen Herzog Albrechts sollte auch auf dem Lande in jedem Kirchspiel

1439

Adlige des Kirchspiels Rudau an die Oberräte, o. D. 1605, EM 126 d 1593, 6 r sq. 1440 Artikel der Ceremonien, 1525, zitiert nach Sehling 4, 35. 1441 Zum Folgenden vgl. Ommler 151 f. 1442 y o n erwehlung der beiden bischoff, zitiert nach Sehling 108, dort auch das wörtliche Zitat; vgl. ferner Kleinertz 115.

258

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

Schule gehalten werden1443. Der Besuch des Unterrichts kostete Schulgeld1444. Es wurde von jedem Haushalt eingezogen, unabhängig davon, ob die Eltern ihre Kinder zur Schule schickten oder nicht. Die allgemeine Schulpflicht, die durch diese Maßnahme obrigkeitlich erzwungen werden sollte, ließ sich aber vor allem auf dem Lande nicht durchsetzen. Die Städter erkannten offenbar eher die Notwendigkeit einer elementaren Ausbildung und förderten sie durch Schulgründungen. In Königsberg gab es neben den drei Lateinschulen und der deutschen Schule auch mehrere von Privatleuten betriebene Schulen, vor allem für den Elementarunterricht und für die Bildung der Mädchen. In der Schulbildung für Jungen konkurrierten die Schulen untereinander; die städtischen beschwerten sich oft, daß ihnen die privaten „Winkelschulen" erfolgreich Schüler abwürben. Schulen wurden also nicht immer von Angehörigen der Macht-Öffentlichkeit gegründet, sondern gingen zumindest gelegentlich auf Privatinitiative zurück. 1541 entstand das Partikular in Königsberg, eine Schule, die auf den Besuch der Universität vorbereiten sollte1445. Bei der Gründung der Universität 1544 wirkten Lehrer und Schüler des Partikulars mit: Einige Lehrer, zum Beispiel Georg Sabinus, Melchior Isinder und Johann Hoppe, zogen an die Universität um; Schüler des Partikulars wurden immatrikuliert 1446 . Weitere Partikulare gründete Herzog Georg Friedrich in Lyck, Saalfeld und Tilsit 1447 . Obrigkeitliche Bemühungen um das Schulwesen und die Kirche zeigen, daß die Macht-Öffentlichkeit das Entstehen einer Öffentlichkeit der Bildung förderte, aber auch die Institutionen, die sie schuf, unter Kontrolle halten wollte. Die Universität, die dritte Einrichtung der Bildungs-Öffentlichkeit, hing als landesherrliche Gründung noch stärker vom Herzog ab als die Kirche oder das Schulwesen. Der Herzog dotierte die Universität aus bischöflichem Besitz1448, setzte ihre Statuten fest1449 und veränderte

1443 1444 1445 1446 1447 1448 1449

Düsterhaus 61. Zum Folgenden vgl. Düsterhaus 24, 72 und 181. Harder 198. Gause, Königsberg, 294 f. Breysig 63. Gause, Königsberg, 296. Universitätsprivilegien vom 4. Dezember 1558, Ndr. 1618, EM 139 a 19, 1 r.

Macht- und Bildungs-Öffentlichkeit

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sie1450, berief und entließ ihre Professoren1451. In politisch brisanten Fällen erlaubte er sich sogar Eingriffe in die universitäre Gerichtsbarkeit1452. Das Lehrdeputat der Professoren wurde vom Herzog festgesetzt oder verändert1453. Er konnte auch über die akademische „Amterlaufbahn" bestimmen, freilich nur in dem für die Universität traditionellen Rahmen. So setzte Herzog Albrecht 1544 fest, daß niemand zum Magister promoviert werden könne, der nicht zuvor das Baccalaureat erworben habe1454. Der Herzog entschied also als „Bildungspolitiker" grundsätzlich über die Rahmenbedingungen akademischer Arbeit. Die Albertina im besonderen hing in den ersten Jahren ihres Bestehens auch als Korporation politisch vom Herzog ab, weil sie kein königlich-polnisches Privileg erhalten hatte. So verlieh sie 1548 ihre ersten Magistergrade unbefugt1455. Erst 1560 wurde sie privilegiert und vollzog ihre ersten legalen Magisterpromotionen. Ihre „inneren" Angelegenheiten erledigte die Universität selbständig. An ihrer Spitze stand der Rektor 1456 . Der erste, Georg Sabinus, war vom Herzog ernannt worden1457. Nach dem Ausscheiden des Sabinus im Wintersemester 1548/49 wechselte das Rektoramt halbjährlich unter den Professoren1458. Dem Rektor zur Seite standen die Leiter der vier Fakultäten, die Dekane der theologischen, juristischen, medizinischen und der Artistenfakultät1459. Sie bildeten gemeinsam den Senat. Rektor 1450 Vgi_ Abschied Herzog Albrechts betr. die Statuten des Collegii, 20./21. November 1544, EM 139 a 8, passim; Verbesserungswünsche Albrechts vom 2. September 1545, EM 39 a 12, passim. 1 4 5 1 Bsp. Schriftwechsel um Berufung (1582) und Entlassung (1586) des Juristen Christoph Heilsberg, EM 139 c Π 32, passim. 1 4 5 2 Stupperich 78. 1 4 5 3 Abschied im Namen des Superattendenten betr. Vorlesungspflicht und Besoldung für Andreas Aurifaber, 1548, EM 139 b 20, 2 r—3 r. Bedenken Albrechts betr. Entlastung für Staphylus, 30. Dezember 1546, EM 139 c 11, 3 r sq.; Oberräte an Rektor und Senat wegen Erlassens der Disputationspflicht für Wilhelm Gnaphaeus, 12. August 1546, EM 139 f 1, fol. 2 und 3. 1 4 5 4 Abschied wegen der Statuten des Collegii, 20./21. November 1544, EM 139 a 8, 2 ν. 1 4 5 5 Abschied des Herzogs an Rektor und alle Kollegiaten wegen der Promotionen, o. D., EM 139 e 4 , 1 r—2 r; zum Folgenden vgl. Gause, Königsberg, 296 f. Ellwein 25. 1 4 5 7 Abschrift der Universitätsstatuten, 28. Juni 1546, EM 139 a 13, 2 ν. 1 4 5 8 Gause, Königsberg, 299. "59 Ellwein 25.

260

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

und Senat vertraten die Universität nach außen — sie trugen zum Beispiel für die Universität Bitten auf dem Landtag vor1460 — und entschieden gemeinsam über alle universitäts-internen Vorgänge. Rektor und Senat verliehen akademische Grade1461 und übten die Gerichtsbarkeit über die Universitätsangehörigen aus1462. Gegen die gerichtliche Entscheidung der Universität konnte nicht appelliert werden1463· Ihre Jurisdiktion über die Studenten verteidigte die Universität auch gegen das Königsberger Stadtgericht1464. Sie übte also rechtliche Verfügungsgewalt über ihre Angehörigen, die ihr im Normalfall nicht bestritten wurde. In bestimmten Bereichen genoß die Alma mater Immunität gegenüber Stadt und Herrschaft1465. Universitätsangehörige mußten zum Beispiel keine Steuern zahlen und waren von bürgerlichen Wachdiensten befreit1466. Als Korporation verfügte die Universität über eigene Privilegien wie das Fisch- und Mühlenrecht1467. Professoren hatten besondere Handels-vorrechte. Rechtliche Verfügungsgewalt, Immunität und Privilegierung machten die Universität als Korporation zu einer Einrichtung der Macht-Öffentlichkeit. Vorgänge außerhalb ihrer selbst konnte die Universität nicht beeinflussen, da sie in Preußen nicht auf dem Landtag vertreten war. Dennoch genoß sie von allen Institutionen, die Bildungs-Öffentlichkeit ermöglichten, die größte Unabhängigkeit gegenüber den sie umgebenden Gewalten. Weder Kirche noch Schule erlangten in Preußen Unabhängigkeit von der weltlichen Gewalt. Das Schulwesen verdankte sich meist Initiativen, die nicht von der Bildungs-Öffentlichkeit selbst ausgingen, so daß es zuweilen stark von seinen Anregern abhing. Die Kirche bestimmte zwar über ihr inneres Leben selbst, mußte aber die Entscheidungen über Ämterbesetzungen auf allen Ebenen mit der Öffentlichkeit der Macht teilen. Die Universität bewahrte trotz ihrer prinzipiellen AbhänNach 1608, EM 139 m 2, lr. Schelsky 15. 1462 Universitätsprivilegien vom 4. Dezember 1558, Ndr. 1618, EM 139 a 19, 2 ν. 1463 Abschrift der Universitätsstatuten vom 28. Juni 1546, EM 139 a 13, 4 ν. 1464 Bsp.: Rektor und Senat an den Herzog wegen des Festhaltens eines Studenten durch die Altstadt Königsberg, o. D. [um 1549], EM 139 j 2, 3 r sq.. 1465 Universitätsprivilegien vom 4. Dezember 1558, Ndr. 1618, EM 139 a 19, 2 ν. 1466 Universitätsprivilegien vom 4. Dezember. 1558, Ndr. 1618, EM 139 a 19, 1 ν und 2 ν. 1467 Zum Folgenden vgl. Universitätsprivilegien vom 4. Dezember 1558, Ndr. 1618, EM 139 a 19, 3 r. 1460 1461

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gigkeit vom Herzog große Freiheiten, die sie auch in der Auseinandersetzung mit anderen Gewalten zu behaupten wußte.

2. Steuerungsversuche durch die Obrigkeit a) Zensur Zensur ist die offensichtlichste Möglichkeit der Kontrolle und Begrenzung der Bildungs-Öffentlichkeit durch die Macht. Die Obrigkeiten der Macht-Öffentlichkeit suchten prinzipiell sowohl den Buchdruck als auch den Buchhandel zu kontrollieren und damit beide Verbreitungsmechanismen der Bildungs-Öffentlichkeit unter Aufsicht zu halten. Rechtsvorschriften machten den Zensurinstitutionen und den potentiellen Autoren klar, unter welchen Gesichtspunkten die Obrigkeit öffentliche Kommunikation kontrolliert sehen wollte. Die Wirkung der Kontrolle in einzelnen Territorien hing jedoch entscheidend davon ab, welche Institutionen sich jeweils der Zensur annahmen, wie effektiv sie arbeiteten und wie streng oder milde sie in Einzelfällen urteilten. In der Praxis der Rechtsprechung konnte die Wirkung einer Rechtsvorschrift geändert, verstärkt oder abgeschwächt werden. Im Heiligen Römischen Reich gab es seit dem Ende des 15. Jahrhunderts sowohl geistliche1468 als auch weltliche Kontrollvorschriften 1469 , und in den Edikten gegen die Schriften Reuchlins1470 und Luthers waren Verkaufsverbot, Beschlagnahme und Verbrennung „ketzerischer" Bücher deutlich befohlen1471. Doch weder diese Verbote noch die nachfolgenden, teilweise verschärften Wiederholungen1472 zeitigten Wirkung. In

1468 Traumann, Erich: Zeitung und kirchliche Zensur. Ein Beitrag zur Pressekunde. Vergleichende und geschichtliche Darstellung, Diss. (Heidelberg 1935), Hildesheim 1936, 33; 36; Hemels 16; 18; Lindemann 50; Eisenhardt 63; 99; 4 und ebd. Anm. 8; Hilgers, passim. 1469 Hemels 32. 1470 Hemels 24 1471 DRA Π, 640—659; Publikationsmandat ebenda 659—661. 1472 Peinliche Halsgerichtsordnung, 1532, zitiert nach: Gerstlacher, Carl Friedrich (Hg.): Carl Friedrich Gerstlachers, Marggraeflich badischen geheimen Raths, Handbuch der teutschen Reichsgesetze nach dem möglichst aechten Text, in sistematischer Ordnung. Eilften Theils erste Abtheilung, welche die peinliche Gerichtsordnung von Art. 1 bis Art. 111 in sich haelt, Stuttgart 1793, 2606; zu weiteren vgl. Hemels 25 f.

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II. Die Öffentlichkeit der Bildung

Preußen blieben die Vorschriften ebenfalls wirkungslos. Als evangelischer Territorialfürst fühlte Herzog Albrecht sich nicht an das altkirchliche Zensurrecht gebunden, aber auch nicht an die zwischen Kaiser und Reichsständen vereinbarten Bestimmungen, da der Herzog seit 1525 polnischer Vasall war und außerdem seit 1532 in der Reichsacht stand1473. Zwar unterstand er lehnsrechtlich der Krone Polen, doch griffen polnische Autoritäten offenbar nicht in die Zensurgesetzgebung oder Zensurpraxis in den Grenzen des Herzogtums ein. Sogar die streng altgläubige Zensurpraxis Sigismunds des Alten respektierte den lutherischen Glauben des Herzogtums. Weder das Thorner Edikt vom 24. Juli 1520, das die Einführung reformatorischer Schriften verbot1474, noch die späteren Verbote1475 wurden im Herzogtum Preußen angewendet. Das Privilegium Lublinense von 1569 legte die Achtung vor dem lutherischen Bekenntnis Preußens sogar ausdrücklich fest1476. Die Landesordnung von 1526 sprach nur ein allgemeines Verbot von „Schandtbrieffen Iniurien Schmehe vnd scheltwortten"1477 aus. Darüber hinaus gab es in Preußen keine Vorschriften darüber, welche Arten schriftlicher Äußerungen geahndet werden sollten. Das bedeutet aber nicht, daß Zensur nicht existiert hätte oder auch nur weniger streng gewesen wäre als in anderen Territorien. Sie beruhte aber nicht hauptsächlich auf den Vorschriften in den Landesordnungen, sondern auf herzoglichen Befehlen, teilweise auch auf „altem Herkommen" und dem, was in anderen Territorien üblich war. Wie andere Obrigkeiten der Zeit richtete auch Herzog Albrecht nicht besondere Zensurinstiutionen ein, sondern beauftragte bereits bestehende Organe mit der Aufsicht über das Buchgewerbe1478. Zunächst oblag Reichspolizeiordnung: Gerstlacher 9, 1182; Corpus Sanctionum pragmaticarum sacri romani Imperii et collatio variorum scriptorum ad Jus Publicum Germaniae pertinentium. Oder des Heiligen Römischen Reichs Vornehmste Grund-Gesetze [...] Frankfurt/Main 1712,1134. Reformierte Reichspolizeiordnung erwähnt bei Hemels 25. 1473 Zivier 460. 1474 Tazbir, Janusz: Die Religionsgespräche in Polen, in: Müller, Gebhard (Hg.): Die Religionsgespräche der Reformationszeit (SVRG 191), Gütersloh (1980), 145 f. 1475 Zivier 310 f.; Pirozynski 293. Bogucka, Maria: Die preußische Huldigung (Panorama der polnischen Geschichte. Fakten und Mythen), Warszawa 1986, 160; Hoensch 104. 1476 Privilegium Lublinense, 19. Juli 1569, Privilegia 90 ν sq. 1477 Opr. Fol. 13741,45 r. 1478 Zu Zensurinstruktionen in anderen Territorien vgl. Muckel, Viktor: Die Entwicklung der Zensur in Köln, Diss. iur. Köln 1932, passim; Eisenhardt 17 für Köln;

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diese Aufsicht den Predigern von Königsberg1479. Ihnen mußten ab 1526 alle Bücherverkäufer der Stadt eine Liste ihrer Bücher zur Begutachtung vorlegen. In der Bestallung für den Buchhändler Hans Krüger wurde 1537 dieselbe Vorschrift erwähnt1480: „Doch das er keines [= kein Buch] verkeuffe noch ausgehen sol lassen, vns sej dann zuuor aller bucher Register vberantworth vnnd durch dye prediger vnnser stete Konigsperg zu genüge besichtiget wurden [...]" Die Liste ging also durch die Hände herzoglicher Bediensteter, bevor sie den Predigern vorgelegt wurde. Daß es eine amtliche Liste erlaubter Bücher gegeben habe, wie Lohmeyer behauptet hat1481, läßt sich aus dieser Festlegung allerdings nicht ableiten. Auch wirkte die Pflicht zum Vorlegen einer Bücherliste wahrscheinlich nicht einschneidend. Verdächtige oder für gefährlich gehaltene Bücher konnte der Buchhändler oder Drucker in seiner Liste verschweigen, wie es in den Frankfurter Verzeichnissen für die kaiserlichen Bücherkommissare1482 später auch geschah. Unbelegt bleibt die Behauptung Lohmeyers, schon vor 1544 sei die Zensurbefugnis im Herzogtum Preußen auf einen „Superintendenten" übergegangen1483. Bis zur Gründung der Universität blieben vielmehr die Königsberger Prediger die einzige Zensurinstanz. Auch danach kam es zunächst nicht zum Kompetenzstreit zwischen einer geistlichen Gewalt und den Theologieprofessoren, weil Herzog Albrecht selbst die Zensoren einsetzte. Er bestellte den Theologen Oslander und die beiden PhiloMüller, Arnd: Zensurpolitik der Reichsstadt Nürnberg. Von der Einführung der Buchdruckerkunst bis zum Ende der Reichsstadtzeit, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte Nürnbergs 49/1959, 66—169, passim, für Nürnberg, ebenso Hampe, Theodor (Hg.): Nürnberger Ratsverlässe über Kunst und Künstler im Zeitalter der Spätgotik und Renaissance (1469—1618), 3 Bde. (Quellenschriften zur Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Neuzeit, Neue Folge, Bde. 11—13), Wien/Leipzig 1904, passim. 1479 Zum Folgenden vgl. die Notiz in Opr. Fol. 1130, 28 r [alt 18 c], datiert nach 26 r: 1527. 1480 Bestallungsurkunde vom 20. April 1537, Opr. Fol. 282 r [alt 289 r]. 1481 Lohmeyer 61 f. 1482 Erwähnt bei Traitler 26; grundsätzlich dazu Eisenhardt 63—69. Verschweigen von verbotenen Büchern im Meßkatalog Eisenhardt 72; dazu auch Wittmann, Buchhandel, 85. 1483 Lohmeyer 80.

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II. Die Öffentlichkeit der Bildung

logen Isinder und Staphylus1484. Laut den Statuten erhielt die Universität das Recht, die Aufsicht über Buchhandel und Buchdruck zu führen1485. Die Ausübung der Zensur lag bei Rektor und Senat. Die Dekane sollten besonders Schmähschriften beurteilen1486. Neben den universitären Organen beanspruchte auch der Herzog selbst das Recht, eine Druckerlaubnis zu erteilen oder zu verweigern1487. Die „Confirmatio" der polnischen Kommissarien von 1566 übertrug die Zensurhoheit den zu wählenden Bischöfen1488. Nach dem Amtsantritt der Bischöfe kam es ziemlich rasch zum Konflikt. Ausgelöst hatte ihn wahrscheinlich die Regierung Herzog Albrecht Friedrichs mit einer Änderung der Universitätsstatuten. Sie übertrug die Zensurbefugnis auch in theologischen Dingen der Universität1489. Dagegen wehrten sich die Bischöfe in einem Gutachten für den Landtag von 1573. Sie reklamierten ausschließlich für sich das Recht, theologische Schriften zu beurteilen, und gingen sogar zum Gegenangriff über, indem sie forderten, die Universität — als ein Glied der Kirche — bischöflicher Jurisdiktion zu unterstellen. Schließlich verständigten sich Universität und Bischof darauf, sich in künftigen Zensurfällen gegenseitig zu unterrichten1490. Eine neue Klage der Universität stammt aus dem Jahre 15831491. Der Drucker Georg Osterberger hatte versucht, die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Universität und Bischof auszunutzen und sich der Aufsicht der Universität zu entziehen. Während die Buchführer die Kontrollbefugnis der Universität anerkannten, behauptete der Drucker, nur dem Bischof zu unterstehen. Nach dem Bericht Lohmeyers entschied Herzog Georg Friedrich den Konflikt im Sinne der Universität und bestätigte ihre Zen-

Lohmeyer 10. Zum Folgenden vgl. Universitätsprivilegien vom 4. Dezember 1558, Ndr. 1618, EM 139 a 19, 3 ν; ferner die Universitätsstatuten, 18. April 1557, EM 139 a 17, 9 r und 16 r. 1486 Verbesserte Universitäts-Statuten, 1545, EM 139 a 9, 8 r. 1487 Albrecht an Mörlin, o. D. [1551], zitiert nach Koch, Briefwechsel, 561. 1488 Confirmatio, 1566, Privilegia 61 r. 1489 Zum Folgenden vgl. Bedenken der Bischöfe wegen der Jurisdiktion über die Universität, dem Landtag am 6. April 1573 übergeben, Opr. Fol. 527, pag. 190—192, Datierung ebenda pag. 189. 1490 Lohmeyer 88—90. 1491 Zum Folgenden vgl. Schreiben von Rektor und Senat an Herzog Georg Friedrich, 18. Oktober 1583, EM 139 k 1, 11 r. 1484

1485

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surhoheit ausdrücklich — allerdings mit einer bezeichnenden Ausnahme für Fälle, in denen der Herzog selbst betroffen wäre1492: „nämlich das niemand ohne ihren [der Universität] vorbewußt, es gehe denn immediate fürstl. Durchl. an, etwas zu drucken zugestanden werde". Die Konsistorialordnung des Herzogs Georg Friedrich 1584 übertrug die Zensur für theologische Werke dem Konsistorium1493, so daß der Kompetenzstreit zwischen geistlicher Obrigkeit und Gelehrtenrepublik in Zensurfragen weiterhin unentschieden blieb. Fälle, in denen die herzogliche Regierung Zensur geübt hätte, sind aus derselben Zeit nicht aktenkundig. Inhaltliche Formulierungen von Zensurmaßstäben kamen selten vor und fielen wenig grundsätzlich aus. Die Vorschriften der Universität über Zensur fixieren nur die auch andernorts übliche Praxis. Die Verfasser von Schmähschriften sollten verfolgt und bestraft werden1494, und zwar mit Relegation oder — nach einem öffentlichen Urteil des Burggrafen — mit einer Leibesstrafe (supplicium). Auf eine Reihe studentischer Angriffe auf den Rektor Georg Sabinus in den Jahren 1547/48 im Zuge der Osianderstreitigkeiten reagierten Landesherr und Universität mit einer Präzisierung der Bestimmungen über die Schmähschriften1495. Angriffe auf Rektor oder Senatoren sollten nun wie Kapitalverbrechen geahndet werden, nämlich mit der härtesten Strafe, der Relegation oder ewiger Haft beim Bischof. Die Präzisierung bedeutete aber noch nicht unbedingt eine Verschärfung der Vorschriften, geschweige denn eine strengere Strafverfolgung. Denn entscheidend kam es darauf an, welche Möglichkeiten Universität, Kirche und Landesherrschaft hatten und nutzten, die Verfasser von Schmähschriften zu ermitteln, zu verurteilen und zu strafen. Da Akten zur bischöflichen Zensurpraxis fehlen, sei im folgenden nur auf die Zensur des Landesherrn und der Universität eingegangen. 1492

Lohmeyer 90 f.; Zitat ebenda 91. Konsistorialordnung 1584, zitiert nach Sehling 4, 127. Hubatschs Behauptung, die Konsistorien hätten die Aufsicht über den Buchdruck nicht mehr ausgeübt (Hubatsch, Kirche I, 119), kann damit widerlegt werden. 1494 Zum Folgenden vgl. Statuten der Universität, (Handschrift), 1544, EM 139 a 5, 6 r. 1495 Zum Folgenden vgl. Statuten der Universität vom 18. April 1557, EM 139 a 17, 21 rund23 v. 1493

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Wenn von der Praxis der Zensur gesprochen wird, so sind im allgemeinen zwei Dinge gemeint: einmal das Beurteilen eines Werkes vor dem Druck mit anschließender Erteilung oder Verweigerung der Druckerlaubnis („Vorzensur")1496, zum andern die Überprüfung nach dem Druck („Nachzensur") mit dem Ziel der Unterdrückung oder Beschlagnahme in Umlauf gelangter mißliebiger Schriftwerke1497. Zur Zensurpraxis in einem weiteren Sinne wird auch die strafrechtliche Verfolgung von Zensurvergehen gerechnet, also die Verfolgung und Bestrafung der Verfasser, Verbreiter oder Leser unerlaubter Schriften. In Preußen wie in anderen Territorien betätigte sich die Öffentlichkeit der Macht mittelbar oder unmittelbar auf allen drei genannten Gebieten, übte also Zensur in einem sehr umfassenden Sinne. Die Vorzensur von Büchern und Schriften durch Universitätsprofessoren war im Herzogtum Preußen rechtlich festgelegt und offenbar selbstverständlich und im Prinzip problemlos. Zu aktenkundigen Schwierigkeiten kam es zuerst im Osiandrischen Streit. Denn Oslanders theologischen Gegnern fiel es natürlich nicht ein, ihre Schriften ihm selbst als dem Zensor vorzulegen. So gingen sie verschiedentlich den Landesherrn um die Druckerlaubnis an1498. Albrecht jedoch urteilte als Osiandrist parteilich und verbot den Druck1499 oder band die Erlaubnis an Bedingungen, die für die Autoren unannehmbar waren, zum Beispiel Kürzungen1500, Milderungen der Ausdrucksweise1501, Änderungen des Titels und das Auslassen eines Vorworts, da es nur private Vorwürfe enthalte1502. Die Osiandristen durften ihre Schriften ungehindert verbreiten, während die Gegner sich auf das langwierige und teure Abschreiben verwiesen sahen1503. Mit einem Druckverbot konnte der Lan-

Kiesel 106 f.; Ausdruck ebenda 106. Kiesel 114. 1498 Mörlin an Herzog Albrecht, Februar 1551, zitiert nach Koch, Briefwechsel, 523; Mörlin an Herzog Albrecht, 9. Juni 1551, ebenda 563; Venediger, Mörlin und Hegemon an Albrecht, 27. Februar 1552, ebenda 586; Mörlin, Hegemon und Venediger an Herzog Albrecht, 17. Mai 1552, ebenda 588 f. 1496

1497

Albrecht an Mörlin, o. D. [1551], zitiert nach Koch, Briefwechsel, 561 f. Koch, Briefwechsel, 532 (aus der Darstellung Kochs). 1501 Venediger, Mörlin und Hegemon an Herzog Albrecht, 1. Januar 1552, zitiert nach Koch, Briefwechsel, 582. 1502 w 0 l f von Kotteritz an Mörlin, 24. mai 1552, zitiert nach Koch, Briefwechsel, 592 f. 1503 Fligge 67. 1499

1500

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desherr mißliebige Schriften zwar nicht endgültig verbieten, begrenzte jedoch die umlaufende Menge, ihre Reichweite und ihre Aktualität. Der Osiandergegner Joachim Mörlin beklagte sich denn auch beim Herzog darüber, es entstehe bei den Osiandristen der Eindruck, er, Mörlin, müsse vor dem Gewicht der osiandrischen Argumente verstummen, während er in Wahrheit nur keine Druckerlaubnis bekommen habe1504. Das Argument, seine „Confutatio" sei ein lästerliches Buch, wollte Mörlin nicht gelten lassen: „Man schendet und lestert meyn buch, lieber Gott warum hindert man es den?"1505 Die Osiandristen hatten es leichter, eine Druckgenehmigung zu erhalten. Über die „Drei Predigten" des osiandristischen Pfarrers Othmar Epplin urteilte der Präsident des Bistums Samland, Johannes Aurifaber, 1555 in einem ausführlichen Gutachten, es sei „vndienstlich vnd ergerlich", sie drucken zu lassen1506. Zur Begründung dienten teils theologische, teils seelsorgerliche Argumente: Die Predigten enthielten „Schwerinerey", ein nur innerliches Verständnis des Wortes Gottes 1507 . Deshalb entsprächen sie nicht der orthodoxen lutherischen Lehrmeinung. Außerdem enthalte das Werk „viel ambigua dicta" 1508 , mißverständliche oder anspielende Äußerungen. Auf Wortspiele, die er Epplin vorwarf, wollte Aurifaber nicht eingehen, weil „dis dem gemeinen man nit so vernemlich" 1509 , kritisierte aber doch, daß die Predigten zu abstrakt und zu wenig erbauend und lebensdienlich seien1510. Die Universität erteilte dennoch die Druckgenehmigung und erklärte dem Drucker, der Präsident des Bistums habe „der Druckerey halben keinen befelh" 1511 . Aurifaber erhob zwar Einspruch, konnte aber das Votum der Universität

Mörlin an Herzog Albrecht, 9. Juni 1551, zitiert nach Koch, Briefwechsel, 563. 1505 Mörlin an Wolf von Kotteritz, 20. Mai 1552, zitiert nach Koch, Briefwechsel, 591. 1 5 0 6 Zum Folgenden vgl. „Grundtlicher Bericht, Warumb des M. Ottmari Epplini drey Christ-Predigtten in den Druck zugeben für vndienstlich vnd ergerÜch geacht worden", HBA J 2 955, A.Z. 3. 43. 91, 1 r. Datierung nach dem Schreiben Johannes Aurifabers an D. Georg [Longius], 23. April 1555, HBA J 3/989, A.Z. 3. 43. 238(1). 1507 2um Folgenden vgl. ebenda 4 r sq. 1504

Ebenda 5 v. Ebenda 6 ν sq, Zitat 7 r. 1 5 1 0 Ebenda 1 r und 5 r. 1511 Zum Folgenden vgl. Schreiben Johannes Aurifabers an D. Georg [Longius], 23. April 1555, HBA J 3/989, A.Z.3.43.238(I). 1508

1509

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nicht unwirksam machen. 1556 erschienen die „Drei Predigten" im Druck1512. Bei dem großen Anteil theologischer Werke an der Gesamtproduktion der Druckerei bestimmten wahrscheinlich theologische und seelsorgerliche Begründungen in den meisten Fällen die Zensurentscheidung. Doch auch nicht-theologische Motive konnten den Ausschlag geben. So wurde 1568 dem Drucker Daubmann der Druck des Kulmischen Landrechts verboten mit der Begründung, das Corpus befinde sich in der Revision, und es dürfe nicht durch zwei verschiedene Druckausgaben Verwirrung entstehen1513. Als Daubmann den Druck trotzdem begann, ließ die Regierung das halbgedruckte Buch unter der Presse beschlagnahmen und in die herzogliche Bibliothek schaffen1514. Die Makulatur wurde als Schreibpapier verwendet1515. Bonifatius Daubmann konnte sie später nur noch als Rohstoff für die Papierherstellung zurückfordern1516. Aber selbst die Beschlagnahme verhinderte die Verbreitung des Landrechtes nicht. Landrechts-Drucke kamen in Umlauf, deren Herkunft nicht anzugeben war1517. Selbst das ausdrückliche Verbot des Drucks, die Versagung der Druckerlaubnis, ließ sich demnach gegen das Geschäftsinteresse des Buchdruckers nicht einfach durchsetzen. Wenn von Osterberger gesagt wurde, er habe hauptsächlich kirchliche Gebrauchsliteratur und Schulbücher gedruckt, weil ihm die Universität nichts anderes erlaubt habe1518, so wäre das wohl eher die Ausnahme als die Regel. Umfang und Art der bekannten Drucke Osterbergers lassen keine Auftragsflaute erkennen; gingen doch Wigands polemische Werke, Hennenbergers „Landtafel", viele lateinische poetische Werke, Musikdrucke sowie offizielle Drucke aus Osterbergers Presse hervor, so daß auch von Eintönigkeit nicht die Rede sein kann.

VD 16 Ε 1850. Berichtet in einem Schreiben des Juristen Albrecht Pölmann an die Regierung, 6. Okt. 1568, EM 86 a 5, 9 r sq. 1514 Bericht des Rektors [Michael] Scrinius an [die Oberräte], o. D., EM 86 a 5, 24 ν [nach dem 16. Mai 1584, gemäß der Datierung auf 24 r], 1515 Scrinius an [die Oberräte, nach 16. Mai 1584], EM 86 a 5, 25 r. 1 5 1 6 Bonifatius Daubmann an Herzog Albrecht Friedrich, 8. Juli 1584, EM 86 a 5, 23 r, Datierung 23 v. 1 5 1 7 Aktenvermerk „ex consilio", 16. Mai 1584, EM 86 a 5, 24 r. Lohmeyer 48 f. 1512

1513

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Die Universitätsakten überliefern einen einzigen Fall von Verweigerung der Druckerlaubnis in Osterbergers Zeit — einen Fall, der ein wenig Licht auf die Maßstäbe nicht-theologischer Zensur wirft. 1592 versuchte ein Meißener Kirchendiener, Abraham Pecelius, ein von ihm verfaßtes Werk in Königsberg drucken zu lassen1519. Der Oberburggraf schrieb über den Inhalt der Schrift, Pecelius habe „nicht allein die Cron Polen, sondern auch andere benachbarte Lender, so wol sein eigen vatterlandt verkleinerlich vnnd schimpflich angezogen gehabt". Höchstwahrscheinlich hatte Pecelius eine politische Flugschrift verfaßt und zum Druck geben wollen. Der Rektor versagte die Druckerlaubnis, weil die Schrift seiner Ansicht nach Angriffe auf fremde Herrschaften enthielt. Neben theologischen Prämissen konnten also auch außenpolitische Rücksichten eine Rolle spielen, wenn die Druckerlaubnis verweigert wurde. Der Autor wurde verhaftet und dann des Landes verwiesen. Dazu entschlossen sich Rektor und Senat aber erst, als Pecelius den Rektor wegen der Verweigerung der Druckerlaubnis „mit verletzlichen vnnd beschwerlichen worten angegriffen" hatte1520. Verhaftet und verwiesen wurde Pecelius also strenggenommen nur für die Beleidigung des Rektors, mit der er vielleicht die Druckerlaubnis doch noch hatte durchsetzen wollen. Die Absicht allein, eine inkriminierte Schrift zu verbreiten, hätte noch nicht zur Bestrafung geführt. Die aktenkundigen Fälle von Strafverfolgung nach dem Druck oder der Verbreitung von Schriften richteten sich ausnahmslos gegen „Pasquille", Schmähschriften, sowie deren Verfasser und Verbreiter. Nach den Universitätsstatuten stand auf das Verfassen von Schmähschriften die Verweisung von der Universität oder eine Leibesstrafe (supplicium1521). Letztere durfte nur nach der Verurteilung durch den Burggrafen ausgesprochen werden. Im übrigen stand das Strafmaß im Ermessen des Rektors1522. In der Praxis verfuhr man äußerst uneinheitlich, und es scheint, als habe die politische, insbesondere religionspolitische Lage die Rechtsprechung in Einzelfällen stark beeinflußt. Einen Fall politisch Zum Folgenden vgl. Offener Brief der Oberräte, 3. Juni 1592, EM 139 j 193, 1 r—2 v, Datierung 3 r. 1 5 2 0 Offener Brief der Oberräte, 3. Juni 1592, EM 139 j 193, 1 r. 1521 Zum Folgenden vgl. Universitätsstatuten, 1544, EM 139 a 5, 6 r. 1 5 2 2 Statuten der Universität, 18. April 1557, EM 139 a 17, 21 r. 1519

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II. Die Öffentlichkeit der Bildung

geprägter Rechtsprechung stellte der Prozeß gegen Studenten dar, die in den Jahren 1549/50 Schmähschriften gegen Oslander verfaßt hatten1523. Der Herzog ließ auf Wunsch des Rektors die Fälle vor seinem eigenen Gericht verhandeln1524, wohl um ihre Bedeutung zu unterstreichen, und bestimmte das Verhör bis in die Formulierung der Fragen1525. Die Plädoyers der Hofgerichtsräte ließen deutlich Parteilichkeit erkennen. Der Rat Wolf von Kotteritz plädierte bei den Hauptangeklagten sogar auf die Todesstrafe1526. Er berief sich auf den Codex Iustinianus1527. Aber auch die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. könnte Pate gestanden haben, nach der der Verfasser einer Schmähschrift die Strafe erleiden sollte, die er dem Geschmähten auf den Hals gewünscht hatte1528. Kotteritz argumentierte, der Verfasser der Schmähschrift habe Oslander einen Ketzer genannt, Ketzerei sei aber ein todeswürdiges Verbrechen, weshalb der Pasquillant die Todesstrafe erleiden müsse1529. Die Urteile fielen milder aus. Einer der Mitverfasser und Verbreiter der Schrift, der Student Josias Menius, wurde relegiert und auf zehn Jahre des Landes verwiesen1530. Die Landesverweisung zumindest war eine ungewöhnlich harte Strafe. Sie kam sonst nur für Wiederholungstäter1531 oder in Fällen schwerer, ehrverletzender Beleidigung in Frage1532. Ein Mitangeklagter, Michael Saur, dem man nur das Abschreiben der Schmähschrift hatte nachweisen können, erhielt ein Jahr Arrest und vier Wochen Gefängnis1533. Er blieb aber Universitätsbürger und genoß später sogar ein Stipendium1534. In dem offensichtlich politisch überschatteten Prozeß urteilten die Richter des herzoglichen Hofgerichts außergewöhnlich hart. Die Universität fällte meist mildere Urteile. Um Pasquillanten außerhalb ihrer

Stupperich 83 f. Stupperich 78. 1525 Stupperich 92—95. 1526 Stupperich 102 und ebenda Anm 97. 1527 Stupperich 97. 1528 Peinliche Gerichtsordnung [1532], Art. 110, zitiert nach Gerstlacher 11, 2606. 1529 Stupperich 102 und ebenda Anm 97. 1530 Offener Brief von Rektor und Senat der Universität, 27. April 1550, EM 139 j 169, 2 r sq.; Stupperich 102. 1531 Vgl. den Offenen Brief der Oberräte vom 3. Juni 1592, EM 139 j 193, 2 ν sq. 1532 Urteil von Richter und Schöffen in Tapiau, 28. Mai 1612, EM 137 d 1519, 16 r. 1533 Stupperich 102. 1534 Stupperich 103. 1523

1524

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Jurisdiktion kümmerte sie sich nicht1535. Wurde eine Schmähschrift entdeckt, so zog man zunächst die erreichbaren Exemplare ein und versuchte, den Verfasser zu ermitteln. Wenn er gefunden wurde und sich seine Schuld beweisen ließ, strafte man ihn. Das Strafmaß scheint tatsächlich willkürlich gewesen zu sein. So wurde im Jahre 1620 ein Student, dem Mitverfasserschaft und Druck einer Schmähschrift nachgewiesen worden waren, nur aus der studentischen Wohn-Gemeinschaft ausgeschlossen1536. 1584 entschlossen sich die herzoglichen Räte, außer Erkundigungen nach den Pasquillanten gar nichts zu unternehmen, und zwar mit der Begründung, die Studenten beschwerten sich zu Recht über ihre Professoren, wenn diese glaubten, „mit der Faust" für Disziplin sorgen zu müssen1537. Trotz der streng erscheinenden Vorschriften hatten die universitären Richter und die zum Urteil auffordernden Räte in Einzelfällen demnach einen großen Ermessensspielraum. Nicht jeder studentische Spottvers brauchte gleich verfolgt zu werden. Wer sich wiederholt erwischen ließ, riskierte allerdings die stillschweigende Relegation (relegatio tacita)1538 — wobei dahingestellt sei, ob diese Strafe wirklich abschreckend wirkte. Ein einziges Mal wurde im Herzogtum Preußen die Todesstrafe für eine angebliche Schmähschrift ausgesprochen und auch vollzogen1539, und zwar im Jahre 1611 oder 1612 gegen einen Mann namens Johannes Starcovius. Er hatte in Rastenburg — wahrscheinlich handgeschriebene — Schmähschriften „wider die gantze Schottische Nation/ unziemlicher weise/ edirt" und verbreitet. Die Schrift ist nicht mehr erhalten, so daß sich nicht klären läßt, warum sie als gefährlich oder beleidigend galt. Die harte Strafe erging wohl aus außenpolitischen Rücksichten. Nach der Hinrichtung befahl ein Mandat die Einziehung der verbreiteten Schrif-

1535 Zum Folgenden vgl. nicht ausgegangenes Mandat gegen die Verfasser von Schmähschriften, EM 139 j 2a, 2 v. 1536 Rektor und Senat der Universität an den Kurfürsten, 25. Mai 1622, EM 139 j 165,1 ν sq., datiert 6 v. 1537 Gutachten der Hofgerichtsräte, des Rektors und Senats, 19. März 1584, EM 139 j 4, 2 r—4 r. 1538 Protocollum Academiae Regiomontanae, 20. April 1622, EM 139 j 165, 9 v; Urteil von Rektor und Senat, Ende 1622 oder Anfang 1623, ebenda 30 r sq. 1539 Zum Folgenden vgl. Mandat wegen des Einziehens der Schmähschrift, 15. Februar 1612, in: „Verordnungen usw. insbesondere für das Herzogtum Preußen", Bd. 1 (Sammelband der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Signatur Gu 570 fol.), [Nr. 31].

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ten, angeblich auf besonderes Ersuchen des englischen Königs, Jakobs I., der als Stuart schottischer Abkunft war und sich offenbar beleidigt gefühlt hatte. In der preußischen Praxis der Sanktionen gegen Schmähschriften bildete die Todesstrafe eine große Ausnahme. Doch auch das Vergehen des Starcovius war offenbar ungewöhnlich: Unter den bekannten Fällen zum ersten Mal ahndete die preußische Regierung die Verbreitung einer vermutlich politischen Flugschrift, die noch dazu eine auswärtige Macht angriff. Wahrscheinlich wurde dieses Vergehen als Crimen laesae maiestatis betrachtet und bestraft. Die aus anderen Territorien so oft bezeugte Verfolgung und Bestrafung von Druckern und Formschneidern als der Verantwortlichen für mißliebige Flugblätter und für Schmähschriften1540 kam dagegen in Königsberg nicht vor. Bei unerlaubtem Druck hatte der Drucker die Beschlagnahme der beanstandeten Schriften1541 und eine Geldstrafe von 100 Mark zu gewärtigen, die zur Hälfte der Universität und zur anderen Hälfte der herzoglichen Rentkammer verfiel1542. Aktenkundig sind solche Vergehen nicht geworden, mit der einen Ausnahme des „angehaltenen" Drucks des Landrechts1543. Wahrscheinlich wäre es jedem preußischen Drucker schwergefallen, einen unerwünschten Druck überhaupt zu verbreiten. Denn in Königsberg gab es in den ersten hundert Jahren Buchdruckgeschichte fast immer nur eine einzige Druckerei, die daher leicht kontrolliert werden konnte. So war das Risiko für den Drucker hoch, daß man ihm auf die Spur kam und er tatsächlich Bücher und Geld verlor — eine Geschäftsschädigung, deren Drohung vielleicht wirklich abschreckend gewirkt hat. Ein Grund für die verhältnismäßig milde Zensurpraxis bestand wohl darin, daß die Landesobrigkeit „ihre" Drucker auch wirtschaftlich schützen wollte. Sie drohte Nachdruckern mit harten Strafen und verfolgte auch Händler, die durch Einfuhr von

1 5 4 0 Beispiele bei Th. Hampe, Nrr. 1281; 1287; 1289; 1378; 1380; grundsätzlich Coupe, William Α.: The German Illustrated Broadsheet in the Seventeenth Century. Historical and Iconographical Studies I: Text (Bibliotheca Bibliographica Aureliane, Bd. XVII), Baden-Baden 1966,19. 1541 Albrecht Pölmann an die Oberräte, 6. Oktober 1568, EM 86 a 5, 6 r—8 ν. Abschied für Pölmann vom 11. Oktober 1568 ebenda 9 r sq.; Schreiben Bonifatius Daubmanns an Herzog Georg Friedrich, 8. Juli 1584, ebenda 23 r sq.; Universitätsprivilegien vom 4. Dezember 1558, Ndr. 1618, EM 139 a 19, 3v. 1 5 4 2 Universitätsprivilegien vom 4. Dezember 1558, Ndr. 1618, EM 139 a 19, 3v. 1 5 4 3 Albrecht Pölmann an die Oberräte, 6. Oktober 1568, EM 86 a 5, 7 r, Datierung ebenda 8 v.

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Büchern, die auch in Königsberg gedruckt wurden, dem Königsberger Buchdrucker Konkurrenz machten. Laut dem Lufftschen Druckereiprivileg von 1549 mußte ein Nachdrucker oder Importeur Lufftscher Bücher damit rechnen, seine Ware zu verlieren und in „fürstliche Ungnad" zu fallen1544. Nach Daubmanns Privileg sollte den Nachdruckern das Handwerk gelegt werden1545; 1585 stand laut dem Privileg Osterbergers auf den Nachdruck und die Einfuhr seiner Bücher nach Polen eine Strafe von 20 Goldmark1546. Daß die Landesobrigkeit daneben den unerlaubten Bücherverkauf auf Märkten mit der Beschlagnahme der Bücher ahnden wollte1547, zeigt allerdings, daß den Regierenden nicht an einer allzu großen Ausdehnung des Buch- und Schriftenmarktes lag.

b) Andere obrigkeitliche Beeinflussungsversuche Die Zensur hat zwar von allen Möglichkeiten der Kontrolle gelehrter Öffentlichkeit den übelsten Ruf. Aber sie war nicht der einzige, vielleicht nicht einmal der auffälligste Kontrollversuch. Spektakulärer wirkte die Methode, unbotmäßige gelehrte Streiter — gleichsam die Oberschicht der gelehrten Welt — des Landes zu verweisen, wenn sie sich nicht den obrigkeitlichen Anordnungen fügten. Kirchliche Instanzen schwiegen zu diesen Verfahren meist still oder förderten es sogar, diente es ihnen doch dazu, die „Reinheit" ihrer Konfession zu erhalten. Die Ausgewiesenen setzten zwar vom „Ausland" aus die Polemik fort, wie beispielsweise Mörlin1548 und Heßhus nach ihrer Ausweisung1549. Den einheimischen Sympathisanten und Mitstreitern der Polemiker jedoch entzog die Ausweisung den Rückhalt, so daß sie sich seltener zu Wort meldeten, oft auch mit den Ausgewiesenen das Land verließen. Unauffälliger gingen die Obrigkeiten gegen die Bildungs-Öffentlichkeit vor, indem sie durch Mandat die Polemik in der gelehrten Welt und der Kirche verboten. Die Anweisungen sollten verhindern, daß die gelehrten Kontroversen in die „unteren Stände" der BildungsDruckereiprivileg für Hans Lufft, 29. Mai 1549, EM 139 k 143, 9 r. 1545 Privileg für Johann Daubmann, 16. August 1564, EM 139 k 47, 19 r sq. 1546 Polnisches Privileg für Georg Osterberger, 1. Dezember 1577, EM 139 k 162, 1544

lr.

Erwähnt bei Lohmeyer 80, ohne Datierung. 1548 Wagenmann: Mörlin: Joachim M., in: ADB 22, 323. 1549 Lommel in ADB 12, 317.

1547

274

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

Öffentlichkeit drangen. Schon Herzog Albrecht hatte im Osianderstreit zum Mittel des Kontroversen-Verbots gegriffen1550, ohne jedoch die Theologen zügeln zu können. Johann Sigismund versuchte ein gleiches in den Jahren 1614 und 16151551, um den Frieden zwischen Luthertum und Calvinismus zu erhalten oder wiederherzustellen. Gegenüber den orthodox lutherischen Ständen rechtfertigte der Kurfürst die geplante Maßnnahme mit politischen Motiven1552: „Da sie [die Theologen] aber derer Schreibsuchtt ia nicht ohnig sein können, mögfen] Sie[!] ihre opinion, So gutt sie können, in genere schniden [?] vndt vertheiding[en], des personal gezencks aber sich gentzlichen enthalten, den solches nicht mehr die Theologiam, sondern den politisch[en] Fried vndt wolstandt concerniret vnd berühret". Die Mandate zum Verbot der Kontroversen trennten streng zwischen der Öffentlichkeit der Macht und der der Bildung, um einen offenen Konflikt zwischen beiden zu verhindern. Johann Sigismund wollte wenigstens den Schein der konfessionellen Einheitlichkeit wahren, während der gelehrte Disput Wert darauf legte, Unterscheidungslehren zu betonen und einzuschärfen. Das Verbotsmandat versuchte, den Konflikt zwischen den beiden Entscheidungsprinzipien der autoritätsgestützten Wahrheit und des Konsenses zu entschärfen, verfuhr dabei aber umgekehrt wie das Religionsgespräch. Im Religionsgespräch hatte die Öffentlichkeit der Bildung die Einheit erzwingende Forderung nach „Wahrheit" erhoben, während die Machtwirklichkeit beim Konsensprinzip geblieben war, das eine Vielfalt von Meinungen voraussetzt. 1615 vertrat der Kurfürst eine politische Einheitsforderung, während die Gelehrten auf Vielfalt und Auseinandersetzung beharrten. Ebenso wie das Religionsgespräch erwies sich aber auch das Verbot der Kontroverspublizistik als wirkungslos — was sich schon daran zeigt, daß das Mandat im Abstand eines Jahres wiederholt werden mußte. Das Prinzip der Vielfalt von Meinungen hatte in beiden Situationen über das der Einheit gesiegt.

1550 Mandate vom Januar und August 1553; Kleinertz 32 f.; Mandat vom 11. August 1555: Ommler 151; zur Erfolglosigkeit der Bemühungen vgl. Ommler 151 f. 1551 Hubatsch, Kirche 1,123. 1552 Zum Folgenden vgl. Antwort des Kurfürsten auf ein Schreiben der Stände, 25. Oktober 1615, Opr. Fol. 607, 141 v.

Macht· und Bildungs-Öffentlichkeit

275

Ferner versuchten die Obrigkeiten, beide „Oberstände" der gelehrten Welt durch die Limitierung des Buchhandels zu treffen. Wie zum Druck, so benötigte man auch zum Handel mit Büchern ein besonderes Privileg, das nicht beliebig viele erhielten. Der innerpreußische Buchhandel lag in den Händen einer kleinen Zahl von Druckern und Buchhändlern und beschränkte sich auf festgelegte Plätze und Zeiten. Die einschränkenden Vorschriften wurden aber anscheinend weniger streng angewandt, als die Forschung gemeinhin annimmt. Für die Behauptung Krollmanns, seit 1529 hätten alle Buchhändler vor Beginn ihrer Handelstätigkeit ein Verzeichnis ihrer Bücher zur Kontrolle einreichen müssen1553, hat sich bisher kein Beleg finden lassen. Als weiterer Beweis für eine angeblich strenge Kontrolle des Buchmarktes in Preußen dient ein Brief Herzog Albrechts an den Hauptmann zu Mohrungen, Peter von Dohna, vom März 15441554. In diesem Brief wies Herzog Albrecht Dohna an, die Märkte seines Gebiets zu kontrollieren und darauf zu achten, daß nur Königsberger Buchhändler und die besonders dazu privilegierten Händler überhaupt Bücher verkauften. Wenn nicht privilegierte oder fremde Händler dennoch Bücher feilboten, sollte die Ware beschlagnahmt werden. In einer Nachbemerkung schlug Albrecht außerdem vor, einen entsprechenden Entwurf dem Landtag zur allgemeinen Annahme vorzulegen. Weitergehende Folgerungen lassen sich aber aus dem herzoglichen Befehl nicht ableiten — nicht einmal die, daß es sich um eine allgemein verbindliche Regelung handelte. Mit dem Befehl an Dohna verbot der Herzog den fremden Buchhändlern nicht generell die Tätigkeit im Herzogtum1555 und sprach auch kein Einfuhrverbot für „un-evangelische" Bücher aus1556, obgleich sie natürlich im Herzogtum nicht gerne gesehen waren. Gegenüber dem ermländischen Bischof Martin Kromer betonte Herzog Albrecht Friedrich in einem Brief 1569, daß katholische Bücher im Herzogtum nicht — gemeint war

1553

Krollmann 13. Nach Krollmann 14 wurden Schwärmerbücher verboten bis auf 3 Exemplare: für die Königsberger Bibliothek, für Poliander und für andere Theologieverständige. 1554 Zum Folgenden vgl. Opr. Fol. 997, 173 [alt 213] r sq. Vorname des Adressaten identifiziert nach Chroust, Anton: Abraham von Dohna. Sein Leben und sein Gedicht auf den Reichstag von 1613, München 1896, 15 f. 1555 Anders behaupten Lohmeyer 80 und Grimm, Heinrich, 1688 f. 1556 Anders behauptet Thielen, Kultur, 116.

