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German Pages [458] Year 2017
Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien
NEUE FORSCHUNGEN ZUR SCHLESISCHEN GESCHICHTE herausgegeben von JOACHIM BAHLCKE Band 26
INSTITUTIONEN DER GESCHICHTSPFLEGE UND GESCHICHTSFORSCHUNG IN SCHLESIEN Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg
Herausgegeben von Joachim Bahlcke und Roland Gehrke
2017 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Firszt, Stanisław: Nieszczęsne losy zbiorów Schaffgotschów na tle odradzającego się muzealnictwa polskiego po 1945 roku. In: Rocznik Jeleniogórski 42 (2010) 193–226, hier 206.
© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50781-7
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Inhaltsverzeichnis Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Joachim Bahlcke/Roland Gehrke Die Bedeutung von Vereinen, Gesellschaften, Museen, Bibliotheken und Archiven für die Konstituierung der historischen Wissenschaften in Schlesien. Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Überregionale Entwicklungslinien und regionale Rahmenbedingungen Roland Gehrke Zwischen ‚vaterländischer‘ Geschichtsbegeisterung und wissenschaftlicher Professionalisierung: Das historische Vereinswesen im deutschsprachigen Raum vor 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Joachim Bahlcke „Circel gebildeter, gelehrter Männer“. Zur Entwicklung, Struktur und inhaltlichen Ausrichtung aufgeklärter Sozietäten in Schlesien während des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Arno Herzig Geschichtsforschung in der Metropole Schlesiens. Das Historische Seminar der Universität Breslau im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 II. Geschichts- und Altertumsvereine, Gesellschaften und historische Vereinigungen Norbert Kersken Breslau als Zentrum landesgeschichtlicher Forschung: Der „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Franziska Zach Die „Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur“ im 19. Jahrhundert . . . . . . 121 Dietrich Meyer Der „Verein für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens“ und das Konsistorium in Breslau. Ein Beitrag zur Geschichtspflege und Erinnerungskultur der evangelischen Kirche der Provinz Schlesien . . . . . . . . . . . . . . . 143
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Pawel Jaworski Der „Literarisch-Slawische Verein“ in Breslau (1836–1886) als historische Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Ulrich Schmilewski Patriotismus und Universalität. Der „Verein für die Geschichte Glogau’s“ (1824) und die „Wissenschaftliche Gesellschaft Philomatie in Neisse“ (1838) . . . . . . . . . . . . 199 Ryszard Kaczmarek Geschichtspflege und Vereinswesen im preußischen Oberschlesien vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Małgorzata Ruchniewicz Institutionen und Protagonisten der Geschichtspflege im Glatzer Land vor 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Christian Speer Die „Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften“ auf dem Weg von einer universalen Sozietät zu einer Institution der Erforschung und Pflege der Landesgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Roland Gehrke Der Riesengebirgsverein und seine Zeitschrift Der Wanderer im Riesengebirge (1880/81–1914): Tourismusentwicklung, Landschaftswahrnehmung, Geschichtspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 III. Museen, Bibliotheken und Archive Urszula Bończuk-Dawidziuk Geschichtspflege im Breslauer Universitätsmuseum und in anderen Museen Schlesiens vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Vasco Kretschmann Lokale Geschichtskultur im Museum. Die Dauerausstellung „Alt-Breslau“ des Schlesischen Museums für Kunstgewerbe und Altertümer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Marie Gawrecká Geschichtspflege, historische Vereine und Museen in ÖsterreichischSchlesien vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
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Wojciech Mrozowicz Die Bibliotheken Schlesiens als Orte der Geschichtspflege vor dem Ersten Weltkrieg – unter besonderer Berücksichtigung der Universitäts- und der Stadtbibliothek in Breslau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Rościsław Żerelik Das „Königliche Akademische Provinzialarchiv“ zu Breslau. Geschichtspflege im Spiegel der Organisation des schlesischen Archivwesens im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Michael Hirschfeld Diözesanarchiv, Diözesanbibliothek und Diözesanmuseum in Breslau. Zum Beitrag der katholischen Kirche zur Geschichtsbewahrung und Kulturgutpflege in Schlesien vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Joachim Bahlcke Adelige Geschichtspflege. Familienbewusstsein und Wissenschaftsförderung in Schlesien vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Anhang Verzeichnis der Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
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Vorwort der Herausgeber Neben den zentralen Bildungseinrichtungen des Staates bildeten Vereine, Gesellschaften, Museen, Bibliotheken und Archive im ‚langen‘ 19. Jahrhundert das institutionelle Rückgrat der Geschichtsforschung, deren Aufgabengebiet, Organisation und Selbstverständnis sich in dieser Phase fundamental wandelte. Als Säulen der wissenschaftlichen Infrastruktur hatten sie wesentlichen Anteil an dem Konstituierungs- und Stabilisierungsprozess der historischen Wissenschaften. Ihre Genese, Zielsetzung und Funktion lässt im mitteleuropäischen Raum zweifelsohne eine Vielzahl von Parallelen erkennen. Und doch wird man sich vor allzu verallgemeinernden Aussagen hüten müssen. Lokal wie regional waren es viele Faktoren, die die Gründung und Etablierung entsprechender Organisationsbildungen beförderten oder eben auch verhinderten. Wie gestaltete sich diese Entwicklung in Schlesien, einem Land mit stark ausgeprägten föderalen Strukturen und Traditionen und einer hohen Städtedichte? Vermochten sich Geschichts- und Altertumsvereine sowie andere historische Vereinigungen neben der 1811 in der Landeshauptstadt gegründeten Universität kulturell und gesellschaftlich zu profilieren? Und welchen Anteil hatten diese Institutionen an der Verwissenschaftlichung der Landesgeschichtsschreibung in der Zeit zwischen Aufklärung und Erstem Weltkrieg? Diese und andere Leitfragen standen im Mittelpunkt einer internationalen Fachtagung, die Historiker, Archivare, Kunst- und Kirchenhistoriker aus Deutschland, Polen und Tschechien vom 1. bis 3. Oktober 2015 in Görlitz zusammenführte. Die Veranstalter, die Historische Kommission für Schlesien und das Schlesische Museum, kooperierten während der vergangenen Jahre bereits bei mehreren Forschungsvorhaben miteinander. Als Sitz der 1779 in Görlitz gegründeten „Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften“, der zudem einer der Vorträge gewidmet war, war der Veranstaltungsort auch mit Blick auf die thematische Ausrichtung der Tagung bestens geeignet. Hinzu kommt, dass Veranstaltungen zur Kultur und Geschichte Schlesiens in der Grenzstadt an der Lausitzer Neiße, die historisch seit jeher enge Verbindungen zum Oderland besaß, stets auf Interesse in der breiteren Öffentlichkeit stoßen. Der vorliegende Sammelband dokumentiert die Beiträge der Tagung, ergänzt um eine kulturwissenschaftliche Fallstudie von Vasco Kretschmann. Die Drucklegung dieses Buches wäre ohne die ideelle und materielle Unterstützung mehrerer Institutionen nicht möglich gewesen. Wir danken besonders den Vorständen der Historischen Kommission für Schlesien und des Schlesischen Museums zu Görlitz sowie der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien für die großzügige Förderung des Projekts. Gedankt sei ferner den Mitarbeitern am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Stuttgart für mannigfache Unterstützung bei der Herstellung des Buchmanuskripts sowie Oliver Rösch M.A. für die gewohnt zuverlässige Betreuung der Drucklegung. Stuttgart, im Oktober 2016
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Die Bedeutung von Vereinen, Gesellschaften, Museen, Bibliotheken und Archiven für die Konstituierung der historischen Wissenschaften in Schlesien. Zur Einführung I. An den Pfingstfeiertagen des Jahres 1868 unternahm der Breslauer Archivar und Historiker Colmar Grünhagen (1828–1911) im Auftrag des „Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens“, der gut zwei Jahrzehnte zuvor in der schlesischen Landeshauptstadt gegründet worden war, eine Archivreise nach Krakau. In der kleinpolnischen Metropole hoffte er weiteres urkundliches Material für sein auf mehrere Bände angelegtes Werk Regesten zur schlesischen Geschichte zu finden, das er im Auftrag des Vereins bearbeitete und herausgab.1 Über die generelle Bedeutung dieser und weiterer Archivreisen und das eigene Vorgehen bei seinem Werk, bei dem er an Vorarbeiten von Richard Roepell (1808–1893) und Wilhelm Wattenbach (1819–1897) anknüpfen konnte, schrieb Grünhagen im Vorwort des ersten von ihm vorgelegten Regestenbandes: „Endlich sollten auch in den benachbarten Archiven noch etwaige ungedruckte Urkunden, die für Schlesien von Bedeutung wären, aufgesucht werden. So vermochten in den letzten 4 Jahren Reisen des Herausgebers nach Prag, Posen, Gnesen, Krakau, Dresden von allen diesen Orten, Dank der Freundlichkeit der Archivvorstände, noch mannichfache Ausbeute zurückzubringen.“2 Seine im Breslauer Geschichtsverein ganz offensichtlich umstrittene Entscheidung, den einzelnen Regesten einen ungewöhnlich umfangreichen Apparat beizufügen, verband Grünhagen mit grundsätzlichen Überlegungen über die Notwendigkeit einer nachhaltigen Verwissenschaftlichung der Landesgeschichtsschreibung: „Wenn der schwere Kampf gegen die zahlreichen unsere heimathliche Geschichte verunzierenden Fabeln je mit Erfolg geführt werden kann, so ist diess möglich in den Regesten mit all dem Apparat und den Vorarbeiten, die hier zu Gebote stehen, wo man dann die einzelne Nachricht bis zu ihrer letzten wahrnehmbaren Quelle verfolgen und deren Unlauterkeit an einzelnen Beispiel nachweisen und ein ander Mal derartige Angaben dadurch zu discreditiren vermag, dass man zeigt, wie sie mit vollkommen sicheren historischen
1 ������������������������������������������������������������������������������������������ Irgang, Winfried: Urkundenforschung. In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Historische Schlesienforschung. Methoden, Themen und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kulturwissenschaft. Köln/Weimar/Wien 2005 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 11), 53–67. 2 Grünhagen, C[olmar] (Hg.): Regesten zur schlesischen Geschichte, Th. 1: Bis zum Jahre 1250. Breslau 1868 (Codex diplomaticus Silesiae 7), V–X (Vorwort), hier VI.
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Zeugnissen im Widerspruch stehen. Wenn erst der Band Regesten vollendet, mit Register versehen, dem ganzen grossen Kreise unserer Vereinsgenossen vorliegt, dann ist doch wenigstens die Arglosigkeit, mit der bisher die alten Fabeln, obgleich schon längst bekämpft, immer wieder von Neuem aufgetischt wurden, weniger möglich. Es wäre thöricht, sich hier Illusionen zu machen und die Schwierigkeit, eine streng historische Kritik in weiteren Kreisen einzubürgern, zu unterschätzen, aber ich bekenne mich so verwachsen zu fühlen mit den Interessen grade unserer Provinzialgeschichte, dass schon sehr mässige Erfolge mich hier reichlich entschädigen würden für die Vorwürfe, welche mich wegen überflüssiger Zugaben treffen könnten.“3 Um die hier umrissenen Ziele zu erreichen, war – und dessen war sich Grünhagen als Archivar wie als an der Universität lehrender Historiker stets bewusst – ein langer Atem notwendig.4 Zu den intellektuellen Herausforderungen kamen die logistischen, kommunikativen und finanziellen, denn ohne eine funktionsfähige wissenschaftliche Infrastruktur stieß nicht nur jeder fachliche Austausch, sondern auch jedes Bemühen um Erkenntnisfortschritt rasch an seine Grenzen. Der Bericht, den Grünhagen im Anschluss an die eingangs genannte Archivreise über die Ergebnisse seines Forschungsaufenthaltes in Krakau in der von ihm selbst herausgegebenen Vereinszeitschrift veröffentlichte, ist in diesem Zusammenhang höchst aufschlussreich, gibt er doch einen lebendigen Einblick in die konkreten Arbeitsbedingungen eines Berufshistorikers in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Als Leiter des Breslauer Staatsarchivs und außerordentlicher Professor für Geschichte an der Universität hatte Grünhagen in der schlesischen Landeshauptstadt ohne Zweifel eine exponierte Stellung inne.5 Gleichwohl war auch für ihn jede Archivreise aufwendig, teuer und mit einer Vielzahl organisatorischer Detailfragen verbunden. Die nicht amtlichen, sondern privaten Interessen geltende Reise, für die der Geschichtsverein einen Teil der Kosten übernahm, konnte nur an dienstfreien Tagen durchgeführt werden. Die Genauigkeit, mit der Grünhagen die Verkehrswege und Verkehrsmittel
3 Ebd., VIII. 4 Sein Hauptanliegen trug Grünhagen den „Mitglieder[n] des schles[ischen] Geschichtsvereins“ in Breslau auch in späteren Jahren immer wieder neu vor: „Wer nur einmal die doch noch immer unentbehrliche Sammlung der Sommersberg’schen S[criptore]s rer[um] Siles[iacarum] in ihrem chaotischen Durcheinander zu benutzen gehabt hat, wird ein Hilfsmittel bequemerer Orientirung lebhaft ersehnt haben, und unser Verein durfte es recht eigentlich als seine Aufgabe ansehn, den Eintritt in unsre ohnehin sich so eigenartig und spröde abschliessende Provinzialgeschichte nach Möglichkeit zu erleichtern und vor Irrwegen zu schützen, wie sie grade auf diesem Gebiete schon zum Beispiel wegen der in den verschiedenen Editionen merkwürdig häufig gewechselten Bezeichnungen für ein und dieselbe Geschichtsquelle so leicht vorkommen könnten.“ Ders. (Hg.): Wegweiser durch die schlesischen Geschichtsquellen bis zum Jahre 1550. Breslau 1876, III–IV (Vorwort), hier III. 5 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Krusch, Bruno: Geschichte des Staatsarchivs zu Breslau. Leipzig 1908 (Mitteilungen der K. Preußischen Archivverwaltung 11), 316–340; Bahlcke, Joachim: Die Geschichtswissenschaft an der Universität Breslau 1811–1945. Fachentwicklung – Personalstand – Forschungsschwerpunkte. In: Jahrbuch für schlesische Kultur und Geschichte 53/54 (2012/13) 569–588.
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beschrieb, macht deutlich, dass das Reisen auch im 19. Jahrhundert oft eher als Wagnis und Strapaze denn als Vergnügen empfunden wurde. Die Fahrt mit dem Schnellzug nach Oberschlesien sei noch angenehm gewesen, so der Vierzigjährige, ganz anders dagegen der anschließende Abschnitt: „Die 2½ stündige Fahrt von Pruchna nach Teschen in einem österreichischen Postwagen war ganz geeignet, mir die Vorzüge des preußischen Postwesens lebhaft vor die Seele zu führen und mich zugleich recht bedauern zu lassen, daß die Eisenbahn, die von Oderberg über Teschen nach Kaschau gebaut wird und im Herbst bis Teschen befahren werden soll, noch nicht eröffnet war.“6 Die größte Schwierigkeit bei der Reise aber hatte darin bestanden, vorab Auskünfte über bestimmte Einrichtungen, deren Öffnungszeiten und Nutzungsbedingungen zu erhalten sowie kompetente Ansprechpartner zu finden – und dies „auf dem unbekannten Boden“, wie Grünhagen eingestand, „wo die mangelnde Kenntniß der polnischen Sprache mir mehr, als ich erwartet hatte, den Verkehr und das Anknüpfen neuer Beziehungen erschwerte“.7 Hier erwiesen sich die Netzwerke des Geschichtsvereins, der zahlreiche Mitglieder auch in anderen Städten Schlesiens und im Ausland hatte,8 als ungemein nützlich. Gottlieb Biermann (1828–1901) etwa habe ihn in Teschen nicht nur bewirtet, sondern auch auf ein wertvolles Manuskript von Matthias Kasperlik Ritter von Teschenfeld (1801–1865) – der ebenfalls korrespondierendes Mitglied des Breslauer Vereins gewesen war – hingewiesen. Als besonders hilfreich erwiesen sich diese Beziehungen während des achttägigen Aufenthalts in Krakau: Sowohl der Rechtsgelehrte Anton Sigmund Helcel-Sztersztyn (1808–1870), Ehrenmitglied des Vereins, als auch der Archäologe und Biograph Teofil Żebrawski (1800–1887), dem der polnische, in Breslau wirkende und dort im Verein tätige Historiker August Mosbach (1817–1884) zuvor den Besuch Grünhagens angekündigt hatte, zeigten sich dem deutschen Kollegen gegenüber überaus entgegenkommend; sie waren, wie Grünhagen schrieb, „so liebenswürdig, mir die Abschriften in mein Quartier zu leihen, so daß ich die früheren Morgen- und einen Theil der Nachmittagstunden, wo die Archive und Bibliotheken nicht zu besuchen waren, mit ihrer Excerpirung ausfüllen konnte“.9 Der Breslauer Geschichtsverein war denn auch mehrfach Gesprächsgegenstand, wie aus den Aufzeichnungen Grünhagens hervorgeht. Im „Lokale der Krakauer gelehrten Gesellschaft“ übernahm er ein Exemplar des von dieser 1865 herausgegebenen Urkundenbuchs des Klosters Mogila (Diplomata monasterii Clarae Tumbae prope Cracoviam), sozusagen „für unseren Verein als ersten Anfang eines Schriftenaustausches“.10 Die zentrale Bedeutung eines solchen grenzüberschreitenden Wissenstransfers – und dessen 16 Grünhagen, [Colmar]: Bericht über eine archivalische Reise nach Krakau (Pfingsten 1868). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 9/2 (1869) 129–143. 17 Ebd., 133. 18 Markgraf, Hermann: Der Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens in den ersten 50 Jahren seines Bestehens. Breslau 1896, 35. 19 Grünhagen: Bericht über eine archivalische Reise nach Krakau, 134. 10 Ebd., 133.
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unverändert bestehende Mängel – unterstrich Grünhagen ein weiteres Mal, als er am Ende seines Berichts auf die Notwendigkeit verwies, „durch persönliche Verbindungen der Unzulänglichkeit des buchhändlerischen Verkehrs zu Hilfe zu kommen“.11 HelcelSztersztyn habe ihm überdies für den Verein „ein unendlich willkommenes und werthvolles Geschenk“ übergeben, „ein opus posthumum Stenzel’s, eine vollkommen druckfertige Ausgabe der ältesten Urkunden des Breslauer Sandstiftes“.12 Es handelte sich um ein Manuskript, das Gustav Adolf Harald Stenzel (1792–1854) dem Krakauer Kollegen einst verkauft hatte, da ihm in Schlesien dafür kein Buchhändler ein Honorar hatte zahlen wollen. Ein weiterer Gesprächspartner Grünhagens in Krakau, der Volkskundler und Historiker Żegota Pauli (1814–1895), habe den Einsatz des Breslauer Vereins für die schlesische Geschichtsforschung in höchsten Tönen gelobt und plane „ernsthaft“, in seiner Stadt „einen historischen Verein nach Art des unserigen“ einzurichten.13 Die Beschreibungen Grünhagens über seinen Forschungsaufenthalt in Krakau 1868 sind gleichsam Bausteine einer „Wissenschaftsgeschichte der Landesgeschichtsschreibung“,14 zu der es für Schlesien unverändert an Vorarbeiten mangelt. Auch in anderen Berichten des Breslauer Archivars und Historikers über seine Archiv- und Forschungsreisen15 finden wir zahlreiche Belege für das breite Tätigkeitsfeld der außeruniversitären Organisationsbildungen im Oderland, die von der Forschung – von der polnischen ebenso wie von der deutschen – bisher allenfalls gestreift worden sind. Von Bedeutung sind diese Beschreibungen nicht allein wegen der Hinweise auf fachlich-inhaltliche Impulse, konkrete Forschungsbemühungen also, die von Vereinen, Gesellschaften und anderen privatrechtlichen Einrichtungen ausgingen, die sich also nichtstaatlicher Initiative verdankten.16 Wichtig sind sie auch und vor allem deshalb, weil sie die Rolle dieser Institutionen beim Aufbau einer in die Breite wirkenden wissenschaftlichen Infrastruktur beleuchten, die gerade bei der Konstituierung der historischen Wissenschaften während des 19. Jahrhunderts zu beachten ist. Eine „Vereinigung der Kräfte Mehrerer, durch 11 Ebd., 142. 12 Ebd., 135. 13 Ebd., 137. 14 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Schorn-Schütte, Luise: Territorialgeschichte, Provinzialgeschichte – Landesgeschichte, Regionalgeschichte [1984]. In: dies.: Perspectum. Augewählte Aufsätze zur Frühen Neuzeit und Historiographiegeschichte anlässlich ihres 65. Geburtstages. Hg. v. Anja Kürbis, Holger Kürbis und Markus Friedrich. München 2014 (Historische Zeitschrift. Beiheft N.F. 61), 111–143. 15 Grünhagen, C[olmar]: Eine archivalische Reise nach der Ober-Lausitz. (Pfingsten 1869.). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 10/1 (1870) 18–33; ders.: Eine archivalische Reise nach Wien (Pfingsten 1871). Ebd., 11/1 (1871) 25–35; ders.: Eine archivalische Reise nach London. In: Archivalische Zeitschrift 3 (1878) 220–245. 16 Einer solchen Initiative des Staates, konkret einer Verfügung des Generaldirektors der königlich preußischen Staatsarchive in Berlin, Reinhold Koser (1852–1914), an das Königliche Staatsarchiv Breslau vom 21. September 1899, verdankte sich beispielsweise die Forschungsreise des Breslauer Archivars Konrad Wutke (1861–1951) im Herbst 1899. Vgl. Wutke, Konrad: Eine archivalische Forschungsreise durch den Kreis Ohlau (October bis December 1899). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 35 (1901) 358–370.
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Vereine in den einzelnen Fürstenthümern“ – das war 1833 die Antwort des bereits genannten Breslauer Historikers Stenzel auf die zu jener Zeit vieldiskutierte Frage, wie „die Schlesische Geschichtskunde zweckmäßig befördert“ werden könne.17
II. Institutionalisierung, Professionalisierung, Standardisierung, Verwissenschaftlichung – unter diesen Leitbegriffen werden im Allgemeinen die Konstituierungs- und Stabilisierungsprozesse in den Geistes- und Kulturwissenschaften während des ‚langen‘ 19. Jahrhunderts beschrieben, die Organisation, Selbstverständnis und Wissensproduktion der einzelnen Fächer mehr oder weniger fundamental veränderten. Diese Zusammenhänge wurden in den vergangenen Jahrzehnten, mit unterschiedlichen disziplinären und regionalen Schwerpunkten, vielfach beleuchtet und bestätigt.18 Dabei war der Blick hauptsächlich auf die zentralen Wissenschaftseinrichtungen des Staates gerichtet, auf Universitäten, Institute, Seminare, Labore, Archive, Museen und Fachbibliotheken. Hier lässt sich der Wandel besonders klar erkennen, der – in Abstufungen und mit zeitlichen Verschiebungen – jede Einzeldisziplin in ähnlicher Weise traf und prägte: die Rekrutierung des akademischen Personals, die zugleich eine neue Form der Personalpolitik, konkret der Berufungspraxis, erforderte, die zunehmende Bedeutung von Qualifikationsprofilen und Stellenbeschreibungen, das Erstellen von Studienplänen, die Zusage finanzieller und personeller Ausstattungen, inhaltlich schließlich das Aufkommen neuer Kommunikations- und Publikationsformen, Debattenkulturen und methodischer Reflexionen.19 17 ������������������������������������������������������������������������������������������ Stenzel, Gustav Adolph: Wie kann die Schlesische Geschichtskunde zweckmäßig befördert werden? In: Schlesische Provinzial-Blätter 97 (1833) 191–201, hier 191. 18 Lingelbach, Gabriele: Klio macht Karriere. Die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft in Frankreich und den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2003 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 181); Lepenies, Wolf (Hg.): Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, Bd. 1. Frankfurt am Main 1981; Diesener, Gerald/Middell, Matthias: Institutionalisierungsprozesse in den modernen historischen Wissenschaften. In: dies. (Hg.): Historikertage im Vergleich. Leipzig 1996 (Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung 6/5–6), 7–20. 19 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. exemplarisch für die historischen Wissenschaften Huttner, Markus: Historische Gesellschaften und die Entwicklung historischer Institute – zu den Anfängen institutionalisierter Geschichtsstudien an den deutschen Universitäten des 19. Jahrhunderts. In: Middell, Matthias/ Lingelbach, Gabriele/Hadler, Frank (Hg.): Historische Institute im internationalen Vergleich. Leipzig 2001 (Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert 3), 39–83; Pandel, Hans-Jürgen: Von der Teegesellschaft zum Forschungsinstitut. Die historischen Seminare vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Kaiserreichs. In: Blanke, Horst Walter (Hg.): Transformation des Historismus. Wissenschaftsorganisation und Bildungspolitik vor dem Ersten Weltkrieg. Interpretationen und Dokumente. Waltrop 1994 (Wissen und Kritik 4), 1–31.
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So nachvollziehbar diese Beobachtungen auch sein mögen, so unvollständig sind sie, wenn man den Blick auf die Entwicklung der historischen Wissenschaften zwischen Aufklärung und Erstem Weltkrieg richtet. Denn gerade hier ist die Einbeziehung der zahlreichen Geschichts- und Altertumsvereine, Wissenschaftsgesellschaften und sonstigen Organisationsbildungen unvermeidbar, fiel diesen doch, wie das einleitende Beispiel zeigte, eine zentrale Rolle bei der Ausbildung einer funktionsfähigen wissenschaftlichen Infrastruktur zu. Ihr jeweiliger Grad der Akademisierung war allerdings sehr uneinheitlich. Dies hat nicht selten dazu geführt, die Bedeutung solcher außeruniversitären Institutionen gering zu schätzen und ihre Mitglieder vergleichsweise statisch als ‚Laien‘ von den eigentlichen ‚Experten‘ abzugrenzen. Der im Titel des vorliegenden Bandes verwendete und in der Literatur bislang nur vereinzelt, vornehmlich im Zusammenhang mit dem historischen Vereinswesen oder dem Denkmalschutz aufscheinende Begriff der „Geschichtspflege“20 erscheint in diesem Kontext geeignet, auch jene vermeintlich populär-laienhaften Ebenen historischer Betrachtung und Reflexion zu erfassen, für die sich der auf die wissenschaftliche Arbeit im engeren, akademischen Sinn bezogene Begriff der „Geschichtsforschung“ möglicherweise verbietet. Prinzipiell lassen sich die für das 19. Jahrhundert in Deutschland erkennbaren allgemeinen Entwicklungslinien auch bei der Fachentwicklung der Geschichtswissenschaft an der Universität Breslau beobachten, die 1811 aus der Zusammenlegung der Frankfurter Viadrina mit der Breslauer Leopoldina entstanden war. In Schlesien mit seinen traditionell ausgeprägten regionalen und föderalen Strukturen ist gleichwohl nicht zu verkennen, dass eine Reihe kultureller Zentren aus dem Fehlen einer Landesuniversität während der gesamten Frühneuzeit Nutzen zog. Zudem blieb die junge Alma Mater der Landeshauptstadt noch bis zum Ersten Weltkrieg eine typische Einstiegs- und Durchgangsuniversität, an der sich nur ein kleiner Teil der Historiker überhaupt mit landesgeschichtlichen Themen im engeren Sinn beschäftigte.21 20 �������������������������������������������������������������������������������������������� So bereits im Titel des Sammelbands von Seibt, Ferdinand (Hg.): Vereinswesen und Geschichtspflege in den böhmischen Ländern. München 1986; vgl. exemplarisch Wolf, Manfred: Geschichtspflege und Identitätsstiftung. Provinzialarchiv und Altertumsverein als kulturpolitisches Mittel zur Integration der Provinz Westfalen. In: Behr, Hans-Joachim (Hg.): Ludwig Freiherr Vincke. Ein westfälisches Profil zwischen Reform und Restauration in Preußen. Münster 1994, 461–482; Neumann, Michael: Denkmalpflege als Geschichtspflege. In: Heidenreich, Bernd (Hg.): Die Hessen und ihre Geschichte. Wege-Weiser durch die hessische Landes- und Regionalgeschichte. Wiesbaden 1999, 74–83; Frank, Sibylle: Die Patinierung der Gegenwart. Geschichtspflege am Neuen Potsdamer Platz in Berlin. In: Berlin-Forschungen junger Wissenschaftler 1 (2004) 11–30; Christ, Günther: Geschichtspflege am bayerischen Untermain. Die historischen Vereine in Würzburg und Aschaffenburg im Vergleich. In: Hasber, Wolfgang (Hg.): Flores considerationum amicorum. Festschrift für Carl August Lückerath zum 70. Geburtstag am 13. Dezember 2006. Gleichen 2006, 61–79; Pledl, Wolfgang: Heimat und Geschichtspflege heute. Beobachtungen, Anmerkungen, Wünsche. In: Jahrbuch des Vereins für Heimatkunde 9 (2012) 49–96. 21 Surman, Zdzisław: Seminarium historyczne Uniwersytetu Wrocławskiego (1843–1918). In: Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka 38/1 (1983) 63–81; Andreae, Friedrich: Zur Geschichte des Breslauer Historischen Seminars. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 70
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Die bürgerlichen Geschichts- und Altertumsvereine in Schlesien – die wie im übrigen Preußen, aber im Gegensatz etwa zu manchen süddeutschen Geschichtsvereinen, durchweg aus privater Initiative heraus entstanden und entsprechend einen privatrechtlichen Charakter hatten – profitierten zwangsläufig von diesem Umstand, indem ihnen für die universitär vernachlässigte landesgeschichtliche Forschung gleichsam eine Auffangfunktion zukam. Erfolgreich ausfüllen ließ sich eine solche Auffangfunktion freilich nur im Zusammenspiel mit den Lieferanten des benötigten Quellenmaterials – den Archiven und Bibliotheken – sowie den Foren der didaktischen Aufbereitung und öffentlichen Präsentation der Forschungsergebnisse – mithin den historischen Museen. Hier also kamen Institutionen ins Spiel, die im ,langen‘ 19. Jahrhundert ihrerseits einer zunehmenden staatlichen Normierung insbesondere der einschlägigen Ausbildungswege unterlagen und einen wissenschaftlichen Professionalisierungsprozess durchliefen. Der Untersuchungsgegenstand des vorliegenden Sammelwerks ist damit umschrieben. Die allgemeine Forschungsliteratur sowohl zum Historischen Vereinswesen als auch zur historischen Entwicklung des Archiv-, Bibliotheks- und Museumswesens in der Neuzeit ist mittlerweile derart vielfältig, dass sie an dieser Stelle schwerlich aufgelistet werden kann. Auf die entsprechend einschlägigen Darstellungen speziell zu Schlesien wird in den einzelnen Beiträgen verwiesen, die im Folgenden gesondert vorgestellt werden sollen.
III. Nochmals zusammengefasst sei also festgehalten, dass die organisatorische Entwicklung, die inhaltliche Ausrichtung und die Arbeitspraxis lokal wie regional bedeutsamer Geschichts- und Altertumsvereine, Gesellschaften, Museen, Bibliotheken und Archive in Schlesien vor dem Ersten Weltkrieg im Mittelpunkt der vorliegenden Aufsatzsammlung stehen. In aller Regel nicht erfasst wurden Organisationsbildungen, die nur wenige Jahre bestanden oder bei Lichte besehen keine eigentliche Wirksamkeit entfalteten. Ähnlich wie bei den Aufklärungssozietäten des 18. Jahrhunderts waren auch die städtischen Vereine des 19. Jahrhunderts mitunter für mehrere Wissensgebiete zuständig, so dass eine Abgrenzung im einen oder anderen Fall schwer fiel. Deutlich wird dies beispielsweise beim „Literarisch-Slawischen Verein“ (Towarzystwo LiterackoSłowiańskie) in Breslau, der ursprünglich darauf abzielte, das Interesse für Sprachen, Literatur, Geschichte und die Rechte der slawischen Nationen zu fördern, sein Tätigkeitsfeld aber erst im Laufe der Zeit verengte. Ein durchgehendes Problem stellt die Quellenüberlieferung der einzelnen Institutionen dar. Selbst bei Zusammenschlüssen, (1936) 320–328; Kaufmann, Georg/Ziekursch, Johannes: Geschichte. In: Kaufmann, Georg (Hg.): Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau, Bd. 2: Geschichte der Fächer, Institute und Ämter der Universität Breslau 1811–1911. Breslau 1911, 359–368.
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die sich später zu bedeutenden Einrichtungen entwickelten, sind die Anfänge oft nur in Ansätzen rekonstruierbar. Noch schwieriger stellt sich die Situation bei anderen Orten der Geschichtspflege dar, die jenseits der Räume eines institutionalisierten Austausches existierten. Dies gilt vor allem für die Archive und Bibliotheken des Adels, die vielfach über eine beachtliche kulturelle Infrastruktur verfügten. Sie werden im vorliegenden Sammelband zumindest exemplarisch vorgestellt. Der erste thematische Block („Überregionale Entwicklungslinien und regionale Rahmenbedingungen“) umfasst drei Beiträge, die in räumlicher, zeitlicher und sachlicher Hinsicht bewusst einen weiteren Zugriff wählen und damit eine bessere Einund Zuordnung des engeren Untersuchungsgegenstandes erlauben. So nimmt Roland Gehrke für seine Überblicksdarstellung zum historischen Vereinswesen im 19. und frühen 20. Jahrhundert den gesamten deutschsprachigen Raum in den Blick. Ungeachtet unterschiedlicher Entstehungsbedingungen – einige Vereine vor allem in Süddeutschland wurden auf direkte staatliche, andere hingegen auf private Initiative hin gegründet – war den Geschichtsvereinen eine eher konservative Grundhaltung gemeinsam, in der regionale Orientierung und ,vaterländischer‘ Anspruch keineswegs in Widerspruch zueinander standen. Als bürgerliche Honoratiorenklubs konzentrierten sich die Historischen Vereine primär auf Urkundenforschung, Archäologie („Alterthumskunde“) und Denkmalpflege. Ihr Verhältnis zur universitären Fachwissenschaft blieb dabei diffizil: In Reaktion auf den wiederholt erhobenen Vorwurf des Dilettantismus durchliefen viele Geschichtsvereine ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Professionalisierungsprozess, der um die Jahrhundertwende zur Gründung landesgeschichtlich ausgerichteter Historischer Kommissionen führte. Der Entwicklung, Struktur und inhaltlichen Ausrichtung aufgeklärter Sozietäten in Schlesien während des 18. Jahrhunderts – und damit möglicher Vorläufer der Geschichts- und Altertumsvereine des 19. Jahrhunderts – gilt das Interesse von Joachim Bahlcke. Der Blick auf die einzelnen, mehr oder weniger institutionalisierten Gesellschaftsbildungen, von privaten Zirkeln und Lesegesellschaften bis hin zu Freimaurerlogen und gelehrten Zusammenschlüssen, macht rasch deutlich, dass sich im Oderland kein dem mitteldeutschen Raum auch nur annähernd vergleichbares Netz aufgeklärter Organisation entwickeln konnte. Der Gesamtbefund fällt ernüchternd aus: In Niederwie in Oberschlesien spielten die in der westlichen Nachbarschaft so bedeutenden Aufklärungsgesellschaften faktisch keine größere Rolle. Abgesehen von Breslau konnte sich kein anderer Ort durch eine entsprechende Vereinigung gesellschaftlich und kulturell nachhaltig profilieren. Die Zahl der Mitgliedschaften ist in allen schlesischen Städten überschaubar. Auch in zeitlicher Hinsicht fallen die im Oderland erst vergleichsweise spät ins Leben gerufenen Zusammenschlüsse nahezu vollständig aus dem Muster heraus, das wir in den mitteldeutschen Territorien beobachten können. Zumindest erste Ansätze, Geschichtspflege zu betreiben und zu organisieren, lassen sich bei den einzelnen Gesellschaftsbildungen gleichwohl beobachten. Das besondere Gewicht der einzelnen Institutionen, die sich in Schlesien vor dem Ersten Weltkrieg in den Dienst von Geschichtspflege und Geschichtsforschung stellten,
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wird erst deutlich, wenn man parallel die Entwicklung der Landesuniversität in Breslau und speziell des Historischen Instituts in den Blick nimmt. Arno Herzig skizziert die schwierigen Anfänge der 1811 gegründeten Universität und macht deutlich, warum sich die Hochschule während des 19. Jahrhunderts zu einer typischen Einstiegs- und Durchgangsuniversität im preußischen Staat entwickelte. Detailliert geht er dabei auf die konfessionelle Frage ein und die verschiedenen Versuche, Einfluss zu nehmen auf die Besetzung einzelner Lehrstühle an der Philosophischen Fakultät, die institutionelle Entwicklung des Faches Geschichte sowie die fachlichen wie persönlichen Auseinandersetzungen innerhalb des Historischen Seminars. Der zweite thematische Block („Geschichts- und Altertumsvereine, Gesellschaften und historische Vereinigungen“) widmet sich sowohl den größeren und einflussreicheren Institutionen, die ihren Sitz in der schlesischen Kapitale Breslau hatten, jedoch mit einem gesamtschlesischen Anspruch auftraten, als auch den regionalen bzw. lokalen Vereinsgründungen in den einzelnen Landesteilen. Mit dem 1846 gegründeten „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“ untersucht Norbert Kersken den wohl wichtigsten und – nicht zuletzt seiner prominenten Zeitschrift wegen – auch bekanntesten Historischen Verein des Oderlandes. Dem Autor geht es dabei nicht allein um das breite, durch zahlreiche Quelleneditionen und Monographien ausgewiesene landesgeschichtliche Profil des Vereins, sondern ebenso um die Beleuchtung seiner sozialen Rekrutierungsbasis und seiner weit über Breslau hinausreichenden räumlichen Vernetzung. Mit großer Liebe zum prosopographischen Detail wird aufgezeigt, wie der Verein – vor allem unter der prägenden Ägide seines langjährigen Vorsitzenden Colmar Grünhagen – durch seine zahlreichen Mitglieder, Ehrenmitglieder und korrespondierenden Mitglieder, die in anderen schlesischen Regionen ebenso ansässig waren wie im übrigen Preußen bzw. im europäischen Ausland, zu einem fruchtbaren überregionalen Wissenschaftsaustausch beitrug. Bedeutend älter noch war die bereits 1803 aus der Taufe gehobene „Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur“, für die die historischen Wissenschaften jedoch nur ein Tätigkeitsfeld unter mehreren darstellte. Einer 1810 gebildeten Sektion für Kunst und Altertum (die ihre Fortsetzung später in der archäologischen Sektion fand) folgte 1812 die Einrichtung einer historisch-geographischen Abteilung. Franziska Zach widmet sich in ihrem Beitrag den organisatorischen Strukturen der „Schlesischen Gesellschaft“ ebenso wie den rechtlichen und finanziellen Bedingungen, unter denen sie agierte. Ihr hohes Ansehen, ihre fachliche Interdisziplinarität und ihre vielfältigen Kooperationen mit anderen staatlichen und wissenschaftlichen Einrichtungen, vor allem mit der Universität Breslau, trugen dazu bei, dass die Gesellschaft in der Öffentlichkeit gleichsam als eine inoffizielle schlesische Akademie der Wissenschaften wahrgenommen wurde. Eine institutionelle Verfestigung der evangelischen kirchengeschichtlichen Forschung erfolgte im Oderland demgegenüber erst relativ spät, da die entsprechenden Themen zunächst vom protestantisch dominierten „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“ mit abgedeckt wurden. Dietrich Meyer zeigt auf, dass die 1879 erfolg-
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te Gründung der „Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich“ letztlich den Anstoß dazu gab, drei Jahre später in Breslau den „Verein für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens“ ins Leben zu rufen. In seiner inhaltlichen Spezialisierung blieb der Verein, der zum einen das historische Bewusstsein unter den Pfarrern und ihren Gemeinden, zum anderen die wissenschaftliche Auswertung historischer Quellen befördern wollte, auf die Unterstützung der Amtskirche angewiesen, entwickelte sich in diesem Rahmen bis 1914 aber durchaus erfolgreich. Zusätzlich verdeutlicht werden diese Zusammenhänge durch den an den Beitrag angefügten Quellenanhang. Eine Sonderrolle unter den schlesischen wissenschaftlichen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts nahm der bereits erwähnte „Literarisch-Slawische Verein“ ein, der 1836 als Zusammenschluss von slawischsprachigen Studenten an der Universität Breslau gegründet worden war. Entgegen dem ursprünglich formulierten Vereinsziel, das Interesse an der Geschichte, Sprache und Literatur aller slawischen Nationen zu fördern, entwickelte der Verein sich freilich rasch zu einer Vertretung der vorwiegend polnischen akademischen Jugend in der schlesischen Metropole. Paweł Jaworski typologisiert zum einen die auf den regelmäßig stattfindenden Vereinstreffen in Vortragsform präsentierten historischen Themen, von denen ein Großteil der Vergangenheit Polens gewidmet war, zum anderen skizziert er die wichtige Rolle des Breslauer Historikers Richard Roepell als eines engagierten Förderers polnischer Studenten. Mehrere vormalige Mitglieder des Vereins, so das abschließende Fazit, wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu wichtigen Impulsgebern des wissenschaftlichen und kulturellen Lebens im geteilten Polen. Von der Hauptstadt Breslau fort in die schlesische Provinz führt der Beitrag von Ulrich Schmilewski, der den 1824 begründeten „Verein für die Geschichte der Stadt Glogau“ sowie die 14 Jahre später ins Leben gerufene „Neisser Philomatie“ vergleichend untersucht. Im Fall von Glogau, das als Festungsstadt zwischen 1806 und 1814 eine französische Besatzung erlebt hatte, wird die patriotische Grundstimmung deutlich, wie sie in dem auf die Befreiungskriege folgenden Jahrzehnt auch bei der Gründung anderer deutscher Geschichtsvereine Pate stand. Im Fall der „Neisser Philomatie“ indes findet sich ein solcher Gründungsimpetus nicht mehr; sie war keinem konkreten historischen Ereignis, sondern einem stärker universalwissenschaftlichen Ansatz verpflichtet – und überdauerte in dieser Form bis 1945, während der Glogauer Geschichtsverein schon bald nach 1850 wieder einging. Oberschlesien wiederum, das innerhalb der preußischen Provinz Schlesien in sozioökonomischer, konfessioneller und sprachlicher Hinsicht stets eine Sonderrolle einnahm, erwies sich im 19. Jahrhundert auch auf dem Gebiet der Geschichtspflege als Peripherie. Wie Ryszard Kaczmarek zeigt, war der Breslauer „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“ hier auch um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert noch schwach verankert, während sich mit dem „Oberschlesischen Geschichtsverein“ erst im Herbst 1904 eine eigenständige regionale Organisation konstituierte. Die offenkundigen Verbindungen des Vereins zur katholischen Zentrumspartei und dessen Förderung durch den Breslauer Erzbischof ließ die protestantisch geprägte Breslauer Fachwissen-
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schaft freilich auf Distanz zur institutionellen Geschichtspflege in Oberschlesien gehen – die konfessionelle Spaltung des Oderlandes machte sich also auch auf diesem Feld deutlich bemerkbar. Wie für Oberschlesien gilt auch für die erst nach 1815 dem schlesischen Provinzialverband zugeschlagene Grafschaft Glatz, dass sich organisatorisch verfestigte Historische Vereine erst nach 1900 ausbildeten, während ihre regionalen Vorläufer – etwa der 1881 gegründete „Glatzer Gebirgsverein“ – sich der Geschichtspflege nur als einem Aufgabenfeld unter mehreren widmeten. Aus diesem Grund wendet sich Małgorzata Ruchniewicz vornehmlich zwei Einzelpersonen zu, die als Initiatoren und Vorreiter einer Glatzer Regionalgeschichtsschreibung gelten können. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte der katholische Geistliche Joseph Kögler zahlreiche Chroniken und Ortsgeschichten verfasst, die nach seinem Tod anderen Forschern dann als Materialgrundlage dienten – vor allem dem Pädagogen Franz Volkmer, der zwischen 1886 und 1891 die Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz verantwortete. In der Oberlausitz wiederum – auch sie erst seit 1815 ein Teil der preußischen Provinz Schlesien – gab es mit der „Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften“ bereits seit 1779 eine gelehrte Sozietät, deren Einfluss auf Kultur und Landesbewusstsein der Region kaum zu überschätzen ist. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts verfügte sie an ihrem Vereinssitz Görlitz über zwei repräsentative Gebäude, die ausreichend Platz für die vereinseigenen Sammlungen, die Bibliothek und das gesellige Vereinsleben boten. Christian Speer zeichnet anschaulich nach, wie sich die anfangs noch stark einem universalgelehrten Anspruch verpflichtete Gesellschaft nach 1800 schrittweise zu einem erfolgreich agierenden landesgeschichtlichen Verein weiterentwickelte. Das besondere Augenmerk des Autors gilt dabei den über die Jahre immer wieder geänderten Statuten der Gesellschaft, die den einzelnen Akteuren erst die nötigen Freiräume eröffnet hätten, die diese im Dienst der Wissenschaft auf vielfältige Weise zu nutzen verstanden. Mit dem 1880 in Hirschberg gegründeten Riesengebirgsverein, der bereits vor 1914 weit über 10.000 Mitglieder zählte, beschäftigt sich abschließend Roland Gehrke. Zwar war der Verein nicht primär der Geschichtspflege, sondern der Tourismusförderung verpflichtet, doch nahmen historische Motive in der (seit 1899 auch für den österreichischen Teil der Riesengebirgsregion zuständigen) Vereinszeitschrift Der Wanderer im Riesengebirge breiten Raum ein und erreichten so einen deutlich größeren Leserkreis als die Publikationen der zeitgenössischen Geschichtsvereine. Dabei konnten auch durchaus prominente schlesische Historiker als Autoren gewonnen werden. In dem Beitrag wird aufgezeigt, dass in den Artikeln des Wanderer[s] einerseits lokalgeschichtliche Themenstellungen dominierten, dass andererseits das dort omnipräsente Thema Krieg – insbesondere die historische Erinnerung an die Befreiungskriege – jedoch immer wieder den Anschluss an die populären nationalgeschichtlichen Narrative der wilhelminischen Ära herstellte. Als auf den ersten Blick heterogener erweist sich der dritte thematische Schwerpunkt („Museen, Bibliotheken und Archive“), dessen Beiträge freilich auf den zweiten Blick, was Gründung und Gründungsmotive, Personal, Finanzierungsfragen und Probleme
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der öffentlichen Wahrnehmung betrifft, eine beachtliche Zahl an Parallelentwicklungen aufzeigen. In einem breiten regionalen Zugriff untersucht Urszula Bończuk-Dawidziuk die Geschichtspflege im Universitätsmuseum in Breslau und in anderen Museen Schlesiens. Dabei wird rasch deutlich, dass beim Sammlungsaufbau in den Museen, bei der Entscheidung über inhaltliche Schwerpunktsetzungen und die Öffnung nach außen der Einfluss einzelner Persönlichkeiten noch weitaus prägender war als in den Geschichtsund Altertumsvereinen, deren Ausrichtung in der Regel von einem größeren Kreis von Personen geprägt wurde. Bemerkenswert sind die verschiedenen Kooperationsbeziehungen, die zu den lokalen Vereinen und Gesellschaften bestanden. Wie lokale Geschichtskultur im Museum konkret präsentiert wurde, untersucht Vasco Kretschmann in einer regionalen Fallstudie am Beispiel der 1908 im Schlesischen Museum für Kunstgewerbe und Altertümer eröffneten Dauerausstellung „Alt-Breslau“, die Einblicke in die große Zeit der schlesischen Landeshauptstadt als wohlhabendes Handelszentrum unter österreichischer und preußischer Herrschaft bot. Besonderes Augenmerk wird dabei auf den Zusammenhang zwischen dem Ausstellungswesen des Museums und den gesellschaftlichen Debatten um einen Schutz der historischen Bausubstanz im Innenstadtbereich gelegt. Die anfängliche Ordnung und die Schwerpunkte der Dauerausstellung, die vor allem aus einer ersten chronologisch geordneten Präsentation von Stadtansichten, Gemälden und Karten bestand, blieben nahezu 25 Jahre lang unverändert – erst 1932 löste man die Abteilung „Alt-Breslau“ endgültig auf. Über das preußische Schlesien hinaus in den nach 1742 bei Österreich verbliebenen Landesteil blickt Marie Gawrecká, deren Fokus zudem auf sämtliche im Rahmen dieses Bandes thematisierten Institutionen der Geschichtspflege – Museen, Archive, Vereine – gerichtet ist. Den auf Initiative einzelner engagierter Bürger gegründeten Museen – unmittelbar nach 1800 in Teschen, nach 1815 dann auch in Troppau – kam hierbei eine Vorreiterrolle zu. Von einer institutionell verankerten Geschichtspflege in Österreichisch-Schlesien lässt sich indes frühestens ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprechen; gegenüber Preußisch-Schlesien erwies sich der österreichische Landesteil damit als ,verspätet‘. Die Gründung von ethnisch exklusiven Kulturvereinen – etwa 1877 der „Matice Opavská“ –, die ihrerseits dann eigene historisch-landeskundliche Museen initiierten, fiel bereits in den Kontext der nationalen Emanzipationsbestrebungen der tschechisch- bzw. polnischsprachigen Bevölkerung Österreichisch-Schlesiens. Neben den Museen waren die diversen Bibliotheken und Archive Schlesiens wichtige Orte der Geschichtspflege und -forschung im 19. Jahrhundert, wie Wojciech Mrozowicz und Rościsław Żerelik in ihren zeitlich übergreifenden Beiträgen aufzeigen. Entsprechend trugen Bibliothekare und Archivare durch ihre vielfältigen Erschließungs-, Dokumentations- und Forschungsarbeiten wesentlich dazu bei, nicht nur unmittelbar das Wissen um die Vergangenheit zu erweitern, sondern auch mittelbar dafür Sorge zu tragen, dass andere Nutzer an die Bestände herangeführt wurden. Eine wichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang zudem die Popularisierung des historischen Wissens. So präsentierte sich die Stadtbibliothek Breslau beispielsweise bei städtischen Großereignissen oder überregionalen Feierlichkeiten, indem sie Exponate aus den eigenen
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Sammlungen zur Schau stellte, oder sie initiierte eigene Ausstellungen. Auch bei den Bibliotheken und Archiven lässt sich auf verschiedenen Ebenen eine Zusammenarbeit mit Vereinen und Gesellschaften beobachten. Ein solches Zusammenwirken auf engstem Raum beleuchtet Michael Hirschfeld am Beispiel des Diözesanarchivs, der Diözesanbibliothek und des Diözesanmuseums in Breslau. Dabei fragt er über die Vorstellung der einzelnen Institutionen hinaus nach dem Beitrag der katholischen Kirche zur Geschichtsbewahrung und Kulturgutpflege in Schlesien vor 1914. Als folgenschwer für diese Bemühungen sollte sich die Säkularisation zu Beginn des 19. Jahrhunderts erweisen, durch die das kirchliche Kulturgut der Bistümer, Dom- und Stiftskapitel sowie Klöster in Preußen in staatliche Archive und Museen überführt wurde. Dies hatte zwangsläufig Auswirkungen auf die bisher betriebene Geschichtspflege, die lange Jahrzehnte eher improvisiert als organisiert erfolgte. Erst an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert lässt sich in dieser Hinsicht ein markanter Wechsel hin zu einer Professionalisierung der katholischen Geschichts- und Kulturpflege beobachten. Möglich wurde er nur durch verstärkte Kooperationsbemühungen zu den staatlichen Einrichtungen und Geschichtsvereinen sowie durch Überwindung eines engen konfessionellen Denkens. Im abschließenden Beitrag stellt Joachim Bahlcke Formen und Funktionen adeliger Geschichtspflege in Schlesien vom 18. bis 20. Jahrhundert vor. Am Beispiel des Archivs und der Bibliothek der Grafen Schaffgotsch in Hermsdorf unterm Kynast bzw. in Warmbrunn werden zwei personell gut ausgestattete und der Öffentlichkeit zugängliche Einrichtungen vorgestellt, die neben den traditionellen Räumen eines institutionalisierten Austausches existierten. An den erinnerungskulturellen Bemühungen des niederschlesischen Geschlechts wird deutlich, dass familiäre Vergangenheitsarbeit und adelige Wissenschaftsförderung eine enge Verbindung eingehen konnten. Was Nutzungsbedingungen, Bestandskataloge und Arbeitspraxis betrifft, so lassen sich kaum Unterschiede zwischen den Schaffgotschschen Sammlungen und öffentlichen Institutionen feststellen. Die Bearbeitung der vielen Anträge und Anfragen von auswärtigen Nutzern zeigt einen Grad an Professionalität, der selbst in kommunalen und kirchlichen Archiven vielerorts kaum höher gewesen sein dürfte. Beachtlich war darüber hinaus die Kooperation mit Experten sowohl in den staatlichen Wissenschaftseinrichtungen als auch in den Geschichts- und Altertumsvereinen, die mit großer Selbstverständlichkeit auch Fachleute jenseits der Landesgrenzen einbezog.
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Zwischen ‚vaterländischer‘ Geschichtsbegeisterung und wissenschaftlicher Professionalisierung: Das historische Vereinswesen im deutschsprachigen Raum vor 1914 I. „Nächst den Wissenschaften, welche den industriellen Bestrebungen unserer Zeit vorarbeiten, ist gegenwärtig die Geschichte am eifrigsten angebaut. Welcher Wetteifer herrscht alte Documente zu sammeln und herauszugeben, dunkle Partien der entfernteren und näheren Vorzeit zu beleuchten, historische Vereine zu gründen; selbst unter dem grösseren Publicum zeigt sich ein Durst nach geschichtlicher Belehrung [...]. Es ist, als ob der Geist vor der rascheren Bewegung der Zeit und ihren kritischen Tendenzen, die Alles in Frage stellen, sich flüchten wollte auf den sicheren Boden der Geschichte, um hier das unter allem Wechsel Bleibende, die Gesetze und Ergebnisse der Entwicklung, kennen zu lernen.“1 Mit diesen Worten leitete der Tübinger Universitätsbibliothekar Karl August Klüpfel2 seine 1844 publizierte Abhandlung Die historischen Vereine und Zeitschriften Deutschlands ein – und schon quantitativ hatte er Einiges zu berichten. Als Resultat des „großen Eifers“, der in Deutschland in dieser Hinsicht zu beobachten sei, zählte Klüpfel nicht weniger als 44 Geschichts- und Altertumsvereine auf, die er regional genau aufschlüsselte – Bayern mit acht sowie die sächsisch-thüringischen Staaten mit sieben Vereinen bildeten dabei die Spitzengruppe.3 Dass gerade Schlesien in seiner Auflistung fehlt, ist allein der Chronologie geschuldet: Der „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“ wurde erst zwei Jahre später aus der Taufe gehoben, also 1846.4 Als „Organ für historische Mittheilungen“ erwähnte Klüpfel im Oderland lediglich die von Wilhelm Heinrich Sohr herausgegebene Zeitschrift Schle-
1 Klüpfel, [Karl August]: Die historischen Vereine und Zeitschriften Deutschlands. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1 (1844) 518–559, hier 518. 2 Zu Klüpfel (1810–1894) vgl. Schneider, Eugen: Art. Klüpfel, Karl August. In: Allgemeine Deutsche Biographie 51 (1906) 244–245. 3 Des Weiteren werden aufgelistet: für Württemberg vier Vereine, für Brandenburg und Baden je zwei, für die beiden hessischen Staaten, Wetzlar, die Mosellande, Westfalen, Hamburg, Lübeck, Frankfurt, Schleswig-Holstein, Mecklenburg und Pommern je einer. Berücksichtigt wird ferner die deutschsprachige Schweiz mit insgesamt sechs Vereinen (Klüpfel: Die historischen Vereine, 519). Für Österreich wiederum werden lediglich einige „Provinzialmuseen für Alterthümer, mit denen Zeitschriften oder Jahresberichte verbunden sind“, aufgeführt (ebd., 544). Vgl. hierzu ferner Dopsch, Heinz: Geschichtsvereine in Österreich. Anfänge und Entwicklung – Leistung – Aufgaben. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 138 (2002) 67–94. 4 Vgl. den Beitrag von Norbert Kersken in diesem Band.
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sische Provinzialblätter, die in geschichtspflegerischer Hinsicht „schon werthvolle Arbeiten“5 geliefert hätte. Klüpfels generelle Charakterisierung des zeitgenössischen historischen Vereinswesens macht seinen Text indes zu einer aufschlussreichen Quelle. Indem er, wie eingangs zitiert, den Geschichtsvereinen in einer Zeit wegbrechender ständisch-traditionaler Ordnungsmuster und einer sich immer rasanter vollziehenden Industrialisierung gleichsam die Funktion eines gesellschaftlichen Identitätsankers zuwies, bediente er sich bereits eines Motivs, das auch später immer wieder bemüht worden ist, wenn es galt, die Genese dieses Phänomens ideengeschichtlich einzuordnen. In dieser Perspektive erscheinen die historischen Vereine als Reaktion auf eine durch den sozioökonomischen Umbruch ausgelöste Orientierungs- und Normenkrise, wobei ihnen nicht nur auf der sozialen, sondern auch auf der inhaltlichen Ebene eine wesentliche Kompensationsfunktion zufiel.6 Um den thematischen Rahmen des vorliegenden Bandes abzustecken, soll im Folgenden das historische Vereinswesen im deutschsprachigen Raum auf seine grundlegenden Charakteristika hin untersucht werden: von den Zielen, Themen und Projekten der Geschichtsvereine, ihrem Verhältnis zur Obrigkeit und ihrer sozialen Zusammensetzung bis hin zum eigentümlichen Spannungsverhältnis zwischen laienhaft-populärer Geschichtspflege und seriöser Fachwissenschaft, das die Tätigkeit vieler Vereine prägte. Die Literaturlage hierzu ist außerordentlich vielfältig,7 wobei zahlreiche dieser Publikationen als Festschriften anlässlich wichtigerer Jubiläen von regional beziehungsweise lokal verankerten Einzelvereinen entstanden sind8 und eine kritische Distanz zu ihrem Untersuchungsobjekt mitunter vermissen lassen. In der Forschung der Deutschen Demokratischen Republik wiederum wurde dem aus marxistischer Perspektive als erledigt betrachteten ‚bürgerlichen‘ Phänomen der Geschichtsvereine nur wenig Beachtung geschenkt.9 Zu einer ganzen Reihe von Ländern, Regionen oder auch Städten gibt es mitt5 Klüpfel: Die historischen Vereine, 541. 6 Kunz, Georg: Verortete Geschichte. Regionales Geschichtsbewußtsein in den deutschen Historischen Vereinen des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2000 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 138), 13f.; Stehkämper, Hugo: Geschichtsvereine im Wandel. Alte und neue Aufgaben in Stadt und Land. In: Specker, Hans Eugen (Hg.): Aufgabe und Bedeutung historischer Vereine in unserer Zeit. Vorträge eines Symposiums zum 150jährigen Bestehen des Vereins für Kunst und Altertum in Ulm und Oberschwaben am 4. Mai 1991. Ulm 1992, 13–26, hier 14–17. 7 Zumindest für Bayern wurde die vorliegende Literatur mittlerweile bibliographisch erschlossen. Vgl. Stalla, Gerhard (Bearb.): Geschichte der Geschichtsvereine in Bayern. Eine Bibliographie. Augsburg 1999 (Materialien zur bayerischen Geschichte und Kultur 7). 8 Als Beispiel für die jubiläumsbedingte Musealisierung des historischen Vereinswesens sei lediglich aufgeführt Maurer, Hans-Martin (Bearb.): Wiederentdeckung der Geschichte. Die Anfänge der Geschichtsvereine. Ausstellung des Hauptstaatsarchivs Stuttgart, veranstaltet zum 150jährigen Jubiläum des Württembergischen Geschichts- und Altertumsvereins. Stuttgart 1993. 9 Eine Ausnahme bildet Blosze, Beatrice: Der „Verein für die Geschichte Potsdams“ (1862–1945). Beitrag zur Erforschung von Wesen und Funktion bürgerlicher Geschichtsvereine. Phil. Diss. (masch.) Potsdam 1988.
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lerweile freilich wissenschaftlich fundierte Einzeluntersuchungen sowie komparativ angelegte Sammelbände.10 Zudem wurde von Georg Kunz für das 19. Jahrhundert eine wichtige, ideologiekritische Gesamtdarstellung vorgelegt.11 Die Vorläuferorganisationen der historischen Vereine – also vor allem die aufklärerischen Lesegesellschaften des ausgehenden 18. Jahrhunderts, für die die Auseinandersetzung mit geschichtlichen Themen bestenfalls ein Vereinszweck unter mehreren war – werden an anderer Stelle thematisiert12 und sollen hier außerhalb der Betrachtung bleiben. Den Schlusspunkt wiederum wird die Entstehung landesgeschichtlicher Historischer Kommissionen als Höhepunkt eines wissenschaftlichen Professionalisierungsprozesses um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bilden.
II. Als Initialzündung für die Genese des historischen Vereinswesens in Deutschland ist in älteren Darstellungen immer wieder die auf Initiative des Freiherrn vom Stein 1819 in Frankfurt am Main gegründete „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde“ genannt worden,13 aus der mit den Monumenta Germaniae Historica das wohl wichtigste deutsche Langzeit-Editionsprojekt überhaupt hervorgegangen ist. Doch ist dies in doppelter Hinsicht ungenau: Erstens war die „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde“ gerade kein bürgerlicher Publikumsverein, sondern ein Projekt des deutschen Hochadels, deren professioneller wissenschaftlicher Anspruch zudem eher 10 Aus der Fülle der Literatur vgl. exemplarisch Stetter, Gertrud: Die Entwicklung der Historischen Vereine in Bayern bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Phil. Diss. München 1963; Seibt, Ferdinand (Hg.): Vereinswesen und Geschichtspflege in den böhmischen Ländern. München 1986; Husen, Sebastian: Vaterstädtische Geschichte im republikanischen Stadtstaat. Studien zur Entwicklung des Vereins für Hamburgische Geschichte (1839–1914). Hamburg 1999 (Veröffentlichung des Vereins für Hamburgische Geschichte 45); Neitmann, Klaus: Geschichtsvereine und Historische Kommissionen als Organisationsformen der Landesgeschichtsforschung, dargestellt am Beispiel der preußischen Provinz Brandenburg. In: Neugebauer, Wolfgang (Hg.): Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts. Berlin 2006 (Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte. Beiheft N.F. 8), 116–181. 11 Kunz: Verortete Geschichte. 12 Vgl. den ersten Beitrag von Joachim Bahlcke in diesem Band. 13 So bei Klüpfel: Die historischen Vereine, 521: „Durch die Stiftung der Frankfurter Gesellschaft war ein neuer Eifer für deutsche Geschichtsforschung angeregt worden, und es fingen nun da und dort historische Vereine an sich zu bilden.“ Ein ähnlicher Zungenschlag findet sich auch noch bei Braubach, Max: Landesgeschichtliche Bestrebungen und historische Vereine im Rheinland. Köln/Opladen 1955 (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen: Geisteswissenschaften 31), 9; Maschke, Erich: Landesgeschichtsschreibung und Historische Vereine. In: ders.: Städte und Menschen. Beiträge zur Geschichte der Stadt, der Wirtschaft und Gesellschaft 1959–1977. Wiesbaden 1980 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beiheft 68), 515–532, hier 516.
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an die späteren Historischen Kommissionen erinnert.14 Zweitens gab es vereinzelt bereits frühere Gründungen, die dem Typus des regional oder lokal verankerten Geschichtsvereins weit eher entsprachen – namentlich die Berner „Geschichtsforschende Gesellschaft“ im Jahr 1811 oder nur ein Jahr später die Wiesbadener „Nassauische Gesellschaft für Alterthümer“.15 Von einer wirklichen Gründungswelle kann gleichwohl erst nach dem Ende der Befreiungskriege gesprochen werden. Dieser ersten Welle mit ihrem Höhepunkt in den 1830er und 1840er Jahren folgte eine zweite im Zeitraum nach 1850 sowie eine dritte nach der Reichsgründung von 1870/71 – bis es schließlich um die Jahrhundertwende in nahezu jeder deutschen Groß- und Mittelstadt einen Geschichtsverein gab.16 Ein Großteil von ihnen existiert bis heute.17 In Abgrenzung zum gegenwartsbezogenen Gemeinwohlstreben der Spätaufklärung liegt es nahe, die überwiegend nach 1815 begründeten Geschichtsvereine im Kontext einer aus dem Erlebnis der Befreiungskriege hervorgegangenen nationalromantischen Geschichtsperspektive zu betrachten, die mitunter schwärmerische Züge annehmen konnte. Das hierbei Pate stehende Leitmotiv brachte der badische evangelische Theologe und maßgebliche Begründer der südwestdeutschen Altertumsforschung, Johann David Karl Wilhelmi, anlässlich der Gründung des „Alterthumsvereins für das Großherzogtum Baden“ in Baden-Baden 1844 rückblickend auf den Punkt: „Nun [nach der Niederwerfung Napoleons, R. G.] war es wieder ein erhebendes Gefühl, eine Ehre, ein Triumph, ein Deutscher zu seyn, nun wandte man sich forschend auch nach der Deutschen Urzeit und den Jahren der früheren Größe und des Glantzes der Deutschen Nation zurück. [...] Nun begann man der Väter Leben zu studiren.“18 14 Pabst, Klaus: Historische Vereine und Kommissionen in Deutschland bis 1914. In: Seibt (Hg.): Vereinswesen und Geschichtspflege, 13–38, hier 19–21; Kunz: Verortete Geschichte, 56f. 15 Kunz: Verortete Geschichte, 57. Insbesondere die Wiesbadener „Nassauische Gesellschaft“ blieb hinsichtlich ihrer regionalen Zuständigkeit freilich noch recht unbestimmt, wenn sie sich zum Ziel setzte, die Denkmäler der „alten Teutschen am Rhein, Main und der Lahn pp.“ zu erforschen. Zit. nach Struck, Wolf-Heino: 175 Jahre Verein für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung. In: Nassauische Annalen 98 (1987) 1–34, hier 3. 16 Heimpel, Hermann: Geschichtsvereine einst und jetzt. In: Boockmann, Hartmut u. a. (Hg.): Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte historischer Forschung in Deutschland. Göttingen 1972 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 1), 45–73, hier 46–54, ordnet die Genese des historischen Vereinswesens in Deutschland in das folgende chronologische Schema ein: Auf eine erste, „gemeinnütztig-patriotische“ Gründungsphase (1779–1819) lässt er eine „vormärzliche“ Phase folgen (1819–1848), sodann eine dritte Phase „der im liberalen Kompromiß erreichten konservativen Erholung, der Organisation und der Wissenschaft“ (nach 1849), schließlich eine vierte Phase „der Selbstverständlichkeiten“ (nach 1870). 17 Eine Übersicht bietet Stehkämper, Hugo (Bearb.): Mitgliederverzeichnis. Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine. Köln u. a. 31994 [Marburg a. d. Lahn 11974]. 18 ��������������������������������������������������������������������������������������� Zit. nach Adam, Thomas: Rettung der Geschichte – Bewahrung der Natur. Ursprung und Entwicklung der Historischen Vereine und des Umweltschutzes in Deutschland von 1770 bis zur Gegenwart. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 133 (1997) 239–277, hier 243f.
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Nicht zufällig ist das Postulat einer ‚vaterländischen Geschichtsschreibung‘ in der zeitgenössischen Vereinspublizistik ein stetig wiederkehrender Topos. Hier ist freilich zu berücksichtigen, dass der Terminus ‚Vaterland‘ während der Napoleonischen Kriege und der sich anschließenden Restaurationszeit semantisch noch höchst unscharf gebraucht wurde und sich auf ältere Formen von Landespatriotismus ebenso beziehen konnte wie auf einen deutschvölkischen Nationalismus neuerer Prägung.19 Insbesondere im Umfeld der Geschichts- und Altertumsvereine des frühen 19. Jahrhunderts bezog sich das Adjektiv ‚vaterländisch‘ zumeist auf den territorialen Radius des jeweiligen Zuständigkeitsbereichs, konnte also im lokalen Kontext sogar synonym zum Begriff ‚vaterstädtisch‘ gebraucht werden.20 Tatsächlich geht die Gründung der meisten deutschen Geschichtsvereine auf dezidiert regionale Orientierungen zurück – wobei entsprechende Identitätsangebote in diesem Zusammenhang keineswegs als antimodernistische Alternativen zum Konzept der Nation zu verstehen sind, sondern sich in aller Regel als kompatibel mit ihm verwiesen.21 Zweifellos sind die historischen Vereine ein fester Bestandteil dessen, was unter anderem Thomas Nipperdey das „gesellige Vereinswesen“ des 19. Jahrhunderts genannt hat.22 Von Nipperdey und vielen anderen Autoren ist diese Vereinskultur mit ihrer demonstrativen Abwendung von den ständischen Schranken und feudalen Traditionen des Ancien Régime als ein soziales, alle wesentlichen Strukturelemente der sich entfaltenden bürgerlichen Gesellschaft verkörperndes Schlüsselphänomen der Vor- und Nachmärzzeit beschrieben worden.23 Auf die kaum mehr überschaubare Fülle an Forschungsliteratur zum Thema kann hier nicht näher eingegangen werden; festgehalten sei lediglich, dass 19 Hagemann, Karen: Tod für das Vaterland: Der patriotisch-nationale Heldenkult zur Zeit der Freiheitskriege. In: Militärgeschichtliche Zeitschrift 60 (2001) 307–342, hier 322; Schönemann, Bernd: „Volk“ und „Nation“ in Deutschland und Frankreich 1760–1815. In: Herrmann, Ulrich/ Oelkers, Jürgen (Hg.): Französische Revolution und Pädagogik der Moderne. Aufklärung, Revolution und Menschenbild im Übergang vom Ancien Régime zur bürgerlichen Gesellschaft. Weinheim/Basel 1989, 275–292. 20 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Pabst, Klaus: Deutsche Geschichtsvereine vor dem Ersten Weltkrieg. In: Geschichtsvereine. Entwicklungslinien und Perspektiven lokaler und regionaler Geschichtsarbeit. Bergisch-Gladbach 1990 (Bensberger Protokolle 62), 9–32, hier 17f. 21 Kunz: Verortete Geschichte, 22. 22 Eine Pionierfunktion auf dem Feld der historischen Vereinsforschung erfüllt der Beitrag von Nipperdey, Thomas: Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: Boockmann u. a. (Hg.): Geschichtswissenschaft und Vereinswesen, 1–44. 23 Vgl. exemplarisch Hoffmann, Stefan-Ludwig: Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750–1914. Göttingen 2003 (Synthesen. Probleme europäischer Geschichte 1), 39f., 45; Dann, Otto: Die Anfänge politischer Vereinsbildung in Deutschland. Forschungen und neuere Literatur (1976–2002). In: Reinalter, Helmut (Hg.): Politische Vereine, Gesellschaften und Parteien in Zentraleuropa 1815–1848/49. Frankfurt am Main u. a. 2003 (Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle „Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770–1850“ 38), 11–47, hier 16; Nathaus, Klaus: Organisierte Geselligkeit. Deutsche und britische Vereine im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 2009 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 181), 31–37.
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gerade die Geschichtsvereine sich von den stärker politisch-oppositionell ausgerichteten und entsprechend oft staatlicher Repression ausgesetzten Zusammenschlüssen des Vormärz – wie etwa den Turn- oder den Sängervereinen – durch ein gänzlich anderes Ver hältnis zur Obrigkeit unterschieden. Hermann Heimpel hat dies 1972 sehr deutlich auf den Punkt gebracht: „Die Geschichtsvereine sind nach den Befreiungskriegen im wesentlichen zwar deutsch-vaterländische, aber doch konservative, weniger der bessernden Veränderung als der Bewahrung dienende Gebilde geworden. [...] Kein Aufstand, keine Revolution, sondern deren Bewältigung und die Legitimierung des Bestandes wurde das vorherrschende Element des historisch gerichteten Vereinslebens.“24 Das bedeutet nicht nur, dass die Geschichtsvereine sich in der Regel behördlichen Wohlwollens erfreuen konnten, vielmehr war ihnen von Regierungsseite mitunter sogar eine zentrale Funktion bei der Integration neuerworbener Gebiete zugedacht. Die mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 eingeleitete und auf dem Wiener Kongress 1815 vorerst abgeschlossene territoriale Neuordnung Deutschlands erzeugte zwangsläufig mentale Gegenbewegungen auf der substaatlichen Ebene, die die Regierungen des Deutschen Bundes ihrerseits mit kulturpolitischen Maßnahmen abzufangen suchten – Ziel war die Schaffung eines Regionalbewusstseins auf Basis administrativer Neuschöpfungen.25 Besonders deutlich wird dies in Bayern. Das Königreich war im Zuge der Reformpolitik des leitenden Ministers Maximilian von Montgelas 1817 in insgesamt acht jeweils nach Flussläufen benannte Kreise unterteilt worden war, die auf historische Grenzen und regionale Traditionen kaum Rücksicht nahmen.26 Insofern erscheint nachvollziehbar, dass sich der bayerische König Ludwig I. höchstpersönlich zum Anwalt historisch-kultureller Sinnstiftung aufschwang, mit der die Künstlichkeit der neuen Verwaltungsgrenzen übertüncht werden sollte.27 Seine diesbezügliche Kabinettsorder von 1827 ist in der älteren Forschung zwar gelegentlich überinterpretiert worden, wenn es hieß, der Monarch habe die Gründung historischer Kreisvereine unmittelbar angeordnet – tatsächlich war der Text der Order wesentlich allgemeiner gehalten.28 Dass die zwischen 1827 und 1830 in rascher Folge auf Kreisebene gegründeten bayerischen Geschichtsvereine letztlich auf die besagte königliche Initiative zurückgehen, ist jedoch evident.29 Sogar auf direkte landesherrliche Entschließung hin erfolgte 1822 in 24 Heimpel: Geschichtsvereine, 48. 25 Kunz: Verortete Geschichte, 38–40. 26 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Im Einzelnen der Isarkreis (späteres Oberbayern), der Unterdonaukreis (Niederbayern), der Regenkreis (Oberpfalz), der Obermainkreis (Oberfranken), der Rezatkreis (Mittelfranken), der Untermainkreis (Unterfranken), der Oberdonaukreis (Bayerisch Schwaben) sowie schließlich der Rheinkreis (der die kurz zuvor auf dem Wiener Kongress dem Königreich Bayern zugeschlagene linksrheinische Pfalz umfasste). 27 Stetter: Die Entwicklung der Historischen Vereine in Bayern, 22–28. 28 Kunz: Verortete Geschichte, 65. 29 Einen Überblick über die Gründung der einzelnen bayerischen Kreisvereine bieten Klüpfel: Die historischen Vereine, 524–528; Stetter: Die Entwicklung der Historischen Vereine in Bayern,
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Stuttgart die Gründung des württembergischen „Vereins für Vaterlandskunde“, dessen Leitung bezeichnenderweise der württembergische Finanzminister übernahm.30 In den Worten Klüpfels war dieser Verein also „nicht freier Zusammentritt von Freunden und Forschern der vaterländischen Geschichte, sondern förmliche Staatsanstalt“.31 Betrachtet man das Spektrum der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründeten Geschichtsvereine in ihrer Gesamtheit, so lagen ihnen recht unterschiedliche Raumkonzepte und Vorstellungen von einer ‚Geschichtslandschaft‘ zugrunde,32 wobei gegenwärtige staatlich-dynastische Grenzen aber in der Regel nicht überschritten wurden. Auch der Name des 1835 in Hannover ins Leben gerufenen „Historischen Vereins für Niedersachsen“ kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Verein den Schwerpunkt seines Wirkens in den altwelfischen Gebieten östlich der Weser erblickte, das Großherzogtum Oldenburg also nicht mit einschloss, während sich im politisch seit 1814 ebenfalls zum Königreich Hannover gehörenden Osnabrück 1847 ein eigener Geschichtsverein konstituierte.33 Erkennbar im Kontext eines aktuellen, nationalistisch aufgeladenen Territorialkonflikts wiederum bewegte sich die Kieler „Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte“, deren Gründung 1833 in enger Tuchfühlung mit der deutschgesinnten Bewegung in den Herzogtümern Schleswig und Holstein erfolgt war.34 Ihre Aktivität im nach wie vor dänischen Schleswig wurde während der 1850er Jahre von den dortigen Behörden bezeichnenderweise für eine Weile untersagt.35 28–41. Wie es im konkreten Fall des Obermainkreises gelang, unterschiedliche historische Traditionen – namentlich diejenige des Fürstentums Bamberg sowie des Markgraftums Bayreuth – in einem gemeinsamen, 1830 als Fusion zweier Vorgängervereine gegründeten Geschichtsverein zusammenzuführen, zeigt Kunz, Georg: Historische Vereine im 19. Jahrhundert zwischen regionaler Geschichtskultur und Provinzialintegration. In: Westfalen. Hefte für Geschichte, Kunst und Volkskunde 79 (2001) 9–31, hier 18–21. 30 Kunz: Verortete Geschichte, 67. Aus dem „Verein für Vaterlandskunde“ ging 1843 der thematisch ganz auf die Geschichtspflege konzentrierte „Königlich Württembergische Alterthumsverein“ hervor. Vgl. Maurer, Hans-Martin: Gründung und Anfänge des Württembergischen Altertumsvereins. In: ders. (Hg.): Württemberg um 1840. Beiträge zum 150jährigen Bestehen des Württembergischen Geschichts- und Altertumsvereins, Stuttgart 1994 (Lebendige Vergangenheit 18), 117–134. 31 Klüpfel: Die historischen Vereine, 528. 32 Einen definitionsorientierten Forschungsüberblick zu den Begriffen ‚Geschichtsregion‘ beziehungsweise ‚Geschichtslandschaft‘ bietet Kunz: Verortete Geschichte, 14–25. Vgl. ferner Schneider, Karl Heinz: Geschichtsvereine und ihre Geschichtslandschaften. Räumliche Organisation und regionale Probleme. In: Geschichtsvereine, 53–69, hier 58f.; Berding, Helmut: Staatliche Identität, nationale Integration und politischer Regionalismus. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 121 (1985) 371–393; Faber, Karl Georg: Was ist eine Geschichtslandschaft? In: Fried, Pankraz (Hg.): Probleme und Methoden der Landesgeschichte. Darmstadt 1978 (Wege der Forschung 492), 390–424. 33 Schneider: Geschichtsvereine und ihre Geschichtslandschaften, 61. 34 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Kunz: Historische Vereine, 22f.; Pauls, Volquart: Hundert Jahre Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 1833 – 13. März 1933. Neumünster 1933, 6–27. 35 Pauls: Hundert Jahre, 115–120. Die „Alleruntertänigste Vorstellung betreffend die Aufhebung der Schleswig-Holstein-Lauenburgischen Gesellschaft für vaterländische Geschichte“, verfügt
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Generell ist festzuhalten, dass im Zeichen einer zentralistischen Integrationspolitik das historische Vereinswesen vor allem in den territorial neu zusammengesetzten süddeutschen Ländern staatlichem Zugriff ausgesetzt war. In Preußen und den übrigen norddeutschen Staaten hingegen wurde der privatrechtliche Charakter der Geschichtsvereine ohne größere staatliche Auflagen respektiert.36 Wenn überhaupt, so engagierten sich in der soziokulturell von jeher stark fragmentierten preußischen Monarchie die Oberpräsidien beziehungsweise die provinzialen Selbstverwaltungsorgane auf der Ebene des historischen Vereinswesens, nicht jedoch die Berliner Zentrale.37 Das Bedürfnis nach historischer Traditionsstiftung innerhalb neugezogener administrativer Grenzen spielte allerdings auch hier eine wichtige Rolle. Wohl nicht zufällig nahm der „Verein für Geschichte und Alterthumskunde Westphalens“ innerhalb Preußens eine Vorreiterrolle ein. Er war das Resultat der Fusion zweier Einzelvereine, die 1824 nahezu zeitgleich in Paderborn und in Münster – also in den jeweiligen Zentren vormaliger mediatisierter Fürstentümer – gegründet worden waren. Es illustriert die Persistenz regionaler historischer Tradition, dass die beiden Zweigvereine auch in der Folgezeit relativ unabhängig voneinander agierten.38 Die von dem Rechtshistoriker Paul Wigand ab 1831 herausgegebenen Jahrbücher des westfälischen Geschichtsvereins entwickelten sich indes rasch zu einer Art „Centralorgan sämmtlicher historischer Vereine in Deutschland“.39
III. Ungeachtet aller vorstehend skizzierten Unterschiede glichen sich die in den Satzungen der historischen Vereine fixierten Vereinsziele oft bis in die Formulierung hinein. In einem zumeist dreiteiligen Schema wurden darin genannt: erstens die „Sammlung, Aufbewahrung und Nutzbarmachung von schriftlichen und gegenständlichen Quellen aller Art“ – sprich: Konservierung und Editionstätigkeit –, zweitens die „Bearbeitung größerer und kleinere Partien der Geschichte“ – sprich: Forschung – sowie drittens die „Anregung und Erhaltung des historischen Sinns“ bei Mitgliedern wie auch bei Außenstehenden – sprich: Wirkung in die gesellschaftliche Öffentlichkeit hinein.40 Ihres Potentials als
vom Kopenhagener Ministerium für das Herzogtum Schleswig am 27. August 1853, findet sich abgedruckt ebd., 209–212. 36 Pabst: Historische Vereine und Kommissionen, 25. 37 Kunz: Historische Vereine, 13. 38 �������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., 15–18; Klüpfel: Die historischen Vereine, 521f.; Meyer, Robert/Mütter, Bernd: Entwicklung der Geschichtsvereine in Westfalen während des 19. Jahrhunderts. In: Westfälische Forschungen 39 (1989) 57–82, hier 60–63. 39 ������������������������������������������������������������������������������������������ Klüpfel: Die historischen Vereine, 522. Zu Paul Wigand (1786–1866) als einem der maßgeblichen Vorreiter landesgeschichtlicher Forschung in Deutschland vgl. Bartels, Gerhard: Art. Wigand, Paul. In: Allgemeine Deutsche Biographie 55 (1910) 89–91. 40 Zit. nach Heimpel: Geschichtsvereine, 58.
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„wichtige Multiplikatoren bzw. ,opinion leaders‘ zur Verbreitung regionaler historischer Identitätskonzepte“41 waren die Geschichtsvereine sich also durchaus bewusst. Das erstgenannte Ziel korrespondiert mit einem zeitgenössischen Empfinden, das die historischen Zeugnisse, seien es nun Schriftquellen, Bodenfunde oder Bauwerke, im Kontext eines sich rasant vollziehenden technisch-ökonomischen Wandels allerorten von unwiederbringlicher Zerstörung bedroht sah. Klüpfel etwa beklagte: „Welche Gleichgültigkeit, welche Zerstörungssucht gegen die Ueberreste des ,finstern Mittelalters‘ herrschte noch zur Zeit der Auflösung des deutschen Reiches selbst bei denen, welche man zu den Gebildeten zählte. Wie vieles wurde damals verschleudert, absichtlich zerstört, geschmacklos modernisirt, was man jetzt als ein Heiligthum aufbewahren und erhalten würde.“42 ‚Sammeln‘ im Sinn der Vereinsziele bedeutete unter diesem Vorzeichen also stets auch ‚Retten‘ – und sei es lediglich in musealisierter Form.43 Das verbreitete, nicht zuletzt romantisch inspirierte Unbehagen an den Eingriffen des Industrialisierungszeitalters in vermeintlich ‚historische gewachsene‘ landschaftliche beziehungsweise architektonische Physiognomien erklärt, warum in der praktischen Vereinsarbeit neben der historischen Forschung im engeren Sinn oft auch Aspekte des Denkmalschutzes oder gar erste Bestrebungen zum Schutz der Natur eine Rolle spielten.44 Im Zentrum der Aktivität stand bei den meisten Geschichtsvereinen jedoch spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Edition von Urkunden, die in den ihrerseits oft Vaterländisches Archiv betitelten Vereinszeitschriften abgedruckt wurden.45 Die große Zahl völlig unabhängig voneinander agierender Vereine erwies sich dabei freilich als Problem: „Will jeder particuläre Verein seine eigene Urkundensammlung veranstalten, ohne mit den benachbarten Uebereinkunft zu treffen, so müssen Collisionen eintreten“,46 monierte Klüpfel und appellierte, die einzelnen Vereine sollten künftig im Rahmen „gemeinsamer Forschungen und Unternehmungen“ miteinander kooperieren, an deren Ende schließlich ein einziger, gesamtdeutscher Geschichtsverein stehen
41 Kunz: Verortete Geschichte, 14. 42 Klüpfel: Die historischen Vereine, 546. 43 ���������������������������������������������������������������������������������������� Kunz: Verortete Geschichte, 56; Maschke: Landesgeschichtsschreibung und Historische Vereine, 522f.; Stehkämper: Geschichtsvereine im Wandel, 20–23. Zur musealen Dimension des populären „Sammlungs- und Rettungsgedankens“ vgl. Vierhaus, Rudolf: Einrichtungen wissenschaftlicher und populärer Geschichtsforschung im 19. Jahrhundert. In: Deneke, Bernward/ Kahsnitz, Rainer (Hg.): Das kunst- und kulturgeschichtliche Museum im 19. Jahrhundert. München 1977 (Studien zur Kunst des 19. Jahrhunderts 39), 109–117, hier 115f. 44 �������������������������������������������������������������������������������������������� Auf den engen inhaltlichen Zusammenhang zwischen der Geschichts- und der (ihr zeitlich nachfolgenden) Naturschutzbewegung wird verwiesen von Adam: Rettung der Geschichte – Bewahrung der Natur, 248f., 252–260. 45 Zur zentralen Rolle der Zeitschriften der frühen Geschichtsvereine, die neben Urkunden- und sonstigen Quellentexten zumeist auch von Vereinsmitgliedern verfasste kleinere Abhandlungen, Rezensionen sowie allerlei Nachrichten aus dem Vereinsleben enthielten, vgl. Heimpel: Geschichtsvereine, 61; Kunz: Verortete Geschichte, 59f. 46 Klüpfel: Die historischen Vereine, 549.