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II. Die Öffentlichkeit der Bildung

wahrscheinlich: nicht grundsätzlich und nicht generell — beschlagnahmt würden1557. Die Kontrolle des Buchhandels fand trotzdem statt, nur weniger grundsätzlich, mehr von Fall zu Fall, als die Formulierungen der Forscher glauben machen. In dem Privileg für den Buchführer Hans Krüger 1538 wurde der Import von Büchern allen anderen preußischen Untertanen bei fürstlicher Strafe verboten: sie sollten „sich des vberfurens enthaltsam thun"1558. Königsberger Buchhändler hatten ab 1573 ein Verzeichnis vorzuweisen, wenn sie Bücher importierten1559. Schließlich gab es noch die Möglichkeit, Buchläden durchsuchen zu lassen und gegebenenfalls unerwünschte Bücher zu beschlagnahmen. Erwies sich bei der Durchsuchung, daß der Buchhändler mißliebige oder im Verzeichnis nicht angegebene Bücher führte, so verlor er seine Bücher1560, nach einer späteren Urkunde sogar sein Privileg („Begnadigung"), und hatte außerdem eine Strafe zu gewärtigen1561. Den „ Ideenschmuggel" hinderten die kontrollierenden Maßnahmen in ganz Europa nicht; auch in Preußen wirkten sie sich wahrscheinlich nicht besonders hemmend aus. Zwar werden die östlichen und südlichen Landesteile Preußens wegen der schlechten Verkehrslage ohnehin nur selten mit Büchern versorgt worden sein. Doch die Hafenstadt Königsberg mit einem hohen Anteil von Fremden, die nicht der preußischen Landeshoheit unterstanden1562, bot einen idealen Boden für Bücherschmuggel über Landes- und Konfessionsgrenzen hinweg, ebenso die Enklave des Bistums Ermland. Erstaunlicherweise finden sich in den Quellen wenig Hinweise auf illegalen Buchhandel im Herzogtum. Jonas Reich und Moritz Guttich, die evangelische Bücher ins Ermland brachten, und ein gewisser Christoph Osterrot aus Goslar, der 1611 aus der Danziger Gegend unitarische Bücher ins Herzogtum einführte und ver-

1557 Herzog Albrecht Friedrich an Martin Kromer, 2. Oktober 1569, zitiert nach Hartmann ΙΠ, 45. 1558

Verschreibung für Hans Krüger, 20. April 1538, Opr. Fol. 914,282 [alt: 289] v. 1559 Privileg der Königsberger Buchfiihrer, 26. August 1573, EM 139 k 1, 6 v, datiert 7 v. 1560 Statuten der Universität, 18. April 1557, EM 139 a 17, 9 r: Strafe Verlust der Bücher und willkürliche Strafe des Rektors. 1561 Privileg der Königsberger Buchführer, 1573,EM 139 k 1, 6 v: Strafe Verlust des Privilegs und weitere Strafe. 1562 Gause, Königsberg, 144 f.

Macht- und Bildungs-Öffentlichkeit

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teilte1563, sind in hundert Jahren die einzigen aktenkundigen Fälle. Das bemühte Einvernehmen zwischen den preußischen Herzögen und den Bischöfen von Ermland1564 mag dafür gesorgt haben, daß Verstöße gegen die Beschränkungen des Buchhandels nicht zu Staatsaffären wurden. Die Kontrolle des Buchhandels behinderte nicht nur die „Streiter", sondern auch die passiven Teilnehmer des gelehrten Streits, die Vermittler und die nur Aufnehmenden, soweit sie ihr Wissen aus dem Buchhandel bezogen. In ähnlicher Weise wirkte sich die Kontrolle der Bibliotheken aus. Daß Herzog Albrecht die Bibliotheken der aufgehobenen Klöster in die Hauptstadt Königsberg schaffen ließ, mag man auch als Kontrollversuch sehen. In der Schloßbibliothek behielt der Oberbibliothekar die Gesamtaufsicht über den Leihverkehr, der Mitarbeiter und Untergebene durfte nicht selbständig darin handeln1565. Die Kontrolle der Bücher diente zwar hauptsächlich dem Schutz vor Verlusten, aber sie erfaßte selbstverständlich auch die Ausleihenden. Beschlagnahmte Bücher ließ der Herzog in die Bibliothek schaffen1566, um die unerwünschte Ware dem Verkehr zu entziehen. Auf Vermittler und Zuhörer wirkte die Obrigkeit mit weiteren Maßnahmen vielfältig ein, darin oft unterstützt durch den reformatorischen Ehrgeiz der kirchlichen Autoritäten. Vermittler, die sich nicht mit der obrigkeitlich festgesetzten Konfession oder Konfesionsvariante einverstanden erklärten, mußten das Land verlassen1567, auch wenn sie nicht selbst durch Schriften an den Kontroversen teilgenommen hatten. Visitationen1568, die nach dem Willen des Herzogs jährlich oder zumindest alle zwei Jahre abgehalten werden sollten1569, kontrollierten Lehre und Lebensführung der Geistlichen. Die Kontrolle der Pfarrerschaft in kleiHubatsch, Kirche 1,162 f. 1564 Vgl. Jähnig, Bernhart: Die Bedeutung des Briefarchivs Herzog Albrechts in Preußen für die europäische Reformationsgeschichte, in: Hauser, Oswald (Hg.): Preußen, Europa und das Reich (Neue Forschungen zur Brandenburg-Preußischen Geschichte, Bd. 7), Köln/Wien 1987, 9 f.; Hubatsch, Kirche I, 95. 1563

S-n, Gesetze, 271 f. Zum Folgenden vgl. Aktenvermerk „ex consilio", 16. Mai 1584, EM 86 a 5, 24 r, und den darauf von Rektor [Michael] Scrinius abgegebenen Bericht, o. D., ebenda 24 v. 1567 Vgl. die Änderung der Universitätsstatuten durch Albrecht Friedrich, HAB Cod. guelf. 54, 6 Extrav., 49 r. 1565

1566

1 5 6 8 Gottesdienstmandat 1543, zitiert nach Sehling 4, 57; Visitations-Instruktion 1526, ebenda 41 f.; Visitations-Instruktion 1528 ebenda 42—45. 1569 Von erwelung und underhaltung der pfarrer, 1540, zitiert nach Sehling 4, 52.

278

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

neren Bezirken sollten vierteljährliche Synoden übernehmen, für die der Bischof eigens den Rang des Erzpriesters schaffen und besetzen mußte1570. Die Herrschaft sorgte für die korrekte Weitergabe der Glaubensinhalte, indem sie nicht nur Unerwünschtes verbot, sondern auch versuchte, den ländlichen Pfarren einen Grundstock lutherischer Lehrbücher zu verschaffen. Luthers Hauspostille wurde durch obrigkeitlichen Befehl verbreitet1571, ebenso die Kirchenordnung von 15251572 und später die fremdsprachigen Bibel-, Katechismus- und Postillenübersetzungen1573. Bei der zweiten Visitation im Jahre 1528 ließ der Herzog die Visitatoren nachfragen, ob auch alle Pfarrer die Postille erhalten hätten1574. Das Gottesdienstmandat von 1543 erwähnt namentlich die Postillen von Luther, Rhegius und Corvinus1575. Die Kirchenordnung von 1558 wurde ins Polnische und Litauische übersetzt und ebenfalls verteilt1576. Auch unterstützte Herzog Albrecht die Bemühungen der Vermittlung, indem er Ubersetzer und Übersetzergruppen für sich arbeiten ließ. Bücher des Ansbacher Rates Johann von Schwarzenberg sollen sogar ins Schwedische übersetzt worden sein1577. Im Gegensatz zu der ausschließenden, restriktiven Politik des Zensierens und Verbietens könnte man die zuletzt genannten politischen Maßnahmen aufbauend, konstruktiv nennen. Sie wirkten auf alle Schichten der Bildungs-Öffentlichkeit, aber in unterschiedlichem Maße. In den „Oberständen" der gelehrten Welt engte die Leitlinie weniger ein, da die Gelehrten selbst energisch und aus eigenem Antrieb für vielfältigen Diskussionsstoff sorgten. Wenn die Obrigkeit bestimmte Diskussionsinhalte vorschrieb, andere dagegen aussschloß, so hinderte das die „Bildungspolitiker" gar nicht und die aktiven Streiter nur wenig. Meist Visitations-Instruktion 1528, zitiert nach Sehling 4, 44. „Ordnung der pfarr, vnd was für postillen die pfarrer empfangen haben", o. D. [vom Archivar auf beiliegendem Zettel datiert 1529], EM 41 a 1 passim; Sehling 4, 48; Gundermann, Pfarrbibliotheken 106 f. 1572 Visitationsmstruktion 1526, zitiert nach Sehling 4, 42. 1573 Gundermann, Pfarrbibliotheken, 108, 110. 1574 Visitations-Instruktion vom 24. April 1528, zitiert nach Sehling 4, 44. 1575 Zitiert nach Sehling 4, 59. 1576 Ommler 180. 1577 Carlsson, Gottfried: Preussischer Einfluss auf die Reformation Schwedens. Ein Beitrag zur preußisch-schwedischen Geschichte in den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts, in: Hubatsch, Walther (Hg.): Wirkungen der deutschen Reformation (Wege der Forschung 203), Dannstadt 1967, 485; zu Schwarzenberg vgl. Hubatsch, Kirche I, 50; ders., Albrecht von Brandenburg-Ansbach, 195 f. 1570 1571

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ließen sie sich die Themen ihrer Debatten ohnehin nicht vorschreiben oder umgingen die obrigkeitliche Leitlinie. Richteten sie sich nach ihr, so stand es ihnen immer noch frei, auf neue, scheinbar unverdächtige Themen auszuweichen. Selbst wer nicht aktiv an den Debatten teilnahm, sah sich durch obrigkeitliche Vorschriften kaum behindert, sofern er sich durch private Leihe beschaffen konnte, was in den öffentlichen Bibliotheken und den Buchläden nicht zu haben war. In den „unteren Ständen" der gelehrten Welt und auf dem Lande wirkten der Ausschluß oder das Vorschreiben bestimmter Bücher jedoch einschneidend. Erstens gab es nicht viel Lesestoff, was dem Verfügbaren immer eine größere Wirkung verschafft. Zweitens diskutieren Vermittler oder Lernende seltener selbst über kontroverse Fragen, zu schweigen davon, daß sie Diskussionen anregten. Obrigkeitliche Maßnahmen, ob konstruktiv oder verhindernd, wirken in den „unteren Ständen" der gelehrten Welt tatsächlich als bestimmende Vorschriften, während sie in den oberen das Angebot an Informationen nicht wirksam begrenzen oder bestimmen können. Vor allem die Vorschriften über den Kult beeinflußten das Leben und die Bildung von Lernenden und Vermittlern. Altgläubige Riten waren seit den „Themata episcopi" von 1525 verpönt. Die Kirchenordnungen sagten besonders den noch bestehenden heidnischen Praktiken den Kampf an1578, konnten sie allerdings bis zum Ende des Jahrhunderts nicht ausrotten1579. Preußische Kirchenordnungen erwähnen den prußischen Brauch des „Bockheiligens"1580, Zauberei mit Wachsbildern und Wachskreuzen1581, Wahrsagerei und das „krystallsehen"1582. Aufbauend wirkten die Kirchenordnungen durch ihre Vorschriften über den richtigen evangelischen Kult, den Gottesdienst und die Lebensführung1583. Die Vorschriften in Kirchen- und Landesordnungen entstanden zwar unter

1578 Themata episcopi, zitiert nach Sehling 4, 29 f.; Verordnung gegen abergläubische Mißbräuche, 24. November 1541, zitiert nach Sehling 4, 56 f.; Verbot der Zauberei in der Landesordnung 1525, zitiert nach Sehling 4, 41; Kirchenordnung 1544, zitiert nach Sehling 4, 51. 1579

Zeeden, Entstehung der Konfessionen, 105 f. Landesordnung 1525, zitiert nach Sehling 4, 41; vgl. dazu auch Zeeden, Entstehimg der Konfessionen, 105. 1581 Kirchenordnung 1544, zitiert nach Sehling 4, 56. 1582 Kirchenordnung 1568, zitiert nach Sehling 4, 97. 1583 ζ. B. Artikel der Ceremonien 1525, zitiert nach Sehling 4, 30—38. 1580

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II. Die Öffentlichkeit der Bildung

Mitwirkung von Geistlichen, wurden aber durch Herzog und Stände1584, im Ausnahmefall auch vom Herzog allein verabschiedet1585. Die Ordnungen regelten den Ablauf der Gottesdienste und der besonderen Feiern wie der Hochzeiten und Begräbnisse. Großen Wert legten die Obrigkeiten auf die Abwehr von Fluch- und Lästerreden1586 und auf den regelmäßigen Besuch des Gottesdienstes. Die Landesordnung von 1525 bedrohte säumige Kirchgänger mit dem Ausschluß „aus der gemeinschaft der christen", einer Art protestantischen Kirchenbanns1587. Für wiederholtes Fernbleiben vom Gottesdienst waren Leil^sstrafen vorgesehen. Doch die Vorschriften scheinen nicht abgeschreckt zu haben. Das Gottesdienstmandat von 1543 gestand ein, daß die Androhung des Banns bisher nichts bewirkt habe, präzisierte und verschärfte die Strafandrohungen1588. Wer dem Gottesdienst unentschuldigt fernblieb, hatte jetzt eine Geldstrafe zu gewärtigen, die nach Standeszugehörigkeit gestaffelt war: eine Vierdung für Edelleute, einen Groschen für Bürger, Bauern und andere. Im Wiederholungsfall stieg die Geldstrafe auf zwei Vierdung, beim dritten Mal auf eine Mark für Edelleute und auf zwei, beim dritten Mal fünf Groschen für die anderen. Riskierte der Sünder noch einmal das Fehlen, so drohten ihm Leibesstrafen. Bürgerliche, Bauern und Niederere wurden in den Stock gelegt, bei weiterer Säumigkeit sollten die „harten leibsstrafen" angewendet werden. Die Durchführung der Vorschriften sollten die „Nachbarn" im Dorf durch gegenseitige Überwachung kontrollieren. Das Gottesdienstmandat vom 1. Februar 1543 legte das Uberwachungssystem genau fest1589. Zuerst mußte der Schulze, danach in einem Drei-Wochen-Turnus jeder seiner „Nachbarn" den Gottesdienstbesuch der Dorfgenossen überprüfen. Dadurch sorgte die Obrigkeit dafür, daß die Lernenden in der Kirche ihre einzige Protestmöglichkeit, das Weglaufen, nicht mehr ungestraft würden nutzen können. Die kirchlichen Autoritäten waren mit diesem Vorgehen in Prinzip und Praxis einverstanden, sie unterstützten es sogar noch. Der Osiandergegner Joachim Mörlin setzte seine geistli1 5 8 4 Artikel der Ceremonien, 1525, zitiert nach Sehling 4, 30; Landesordnung 1525, zitiert nach Sehling 4, 38. 1 5 8 5 Gottesdienstmandat 1543, zitiert nach Sehling 4, 59. 1586 v e r b o t des Fluchens und Lästerns im Gottesdienstmandat 1543, zitiert nach Sehling 4, 59. 1 5 8 7 Zum Folgenden vgl. Sehling 4, 39. 1 5 8 8 Zum Folgenden vgl. Sehling 4, 57 f. 1 5 8 9 Zum Folgenden vgl. Sehling 4, 57 f.

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che Gewalt ein, um das „Auslaufen" seiner Kirchspielskinder zu verhindern1590: „Item wer aus seiner Kirchen, dort hin lieffe zuhören, den wolt er hiemit gesannt [ - gemahnt?] haben, das er yn zu keine[m] sacrament wolte zulassen". Zu den Kontrollmechanismen, die auf alle „Stände" der gelehrten Öffentlichkeit einwirkten, gehörte schließlich auch die Bemühung Herzog Georg Friedrichs um die konfessionelle Vereinheitlichung des Landes. Herzog Albrecht hatte Täufer und andere „Schwärmer" in Preußen geduldet1591 und zum Beispiel den Zuzug von Holländern erlaubt, um das Land zu bevölkern1592. Auf das Buch Luthers gegen die „Rottengeister" hatte Albrecht geantwortet, ohne die Sektierer veröde sein Land1593. Den Böhmen, die sich 1549 nach Preußen geflüchtet hatten1594, gestand er zwar nicht konfessionelle, wohl aber kulturelle Sonderrechte zu: Die Böhmen durften Kirchengesang, Predigt und Liturgie in ihrer Sprache behalten; auch kleine Abweichungen in der Liturgie wurden geduldet1595. Unter Georg Friedrich verloren die Böhmen ihre Sonderrechte und mußten sich vollständig auf das Corpus doctrinae verpflichten1596. Die Täufer wurden laut Mandaten von 1579 und 1586 des Landes verwiesen; sie mußten Preußen bis zum 1. März 1587 verlassen haben1597.

3. Konfessionell bestimmte Bildungsinhalte als Gegenstände politischer Auseinandersetzung bis 1618 Angesichts der umfassenden Kontrolle der Bildungs-Offentlichkeit durch die Macht kann man sich fragen, ob im konfessionellen Zeitalter 1590 Predigt Joachim Mörlins vom 10. Februar 1552, Nachschrift von der Hand Wolfs von Kotteritz, HBA J 2,978/13, 30 v. 1591 Dazu vgl. Hubatsch, Kirche I, 67—75. 1592

Hubatsch, Kirche I, 65. Hubatsch, Kirche I, 72. 1594 Einleitung in: Sehling 4, 22. 1595 Kirchenordnung der Böhmen vom 1. Februar 1549, zitiert nach Hubatsch, Kirche ΙΠ, 16—18. 1596 Hubatsch, Kirche 1,119. 1597 Hubatsch, Kirche I, 120. 1593

282

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

die Öffentlichkeit der Macht die gelehrte Öffentlichkeit nicht vollständig beherrschte. Im Augenblick ihrer vollständigen Unterwerfung hätte die Bildungs-Öffentlichkeit allerdings auch nicht mehr herrschaftlegitimierend wirken können. Denn nur in dem Maße, in dem die gelehrte Öffentlichkeit eine Struktur aus eigenem Recht ist, kann sie die herrschaftlegitimierende Funktion ausüben, die beispielsweise Habermas ihr attestiert. Wo sie nicht unabhängig bleibt, legitimiert sie auch nicht mehr, da sie sich umgekehrt selbst von der Obrigkeit legitimieren läßt. In der Schicht der „Bildungspolitiker" verband sich die BildungsÖffentlichkeit eng mit der der Macht. Die Bischöfe von Speratus und Queiß bis Wigand nutzten ihr kirchliches Amt dazu, bildungspolitische Leitlinien festzusetzen und Anregungen zu geben. Sofern sie wie Bischof Wigand persönlich visitierten, beteiligten sie sich an der Kontrolle der Bildungs-Öffentlichkeit. Herzog und Landtag wiederum ergriffen kirchen- und bildungspolitische Initiative, indem sie die Kirchenordnungen beschlossen, an Visitationen mitwirkten und gemeinsam die Gründung der Universität verantworteten. Kraft seines Summepiskopats setzte der Landesherr das offizielle Bekenntnis der Landeskirche fest. Herzog Albrecht und alle nachfolgenden preußischen Herrscher nutzten die Möglichkeiten ihres „Notbischofs"-Amtes aus. Herzog Albrecht begünstigte den Osiandrismus, obwohl er ihn nicht gegen den Widerstand der Pfarrerschaft durchsetzen konnte. Herzog Georg Friedrich ließ den mißliebigen Streiter Tileman Heßhus absetzen und des Landes verweisen und verzichtete bewußt auf die Neubesetzung der Bischofsstühle, um eine konkurrierende kirchliche Gewalt nicht aufkommen zu lassen. Kurfürst Johann Sigismund folgte derselben kirchenpolitischen Linie, zumal ein lutherischer preußischer Bischof leicht eine kirchliche Opposition gegen den calvinischen Kurfürsten hätte sammeln können. Kraft des Summepiskopats bildete der Herzog sowohl die Spitze der Macht- als auch der Bildungs-Öffentlichkeit; und alle preußischen Herzöge nutzten diese Position und suchten sie zu erhalten. Die Macht-Öffentlichkeit bestimmte ferner sehr weitgehend die Auswahl und Einsetzung der Vermittler. Pfarrer wurden vom Herzog, den Regenten oder von adligen Zwischenobrigkeiten bestimmt, Universitätslehrer vom Herzog berufen. Die Berufung Oslanders setzte der Herzog 1548 sogar gegen den Willen der Fakultät durch1598.

1598 Zi e ge r 22; Ommler 150.

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Die Vorgänge um Oslander zeigen jedoch, in wie starkem Maße die Religion ihrerseits die Politik zu beeinflussen vermochte. Herzog Albrecht förderte Oslander aus persönlicher Uberzeugung und versuchte, die Kirche des Landes insgesamt zum Bekenntnis im Osiandrischen Sinne zu bewegen. Gegen den Widerstand seiner Untertanen konnte der Herzog die osiandrische Richtung zwar favorisieren, nicht aber durchsetzen. Einesteils war seine Position innerhalb der Machtwirklichkeit dafür doch zu schwach. Er hätte fürchten müssen, zwischen die Ansprüche seiner Stände und der Krone Polen zu geraten, wenn er den Konflikt auf die Spitze getrieben hätte. Andernteils wirkte sich in der Konfliktsituation die Tatsache aus, daß Uberzeugungen durch Gewalt zwar unterdrückt, aber nicht beseitigt werden können. Sie legitimierten sich ihrem Selbstverständnis nach nicht anders als die obrigkeitliche Gewalt, denn Religion und Obrigkeit leiteten beide ihren Auftrag von Gott ab. Im Konfliktfall erwies sich daher die religiöse Uberzeugung einzelner als unabhängig von obrigkeitlicher Gewalt. Die Widersetzlichkeit vieler „Privatpersonen" summierte sich zu einem Faktor von „öffentlicher", in diesem Falle territorialpolitischer Bedeutung, auf den der Herzog Rücksicht nehmen mußte. Religion und Theologie schrieben nicht nur dem Herzog Teile seiner Politik vor, sondern bewogen auch seine Untertanen, sich je nach ihrer Überzeugung dem Herzog zu widersetzen oder seine Politik zu unterstützen. Inhalte der theologischen Debatte bestimmten die Politik unmittelbar. Auch in der Form der Auseinandersetzung diktierte die Theologie das Gesetz des Handelns. Herzog Albrecht konnte im Streit mit den Theologen und seiner Pfarrerschaft nicht hoffen, durch politische Gewaltanwendung zu siegen. Er mußte sich nach den Regeln des gelehrten Gesprächs richten und zum Beispiel Bekenntnisschriften formulieren1599. Die Bildungs-Offentlichkeit, die er 1525 durch den Anstoß zur Reformation und 1544 durch die Gründung der Universität entscheidend ge1599 Bsp.: Bekenntnis Albrechts von 1564, Bruchstück eines Drucks, EM 96 g 3, Nr. 1, 22 r—25 v. Vgl. ferner Hubatsch, Kirche I, 85. Schwarz, Reinhard: Meditation, Gebet und Bekenntnis. Ein Beispiel des Herzogs Albrecht von Preußen (1490—1568), in: Luther, Zeitschrift der Luther-Gesellschaft, 61/1990, H. 2, 66, weist darauf hin, daß die gedruckte Form des „Bekenntnisses] einer christlichen Person" im Gottesdienst verwendet werden sollte. Vgl. ferner Koch, Franz: Die Konfession des Herzogs Albrecht von Preussen vom 13. Juli 1554, in: ARG 5/1907—1908, 171—190; Spitta, Friedrich: Die Bekenntnisschriften des Herzogs Albrecht von Preußen, in: ARG 6/1908—1909, 1—155.

284

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

formt hatte, entzog sich nicht nur den herzoglichen Befehlen, sondern zwang den Herzog sogar, ihre eigenen Mittel der Diskussion anzuwenden. Die von der Tätigkeit des Herzogs geprägte Bildungs-Öffentlichkeit war nicht von Anfang an unabhängig von ihm, aber sie wurde es allmählich. In dem Maße aber, in dem sie unabhängig wurde, beeinflußte sie ihrerseits das politische Leben, legitimierte tatsächlich Herrschaft und prägte Formen und Inhalte der Politik. Die Unterdrückung von Konfessionsrichtungen gelang allerdings doch, sobald ihnen der Rückhalt des „Auslandes" fehlte. Die Osiandrische Konfessionsvariante verschwand nach 1566. Aber gerade die Wiederherstellung der Orthodoxie beruhte nicht auf einem politischen Machtwort, sondern wurde von der Bildungs-Öffentlichkeit selbst verantwortet, von der Synode und den Bischöfen. Noch in der Niederwerfung des Osiandrismus schrieb die gelehrte Öffentlichkeit der politischen das Programm. Aufgrund der orthodoxen Festlegungen wurde der Lehrstreit in der Preußischen Kirche vorläufig beendet, das Bekenntnis Preußens für lange Zeit entschieden. Die Kirchenordnung von 1568 fixierte Kultus und Lehre, wie sie fortan in Preußen gelten sollten. Die „Repetitio corporis doctrinae" (1567) legte die protestantische Lehre für Preußen noch einmal verbindlich fest. Das Privilegium Lublinense vom 19. Juli 1569 machte das Luthertum in Preußen zur Staatsreligion und schloß Dissidenten von Staatsämtern aus1600. Das Verhältnis der neu entstandenen Orthodoxie zur Macht-Öffentlichkeit blieb verborgen, solange nicht ein politischer Konflikt es offenbar machte. Im 17. Jahrhundert brachen Konflikte gleich an drei Stellen aus: durch die Berufung der Vettern von Dohna zu Regenten, durch die polnische Forderung nach Religionsfreiheit für Katholiken und schließlich durch den Ubertritt des Kurfürsten Johann Sigismund zum Calvinismus. Die Dohna gehörten zu den der Herzogsgewalt loyalen Familien. Deshalb waren sie der opponierenden Adelspartei verdächtig, ebenso aber aus konfessionellen Gründen, denn sie zeigten Sympathien für den Calvinismus. Fabian von Dohna der Ältere hatte schon unter Georg Friedrich Karriere gemacht und war Oberburggraf geworden1601. 1608 hatte er aus Gesundheitsgründen um Dienstentlassung nachgesucht, dann aber sein Amt doch behalten, um die kurfürstliche Autorität zu 1600 ßreysig 48, Anm. 2. 1601

Zum Folgenden vgl. Immekeppel 61.

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stützen. Der opponierende Adel verlangte den Rücktritt Dohnas, weil er freundschaftlich mit den landfremden Berliner Räten verkehrt habe und weil er Calvinist sei. „Der Kerl mues weg", bedeutete man kurz und bündig dem kurfürstlichen Sekretär Reichardt Beyer1602. Absetzen konnten die Stände ihn jedoch nicht aus eigener Macht. Sogar die polnische Kommission von 1609 entschied, daß er sein Amt behalten dürfe, da er öffentlich sein Glaubensbekenntnis abgelegt hatte und keine Abweichungen von der lutherischen Lehre festgestellt worden waren1603. Erst 1612 reichte der ältere Dohna sein Entlassungsgesuch ein1604. Aber bald erhob sich neuer Streit um die Familie Dohna, sowohl aus politischen als auch aus konfessionellen Gründen. Zwei Neffen des älteren Dohna, Fabian und Friedrich1605, hatten zu gleicher Zeit hohe Amter in Preußen erhalten. Fabian Dohna der Jüngere war Hauptmann von Brandenburg und damit Landtagsdirektor; außerdem verwaltete er das Amt Mohrungen1606. Friedrich von Dohna war als Obermarschall einer der Regenten1607. Gegen diese Ämterhäufung in einer Familie protestierten die Stände und brachten dabei auch vor, daß Fabian von Dohna Calvinist sei, also nach dem Lubliner Privileg kein öffentliches Amt in Preußen bekleiden dürfe1608. Mit ihrer Argumentation suchten sie Unterstützung beim König von Polen und erhielten sie auch. Der König bestätigte durch Reskripte von 1615 und 1616 ausdrücklich das Lubliner Privileg1609. Außerdem gestattete er im November 1615 die Versammlung der Landräte, auf der sie sich gegen die Begünstigung des Calvinismus wehren wollten1610. Obwohl der Kurfürst protestierte, wurde Fabian von Dohna durch ein königliches Dekret vom 6. Oktober 1616 als Hauptmann von Brandenburg abgesetzt1611.

1 6 0 2 Otto von der Groeben zu Reichardt Beyer, nach dem Bericht Beyers über den Landtag in Königsberg vom 26. September/6. Oktober 1608, Klinkenborg 4, 151. Zu Beyer vgl. Immekeppel 104. 1 6 0 3 Acta et Decreta commissionis, 1609, Privilegia 104 v. 1 6 0 4 Immekeppel 101. 1 6 0 5 Immekeppel 102. 1 6 0 6 Immekeppel 113 f. 1 6 0 7 Immekeppel 127. 1608 Immekeppel 114. 1 6 0 9 Kniebe 72 f. 1 6 1 0 Kniebe 73. 1 6 1 1 Zum Folgenden vgl. Decretum S. R. M. ratione remotionis D. Fab: a Dohna, 6. Oktober 1616, Opr. Fol. 613, 41 r.

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II. Die Öffentlichkeit der Bildung

König Sigismund EL führte allerdings zur Begründung keine theologischen Argumente an, sondern berief sich auf Formfehler bei der Berufung. Die konfessionellen Begründungen erschienen ihm offenbar nicht zwingend. Er konnte sich auch gegen den Willen des Kurfürsten nicht durchsetzen. Dohna blieb im Amt. In einem Responsum von 1617 widerrief König Sigismund seine Entscheidung: Fabian von Dohna dürfe sein Amt behalten, wenn die preußischen Stände das einstimmig befürworteten; während Friedrich das Obermarschallsamt abgeben müsse1612. Schließlich durfte auch Friedrich von Dohna im Amt bleiben1613. Die Kontroverse hatte weder am Machtgleichgewicht noch an der Amterhäufung bei den Dohna etwas geändert. Konfessionelle Argumente ließen sich im Konflikt um die Familie Dohna nicht überhören; aber ebenso unüberhörbar lieferten sie nur den Vorwand für eine politische Auseinandersetzung. Hätten die Stände die Familie Dohna des Calvinismus wegen bekämpft, so hätten sie einmütig handeln und aufgrund des Lubliner Privilegs ihre Position ohne weiteres durchsetzen können. Daß die Stände insgesamt dem Calvinismus feindlich gegenüberstanden, sieht man an ihrer einhelligen Weigerung, sich dem kurfürstlichen Konfessionswechsel anzuschließen. In der Sache Dohna aber reagierte der Landtag zwiespältig, er teilte sich entsprechend den politischen „Fraktionen". Nur die „querulierende" Adelspartei hielt den Calvinismus Dohnas für so wichtig, daß er zur Amtsenthebung führen müsse, während die „Protestierenden" und die Städte dagegen argumentierten oder auf konfessionelle Fragen gar nicht eingingen1614. Auf polnischer Seite spielte überhaupt nur die Korrektheit des politischen Berufungsverfahrens eine Rolle. In der Auseinandersetzung um die Familie Dohna überwog das politische Moment gegenüber dem konfessionellen. Die querulierenden Adligen wollten in den Dohna eine dem Herzog loyale Familie politisch entmachten. Zugleich bot das Eingreifen in der Sache Dohna dem Adel die Möglichkeit, in das kurfürstliche Recht der Ämterbesetzung einzugreifen, wie er es schon früher versucht hatte. Der Calvinismus der Dohna wirkte sich für sie und für den Kurfürsten sozusagen als politische Schwäche aus, weil beide aufgrund ihres Bekenntnisses angreifbar wurden. Da der König aber das konfessionelle

1612

Königliches Responsum vom 4. März 1617, Privilegia 149 r. Immekeppel 124. 1614 Immekeppel 126 f. 1613

Macht- und Bildungs-Öffentlichkeit

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Argument nicht aufnahm, blieb die Familie Dohna in ihren Ämtern ungefährdet. Der zweite Konflikt, in dem im frühen 17. Jahrhundert konfessionelle Argumente zu politischen Themen wurden, betraf die Religionsfreiheit der katholischen Einwohner Preußens — die es trotz obrigkeitlichen Luthertums geben durfte, weil nach katholischer Interpretation der Lubliner Vertrag das Luthertum nur neben der katholischen Religion zuließ, aber nicht als allein gültig vorschrieb1615. Der Belehnungsvertrag von 1611 verpflichtete Johann Sigismund, den preußischen Katholiken mehr Rechte zuzugestehen1616. Sie sollten freien Zugang zu öffentlichen Amtern bekommen und protestantische Kirchen mitbenutzen dürfen. Adlige erhielten das Recht, auf ihren Gütern den katholischen Kult einzuführen. Katholiken sollten sich beim polnischen König beschweren dürfen, wenn sie in ihrer Religionsausübung behindert oder gekränkt würden. Schließlich verpflichtete sich Kurfürst Johann Sigismund, den katholischen Einwohnern Königsbergs mindestens eine Kirche einzuräumen1617. Über eine zweite Kirche wollte der König mit den Ständen durch Kommissare verhandeln. Der Kurfürst war zu dem Zugeständnis bereit, aber die Stände wehrten sich. Sie erklärten, alle ihre Kirchen würden für den evangelischen Gottesdienst gebraucht1618. Der polnische König mahnte das Zugeständnis mehrmals an, erreichte jedoch nichts; die zweite Kirche wurde 1612 auf kurfürstliche Kosten gebaut1619. In dem Streit um die Religionsfreiheit für Katholiken im Herzogtum Preußen ließen sich Konfessions- und Machtfrage fast nicht voneinander trennen. Zwar argumentierten König und Herzog nach außen sozusagen technisch und juristisch: Der König berief sich auf den Belehnungsvertrag, die preußischen Stände führten die Größe ihrer Gemeinden als Begründung für ihre Weigerung an. Die technischen Argumente verschleierten jedoch, daß beide Seiten einen Kampf um die Geltung politischer und religiöser Machtansprüche austrugen. Konnte der polnische König einen katholischen Kirchbau in Königsberg durchsetzen, so bedeutete das einen Machtgewinn sowohl für den König als auch für die katholi1615

Hubatsch, Kirche I, 107. Zum Folgenden vgl. Literae reversales des Kurfürsten Johann Sigismund, 26. Mai 1612 Opr. Fol. 594 a, 100 v—101 v; Datierung ebenda 107 r. 1617 Zum Folgenden vgl. Opr. Fol. 594 a, 101 v—103 r. 1618 Bedenken der drei Stände, übergeben am 10. März 1612, Opr. Fol. 604, pag. 96—98; Datierung ebenda pag. 95. 1619 Immekeppel 96; 98; Breysig 134. 1616

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II. Die Öffentlichkeit der Bildung

sehe Kirche. Gelang es ihm nicht, war nicht nur er, sondern auch der Katholizismus als Macht getroffen. Möglichkeiten und Grenzen der gelehrten Öffentlichkeit als einer herrschaftlegitimierenden Kraft zeigten sich am deutlichsten an dem Konflikt um die Konversion des Kurfürsten Johann Sigismund. Gemäß dem allgemeinen fürstlichen Selbstverständnis der Zeit hätte der Kurfürst sich bemühen müssen, das Territorium zu reformieren, dessen Herrschaft er antrat. Eine calvinistische Reformation Preußens aber hätte ihn gegenüber dem polnischen König in eine schwierige Lage gebracht, da das Lubliner Privileg nur die lutherische Lehre anerkannte und selbst sie dem Herzogtum nur zugestanden worden war und nicht gern gesehen wurde. Auch das Votum der Stände konnte der Kurfürst nicht vernachlässigen; diese aber weigerten sich, zum Calvinismus überzutreten. Johann Sigismund versuchte zwar, auch in Preußen öffentlich reformierten Gottesdienst halten zu lassen1620, mußte aber vor dem Druck der Stände zurückweichen. Wenn ein reformierter Gottesdienst stattfand, mußte der Kurfürst zumindest vor den Ständen erklären, daß es sich nur um „private" Religionsausübung handele1621. Außerdem versuchte er, sich als „Augsburgischen Konfessionsverwandten" hinzustellen, damit sein Glaubensbekenntnis nicht politisch angefochten werden könnte1622. Dem Kurfürsten galt der Calvinismus gewiß als herrschaftlegitimierende Lehre. Er konnte ihm aber in Preußen nicht zu öffentlicher Geltung verhelfen und mußte sich mit dem „privaten" Gottesdienst begnügen, dem die Stände nicht entgegentraten. Aus ständischer Sicht schuf die Konversion eine kaum weniger prekäre Lage. Sofern Religion wirklich Herrschaft legitimierte, mußte die Herrschaft eines „ketzerischen" Fürsten wo nicht illegitim, so doch als von Gott verhängte Strafe erscheinen. Aber auf eine Herzogsgewalt überhaupt zu verzichten, verboten sowohl die lutherische Obrigkeitslehre (Rom. 13,4) als auch die politische Vernunft. Denn die Alternative war, direkt unter die Herrschaft des katholischen polnischen Königs zu 1620 Resolution des Kurfürsten auf die Gravamina der Stände am 28. Mai 1618, Opr. Fol. 630, pag. 295 f.; Replik der Landräte ebenda 300; Replik der Ritterschaft ebenda 303. So geschehen in der Resolution des Kurfürsten auf die Gravamina der Stände am 28. Mai 1618, in der der Kurfürst erklärte, der reformierte Gottesdienst sei nur ein Zeichen der Rücksicht gegenüber den holländischen Gesandten, Opr. Fol. 630, pag. 295 f. 1622 Immekeppel 133 f. 1621

Macht- und Bildungs-Öffentlichkeit

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geraten, was die Stände noch weniger ertragen hätten. So setzten sie sich aus politischen Gründen für die Belehnung der brandenburgischen Kurfürsten mit Preußen ein, auch wenn sie den Bekenntniswechsel Johann Sigismunds nicht billigten. Während in der Reformationszeit die Bildungs-Öffentlichkeit mit ihren Inhalten tatsächlich die Politik beeinflussen konnte, änderte sich das Bild nach der Entstehung der Orthodoxie. Im frühen 17. Jahrhundert dienten in Preußen konfessionelle Argumente großenteils nur noch als Staffage politischer Machtkämpfe. Wo das konfessionelle Moment hervortrat wie in der Konversion Johann Sigismunds, gelangte es nicht zu weitreichender politischer Wirkung. Die Argumente der gelehrten Öffentlichkeit beeinflußten die Politik nicht mehr. Großen Einfluß hatte die gelehrte Öffentlichkeit hingegen bei der Formung, Vermittlung und Veränderung des traditionellen Bildungsguts. In diesem Bereich griff die Machtwirklichkeit nur äußerlich ein. Nur wo die gelehrte Welt es selbst billigte, konnte eine weltliche Obrigkeit inhaltliche Vorgaben oder Vorschriften durchsetzen. Da die gelehrte Öffentlichkeit sich nur begrenzt von der politischen unabhängig machen konnte, legitimierte sie Herrschaft nur in begrenztem Maße. Wohl aber konnte die Herrschaft durch sie zu bestimmten Akten verpflichtet werden, die, wie Zensur und andere Arten der Verhaltensnormung, auf die gelehrte Welt selbst zurückwirkten und sie ihrerseits formten.

4. Das Eindringen „gelehrter" Entscheidungsprinzipien in die politische Kommunikation Stärker wirkte die gelehrte Welt auf die Form der Auseinandersetzungen in der Politik ein. Denn indem die „personae publicae" begannen, mit Flugschriften und Traktaten für ihre Politik zu werben, übernahmen sie einen Brauch der gelehrten Welt. Sie erkannten an, daß sie sich vor einer „Öffentlichkeit" zu legitimieren hatten, die über die Teilnehmerkreise der Macht-Öffentlichkeit hinausreichte. In Preußen nutzte als erster Herzog Albrecht selbst das Mittel des politischen Traktates, um sein Bekenntnis zur Lehre Luthers zu verteidigen. Wie die Adressenliste des Begleitschreibens1623 zeigt, wollte Albrecht mit seiner Schrift gezielt ins Reich wirken und dort werben. Das Schreiben von Traktaten 1623

HBA Konz. Η 1264,29. Oktober 1526,2 r—6 r.

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IL Die Öffentlichkeit der Bildung

entsprach damals noch nicht den Gepflogenheiten der politischen Öffentlichkeit — König Sigismund der Alte reagierte empört und meinte, es zieme sich nicht für regierende Häupter, ihre Politik durch den Traktat zu rechtfertigen. Im Laufe des 16. Jahrhunderts wurde es jedoch im ganzen Reich selbstverständlicher, politische Fragen mittels Traktaten zu diskutieren. Spätestens nach 1600 gehörten auch in Preußen Traktate zu den anerkannten Mitteln der Politik, wenn auch die monarchische Gewalt gelegentlich glaubte, gegen solche „Schmähschriften" einschreiten zu müssen. Das „Publikum" politischer Öffentlichkeit reichte nun, ähnlich wie das gelehrte, über die Grenzen des Territorialstaates hinaus; und auch in ihrer zunehmenden Schriftlichkeit hatte sich die Kommunikation in der politischen Welt dem gelehrten Disput angeglichen. Doch die formale Angleichung an die Gebräuche der gelehrten Welt reichte noch weiter. In einem Traktat konnte nicht, wie es bisher in der Politik üblich gewesen war, der Kompromiß oder Konsens als Entscheidungskriterium und Richtschnur des Handelns gelten — schon deshalb nicht, weil der Verfasser eines Traktats mit seinem Kontrahenten nicht unmittelbar verhandeln und sich mit ihm einigen kann. Weil der politische Traktat mittelbar sprach wie die theologische Flugschrift, mußte er die Entscheidungskriterien der Flugschrift übernehmen. Er suchte seine Argumente logisch aufeinander aufzubauen und orientierte seine Entscheidung an einem von Verhandlungen unabhängigen Maßstab, an äußeren, nachprüfbaren Autoritäten, meist Schriften. Ein Maßstab unabhängig vom Prozeß des Verhandeins aber verträgt sich nicht mit dem Konsensprinzip. Eine als Kompromiß ausgehandelte Entscheidung kann ein „Sowohl-als-auch" zulassen. Eine Entscheidung dagegen, die einem verhandlungsunabhängigen Maßstab entsprechen und Widerspruchslosigkeit herstellen soll, ist prinzipiell unfähig zum Kompromiß. Der politische Traktat mußte kraft seines Formgesetzes kompromißlos argumentieren, während in der politischen Welt des 16. und frühen 17. Jahrhunderts jeder Verhandlungsschritt und erst recht jede Entscheidung von Kompromissen und Konsens geprägt waren. Durch seine Orientierung an verhandlungs-unabhängigen Maßstäben geriet der politische Traktat leicht in einen Gegensatz zu den Gesetzen der politischen Welt. Als Fabian Burggraf von Dohna 1606 seine „Vermahnung an alle Stände des Herzogtums Preußen" schrieb, schwankte er sichtlich zwischen den Maßstäben der gelehrten und der politischen Welt. Einige seiner Argumente stützte er, ganz im Sinne der gelehrten Welt, auf schriftlich festgelegte „Autoritäten" wie Rechtsurkunden und

Macht- und Bildungs-Öffentlichkeit

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Privilegien. Beispielsweise verlangte er, die „neuen" Wünsche der Adligen sollten an den bestehenden Privilegien geprüft werden1624, „ob auch die neuen Petita mit den alten Privilegiis übereinstimmen, dann wann die alten mit den neuen Sölten über einen Hauffen gestoßen werden, so were es ein selzame unnd schedliche Verbeßerung." Andererseits führte er wertende Aussagen an, die seine Standesgenossen nur im Gespräch mit anderen Adligen hätten erfahren können. Er behauptete etwa, daß andere deutsche oder außerdeutsche Adlige nicht „so stattliche Privilegia" hätten wie die Stände des Herzogtums1425. Ein Argument wie das genannte war schon der Form nach auf das unmittelbare Gespräch und die Verhandlung angewiesen. Dohna richtete sich also nur teilweise nach externen Entscheidungsmaßstäben wie die gelehrte Welt. Auch ging er insgesamt nicht so weit, seinen Standesgenossen nach dem Maßstab einer autoritätsgestützten Wahrheit vorschreiben zu wollen, was sie zu tun oder wie sie zu entscheiden hätten. Die endgültige Entscheidung über die Wünsche des Adels konnte sich Dohna nur als Konsequenz einer Verhandlung zwischen Fürst und Ständen vorstellen1626, nicht als Resultat eines Prinzipienstreites. Für die politische Publizistik bedeutete das Festhalten an verhandlungsgebundenen Entscheidungsmßstäben eine Beschränkung. Politische Traktate, wie Dohna sie verstand, konnten Argumente sammeln und begründen, nicht aber notwendige Konsequenzen angeben oder gar Ziele vorschreiben. Dazu hätte es eines externen, von der politischen Diskussion unabhängigen Maßstabes bedurft, etwa eines konfessionellen Standpunktes oder eines festen Rechtsprinzips, die allgemeine Verbindlichkeit hätten beanspruchen können. Dohna als überzeugter Calvinist kannte zwar solche Prinzipien, wandte sie aber in der Politik nicht an. Er trennte klar zwischen den Aufgabenbereichen des politischen Konsenses und der religiösen Wahrheit. Dadurch konnte er aber auch nicht so drängend und unbedingt zu Entscheidung und Handeln aufrufen, wie es ein religiös begründeter politischer Traktat vermocht hätte. Leichter ließ sich der externe Maßstab auf dem Gebiet des Rechts gewinnen. Zwar „fand" man das Recht noch im 16. Jahrhundert großenDohna, Vermahnung, zitiert nach Seraphim, Denkschrift, 124. ebenda 125. 1626 ebenda 131. 1624

1625

292

II. Die Öffentlichkeit der Bildung

teils durch Verhandlung. Aber für Recht und Unrecht gab es feste Maßstäbe; bestimmte allgemeine Verfahrensregeln durften im politischen Leben auf keinen Fall gebrochen werden. Es galt als unrecht, das „Haus" eines Gegners zu überfallen — außer in einer Fehde — oder geschlossene Verträge nicht einzuhalten. Auch wenn die Regeln rechten politischen Verhaltens nicht schriftlich festgelegt waren, konnte jeder Verfasser eines politischen Traktats davon ausgehen, daß sein Leser sie kannte und sich an sie gebunden fühlte. Einem politischen Gegner einen Verstoß gegen die akzeptierten Verfahrensregeln nachzuweisen, bildete ein wirkungsvolles und oft gebrauchtes Argumentationsmittel politischer Publizistik. Der livländische Kanzler Christoph Botticher versuchte 1561, den livländischen Ordensmeister publizistisch zu treffen, indem er ihm vorwarf, der Meister habe seine schriftliche Zusicherung nicht eingehalten, Botticher ein heimgefallenes Lehen zu geben1627. Die fraglichen Verschreibungen ließ Botticher in seiner Schrift gleich als Belege mitdrucken. Ein anderer livländischer Publizist derselben Zeit, der Landmarschall Caspar von Münster, setzte seine Widersacher bei den möglichen Lesern der Schrift ins Unrecht, indem er schilderte, wie seine Feinde unverhofft sein Schloß Dünamünde überfallen hätten1628. Die beiden livländischen Adligen bezogen den Maßstab ihrer Argumentation nicht aus konfessionell akzeptierten gelehrten Autoritäten, sondern aus der allgemeinen Rechtsüberzeugung — wenn man will, aus der politischen Sitte. Sie war nicht wie eine wissenschaftliche „Wahrheit" jener Zeit an Autoritäten abgesichert, sondern gründete in einem Konsens, nämlich der allgemein akzeptierten Uberzeugung von den in Recht und Politik notwendigen und erlaubten Handlungsweisen. Man könnte von einem Maßstab der „konsensgestützten Wahrheit" sprechen, der in der rechtlich argumentierenden Publizistik üblich war. Bei diesem Maßstab beruhte die „Wahrheit" eines Arguments auf einem Konsens, allerdings nicht auf einem von Fall zu Fall ausgehandelten, sondern auf einem Konsens, der als althergebracht, allgemeingültig und beständig gedacht wurde. Der „autoritätsgestützten Wahrheit" der gelehrten Welt glich die konsensgestützte darin, daß sie als Maßstab des Urteils Allgemeinverbindlichkeit beanspruchte. Beide Arten der Begründung duldeten keinen Widerspruch. Sie lieferten damit ein Entscheidungsprinzip, 1627

Zum Folgenden vgl. Botticher, Wunderbarliche Handlung, A 3 ν—C 4 r; D 2 r—D 3 v. 1628 Caspar von Münster, Warhafftiger Bericht, C 2 r sq.

Macht- und Bildungs-Öffentlichkeit

293

das von Verhandlungspositionen oder Verhandlungsergebnissen unabhängig war. In gewissem Sinne machten politische Traktate die Argumente der Politik berechenbarer. Die „personae publicae" legten sich auf bestimmte Begründungen und Argumentationsweisen fest; und es konnte sich in der Politik wie in der gelehrten Welt eine Art Kanon akzeptierter Argumente herausbilden, auf die sich stützen mußte, wer seine Politik wirkungsvoll verteidigen wollte. Damit wuchs aber auch die Gefahr, daß die akzeptierten Argumente nur zum Schein gebraucht würden und sich zur bloßen Fassade des politischen Geschäfts entwickelten — wie es den konfessionellen Argumenten im 17. Jahrhundert bereits geschah. Jeder der Beteiligten an der politischen Auseinandersetzung behauptete, nach konfessionellen Prinzipien zu handeln, die keinen Widerspruch und keinen Kompromiß duldeten. Die politischen Verhandlungen aber gehorchten weiterhin dem Konsensprinzip. Religiöse Legitimation und politischer Alltag schieden sich voneinander, weil sie unterschiedlichen Prinzipien verpflichtet waren. Die Religion wurde zur bloßen Außenansicht ganz anders gearteter politischer Vorgänge. Die Legitimation von Politik mit Hilfe verhandlungs-unabhängiger Maßstäbe lieferte den „personis publicis" also nicht nur neue Argumente, sondern warf auch neue Probleme auf. Im politischen Traktat stellte sich Politik als Handeln nach verhandlungs-unabhängigen Grundsätzen dar, während der politische Alltag auf Verhandlung und Konsens beruhte. Keine politische Handlung kann dem verhandlungs-unabhängigen Maßstab genügen, den die politische Publizistik aufstellt; zwischen ihnen besteht immer ein Widerspruch. Deshalb kann jeder externe Maßstab nicht nur zur Rechtfertigung einer Politik verwendet werden, sondern auch und zugleich zur Kritik an ihr. Die Prinzipien der gelehrten Welt können jede Politik fragwürdig erscheinen lassen, weil der Anspruch auf „Wahrheit", wie auch immer begründet, sich mit dem politischen Verfahren des Konsenses nicht vereinbaren läßt. Auf lange Sicht konnten die externen Maßstäbe das System konsens-orientierter Politik sprengen, sobald der Widerspruch zwischen politischem Konsens und verhandlungs-unabhängiger „Wahrheit" erkannt und für überwindbar gehalten wurde.