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müsse.47 Zumindest ein erster Schritt in diese Richtung wurde 1852 mit der Gründung des bis heute existierenden „Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Alterthumsvereine“ getan,48 der freilich in der Folgezeit nie mehr war als ein locker gefügter Dachverband. Weder konnte der „Gesamtverein“ in die innere Autonomie seiner Mitgliedsvereine eingreifen noch wurden in seinem Namen eigenständige wissenschaftliche Projekte in Angriff genommen.49 Blickt man auf die von den historischen Vereinen beackerten Themen, so fällt ins Auge, dass in den Vereinsnamen in den seltensten Fällen nur von ‚Geschichte‘ die Rede ist – fast immer, auch in Schlesien, begegnet das Begriffspaar ‚Geschichte‘ und ‚Altertumskunde‘. Schon terminologisch folgt daraus eine zumindest in der Frühzeit evidente Fokussierung vieler Vereine auf die weiter zurückliegenden Epochen: auf das Mittelalter, die Antike – hier insbesondere das Feld der provinzialrömischen Archäologie – sowie nicht zuletzt auf die vornehmlich ‚germanische‘ Vor- und Frühgeschichte. Die archäologische Bodenforschung – oder was geschichtsinteressierte Honoratioren im frühen 19. Jahrhundert darunter verstanden – bildete neben der Urkundensichtung die zweite Hauptsäule der Aktivität der Geschichtsvereine.50 Eine stark romantisch inspirierte Wahrnehmung vor allem mittelalterlicher historischer Hinterlassenschaften spielte hierbei eine wesentliche Rolle. So wurde der feierliche Gründungsakt des in Naumburg ansässigen „Thüringisch-sächsischen Vereins für Erforschung des vaterländischer Alterthums“ auf Betreiben einer Gruppe Naumburger Gymnasialprofessoren und weiterer Honoratioren im Herbst 1819 demonstrativ in den Ruinen der zu Beginn des 12. Jahrhunderts errichteten Burg Saaleck vollzogen.51 Doch darf in diesem Zusammenhang der profane Umstand nicht übersehen werden, dass jenseits inhaltlicher Zielsetzungen Aspekte der Geselligkeit im Vereinsleben des 19. Jahr47 Ebd., 555: „Wie aber die verschiedenen Stämme ein deutsches Volk ausmachen, in nationalen Angelegenheiten zusammenhalten und einen Einigungspunkt suchen sollten, so sollten auch die verschiedenen provinziellen Vereine sich untereinander verbinden zu gemeinsamen Forschungen und Unternehmungen. Zu einem deutschen Vereine sollten sie zusammentreten.“ 48 Zum „Gesamtverein“ vgl. Hoppe, Willy: Einhundert Jahre Gesamtverein. Zur Hundertjahrfeier des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine: Nürnberg, 7. bis 10. August 1952. Nürnberg 1952; Borrmann, Gottfried: Der Gesamtverein. Das turbulente Gründungsjahr 1852. In: Mainzer Zeitschrift. Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte 89 (1994) 15–18; Wendehorst, Alfred: 150 Jahre Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 138 (2002) 1–65. Bereits 1841 hatte sich mit der „Allgemeinen Geschichtsforschenden Gesellschaft“ ein ähnlicher Dachverband für die Schweiz konstituiert. Vgl. Hundert Jahre Allgemeine Geschichtsforschende Gesellschaft der Schweiz 1841–1941. Bern 1941. 49 Kunz: Verortete Geschichte, 73f. 50 Pabst: Deutsche Geschichtsvereine, 17f. 51 Weißenborn, Bernhard: Der Thüringisch-Sächsische Verein für Erforschung des vaterländischen Altertums und Erhaltung seiner Denkmale (Thüringisch-Sächsischer Geschichtsverein). Begründet am 3. Oktober 1819 auf der Burg Saaleck. In: Thüringisch-Sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst 26 (1938) 154–220. Zu den maßgeblichen Gründern des Vereins vgl. ebd., 157.
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hunderts stets eine zentrale Rolle spielten. Eine gemeinsame Grabungskampagne unter freiem Himmel war nun einmal ein bedeutend kommunikativeres und auch vergnüglicheres Ereignis als die notgedrungen einsame Archivarbeit.52 So wurden Grabungsaus flüge etwa zum Limes gern von lautem Gesang der Vereinsmitglieder begleitet, noch befeuert durch die bei solchen Anlässen üblicherweise mitgeführten alkoholischen Getränke. Das Freilegen von Mauerresten oder Gräbern mutierte unter solchen Bedingungen faktisch zu einer Art ‚Sport‘.53 Dieses mit einem ernstzunehmenden wissenschaftlichen Ansatz kaum vereinbare Bedürfnis vieler Mitglieder nach Amüsement brachte gar eine regelrechte ‚Vereinslyrik‘ hervor, wie sie mit Vorliebe bei Vereinsfeierlichkeiten zum Besten gegeben wurde.54 Der Vorwurf des Dilettantismus ließ da nicht lange auf sich warten. Klüpfel etwa beklagte die verbreitete „Curiositätenkrämerei“, zumal bei vielen Vereinsgrabungen lediglich „einige alte Gefässe, Opfersteine, Ringe und Schwerter“ zum Vorschein kämen, die sich einer seriösen wissenschaftlichen Zuordnung von vornherein entzögen.55 Wie schon angedeutet, bildeten die besonders um die Jahrhundertmitte in den südlichen und westlichen Gebieten Deutschlands sehr aktiven „Limesvereine“ eine thematisch spezialisierte Sonderform innerhalb des historischen Vereinswesens. Ihre Bedeutung wurde unter anderem dadurch unterstrichen, dass der 1852 konstituierte „Gesamtverein“ eigens eine „Limeskommission“ einrichten ließ.56 Freilich war selbst die Altertumsforschung im 19. Jahrhundert mit nationalpolitischen Implikationen verbunden. So wurde den in den Limesvereinen organisierten Gelehrten und Laien – zeitgenössisch auch als „Romanisten“ tituliert – mitunter vorgeworfen, ausschließlich auf römische Hinterlassenschaften fixiert zu sein und das für die deutsche Nationalgeschichte 52 �������������������������������������������������������������������������������������� Esch, Arnold: Limesforschung und Geschichtsvereine. Romanismus und Germanismus, Dilettantismus und Facharchäologie in der Bodenforschung des 19. Jahrhunderts. In: Boockmann u. a. (Hg.): Geschichtswissenschaft und Vereinswesen, 163–191, hier 163. 53 Garniert mit kurzen Zitaten aus zeitgenössischen Berichten, unter anderem aus dem Korrespondenzblatt des Gesamtvereins, heißt es mit ironischem Zungenschlag ebd., 163f.: „Und so gefiel es denn auch nicht allein den humanistisch Gebildeten, der vertrauten Welt der Antike in vertrauter Landschaft nachzuforschen: die Entdeckung des ersten Stückes Mörtelmauer am rätischen Limes verdankte man ,der herzhaften Frau Siebentritt von Gundelshalm‘, umwohnende Bauern schlossen sich bisweilen spontan zu Ausgrabungen zusammen, der Förster gründete einen Privat-Verein, und im Sodental gehörte es endlich ,zum Sport für die Badegäste [...] ein Grab blos zu legen‘. So zogen sie auch ,bei Gesang des Scheffelschen Pfahlgrabenliedes‘ den Limes entlang [...] und wachten eifersüchtig über die Funde, sie alle gleichsam Bürger ihres ,unterirdischen Herzogthums‘“. 54 Als Kostprobe gibt Maschke: Landesgeschichtsschreibung und Historische Vereine, 525, unter anderem das von dem schwäbischen Oberamtsrichter und Freizeitdichter Wilhelm Ganzhorn 1863 im Anschluss an eine Graböffnung verfasste Gedicht „Das Hünengrab“ wieder: „Reich mit Wurst und Wein beladen,/ Wohl versehn mit Korb und Karren,/ Und mit Schaufeln und mit Spaten,/ Um zu wühlen und zu scharren./ Um den Hügel ernstbesonnen/ Sind sie forschend einst geschritten,/ Und das Graben wird begonnen/ Und der Hügel wird durchschnitten.“ 55 Klüpfel: Die historischen Vereine, 547. 56 Esch: Limesforschung und Geschichtsvereine, 179f.
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viel bedeutsamere germanische Erbe zu ignorieren.57 In den preußischen Ostprovinzen kam ein solcher Gegensatz zwischen „Romanisten“ und „Germanisten“ naturgemäß nicht zum Tragen – hier wiederum war die Grabungstätigkeit historischer Vereine oft von einer deutschnational motivierten demonstrativen Geringachtung slawischer Siedlungsspuren begleitet.58 Fragen der neueren und vor allem der Zeitgeschichte stellten für die Geschichtsvereine hingegen ein deutlich schwierigeres Feld dar. Zum einen waren die Behörden in der Restaurations- und Vormärzzeit bei Themen mit möglichem politischem Gegenwartsbezug erwartungsgemäß besonders argwöhnisch, zum anderen unterlag die Archivnutzung noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein fast überall staatlichen Restriktionen.59 Daraus den Schluss zu ziehen, die historischen Vereine hätten sich unter diesen Bedingungen ausschließlich auf Urkundenforschung, Archäologie und Denkmalpflege konzentriert, wäre dennoch verfehlt. Georg Kunz betont, dass sich auch schon vor 1848 in den Vereinszeitschriften ein nicht unerheblicher Prozentsatz von Abhandlungen durchaus zu zeitgeschichtlichen Themen findet.60
IV. Wenn bereits festgestellt wurde, dass die historischen Vereine über das thematisch eng umgrenzte Graben, Edieren und Publizieren hinaus nach außen als gesellschaftliche Multiplikatoren einer populären Geschichtsbewegung auftraten, so ist nach ihrer sozialen Basis zu fragen. Lothar Galls Interpretation des vormärzlichen Vereinswesens als einer „klassenlosen Bürgergesellschaft“61 entpuppt sich zumindest im Fall der Geschichtsvereine, denen ein hohes Maß an sozialer Exklusivität eigen war, als Mythos.62 Tatsächlich begegnen sie als Honoratiorenklubs reinsten Wassers: Beamte, Richter, Anwälte, Ärzte und Apotheker, Geistliche, Gymnasiallehrer und Offiziere, seien sie pensioniert oder noch aktiv – mit einem Wort: Die urbane bildungsbürgerliche Elite stellte das Gros der Mitgliedschaft. Selbständige Handwerker bildeten da schon eher den unteren Rand sozialer Respektabilität und blieben, ebenso wie das wirtschaftsbürgerliche Element der Kaufleute und Industriellen, zunächst deutlich unterrepräsentiert.63 57 Ebd., 182f. 58 Kunz: Verortete Geschichte, 62. 59 Pabst: Historische Vereine und Kommissionen, 23. 60 Kunz: Verortete Geschichte, 61. 61 �������������������������������������������������������������������������������������������� Ein Schlüsseltext in diesem Zusammenhang ist Gall, Lothar: Liberalismus und „bürgerliche Gesellschaft“. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland. In: Historische Zeitschrift 220 (1975) 324–356. 62 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Hoffmann: Geselligkeit und Demokratie, 44, der dem „geselligen“ Vereinswesen des 19. Jahrhunderts generell eine „geradezu obsessive Leidenschaft für soziale Exklusivität“ attestiert. 63 Kunz: Verortete Geschichte, 68. Vgl. ferner Maschke: Landesgeschichtsschreibung und Historische Vereine, 518, der auf der Grundlage einer Auswertung von Mitgliederlisten ausgewählter Geschichtsvereine für den „Verein für Geschichte der Mark Brandenburg“ eine klare Dominanz
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An diesem generellen Befund ändert auch der Umstand nichts, dass, abhängig von der konfessionellen Prägung sowie den soziokulturellen Besonderheiten der jeweiligen Region oder Stadt, die konkrete soziale Zusammensetzung der einzelnen Vereine naturgemäß divergierte. So wurde etwa der 1854 begründete „Historische Verein für den Niederrhein“ ganz überwiegend von katholischen Geistlichen der Erzdiözese Köln getragen,64 während der sieben Jahre zuvor ins Leben gerufene „Historische Verein für Württembergisch Franken“ wiederum zu annähernd 40 Prozent evangelische Landpfarrer in seinen Reihen wusste (bei einem einzigen katholischen Geistlichen).65 Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigen sich gewisse Verschiebungen. Der Anteil der Kleriker unter den Mitgliedern nahm merklich ab, während Pädagogen – und darunter nun vermehrt auch Volksschullehrer – sowie Handwerker und Einzelhändler häufiger vertreten waren.66 An dem grundlegenden Umstand, dass die unterbürgerlichen Schichten ausgeschlossen blieben, änderte sich über den gesamten Untersuchungszeitraum freilich nichts. Dass sich die nach 1850 zahlreicher werdenden Arbeiterbildungsvereine mitunter ebenfalls historischer Themen annahmen, wenn auch unter ganz anderem Vorzeichen, ist Ausdruck dieses sozialen Antagonismus.67 Wie für die meisten geselligen Vereine des 19. Jahrhunderts trifft auch für die Geschichtsvereine zu, dass sie einen eigenen sozialen Raum nicht nur jenseits von Staat und Kirche, sondern auch jenseits der Familie konstituierten: Frauen spielten in der aktiven Vereinsarbeit kaum eine Rolle – wenn, dann traten sie zu geselligen Anlässen an der Seite ihrer Ehemänner auf.68 Auffällig ist zudem das weitgehende Fernbleiben von Studenten. Einem Geschichtsverein trat man in der Regel erst bei, wenn man sich beruflich etabliert hatte. Zudem lässt schon der üblicherweise signifikante Anteil pensionierter Beamter und Offiziere auf einen vergleichsweise hohen Altersdurchschnitt schließen.69 der Beamtenschaft konstatiert: Staats- und Kommunalbeamte, Juristen, Professoren Archivare und Offiziere stellten hier 1841 über zwei Drittel der Mitglieder. Eine ähnlich eindeutige soziale Prägung wies noch 1896 der „Historische Verein für Niedersachsen“ auf, dessen Mitgliedschaft zu über 60 Prozent aus Beamten bestand (Pfarrer und Offiziere eingerechnet). 64 Braubach: Landesgeschichtliche Bestrebungen und historische Vereine, 14. 65 Maschke: Landesgeschichtsschreibung und Historische Vereine, 519. 66 ������������������������������������������������������������������������������������������� Kunz: Verortete Geschichte, 68. Vgl. die bei Maschke: Landesgeschichtsschreibung und Historische Vereine, 518, für das Jahr 1893 wiedergegebene Mitgliederstruktur des Stuttgarter „Württembergischen Geschichts- und Altertumsvereins“: Zu diesem Zeitpunkt stellten Kaufleute und „Gewerbsleute aller Art“ dort mit 25 Prozent bereits die größte soziale Gruppe, gefolgt von den Künstlern („Bauleute“ eingeschlossen) mit 22 Prozent sowie den Staatsbeamten mit nurmehr 19 Prozent. 67 Hoffmann: Geselligkeit und Demokratie, 86; Birker, Karl: Die deutschen Arbeiterbildungsvereine 1840–1870. Berlin 1973 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 10). 68 �������������������������������������������������������������������������������������������� Zu diesem Befund gelangt Hoffmann: Geselligkeit und Demokratie, 45, für das „gesellige“ Vereinswesen des 19. Jahrhunderts allgemein. 69 �������������������������������������������������������������������������������������������� Maschke: Landesgeschichtsschreibung und Historische Vereine, 521: „Will man von der ,Überalterung‘ der historischen Vereine sprechen, so ist sie eine Konstante in deren Geschichte und nicht das Symptom einer aktuellen Krise.“
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Auf die akademische Jugend, die ihren Erlebnishunger vornehmlich in den studentischen Korporationen stillte, wirkte die in den historischen Vereinen vorherrschende Altherrenatmosphäre offenbar nicht besonders attraktiv. Ohnehin lässt sich, obwohl die Geschichtsvereine zweifellos einen gesellschaftlichen Trend bedienten, kaum von einer Massenbewegung sprechen. Zwar ist für einige große Organisationen wie etwa den „Bergischen Geschichtsverein“ eine Mitgliederzahl von bis zu 1.000 belegt, für die Mehrheit der Vereine lag dieser Wert jedoch eher zwischen 150 und 300, blieb also im überschaubaren Rahmen.70 Der Grad der Vereinsaktivität stand und fiel, wie anderswo auch, mit der Einsatzbereitschaft zumindest einiger aktiver Mitglieder. Geradezu zeitlos klingt, was Klüpfel in seiner Übersicht dem bereits erwähnten Naumburger Altertumsverein vorhielt: „Es bestanden zwar eine Menge von Mitgliedern auf dem Papier, aber viele bezahlten weder ihre Geldbeiträge, noch unterstützten sie den Verein durch literarische Leistungen.“71 Mit welchen Resultaten die einzelnen Vereine ihre Ziele verfolgten, hing freilich noch von anderen Faktoren ab, insbesondere vom jeweiligen Vereinssitz. Die günstigsten Arbeitsbedingungen bestanden naturgemäß in den Universitätsstädten mit ihrer wissenschaftlichen Infrastruktur. In Residenzstädten ohne Universität konnten in der Regel zumindest die fürstlichen Bibliotheken und Archive genutzt werden, während in den meisten Kleinstädten der Zugang zu Quellenmaterial und Fachliteratur erschwert war.72 Die räumliche Nähe oder Ferne zu den Universitäten wirft zudem die grundlegende Frage nach dem Verhältnis zwischen Geschichtsvereinen und universitärer Fachwissenschaft auf. Universitätsprofessoren waren unter den Vereinsmitgliedern nur dort in höherem Maße vertreten, wo der Vereinssitz gleichzeitig Hochschulort war – und es überrascht kaum, dass es gerade diese Vereine waren, die sich hinsichtlich ihrer Professionalität und ihres Forschungsniveaus von den übrigen rasch abhoben. Als Beispiel ließe sich die bereits erwähnte „Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte“ nennen, die 1833 in enger Anbindung an die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel entstanden war. In ähnlicher Weise profitierten der Berliner „Verein für Geschichte der Mark Brandenburg“, der „Thüringische Geschichtsverein“ in Jena oder die „Gesellschaft zur Beförderung der Geschichtskunde zu Freiburg“ von der räumlichen Nähe renommierter Hochschulen.73 Ansonsten blieb das Verhältnis zwischen den von bürgerlichen Laien bevölkerten Geschichtsvereinen und der universitären Historikerzunft prekär. Der regelmäßig an die Adresse der Vereine erhobene Dilettantismusvorwurf spielte hier ebenso eine Rolle 70 71 72 73
Kunz: Verortete Geschichte, 71. Klüpfel: Die historischen Vereine, 523. Kunz: Verortete Geschichte, 69f. Ebd., 68f.; Heimpel: Geschichtsvereine, 64, weist darauf hin, dass der „Verein für Geschichte der Mark Brandenburg“ spätestens unter dem leitenden Einfluss des Berliner Ökonomen und Sozialwissenschaftlers Gustav von Schmoller faktisch das wissenschaftliche Niveau einer Historischen Kommission erreicht habe.
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wie die allgemeine Distanz, die die tendenziell national orientierte Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts gegenüber landes-, regional- oder ortsgeschichtlich ausgerichteten Themen wahrte. Erst ab den 1850er Jahren stieg in den historischen Vereinen der Anteil von Hochschullehrern oder von professionell ausgebildeten Archivaren generell an, was sowohl einen anspruchsvolleren Methodenkanon als auch in vielen Fällen eine Verschiebung des Themenspektrums zur Folge hatte.74 Damit änderte sich freilich auch der soziale Charakter der ursprünglich relativ egalitär strukturierten Vereine. Wenn vorstehend dargelegt wurde, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Inhaber eher ‚wissenschaftsferner‘ Professionen – also Kaufleute, Gewerbetreibende und Handwerker – in den Geschichtsvereinen numerisch an Gewicht gewannen, so galt dies eben gerade nicht für die mit der eigentlichen Forschungstätigkeit betrauten Leitungsfunktionen. Vielmehr tat sich nun eine Kluft auf zwischen den mit Fachhistorikern besetzten Vorständen und Fachausschüssen auf der einen sowie der Mehrheit der ‚gewöhnlichen‘ Laien auf der anderen Seite.75 Die Masse der einfachen Mitglieder sah sich fortan auf die Rolle von Beitragszahlern beschränkt, die innerhalb der Vereinsstrukturen allenfalls noch für solche Funktionen gebraucht wurden, in denen es auf eher ‚praktische‘ Fähigkeiten und Kenntnisse ankam,76 und die sonst vor allem zu den geselligen Terminen wie Ausflügen oder Festsitzungen in Erscheinung traten, an der inhaltlichen Arbeit aber kaum noch Teil hatten.
V. Der angesprochene wissenschaftliche Professionalisierungsprozess machte vor der organisatorischen Struktur der außeruniversitären Geschichtspflege nicht halt. Die nach der Reichseinigung sukzessive gegründeten und vorwiegend aus Fachhistorikern bestehenden landeshistorischen Kommissionen waren vielmehr die notwendige Konsequenz dieses Prozesses. Erst mit ihnen wurde der adäquate institutionelle Rahmen für größere Forschungsvorhaben und langfristig angelegte Editionsprojekte geschaffen. Wenn Hermann Heimpel die Kommissionen als „Konkurrenten, Partner und Fortsetzer“77 der älteren Geschichtsvereine bezeichnete, so verweist diese Begriffstrias auf das im Einzelfall recht unterschiedliche Beziehungsgeflecht zwischen beiden Organisationsformen. Zunächst lag dem genannten Umbruch das Eingeständnis zugrunde, dass die traditionellen historischen Vereine in ihrer Mehrheit als wirkliche Wissenschafts74 Kunz: Verortete Geschichte, 70. 75 Ebd., 72. 76 Maschke: Landesgeschichtsschreibung und Historische Vereine, 521: „Pensionierte Offiziere und Rentiers hielten mit Liebe die Bibliothek in Ordnung. Als Vereinskassierer war ein Fabrikant oder Buchhändler willkommen. Bauingenieure und Architekten waren unentbehrlich für die Konservierung der Altertümer.“ 77 Heimpel: Geschichtsvereine, 64.
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institutionen ungeeignet waren – ein Umstand, der in den Reihen der deutschen Geschichtsbewegung durchaus registriert wurde. Die 1890 auf politische Initiative hin länderübergreifend konstituierte „Reichslimeskommission“ etwa stieß in den fortexistierenden Limesvereinen verbreitet auf Unmut, die sich nun um die Früchte ihrer Arbeit gebracht sahen und gleichsam entmündigt fühlten.78 In ihrer länderübergreifenden Organisationsstruktur blieb die Limeskommission indes eine Ausnahme. War die bereits 1858 entstandene „Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften“ von ihrer Themensetzung her noch gesamtdeutsch ausgerichtet, so kann die 1876 gegründete „Historische Kommission für die Provinz Sachsen“ als die älteste landesgeschichtliche Kommission gelten; sie gab das Organisationsmodell vor, das sich letztlich in allen deutschen Einzelstaaten beziehungsweise Regionen durchsetzte.79 Die Tatsache, dass die sächsische Kommission aus einem Zusammenschluss mehrerer älterer Vereine entstanden war, zeigt aber schon, dass von einem beziehungslosen Nebeneinander – hier traditionelle Geschichtsvereine, dort Historische Kommissionen – keine Rede sein kann, vielmehr verstanden die Kommissionen sich zumeist als Bindeglied zwischen universitärer Fachwissenschaft und historischem Vereinswesen.80 Während in Süddeutschland, wo der staatliche Einfluss im Bereich der Geschichtspflege schon vorher sehr ausgeprägt gewesen war, die Kommissionen überwiegend als Staatsgründung entstanden, wandelten sich in vielen anderen Regionen privatrechtlich organisierte Vereine in gleichfalls privatrechtliche Kommissionen um – so nicht zuletzt 1921 in Schlesien.81 Die moderne Landesgeschichte als historische Disziplin ist aus dem skizzierten Prozess der Verwissenschaftlichung letztlich erst hervorgegangen. Auf der anderen Seite des Spektrums knüpften die gerade zur Jahrhundertwende in großer Zahl entstehenden „Heimatvereine“ an die bürgerliche Laienkultur der älteren Geschichtsvereine bezeichnenderweise wieder an. Im nunmehr populären Postulat des „Heimatschutzes“ tauchte auch der bereits thematisierte und im Ideenhaushalt der deutschen Geschichtsbewegung stets präsente „Rettungsgedanke“ in modifizierter Form wieder auf.82 78 Esch: Limesforschung und Geschichtsvereine, 185–190. An der Limeskommission beteiligt waren die fünf Gliedstaaten des Deutschen Reiches, durch die der Obergermanisch-Rätische Limes verlief: Baden, Bayern, Hessen, Preußen und Württemberg. 79 Kunz: Verortete Geschichte, 74f. 80 �������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. Pabst: Historische Vereine und Kommissionen, 35f., der zudem den 1871 in Lübeck begründeten „Hansischen Geschichtsverein“ als Beispiel einer „Mischform“ zwischen herkömmlichem Geschichtsverein und Historischer Kommission kennzeichnet. 81 Ebd., 37; Schaab, Meinrad: Der Beitrag der historischen Kommissionen zur geschichtlichen Landesforschung. In: Specker (Hg.): Aufgabe und Bedeutung historischer Vereine, 49–70, hier 52f. 82 Zu diesem Phänomen liegt mittlerweile gleichfalls ein breites Spektrum an ideologiekritischen Darstellungen und regionalen Fallstudien vor. Vgl. exemplarisch Applegate, Celia: A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat. Berkeley/Los Angeles/Oxford 1990; Klueting, Edeltraud (Hg.): Antimodernismus und Reform. Zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung. Darmstadt 1991; Hartung, Werner: Konservative Zivilisationskritik und regionale Identität am
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Die „Flucht auf den sicheren Boden der Geschichte“ in Zeiten gesellschaftlicher Umwälzung, von der, wie eingangs zitiert, bereits Karl August Klüpfel gesprochen hatte, scheint als Daseinszweck historischer Vereine jedenfalls auch später immer wieder auf. Niemand geringeres als der Münchner Landeshistoriker Karl Bosl zeichnete 1963 in einem Vortrag zum 75jährigen Bestehen des Historischen Vereins Dillingen ein unverkennbar von Zivilisationskritik und Kulturpessimismus durchwirktes geistiges Krisenpanorama: „Der moderne Mensch ist heute von unendlich vielen anonymen Mächten abhängig, er wird hilflos, wenn seine technische Umwelt versagt oder zerstört wird. Man kann sagen, daß er auf dem Wege ist, unwesentlicher Bestandteil einer Masse zu werden.“83 In dieser Situation bedürfe er der historisch-kulturellen Selbstvergewisserung mehr denn je, konkret der „Vermittlung geschichtlichen Wissens, Pflege des Geschichtsbewußtseins, Bewahrung kultureller Überlieferung und des Heimatgefühls“,84 wie dies eben die fortbestehende „politische Aufgabe“ der Geschichtsvereine sei. In einer von Bosl betreuten Dissertation über die Entwicklung der historischen Vereine in Bayern hieß es im gleichen Jahr: „Vielleicht gewinnen die Historischen Vereine ihre wesentliche Bedeutung dadurch, daß sie dem Volk, das, kaum aus der Abhängigkeit und Objektivität emanzipiert, in den Sog des Zeitalters der Massen geriet, Kräfte demonstrierten, die geeignet waren, gegen die Nivellierung im Geistigen und Materiellen abzuschirmen.“85 In einer geschichtswissenschaftlichen Qualifikationsschrift der Gegenwart hätten solch emotionale Formulierungen aus guten Gründen nichts mehr verloren. Doch verweisen sie auf eine fortbestehende Sehnsucht nach regional- oder lokalhistorischer identitärer Sinnstiftung jenseits der akademischen Fachhistorie, wie sie in vielen Geschichts- oder Heimatvereinen bis heute bedient wird.
Beispiel der niedersächsischen Heimatbewegung 1895–1919. Hannover 1991 (Quellen und Untersuchungen zur allgemeinen Geschichte Niedersachsens in der Neuzeit 10); Confino, Alon: The Nation as a Local Metaphor. Württemberg, Imperial Germany, and Local Memory, 1871– 1918. Chapell Hill/London 1997; Keil, Johannes: Die Elbstromregulierung und die Anfänge der sächsischen Natur- und Heimatschutzbewegung 1871–1914. München 2008. 83 Bosl, Karl: Die Leistungen der historischen Vereine und ihre Bedeutung für die landesgeschichtliche Forschung [1964]. In: Verband Bayerischer Geschichtsvereine. Mitteilungen 26 (2014) 49–63, hier 58. 84 Ebd., 50. 85 Stetter: Die Entwicklung der Historischen Vereine in Bayern, 73.
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„Circel gebildeter, gelehrter Männer“. Zur Entwicklung, Struktur und inhaltlichen Ausrichtung aufgeklärter Sozietäten in Schlesien während des 18. Jahrhunderts I. Ende des 17. Jahrhunderts, zwischen 1691 und 1695, schrieb Gottfried Wilhelm Leibniz in seinem Entwurf für die Begründung einer „teutschliebende[n] genossenschafft“ den seither viel zitierten Satz: „Es scheinet, daß aniezo ein seculum sey, da man zu societäten lust hat“.1 Der Hannoveraner Universalgelehrte hatte dabei nicht nur die großen Akademien in Italien, England und Frankreich vor Augen, sondern auch die vielen humanistischen Sodalitäten, Sprachgesellschaften und lokal, mitunter auch regional bedeutenden Zusammenschlüsse in Deutschland, vor allem in den protestantischen Territorien des Heiligen Römischen Reiches.2 Das Nachdenken über solche Gesellschaftsbildungen und in einem umfassenderen Sinn über Möglichkeiten und Formen, Wissenschaft zu organisieren und zu strukturieren, bildet eine Konstante in Leibniz’ Philosophie und politischem Denken. Dabei spielten viele Aspekte eine Rolle, wie Ines Böger in einer umfassenden Darstellung und Analyse der Leibnizschen Sozietätspläne nachgewiesen hat: neben der Wissensproduktion, der Vermittlung praktischer Bildung und der Verbesserung von Lehrmethoden etwa die Sorge um das bonum commune, reichspatriotische, kulturpolitische und ökonomische Überlegungen, die Überwindung des 1 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Sämtliche Schriften und Briefe, Reihe IV: Politische Schriften, Bd. 6: 1695–1697. Berlin 2008, Nr. 132 („Plan zu einer deutschliebenden Genossenschaft“), 788–793, hier 791. 2 Die Fachliteratur zur europäischen Akademiebewegung ist unterdessen kaum noch zu überblicken. Zum Überblick vgl. Garber, Klaus/Wismann, Heinz (Hg.): Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung, Bd. 1–2. Tübingen 1996 (Frühe Neuzeit 26–27); Hardtwig, Wolfgang: Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution. München 1997, 197–238, 433–445; Kanthack, Gerhard: Der Akademiegedanke zwischen utopischem Entwurf und barocker Projektmacherei. Zur Geistesgeschichte der Akademiebewegung des 17. Jahrhunderts. Berlin 1987 (Historische Forschungen 34); Bircher, Manfred/van Ingen, Ferdinand (Hg.): Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen. Hamburg 1978 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 7); Hartmann, Fritz/Vierhaus, Rudolf (Hg.): Der Akademiegedanke im 17. und 18. Jahrhundert. Bremen/Wolfenbüttel 1977 (Wolfenbütteler Forschungen 3); Müller, Kurt: Zur Entstehung und Wirkung der Wissenschaftlichen Akademien und Gelehrten Gesellschaften des 17. Jahrhunderts. In: Rößler, Hellmuth/Franz, Günther (Hg.): Universität und Gelehrtenstand 1400–1800. Limburg an der Lahn 1970 (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 4), 127–144.
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Konfessionalismus, die Pflege der deutschen Sprache und die Erkenntnis und Verehrung Gottes.3 Leibniz wusste um die Entwicklungsunterschiede innerhalb der europäischen Akademie- und Sozietätsbewegung, zeigte sich in seinem Entwurf aber zuversichtlich, dass der Rückstand der deutschen Territorien gegenüber dem westlichen Europa aufgeholt werden könne. „Es ist bisher dieser hauptfehler in Teutschland gespühret worden, daß bey uns der adel und andere vornehme leute, auch die Rentenierer nicht so wißbegierig als etwa bey den Engländern, noch solche liebhaber der verstandesübung und erbaulicher gespräche, als bey den Welschen, sondern alzuviel dem trunck und spielen ergeben gewesen. Nachdem aber die trunckenheit allmählig abkomt und das spiel nicht iedem noch allezeit beliebet, so ist zu hoffen, man werde sich allmählig auff eine nüzliche zeitvertreibung wenden.“4 Die Erwartung wurde, wie die realpolitische Entwicklung der kommenden Jahrzehnte zeigte, nicht enttäuscht. Was Leibniz Ende des 17. Jahrhunderts über die „lust“ zu Sozietäten geschrieben hatte, hätte ein Intellektueller Ende des 18. Jahrhunderts – eines Zeitabschnitts, der sich im Rückblick geradezu als „Jahrhundert der Akademien“5 darstellt – mit noch größerer Berechtigung bezeugen können. Es war eine Zeit, die nicht nur durch neue Ideen gekennzeichnet war, sondern auch durch neue Formen des Austausches von Ideen. Ein Gedankenaustausch, der über das unmittelbare soziale Umfeld, in das man hineingeboren war, hinausging, erschien den Zeitgenossen eine unerlässliche Voraussetzung für jeden gesellschaftlich-kulturellen Fortschritt. An die Stelle innerständischen Umgangs traten so zunehmend stände- und konfessionsüberschreitende, mehr oder weniger institutionalisierte Geselligkeitsformen – von privaten Zirkeln und Lesegesellschaften bis hin zu Freimaurerlogen und gelehrten Akademien. Solche Gesellschaftsbildungen konnten ganz unterschiedliche Zwecke verfolgen: ökonomische, naturwissenschaftliche, literarische oder allgemein gemeinnützige.6 „Unter dem Nah3 Böger, Ines: „Ein seculum ... da man zu Societäten Lust hat“. Darstellung und Analyse der Leibnizschen Sozietätspläne vor dem Hintergrund der europäischen Akademiebewegung im 17. und frühen 18. Jahrhundert. München 22002 [11997]. 4 Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, Bd. IV/6, 792f. 5 Meyer, Regina: Der Akademiegedanke in der Philosophie Christian Wolffs. In: Donnert, Erich (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, Bd. 2: Frühmoderne. Weimar/Köln/Wien 1997, 75–86, hier 75. 6 Stollberg-Rilinger, Barbara: Europa im Jahrhundert der Aufklärung. Stuttgart 2000, 114–145, 178–186. Vgl. ferner Reinalter, Helmut (Hg.): Aufklärungsgesellschaften. Frankfurt am Main u.a. 1993 (Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770–1850, 10); François, Etienne (Hg.): Sociabilité et societé bourgeoise en France, en Allemagne et en Suisse 1750–1850 – Geselligkeit, Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Frankreich, Deutschland und der Schweiz 1750–1850. Paris 1986; van Dülmen, Richard: Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland. Frankfurt am Main 1986; McClellan, James E.: Science Reorganized. Societies in the Eighteenth Century. New York 1985; Im Hof, Ulrich: Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung. München 1982; Voss, Jürgen: Die Akademien als Organisationsträger der Wissenschaften im 18. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 231 (1980)
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men einer gelehrten Gesellschaft“, so drückte es der Philologe und Altertumsforscher Johann Georg Lotter, ein Mitglied der „Deutschen Gesellschaft“ Johann Christoph Gottscheds in Leipzig, im Jahr 1732 aus, verstehe er „eine aus eigenem Triebe und besondrer Liebe zu den Wissenschaften angestellte Versammlung geschickter und munterer Köpfe, welche sich zu Vermehrung, Ausbreitung und Anwendung der sowohl nützlichen als angenehmen Gelehrsamkeit, unter einander zu einer gemeinschaftlichen Arbeit und willigem Beytrage einmüthig“ verbunden hätten.7 Beide Organisationsformen, größere Akademien mit einem meist überregionalen Einzugsbereich wie kleinere, weitgehend lokal tätige Aufklärungsgesellschaften, boten Räume eines institutionalisierten Austausches außerhalb von Kirche, Universität und anderen traditionellen Lebenskreisen der ständischen Gesellschaft.8 Die Entwicklung des einen wie des anderen Sozialgebildes korrespondierte mit einer Vielzahl zeitgleich verlaufender Prozesse, die sich wechselseitig bedingten, überlagerten und verstärkten: mit der Vernetzung der europäischen Bildungseliten, der Ausbildung neuer Kommunikationsformen, der Institutionalisierung der modernen Wissenschaft und der Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit.9 Die Gewichtung der einzelnen Bildungseinrichtungen hing gleichwohl stets von den spezifischen Gegebenheiten des einzelnen Territoriums ab. Was Schlesien betrifft, so ist grundsätzlich zweierlei zu beachten: die Tatsache, dass das Land seit dem Spätmittelalter stets Bestandteil zusammengesetzter Monarchien war und ihm damit die bei Bildungsinitiativen eminent wichtige Souveränität des frühmodernen Territorialstaats fehlte, einerseits und der konfessionelle Gegensatz zwischen katholischer Landesherrschaft und den mehrheitlich evangelischen Fürsten und Ständen andererseits.10 Damit sind bereits die wichtigsten Gründe für das Fehlen einer Landesuniversität im frühneuzeitlichen Schlesien benannt, das durch die 1702 in Breslau gegründete Leopoldina mit ihren lediglich zwei Fakultäten nicht kompensiert werden konnte. Ebenso wenig verfügte das Oderland über eine Akademie im Leibnizschen Sinne. Die 1652 in
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43–74; Hammermayer, Ludwig: Akademiebewegung und Wissenschaftsorganisation. Formen, Tendenzen und Wandel in Europa während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Amburger, Erik/Cieśla, Michał/Sziklay, László (Hg.): Wissenschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa. Wissenschaftliche Gesellschaften, Akademien und Hochschulen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Berlin 1976 (Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa 3), 1–84. Gottsched, Johann Christoph (Hg.): Der Deutschen Gesellschaft in Leipzig Gesammlete Reden und Gedichte, Welche bei dem Eintritte und Abschiede ihrer Mitglieder pflegen abgelesen zu werden [...]. Leipzig 1732, 353. Roeck, Bernd: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums in der Frühen Neuzeit. München 1991 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 9), 61. van Dülmen, Richard: Die Aufklärungsgesellschaften in Deutschland als Forschungsproblem. In: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 5 (1977) 251–275, hier 253. Bahlcke, Joachim: Bildungswege, Wissenstransfer und Kommunikation. Schlesische Studenten an europäischen Universitäten der Frühen Neuzeit. In: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 18 (2010) 37–55.
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Schweinfurt gegründete Akademie der Naturforscher (Academia Naturae Curiosorum) hatte zwar im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts einen gewissen Schwerpunkt in Breslau, stand aber bei Lichte besehen außerhalb des regionalen Bildungskontextes.11 Die Liegnitzer Ritterakademie von 1708 wiederum war eine elitäre Ausbildungsstätte eigener Art, die sich in Struktur und Zielsetzung von den aufgeklärten Sozietäten grundlegend unterschied.12 „[D]er Schlesier scheint dazu bestimmt zu seyn, seinen Sohn, und mit ihm sein Geld ins Ausland schicken zu müssen“,13 schrieb 1794 der aus Löwenberg in Niederschlesien gebürtige Arzt Johann Joseph Kausch, dessen zahlreichen Publikationen wir wichtige Einblicke in die mitteleuropäische Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte zur Zeit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert verdanken. Die Rahmenbedingungen für die Entfaltung gelehrter, außerhalb des universitären Milieus angesiedelter Aufklärungsgesellschaften im Schlesien des 18. Jahrhunderts schienen damit günstig, zumal das Land eine ausgeprägte Städtedichte vor allem in Niederschlesien und damit ein zahlenmäßig starkes Bürgertum besaß.14 Zu fragen ist, ob solche Assoziationen tatsächlich im Oderland entstanden und ob sich aus diesen Zusammenschlüssen Formen institutionalisierter Geschichtspflege entwickelten, die dann – wie es für andere Territorien bestätigt werden konnte15 – allmählich in die Zuständigkeit der späteren historischen Vereine übergingen. Die These, dass die Aufklärungssozietäten als 11 Graetzer, J[onas]: Die Gründung der K. Leopoldinisch-Carolinischen Akademie der Naturforscher und Schlesien (nebst einem Verzeichniss der schlesischen Mitglieder der Akademie). In: ders.: Lebensbilder hervorragender schlesischer Aerzte aus den letzten vier Jahrhunderten. Breslau 1889 [Nachdruck Vaduz 1978], 203–216; Parthier, Benno/Engelhardt, Dietrich von (Hg.): 350 Jahre Leopoldina – Anspruch und Wirklichkeit. Festschrift der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina 1652–2002. Halle (Saale) 2002. 12 Conrads, Norbert: Gründung und Bedeutung der Ritterakademie Liegnitz in habsburgischer Zeit (1708–1740). In: ders.: Schlesien in der Frühmoderne. Zur politischen und geistigen Kultur eines habsburgischen Landes. Hg. v. Joachim Bahlcke. Köln/Weimar/Wien 2009 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 16), 269–290. 13 ����������������������������������������������������������������������������������������� [Kausch, Johann Joseph]: Ausführliche Nachrichten über Schlesien. Vom Verfasser der Nachrichten über Pohlen und Böhmen. Salzburg 1794, 156. Zu Kauschs Leben und Werk vgl. den Nachruf von Wunster, Karl: Johann Joseph Kausch. In: Voigt, Bernh[ard] Friedr[ich] (Hg.): Neuer Nekrolog der Deutschen, Bd. 3. Ilmenau 1827, 338–366. 14 Weczerka, Hugo: Entwicklungslinien der schlesischen Städte im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Rausch, Wilhelm (Hg.): Die Städte Mitteleuropas im 17. und 18. Jahrhundert. Linz/Donau 1981 (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 5), 119–142. 15 ������������������������������������������������������������������������������������������ Kunz, Georg: Verortete Geschichte. Regionales Geschichtsbewußtsein in den deutschen Historischen Vereinen des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2000 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 138); Clemens, Gabriele B.: Sanctus amor patriae. Eine vergleichende Studie zu deutschen und italienischen Geschichtsvereinen im 19. Jahrhundert. Tübingen 2004 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 106); Nissen, Martin: Populäre Geschichtsschreibung. Historiker, Verleger und die deutsche Öffentlichkeit (1848–1900). Köln/Weimar/Wien 2009 (Beiträge zur Geschichtskultur 34), 67–70; Heimpel, Hermann: Geschichtsvereine einst und jetzt. In: Boockmann, Hartmut u. a. (Hg.): Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte historischer Forschung in Deutschland. Göttingen 1972 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 1), 45–73.
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Frühformen bürgerlicher Organisation generell das Vereins- und in Teilen auch Parteiwesen des 19. Jahrhunderts präfigurierten, ist in der Forschung opinio communis.16 Es wird im Folgenden also nicht primär um die Organisations- und Mitgliederstruktur einzelner Sozietäten gehen, sondern um einen spezifischen Teil ihrer in aller Regel breit gefassten Aufgabenstellung: um die historische Gelehrsamkeit, die in der frühneuzeitlichen Tradition noch in enger Verbindung mit Jurisprudenz und Theologie stand.17 Im Zentrum steht mithin die Frage, ob die verschiedenen Gesellschaftsbildungen Schlesiens in diesem Bereich als Organisationen wissenschaftlicher Gemeinschaftsarbeit und damit gewissermaßen als Vorläufer der Geschichts- und Altertumsvereine des 19. Jahrhunderts verstanden werden können.
II. Für die hier gestellte Aufgabe gibt es von geschichtswissenschaftlicher Seite faktisch keine Vorarbeiten, die über Lokalstudien oder Einzelbeobachtungen hinausgingen. „Das Gebiet, dem unsere Aufgabe entnommen, ist nach der Richtung hin, in die wir hier streben, völlig Neuland“18 – diesen Satz stellte Rudolf Martin Ritscher an den Anfang seiner 1912, vor mehr als einem Jahrhundert, publizierten Dissertation über die Geschichte der Aufklärung in Schlesien, die trotz ihres schmalen Umfangs und ihrer dünnen Quellenbasis bis heute als unersetzt gelten muss. Auch der ein Jahr später publizierte Überblicksbeitrag von Oswald May über die „Entstehung und Bedeutung der Wissenschaftlichen Gesellschaften in Schlesien“ konzentriert sich vollständig auf die eigentlichen Vereinsgründungen des 19. Jahrhunderts; für die ältere Zeit beließ es der Neisser Gymnasialdirektor bei der allgemeinen Anmerkung: „Jedenfalls verdienen der ernste wissenschaftliche Sinn und das selbstlose geistige Schaffen, die sich in Schlesien schon in früher Zeit gastlicher Heimstätte und Pflege zu erfreuen hatten, Beachtung und Würdigung – selbst über die Marken unserer Provinz hinaus.“19 16 van Dülmen: Aufklärungsgesellschaften in Deutschland, 252. 17 Hardtwig, Wolfgang: Die Verwissenschaftlichung der neueren Geschichtsschreibung. In: Goertz, Hans-Jürgen (Hg.): Geschichte. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 22001 [11998], 245–260, hier 248f. 18 Ritscher, Rudolf Martin: Versuch einer Geschichte der Aufklärung in Schlesien während des 18. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der religiösen Aufklärung. Liegnitz 1912 (Beiheft zum Korrespondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens 13/1), 1. Die Aufklärung in Schlesien sei „weithin Forschungsdesiderat“, so auch Bendel, Rainer: Der Seelsorger im Dienst der Volkserziehung. Seelsorge im Bistum Breslau im Zeichen der Aufklärung. Köln/Weimar/Wien 1996 (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 27), 18. 19 May, Oswald: Entstehung und Bedeutung der Wissenschaftlichen Gesellschaften in Schlesien. In: 36. Bericht der wissenschaftlichen Gesellschaft „Philomathie“ in Neisse vom Oktober 1910 bis März 1913. Zugleich Festschrift zur Feier ihres 75jährigen Bestehens. Neisse 1913, 36–50, hier 36.