DRITTES KAPITEL

Die Öffentlichkeit der Informationen

I Teilnehmerkreise 1. „Alles Volk" Wie alle „Öffentlichkeiten" der Frühen Neuzeit setzte sich auch die Öffentlichkeit der Informationen aus Schichten unterschiedlichen Öffentlichkeitsgrades zusammen. Der Schicht höchster Öffentlichkeit gehören nur solche Informationen an, die von allen ihrer Sinne mächtigen Menschen aufgenommen werden können1629, unabhängig von Herkunft, Sprache oder Bildungsvoraussetzungen der Rezipienten. Die Gesamtheit der ihrer Sinne Mächtigen, die eine Information aufnehmen können, hat keinen unterscheidenden Namen. Man könnte sie als ein „Publikum" bezeichnen1630. Der Ausdruck würde aber eher Verwirrung stiften, da auch die Zuhörer etwa einer Vorlesung oder Predigt, die zur BildungsÖffentlichkeit gehören, ein „Publikum" genannt werden können. Luther nannte die Empfänger einer Information von höchster Öffentlichkeit — unschärfer, aber genau — „alles Volk" 1631 . In der Öffentlichkeit der Informationen, aber nur dort, sind die Aufnehmenden einer Information Personenkreise von hoher Öffentlichkeit, während nur Aufnehmende in der Bildungs-Öffentlichkeit als minder öffentlich, in der Öffentlichkeit der Macht als ganz privat gelten. Im Vielvölkerstaat Preußen bildete die Vielzahl der Sprachen das größte Hindernis für „allgemeine" Verständlichkeit einer Information. Um wirklich „alles Volk" unabhängig von Herkunft und Sprache zu erreichen, durfte eine Information nicht sprachlich verschlüsselt sein. Sie mußte entweder bildlich weitergegeben werden oder als Zeichen an sich selbst oder mit einer einfachen Erklärung verstanden werden können. Das Bildflugblatt mit der Zeichnung einer Himmelserscheinung stellte

1629 1630 1631

Martens, Öffentlich, 42. Martens, Öffentlich, 33 f. Lk. 23, 48.

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

somit eine Information von höchstem Öffentlichkeitsgrad dar. Aber auch Signale wie die Leuchtfeuer oder die Kirchenglocken gehörten und gehören noch zu den sprachunabhängig verstehbaren Informationen. Im vor-elektronischen Zeitalter erreichten Informationen selten einen räumlich oder zeitlich gestreuten Kreis von Empfängern, ein „disperses Publikum". Räumlich weit drangen hauptsächlich akustische Informationen wie das Geläut der Kirchenglocken. Über Zeiten hinweg wirkten Informationen aus dauerhaftem Stoff, zum Beispiel Grenzsteine, Wegmarken oder der Galgen auf einem „öffentlichen", allgemein zugänglichen Platz. Räumliche und zeitliche Distanz gleichermaßen überwanden Informationen, die vervielfältigt werden konnten, etwa das Holzschnittbild für ein Flugblatt. In sehr vielen Fällen erreichten Informationen tatsächlich nur eine lokal eng begrenzte Empfängerschaft, so wie noch in der Gegenwart zum Beispiel ein Plakat, das an einem wenig besuchten Platz oder im Innern eines Gebäudes nur wenige Menschen sehen; ein Begräbniszug, den nicht gerade Fernsehen oder Hörfunk begleiten, oder eine per Megaphon verbreitete Mitteilung bei einer Kundgebung. Dennoch gelten und galten Informationen auch dann als öffentlich, wenn tatsächlich nur wenige sie aufnahmen. Die Öffentlichkeit von Informationen besteht darin, daß jeder in ihrer Nähe sie aufnehmen könnte, unabhängig von seiner Bildung oder seinem Stand, seiner Herkunft oder Sprache.

2. Die

Sprachgemeinschaft

Im Vergleich zu „allem Volk" bildet die Sprachgemeinschaft einen exklusiven, also minder öffentlichen Kreis von möglichen Informationenempfängern. Sie umfaßt nur die Menschen, die eine bestimmte Sprache sprechen oder als Zuhörer oder Leser verstehen können. Die Exklusivität der Sprachgemeinschaft bleibt verdeckt, wenn „alles Volk" eine einheitliche Sprache spricht oder zumindest versteht, also in geschlossenen Nationalstaaten ohne sprachliche Minderheiten, Ein- oder Zuwanderer. In einem mehrsprachigen Territorium aber, in der Frühen Neuzeit ebenso wie in der multikulturellen Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts, bildet sich durch Kommunikation in ausschließlich einer einzigen Sprache ein abgeschlossenes und ausschließendes „Publikum", das nur die Sprachgemeinschaft umfaßt.

Teilnehmerkreise

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Verschiedentlich haben Forscher das Entstehen eines Sprachgemeinschafts-„Publikums" mit dem Buchdruck in Verbindung gebracht. Marshall McLuhan formuliert in seinem Buch „Understanding Media" die These, das frühneuzeitliche Nationalgefühl der Völker in der Reformationszeit sei aus dem Erlebnis der gemeinsamen Sprache hervorgegangen1632, genauer, aus dem Sehen der einheitlichen Schriftsprache im Schriftbild der gedruckten und massenhaft hergestellten gleichen Exemplare von Büchern. Stellt man sich jedoch die sprachlichen Verhältnisse in Territorien deutscher Sprache im 16. Jahrhundert vor, so wird klar, daß diese These im Hinblick auf die deutsche Schriftsprache zumindest modifiziert werden muß. Von einem einheitlichen Erleben einer „deutschen" Sprache im 16. Jahrhundert kann nicht die Rede sein. Vom Hochdeutschen ins Niederdeutsche mußte übersetzt werden. Das Erlebnis sprachlicher Verschiedenheit durch den Buchdruck hätte nicht ein deutsches, sondern ein hoch- bzw. niederdeutsches SprachgemeinschaftsGefühl entstehen lassen müssen. Michael Giesecke formuliert deshalb zwar dieselbe These wie McLuhan, spricht aber vorsichtiger von der „ungeheurefn] Abstraktion", die die Schriftsprache gegenüber den gesprochenen Dialekten darstelle1633. Giesecke erklärt die Vorstellung von einer einheitlichen Sprache zur Ideologie: Das Gefühl, eine „Nation" zu sein, habe sich über die Vorstellung einer einheitlichen Sprache, nicht über das Erleben dieser Einheitlichkeit gebildet1634. Davon abgesehen, können Menschen die eigene Sprachgemeinschaft als von anderen verschieden erleben, ohne den Buchdruck oder auch nur eine Schrift zu kennen. Schon das gesprochene Wort kann die Verschiedenheit von Sprachen erleben lassen, indem einige das Mitgeteilte verstehen und ein „Publikum" bilden können, während andere fremd, vom Verstehen und damit vom „Publikum" ausgeschlossen bleiben. Nicht erst der Druck, sondern schon die mündliche Mitteilung macht deutlich, daß sich die Sprachgemeinschaft von „allem Volk" unterscheidet. Sofern das „Natio1632 ^The Printed Word. Architect of Nationalism", McLuhan, Marshall: Understanding Media. The extensions of Man, London (1964), 170—177; auch ebenda 14; 16. 1 6 3 3 Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien (Frankfurt/Main 1991), 496. 1 6 3 4 Giesecke, Buchdruck, 494—496; ähnlich ders.: Sinnenwandel. Sprachwandel. Kulturwandel. Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft (Frankfurt/ Main 1992), 109.

300

III. Die Öffentlichkeit der Informationen

nalgefühl" der Deutschen im 16. Jahrhundert überhaupt der Erfahrung verschiedener Sprachen und nicht etwa anderer kultureller Unterschiede entsprang, spricht weitaus mehr dafür, das gesprochene Wort statt des gedruckten für die neue Entwicklung verantwortlich zu machen. Informationen für eine Sprachgemeinschaft können mündlich oder schriftlich verbreitet werden. Die mündliche Information hat in der Regel den höheren Öffentlichkeitsgrad, weil sie Analphabeten nicht ausschließt. Mündliche Informationen, zum Beispiel Lieder, Gerüchte, Schwanke oder Spottverse, können auch von nicht Lesekundigen weitergegeben werden. Während in der Bildungs-Öffentlichkeit des 16. Jahrhunderts fast ausschließlich die ordnungsgemäß bestellten Vermittler Bildungsgüter weitergeben durften, gab es eine ähnliche Beschränkung in der Informationen-Öffentlichkeit nicht. Alle Mitglieder der Sprachgemeinschaft hatten prinzipiell die Möglichkeit, Informationen weiterzugeben. Dadurch konnten auch nicht lesekundige Mitglieder einer Sprachgemeinschaft an den Informationsprozessen aktiv teilnehmen. Rolf Engelsing formulierte prinzipiell, in nicht ausschließlich literarisch orientierten Gesellschaften könne der Analphabet „sowohl rezeptiv wie produktiv an der Kultur seiner Zeit teilnehmen"1635. Diese Aussage trifft aber für die europäische Kultur des 16. Jahrhunderts nur noch auf die Informationen-Öffentlichkeit zu. In der Öffentlichkeit der Bildung mußte der Analphabet, ja selbst der Nicht-Akademiker sich weitgehend auf das Aufnehmen vorgegebener Bildungsinhalte beschränken. Schriftliche Informationen erreichen auch in der InformationenÖffentlichkeit das intendierte Publikum nur dann, wenn es in der betreffenden Sprachgemeinschaft genügend Lesekundige gibt, die anderen vorlesen können. Sprachliche Informationen, die über eine Sprachgemeinschaft hinaus wirken sollen — etwa offizielle Texte in einem vielsprachigen Staat —, müssen übersetzt werden. Von preußischen offiziellen Mandaten aus dem 16. Jahrhundert existieren zum Beispiel polnische und litauische Texte1636. Ubersetzungen von Mandaten in die anderen

Engelsing, Rolf: Analphabetentum und Lektüre. Zur Sozialgeschichte des Lesens in Deutschland zwischen feudaler und industrieller Gesellschaft, Stuttgart (1973), XI; ähnlich Schön 60. 1 6 3 6 Bsp.: Mandat gegen umherziehende Schotten, 22. September 1589, deutsche Fassung: Verordnungen usw. insbesondere für das Herzogtum Preußen, Bd. 1 [offizielle Drucke aus Königsberg und Warschau, 1589—1649], Sammelband, SBPK Gu 570 1635

Teilnehmerkreise

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Volkssprachen Preußens haben sich nicht erhalten. Falls es keine schriftlichen Fassungen der Mandate in diesen Sprachen gab, müssen Tolken die vorgelesenen Texte quasi simultan übersetzt haben, wie es zur selben Zeit auch für die Predigten üblich war. Ein anderes Verfahren wandte ein Assessor des Samländischen Konsistoriums, David Gericke, im Samländischen Kreis an1637. Dort gab es viele litauischsprechende Einwohner, die kein Deutsch konnten. Dazu aufgefordert, den Pfarrern die Konkordienformel zur Unterschrift vorzulegen, ließ Gericke statt einer wörtlichen Übersetzung der Bekenntnisschrift eine summarische Zusammenfassung in litauischer Sprache vortragen. So hatte er es auch schon mit polnischen Pfarrern desselben Amtes gehalten, die kein Deutsch verstanden. Die Obrigkeit erkannte das Verfahren als korrekt an: Auf dem „Abschied" wurde vermerkt, Gericke dürfe der schon erprobten Vorgehensweise folgen.

3. Die „Lesewelt" Die kleinste und damit am wenigsten öffentliche Schicht der Informationen-Öffentlichkeit umfaßt die Lesekundigen, vor allem die regelmäßigen Leser, die „Lesewelt". Im Unterschied zu den Empfängern gesprochener oder nichtsprachlicher Informationen kann „die Lesewelt" räumlich weit gestreut sein. Informationen zum Lesen brauchen nicht die öffentlichen Plätze, an denen vorgelesen werden kann. Der Leser, in gewissem Sinne auch schon der Betrachter eines vervielfältigten Bildes, kann in seinem „Privat"gemach Teilnehmer an „öffentlicher" Kommunikation werden. Die Lesewelt bildet im vor-elektronischen Zeitalter den einzigen Kreis von Informationsempfängern, der räumlich weiter reicht als die „Nachbarschaft" oder die Zahl der Menschen, die sich auf einem „öffentlichen" Platz versammeln können. Informationsvermittlung an ein räumlich weit verstreutes Publikum gilt heute als selbstverständliches Kennzeichen von „Massenkommunikation" — was im übrigen zeigt, wie sehr unsere heutigen Begriffe von Kommunikation und Information von der Informationen-Öffentlichkeit fol., Nr. 8; dasselbe litauisch ebenda Nr. 9.; Ermahnung zum Kirchgang, polnische Fassung, zitiert nach Meckelburg 47. 1 6 3 7 Zum Folgenden vgl. Schreiben David Gerickes an die Oberräte [?], Abschied datiert vom 3. Juli 1579, EM 37 f 2, 4 r, Datierung 5 v. Zur Position Gerickes vgl. Hofstaatsverzeichnis [Ende 16. Jahrhundert] Opr. Fol. 13063, 155 r.

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

geprägt sind und nur auf sie passen. Für das 16. Jahrhundert war Informationsvermittlung an ein disperses Publikum höchst ungewöhnlich. Da die meisten Menschen noch nicht lesen konnten, spielten sich öffentliche Informationsvorgänge in der Regel mündlich ab. Sollten viele Menschen zugleich eine Nachricht erhalten, mußten sie sich auf einem allgemein zugänglichen Platz versammeln: auf dem Markt, in der Kirche, vor dem Amtshaus oder im Gasthof, wo jeder Beliebige hinzutreten konnte, um zuzuhören und die Information aufzunehmen. Mit „privater" Lektüre im abgeschlossenen Zimmer rechneten die meisten Nachrichtenvermittler nicht. „Neue Zeitungen" wurden vorgelesen oder vorgesungen, „öffentliche" Bekanntmachungen von der Kanzel oder vom Rathaus abgekündigt. Daß Menschen durch private Lektüre an einem Gespräch teilnehmen können sollten, das als öffentlich bezeichnet wird, mag den Lesern und Vorlesern der Reformationszeit paradox vorgekommen sein. Eine „Lesewelt", das disperse Publikum der Lesefähigen, setzt den Buchdruck beinahe zwangsläufig voraus. Zwar gab es vervielfältigte Informationen in Wort und Bild schon vor Gutenberg. Sie erlangten aber bei weitem nicht die Bedeutung und den Einfluß des gedruckten Buches. Mit gewissem Recht hat daher Marshall McLuhan das mit dem Buchdruck nach Gutenberg beginnende Zeitalter die „Gutenberg Galaxy" genannt1638. Von der Erfindung Gutenbergs bis zum Aufkommen des Films und der elektronischen Massenkommunikationsmittel im 19. und 20. Jahrhundert konnten sich disperse Publika nur durch den Buchdruck bilden. Der Buchdruck schuf das disperse Publikum; er ermöglichte das Entstehen der „Lesewelt". Freilich braucht Informationsvermittlung durch den Buchdruck nicht nur Druckereien, sondern auch eine ausreichende Zahl von Lesern. Eine „Lesewelt" kann sich nur dort entwickeln, wo Lesefähigkeit so allgemein geworden ist, daß sie allenfalls noch Randgruppen von der Aufnahme der schriftlich verbreiteten Informationen ausschließt, wo also das Lesepublikum mit der Sprachgemeinschaft annähernd übereinstimmt. Angesichts der Schul- und Bildungsverhältnisse im 16. Jahrhundert in Europa überhaupt und im Herzogtum Preußen im besonderen kann man daran zweifeln, ob es ein Publikum der Lesefähigen als selbständige Schicht der Informationen-Öffentlichkeit tatsächlich gab. Bis 1638 McLuhan, Marshall: The Gutenberg galaxy. The making of typographic man (London 1962); besonders ebenda 1—3; 90; „Gutenberg era" ebenda 125.

Teilnehmerkreise

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weit ins 16. Jahrhundert erschienen in Preußen keine Informationen, die ausschließlich zum Lesen und nicht auch zum Vorlesen bestimmt gewesen wären. Im gesamten deutschen Sprachgebiet richteten sich in der Reformationszeit volkssprachliche Mitteilungen nie nur an Lesekundige, sondern immer auch an Analphabeten. Rainer Wohlfeil schließt daraus, daß es in der Reformationszeit eine literarisch bestimmte Öffentlichkeit nicht gegeben habe1639. In dieser Radikalität läßt sich die These Wohlfeils jedoch nicht halten. Denn wenigstens eine einzige Sprachgemeinschaft setzte Lesefähigkeit zwingend voraus, nämlich die lateinische. Latein wurde fast nur im Zusammenhang mit der schriftlichen Kultur gelernt und gelehrt, auch mündliche Formen der Mitteilung wie die Vorlesung, die universitäre Disputation oder die lateinische Messe orientierten sich zumindest im 16. Jahrhundert an schriftlich überlieferten Texten. Da Latein fast ausschließlich Schriftsprache war, mußten Lateinkundige lesen können; die Sprachgemeinschaft war also mit der „Lesewelt" weitgehend identisch. Lateinkundige bildeten wirklich ein „Lesepublikum" — und ein „disperses", weil internationales Publikum obendrein. Daraus ergibt sich das Paradox, daß „Massenkommunikation" — im modernen Verständnis — in der Reformationszeit gerade unter den Lateinkundigen möglich war, aber nirgendwo sonst. Die lateinkundigen Teilnehmer an der Informationen-Öffentlichkeit kann man die Gebildeten nennen. Sie stehen den Gelehrten nahe, müssen aber nicht unbedingt eine akademische Ausbildung genossen haben. Lateinkenntnisse waren auch außerhalb der Gelehrtenwelt verbreitet, bei Adligen, „gelehrten" Räten, Kaufleuten und anderen städtischen Honoratioren. Informationen an die Gebildeten schlossen sich aber oft an die gelehrte Welt an. Lateinische Flugblätter wiesen häufig eine thematische Verwandtschaft zu einzelnen Fächern der Universitäten auf. Die Flugblätter beschäftigten sich etwa mit medizinisch oder astronomisch „interessanten" oder merkwürdigen Erscheinungen, wie die „Elegia de puero bifronte" des Dichters Cimdarsus aus Königsberg1640. Seiner hauptsächlichen Funktion nach stellte das Blatt Gebrauchs- und Verbrauchsinformation zur Verfügung, gehörte also eindeutig der Informationen-Öffentlichkeit an. Die Form der Elegie konnte allerdings nur ein

Wohlfeil, Reformatorische Öffentlichkeit, 45. Cimdarsus, Joachim: ELEGIA//DE PVERO BIFRONTE, QVI IN PAGO// POWETEN TRIBVS MILIARIBVS A REGIOMONTE BO-//russomm destante natus est XV. Aprilis Anno M.D. Lxxxj, Königsberg 1581. 1639

1640

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

„Gebildeter" schätzen, der sich außer im Latein auch noch in der Poetik auskannte. Lateinische Blätter standen zwischen Bildungs- und Informationen-Öffentlichkeit, so wie ihr Empfängerkreis, das Lesepublikum der Lateinkundigen.

π Informationsformen 1. Information durch Tatsachen im Gegensatz zu medialer Information Die einfachste und am ehesten allgemein zugängliche Form öffentlicher Information ist die durch »nackte", unvermittelte Tatsachen. Die öffentliche Verstümmelung eines Verbrechers macht Gewalt oder herrschaftliche Gerichtsbarkeit nicht zeichenhaft deutlich, sondern übt sie unmittelbar und sinnenfällig aus. Der Vollzug der Strafe selbst ist eine Information, die keine vermittelnden Zeichen nötig hat. Nach Ansicht mancher Theoretiker kann jede auch unbeabsichtigte Mitteilung Information genannt werden — Information gilt als „eine Eigenschaft von Materie"1541. Faßt man den Begriff „Information" so weit, dann gibt es schlechthin nichts, was nicht Information wäre. Jede Struktur oder Strukturveränderung könnte Information genannt werden — Licht oder elektromagnetische Wellen allerdings nicht, da sie nicht immer die Eigenschaften von Materie haben. Der genannte Informationsbegriff schlösse wichtige Informationsformen aus. In Bezug auf die Materie ließe er sich aber nicht abgrenzen und deshalb auch nicht als Instrument wissenschaftlicher Analyse einsetzen. Daher wird im Folgenden unter Information nur eine Mitteilung verstanden, bei der ein „Sender" die Absicht hat, einem „Empfänger" oder mehreren etwas mitzuteilen1642. Im Fall des öffentlichen Strafvollzugs „sendet" die Information der Scharfrichter, der die Verstümmelung ausführt. „Empfänger" sind alle, die dem Strafvollzug zuschauen oder zufällig zu Augenzeugen werden. Höchste Öffentlichkeit erlangt eine Information nur, wenn die

Giesecke, Buchdruck, 37. Cruse, Holk: Beispiele für Informationsverarbeitung im Zentralnervensystem, in: Weingarten, Rüdiger (Hg.): Information ohne Kommunikation? Die Loslösung der Sprache vom Sprecher (Frankfurt/Main 1990), 227. 1641

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

Absicht bestand, „alles Volk" zum möglichen Zeugen der Handlung zu machen. Informationen durch Tatsachen an „alles Volk" hingen häufig mit wichtigen Statusänderungen zusammen. Der Herrscher, der feierlich in seiner Residenzstadt einzog, machte damit „allem Volk" bekannt, daß er die Regierung angetreten hatte. Wie die Statuserhöhung, so wurden auch Erniedrigung und Ausstoßung aus der Gemeinschaft sinnenfällig vollzogen. Das Urteil gegen einen gefangenen Verbrecher wurde „öffentlich" vollstreckt. Missetäter, die Kirchenbuße leisten mußten, standen allen sichtbar am Pranger, auf Zeit ausgeschlossen aus der Gemeinschaft der Christen. Die Tatsache der Erhöhung oder Erniedrigung ließ sich ohne ein vermittelndes Zeichen erkennen. Die Vorgänge der Information durch Tatsachen müssen von symbolischen Handlungen unterschieden werden. Symbolhandlungen zeigen den Ubergang in einen anderen Rechtszustand zeichenhaft an; ihre Bedeutung ist nicht unmittelbar durch die Tatsache selbst sinnenfällig, sondern muß erklärt und gelernt werden. Die Symbolhandlung läßt sich mehrfach nach verschiedenen Hinsichten deuten und steht für ein Gefüge von Rechts- und Sozialbeziehungen, die bei der Veränderung des Rechtszustandes allesamt mit verändert werden. Eine Mitteilungsfunktion hat die Symbolhandlung in erster Linie gegenüber den unmittelbar Beteiligten. Ihnen macht sie die Änderung des Rechtsstatus in oft sehr handgreiflichen Zeichen deutlich. Zuschauer oder Zuhörer braucht die Symbolhandlung erst in zweiter Linie, als Zeugen und Bestätiger. Bei der Information durch Tatsachen dagegen wirkt die Tatsache der Ausstoßung aus einer Gemeinschaft oder der Aufnahme in einen Rechtsstatus unmittelbar selbst, nicht aufgrund einer zeichenhaften Bedeutung. Die Information als Handlung verändert weder Rechts- noch Sozialbeziehungen; denn die Veränderung ist meist vorher in einer symbolischen Zeremonie geschehen, ζ. B. durch Amtseinsetzung, Exkommunikation oder Stabbrechen. Deshalb gilt die Information durch Tatsachen nicht vornehmlich den Menschen, die an der Handlung beteiligt sind, sondern den Zuschauenden. Ihnen macht die Information etwas deutlich, und zwar ohne symbolische Vermittlung, durch sich selbst. Bei der Information durch Tatsachen stimmt der äußerlich wahrnehmbare Sachverhalt mit seiner Bedeutung, der Information, überein. Die Information wird unmittelbar, im-mediat, gegeben. Bei allen anderen Formen der Information ist der Sinn nicht mit der äußerlich wahrnehmbaren Gestalt der Information identisch. Die Information wird

Informationsformen

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durch Zeichen vermittelt, entweder durch hörbare wie Sprache und Musik oder durch sichtbare wie Handgesten, dingliche Zeichen oder die Schrift. Man könnte diese Zeichensysteme als Medien bezeichnen, um die mediale, vermittelte Information von der „immediaten" durch reine Tatsächlichkeit zu unterscheiden. Auch die alltägliche Sprache kennt dieses Verständnis von „Medium". Zum Beispiel kann man sagen, eine Tatsache sei „im Medium" der Sprache oder der Schrift mitgeteilt worden. Mit „Medium" ist in diesem Sprachgebrauch das Zeichensystem gemeint. Mit Bedacht wurde bisher vermieden, den Begriff „Medium" einzuführen; denn die wissenschaftlichen Begriffe von „Medium" sind kaum genauer als das Alltagsverständnis und lassen sich schwer mit ihm in Einklang bringen. Häufig wird der materielle Träger der Information als „Medium" bezeichnet, also Stein, Papier, aber auch die Luft, wenn sie Schallwellen bildet1643. Die materiellen Träger werden dadurch zu „Medien", daß sie Information tragen. Sie sind „informierte Materie oder materialisierte Information"1644. Folgte man dieser Definition, die von Michael Giesecke stammt, so gäbe es keine Kommunikation oder Information ohne Medien. Im Beispiel der öffentlichen Prangerstrafe stellte der Mensch das Medium dar, das die „Information" des Strafvollzugs leiblich trüge. Der Unterschied zwischen unmittelbarer Information durch Tatsachen und mittelbarer Information durch Zeichen würde durch die Definition Gieseckes verwischt. Eine noch umfassendere Definition von „Medium" findet man bei Marshall McLuhan. Er bezeichnet alle technischen „extensions" menschlicher Sinne und Nerven als „media"1645. Sie bestimmen nach McLuhan nicht nur Kommunikationsvorgänge, sondern entlasten den Menschen oder verstärken seine Sinnesleistungen1646. So schieben sich „media" als Mittelinstanzen zwischen Mensch und Welt überhaupt. Folgte man der Definition McLuhans, so bestünde zwar ein klarer Unterschied zwischen medialer und immediater Kommunikation. Dagegen geriete der Unterschied zwischen Kommunikationsmitteln und anderen Hilfsmitteln des Menschen außer Be1643 Giesecke, Buchdruck, 39; Wißmann, Rolf (Hg.): Die neuen Medien und was jeder davon wissen sollte, 2., überarbeitete Auflage, Heidelberg (1988), 16. 1644 Giesecke, Buchdruck, 38. 1645 McLuhan, Marshall: Understanding Media. The extensions of Man, London (1964), 4. 1646 Buch: McLuhan 28—32; Radio, Eisenbahn: ebenda 36; Automobil ebenda 46; 180 f.; 217—224.

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

tracht. Ein Kommunikationsmittel wie das Buch fiele unter dieselbe Kategorie „Medium" wie etwa eine Eßgabel. In einer Untersuchung über Kommunikations- und Informationsverhältnisse ließe sich der „Medien"begriff McLuhans nur schwer handhaben. Aber auch das Alltagsverständnis liefert keine brauchbare Definition des Begriffes „Medium". In der gegenwärtigen deutschen Umgangssprache bezeichnet das Wort „Medium" erstens ein System technischer Einrichtungen und personaler Organisationen wie „das Fernsehen". Zweitens heißen die Produkte technischer Kommunikation „Medien", zum Beispiel Bücher, Zeitungen oder Filme. Drittens kann ein besonderes Zeichensystem ein „Medium" genannt werden, etwa die Sprache oder die Schrift. Die parapsychologische Bedeutung des Wortes „Medium" kann hier außer Betracht bleiben. Da das Alltagsverständnis keine eindeutige Definition von „Medium" ermöglicht, die wissenschaftlich eingeführten Definitionen aber auch voneinander abweichen, werden im Folgenden im Wortfeld „Medium" solche Begriffe verwendet, die dem Alltagsverständnis nahestehen, aber dennoch genau abgegrenzt werden können. Als „medial" gelten alle Formen der Information, die sich nicht durch reine Tatsächlichkeit unmittelbar vollziehen. Das Wort „Medium" bezeichnet eine Klasse von Zeichensystemen. Es gelten also sowohl die gesprochene Sprache als auch die Schrift als Medien, die verschiedenen Sprachen und Schriftarten dagegen nur als besondere Ausprägungen des prinzipiell gleichen „Mediums". In der Informationen-Öffentlichkeit können vier Arten von Zeichensystemen oder „Medien" vorkommen: das Signal — worunter ein Zeichen mit einer einzigen, festgelegten Bedeutung verstanden werden soll — in verschiedenen Ausprägungen; das Bild, die gesprochene oder gesungene Sprache und die Schrift. Analphabetische oder vielsprachige Gesellschaften setzen oft mehrere Zeichensysteme verschiedener Art zugleich ein, kombinieren zum Beispiel Sprache, Schrift und Bild, damit die Empfänger die Information mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit wahrnehmen und verstehen können.

2. Signalinformation Unter den medialen Kommunikationsformen war und ist die durch Signale am umfassendsten verständlich, nämlich über Sprach- und manchmal sogar Kulturgrenzen hinaus. Von der „nackten" Tatsache unterscheidet sich das Signal dadurch, daß seine Bedeutung, sein „Sinn",

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nicht mit der äußeren Gestalt der Information identisch ist. Vom Symbol unterscheidet sich das Signal dadurch, daß es nur eine einzige, festgelegte Bedeutung hat und deshalb unabhängig von einem Kulturhintergrund richtig verstanden werden kann. Zwar die Bedeutung eines Signals muß man lernen, und sie hängt unter Umständen von der Situation oder von besonderen Gebräuchen ab — ein Sirenensignal bedeutet im Krieg etwas anderes als im Frieden; eine Handbewegung kann je nach Situation als Geste der Abwehr oder des Abschieds interpretiert werden. Im Unterschied zum Symbol hat aber ein Signal in jeder Situation stets nur jeweils eine einzige festgelegte Bedeutung. Deshalb kann man ein Signal aufgrund einer einmaligen, einsinnigen Erklärung verstehen, ohne den Zusammenhang der Kultur, in dem es steht, näher kennenlernen zu müssen. Bei einem Symbol dagegen fassen einsinnige Erklärungen stets nur Aspekte der Symbolbedeutung. Es ist in jeder Situation vieldeutig; und die Einzelbedeutungen können sogar in Spannung zueinander stehen wie beim Kreuzsymbol, das im christlichen Kulturkreis sowohl Tod als auch Auferstehung und Leben bedeutet. Um ein Symbol zu verstehen, muß man viele seiner Bedeutungen kennen und braucht auf jeden Fall Kenntnisse der Kultur, in der das Symbol verwendet wird. Die Bedeutung eines Symbols ist prinzipiell kulturabhängig, die eines Signals dagegen nicht. Signale werden deshalb überall da bevorzugt eingesetzt, wo Menschen verschiedener Sprache oder Kultur gleichermaßen Informationen erhalten sollen — heute von der Verkehrsampel bis zum piktographischen Wegweiser oder der Kontrollampe eines Rechners. Optische Signale haben den Vorteil, daß sie schneller aufgefaßt werden können als Sprache; Licht- und Tonsignale können gegebenenfalls über weite Entfernungen wahrgenommen werden. Im vor-elektronischen Zeitalter eigneten sich daher Licht- und Tonsignale besonders für die Verbreitung von Informationen über weite Strecken. Im lokalen Rahmen wurden und werden dagegen häufiger dingliche Signale verwendet. Im Herzogtum Preußen mit seiner gemischten und vielsprachigen Bevölkerung hatten Signale besondere Bedeutung für die Mitteilung an Menschen unterschiedlicher Kultur und Sprache. Ein wichtiges und unüberhörbares Signal waren die Kirchenglocken. Indem sie regelmäßig die Stunden des Tages bezeichneten, verliehen sie dem neuzeitlichen Bewußtsein einer meßbaren, gleichmäßig ablaufenden Zeit Ausdruck und verhalfen diesem Zeit-Maß zu öffentlicher Geltung. Anhaltendes Glokkenläuten kündigte einen Gottesdienst an. Geläutet werden sollte jeweils

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

eine Stunde vor Beginn des Gottesdienstes1647, damit die Bewohner umliegender Dörfer oder abgelegener Höfe sich rechtzeitig zur Kirche aufmachen konnten. Das Geläut vor dem Gottesdienst bezeugte außerdem in der gesamten Frühen Neuzeit, daß eine bestimmte Konfession öffentliche Geltung erlangt hatte. Konfessionsgemeinschaften, die in einem Territorium nur Duldung genossen, durften den Beginn ihrer Gottesdienste nicht so „öffentlich" allgemein hörbar ankündigen. Auch zu besonderen Gottesdiensten wurde — und wird heute noch — geläutet, zum Beispiel bei Begräbnissen1648. Langes Glockenläuten zu ungewöhnlicher Zeit bedeutete ein Alarmzeichen. Im Kriegsfall läutete die Sturmglocke. Bei Feuersbrünsten rief die Feuerglocke die „Nachbarn" zur Hilfe zusammen1649. Allgemein konnten Glocken zu Versammlungen auffordern. In Kriegszeiten wurde mit Trommeln „vmbgeschlagen" und mit Signaltrompeten „vmbgeblasen"1650. Als die Stadt Danzig, die sich dem König Stephan Bathory nicht hatte unterwerfen wollen, im Jahre 1577 belagert wurde, versetzten Trommelsignale die Bürger in Alarmbereitschaft. Dabei wurde ihnen erklärt, beim nächsten Signal, dem der Trompeten „in eingesteckten Mundstücken", solle jeder sich zu seiner Fahne begeben. Zunehmende öffentliche Bedeutung gewann auch das Posthorn als Signalinstrument, das die Ankunft der Post meldete. Vor der allgemeinen Zugänglichkeit der Post in Preußen 1651 kann man das Posthornsignal allerdings nicht als öffentlich im Sinne der Informationen-Öffentlichkeit ansehen. Denn bis dahin galt es nicht „allem Volk" oder auch nur einer Gruppe von Menschen, sondern allein den einzelnen Boten, welche die Post entgegennehmen sollten. Zu den optischen

1647 Visitationsabschied des Bischofs Wigand für die Böhmen, o. D. [November 1578], Opr. Fol. 1281, pag. 47. Düsterhaus 67; 102 f. Zum Folgenden vgl. Wunder, Heide: Das Dorf um 1600 — der primäre Lebenszusammenhang der ländlichen Gesellschaft, in: Brückner, Wolfgang/ Blickle, Peter/ Breuer, Dieter (Hgg.): Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland, Teil I (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 13), Wiesbaden (1985), 82. 1 6 5 0 Zum Folgenden vgl. Eigentliche WarhafWtige vnd gantz gründliche Beschrei - H bung der Stadt Dantzig/ sampt dem zuge - H hörenden Blogkhaus/ die Weisseimunde ge - // nant/ Belegerung gantz ordentlichen zusammen/'gesetzt/ was sich alle tage zugetragen/ vnd inH Scharmützeln begeben hat/ Durch einen// alten Kriegsman gestellet/vnd mit fleis zusammen gezogen/ geschrieben den//25. Nouemb. Im Siebendvnd Siebenzigsten/^Jare./^Holzschnitt] M. D. LXXTX, A 4 v. 1648

1649

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Signalen gehören Leuchtfeuer an den Küsten. Wahrscheinlich kannte man dieses Signalsystem auch im Herzogtum. Dingliche Signale bezeichneten öffentlich zugängliche Gebäude oder Plätze zu bestimmten Zeiten. Nach der Landesordnung des Herzogtums Preußen von 1526 sollte zu Beginn jedes Markttages eine Fahne aufgesteckt werden und sommers bis neun, winters bis zehn Uhr stehen bleiben1651. Die Marktfahne als Signal hatte eine festgelegte Bedeutung, die vermutlich alle am Markt Beteiligten erst lernen mußten: „dieweil der vahn steht sol kain frembder gast kauffen allein die burger der stat. so aber der vahn abgenomen, sol einem ydenn er sej frembt, oder Inwoner der landt frej zu kauffen sein." Die Stadtknechte waren dafür verantwortlich, daß die Fahne rechtzeitig wieder abgenommen wurde.

3. Bildliche Information

Bilder waren und sind in lese-unkundigen Gesellschaften wichtige Mittel der Information und Argumentation. Rolf Engelsing sieht im Betrachten von Bildern „eine andere Form der Lektüre"1652; und die Darstellung der Heilstatsachen im Bild galt als „Bibel der Armen"1653. Dennoch gehört die bildliche Information damit nicht zwangsläufig zur Informationen-Öffentlichkeit. Gerade die Bilder, die Heilstatsachen vorstellten, enthielten oft symbolische Aussagen, die man erst aus inniger Kenntnis der christlichen Tradition entschlüsseln konnte, etwa Attribute der Heiligen oder biblische Bilder wie das vom Hirten Christus und seiner Herde, der Kirche1654. Illustrierte Flugblätter mit Symbolen der Heilstatsachen gehören zur Bildungs-Öffentlichkeit, weil sie sich nur aus dem Bildungszusammenhang der christlichen Religion und gegebenenfalls der Konfession verstehen lassen. Der Informationen-Öffentlichkeit 1651

Zum Folgenden vgl. Landesordnung 1526, Opr. Fol. 13741, 6 r. Engelsing, Analphabetentum, 10. 1653 Dazu Brednich 1, 60; ähnlich ebenda 236; Wittmann, Buchhandel, 18. 1654 Bsp. für solche Flugblätter: Wäscher, Hermann: Das deutsche illustrierte Flugblatt [Bd. 1], Von den Anfängen bis zu den Befreiungskriegen (Dresden) 1955, 14 und 22. Ahnliche Thematik Kupferstichkabinett Preußischer Kulturbesitz Berlin, 112. A 6. Weitere Beispiele bei Harms/Schilling/Wang, passim. 1652

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

gehören bildliche Mitteilungen nur dann zu, wenn sie Informationen zum Gebrauch und Verbrauch enthalten, die sich ohne besondere Bildungs-Voraussetzungen dem Verständnis erschließen. Der Vorteil der Verbreitung von Bildern in einem vielsprachigen Gebiet liegt darin, daß sie, ob symbolisch zu entschlüsseln oder nicht, auch über die Grenzen einer Sprachgemeinschaft hinaus verstanden werden können. Bildliche Information auf Papier kann in zwei Formen weitergegeben werden: erstens als reines Bildflugblatt ohne Text oder nur mit erläuternden Beischriften, zweitens als Bild mit ausführlichem Text. Blätter mit ausführlichem Textteil nennt man „illustrierte Flugblätter"; und man kann die Bezeichnung verwenden, um diese Produkte von den reinen Bild-Flugblättern zu unterscheiden. Für Analphabeten oder gerade erst Lesefähige1655 diente bei den illustrierten Flugblättern das Bild als vorrangige Informationsquelle1656. Der Text verbindet die illustrierten Flugblätter mit stärker schrift-orientierten Informationsformen. War der Text gereimt, so konnte die Nachricht meist auch gesungen werden. Je stärker der Textteil die Aussage eines illustrierten Flugblatts dominiert, desto eher richtete sich das Flugblatt nicht an „alles Volk", sondern an die Sprachgemeinschaft oder an die gebildeten Lesekundigen. Textorientierte Flugblätter hatten im 16. Jahrhundert einen geringeren Offentlichkeitsgrad als Bildflugblätter. Reine Bild-Flugblätter kennt man aus dem Herzogtum Preußen des 16. Jahrhunderts nicht, doch auch keine illustrierten Flugblätter in einer Volkssprache. Die einzigen aus Königsberg bisher bekannten Flugblätter sind ein Gedenkblatt auf das verstorbene Herzogspaar von 1568, verfaßt von Michael Scrinius1657, und die „Elegia de Puero Bifronte" von Cimdarsus aus dem Jahre 15811658. Das Gedenkblatt enthält einen ausführlichen deutschen und einen lateinischen Nachruf auf das Herzogspaar; bei der „Elegia de puero bifronte" bildet das lateinische Gedicht die einzige Erläuterung der bildlichen Darstellung auf dem Flugblatt. Das Gedenkblatt wandte sich hauptsächlich, die „Elegia" ausschließlich an lateinkundige Leser. Verallgemeinernd müßte man schließen, daß die scheinbar so volkstümliche Gattung des illustrierten Flugblatts sich in

1655

Brednich 1, 197. Brednich 1, 236. 1657 SBPK Ya 721 gr. 1658 vgl. Anm. 1640. 1656

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Königsberg in erster Linie an die Lateinkundigen und nicht an breitere Kreise richtete. Einige Indizien sprechen allerdings dafür, daß der Befund auf Uberlieferungszufall beruht. In Königsberg bestand das Gewerbe der Briefmaler, der Zeichner oder Kolorateure von vervielfältigten Blättern mit oder ohne Text1659. Im späten 16. Jahrhundert übte zum Beispiel Hans Hennenberger, der Sohn Kaspar Hennenbergers, in Königsberg das Briefmalergewerbe aus1660. Demnach muß eine Nachfrage nach illustrierten und Bildflugblättern bestanden haben und befriedigt worden sein, auch wenn die heutige Forschung die Produkte dieses „Marktes" nicht mehr kennt. Der Drucker Osterberger soll nach 1585 einen Stecher beschäftigt haben1661. Er verwendete also schon Kupferstiche, das damals modernste Verfahren der Herstellung reproduzierbarer Bilder. Außerdem arbeitete Kaspar Felbinger als Holzschneider für die Osterbergersche Druckerei1662. Stecher und Holzschneider können zwar auch Bücher illustriert haben. Doch hätte es jedem Geschäftsinteresse widersprochen, hätten sich Stecher, Holzschneider, Drucker und Briefmaler nicht auch zur Herstellung der billigen Flugblätter zusammengefunden. Da der Druck großer theologischer Werke und universitäts-interner Schriften offenbar seinen Mann nicht ernährte, werden sich die Drucker beizeiten der Informationen-Öffentlichkeit zugewandt haben. Daß der Umsatz in den Gewerben der Briefmaler und Illustratoren beträchtlich gewesen sein muß, bezeugt das Privileg für den Briefmaler und Hluminierer Hans John oder Johnen aus dem Jahre 16191663, alle in Königsberg anfallenden Lumpen aufkaufen zu dürfen. Damit hatte der Briefmaler in Königsberg die Buchdrucker als Aufkäufer von Lumpen zur Papierherstellung gewissermaßen beerbt. Er hätte das Privileg gewiß nicht erhalten, wenn nicht große Nachfrage nach Produkten des Briefmalers bestanden hätte. Bild-Flugblätter, handgemalt oder in Form kolorierter Holzschnitte mit

1659 Definition Briefmaler: Alexander/Strauss 17; ähnlich Brückner 43. Zum Bestehen des Gewerbes in Königsberg vgl. Brief des Buchbinders und Briefmalers Christoph Richter an den Herzog, 5. September 1562, EM 50 b 16, 1 r sq.; Privilegierung des Briefmalers und Illuminierers Hans John[en?], 19. Juli 1619, EM 81 c 2, Nr. 401, passim. 1660 Zech: Hennenberger, Hans, in: Altpreußische Biographie I, 266. Drukarze 301. Drukarze 302. 1663 Zum Folgenden vgl. Privileg für den Briefmaler und Illuminierer Hans John[en?], 19. Juli 1619, EM 81 c 2, Nr. 401, passim. 1661

1662

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

oder ohne Text, müssen auch in Königsberg in beträchtlicher Anzahl hergestellt und verkauft worden sein, auch wenn man von ihren Themen, ja von ihrem bloßen Vorhandensein nichts mehr weiß.

4. Mündliche und schriftgestützte Formen der Information In den kleinräumigen alltäglichen Lebensbezügen gaben die Menschen des 16. Jahrhunderts Nachrichten vor allem mündlich weiter. Nachrichten zu erfragen und zu erzählen, hatte im Alltagsgespräch so überragende Bedeutung, daß das polnisch-deutsche Satzwörterbuch von 1566/71 die entsprechenden Formeln gleich nach den Gruß- und Danksätzen und der Bitte um etwas zu essen anführte1664: „Coscie styßeli [!] za nowiny/ powiedzcie thez nam. Was habt jhr vor newe zeittung gehört/ sagts vns. Tego czasu styße[!] barzo malo albo nie. Diese zeit hört man gar wenig oder nichts. Ja styße[!]/ iz kröl b^dzie we Wroclawiu/ [...]. Ich hör daß der König wird zu Breslaw sein [...]. Ludzie powiedaj^. zapewno [...] Die leut sagens vor gewis [...]" Mitteilungen, die mit der Einleitung „Ich höre" oder „Die Leute sagen" mündlich weitererzählt werden, würde man heute vielleicht weniger als Nachrichten denn als Gerüchte bezeichnen. Für den Hörer und Weiter-Erzähler einer mündlichen Nachricht im 16. Jahrhundert verwischte sich aber dieser Unterschied, weil der Empfänger einer Mitteilung ihren Wahrheitsgehalt in den seltensten Fällen nachprüfen konnte. Die hervorstechende Eigenschaft der mündlichen Nachricht ist ihre Flexibilität. Bei der mündlichen Weitergabe von Nachrichten konnte die gesamte Sprachgemeinschaft — wenn die Nachricht übersetzt wurde, sogar „alles Volk" — nicht nur zum Empfänger, sondern auch zum Träger von Informationen werden. Eine bestimmte ästhetische oder logische Struktur braucht das Gerücht nicht zu haben — positiv ausge1664 genannten Formeln vgl. Wokabularz rozmaitych, Β 1 r sq. Die Nachrichtenformeln ebenda Β 2 r sq. Die polnischen Formeln sind wie die deutschen buchstabengetreu zitiert; Schreibfehler entsprechen der Vorlage.

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drückt: Es kann und soll sich völlig der Situation der Mitteilung anpassen und darf deshalb auch nach dem Belieben des Erzählers verändert werden. Daher läßt sich schon kurze Zeit nach dem Aufkommen des Gerüchts weder sein Ursprung noch sein Weg oder sein Wahrheitsgehalt mehr nachprüfen. Das Gerücht entzog sich gleichsam von selbst jeder inhaltlichen Uberprüfung und jeder Kontrolle der Verbreitungswege. Den Obrigkeiten war es entsprechend verdächtig, zumal Gerüchte häufig wertende Aussagen oder Urteile enthalten und die Grenzen zu übler Nachrede sich oft nicht klar ziehen lassen. Informationen, die unabhängig von einer Mitteilungs-Situation und möglichst unverändert weitergegeben werden sollten, kleidete man in eine ästhetisch kontrollierte Form, zum Beispiel in Verse. Für die Mitteilung über weite räumliche oder zeitliche Distanz fixierte man die Information auch schriftlich. So entstanden die Mitteilungsformen, die man schriftgestützt nennen könnte. Sie ließen zwar in der Regel die Nachricht mündlich zum Empfänger gelangen, hatten aber die Schrift als Fixierungshilfe zumindest zeitweise und gelegentlich nötig. Die wichtigsten schriftgestützten Informationsformen waren die Kanzelabkündigung, der Anschlagzettel, die „Neue Zeitung" und das Zeitungslied. Die Kanzel dient noch heute nicht nur der Predigt, sondern auch der Verbreitung von Mitteilungen, welche die Gemeinde als ganze oder größere Gruppen von Menschen betreffen. Auch im 16. Jahrhundert wurden die unterschiedlichsten Nachrichten als Abkündigungen von der Kanzel verbreitet. 1599 beklagten sich nach einem Bericht der Gemeinden Königsberg die altstädtischen Pfarrer „nicht allein priuatim, sondern auch auff den öffentlichen Cantzelen [...] das sie mit gantz vnbequemenn wonungen versehen, darinnen sie sich mit ihren Weib vnnd Kindern kummerlich behelf[en] können"1665. Das offenbar ungewöhnliche Vorgehen bekam allerdings die erwünschte Resonanz: Die Gemeinde bat den Rat, sich um bessere Wohnungen für die Pfarrer zu kümmern. Mit größerer Selbstverständlichkeit wurden amtliche Bekanntmachungen, Mitteilungen der Macht-Öffentlichkeit an die gesamte Sprachgemeinschaft oder an „alles Volk", als Abkündigungen von den Kanzeln verbreitet. In einem Ausschreiben zu seinem Religionsmandat vom 11. August 1555 trug Herzog Albrecht seinen Amtleuten auf, sie sollten das 1665

Zum Folgenden vgl. Gemeinden der drei Städte Königsberg an die Stadträte, actum 23. November 1599, Opr. Fol. 13802, 26 v; Datierung ebenda 40 v.