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Die wichtigsten Impulse für eine interdisziplinäre, letztlich aber doch stark literaturwissenschaftlich ausgerichtete Aufklärungsforschung gehen seit Jahrzehnten von der polnischen Germanistik an der Universität Breslau aus, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem produktiven, national wie international hoch geachteten Zentrum entwickelt hat.20 Nur exemplarisch sei in diesem Zusammenhang auf die von Wojciech Kunicki 1996 und 1998 herausgegebenen Sammelbände Aufklärung in Schlesien im europäischen Spannungsfeld hingewiesen, die Fragestellungen und Interpretationsansätze der jüngeren Forschung erkennen lassen.21 In einem Bericht über das Symposium des Instituts für germanistische Philologie der Universität Breslau, dessen Ergebnisse der erste der beiden Bände dokumentierte, hatte Anne-Margarete Brenker – die einige Jahre später eine geschichtswissenschaftliche Dissertation zur Aufklärung in Breslau vorlegte22 – 1995 angemerkt, die „Arbeit zum Thema Aufklärung in Schlesien“ habe mit der Tagung im Grunde „erst begonnen“.23 Auch in der Folgezeit waren es mehrheitlich Germanisten in Breslau, die sich mit kultur-, bildungs- und ideengeschichtlichen Fragestellungen des 18. Jahrhunderts auseinandersetzten.24 Besonders wichtig im breiteren Kontext dieses Beitrags ist die 2015 von Łukasz Bieniasz vorgelegte Monographie über den Kulturtransfer zwischen Schlesien und Brandenburg-Preußen in den Aufklärungsdiskussionen um 1800.25 Fraglos lassen sich historiographiegeschichtlich einschlägige, auf den preußisch-österreichischen Antagonismus zurückgehende Faktoren benennen, die eine Ausblendung 20 Kunicki, Wojciech/Bartoszewicz, Iwona: Zur Geschichte der Germanistik in Wrocław (1945– 2013). In: Tribüne. Zeitschrift für Sprache und Schreibung 3 (2013) 9–16. Keine Berücksichtigung findet diese Entwicklung in dem Forschungsbericht von Bal, Karol: Aufklärung und Aufklärungsforschung in Osteuropa. Ein Problemaufriß am Beispiel Polens. In: Das achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 19/1 (1995) 11–18. 21 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Kunicki, Wojciech (Hg.): Aufklärung in Schlesien im europäischen Spannungsfeld, Bd. 1: Traditionen – Diskurse – Wirkungen. Wrocław 1996 (Germanica Wratislaviensia 114; Acta Universitatis Wratislaviensis 1757); ders. (Hg.): Aufklärung in Schlesien im europäischen Spannungsfeld, Bd. 2: Aufgeklärter Sensualismus. Wrocław 1998 (Acta Universitatis Wratislaviensis 2122). 22 Brenker, Anne-Margarete: Aufklärung als Sachzwang. Realpolitik in Breslau im ausgehenden 18. Jahrhundert. Hamburg 2000 (Hamburger Veröffentlichungen zur Geschichte Mittel- und Osteuropas 8). 23 Dies.: Aufklärung in Schlesien. Symposiumsrückblick. In: Das achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 19/1 (1995) 10. 24 Vgl. exemplarisch die kulturhistorische Studie von Czarnecka, Mirosława: Breslau. In: Adam, Wolfgang/Westphal, Siegrid (Hg.): Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum, Bd. 1. Berlin/Boston 2012, 197–238; dies. (Hg.): Zur Literatur und Kultur Schlesiens in der Frühen Neuzeit aus interdisziplinärer Sicht. Wrocław 1998 (Acta Universitatis Wratislaviensis 1968). 25 Bieniasz, Łukasz: Über Barbaren, Jesuiten und Schulmänner. Zeugnisse des Kulturtransfers zwischen Schlesien und Brandenburg-Preußen in den publizistischen Aufklärungsdiskussionen 1785–1806. Hannover 2015 (Aufklärung und Moderne 33).
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entsprechender kultur- und geistesgeschichtlicher Forschungen gerade für das 18. Jahrhundert begünstigten.26 Der Blick auf die Vielfalt historischer Traditionsstränge und Identitäten, Wissensbestände und Erinnerungen, die Johann Jacob Füldener 1731 in seinem mehr als 700 Seiten umfassenden Werk Bio- & Bibliographia Silesiaca noch einmal eindrucksvoll dokumentierte,27 wurde nur wenige Jahre später einem scharf gezogenen Gegensatz von ‚preußisch-protestantisch‘ und ‚österreichisch-katholisch‘ in der Geschichtsschreibung geopfert. Die Auswirkungen dieses politisch-konfessionellen Antagonismus, der Bildungs- und Ausbildungswege ebenso beeinflusste wie kulturelle Austausch- und Transferprozesse, lassen sich bei Aufklärungsgesellschaften des späteren 18. wie bei den historischen Vereinen des 19. Jahrhunderts beobachten. Bezeichnend dafür ist ein Konflikt, der den „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“ in der schlesischen Hauptstadt – dessen Vorsitzender seit Oktober 1854 der an der Universität tätige Historiker Richard Roepell war – an den Rand einer Spaltung gebracht hatte.28 Im ersten Heft der Vereinszeitschrift von 1855 hatte Theodor Paur eine kritische, mehr als dreißig Seiten umfassende Besprechung des zweiten, dem 17. Jahrhundert geltenden Teilbands der Geschichte der Stadt Neisse mit besonderer Berücksichtigung des kirchlichen Lebens in der Stadt und dem Fürstenthume Neisse von August Kastner veröffentlicht und dem katholischen Autor konfessionelle Parteilichkeit in dessen Darstellung vorgeworfen.29 Im Schlesische[n] Kirchenblatt vom 19. Juli des Jahres erschien unter der pejorativ gemeinten Überschrift „Breslauer Geschichtsforschung“ eine Erwiderung, deren Verfasser nicht genannt wurde. In dem Text, der sich in Teilen als antiaufklärerischer Generalangriff auf die „oft von Leidenschaft und Vorurtheilen strotzenden historischen Arbeiten“ gelehrter Gesellschaften und eine vermeintlich kirchenfeindliche „Partei-Geschichtsschreibung“ im protestantischen Niederschlesien lesen lässt, wurde der „Austritt aller katholischen Mitglieder“ angedroht. Roepell ließ die Polemik im zweiten Heft der von ihm herausgegebenen Vereinszeitschrift unter dem Titel „Ein Beispiel specifisch confessioneller Kritik“ 1856 ein weiteres Mal abdrucken.30
26 Kersken, Norbert: Entwicklungslinien der Geschichtsschreibung Ostmitteleuropas in der Frühen Neuzeit. In: Bahlcke, Joachim/Strohmeyer, Arno (Hg.): Die Konstruktion der Vergangenheit. Geschichtsdenken, Traditionsbildung und Selbstdarstellung im frühneuzeitlichen Ostmitteleuropa. Berlin 2002 (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 29), 19–53. 27 Füldener, Johann Jacob: Bio- & Bibliographia Silesiaca, Das ist: Schlesische Bibliothec Und Bücher-Historie [...]. Breßlau 1731. 28 Zum Hintergrund vgl. Kessler, Wolfgang: Der Verein für Geschichte (und Altertum) Schlesiens und seine Veröffentlichungen 1846–1943. In: ders. (Bearb.): Zeitschrift des Vereins für Geschichte (und Altertum) Schlesiens 1855–1943, Schlesische Geschichtsblätter 1908–1943. Gesamtinhaltsverzeichnis. Hannover 1984 (Schlesische Kulturpflege. Schriftenreihe der Stiftung Schlesien 1), V–XXII, hier Xf. 29 Paur, [Theodor]: Zur Geschichte von Neisse in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 1/1 (1855) 95–129. 30 �������������������������������������������������������������������������������������������������� Ein Beispiel specifisch confessioneller Kritik. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 1/2 (1856) 320–322.
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Roepells Standpunkt war eindeutig: Er ergriff unmissverständlich für Paur Partei und wies überdies alle Anschuldigungen gegen ihn als Vereinsvorsitzenden zurück.31 Angesichts der offenen Drohung einer „confessionellen Spaltung“ des Geschichtsvereins machte er seine Position in diesem Konflikt später noch einmal in einem Tätigkeitsbericht für die Jahre 1854 bis 1856 deutlich: „Will der Verein die Freiheit der Forschung und Darstellung, und in ihr die wahre Lebensseele seiner Thätigkeit sich bewahren, so kann er dies meines Erachtens nur, wenn beide Partheien, Katholiken und Protestanten, den confessionellen Gesichtspunkt so weit hinter den historischen zurücktreten lassen, daß sie sich gegenseitig diejenige Freiheit in der Auffassung und Beurtheilung geschichtlicher Verhältnisse zugestehen, welche ihre Schranke einzig und allein in der zwiefachen Forderung hat, daß Auffassung und Beurtheilung einmal auf einer unbefangenen, d. h. tendenzfreien wissenschaftlichen Forschung beruhen, und zum andern jene Anständigkeit des Ausdrucks einhalten, welche den Verkehr gebildeter Menschen charakterisirt.“32 Wer die Heftigkeit derartiger Konflikte verfolgt, die noch Mitte des 19. Jahrhunderts den Alltag historischer Vereine prägten, der erhält eine Vorstellung davon, wie sehr der Konfessionsstreit nach dem Wechsel der Oberherrschaft ein Jahrhundert zuvor die aufgeklärten Sozietäten beschäftigte. Vielleicht ist der unbefriedigende Wissensstand aber auch, zumindest was die hier im Zentrum stehenden Aufklärungsgesellschaften betrifft, schlicht eine Folge von deren geringer Zahl und lediglich marginaler Bedeutung. Um einen Vergleichsmaßstab zu haben und die Verhältnisse im Oderland angemessen beurteilen zu können, soll daher der Blick zunächst in das benachbarte Sachsen gerichtet werden. Sachsen bildet geradezu das Kernstück einer „mitteldeutschen Sozietätslandschaft“33 um die Universitäten Leipzig, Wittenberg, Jena, Erfurt und Halle, in der bisher für die Zeit zwischen 1700 und 1800 gut 300 aufgeklärte Sozietäten mit mehr als 12.000 Mitgliedschaften nachgewiesen werden konnten: Gelehrte, Deutsche und Literarische Gesellschaften, Freimaurer- und Akademische Logen, Patriotisch-gemeinnützige und Ökonomische Sozietäten, Lesegesellschaften, Geheimbünde und Jakobinerklubs.34 31 „Mögen die Leser der Zeitschrift diesen Angriff mit dem Aufsatz des Hrn. Dr. Paur vergleichen und dann selbst urtheilen. Ich für meine Person habe nur zu erklären, daß ich auch jetzt nach nochmaliger Durchsicht in dem letztern nichts gefunden habe, was auch nur im entferntesten jene Beschuldigungen rechtfertigen könnte, und da hienach mein Sinn und Begriff von ‚Wissenschaft‘ und ‚Beleidigung‘ ein so völlig andrer als der des Anonmymus ist, so kann ich ihn auch nur bei seinem ‚Erstaunen‘ über mich lassen.“ Roepell, [Richard]: [Kommentar]. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 1/2 (1856) 322. 32 Ders.: Bericht über die Vereins-Etatszeit von October 1854 bis October 1856. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 1/2 (1856) 323–328, hier 327. 33 Zaunstöck, Holger: Sozietätslandschaft und Mitgliederstrukturen. Die mitteldeutschen Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert. Tübingen 1999 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 9), V; den Begriff „Sozietätslandschaft“ bildete Zaunstöck in Anlehnung an die von Otto Dann geprägte Bezeichnung „Vereinslandschaft“ (ebd., 17, 91, 273). 34 Die Zahl, Vielfalt und Bedeutung der einzelnen Gesellschaftsbildungen sowie der für Sachsen herausragende Forschungsstand werden unterstrichen durch die Sammelwerke von Döring, Det-
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Das ist eine reichsweit singuläre Dichte, auch wenn präzise Zahlenangaben stets problematisch sind, weil jede Zählung zunächst davon abhängt, wie man den Begriff Aufklärungsgesellschaft definiert; Zahlenangaben sind überdies prekär, weil wir häufig weder die Mitgliederstärke einer Vereinigung kennen noch etwas zur Dauer sagen können, die eine Sozietät überhaupt bestand. In diesem Fall ist die Zahl aber noch tief angesetzt, weil die vielen, seit Mitte des 17. Jahrhunderts an den universitären Zentren Mitteldeutschlands entstandenen Gesellschaftsformen (collegia) nicht einmal einbezogen wurden.35 In welchem Maße dabei auch kleinere Städte in das Netz aufgeklärter Organisation eingebunden waren, lässt sich exemplarisch an der Oberlausitz aufzeigen, die weit über Görlitz – den Sitz einer 1779 begründeten, für Intellektuelle nicht nur des Sechsstädtebundes, sondern auch der benachbarten Territorien von Beginn an attraktiven Gelehrtenvereinigung36 – hinaus eine Vielzahl von Aufklärungsgesellschaften hervorgebracht hat.37 Er wisse nicht, „warum die Gelehrten hiesigen Landes in kein commercium literarium zusammen gebracht werden können“,38 schrieb Gottlob Friedrich Gude noch 1740 an Johann Christian Bartholomäi, der den Laubaner Pastor um Nachrichten aus der Oberlausitz für seine in Weimar erscheinenden Acta historico-ecclesiastica gebeten hatte. Nur wenig später aber schossen entsprechende Sozietäten förmlich aus dem Boden. Das Markgraftum bot offensichtlich die geeignete verfassungsrechtliche, politische und gesellschaftliche Struktur für den stets wichtigen Erfahrungsaustausch bei der Bildung und inhaltlichen Ausrichtung gelehrter Sozietäten. So berief sich die 1748 in Zittau gegründete „Lehrbegierige Gesellschaft“ ausdrücklich auf das Vorbild in Lauban, wo ein Jahr zuvor ein ähnlicher Zusammenschluss entstanden war.39 Nahezu ausschließlich handelte es sich bei diesen und weiteren Gründungen um freie Verbindungen, die nicht von landesfürstlicher Seite protegiert wurden. lef/Nowak, Kurt (Hg.): Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1650–1820), Tl. 1–3. Leipzig 2000–2002 (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse 76/2, 76/5, 76/6). 35 Döring, Detlef: Die mitteldeutschen gelehrten Kollegien des 17. und frühen 18. Jahrhunderts als Vorläufer und Vorbilder der wissenschaftlichen Akademien [2003]. In: ders.: Studien zur Wissenschafts- und Bildungsgeschichte in Deutschland um 1700. Gelehrte Sozietäten – Universitäten – Höfe und Schulen. Hg. v. Joachim Bahlcke und Mona Garloff. Wiesbaden 2015 ( Jabloniana. Quellen und Forschungen zur europäischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit 5), 19–42. 36 ����������������������������������������������������������������������������������������� Lemper, Ernst-Heinz: Die Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz. Geschichte und Leistungen 1779 bis 1945. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 36/37 (1995/96) 217–245. 37 Döring, Detlef: Gelehrte Sozietäten in der Oberlausitz vor der Gründung der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften (1779). In: Neues Lausitzisches Magazin N.F. 8 (2005) 61–93. 38 Zit. nach Wotschke, Theodor: Schlesische Mitarbeiter an den Acta historico-ecclesiastica. In: Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens 19 (1927) 53– 122, hier 69. 39 Döring: Gelehrte Sozietäten in der Oberlausitz, 76, 80f.
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Wie sahen die Verhältnisse nun im Oderland aus? Man erwartet zunächst deutliche Parallelen, zumal sich die Oberlausitz und Schlesien, was Bildung, Wissen und Erziehung generell betrifft, in der Frühen Neuzeit strukturell sehr ähnlich waren: Beide Territorien stellten markante Schullandschaften mit überregional ausstrahlenden Gymnasien dar, boten aber keine Möglichkeit zu höherer Bildung innerhalb der Landesgrenzen.40 Der Gesamtbefund – der an dieser Stelle bereits vorweggenommen werden soll – fällt gleichwohl unerwartet ernüchternd aus: In Nieder- wie in Oberschlesien spielten die in der westlichen Nachbarschaft so bedeutenden Aufklärungsgesellschaften während des 18. Jahrhunderts faktisch keine größere Rolle. Abgesehen von Breslau konnte sich kein anderer Ort durch eine entsprechende Vereinigung kulturell nachhaltig profilieren. Doch nicht einmal in der schlesischen Landeshauptstadt finden wir einen „lokalen Sozietätsraum“,41 wie er beispielsweise für Jena im Jahrhundert der Aufklärung charakteristisch war. Die Zahl der Mitgliedschaften in Schlesien ist in allen Städten überschaubar. Auch in zeitlicher Hinsicht fallen die im Oderland erst vergleichsweise spät ins Leben gerufenen Zusammenschlüsse nahezu vollständig aus dem Muster heraus, das wir in den mitteldeutschen Territorien beobachten können. Einige Beispiele müssen genügen, um diesen Gesamteindruck zu unterstreichen. Was zunächst eine methodische Grundfrage der Sozietätenforschung im Allgemeinen betrifft, so stoßen wir in Schlesien auf ähnliche Probleme wie andernorts. Was genau die „Societas Philadelphica“ in Oels oder das „Collegium poeticum“ in Hirschberg, die offenbar schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bestanden, unternahmen und bezweckten, entzieht sich weitgehend unserer Kenntnis.42 Besonders in den arkanen 40 Weber, Matthias: Strukturähnlichkeit und historische Parallelentwicklung. Aspekte der oberlausitzischen und der schlesischen Geschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit im Vergleich. In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Die Oberlausitz im frühneuzeitlichen Mitteleuropa. Beziehungen – Strukturen – Prozesse. Stuttgart 2007 (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 30), 92–108; Neugebauer, Wolfgang: Staatsverfassung und Bildungsverfassung. In: Becker, Hans-Jürgen (Hg.): Interdependenzen zwischen Verfassung und Kultur. Berlin 2003 (Der Staat. Beiheft 15), 91–125. Zur Frage einer zusammenhängenden oberlausitzisch-schlesischen Schul- und Bildungslandschaft der Frühen Neuzeit vgl. Bahlcke, Joachim: Das Görlitzer Gymnasium Augustum. Entwicklung, Struktur und regionale Ausstrahlung einer höheren Schule im konfessionellen Zeitalter. In: ders. (Hg.): Die Oberlausitz im frühneuzeitlichen Mitteleuropa, 289–310; Garber, Klaus: Forschungen zur schlesischen und lausitzischen Literatur der Frühen Neuzeit im Rahmen eines Projekts zur Erschließung von personalem Gelegenheitsschrifttum. In: Schmidt, Martin/Stüwe, Nicole (Hg.): Sammeln – Erforschen – Bewahren. Zur Geschichte und Kultur der Oberlausitz. Ernst-Heinz Lemper zum 75. Geburtstag. Hoyerswerda/Görlitz 1999, 380–393; Wollgast, Siegfried: Akademie und Geistesleben im 17. und 18. Jahrhundert in der Oberlausitz und in Schlesien – Memoria und Denkanstöße. In: Erbe und Auftrag. Beiträge der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz. Görlitz 1992 (Schriftenreihe des Ratsarchivs der Stadt Görlitz 16), 16–39. 41 Zaunstöck: Sozietätslandschaft und Mitgliederstrukturen, 16. 42 Rombowski, Aleksander: Nauka języka polskiego we Wrocławiu (koniec wieku XVI – połowa wieku XVIII). Wrocław 1960 (Monografie Śląskie Ossolineum 1), 221; Garber, Klaus: Das alte Breslau. Kulturgeschichte einer geistigen Metropole. Köln/Weimar/Wien 2014, 383.
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Randbereichen der Aufklärungsgesellschaften sind einzelne Zusammenschlüsse oftmals nicht rekonstruierbar. Von dem freimaurerischen, 1759 in Frankenstein gestifteten „Orden der redlichen Freundschaft“, der auch Frauen – als sogenannte moitiés, nicht als vollberechtigte Mitglieder – aufnahm, kennen wir zwar die Ordensstatuten und die schriftlich fixierten Abläufe des Aufnahmezeremoniells neuer Mitglieder; weitergehende Informationen über das konkrete Ordensleben oder über Logen in anderen Städten liegen jedoch nicht vor, sieht man von einzelnen Hinweisen zur Existenz einer Filiale in Landeshut ab.43 Ähnlich ergeht es uns bei der „Gesellschaft der sieben Weisen“ in Breslau, von der wir – und dies gilt auch für andere Zusammenschlüsse in der Landeshauptstadt – keine institutionelle Überlieferung besitzen, sondern nur durch gelegentliche Erwähnungen von Zeitgenossen wissen.44 Bei bestimmten Verbindungen ist zudem das eigentliche Tätigkeitsfeld nur schwer eruierbar. Dies gilt beispielsweise für die zahlreichen Leichen-, Grab- oder Beerdigungsgesellschaften, die ihre Kernaufgaben im städtischen Gesundheits- und Fürsorgewesen hatten, gleichzeitig aber auch gesellschaftliche und Bildungsfunktionen übernahmen und Bedeutung für Stadt und Land besaßen.45 Ebenfalls zu nennen wären in diesem Zusammenhang die wirtschaftlich motivierten Vereinigungen, etwa die einflussreiche Kaufmannssozietät in Hirschberg.46 Größere Verbreitung in der Fläche fanden lediglich Journal- oder Lesegesellschaften,47 die als kleinere Zirkel in den 1740er Jahren entstanden, in größerer Zahl jedoch erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Schlesien begründet wurden.48 Da speziell diese Ver-
43 Maennel, Rud[olf ]: Ueber den 1759 gestifteten Societäts-Orden der redlichen Freundschaft. In: Freimaurer-Zeitung. Handschrift für Brüder 43 (1889) 193–197; Der Orden der redlichen Freundschaft. In: Asträa. Taschenbuch für Freimaurer 15 (1850) 246–260. 44 Brenker: Aufklärung als Sachzwang, 71. 45 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Wendt, Heinrich: Die Anfänge des Breslauer Vereinswesens (bis 1808). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 37 (1903) 260–285, hier 265–267. Für das benachbarte Sachsen vgl. Keller, Katrin: Armut und Tod im alten Handwerk. Formen sozialer Sicherung im sächsischen Zunftwesen des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Johanek, Peter (Hg.): Städtisches Gesundheits- und Fürsorgewesen vor 1800. Köln/Weimar/Wien 2000 (Städteforschung A/50), 199–223. Für die Oberlausitz vgl. Döring: Gelehrte Sozietäten in der Oberlausitz, 64. 46 Göbel, Max: Die Hirschbergische Kaufmanns-Sozietät 1658–1933. Ein Ausschnitt aus der Wirtschaftsgeschichte des Hirschberger Tales. Dargestellt zur Feier des 275jährigen Bestehens der Sozietät. Hirschberg i. Rsgb. 1933 [ND Bodnegg 2007]; Cassel, Gertrud-Ottilie: Die Hirschberger Kaufmanns-Sozietät (von 1658–1740). Ein Beitrag zur Geschichte der Weberei im Riesengebirge im Rahmen der österreichischen Merkantilpolitik in Schlesien. Hirschberg i. Schl. 1918. 47 Zu ihrer Funktion und Ausrichtung vgl. Dann, Otto (Hg.): Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich. München 1981. Zum Forschungsstand vgl. ders.: Lesegesellschaften im 18. Jahrhundert. Ein Forschungsbericht. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14/2 (1989) 45–53. 48 Koppitz, Hans-Joachim: Das Buch- und Bibliothekswesen. In: Menzel, Josef Joachim (Hg.): Geschichte Schlesiens, Bd. 3: Preußisch-Schlesien 1740–1945, Österreichisch-Schlesien 1740–
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einigungen im Verdacht standen, politisch tätig zu sein und staatskritische Agitation zu betreiben, waren sie verstärkter Beobachtung durch die Behörden ausgesetzt. So hieß es im „Circulare wegen genauer Aufsicht auf die Entrepreneurs der Lesegesellschaften und besonders auf die darinnen circulirende Bücher“, das König Friedrich Wilhelm II. von Preußen am 13. September 1793 erlassen hatte und von Breslau an sämtliche Steuerräte in Schlesien schicken ließ: „Es ist bemerkt worden, daß Mitglieder von Lesegesellschaften sich erdreusten, in die circulirende Lesebücher die beissendsten Anmerkungen gegen verschiedene Stände an den Rand zu schreiben, und daß eine Menge unnützer Köpfe sich dieses Mittels bedienen, durch Ausfälle auf diesen oder jenen Stand im Staate Mißvergnügen und Erbitterung zu verbreiten. Um diesem Unfuge zu steuern, ist es nöthig, die in Lesegesellschaften circulirende Bücher einer strengern Aufsicht zu unterwerfen. Wir befehlen Euch daher, allen Inhabern von Leihbibliotheken und Entreprenneurs von Lesegesellschaften in den Städten Eures Departements durch die Magistrate andeuten zu lassen, alle ihre circulirende Lesebücher aufs genaueste nachzusehen und keine hineingeschriebene für irgend Jemanden beleidigende Anmerkungen in solchen zu dulden, und wenn sie beym Empfange eines Buches dergleichen finden, sofort nach dem Thäter zu forschen und ihn zur gebührenden Bestrafung, bey eigner Verantwortung, anzuzeigen, auch ihren Interessenten bekannt zu machen, daß die Gesetze auf dergleichen Schmähungen, nach der Größe derselben, verhältnißmäßig Zuchthaus- oder Festungsstrafe bestimmt haben.“49 Die Beobachtung der Lesegesellschaften durch die Obrigkeit trug dazu bei, dass wir über diese Gesellschaftsbildungen vergleichsweise gut informiert sind. Der Blick von oben verleitet allerdings dazu, ihre Gemeinsamkeiten überzubewerten. Bei näherem Hinschauen wird rasch deutlich, dass die jeweiligen Rahmenbedingungen vor Ort recht unterschiedlich sein konnten. So ging bei einer 1794 im Kreis Grünberg und Schwiebus ins Leben gerufenen Lesegesellschaft die Initiative von einzelnen Lehrern aus,50 bei einem vergleichbaren Kreis wenig später in Breslau dagegen von Predigern
1918/45. Stuttgart 1999, 477–489, 699–702, hier 485; Prüsener, Marlies: Lesegesellschaften im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Lesergeschichte. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 13 (1972), Sp. 369–594; Wendt: Die Anfänge des Breslauer Vereinswesens, 275. 49 Neue Sammlung aller in dem souverainen Herzogthum Schlesien und der demselben incorporirten Grafschaft Glatz in Finanz-, Polizey-Sachen etc. ergangenen und publicirten Verordnungen, Edicte, Mandate, Rescripte etc. welche währender Zeit der glorwürdigsten Regierung Friedrichs Wilhelms II. Königs von Preußen als souverainen Obersten Herzogs von Schlesien herausgekommen sind, Bd. 4: die Verordnungen von den Jahren 1791. bis 1793. enthaltend. Breslau 1801, No. CLI, 442. Zum politischen Hintergrund dieses Circulare vgl. Schück, C[arl] E[duard]: Weber-Unruhen in Schlesien, in und nach dem Jahre 1793, und die Maßregeln zu ihrer Beseitigung. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 10/1 (1870) 1–17. 50 Schwarzer, [Christian Gottlieb]: Nachricht von einer unter den Schullehrern des Grünberg und Schwiebussischen Kreises errichteten Lesegesellschaft. In: Schlesische Provinzialblätter 19 (1794) 520–532.
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und Priesteranwärtern;51 entsprechend unterschiedlich waren die engeren Zielsetzungen der Vereinigungen. Bei vielen, aber längst nicht bei allen Gründungen dieser Art stand die Verbesserung des „intellectuellen und moralischen Zustandes Schlesiens“52 im Vordergrund. Die Notwendigkeit ihrer Errichtung wurde meist damit begründet, „daß viele der gewöhnlichen Gesellschaften [...] nur auf den sinnlichen Genuß“53 ausgerichtet seien, in erster Linie also der Geselligkeit und Unterhaltung dienten. Die „Cirkel gebildeter, gelehrter Männer“, die in literarischen Vereinigungen zusammenkämen, sah man geradezu als Gegenstück zu den kritisierten, oft geradezu verächtlich beschriebenen „rauschenden Gesellschaften“.54 Bereits in seiner ersten Ausgabe im Jahr 1760 hatte das Breslauische Wochenblatt, ein regierungsnahes, der preußischen Aufklärung verhaftetes Blatt, das Überhandnehmen der „Kußgesellschaften“ in Schlesien beklagt.55 Für den Zusammenschluss einzelner Gesellschaftsbildungen gab es regional unterschiedliche Muster. In Mitteldeutschland erwies sich das Modell einer Gesellschaft mit Zweigvereinigungen an verschiedenen Orten als innovativ und stabilisierend für die gesamte Sozietätsbewegung. Im Oderland gelang dies nur bei der 1771 in Breslau gegründeten „Ökonomisch-patriotischen Sozietät“, die bis zu neun Tochtergesellschaften in den einzelnen Fürstentümern besaß. Diese bestanden letztlich aber nur wenige Jahre, lediglich die Sozietät in den Fürstentümern Schweidnitz und Jauer mit Sitz in Jauer blieb unter der ursprünglichen Bezeichnung bis 1897 aktiv.56 Es spricht für sich, dass 51 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Zastrau, C[arl] F[riedrich]: Nachricht von einer unter einigen Breslauischen Predigern und Candidaten errichteten theologischen Lesegesellschaft. In: Schlesische Provinzialblätter 20 (1794) 60–64. 52 Ebd., 60. Vgl. Brenker: Aufklärung als Sachzwang, 59. 53 Vangerow, [August Wilhelm Ludwig]: Nachricht von einer Feierlichkeit besonderer Art. In: Schlesische Provinzialblätter 38 (1803) 49–54, hier 49. 54 Frosch, [Friedrich Theodor]: Nachricht von der Stiftung einer Bibliothek bei den vereinigten Königl. und Stadtschulen zu Liegnitz. In: Schlesische Provinzialblätter 15 (1792) 341–343, hier 341. 55 Kaminsky, Friedrich: Beiträge zur Geschichte des oberschlesischen Buchbinderei-, Buchdruck-, Buchhandels-, Zeitungs- und Bibliothekswesens bis 1815. Breslau/Oppeln 1927, 95f.; Eberlein, Hellmut: Schlesische Kirchengeschichte. Ulm/Donau 41962 (Das Evangelische Schlesien 1), 120; Lubos, Arno: Geschichte der Literatur Schlesiens, Bd. 1/1: Von den Anfängen bis ca. 1800. Würzburg 1995, 279f., 396. Zur Ausrichtung des Blattes vgl. Jessen, Hans: Die Anfänge des Zeitschriftenwesens in Schlesien. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 18 (1973) 33–55, hier 44. 56 Kahlert, August: Die patriotische Gesellschaft in Schlesien. (1772–1791.). In: Uebersicht der Arbeiten und Veränderungen der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur im Jahre 1848. Breslau 1849, 219–228; Gerber, Michael Rüdiger: Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur (1803–1945). Sigmaringen 1988 (Beihefte zum Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 9), 5–7; Brenker: Aufklärung als Sachzwang, 47–49; Wendt: Die Anfänge des Breslauer Vereinswesens, 273f.; Garber: Das alte Breslau, 396–399, 557f. Zur generellen Bedeutung dieser Gesellschaftsbildungen vgl. Rübberdt, Rudolf: Die Ökonomischen Sozietäten. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte des XVIII. Jahrhunderts. Würzburg 1934; Reimann, Alfred: Die Organe der landwirtschaftlichen Verwaltung, die landwirtschaftli-
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Abb. 1: In den Oekonomische[n] Nachrichten der Patriotischen Gesellschaft in Schlesien, die in der Zeit von 1773 bis 1784 wöchentlich in Breslau erschienen, wurden vor allem naturwissenschaftlichtechnische und landwirtschaftliche Beiträge abgedruckt. Bildnachweis: Projektberereich Schlesische Geschichte an der Universität Stuttgart.
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es sich bei dieser Ökonomischen Gesellschaft – der ersten und für lange Zeit einzigen in Preußen übrigens57 – um die bedeutendste Aufklärungsgesellschaft in Schlesien während des 18. Jahrhunderts überhaupt handelte. Die Initiative hierzu war 1763 vom preußischen König ausgegangen, dem vorrangig an der wirtschaftlichen Erholung seiner neuen, von mehreren Kriegen schwer getroffenen Provinz gelegen war. In dem Circulare Friedrichs II. an sämtliche Landräte in Schlesien vom 21. Oktober 1763 wurde die Zielsetzung der geplanten Sozietät klar und verständlich umrissen: Im Vordergrund standen die „Wiederemporbringung der Wirthschaften“, die Konzentration auf die praktischen Wissenschaften und der Erfahrungsaustausch „zum gemeinen Nuzen“ des Landes und seiner Menschen.58 Neben der ökonomischen und der merkantilistischen Klasse gab es zwar auch eine dritte, eine philosophische Klasse; ein Blick in das Sozietätsblatt, die von 1773 bis 1784 in Breslau wöchentlich erscheinenden Oekonomische[n] Nachrichten der Patriotischen Gesellschaft in Schlesien (Abb. 1), lässt jedoch rasch erkennen, dass neben den naturwissenschaftlichtechnischen und landwirtschaftlichen Beiträgen wenig Raum für andere Themen blieb. So bedeutsam die periodische Schrift für die Entwicklung des Pressewesens und die Durchsetzung der Ideen der Aufklärung in bestimmten Segmenten auch zweifelsohne war59 – für Debatten des geistigen und kulturellen Lebens im breiteren Sinn bot sie kein geeignetes Forum. Die quasi staatliche Institution erlosch 1791, nach nicht einmal drei Jahrzehnten ihres Bestehens, ganz. Die 1803 gegründete und inhaltlich an die Sozietät anschließende „Gesellschaft zur Beförderung der Naturkunde und Industrie in Schlesien“ war dann bereits ein Verein im modernen Verständnis.60 Breslau, der Hauptsitz der „Ökonomisch-patriotischen Sozietät“, war die einzige Stadt in Schlesien, die im 18. Jahrhundert alle Typen aufgeklärter Sozietäten hervorbrachte (Abb. 2). Den Anfang hatte 1720 das „Collegium erudito-philadelphicum“ gemacht, das erstaunlich lange bestand und erst 1754 seine Tätigkeit einstellte. Von diesem Zusammenschluss sind mehrere Drucke überliefert, beispielsweise die unter dem Titel Vollständige Einrichtung Des Collegii Erudito-Philadelphici Silesiaci vorgelegte Satzung61 sowie diverse Mitgliederlisten. Diese lassen erkennen, dass der Gesellschaft
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chen Vereine und Körperschaften Preussens, in ihrer historischen Entwicklung und ihren Beziehungen zur Entwickelung der Landwirtschaft. Ein Beitrag zur Geschichte der Landwirtschaft. Merseburg 1901. Meitzen, August: Der Boden und die landwirthschaftlichen Verhältnisse des Preussischen Staates, Bd. 3. Berlin 1871, 470, 560. Rübberdt: Die Ökonomischen Sozietäten, 80f., 92–95. Doering-Manteuffel, Sabine/Mančal, Josef/Wüst, Wolfgang (Hg.): Pressewesen der Aufklärung. Periodische Schriften im Alten Reich. Berlin 2001 (Colloquia Augustana 15). Die 1809 beschlossene Namensänderung in „Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur“ erfolgte in der Absicht, die bisherigen Tätigkeitsbereiche – Naturkunde und Industrie – prinzipiell auf alle Wissensgebiete auszudehnen. Vgl. Gerber: Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur, 7–11. Vollständige Einrichtung Des Collegii Erudito-Philadelphici Silesiaci, Welches Mit Christi Jesu Hülffe Von guten Freunden, Vornehmlich Wittwen und Waysen, So von Literatis nachgelassen
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Abb. 2: Breslau war die einzige Stadt in Schlesien, die während des 18. Jahrhunderts alle Typen aufgeklärter Sozietäten hervorbrachte. Die Radierung von Friedrich Bernhard Werner zeigt den Neumarkt, einen der zentralen städtischen Plätze für Austausch, Handel und Geselligkeit, in den 1730er Jahren. Bildnachweis: Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der LeibnizGemeinschaft Marburg an der Lahn, Bildarchiv, Sign. P 516.
nicht nur namhafte Breslauer Gelehrte wie Gottlob Krantz, Johann Caspar Arletius oder Christian Ezechiel angehörten, sondern auch Juristen, Mediziner, Theologen und Lehrer aus anderen Teilen Schlesiens, der Lausitzen und Großpolens.62 Später kamen verschiedene Lesegesellschaften, Freimaurerlogen und musikalische Zirkel hinzu, ferner zwei jüdische Aufklärungsgesellschaften, die „Liebe und Bruderschaft“ von 1780 (später „Gesellschaft der Brüder“) und die „Zweite Brudergesellschaft“ von 1793, die sich beide für Bildungsbelange innerhalb der jüdischen Gemeinde einsetzten.63 Über worden, Zum Trost und Besten, Zu Anfang des 1720. Jahres, in Nieder-Schlesien fundiret ist, Und in der Stadt Breßlau, Unter der Direction gewisser Membrorum Essentialium, als Praefectorum des Collegii, Ordentlich und aufrichtig gehalten wird. [Breslau 1720]. 62 Matwijowski, Krystyn: Uroczystości, obchody i widowiska w barokowym Wrocławiu. Wrocław u.a. 1969 (Monografie Śląskie Ossolineum 18), 168–171; Rombowski: Nauka języka polskiego we Wrocławiu, 221; Wendt, H[einrich]: Die wissenschaftlichen Vereine Breslaus. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 38 (1904) 71–109, hier 73f.; ders.: Die Anfänge des Breslauer Vereinswesens, 263f. 63 Herzig, Arno: Die Juden Breslaus im 18. Jahrhundert. In: Hettling, Manfred/Reinke, Andreas/ Conrads, Norbert (Hg.): In Breslau zu Hause? Juden in einer mitteleuropäischen Metropole der
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einen längeren Zeitraum hielt sich allein die Mitte der 1760er Jahre entstandene „Ressource“, eine die städtische Gesellschaft prägende, vergleichsweise mitgliederstarke Vereinigung, die im Laufe des 19. Jahrhunderts immer stärker in politisches Fahrwasser geraten sollte.64 Im gelehrt-wissenschaftlichen Umfeld besaßen die von Karl Konrad Streit seit den 1770er Jahren gegründeten Kreise, die in ihrer Gesamtheit Ziele gemeinnütziger Forschung und Aufklärung verfolgten, vermutlich das größte Gewicht.65
III. In Breslau wie an anderen Orten Schlesiens zeigt sich deutlich, dass aufgeklärte Gesellschaften, verglichen mit den Verhältnissen in anderen mitteleuropäischen Regionen, erst mit spürbarer Verspätung entstanden. Sucht man nach Ursachen für diese retardierte Selbstorganisation des aufgeklärten Bürgertums und des Adels, so wird man den Herrschaftswechsel von 1740/41, einen partiellen Elitenwechsel und die gesellschaftlichen Folgen der anschließenden Kriege in Rechnung stellen müssen. Dass die Aufklärung im Oderland generell später Fuß fasste als andernorts, hing freilich auch mit den öffentlichen Verhältnissen in österreichischer Zeit zusammen. Während der habsburgischen Oberherrschaft gab es für einen freien geistigen Austausch, Wissenstransfer und Ideenwettbewerb vielfältige Restriktionen. Inländische Publikationen unterlagen strenger Zensur, die Einfuhr auswärtiger Titel und Zeitungen war mit schwerer Geldstrafe bedroht, Buchläden wurden regelmäßig kontrolliert. Für öffentliche Schriftenverbrennungen, „Bücherhinrichtungen“ und die Verfolgung unliebsamer Autoren, Verleger und Buchhändler bietet die Habsburgermonarchie noch im 18. Jahrhundert reichhaltiges Anschauungsmaterial. So sollten beanstandete Schriften, wie es in der Neuzeit. Hamburg 2003 (Studien zur jüdischen Geschichte 9), 46–62, 201–206, hier 57; Wendt: Die Anfänge des Breslauer Vereinswesens, 268f. 64 Geschichte der Ressource von ihrer Entstehung im Jahre 1765 bis zum Jahre 1804. Breslau 1804; Stein, Julius: Geschichte der Stadt Breslau im neunzehnten Jahrhundert. Breslau 1884, 213f.; Herzog, Rudolph: Die schlesischen Musenalmanache von 1773–1828. Breslau 1912 (Breslauer Beiträge zur Literaturgeschichte 23), 26f.; Berndl, Klaus: Ernst Ferdinand Klein (1743–1810). Ein Zeitbild aus der zweiten Hälfte des Achtzehnten Jahrhunderts. Münster 2004, 77f.; Brenker: Aufklärung als Sachzwang, 50f., 59–64. 65 Herden, Elżbieta: Instytuty czytelnicze Karla Konrada Streita w życiu umysłowym Wrocławia końca XVIII i początku XIX wieku. In: Hałub, Marek/Mańko-Matysiak, Anna (Hg.): Śląska republika uczonych – Schlesische Gelehrtenrepublik – Slezská vědecká obec, Bd. 3. Wrocław 2008, 337–359; Skotnicka, Alicja: Rozwój czytelni i wypożyczalni wrocławskich od schyłku XVIII w. do 1848 r. In: Roczniki Biblioteczne 7/1–2 (1963) 57–89; Głombiowski, Karol: Fragment z dziejów upowszechniania książki we Wrocławiu na przełomie XVIII i XIX wieku (K. K. Streit). In: Roczniki Biblioteczne 6/3–4 (1962) 103–115; Brenker: Aufklärung als Sachzwang, 57–59; Garber: Das alte Breslau, 386–390, 555f.; Gerber, Michael Rüdiger: Die Schlesischen Provinzialblätter 1785–1849. Sigmaringen 1995 (Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte 27), 73–77.