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III. Die Öffentlichkeit der

Informationen

Mandat den Pfarrern aushändigen1666. Die Pfarrer sollten ihrerseits den Text „mit fleiß von der Cantzell publiciren/ vnd dem Volck oder Kirchspiels Verwanten deutlich vorlesen/ drey Sontag nach einander". Der Verlesung sollte sich eine offensichtlich frei formulierte Ermahnung anschließen, sich nach dem Mandat zu richten1667. Das mehrmalige Verlesen an drei aufeinanderfolgenden Sonntagen zielte wahrscheinlich darauf, sicherzustellen, daß sich das Mandat einprägte und daß auch säumige Kirchgänger den Text mindestens einmal hören würden. Des weiteren befahl der Herzog in dem Ausschreiben seinen Amtleuten, sie sollten „die Verschaffung thun/ das solches Mandat an die Kirchen vnnd Ratheuser angeschlagen/ Damit menniglich desselben/ durch Vorlesung/ gute wissenschafft/ erlangen/ vnnd sich niemand der vnwissenheit zu entschuldigen haben müge." Die Amtleute sollten das Mandat nicht nur verlesen lassen, sondern es auch auf eine zweite Art verbreiten, nämlich durch Anschlag. Bei dieser Form obrigkeitlicher Kommunikation für „alles Volk" wurden Menschen, die lesen und ihrerseits vorlesen konnten, zu zwar nicht amtlich bestellten, aber von der Obrigkeit eingeplanten Vermittlern. Die Anschläge wurden an den Kirchentüren und den Rathäusern angebracht, wo voraussichtlich viele, wenn nicht alle Menschen einer Stadt oder eines Dorfes den Anschlag sehen und lesen oder sich vorlesen lassen würden. Der Anschlag als Verbreitungsform läßt deutlich die Absicht der Obrigkeit erkennen, „alles Volk" zum Adressaten der Mitteilung zu machen. Zur Zeit Herzog Albrechts galt das Verfahren des Anschlags von Informationen offenbar noch als ungewöhnlich, da es so ausführlich beschrieben werden mußte. Aber im Lauf der Jahre bürgerte es sich ein. Herzog Georg Friedrich sprach in seinem gedruckten Ausschreiben zum Wiedertäufermandat vom 12. November 1586 gegenüber seinen Amtleuten nur noch den Befehl aus1668, „du wollest dieselben [d. h. die Exemplare des Mandats] von den Cantzeln publiciren/ auch an gewönliche 1666 Zum Folgenden vgl. Albrecht, Herzog von Preußen: [Gedrucktes Ausschreiben an seine Amtleute zum Mandat vom 11. August 1555], Einblattdruck 2°, eingebunden vor dem Druck des Mandats in dem Band HAB J 198 Helmst.(4). ebenda. 1668 Ausschreiben Herzog Georg Friedrichs vom 10. November 1586, EM 38 d 4, 9 r. 1667

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orthe ahnschlagen lassen/". Er konnte also schon davon ausgehen, daß seine Amtleute und die ihnen Untergebenen wußten, was mit den „gewöhnlichen Orten" gemeint war. Das geschriebene Exemplar diente beim Anschlag und anderen schriftgestützten Mitteilungsformen als maßgebliche Urfassung, die möglichst nicht verändert werden sollte. Die End-Empfänger der Nachricht aber wurden mündlich erreicht. Bei den Flugblättern, die einen Textteil enthielten, lassen sich mündliche und schriftliche Weitergabe nicht so klar trennen und voneinander abgrenzen. Wenn das Flugblatt etwa in einem Buchladen oder im Geschäft des Briefmalers auslag, sprach es den Käufer als Leser oder Betrachter des Bildes an, gab seine Information also schriftlich und bildlich weiter. Der Käufer konnte den Text anderen vorlesen und so die schriftlich fixierte Information als Vorlage für die mündliche Weitergabe verwenden. Die auf solche Weise gehörte Nachricht konnte über viele Stationen weiterverbreitet und dabei auch verändert werden. Schließlich wurde sie möglicherweise an einem anderen Ort und zu späterer Zeit wieder nach dem Hörensagen aufgeschrieben oder gar gedruckt. Mündliche und schriftliche Weitergabeform konnten also miteinander abwechseln. Die Nachricht — im damaligen Sprachgebrauch „neue Zeitung" genannt — wechselte gewissermaßen das Gewand. Aus dem Wechsel zwischen mündlicher und schriftlicher Weitergabe läßt es sich vielleicht erklären, daß der Name „Neue Zeitung", ursprünglich nur die Bezeichnung für die mitgeteilte Nachricht, auch auf den materiellen Träger der Mitteilung, das illustrierte Flugblatt, überging. In manchen Darstellungen, die sich mit der Geschichte der Kommunikationsmittel beschäftigen, erscheinen illustriertes Flugblatt und „Neue Zeitung" als voraussetzungslos von selbst entstanden, gleichsam als Ursprungs-Medien des modernen Journalismus 1669 . Dabei ging man von ihrer gedruckten Fassung aus und begriff sie als den Ursprung der

Koszyk, Vorläufer, 44; Schmidt, Wieland, 66 f. Ähnlich faßt Weber, Johannes: Forschungsbereich Frühgeschichte der deutschen Presse 16. bis 18. Jahrhundert an der Universität Bremen, in: Das achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 15/1991. Heft 1, 105, „Neue Zeitungen" und die späteren periodischen Zeitungen unter dem Begriff „Frühgeschichte der deutschen Presse" zusammen. Vorläufer sowie Entwicklungslinien von der geschriebenen zur gedruckten Mitteilungsform blieben dabei allerdings bewußt außer Betracht. 1669

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

Massen-Kommunikation1670. Doch auch die gedruckten „Neuen Zeitungen" hatten ihre Vorläufer und Vorformen. Dazu gehörten einerseits das mit dem Holzstock gedruckte Flugblatt des 15. Jahrhunderts und früherer Zeiten1671, das ebenfalls Bild und Text enthalten konnte, andererseits das illustrierte Blatt mit handschriftlichem Text, das es noch im 16. Jahrhundert gab1672. Das gedruckte illustrierte Flugblatt mit Informationen, die „Neue Zeitung", entstand also daraus, daß die Möglichkeiten des Buchdrucks für das Flugblatt mit handschriftlichem oder im Block gedrucktem Text genutzt wurden. Auch in Preußen können die gedruckten Flugblätter und „Neuen Zeitungen" Vorläufer gehabt haben, die nicht überliefert sind. Die beiden bekannten illustrierten Flugblätter aus Preußen stellen für die Informationen-Öffentlichkeit Ausnahmen in mehrfachem Sinne dar. Erstens enthielten beide Flugblätter einen lateinischen Text oder Textteil, richteten sich also nicht oder nicht ausschließlich an eine volkssprachliche Informationen-Öffentlichkeit. Zweitens enthielten sie Mitteilungen, die nicht ausschließlich tagesaktuell waren. Die Nachrufe auf das Herzogspaar in dem erwähnten Gedenkblatt1673 stellten nicht nur eine aktuelle Nachricht dar, sondern boten auch historische Informatio-

Dorothy Alexander, Introduction, in: Alexander/Strauss, 17; Schmidt, Wieland: Die Anfänge: 15. und 16. Jahrhundert, in: Dovifat, Emil (Hg.): Handbuch der Publizistik, Bd. 3, Praktische Publizistik, 2. Teil, Berlin 1969, 66; Schottenloher, Karl: Flugblatt und Zeitung. Ein Wegweiser druch das gedruckte Tagesschrifttum, Bd. I, Von den Anfängen bis zum Jahre 1848, Neu herausgegeben, eingeleitet und ergänzt von Johannes Binkowski (Bibliothek für Kunst- und Antiquitätenfreunde, Bd. XXI), München (1985), 66 f.; Koszyk, Vorläufer, 44; Dresler, Adolf: Über die Anfänge der gedruckten Zeitungen, in: Newe Zeitungen/ Relationen /Flugschriften. Flugblätter/Einblattdrucke. Von 1470 bis 1820. Einleitung über die Anfänge der gedruckten Zeitungen von Adolf Dresler, Katalog 70 von J. Halle/Antiquariat/München, München 1929, IX. 1671 Schottenloher, Flugblatt und Zeitung, 21; Hirsch 4 f.; Wittmann, Buchhandel, 18 f. 1672 Coupe 11. Beispiele: „Ein helles liecht ist Gottes wort", o. O. 1545, in: Harms, Wolfgang, zusammen mit Michael Schilling und Andreas Wang (Hgg.): Die Sammlung der Herzog August-Bibliothek in Wolfenbüttel, Kommentierte Ausgabe, Bd. 2: Historica (Deutsche illustirerte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts, hg. v. Wolfgang Harms, Bd. H), München 1980, Nr. 3, S. 6 f.; „Das Interim", o. O. o. J., ebenda Nr. 5, S. 10 f.; „Dieser comet ist erschinen Jm 1460 Jar:", ο. Ο. ο. J. (1556), ebenda Nr. 11, S. 22 f. 1673 SBPK Ya 721 gr. 1670

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nen, ζ. Β. über Herkunft und Lebensleistung der Verstorbenen. Die Elegie »De puero bifronte" war erst recht nicht nur tagesaktuelle Nachricht. Ein gebildeter Leser konnte die Elegie als Kunstwerk schätzen; ein naturwissenschaftlich Interessierter mochte dem Text und vor allem der bildlichen Darstellung merk-würdige Informationen entnehmen. Illustrierte Flugblätter, ob lateinisch oder volkssprachlich, trugen nicht nur jeweils tagesaktuelle Informationen, sondern auch solche Mitteilungen, die längere Zeit oder auch voraussichtlich zeitlos gültig sein würden. Deshalb wurden illustrierte Flugblätter manchmal über längere Zeit aufbewahrt und zum Beispiel als Wandschmuck verwendet1674. „Sensations"-Flugblätter, wie sie in anderen Territorien das Gros der Flugblatt-Nachrichten stellten, sind aus Preußen nicht bekannt — wenn man nicht das Blatt „De puero bifronte" dazu rechnen will. Dieser ungewöhnliche Befund kann darauf hinweisen, daß Flugblätter besonders streng überwacht und „Sensationsmeldungen nicht zum Druck zugelassen wurden. Doch vielleicht wurden die Flugblätter von voraussichtlich zeitloser Gültigkeit mit größerer Wahrscheinlichkeit aufbewahrt und gesammelt, weil die „zeitlosen" Nachrichten interessanter oder wichtiger erschienen. Der Uberlieferungszufall könnte das Bild der preußischen Flugblattproduktion erheblich verzerrt haben. Wenn ein Nachrichten-Flugblatt einen gereimten und strophisch gegliederten Text aufwies, konnte man den Text singen. In der Kommunikationswissenschaft und der Volkskunde hat die gesungene Nachricht besondere Aufmerksamkeit gefunden1675, und sei es nur deshalb, weil sie unserer heutigen Auffassung von dem geforderten sachlichen Stil einer Nachricht sehr fremd ist. Mitteilungen, die durch Melodie und Rhythmus auf Gefühl und Empfindung wirken statt sachlich über den Verstand, müßte ein Nachrichtenhörer des 20. Jahrhunderts nicht ernst nehmen. Unter frühneuzeitlichen Bedingungen leuchten die Vorteile der gesungenen Nachricht aber sofort ein. Sie kann schriftlich fixiert und 1 6 7 4 „gedenck zedell Bastian Zuckenramfft sein bruder ludwigk zuckenramfft belangendtt", Januar 1553, EM 139 j 274, 1 r; Bezeichnung des Schriftstücks ebenda 2 v. 1 6 7 5 Schottenloher, Karl: Flugblatt und Zeitung. Ein Wegweiser druch das gedruckte Tagesschrifttum, Bd. I, Von den Anfangen bis zum Jahre 1848, Neu herausgegeben, eingeleitet und ergänzt von Johannes Binkowski (Bibliothek für Kunst- und Antiquitätenfreunde, Bd. XXI), München (1985), 49 f.; Petzoldt, Leander (Hg.): Die freudlose Muse. Texte, Lieder und Bilder zum historischen Bänkelsang, (Stuttgart) 1978, 2—11; Riha, Karl: Moritat, Bänkelsong, Protestballade. Kabarett-Lyrik und engagiertes Lied in Deutschland, (Königstein/Ts.) 1979, 13 f.; Brednich 1, 133—243.

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

damit weit verbreitet, aber auch wegen ihrer formalen Gestaltung und ihres emotionalen Gehalts leicht behalten und sehr getreu mündlich weitergegeben werden. Noch im 18. Jahrhundert überlieferten wandernde Handwerker, Dienstmädchen, Knechte und Mägde Lieder auf ihrer Wanderschaft1676. Rolf Brednich unterscheidet die kommentierenden „historischen Ereignislieder"1677 von den mehr nachrichtlichen „Zeitungsliedern"1678 und den „Zeitliedern", den Volksliedern mit zeitkritischem Einschlag1679. Diese Unterscheidung legt weniger Wert auf die speziellen Eigenheiten einer Gattung, sondern teilt die Lieder nach ihrer Funktion in der Öffentlichkeit — oder, wie man jetzt sagen müßte, in verschiedenen Arten der Öffentlichkeit — ein. Das „historische Ereignislied" gehört der gelehrten Öffentlichkeit an, da es Ereignisse und Meinungen kommentiert und als Kampfmittel in der theologisch-politischen Auseinandersetzung taugt, auch dann, wenn es stärker tagesgebunden ist als eine Kontroversschrift und daher unter Umständen schneller veraltet. Das „Zeitlied" gehört als gesellschaftskritisches Lied einer weltlichen „bürgerlichen" Sphäre zu, die es in dieser Eigenständigkeit im Preußen der Reformationszeit noch nicht gab. Es kann daher außerhalb der Betrachtung bleiben. Einzig das „Zeitungslied" informiert eher, als daß es kommentierte, und gehört damit zur Informationen-Öffentlichkeit. Der Text des Zeitungsliedes paßte sich meist einer bekannten Melodie an, weil das Lied sich dann leichter einprägte und genauer weitergeben ließ1680. Viele Flugblätter mit „Neuen Zeitungen" geben an, daß ihre Texte auf eine bestimmte Melodie gesungen werden konnten oder sollten, zum Beispiel „im thon des Peltzenauers"1681. Man kann die Zeitungslieder daher als gesungene Parallelform der Neuen Zeitung bezeichnen1682. Die meisten Zeitungslieder behandelten ein historisches Ereignis, zum Beispiel einen Kriegszug. Aber auch Lieder über HimPetzoldt 5 f. Brednich 1,133. 1678 Bredmich 1, 184. 1 6 7 9 Brednich 1, 262. 1 6 8 0 Brednich 1, 203. 1681 Fischer, Richard: Der preußische Nußkrieg vom Jahre 1563, in: AMS 28/1891—1892, 72. Mitteilung des gesamten Liedes ebenda 72—75. 1 6 8 2 Riha 14 spricht von einer „mündliche[n] Vorform der später handgeschriebenen und dann gedruckten Zeitung". Das wird aber den historischen Tatsachen nicht ganz gerecht, da gedruckte Zeitung und Zeitungslied nebeneinander bestanden. 1676 1677

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melserscheinungen und Wunderberichte sind bekannt 1683 . Brednich nennt außerdem als bevorzugte Themen auffällige biologische Merkwürdigkeiten, etwa Mißgeburten oder Mißbildungen bei Menschen, Tieren und Pflanzen1684, daneben Katastrophen und Verbrechen mitsamt ihrer Bestrafung1685. Doch nicht nur stofflich, sondern auch in ihrem Stil entsprachen die Zeitungslieder der „Neuen Zeitung". Sie begnügten sich meist damit, sachlich zu berichten, und enthielten keine Wertung oder Parteinahme. Dadurch unterschieden sie sich von den Spott- und Schmähliedern, aber auch von den historischen Ereignisiedern oder konfessionell-polemischen Kampfgesängen, die man als Kommentare zum aktuellen Geschehen bezeichnen kann. Ein geistlicher „Kommentar" in Form eines abschließenden Gebets scheint zwar zur Gattung des Zeitungsliedes gehört zu haben1686 und ordnet es selbstverständlich in einen überzeitlichen Zusammenhang ein. Dadurch wird es aber nicht schon zum Bildungsgut, gehört noch nicht der Öffentlichkeit der Bildung an. Denn die Hauptsache an ihm bleibt die Information. In Preußen scheint die Informationen-Öffentlichkeit in bezug auf Lieder sich allerdings nicht besonders ausgebildet zu haben. Die bekannten Zeitungslieder aus Preußen stammen merkwürdigerweise alle aus dem Jahre 1563. Eines behandelt den Feldzug Herzog Erichs von Braunschweig gegen Danzig, den „Nußkrieg", von 15631687. Ebenfalls 1563 veröffentlichte der Königsberger Bürger Johannes Hasentödter eine gereimte Zusammenfassung der Feldzüge Moskaus gegen Livland von angeblichen Vorzeichen des Krieges 1556 bis zum Moskauer Sieg gegen Polen bei Polock 15631688. An seine mehr informierenden Verse Schloß Brednich 1,199 f.; 217. Brednich 1, 209—217. 1 6 8 5 Brednich 1,199 1686 p m t z 1 5 9 u n ( j 124—126; Lang, Helmut W.: Die Neue Zeitung des 15. bis 17. Jahrhunderts, Entwicklungsgeschichte und Typologie, in: Blühm, Elger/ Gebhardt, Hartwig (Hgg.): Presse und Geschichte Π. Neue Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung (Deutsche Presseforschung, Bd. 26), München u. a. 1987, 58; Harms, Wolfgang: Das illustrierte Flugblatt im Rahmen der Publizistik der frühen Neuzeit, in: Bobrowsky/Langenbucher, Kommunikationsgeschichte, 260. 1683

1684

1 6 8 7 Fischer, Nußkrieg, 72—75. Vgl. ferner Hubatsch, Albrecht von BrandenburgAnsbach, 245 f. 1688 Hasentödter, Johannes: Ermanung zu w a - / / rer Büß/ an die Christliche gemeyn//in Preussen/ Mit kurtzer erzelung des verlauf-Lienen Kriegs/ zwischen dem Moscowit=/fter vnd Leyfflendern/ in Reymen gesteh./' Sambt einem Christlichen Gebet/7 zu Got/ wieder die Tyranney des Moscowi-^ ters/ vnd anderer feindt der

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

Hasentödter zwei Lieder an, in denen um Vergebung und um die Hilfe Gottes gegen Moskau gebeten wurde1689. Für sich betrachtet, ähneln die beiden Lieder eher dem öffentlichen Gebet als dem Zeitungslied. Ihren hauptsächlichen Inhalt bildet die Bitte um Vergebung und Hilfe, nicht das historische Ereignis selbst. Die Ereignisse des Livlandkrieges werden nur summarisch benannt1690: „Der Moscowiter ligt im Land/ Mit Morden/ Rauben/ Brennen Ohn allen vnsern widerstand [...]" Die Lieder enthalten keinen politischen Kommentar, sind also nicht „historische Ereignislieder" im strengen Sinne. Ohne den vorhergehenden Bericht vom Krieg in Livland lassen sie sich jedoch kaum gesungen denken; sie setzen Mitteilungen vom Krieg voraus. Wo die Lieder gesungen wurden, mußten die Ereignisse des Livlandkrieges ebenfalls berichtet werden oder bereits bekannt sein. Die Veröffentlichung in ihrer Gesamtheit stellt also einen publizistischen Sonderfall, eine Mischform dar. Der gereimte historische Bericht nähert sie der „Neuen Zeitung" an; ihre ausführlichen Informationen zur Vorgeschichte des Krieges lassen sie der Chronik verwandt erscheinen. Der „geistliche Kommentar" konnte teilweise gesungen werden. Sollte der Inhalt der Veröffentlichung weiter verbreitet worden sein, so gingen der gereimte Kriegsbericht und die Lieder wahrscheinlich getrennte Wege. Der Kriegsbericht, ziemlich lang und nicht in Strophen gegliedert, erforderte eine große Gedächtnisleistung von jedem, der ihn auswendig lernen wollte. Wahrscheinlich war der Kriegsbericht eher zum Lesen und Vorlesen als zum Auswendiglernen gedacht. Die Lieder hingegen konnten getrennt überliefert und wegen ihrer Kürze, der strophischen Gliederung und der Melodie als Gedächtnishilfe leichter behalten werden. So können sie eher auch Analphabeten erreicht haben. Wer die Lieder vortrug, mußte freilich einen summarischen Bericht vom Livlandkrieg in eigenen Worten Christenheyt/ HGesangsweyse. Im Thon/ An//wasserflüssen Babilon/ etc.^Noch ein ander Liedt vnnd Gebet/ der bedrengten Christen inn Leyfflandt/ //Im Thon/ Wo GOTT der HerrHnicht bey vns helt/ etc.//Durch//Johannem Hasentödter/ Hgenant H e s s e l [Königsberg] M. D. LXm, A 2 r—A 4 r. Zu Hasentödter vgl. Hassbargen: Hasentödter, Johannes, in: Altpreußische Biographie I, 254. 1 6 8 9 Hasentödter, Ermanung, Β 1 ν—Β 4 r. 1 6 9 0 Hasentödter, Ermanung, Β 3 v.

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vorausschicken oder anfügen — sofern er nicht voraussetzen konnte, daß seine Zuhörer aus anderen Quellen wußten, was geschehen war. In ähnlicher Weise baute das „Geistlich Lied/ wider den Muscowitter" von 1564 auf dem vorausgegangenen Bericht über die Niederlage Moskaus gegen die Litauer auf1691. Es erzählte nicht selbst von der Schlacht und dem Sieg, sondern deutete sie, indem es sie mit dem Sieg Davids gegen Goliath und mit dem Untergang der ägyptischen Streitmacht im Roten Meer verglich1692 und den Sieg zum Anlaß nahm, vor falscher Glaubenssicherheit zu warnen1693. Das Lied interpretierte die Zeitgeschichte theologisch und glich daher fast einer Predigt in Versform. Als Anhang zu dem Schlachtbericht bildete es einen „geistlichen Kommentar" zu der „Neuen Zeitung". Als eigenständiges Lied könnte man es der BildungsOffentlichkeit zurechnen, da es weniger beschrieb als kommentierte und das geschichtliche Ereignis ganz auf Kategorien des überlieferten christlichen Bildungsideals bezog. Lieder in einer nichtdeutschen Sprache sind aus Preußen nicht bekannt. Die nichtdeutschen Sprachgemeinschaften müssen aber deshalb nicht von Informationen in Liedform ausgeschlossen gewesen sein. Nur die schriftliche Uberlieferung solcher Lieder berührte Königsberg höchstwahrscheinlich nicht. In polnischer oder litauischer Sprache können Zeitungslieder gesungen worden sein, deren schriftliche Fassungen von Druckereien in Warschau, Krakau oder Wilna verbreitet wurden. Lieder in lettischer Sprache können über Riga Preußen erreicht haben. Die Ströme mündlicher Kommunikation in den nichtdeutschen Volkssprachen Preußens gingen von anderen Zentren als von Königsberg aus. Sollte es lateinische Zeitungslieder gegeben haben, so stand ihnen theoretisch die „internationale" europäische Welt offen. Nur für die deutsche Sprachgemeinschaft im Herzogtum war Königsberg — genauer: die Königsberger Druckerei — der Knotenpunkt und Umschlagplatz von Informationen in Schrift- und Liedform.

1691

Warhafftige newe zeytung von dem yetzigen Sieg der vnsern, A 3 r—A 4 r. Warhafftige newe zeytung von dem yetzigen Sieg der vnsern, A 3 v, Strophen 4 und 3. 1693 ebenda A 4 r, Strophe 9. 1692

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

5. Schriftliche Informationsformen Ausschließlich zur schriftlichen Verbreitung bestimmte Informationen — die also nicht gesungen werden konnten und bei denen das Bild keine oder eine sehr unbedeutende Rolle spielte — boten in Preußen informierende Flugschriften und kleine Bücher, die ein Geschehen aus jüngst vergangener Zeit erzählten. Uber die Niederlage der Stadt Danzig gegen König Stephan Bathory 15771694 gibt es mindestens zwei Bücher, die in Königsberg gedruckt wurden: einmal Jan Lasickis Bericht „Der Danziger Niderlag", eine Übersetzung aus dem Polnischen1695, zum andern eine anonyme Broschüre, deren Verfasser sich einen „alten Kriegsman" nannte1696. Die Broschüren schildern das Ereignis aus Abstand, aber nicht aus historischer Distanz. Die Verfasser schrieben ihre Berichte noch im Jahr der Ereignisse nieder. Innere Beteiligung, ja Parteilichkeit waren beiden Berichterstattern anzumerken; sie legten keinen Wert darauf, berichtende und wertende Elemente, Nachricht und Kommentar zu trennen. Lasicki bemühte sich zu Anfang seiner Schrift, die Danziger als Rebellen gegen König Stephan darzustellen: Sie seien an dem Feldzug selbst schuld1697, der für sie so unglücklich endete; sie hätten ihren Huldigungseid gegen den König verletzt1698 und seine Friedensangebote

1694 Vgl. Krollmann, C[hristian] (Hg.): Die Selbstbiographie des Burggrafen Fabian zu Dohna, 12. 1695

Lasicki, Jan: Der Dantziger Niderlag:/'Welche geschehen im /'Jar Christi/ M. D.L XXVn.// Den XVÜ.tag Aprilis.//Erstlich dem E. Wol-^gebornen H. Herrn Johan Zborom-Z'skij/ Castelan zu Gnisen/ etc. In Lateinischer/'sprach/ zugeschrieben von/'Johanne Lasitio./'Jetzt aber dem E. Ehrnvesten/ Hoch// vnd Weitberümbten Herrn Leonhardt Thur-Z'neisser zum Thum/ Churfürstlichen Branden-/'burgischen bestalten Leibs Medico/ //zu Ehren/ vnd gantzer Teutscher/'Nation/ zum wolgefallen/' trewlich verdeutscht./'M.D. LXXVIII. [ ebenda F 4 v: Gedruckt zu Künigsberg/ //Anno Μ D. LXXIX.] In dem Exemplar HAB Η 419 (9) 4° Heimst, äußert ein Vermerk des Bibliothekars auf A I ν Zweifel an der Königsberger Herkunft des Drucks. 1696 EigentÜche Warhaff/' tige vnd gantz gründliche Beschrei-/' bung der Stadt Dantzig/ sampt dem zuge-/' hörenden Blogkhaus/ die Weisseimunde ge-z/nant/ Belegerung gantz ordentüchen zusammen/'gesetzt/ was sich alle tage zugetragen/ vnd in// Scharmützeln begeben hat/ Durch einen/'alten Kriegsman gestellet/vnd mit fleis zusammen gezogen/ geschrieben den// 25. Nouemb. Im Sieben// vnd Siebenzigsten/' Jare.//[Holzschnitt] M. D. LXXIX. 1697 Lasicki A 3 v. 1698 Lasicki C 1 v.

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mutwillig zurückgewiesen1699. Die Schlacht schilderte Lasicki aus polnischer Perspektive1700. Er nannte die Danziger distanziert „die Deutschen"1701, die Teilnehmer eines Landtags in Thorn dagegen „die vnsern"1702. Spöttische Ausfälle gegen Danzig fehlen nicht. So berichtete Lasicki, einige der polnischen Soldaten hätten sich in der Schlacht wie tot zu Boden geworfen, um dann überraschend wieder aufzustehen1703. Er kommentierte: „Vnd ist solch aufferstehung des Fleisches den Dantzigern sehr schedlich gewesen." Der Darstellung von Überlegenheit dient auch die Bemerkung, einer Frau sei es gelungen, zwei deutsche Kriegsknechte gefangenzunehmen1704. Der „Kriegsman" ging zwar nicht auf die rechtliche Position Danzigs ein, brandmarkte aber die Politik König Stephans gegen Danzig als unredlich. Das Manifest, mit dem König Stephan nach der ersten Bestürmung Danzigs die Stadt zur Abrüstung und zur Ubergabe aufforderte, kommentierte der „Kriegsman" mit den Worten:1705 „In summa/ der Speck auff der Fallen war gesotten vnd gebraten. Aber die Meuse schmeckten den Entian so darunter verborgen/ wollen [!] derwegen nicht dauon essen." Er schilderte die militärischen Ereignisse aus Danziger Sicht; das polnische Lager nannte er das „des Feindes"1706. Keiner der Berichterstatter hatte also „Neutralität" oder „Ausgewogenheit" im Sinn; jeder machte seinen Standpunkt deutlich. Dennoch zielten beide Werke nicht wie politische Publizistik auf Agitation, sondern — mit den genannten Ausnahmen — auf sachliche Berichterstattung. In der Hauptsache wollten beide Autoren informieren, nicht agitieren, werten oder urteilen. Beide Schriften erschienen 1579, zwei Jahre nach den Ereignissen, über die sie berichteten. Da zwischen Königsberg und Danzig enge und dichte Nachrichtenverbindungen bestanden, war die Danziger Nachricht den Königsbergern wahrscheinlich nicht mehr unbekannt, als sie 1699

Lasicki A 3 ν—A 4 v.; Β 1 v. Lasicki C 4 ν—Ε 1 v. 1701 Lasicki C 4 v. 1702 Lasicki Β 2 r. 1703 Zum Folgenden vgl. Lasicki D 3 r. 1704 Lasicki Ε 1 v. 1705 Zum Folgenden vgl. Beschreibung Dantzig, A 2 ν. 1706 Beschreibung Dantzig, A 2 r. 1700

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

gedruckt wurde; sie war nach heutigem und wahrscheinlich auch nach damaligem Verständnis nicht mehr „neu". Der Reiz einer solchen „Nachricht" kann höchstens darin gelegen haben, daß man das Ereignis lesend mit- und nach-erleben konnte. Daraus kann der heutige Interpret schließen, daß unperiodische schriftliche Publizistik nicht nur oder nicht immer darauf zielte, unbekannte Tatsachen mitzuteilen, sondern zumindest gelegentlich auch länger vergangene bedeutende Ereignisse mit den technisch verfügbaren Mitteln vergegenwärtigte1707. Kleine Bücher wie die beschriebenen verbreiteten aktuelle oder „zeitgeschichtliche" politische Information. Da sie nicht periodisch, sondern einmalig erschienen, konnten sie längere Entwicklungen zusammenfassen, wenn auch aus geringer historischer Distanz. Sie rechneten im besten Falle mit einer Sprachgemeinschaft als Leser- oder Zuhörerkreis. Im besonderen wurden solche längeren Berichte aber wohl auch von den Menschen gekauft, die in das beschriebene Geschehen verwickelt gewesen waren, damit entfernter zu tun gehabt oder auch nur gerüchteweise von den Ereignissen gehört hatten. Ihnen versprach die zusammenfassende Darstellung die Informationen, die sie zur Ergänzung ihres Bildes der Ereignisse zu brauchen glaubten. Es ist nicht mehr zu ermitteln, wann in Preußen die ersten informierenden Flugschriften mit Berichten aktueller Ereignisse gedruckt wurden. Von Weinreich ist eine einzige „Neue Zeitung" bekannt, die „Warhafftige newe czeytung auß Rom" von 15271708. Sie schildert die Einnahme Roms durch Georg von Frundsberg, mit vielen parodierenden Anspielungen auf die Namen der Sonntage im Kirchenjahr und auf altgläubige Kirchengebräuche. Wie Lasicki und der „Kriegsmann" sah auch der Schreiber der von Weinreich gedruckten „Neuen Zeitung" sein Ideal nicht in strenger Sachlichkeit; seine Ironie kann man sogar als Mittel konfessioneller Polemik deuten. Aus dem isolierten Fund läßt sich nicht schließen, ob Weinreich das Geschäft des Drucks von informierenden Flugschriften überhaupt betrieb; doch die Vermutung liegt nahe, da gerade solche Kleindrucke den Großteil der aus dem 16. Jahrhundert erhaltenen Drucke im deutschen Sprachraum insgesamt ausmachen.

1707 Ähnlich Ukena 43; Wohlfeil, Reformatorische Öffentlichkeit, 42 f. 1708 Warhafftige newe czeytung auß/' Rom geschrieben/ wie herr/' Georg von Fronßbergs/^Sohn den Bapst mit//XVm. Cardinelen/' gefangen hat.//1527.//. Institut für Zeitungsforschung Dortmund, 1527/1. Sie wird VD 16 W 357 der Offizin Weinreichs in Königsberg zugeschrieben.

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Die nächsten Neuen Zeitungen, die sich aus Königsberg erhalten haben, stammen erst aus der Zeit Daubmanns, und zwar aus den sechziger Jahren des Jahrhunderts. Ein Bericht über die polnische Niederlage gegen Moskau bei Polock 1563 und die Siegesnachricht i m Jahre darauf werden der Offizin Daubmanns zugeordnet 1 7 0 9 . Merkwürdigerweise ist auch für die „Drey newer Zeytung" aus dem Jahre 1579 Daubmann als Drucker angegeben 1710 . Osterberger setzte die begonnene Tradition des Drucks „Neuer Zeitungen" fort. Die Reihe seiner kleinen Schriften beginnt 1583 mit der Beschreibung eines Triumphzugs, der zu E h r e n eines polnischen Siegs über die Moskauer abgehalten worden war 1 7 1 1 .

1587

folgte eine ausführliche Schilderung der Hinrichtung Maria Stuarts 1 7 1 2 . I m Jahr darauf druckte Osterberger eine Krakauer „Zeitung" nach, die über eine Schlacht zwischen dem Erzherzog Maximilian — den eine Minderheit des polnischen Adels nach dem T o d Stefan Bathorys z u m König gewählt hatte, 1 7 1 3 — und dem polnischen Großkanzler berichtete 1 7 1 4 . Ebenfalls 1588 erschien ein Bericht v o m Begräbniszug für König

1709 Gar Erschrockliche/ Newe zeytung von dem Moschcowiter [...], Zawadzki Nr. 60, Daubmann zugeschrieben, weil sie „durch Johannem Reinhardum Grawingellinum" verfaßt ist wie die „Warhafftige newe Ζ e y / tung/ von dem yetzigen Sieg der vnsern/[...], Durch Johannem Reinhardum Grawingellinum/zu Konigsperg in Preussen", Zawadzki Nr. 68 und 69, die nach Zawadzki zweifelsfrei Daubmann zugeordnet werden kann.

Zawadzki Nr. 143. 1711 Warhafftige Beschrei-/'bung des Herrlichen Triumphs/ So von/Kon: May: zu Polen/ etc. vnserm gnedig-/ sten König vnd Herrn/ wegen hiebeuor er-/langten Moskowitterischen Victoria/ zu/Krackaw/ in des H: GrosCantzlers/Köstung/ vffm Marckt offentlich/ist gehalten worden. [Vignette] [Königsberg] M. D. LXXXEI. 1712 EXECUTION/Oder // Todt Marien Stuart/Königinnen aus Schotlandt/ gewesenen/Königinnen zu Franckreich/ welche Ad: [?] 18. F e b r u a - / r i j Anno 1587. Stilo Nouo/ in Engelandt ent-/hauptet worden ist/ im Schlos Fodri - / gham/ in Nortthamtschur./[Vignette] Gedruckt zu Konigsperg/Anno 1587. 1710

1713 Zum Streit um die Königswahl in Polen vgl. Rabe, Horst: Deutsche Geschichte 1500—1600. Das Jahrhundert der Glaubensspaltung, München (1991), 600. 1714 Newe Zeitung aus /Polen / /Grundlicher vnd Warhafftiger Ber/rieht/ von wegen des Polnischen Königs Maxi-/miliano/ vnd des GroßCantzlers zu Krackaw/ / w i e sie den 24. Nouembris dieses 87. Jahrs/ / m i t einander gescharmützelt haben/ alles fein/ ordentlich verzeichnet/ was sich zugetra-/ gen hat/ wie er die Stadt Krackaw/zu Sturm geschossen hat zum/ersten mahl./Item/ /Wunderzeichen/ welche am Himmel ge-/sehen worden sein/ den 20. Augusti des 87. J a - / r e s / zu Eberstorff in der Schlesien/ etc. [Vignette] Erstlich Gedruckt zu Krackaw in Polen/ / A n -

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

Stephan Bathory 1715 . Die nächste bekannte Königsberger „Neue Zeitung" stammt aus dem Jahre 1603. In ihr berichtete der ehemalige livländische Pfarrer Friedrich Engelke in aufzählender Form von den schlimmen Folgen einer Hungersnot in Livland im vorangegangenen Jahr 1716 . Danach weist die Uberlieferung gedruckter Nachrichten aus Königsberg wiederum eine längere Lücke auf. Erst eine „Warhafftige Zeitung aus Praag, Extract eines vertrauten Schreibens", 1620 erschienen, läßt sich ihrer Briefform wegen dieser Gruppe zuordnen1717. Die bekannten Nachrichten-Broschüren haben einen etwas kleineren Umfang als die Bücher aus dem Jahre 1579. Während Lasickis Bericht sechs und die Schilderung des „Kriegsmans" drei Bogen im Oktavformat umfaßten, waren die Broschüren der achtziger Jahre nur einen bis zwei Bogen stark. Ihr Erscheinungsdatum weist darauf hin, daß sie verhältnismäßig schnell gedruckt wurden. Zwar war die Nachricht von König Stephans Begräbnis bei ihrem Erscheinen als „Kurtze Beschreibung der Ceremonien" schon fast zwei Jahre alt. Die „Newe Zeitung" von der Hungersnot in Livland erschien dagegen ein Jahr nach den Ereignissen, der Bericht von der Hinrichtung Maria Stuarts sogar im gleichen Jahr. Vielleicht hatten schottische Händler die Nachricht besonders schnell nach Königsberg bringen können. Auf rasche Herstellung der Nachrichtenbroschüren kann man auch daraus schließen, daß sie sich in der Berichterstattung kürzer faßten als Lasicki und der „Kriegsman". Einige no 1588. Der Druckort Königsberg für den Nachdruck wird genannt bei Zawadzki Nr. 210. 1715 Kurtze beschreibung// der Ceremonien vnd Procession so auff// weiland Königlicher May. in Polen// Stephani &c. hochlöblichster gedecht-/' nis Begrebnus sind gehal-z/ten worden. [Vignette] Gedruckt zu Königsperg/'1588. 1716 Engelke, Friedrich: Warhafftige/ gantz er "/'schröckliche/ betrübte/ vnd zwar •von//Anfang der Welt her/ wol niemaln er-//hörte Newe Zeitungr/'Von dem grossen Hunger/ so sich im 1602.//Jar/ Nur allein im Fürstenthumb Semgaln/ //]. F. D. Hertzogen Friderichen zugehörig/ H in Lyfflandt zugetragen/ etc./' Wie die Eltern jhre Kinder/ die Kinder jhre Eltern/ /'die Brüder jhre Schwestern/ die Schwestern die Brüder/ ein//Freund den andern/ die Diebe vnd Mörder auß den Galgen vnd/Rädern verzehret/ vnd aufgefressen: An welchen Orten/ H zu welcher Zeit/ vnter welcher Herrschafft/'es geschehen sey./'Einem jedem/ in diser letzten gefährlichen Zeit/ zur// Büß vnd Bekehrung/ zu wissen sehr nötig./' Colligirt vnd zusammen getragen/' Durch/'Friderichen Engelken/ Gerdaviensem, gewesenen/' Pfarrern zu Zickeln/ im Düneburgischen Gebiet/'in Lyffland.//Gedruckt zu Königsberg in Preussen/ /'bey Georgen Osterbergers Wittwen.z/Anno Domini M. D. CIE. 1717

Titel zitiert nach Drukarze 105.

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Nachrichtenbroschüren setzten unmittelbar mit der Schilderung des Ereignisses ein und verzichteten auf jede Hintergrundinformation wie die „Zeitung" über den Begräbniszug Stephan Bathorys. Wo der Schreiber Informationen über Hintergrund und Vorgeschichte lieferte, beschränkte er sich auf das zum Verständnis Notwendige und suchte eher durch Knappheit zu beeindrucken. So begann die Schilderung von „Execution oder Todt Marien Stuart" höchst wirkungsvoll mit der Mitteilung, es seien Verschwörungen zur Befreiung der Königin von Schottland aus der Haft aufgedeckt worden1718; und der Schreiber vergaß nicht, zu erwähnen, daß Königin Elisabeth das endgültige Todesurteil nur mit Selbstzweifel und Schmerzen unterzeichnet habe1719. Eine verhältnismäßig knappe Darstellung bedeutete also nicht den Verzicht auf dramatische Effekte. Ebensowenig verpflichtete das Gebot sachlicher Information den Schreiber, Kommentare zu unterlassen. Der Pfarrer Friedrich Engelke, der die „Zeitung" über die livländische Hungersnot zusammengestellt hatte, fügte beispielsweise seiner „Zeitung" eine geistliche „Admonitio" an, eine Bußmahnung1720, wie sie auch bei gesungenen Nachrichten der Zeit üblich war. Implizite Wertungen oder die ironischen Töne Lasickis fehlen dagegen in den kleineren Broschüren. Sie stehen der objektiven Information näher als die Berichte über die Niederlage Danzigs. Möglicherweise kommt in dem sachlichen Stil eine Art von Handwerksethik der Berichterstatter zum Vorschein. Da die kleinen Broschüren großenteils über von Königsberg weit entfernte Ereignisse berichteten, hatten die möglichen Leser oder Hörer die beschriebenen Ereignisse mit großer Wahrscheinlichkeit nicht selbst miterlebt noch von Beteiligten gehört. Um ein authentisches Bild zu bekommen, brauchten Leser und Hörer sachliche Informationen besonders dringend, da sie die Berichte nicht an eigener Erfahrung oder an Erzählungen anderer überprüfen konnten. Die Handwerksregel könnte die Berichterstatter verpflichtet haben, die Nachrichtenempfänger betont sachlich zu informieren, wenn diese den berichteten Ereignissen räumlich fern standen.

1718 Execution, A 2 r. Die Foliierung des ersten Bogens ist unsicher, da nach der ersten Textseite etwas fehlt (Anschlußwort stimmt nicht mit dem Textanschluß überein). Der Verfasserin lag eine Mikrofilm-Kopie aus der Nationalbibliothek Warschau vor; die Kopie ist nach schriftlicher Auskunft der Bibliothek vollständig. 1719 Execution, A 3 ν sq. 1720 Engelke Β 3 ν sq.

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

Sowohl bei den Büchern als auch bei den informierenden Flugschriften der Informationen-Öffentlichkeit fällt die Nähe der mitgeteilten Nachrichten zur „großen Politik" auf, zur Öffentlichkeit der Macht. Die „Zeitung" Engelkes mit reinen Sensations-Nachrichten bildet eine Ausnahme. Das kann für eine strenge Zensur von „sensationellen" Meldungen sprechen. Wahrscheinlicher ist aber, wie im Fall der illustrierten Flugblätter, daß Uberlieferungszufälle das Bild des Königsberger Druckaufkommens verfälscht haben. Die politischen Nachrichten hatten vermutlich eine höhere Chance, für sammelwürdig gehalten und über längere Zeit aufbewahrt zu werden. Periodische Berichterstattung gab es in der Herzogszeit in Preußen zwar für die Macht-Öffentlichkeit, nicht aber für die der Informationen. Jedenfalls gibt es keinen Beleg dafür, daß die Avisen gedruckt worden wären, die periodisch am Herzogshof einliefen. Das in späterer Zeit wichtigste Medium der Informationen-Öffentlichkeit, die Zeitung im modernen Sinne, war in Preußen gleichsam noch nicht entdeckt. Die Informationen-Öffentlichkeit blieb daher vergleichsweise „altertümlich", und in ihr kursierten auch weniger Informationen als nach der Einführung der periodischen Berichterstattung. Gedruckte Avisen, also aneinander anschließende Presse-Erzeugnisse mit Tendenz zur Periodizität, gab es im Herzogtum wohl erst seit 1618. Aus diesem Jahr wurde eine Folge gedruckter Avisen entdeckt, deren einzelne Ausgaben zwar keine Nummern tragen, aber unmittelbar aneinander anschließen1721. Sie stammen aus der Zeit von September bis November 1618 und erschienen in unregelmäßigen Abständen, also zwar kontinuierlich, aber nicht periodisch. 1619 erschien die erste Avisenreihe mit einem Titel 1722 . Sie begann mit „Numero I /'Newer Zeitungen//Aus Deutschlandt / z/Welschlandt/ Niderland/ Frankreich/ Oster - / ' R e i c h / Böhmen/ Hungern/ Mähren/ /'Schlesien/ vnd andern Orthen/ /'Wochendlich zusammen ge=//tragen/ etc. //Biß zum andern Ianuarii //Im Jahr 1619". 1721 Zum Folgenden vgl. Walz, Kurt, 460 f. Er gibt keine Quelle noch genauere Nachweise an. 1722 Zum Folgenden vgl. Walz, Kurt, 462. Angabe des Titels und des Wappens nach der Photographie in: Gehse, Hans (Bearb.): 25 Jahre Verein Ostpreußischer Zeitungsverleger. Ostpreußens Presse in Krieg und Frieden. 1907—1932, Königsberg (1932), vor dem Titelblatt. Exemplare der ersten Königsberger Avisen sind noch nicht wieder aufgetaucht.

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Das Blatt wurde, da es ein schwarzes Kreuz auf weißem Grund als Wappen führt, einer Königsberger Offizin zugeordnet. Es muß also bei Johann Schmidt gedruckt worden sein. Entgegen den Ausführungen des Publizistikwissenschaftlers Kurt Walz schließt die Avisenreihe von 1619 nicht unmittelbar an die des Vorjahres an. Die „Numero Γ beginnt mit Nachrichten vom 11. Dezember 1618, während die vorangegangene Reihe am 24. November 1618 abgeschlossen hat1723. Die ersten fünf Nummern der Reihe von 1619 erschienen in ungefähr wöchentlichem bis vierzehntägigem Abstand; ab Nr. 6 ging das „Blatt" zur monatlichen Erscheinungsweise über. Insgesamt waren 1940 elf Nummern erhalten. Sie reichten bis zum Spätherbst 1619; darüber hinaus gab es „ein weiteres Blatt" vom August 16201724. Walz macht zu diesem „Blatt" von 1620 keine näheren Angaben; auch ist es bis jetzt nicht wieder nachweisbar. Daher läßt sich nicht sicher sagen, ob es mit dem Aviso identisch ist, dessen Titel Hans Gehse in der Jubiläumsschrift des Vereins Ostpreußischer Zeitungsverleger 1932 faksimiliert abgebildet hat1725: „Warhafftiger Bericht/' Der grossen Empö-=// rung im gantzen heiligen Römi-Aschen Reich./1'Vnd sonderlich der starcken Armada oder/'Kriegsrüstung Kon: Mayt: aus Spanien/ Item// des Bäyer[!] Fürsten Einfall ins Landt ob der Enß/ wie er sich/' allda schon vieler Städt impatroniret vnd// bemächtiget. Wie auch von dem Kriegsvolck der Vnirten Für-/'sten/ welche bey Franckfurdt am Mayn dem Spinola/' auff den Dienst warten.//Vnd was sich sonsten in Böhmen/ Mähren/ Oe-z/sterreich und dero Orten die Zeit hero verlauffen vnd//zugetragen. Aus gewissen Avisen fleißig colli-/' giret vnd in Druck verfertigt./[Vignette]/'Gedruckt zu Königsberg in Preussen/ //Jm Jahr 1620." Die Nachrichten dieses „Blattes" wurden teils ins einzelne gehend, teils summarisch angegeben. Die summarische Nennung der Herkunft von Nachrichten kennzeichnet die Titel von „Avisen". Daher gehört das Blatt von 1620 höchstwahrscheinlich auch der Gattung Aviso an. Eine Fortsetzung des „Warhafftigen Berichts" könnte die Schrift mit dem Titel „Ferner Bericht aus Böhmen, Oesterreich und Mähren" sein, die

Walz, Kurt, 461 f. 1724 Walz, Kurt, 462; 464; Zitat 465. 1725 Faksimile in Gehse, neben S. 14. 1723

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

ebenfalls 1620 gedruckt wurde und der Druckerei Fabricius zugeschrieben wird1726. Die Nachrichten der Avisen von 1618 und 1619 stammten zu über 80% von den Brennpunkten der Kriegführung und Politik in der ersten Phase des böhmischen Aufstandes: aus Prag, Wien und von verschiedenen böhmischen Kriegsschauplätzen1727. Möglicherweise war der von den geschriebenen periodischen Avisen bekannte Prager Korrespondent der „Autor" dieser Nachrichten. Daß er einmal in der Ich-Form schrieb1728, könnte dagegen sprechen; es blieb aber eine Ausnahme. Mit dem Aviso vom August 1620 scheint die Königsberger „Zeitungsgeschichte" vorläufig abzubrechen. Lorenz Segebade begründete bei seiner Ankunft im Jahre 1623 die regelmäßige Berichterstattung offenbar neu1729. Die erste Nummer seines Periodikums erschien „etwa Anfang September 1623" mit dem Titel „Avisen oder Wöchentliche Zeitung Was sich in Deutschlandt und andern Orten ferner verlauffen, und zugetragen"1730. Im Jahre 1626 teilte der Drucker mit, daß er ungefähr vor zwei Jahren, also 1624, mit dem Landbotenmeister eine Absprache über die Lieferung von Avisen getroffen habe1731. Damals wurde schon wöchentlich abgerechnet, was darauf schließen läßt, daß die Avisen wahrscheinlich auch wöchentlich im Druck erschienen. Walz bemerkt, daß die Zeitung Segebades — ihrer Periodizität und des gleichbleibenden Titels wegen kann sie wohl so genannt werden — wesentlich weitere Nachrichtenverbindungen zur Verfügung hatte als das vorige, noch unperiodische Organ. Die „Avisen oder Wöchentliche Zeitung" berichtete auch aus Nürnberg, Bremen, Amsterdam, Köln, Den Haag, London, Rom und Lyon1732. Aufgrund seiner Verbindung mit dem LandbotenDrukarze 105. Walz, Kurt, 463. 1728 Walz, Kurt, 464 und ebenda Anm. 10. 1729 Walz, Kurt, 466. 1730 Walz, Kurt, 465. Bei Bogel, Else/Blühm, Elger: Die deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts. Ein Bestandsverzeichnis mit historischen und bibliographischen Angaben, zusammengestellt von Ε. B. und Ε. B., Band I — Text (Studien zur Publizistik, Bremer Reihe, Deutsche Presseforschung, hg. von Elger Blühm, Bd. 17, I), Bremen (1971), 63 f. wird vorsichtiger „Herbst 1623" datiert (ebenda 64) und das Blatt Segebade nur mit Vorbehalt zugewiesen. Abbildung bei Bogel/Blühm, Band Π — Abbildungen, Bremen (1971), 64. 1731 Zum Folgenden vgl. Schreiben Segebades an den Kurfürsten, 17. Oktober 1626, EM 139 k 188, 8 r sq, datiert 9 v. 1732 Walz, Kurt, 466. 1726

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meister kam Segebade offenbar leichter an Nachrichten als sein Vorgänger mit seinen Avisen, zumal Segebade ein größeres Nachrichtennetz zur Verfügung stand. Uber Redaktions-Tätigkeiten berichtete der Drucker nicht. Wahrscheinlich gelangten die Nachrichten, wie bei anderen Zeitungen des frühen 17. Jahrhunderts, nicht oder nur wenig redigiert zum Druck1733. Daß das von Schmidt (Fabricius) gedruckte Nachrichtenorgan „Warhafftiger Bericht" von 1620 von „colligiret"en Nachrichten spricht, muß noch nicht heißen, daß die Meldungen redigiert oder auch nur aus einer Vielzahl von Nachrichten ausgewählt wurden. „Colligiren" kann auch das bloße Zusammenstellen verstreuter einzelner Meldungen zu einem neuen Ganzen bedeuten. Diese mehr sammelnde als redigierende Tätigkeit ist wahrscheinlich gemeint. Segebades Zeitung war das erste tatsächlich periodisch erscheinende Presseorgan in Königsberg. Aber auch er konnte seine Zeitung offenbar nicht kontinuierlich fortführen. Denn bis zur Entdeckung der ersten beiden Reihen gedruckter Avisen galt Segebades Nachfolger Reußner als erster Zeitungsdrucker Königsbergs1734. Reußner schloß also nicht unmittelbar an das Vorgänger-Unternehmen an. Die Nachrichten Segebades kamen, wie er selbst mitteilte, vom Landbotenmeister, stellten also Auszüge aus der amtlichen Korrespondenz dar, die in Königsberg einlief. Die ersten gedruckten Avisen können demnach historisch nicht von der „Neuen Zeitung" oder der unperiodischen schriftlichen Publizistik abgeleitet werden. Die direkte historische Kontinuitätslinie der heutigen Zeitungen geht auf die Avisen, nicht auf die „Neuen Zeitungen" zurück. Die periodischen geschriebenen Avisen können als unmittelbare Vorläufer der Zeitung gelten, denn sie unterschieden sich von den gedruckten Avisen nur durch die Handschriftlichkeit. Andere Formen, die gelegentlich als Vorläufer der Zeitung genannt werden, etwa die „Neue Zeitung"1735 oder die Flugschrift1736, weisen zwar jeweils einige Merkmale der modernen Zeitung auf, haben aber historisch mit den ersten gedruckten Avisen nichts gemein. 1733 Demske-Neumann, Ulrike/Gloning, Thomas/Schröder, Thomas: Zwischenbericht für das DFG-Projekt „Entstehung und Entwicklung der Zeitungssprache um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert". Stand: 10. Mai 1989, Tübingen 1989 (masch.), 2; 8; 20. 1734

Walz, Kurt, 459. Schmidt, Wieland, 18; Ukena 44. 1736 Schmidt, Wieland, 76 f. 1735

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

Der Stil der Avisen fällt den Interpreten aus dem 20. Jahrhundert als betont sachlich auf; Sensationsmeldungen wie in der „Neuen Zeitung" spielten keine oder nur eine geringe Rolle. Oft wird der sachliche, auf Kommentare verzichtende Stil der Avisen damit erklärt, daß sie streng überwacht worden seien1737. Da sie aber ihre Nachrichten aus amtlicher Korrespondenz bezogen, läßt sich die Neutralität der Berichterstattung auch einfacher erklären. Die geschriebenen Korrespondenzen pflegten einen sachlichen Stil und enthielten sich weitgehend der Kommentare. Der Korrespondent mußte sachlich schreiben, weil der Empfänger der Briefe die Information als politische Entscheidungshilfe brauchte. Starke persönliche Färbung hätte den Wert der Nachricht für den Empfänger in der Macht-Öffentlichkeit verringert und den Korrespondenten diskreditiert. Ein Drucker, der Avisen herstellte, brauchte die Korrespondentenberichte also weder zu kürzen noch zu redigieren, um einen sachlichen Stil zu erzielen, sondern konnte sie unverändert übernehmen. Die meisten Avisendrucker dürften die amtliche Korrespondenz tatsächlich wörtlich abgedruckt haben, da sie dann keine Redaktionsarbeit leisten mußten und der unveränderte Druck am bequemsten und billigsten war. An welches „Publikum" können sich die ersten Avisen gerichtet haben, welche Öffentlichkeiten erreichten sie? Für die politische Öffentlichkeit hatte zwar die Information an sich unter Umständen Bedeutung, nicht aber der Aviso als Informationsform. Denn da die Informationen aus der offiziellen Korrespondenz stammten, mußten sie den „personis publicis" bereits bekannt sein. Als Informationsorgane in deutscher Sprache können die Avisen im Vielsprachenstaat Preußen nicht „alles Volk" unmittelbar angesprochen haben, allenfalls die deutsche Sprachgemeinschaft. Preußische Einwohner anderer Sprache hätten sich den Inhalt der Avisen übersetzen oder sinngemäß erzählen lassen müssen. Aber vermutlich konnten nicht einmal alle deutschsprachigen Preußen einen Aviso vom Hören oder Lesen sofort verstehen. Die einzelnen Korrespondentenberichte verwendeten kompliziert gebaute Sätze und politik-spezifische Wörter, die der nicht einschlägig vorgebildete Leser oder Hörer kaum kannte1738. Insgesamt erforderte der Aviso zum Lindemann 87; 89; 95. Demske-Neumann/Gloning/Schröder 9 und 42; Blühm, Elger: Die ältesten Zeitungen und das Volk, in: Brückner, Wolfgang/ Blickle, Peter/ Breuer, Dieter (Hgg.): Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland, Teil Π (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 13), Wiesbaden (1985), 745. 1737 1738

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Verständnis einiges an Vorwissen, das man allenfalls den „Gebildeten", der „Lesewelt", zutrauen möchte. Ahnlich umschreibt Elger Blühm den Leserkreis der ersten Avisen: Er habe Gelehrte, gehobenes Bürgertum, Buchhändler und Studenten umfaßt1739. Doch der Kreis der Zeitungsleser kann noch größer gewesen sein. Denn die Leser mußten das zum Verständnis notwendige Vorwissen nicht unbedingt beim ersten Lesen mitbringen. Der Avisenleser konnte es sich auch durch regelmäßige Lektüre der Avisen allmählich aneignen. Mit gewisser Wahrscheinlichkeit gab es sogar Avisen-Hörer, Analphabeten, die sich die Avisen vorlesen ließen1740. Durch regelmäßiges Anhören der Avisen konnten auch nicht Lesekundige das zum Verständnis nötige Wissen erwerben. Dadurch könnte eine besondere Schicht von Lesern und Hörern entstanden sein, ein „Avisen-Publikum", das zwar über die „Lesewelt" hinausreichte, aber wegen der besonderen Verstehensvoraussetzungen nicht die gesamte Sprachgemeinschaft umfaßte. Die Sprachgemeinschaft gliederte sich dann in Avisenkenner und solche, die noch nicht mit gedruckten Avisen in Berührung gekommen waren. Die Differenzierung innerhalb der Sprachgemeinschaft bedeutet aber nichts Geringeres, als daß der Buchdruck durch seine Möglichkeiten eine besondere Form der Öffentlichkeit erst schuf, nämlich ein Avisenoder „Zeitungs-Publikum". Den Öffentlichkeiten der Macht und der Bildung diente der Buchdruck lediglich als Verbreitungsinstrument: Er vervielfältigte und verbreitete Informationen, die in derselben Öffentlichkeit und in derselben Form auch ohne den Druck kursierten oder kursiert hätten. Allein für die Öffentlichkeit der Informationen stellte der Druck die Öffentlichkeit erst her. Das Lesen und Vorlesen gedruckter Avisen — und in geringerem Maße schon der unperiodischen Schriftpublizistik — schuf ein eigenes Publikum für politische Verbrauchsinformation, das zwischen „Lesewelt" und Sprachgemeinschaft einen mittleren Öffentlichkeitsgrad hatte. Die InformationenÖffentlichkeit differenzierte sich und erweiterte das Themenspektrum der in ihr kursierenden Mitteilungen. Die „aktuellen" politischen Nachrichten hielten Einzug in die Öffentlichkeit der Informationen.