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„Neüe[n] Peinliche[n] Hals-Gerichts-Ordnung/ vor das Königreich Böhaimb/ Marggrafthumb Mähren/ und Herzogthumb Schlesien“ Kaiser Josephs I. von 1707 hieß, öffentlich am Pranger oder an „Schmach-Säulen“ durch den Scharfrichter verbrannt werden.66 Für das Wirken der „österreichische[n] Bücherpolizei“ – ein Begriff, den der aus Prag gebürtige österreichische Publizist und Politiker Adolph Wiesner 1847 mit Blick auf die Zensurmaßnahmen seiner Zeit prägte67 – bietet namentlich das bikonfessionelle Schlesien in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Fülle von unrühmlichen Beispielen.68 Das Misstrauen der Wiener Regierung galt selbst loyalen Parteigängern des Hofes wie dem Breslauer Gelehrten Friedrich Wilhelm von Sommersberg, der 1730 in einem zweiten Band seiner Scriptores rerum Silesiacarum die von Nikolaus Henel von Hennenfeld hinterlassenen „Annales Silesiae“ nur veröffentlichen konnte, nachdem die Zensur zahlreiche Passagen – besonders solche zur Kirchen- und Religionsgeschichte – vollständig eliminiert hatte.69 Es spricht für den Zäsurcharakter der Jahre 1740/41, dass sich Sommersberg nach der politischen Wende mit dem Gedanken trug, eine zweite,
66 Rafetseder, Hermann: Bücherverbrennungen. Die öffentliche Hinrichtung von Schriften im historischen Wandel. Wien/Köln/Graz 1988 (Kulturstudien. Bibliothek der Kulturgeschichte 12), 187. Eine prägnante Zusammenfassung bietet ders.: Buchhinrichtungen. Öffentliche Schriftenverbrennungen durch Henkershand als Extremfälle der Zensur. In: Göpfert, Herbert G./Weyrauch, Erdmann (Hg.): „Unmoralisch an sich ...“. Zensur im 18. und 19. Jahrhundert. Wiesbaden 1988 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens 13), 89–103. Weitere Beispiele bei Schlecht, Anke: Die Ikonographie wahrer Lehrmeinungen. Himmlische Verdammnis häretischer Schriften in Klosterfresken des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch für Europäische Ethnologie 3/1 (2006) 150–175. 67 Wiesner, Adolph: Denkwürdigkeiten der Oesterreichischen Zensur vom Zeitalter der Reformazion bis auf die Gegenwart. Stuttgart 1847, 378. 68 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Kirchhoff, Albrecht: Der Neisser Markt und die Breslauer Buchhändler. In: Archiv für Geschichte des Deutschen Buchhandels 5 (1880) 146–155; ders.: Beiträge zur Geschichte der österreichischen Bücherpolizei. In: Archiv für Geschichte des Deutschen Buchhandels 8 (1883) 303– 309; Wögerbauer, Michael/Pokorný, Jiří: Barocke Buchkultur in den böhmischen Ländern. In: Gastgeber, Christian/Klecker, Elisabeth (Hg.): Geschichte der Buchkultur, Bd. 7: Barock. Graz 2015, 383–426. Zum geistes-, kultur- und kirchengeschichtlichen Kontext vgl. Frimmel, Johannes/Wögerbauer, Michael (Hg.): Kommunikation und Information im 18. Jahrhundert. Das Beispiel der Habsburgermonarchie. Wiesbaden 2009 (Buchforschung. Beiträge zum Buchwesen in Österreich 5); Leeb, Rudolf/Scheutz, Martin/Weikl, Dietmar (Hg.): Geheimprotestantismus und evangelische Kirchen in der Habsburgermonarchie und im Erzstift Salzburg (17./18. Jahrhundert). Wien/München 2009 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 51). 69 Klawitter, Willy: Geschichte der Zensur in Schlesien. Breslau 1934 (Deutschkundliche Arbeiten B/2), 35, 55; Markgraf, Hermann: Nikolaus Henel’s von Hennenfeld (1582–1656) Leben und Schriften. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 25 (1891) 1–41; Mrozowicz, Wojciech: Handschriften von und über Nikolaus Henel von Hennenfeld in der Universitätsbibliothek Breslau. In: Kosellek, Gerhard (Hg.): Die oberschlesische Literaturlandschaft im 17. Jahrhundert. Bielefeld 2001 (Tagungsreihe der Stiftung Haus Oberschlesien 11), 269–315.
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dem ursprünglichen Wortlaut folgende Auflage herauszubringen, und zwar „[s]elon la lumière présente“,70 wie er schrieb, entsprechend der mit der preußischen Herrschaft gekommenen Aufklärung also. Vergleichbare Stimmen finden sich bei vielen Zeitgenossen. So erschien im November 1786, wenige Monate nach dem Tod Friedrichs II., in den Schlesische[n] Provinzialblätter[n] ein umfangreicher Artikel „Ueber den Einfluß der Preußischen Regierung auf Schlesien“, in dem der anonyme Verfasser zwei Strukturmerkmale besonders hervorhob, die sich für Schlesien durch den Herrschaftswechsel geändert hätten: dass „aus einer Provinz, die Catholicismus beherrschte, eine, worin die protestantische Religion die Oberhand hat, geworden“ sei und dass – sachlich eng damit verbunden – das nach Süden ausgerichtete Land nun als „Provinz des aufgeklärteren nördlichen Deutschlandes“ gelten dürfe.71 Von der allgemeinen Belebung des geistig-kulturellen Lebens in Schlesien seit den 1740er Jahren profitierte die Geschichtspflege ganz unmittelbar, auch wenn auf diesem Gebiet zuvor nicht, wie es borussische Historiker wie Colmar Grünhagen formulierten, „eine ganz unglaubliche Sterilität“ geherrscht hatte.72 Erkennbar wird dies an der steigenden Buchproduktion bei Korn in Breslau, an Verlagsneugründungen auch in anderen Landesteilen, Bücherauktionen, der Einrichtung neuer Lesezirkel und für die Aufklärung typischen Zeitschriftenprojekten.73 1751 etwa rief der Breslauer Schulmann 70 Zit. nach Grünhagen, Colmar: Friedrich der Große und die Breslauer in den Jahren 1740 und 1741. Breslau 1864, 11. Einzelheiten hierzu bei Markgraf, Hermann: Die Entwickelung der schlesischen Geschichtschreibung [1888]. In: ders.: Kleine Schriften zur Geschichte Schlesiens und Breslaus. Breslau 1915 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek zu Breslau 12), 1–29, hier 10f., 16; Kessler, Wolfgang: Nikolaus Henel als Historiograph. In: Kosellek, Gerhard (Hg.): Oberschlesische Dichter und Gelehrte vom Humanismus bis zum Barock. Bielefeld 2000 (Tagungsreihe der Stiftung Haus Oberschlesien 8), 205–219, hier 215–217. 71 �������������������������������������������������������������������������������������������� W[erdermann], C[arl]: Ueber den Einfluß der Preußischen Regierung auf Schlesien. In: Schlesische Provinzialblätter 4 (1786) 427–444, hier 443. Der Verfasser des nur mit Initialen gekennzeichneten Beitrag s, der als Jurist und Hauslehrer tätig war, wirkte später von 1788 bis 1814 als Professor an der Ritterakademie Liegnitz. Vgl. Gerber: Die Schlesischen Provinzialblätter, 277, 347. 72 Grünhagen: Friedrich der Große und die Breslauer, 12; ebd., 11–13, weitere aussagekräftige Beispiele und Wertungen. In diese scharf gezeichnete Gegenüberstellung zweier Regierungsstile passt die Aussage Hermann Markgrafs, der „junge Preußenkönig“, Friedrich II., habe nach seinem Einmarsch in Schlesien „neues Leben in den erstorbenen Körper“ gebracht. Markgraf: Die Entwickelung der schlesischen Geschichtschreibung, 18. 73 Plachta, Bodo: Zensur in Schlesien. In: Garber, Klaus (Hg.): Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit, Bd. 1. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext 111), 521–535; Kotyńska, Edyta: Czasopismo „Bunzlauische Monathschrift zum Nutzen und Vergnügen“ (1774–1806, 1811–1813, 1816– 1818). In: Hałub, Marek/Mańko-Matysiak, Anna (Hg.): Śląska republika uczonych – Schlesische Gelehrtenrepublik – Slezská vědecká obec, Bd. 1. Wrocław 2004, 439–460; ŻbikowskaMigoń, Anna: Drukarstwo i ruch wydawniczy w Bolesławcu w okresie Oświecenia (1750–1820). In: Roczniki Biblioteczne 34/1–2 (1990) 63–99; Koziełek, Gerard: Der Verlag W. G. Korn – Mittler zwischen Ost und West. In: Göpfert, Herbert G./Koziełek, Gerard/Wittmann, Rein-
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und Historiker Samuel Benjamin Klose die Zeitung Schlesische zuverlaeßige Nachrichten Von gelehrten Sachen ins Leben, ein in der Landeshauptstadt bei Korn verlegtes Blatt, das sich zwar vorrangig der „gemein-nützlichen Verbesserung der Landwirthschaft in Schlesien“ widmete und ökonomische Neuigkeiten der „Herren Landphysici“ verbreitete, gleichzeitig aber auch Beiträge zur Rechts-, Sozial- und Kirchengeschichte versammelte.74 Leitbild und Richtmaß war auch in diesem Fall, wie sich bis hin zur Rekrutierung von Mitarbeitern nachweisen lässt, der Zeitungsmarkt in Leipzig. Im Folgenden soll vor allem interessieren, ob von den Aufklärungsgesellschaften neue Impulse für die Geschichtspflege und Geschichtsschreibung ausgingen, die sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts von der älteren humanistisch-rhetorischen Lehrtradition ablöste, verfachlichte, autonomisierte und verwissenschaftlichte.75 Die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, die kleinere Sozietäten neben den größeren Akademien besaßen, ist nicht unumstritten: Die Leistungsfähigkeit der lediglich im lokalen Umfeld wirkenden Gesellschaftsbildungen wird, wie Detlef Döring wiederholt kritisierte, von der vorrangig auf London, Paris, Berlin und auf andere Zentralorte ausgerichteten Forschung „weitgehend übersehen“.76 In der Regel verfolgten diese Sozietäten eine universalistische, auf Gemeinwohl und Gemeinnützigkeit ausgerichtete Konzeption, die sich erst bei den späteren Vereinen zu einer spezifischen Fachausrichtung verengte und zuspitzte. Gleichwohl gab es auch vor 1800 bereits Vereinigungen, die gezielt auf eine kritische Arbeit an der Vergangenheit ausgerichtet waren. Ein erneuter Blick über die Landesgrenzen Schlesiens hinaus liefert hierzu aufschlussreiche Vergleichsfälle. In Sachsen wurden bereits 1712 und 1715 mit dem „Collegium Heraldicum“ und dem „Collegium Historiae literariae“ zwei Gelehrte Gesellschaften begründet, die sich
hard (Hg.): Buch- und Verlagswesen im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der Kommunikation in Mittel- und Osteuropa. Berlin 1977 (Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa 4), 174–200. 74 Zu Leben und Werk Kloses vgl. Harc, Lucyna: Samuel Beniamin Klose (1730–1798). Studium historiograficzno-źródłoznawcze. Wrocław 2002 (Acta Universitatis Wratislaviensis 2389; Historia 157); Wagner, Friedrich: Der Kulturteil der Breslauer Zeitungen von der Aufklärung bis zum Vormärz. Gesellschaft und Kunstleben der schlesischen Hauptstadt im Spiegel der Tagespresse. Würzburg 1938; Jessen: Die Anfänge des Zeitschriftenwesens in Schlesien, 39–41. 75 ��������������������������������������������������������������������������������������� Muhlack, Ulrich: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München 1991; Hammer, Karl/Voss, Jürgen (Hg.): Historische Forschung im 18. Jahrhundert. Organisation, Zielsetzung, Ergebnisse. Bonn 1976 (Pariser historische Studien 13). Speziell zur Situation in Schlesien vgl. Kersken, Norbert: Historiographiegeschichte. In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Historische Schlesienforschung. Methoden, Themen und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kulturwissenschaft. Köln/Weimar/Wien 2005 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 11), 93– 124; Menzel, Josef Joachim: Die Anfänge der kritischen Geschichtsforschung in Schlesien zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Festschrift Ludwig Petry, Tl. 2. Wiesbaden 1969 (Veröffentlichungen des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz 5/2), 245–267. 76 Döring: Gelehrte Sozietäten in der Oberlausitz, 64 Anm. 19.
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vorwiegend geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen zuwandten.77 Auch bei anderen Vereinigungen wird deutlich, dass sie einen geeigneten institutionellen Rahmen für den gelehrten Austausch speziell für historische Belange bildeten. Einer Universität bedurfte es für einen solchen aufklärerischen Wissenschaftsdiskurs nicht zwingend. Schon im ersten Heft der Zeitschrift Ober-Lausitzscher Beytrag Zur Gelahrtheit Und Deren Historie, die eine 1738 in Görlitz gegründete Aufklärungsgesellschaft herausgab, war zu lesen, dass man vor allem Aufsätze „zu den Ober-Lausitzischen Verfassungen, Rechten und Geschichten“ veröffentlichen werde.78 Und in den Statuten der Laubaner Sozietät von 1747 hieß es ausdrücklich: Die Mitglieder lassen sich „besonders die Sächsische, Lausizische, und Laubanische Geschichte, und deren beßer Bearbeitung und Aufklarung angelegen seyn“.79 Eine Vielzahl von Quelleneditionen und Darstellungen des 18. Jahrhunderts zur Geschichte des Markgraftums verdankte sich den Anregungen dieser außeruniversitären Gelehrtenvereinigungen.80 Erneut zeigt sich in Schlesien ein völlig anderes Bild, was angesichts der geringen Zahl von entsprechenden Aufklärungsgesellschaften nun allerdings nicht mehr weiter überraschen wird. Keinen einzigen Impuls, der von solchen Sozietäten ausgegangen wäre, vermochte Hermann Markgraf in seinen historiographiegeschichtlichen Arbeiten Ende des 19. Jahrhunderts zu entdecken. Den „Weg zur gründlichen wissenschaftlichen Erforschung der schlesischen Geschichte“81 sah er bezeichnenderweise erst eingeschlagen, nachdem Johann Gustav Gottlieb Büsching im November 1818 den Aufruf zur Bildung eines „Vereins für Kunst, Altertümer und Geschichte Schlesiens“ erlassen hatte.82 Dieses Urteil erklärt sich freilich nicht zuletzt durch die politisch-ideologische 77 Henkel, Ricarda: Die Gesellschaft der freyen Künste zu Leipzig. Eine „Gottschedsche“ Sozietät als Beispiel des aufklärerischen Wissenschaftsdiskurses. Stuttgart 2014 (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 38), 46f. In breiterem Kontext vgl. Huttner, Markus: Geschichte als akademische Disziplin. Historische Studien und historisches Studium an der Universität Leipzig vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Hg. v. Ulrich von Hehl. Leipzig 2007 (Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte A/5). 78 Ober-Lausitzscher Beytrag Zur Gelahrtheit Und Deren Historie, Bd. 1. Leipzig/Görlitz 1738, Sp. 7. Zur Frage, ob und inwieweit diese Zielsetzung umgesetzt werden konnte, vgl. Hortzschansky, Johann: Von den öffentlichen Bibliotheken in der Oberlausitz. In: Lausizische Monatsschrift 1/6 (1799) 329–360, 2/7 (1799) 396–426, hier 351–354. 79 Zit. nach Döring: Gelehrte Sozietäten in der Oberlausitz, 87 Anm. 114. 80 Bahlcke, Joachim: Entwicklungsphasen und Probleme der oberlausitzischen Historiographie. Vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart [2002/03]. In: ders.: Erinnerungskonkurrenz. Geschichtsschreibung in den böhmischen Ländern vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 2015 (Forschungen zu Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 3), 155– 199, hier 159–178. 81 Markgraf: Die Entwickelung der schlesischen Geschichtschreibung, 23. 82 Büsching, [ Johann Gustav Gottlieb]: Aufforderung zur Unterstützung der Herausgabe einer Sammlung Altschlesischer Denkmahle der Geschichte und Kunst. In: Schlesische Provinzialblätter 68 (1818) 411–416. Zur Resonanz des Aufrufs vgl. exemplarisch Büchler, L[ambert]: Anzeige des, von dem Professor Büsching in Breßlau gestifteten, Schlesischen Vereins zur Unterstüt-
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Verortung des Breslauer Bibliothekars und Historikers:83 Für Markgraf war die moderne Wissenschaft die nationale Wissenschaft, alles Vornationale – und damit auch die Ausrichtung und Denkweise der ständischen Gesellschaft mit ihrem spezifischen, weitgehend territorial definierten Landespatriotismus – war für ihn nur Ausdruck provinzieller Enge und rückständiger Traditionspflege. Für ihn war es, wie er 1888 schrieb, „bezeichnend, daß die erste lesbare Geschichte Schlesiens, die auch heute noch nicht des Interesses entbehrt, von einem nicht in Schlesien Geborenen, sondern von einem hierher versetzten höheren preußischen Beamten verfaßt ist“ – gemeint war das zweibändige Werk des Breslauer Kriegs- und Domänenrats Karl Ludwig von Klöber, das 1785 im Druck erschienen war.84 Im Oderland, schrieb Markgraf in der Festschrift zum fünfzigjährigen Bestehen des „Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens“ im Jahr 1896, „wurzeln die Anfänge der modernen, nationalen Geschichts- und Alterthumsforschung, die im Beginn des Jahrhunderts anhebt, in der Romantik. [...] Zu dem wissenschaftlichen Interesse an der Landesgeschichte gesellte sich so ein nationales, das das erstere ungemein verstärkte und vertiefte und es dazu kräftigte, die ganze Erforschung der Vergangenheit auf unendlich weiterer, fast unübersehbarer Grundlage neu zu unternehmen. [...] Gelehrte Gesellschaften, Akademien gab es ja bereits, in Italien schon seit mehreren Jahrhunderten; aber sie waren Schöpfungen der Fürsten, Zubehöre der Hofhaltungen, und richteten sich in der Regel auf die Pflege der klassischen Studien und der exacten Wissenschaften; der Bearbeitung der Landesgeschichte dürfte kaum eine unter ihnen ihre besondere Aufmerksamkeit oder Unterstützung zugewandt haben. Daher mussten sich Bestrebungen, die sich auf diese bezogen, ihre eigene Organisation schaffen, und das um so mehr, als sie sich von vornherein nicht auf einen exclusiven Kreis von Gelehrten
zung der Herausgabe einer Sammlung altdeutscher Denkmale der Geschichte und Kunst. In: ders./Dümge, Carl Georg (Hg.): Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtkunde zur Beförderung einer Gesammtausgabe der Quellenschriften deutscher Geschichten des Mittelalters, Bd. 1. Frankfurt a.M. 1820, 161–168. Zur Erläuterung dieser Initiative vgl. Hałub, Marek: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829. Ein Beitrag zur Begründung der schlesischen Kulturgeschichte. Wrocław 1997 (Acta Universitatis Wratislaviensis 1978), 71–73, 90. 83 Als eine „borussisch-apologetische“ Gesamtübersicht über die Entwicklung der schlesischen Geschichtsschreibung bewertet Kessler, Wolfgang: Neue Gesamtdarstellungen der Geschichte Schlesiens. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 52 (2003) 230–250, hier 230 Anm. 2, den zitierten Aufsatz von Markgraf aus dem Jahr 1888. Über die „von Colmar Grünhagen maßgeblich begründete borussische Geschichtsinterpretation der schlesischen Geschichte“, die sich auch Markgraf zu eigen machte, vgl. Weber, Matthias: „Ausbeutung der Vergangenheit“. Zur historiographischen Bearbeitung der Stellung Schlesiens zwischen dem Heiligen Römischen Reich und den Königreichen Polen und Böhmen. In: Willoweit, Dietmar/Lemberg, Hans (Hg.): Reiche und Territorien in Ostmitteleuropa. Historische Beziehungen und politische Herrschaftslegitimation. München 2006 (Völker, Staaten und Kulturen in Ostmitteleuropa 2), 13–33 (Zitat 20). 84 [Klöber, Karl Ludwig von]: Von Schlesien. Vor und seit dem Jar MDCCXXXX, Bd. 1–2. Freiburg 1785.
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beschränken, sondern sich an möglichst weite Kreise des Volkes wenden wollten.“85 Mit anderen Worten: Die eigentliche Pionierleistung, Geschichtspflege betrieben und organisiert zu haben, hätten die Geschichts- und Altertumsvereine des 19. Jahrhunderts erbracht – ältere Vorformen solcher Zusammenschlüsse dagegen könnten, was genuine Vergangenheitsarbeit betrifft, in ihrer Gesamtheit faktisch ignoriert werden. Ein derart kategorisches Urteil bedarf allerdings der Korrektur, auch wenn es dafür nahezu keinerlei Vorarbeiten gibt. Gab es auch in Schlesien keine Gelehrten Gesellschaften, die sich vorrangig und über einen längeren Zeitraum der Geschichtspflege verschrieben, so standen doch mehrere typische Aufklärungsprojekte, die auf eine Belebung und Förderung der historischen Wissenschaften abzielten, mit jenen Kreisen unzweifelhaft in Verbindung. Die erste landesgeschichtliche Zeitschrift in Schlesien überhaupt (Miscellanea Literaria De Quibusdam Historiae Silesiacae Scriptoribus, ac ineditis eorum Operibus), die in den Jahren 1712 bis 1717 erschien, wurde von Christian Runge herausgegeben, Rektor des Magdalenengymnasiums in Breslau und Mitglied des dortigen „Collegium erudito-philadelphicum“. 1733 unternahm Runge einen weiteren Anlauf, die Gelehrtenzeitschrift unter dem Titel Analecta Silesiaca Oder Zufällige Anmerckungen Zu Erläuterung der Historie Des Hertzogthums Schlesien, Und Angräntzender Länder wiederzubeleben.86 Mit Gottsched in Leipzig stand Runge brieflich in Kontakt.87 Dieser sei ein Mann, „der in Kentnis der Schles. Historie seines gleichen nicht hat“,88 teilte der Brieger Gymnasialprofessor Johann Christian Schindel dem Leipziger Gelehrten am 28. Oktober 1732 mit. Auch bei der Zeitschrift Gelehrte Neuigkeiten Schlesiens, die der in Schweidnitz wirkende Theologe Gottlieb Balthasar Scharff 1734 begründete, sind die Nähe und Vertrautheit des Herausgebers zur „Deutschen Gesellschaft“ Gottscheds in Leipzig un-
85 Markgraf, Hermann: Der Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens in den ersten 50 Jahren seines Bestehens. Breslau 1896, 4f. 86 Jessen: Die Anfänge des Zeitschriftenwesens in Schlesien, 35. Historiker haben sich mit Runge bis heute nicht näher beschäftigt. Die treffendsten Urteile über ihn stammen bezeichnenderweise von Personen, die sich dem Breslauer Gelehrten aus literaturwissenschaftlichem Interesse näherten. „Er war ein in der vaterländ. Geschichte sehr bewanderter Mann“, so Thomas, Johann George: Handbuch der Literaturgeschichte von Schlesien. Hirschberg 1824, 329, „ein große[r] Historiker und Buchkundler“, so Garber: Das alte Buch, 218. Vgl. ders.: Das alte Buch im alten Europa. Auf Spurensuche in den Schatzhäusern des alten Kontinents. München 2006, 355f., 413. Einzelheiten zu Runges Tätigkeit und seinem Werk finden sich bei Gajek, Konrad (Hg.): Das Breslauer Schultheater im 17. und 18. Jahrhundert. Einladungsschriften zu den Schulactus und Szenare zu den Aufführungen förmlicher Comödien an den protestantischen Gymnasien. Tübingen 1994 (Rara ex bibliothecis Silesiae 3). 87 ��������������������������������������������������������������������������������������� Döring, Detlef/Otto, Rüdiger/Schlott, Michael (Hg.): Johann Christoph Gottsched. Briefwechsel unter Einschluß des Briefwechsels von Luise Adelgunde Victorie Gottsched, Bd. 2: 1731–1733. Berlin/New York 2008, 432f. 88 Ebd., 320–322, hier 322. Von Schindel sind 31 Briefe an Gottsched aus den Jahren 1732 bis 1742 bekannt, in denen wiederholt auf Arbeiten von Runge eingegangen wurde. Ebd., 624.
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übersehbar.89 Dass die von Scharff geplante Herausgabe einer Monatsschrift mit dem Titel „Beyträge zur schlesischen Geschichte“ im Jahr 1740 scheiterte, war in erster Linie den politischen Ereignissen der Zeit geschuldet.90 Weitere Beispiele, die einerseits die Verbindung von Aufklärungsgesellschaften in Schlesien und historischer Quellen- und Grundlagenarbeit und andererseits den dafür wichtigen Austausch zwischen Gelehrten in Sachsen und dem Oderland belegen würden, ließen sich problemlos nennen. Zumindest erwähnt werden müssen in diesem Zusammenhang auch die seit 1785 in Breslau erscheinenden Schlesische[n] Provinzialblätter, deren Langlebigkeit sich nicht zuletzt den gelehrten Netzwerken ihrer Herausgeber Karl Konrad Streit und Friedrich Albert Zimmermann verdankte. Auch in diesem Fall ist die prinzipielle Verbindung von Sozietäten und Geschichtspflege in Schlesien nicht von der Hand zu weisen.91 Ein weiteres Phänomen kann hier abschließend nur angedeutet werden. Schlesier waren erstaunlich stark – und dies hängt fraglos mit den bereits skizzierten Voraussetzungen der regionalen Erziehungs- und Bildungsgeschichte zusammen – in auswärtigen Sozietäten organisiert. Dies lässt sich bereits bei den Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts zeigen: In den drei größten und wichtigsten Sozietäten, in der „Fruchtbringenden Gesellschaft“, in der „Deutschgesinnten Genossenschaft“ und im „Pegnesischen Blumenorden“ sind Dutzende von Schlesiern nachweisbar, wie Ewa Pietrzak präzise nachgewiesen hat.92 Vergleichbare Untersuchungen für die Präsenz schlesischer Gelehrter in den großen Akademien, etwa in Berlin oder in Görlitz, fehlen bis heute, doch auch hier ist die Tendenz eindeutig.93 Am wenigsten untersucht wurden bisher die vielen kleinen Gruppenbildungen, die bis Ende des 18. Jahrhunderts entstanden. 89 Döring, Detlef: Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Von der Gründung bis in die ersten Jahre des Seniorats Johann Christoph Gottscheds. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext 70), 263f. Zu Scharff vgl. Migoń, Krzysztof: Pastor G. B. Scharff, jego księgozbiór i czasopismo. In: Roczniki Biblioteczne 33/1–2 (1989) 41–51; Frank, Anita: Gottfried Balthasar Scharff – ein schlesischer Bibliophile. In: Morciniec, Norbert/Predota, Stanisław (Hg.): Neerlandica Wratislaviensia, Bd. 9. Wrocław 1996 (Acta Universitatis Wratislaviensis 1893), 43–57. 90 Jessen: Die Anfänge des Zeitschriftenwesens in Schlesien, 34f.; Garber: Das alte Breslau, 382–385. 91 Gerber: Die Schlesischen Provinzialblätter; Garber: Das alte Buch, 386–391, 555–557; Brenker: Aufklärung als Sachzwang, 57–67. 92 Pietrzak, Ewa: Schlesier in den deutschen Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. In: Garber/ Wismann (Hg.): Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition, Bd. 2, 1286– 1319. Vgl. ferner Becker, Joseph: Schlesier in der Deutschen Gesellschaft zu Jena. (Ein Beitrag zur schlesischen Geistesgeschichte.). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 64 (1930) 138–154; Friedensburg, Ferdinand: Die Beziehungen Schlesiens zur Fruchtbringenden Gesellschaft. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 27 (1893) 117–139. 93 Hartkopf, Werner: Die Berliner Akademie der Wissenschaften. Ihre Mitglieder und Preisträger 1700–1900. Berlin 1992; Harnack, Adolf: Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 1–3. Berlin 1900 [Neudruck Hildesheim/New York 1970]; Grau, Conrad: Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Eine deutsche Gelehrtengesellschaft in drei Jahrhunderten. Heidelberg/Berlin/Oxford 1993. Studien gibt es dagegen für einzelne Gelehrte, vgl. etwa Migoń, Krzysztof: Der Breslauer Orientalist Andreas Acoluthus (1654–
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Für Schlesien als eine Landschaft, in der Mobilität und grenzüberschreitender Wissens- und Kulturaustausch zu den Konstanten der frühneuzeitlichen Bildungsgeschichte gehörten, ist das Phänomen der Doppel- und Mehrfachmitgliedschaften, das von der Sozietätenforschung erst seit vergleichsweise kurzer Zeit näher in den Blick genommen wird, besonders wichtig, ist es doch ein sicheres Indiz für das „Netz aufgeklärter Organisation“.94 Das zeitgenössische Schrifttum enthält hierzu eine Fülle von Hinweisen und Informationen. An dieser Stelle müssen einige wenige Beispiele genügen. So war der aus Liegnitz gebürtige Arzt Caspar Gottlieb Lindner, der dem bereits genannten Gottlieb Balthasar Scharff als Herausgeber der Gelehrte[n] Neuigkeiten Schlesiens nachfolgte, „der Academie der Nat. Curios. und der Teutschen Gesellschaft in Leipzig Mitglied“,95 wie der Breslauer Johann Christian Kundmann 1742 in einer Darstellung zur regionalen Gelehrtengeschichte vermerkte. Der Theologe und Kirchenhistoriker Siegismund Justus Ehrhardt, der 1773/74 bereits in zwei Bänden Beyträge zur Erläuterung der ältesten Niederschlesischen Geschichte und Rechte vorgelegt hatte, vermerkte ein Jahrzehnt später voller Stolz auf dem Titelblatt seiner monumentalen Presbyterologie des Evangelischen Schlesiens: „Pastors der Pfarr-Kirche zu Beschine, der Patriotischen Sozietät in Schlesien ordentlichen, und der Lateinischen Gesellschaft zu Jena Ehren-Mitglieds“.96 Desgleichen ließ Johann Adam Valentin Weigel im Jahr 1800 den Leser bereits auf dem Titelblatt seines Buches Geographische, naturhistorische und technologische Beschreibung des souverainen Herzogthums Schlesien wissen, dass das Werk von dem „Evangelisch-lutherische[n] Prediger, Mitgliede der Gesellschaft naturforschender Freunde in Berlin, der naturforschenden zu Halle, und der ökonomischpatriotischen des Fürstenthums Schweidnitz“ verfasst worden sei (Abb. 3).97 Und im Nachruf auf den bedeutenden, 1825 verstorbenen schlesischen Aufklärer Johann Joseph Kausch war in den Schlesische[n] Provinzialblätter[n] zu lesen: „So mannigfaltige Verdienste ließen erwarten, daß es dem Besitzer derselben an Belohnung und rühmlicher Auszeichnung nicht fehlen werde, und in der That ist dem Verstorbenen beides in
1704). Seine Beziehungen zu Leibniz und zur Akademie in Berlin. In: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 53/2 (2002) 45–58. Zu den Mitgliedern der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften vgl. die in Anm. 36f. genannte Literatur. Über entsprechende Querverbindungen gibt es eine Fülle von Belegen, vgl. exemplarisch Kruse, Fr[iedrich]: Ueber den Zweck, den wir uns bei Forschungen im Gebiete des Germanistischen Alterthumes vorsetzen können, und über die Mittel, denselben zu erreichen. In: ders. (Hg.): Deutsche Alterthümer oder Archiv für alte und mittlere Geschichte, Geographie und Alterthümer insonderheit der germanischen Völkerstämme [...], Bd. 1/1. Halle 1824, 1–38. 94 Zaunstöck: Sozietätslandschaft und Mitgliederstrukturen, 276; zum Forschungsstand vgl. ebd., 7–19. 95 ������������������������������������������������������������������������������������ Kundmann, Johann Christian: Die Heimsuchungen Gottes in Zorn und Gnade Uber das Herzogthum Schlesien in Müntzen [...]. Leipzig 1742, 546. 96 Ehrhardt, Siegismund Justus: Presbyterologie des Evangelischen Schlesiens, Bd. 3/1. Liegnitz 1783. 97 Weigel, Johann Adam Valentin: Geographische, naturhistorische und technologische Beschreibung des souverainen Herzogthums Schlesien, Th. 1: Das Fürstentum Schweidnitz. Berlin 1800.
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Abb. 3: Titelblätter von Büchern des 18. Jahrhunderts enthalten oft wichtige Informationen, die Doppel- und Mehrfachmitgliedschaften der Verfasser in aufgeklärten Sozietäten belegen. Auch der schlesische Theologe Johann Adam Valentin Weigel machte entsprechende Angaben auf dem Titelblatt seines mehrbändigen Werkes Geographische, naturhistorische und technologische Beschreibung des souverainen Herzogthums Schlesien, dessen erster Band im Jahr 1800 im Druck erschien. Bildnachweis: Württembergische Landesbibliothek Stuttgart.
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reichem Maaße zu Theil geworden. Die Academien von Berlin und Erfurt krönten zwei seiner Preisschriften, eine dritte belohnte die Kaiserin Catharina von Rußland durch Uebersendung einer silbernen Medaille. Während seiner literarischen Laufbahn wurde Kausch Mitglied der gelehrten Gesellschaften von Berlin, Wien, Breslau, Warschau, Erlangen, und Erfurt.“98
IV. Um ein auch nur halbwegs befriedigendes Gesamtbild zu zeichnen, ist es definitiv zu früh. Im Vergleich zu den mitteldeutschen Territorien sind die Organisationsformen aufgeklärter Gemeinschaftsarbeit in Schlesien auf jeden Fall deutlich schwächer ausgeprägt und in aller Regel auch nur von kurzer Lebensdauer. Für die Geschichts- und Altertumsvereine des 19. Jahrhunderts konnten die verstreuten Aufklärungsgesellschaften im Oderland daher nur geringe Vorarbeiten leisten. Traditionelle Orte für historische Arbeiten – Höfe und Adelssitze, Schulen, kirchliche Zentren – behielten ihre Bedeutung offenbar ebenso wie das klassische Mäzenatentum. Gleichwohl zeigten sich auch in Schlesien während des 18. Jahrhunderts neue, innovative Formen eines gelehrten Austausches, die sich befruchtend auswirkten auf jede Form von Vergangenheitsarbeit. Dabei hatten die Außenkontakte, vor allem die den klassischen Studien- und Bildungswegen folgenden Mitgliedschaften in anderen Aufklärungsgesellschaften, allem Anschein nach eine hohe Bedeutung auch für innerschlesische Gruppenbildungen. Man wird insofern dem Breslauer Historiker Gustav Adolf Harald Stenzel nicht ohne Weiteres zustimmen können, der 1844 zur Bildung eines Geschichtsvereins in Schlesien aufrief und dabei – mit Blick auf bestehende Vereinigungen in anderen deutschen Regionen – die rhetorische Frage stellte: „Soll aber Schlesien in dieser Beziehung noch länger zurückbleiben?“99
98 Klose, C[arl] L[udwig]: Johann Joseph Kausch. Eine biographische Skizze. In: Schlesische Provinzialblätter 81 (1825) 586–595, hier 592. 99 Zit. nach Schellakowsky, Johannes: „Soll aber Schlesien noch länger zurückbleiben?“ Zur Gründungsgeschichte und weiteren Entwicklung des Vereins für Geschichte Schlesiens bis 1945. In: ders./Schmilewski, Ulrich (Hg.): 150 Jahre Verein für Geschichte Schlesiens. Würzburg 1996 (Einzelschriften des Vereins für Geschichte Schlesiens 2), 9–58, hier 10.
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Geschichtsforschung in der Metropole Schlesiens. Das Historische Seminar der Universität Breslau im 19. Jahrhundert Seit Wilhelm von Humboldts Wissenschaftsreform (1810) gestaltet sich auch für die Geschichtswissenschaft das forschende Lernen in enger Verbindung von Forschung und Lehre. Diese sollten frei von Vorgaben sein, die sich nicht aus der Wissenschaft selbst ergaben.1 Inwieweit war an der Universität Breslau die von Humboldt geforderte freie Forschung im 19. Jahrhundert gewährleistet, da bis dahin im Hinblick auf die Geschichtswissenschaft immer wieder Vorgaben des Staates oder gesellschaftlich relevanter Gruppen ergingen? Die Neugründung der Universität Breslau 1811 mit ihrem modernen Lehr- und Forschungsprinzip ging nicht auf die Initiative Humboldts zurück. In seinem Königsberger Antrag vom Juli 1809 hatte er den Vorschlag gemacht, die beiden nach 1807 in Preußen noch existierenden Hochschulen in Königsberg und Frankfurt an der Oder zu erhalten und dazu in Berlin, das über eine Reihe von Sammlungen und Bibliotheken verfügte, eine neue Universität einzurichten.2 Zur Finanzierung sollte unter anderem auch der schlesische Jesuitenfond mit 7.000 Talern herangezogen werden.3 Die Universität Breslau sollte ihren bisherigen Charakter als Theologisch-Philosophische Hochschule beibehalten und – so Humboldts Vorschlag am 28. Mai 1810 – „für das Studium aller katholischen Theologen des preußischen Staates“ dienen.4 Zur Unterhaltung des Studiums sollten auch die geistlichen katholischen Institutionen in Breslau herangezogen werden, ohne dass zu diesem Zeitpunkt schon die Säkularisation der geistlichen Güter ins Auge gefasst worden war. König Friedrich Wilhelm III. fand diesen Vorschlag am 11. August 1810 „ganz angemessen“.5 Humboldt schied bereits im März 1810 aus seinem Amt als Leiter des Kultusdepartements aus, nachdem er die Gründung der Universität Berlin auf den Weg gebracht 1 Langewiesche, Dieter: Universität im Umbau. Heutige Universitätspolitik in historischer Sicht. In: ders.: Zeitwende. Geschichtsdenken heute. Hg. v. Nikolaus Buschmann und Ute Planert. Göttingen 2008, 225–240, hier 225; ders.: Die Universität als Vordenker? Universität und Gesellschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Ebd., 195–224; ders.: Humboldt als Leitbild in den Berliner Rektoratsreden seit dem 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 14 (2011) 15– 37, hier 15–17. 2 Humboldt, Wilhelm von: Antrag auf Errichtung der Universität Berlin (Königsberg, den 24. Juli 1809). In: ders.: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen. Werke in fünf Bänden. Hg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. 4. Darmstadt 1964, 113–120. 3 Ebd., 120. 4 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Rep. 76, V a Sekt. 4: betr. die Universität von Breslau, Vol. I, fol. 2. 5 Ebd., fol. 3.
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hatte. Sein Nachfolger in diesem Amt, Kaspar Heinrich von Schuckmann, verfolgte jedoch einen anderen Plan. Die Frankfurter Viadrina sollte mit der Breslauer Leopoldina zusammengelegt und als Volluniversität in Breslau neu gegründet werden. Den Vorschlag formulierte Schuckmann in einer Immediateingabe, die er am 12. Februar 1811 an den König richtete. Eigentlicher Initiator dieses neuen Plans scheint der Mitdirektor der Unterrichtsabteilung Johann Wilhelm Süvern gewesen zu sein. Ihn lobte anlässlich der 50-Jahr-Feier der Universität Breslau 1861 der dort lehrende Historiker Richard Roepell wegen dessen „treffliche[r] Mitwirkung bei der Gründung unsere Universität“.6 Der Plan der Neugründung in Breslau war vermutlich auf die inzwischen erfolgte Säkularisation der geistlichen Güter (30. Oktober 1810) zurückzuführen, deren Gebäude und Einrichtungen neben den Gebäuden der ehemaligen Leopoldina nun zur Verfügung standen. Die Universitätsbibliothek, der die Bestände der zahlreichen säkularisierten Bibliotheken der schlesischen Klöster einverleibt wurden, wurde im Sandstift eingerichtet. War die Universität Breslau bei ihrer Neugründung 1811 gleichsam gegen den Willen Humboldts entstanden, so sollte sie aber in ihrer inneren Struktur seinem Reformideal folgen. Das Humboldtsche Konzept beabsichtigte unter anderem die Säkularisation der Universität. Sie sollte frei von den bis dahin üblichen konfessionellen Vorgaben sein, weshalb Breslau als erste Universität in Deutschland zwei gleichrangige theologische Fakultäten, eine katholische und eine evangelische, erhielt, keine Konfession also für sich einen Vorrang in Anspruch nehmen konnte.7 Um seinen katholischen Untertanen entgegenzukommen, hatte Friedrich Wilhelm III. deshalb auf Anraten von Staatsrat Süvern zwei paritätische Lehrstühle einrichten lassen, die die protestantische bzw. katholische Interpretation der Philosophie berücksichtigen sollten. In Einschränkung dieses königlichen Entschlusses betonte Kultusminister von Schuckmann allerdings: „Nicht als ob der Kirchenglaube Einfluss auf Philosophie haben dürfe, sondern in der liberalen Absicht die Bedenken zu beseitigen, die aus der Anhänglichkeit des Lehrers an den Glauben der Kirche gegen die Reinheit seiner Philosophien geschöpft werden möchten.“8 Die Freiheit der Wissenschaft sollte also über konfessionellen Forderungen stehen. Dass der Vertreter des katholischen Philosophielehrstuhls, Johannes Rohowsky, der schon an der Leopoldina gelehrt hatte, 1812 zum Protestantismus konvertierte, brachte zwar Unruhe in die Philosophische Fakultät, widersprach aber nicht der Freiheit der Lehre, so dass Kultusminister Schuckmann die kirchlichen Erwartungen, einen weiteren Lehrstuhl für Philosophie einzurichten, schroff zurückwies.9 Ähnliche Erwar6 Roepell, Richard: Zur Geschichte der Stiftung der Königlichen Universität zu Breslau. Breslau 1861, 10 (ohne Quellennachweis). 7 May, Georg: Mit Katholiken zu besetzende Professuren an der Universität Breslau von 1811– 1945. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 53 (1967) 155–272, hier 165. 8 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin I. HA. Rep. 74, Staatskanzleramt LV Schlesien, Nr. 1, Bd. 1, fol. 160–164. 9 Ebd.
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tungen hinsichtlich konfessioneller Berücksichtigung hegte Fürstbischof Joseph von Hohenlohe-Bartenstein auch im Hinblick auf die Geschichtsprofessur.10 Bis in die Kulturkampfzeit der 1870er Jahre stand diese im Konfliktfeld von katholischer Kirche und protestantischem preußischen Staat. Die Gründung der Universität Breslau als paritätische Universität 1811 war gegenüber den ehemaligen Konfessionsuniversitäten als Fortschritt zu werten. Doch verstanden Staat und Philosophische Fakultät auf der einen sowie die katholische Kirche auf der anderen Seite jeweils etwas Unterschiedliches darunter. Bedeutete das Prinzip der Parität für den Staat und die Fakultät die rechtliche Chancengleichheit katholischer und evangelischer Gelehrter bei der Zulassung und Anstellung – was allerdings nicht für jüdische Bewerber galt –, so war für die Katholische Kirche Parität mit der institutionellen Festschreibung bestimmter Professuren verbunden, nämlich der Professuren für Philosophie und Geschichte. Im Hinblick auf die Philosophie war der König bei der Neugründung diesem Wunsch gefolgt; für den Bereich Geschichte hatte er es hingegen abgelehnt, obwohl Süvern ihm auch hier zu einer Doppelprofessur geraten hatte. Während der Breslauer Fürstbischof in seiner Immediateingabe vom 8. Oktober 1812 relativ gemäßigte Wünsche vortrug, war sein Weihbischof (und späterer Nachfolger) Emanuel von Schimonsky in einer Eingabe am 28. Oktober 1811 sehr viel weiter gegangen, indem er nicht nur die Einrichtung bestimmter Lehrstühle gefordert, sondern auch vom Staat verlangt hatte, dieser solle die auf die Lehrstühle berufenen Personen darauf verpflichten, das Glaubensbekenntnis gemäß den Bestimmungen des Trienter Konzils abzulegen.11 Die Akademische Organisationskommission, die die Übergangsstatuten verfasste, ließ in ihrer Antwort vom 4. November 1811 diese Forderung nur für die Katholische Theologische Fakultät gelten, wies sie aber für die Professuren anderer Fakultäten zurück. Fürstbischof Hohenlohe-Bartensteins Ansinnen bezüglich der Einrichtung einer katholischen Geschichtsprofessur bezog sich wohl auch auf die katholischen Theologiestudenten, die durch das interimistische Reglement der akademischen Organisationskommission von 1811 gehalten waren, unter anderem auch Vorlesungen in Geschichte zu besuchen. Wie könne ein katholischer Theologiestudent, so Hohenlohe-Bartenstein, da „Liebe und Achtung“ für seine Kirche gewinnen, wenn die Geschichtsprofessur mit einem Protestanten besetzt sei, der die katholische Kirche nur aus der Sicht der protestantischen Reformation darstellen würde? In seiner Antwort verwies Kultusminister Schuckmann auch hier auf die Freiheit von Forschung und Lehre.12 In der Neugründungsphase der Universität Breslau 1811 gab es zunächst sowohl eine mit einem Protestanten als auch eine mit einem Katholiken besetzte Professur für 10 Ebd. 11 ������������������������������������������������������������������������������������������ May: Mit Katholiken zu besetzende Professuren, 171; Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz I. HA. Rep. 74, Staatskanzlei LV Schlesien, Nr. 1, Bd. 1, fol. 166. 12 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz I. HA. Rep. 74, Staatskanzlei LV Schlesien, Nr. 1, Bd. 1, fol. 166.