1739 Blühm, Die ältesten Zeitungen, 743. 1740

Zu Analphabeten als möglichen Avisenhörern im 17. Jahrhundert vgl. Ukena 40; 45.

in .Warhafftige erschröckliche Newe Zeitung" — Kriterien der Bewertung von Informationen Durch Information wird nichts entschieden, denn Information bedeutet Mitteilung von Tatsachen. Sie kann zwar das Material bieten, das eine Entscheidung nahelegt oder erleichtert. Aber durch Information allein wird keine Entscheidung gefällt. Es gibt daher in der Öffentlichkeit der Informationen keine Entscheidungsabläufe oder Entscheidungskriterien wie in der Öffentlichkeit der Macht oder der Bildung. Wohl aber existieren Kriterien der Bewertung von Informationen. Bewertet werden Informationen immer dann, wenn sie sich einer Auswahlentscheidung stellen müssen, zum Beispiel auf einem Markt miteinander konkurrieren. Auch Instanzen der Macht- oder der Bildungs-Öffentlichkeit bewerteten Information. Einerseits suchten sie Unerwünschtes durch Zensur zu unterdrücken, andererseits ließen sie amtlich verbreiten, was ihnen für „alles Volk" wichtig erschien. Die Maßstäbe der Obrigkeit entsprechen aber in der Regel nicht denen, welche die Informationen-Öffentlichkeit aufstellt. Im Folgenden soll nur von solchen Auswahlentscheidungen die Rede sein, die in der Informationen-Öffentlichkeit selbst getroffen werden. Zensurmaßstäbe bleiben außer Betracht, ebenso die gesamte amtliche Publizistik, da sie nicht von der Informationen-Öffentlichkeit beurteilt werden durfte. Bei der Bewertung und Beurteilung von Nachrichtenmeldungen richten sich die Teilnehmer der Informationen-Öffentlichkeit nach eigenen Kriterien. Sie gelten prinzipiell für alle Informationsformen, die nicht der amtlichen Publizistik zugehören, und entscheiden darüber, was als Nachricht weitergegeben wird und was nicht. Da es im 16. und frühen 17. Jahrhundert noch keine Reflexionen darüber gab, unter welchen Umständen eine Nachricht wertvoll oder interessant sei, geht die folgende Darlegung von einem modernen Begriff aus und versucht, in Abgrenzung zu ihm die Bewertung der Nachrichten in der Frühen Neuzeit zu erhellen.

Kriterien der Bewertung von Informationen

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In der modernen Kommunikationswissenschaft nennt man die Bewertungskriterien der Informationen-Öffentlichkeit „Nachrichtenfaktoren"1741. Man nimmt an, daß sie unausgesprochen den Entscheidungen der Journalisten darüber zugrunde liegen, was sie als Nachricht der Öffentlichkeit bekannt machen und was nicht. Nachrichtenfaktoren sind die Eigenschaften einer Meldung, durch die sie interessant wird, einen „Nachrichtenwert" erhält. Je höher der Nachrichtenwert, desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß die betreffende Meldung tatsächlich als Nachricht verbreitet wird. Für den Abnehmer der Nachricht und für den Interpreten drückt sich der Nachrichtenwert auch in Aufmachung und Plazierung der Nachricht aus. Der Journalist filtert die verfügbaren Meldungen aufgrund seiner Bewertungskriterien, so daß der Abnehmer der Nachricht ein spezifisch geprägtes Bild der Welt erhält1742. Die Vorstellung vom Journalisten als Filter kann nur unter zwei Voraussetzungen zutreffen, die aufeinander aufbauen. Erstens und grundsätzlich müssen so viele Nachrichten kursieren, daß überhaupt eine Auswahl möglich und notwendig wird. Zweitens und darüber hinaus muß die Menge der Nachrichten so groß geworden sein, daß die Gesellschaft Spezialisten für die Auswahl von Nachrichten braucht. Für die Informationen-Öffentlichkeit des 16. und frühen 17. Jahrhunderts kann nicht einmal die grundsätzliche Voraussetzung als erfüllt gelten. Es herrschte nicht Überfluß, sondern Mangel an Nachrichten. Nur selten und unter Schwierigkeiten bekam ein einzelner Nachricht von Vorgängen, die über den örtlichen Horizont hinausreichten. Selbst die Buchhändler und Drucker, denen von Berufs wegen an der Verbreitung von Informationen lag, hatten nur wenige Möglichkeiten, Nachrichten zu erhalten. Ein Drucker konnte wohl auf einer Messe Vorlagen für Flugblattdrucke erwerben. Aber die Menge solcher Vorlagen war begrenzt, zumal sich zur Darstellung im Flugblatt nur eignete, was sich wirkungsvoll ins Bild setzen ließ. Die kleinen Nachrichtenbroschüren beschränkten sich auf herausragend wichtige Ereignisse; und bei den Avisen erhielt Zum Folgenden vgl. Schulz, Nachrichtenmedien, 13; 28; 70 f.; 98; ähnlich Wilke, Jürgen: Massenmedien als Quelle und Forschungsgegenstand der Kommunikationsgeschichte, in: Bobrowsky, Manfred/ Langenbucher, Wolfgang R. (Hgg.): Wege zur Kommunikationsgeschichte (Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 13), München 1987, 701. 1742 Wilke, Massenmedien, 701. Nach Schulz, Nachrichtenmedien, 70 erklären die Nachrichtenfaktoren nicht in allen Fällen die besondere Aufmerksamkeit, die einer Nachricht zuteil wird. 1741

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

der Drucker ohnehin nur das, was die Kanzlei für ihn ausgewählt hatte. Er traf also in den meisten Fällen keine Auswahlentscheidung, sondern mußte froh sein, wenn er überhaupt etwas drucken konnte. Mit den Journalisten als Spezialisten für Nachrichtenauswahl lassen sich die Drucker und Buchhändler des konfessionellen Zeitalters nicht vergleichen. Die Entscheidung über den Wert oder Unwert einer Nachricht lag somit allein und unmittelbar bei ihrem Käufer. Er allein konnte Informationen aus einem vorhandenen Angebot auswählen und sich einen Aviso, ein Flugblatt oder eine kleine Broschüre kaufen, je nachdem, was ihm am meisten zusagte. Deshalb mußte der Nachrichtendruck selbst ausdrücklich angeben, wodurch er für den Käufer interessant wurde. Die „Nachrichtenfaktoren" mußten deutlich ausgesprochen werden, zum Beispiel in Plazierung, Hervorhebung, Titelformulierungen oder Einzelüberschriften. Sie müssen dem Interpreten Hinweise darauf geben, was ein möglicher Avisen- oder Flugblattkäufer an den angebotenen Nachrichten wertvoll oder wichtig fand. Der Titel eines Aviso bestand meist aus drei Abschnitten, die nicht unbedingt durch verschiedene Typen voneinander abgegrenzt waren. Am Anfang stand ein Sammelname für das gesamte Organ; danach folgte die Aufzählung der Orte, aus denen die Nachrichten stammten. Am Schluß wurde der Berichtszeitraum genannt. Im Textteil der Avisen oder der Broschüren traten Einzelmeldungen nicht nach ihrer vorgeblichen Wichtigkeit auf, sondern in der Reihenfolge ihres zeitlichen Eingangs. In der Aufmachung unterschieden sie sich nicht voneinander. Jede Nachricht erschien in gleicher Drucktype; allenfalls Datum und Herkunftsort der Meldung wurden durch Fettdruck hervorgehoben. Weder die Reihenfolge noch die Aufmachung der Einzelmeldungen ließen also einen Schluß über ihren vermuteten Wert für den Käufer zu. In einer Situation grundsätzlichen Mangels an Nachrichten galt offenbar jede Mitteilung an sich als wertvoll. Unterschiede zwischen einzelnen Meldungen wurden noch nicht gemacht. Da weder Aufmachung noch Reihenfolge den potentiellen Avisenoder Flugblattkäufer darüber aufklärten, wodurch die Nachricht für ihn interessant wurde, blieb als einzige werbende Information der Titel übrig. Er informiert auch den interpretierenden Historiker darüber, was ein Flugblatt- oder Broschürenkäufer an den angebotenen Nachrichten interessant finden konnte. Drei Eigenschaften wertvoller Nachrichten werden auf Flugblatt- und Broschürentiteln besonders häufig genannt,

Kriterien der Bewertung von Informationen

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„Wahrheit", „Neuheit" und Schrecken. Die ersten beiden könnte man formale Bewertungskriterien nennen. Sie geben an, wie eine Nachricht beschaffen sein mußte, wenn sie für den Käufer Wert haben sollte. Das dritte Kriterium bezieht sich auf den Inhalt der Nachricht. Es macht deutlich, daß „schreckliche" Nachrichten als besonders „publikumswirksam" galten. Das Kriterium der Authentizität, der „Wahrheit", Echtheit und Verbürgtheit der Nachrichten bildete vielleicht den wichtigsten Bewertungsmaßstab für Nachrichten überhaupt. Sehr viele Nachrichtentitel wiesen ausdrücklich darauf hin, daß das Berichtete „war" oder „warhafftig" sei. Die Wahrheitsverbürgung scheint für die InformationenÖffentlichkeit zunächst nicht überraschend. Erstens gehen heutige Nachrichtenvermittler davon aus, daß Nachrichten „wahr" sein, also einer Realität außerhalb der Mitteilung selbst entsprechen müssen. „Enten" zu verbreiten, gilt als Verstoß gegen journalistische Handwerksregeln. Zweitens brauchen überraschende Nachrichten immer eine Wahrheitsverbürgung, weil sie als Nachrichten umso interessanter werden, je unwahrscheinlicher die berichteten Ereignisse sind. Die Menschen des 16. Jahrhunderts hielten es offenbar nicht für so selbstverständlich, wahre Nachrichten zu erhalten, da diese Tatsache eigens hervorgehoben werden mußte. Dennoch lohnt es, das Wahrheitskriterium der InformationenÖffentlichkeit genauer zu untersuchen; denn es unterschied sich von dem, was in der Öffentlichkeit der Bildung als „Wahrheit" bezeichnet wurde. In der Bildungs-Öffentlichkeit galt, wie wir gesehen haben, nur das als „wahr", was sich widerspruchslos aus den anerkannten Autoritäten, meist Büchern, ableiten ließ. Das Wahrheitskriterium der Informationen-Öffentlichkeit beruhte dagegen nicht auf Autoritäten. Zwar berief sich gelegentlich der Erzähler oder Schreiber einer Nachricht auf „glaubwürdige Personen", die ihm die Nachricht zugetragen hätten1743. Dabei nahm er aber nicht wie ein Disputant in der BildungsÖffentlichkeit an, daß sein Gewährsmann einen grundsätzlichen Maßstab für Wahrheit abgebe. Der Nachrichtenerzähler oder Schreiber be1743

Bsp.: Warhafftige Newe Zeittung./Oaß Newlich entstandenen Auffruhrs/'Perlament vnnd Aufflauffs der gan-#tzen Bürgerschafft vnd Gemeine wider jhre/1 Obrigkeit Ε. E. Rath vnd der darzu verordneten// 60. Männer/ zu// Alten Stettin:/' In Pommern geschehen./' Auß einem glaubwürdigen Stettinischen Schreiben den 24. Julij datirt./'[Vignette]/' 1616./'Auß dem erstgedruckten Exemplar wi-/'derumb Gedruckt.//[o. O. 1616]; HAB 120 Quod.12.

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

hauptete nur, der Gewährsmann habe das berichtete Geschehen selbst beobachtet oder miterlebt. Das hauptsächliche Wahrheitskriterium war der Augenschein1744 bzw. die Zeugenschaft, das Miterleben eines Ereignisses. Dasselbe Wahrheitskriterium wies die Naturwissenschaftler seit Roger Bacon an, sich auf ihre Beobachtungen und die Folgerungen daraus zu verlassen, statt sich auf antike Schriften als Wahrheitsbeweise zu berufen: „sola experiencia certificat hic, et non argumentum"1745. „Erfahrung" im Sinne einer durch die äußeren Sinne vermittelten Kenntnis bildet noch heute das Kriterium, das nach gängigem Verständnis über Wahrheit oder Unwahrheit einer Aussage entscheidet. Das Nachrichtenblatt führte das Wahrheitskriterium des Augenscheins in die Welt des Gedruckten ein, oder besser: es verbreitete erstmals gedruckte und damit dauerhafte Informationen, die dem Wahrheitskriterium des Augenscheins verpflichtet waren. Verschiedentlich haben Forscher versucht, das neue Kriterium der Wahrheit, die auf Beobachtung, vor allem auf Sehen, beruhen sollte, mit der im 16. Jahrhundert ebenfalls neuen Erfindung des Buchdrucks in Zusammenhang zu bringen. Marshall McLuhan — und nach ihm Michael Giesecke — argumentierten, die massenhafte Verbreitung von Büchern durch den Druck habe die Einstellung gefördert, daß „Wahrheit" gelesen und gesehen werden müsse1746. Das Buch als Kommunikationsform habe den Sehsinn stimuliert und gegenüber den anderen Sinnen aufgewertet1747. Auch die perspektivische Darstellung mit ihrem Anspruch auf genaue Wiedergabe optischer Sinneseindrücke stehe mit dem Buchdruck wenn nicht in ursächlichem, so wenigstens in einem Sinnzusammenhang1748. Solche Kausal- oder Analogieverbindungen nachzuweisen oder unwahrscheinlich zu machen, bleibt bis jetzt Spekulation. Auf lange Sicht mag zwar das Buch einen Zwang zum Sichtbarmachen ausgeübt haben, Giesecke, Buchdruck, 347. Roger Bacon, zitiert nach: Boehm, Laetitia: Technische Bildung von den Anfängen bis zur frühen Neuzeit, in: Boehm, Laetitia/Schönbeck, Charlotte (Hgg.): Technik und Bildung püsseldorf 1989), 75. 1746 McLuhan, Marshall: The Gutenberg Galaxy. The making of typographic man (London 1962), 125; Giesecke, Buchdruck, 33 f.; 499; 501; 569; 676; ders.: Sinnenwandel, 41; 264. 1 7 4 7 McLuhan, Gutenberg Galaxy, 13; 167; 244 f.: Giesecke, Buchdruck, 33. 1 7 4 8 Giesecke, Buchdruck, 589; 654; McLuhan vermutet, der Buchdruck habe die Wirkungen der Perspektive verstärkt: McLuhan, Understanding Media, 172. 1744

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weil es Sichtbares gut überliefern kann, Gehöreindrücke aber damals noch nicht konserviert werden konnten. Dennoch kann man gegen die Thesen McLuhans und Gieseckes Einwände formulieren. Eine Analogie zwischen Buchdruck und Perspektive läßt sich nicht überzeugend begründen — die räumliche Fixierung des Standpunkts bei der perspektivischen Darstellung und das Verwenden beweglicher Lettern zum Druck haben keine Gemeinsamkeit miteinander. Daß der Buchdruck den Sehsinn aufgewertet und von den übrigen Sinnen getrennt habe1749, stimmt zumindest für die ersten dreihundert Jahre des gedruckten Buches nicht1750. Noch bis ins 18. Jahrhundert bedeutete Lesen das laute Mitsprechen des gedruckten Textes, beanspruchte also Hör- und Sehsinn gleichermaßen1751. Auch ein besonderer Zwang zu optisch genauer Darstellung läßt sich in den Druck-Erzeugnissen des 16. Jahrhunderts nicht erkennen. Die Fachliteratur der Renaissancezeit formulierte zwar die Forderung nach optisch treuer Wiedergabe der Untersuchungsgegenstände1752. In der Praxis aber konnten selbst die Fachbücher der Zeit ihrem hohen Anspruch an die Darstellungsgenauigkeit nicht genügen1753. Illustrierte Flugblätter legten noch weniger Wert auf genaue Wiedergabe eines optischen Eindrucks. Städtebilder wurden mit Hilfe von Klischees hergestellt; Mißgeburten und andere Naturerscheinungen bildete das illustrierte Flugblatt nicht optisch genau ab, sondern schilderte sie dem Sinn nach „richtig", in Anlehnung an Traditionen und Autoritäten1754. Wie Joachim Kruse für die Illustrationen der Ereignisse um Luther nachgewiesen hat, bildete auch die historische bzw. zeitgeschichtliche Illustration nicht optische Eindrücke ab, sondern setzte gewissermaßen Begriffe ins Bild1755. Sie hielt sich also an die Prinzipien der gelehrten Welt, „Wahrheit" durch Widerspruchslosigkeit und Absicherung an

McLuhan, Gutenberg Galaxy, 13; 16 f.; Giesecke, Buchdruck, 649—653. Giesecke, Sinnenwandel, 231, modifiziert seine These daher auch und spricht von einem „viele Jahrhunderte andauernden Prozeß der „Aufwertung der äußeren Sinne, insbesondere des Sehens". 1751 Schön 99—104; besonders ebenda 100 f. 1 7 5 2 Giesecke, Buchdruck, 340; 342; 346. 1753 Giesecke, Buchdruck, 342; 345. 1 7 5 4 Kruse, Joachim: Luther-Illustrationen im 16. und 17. Jahrhundert, in: Göpfert, Herbert G., u. a. (Hgg.): Beiträge zur Geschichte des Buchwesens im konfessionellen Zeitalter (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, Bd. 11), Wiesbaden (1985), 88. 1 7 5 5 Zum Folgenden vgl. Kruse 78 f.; 82; 92; 94. 1749 1750

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

Autoritäten zu beweisen. In der Illustration hatte sich das Wahrheitskriterium der Informationen-Öffentlichkeit, das des Augenscheins, weithin noch nicht entwickelt, geschweige denn durchgesetzt. „Informationen" blieben gerade bei der bildlichen Darstellung dem Wahrheitsbegriff der gelehrten Öffentlichkeit verpflichtet, obwohl die genaue Umsetzung optischer Eindrücke im Bild nach heutigen Begriffen besonders leicht gewesen wäre. In den ersten hundert Jahren seines Bestehens hatte der Buchdruck die sinnlich genaue Wiedergabe von Gesehenem nicht besonders zu stimulieren vermocht. Spätere technische Erfindungen wie Fernrohr und Mikroskop dürften einen größeren Beitrag zur „Visualisierung" der Kultur Europas geleistet haben als der Buch- und Flugblätterdruck. Die langfristige Bedeutung des Buchdrucks für die InformationenÖffentlichkeit liegt nicht in einem besonderen Zwang zu optischer Genauigkeit, sondern darin, daß mit Flugblättern und Broschüren erstmals publizistische Produkte dauerhaft überliefert werden konnten, die dem Wahrheitskriterium des Augenscheins verpflichtet waren. Dieses Wahrheitskriterium verdankt sich nicht dem Buchdruck. Für ganze Wissenschaftsdisziplinen, die dem Buchdruck eng verbunden sind, wie Philosophie und Theologie, spielt das Wahrheitskriterium sinnlicher Authentizität bis heute eine geringe Rolle. In der InformationenÖffentlichkeit aber existierte das Wahrheitskriterium des Augenscheins von Anfang an, lange vor Gutenberg. Es ist der InformationenÖffentlichkeit unabdingbar notwendig, da Informationen sich nur am Augenschein oder sonstiger sinnlicher Wahrnehmung prüfen lassen, nicht aber an Autoritäten oder durch eine konsensorientierte Verhandlung. Daher kennzeichnet das Wahrheitskriterium Augenschein die Informationen-Öffentlichkeit grundsätzlich, unabhängig davon, ob die Nachrichten mündlich oder schriftlich, in Handschrift oder Druck verbreitet wurden. Es galt für alle Arten von Informationen und gilt noch heute, obwohl die Wirkungen des Gedruckten durch elektronische Medien starke Konkurrenz bekommen haben. Der Buchdruck schuf das Wahrheitskriterium der Authentizität nicht, denn es existierte lange vor ihm. Wohl aber trug der Buchdruck dazu bei, daß Informationen, die dem Wahrheitskriterium des Augenscheins verpflichtet waren, in großer Menge verbreitet und längere Zeit aufbewahrt werden konnten. Dadurch ließ der Buchdruck die Menge der kursierenden Informationen sichtbar ansteigen, so daß sie allmählich gegenüber den traditionellen Bildungsgütern zahlenmäßig das Übergewicht gewannen. Der Flugblät-

Kriterien der Bewertung von Informationen

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ter- und Broschürendruck erhöhte die Bedeutung der Information zunächst quantitativ, noch nicht qualitativ. Der Anspruch auf „Neuheit", auf Aktualität, einer Nachricht erscheint heutigen Zeitungslesern und Forschern offenbar selbstverständlich. Vergangenes Geschehen wird seltener zur Nachricht als das der jeweiligen Gegenwart1754. Aber dieser scheinbare Gemeinplatz galt für das 16. Jahrhundert nur mit Einschränkungen. Zwar lag der Anspruch auf „Neuheit" des Mitgeteilten bei der „Neuen Zeitung" schon im Namen. Mit der tatsächlichen „Neuheit" der Nachrichten aber war es offensichtlich nicht weit her. Zwischen dem berichteten Ereignis und seiner Veröffentlichung in einer „Neuen Zeitung" verging bis zu einem Jahr. Der Nachdruck einer im vorangegangenen Jahr aktuellen Nachricht lohnte sich anscheinend für den Drucker immer noch. Die möglichen Leser der Flugblätter, Broschüren und Bücher stellten keine hohen Ansprüche an die Schnelligkeit der Information. Zwischen der Niederlage der Stadt Danzig gegen König Stephan Bathory 1577 und dem Druck der Information in Königsberg vergingen sogar zwei Jahre. Die Bücher Lasickis und des „Kriegsmannes" bedeuteten für die Königsberger eher eine Wiedererinnerung an ein jüngst vergangenes Geschehen als eine aktuelle Nachricht. Doch offenbar fand auch die erinnernde Zusammenfassung zeitgeschichtlicher Ereignisse ihre Käufer. Die Nachricht an sich galt den möglichen Lesern als wichtiger und wertvoller denn die Aktualität der Meldung. „Aktualität" konnte also auch bedeuten, daß ein an sich bekanntes Ereignis mit den technischen Mitteln der Zeit wieder vergegenwärtigt wurde1757. Als drittes Bewertungskriterium für Nachrichten läßt sich ein noch heute gültiger1758 Maßstab rekonstruieren, den man als Aufregungs- oder Sensationswert einer Nachricht bezeichnen könnte. Eine Nachricht muß etwas wie Schauder oder Schrecken erregen, um beachtet zu werden; je schlimmer die „Zeitung", desto besser. Ein Titel wie „Erbermliche vnd klägliche Beschreibung"1759 konnte auf Käufer hoffen. „Gute" 1755

Schulz, Nachrichtenmedien, 14. Anders Giesecke, Buchdruck, 427: Neuheit sei das ausschließliche Kriterium für die Veröffentlichung von Informationen durch den Druck gewesen. 1758 Schulz, Nachrichtenmedien, 19. 1759 N e w e Zeitung/ /Warhafftige/ Erbermliche vnd klägli=/che Beschreibung vnd Bericht/ Einer fürnemen/'Person/ Von der grewlichen Tyranney des Mosco-Zwitters/ auß Riga geschoben/ den 30.//Augusti/ im JarZM.D.LXXVH.ZtVignette]//Gedruckt zu Dantzge. [Danzig 1577]; HAB 201.21 Quod. (5). 1757

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

Nachrichten haben weniger Chancen, Aufmerksamkeit zu erregen — über die Gründe dafür wird bis heute spekuliert. Es liegt nahe, hinter der Bevorzugung der schlechten Nachricht wenig freundliche Motive zu vermuten: Wer liest schon gerne etwas über fremdes Glück, wenn er nicht daran teilhaben kann. Eine weitere Hypothese behauptet, schlechte Nachrichten dienten der Kompensation von Angst 1760 und seien deshalb begehrt. Doch die psychologischen Gründe für den Erfolg schlechter Nachrichten wird der Historiker nicht aufklären können. Dagegen lassen sich Ergebnisse der Publizistikwissenschaft mit Hilfe historischer Beobachtungen stützen und verallgemeinern. In seiner Untersuchung zu den zeitgenössischen Nachrichtenfaktoren ging Winfried Schulz von der Hypothese aus, über Unglücks- und Schadensfälle werde deshalb häufiger berichtet, weil sie sich rasch entwickelten und vollendeten und damit der Periodizität der Nachrichtenmedien entgegenkämen. Diese Hypothese ließ sich nicht bestätigen. Vielmehr stellte sich heraus, daß die Kommunikationsmittel des späten 20. Jahrhunderts eher längerfristige Entwicklungen beleuchten und sich nicht auf Berichte kurzzeitiger Katastrophen beschränken1761. Ein Zusammenhang zwischen der Periodizität der Nachrichtenmedien und der Häufigkeit von Katastrophenmeldungen oder Berichten über kurzfristige Ereignisse ergab sich nicht. An den Presse-Erzeugnissen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts zeigt sich ein ähnlicher Befund, wie ihn Schulz für die modernen Zeitungen feststellte1762. Die „Neuen Zeitungen" als unperiodisch erscheinende Informationsmittel hätten die Möglichkeit gehabt, über längerfristige Entwicklungen zusammenfassend zu berichten. Gerade die unperiodische Nachrichtenpublizistik aber konzentrierte sich auf kurzfristige Ereignisse, auch dann, wenn gelegentlich Informationen zur Vorgeschichte des berichteten Vorgangs geliefert wurden. Die periodisch erscheinenden Avisen hingegen beachteten und behandelten auch längerfristige Entwicklungen. Aufgrund des historischen Befunds ließe sich die These über die Eigenheiten periodischer Berichterstattung sogar umkehren: Gerade die periodisch berichtenden Nachrichtenorgane — ob im 17. oder im 20. Jahrhundert — konnten und können längerfristig sich entZum Folgenden vgl. Schulz, Nachrichtenmedien, 19. Schulz, Nachrichtenmedien, 92. 1 7 6 2 Ähnlich formuliert auch Wilke, Jürgen: Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Eine Modellstudie zur Verbindung von historischer und empirischer Publizistikwissenschaft, Berlin/New York 1984, 123 f. aufgrund einer Zeitreihenanalyse des Hamburger „Correspondenten". 1760 1761

Kriterien der Bewertung von Informationen

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wickelnden Abläufen folgen, ihnen gewissermaßen auf der Spur bleiben, während Berichterstatter unperiodischer Informationen sich auf punktuelle oder kurzfristige Ereignisse beschränken müssen. Für weitere „Nachrichtenfaktoren", die den Inhalt der Meldungen betreffen, ließen sich in den vorhandenen Königsberger Nachrichtendrukken einige Belege finden. Zum Beispiel erschienen in Preußen besonders „Neue Zeitungen" über „Personen mit einem hohen sozialen Rang"1763, über regierende oder ehemalige Herrscher. Aber aus dem wenigen Material läßt sich der Schluß nicht begründen, daß über hochstehende Personen häufiger berichtet wurde als über einfache Leute und ihr Schicksal. Uberlieferungszufall und Uberlieferungsabsichten könnten dafür gesorgt haben, daß die Nachrichten über regierende Personen häufiger als andere Informationen gesammelt und aufbewahrt wurden. „Wahrheit", „Neuheit" und Schrecken bleiben als die Kriterien übrig, die eine Nachricht im 16. Jahrhundert für den Käufer, Leser oder Zuhörer wertvoll und interessant machten. Heute erscheint es selbstverständlich, daß eine Nachricht authentisch, aktuell und zumindest gelegentlich auch ein wenig aufregend sein muß, wenn sie Abnehmer finden will. Marshall McLuhan und nach ihm Neil Postman haben diesen scheinbar modernen Zwang zur Aktualität und Spannung scharf kritisiert1764 und den elektronischen Massenkommunikationsmitteln, besonders dem Fernsehen, die Schuld daran gegeben, daß das Kriterium der Spannung so außerordentlich beherrschend für die Präsentation von Nachrichten wurde1765. An den „kleglichen" Neuen Zeitungen kann man sehen, daß der Zwang zur Aktualität und zur „aufregenden" Präsentation keine ausschließlich moderne Erscheinung ist. Auch übt nicht irgendeine Form des Nachrichtenaustausches mit technischen Mitteln einen Zwang zur Aktualität oder zur spannenden Aufbereitung der Nachrichten aus. Das Flugblatt beispielsweise mußte nicht per definitionem aktuelle und „spannende" Informationen liefern. Es gab auch Flugblätter mit Bildungsinhalten, etwa Versinnbildlichungen 1763

Zitat nach Schulz, Nachrichtenmedien, 14. 1764 Noch neutral McLuhan, Understanding Media, 305; schärfer Postman 85—90; 131. 1765 McLuhan kritisiert eine Art Umweltverschmutzung durch elektronische Medien, indem er prohpezeit: „Education will become recognized as civil defense against media fallout", McLuhan, Understanding Media, 305. Postman: Auflösung des rationalen Argumentierens in Unterhaltung durch Fernsehen: Postman 17; 26; 110 f. Zwang zur ständigen Stimulation: ebenda 131.

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

der Heilsgeschichte, die sich gleich bleibt und aus anderen Gründen als aus dem der „Spannung" den Menschen etwas bedeutet. Der Zwang zur Aktualität und „Spannung" ging und geht also nicht von einer bestimmten Kommunikationsform oder einer technischen Einrichtung aus, sondern von der Informationen-Öffentlichkeit als ganzer. Sie verlangt die Aktualität und „Spannung" einer Nachricht, weil beide Eigenschaften grundlegende Nachrichtenfaktoren der Informationen-Öffentlichkeit waren und sind, welche die Nachricht in den Augen des Käufers oder Empfängers wertvoll und interessant machen. Je stärker die Öffentlichkeit der Informationen als allein maßgebliche Art der Öffentlichkeit angesehen wird und je mehr ihre Bewertungskriterien von Informationen als die einzig möglichen gelten, desto mehr muß sich jede Information, auch die ursprünglich der „Bildung" oder der „Macht" zugehörige, den Bewertungskriterien für Nachrichten der InformationenÖffentlichkeit fügen. Die Kritik der modernen Medien geht also ins Leere, solange sie nicht die Kritik des modernen Verständnisses von Öffentlichkeit einschließt. Die Frühe Neuzeit kannte die Informationen-Öffentlichkeit grundsätzlich ebenso, wie das 20. Jahrhundert sie kennt. Im Vergleich zur heutigen Informationen-Öffentlichkeit kursierten aber in der des 16. Jahrhunderts weniger Informationen, vor allem weniger schriftliche, die sichtbar wurden und über längere Zeit sichtbar blieben. Eine der Ursachen der heutigen oft diagnostizierten1766 „Informationsüberflutung" liegt sicher darin, daß Informationen im 20. Jahrhundert wegen ihrer schriftlichen Fixierung weniger flüchtig sind, als sie es im 16. Jahrhundert waren, und daher einen dauerhafteren Eindruck hinterlassen können. Da die Art der Nachrichtenfaktoren sich offenbar über die Jahrhunderte prinzipiell nicht geändert hat, blieb auch die Art der verbreiteten Nachrichten prinzipiell gleich. Verbreitet wurden und werden einerseits machtpolitisch bedeutsame Informationen, andererseits Nachrichten, die durch ihren Gefühlswert interessant werden, die „Sensationen". Die heutige Debatte über Nachrichten nennt sie „hard news" und „soft news" 1767 . Alle heutigen Massenkommunikationsmittel präsentieren eine Mischung aus „hard" und „soft news" — deren Grenzen gegeneinander 1766 Postman 8; 87 f.; Steinbuch, Karl: Maßlos informiert. Die Enteignung unseres Denkens (München/Berlin 1987), 31. 1767

Schulz, Nachrichtenmedien, 14; 92.

Kriterien der Bewertung von Informationen

347

sich nicht unbedingt klar ziehen lassen. Im 16. Jahrhundert hatten illustriertes Flugblatt und die Nachrichtenprosa der Broschüren ebenfalls beide Funktionen: Beide Erzeugnisse der Druckerpresse transportierten sowohl politisch wichtige Mitteilungen wie die Nachrichten über Kriege und Herrscherwechsel1768 als auch Nachrichten mit Sensationswert wie Berichte von Hungersnöten, Himmelserscheinungen und Naturkatastrophen1769. Mit dem Aufkommen der Avisen scheinen die Funktionen sich stärker getrennt zu haben. Der Aviso übernahm mehr die Berichterstattung über die „hard news", da er direkt aus amtlicher Korrespondenz schöpfen konnte und somit näher an der Quelle der Nachrichten saß. Die „Neue Zeitung" in Form des illustrierten Flugblatts konzentrierte sich dagegen auf die „soft news" und diejenigen machtpolitischen Nachrichten, die besonders eindrücklich im Bild dargestellt werden konnten. So bestanden „Neue Zeitung" und Aviso lange Zeit nebeneinander, bis der Aviso als Nachrichtenträger die „Neue Zeitung" verdrängte1770 oder zumindest in den Hintergrund treten ließ. Die Broschüre eignete sich für Sensations- und andere Nachrichten gleichermaßen und behielt neben illustriertem Flugblatt und Aviso über lange Zeit eine wichtige Stellung im Informationsangebot der Frühen Neuzeit. Allegorisierende Flugblätter, die der Kommentierung politischen Geschehens dienten, haben sich aus Preußen nicht erhalten.

Bsp.: Warhafftige Beschreibung des herrlichen Triumphs; Execution oder Tod Marien Stuart; Kurtze Beschreibung der Ceremonien. vgl. Anm. 1711,1712 und 1715. 1769 vgl. Lehmann, Hartmut: Die Kometenflugschriften des 17. Jahrhunderts als historische Quelle, in: Brückner, Wolfgang/ Blickle, Peter/ Breuer, Dieter (Hgg.): Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland, Teil Π (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 13), Wiesbaden (1985), 683— 700, passim; Zawadzki Nr. 286. 1768

1770

Dazu Brednich 1, 178.

IV Verbreitungsstrukturen Als Verbreitungsstrukturen wurden bisher Einrichtungen technischer oder personaler Art bezeichnet, die Informationen sammeln, aufbewahren oder verteilen. Für die weitaus meisten und gerade für die „öffentlichsten" Kommunikationsvorgänge brauchte die Informationen-Öffentlichkeit im 16. Jahrhundert keine besonderen oder gar aufwendigen Einrichtungen. Kommunikation durch Tatsachen geschieht ohnehin nur vor unmittelbar Hörenden oder Zuschauern. Ein Signal wirkt zwar als ein Zeichen nicht unmittelbar durch sich selbst. Es benötigte aber im 16. Jahrhundert keine Verbreitungsstruktur, da es direkt vom Empfänger aufgenommen werden sollte. Technische Einrichtungen zur Übertragung akustischer und optischer Zeichen sollten erst das 19. und 20. Jahrhundert prägen. Auch die formlose mündliche Mitteilung durch das Gerücht von Mund zu Ohr oder unter den Teilnehmern von Versammlungen benötigt keine besonderen Verbreitungsinstrumente. Erst, wenn ein „Sender" seine Information gleichzeitig an mehrere Empfänger weitergeben will, kann eine besondere Verbreitungsstruktur nötig sein; sie muß aber nicht entstehen. Der Pfarrer, der eine Abkündigung von der Kanzel verliest, braucht kein Verbreitungsinstrument. Obrigkeiten, die einer Stadt- oder Dorfgemeinde verbindliche Informationen zukommen lassen wollten, konnten Ausrufer oder lesekundige Boten als Vermittler einsetzen. So ließ König Stephan Bathory 1577 seine Übergabeforderung an die Stadt Danzig vom Danziger Rathaus aus öffentlich vorlesen1771. Der König sprach mit der Stadt zwar mittelbar, erreichte aber dadurch nicht mehr Menschen, als wenn er persönlich gekommen wäre. Den Einsatz des Boten kann man deshalb nicht als „Verbreitungsinstrument" bezeichnen. Erst im 17. Jahrhundert entwickelte sich eine besondere Verbreitungsstruktur für das Weitergeben gesungener Nachrichten, der Bänkel1771

Beschreibung Dantzig, A 2 v.

Verbreitungsstrukturen

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sang1772. Der Vortragende des Nachrichtenliedes stieg auf ein Treppchen oder „Bänkel" und trug das Lied von dort aus vor. Auf dem Bänkel konnte die Sängerin — Bänkelsänger waren typischerweise Frauen1773 — von mehr Menschen gehört und gesehen werden, als wenn sie es nicht benutzt hätte. Zum Gesang der Frau zeigte der Mann illustrierende Bilder, die er ebenfalls erhöht postierte1774, damit sie von mehr Menschen und aus größerer Entfernung gesehen werden konnten. Das Bänkel stellte also ein einfaches Verbreitungsinstrument für Zeitungs- und andere Lieder dar. Sein Einsatz veränderte aber auch die Beziehung zwischen Vortragenden und Zuhörern oder Zuschauern in einer Weise, die für die Einführung „künstlicher" Verbreitungsmittel charakteristisch war und ist. Der unmittelbare Kontakt zu den Zuhörern lockerte sich; die Distanz zu ihnen stieg. Die quantitative Verbreiterung ihrer Wirkung erkauften die Bänkelsänger mit einer qualitativen Veränderung, vielleicht Schwächung der Beziehung zu den Zuhörern. Das Bänkel blieb im untersuchten Zeitraum das einzige Verbreitungsinstrument, das von der Informationen-Öffentlichkeit eigenständig entwickelt und ausschließlich benutzt wurde. In allen anderen Fällen bedienten sich die „Sender" von Informationen in der Öffentlichkeit bereits bestehender Verbreitungsstrukturen. Buchhandel und Druckerei dienten gleichsam nebenher auch der Informationen-Öffentlichkeit, indem sie Anschlagzettel, Mandate, Flugblätter, Nachrichtenbüchlein und schließlich Avisen herstellten und verbreiteten. Im Falle der Avisen initiierte die Druckerei sogar eine neue Art von Öffentlichkeit. Man muß sich allerdings vor Augen halten, daß die Avisen einen lokal, höchstens regional begrenzten Kreis von Lesern oder Hörern erreichten. Mit den üblichen Buchhandelsverbindungen und dem Weitergeben von Hand zu Hand bekamen allenfalls die Bewohner Königsbergs und seines näheren Umlandes den Aviso in einer Zeitspanne zu Gesicht, während der die Nachricht von den Käufern noch als „neu" oder „aktuell" verstanden werden konnte. Ein wirklich regional „disperses" Publikum für Informationen entstand erst in dem Maße, in dem auch die Post als Verbreitungsstruktur sich in den Dienst der Informationen-Öffentlichkeit stellte.

1772

Zum Folgenden vgl. Riha 13 f. Petzoldt 10. 1774 Riha 14. 1773

350

III. Die Öffentlichkeit der Informationen

Herzog und Regierung setzten in Preußen als erste die Post zur Verbreitung von Informationen ein, und zwar dann, wenn gleichartige Dokumente einen weit verstreuten Kreis von Adressaten erreichen mußten, zum Beispiel Landtagsausschreiben oder Landtagsabschiede zur Information der Amtleute. In solchen Fällen stellte die Druckerei — wahrscheinlich nach einer aus der herzoglichen Kanzlei stammenden Vorlage — die notwendigen gleichartigen Exemplare her. Die Amterpost übernahm die Zustellung zu den verschiedenen Amtshäusern. Es lag nahe, dieses Verfahren auch dann anzuwenden, wenn die Amtleute nicht die letzten Empfänger der Nachricht sein, sondern sie weitergeben sollten, bei amtlichen Bekanntmachungen, Mandaten und wahrscheinlich auch bei den Kirchengebeten. Die identischen Exemplare wurden den Amtleuten durch die Amterpost zugestellt; die Amtleute mußten für die Veröffentlichung durch Kanzelabkündigung oder Anschlag sorgen. Das Verbreitungsinstrument für amtliche Informationen bestand also eigentlich aus einer Kette von Transporten und Umformungen der Nachricht: Abschrift in der Kanzlei, Transport zur Druckerei, Satz und Druck, Transport der Einzelexemplare zum Zustellungsort, Weitergabe an den Verbreiter, Publikation durch Anschlag oder Abkündigung oder beides. Bei fremdsprachigen Texten kam noch die Ubersetzung und möglicherweise eine zweite Abschrift hinzu. Bedenkt man, wie unsicher der Postweg im 16. Jahrhundert war und daß die Nachricht bei jeder Umformung verändert und möglicherweise verfälscht werden konnte, so lernt man die Leistungen frühneuzeitlicher Informationsübertragung schätzen. Zudem wird deutlich, wie viele Voraussetzungen erfüllt sein mußten, damit eine Information einem weiteren Empfängerkreis zur Kenntnis kam. Noch komplizierter stellt sich die Entstehung der periodischen Presse-Erzeugnisse dar. Sie benötigten eine Druckerei und, falls die Zeitungen in die Umgebung des Druckorts gelangen sollten, eine funktionierende Amterpost. Sie setzten außerdem das herzogliche Nachrichtensystem voraus, da der Drucker nur die Nachrichten erhielt, die beim Landbotenmeister einliefen; ferner das gesamte System der Korrespondenten mit ihrer periodischen Berichterstattung. Überdies mußte sich das Verfahren schon eingespielt haben, Nachrichten periodisch und zu festen Zeiten weiterzuleiten, damit auch der Zeitungsdrucker periodisch Nachrichten erhielt. Eine periodisch erscheinende Zeitung konnte in Königsberg erst entstehen, als — nach den Kaufleuten und eventuell einigen Adelsfamilien — im frühen 17. Jahrhundert auch der Korre-

Verbreitungsstrukturen

351

spondentendienst der herzoglichen Regierung zu regelmäßiger Berichterstattung übergegangen war. Daß die preußische Staatspost im Jahre 1651 allgemein zugänglich wurde, bedeutete zwar für die Macht-Öffentlichkeit einen großen Einschnitt, da seitdem „alles Volk" eine Einrichtung nutzen konnte, die bisher den „personis publicis" vorbehalten gewesen war. Für die Informationen-Öffentlichkeit änderte sich jedoch zunächst nichts, da sie die herzoglichen Post- und Nachrichtenverbindungen schon vorher gebraucht und genutzt hatte. Die Verbreitungsstrukturen, auf die sich die Avisen verlassen können mußten, hatten schon zu Anfang des 17. Jahrhunderts eine Gestalt erreicht, die bis zum Aufbau eines eigenen Korrespondentennetzes der Zeitungen und bis zur Einführung von Schnelldruck und Schnellpost im frühen 19. Jahrhundert im wesentlichen gleich bleiben sollte.

ν Verhältnis zu den anderen Öffentlichkeiten 1. Obrigkeitliche Zensur und

Informationssteuerung

Obrigkeitliche Instanzen, ob aus der Macht- oder der BildungsOffentlichkeit, hatten und nutzten zwei Möglichkeiten, Einfluß auf die Öffentlichkeit der Informationen zu nehmen. Erstens suchten sie unerwünschte Informationen auszuschließen und überhaupt die Menge und die Art der kursierenden Informationen zu kontrollieren, und ergriffen Zensur-, Kontroll- und Unterdrückungsmaßnahmen. Zweitens setzten die Obrigkeiten selbst Informationsprozesse in Gang und versuchten auf diese Weise, erwünschte Informationen zu verbreiten und im Idealfall einzige Quelle der Information zu werden. Aus obrigkeitlichem Bemühen entsprangen die Maßnahmen der amtlichen Publizistik. „Information durch Tatsachen" oder Signalinformationen lassen sich kaum kontrollieren oder unterdrücken. Tatsachen kann man nicht unsichtbar machen; Signale sind meistens zu kurzzeitig, als daß sie wirksam kontrolliert oder nachträglich unterdrückt werden könnten. Deshalb setzte und setzt Kontrolle der Information beim gesprochenen Wort und dem Lied an. In der Frühen Neuzeit erstreckte sich diese Kontrolle theoretisch sogar auf alle Arten von Äußerungen, nicht nur die vor Zeugen. Fluchen, Schwören und Gotteslästerung waren als Beleidigung der höchsten, überirdischen Obrigkeit laut den preußischen Landesordnungen mit Strafen belegt1775. Beleidigende Reden gegen irdische Obrig1775 Landesordnung 1503, Art. 35, zitiert nach Toeppen, Max (Hg.): Acten der Ständetage Preußens unter der Herrschaft des Deutschen Ordens, Bd. V (1458— 1525), Leipzig 1886, 480; Landesordnung 1540: Artickel durch Fürst»/' liehe durchleüchtigkeit sampt gemeyner Landtschafft aller Stende des Fürstenthumbs// Preüssen vff gehaltener Tagfart jm// Jar MD.CCCCC.XL. einhelligk// bewilliget angenommen// vnd beschlossen. EM 86 b 2, 81 r sq; Ermahnung zum Kirchgang, Mandat vom 1. Februar 1543, HAB 64. 6 Extrav., 67 r. Vorschlag für die Landesordnung 1568: Kleinertz 147.

Verhältnis zu den anderen Öffentlichkeiten

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keiten und andere ehrbare Menschen standen laut den Landesordnungen ebenfalls unter Strafe1776. Die drei Städte Königsberg wiederholten und präzisierten 1544 in einer eigenen „Willkür" die Strafbestimmungen gegen Beleidigung — in Formulierungen, die sich an die der Landesordnung von 1503 anlehnten1777. Verboten wurden insbesondere Worte gegen Herrschaft, Rat und Schöffen sowie „andere geschworene Leutte", Pfarrer, „frawen oder Jungfrawen" und sonstige ehrbare „Biederleutte". Die Strafe sollte im Belieben des Rates stehen. Im Jahre 1602 mußte Caspar Schütz, der Verfasser einer preußischen Chronik, wegen Beleidigung eines Königsberger Bürgers 20 polnische Gulden Strafe zahlen, die der Altstädtischen Kirche verfallen sollten1778. Außerdem hatte er seine Beleidigung öffentlich zu widerrufen. Gegen die Mitglieder „unehrlicher" Gewerbe, gegen Bettler, Fahrende und andere war die Beleidigung — den Strafbestimmungen nach — offenbar erlaubt oder wurde wenigstens nicht geahndet. Strafen für das Singen von Spottliedern waren in der Frühen Neuzeit in vielen Vorschriften ausdrücklich festgelegt, beispielsweise auch in Reichsgesetzen1779. Preußen aber kannte solche Vorschriften anscheinend nicht. Als strafwürdig galt dagegen das Verbreiten unwahrer Nachrichten, vor allem dann, wenn sie politische Verwicklungen hervorrufen konnten. Dann kümmerten sich sogar regierende Häupter um die Strafverfolgung. Herzog Albrecht und der ermländische Bischof Mauritius Ferber unterrichteten sich beispielsweise wechselseitig über Gerüchte im Gebiet des jeweils anderen Machthabers1780. 1534 er1 7 7 6 Landesordnung 1503, Art. 43, zitiert nach Toeppen, Acten, 482; Avszugk etlicher Articul auss/' gemeyner Landesordnung des ^Hertzogthumbs ynn^Preussen [1529], EM 86 b 2, 15 r.; Landes Ordnung/Oes Hertzogthums /Preussen/Auff Anno 77. zu K ö = / / nigsberg gehaltenem Land=Htage/beliebet vnd an-/'' genomen./'[Vignette]./' Gedruckt zu Königsberg in Preus=// sen/bey Georgen Osterbergern/Anno// M.D.LXXVII, 49 r—50 r.

Zum Folgenden vgl. Willkür der drei Städte Königsberg, 1544, Abschrift vom 3. August 1591, StA Königsberg, Dep. Stadt Tilsit, Pak. 20, XXVII, Nr. 6, 2 r, Datierung 16 r; vgl. auch Landesordnung 1503, ARt. 43, zitiert nach Toeppen, Acten, 482. 1 7 7 8 Zum Folgenden vgl. Urteil des Rats der Altstadt in der Sache George Pörner gegen Caspar Schütz, 8. Februar 1602, Opr. Fol. 13803, 385 r. 1 7 7 9 Reichspolizeiordnung 1548, Tit. 30; Reichspolizeiordnung 1577, Tit. 31, [wörtlich übereinstimmend], zitiert nach Gerstlacher, Handbuch der teutschen Reichsgesetze, Neunter Theil, Reichs-, Policey- und Commercienwesen, Frankfurt und Leipzig 1788,1182 f. 1 7 8 0 Zum Folgenden vgl. Mauritius an Albrecht, 10. April 1534, zitiert nach Hartmann, Herzog Albrecht I, 189, Nr. 337; Albrecht an Mauritius, 20. April 1534, zitiert 1777

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

fuhr Albrecht, daß man sich in der ermländischen Stadt Elbing erzählte, Albrecht wolle mit einem Heer durch das Ermland ziehen. Er teilte das Gerücht dem Bischof mit und verlangte die Bestrafung der Menschen, welche die falsche Nachricht in Umlauf gesetzt und verbreitet hätten. Daß die Urheber und Verbreiter von Gerüchten sich strafbar machten, hielten sowohl der Herzog als auch der Bischof für selbstverständlich. Albrecht hätte sich allerdings kaum zu einer Information auf höchster Ebene entschlossen, wenn er das Gerücht für das Ergebnis bloßer Unwissenheit gehalten hätte. Er glaubte vielmehr an eine gezielte Falschinformation, die zwischen ihm und dem polnischen König habe Zwietracht stiften sollen1781. Die diplomatische Mitteilung enthielt deshalb unausgesprochen die Bitte, eventuelle Unstimmigkeiten mit dem polnischen König zu bereinigen. Größere Versammlungen, vor allem solche des „gemeinen Mannes", die Informationsprozesse hätten in Gang setzen und befördern können, waren laut Landesordnung verboten1782 oder hingen von einer obrigkeitlichen Genehmigung ab1783. Kurfürst Johann Sigismund ordnete anläßlich eines Aufrufs zum Kirchengebet in der Landvogtei Schaaken im Jahre 1614 an, daß „Zusammenkonfften derwegen in den dorffern zu vermeiden" seien1784. Das Kirchengebet sollte „privat" in den Häusern stattfinden und keinen Vorwand zu Versammlungen bieten. Wo das Gebet bereits öffentlich mit Versammlungen begonnen hatte, sollte man damit aufhören1785. Die Öffentlichkeit der Macht legte offenbar Wert darauf, selbst zu bestimmen, was „alles Volk" oder eine Sprachgemeinschaft erfahren sollte. Die Obrigkeit versuchte sogar das zu kontrollieren, was nicht im Beisein mehrerer Zeugen, also „öffentlich", sondern „heimlich" von Mund zu Ohr weitergegeben wurde. Bezüglich übler Nachrede schrieb die

ebenda 191, Nr. 340; Albrecht an Mauritius, nach 20. April 1534, ebenda 191 f., Nr. 341; Mauritius an Albrecht, 23. April 1534, ebenda 192, Nr. 342. 1781 Albrecht an Mauritius, 20. April 1534, zitiert nach Hartmann, Herzog Albrecht I, 191, Nr. 340. 1782 Landesordnung 1577, 50 r. 1783 Landesordnung 1529: EM 86 b 2 , 1 5 r. 1784 Regenten an den Hauptmann zu Schaaken, 20. Dezember 1614, EM 126 e 2, 1 v. 1785 Regenten an den Hauptmann zu Schaaken, 20. Dezember 1614, EM 126 e 2, 2 r.

Verhältnis zu den anderen Öffentlichkeiten

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Landesordnung von 1529 — sie galt für ganz Preußen1786 — die systematische Suche nach dem Urheber des Gerüchts vor1787: „Vnnd so yemandts [...] solches vnnd der gleychen/ hören odder ynn erfarung kommen würde/ das der selbige solchs bey seynen pflichten vnd eyden /[...] der nechsten seyner herschaft anzeygen sol/ welche denselbigen fur sich fordern sollen/ von yhme zuerforschen/ von weme ehrs habe/ vnd wo es yhme her komme/ auch wie es an yhn gelangt sey/ vnnd forter ymmer weyter vnnd weyter nachkündigen/ vnnd als dann der oberherschaft forderlichenn zuvormelden schüldig seyn." Die Obrigkeiten, gleich welchen Ranges und unabhängig davon, ob sie zur Macht- oder zur Bildungs-Öffentlichkeit gehörten, erkannten keinerlei „Privatsphäre" an, innerhalb derer das Wort „frei" hätte sein können. Eine eigenständige Öffentlichkeit der Informationen wollten sie aber ebensowenig anerkennen. Nicht nur „öffentliche", sondern selbst „heimliche" Äußerungen galten als der Kontrollbefugnis der Machtoder der Bildungs-Öffentlichkeit unterworfen. Im für die Obrigkeiten günstigsten Falle hätten nur sie bestimmen dürfen, wer wann worüber mit einem anderen reden durfte oder nicht. Die Zensur der informierenden Flugblätter und Schriften übten im Herzogtum Preußen wie in den Territorien des Reiches Institutionen der Bildungs-Öffentlichkeit im Auftrag der Öffentlichkeit der Macht aus. Weil der Wahrheitsgehalt der Nachrichten, besonders der mündlich weitergegebenen, sich schwer oder gar nicht nachprüfen ließ, überwachten viele Zensurinstanzen die zum Druck bestimmte Nachrichtenpublizistik besonders sorgfältig. Nürnberg zum Beispiel ließ Sensations- und Wundernachrichten vor der Druckerlaubnis auf Zuverlässigkeit prüfen1788. Aus politischen Rücksichten achteten die Obrigkeiten auch darauf, daß nichts aus dem eigenen Land berichtet wurde. Aus dem Herzogtum Preußen existiert keine Aktenüberlieferung bezüglich der Zensur von Nachrichtenpublizistik. Das muß aber nicht heißen, daß Nachrichtenblätter in Preußen nicht zensiert worden wären. Im Gegenteil kann das Fehlen einer Überlieferung anzeigen, daß die Zensur auch 1786 Wermter, Albrecht von Preußen und die Bischöfe von Ermland, 224. 1787 Landesordnung 1529, EM 86 b 2, 15 r. 1788 Vgl. Nürnberger Ratsverlaß vom 15. Juni 1534, zitiert nach Hampe, I. Band, 287, Nr. 2043; Ratsverlaß vom 22. September 1536, zitiert nach dems., 310, Nr. 2213; Ratsverlaß vom 18. April 1551, zitiert nach dems., 459 f., Nr. 3311.

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

der Nachrichtenpublizistik reibungslos vonstatten ging — und für selbstverständlich gehalten wurde. Auch für die Zensur der Avisen haben sich bis jetzt keine Belege finden lassen. Wahrscheinlich fand sie formlos statt. Die Avisen kamen dem Drucker vom Landbotenmeister zu, also von einem „Kanzleiverwandten". Entweder der Landbotenmeister selbst oder ein anderer „Geselle" der Kanzlei entschied also darüber, was dem Drucker zur Veröffentlichung übergeben wurde und was nicht. Die Macht-Öffentlichkeit traf die Auswahl der freizugebenden Nachrichten selbst und brauchte keine besondere Zensurinstanz einzuschalten. Zumindest der von Segebade gedruckte Aviso — für die Schmidtsche Zeitung kennt man das Entscheidungsverfahren nicht — war damit zwangsweise ein „offiziöses" Organ. Zudem mußte sich Segebade, wie er selbst 1624 schrieb, mit einer obrigkeitlich limitierten Auflage begnügen1789, so daß seine Zeitung nur begrenzt verbreitet werden konnte. Schon am Sammelpunkt der Nachrichten sorgte die Öffentlichkeit der Macht dafür, daß nichts ihr Unerwünschtes „unters Volk" kam. Als offiziöses Organ zeigt der Aviso Segebades die neben der Überwachung zweite Möglichkeit der Informationspolitik von Obrigkeiten, die planmäßige Verbreitung ihnen genehmer oder erwünschter Nachrichten. Im Falle des Aviso ging die Regierung anscheinend nicht besonders zielstrebig vor. Sie ließ zwar den Druck von Avisen zu und Schloß Unerwünschtes aus. Es gibt aber keinen Beleg dafür, daß sie dem Drukker erwünschte Meldungen auferlegt oder zugespielt hätte. Planmäßig organisierten die Obrigkeiten hingegen die Verbreitung von Mandaten oder Bekanntmachungen, die obrigkeitliche Beschlüsse enthielten und nach denen „alles Volk" sich richten sollte. Mit der Publikation von Mandaten schufen die Mächtigen zwar nicht selbst ein besonderes „Publikum". Aber sie versorgten die bestehenden möglichen „Publika" mit Nachrichten, an deren Verbreitung der Obrigkeit lag. In dem vielsprachigen und großenteils analphabetischen Herzogtum Preußen mußten Herzog und Regierung nicht nur für Transport und Publikation der Mandate sorgen, sondern auch für ihre Ubersetzung in die jeweiligen Volkssprachen. Für das Übersetzen von Mandaten und anderen Texten ins Polnische hatte Herzog Albrecht den Theologen Hieronymus Maletius beschäftigt und bezahlt1790. Zur Zeit Herzog Ge-

1789 1790

Segebade an den Kurfürsten, 17. Okt. 1626, EM 139 k 188, 9 r. Bestallung des Maletius vom 28. März 1563, EM 93 e 2, Nr. 61, Bd. 1, 38 r.

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org Friedrichs muß es Übersetzer für das Litauische gegeben haben, denn Ubersetzungen von Mandaten ins Litauische liegen vor1791, nicht jedoch in die anderen Volkssprachen Preußens. Einwohner prußischer, kurischer oder lettischer Sprache mußten sich die Mandatstexte wahrscheinlich übersetzen lassen oder sich mit einer sinngemäßen Zusammenfassung zufriedengeben. Die Beschäftigung und Bezahlung von Übersetzern zeigt, daß die Öffentlichkeit der Macht in dem vielsprachigen Territorium dafür sorgen wollte, daß die von ihr erwünschten Informationen auch möglichst alle Einwohner erreichten. Informationen durch Signale gingen in den meisten Fällen von der Öffentlichkeit der Macht aus, manchmal von der der Bildung. Neben den Pfarrern durften nur Amtleute, Bürgermeister, Schulzen und andere „personae publicae" die Glocken läuten lassen. Auch mit weiteren akustischen Signalen, mit Posthörnern, Signaltrompeten oder Trommeln, machten obrigkeitliche Einrichtungen oder Personen sich bemerkbar. Sie konnten auch besondere Informationen durch „nackte" Tatsachen verbreiten, wie die Formen des öffentlichen Strafvollzuges zeigen. Überblickt man zusammenfassend die Möglichkeiten der Obrigkeit, die Öffentlichkeit der Informationen zu überwachen oder zu formen, so zeigt sich, wie außerordentlich stark die Informationen-Öffentlichkeit von den Vorgaben und Mitteilungsbedürfnissen der „personarum publicarum" abhing. Die Öffentlichkeit der Macht beanspruchte das Kontrollrecht über alle Schichten und alle Ausdrucksformen der Informationen-Öffentlichkeit. Darüber hinaus gab die Öffentlichkeit der Macht selbst Informationen weiter, sei es in Form von Tatsachen oder Signalen, sei es durch amtliche Publizistik. Bei den Mandaten schrieb die Obrigkeit Inhalt und Wortlaut der Informationen vor; bei den Avisen wählte sie die Nachrichten aus, die den möglichen Avisenlesern und -hörern zukommen sollten. Sie erkannte kein eigenständiges Recht der Informationen-Öffentlichkeit auf Existenz und Betätigung an, sondern beanspruchte noch über die Öffentlichkeit der Informationen hinaus die Kontrolle der „heimlichen" Reden. Gegen die Übermacht solcher Kontrolle konnte die Informationen-Öffentlichkeit nur durch Umgehen der Vorschriften ankommen, nicht aber aus eigenem Recht, zumal sie nur über ein einziges Verbreitungsinstrument allein verfügte, das Bänkel des

1791 Bsp.: Mandat gegen umherziehende Schotten, 22. September 1589, deutsche Fassung, in: Verordnungen usw., Sammelband, SBPK Gu 570 fol., [Nr. 8]; dasselbe litauisch ebenda [Nr. 9].

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

Zeitungs- und Balladensängers. Doch in der Frühen Neuzeit hatten die Obrigkeiten noch nicht die Mittel, ihren Anspruch auf lückenlose Kontrolle der Informationen-Öffentlichkeit durchzusetzen. Besonders die mündliche Weitergabe von Nachrichten ließ sich schwer kontrollieren. Die wiederholten Strafandrohungen gegen beleidigende Reden und Verleumdung zeigen, daß die Obrigkeit die heimliche oder öffentliche mündliche Rede weder kontrollieren noch Regelverstöße wirksam und grundsätzlich ahnden konnte.

2. Wechselbeziehungen zur Bildungs-Öffentlichkeit Die Bildungs-Öffentlichkeit beteiligte sich neben der Öffentlichkeit der Macht an der Kontrolle und Beeinflussung der InformationenÖffentlichkeit, jedoch mit anderen Schwerpunkten und Zielen. Den Instanzen der Bildungs-Öffentlichkeit lag vor allem daran, das Bildungsideal zu verbreiten, zu bewahren und zu festigen. Sofern das reformatorische Werk es zu erfordern schien, wurden auch Informationen zensiert. Universitätslehrer, Pfarrer und die Bischöfe bzw. Konsistorien wirkten an der Zensur von Druck-Erzeugnissen mit — die Theologen allerdings nur dann, wenn die zu beurteilende Schrift theologische Fragen berührte. Weniger durch Vorschriften als durch Predigt und Ermahnung werden Pfarrer versucht haben, die Unsitte der Lästerreden und der Beleidigung einzudämmen. Die für das Bildungsideal Verantwortlichen suchten wie die Macht-Öffentlichkeit die zirkulierenden Informationen zu beschränken und zu kontrollieren und insbesondere solche Informationen zu unterdrücken, die nach Form oder Inhalt dem Bildungsideal gefährlich werden konnten. Darüber hinaus betrieben Angehörigen der Bildungs-Öffentlichkeit auch aktive Informationspolitik, indem sie einerseits Zeichen für die Durchsetzung des Bildungsideals setzten, andererseits Informationen verbreiteten, die es aufrichten und festigen sollten. Das Kirchengeläut in Dorf oder Stadt zeigte unüberhörbar die öffentliche Geltung einer Konfession an. Prangerstrafen und andere sichtbare Formen der Kirchenbuße machten durch Tatsachen deutlich, was es hieß, gegen die Normen des Bildungsideals zu verstoßen. Der internen, an die Korporation oder Institution gebundenen Information dienten die Kanzelabkündigung und — in der Universität — der Anschlagzettel. Schließlich konnten Angehörige der Bildungs-Öffentlichkeit selbst informierende Schrift-

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stücke verfassen, zum Beispiel Nachrichten-Flugblätter oder kleine Broschüren. Der Pfarrer Friedrich Engelke mag die Verbreitung christlicher Überzeugungen im Sinn gehabt haben, als er die Folgen der livländischen Hungersnot beschrieb und der Schilderung eine Bußmahnung anfügte1792. Das Flugblatt mit dem „Blutwunder von Rudau", 1615 in Augsburg erschienen1793, zitiert wörtlich einen Brief des Rudauer Pfarrers Paulus Bieber an den Kurfürsten in Berlin 1794 . Wenn dieser Brief nicht durch eine Indiskretion aus der kurfürstlichen Kanzlei in die Öffentlichkeit der Informationen gelangt ist, könnte die Veröffentlichung auch auf die Initiative Biebers selbst zurückgehen. Sie wäre dann ein Fall von sozusagen kirchlicher „Pressepolitik". Eine bemerkenswerte „informationspolitische" Aktion ließ sich Andreas Oslander einfallen. Wahrscheinlich im Jahre 1550 war eine anonyme Flugschrift erschienen, die von der Geburt und den Wundertaten eines gottähnlichen Kindes in Babylon berichtete1795. Ob sie in Königsberg gedruckt oder nur dort verkauft worden war, geht aus dem überlieferten Text nicht hervor. Vielleicht erschien sie wie viele Wunderberichte der Zeit ohne Druckortangabe. Der Berichterstatter hatte sich darauf berufen, daß die Nachricht am 31. Dezember 1549 aus Rom und am 9. Januar 1550 aus Venedig an Augsburger Kaufleute geschrieben worden sei. Oslander antwortete auf diese Flugschrift anonym mit dem GegenTraktat „Von dem neugebornen Abgott zu Babel", in dem er die ursprüngliche Flugschrift abdrucken ließ und mit seinen eigenen kritischen Anmerkungen versah. Teils zog er den Text durch spöttische Bemerkungen und Verballhornungen ins Lächerliche; teils zweifelte er mit rationalen Argumenten die Glaubwürdigkeit des Berichts an. Die Zeitangabe, das göttliche Kind sei „etwan ein monat alt", kommentierte

Engelke Β 3 ν sq. Kupferstichkabinett Preußischer Kulturbesitz Berlin, Mappe 111 Β 16, Inv.-Nr. 298—10. 1794 p a u l u s Bieber an den Kurfürsten, 24. März 1615, EM 126 d 1630, passim. 1795 Zum Folgenden vgl. Von dem new ge-^boraen Abgott von// Antichrist zu Babel. Ein ab-//schrifft/ Welche durch die Kauffleut von Ro-//dis für ein warheit gen Venedig vnd in^Welschland/ auch nachmals aus/'Rom den letzten decembris im// 49. vnd aus Venedig den 9./'Januari dieses Fünfftzig/'sten Jares etc.//An die Kauffleut gen Aug-/'spurg geschrieben sein soll./'Widerlegung diser Teu·*//feilschen lugen. A.[ndreas] 0.[siander]//[Königsberg] ANNO 1550, Titelblatt und A 2 r. 1792 1793

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

Oslander zum Beispiel mit dem skeptischen Einwand: „Habt jr dan in einem monat/ kundtschaft von Babylonia bis gen Rhom?"1796 Den Grund und Zweck seiner Kritik gab Oslander in der Schrift selbst an. Er hielt den Bericht von der angeblichen göttlichen Geburt in Babylon für ein Werk römischer Altgläubiger, die mit einer Falschinformation die Protestanten verwirren wollten1797. Er glaubte also, der Bericht sei ein Akt gezielter Informationspolitik der Altgläubigen gegen den Protestantismus. Deshalb sah Oslander sich veranlaßt, den vermeintlich gesteuerten Falschinformationen entgegenzuwirken, um die Reinheit der protestantischen Lehre zu erhalten. Er entschied sich jedoch nicht für eines der Beeinflussungsmittel der Bildungs-Öffentlichkeit, zum Beispiel Predigt oder Lehrgespräch, sondern wandte die Methoden der Informationen-Öffentlichkeit an. Einesteils schmähte er die unbekannten Verfasser in der Art übler Nachrede; andernteils suchte er, ganz im Sinne der Bewertungskriterien für Information, den Wahrheitsgehalt der Nachricht zu bestreiten und dadurch ihren Wert für den Käufer zunichte zu machen. Gegenüber der Bildungs-Öffentlichkeit verhält und verhielt sich die der Information nicht ausschließlich passiv, sondern nahm Anregungen auf und übte auf lange Sicht sogar ihrerseits Wirkungen auf die BildungsÖffentlichkeit aus. Wie gezeigt, schuf sich der Aviso sein Publikum und seine Verstehensvoraussetzungen selbst. In einen! langen Prozeß entwikkelte sich ein Wissensbestand, den man „Zeitungsbildung" nennen könnte, eine einigermaßen feste und abgrenzbare Menge von Wissensbruchstücken, die dazu halfen, Avisen zu verstehen und sinnvoll einzuordnen. Zur „Zeitungsbildung" gehören allgemeine und spezielle politische Kenntnisse, geographisches, geschichtliches und unter Umständen militärisches Grundwissen. Um eine Zeitung zu verstehen, muß man etwa Hauptstädte und regierende Personen ihren Ländern und Staaten zuordnen können und die Wirkung von Regierungsmaßnahmen wenigstens ansatzweise zu beurteilen fähig sein. Man braucht ungefähre geographische Vorstellungen, um das Risiko von Kriegen einzuschätzen oder militärische Ereignisse zu bewerten. Die Kenntnis der unmittelbaren Vorgeschichte der jeweiligen Gegenwart trägt dazu bei, rechtliche Grundlagen der Gegenwartspolitik zu verstehen, Bündnisse und Konflikte zu durchschauen und eventuell Konstanten der Politik zu erken1796 1797

Abgott zu Babel, A 2 v. Abgott zu Babel, A 4 r sq.

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nen. „Zeitungsbildung" insgesamt erleichtert das Verständnis von Informationen, die durch die Zeitungen verbreitet werden. Da die politischen Verhältnisse sich rasch ändern, konnte und kann der Wissensbestand der „Zeitungsbildung" nicht entfernt so beständig und fest bleiben wie das kulturvermittelte Bildungsgut. Aber wie die traditionelle Bildung vermittelt die „Zeitungsbildung" nicht nur Inhalte, sondern auch Denkformen, so daß der Lernende mit jedem aufgenommenen Bruchstück des Zeitungswissens die bekannten und neue Wissensbestandteile besser einordnen und verstehen kann. Je mehr die Zeitung zur selbstverständlichen Umwelt jedes Europäers gehörte, desto mehr wurde auch „Zeitungsbildung" unabdingbar für ein verantwortliches, selbständiges Leben. Wegen ihrer Zeitgebundenheit wurde sie nicht zum Bildungsgut im engen Sinn; aber sie kam ihm sehr nahe. Bis heute hat der Erwerb von Wissen zum Verständnis der Zeitungen nichts mit formaler Bildung zu tun. Der Avisen- bzw. Zeitungsleser erwirbt die Verstehensvoraussetzungen „nebenher" durch die regelmäßige Zeitungslektüre. Menschen, die regelmäßig Avisen lasen, erwarben einen Wissensbestand, den die Konsumenten anderer Arten von Nachrichten nicht hatten. Zwischen dem Avisen„publikum" und den Menschen, die Avisen nicht zur Kenntnis nahmen, konnte sich ein WissensUnterschied ausbilden, der dem Abstand zwischen formalen Bildungsabschlüssen zumindest ähnelte. Der Avisenkonsument verfügte über einen Bestand an einordnendem Wissen ähnlich wie der „Gebildete" und stand ihm dadurch ein wenig näher als der, dem das Wissen aus den Avisen gänzlich unbekannt war. Der Kreis der Zeitungs- und Avisenleser nahm als Schicht der Informationen-Öffentlichkeit eine Mittelstellung zwischen den „Gebildeten" und den übrigen Mitgliedern der volkssprachlichen Sprachgemeinschaft ein. Informationen, die ursprünglich nur zum Gebrauch und Verbrauch bestimmt gewesen waren, gewannen als „Zeitungswissen" sozusagen Anschluß an die Bildungswelt. Eine schon stärker gefestigte Stellung zwischen Bildungswelt und Information nahm auch in Preußen die lebenspraktische Literatur ein. Im Westen des Heiligen Römischen Reiches spielte die Fachprosa im 16. Jahrhundert eine erhebliche Rolle auf dem Buchmarkt1798. In Preußen gab es nur wenige Bücher, die man lebenspraktisch orientiert nennen könnte. Zu ihnen wird man etwa das von Johann Daubmann gedruckte 1798

Giesecke, Buchdruck, 513—530; Wittmann, Buchhandel, 55; zur technischen Fachliteratur vgl. auch Kellenbenz 42 f.; Giesecke, Sinnenwandel, 283—297.

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

„Artzneybuch" von 1555 zählen1799 oder auch die verschiedenen Lehrund Wörterbücher für Fremdsprachen, zum Beispiel das ebenfalls von Daubmann herausgegebene Büchlein „Wokabularz rozmaitych 1800 sentencij", eine Art deutsch-polnischen Sprachführers . Es erlebte von 1558 bis 1607 zwölf bekannte Auflagen1801 und war damit anscheinend das erfolgreichste Buch der gesamten Königsberger Produktion. Auch die Kalender verbreiteten praktisch verwertbare Informationen aus Astronomie, Wetterkunde, Ökonomie und Medizin1802. Mit dem Fächerkanon des reformatorischen Bildungsideals hatten die Fachbücher und Ratgeber verschiedenen Niveaus wenig oder gar nichts zu tun. Sie sollten als Hilfsmittel zur Lebensbewältigung dienen, manchmal auch als Hilfen in einem praktischen Beruf. Sie versuchten, unzusammenhängende Informationen, etwa über Krankheiten oder Sprachen, in einen sinnvollen Zusammenhang einzuordnen. Entweder gingen sie von Erfahrungen der Praxis aus, bedachten1803 und systematisierten sie, oder sie stellten Teile des an den Universitäten gelehrten Wissens populär und für den Laien verständlich dar. Die lebenspraktischen Ratgeber schlossen damit ihre Materie insofern an die Bildungswelt an, als sie praktisches Wissen in einem sinnvoll geordneten Zusammenhang darstellten. Zum Bildungsgut wurden die Inhalte der Ratgeberliteratur trotzdem nicht, denn an das reformatorische Bildungsideal ließen sie sich nicht anschließen. Sie mochten zwar für viele Menschen lebensdienliches Wissen bereitstellen, das im Zusammenhang des jeweiligen Berufes oder Faches sinnvoll geordnet und auf das Bildungsziel des Berufes oder Faches bezogen war. Vom Standpunkt der Bildungs-Öffentlichkeit aber 1 7 9 9 Artzneybuch/'Fast wunder köstlich/ II von jme selbst / zufelligen / Inner oder eus=/'serlichen/ offen / oder heymlichen / des gantzen/'Leybs gebrechligkeyt/ wie nur die mögen Namen //haben / für Mannß vnd Frawen personen/ ]un=//gen vnnd Alten / sehr nutz vnd diestlich//yeder meniggklich zu gebrauchen.//Von allen Newen vnd //Alten erfarnen / berümbtesten Ertzten/ //zusamen getragen/ gleich als für ein H Hauß Apoteck oder Haußschatz.//Ecclesiastici. X X X V m . //Der HERR hat die Ertzney von der Erd geschaffen/ //Vnd der Weyse wirdt keine schewhe darob haben./' Gedruckt zu Königsperg in Preussen/ durch Johann Daubman./^M. D. LV. 1800 Wokabularz rozmaitych, passim. 1801 Vgl Verzeichnis im Anhang. 1 8 0 2 Sührig, Hartmut: Zur Unterhaltungsfunktion des Kalenders im Barock, in: Brückner, Wolfgang/ Blickle, Peter/ Breuer, Dieter (Hgg.): Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland, Teil Π (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 13), Wiesbaden (1985), 727. 1803

Giesecke, Buchdruck, 529 f.

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galten diese Informationen als „privat", da es im Belieben des einzelnen stand, sie zur Kenntnis zu nehmen oder nicht. Ihrem weite Kreise interessierenden Inhalt gemäß, richteten sich die lebenspraktischen Bücher an alle Teilnehmer einer Sprachgemeinschaft, Sprachlehrbücher auch an mehrere Sprachgemeinschaften. Meistens hatten die Ratgeber aber in besonderer Weise einen enger umgrenzten Kreis von Lesern oder Hörern im Blick, die bestimmte Kenntnisse bei ihrer Alltagsarbeit brauchten oder für Notfälle gerüstet sein wollten. Als Johann Daubmann 1555 in Königsberg das schon in seiner Nürnberger Offizin erfolgreiche „Artzneybuch" zum zweiten Mal herausgab1804, zählte er auf, wem das Buch nützen könne. Es zeige dem Rat einer Stadt, wie man sich bei eingeschleppten Krankheiten zu helfen habe1805; es gebe denen Rat, die einen Arzt nicht bezahlen könnten, mache fähig zur Ersten Hilfe bei Verletzungen und Verwundungen und diene unerfahrenen Ärzten, Schwangeren, Wöchnerinnen und Hebammen als Ratgeber1806. Daubmann empfahl das Buch also allen Menschen, zu deren Berufspflichten die Gesundheitsfürsorge gehörte, darüber hinaus den anderen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft, sofern sie sich medizinisch selbst helfen wollten. Bemerkenswert ist, daß lebenspraktische Literatur sich oft und offenbar bewußt an Leserinnen richtete. Das deutsch-polnische SentenzenWörterbuch von Daubmann führt in den Deklinations- und Konjugationstabellen konsequent im Deutschen und Polnischen ausschließlich die weiblichen Formen auf1807; und als Musterbrief formuliert es den Neujahrsbrief eines Mädchens an seine Mutter1808. Das „Artzneybuch" von 1555 enthält illustrierte Ratschläge zur Geburtshilfe1809 sowie gereimte Hinweise für das Verhalten von Schwangeren und zur Pflege von Neugeborenen, Säuglingen und kleinen Kindern1810. Gerade lebenspraktische Literatur scheint schon im 16. Jahrhundert mit Frauen als Lese- oder Vorlesepublikum gerechnet zu haben, also mit denen, die zur formalen Bildung keinen oder nur begrenzten Zugang hatten. Durch die Ratgeberbücher erschloß sich der Buchdruck einen weiteren Kreis von Infor1804 D a z u Vgl. Artzneybuch, fol..'. 3 r. 1805

Artzneybuch, fol. Λ 2 r und .'. 3 r sq. 1806 Artzneybuch, fol. .'. 3 ν sq. 1807 Wokabularz rozmaitych, G 2 ν sqsq. 1808 Wokabularz rozmaitych, S 7 r sq. 1809 Artzneybuch, Bbb 2 v—Ddd 3 v. 1810 Artzneybuch, Mmm 4 ν—Sss 1 r.

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

mationsempfängern. Die Schicht der regelmäßigen Leser erweiterte und differenzierte sich, so daß sie nicht mehr nur die akademisch Gebildeten umfaßte. Der Buchdruck machte die Anfänge einer nicht-akademischen, volkssprachlichen „Lesewelt" möglich — in Preußen zunächst für das Deutsche, ansatzweise auch für das Polnische. Auf lange Sicht ließen Ratgeber und Fachbücher nicht nur neue „Publika", sondern auch neue „Bildungsgüter" entstehen. Fachbücher systematisierten bisher ungeordnetes Wissen und ordneten es sinnvoll an. Praktische Disziplinen gewannen Anschluß an die Bildungswelt. Sie galten zwar noch lange nicht als Bildungsgüter im strengen Sinne, da sie sich nicht auf das traditionelle, christlich-kirchlich bestimmte Welt- und Menschenbild beziehen ließen. Als aber im 19. Jahrhundert das Bildungsideal sich säkularisierte und die Vorherrschaft der Theologie zu Ende ging, konnten die praktisch orientierten Disziplinen in die Bildungs-Öffentlichkeit vordringen. Im frühen 19. Jahrhundert übernahm die Geschichte die Rolle einer sinndeutenden Wissenschaft1811, nach 1870 stellten vor allem die Naturwissenschaften Leitbilder des Lernens und Wissens zur Verfügung. Im 20. Jahrhundert gehört auch naturwissenschaftliches und technisches Wissen zur notwendigen Bildung. Die lebenspraktisch orientierte Ratgeberliteratur zählt allerdings noch heute nicht zum „Bildungsgut", auch wenn sie für viele Erwachsene die einzige Quelle sinnvoll geordneten Wissensstoffes ist. Die prekäre Stellung der lebenspraktischen Literatur zur Bildungs-Öffentlichkeit hat sich trotz eines Wandels des Bildungsideals erhalten. Bildung und ihre Öffentlichkeit orientieren sich augenscheinlich noch im 20. Jahrhundert am Leitbild theoretischer Wissenschaften. In dieser Hinsicht bestimmt das Mönchsideal noch den heutigen Bildungsbegriff.

3. Einfluß der Informationen-Öffentlichkeit

auf Bildung und Politik

Für das 16. und frühe 17. Jahrhundert wird man den Einfluß der Informationen-Öffentlichkeit auf die beiden anderen als begrenzt ansehen müssen. Einmal stand die Informationen-Öffentlichkeit unter dem zensierenden und steuernden Einfluß der Öffentlichkeiten sowohl der Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800—1866. Bürgerwelt und starker Staat, München (2., unveränderte Auflage 1983), 498 f.; ders.: Deutsche Geschichte 1866—1918, Erster Band, Arbeitswelt und Bürgergeist, München (1990), 633 f. 1811

Verhältnis zu den anderen Öffentlichkeiten

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Macht als auch der Bildung. Zum andern galten Informationen in den Augen der Bildungs-Öffentlichkeit als minder wichtig, weil sie mit dem Bildungsideal nicht unmittelbar verbunden waren. Abgesehen von den wissenschaftlichen Informationen, auch solchen, die auf lateinischen Flugblättern verbreitet wurden, nahm die gelehrte Welt Informationen kaum zur Kenntnis, es sei denn, um sie wie Oslander zu kritisieren und ihre Glaubwürdigkeit anzuzweifeln. Zudem brauchte die Informationen-Öffentlichkeit zur Beschaffung und Verbreitung von Informationen die Hilfe von Botensystemen, Korrespondenzen und Buchdruck, also von Einrichtungen der anderen Öffentlichkeiten. Sie verfügte mit Ausnahme des Bänkeis und der informellen mündlichen oder SignalWeitergabe von Nachrichten über keine eigenständige Verbreitungsstruktur, die etwa dem Korrespondentensystem moderner Zeitungen analog gewesen wäre. So konnte die Öffentlichkeit der Informationen keinen eigenen Einfluß auf die beiden anderen Öffentlichkeiten ausüben. Auf lange Sicht wirkte die Informationen-Öffentlichkeit allerdings doch auf beide ein, und zwar weniger durch ihre Inhalte als dadurch, daß sie Informationen verbreitete, die Anschluß an die Bildungswelt gewinnen konnten. Die gedruckte lebenspraktische Literatur schuf einen Bestand an praktischem Wissen, der nach dem Kenntnisstand der Zeit sinnvoll geordnet war und seinerseits zur Grundlage eigenständiger Wissenszweige werden konnte. So wurde die langsame Veränderung des Bildungsideals möglich, die der Theologie die Vorherrschaft in der Bildungs-Öffentlichkeit streitig machte. Außerdem führte die lebenspraktische Literatur neue Schichten der Bevölkerung an die Bildungswelt heran, zielgerichtet offenbar die Frauen, die zur formalen Bildung keinen oder nur geringen Zugang hatten. Das Aufkommen der Avisen ließ ebenfalls ein spezifisches „Publikum" entstehen, eine „ZeitungsLesewelt", die über den Kreis der traditionellen lateinkundigen Leser hinausreichte. Die entstehende „Zeitungsbildung" gewann zunehmend an Bedeutung im Alltag der Menschen, vor allem der Stadtbevölkerung. Mit den ersten universitären Zeitungskollegs zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde die „Zeitungsbildung" gleichsam von der BildungsÖffentlichkeit anerkannt. Naturwissenschaft, moderne Fremdsprachen und andere praktische Fächer mußten auf ihre Anerkennung in der Bildungs-Öffentlichkeit länger warten; die auf praktische Lebensbewältigung zielende Literatur wird vielfach noch heute nicht zum Bildungsgut gerechnet. Wenn aber

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III. Die Öffentlichkeit der Informationen

im 20. Jahrhundert kein „Fach" mehr von vornherein aus dem Bildungskanon ausgeschlossen werden kann, so scheint das in der Konsequenz der Entwicklung zu liegen, die im 16. Jahrhundert begann und die nicht-theologischen Fächer durch Systematisierung gegenüber der traditionellen, theologisch orientierten Bildung aufwertete.

ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK

Geschichte der Öffentlichkeiten in der Neuzeit I

Öffentlichkeiten im 16. und frühen 17. Jahrhundert Das 16. und frühe 17. Jahrhundert kannte zwar nicht den Begriff „Öffentlichkeit", wohl aber die Sache. Von „öffentlichen" Dingen, Vorgängen und Personen konnte in verschiedener Bedeutung gesprochen werden. Die drei Aspekte oder Bedeutungen von „öffentlich" im 16. Jahrhundert wurden in der vorliegenden Arbeit als Öffentlichkeit der Macht, Öffentlichkeit der Bildung und Öffentlichkeit der Informationen bezeichnet. Alles „Öffentliche" stand im Gegensatz zum „Privaten", dem einzelnen Zugehörigen. Aus dem römischen Recht stammte der Begriff „publicus", den das europäische Mittelalter für die Verhältnisse germanischer Rechte umdeutete. Nach Otto Brunner galten im Mittelalter als öffentlich Personen und Dinge, die mit der rechtlichen Verfügungsgewalt über Untergebene zu tun hatten, insbesondere aber Personen, die Frieden gewähren konnten, Immunität und politische Selbständigkeit genossen. Selbständige politisch Handelnde hießen im 16. Jahrhundert „personae publicae". Sie selbst und die mit ihnen zusammenhängenden Eigenschaften, Vorgänge und Entscheidungen wurden in der Arbeit der Öffentlichkeit der Macht zugerechnet. Ferner galten als öffentlich das für allgemein verbindlich angesehene christliche Bildungsideal sowie alle Personen, die darauf Einfluß hatten, und alle Vorgänge, die es veränderten oder bestätigten, vor allem das Reformprogramm der Reformation und ihre Bemühungen der Lehre, der Predigt und des Lernens. Schule und Kirche standen im 16. Jahrhundert gleichermaßen im Dienst des für allgemeinverbindlich gehaltenen Bildungsideals. Die speziellen Berufsausbildungen konnten dagegen keine Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen und

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Geschichte der Öffentlichkeiten in der Neuzeit

galten daher als „privat". In ihnen konnte, im Unterschied zur schulischen und kirchlichen Unterweisung, der einzelne darüber entscheiden, was und wie er lernte. Der Bereich des allgemein verbindlichen Bildungsideals wurde in der Arbeit als Öffentlichkeit der Bildung bezeichnet. Öffentlich hieß drittens, nach einer schon im 16. Jahrhundert bekannten Bedeutung des Wortes, alles allgemein Zugängliche, das von allen ihrer Sinne mächtigen Menschen wahrgenommen werden kann. Die allgemeine Bezeichnung für etwas Wahrnehmbares ist „Information". Daher wird die zuletzt genannte Art der Öffentlichkeit in Abgrenzung zu den beiden anderen „Öffentlichkeit der Informationen" genannt. Für das 16. und 17. Jahrhundert kann man zwar von schlechthin „privaten" Dingen, Personen oder Vorgängen sprechen, nicht aber von schlechthin öffentlichen. Die Eigenschaft der Öffentlichkeit kam nichts und niemandem absolut zu, sondern jeweils in verschiedenem Maße. Die Öffentlichkeit war stets gestuft. Sie wies verschiedene Grade auf und bildete verschiedene Schichten von Personen, die an ihr teilhatten. In der Öffentlichkeit der Macht bestimmten der Rang des Machtbereichs und der Rang der Beherrschten den „Öffentlichkeitsgrad" einer Person. Die höchste Öffentlichkeit hatte der Landesherr. Unter ihm standen die Landstände, im Herzogtum Preußen „Herren und Landräte", „Ritterschaft und Adel" und Städte. Minder öffentliche Gewalten stellten die Korporationen innerhalb des Landes oder der Städte dar, zum Beispiel die Zünfte, die Dorfschaften oder die Universität als Korporation. Jede persona publica übte rechtliche Verfügungsgewalt über Untergebene aus, die meist selbst wieder Untergebene hatten. Minderrangige setzten der öffentlichen Gewalt oft Grenzen durch ihre Immunität, da die höhere Gewalt in den Verfügungsbereich der niederen nicht eingreifen durfte. Es gab daher in der Verwaltung keinen Instanzenzug; im Gerichtswesen entwickelte er sich erst allmählich bis ins 17. Jahrhundert. Jede öffentliche Gewalt stand zu der des Landesherrn unmittelbar und leitete sich nicht aus einer höheren ab wie in einer Amterhierarchie. Die niederste öffentliche Gewalt übte der einzelne Hausherr über Ehefrau, Kinder und Gesinde. Er herrschte nur über „Privatpersonen", die selbst keine öffentliche Gewalt innehatten. In der Öffentlichkeit der Bildung hing der Öffentlichkeitsgrad einer Person von ihrem Einfluß auf das Bildungsideal ab. Die oberste Schicht, die der „Bildungspolitiker", kann das Bildungsideal selbst definieren und verändern oder stabilisieren. Sie bestand im 16. und 17. Jahrhundert nur

Öffentlichkeiten im 16. undfrühen 17. Jahrhundert

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zeitweise, da „Bildungspolitik" noch keine ständige Aufgabe war. Ihr widmeten sich einerseits Anreger und Reformer wie die Reformatoren aller Territorien, andererseits die Instanzen, zu deren Aufgaben die Kontrolle kirchlichen und schulischen Lebens gehörte, die Landesherren, Bischöfe, Pfarrer und Synoden. In Reformzeiten bildeten sie den Personenkreis höchster Öffentlichkeit in der Öffentlichkeit der Bildung. In Zeiten ohne Reformbemühungen trat die Schicht der „Bildungspolitiker" nicht selbständig auf. Die höchste Öffentlichkeit bildeten dann die aktiven Streiter, die das vorgegebene Bildungsideal in Einzelheiten bestimmten, seine Regeln anwendeten und Spezialfragen diskutierten. Im 16. Jahrhundert stellten die Theologen den größten Teil der aktiven Streiter, zumal in Preußen, wo der Humanismus als weltliche Bildungsbewegung kaum hatte Fuß fassen können. Im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert traten neben den Theologen auch akademische Dichter lateinischer Sprache und Komponisten hervor; eine stärker weltlich akzentuierte Bildung begann sich zu entwickeln. Dichtung und Musik gehörten zur akademischen Ausbildung. Die Musik stand dem kirchlichen Leben noch näher und prägte als Kirchen- oder Gelegenheitsmusik das Bildungsideal mit. Während die „Oberstände" der Bildungswelt das Bildungsideal ganz oder teilweise verändern können, haben ihre „unteren Stände", Vermittler und Lernende, keinen Einfluß auf die Inhalte der Bildung. Die Vermittler, zu denen Pfarrer, Lehrer und Ubersetzer zählten, geben Bildungsinhalte weiter; die Lernenden nehmen sie auf. Die minder öffentlichen Schichten der Bildungs-Öffentlichkeit waren weniger namentlich faßbar, aber nicht einflußlos. Durch Vermittlung und Katechese in den Muttersprachen prägten Pfarrer und Lehrer auch die nichtdeutschen Volksgruppen des Herzogtums, die an den Kontroversen nicht teilnahmen. Übersetzer von Bibel und Erbauungsliteratur trugen die Grundschriften evangelischen Glaubens über die Landesgrenzen hinaus nach Polen, Litauen, Kurland und Livland. Die Lernenden — Kirchgänger, Schüler und Studenten — konnten das Bildungsideal zwar nicht beeinflussen, sich aber den Bildungsbemühungen durch Fernbleiben oder „Auslaufen" entziehen. Eine „Privatsphäre" gab es gegenüber dem Bildungsideal nicht, es sei denn, einzelne oder Gruppen entschlossen sich, die obrigkeitlich festgelegte Konfession abzulehnen. Glaubensabweichungen duldete die Obrigkeit nur gezwungenermaßen. Herzog Albrecht machte Holländern und Böhmen religiöse Zugeständnisse, um das Land zu bevölkern. Toleranz für Katholiken wurde dem Kurfürsten

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Geschichte der Öffentlichkeiten in der Neuzeit

Johann Sigismund durch den Belehnungsvertrag von 1611 aufgenötigt. Unter den Prußen gab es im 16. Jahrhundert noch Heiden, deren Kult aber obrigkeitlich bekämpft wurde. Die allgemein zugänglichen Informationen richteten sich zwar theoretisch an eine zahlenmäßig nicht abgrenzbare Gruppe, an „alles Volk". In dem vielsprachigen Preußen mit einer hohen Zahl von Analphabeten erreichten jedoch schon sprachlich und erst recht schriftlich gefaßte Informationen nicht „alles Volk", sondern eingeschränkte Empfängerkreise. Sprachliche Informationen konnten nur von einer einzelnen Sprachgemeinschaft verstanden werden; schriftliche Informationen erreichten unmittelbar nur Lesefähige, die „Lesewelt". Im Unterschied zum Nationalstaats-„Publikum" der überwiegend Lesefähigen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wiesen viele Territorien des 16. Jahrhunderts eine gestufte Informationen-Öffentlichkeit auf. Ubersetzungen und das Vorlesen ermöglichten es, mit schriftlichen Informationen einen Empfängerkreis zu erreichen, der mehr als die „Lesewelt" und mehr als eine Sprachgemeinschaft umfaßte. Eine „Lesewelt", in der Informationen fast ausschließlich schriftlich kursierten, existierte nur in der lateinischen Sprachgemeinschaft. Nur sie bildete ein „Publikum", das man heute „dispers" nennen würde. Die Kommunikationsformen waren in allen Aspekten, Teilen und Schichten der frühneuzeitlichen Öffentlichkeit außerordentlich vielfältig. Neben den Formen handschriftlicher Aufzeichnung und den historisch noch jungen Gattungen des Drucks erhielten sich mündliche Formen von der politischen Verhandlung bis zur Disputation sowie Formen der Darstellung und Lehre mittels Tatsachen, Signalen, Symbolen, dinglichen Zeichen, Bildern, Gesten, Theater und Musik. Die schriftlichen Formen dominierten noch nicht; aber die Schriftlichkeit drang seit dem späten Mittelalter immer weiter vor und beeinflußte immer mehr Bereiche des öffentlichen Lebens in allen Aspekten. Am weitesten „verschriftlichte" sich die Bildungs-Öffentlichkeit, die schon im Spätmittelalter eine Schriftkultur ausgebildet hatte. Bis zum 16. Jahrhundert war die Disputation aus einer rein mündlichen zu einer weitgehend schriftlich vorbereiteten Veranstaltung geworden1812. Mündliche Formen der akademischen Lehre wie Quaestio und Oratio wurden im 16. Jahrhundert schriftlich vorbereitet und erreichten durch den Druck ein großes Publikum. Der Druck unterstützte den Prozeß 1812 Hollerbach 12 f.

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der Verschriftlichung, weil „nach Gutenberg" identische Exemplare eines Textes in großer Menge hergestellt werden konnten, etwa Bibeln, Katechismen und die protestantischen Bekenntnisschriften. Da die protestantischen Kirchen Bibel, Katechismus und die jeweilige territoriale Bekenntnisschrift als Lehrgrundlage benutzten, kamen die Möglichkeiten des Buchdrucks dem Protestantismus sehr entgegen. Mehr und vor allem prinzipieller als die alte Kirche stützte sich der Protestantismus auf „die Schrift" und auf Schriften und drängte dafür kultisch-symbolische Ausdrucksformen zurück. Man könnte geradezu von der Verschriftlichung des Christentums durch die protestantischen Konfessionen sprechen. Die mündliche Mitteilung blieb jedoch wichtig und galt in der Bildungs-Öffentlichkeit als mindestens ebenso glaubwürdig wie die schriftliche Fassung. In der politischen Welt drang die Schriftlichkeit seit dem späten Mittelalter vor. Im untersuchten Zeitraum setzte sich im preußischen Landtag die schriftliche Verhandlung zwischen den Landtagskurien sowie zwischen den Ständen insgesamt und dem Herzog durch. Die schriftliche Festlegung galt als besonderer Glaubwürdigkeitsbeweis, was sie in der gelehrten Welt nicht überall war. Schriftliche Aussagen wurden auch deshalb geschätzt, weil sie den politischen Gegner festlegten und weil Ehre oder Mißgriffe, „Glimpf und gutter Nahm" 1813 in schriftlicher Form über Zeiten hinweg überliefert werden konnten. Die Schriftlichkeit paßte zu dem Denken in langen Zeiträumen und zu dem statischen Weltverständnis, das die „personae publicae" des konfessionellen Zeitalters pflegten. Dem Druck öffnete sich die Macht-Öffentlichkeit jedoch kaum. Zwar nutzten Landesherrschaft und Stände die Druckerei zur Verbreitung amtlicher Schriften wie der Mandate, Steuer- und Landtagsausschreiben. Landtagsabschiede wurden jedoch nur selten gedruckt und dann auch nur in geringer Auflage. Weder Herrschaft noch Stände wollten die Ergebnisse ihres Handelns „der Allgemeinheit" mitteilen. Die „personae publicae" erkannten grundsätzlich keine Öffentlichkeit außer sich an, vor der sie ihre Politik hätten rechtfertigen müssen. In der Öffentlichkeit der Informationen hatte Schriftlichkeit im 16. Jahrhundert nur geringe Bedeutung. Informationen ausschließlich für Lesekundige entwickelten sich in Preußen erst nach 1560. Fachbücher und Sprachlehren suchten ungeordnetes Wissen zu systematisieren. 1813

Bericht der Oberräte vom Landtag, 20./30. Dezember 1605, zitiert nach Klinkenborg 1, 579.