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Geschichte. Von der Viadrina wurde der Geschichtsprofessor Gabriel Gottfried Bredow13 berufen, von der Leopoldina Professor Eligius Aloys Jung. Letzterer, 1756 in Glatz geboren, war im Jahr der Aufhebung des Jesuitenordens 1773 der Gesellschaft Jesu beigetreten und lehrte seit 1791 auch Geschichte, vor allem Reichsgeschichte, über die er 1806 ein Handbuch publiziert hatte.14 Jung wurde jedoch schon 1812 pensioniert, da er sich seinem neuen Amt nicht gewachsen fühlte, was den Fürstbischof vermutlich am 8. Oktober des Jahres zu seiner Immediateingabe an den König veranlasst hatte. Die von Schuckmann in dessen Antwortschreiben geäußerte Meinung, dass im Fach Geschichte die „Ansichten [...] nicht mehr so sehr nach den Religionsparteien auseinandergehen wie ehedem“, stand im Gegensatz zur Ansicht seines Mitarbeiters Süvern.15 Nach der Ablehnung Schuckmanns gab es von Seiten Bischof Hohenlohe-Bartensteins keine Eingaben mehr. Erst unter Kardinal Melchior von Diepenbrock, der gute Beziehungen zu König Friedrich Wilhelm IV. unterhielt, kam es zu einem erneuten Versuch, eine „katholische Geschichtsprofessur“ einzurichten.16 In Berufung auf die erneuerte (oktroyierte) Preußische Verfassung von 1850 versuchte er, direkten Einfluss auf die Katholische Theologische Fakultät zu nehmen.17 Auch die Besetzung einer Geschichtsprofessur mit einem Katholiken brachte er ins Spiel. Seit 1835 hatte mit Joseph August Kutzen zum ersten Mal ein Katholik als Extraordinarius eine Professur für Geschichte und Historische Hilfswissenschaften inne.18 1843 war er zum Ordinarius ernannt worden, doch gab er 1849 diese Professur auf. Die Tätigkeit Kutzens als Professor hinterließ keine tieferen Spuren. Er engagierte sich vor allem als Herausgeber der katholischen Allgemeine[n] Oderzeitung; ferner lehnte er es ab, sich binnen Jahresfrist durch eine wissenschaftliche, lateinisch geschriebene Arbeit als Ordinarius zu etablieren, weshalb er ein Jahr nach seiner Ernennung zum Ordinarius Sitz und Stimme in der Fakultät verlor. Die Niederlegung seiner Professur erfolgte wohl aus diesem Grund.19 Kardinal von Diepenbrock forderte deshalb am 18. Oktober 1849 in einem Schreiben an Kultusminister Adalbert von Ladenberg die Wiederbesetzung dieses Lehrstuhls 13 Weber, Wolfgang: Bredow, Gabriel Gottfried. In: Deutsche Biographische Enzyklopädie 2 (1995) 95–96. 14 ������������������������������������������������������������������������������������������ Jung, Elisius Aloys: Kurze Geschichte der Teutschen oder: Handbuch der Teutschen Reichsgeschichte, zusammengetragen zum Gebrauche seiner Zuhörer. Breslau 1806; Rabe, Carsten: Alma Mater Leopoldina. Kolleg und Universität der Jesuiten in Breslau 1638–1811. Köln/Weimar/ Wien 1999 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 7), 381, 489. 15 Geheimes Preußisches Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz I. HA. Rep. 74, Staatskanzlei LV Schlesien, Nr. 1, Bd. 1, fol. 160–164. 16 Seppelt, Franz Xaver: Melchior von Diepenbrock. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 19. Jahrhunderts. Sigmaringen 21985 [Breslau 11922], 32–42, hier 41f. 17 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, TK 192, Fürstbischöfliche Rescripte über die Lektionskataloge, 41. 18 Kaufmann, Georg/Ziekursch, Johannes: Die philosophische Fakultät – Geschichte. In: Kaufmann, Georg (Hg.): Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau, Tl. 2. Breslau 1911, 359–369, hier 363f. 19 Ebd.
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durch einen Katholiken, wogegen die Philosophische Fakultät Einspruch erhob. Sowohl im Hinblick auf das Fach Geschichte als auch auf die Katholische Theologische Fakultät setzte sich Diepenbrock mit seinen Forderungen beim König durch (wogegen der katholische Breslauer Kirchenhistoriker Franz Karl Movers protestierte). Entgegen den Forderungen der Philosophischen Fakultät erließ Friedrich Wilhelm IV. am 26. September 1853 eine Kabinettsorder, in der er verfügte, dass an den Universitäten Breslau und Bonn in Zukunft ein Lehrstuhl mit einem Katholiken und ein zweiter mit einem evangelischen Inhaber besetzt werden sollte.20 Damit setzte sich der König über den Einwand der Philosophischen Fakultät vom 6. Dezember 1849 hinweg, die nicht das Konfessionsprinzip als Voraussetzung für eine Berufung betrachtete, sondern die „Fähigkeiten und Leistungen“ des Aspiranten als ausschlaggebend ansah.21 In ihrem historischen Überblick zur Entwicklung des Historischen Seminars an der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau von 1811 bewerteten Georg Kaufmann und Johannes Ziekursch die konfessionelle Frage als „die grundsätzlich wichtigste Frage in der Entwicklung der Universität Breslau“, da diese Hochschule als säkulare Universität gegründet worden sei, die, befreit von allen konfessionellen Fesseln, nur der Forschung und Lehre dienen sollte. Die wiederholten Versuche der katholischen Kirche in Breslau im 19. Jahrhundert, Einfluss auf die Besetzung von Lehrstühlen an der Philosophischen Fakultät zu nehmen, führten zu häufigen Auseinandersetzungen.22 Es kann sein, dass hierbei die Konflikte der Zeit des Kulturkampfes und die wenig liberale Haltung des Kulturprotestantismus mit hineinspielten. Von den katholischen Geschichtsprofessoren, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Historischen Seminar in Breslau lehrten, erreichte nur Aloys Schulte ein allgemein anerkanntes Wissenschaftsprofil. Er wurde 1896 berufen, übernahm aber bereits 1901 die Leitung des Deutschen Historischen Instituts in Rom und ging 1903 an die Universität Bonn.23 Abgesehen vom Problem konfessioneller Einflussnahme ist die institutionelle Entwicklung des Fachs Geschichte an der Universität Breslau von Bedeutung, verbunden mit der Frage, wie neben der Säkularisation eine weitere Humboldtsche Forderung – die nach der engen Verbindung von Forschung und Lehre – verwirklicht wurde. Kultusminister Karl vom Stein zum Altenstein, Schuckmanns Nachfolger, favorisierte Humboldts Idee, forschendes Lernen durch die Gründung einer „Historischen Gesellschaft“ an der Universität in die Praxis umzusetzen. Gabriel Gottfried Bredow hatte eine solche Gesellschaft während seiner Tätigkeit an der Viadrina in Frankfurt an der Oder eingerichtet, dies aber in Breslau nicht mehr realisieren können, da er bald nach Amtsantritt 20 ������������������������������������������������������������������������������������������� Bahlcke, Joachim: Die Geschichtswissenschaft an der Universität Breslau 1811–1945. Fachentwicklung – Personalstand – Forschungsschwerpunkte. In: Jahrbuch für schlesische Kultur und Geschichte 53/54 (2012/13) 569–588, hier 575f. 21 Kaufmann/Ziekursch: Die philosophische Fakultät, 364. 22 Ebd. 23 Kaller, Gerhard: Schulte, Aloys. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 9 (1995) Sp. 1115–1118.
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1814 verstorben war. Sein ein Jahr später nach Breslau berufener Nachfolger Ludwig Wachler sowie Friedrich von Raumer, der von 1811 bis 1819 in der Odermetropole Staatswissenschaften und Geschichte lehrte, boten seit dem Sommersemester 1816 ein historisches Examinatorium bzw. ein Disputorium mit geschichtswissenschaftlichen Ausarbeitungen an, was wohl den heute gängigen historischen Übungen nahe kam.24 Wachler, der eher literaturgeschichtlich interessiert war und in dieser Hinsicht mehrere Handbücher verfasst, aber auch ein Buch über die Eisenerzeugung in Oberschlesien geschrieben hatte, fand in dem am 11. April 1820 als außerordentlicher Professor berufenen Gustav Adolf Harald Stenzel eine gute Ergänzung, aber auch einen Konkurrenten. Stenzel, der primär Archivar war und seit 1825 das schlesische Provinzialarchiv leitete,25 prägte wie nur wenige andere Gelehrte im 19. Jahrhundert das wissenschaftliche Profil des Historischen Seminars in Breslau. Ihm lag vor allem die Publikation und Interpretation historischer Quellen nahe, was er auch seinen Studenten als künftige Geschichtslehrer vermitteln wollte. Auf Wunsch des Ministeriums entwarfen Wachler und Stenzel 1820 einen „vollständigen Kursus der Geschichte, Statistik und Geographie“, was regelmäßige historische Übungen bedeutete.26 Friedrich Andreae wies in einer Untersuchung zu Recht darauf hin, dass dies fünf Jahre vor der Begründung einer Historischen Gesellschaft durch Leopold von Ranke in Berlin geschehen war und somit als die erste Einrichtung eines geschichtswissenschaftlichen Seminars überhaupt gelten kann. Damit behauptet Breslau eine gewisse Vorreiterrolle, auch wenn ein Historisches Seminar im engeren Sinn dort erst 1843 aus der Taufe gehoben wurde.27 Unter Seminar verstand man in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die etatmäßige geldliche Dotierung der betreffenden Einrichtung. Solche Einrichtungen gab es in Breslau bei den Theologen und bei den Philologen. Das Philologische Seminar hatte der Philologe Ludwig Friedrich Heindorf bald nach seiner Berufung an die Universität Breslau im Jahr 1817 eingerichtet.28 Sylvia Paletschek weist in ihrer Untersuchung zur Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik darauf hin, dass die forschungsorientierte Leistungsuniversität erst in den 1890er Jahren entstanden sei, dass die mit der neuhumanistischen Universitätsidee in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entstandene und seitdem vermeintlich konsequent umgesetzte Humboldtsche Universität also als Traditionskonstruktion zu betrachten sei. In den Lexikonartikeln zur Universität werde 24 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Andreae, Friedrich: Zur Geschichte des Breslauer Historischen Seminars. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 70 (1936) 320–328, hier 323. Dem Beitrag, den Andreae noch unter seinem Namen veröffentlichen konnte, lagen die Kuratorialakten im Staatsarchiv Breslau, Rep. 200b Acc. 54/16 Nr. 308, zugrunde. Diese für die Entwicklung des Historischen Seminars wichtige Akte ging 1945 verloren. Es existiert im Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego nur noch das Repertorium auf einem Film (ebd., Rep. 135 T 79281). 25 Nadbyl, Bernhard: Chronik und Statistik der Kgl. Universität in Breslau. Breslau 1861, 50. 26 Andeae: Zur Geschichte, 324f. 27 Ebd. 28 Ebd., 324.
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im 19. Jahrhundert Wilhelm von Humboldt nicht einmal erwähnt.29 Breslau bildete hier wohl eine Ausnahme. Ein Statut des 1843 eingerichteten Historischen Seminars liegt allerdings erst für 1863 vor. Als dessen maßgebliche Aufgaben wurden darin festgeschrieben: Einführung in die Methode historischer Forschung sowie wöchentliche Übungen, in denen historische Quellenschriften gelesen und erläutert, kritische Untersuchungen angestellt und monographische Abhandlungen nach den Quellen von den Teilnehmern ausgearbeitet werden sollen. Dies waren die Forderungen für die wissenschaftliche Abteilung der Übung. In einem praktischen Teil wurde darüber hinaus verlangt, Vorträge zu halten und Entwürfe zu geschichtlichen Aufsätzen anzufertigen. In den Seminarstatuten um 1874 wurde die Aufgabe des Seminars recht knapp mit der Einführung seiner Mitglieder in die Methode historischen Forschens und die Darstellung geschichtlichen Stoffes definiert.30 Es ist zweifelsohne Stenzels Verdienst, dass ein Historisches Seminar an der Universität Breslau so früh eingerichtet wurde. Allerdings geschah das nicht ohne Probleme: Stenzels erste Vorstöße in diese Richtung, zuerst im Jahr 1824 und dann nochmals 1835, blieben ohne Erfolg. Dies lag zum einen an der kantigen Persönlichkeit Stenzels, zum anderen an „Eifersüchteleien unter Amtskollegen“,31 wie ein Mitarbeiter des Kurators vermerkte. Stenzels Charakter und Verhalten im Kollegenkreis waren nicht unproblematisch. Einer seiner Kollegen aus der Fakultät der Germanistik, Heinrich Rückert, ein Sohn des Dichters Friedrich Rückert, beschrieb ihn mit folgenden Worten: „ein wahrer alter Hüne, fast schrecklich anzusehen, furchtbar leidenschaftlich und zornmütig“.32 Dem entsprach wohl auch sein Verhalten in der Fakultät. Wegen diverser Auseinandersetzungen innerhalb der Universität bat er im Wintersemester 1828/29 um Entbindung von der Teilnahme an den Fakultätsgeschäften. Der Kurator Friedrich Wilhelm Neumann ersuchte deshalb die Fakultät, Stenzel „wegen seiner Krankheit und wegen seiner mehrseitigen überhäuften Amtsgeschäfte (als Archivar) sowie wegen seiner etwas entfernt liegenden Wohnung einige Nachsicht in Betreff seiner Teilnahme an den Fakultätsgeschäften zu gestatten“.33 Im Sommer 1830 kam es erneut zu einem Streit zwischen Stenzel und der Fakultät. Der streitbare Historiker wurde daraufhin von allen Fakultätsgeschäften ausgeschlossen, bis 1837 der Kurator Friedrich Wilhelm Heinke Stenzels erneute Beteiligung anordnete. Diese Konflikte verzögerten die Gründung des Historischen Seminars, für das sich Stenzel stark engagiert hatte. Was seine Rivalität zu älteren Kollegen betrifft, so ist ein 29 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Paletschek, Sylvia: Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Stuttgart 2001 (Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 53), 2. 30 Andreae: Zur Geschichte, 324f. 31 Ebd., 326. 32 Ebd. 33 [Ders. (Hg.)]: Aus dem Leben der Universität Breslau. Der Schlesischen Friedrich-Wilhelm-Universität zum 125. Gedenktag ihrer Gründung gewidmet vom Universitätsbund Breslau. [Breslau 1936], 145f., 150f.
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Brief aufschlussreich, den Stenzel 1828 an den Verleger Friedrich Christoph Perthes richtete: „Es macht mir Freude, wenn ich sehe, wie neben Wachler, dem talentvollsten Lehrer, den Preußen hat, neben einem Mann, der Alter, Ruhm, Gelehrsamkeit, Sprachfertigkeit, Darstellungsgabe, der alles besitzt, was anziehen, fesseln, unterhalten und wecken kann, doch Hunderte auf mich hören und fühlen, dass mir das Wohl der Menschen, des Vaterlandes, Aufklärung, Recht und Wahrheit am Herzen liegen!“34 Dieses positive Urteil über Ludwig Wachler, der seit 1815 in Breslau lehrte – und das auch andere Zeitgenossen, wie etwa der Dichter Heinrich Laube, bestätigten –, diente freilich auch dazu, das eigene Verdienst anhand der Hörerzahl neben dieser bedeutenden Persönlichkeit hervorzuheben. Tatsächlich konnte Stenzel von den damals rund 600 Studenten in Breslau zwei Drittel zu seinen Hörern zählen. Angesichts seiner Bedeutung brauchte Wachler – „wem wäre dieser europäische Name unbekannt?“, hieß es 1837 in einem Artikel der Zeitung Die elegante Welt über ihn – die Konkurrenz allerdings kaum zu fürchten. Dennoch mag er davon nicht ganz unbehelligt gewesen sein, als er 1835 in einem Gutachten (aus kaum überzeugenden Gründen) Stenzels Antrag auf Einrichtung eines Historischen Seminars ablehnte.35 Das Verhältnis zwischen den beiden war wohl von Anfang an problematisch, nachdem Wachler 1822 als Leiter des Provinzial-Archivs Stenzel – ohne diesen vorher zu konsultieren – als gleichrangiger Archivar an die Seite gestellt und schließlich 1825 zum alleinigen Archivar der schlesischen Zentralbehörde ernannt worden war.36 Wachler starb 1838. Durch Reskript vom 15. April 1843 erfolgte dann endlich die Gründung des Historischen Seminars. Dabei kam es jedoch zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Stenzel und der Ministerialbürokratie, so dass Stenzel bereits 1845 die Leitung des Seminars wieder niederlegte. Eigentlich betraf der Streit lediglich Nebensächlichkeiten. Stenzel hatte gefordert, einem Studenten, der eine vorzügliche Arbeit abgegeben hatte, eine Buch- statt einer Geldprämie zu gewähren. Dieser Vorgang zeigt, worum es sich bei der Begründung eines Seminars in Preußen letztlich handelte: Mit der Einrichtung war nicht etwa die Anschaffung einer Bibliothek verbunden, vielmehr wurden mit den etatmäßig zur Verfügung gestellten 200 Talern die besten Seminararbeiten prämiert.37 Erst 1874 verwendete man den genannten Betrag vollständig zur Anschaffung von Büchern.Als 1873 das Seminar in zwei Abteilungen – in eine für Alte Geschichte und eine für Mittlere und Neuere Geschichte – aufgeteilt wurde, erhöhte das Ministerium zur Ausstattung der zweiten Abteilung die Summe um 150 Taler, verringerte sie aber nur drei Jahre später wieder, als die Geographie ausgegliedert wurde.38 Dies war auch eine Folge der Ausdifferenzierung des Fachs Geschichte. Bereits 1849 beim Abgang von Joseph August Kutzen hatte die Fakultät das Ministerium gebeten, den außerordentli34 35 36 37 38
Ebd., 149f. Ders.: Zur Geschichte, 326. Kaufmann/Ziekursch: Die philosophische Fakultät, 360. Ebd., 362. Bahlcke: Die Geschichtswissenschaft an der Universität Breslau, 576.
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chen Professor Richard Roepell zum Ordinarius für Mittlere und Neuere Geschichte zu befördern sowie den Privatdozenten Dr. Eduard Cauer zum Extraordinarius für Alte Geschichte zu ernennen.39 Dem war das Ministerium nicht gefolgt. Roepell wurde nach Stenzels Tod 1854 dessen Nachfolger als Ordinarius; 1860 ernannte man Karl Neumann zum Extraordinarius für Alte Geschichte sowie für Geographie, die man damals noch als eine Hilfswissenschaft der Alten Geschichte betrachtete. Erst nach dem Tod Neumanns kam es 1880 zur endgültigen Trennung beider Teilbereiche. Die Nachfolger Neumanns als Ordinarien für Alte Geschichte, darunter Eduard Meyer in den Jahren 1885 bis 1889, blieben nur kurzzeitig in Breslau, bis dann mit Conrad Cichorius die Professur für einen längeren Zeitraum besetzt blieb.40 Es existieren keine statistisch einwandfreien Teilnehmerzahlen der Übungen im Historischen Seminar. Bei Erlass des Seminarstatuts 1863 gab es in der wissenschaftlichen Abteilung acht, in der praktischen 24 Studenten. Die Tendenz lief also eher zur Praxis als zur Forschung. Aus Lebenserinnerungen und Briefwechseln wissen wir, dass in der Folgezeit die Teilnehmerzahlen noch niedriger waren; meistens lag die Zahl nicht über fünf Teilnehmern. Dietrich Schäfer, der von 1885 bis 1888 in Breslau lehrte, berichtete in seiner Autobiographie: „Ich konnte mich auch an den Übungen über Mangel an Teilnehmern nicht beklagen. Ich begann mit 4 und stieg auf 22 [in Tübingen] gegenüber 11–16 in Breslau und 2–10 in Jena.“41 Der Schwerpunkt des Studiums lag im 19. Jahrhundert auf den Vorlesungen, deshalb betonte Schäfer mit seiner Formulierung „auch an den Übungen“ die Ausnahme. Die Übungen fanden privatissime, also in den Wohnungen der betreffenden Professoren statt. Stenzel übernahm, nachdem der Streit innerhalb des Seminars beigelegt worden war, 1847 die Leitung der Einrichtung, legte sie aber schon fünf Jahre später wieder nieder, als Kultusminister Karl Otto von Raumer auf eine ministerielle Bestätigung der von Stenzel eingereichten Prämienvorschläge bestand.42 Die Leitung übernahm 1852 Roepell, der Stenzel drei Jahre später als Ordinarius folgte.43 Roepell verkörperte „die Kontinuität im verhältnismäßig raschen Wechsel seiner fachlich oft bedeutenderen Kollegen“ am Historischen Seminar,44 so Peter Baumgart in einem Beitrag über den Breslauer Historiker und Archivar Colmar Grünhagen.
39 Kaufmann/Ziekursch: Die philosophische Fakultät, 367. 40 Andreae: Zur Geschichte, 327. 41 Paletschek: Die permanente Erfindung, 421. 42 Andreae: Zur Geschichte, 326. 43 �������������������������������������������������������������������������������������������������� Priebatsch, Felix: Richard Roepell. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 19. Jahrhunderts. Breslau 1922 [Sigmaringen 21985] (Schlesische Lebensbilder 1), 164–167. 44 Baumgart, Peter: Colmar Grünhagen (1828–1911). Ein nationalliberaler Historiker Schlesiens im Zweiten Kaiserreich. In: Weber, Matthias/Rabe, Carsten (Hg.): Silesiographia. Stand und Perspektiven der historischen Schlesienforschung. Festschrift für Norbert Conrads zum 60. Geburtstag. Würzburg 1998 (Wissenschaftliche Schriften des Vereins für Geschichte Schlesiens 4), 47–68, hier 50.
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Das Historische Seminar befand sich 1892/93 in der Schmiedebrücke 35, Hinterhaus II. Die Leitung lag immer noch bei Roepell, der von Georg Hüffer, Georg Kaufmann und Ulrich Wilcken unterstützt wurde. An die Stelle von Roepell, der 1893 starb, trat Jacob Caro, der erste, seit 1884 bereits am Historischen Seminar tätige jüdische Ordinarius in Breslau.45 Es bedürfte einer eigenen ausführlichen Untersuchung, um das wissenschaftliche Profil der Mitglieder des Historischen Seminars im 19. Jahrhundert zu bestimmen. In Ansätzen lässt sich dies aus den Beiträgen des 2005 von Joachim Bahlcke herausgegebenen Bandes Historische Schlesienforschung. Methoden, Themen und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kulturwissenschaft rekonstruieren.46 Hervorgehoben seien hier die Publikationen zur schlesischen Geschichte, so vor allem Stenzels fundamentale Quelleneditionen, ferner die Arbeiten seiner Nachfolger Colmar Grünhagen und Johannes Ziekursch. Eng im Zusammenhang damit stehen die Ergebnisse der historischen Hilfswissenschaften, für die neben Stenzel der Name von Wilhelm Wattenbach steht, der in Breslau seine zweibändige Ausgabe Deutsche Geschichtsquellen im Mittelalter verfasste. Zu erwähnen sind ferner die Forschungen zur polnischen Geschichte von Richard Roepell und Jacob Caro, die ebenfalls auf intensiver Quellenarbeit basierten. Ein Nachteil des Breslauer Seminars war der häufige personelle Wechsel im Lehrkörper. Breslau war quasi eine ‚Sprungbrettuniversität‘. Viele Gelehrte begannen hier ihre Karriere und nahmen dann bald einen Ruf nach Mittel- oder Westdeutschland an, wo das Universitätsnetz dichter und die wissenschaftliche Kommunikation folglich intensiver war. Marita Baumgarten, die für Ordinariatsbesetzungen bis zum Ersten Weltkrieg eine Beliebtheitsskala der Universitäten aufgestellt hat, kommt zu folgendem Ranking: Berlin, Bonn, Göttingen, Halle an der Saale, Breslau, Marburg an der Lahn, Königsberg, Kiel, Greifswald. Breslau rangiert also im Mittelfeld. Im Hinblick auf ihre Aufteilung in Einstiegs-, Aufstiegs- und Zieluniversität – die sie exemplarisch für Bayern aufstellt – gehörte ein Lehrstuhl in Breslau wohl eher zu den Aufstiegsprofessuren.47 Besonders Berlin übte für die Breslauer eine starke Sogkraft aus. Vermutlich hing dies auch damit zusammen, dass die meisten Professoren selbst nicht aus Schlesien kamen. Aber auch gebürtige Schlesier, die zeitweilig in Breslau tätig waren (Felix Rachfahl, Felix Priebatsch oder Johannes Ziekursch, die durchaus zu schlesischen Themen, vor allem zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte gearbeitet hatten), gingen an westdeutsche Universitäten. Trotz dieses Strukturnachteils war die Arbeit des Seminars recht erfolgreich. Schlesien war, wenn man so will, eine blühende Geschichtslandschaft, zieht man hier die zahlreichen lokalen Geschichtsvereine in Betracht, die bemerkenswerte Publikationen 45 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, S 79.9. 46 Bahlcke, Joachim (Hg.): Historische Schlesienforschung. Methoden, Themen und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kulturwissenschaft. Köln/ Weimar/Wien 2005 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 11). 47 Paletschek: Die permanente Erfindung, 443.
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lieferten, zumeist verfasst von vor Ort tätigen Geschichtslehrern oder Geistlichen.48 Die Universitätslehrer hielten Kontakt zu diesen Vereinen, vor allem zu dem Hauptverein, dem „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“, dessen Gründung Stenzel 1846 initiiert und dessen Vorsitz er übernommen hatte. Gefolgt war ihm in dieser Funktion Richard Roepell, der auch die Zeitschrift des Vereins herausgab, deren Schriftleitung 1862 Colmar Grünhagen übernahm. Seit 1871 leitete dieser den Verein dann bis 1905 gleichsam in einer Monopolstellung.49 Sylvia Paletschek konstatiert in ihrer Untersuchung zur Universität Tübingen im 19. Jahrhundert – so auch der Obertitel ihrer Untersuchung – die „permanente Erfindung einer Tradition“. Seit 1900 sei in der Selbstdarstellung der Universität die von Humboldt im Zuge der Gründung der Berliner Universität (1810) formulierte neuhumanistische Universitätsidee als die zentrale Zäsur der deutschen Universitätsgeschichte betrachtet worden. Dabei wurden die materiellen, politischen und strukturellen Probleme, mit denen die Universität im 19. Jahrhundert zu kämpfen hatte, in den Hintergrund gedrängt. Erst seit der Jahrhundertwende habe sich die von Humboldt geforderte Forschungsuniversität tatsächlich etabliert.50 Sicher trifft dieser Befund cum grano salis auch für das Breslauer Historische Seminar zu. Offen bleibt freilich, wie groß dieses granum salis war. In den bisherigen Forschungen wird deutlich, dass Breslau seinen Humboldt nicht erst erfinden musste, sondern dass im Streit um die Freiheit von Forschung und Lehre und in dem Bestreben nach einem forschungsorientierten Studium das Historische Seminar die Humboldtsche neuhumanistische Idee schon im 19. Jahrhundert durchaus zu verwirklichen suchte.
48 Kessler, Wolfgang: Orts- und Heimatgeschichte. In: Bahlcke (Hg): Historische Schlesienforschung, 431–448. 49 Baumgart: Colmar Grünhagen, 47. 50 Paletschek: Die permanente Erfindung, 536.
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Breslau als Zentrum landesgeschichtlicher Forschung: Der „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“ Im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts bildeten sich in den verschiedenen Territorien des untergegangenen Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation zunächst von privaten Initiatoren getragene Initiativen, denen es um die Sichtung, Sicherung und Erforschung der älteren Geschichte ging, da vielen Zeitgenossen die Gefahr vor Augen stand, dass diese Zeugnisse verlorengehen könnten. Mit Blick auf die Gesamtheit des früheren Reichsverbands ist hier an die Bemühungen des Freiherrn vom Stein um die 1819 in Frankfurt gegründete Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde zu erinnern.1 Mit Blick auf einzelne Territorien und Städte entstanden auch auf regionaler und örtlicher Ebene Initiativen, die sich zum Ziel setzten, die jeweilige geschichtliche Überlieferung zu sichern und zu erforschen.2 Diese erste Phase in der Entwicklung der historischen Vereine kann als vormärzliche Phase bezeichnet werden, in der „vaterländische Romantik, Mittelalterbegeisterung und die Neuentdeckung von Kunstdenkmälern“3 als treibende Kräfte des regionalen und lokalen Geschichtsinteresses zusammenkamen. In dieser Zeit und in diesem kulturgeschichtlichen Zusammenhang fanden sich auch in Schlesien Personen zusammen, denen es um die Sicherung und Erforschung der regionalen Überlieferung ging. In einem längeren und zwischenzeitlich unterbrochenen Gründungsprozess entstand in den Jahren von 1818 bis 1854 der Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens, auf dessen Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg im Folgenden durch einen Blick auf die äußere Geschichte und Mit-
1 �������������������������������������������������������������������������������������������� Schnabel Franz: Der Ursprung der vaterländischen Studien. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 88 (1951) 4–27. 2 Den ersten Überblick hierüber erstellte Klüpfel, Karl August: Die historischen Vereine und Zeitschriften Deutschlands. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1 (1844) 518–559, ohne Erwähnung der Breslauer Initiative. Vgl. ferner Heimpel, Hermann: Geschichtsvereine einst und jetzt [1963]. In: Boockmann, Hartmut u.a. (Hg.): Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte historischer Forschung in Deutschland. Göttingen 1972 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 1), 45–73, hier 48–52; Pabst, Klaus: Historische Vereine und Kommissionen in Deutschland bis 1914. In: Seibt, Ferdinand (Hg.): Vereinswesen und Geschichtspflege in den böhmischen Ländern. München 1986, 13–86, hier 21–28; Adam, Thomas: Rettung der Geschichte – Bewahrung der Natur. Ursprung und Entwicklung der Historischen Vereine und des Umweltschutzes in Deutschland von 1770 bis zur Gegenwart. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 133 (1997) 239–277, hier 243–252. 3 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Pabst, Klaus: Deutsche Geschichtsvereine vor dem Ersten Weltkrieg. In: Geschichtsvereine. Entwicklungslinien und Perspektiven lokaler und regionaler Geschichtsarbeit. Bergisch Gladbach 1990 (Bensberger Protokolle 62), 9–32, hier 18.
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gliederentwicklung (I), die verschiedenen Betätigungsfelder (II) und das inhaltliche Profil der wissenschaftlichen Betätigung (III) Zugang gewonnen werden soll.4
I. Der junge Berliner Jurist Johann Gustav Gottlieb Büsching, der sich für deutsche Sprachaltertümer interessierte, besuchte zu diesem Zweck 1809 schlesische Klöster und entwarf den Plan, zum Schutz der Klosterschätze eine schlesische Zentralbibliothek zu gründen. Diese Idee konnte er dank einer staatlichen Initiative, dem preußischen Säkularisierungsedikt vom Oktober 1810, weiterverfolgen, in dem „dem Doctor Herr Büsching [...] der Auftrag ertheilt wurde, sich nach und nach in sämmtliche aufgehobene Stifter und Klöster der Provinz Schlesien zu begeben und daselbst 1) alle darin befindliche Bibliotheken, Archive und Dokumente zu revidieren, darüber einen Katalog anzufertigen [...] usw.“5 In der Folge dieser Arbeiten wurde Büsching 1812 zum ersten Landesarchivar ernannt. Wenige Jahre später unternahm er eine neue Initiative zur Sicherung und Präsentation der schlesischen Altertümer. In den Schlesische[n] Provinzialblätter[n]6 publizierte er im November 1818 einen Aufruf zur Gründung eines Vereins, um von dessen Mitgliedsbeiträgen „Zeitbücher, Urkundensammlungen, Beschreibungen von Alterhümern und Kunstsachen [...] abdrucken zu lassen“. Als Vereinsmitglieder oder Subskribenten meldeten sich insgesamt 489 Personen. Diese Initiative wird aber nur mit Einschränkungen als Verein bezeichnet werden können, da es sich im Grunde lediglich um eine Finanzierungsform für die Editionen Büschings (u.a. Nikolaus Pol, Peter Eschenloer, Urkunden des Kloster Leubus) handelte; entsprechend löste sich der „Verein für Kunst, Alterthümer und Geschichte Schlesiens“ schon 1825 wieder auf.7 Die Initia4 Die Vereinsgeschichte wurde bislang vor allem in zwei Jubiläumspublikationen thematisiert. Vgl. Markgraf, Hermann: Der Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens in den ersten 50 Jahren seines Bestehens. Breslau 1896; Schellakowsky, Johannes: „Soll aber Schlesien noch länger zurückbleiben?“ Zur Gründungsgeschichte und weiteren Entwicklung des Vereins für Geschichte Schlesiens bis 1945. In: ders./Schmilewski, Ulrich (Hg.): 150 Jahre Verein für Geschichte Schlesiens. Würzburg 1996 (Einzelschriften des Vereins für Geschichte Schlesiens 2), 9–58; Kessler, Wolfgang: Der Verein für Geschichte (und Altertum) Schlesiens und seine Veröffentlichungen 1846– 1943. In: ders. (Bearb.): Zeitschrift des Vereins für Geschichte (und Altertum) Schlesiens 1855– 1943. Schlesische Geschichtsblätter 1908–1943. Gesamtverzeichnis. Hannover 1984 (Schlesische Kulturpflege 1), V–XXII. 5 Schellakowsky: Gründungsgeschichte, 23–26; Hałub, Marek: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829. Ein Beitrag zur Begründung der schlesischen Kulturgeschichte. Wrocław 1997 (Acta Universitatis Wratislaviensis 1978), 39–51. 6 Gerber, Michael Rüdiger: Die Schlesischen Provinzialblätter 1785–1849. Sigmaringen 1995 (Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte 27), 57–60. 7 Markgraf: Der Verein, 1–11; Menzel, Josef Joachim: Die Anfänge der kritischen Geschichtsforschung in Schlesien zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Festschrift Ludwig Petry, Tl. 2. Stuttgart u.a. 1969 (Geschichtliche Landeskunde 5/2), 245–267, hier 255–257; Hałub: Büsching, 71–73.
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tive Büschings steht vom Anliegen des Initiators und von der Resonanz beim schlesischen Publikum für einen Übergang vom Typ der Dilettanten, der „romantischen Liebhabernatur“,8 die im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert das Profil der erwachenden landesgeschichtlichen Interessen prägten,9 zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Landesgeschichte. Dieser Übergang kann mit Büschings Mitarbeiter und Nachfolger im Landesarchiv, Gustav Adolf Harald Stenzel, der seit 1820 auch an der Universität lehrte, als vollzogen gelten.10 Stenzel war zugleich derjenige, der die Verbindung zur „Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur“ repräsentierte. Er war von 1834 bis 1845 Sekretär der 1812 gegründeten „Historischen Sektion“, deren Profil er zu einer Sektion für schlesische Geschichte einzuengen versuchte,11 und bemühte sich in diesem Rahmen um die Realisierung eines großen Editionsprojekts, der Scriptores rerum Silesiacarum, von denen 1835 der erste Band erschien. Stenzel sah jedoch im finanziellen und organisatorischen Rahmen der „Schlesischen Gesellschaft“ unzureichenden Raum für seine wissenschaftlichen Projekte und ging daran, erneut einen eigenen schlesischen Geschichtsverein ins Leben zu rufen. Er veröffentlichte im Oktober 1844 einen „Aufruf zur Bildung eines Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens“, dem bis Ende 1846 435 Mitglieder beitraten. Die Wirksamkeit des Vereins, der nach längeren Satzungsdiskussionen im Januar 1846 konstituiert war,12 war jedoch – ähnlich wie Büschings Vorgängerorganisation – sehr auf Stenzel zugeschnitten: Die Vereinsversammlungen mit Vorträgen zur schlesischen Geschichte (im Jahr 1846 sechs, 1847 neun) wurden, mit einer Ausnahme, nur von Stenzel selbst bestritten. Nach zwei Vorträgen zu Beginn des Jahres 1848 und zwei weiteren Ende 1849 – in der Zwischenzeit war Stenzel als Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung engagiert – fand eine letzte Versammlung im Oktober 1850 statt; die Zahl der Vereinsmitglieder war am Ende unter 200 gesunken.13 Auffällig ist, dass Stenzel sich nicht um die Herausgabe einer Vereinszeitschrift bemühte, obwohl schon in den 1840er Jahren hieran gedacht wurde.14 18 Menzel: Anfänge, 257. 19 Kraus, Andreas: Der Beitrag der Dilettanten zur Erschließung der geschichtlichen Welt im 18. Jahrhundert. Eine Überschau über die Behandlung der Geschichte in deutschen Zeitschriften des Jahrhunderts der Aufklärung. In: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 57 (1962) 192–225. 10 Zu Stenzel Vgl. Markgraf: Der Verein, 12f.; Rachfahl, Felix: Gustav Adolf Harald Stenzel. In: Andreae, Friedrich u.a. (Hg.): Schlesier des 19. Jahrhunderts. Breslau 1922 (Schlesische Lebensbilder 1), 298–305; Menzel: Die Anfänge, 259–267; Schellakowsky: Gründungsgeschichte, 9–22; Bahlcke, Joachim: Die Geschichtswissenschaft an der Universität Breslau 1811 bis 1945. Fachentwicklung – Personalstand – Forschungsschwerpunkte. In: Jahrbuch für schlesische Kultur und Geschichte 53/54 (2012/13) 569–588, hier 571, 576. 11 Markgraf: Der Verein, 15. 12 Ebd., 17–20. 13 Ebd., 26. 14 Ebd., 23f.; nach Maetschke, Ernst: Die Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 1855– 1905. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 41 (1907) 1–16, hier 3, hatte Stenzel
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Eine eigentliche Vereinstätigkeit kam erst nach Stenzels Tod (1854) in Gang, nachdem auf einer Generalversammlung im Oktober 1854 Richard Roepell, der seit 1841 an der Universität lehrte, zum Vereinsvorsitzenden („Präses“) gewählt worden war.15 In den folgenden fast zwanzig Jahren wirkte der Verein unter drei verschiedenen Vorsitzenden,16 von denen freilich keiner ein wissenschaftliches Profil in der schlesischen Geschichtsforschung entwickelte oder den Verein entscheidend und dauerhaft prägte. Roepell zog sich nach fünf Jahren 1859 vom Vorsitz zurück, behielt aber noch einige Jahre die Redaktion der Vereinszeitschrift, die er von Beginn an (1855) leitete. Ihm folgte Wilhelm Wattenbach, der als Nachfolger Stenzels seit 1855 das Provinzialarchiv leitete, 1862 aber Breslau verließ.17 An dessen Stelle wiederum trat kein Historiker, sondern ein Mann der schlesischen Landesverwaltung, der General-Landschaftssyndikus Sigismund von Görtz, der zuvor schon stellvertretender Vereinsvorsitzender gewesen war.18 Nach Görtz’ krankheitsbedingtem Rückzug von der Vereinsleitung wurde im Januar 1871 Colmar Grünhagen zum Vorsitzenden gewählt. Gebürtig aus Trebnitz, wirkte er nach der Promotion in Halle an der Saale seit 1853 in Breslau, wo er sich 1855 habilitierte. Er leitete als Nachfolger Wattenbachs fast vier Jahrzehnte, bis 1901, das Breslauer Staatsarchiv, redigierte über vier Jahrzehnte (1863–1905) die Vereinszeitschrift und stand bis 1905 an der Spitze des Vereins. Durch seine lange Präsenz und seine enorme literarische und editorische Produktivität prägte er wie kein anderer vor und nach ihm die Geschichte des Vereins.19 Dieser Umstand mag dazu beigetragen haben, dass der nachfolgende Wechsel im Amt des Vereinsvorsitzenden keineswegs harmonisch ablief. Nach Grünhagens Ausscheiden aus der Leitung des Staatsarchivs im März 1901 befasste sich der Vorstand auf Anregung des Schatzmeisters, Bernhard von Prittwitz, mit
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schon 1844 auch die Publikation von landesgeschichtlichen Aufsätzen geplant: „Aber Stenzel war nicht der Mann, diese Idee in die Wirklichkeit umzusetzen. Dazu war er zu weltfremd, zu sehr Gelehrter, der alles Stückwerk haßte; auch hütete er die Schätze des Archivs ängstlich vor profanen Augen.“ Zu Roepell vgl. Reimann, Eduard: Geheimer Regierungsrath Professor Dr. Röpell. Ein Nekrolog. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 28 (1894) 461–471; Priebatsch, Felix: Richard Roepell. In: Andreae u.a. (Hg.): Schlesier des 19. Jahrhunderts, 164–167; Bahlcke: Die Geschichtswissenschaft, 576f., 579, 585f. Chronologische Übersicht bei Wolfrum, Peter: Ehrenmitglieder, Korrespondierende Mitglieder und Vorstände des Vereins für Geschichte Schlesiens. In: Schellakowsky/Schmilewski (Hg.): 150 Jahre, 77–92, hier 87. Zu Wattenbachs Wirken in Breslau vgl. Markgraf: Der Verein, 29–32; Grünhagen, Colmar: Wattenbach in Breslau 1855–1862. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 32 (1898) 345–358. Sigismund von Goertz. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 14 (1878) 582–585; Markgraf: Der Verein, 32–34. Zu Grünhagen vgl. Markgraf: Der Verein, 36–47; Meinardus, Otto: Zu Colmar Grünhagens Gedächtnis. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 46 (1912) 1–65; Wendt, Heinrich: Colmar Grünhagen. In: Andreae, Friedrich u.a. (Hg.): Schlesier des 17.–19. Jahrhunderts. Breslau 1928 (Schlesische Lebensbilder 3), 362–371.