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Kleine Büchlein „zeitgeschichtlichen" Inhalts, die sehr schnell hergestellt und gedruckt wurden, brachten Nachrichten von politischen Vorgängen. „Sensations"-Flugblätter erschienen in Preußen gewiß ebenso wie andernorts, haben sich aber nicht erhalten. Spätestens seit 1618 wurden Mitteilungen aus der politischen Welt periodisch als „Avisen" in Königsberg gedruckt. Die meisten schriftlichen Informationsformen gebrauchten eine komplizierte, mit Fachwörtern durchsetzte Sprache und können deshalb kaum für alle Lesefähigen bestimmt gewesen sein. Dennoch hatten die Avisen wahrscheinlich auch Hörer, denen sie vorgelesen wurden. Die übrigen schriftlichen Mitteilungsformen der Informationen-Öffentlichkeit hielten lediglich Texte fest, die vorgelesen werden sollten, etwa ein amtliches Mandat oder eine Nachricht. Auch Lieder konnten schriftlich überliefert werden; doch bedeutete bei ihnen die schriftliche Fassung nur ein Zwischenglied in einer Kette mündlicher Uberlieferungen. Trotz der großen Bedeutung der Schriftlichkeit in der öffentlichen Kommunikation des konfessionellen Zeitalters prägte Mündlichkeit weite Bereiche des öffentlichen Lebens. Mündliche Gesprächs- und Informationsformen beschränkten sich nicht auf die „Volkskultur" der NichtLesekundigen. In der Bildungs-Offentlichkeit galt die mündliche Aussage gelegentlich sogar als glaubwürdiger denn die schriftliche. Disputation und Vorlesung mußten mündlich stattfinden, auch wenn es schriftliche Vorlagen und Lehrbücher gab. Die mündliche Darlegung genoß offenbar besondere Wertschätzung und beglaubigte die Wahrheit der Aussagen, nach dem Verständnis der Zeit, leichter als die schriftliche Fixierung. In der Macht-Öffentlichkeit verwandte man mündliche Verhandlungen, wenn es auf besondere Flexibilität ankam, zum Beispiel in den Ausschüssen des Landtags und innerhalb der Landtagskurien. In der Diplomatie sicherten mündliche Abmachungen die Vertraulichkeit. Amtliche Mitteilungen an Analphabeten wurden mündlich weitergegeben, meist nach einer schriftlichen Vorlage, zum Beispiel durch Verlesung vom Rathaus oder von der Kanzel. Bei nicht-amtlichen Informationsformen, etwa beim Erzählen von Nachrichten, bewährte sich die mündliche Form der Mitteilung als die flexibelste und schnellste. Bis ins 19. Jahrhundert verbreitete das Erzählen eine Nachricht im allgemeinen schneller als der Buchdruck. Erst Schnell- und Rotationspresse, verbunden mit einem leistungsfähigen Verkehrssystem, ließen die schriftliche Nachrichtenweitergabe der mündlichen endgültig überlegen werden.

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Symbolische und zeichenhafte Ausdrucksformen standen hinter schriftlichen und mündlichen an Bedeutung zurück. In den Öffentlichkeiten der Macht und der Bildung wurden Änderungen des Rechtsstatus von symbolischen Riten begleitet und durch sie bezeichnet. Vor allem Amtseinsetzungen wurden symbolisch umrahmt, wenn man sie als grundlegende und dauerhafte Veränderung des Verhältnisses zu Gott und den Menschen verstand. Das Symbol, das überreicht und empfangen wurde, stand für das Verhältnis als ganzes und hatte daher mehrere Bedeutungen, die sich als Gesamtheit erst dann erschließen, wenn man ihren kulturellen Hintergrund kennt. Uber den symbolischen Prozeß hinaus wurden Statusänderungen oft zeichenlos, als „nackte" Tatsachen vermittelt. Zum Beispiel vollendete sich die symbolische Einsetzung eines Herrschers in seinem Einzug in der Residenzstadt. Die symbolische Handlung der Exkommunikation wurde anschließend in der Prangerstrafe für alle Gemeindeglieder und für Vorübergehende unmittelbar sinnenfällig. Tatsachen-Informationen und Symbole eignen sich als Kommunikationsformen in Gesellschaften, in denen der Rechtsstatus eines einzelnen auch die Gemeinschaft berührt. Besondere Zeiten und Orte wurden durch Signale akustischer oder optischer Art markiert. Zum Beispiel zeigte in Preußen die Marktfahne an, daß der Markt für fremde Händler gesperrt war. Gottesdienstzeiten und Notfälle wurden durch Glockenschlag bekanntgemacht; Trommeln und Trompeten dienten als militärische Signalinstrumente. Im Unterschied zu Symbolen sind Signale eindeutig und lassen sich daher mit einer einfachen Erklärung unabhängig vom Kulturhintergrund verstehen. Sie eignen sich daher in allen vielsprachigen Gesellschaften zur Weitergabe einfacher, eindeutiger Informationen. Von bildlichen Ausdrucksformen und Theater hört man aus dem Herzogtum Preußen nicht viel. Allenfalls zur Fastnachtszeit und eventuell ein weiteres Mal im Jahr gab es eine Theateraufführung. Bildliche Zeugnisse in Form von Flugblättern haben sich nur spärlich erhalten. Vielleicht wirkt in der Vernachlässigung bildlichen und theatralischen Ausdrucks eine Art protestantischen Grund-Mißtrauens gegen jene Ausdrucksformen nach, denen die spätmittelalterliche Frömmigkeitspraxis so nahezu ausschließlich gehuldigt hatte. Dagegen entwickelte das lutherische Königsberg ein verhältnismäßig reges Musikleben. Lieder wurden nicht nur im Gottesdienst und zu kirchlichen Festen gesungen, sondern auch zu weltlichen festlichen Gelegenheiten wie einem Amtsantritt. Tagesaktuelle Inhalte fanden ebenfalls eine besondere Gestalt im

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Lied. In der Anfangszeit der Reformation propagierten die Lieder Luthers und Speratus' das neue reformatorische Ideal. In den Osianderstreitigkeiten der fünfziger und sechziger Jahre des 16. Jahrhunderts griffen Spottlieder, meist Parodien auf Kirchenliedmelodien, in die theologische Debatte ein, suchten den jeweiligen Gegner zu treffen oder die eigene Ehre zu retten. Nachrichten-Lieder wurden geschätzt, weil sie sich in ihrer Vers- und Melodieform leicht einprägen und weitertragen ließen. Der Ausdruck „Neue Zeitung" bezeichnete ursprünglich den Inhalt von Nachrichten, die als Verse oder Lieder weitergetragen wurden. Im Buchdruckzeitalter ging die Bezeichnung auch auf das Flugblatt über, das die Nachricht trug, wurde jedoch nicht zum Gattungsnamen oder gar zur Bezeichnung für ein publizistisches Organ. Spott- und Nachrichtenlieder blieben ausschließlich tagesaktuell. Bestand ihr Anlaß nicht mehr, so gingen sie unter. Nur durch Zufall haben sich einige von ihnen in der herzoglichen Korrespondenz erhalten. Die weniger tagesaktuellen geistlichen Lieder entfalteten breitere und tiefere Wirkung. Sie wurden mit der Gemeinde im Gottesdienst einstudiert und in Gesangbüchern für die Chorsänger zusammengestellt. Die Orthodoxie schrieb in den meisten Territorien des Reiches und auch in Preußen verbindlich vor, welche Lieder zu bestimmten Zeiten und Anlässen gesungen werden sollten. Durch Wiederholung und Gewöhnung wurden die Lieder zum Traditionsgut und überdauerten Generationen. Lieder der Reformationszeit prägen noch heute den Liedschatz der protestantischen Kirchen. Die Tiefenwirkung aber erkauften die Lieder mit dem Verzicht auf einen Teil ihrer Öffentlichkeitswirkung. Zum Gegenstand der Auseinandersetzung, zum aktuellen Diskussionsstoff, wurden sie nicht mehr. Die Entscheidungsprinzipien der drei Öffentlichkeiten und die Abläufe ihrer typischen Auseinandersetzungen unterscheiden die Öffentlichkeiten wohl am stärksten voneinander. In der Öffentlichkeit der Macht entschied in einer politischen Auseinandersetzung der Rang jedes einzelnen Teilnehmers über seinen Einfluß im Entscheidungsprozeß. Damit auch der Unterlegene oder Minderrangige die Entscheidung akzeptieren konnte, durfte sie ihm nicht diktiert werden, sondern alle Beteiligten mußten den Konsens anstreben. Eine Entscheidung nach Konsens garantierte am ehesten, daß sie auch befolgt wurde, da die „personae publicae" wenig Zwangsmittel hatten, die Befolgung durchzusetzen. Besondere Verfahren stellten den Konsens auf jeder Ebene der Entscheidung sicher. Gerichtliche Entscheidungen wurden — noch — grundsätz-

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lieh ausgehandelt, nicht nach abstrakten Rechtssätzen festgelegt. In Abstimmungen galt nicht das Mehrheitsprinzip, sondern das „Umfragen", bei dem jeder einzelne offen seine Meinung kundtat, bis man sich geeinigt hatte. Ein besonders stark formalisiertes Verfahren befolgte der Landtag. Die Kurien von Ranggleichen verhandelten nacheinander die gesamte Tagesordnung. Sie einigten sich zunächst unter sich, dann untereinander und schließlich mit dem Landesherrn. Grundsätzliche Opposition konnte es in dem von Konsens bestimmten Verhandlungsmodell nicht geben. Die Machtverhältnisse lagen im Prinzip fest und konnten nur graduell verschoben werden. Dazu aber bot die Landtagsverhandlung allen Teilnehmern reichlich Gelegenheit. Der Landesherr hatte formal die stärkste Position, weil er die Tagesordnung festsetzte, das Hausrecht ausübte und den Landtag, wenn man nicht zu einer Einigung kam, eigenmächtig schließen konnte. Die Stände spielten vor allem ihr Steuerbewilligungsrecht aus. Sie drohten, Steuern nur dann zu bewilligen, wenn auch den ständischen „Gravamina" entsprochen wurde. Durch Verschleppen konnten die preußischen Stände den Landesherrn selten unter Druck setzen, da die sie absendenden Amter die Spesen des Landtags begleichen mußten. Auch aus finanziellen Gründen lag deshalb den Ständen an einer raschen Einigung. Die Bestrebungen des Herzogs Georg Friedrich, ständische Mitwirkungsrechte einzuschränken und gar ohne Stände zu regieren, wurden von Fürst und Ständen als Bruch der überkommenen Ordnung aufgefaßt und ließen sich auf Dauer nicht durchsetzen. Im Gegensatz zu den politisch Mächtigen, deren Entscheidungen aus Verhandlungen hervorgingen, richtete sich die Bildungs-Offentlichkeit bei ihren Auseinandersetzungen nach Maßstäben, die außerhalb der Verhandlung lagen. Jede Bildungs-Offentlichkeit kennt solche externen Maßstäbe. Für das 16. und frühe 17. Jahrhundert setzten die Bibel und in geringerem Maße die Kirchenväter und antike Philosophen den Maßstab für die Entscheidung wissenschaftlicher Kontroversen. Als „wahr" galt nur, was sich aus den genannten Autoritäten widerspruchslos ableiten ließ. Die Formen der Auseinandersetzung, ob mündliche wie die Disputation oder schriftliche wie der Flugschriftenkampf, zielten darauf ab, die Ubereinstimmung bestimmter Thesen mit den anerkannten Autoritäten nachzuweisen oder zu widerlegen. Der Maßstab der Entscheidung kann als „autoritätsgestützte Wahrheit" bezeichnet werden. Wahrheitsanspruch und Berufung auf Autoritäten widersprachen einander in der wissenschaftlichen Diskussion

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nicht, sondern die Berufung auf Autoritäten stützte den Wahrheitsanspruch einer Aussage. Im Laufe des 16. Jahrhunderts wurde in fast allen Konfessionskirchen außer den Autoritäten selbst auch der Blickwinkel festgelegt, unter dem sie betrachtet, und die Art und Weise, in der sie interpretiert werden sollten. Die Orthodoxie entstand. Sie bot den sich entwickelnden Konfessionskirchen den Vorteil, daß sie Lehrstreitigkeiten schneller entscheiden und ein geschlossenes, systematisch geordnetes Lehrgebäude überliefern und vermitteln konnte. Auch die Informationen-Öffentlichkeit verfügte über ein Kriterium der Wahrheit. Es berief und stützte sich jedoch nicht auf Autoritäten, sondern auf die sinnliche Wahrnehmung. Als „wahr" galt — und gilt noch immer — in der Informationen-Öffentlichkeit eine Aussage, wenn sie der sinnlichen Nachprüfung standhielt. Falls eine Aussage sich nicht sinnlich nachprüfen ließ, mußte sie sich wenigstens „glaubwürdig" präsentieren. Der Schreiber einer „Neuen Zeitung" konnte sich im 16. Jahrhundert beispielsweise auf glaubwürdige Informanten berufen, die ihm die Nachricht zugetragen hätten. Vom Wahrheitsbeweis an Autoritäten unterschied sich der Glaubwürdigkeitsnachweis der Informationen-Öffentlichkeit dadurch, daß er die Glaubwürdigkeit eines Informanten nur für einen speziellen Fall behauptete, nicht grundsätzlich wie bei einer Lehrautorität. Neben der „Wahrheit" und Authentizität einer Nachricht machten ihre Neuheit und ihr Sensationswert die Nachricht für den Käufer wertvoll und interessant. Als „neu" und aktuell konnte eine Nachricht im 16. Jahrhundert auch dann noch gelten, wenn sie vergangenes Geschehen wieder in Erinnerung rief und nach-erleben ließ. Augenzeugenberichte von der Belagerung Danzigs 1577 fanden in Königsberg auch zwei Jahre nach dem Ereignis noch Käufer; es erschienen sogar zwei Berichte verschiedener Autoren. „Sensationell" waren Nachrichten von ungewöhnlichen Naturerscheinungen — sie wurden auch von Naturwissenschaftlern als Quellen benutzt — oder besonders aufregende und schreckliche Berichte. Die genannten Bewertungskriterien kennzeichnen die InformationenÖffentlichkeit grundsätzlich und hängen nicht mit einer einzelnen Mitteilungsform oder Verbreitungsstruktur zusammen. Im Unterschied zu den Maßstäben der gelehrten Welt oder dem Konsensverfahren der Politik dienen die Bewertungskriterien der Informationen-Öffentlichkeit nicht als Entscheidungsmaßstäbe, da durch Information allein nichts entschieden wird. Allenfalls könnte man sagen, daß die Bewertungskri-

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terien für Nachrichten die Entscheidung des Käufers darüber bestimmten, welche Nachricht er als Flugblatt oder Broschüre erwerben mochte. Für Signale und alle Arten amtlicher und obrigkeitlicher Nachrichtenverbreitung gelten die Bewertungsmaßstäbe nicht. Bei obrigkeitlicher Information setzt die Obrigkeit selbst fest, welche Nachrichten sie verbreitet sehen will und welche nicht. Die Informationen-Öffentlichkeit hat in solchen Fällen keinen Einfluß darauf, welche Nachrichten sie erreichen. Wenn von öffentlicher Kommunikation die Rede ist, denkt man zuerst weniger an die Teilnehmer und Formen von Mitteilungen oder Gesprächen, sondern sehr oft an die Mechanismen der Informationsverbreitung, an die Post, den Buchdruck und das Bänkel des Zeitungs- und Balladensängers. Das Bänkel als „Verbreitungs"instrument kann hier als vergleichsweise unbedeutend übergangen werden, weil es nur der Informationen-Öffentlichkeit diente und erst im 17. Jahrhundert aufkam. Der wichtigste Verbreitungsmechanismus für Mitteilungen jeder Art war zweifellos der Buchdruck. Im 16. Jahrhundert diente er vor allem der Verbreitung und Popularisierung des reformatorischen Bildungsideals. Die Flut populärer Schriften über die Reformation besonders in den Jahren bis 1525 erweckte bei vielen Forschern den Eindruck, die Druckerpresse habe die neue Art der „reformatorischen Öffentlichkeit" geschaffen1814 oder wesentlich ermöglicht1815. Am Beispiel Preußen sieht man, daß der Buchdruck eine spezifisch „reformatorische Öffentlichkeit" nicht zwangsläufig hervorbringen mußte. Die für die Sturmjahre der Reformation typischen populären Streitschriften und schwankhaften Dialoge fehlen in Preußen fast völlig. Erst in den Osianderstreitigkeiten entwickelte sich auch in Preußen eine Kontroversliteratur, die auf das Fassungsvermögen nicht lateinkundiger Laien Rücksicht nahm. In Preußen druckte die Presse hauptsächlich solche Schriften, die auch handschriftlich hätten überliefert werden können: theologische Kontroversliteratur, Bekenntnis- und Erbauungsschriften, vor allem für die nichtdeutschen Sprachgruppen, sowie amtliche Mandate und Ausschreiben. Im Verhältnis zu anderen deutschsprachigen Territorien stellte sich die preußische Druckerei erst spät in den Dienst der Informationenverbreitung im engen Sinn. Erst aus der Zeit nach 1560 sind mehrere Königsberger „Neue Zeitungen" überlie-

1814 1815

Giesecke, Buchdruck, 281; 283—289. Wittmann, Buchhandel, 43 f.; 47; Rabe 169; 214.

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fert, um 1580 die ersten ausführlicheren Prosa-Berichte über zeitgeschichtliche Ereignisse. „Fachliteratur" und praktische Ratgeber, wie sie im Westen Deutschlands schon Ende des 15. Jahrhunderts erschienen1816, tauchten in Preußen erst rund hundert Jahre später auf. Mit den zuletzt genannten Druckwerken entstand mit Hilfe des Drucks eine neue, bis dahin nicht bekannte Schicht der InformationenÖffentlichkeit, nämlich ein deutschsprachiges Lesepublikum, eine „Lesewelt" im Deutschen. Flugblätter und „Neue Zeitungen" können wegen ihrer Kürze auch zum Vorlesen vor Analphabeten gedacht gewesen sein. Dickleibige Prosawerke aber richteten sich hauptsächlich an Leser. Einige wandten sich speziell an lesefähige Frauen und erschlossen damit einer Schicht Zugang zum Gedruckten, die keine akademische Ausbildung genießen konnte und überhaupt an formaler Bildung wenig Anteil hatte. Die „Lesewelt" für Informationen in deutscher Sprache wurde durch den Buchdruck erst geschaffen, während die Schichten der Bildungs-Offentlichkeit schon vor dem Druck-Zeitalter bestanden hatten. In den nichtdeutschen Volkssprachen entwickelte sich im Herzogtum Preußen keine „Lesewelt". Die nicht deutschsprachigen Bibeltexte und Katechismen dienten als Lehrbücher und Predigthilfen und nicht dem selbständigen Gebrauch durch Laien. Noch im Jahre 1600 mußte Simon Waischnarus seine Ubersetzung eines Erbauungstraktats ins Litauische ausdrücklich rechtfertigen1817. Insgesamt gesehen, wurde Königsberg in den ersten hundert Jahren seiner Buchdruck-Geschichte kein bedeutendes Zentrum der Buchherstellung. Fast immer gab es nur eine einzige Offizin, und auch diese konnte sich wahrscheinlich nicht aus eigener Kraft erhalten, sondern war auf feste Zuwendungen der Obrigkeit angewiesen, auf eine Jahresbesoldung und das „Deputatkorn". Ob die Bibliotheken der Stadt die Bildungsbedürfnisse ihrer Bewohner befriedigen konnten, ist sehr fraglich. Die meisten Besitzer größerer eigener Bibliotheken mußten sich ihre Bücher über den Fernhandel oder durch eigene Einkäufer auf den Messen besorgen. Der Buchdruck prägte die öffentliche Kommunikation im Bereich der Bildung und der Informationsvermittlung so außerordentlich stark, daß man mit gewissem Recht von einem Zeitalter des Buchdrucks sprechen 1816 Wittmann, Buchhandel, 39; Giesecke, Buchdruck, 341 f. 1 8 1 7 Lietuvskoji Tarybne Enciklopedija, Bd. 12, Vilnius 1984, 7, Stichwort „Vaisnoras, Simonas".

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kann. Das Post- und Botenwesen erlangte nicht so überragende Bedeutung, weil es nicht alle Öffentlichkeiten beeinflußte. Nach seiner ursprünglichen Bestimmung diente das Botenwesen nur der MachtÖffentlichkeit zur Beförderung ihrer internen Nachrichten. Der Herzog von Preußen konnte nach der Säkularisierung des Ordensstaates das Botenwesen des Ordens übernehmen. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten1818 baute der Herzog nach seinen Informationsbedürfnissen das Botenwesen planmäßig aus. Neben dem Staffelsystem der Bauernfuhren setzte er festbesoldete Boten zu Pferde, zu Fuß und zu Wagen ein. Bis ins späte 16. Jahrhundert lief, fuhr oder ritt meistens ein einziger Bote die gesamte Wegstrecke bis zum Zustellungsort des Briefes und wieder zurück. Erst Herzog Georg Friedrich konnte auf den brandenburgischen „Hausstrecken" von Königsberg nach Berlin und Ansbach durch Absprachen mit anderen Mächten den Postdienst so organisieren, daß ein Staffelsystem entstand, in dem sich preußische Boten mit solchen anderer Mächte oder Korporationen ablösten. Von „Kursen" der Post kann man nur in eingeschränktem Sinne sprechen. Zwar lag der Streckenverlauf fest, aber die Boten traten nur im Bedarfsfall in Funktion. Regelmäßige Postbeförderung mit festen Ankunfts- und Abgangszeiten kannte die herzogliche Post im 16. Jahrhundert noch nicht. Nur die Kaufleute konnten schon um 1575 regelmäßige Postbeförderung gegen Gebühr anbieten. Die herzogliche Post richtete erst nach 1600 regelmäßige Postverbindungen nach Danzig und Berlin auf. Trotzdem galt sie schon im 16. Jahrhundert als leistungsfähig und zuverlässig, so daß Privatleute ihre Dienste gern in Anspruch nahmen. Sie bedurften dazu aber der Verbindung zum Hof oder zu Hofbediensteten. Die herzogliche Post beförderte nicht nur macht-interne Briefe, sondern auch amtliche Schreiben, die „allem Volk" zur Kenntnis gelangen sollten. Sie wurden den Amtleuten zugestellt und per Anschlag oder von den Kanzeln publiziert. Das Verfahren spielte sich im Laufe des 16. Jahrhunderts ein. Als Königsberg zu Anfang des 17. Jahrhunderts regelmäßig in wöchentlichem Abstand „Avisen" erhielt, bot sich die Möglichkeit, „allem Volk" regelmäßig Nachrichten aus der politischen Welt zukommen zu lassen. Für die deutsche Sprachgemeinschaft Preußens verwirklichte sich diese Möglichkeit 1618 mit den ersten gedruckten Avisen aus der Offizin von Johann Schmidt. Der Landbotenmeister, ein 1818 Visitationsinstruktion 1526, zitiert nach Sehling 4, 42.

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Angehöriger der Kanzlei, ließ dem Drucker wöchentlich gegen Geld Auszüge aus den amtlichen Korrespondenzen zukommen. Schmidt druckte sie wahrscheinlich unredigiert ab, wie es die meisten Avisendrucker im 17. Jahrhundert taten. Die Avisen nahmen deshalb keine Rücksicht auf das Fassungsvermögen ihres Lesepublikums. Sie verlangten Vertrautheit mit politischen Vorgängen und Vokabeln. Sofern der Leser nicht selbst Politiker, Jurist oder politisch beanspruchter Theologe war, mußte er sich die Kenntnis des politischen Wortschatzes durch regelmäßige Lektüre aneignen. Zeitungskundige erwarben durch das Lesen oder Hören von Avisen einen Wissensbestand, der ähnlich wie traditionelles Bildungsgut das Eindordnen neuen Wissens erleichterte. Je mehr die Zeitung zur selbstverständlichen Umwelt der europäischen Stadtbewohner zu gehören begann, desto mehr entwickelte sich das „Zeitungswissen" neben der traditionellen Bildung zu einem Wissensbestand, den man zur Lebensbewältigung unbedingt brauchte. Die Zeitung, das Kind von Post und Buchdruck, veränderte die frühneuzeitliche Öffentlichkeit in allen ihren Aspekten. Aus der Sicht der Macht wurde ein Teil der politischen Information für die „Allgemeinheit" freigegeben, ein Teil der arcana einer weiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das Zeitungswissen als einordnendes Wissen rückte der Bildungswelt näher, wenn sie es auch noch nicht anerkannte. Der Informationen-Öffentlichkeit schließlich bescherte die Zeitung neue Themen, nämlich politische Information, und eine neue Rezipientenschicht, die Zeitungsleser und -hörer, die durch ihr Zeitungswissen dem „Gebildeten" ein wenig näher standen als Zeitungs-Unkundige. Gerade an der fast universalen Wirkung der Verbreitungsstrukturen kann man erkennen, daß keiner der Aspekte von Öffentlichkeit für sich allein existierte. Zwischen den Öffentlichkeitsformen gab es vielfältige Überschneidungen und Wechselbeziehungen. Einige von ihnen kennzeichnen nur das 16. Jahrhundert oder gingen im Laufe der Frühen Neuzeit verloren. Andere bestehen bis heute grundsätzlich fort und scheinen zu den Grundzügen der Verhältnisse von Öffentlichkeitsformen zueinander zu gehören. Der nun fällige Uberblick über die Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Öffentlichkeiten wird sinnvollerweise nicht nur die Ergebnisse der Untersuchung in Bezug auf das 16. und frühe 17. Jahrhundert zusammenfassen, sondern wenigstens streiflichtartig die Entwicklung und Veränderung der Öffentlichkeitsbeziehungen bis zur Gegenwart zu erhellen versuchen. Dadurch können

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Grundeigenschaften und grundsätzliche Beziehungen des öffentlichen

Lebens in der Neuzeit hervortreten. Die enge Verflechtung zwischen Macht- und Bildungs-Offentlichkeit, Politik und Religion, hat dem 16. und 17. Jahrhundert den Namen „Zeitalter der Glaubensspaltung und Konfessionsbildung" eingetragen1819. Die Bildungsbewegung der Reformation schrieb der Politik der Territorien das Programm. Die neuen Ideen sollten propagiert, in ihrer praktischen, auch politischen Anwendung durchdacht, formuliert und durchgesetzt werden. Um das Reformprogramm zu verwirklichen, brauchten reformatorische Theologen und weltliche Obrigkeiten einander wechselseitig. Die Theologen gaben die Leitlinien der Politik an und prüften politische Maßnahmen auf ihre Übereinstimmung mit dem religiösen Ideal. Die Obrigkeiten hatten die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß das Ideal verwirklicht werden konnte, und den Erfolg der Bemühungen möglichst regelmäßig zu kontrollieren, etwa durch Visitationen. Politiker und Theologen waren sich in dem Ziel einig, das reformatorische Ideal — wie sie glaubten, von neuem — aufzurichten und durchzusetzen; und sie teilten die Uberzeugung, damit einem göttlichen Auftrag und den Pflichten ihres Amtes zu entsprechen. Die Zusammenarbeit bereitete beiden Seiten daher wenig Schwierigkeiten. Theologen und andere Gelehrte übten im Auftrag der Obrigkeiten die Zensur aus; Bischöfe oder Pfarrer übernahmen gemeinsam mit den Obrigkeiten die Aufgabe der Visitation. Zum Konflikt kam es nur dann, wenn die mit Autoritäten abgesicherten, kompromißlosen Maßstäbe der gelehrten Welt zum Gegenstand konsensorientierter Politik werden sollten. Die Theologen, an verhandlungsunabhängige Maßstäbe gewöhnt, wollten sich ihre Positionen nicht abhandeln lassen; die Politiker verstanden meist nicht, weshalb man sich in Religionssachen nicht ebenso sollte einigen können wie in anderen politischen Fragen. Gesprächsformen, bei denen die Maßstäbe der gelehrten und der politischen Welt aufeinandertrafen, wie die Religionsgespräche, mußten daher zwangsläufig ihren Zweck verfehlen. Entweder scheiterten sie, weil die Radikalität des verhandlungsunabhängigen Maßstabs der Politik fremd blieb; oder sie legitimierten nur nachträglich eine Entscheidung, die po1 8 1 9 Zeeden, Ernst Walter: Zur Periodisierung und Terminologie des Zeitalters der Reformation und Gegenreformation. Ein Diskussionsbeitrag, in: ders.: Konfessionsbildung. Studien zur Reformation, Gegenreformation und katholischen Reform (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit, Tübinger Beiträge zur Geschichtsforschung, hg. v. Volker Press und Ernst Walter Zeeden, Band 15), (Stuttgart 1985), 65.

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litische Instanzen schon vorher getroffen hatten. Auch Herzog Albrecht hatte versucht, den Lehrstreit in der preußischen Kirche durch Religionsgespräche zu beenden. Aber der Herzog mußte einsehen, daß die Theologen sich weder auf Verhandlungen einließen noch freiwillig das Bekenntnis annahmen, zu dem er sie aus seiner Überzeugung verpflichten wollte. Schließlich entschied der Gewaltakt polnischer Kommissare den Streit und ließ durch eine Synode die Orthodoxie festlegen oder, wie man damals glaubte, wiederherstellen. Mit der orthodoxen „Repetitio corporis doctrinae" verfügte die preußische Kirche seit 1567 über einen Maßstab, der als Staatsbekenntnis Politik und Religion gleichermaßen verpflichtete. Doch es scheint, als habe die Festlegung die beiden Öffentlichkeiten eher getrennt, als sie zu verbinden. Wenn im 17. Jahrhundert in der politischen Auseinandersetzung religiöse Argumente auftauchten, wie im Kampf um die Familie Dohna, um die Religionsfreiheit für Katholiken und um die Konversion des Kurfürsten Johann Sigismund, dann bildete die konfessionell getönte Sprache nur die Fassade sehr handgreiflicher Machtinteressen. Zwar ging es allen Beteiligten auch um die Bewahrung ihrer Religion. Aber das religiöse Interesse reichte nicht mehr so weit, daß es die politischen Ziele hätte bestimmen können wie zu Zeiten Herzog Albrechts. Kurfürst Johann Sigismund, der aus persönlicher Überzeugung zum Calvinismus übergetreten war, konnte sein Bekenntnis nicht mehr im politischen Leben durchsetzen. Unter dem Druck der Stände und des fixierten Religionsrechts mußte er seinen Glauben als „Privatangelegenheit" behandeln. Das religiöse Bekenntnis hatte sich offenbar im Gefolge der Orthodoxie „privatisiert". Es nahm nicht mehr selbstverständlich Einfluß auf das öffentliche Leben. Johann Sigismund zog vermutlich als erster Fürst Europas die Konsequenz aus der „Privatisierung" der Religion und verbot die Kontroversen von den Kanzeln. Die theologische Debatte sollte sich im kleinen Kreis der Gelehrten, nicht mehr auf Straße und Markt abspielen. Zwar sollte in Preußen erst Friedrich Π. die Religion ausdrücklich zur Privatangelegenheit erklären. Den Weg zur „Privatisierung" der Religion aber hatten schon seine Vorgänger gewiesen und beschritten. Die Folgen der Orthodoxie liefen ihrer Absicht genau entgegen. Statt den Staat innerlich auf ihre Prinzipien zu verpflichten, zog sich die Religion aus dem politischen Leben zurück. Die Orthodoxie hatte der „Privatisierung" der Religion den Weg geebnet.

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Dagegen übte die gelehrte Welt gewaltigen Einfluß auf die Formen der Auseinandersetzung in der politischen Welt. Der verhandlungsunabhängige Maßstab, wie ihn die gelehrte Welt kannte, bot den politisch Tätigen hervorragende Möglichkeiten, in Traktaten ihre Politik zu verteidigen oder die Positionen von Gegnern anzugreifen. Schon Albrecht der Ältere hatte seinen Ubertritt zur Lehre Luthers mit theologischen Argumenten rechtfertigen lassen. Dennoch konnte sich das gelehrte Prinzip der autoritätsgestützten Wahrheit in der politischen Welt lange nicht durchsetzen. Insbesondere fiel es allen „personis publicis" schwer, den verhandlungsunabhängigen Maßstab zu finden und anzunehmen, den die politische Publizistik verlangt. Noch Fabian von Dohna konnte sich 1606 in seiner „Vermahnung an alle Stände des Herzogtums Preußen" keinen absoluten Maßstab denken, den er seinen Standesgenossen zur Befolgung vorschlagen mochte. Allenfalls berief er sich auf Privilegien-Urkunden als Belege seiner Argumentation. Seine Traktate forderten deshalb nicht direkt zum Handeln in einem bestimmten Sinne auf, sondern legten den Ständen nur nahe, in weitere Verhandlungen mit dem Kurfürsten einzutreten. Die letzte Entscheidung sollte nach Dohna durch politische Verhandlung, nicht aufgrund eines externen Maßstabes fallen. Entschiedener und wirkungsvoller als Dohna konnten Traktatschreiber argumentieren, wenn sie sich auf weitverbreitete Rechtsüberzeugungen und akzeptierte Regeln des Verhaltens beriefen. Ihr Maßstab stützte sich zwar nicht wie die gelehrte Welt auf schriftliche Autoritäten, jedoch auf einen Konsens über das politisch rechtmäßige Verhalten. Man kann daher von einem Maßstab der konsensgestützten Wahrheit sprechen, der die rechtlich argumentierende Publizistik trug. Er eignete sich am besten dazu, Einzelfälle politischen Handelns zu beurteilen. Allgemeine Theorien politischer Legitimität konnte er nicht begründen. Dazu hätte es eines abstrakteren, eventuell religiös begründeten Maßstabes bedurft. Ein solcher allgemeiner Maßstab aber fand sich in Preußen nicht einmal bei den Calvinisten, die ihn hätten kennen und anwenden können. Dohnas Publizistik blieb ganz im Rahmen der traditionellen konsensorientierten Politik. Im 16. Jahrhundert beeinflußte wohl die Bildungs-Offentlichkeit in Personen, Inhalten und Entscheidungsmaßstäben die Politik stärker, als daß die Macht-Öffentlichkeit der Religion ihre Maßstäbe hätte aufprägen können. Frühabsolutistische Bestrebungen, eine von der Religion unabhängige Sphäre der Politik zu begründen, wurden zwar von der Orthodoxie prinzipiell ermöglicht, bildeten

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aber im Europa nördlich der Alpen zunächst die Ausnahme, nicht die Regel. Zwischen Macht- und Informationen-Öffentlichkeit gibt es wie zwischen Macht- und Bildungs-Öffentlichkeit zahlreiche Überschneidungen; und nicht immer müssen Konflikte die Beziehung der beiden Öffentlichkeiten prägen. Jeder politisch Handelnde braucht Informationen als Entscheidungshilfe und versucht seinerseits, „allem Volk" oder einzelnen Gruppen Informationen zukommen zu lassen. Im 16. Jahrhundert erhielten die „personae publicae" ihre Informationen entweder mündlich durch Diplomaten und „Agenten" oder schriftlich mit Hilfe des Botenwesens und der Post von den Korrespondenten. Das Post- und Nachrichtensystem war „öffentlich" nur insofern, als es von den „personis publicis" genutzt wurde. Da es nicht „allem Volk" grundsätzlich zur Verfügung stand, gehörte es — noch — nicht der Öffentlichkeit der Informationen an. Die kursierenden Informationen wurden sorgfältig und in der Regel erfolgreich geheimgehalten. Personen, die nicht der MachtÖffentlichkeit angehörten, erfuhren von der Politik nur das, was die Obrigkeit ausdrücklich zur allgemeinen Kenntnisnahme freigab. In größeren Mengen verbreiteten erst die Avisen Informationen aus der politischen Welt. Uber die Auswahl der Nachrichten entschied die Kanzlei, so daß die erste Königsberger Zeitung, wie wahrscheinlich viele andere Presse-Organe der Zeit, ein offiziöses Druck-Erzeugnis darstellte. Die Obrigkeit konnte aber grundsätzlich ungehindert Informationen verbreiten und baute die Systeme, die dazu dienten, im Laufe des 16. Jahrhunderts noch aus. Die ursprünglichste Form der obrigkeitlichen Bekanntmachung war wohl das Verlesen durch Boten. Der Buchdruck machte es möglich, viele identische Exemplare eines offiziellen Textes herzustellen. Sie wurden durch Abkündigung oder Anschlag publiziert. Informationen durch Signalinstrumente behielt sich die Obrigkeit selbst vor. Trommel oder Trompetensignal können noch heute die Vorstellung staatlicher Gewalt oder Hoheit hervorrufen. Unerwünschte oder zweifelhafte Informationen suchte die Obrigkeit dagegen zu unterbinden, indem sie Druckereien überwachen, „Lästerreden" bestrafen und sogar den Urhebern von Gerüchten nachforschen ließ. In Preußen, wo es meist nur eine Druckerei gab und die Drucker schon aus wirtschaftlichen Gründen keine Konkurrenz neben sich duldeten, ließ sich das Druckgewerbe leicht kontrollieren. Mündliche Reden entzogen sich ihrer Natur nach eher den Nachforschungen. Die Vorschriften in den Landesordnungen bestimmten zwar, daß Gerüchte

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bis zu ihrem Ursprung verfolgt und die Urheber bestraft werden sollten1820. Aber die Vorschrift kann nur eine Absichtserklärung gewesen sein. Keine Obrigkeit der Frühen Neuzeit hätte Geld oder Personal genug gehabt, eine so umfassende Kontrolle durchzuführen. Erst das 20. Jahrhundert sollte im Kontrollieren „heimlicher" Informationen finstere Rekorde aufstellen. Während aber spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die Kontrolle „heimlicher" Reden als Einmischung des Staates in eine menschliche „Privatsphäre" galt, die geschützt werden muß, kannte das 16. Jahrhundert noch keine derartige Begrenzung obrigkeitlicher Ansprüche. Eine Privatsphäre, innerhalb derer keine Obrigkeit etwas zu sagen gehabt hätte, wurde nicht anerkannt. Selbst das Innere des Hauses war macht-öffentlicher Raum, da es unter der rechtlichen Verfügungsgewalt des Hausherrn stand. Die Öffentlichkeit der Informationen hatte weder die theoretische Rechtfertigung noch die Mittel, Informationsvorgänge gegen obrigkeitlichen Zugriff zu schützen. Da zudem niemand eine Obrigkeit zur Preisgabe von „arcana" zwingen konnte, befand sich die Macht-Öffentlichkeit gegenüber der der Informationen durchgehend in der stärkeren Position. Ein Wandel bahnte sich erst langsam im Gefolge der politischen Publizistik an. Nur, wenn und soweit die politisch Handelnden selbst ihre Maßnahmen und Ziele rechtfertigen oder die angegriffene Ehre verteidigen wollten, ließen sie Informationen über die Öffentlichkeit der Macht hinausgelangen. Damit erkannten sie — stillschweigend, noch lange nicht ausdrücklich — eine Öffentlichkeit an, die über die MachtÖffentlichkeit hinausreichte und vor der sie sich zu legitimieren hatten. Erst das 19. Jahrhundert formulierte ausdrücklich eine Informationspflicht der Mächtigen, indem es die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung forderte und eine unabhängige Berichterstattung aus Gerichtssälen und Parlamenten etablierte. Zwischen Bildungs- und Informationen-Öffentlichkeit gab es im 16. Jahrhundert wenige personale und sachliche Beziehungen. Pfarrer und andere „Studierte" zeichneten gelegentlich als Autoren von Flugblättern in lateinischer oder deutscher Sprache. Lesekundige, wahrscheinlich sogar nur Lateinkundige, dürften das erste Publikum der zeitgeschichtlichen Broschüren und später der Avisen gebildet haben. Grundsätzlich stand die Bildungs-Öffentlichkeit der zwecklosen, ungeordneten und zum Verbrauch bestimmten Information eher skeptisch bis ablehnend 1820

Preußische Landesordnung 1529, EM 86 b 2, 15 r.

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gegenüber. Universitäts-Angehörige und Pfarrer beteiligten sich an der Zensur von Informationen. Viele Mitteilungen aus der InformationenÖffentlichkeit galten als unverläßlich oder gar als gefährlich. Der Theologe Oslander sah sich veranlaßt, unverbürgten Meldungen in einer Flugschrift entgegenzutreten, weil er die Berichte als Angriff auf die reformatorische Lehre verstand. Die Informationen-Öffentlichkeit ihrerseits ließ sich Zensur und stillschweigende Mißachtung offenbar gefallen. Weder gab es theoretische Aussagen, die den Wert von Informationen gegenüber dem Bildungsgut verteidigt hätten, noch hätte die Informationen-Öffentlichkeit sich selbst gegen das Mißtrauen wehren können. Sie hatte außer der mündlichen Nachrichtenweitergabe und dem Bänkel des Zeitungssängers keine Verbreitungsstruktur ausgebildet, auf die sie sich allein und ausschließlich hätte verlassen können. Abhängig von den Verbreitungsstrukturen der Post und des Buchdrucks, die andere Öffentlichkeiten ihr boten, konnte sich die Informationen-Öffentlichkeit nicht gegen die beiden anderen kehren. Mit dem Buchdruck — in Preußen erst nach einigen Jahrzehnten Buchdruckerei — kamen allerdings Entwicklungen in Gang, welche die Position der Informationen-Öffentlichkeit gegenüber den beiden anderen allmählich verändern und verbessern sollten. Erstens ermöglichte es der Buchdruck, Informationen so wie Bildungsgut dauerhaft zu überliefern. Statt nur hörbar und damit nach den Möglichkeiten der Zeit vergänglich zu sein, wurden Informationen sichtbar und dauerhaft. Dadurch konnte auf lange Sicht die Menge der überlieferten Informationen die des Bildungsgutes übersteigen, da Bildungsgut per definitionem begrenzt, die Menge möglicher Informationen dagegen unendlich ist. Zweitens verbreiteten Flugblätter, Broschüren und Avisen mit den Inhalten zugleich das Wahrheitskriterium der Informationen-Öffentlichkeit auf eine sichtbare Art und auf Dauer. Es trat zwar im 16. und frühen 17. Jahrhundert noch nicht in Konkurrenz zur autoritätsgestützten Wahrheit der gelehrten Welt. Noch hatte die Bildung gegenüber der Information sozusagen das moralische Ubergewicht, wurde höher geschätzt und für glaubwürdiger gehalten. Aber die Vermehrung sichtbarer Informationen erleichterte auch ihre Aufwertung gegenüber dem traditionellen Bildungsgut. Drittens brachten „Fachliteratur" und die Avisen auf verschiedene Weise Bildungswelt und Informationen einander näher. Die „Fachbücher" systematisierten Erfahrungswissen, das nicht der traditionellen akademischen Bildung angehörte, und näherten es dadurch der Bildungswelt an. Die Avisen und Zeitungen ließen ein

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„Zeitungswissen" entstehen und wichtig werden, das wie traditionelles Bildungsgut das Verstehen und Einordnen aufgenommenen Wissens erleichterte. Weder die systematisierten Informationen der Fachbücher noch das Zeitungswissen ließen sich ohne weiteres dem traditionellen Bildungsideal angliedern. Sie blieben von ihm ausgeschlossen, solange das Bildungsideal fest stand. Doch je selbstverständlicher die Zeitung im Alltag europäischer Stadtbürger wurde, desto mehr brauchten sie das Zeitungswissen, um sich in ihrem äußeren Leben zurechtzufinden. Zeitungswissen gehörte, je länger desto mehr, zur notwendigen geistigen Ausrüstung des „Gebildeten". Die Hochschullehrer, die zu Anfang des 18. Jahrhunderts die ersten „Zeitungskollegs" abhielten, erkannten die Bedeutung der Zeitungen und des Zeitungswissens für die gelehrte Welt ausdrücklich an1821. Die Wissensgebiete der Fachbücher dagegen wurden von der Bildungs-Offentlichkeit erst anerkannt, als im Laufe des 18. Jahrhunderts die Vorherrschaft der Theologie im Bildungsideal ins Wanken geriet.

1821 Lindemann, Margot: Deutsche Presse bis 1815. Geschichte der deutschen Presse, Teil I (Abhandlungen und Materialien zur Publizistik, hg. von Fritz Eberhard, Band 5), (Berlin 1969), 139.

π Von der obrigkeitlichen zur gleichheitlichen Öffentlichkeit: Die Entwicklung der Beziehungen zwischen den Öffentlichkeiten vom 17. zum 20. Jahrhundert Grundkonflikte der neuzeitlichen Öffentlichkeits-Geschichte wurden schon im 16. Jahrhundert ausgefochten oder bereiteten sich vor. Zwischen Macht- und Bildungs-Öffentlichkeit kam es zu Auseinandersetzungen um den Maßstab politischer Entscheidungen. Während die Bildungs-Öffentlichkeit auf verhandlungsunabhängigen, grundsätzlichen und absoluten Maßstäben beharrte, nahm die politische Öffentlichkeit zwar für Rechts- und Religionsfragen absolute Maßstäbe auf, blieb aber in anderen Bereichen beim alten Verfahren der Verhandlung mit dem Ziel des Konsenses. Theologen versuchten weiterhin, den Grundsätzen der Orthodoxie in der Politik Geltung zu verschaffen. In der Informationen-Öffentlichkeit hatten die Avisen regelmäßige Berichte — „Berichterstattung" klänge wohl zu sehr formalisiert — aus der politischen Welt ermöglicht; und die Mächtigen selbst hatten durch politische Publizistik das Prinzip der Arkanpolitik durchbrochen. Macht- und Informationen-Öffentlichkeit schienen sich also aufeinander zuzubewegen. Zwischen beiden gab es jedoch auch Interessengegensätze. Die politische Welt mußte — und muß bis heute — einige Vorgänge im Bereich der Macht geheimhalten, andere gibt sie leichter frei. Nur die jeweils für unbedenklich gehaltenen Themen wechseln. Jeder Teilnehmer der Informationen-Öffentlichkeit dagegen ist daran interessiert, möglichst viele und vielfältige Informationen zu erhalten, auch aus der Politik. Jede Einschränkung des Empfänger- oder Themenkreises von Mitteilungen fällt aus der Sicht der Informationen-Öffentlichkeit unangenehm auf oder reizt sogar zu Versuchen, die verschwiegenen Informationen doch noch zu erhalten. Zwar wurde der Versuch, Verschwiegenes zu erfahren, fast

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in der ganzen Frühen Neuzeit als unziemliche Neugier verteufelt1822. Aber er ließ sich nicht prinzipiell unterdrücken. Es bahnten sich sogar Bewegungen an, die ihn rechtfertigten und dadurch der InformationenÖffentlichkeit gegenüber der Macht einen sichereren Stand verschafften. Im Zuge des sich entwickelnden Absolutismus sah es freilich zunächst so aus, als trüge die Macht-Öffentlichkeit in allen möglichen Konflikten den Sieg davon, und es gelänge ihr sogar, sich als einzig akzeptierte Öffentlichkeit zu etablieren. Die Aufrichtung der Orthodoxie hatte Machtund Bildungs-Öffentlichkeit stärker voneinander getrennt, als die Beteiligten zunächst wohl beabsichtigt hatten. Konfessionskriege und konfessionelle Kämpfe hatten in ganz Europa gezeigt, daß sich religiöse Kontroversen nicht durch Konsens und Kompromisse, sondern nur durch prinzipielle Lehrentscheidungen lösen ließen. Die meisten europäischen Staaten zogen aus den Konfessionskriegen die Konsequenz, eine Form der Orthodoxie politisch anzuerkennen, also ein Staatsbekenntnis zu etablieren. Wo eine allgemeinverbindliche Staatsreligion sich aus Gründen der politischen Machtverhältnisse im Lande nicht durchsetzen ließ, kam es zu den verschiedensten „Toleranz"-Urkunden. Den Anfang machte das Reich mit dem Augsburger Religionsfrieden, es folgten Polen-Litauen mit dem Consensus von Sandomir 1570, Frankreich mit dem Edikt von Nantes, die habsburgisch-böhmischen Lande aufgrund des sogenannten Majestätsbriefs Kaiser Rudolfs Π. Nach Prinzip und Ziel gewährten die Toleranzedikte nicht nur Duldung für eine konfessionelle Minderheit oder deren mehrere, sondern „privatisierten" zugleich die Religionsfrage. Die religiöse Abweichung einzelner oder kleiner Gruppen ging nur noch diese selbst, nicht aber die politische Öffentlichkeit etwas an. Doch auch wo eine Orthodoxie sich als Staatsbekenntnis durchsetzte, wurde die Religionsfrage fortan als minder öffentlich behandelt. Einzelne, die sich zu religiös abweichenden Lehren bekannten, mußten zwar unter Umständen auf die Ausübung öffentlicher Ämter verzichten, aber nicht mehr unbedingt auswandern oder gar wegen ihres abweichenden Bekenntnisses um ihr Leben fürchten. Der entstehende absolutistische Staat machte, mit oder ohne Toleranzedikte, Religion zu einer Angelegenheit nur noch des einzelnen, nicht mehr des Gesamtstaates, so daß die Abweichung des einzelnen in gewissen „Toleranz"-Grenzen geduldet werden konnte. Der absolutistisch werdende

1822 Münch, Paul: Lebensformen in der frühen Neuzeit, (Frankfurt/Main, Berlin 1992), 493—495.

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Staat „privatisierte" die Religion, um künftige konfessionelle Kriege zu verhindern1823. Im Effekt bereiteten sowohl die Orthodoxie als auch die Toleranzedikte der Macht-Öffentlichkeit den Weg, sich gegenüber der Öffentlichkeit der Bildung als die „öffentlichere", die eigentliche Öffentlichkeit zu erweisen. Im Dreißigjährigen Krieg fochten schon nicht mehr Religionsparteien, sondern Machtgruppen, denen die religiösen Argumente allenfalls als Fassade und als Rechtfertigungen für politisches Handeln dienten, nicht mehr als unbedingt verpflichtende Motive. Die Rangminderung der Bildungs-Öffentlichkeit gegenüber der Macht hatte Folgen für den Öffentlichkeitsbegriff und für die politische Welt selbst. Als öffentlich galt bald nur noch, was mit Staat, Recht und Politik zu tun hatte1824. Die Theologen verloren ihre Rolle als Berater, Verteidiger und Kritiker politischen Handelns an die Juristen — in einem vielschichtigen Prozeß, der noch genauer zu untersuchen wäre. Vom 17. zum 18. Jahrhundert schwand zudem der Einfluß minder öffentlicher Schichten der Macht-Öffentlichkeit gegenüber der monarchischen Spitze. Ludwig XIV. konnte behaupten, mit „dem Staat" identisch zu sein, weil der Monarch das Prädikat „öffentlich" allein für sich beanspruchte. Neben ihm gab es — zumindest seinem Selbstverständnis nach — keine öffentliche Gewalt eigenen Rechtes mehr. Zu einem vollständigen Sieg der Macht-Öffentlichkeit über die beiden anderen jedoch kam es nicht; und das lag weniger an der Stärke des Bildungsideals oder der Informationsmöglichkeiten als an den Bedürfnissen der Macht selber. Wie man am Aufkommen der politischen Publizistik sehen kann, ergriffen politisch Mächtige gern die Gelegenheit, ihre Maßnahmen zu rechtfertigen und zu verteidigen. Einesteils argumentierten sie in Traktaten nach Grundsätzen der gelehrten Welt und nach verhandlungsunabhängigen Maßstäben, stützten sich zum Beispiel auf schriftlich fixierte Rechtssatzungen oder auf Bekenntnisschriften. Andernteils informierten die Obrigkeiten ihre Untertanen mit Hilfe von Bekanntmachungen und in immer stärkerem Maße auch mit Hilfe offiziöser Zeitungen und Flugschriften. Schon der Dreißigjährige Krieg war

1823 Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg/München J2] 1959), 12. 1 8 2 4 Hölscher, Öffentlichkeit, in: Brunner/Conze/Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, 422; 424.