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einer Änderung der seit 1846 gültigen Vereinssatzung. Die Vorschläge der im November 1903 gebildeten Kommission, bestehend aus Grünhagen, Markgraf und Prittwitz, wurden auf der Generalversammlung im Dezember 1904 angenommen und im Mai 1905 vom Oberpräsidenten genehmigt; äußerlich sichtbar war diese Änderung im neuen Vereinsnamen: „Verein für Geschichte Schlesiens“.20 Inzwischen hatten sich im Verein Widerstände gegen Grünhagen formiert, die diesen veranlassten, seinen Tätigkeitsbericht Ende 1904 mit den enigmatischen Worten enden zu lassen: „Möge, wer immer den nächsten Bericht zu verfassen haben wird, nur Gutes und Günstiges [...] zu verzeichnen haben!“21 Ein halbes Jahr später, Anfang Juni 1905, legten dann Grünhagen und Prittwitz ihre Ämter nieder. Erst Jahre später ließen Zeugen der damaligen Veränderungen erkennen, welche Konfliktfelder sich im Hintergrund aufgebaut hatten. Grünhagen war über drei Jahrzehnte, durch seine Leitung des Staatsarchivs, des Geschichtsvereins und als Redakteur der Vereinszeitschrift, die bestimmende Persönlichkeit der schlesischen Landesgeschichte. Um ihn hatte sich ein Kreis von Breslauer Vereinsmitgliedern gebildet, die Heinrich Wendt später als Grünhagens „Getreue“ bezeichnete.22 Vordergründig ging es um das Aufbegehren jüngerer Historiker gegen die deutliche Dominanz Grünhagens im Verein, wobei auch die nachfolgende Generation im Durchschnitt ein Lebensalter von über fünfzig Jahren aufwies. Die Zeit seit der Mitte der 1890er Jahre sei „eine unruhige Zeit [gewesen], in der eine jüngere Generation ihre Anschauungen gegen Grünhagens überragenden Einfluß schließlich durchsetzte. Sein persönliches Übergewicht im Vorstande war infolge seiner großen Geschäftserfahrung und des Ansehens, das er bei dessen Mitgliedern genoß, schließlich so groß geworden, daß er den Verein fast selbstherrlich leitete.“23 Daneben gab es mehrere fachwissenschaftliche Konflikte. Die wissenschaftlichen Anregungen und Neuerungen in der deutschen Geschichtswissenschaft, die mit den Namen Gustav Schmoller und Karl Lamprecht verbunden sind, stießen bei Grünhagen auf Ablehnung.24 Die in Kreisen der Archivwissenschaft entwickelten Vorschläge, systematisch Bestände nichtstaatlicher Archive zu erfassen und Archivinventare zu drucken, stießen bei Grünhagen sehr auf
20 Zum Ablauf des Prozesses der Satzungsänderung vgl. die Angaben in: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 39 (1905) 324; ebd., 41 (1907) 421. 21 Ebd., 39 (1905) 332. 22 Zu Grünhagens gruppenbildenden Fähigkeiten vgl. Wendt: Colmar Grünhagen, 368f.; zu den „Getreuen“, die „ihre Dankbarkeit auch dadurch [bestätigten], daß sie den Anregungen und Wünschen Grünhagens meist ohne Widerspruch folgten“, zählte er Hermann Markgraf, Bernhard von Prittwitz, Eduard Reimann, Hermann Palm, Adolf Schimmelpfennig, Carl Weigelt, Theodor Schönborn, Julius Krebs und Paul Feit. Bei den Genannten handelte es sich durchweg um Lehrer und Geistliche. 23 Maetschke, Ernst: Ein Nachtrag. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 55 (1921) 134–136. 24 Ebd., 134f.; Wendt: Colmar Grünhagen, 370.
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Zurückhaltung.25 Schließlich gab es urkundenkritische Einwände gegen Grünhagens Bearbeitung der Regesten zur schlesischen Geschichte.26 Grünhagens Nachfolger im Vereinsvorsitz wurde der nur zehn Jahre jüngere Breslauer Stadtbibliothekar und Stadtarchivar Hermann Markgraf, der seit 1885 im Vorstand tätig war, aber schon ein halbes Jahr nach seiner Wahl im Juni 1905 starb.27 Bis Ende 1913, zum Vorabend des Ersten Weltkriegs, übernahm dann Grünhagens Nachfolger im Amt des Direktors des Staatsarchivs, Otto Meinardus, die Leitung des Vereins.28 Über die Zeit des Weltkriegs hinaus, bis 1925, saß ihm dann Ernst Maetschke vor. Bemerkenswert ist, dass über diesen gesamten Zeitraum das Amt des Vereinsvorsitzenden mit dem Staatsarchiv verbunden war: von Büsching über Stenzel, Wattenbach, Grünhagen, Markgraf und Meinardus waren alle Vorsitzenden zugleich Leiter des Breslauer Archivs.29 Der Vorstand des Vereins bestand neben dem Vorsitzenden (bis 1896: „Präses“) aus sechs weiteren Mitgliedern, dem stellvertretenden Vorsitzenden,30 dem Schatzmeister,31 dem Bibliothekar32 sowie drei Beisitzern (bis 25 Grünhagen berichtete hierüber auffallend unengagiert und zurückhaltend, vgl. Anm. 239. Wendt: Colmar Grünhagen, 370f., spricht davon, dass Grünhagen diesen Plänen „widerstrebte“. 26 Ebd., 371; Irgang, Winfried: Oberschlesien im Mittelalter. Einführung in Raum und Zeit [1993]. In: ders.: Schlesien im Mittelalter. Siedlung, Kirche, Urkunden. Ausgewählte Aufsätze. Hg. v. Norbert Kersken und Jürgen Warmbrunn. Marburg 2007 (Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung 17), 114–131, hier 118f.; ders.: Urkundenforschung [2005]. Ebd., 289–301, hier 290, 295f.; ders.: Die Bedeutung des Schlesischen Urkundenbuchs für die Erforschung der mittelalterlichen Geschichte Schlesiens [1998]. Ebd., 340–350, hier 341; ders.: Das Urkundenwesen Herzog Heinrichs III. von Schlesien (1248–1266) [1982]. Ebd., 351–396, hier 389; ders.: Das Urkunden- und Kanzleiwesen Herzog Heinrichs IV. von Schlesien (1270–1290) [1987]. Ebd., 397–446, hier 399. 27 Zu Markgraf vgl. Wendt, Heinrich: Zu Hermann Markgrafs Gedächtnis. Breslau 1906; Hippe, Max: Hermann Markgraf. In: Andreae, Friedrich (Hg.): Schlesier des 16. bis 19. Jahrhunderts. Breslau 1931 (Schlesische Lebensbilder 4), 402–410; Rüffler, Alfred: Die Stadtbibliothek Breslau im Spiegel der Erinnerung. Geschichte, Bestände, Forschungsstätte. Sigmaringen 1997 (Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte 28), 66–75. 28 Wutke, Konrad: Otto Meinardus. Ein Lebensbild. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 53 (1919) 1–28. 29 Leesch, Wolfgang: Die deutschen Archivare 1500–1945, Bd. 1: Verzeichnis nach ihren Wirkungsstätten. München u.a. 1985, 35. 30 Er wurde bis 1896 als „Vicepräses“ bezeichnet. Diese Funktion übten nacheinander Joseph Ignatz Ritter (1854–1857), Sigismund von Görtz (1859–1862), Eduard Cauer (1862–1863), Hermann Palm (1863–1885), Eduard Reimann (1885–1900), Hermann Markgraf (1900–1905), Julius Krebs (1905–1912) und Joseph Jungnitz (1913–1918) aus. Zu diesem Kreis vgl. Wolfrum: Ehrenmitglieder, 88. 31 Dies waren Ernst Ferdinand Ruthardt (1850–1864), Julius Neugebauer (1864–1878), Bernhard von Prittwitz-Gaffron (1878–1905), Otto Meinardus (1905–1906), Ernst Maetschke (1906– 1913) und Eduard Jungfer (1913–1930). Vgl. ebd., 88f. 32 Diese bis 1905 ausgewiesene Vorstandsfunktion hatten Hermann Palm (1859–1863), Eduard Reimann (1863–1885), Hermann Markgraf (1885–1899) und Julius Krebs (1900–1905) inne. Vgl. ebd., 89.
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1896: „Repräsentanten“),33 von denen nach dem Ausscheiden Grünhagens, der neben dem Vorsitz auch die Redaktion der Zeitschrift geführt hatte, die Funktion des Redakteurs der Zeitschrift gesondert ausgewiesen wurde.34 Seit der Frühzeit des Vereins wurden Ehrenmitglieder aufgenommen.35 Dies waren durchschnittlich etwa zehn Personen, mit einem Höchstwert von zwölf Personen in den Jahren um den Ersten Weltkrieg (1913, 1915) und der niedrigsten Zahl von vier in den Jahren um 1890. Bei den Ehrenmitgliedern sind zwei Personengruppen besonders exponiert. Es sind zum einen die Leiter von Archiven, die für die Geschichte Schlesiens eine besondere Bedeutung hatten. Hier steht das Preußische Geheime Staatsarchiv in Berlin an erster Stelle, dessen Direktoren bzw. die Generaldirektoren der preußischen Staatsarchive so mit dem Verein verbunden wurden; im Einzelnen waren dies Carl Wilhelm von Lancizolle (1860),36 Maximilian Duncker (1870),37 Heinrich von Sybel (1883),38 Reinhold Koser (1897)39 und Paul Fridolin Kehr (1925).40 Den Beziehungen nach Wien wurde indes weniger Aufmerksamkeit geschenkt; hier wurde Beda Dudík 1860 noch als Archivar des Deutschen Ordens aufgenommen;41 Alfred von Arneth, der Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs (seit 1868), wurde erst 1896, im Jahr vor seinem Tod, zum Ehrenmitglied ernannt.42 In Brünn war schon seit 1860 der mährische Archivdirektor Peter von Chlumecký Ehrenmitglied.43 Als dem Repräsentanten eines weiteren Archivs in der territorialen Nachbarschaft Schlesiens wurde dem Direktor des Hauptstaatsarchivs Dresden, Karl von Weber, 1874 die Ehrenmitgliedschaft verliehen;44 bemerkenswert ist, dass nach dessen Tod (1879) mit keinem seiner Nachfolger, sondern stattdessen mit dem langjährigen Mitarbeiter am Hauptstaatsarchiv und Herausgeber des Neue[n] Archiv[s] für sächsische Geschichte, Hubert Ermisch, 1897 die Verbindung gesucht wurde.45 Ein Nachbararchiv war für Breslau auch das Ratsarchiv Görlitz, dessen Leiter Richard Jecht 1911 zum Ehrenmitglied ernannt wurde.46 33 Eine Übersicht findet sich ebd., 89–91. 34 Die Redaktion hatte Konrad Wutke 1907 von Grünhagen übernommen, er wurde aber erst Ende 1908 auch in den Vorstand aufgenommen. Ende 1913 wurde im Vorstand eine Redaktionskommission gebildet, der neben Wutke als Redakteur der Zeitschrift noch Heinrich Wendt als Schriftleiter der Vereinsreihe Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte, ferner der Vorsitzende Ernst Maetschke sowie Johannes Ziekursch angehörten. 35 Eine alphabetische Übersicht ebd., 79–85; Schellakowsky: Gründungsgeschichte, 43–45. 36 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 3 (1860) 401. 37 Ebd., 10 (1870) 508. 38 Ebd., 17 (1883) 376. 39 Ebd., 31 (1897) 369. 40 Ebd., 59 (1925) 194. 41 Ebd., 3 (1860) 401. 42 Ebd., 31 (1897) 369. 43 Ebd., 3 (1860) 401. 44 Ebd., 13 (1876) 551. 45 Ebd., 31 (1897) 369. 46 Ebd., 45 (1911) 366; 47 (1913) 341.
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Als zweite Gruppe der Ehrenmitglieder lässt sich eine Zahl namhafter Historiker ausmachen, die in der Regel Universitätsprofessoren waren. Zu den ersten Ehrenmitgliedern gehörte Johann Friedrich Böhmer, der Begründer der Regesta imperii in Frankfurt am Main.47 Zeitgleich wurde nach dem Weggang Wattenbachs nach Heidelberg 1864 durch dessen Nachfolger im Vorsitz, Sigismund von Görtz, diesem sowie Georg Waitz in Göttingen, ferner Johann Gustav Droysen und Leopold Ranke in Berlin die Ehrenmitgliedschaft verliehen; bei gleicher Gelegenheit wurden auch Jakob Grimm und der Rechtshistoriker und Kronsyndikus Karl Gustav Homeyer zu Ehrenmitgliedern ernannt.48 Es fällt auf, dass hier Wissenschaftler ersten Ranges mit dem schlesischen Verein in Verbindung gebracht wurden, die aber in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit kaum oder gar nicht durch Interessen an der schlesischen Geschichte geprägt waren. Das scheint auch für zwei polnische Historiker zuzutreffen, für Aleksander Przezdziecki, den führenden polnischen Mediävisten Mitte des 19. Jahrhunderts, der 1870, ein Jahr vor seinem Tod, zum Ehrenmitglied ernannt wurde,49 sowie für Wojciech Kętrzyński, der 1887 als Direktor des Ossolineums in Lemberg zum korrespondierenden und 1896 zum Ehrenmitglied ernannt wurde.50 Neben den Kontakten nach Berlin waren dem Verein Beziehungen zu Geschichtsforschern in Prag wichtig; schon zu den ersten Ehrenmitgliedern zählte František Palacký;51 in den 1890er Jahren wurde Gottlieb Biermann52 und Josef Emler,53 die schon seit 1860 bzw. 1889 korrespondierende Vereinsmitglieder waren, die Ehrenmitgliedschaft angetragen. Einige weitere Wissenschaftler, die zuvor lange Jahre in Breslau gewirkt hatten, wurden nach ihrem Weggang zu Ehrenmitgliedern ernannt, so 1889 der Germanist und Volkskundler Karl Weinhold,54 1893 der Agrarhistoriker und Statistiker August Meitzen55 sowie 1906 der Geograph Joseph Partsch.56 Mehrfach wurde auch 47 48 49 50 51 52
Ebd., 3 (1860) 401. Ebd., 6 (1864) 397, 403. Ebd., 10 (1870) 504, 508. Ebd., 31 (1897) 369. Ebd., 3 (1860) 401. Ebd., 29 (1895) 353, 359; zu Biermann vgl. Veselská, Jiřina/Makariusová, Marie: Biermann, Gottlieb. In: Biografický slovník českých zemí, Bd. 5. Praha 2006, 495f. 53 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 31 (1897) 369; zu Emler vgl. Hlaváček, Ivan: Emler, Josef. In: Biografický slovník českých zemí, Bd. 15. Praha 2012, 588f.; Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Bd. 1. Wien 1957, 245f. 54 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 25 (1891) 367; Weinhold war 1849 und von 1875 bis 1889 Professor in Breslau und lehrte seit 1889 in Berlin, vgl. Grünhagen, Colmar: Karl Weinhold. Ebd., 36 (1901) 429–447. 55 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., 27 (1893) 424; Meitzen hatte als Regierungskommissar von 1856 bis 1865 in Breslau gearbeitet und begleitend auch bei Wattenbach studiert, bevor er 1865 nach Berlin ging, wo er 1875 eine Professur für Statistik und Nationalökonomie erhielt. Vgl. Kern, Arthur: August Meitzen. Ebd., 45 (1911) 351–352. 56 Ebd., 41 (1907) 432; Partsch war nach seinem Studium in Breslau dort seit 1875 Professor für Geographie und 1899/1900 Rektor der Universität und wurde 1906 an die Universität Leipzig berufen. Vgl. Imhof, Viola: Joseph Partsch. In: Neue Deutsche Biographie 20 (2001) 76f.
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bekannten Juristen und Rechtshistorikern die Ehrenmitgliedschaft verliehen, so 1857 dem Krakauer Rechtshistoriker Antoni Zygmunt Helcel,57 ferner 1864 Karl Gustav Homeyer58 sowie 1896 Adolph Stölzel,59 die beide preußische Kronsyndici waren. Neben diesen exponierten Wissenschaftlern verlieh man Persönlichkeiten des politischen und gesellschaftlichen Lebens die Ehrenmitgliedschaft. Hier ist zuerst Rudolf von Stillfried-Alcántara zu nennen, der nach seinem Studium in Breslau seit dem Beginn der 1830er Jahre mit dem preußischen Hof verbunden war, unter anderem als Zeremonienmeister, und 1869 zum Ehrenmitglied des Vereins ernannt wurde,60 ebenso wie 1886 Gustav Freytag.61 In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurden solche Ehrenmitgliedschaften dann verstärkt verliehen: 1907 an Robert von Zedlitz und Trützschler, den Oberpräsidenten der Provinz Schlesien,62 1911 an den Breslauer Oberbürgermeister Georg Bender,63 ebenfalls 1911 an den Breslauer Fürstbischof Georg von Kopp64 sowie 1915 an den Landeskonservator der Provinz Schlesien, Hans Lutsch.65 Eine letzte Gruppe unter den Ehrenmitgliedern waren Wissenschaftler, die seit langem mit dem Verein verbunden waren und später als Zeichen der Anerkennung zu Ehrenmitgliedern ernannt wurden. Dazu gehört Hermann Grotefend, der von 1870 bis 1874 im Staatsarchiv Breslau gearbeitet hatte, gleich nach seinem Wechsel an das Staatsarchiv Aurich zum korrespondierenden Mitglied und 1896, als Leiter des Schweriner Staatsarchivs, zum Ehrenmitglied ernannt wurde.66 Zu nennen sind hier weiterhin Julius Krebs, der seit 1887 Vorstandsmitglied und 1905 bis 1912 stellvertretender Vorsitzender war und bei seinem Wegzug aus Breslau mit der Ehrenmitgliedschaft geehrt wurde,67 sowie Wilhelm (Lambertus) Schulte anlässlich seines 70. Geburtstages.68
57 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 3 (1860) 401; zu Helcel vgl. Kolak, Wacław/Pańków, Stanisława: Helcel Sternstein Ludwik Edward (1810–1872). In: Polski Słownik Biograficzny 9 (1960/61) 357–358. 58 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 6 (1864) 403; zu Homeyer vgl. Schubart-Fikentscher, Gertrud: Homeyer, Carl Gustav. In: Neue Deutsche Biographie 9 (1972) 589f. 59 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 31 (1897) 369. 60 Ebd., 10 (1870) 504, 508; zu Stillfried-Alcántara vgl. Gehrke, Roland: Rudolf Graf von StillfriedAlcántara (1804–1882). In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 11. Insingen 2012, 333–347. 61 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 21 (1887) 440f., 447. 62 Ebd., 43 (1909) 348, 348f., 354. 63 Ebd., 47 (1913) 344f. 64 Ebd. 65 Ebd., 49 (1915) 361. 66 Ebd., 31 (1897) 369; zu Grotefend vgl. Wutke, Konrad: Hermann Grotefend. Ebd., 65 (1931) 551–555; Leesch: Die deutschen Archivare, Bd. 1, 201. 67 Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 47 (1913) 342, 344; ebd., 49 (1915) 361. 68 Ebd., 49 (1915) 361; Schulte nahm 1910 anlässlich seines Beitritts zum Franziskanerorden den Ordensnamen Lambertus an. Vgl. Seppelt, Franz Xaver: Nachruf P. Dr. Lambert Schulte O.F.M. Ebd., 54 (1920) 120–154.
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Gesichtspunkte der gesellschaftlichen Repräsentation werden bei der Auswahl der korrespondierenden Mitglieder kaum von Bedeutung gewesen sein.69 Zu solchen Mitgliedern wurden Wissenschaftler ernannt, die nicht in Schlesien wirkten, die aber Bezüge zur schlesischen Geschichtsforschung leisteten, weil sie Forschungen betrieben, die für die Schlesienforschung anschlussfähig waren, oder weil sie selbst zeitweise in Breslau gewirkt hatten. Die Zahl der korrespondierenden Mitglieder belief sich von Mitte der 1860er bis Mitte der 1890er Jahre auf jeweils zehn bis zwölf Personen, seit Mitte der 1890er Jahre waren es jeweils drei bis fünf Personen. Von ihrer disziplinären Ausrichtung waren sie, mit Ausnahme der Germanisten Karl Bartsch und Karl Weinhold sowie des Juristen Ferdinand Fabricius, durchweg Historiker. Eine biographische Bindung an Schlesien und Breslau durch Herkunft, Studium oder zeitweiligen Aufenthalt findet sich bei Karl Bartsch,70 Ferdinand Fabricius,71 Hermann Granier,72 Hermann Grotefend,73 Karl Kletke,74 Hermann Neuling,75 Józef Przyborowski,76 Lambertus Schulte,77 Franz Wachter,78 Adolf Warschauer79 und Karl Weinhold.80 Eine regionale Zuordnung der korrespondierenden Mitglieder lässt sieben Schwerpunkte unterscheiden. Der wichtigste Orientierungspunkt war das Wissenschaftszentrum Berlin. Im Unterschied zu den Ehrenmitgliedern aus Berlin suchte man hier nicht den Kontakt zu den ‚großen Namen‘: Berücksichtigt wurden 1867 der junge Archivar
69 Eine chronologische Übersicht bietet Wolfrum: Ehrenmitglieder, 86f. 70 Er wurde in Sprottau geboren und begann sein Studium der klassischen und germanischen Philologie in Breslau. 71 Er wurde in Breslau geboren und promoviert und war dort von 1898 bis 1911 Senatspräsident des Oberlandesgerichts. Vgl. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 34 (1913) 738f. 72 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Er war in Breslau geboren und aufgewachsen und wirkte von 1900 bis 1903 am dortigen Staatsarchiv. Vgl. Leesch: Die deutschen Archivare, Bd. 1, 196. 73 Er wirkte von 1870 bis 1873 am Staatsarchiv Breslau. Vgl. Anm. 66. 74 Er war in Breslau geboren und aufgewachsen. 75 Er wurde in Trebnitz geboren, wirkte als Amateurhistoriker mit Bezug zum Geschichtsverein und wurde anlässlich seines Fortgangs aus Breslau geehrt. Vgl. Wutke, Konrad: Hermann Neuling. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 47 (1913) 331–334. 76 Er hatte von 1843 bis 1852 in Breslau klassische und slawische Philologie sowie Geschichte studiert. Vgl. Skręt, Rościsław: Przyborowski, Józef Tomasz (1823–1896). In: Polski Słownik Biograficzny 29 (1986) 76–79. 77 Vgl. Anm. 68. 78 Er wirkte von 1879 bis 1897 am Staatsarchiv Breslau; Leesch, Wolfgang: Die deutschen Archivare 1500–1945, Bd. 2: Biographisches Lexikon. München u.a. 1992, 641. 79 Er hatte in Breslau das Gymnasium besucht und anschließend studiert und wurde 1881 dort von Jacob Caro promoviert. Ebd., 648. 80 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Er hatte u.a. in Breslau studiert, wo er 1849/50 und von 1875 bis 1889 eine germanistische Professur innehatte. Vgl. Anm. 54.
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am Geheimen Staatsarchiv Ernst Strehlke,81 1868 Karl Kletke82 sowie 1889 Albert Naudé.83 Standen Strehlke und Naudé noch am Beginn ihrer wissenschaftlichen Laufbahn, so wurden 1911 mit Max Perlbach84 und 1912 mit Hermann Granier85 zwei Historiker auf dem Höhepunkt ihres Wirkens hinzugezogen. Weniger Beachtung fanden Beziehungen zu Wiener Historikern. Hier ist neben Franz Kürschner am Reichsfinanzarchiv86 nur Heinrich Zeißberg zu nennen, der 1872 nach seinem Ruf an die Universität Wien zum korrespondierenden Mitglied ernannt wurde.87 Es bleibt offen, ob Zeißbergs Profil als Erforscher der polnischen und allgemein der slawischen Geschichte, das er in seiner Lemberger Zeit seit 1864 erworben hatte, für die Wahl entscheidend war, doch widmete der Verein von Beginn an wissenschaftlichen Kontakten zur polnischen Geschichtswissenschaft große Aufmerksamkeit. 1860 wurden der Posener Lehrer und Archivar Józef Przyborowski,88 1868 der Krakauer Volkskundler und Bibliothekar Żegota Pauli,89 1887 der bereits erwähnte
81 �������������������������������������������������������������������������������������������� Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 8 (1867) 225; Hubatsch, Walther: Strehlke, Ernst. In: Altpreußische Biographie, Bd. 2. Marburg 1967, 709; Leesch: Die deutschen Archivare, Bd. 2, 600. 82 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 9 (1869) 425, 427. 83 Ebd., 25 (1891) 362f., 367. Naudé hatte sich 1889 in Berlin habilitiert und wurde als „Herausgeber der politischen Correspondenz Friedrichs des Großen“ vorgestellt. 84 Ebd., 45 (1911) 367. Perlbach war seit 1903 Abteilungsdirektor an der Königlichen Bibliothek in Berlin, wo er 1913 pensioniert wurde; wissenschaftlich beschäftigte er sich vor allem mit dem mittelalterlichen Preußenland, er widmete sich aber auch – da in Breslau aufgewachsen – der Geschichte des mittelalterlichen Schlesien. Vgl. Mentzel-Reuters, Arno: Max Perlbach als Geschichtsforscher. In: Preußenland 45 (2007) 39–53, hier 39f., in der Bibliographie die Positionen Nr. 1, 2, 9, 96. 85 Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 49 (1915) 361. Granier war seit 1906 bis zu seiner Pensionierung 1923 Archivar am Brandenburgisch-Preußischen Hausarchiv in BerlinCharlottenburg und wurde als „hervorragende[r] Kenner der Zeit von 1813“ vorgestellt. 86 Ebd., 10 (1870) 508; Mikoletzky, Hanns Leo: Kürschner, Franz. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Bd. 4. Wien 1968, 328f. 87 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens. Register zu Band VI–X. Breslau 1871, 9; Weber, Wolfgang: Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Lehrstuhlinhaber für Geschichte von den Anfängen des Faches bis 1970. Frankfurt am Main u.a. 1984, 681f. 88 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 3 (1860) 401; vgl. Anm. 76. 89 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 9 (1868) 425, 427. Hier und in den weiteren Verzeichnissen des Vereins wird die Polonisierung des Vornamens von Ignacy zu Żegota nicht verstanden und der Name durchweg Ignatz Zegota-Pauly geschrieben. Vgl. Bieńkowski, Wiesław: Pauli Żegota Jakub (1814–1895). In: Polski Słownik Biograficzny 25 (1980) 345–347.
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Lemberger Bibliotheksdirektor Wojciech Kętrzyński90 und 1911 der Posener Archivar Adolf Warschauer91 zu korrespondierenden Mitgliedern ernannt. Die größten thematischen Berührungspunkte gab es mit solchen Personen, die als Vertreter der Geschichtswissenschaft in Österreichisch-Schlesien eingebunden wurden. Diese Aufnahmen erfolgten ausschließlich in den 1860er Jahren. Sie betrafen 1860 den Teschener Lehrer und Landeshistoriker Gottlieb Biermann,92 1864 den Kameraldirektor und Historiker Matthias Kasperlik in Teschen93 sowie 1869 den Troppauer Lehrer und Landeshistoriker Anton Peter.94 Hieran schließen sich Persönlichkeiten aus der böhmischen Geschichtswissenschaft an: 1864 wurde der Landesarchivar Anton Gindely korrespondierendes Mitglied,95 1889 der Stadtarchivar und Universitätsprofessor Josef Emler,96 1914 der mährische Landesarchivar Bertholt Bretholz in Brünn.97 Die Verbindungen zur sächsischen landesgeschichtlichen Forschung wurden 1860 durch die Aufnahme von Karl Gustav Helbig, der damit zu den ersten korrespondierenden Mitgliedern gehörte,98 und 1880 von Hubert Ermisch, dem langjährigen Archivar am Hauptstaatsarchiv Dresden,99 dokumentiert. Für die oberlausitzische Landesgeschichte mit ihren engen Verbindungen zur schlesischen Geschichte wurden deren
90 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 23 (1889) 333, 339; Maleczyński, Karol: Kętrzyński, Wojciech (1838–1918). In: Polski Słownik Biograficzny 12 (1966/67) 376– 379. 91 Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 45 (1911) 366f.; vgl. Anm. 79. 92 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 3 (1860) 401; Grünhagen, Colmar: Gottlieb Biermann. Ebd., 36 (1901) 423–429; Myška, Milan/Dokoupil, Lumír: Biermann, Gottlieb. In: Biografický slovník Slezska a severní Moravy, Bd. 8. Ostrava 1997, 19. 93 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 6 (1864) 403; Šústková, Hana: Biografický slovník poslanců slezského zemského sněmu v Opavě (1861–1918). Ostrava 2006 (Biografický slovník Slezska a Severní Moravy. Nová řada 8 [20] Supplementum), 55. 94 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 9 (1868) 425, 427; Filip, Zdeněk: Peter, Anton. In: Biografický slovník Slezska a severní Moravy, Bd. 12. Ostrava 1999, 45f. 95 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 6 (1864) 397, 403; Lorenz, Reinhold: Gindely, Anton. In: Neue Deutsche Biographie 6 (1964) 402. 96 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 25 (1891) 363, 367. 97 Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 49 (1915) 361; Novotný, Gustav: Bretholz, Berthold. In: Biografický slovník českých zemí, Bd. 5. Praha 2007, 172f.; Stoklásková, Zdeňka: „Stets ein guter und zuverlässiger Deutschmährer“. Zur Laufbahn von Bertold Bretholz (1862–1936). In: Albrecht, Stefan/Melville, Ralph/Malíř, Jiří (Hg.): Die sudetendeutsche Geschichtsschreibung 1918–1960. Zur Vorgeschichte und Gründung der Historischen Kommission der Sudetenländer. München 2008 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 114), 25–42; dies.: Samuel Steinherz (1854–1942) und Bertold Bretholz (1862–1936) – zwei Parallelen jüdischen Lebens in den böhmischen Ländern. In: Teufel, Helmut/Kocman, Pavel/Řepa, Milan (Hg.): Avigdor, Benesch, Gitl. Juden in Böhmen, Mähren und Schlesien im Mittelalter. Samuel Steinherz zum Gedenken (1857 Güssing – 1942 Theresienstadt). Brünn/Prag/Essen 2016, 375–402. 98 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 3 (1860) 401; Schnorr von Carolsfeld, Franz: Helbig, Gustav. In: Allgemeine Deutsche Biographie 11 (1880) 677f. 99 Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 15 (1880) 576.
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zur damaligen Zeit prägende Persönlichkeiten zu korrespondierenden Mitgliedern berufen: 1864 Hermann Knothe in Dresden100 und 1896 Richard Jecht in Görlitz.101 Die zahlenmäßige Entwicklung des Vereins knüpfte Mitte der 1850er Jahre bei rund 200 Mitgliedern an, die das Wirken Stenzels hinterlassen hatte.102 Zehn Jahre später, 1866, waren es schon 282 Mitglieder, 1870 stieg die Zahl auf 315 Mitglieder an, erreichte 1880 412 Mitglieder,103 1890 578 Mitglieder und 1906, nach dem Rücktritt Grünhagens, 809 Mitglieder. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs überstieg die Zahl der Mitglieder schließlich die Marke von 1.000 und blieb bis 1920 auf diesem Niveau.104 Eine regionale Differenzierung der Mitglieder zeigt, dass der größte Teil stets aus Breslau stammte. Er betrug zeitweise mehr als ein Drittel aller Mitglieder, ging aber in den Vorkriegsjahren auf etwa ein Viertel zurück.105 Aus den übrigen schlesischen Städten und Kreisen stammte durchweg etwas mehr als die Hälfte der Mitglieder.106 Die schlesischen Kreise mit der größten Mitgliederzahl waren die nahe an Breslau gelegenen mittelschlesischen Kreise. Am wichtigsten waren die Kreise Schweidnitz,107 Liegnitz,108 Wartenberg,109 Oels,110 Trebnitz,111 Hirschberg112 und Glatz.113 Aus dem Oppelner Schlesien waren die 100 ���������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., 6 (1864) 404; Hermann, Matthias/Weber, Danny (Hg.): Oberlausitz. Beiträge zur Landesgeschichte. Wissenschaftliches Symposium zum 100. Todestag von Hermann Knothe. Görlitz/Zittau 2004 (Kamenzer Beiträge 5). 101 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 31 (1897) 369; Leesch: Die deutschen Archivare, Bd. 2, 285f. 102 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 2 (1856) 333–339. 103 Diese jahrzehnteweise Übersicht lässt nicht erkennen, dass das Jahrzehnt von 1870 bis 1880 den einzigen Zeitabschnitt enthält, der keinen Mitgliederzuwachs verzeichnet; im Einzelnen waren es 1872 315, 1874 372, 1876 378, 1878 370 und 1880 412 Mitglieder. Die Stagnation zwischen 1874 und 1878 ist mit den Auswirkungen des Kulturkampfes zu erklären. 104 �������������������������������������������������������������������������������������������� 1913 1.032, 1915 1.015 Mitglieder; in den Kriegsjahren veröffentlichte der Verein keine Mitgliederzahlen, 1920 waren es 1.058 Mitglieder. 105 Aus Breslau stammten 1872 37 Prozent, 1874 36 Prozent; bis 1910 bewegte sich der Anteil zwischen 28 und 33 Prozent; 1912 betrug er 26, 1925 25 Prozent. 106 In den 1870er Jahren betrug der Anteil 49 Prozent, in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts bis zum Weltkrieg belief er sich auf zwischen 55 und 62 Prozent. 107 Aus Stadt und Kreis Schweidnitz stammten zwischen sechs (1872) und 22 (1880) Mitglieder, im Durchschnitt waren es etwa 18 Mitglieder. 108 Aus Stadt und Kreis Liegnitz stammten zwischen sieben (1872–1876) und 18 (1906–1908) Mitglieder, im Durchschnitt waren es etwa 14 Mitglieder. 109 Aus dem Kreis Wartenberg stammten zwischen einem (1880) und 29 (1910–1912) Mitglieder, im Durchschnitt waren es etwa 14 Mitglieder. 110 Aus dem Kreis Oels stammten zwischen fünf (1872–1878) und 22 (1886) Mitglieder, im Durchschnitt waren es etwa 14 Mitglieder. 111 ���������������������������������������������������������������������������������������� Aus dem Kreis Trebnitz stammten zwischen acht (1872) und 17 (1890) Mitglieder, im Durchschnitt waren es etwa zwölf Mitglieder. 112 Aus dem Kreis Hirschberg stammten zwischen vier (1880) und 24 (1912) Mitglieder, im Durchschnitt waren es etwa elf Mitglieder. 113 ������������������������������������������������������������������������������������� Aus dem Kreis Glatz stammten zwischen zwei (1872) und 15 (1910) Mitglieder, im Durchschnitt waren es etwa elf Mitglieder.
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Kreise Oppeln,114 Neisse115 und Ratibor116 am stärksten vertreten. Die geringste Mitgliederstärke wies der Verein in den an der Peripherie der Provinz gelegenen Kreisen auf, konkret in den Kreisen Hoyerswerda117 und Lüben,118 in der Stadt Königshütte119 sowie in den Kreisen Rosenberg,120 Rothenburg,121 Zabrze122 und Lauban.123 Außerhalb der Provinz Schlesien hatten durchweg etwas mehr als zehn Prozent der Mitglieder ihren Wohnsitz, im Jahr 1872 40, im Jahr 1912 191 Mitglieder. Für eine genauere Aufschlüsselung dieser Mitglieder kann man zwischen den schlesischen Nachbarregionen und weiter entfernten Regionen unterscheiden. Bei den an Schlesien angrenzenden Regionen nimmt die Mark Brandenburg eine besondere Rolle ein. Ihr Zentrum Berlin war neben Breslau innerhalb und außerhalb Schlesiens der Ort mit den durchweg meisten Mitgliedern.124 Als weiterer brandenburgischer Ort125 ist daneben nur noch Potsdam zu nennen.126 In Großpolen finden sich nur in der Stadt Posen fast durchgängig Vereinsmitglieder,127 in wenigen weiteren großpolnischen Orten sind nur in einzelnen Jahren einige Mitglieder nachgewiesen. Aus weiteren polnischen Städten sind in Krakau128 und Lemberg129 Vereinsmitglieder nachgewiesen. In Österreichisch-
114 Aus Stadt und Kreis Oppeln stammten zwischen sechs (1872) und 22 (1880) Mitglieder, im Durchschnitt waren es etwa 16 Mitglieder. 115 Aus Stadt und Kreis Neisse stammten zwischen vier (1872) und 31 (1912) Mitglieder, im Durchschnitt waren es etwa 15 Mitglieder. 116 Aus Stadt und Kreis Ratibor stammten zwischen fünf (1872) und elf (1902) Mitglieder, im Durchschnitt waren es etwa elf Mitglieder. 117 Hier war vor dem Ersten Weltkrieg kein Mitglied verzeichnet. 118 Hier war erstmals 1898 ein Mitglied verzeichnet; im Jahr 1912 waren es sieben Mitglieder. 119 Auch hier waren erstmals 1898 drei Mitglieder verzeichnet, in den Jahren 1910 bis 1912 waren es vier Mitglieder. 120 Hier war erstmals 1882 ein Mitglied verzeichnet, in den Jahren 1904 und 1910 waren es drei Mitglieder. 121 Hier war seit 1872 ein Mitglied verzeichnet, nur in den Jahren 1878, 1880 und 1912 waren es zwei Mitglieder. 122 Hier war in den Jahren 1888 bis 1900 ein Mitglied verzeichnet, 1912 waren es fünf Mitglieder. 123 Hier war erstmals 1874 ein Mitglied verzeichnet, in den Jahren 1910 bis 1912 waren es drei Mitglieder. 124 Aus Berlin sind 1872 zehn und 1912 28 Mitglieder verzeichnet; im Durchschnitt waren es mehr als 18 Mitglieder. 125 ����������������������������������������������������������������������������������� Weitere brandenburgische Orte (Boitzenburg/Uckermark, Brandenburg, Dahme/Mark, Dobbrikow, Eberswalde, Frankfurt/Oder, Friedeberg/Nm., Fürstenberg/Oder, Küstrin, Mühlbock/Schwiebus, Neuruppin, Perleberg, Prenzlau, Rathenow, Schwerin/Warthe, Seelow, Spandau, Züllichau, Crossen/Oder) wiesen nur in einzelnen Jahren Vereinsmitglieder auf. 126 Hier gab es seit 1886 durchgängig mindestens ein Mitglied, 1896, 1898 und 1910 waren es drei Mitglieder. 127 Seit 1886 ist durchweg mindestens ein Mitglied verzeichnet, 1892 sind es sechs, 1896, 1908 und 1910 fünf Mitglieder. 128 In Krakau ist seit 1874 durchgängig mindestens ein Vereinsmitglied verzeichnet, seit 1880 bis 1904 sind es drei, 1898 bis 1900 vier Mitglieder. 129 In Lemberg findet sich seit 1874 durchgängig ein Vereinsmitglied.
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Schlesien finden sich nur in Troppau,130 Weidenau131 und Freudenthal132 seit 1886/88 einzelne Vereinsmitglieder. In Österreich selbst war der Verein durchgängig nur in Wien verankert.133 Aus Böhmen und Mähren sind nur in Prag134 einzelne Vereinsmitglieder verzeichnet. In Sachsen (Königreich und preußische Provinz) wiederum finden sich in Dresden,135 Leipzig136 und Halle137 fast durchgängig Vereinsmitglieder. Die wissenschaftliche Reichweite und die Beziehungen der schlesischen landesgeschichtlichen Forschung werden deutlich ablesbar an den Vereinsmitgliedern in solchen Regionen, die von Schlesien weiter entfernt waren und zum Land keine nachbarschaftlichen Beziehungen hatten. Im Norden gab es im Baltikum, in Tilsit138 und Memel,139 sowie in der russischen Hauptstadt St. Petersburg140 nur kurzfristig einzelne Mitglieder. In der Provinz Preußen (bzw. seit 1878 in den Provinzen West- und Ostpreußen) gab es nur in Danzig141 und in Königsberg142 sowie später auch in Thorn143 durchgängig einzelne Vereinsmitglieder. In Pommern waren nur in Greifswald144 Mitglieder verzeichnet, während die Provinzhauptstadt Stettin hier zurückstand.145 Vergleichbar fanden sich für Mecklenburg auch in der Universitätsstadt Rostock durchgängig Vereinsmitglieder.146 Für das übrige nördliche Deutschland ist vor allem Göttingen147 zu 130 Hier ist seit 1878 durchgängig ein Vereinsmitglied verzeichnet. 131 Hier sind 1886 bis 1888 und 1902 bis 1904 zwei Vereinsmitglieder, in den übrigen Jahren ist ein Vereinsmitglied verzeichnet. 132 Hier ist seit 1888 ein Vereinsmitglied verzeichnet, 1902 bis 1906 sind es zwei Mitglieder. 133 Hier ist von 1872 bis 1884 ein Vereinsmitglied verzeichnet, von 1886 bis 1906 sind es zwei bis fünf (1896) Mitglieder. 134 1872 ein Mitglied, 1874 bis 1910 sind es zwei bis vier, 1912 fünf Mitglieder. 135 Hier finden sich seit 1872 ein bis zwei Vereinsmitglieder, 1900 bis 1902 sind es fünf. 136 Hier finden sich von 1872 bis 1886 ein bis zwei Vereinsmitglieder, von 1902 bis 1912 sind es zwei bis vier Mitglieder. 137 Hier sind seit 1884 ein bis zwei, 1898 bis 1900 vier Mitglieder eingetragen. 138 Nur 1880 ein Mitglied. 139 Nur 1898 ein Mitglied. 140 Ein Mitglied von 1878 bis 1890 nachgewiesen. 141 Hier gab es seit 1872 vier Mitglieder. Dies veranlasste den Vereinsvorstand zu der Annahme, dass Danzig neben Berlin zu einem Mitgliederschwerpunkt außerhalb Schlesiens werden würde, weshalb man in diesen beiden Städten einen „Pfleger“ nominierte, der den Kontakt zum Vorstand halten sollte. Vgl. Grünhagen, Colmar: Bericht über die Thätigkeit des Schlesischen Geschichts-Vereins in den Jahren 1873 und 1874. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 12 (1874) 509–512, hier 510. 1880 waren es nur noch zwei, und von 1882 bis 1898 war es nur noch ein Mitglied. 142 Hier sind von 1872 bis 1890 und von 1902 bis 1906 jeweils ein bis zwei Mitglieder nachgewiesen. 143 Hier sind von 1904 bis 1912 ein bis zwei Mitglieder verzeichnet. 144 Seit 1872 gab es durchgängig ein bis zwei, 1892 drei Mitglieder. 145 Hier fand sich von 1888 bis 1896 sowie 1908 und 1912 jeweils ein Mitglied, nur 1892 waren zwei Mitglieder eingetragen. 146 Hier waren es seit 1872 fast durchgängig zwei Mitglieder; 1890 und 1904 bis 1908 war es nur ein Mitglied. 147 Hier gab es 1872 bis 1892 jeweils ein Mitglied, seit 1894 waren es mindestens zwei, 1908 bis 1912 vier Mitglieder.