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auch ein Krieg der Federn und Pamphlete1825. Diplomaten oder gar regierende Häupter ergriffen Partei im Flugschriftenstreit, verfaßten selbst Flugschriften oder gaben sie in Auftrag. Obrigkeitliche „Pressepolitik" erstreckte sich nicht mehr nur auf die Zensur, sondern bezog aufbauende Maßnahmen wie den Flugschriftendruck und die Gründung oder Förderung von Zeitungen systematisch ein. Die Obrigkeiten selbst sorgten also dafür, daß Informationen über die Politik nach außen drangen. Dadurch bildete sich eine neue herrschaftlegitimierende Öffentlichkeit heraus, die nicht mehr theologisch, sondern rechtlich und politisch diskutierte und argumentierte1826. Die Öffentlichkeit der Macht konnte ihr Monopol auf Öffentlichkeit offenbar aus inneren Gründen nicht halten, nicht einmal im ausgebildeten Absolutismus, als sie es vollständig errungen zu haben glaubte. Die folgenden Epochen des Verhältnisses von Macht- und BildungsÖffentlichkeit lassen sich als Versuche beschreiben, nach immer neuen externen, verhandlungsunabhängigen Maßstäben nicht nur Politik zu legitimieren, sondern selbst Politik zu betreiben. Der Weg von der rechtlich legitimierenden zur juristisch kritisierenden Publizistik wäre gewiß nicht weit gewesen, wenn man auf die Anfänge rechtlich argumentierender Publizistik im 16. Jahrhundert zurückblickt. Die europäische Aufklärung ging, wie bekannt, einen anderen Weg. Entweder kritisierte sie Politik nach philosophischen Kategorien, oder sie legte den Maßstab der „Moral" an, den sie für universal und allgemeinverbindlich hielt. Wie Reinhart Koselleck schreibt, standen die Maßstäbe der Philosophie und „Moral" der Politik fern1827. Die aufklärerische Kritik konnte sich „unpolitisch" geben, obwohl sie auf die Politik zielte und sie verändern wollte. Koselleck meint, das Bürgertum habe sich selbst über den politischen Charakter seiner Reformforderungen getäuscht1828. In ihrer Politikferne unterschieden sich die aufklärerischen Maßstäbe allerdings nicht prinzipiell von den reformatorischen des „reinen Wortes Gottes". Beide stützten sich auf externe Autoritäten, argumentierten und forderten kompromißlos und zielten auf politische Veränderung, auch wenn sie sich als nicht-politisch ausgaben. Sie standen der Politik nicht nur inhaltlich fern, sondern auch dadurch, daß sie mit politischen 1 8 2 5 Burkhardt, Johannes: Der Dreißigjährige Krieg (edition suhrkamp Neue Folge 542), (Frankfurt/Main 1992), 225—231. 1 8 2 6 Dazu vgl. Gestrich, besonders 103—110. 1 8 2 7 Koselleck, Kritik und Krise, 39; 42 f.; 67; 78; 108; 112. 1 8 2 8 Koselleck, Kritik und Krise, 49; 81 f.; 84 f.; 105.

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Konsens- und Kompromißlösungen nichts zu tun haben wollten. Aufklärer und Kirchenmänner bekämpften einander zwar orts- und zeitweise erbittert. Der Politik aber standen sie beide als „Bildungs-Öffentlichkeiten" mit der gleichen Problematik gegenüber, da sie die Verhandlung, das Entscheidungsprinzip der Macht-Öffentlichkeit, als Methode der Entscheidungsfindung prinzipiell nicht akzeptierten. Schließlich konnte die Aufklärung, wie vor ihr die Reformation, in der Politik nur begrenzt Einfluß ausüben, weil der kompromißlose externe Entscheidungsmaßstab sich mit einer Politik der Kompromisse nicht vereinbaren ließ. Aufklärerische Ideen konnten sich in der Politik am ehesten in Dokumenten durchsetzen, die eine Art von politischer Orthodoxie, eine Festlegung politischer Maßstäbe begründeten, zum Beispiel in den Menschenrechtserklärungen und in den geschriebenen Verfassungen des Revolutionszeitalters. Stärker wirkte die säkulare Bildungs-Öffentlichkeit der Aufklärer — wie vor ihr die Reformation — auf den Öffentlichkeitsbegriff und auf die Argumentationsmuster der Politik ein. Die Gesellschaft der Aufklärer hatte sich zwar in einem Raum entwickelt, der nach dem Verständnis noch des frühen 18. Jahrhunderts als „privat" gegolten hatte1829. Aber sie gab sich selbst den Namen der „Öffentlichkeit" und beanspruchte damit, ein Gegengewicht gegen die ausschließlich staatlich verstandene Öffentlichkeit der Macht zu sein. Seit dem späten 18. Jahrhundert kann das Won „Öffentlichkeit" nicht nur Staatliches, sondern auch eine vom Staat unabhängige, ihn legitimierende und kritisierende Macht bezeichnen1830. Ihre personale Zusammensetzung wurde nicht genau definiert; nie aber wurde sie als identisch mit den „Massen" oder dem gesamten Volk verstanden. Als „öffentlich" galt, was der unbestimmten Gruppe mitgeteilt wurde, auf die es in der politischen Debatte der Aufklärer ankam. Als „legitim" wurden Gesetze und politische Maßnahmen nur noch dann angesehen, wenn die beschriebene debattierende BildungsÖffentlichkeit der Aufklärer sie zur Kenntnis genommen, diskutiert und gebilligt hatte. Politische Mitgestaltungsrechte forderte die aufklärerische Bildungs-Öffentlichkeit in Deutschland nur selten, dagegen überall die Freiheit zur Diskussion und Kritik und die Abschaffung oder entschiedene Milderung der Zensurbestimmungen1831. Zum folgenden vgl. Kiesel/Münch 175 f.; Koselleck, Kritik und Krise, 41—44. 1830 Hölscher, Öffentlichkeit, in: Brunner/Conze/Koselleck, 431 f. 1831 Münch, Lebensformen, 513 f.; Möller, Vernunft und Kritik, 281 f.

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Im 19. Jahrhundert wurden in Westeuropa in langdauernden politischen Auseinandersetzungen fast alle grundsätzlichen Freiheitsforderungen der Aufklärung verwirklicht. Die entstehenden Parlamente erhielten mindestens das Recht zur offenen Diskussion und Kritik von Regierungsmaßnahmen. Die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung setzte sich durch; und die Presse durfte weder durch Zensur- noch durch Justizmaßnahmen mehr behindert werden. Die bürgerliche Bildungs-Offentlichkeit des 19. Jahrhunderts stand der Politik sehr viel näher und war enger mit ihr vertraut als die Philosophengesellschaft der Aufklärung. Das Bürgertum des 19. Jahrhunderts mußte aber auch erfahren, daß sich mit philosophischen Maßstäben keine Politik betreiben ließ. Schon die politischen Theorien der Romantik kritisierten das aufklärerische Politikverständnis als mechanistisch und zu starr, als daß es das politische Leben wirksam beeinflussen könne. Der abstrakte philosophische Maßstab erschien den Romantikern und ihren Nachfahren nicht mehr brauchbar. Sowohl „progressive" als auch die entstehenden konservativen Gruppierungen begannen, — entschiedener als die Aufklärer vor ihnen1832 — sich auf historische und geschichtsphilosophische Ansätze zu berufen. In der Bildungs-Offentlichkeit übernahm die Geschichte Rang und Aufgabe einer Legitimations-Wissenschaft1833. Sie schien dazu geeignet, weil sie der Politik offensichtlich näher stand als Philosophie, Moral oder Theologie. Gegenüber der Politik stellte die Geschichte als Wissenschaft von vergangener Politik aber nicht eigentlich einen externen Maßstab dar. Deshalb konnte sie die Politik der jeweiligen Gegenwart kaum kritisieren. Die geschichtliche Legitimation wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts eher das Kennzeichen konservativer Gruppierungen. Vorwärtsdrängende Dynamik entfalteten die historischen Deutungsmuster dort, wo sie sich mit geschichtsphilosophischen Zukunftsspekulationen verbanden wie bei den sogenannten Linkshegelianern1834 und in der Lehre Marx'. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts lieferten außerdem Medizin und Biologie gelegentlich Maßstäbe für politisches Handeln1835. Das 20. Jahrhundert sollte die scheinbar abstrakt „medizinisch", „biologisch" oder „gene1832

Zur aufklärerischen Geschichtsphilosophie vgl. Möller, Horst: Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, (Frankfurt/Main 1986), 144—189, zu Herder ebenda 189. 1833 Nipperdey, Bürgerwelt, 498 f.; ders.: Arbeitswelt, 633 f. 1834 Nipperdey, Bürgerwelt, 531 f. 1835 Nipperdey, Arbeitswelt, 627—629.

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tisch" begründeten Forderungen mit grauenhafter Konsequenz in die politische Tat umsetzen. Systematische Vernichtungskriege gegen angeblich unwertes Leben waren das vorerst letzte Resultat der Anwendung eines abstrakten, für „wissenschaftlich" gehaltenen Maßstabs auf die Politik. Der Zeitungsleser an der Schwelle des 21. Jahrhunderts bekommt den Eindruck, daß die politische Welt allmählich zum reinen, wenn auch nicht unbedingt pragmatischen Verhandeln zurückkehrt, nachdem die Maßstäbe autoritätsgestützter Wahrheit sich allesamt diskreditiert haben. Trotz vieler Mißerfolge übte die gelehrte Welt seit dem 16. Jahrhundert immer wieder Einfluß auf die Inhalte der Politik aus. Auch in anderen politischen Bereichen konnte die Bildungs-Öffentlichkeit ihre Prinzipien durchsetzen. Seit dem 18. Jahrhundert wurde das Prinzip des Rangs bei der Besetzung politischer Ämter immer mehr durch das Prinzip der individuellen Leistung abgelöst. Die Freiheit zur Kritik und Diskussion, wie die Aufklärer sie gefordert hatten, ist im gegenwärtigen geschichtlichen Moment in ganz Europa Wirklichkeit; eine Arkanpolitik läßt sich nicht mehr grundsätzlich legitimieren. Es könnte so aussehen, als hätte die aufklärerische Bildungs-Öffentlichkeit einen zwar späten, aber unübertrefflichen Sieg errungen. Es gehört wohl zu den Widersprüchen dieses späten Sieges, daß die von den Aufklärern geforderten Freiheiten sich in Deutschland und Osteuropa zu einer Zeit durchsetzen, da es die aufklärerische BildungsOffentlichkeit nach Begriff und Erscheinungsformen kaum noch gibt. „Bildung" gilt in mancher populären Diskussion als „elitäres" Vorrecht, das sich vor der „Öffentlichkeit" erst zu rechtfertigen habe. „Öffentlich" nennt das späte 20. Jahrhundert fast nur noch das allgemein Zugängliche1836. Als „öffentliche Meinung" werden die Meinungen oder Stimmungen „allen Volks" erforscht1837. Wenn von „Öffentlichkeit" die Rede ist, dann meist in einer Bedeutung, die dem „alles Volk" in Luthers Bibelübersetzung nahekommt. Am Ende des 20. Jahrhunderts beansprucht offenbar die breiteste Schicht der Informationen-Öffentlichkeit das Prädikat „öffentlich" ausschließlich und allein. Sie hat ein Öffentlichkeits-Monopol inne wie die Macht-Öffentlichkeit im Absolutismus. Koszyk, Kurt: Öffentliche Meinung, in: Koszyk, Kurt/Pruys, Karl Hugo: Handbuch der Massenkommunikation (München 1981), 214. 1837 Noelle-Neumann, Elisabeth: Manifeste und latente Funktion Öffentlicher Meinung, in: Publizistik 37/1992, Heft 3, 287 f.; Dovifat 13—16; Ukena 36; Benzinger 307. 1836

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Aus historischer Perspektive stellt sich das heutige Öffentlichkeitsverständnis als Ergebnis einer jahrhundertelangen Entwicklung dar. Der Aufstieg der Informationen-Öffentlichkeit vor allem gegenüber der Bildung begann bereits im 16. Jahrhundert. Das Wahrheitskriterium der Informationen-Öffentlichkeit, der Augenschein, drang als Bewertungsmaßstab von Aussagen in der Naturwissenschaft allmählich vor und wurde dort als fast allgemeines Kriterium der Wahrheit akzeptiert. Das Bildungsideal änderte sich zwar dadurch noch nicht, da christliche Bildung und beobachtende Naturwissenschaft noch getrennt blieben. Aber die Naturerkenntnis wuchs an und wurde in den entsprechenden Fachbüchern systematisch geordnet. Damit kam sie dem traditionellen Bildungsgut näher, auch wenn sie vorerst nicht in den Kanon der Bildungsgüter aufgenommen wurde. Unsystematische Nachrichten, die sozusagen klassischen Inhalte der Informationen-Öffentlichkeit, ließen sich im Buchdruck-Zeitalter sichtbar und dauerhaft überliefern. Ihre Menge wuchs ebenfalls und erreichte oder überflügelte schon die Zahl der als „Bildungsgüter" gedruckten Werke. Im 16. Jahrhundert stand das christliche Bildungsideal zwar im wesentlichen unerschüttert und gewann durch die reformierenden Bemühungen der Konfessionskirchen sogar neue Uberzeugungskraft. Deshalb ließ sich die christlich bestimmte Bildungs-Öffentlichkeit vom Anwachsen der ungeordneten Informationen selten anfechten. Aber schon im 17. und mehr noch im 18. Jahrhundert sollte sich das Verhältnis der beiden Öffentlichkeiten zuungunsten der Bildungs-Öffentlichkeit verändern. Um zu verstehen, weshalb der Aufstieg der InformationenÖffentlichkeit vor allem die Öffentlichkeit der Bildung in Bedrängnis brachte, sollte man sich die Gegensätze zwischen diesen beiden Öffentlichkeiten ins Gedächtnis rufen. Schon an der Untersuchung zum 16. Jahrhundert kann man sehen, daß sie nicht nur verschiedene Wahrheitskriterien anerkennen, sondern sich auch in ihrem Verhältnis zu unbekannten Informationen und in ihrer Durchdringung von Zeit und Raum unterscheiden. Die Gegensätze zwischen Bildungs- und InformationenÖffentlichkeit lassen sich nicht miteinander versöhnen und scheinen grundsätzlich zu sein, da sie über Jahrhunderte bestehen blieben. Die Aufweisung der Gegensätze erklärt daher nicht nur eine historische Entwicklung, sondern macht auch deutlich, warum eine vom Öffentlichkeitsbegriff der Informationen geprägte Gesellschaft grundsätzlich anders aussehen muß als eine Gesellschaft, in der ein Bildungsideal als „eigentlich" öffentliche Sache gilt.

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Jede Bildungs-Öffentlichkeit orientiert sich an einem ihr eigenen Bildungsideal, zu dem die jeweilige Realität erst geformt und dann immer aufs neue in der Form gehalten werden muß. Das Ideal fordert zu wertenden Entscheidungen auf. Es fördert das vom Ideal Erwünschte und schließt unerwünschte Verhaltensweisen oder Informationen aus, indem es sie verachtet, verdammt oder bestraft. Ihrem Bildungsideal gemäß, bemüht sich jede Bildungs-Öffentlichkeit, die vorgefundene Welt nicht nur zu formen und zu „bilden", sondern auch zu kontrollieren und sich gegen das „Ungebildete" abzugrenzen. Die Maßstäbe der BildungsOffentlichkeit entscheiden darüber, was zu ihr gehört, was sich notdürftig an sie anschließen läßt und was ihr endgültig fremd bleibt. Jedes Bildungsideal wirkt per definitionem ausschließend. Es setzt Grenzen, um sich gegen unterschiedslose Beliebigkeit zu behaupten. Bildungsideale zielen ferner hauptsächlich auf Wirkung über lange Zeit. Bildungs-Offentlichkeit vermittelt ihre Inhalte, das Bildungsgut, über Zeiten hinweg; sie besteht in Tradition im wörtlichen Sinne. Jedes Bildungsideal soll seiner Bestimmung nach über Generationen weitergegeben werden, sonst verliert es seinen Sinn. Die Bildungs-Offentlichkeit ist traditionell, dadurch aber nicht unbedingt konservativ beharrend. Sie kann einschneidende Reformen durchmachen, wie es Reformation und Humanismus zeigen. Reformen in der Bildungs-Öffentlichkeit müssen sich aber vor der Tradition legitimieren, etwa als Wiederherstellung eines alten, vergessenen oder verschütteten Ideals dargestellt werden. Aus der Bindung an die Tradition ergibt sich auch eine Bindung an die Zukunft, die Generationen, an die das Ideal weitergegeben werden soll. Um sie zu erreichen, vertraut die Bildungs-Öffentlichkeit das Bildungsgut möglichst stabilen Materialien an oder gibt es in Institutionen weiter, die lange Zeit überdauern. Bewahrt wird das Bildungsgut entweder individuell im Gedächtnis des Menschen durch Lernen und Lehre oder sozial in Brauch, Symbol und Ritus. Handschrift und Buchdruck boten die Möglichkeit, Bildungsgüter unabhängig von individuellen oder sozialen Systemen zu überliefern. Beim Buchdruck war darüber hinaus gewährleistet, daß verschiedene Exemplare einer Schrift sich wenig voneinander unterschieden. So konnte die Einheitlichkeit des überlieferten Bildungsstoffes leichter gewahrt werden. Aber nicht nur das gedruckte Buch, sondern prinzipiell jede Fixierung auf dauerhaftem Stoff kommt der Bildungs-Öffentlichkeit entgegen, weil die Fixierung das Überliefern unabhängig von persönlichen Gedächtnisleistungen oder sozialen Zusammenhängen ermöglicht.

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Die Öffentlichkeit der Informationen stellt in beinahe jeder Hinsicht das Gegenbild der Bildungs-Öffentlichkeit dar. Das Bewertungskriterium der sinnlichen Wahrnehmbarkeit und der Authentizität läßt sich nur auf die äußere dingliche Welt anwenden. Die InformationenÖffentlichkeit orientiert sich immer an der äußeren Welt, die BildungsÖffentlichkeit dagegen nur gelegentlich. Im Gegensatz zur BildungsÖffentlichkeit will die Öffentlichkeit der Informationen die vorgefundene Realität nicht umformen, „bilden" oder verändern, sondern nur beschreiben. Kontrolle der Informationen würde die verlangte Authentizität verfälschen und gilt daher in der Informationen-Öffentlichkeit als sinnlos und schädlich. Die Informationen-Öffentlichkeit schließt deshalb keine Information prinzipiell als unwichtig, unerwünscht oder „falsch" aus, sondern lebt im Gegenteil davon, daß sie möglichst viele Informationen zu sammeln versucht. Unterschiedslose Beliebigkeit, für jedes Bildungsideal ein Abscheu, ist geradezu das Lebensprinzip der Informationen-Öffentlichkeit. Man könnte sagen, daß sie diesem Lebensprinzip nach grundsätzlich die Freiheit der Informationen braucht, während die Bildungs-Öffentlichkeit ebenso grundsätzlich die Beschränkung und — wenn sie die Freiheit der Informationen anerkennt — zumindest die Wertung und unterschiedliche Beurteilung von Teilen der Wahrnehmung oder des Wissens fordert. An Vermittlung aus der Vergangenheit in die Zukunft liegt der Informationen-Öffentlichkeit für gewöhnlich nichts. Ihre Inhalte sind zum sofortigen Gebrauch und Verbrauch bestimmt und nicht grundsätzlich für die längerfristige Uberlieferung. Information dient der Gegenwart: als Entscheidungshilfe; als Wissensbruchstück, durch das man etwas über die äußere Welt erfährt; als Mitteilung von unmittelbarem praktischem Nutzen oder als zweck-lose Information zur „spannenden" Unterhaltung. Den „Unterhaltungswert" kann man als den Zweck einer ansonsten zwecklosen Information bezeichnen. Er kennzeichnet nicht eine bestimmte Mitteilungsform, sondern bildete von Anfang an ein Kriterium für den Wert einer Information. Mit der InformationenÖffentlichkeit gewann das Unterhaltsame an sich Wert und „öffentlichen" Einfluß. Der Aufstieg der Informationen-Öffentlichkeit zur weitgehend und dann allein maßgeblichen Öffentlichkeitsform ebnete nicht nur der Aktualität und dem praktischen Nutzen, sondern auch auch dem Unterhaltsamen als einem „Nachrichtenfaktor" den Weg zu öffentlicher Geltung.

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Geschichte der Öffentlichkeiten in der Neuzeit

Aktualität und Spannungs- oder Unterhaltungs-Orientierung machen die Informationen-Öffentlichkeit aber nicht von selbst reform- und veränderungsfreudig. In vielen Aspekten erwies sie sich über Jahrhunderte hinweg als erstaunlich beharrend. Die Schreckens- und Katastrophenmeldung oder die Nachricht über physiologisch merkwürdige Erscheinungen gilt heute wie vor fünfhundert Jahren als interessant, während die gute Nachricht weniger Käufer findet. Informationen aus der Vergangenheit gewinnen für die Informationen-Öffentlichkeit nur dann Interesse, wenn sie entweder einen Bezug zur Gegenwart haben oder „sensationell" und spannend präsentiert werden können. Der Zwang zur Aktualität und Spannung gehört paradoxerweise zu den ausgesprochen beharrenden Elementen der Informationen-Öffentlichkeit. Ihm passen sich auch die Mitteilungsformen an. Sie legen nicht unbedingt Wert auf Uberlieferung über lange Zeit, sondern nutzen stattdessen alle Möglichkeiten zur schnellen Weitergabe von Informationen über räumliche Entfernung — sei es durch hörbare oder sichtbare Signale, mündlich oder schriftlich. Im 16. Jahrhundert ließen sich Nachrichten am schnellsten mündlich verbreiten, am weitesten mit Hilfe von Druckerpresse und gegebenenfalls Botensystem oder Buchhandel. Der Buchdruck diente der Informationen-Öffentlichkeit des 16. Jahrhunderts deshalb, weil er Nachrichten schnell und weit verbreiten konnte; als Mittel zur Aufbewahrung von Informationen dagegen war er zumindest der Informationen-Öffentlichkeit weniger wichtig. Die Öffentlichkeit der Informationen brauchte Schriftlichkeit nicht so dringend wie die der Bildung. Die mündliche Nachrichtenweitergabe bot Möglichkeiten, dem Ziel der Aktualität und Spannung noch näher zu kommen als durch den Druck, indem zum Beispiel die Nachricht beim Weitererzählen dramatisiert, zugespitzt, der Situation entsprechend verändert oder mit neuen, aktuelleren Mitteilungen angereichert wurde. Die Gegensätze zwischen den Öffentlichkeiten der Bildung und der Informationen lassen sich in je drei Eigenschaftswörtern zusammenfassen: Bildungs-Öffentlichkeit ist traditionell, reformierbar und exklusiv; Informationen-Öffentlichkeit ist gegenwartsbezogen, ungeschichtlich-beharrend und universal. Im 16. Jahrhundert stand das christliche Bildungsideal nicht nur unerschüttert, sondern sogar fester als im Spätmittelalter. In der Orthodoxie gewannen die Bekenntnisse der Konfessionskirchen neue Durchsetzungskraft. Informationen, die sich dem Bildungsideal nicht angliedern ließen, schadeten ihm zunächst auch nicht. Den Kirchen aller Konfessionen gelang es vielmehr, unerwünschte Informationen abzuwehren

Entwicklung vom 17. zum 20. Jahrhundert

399

oder zu unterdrücken und wirkungslos zu machen. Zensur begrenzte die Menge der umlaufenden Informationen in Avisen und „Neuen Zeitungen"; vom Standpunkt der „Gebildeten" aus galten sie als minderwertig und minder wichtig. Noch konnten Institutionen der Bildungs-Offentlichkeit es sich leisten, auch das Wahrheitskriterium des Augenscheins zurückzuweisen und die Erkenntnisse nicht zu akzeptieren, die die aufstrebende Naturwissenschaft aufgrund dieses Kriteriums gewann. Die kopernikanische Lehre setzte sich nur langsam durch; die Bücher Galileis wurden im katholischen Teil Europas verboten. Die Abwehr unerwünschter Informationen gelang noch, weil sie das Bildungsideal nur in einzelnen Teilen, nicht als ganzes in Frage stellten und weil sie nur von einzelnen oder kleinen Gruppen verbreitet wurden. Im 18. Jahrhundert aber wurde die Verbreitung von gedruckten Informationen zum ersten Male zum „Massen"phänomen. Das Bildimgsideal veränderte sich, teils aus eigenem Antrieb der Bildungs-Offentlichkeit, teils deshalb, weil es eine so große Menge ungeordneter Informationen nicht mehr verarbeiten und angliedern konnte. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts stiegen Lesestoff und Druckproduktion geradezu explosionsartig an — ein Vorgang, den die Buchgeschichte als „Leserevolution" bezeichnet1838. Volkssprachliche Literatur breitete sich aus. Neben schöngeistigen Werken erschienen viele Bücher, die man als Zusammenstellung ungeordneter Informationen beschreiben kann, zum Beispiel Reiseberichte1839 und Lexika der verschiedensten Wissensgebiete1840. Rein quantitativ überrundete die Produktion von gedruckten Informationen die von gedruckten Bildungsgütern. Die Informationen aber, die mit den neuen Presseprodukten, den Zeitungen, Zeitschriften und Büchern vor allem die Städte erreichten, ließen sich immer seltener auch nur am Rande mit dem überlieferten christlichen Bildungsideal in Verbindung bringen. Der europäischen Menschheit wird seit dem 18. Jahrhundert klar, daß das christliche Bildungsideal nicht universal ist, wie man bis dahin angenommen hatte, und daß die als „Heidentum" bezeichneten fremden Religionen und Lebensformen nicht einfach als Randphänomene des eigenen Glaubens und Lebens abgetan werden können. Das Christentum als Bildungsideal verlor an Be1838

Engelsing, Rolf: Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit. Das statistische Ausmaß und die soziokulturelle Bedeutung der Lektüre, in: AGB 10/1975, 982 f.; Wittmann, Buchhandel, 130; Nipperdey, Bürgerwelt, 587 f. 1839 Wittmann, Buchhandel, 112 f. 184 ° Möller, Vernunft, 124 f.

400

Geschichte der Öffentlichkeiten in der Neuzeit

deutung. An seine Stelle setzten viele Aufklärer die „Moral" als einen Maßstab, den sie als allgemein menschlich auffaßten1841. Doch nicht nur das Christentum sah sich in der Aufklärungszeit in Frage gestellt, sondern die Bildungs-Öffentlichkeit als ganze geriet in Bedrängnis, und zwar paradoxerweise infolge der völlig „bildungs-öffentlichen" Forderung nach Pressefreiheit. Mit dem Verlangen nach einer freien Presse wollte die BildungsOffentlichkeit sich ursprünglich „nur" die Freiheit der Kritik und Diskussion sichern. Pressefreiheit galt als Inbegriff und Fördererin der Aufklärung1842. Die Frage, ob die Freiheit für jede beliebige Information gelten oder ob sie Grenzen haben sollte, stellte sich zunächst nicht. Erst im Konflikt der „Liberalen" und „Demokraten" mit ihren Gegnern seit der Französischen Revolution erwies sich, daß die Vertreter der neuen Ideen die „Freiheit" keineswegs universal verstanden. Ganz im Sinne der Bildungs-Öffentlichkeit verlangten sie zwar Freiheit für die eigene, nicht aber für jede beliebige Meinung. Denn jede Bildungs-Offentlichkeit setzt Grenzen und kann die grenzenlose Freiheit für jede beliebige Meinung oder Information nicht akzeptieren. Doch die Forderung nach beschränkter Freiheit ist ein Widerspruch in sich. Pressefreiheit konnte man nur vollständig oder gar nicht fordern. Solange sie erst erkämpft werden mußte — in den meisten Staaten Europas bis weit ins 19. Jahrhundert1843 —, wirkte sich der Widerspruch noch nicht aus. Sobald es aber eine freie Presse gab, kam die neue Freiheit mehr der Öffentlichkeit der Informationen als der der Bildung zugute. Denn die InformationenÖffentlichkeit braucht Freiheit nicht nur einer einzigen, sondern jeder beliebigen Meinung oder Information — und sie kann die Freiheit auch nutzen, weil sie keine Grenzen des Informationsbedürfnisses kennt. Das 19. Jahrhundert konnte die Aufwertung und Ausbreitung der Informationen-Öffentlichkeit nur noch verstärken. Neue technische Erfindungen beschleunigten die Nachrichtenverbreitung an einzelne und Gruppen: Schnelldruck, Schnellpost, Lithographie, Eisenbahn, Telegraphie, Setzmaschine, Rotationsdruck, Telephon. Nachrichtenagenturen entstanden und bauten ein weltweites Netz von telegraphischen Verbin-

Koselleck, Kritik und Krise, 56 f.; 58 f. Möller, Vernunft und Kritik, 281 f. 1 8 4 3 Zu Pressefreiheit und Zensur in Deutschland vor 1871 vgl. Siemann, Wolfram: Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland 1849—1871 (Frankfurt/Main 1990), 67—77. 1841

1842

Entwicklung vom 17. zum 20. Jahrhundert

401

düngen auf1844, das das schwerfälligere und teurere System brieflicher Korrespondenzen verdrängte. Die „Informationsflut" nahm nie gekannte Ausmaße an. Die Bildungs-Öffentlichkeit zeigte sich ihr immer weniger gewachsen. Die Menge des Gedruckten erschien zu Ende des Jahrhunderts als bedrohlich oder gar gefährlich. Im bürgerlichen Theater und Roman machte der Journalist eine zwielichtige Figur, vor allem dann, wenn er nicht im Sinne der Bildungs-Offentlichkeit aufgrund einer „Gesinnung", sondern für eines der neu aufkommenden Massenblätter, also für die Informationen-Öffentlichkeit schrieb. Die pessimistische Grundstimmung in der Literatur des Fin de siecle spiegelt vielleicht auch das Bewußtsein der traditionellen Bildungs-Offentlichkeit wider, von einer Welle ungeordneter und nicht zu verarbeitender Informationen überrollt zu werden. Zu den quantitativen und qualitativen Veränderungen im Verhältnis von Bildungs- und Informationen-Öffentlichkeit kam ein Wandel des Öffentlichkeitsbegriffs. „Öffentlich" nahm immer ausschließlicher die Bedeutung von „allgemein zugänglich" an1845. Andere Bedeutungsaspekte des Wortes traten zurück. Erst im 19. Jahrhundert — nicht schon im 16., wie behauptet wurde,1846 — entwickelte sich „gedruckt zugänglich" zu einem Synonym von „öffentlich". Der Bedeutungswandel hängt mit einer Veränderung in der Informationen-Öffentlichkeit selbst zusammen. Um 1890 gab es in Mitteleuropa nur noch wenige Analphabeten1847. Die „Lesewelt" bildete nicht mehr eine kleine Schicht im Vergleich zur Zahl der Analphabeten, sondern war fast mit der Sprachgemeinschaft identisch. Zudem hatten viele europäische Staaten infolge der Nationalbewegungen nur noch kleine nationale und sprachliche Minderheiten oder pflegten zumindest eine weithin verstandene Verkehrssprache. Die Sprachgemeinschaft umfaßte annähernd „alles Volk". Nach 1900 konnte in fast jedem europäischen Staat „alles Volk" lesen; Gedrucktes war also tatsächlich „allgemein" zugänglich. Damit gab es in der Informationen-Öffentlichkeit praktisch keine Differenzierungen mehr. Es exisiterte nur noch „die Öffentlichkeit" der lesekundigen Bürger des Nationalstaats. Schenk, Ulrich: Nachrichtenagenturen als wirtschaftliche Unternehmen mit öffentlichem Auftragt,] mit einer kritischen Würdigung des ddp, Berlin (1985), 50 f. 1 8 4 5 Hölscher, Öffentlichkeit, in: Brunner/Conze/Koselleck, 455; 464 f. 1846 Giesecke, Buchdruck, 283—289. 1 8 4 7 Engelsing, Analphabetentum, 105; in vorsichtiger Formulierung Wittmann, Buchhandel, 296. 1844

402

Geschichte der Öffentlichkeiten

in der Neuzeit

Mit der Einführung und Verbreitung der elektronischen Massenkommunikationsmittel Rundfunk und Fernsehen im 20. Jahrhundert fielen die letzten Schranken zwischen „allem Volk" und dem möglichen Empfängerkreis von Nachrichten. Im späten 20. Jahrhundert braucht man nicht einmal mehr Lesekenntnisse, um die Nachrichten des Tages zu erhalten. Nur Sprachgrenzen wirken noch ausschließend; doch das Fernsehen versucht, auch sie durch bildliche Informationen zu überwinden. Im 20. Jahrhundert gilt „alles Volk", die größte Schicht der Informationen-Öffentlichkeit, als einzig legitime Öffentlichkeit, wie im Absolutismus der Monarch. Die Informationen-Öffentlichkeit in ihrer umfassendsten Schicht hat ein „Öffentlichkeits-Monopol" inne. Infolge ihres ausschließlichen Anspruchs auf Öffentlichkeit hat die Öffentlichkeit der Informationen auch ihre Bewertungskriterien als die fast allein gültigen durchgesetzt. Als „wahr" wird nur noch akzeptiert, was mit den Sinnen wahrgenommen werden kann. Als wichtig gilt nur die aktuelle Nachricht, bei der möglichst wenig Zeit zwischen dem Geschehen und seiner Mitteilung liegt. „Interessant" wird die Nachricht dadurch, daß sie etwas Ungewöhnliches enthält oder sich „spannend" und „aufregend" präsentiert. Wie der historische Rück- und Überblick gezeigt hat, kann man den Aufstieg der Informationen-Öffentlichkeit und den Zwang zu aktueller und aufregender Berichterstatttung nicht den elektronischen Massenkommunikationsmitteln allein „anlasten"1848. Sie verstärkten höchstens eine Tendenz, die mindestens zweihundert Jahre früher begonnen und schon um 1900 einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte, als die „Lesewelt" sich auf annähernd „alles Volk" erstreckte. Daher kann man auch kaum behaupten, Radio und Fernsehen hätten zum Niedergang der durch den Buchdruck geprägten Kultur geführt, die mit der Dominanz der Bildungs-Öffentlichkeit gleichgesetzt wird1849. Der Buchdruck diente zwar hauptsächlich der Verbreitung von Mitteilungen in der Öffentlichkeit der Bildung, bevor er sich der Informationen-Öffentlichkeit zur Verfügung stellte. Aber gerade die aufklärerischen Bemühungen um allgemeine Lesefähigkeit und um vielfältige Nachrichten aller Art bahnten auch den Weg zum unsystematischen Ansammeln von Informationen, das die Informationen-Öffentlichkeit im allgemeinen und die Öffentlichkeit der späteren Neuzeit im besonderen kennzeichnet. „Medien1848 McLuhan, Understanding Media, 305; Postman 85—90; 131. 1849

Postman 17; 26; 110 f.; 131; ferner ebenda 177 f.; 180; 189 f.

Entwicklung vom 17. zum 20. Jahrhundert

403

schelte" geht so sicher ins Leere wie Kulturpessimismus, sofern sie eine Bildungs-Öffentlichkeit wiederherstellen wollen, die es seit mindestens hundert Jahren nicht mehr gibt. Am Ende einer Untersuchung über die Geschichte und die Erscheinungsformen von Öffentlichkeiten darf man sich allerdings fragen, ob das Monopol der Informationen-Öffentlichkeit nicht schon sichtbar angefochten wird. Quantitativ kann sie sich nicht über „alles Volk" hinaus vergrößern. Innerlich differenziert sie sich in der Gegenwart dadurch, daß in fast allen Staaten Europas „nationale" oder kulturelle Minderheiten Selbstbestimmungsrechte anmelden. Die Vielzahl kultureller Sondergruppen mit ihren Abgrenzungstendenzen und Selbstbehauptungswünschen könnte anzeigen, daß die grenzenlose Gleichheit aller Menschen vor den Informationen vielen unheimlich zu werden beginnt. Gewiß liegt in jeder Abgrenzung die Gefahr, daß die sich abschließende Gruppe den Kontakt nach außen, zur umfassenden Wirklichkeit verliert. Jede kulturelle Gemeinschaft, die Bildungs-Öffentlichkeit werden oder bleiben will, braucht die Verbindung zu denen, die nicht zu ihr gehören, braucht das kontroverse Gespräch und darum prinzipielle Offenheit, gerade wenn sie ihre Prinzipien nicht preisgibt. Aber weil und insofern sie sich nicht in erster Linie räumlich, sondern zeitlich orientiert, zeigt jede Bildungs-Öffentlichkeit einen Weg, in ihr und durch sie ein bewußtes Verhältnis zu Vergangenheit und Zukunft, zur eigenen Zeit zu gewinnen. In einem geschichtlichen Augenblick, in dem die Völker Europas angesichts weltweiter Verantwortlichkeiten ihre gemeinsamen Traditionen wieder aufsuchen, steht eine Renaissance der Bildungs-Öffentlichkeit nach Begriff und Erscheinungen vielleicht noch bevor.

ANHANG

VERZEICHNIS DER AUTOREN

Albrecht von Preußen

Artomedes, Sebastian

Aurifaber, Andreas

Aurifaber, Johannes

Barbarus, Hermolaus

Bazylik, Cyprian

Beguin, Jean

Basilius der Große

Barcelin, Pierre (Petrus)

Arnold, Philipp

1486—1536 (-)384—322 1582—1642 1544—1602 1514—1559 1517—1568 1453—1493

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1554—1601

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Apell, Johannes

339—397

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Andreae, Johannes

ADB 1, 293

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Ambrosius

ADB 1, 310

1553—1618

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Larousse 2, 483

Psl 1, 374

Meyer 3, 561

Meyer 3, 485

ApB 1, 24

Gause 263

Scheller 52

ΑρΒ 1, 18

Meyer 2, 583

ΑρΒ 1, 15

DBA 24, 310

Meyer 2, 31

DBA 19, 186

DBA 13, 60

cl500—1553

theol

1

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Informationen

Lebensdaten

Beruf

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Amandus, Georg

Albrecht Friedrich

Albertus Oschatzensis, Thomas

Alber, Erasmus

Name, Vorname

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0 1597—1325

ApB 1, 116

DBA 203, 118

Gause 341

1553—1618

ApB 1, 104

in

1551—1633

(-) 106—43

1561—1627

1522—1586

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Chemnitz, Maitin

Lebensdaten

Beruf

Studium +

Name, Vorname

R

J, ND

cl570—1628 cl530—1589

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Freder, Johannes

Frencking, Philipp

Frickius, Clemens Λ.

1536—1608

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Λ. Λ. Λ,

Galliculus, Hieronymus

Gedrojc (Gedrocius), Melchior

1518—1566

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Funck, Johannes

1588—1630

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Fuchs, Samuel

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Frum, Johannes

1510—1562

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Franck(ius), Heinrich

Λ.

1527—1571

Λ.

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Flins(ch)bach, Cunmannus

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1525—1595

3

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Fiedler, Valerius

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Fiedler, Felix

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1530—1612 1569—1627

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Göbel, Severin

Göbel, Severin, d. J.

1535—1603

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Gliczner, Erasmus

Johann Friedrich, Herzog zu Sachsen

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Joachim Friedrich, Kurfürst von Brandenburg

Jägerndorf, Adam Franciscus von

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Jagenteufel, Nikolaus

DBA 1304, 97

iur

Jaeger, Daniel Eusebius

ΑρΒ 1, 311 f.

1520—1588

Λ.

Isinder, Melchior

+

Iris (Regenbogen), Andreas

+

+

Hunnius, Aegidius

+

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+

+

Huberinus, Eberhard

phi/theol

ADB 13, 258

Gause 341

1500—1553

1540—1600

theol

DBA 569,451

ADB 13, 115

l

phi

Huberinus, Caspar

cl520—1565

DBA 562,411

Informationen

ADB 13,415

1

Horner, Thomas

phi 3 Β

Β 1550—1603

n.

Hoppius, Johannes CO

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Holtorp, Bernhard

Lebensdaten

Beruf

Β Β

Hartmann, Quellen, 370

Studium n.

Name, Vorname

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Briesmann, Trostsprüche für die schwachen gewissen

Drucker Fundort

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Chemnitz/Gruner, Disputationes ΧΠΧ

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Cimdarsus/Weis, Intimatio publice proposita

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Cimdarsus/Weis, Elegia scripta in obitum

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Clee, Elegia nuptialis

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1579

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Cimdarsus, Epicedion scriptum

1583

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Cimdarsus, Elegidion in felicem natalem

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Cimdarsus, Elegia de puero bifronte

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Ciegler, Traktat von der Freude der Auserwählten

1546

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Ciegler, Lob und Dankfest zu Ehren

1559

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Cicero, Pro lege Manilla

1557

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Drucker Fundort

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Cicero, Orator

1593

Thema

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Chrzest, albo sposob chrzecznia (Taufordnung)

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1574 1561

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Confessio Augustana

Confessio Augustana (Kwiatkowski)

VD 16 C 4780

Drucker Fundort Oste

Thema 1577

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Confessio Augustana

(Verfasser,) Kurztitel ΙΛ

ΙΛ

Drukarze dawnej Polski, 304 Catalogus librorum Rossiae, Nr. 21 Wierzbowski 170; VD 16 C 5361 Bircher Β 16014

Oste Daub Daub Sege

1594 1567 1557 1626

1 IM

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Confessio Augustana (Gliczner)

Confessio Augustana/Schmalk. Artikel/Mantua

Corvinus, Postilla domowa, Teil 1

Crebs, Bedencken über die neue didacticam

1624

phi

s

J Js

Crebs, Index iuris provincialis Prutenici

Grebs, Praxis rhetorica

Daub Daub Daub Wein Wein

1555 1559 1562 1526ca 1526

1

1

J J JS Js J

Culmann, Confabulatio seu disputatio pia

Culmann, Disputatio de causibus [!] comprobationis

Curaeus, Historia Conversi Pauli

Cyprianus, Sermon von dem Almosen, 2. Aufl.

SBPK Xg 9010 4°

ΑρΒ 1,116

VD 16 C 6532

VD 16 C 6533

Wierzbowski 2404

Drukarze dawnej Polski, 75

Fligge, Nr. 34

(N

Cyprianus, Sermon von dem Almosen

Fabr

1618

phil

Oste

1609

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Crusius, Collegium logicum

Oste

1605

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Fabr

1611

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Crebs, Triumphus gubernationis Borussiae

Crebs, Synopsis libro

SBPK Gu 585

1609

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ΑρΒ 1,116

SBPK Xg 9010

Oste C/L

phil

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Crebs, Disputatio de cognatione philosophiae

Wierzbowski 2392

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1561

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Confessio Augustana (Radomski)

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Hubatsch, Osten, Nr. 89

Wierzbowski 2894 VD 16 D 2510 Zawadzki 143; VD 16 Ε 3850

Jos. Müller, 158, Nr. 9 Jos. Müller, 161, Nr. 48 Jos. Müller, 158, Nr. 8 RISM Ε 194 Jos. Müller, 158 f., Nr. 17

Oste Fabr Oste Daub Oste Oste Oste Oste Oste Oste

1592 1620 1592 1561 1579 1598 1592 1608 1591

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Danup, Idea eines wohlabgerichteten Pferdes

De his qui nostro superioribus et temporibus

Demütige Beicht und christliches Gebet

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Drach, Die Passion Jesu Christi

Drei Neue Zeitungen

Eccard, 128. Psalm zu hochzeitlichen Ehren Bock

Eccard, Brautlied Fabricius, Zacharias

Eccard, Brautlied Göbel, Friedrich

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1598 1597 1604 1609 1593 1608 1598 1600

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Eccard, Echo nuptialis

Eccard, Ein Liedlein von dem tröstlichen Namen Jesu

Eccard, Epithalamia Behm, Christoph

Eccard, Epithalamia Hillebrand, Stephan

Eccard, Epithalamion Am Ende, Johann

Eccard, Epithalamion Apel, Ulrich

Eccard, Epithalamion Arnoldt, Augustin

Ν

Eccard, Brautlied Sangerhausen, Balthasar

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1601

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Eccard, Brautlied Keuter, Georg

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Eccard, Brautlied Hopner, Andreas

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Dictionarium trium linguarum

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1624

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Eccard, Zween Sprüche vom Ehestand aus Salomo

Edikt gegen marodierende Soldaten

Eilardus, Declamatio funebris in obitum Alberti

Elisabeth von Braunschweig, Etliche schöne Gebet

Emmelius, Brautlied Behm, Michael

Emmelius, Brautlied Nauwerg, David

Emmelius, Der 128. Psalm zu hochzeitlichen Ehren

Emmelius, Epithalamion Hoffmeister, Christian

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Eccard, Zu besondern Ehren Möllern, Sebaldo

Hofgerichtsordnung gebessen

(Verfasser,) Kurztitel

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Kurzer Auszug der Preußischen Chroniken

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Drukarze dawnej Polski, 454

Wierzbowski 2506

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Kurzer Auszug der Preußischen Chroniken

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Kugelmann, P.,Etliche teutsch Liedlein

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Kugelmann, Geistliche Lieder

Kuchler, Historia Jonae prophetae

Kuchler, Historia Jonae prophetae

Schwenke 25

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1584

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Kruger, Oratio in laudem

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Krakauer Vertrag

Tondel, Katalog, Nr. 60

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Neues Testament (Seclutian)

Neues Testament I (Murzynowski/Sedutian)

Neues Testament Π (Murzynowski/Sedutian)

Neues Testament polnisch

Neues Testament polnisch (Sedutian)

Drukarze dawnej Polski, 308; 305 VD 16 Ν 1743 VD 16 Ν 1860 Wierzbowski 2501 HAB 240.22 Quod. (6) Pisanski 203 Pisanski 203 KB Den Haag 1712 D 117 VD 16 Ν 2114 VD 16 Ο 1027 VD 16 Ο 1026

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Neues Testament, 1. Teil (Sedutian)

Niemojewski, Antwort auf das Buch Herbesti

Nigidius, Epithalamion in nuptiis Matth. Horstii

1552

Wierzbowski 1288

Nostitz, Carmina diversi generis de coniugio

Nostitz, De creatione et angelorum lapsu carmen

Nostitz, Elegia in obitum Sophiae

Nostitz, Libri HI de praestantia

Nuptiis clarissimi viri Panonii et Barbarae

Nuptiis reverendi viri Poltzini Epithalamia

Nürnberg, Geweiht Salz und Wasser

Nürnberg, Seelmeß, Vigilien und Jahrtage

Thielen, Kultur, 113

Auge

Auge

1554

Drukarze dawnej Polski, 21; Gorski 182

Wierzbowski 137

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1552

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Nostitz, Carmen funebre de obitu Alberti senioris

Wierzbowski 2273 Wierzbowski 1288; Gorski 182

Zawadzki 60

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Neue Zeitung von dem Moskowiter 1

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Olearius, Theses de certitudine

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Oenidus, Sacrae divinitatis vota

Cat.Brit.Museum, Suppl., 46

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Orsatus, Postilla 2

Orsatus, Postilla polska + Passionsharmonie

Orsatus, Postilla polska domowa

Orsatus, Postilla, Zusatz

Oslander, An filius Dei fuerit incarnandus

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Oslander, Catechismus oder Kinderpredig

Oslander, Catechismus oder Kinderpredig

Oslander, Daß unser lieber Herr Jesus Christus

Oslander, De unico mediatore

Oslander, Brentii Lehr von der Rechtfertigung

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Oslander, Beweisung daß ich einerlei Lehr

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Oslander, Bericht und Trostschrift

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Oslander, Auslegung Joh. 16, 51

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Orsatus, Postilla

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Oderborn, Reges Poloni

Drukarze dawnej Polski, 454 Sembrzycki, Vergerio, 584

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Ο Jesu Christ dein Nam der ist

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(Verfasser,) Kurztitel

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, Sendbrief an einen guten Freund

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, Predigt Rom. 6, Denn wer gestorben ist

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, Epistola in qua confutantur

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>gel, Antwort auf D. Morlins Apologie

igel, Dialogus oder gespräch eines armen Sündei

igel, Widerlegung der ungegründten Antwort

igel, Zwo tröstliche Predigt Joh. 13

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lit, Predigt von dem christlichen Abschied

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lit, Oratio de Abrahame Patriarcha

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lit, De vero usu ad quos lectio sacrorum libroni

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SBPK Sz 1898 gd 814

Tondel, Nr. 130

Pisanski 163

Hubatsch, Westd., 117

HAB 393.14 Theol. (6)

HAB 393.14 Theol. (5)

Sehling 4,7

GStAPK EM 23 a 1,48 r sq.

HAB J 198.7 4° Heimst.

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HAB 292.14 Theol. 4° (3)

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sitationsordnung

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irzeichnis der Steuereinnehmer

Drukarze dawnej Polski, 78

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•rmahnung der Seelsorger an das Volk zu Nürnt

Sembrzycki, Vergerio, 582

1

3

Tgerio/Brenz, De officio principum

Wierzbowski 1335

1

irgerio, Zween Sendbrief

:rgerio, Scholia in binas Pauli papae litteras

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:rgerio, Responsio ad libnim Antichrist!

Sembrzycki, Vergerio, 516, Ni

Drukarze dawnej Polski, 2t

Fundort

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Tgerio, Postremus Catalogus haereticorum

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:rgerio, Obsecro vide lector

Thema

Sprache



:rgerio, Lac spirituale

Erfasser,) Kurztitel

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Hubatsch, Osten, Nr. 76

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Wapner, Jambicum Dirnetrum in resurrectionem

Warhaftige czeytung aus Rom

Warhaftige Zeitung aus Prag

Wedemeier, Carmen gratulatorium

Weigel, Orthodoxa fidei confessio

Drukarze dawnej Polski, 105 HAB Db 2256 (28) Hubatsch, Osten, Nr. 77 SBPKXh 15050

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Weiss, Carmen graecum

HAB 49.1 Poet. (3)

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VD 16 W 357

HAB Je 1412

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Waissel, Summa doctrinae sacrae

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Waissel, Chronica alter preuscher Historien

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ApB 2,766

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Wagner, Vita et mores Lithuanorum in Borussia

Pisanski 332

Pisanski 332

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Wagner, Monstrum Cinglio-Calvinianum

00 Kniebe, 113, Anm. 16

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Wagner, Bericht was in der lutherischen Kirche

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Wagner, Finckenspiegels 1. und 2ten Teil

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Helsinii MD 772.Π.6; Cat. British Library Ρ :

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Uppsala Obr. 49.240

5 IS.

Von Erwählung der beider Bischoffe

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Von Erwählung der beider Bischoffe

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1600 in

Von der rechten Hand Gottes

Uppsal» Obr. 69.374

Fundort

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Von der Rechtfertigung des Glaubens Bericht

1577

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Von der administration des Samländischen Sprengeis

Thema Μ

1560

Sprache

I

Voit, Repetitorium praecipuarum partium doctrinae

(Verfasser,) Kurztitel

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HAB 49.1 Poet. (18)

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1582 1572 1575 1580 1582

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