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nennen, während in Hamburg148 und einigen weiteren Orten149 nur kurzfristig einzelne Vereinsmitglieder nachzuweisen sind. Was Westfalen betrifft, war für den Verein nur die Provinzhauptstadt Münster von Bedeutung,150 im Rheinland wiederum war die Universitätsstadt Bonn151 wichtiger als die Provinzhauptstadt Koblenz.152 In Hessen und Thüringen sind einzelne Mitglieder in Frankfurt am Main153 und Marburg an der Lahn154 sowie in Weimar155 über längere Zeit notiert. Im südwestlichen Deutschland (Elsass, Baden, Württemberg) sind nur in wenigen Städten über einen längeren Zeitraum einzelne Mitglieder nachgewiesen: in Straßburg,156 Heidelberg157 und in geringerem Umfang in Konstanz.158 In Bayern schließlich sind nur für die Hauptstadt München durchgängig einzelne Mitglieder eingetragen.159 Seit der Jahrhundertwende erwarben auch einige Frauen die Mitgliedschaft im Verein. Bis zum Ersten Weltkrieg ist deren Zahl freilich überschaubar. In Breslau ist die erste Frau zum Jahr 1896 verzeichnet;160 weitere Breslauer Damen traten 1899161 und 1907162 dem Verein bei. Weibliche Mitglieder finden sich seit 1900 in Glatz,163 seit 1905 in Türpitz im Kreis Strehlen164 und in Wrzosse im Kreis Kreuzburg,165 seit 1907 148 Hier sind für die Jahre 1874 bis 1892 ein bis zwei Mitglieder notiert. 149 Für Hannover sind nur für einzelne Jahre (1876, 1878, 1882, 1892, 1902, dann ab 1906), für Kiel für 1876, 1894, 1896, dann ab 1908, für Wolfenbüttel ab 1908 einzelne Mitglieder notiert. 150 Hier gab es ab 1876 bis zu drei Mitglieder, in Osnabrück ist seit 1906 ein Mitglied eingetragen. 151 Hier gab es von 1872 bis 1888 und seit 1904 ein bis zwei Mitglieder. 152 Hier gab es von 1874 bis 1892 ein bis zwei Mitglieder. 153 Hier sind von 1872 bis 1884 zwei bis drei Mitglieder, von 1886 bis 1906 ein Mitglied nachgewiesen. 154 Hier finden sich seit 1892 ein bis zwei Mitglieder. 155 Hier sind seit 1878 ein bis zwei Mitglieder notiert. 156 Von 1872 bis 1906 sind es jeweils ein bis zwei Mitglieder. 157 Hier sind seit 1872 durchgängig ein bis zwei Mitglieder eingetragen. 158 Hier ist für 1890 sowie für die Jahre 1894 bis 1912 jeweils ein Mitglied notiert. 159 Seit 1872 jeweils ein Mitglied, für 1886 bis 1888 und seit 1908 jeweils zwei bis drei Mitglieder. 160 Fräulein Rudolph, Partikuliere: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 31 (1897) 375; weiter verzeichnet ebd., 33 (1899) 426; ebd., 35 (1901) 395; ebd., 37 (1903) 351; ebd., 39 (1905) 342; ebd., 41 (1907) 440; ebd., 43 (1909) 360; ebd., 45 (1911) 373; ebd., 47 (1913) 350. 161 Frau von Sommerfeld und Falkenhayn: ebd., 35 (1901) 396; weiter verzeichnet ebd., 37 (1903) 352; ebd., 39 (1905) 342; ebd., 41 (1907) 441; ebd., 43 (1909) 361; ebd., 45 (1911) 374; ebd., 47 (1913) 351. Wendt, Heinrich: Geschichtsvereinserinnerungen (1890–1940). Ebd., 75 (1941) 282–284, hier 282, erwähnt sie „als lange Zeit einzige“ Frau, die auch an den Vortragsabenden teilnahm. 162 Frau Karoline Pinder, Rentiere: ebd., 41 (1907) 439. Frl. Schallowetz: ebd., 41 (1907) 440. 163 Fräulein Helene von Hauenfeld: ebd., 35 (1901) 399; ebd., 37 (1903) 355; ebd., 39 (1905) 346; ebd., 41 (1907) 446; ebd., 43 (1909) 364; ebd., 45 (1911) 378; ebd., 47 (1913) 355. 164 Frl. E. von Koschembahr: ebd., 41 (1907) 459; weiter erwähnt: ebd., 43 (1909) 374; ebd., 45 (1911) 390; ebd., 47 (1913) 367. 165 Frl. Marie Kleinschmidt in Wrzosse bei Kreuzburg: ebd., 41 (1907) 449; weiter erwähnt, wohnhaft in Ludwigsdorf, Kreis Kreuzburg: ebd., 43 (1909) 367; ebd., 45 (1911) 381; ebd., 47 (1913) 359.
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in Reichenstein im Kreis Frankenstein166 und in Gutwohne im Kreis Oels,167 seit 1911 in Pohlsdorf im Kreis Neumarkt168 und seit 1912 in Schätz im Kreis Guhrau169 sowie in Friedenthal-Gießmannsdorf im Kreis Neisse.170 Die Finanzen des Vereins wurden in den Tätigkeitsberichten des Vorsitzenden regelmäßig angesprochen. Zuständig war hierfür der Schatzmeister, wobei der Verein in der glücklichen Lage war, dass im ersten halben Jahrhundert das Amt von nur drei verschiedenen Inhabern versehen wurde, von Carl Ruthardt (1850–1864), Julius Neugebauer (1864–1878)171 und Bernhard von Prittwitz und Gaffron (1878– 1905).172 Vor allem von Prittwitz, dessen mehr als fünfundzwanzigjährige Amtszeit, die der Amtszeit Grünhagens bis zum gleichzeitigen Amtsverzicht weitgehend parallel verlief,173 ist rückblickend „als vornehmster Begründer der guten Finanzlage des Vereins“ bezeichnet worden.174 Die Tätigkeitsberichte des Vorsitzenden hoben regelmäßig den „erfreulichen“ Zustand der Finanzen hervor.175 Der Verein finanzierte sich durch Mitgliedsbeiträge, wes166 ���������������������������������������������������������������������������������������� Hermann Güttler, Königl. Commerzienrath in Reichenstein, war seit 1902 Mitglied des Vereins: ebd., 37 (1903) 355; ebd., 39 (1905) 346. Nach dessen Tod 1906 – erwähnt ebd., 41 (1907) 426 – übernahm dessen Witwe Gertrud die Mitgliedschaft; sie wird geführt als „Frau Güttler, verw. Kommerzienrat in Reichenstein“: ebd., 41 (1907) 445; weiterhin verzeichnet: ebd., 43 (1909) 364; ebd., 45 (1911) 377; ebd., 47 (1913) 355. 167 Frau von Kulmiz, Rittergutsbesitzerin auf Gutwohne: ebd., 43 (1909) 371; weiter erwähnt: ebd., 45 (1911) 385; ebd., 47 (1913) 363. 168 Frau von Woikowsky-Biedau, Rittergutsbesitzerin auf Pohlsdorf: ebd., 45 (1911) 385; weiter erwähnt: ebd., 47 (1913) 362. 169 Frau [Elisabeth] von Goßler, geb. von Mauve: ebd., 59 (1925) 209. 170 Frl. von Falkenhausen: ebd., 47 (1913) 361. 171 Julius Neugebauer. Ebd., 14 (1878) 585–587. 172 Krebs, Julius: Bernhard von Prittwitz und Gaffron. Ebd., 46 (1912) 243–245. 173 Ebd., 245. Krebs sieht deren Verhältnis als von „gleichsam altgermanischer Gefolgschaftstreue“ geprägt. 174 Ebd., 244. 175 Ebd., 6 (1864) 395, 399; ebd., 8 (1867) 222: „Infolge der Vermehrung, welche in der Zahl der wirklichen Mitglieder eingetreten ist, haben auch die Geldeinnahmen des Vereins eine Vermehrung der Beiträge erfahren. Ueberhaupt befindet sich der Verein in einer sehr befriedigenden finanzielle Lage.“ Ebd., 9 (1868) 425: „Der Verein befindet sich daher in einer guten Finanzlage.“ Ebd., 10 (1870) 504f.: „Die finanzielle Lage des Vereins ist eine sehr befriedigende.“ Ebd., Register zu Bd. 6–10 (1871) 5f.: „Die finanzielle Lage des Vereins darf als sehr befriedigend bezeichnet werden.“ Ebd., 12 (1874) 512: „Die Finanzlage des Vereins ist eine durchaus befriedigende.“ Ebd., 13 (1876) 544: „Die Finanzlage unseres Vereins ist als befriedigend zu bezeichnen.“ Ebd., 14 (1878) 595: „Die Finanzlage unseres Vereins ist trotz der Einbuße an Mitgliedern um so mehr als günstig zu bezeichnen.“ Ebd., 15 (1880) 573: „Die Finanzlage des Vereins darf als eine günstige mit um so größerem Rechte bezeichnet werden.“ Ebd., 23 (1889) 334: „Die finanzielle Lage unseres Vereins darf als eine befriedigende bezeichnet werden.“ Ebd., 25 (1891) 362: „Die Finanzlage unseres Vereins darf als eine befriedigende bezeichnet werden.“ Ebd., 27 (1893) 419: „Die Finanzen unseres Vereins erfreuen sich unter der umsichtigen und sorgsamen Leitung unseres Schatzmeisters eines erfreulichen Gedeihens.“ Ebd., 31 (1897) 356: „Die Geldverhältnisse unseres Vereins sind [...] als befriedigend zu verzeichnen.“ Ebd., 33 (1897) 417:
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halb regelmäßig die Mitglieder aufgefordert wurden, weitere Mitglieder zu werben.176 Hinzu kam seit 1876 eine jährliche nicht zweckgebundene Zuwendung seitens des schlesischen Provinziallandtags.177 Mit dem Wechsel in der Vereinsführung nach dem Ausscheiden Grünhagens wurde eine weitere Finanzierungsbasis erschlossen, die Ein
„Die Geldverhältnisse unseres Vereins befinden sich [...] in bester Ordnung und befriedigendem Gedeihen.“ Ebd., 37 (1903) 341: „Bezüglich der Finanzverhältnisse unseres Vereins kann [...] versichert werden, daß dieselben in bester Ordnung sich befinden [...] und daß von einem nicht ungünstigen Stande unserer Finanzen gesprochen werden kann.“ Ebd., 39 (1905) 330f.: „Daß die finanziellen Verhältnisse unseres Vereins sich in befriedigendem Zustande befinden, braucht [...] kaum noch besonders versichert zu werden.“ Ebd., 41 (1907) 427: „Der Stand unserer Finanzen kann [...] als erfreulich bezeichnet werden.“ In gleichlautenden Formulierungen: ebd., 43 (1909) 351, ebd., 45 (1911) 362f.; ebd., 47 (1913) 342: „Der Stand unserer Finanzen kann auch diesmal als erfreulich bezeichnet werden.“ In den 1860er Jahren wurden genaue Angaben über das Vermögen des Vereins und dessen Verwendung und Anlage gemacht; später wurden nur allgemeine Aussagen mitgeteilt; die Kassenrechnung wurde auf der Generalversammlung „auf den Tisch des Hauses niedergelegt zur eventuellen Einsichtnahme für einen der Teilnehmer der Versammlung.“ Ebd., 39 (1905) 330f. Vgl. hierzu auch die Bemerkungen von Meinardus: Zu Colmar Grünhagen, 36. 176 Register zu Bd. 6–10 (1871) 4: „Für seine Zwecke Propaganda zu machen, dazu bedarf der Verein, für den es sich nicht ziemen würde, den Weg öffentlicher Reclame zu betreten, der werthätigen Theilnahme seiner Mitglieder.“ Ebd., 19 (1885) 422f.: Zu geringe Mitgliederzahl angesichts „der Einwohnerzahl unserer großen Provinz“; Werbung durch Vereinsmitglieder; ebd., 21 (1887) 443: „Durch Gewinnung neuer Mitglieder die Verluste zu decken, welche jedes Jahr ihm [dem Verein] bringt. Er bedarf dazu aufs Dringendste der werkthätigen Hilfe seiner Mitglieder.“ Ebd., 23 (1889) 335: „Und namentlich der Zuwachs an Mitgliedern, welcher ein ganz unerläßliches Gegengewicht bilden muß gegen die Entwerthung des Geldes bei der gesteigerten Geringfügigkeit der Beiträge, erheischt ein unausgesetztes Bemühen der Leiter des Vereins, sowie einzelner werkthätiger Freunde unter den Mitgliedern. [...] [Verzicht] auf alles, was nach Reclame schmeckt [...] [Werbung] in Bekanntenkreisen.“ Ebd., 25 (1891) 363f: „So entspricht die Gesammtzahl noch immer weder der Größe unsrer Provinz noch auch dem, was andernwärts auf kleinerem Gebiete geleistet wird und wir können nicht umhin immer aufs Neue unsern Mitgliedern die dringende Bitte ans Herz zu legen, in den ihnen zugänglichen Kreisen das Interesse für unsere Bestrebungen nach Kräften zu wecken.“ Ebd., 27 (1893) 419: Hoffnung auf weiteres Wachstum des Vereins „durch eine freundliche Mitwirkung unserer Mitglieder“; ebd., 35 (1901) 386: Geäußerte Hoffnung, die zurückgehende Mitgliederzahl ausgleichen zu können, „wenn unsere geehrten Mitglieder uns werkthätigen Beistand nicht versagen“. Ebd., 41 (1907) 425: Die Zahl der Mitglieder „entspricht doch noch lange nicht der Größe unserer Provinz mit ihrer nahezu eine halbe Million Einwohner zählenden Hauptstadt. Die Geschichtsvereine in den viel kleineren westlichen Landschaften unseres Vaterlandes weisen verhältnismäßig viel höhere Zahlen auf. Deshalb sei an alle Mitglieder die Bitte gerichtet, [...] in der Gewinnung neuer Freunde unseres Vereins nicht nachzulassen.“ Ebd., 47 (1913) 341: „Ich bitte alle Mitglieder, fleißig für uns zu werben.“ 177 „Die Finanzlage [...] ist noch günstiger dadurch geworden, daß der schlesische Provinziallandtag, der bisher nur außerordentliche Behülfen zu dem speciellen Zwecke der Herausgabe der Acta publica bewilligt hatte, nunmehr eine jährliche regelmäßige Subvention von 1350 Mark dem Vereine ohne weitere Beschränkung hinsichtlich des Zwecks zur Verfügung gestellt hat.“ Ebd., 13 (1876) 544.
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richtung von Patronen und Gönnern, bei der Körperschaften oder Personen einmalige oder jährliche höhere Zuwendungen leisteten.178
II. Die Tätigkeitsfelder des Vereins gingen weit über die Edition von Quellen und Studien, das Hauptarbeitsgebiet von Büsching, hinaus: Neben den Publikationen gab es eine rege Vortragstätigkeit, wissenschaftliche Exkursionen und den Aufbau von Beziehungen zu anderen landesgeschichtlichen Vereinen. Für die Breslauer gebildete Öffentlichkeit war die Aktivität des Vereins zunächst in seinen öffentlichen Vorträgen fassbar. Sie fanden an jedem ersten Mittwoch179 des Monats – mit Ausnahme der Monate Juni bis August – um 19 Uhr180 statt. Anders als in der Anfangszeit des Vereins waren die Themen der Vorträge sehr verschiedenartig. Auch die Referenten waren bei weitem nicht auf den Kreis des Vereinsvorstands und ihm nahestehender Mitglieder begrenzt. In den Jahren von 1855 bis 1920 traten 165 verschiedene Referenten auf.181 Mit Blick auf die Häufigkeit ihres Auftretens und die Stellung der Referenten im Verein ergeben sich aussagekräftige Relationen: Während 85 Referenten nur einmal auftraten, ist allein Colmar Grünhagen in den Jahren 1859 bis 1905 mit 137 Vorträgen verzeichnet. An zweiter Stelle folgt Hermann Markgraf, der von 1864 bis 1905 46 Vorträge hielt. Alle Referenten mit 15 und mehr Vorträgen 178 Es handelt sich dabei um den Fürstbischof Georg Kopp, den Provinziallandtag, die Städte Breslau, Brieg, Bunzlau Cosel, Gleiwitz, Groß-Glogau, Haynau, Kattowitz, Königshütte, Landeshut, Ratibor, Reichenstein, Groß-Strehlitz, Waldenburg, den Kreisausschuss von Münsterberg, den Grafen Henckel von Donnersmarck, von Oppersdorff, von Reichenbach-Goschütz, von Schaffgotsch, dem Herrn von Schweinichen und dem Baron von Seydlitz-Kurzbach. Vgl. ebd., 41 (1907) 431; ergänzt wurde die Aufstellung um die Herren Eckwert und Nicolaus aus Münsterberg, von Lösch, den Herzog von Trachenberg, Fürsten von Hatzfeld, Graf Yorck von Wartenburg, von Strauch, die Bergwerksgesellschaft von Giesches Erben sowie den Landwirtschaftlichen Verein Breslau: ebd., 43 (1909) 351; die Kreisausschüsse Lauban und Leobschütz, die Herren Bieselt in Schönwald, von Eichmann in Freystadt, Haase in Fischgrund, von Jordan in Kochelsdorf, Graf von Kerssenbrock in Schurgast, den Freiherrn von der Knesebeck-Milendonck, Lewald in Sillmenau, Fürst von Lichnowsky in Kuchelna, Reichsgraf von Magnis in Eckersdorf, von Rath-Magnitz, den Freiherrn von Richthofen in Jakobsdorf, Graf von Rittberg in Urschkau, von Roeder in Groß-Gohlau, Rudolph in Kreuzburg, von Russer in Kokoschütz, Graf von Seidlitz-Sandreczki, von Stachelski in Charlottenburg, Fürst von Pless in Fürstenstein: ebd., 45 (1911) 362. Die Aufstellung der Patrone und Gönner wurde als erste Rubrik dem jeweiligen Mitgliederverzeichnis vorangestellt: ebd., 43 (1909) 353; ebd., 45 (1911) 365f.; ebd., 47 (1913) 343f. 179 Der Vortragsabend wurde von 1917 an von Mittwoch auf Montag verlegt. Ebd., 53 (1919) 144. 180 1906 wurde die Anfangszeit von 19.00 Uhr auf 20.00 Uhr verschoben. Ebd., 41 (1907) 421; ebd., 43 (1909) 345. 181 Von diesen konnten bei etwa einem Dutzend nicht alle gesuchten Informationen (Vorname, Lebensdaten, Wirkungsort, Beruf ) ermittelt werden.
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stammten – mit einer Ausnahme182 – aus Breslau und gehörten über lange Jahre dem Vorstand an.183 Die bei weitem meisten Referenten kamen selbstverständlich aus Breslau, aber zu immerhin 23 Vorträgen waren die Vortragenden aus anderen schlesischen Orten angereist,184 182 Adolf Schimmelpfennig war von 1843 bis 1879 Pastor in Arnsdorf, Kreis Strehlen, und wurde 1879 Bibliothekar der „Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur“ in Breslau. Vgl. Grünhagen, Colmar: Adolph Schimmelpfennig. Ebd., 22 (1888) 360–363. 183 Julius Krebs hielt von 1876 bis 1918 27, Hermann Palm von 1855 bis 1881 21 Vorträge. Je 15 Vorträge hielten Eduard Reimann von 1863 bis 1895, Adolph Schimmelpfennig von 1867 bis 1886, Heinrich Wendt von 1896 bis 1918 und Konrad Wutke von 1889 bis 1919. 184 Grünhagen wies selbst zum Ende seiner Zeit als Vorsitzender darauf hin, dass „allmählich auch Vortragende von auswärts häufiger herangezogen wurden“. Ebd., 39 (1905) 327. Die Herkunftsorte der Referenten waren im Einzelnen: Arnsdorf: Adolph Schimmelpfennig, zweimal in den Jahren 1867/68: ebd., 8 (1868) 423; 2. November 1870: ebd., 10 (1870) 507; 1. März 1871: ebd., Register zu Bd. VI–X (1871) 7; 11. Oktober 1871: ebd.; 7. Februar 1872: ebd., 8; 4. Dezember 1872: ebd.; 11. Juni 1873: ebd., 12 (1874) 513; 4. November 1874: ebd., 514; 4. September 1878: ebd., 14 (1878) 597; 2. Oktober 1878: ebd. Beuthen: Wilhelm Schulte, 2. Mai 1888: ebd., 23 (1889) 338; 6. Januar 1897: ebd., 33 (1899) 418. Brieg: Hans Schultz, 15. September 1897: ebd., 33 (1899) 418. Festenberg: Martin Feist, 1. Februar 1899: ebd., 35 (1901) 388; 4. September 1901: ebd., 37 (1903) 344; 3. Dezember 1902: ebd., 345; 2. Dezember 1903: ebd., 39 (1905) 333; 6. April 1905: ebd., 41 (1907) 429; 9. Januar 1907: ebd., 43 (1909) 352; 1. März 1909: ebd., 45 (1911) 364; 5. November 1913: ebd., 49 (1915) 357. Frankenstein: Johannes Athanasius Kopietz, 1. März 1905: ebd., 41 (1907) 429; 4. Januar 1911: ebd., 47 (1913) 335. Giersdorf: Paul Heinzelmann, 7. Dezember 1910: ebd., 45 (1911) 364. Glatz: Wilhelm Schulte, 1. Mai 1901: ebd., 37 (1903) 344; 6. September 1905: ebd., 41 (1907) 429. Gleiwitz: Ludwig Oelsner, Juni 1856: ebd., 1 (1856) 325. Guhrau: Joseph Jungnitz, 7. April 1880: ebd., 15 (1880) 575. Herrnstadt: Raebiger, 6. April 1910: ebd., 45 (1911) 364. Hirschberg: Paul Scholz, 6. Juli 1898: ebd., 33 (1899) 419. Erich Missalek, 7. Oktober 1914: ebd., 49 (1915) 358. Kattowitz: Paul Knötel, 15. November 1920: ebd., 55 (1921) 129. Landeshut: Hermann Seeliger, 10. Mai 1911: ebd., 47 (1913) 335. Liegnitz: Ludwig Jacobi, 4. Mai 1881: ebd., 17 (1883) 374; 12. Oktober 1881: ebd.; 14. September 1882: ebd., 375. Arnold Zum Winkel, 10. Oktober 1906: ebd., 41 (1907) 430. Militsch: Kurt Kluge, 7. September 1904: ebd., 39 (1905) 334; 5. Dezember 1906: ebd., 41 (1907) 430. Oels: Georg Hähnel, 1. Dezember 1909: ebd., 45 (1911) 364. Ohlau: Paul Feit, 9. September 1891: ebd., 27 (1893) 422; 1. Juli 1903: ebd., 39 (1905) 333. Oppeln: Adalbert Hoffmann, 12. Juni 1895: ebd., 31 (1897) 357. Royn/Liegnitz: Gerhard Eberlein, 3. Februar 1897: ebd., 33 (1899) 418. Schweidnitz: Julius Schmidt, 3. April 1872: ebd., Register zu Bd. VI–X (1871) 8. Teschen: Gottlieb Biermann, 6. September 1871: ebd., Register zu Bd. VI–X (1871) 7.
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für zwei Vorträge in den Jahren 1902 bzw. 1904 sogar aus Weimar185 bzw. Berlin.186 Hinsichtlich ihrer beruflichen Stellung lassen sich die Referenten, die man fast durchweg als studierte Historiker (darunter auch Kirchen- und Rechtshistoriker) anzusprechen hat, wie folgt unterscheiden: Die größte Gruppe bilden die (Gymnasial-)Lehrer (39 Personen);187 vergleichbar groß (36 Personen) war die Gruppe der mit der Universität verbundenen Personen (Universitätsprofessoren,188 Dozenten,189 Doktoranden190); eine dritte Gruppe (31 Personen) stellen Mitarbeiter von Staatsarchiv,191 Stadtbibliothek192 und Museum193 dar. Geringer ist die Zahl der Referenten (23 Personen), die in Einrichtungen des Justizwesens,194 des Militärs195 oder der öffentlichen Verwaltung196 beschäftigt waren. Nur unwesentlich geringer (17 Personen) war die Zahl der für die orts- und landesgeschichtWarmbrunn: Heinrich Nentwig, 7. Oktober 1896: ebd., 31 (1897) 358; 1. Dezember 1897: ebd., 33 (1899) 418; 7. Dezember 1898: ebd., 419; 1. April 1903: ebd., 39 (1905) 333. Wartha: Paul Bretschneider, 11. Oktober 1916: 51 (1917) 385; 7. Januar 1918: ebd., 53 (1919) 140; 11. März 1918: ebd., 141. 185 Ludwig Weniger, 1. Oktober 1902: ebd., 37 (1903) 345. 186 Paul Baillen [recte: Bailleu], 6. Januar 1904: ebd., 39 (1905) 334. 187 ��������������������������������������������������������������������������������������� Gustav Bauch, Gottlieb Biermann, Felix Bobertag, Brosig, Karl Friedrich Heinrich Bruchmann, Paul Dittrich, Paul Drechsler, Hans Dumrese, Gustav Eitner, Hermann Fechner, Paul Feit, Richard Gottwald, Georg Hähnel, Franz Idzikowski, Paul Knötel, Johannes Athanasius Kopietz, Julius Krebs, Otto Linke, Hermann Luchs, Ernst Maetschke, Erich Missalek, Ludwig Oelsner, Hermann Palm, Theodor Paur, Eduard Reimann, Wilhelm Rudkowski, Julius Schmidt, Paul Scholz, Gustav Schönaich, Theodor Schönborn, Franz Schroller, Heinrich Schubert, Wilhelm Schulte, Hermann Seeliger, Robert Tagmann, Eugen Träger, Ludwig Weniger, Franz Wiedemann, Arnold Zum Winkel. 188 Franklin Arnold, Clemens Bäumker, Jakob Caro, Eduard Cauer, Alfred Dove, Richard Förster, Robert Holtzmann, Georg Kaufmann, Julius Köstlin, August von Miaskowski, August Nürnberger, Joseph Partsch, Bernhard Patzak, Georg Friedrich Preuß, Richard Roepell, Aloys Schulte, Franz Xaver Seppelt, Otto Stobbe, Johannes Ziekursch. 189 Friedrich Andreae, Erich Fink, Max Gebauer, Richard Koebner, Paul Laband, Manfred Laubert, Theodor Lindner, Felix Rachfahl, Alwin Schultz, Walter Stein. 190 Erwin Fuhrmann, Reinhold Herda, Leonhard Müller, Robert Rößler, Georg Selke, Emil Wendroth, Ewald Wernicke. 191 Paul Bailleu, Rudolf Brieger, Gustav Croon, Richard Doebner, Hubert Ermisch, Hermann Grotefend, Colmar Grünhagen, Heinrich Kochendörffer, Georg Korn, Bruno Krusch, Victor Loewe, Hermann Markgraf, Otto Meinardus, Arnold Meyer, Alfons Nowack, Paul Pfotenhauer, Eduard Reibstein, Walther Ribbeck, Franz Wachter, Wilhelm Wattenbach, Konrad Wutke. 192 ��������������������������������������������������������������������������������������� Karl Dziatzko, Max Hippe, Berthold Kronthal, Heinrich Nentwig, Otfried Schwarzer, Heinrich Wendt. Vgl. Rüffler: Die Stadtbibliothek Breslau, 48, 57, 59, 72–,76, 82f., 105f. 193 Becker, Conrad Buchwald, Carl Masner, Hans Seger. 194 Paul Frauenstädt, Adalbert Hoffmann, König. 195 Gustav Köhler, Heinrich von Strauch, Hugo von Wiese. 196 ������������������������������������������������������������������������������������������ Georg Bender, Heinrich Blasel, Georg Bobertag, Ludwig Burgemeister, Eugen von Czihak, Ferdinand Friedensburg, Alfred Glücksmann, Ludwig Jacobi, Kasth, Lüdecke, Hans Lutsch, August Meitzen, Bernhard von Prittwitz, Rehme, Gotthard Schober, Carl Eduard Schück.
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lichen Studien im 19. Jahrhundert wichtigen Geistlichen.197 Nur wenige Referenten entziehen sich dieser Einteilung.198 Einen besonderen Aspekt der Vortragstätigkeit kann man darin erblicken, dass die Vereinsführung zeitweise Doktoranden der Universität Breslau eine Möglichkeit bot, ihre vor dem Abschluss stehenden oder gerade abgeschlossenen Promotionsthemen vorzustellen. Auffällig ist, dass dies im hier betrachteten Zeitraum nicht gleichmäßig geschah. In den 1860er Jahren, unter dem Vorsitz von Sigismund von Görtz, gab es drei Doktorandenvorträge, unter der langen Ägide Colmar Grünhagens einen, und unter dem Vorsitz von Otto Meinardus drei weitere.199 Im Einzelnen waren dies 1862 ein Vortrag von Emil Wendroth,200 1864 von Robert Rößler,201 1865 von Reinhold Herda,202 1874 von Ewald Wernicke,203 1907 von Leonhard Müller,204 1911 von Georg Selke205 und 1912 von Erwin Fuhrmann.206 197 Paul Bretschneider, Gerhard Eberlein, David Erdmann, Martin Feist, Georg Froböß, Paul Heinzelmann, Johann Heyne, Joseph Jungnitz, Kurt Kluge, Augustin Knoblich, Carl Otto, Raebiger, Chrysogonus Reisch, C. Adolf Schimmelpfennig, Friedrich Schwencker, Carl Weigelt. 198 ����������������������������������������������������������������������������������������� Zu nennen sind einige institutionell nicht gebundene Wissenschaftler: Max Beheim-Schwarzbach, Joseph Kutzen, August Mosbach, Felix Priebatsch; ein Kaufmann: Julius Neugebauer; ein Journalist: Ernst Wagner sowie der Komponist und Dirigent Bernhard Scholz. 199 In seinem Tätigkeitsbericht für die Jahre 1911/12 sprach er dies selbst an: „Zu den MonatsVorträgen ist es uns gelungen, mehrere jüngere Geschichtsforscher zum ersten Mal heranzuziehen, und es ist zu hoffen, daß auch in Zukunft der ältere und jüngere Nachwuchs unseres Vereins sich dazu drängen wird, uns mit Vorträgen zu erfreuen.“ Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 47 (1913) 338. 200 �������������������������������������������������������������������������������������������� Er sprach am 3. September 1862 über „die älteste Gerichtsverfassung von Breslau“; seine Promotionsschrift trug den Titel: De institutis quibusdam iuris dotalis Saxonico-Vratislaviensis. Vratislaviae 1862. 201 Er sprach am 2. März 1864 „Über die inneren Zustände des Fürstenthums Brieg unter Herzog Ludwig I.“; seine Promotionsschrift: Urkunden Herzog Ludwigs I. von Brieg erschien in zwei Teilen in der Vereinszeitschrift: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 6 (1864) 1–96, 11 (1872) 429–462. 202 �������������������������������������������������������������������������������������������� Er sprach am 11. Mai 1865 über „Die Schlesier im ersten Hussitenkriege bis 1428“; seine Promotionsschrift war: Quaestiones de fontibus, quibus Dlugossius usus sit in componenda historia Polonica in disputationem adhibito libro decimo. Vratislaviae 1865. 203 �������������������������������������������������������������������������������������������� Er sprach am 1. April 1874 über „Bildende Künstler in Schweidnitz und Görlitz“; seine kunstgeschichtliche Promotionsschrift erschien unter dem Titel: Baugeschichte der katholischen Pfarrkirche zu Schweidnitz. Breslau 1874. 204 Er sprach am 4. September 1907 über „Das Breslauer Zeitungswesen von 1800–1871“; der Vortrag beruhte auf der Dissertation: Die Breslauer politische Presse von 1742–1861. Nebst einem Überblick über die Dekade 1861–1871. Breslau 1908. 205 Er sprach am 11. Oktober 1911 über „Die schlesischen Provinzialblätter und ihre patriotische Wirksamkeit“; seine Dissertation mit dem Titel: Der Anteil der „Schlesischen Provinzialblätter“ an der schlesischen Literatur. Breslau 1911, erschien vollständig im Druck als: Der Anteil der „Schlesischen Provinzialblätter“ an der Literatur Schlesiens mit besonderer Berücksichtigung niederschlesischer Dichtung. Liegnitz 1922. 206 ���������������������������������������������������������������������������������������� Er sprach am 4. Dezember 1912 über „Ein Breslauer Handelshaus um die Wende des 15. Jahrhunderts“; seine Promotionsschrift lautete: Die Bedeutung des oberdeutschen Elements in der Breslauer Bevölkerung des 15. und 16. Jahrhunderts. Breslau 1913.
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Ein Blick auf die Altersstruktur der Referenten der Vereinsvorträge lässt eine Tendenz erkennen, die für die gesellschaftliche Positionierung des Vereins Aussagekraft hat: Das Durchschnittsalter der Referenten betrug in den ersten Jahren der Vereinstätigkeit, in den 1850er Jahren, 38,7 Jahre; dabei blieb es in etwa auch in den 1860er Jahren, als das Durchschnittsalter 40,6 Jahre erreichte, und in den 1870er Jahren mit 42,8 Jahren. In den 1880er Jahren stieg das Durchschnittsalter dann um etwa zehn Jahre auf 52,2 Jahre und blieb in der Folgezeit auf diesem Niveau.207 Die Zahl der Besucher der Vorträge belief sich in den ersten Jahrzehnten auf durchschnittlich etwa zwanzig, stieg aber in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auf durchweg gut siebzig Interessierte an.208 An die Praxis der Vortragsabende in den 1890er Jahren, die Otto Meinardus als „geschlossene Gesellschaft“ erschienen,209 erinnerte sich Heinrich Wendt, seit 1891 Mitarbeiter an der Stadtbibliothek und Mitglied des Vereins: „Bei den [...] Vortragssitzungen [herrschte] eine ungeschriebene, aber doch wirksame Rangordnung. Um den großen runden Mitteltisch saßen außer den Vorstandsmitgliedern nur einige wenige ältere ‚prominente‘ Mitglieder. Das mittelalterliche und junge Volk saß bescheiden an den Wänden herum.“210 Der konfrontative und wenig diskursive Charakter der Treffen zeichnet sich auch in einem Bericht Colmar Grünhagens ab, der resümiert, dass „Vorträge gehalten [wurden], an die sich zuweilen auch Debatten anschlossen“.211 Im Anschluss an Vortrag und Diskussion wurde ein Beisammensein in einem Restaurant angeboten, was den Zusammenhalt des Vereins stärken sollte. Seit den frühen 1890er Jahren, noch bevor Frauen als Vereinsmitglieder fassbar wurden,212 öffnete der Verein seine Veranstaltungen ausdrücklich auch für das weibli207 1881–1890: 52,2 Jahre; 1891–1900: 50 Jahre; 1901–1910: 51,7 Jahre; 1911–1920: 49,5 Jahre. 208 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 14 (1878) 588; ebd., 15 (1880) 570: Durchschnittszahl der Besucher: 20; ebd., 17 (1883) 371: durchschnittlich 22 Besucher; ebd., 19 (1885) 419; ebd., 21 (1887) 438: durchschnittlich 24 Besucher; ebd., 29 (1895) 354: durchschnittlich 26 bis 27 Besucher; ebd., 31 (1897) 355: durchschnittlich 28 Besucher; ebd., 41 (1907) 422: „Der Besuch der Sitzungen war zufriedenstellend und wies eine nicht unerhebliche Durchschnitts-Zunahme auf.“ Ebd., 43 (1909) 345: „Die Zahl der Besucher ist im großen und ganzen die gleiche geblieben wie bisher. Doch wäre es im Verhältnis zu der großen Zahl unserer Mitglieder in hiesiger Stadt, 264, recht wünschenswert, wenn auch aus weiteren Kreisen die Zahl der Zuhörer in den Vortragssitzungen eine Bemehrung erfahren würde.“ Ebd., 45 (1911) 359: Es gab „im vergangenen Jahre [1910] Sitzungen, in denen die Besucher die Zahl 70, ja 80 überschritten.“ Ebd., 47 (1913) 338: „Die Beteiligung an den Monatssitzungen [hat] sich auf der gleichen Höhe wie in der vorhergehenden Periode nicht nur gehalten, sondern sie auch übertroffen.“ Ebd., 49 (1915) 360: „Die durchschnittliche Besucherzahl hat sich noch weiter gehoben, während nämlich in den Jahren 1910/12 auf den Vortrag 65 Besucher (Damen und Herren) kamen, stieg in den Berichtsjahren die Durchschnittszahl auf 75.“ Ebd., 51 (1917) 386: Ist „die durchschnittliche Besucherzahl [...] gegenüber der Friedenszeit zurückgegangen“. Ebd., 53 (1919) 144: „Die Besucherzahl hat sich gegenüber den letzten zwei Jahren auf 67 gesteigert.“ 209 Meinardus: Zu Colmar Grünhagen, 35. 210 Wendt: Geschichtsvereinserinnerungen, 281. 211 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 37 (1903) 339. 212 Vgl. Anm. 148–168.
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che Geschlecht. Erstmals wurden Frauen213 zu dem als thematisch geeignet erscheinenden Vortrag Colmar Grünhagens „Über die Reichenbacher Abkunft und Göthes [sic] schlesische Reise 1790“ am 6. April 1892 eingeladen.214 Wie zu diesem Vortrag wurden Frauen zunächst nicht allgemein, sondern nur zu bestimmten Themen und Veranstaltungen angesprochen. Die folgende Einladung, die ebenfalls Anklang fand, betraf Grünhagens Vortrag „Der Evergetenbund in Schlesien 1793/95“ am 7. November 1894.215 In den beiden Folgejahren waren bereits zu drei Vorträgen auch Damen eingeladen.216 Erst einige Jahre später freilich waren bei den Vereinsveranstaltungen Frauen allgemein willkommen.217 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, unmittelbar nach dem Ende der Vereinsleitung durch Grünhagen, versuchte der Verein mit seiner Aktivität noch stärker eine nicht fachspezifisch interessierte Öffentlichkeit anzusprechen. Er wählte dafür die Bezeichnung „Säkular-Vorträge“, mit denen „die Ereignisse und Zustände des Jahres 1806“ in die öffentliche Erinnerung zurückgerufen werden sollten. So wurden von September bis Dezember 1906 vier Vorträge gehalten, für die Paul Bailleu (Geheimes Staatsarchiv Berlin), Max Semrau, Heinrich Wendt und Franz Wiedemann gewonnen worden waren. Im Winter 1907 wurden erneut solche Vorträge gehalten, diesmal von Otto Linke, Heinrich von Strauch, Max Koch und Conrad Buchwald. Die Referate trafen auf ein außerordentliches Interesse; sie wurden 1906 im Auditorium maximum der Universität, 1907 dann im großen Saal des Palastrestaurants abgehalten.218 Dieses Veranstaltungsangebot führte man allerdings nicht weiter fort, im April und Mai 1912 wurden jedoch erneut „zwei allgemein-verständliche Vorträge“ im Auditorium I der Universität angeboten.219 Wurde mit diesen Angeboten die bildungsbürgerliche Öffentlichkeit der Provinzhauptstadt angesprochen, so wurde mit nahezu jährlich anberaumten Sommerausflügen, die seit den 1870er Jahren, zumeist im Juni, stattfanden, den Vereinsmitgliedern ein zusätzliches Bildungsangebot gemacht, das auch an Frauen gerichtet war.220 Die 213 Hier wird nicht klar, ob allgemein interessierte Breslauer Frauen oder die Ehefrauen der Vereinsmitglieder angesprochen waren. 214 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 27 (1893) 419. „Bei Versammlung am 6. April 1892 schien der Gegenstand eine besondere Einladung an die Damen, die allerdings auch sonst in den Versammlungen willkommen sein würden, zu rechtfertigen.“ Ebd., 423. 215 „Zu dem Vortrage im November 1894 waren auch Damen geladen und erschienen.“ Ebd., 29 (1895) 354. 216 „Zu dreien der Vortragsabende waren auch Damen eingeladen worden.“ Ebd., 31 (1897) 355. 217 „Zu ihnen [den Vorträgen] ist auch Damen der Zutritt nicht verwehrt.“ Ebd., 37 (1903) 339; „Zu den Vorträgen haben auch Damen Zutritt, und Gästen ist der Besuch in keiner Weise beschränkt.“ Ebd., 39 (1905) 327. 218 Ebd., 41 (1907) 421f.; ebd., 43 (1909) 345f., mit dem Hinweis, dass 1906 viele Interessierte „wegen Platzmangel“ abgewiesen werden mussten. 219 Ebd., 47 (1913) 338. 220 Für die Ausflüge der Jahre 1898 und 1904 wird ausdrücklich „die Anwesenheit von Damen aus dem Kreise unserer Mitglieder“ erwähnt. Ebd., 33 (1899) 415; ähnlich ebd., 39 (1905) 328.
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zumeist mit der Bahn durchgeführten Reisen gingen in verschiedene geschichtlich bedeutsame Orte Schlesiens und erreichten durch Führungen und Vorträge ortskundiger Begleiter vielfach ein wissenschaftliches Niveau.221 Nur in den Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren wurden „bei dem Ernst der Zeiten [...] keine Wanderversammlungen abgehalten“,222 doch schon 1921 nahm man die Tradition mit einem Ausflug nach Rothsürben wieder auf. Es fällt auf, dass trotz des langen Musterungszeitraums fast kein Ziel wiederholt besucht wurde. Ein wichtiges Merkmal der Vereinstätigkeit war die Pflege der Vereinsbibliothek, die von Beginn an durch einen im Vorstand vertretenen Bibliothekar betreut wurde.223 Sie hielt nicht nur die eigenen Publikationen vor, sondern auch die Tauschpublikationen mit anderen Geschichtsvereinen; darüber hinaus wurde sie durch Geschenke der Mitglieder bereichert. Die Büchersammlung war zunächst in der Stadtbibliothek aufgestellt,224 musste aber im Herbst 1920 wegen Raummangels in das Staatsarchiv transferiert werden.225 Einzelne Publikationen wurden den Vereinsmitgliedern auf Wunsch ins Haus geliefert.226 Seit Stenzels Zeiten227 unterhielt der Verein Beziehungen mit anderen historischen Vereinen in Deutschland zum Tausch der jeweiligen Vereinspublikationen. Dies führte einerseits zum Aufbau der ansehnlichen Vereinsbibliothek, andererseits wurden die Ergebnisse der schlesischen landesgeschichtlichen Forschungen verbreitet. Wurden 1860 insgesamt 51 Tauschkontakte unterhalten, so waren es 1909 bereits 133 histo221 ��������������������������������������������������������������������������������������� 1877 nach Glogau (14, 588), 1878 nach Neisse (14, 588), 1879 nach Strehlen und dem Rummelsberg (15, 571), 1880 nach Oppeln und Kloster Czarnowanz (15, 571), 1881 Empfang der auswärtigen Mitglieder in Breslau (17, 370), 1882 nach Schweidnitz (17, 370), 1883 nach Bunzlau (19, 420), 1884 nach Gröditzberg (19, 420), 1885 nach Reichenbach (21, 439), 1886 nach Oels (21, 439), 1887 nach Frankenstein (23, 332), 1888 nach Grottkau und Koppitz (23, 332), 1889 nach Görlitz (25, 360f.), 1890 nach Würben bei Schweidnitz (25, 361), 1891 nach Sagan (27, 418), 1892 nach Striegau (27, 418f.), 1893 nach Liegnitz (29, 354), 1894 nach DeutschLissa und Neumarkt (29, 354), 1895 nach Militsch (31, 350), 1897 nach Landeshut und Grüssau (33, 415), 1898 nach Brieg (33, 415), 1900 nach Dyhernfurth und Wohlau (35, 383f.), 1902 nach Oppeln (37, 339f.), 1904 nach Nimptsch (39, 328f.), 1906 nach Reichenstein (41, 424), 1907 nach Waldenburg (43, 348), 1908 nach Münsterberg (43, 348), 1909 nach Oels (45, 361), 1910 nach Habelschwerdt (45, 361), 1911 nach Goldberg (47, 338), 1912 nach Neisse (47, 338), 1913 nach Fürstenstein (49, 360), 1914 nach Hirschberg und Mauer (49, 360). 222 Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 51 (1917) 387; „Wanderversammlungen sind natürlich während der zwei Jahre [1917/18] infolge der ungünstigen Verkehrsverhältnisse nicht veranstaltet worden.“ Ebd., 53 (1919) 144. 223 Hermann Palm (1859–1863), Eduard Reimann (1863–1885), Hermann Markgraf (1885– 1899), Julius Krebs (1900–1905), Joseph Jungnitz (1905–1913). Vgl. Wolfrum: Ehrenmitglieder, 89. 224 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens, Register zu Bd. VI–X (1871) 5f.; Markgraf: Der Verein, 46. 225 Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 55 (1921) 133. 226 Ebd., 21 (1887) 440; ebd., 31 (1897) 356. 227 Markgraf: Der Verein, 26.
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rische Vereine im In- und Ausland, mit denen Schriften getauscht wurden.228 Neben diesen reinen Tauschbeziehungen zeichnen sich zu einigen Geschichtsvereinen besondere Beziehungen ab. In Schlesien waren dies neben den Breslauer Vereinen die „Philomathie“ in Neisse229 und Oppeln230 sowie der „Wissenschaftliche Verein“ in Striegau.231 Außerhalb Schlesiens standen erkennbar Vereine im sogenannten deutschen Osten im Vordergrund der Aufmerksamkeit: die „Böhmische Gesellschaft der Wissenschaften“ in Prag,232 die „Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften“ in Görlitz233 sowie der „Sächsische Altertumsverein“,234 die „Historische Gesellschaft“ zu Posen,235 der „Copernicus-Verein“ in Thorn236 sowie der „Verein für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands“ in Frauenburg.237 Aber nur zu wenigen Geschichtsvereinen außerhalb dieser Zusammenhänge bestanden Kontakte.238 Ein neues Tätigkeitsfeld kam um die Jahrhundertwende auf den Verein zu, als im Westen des Deutschen Reichs Anstrengungen unternommen wurden, systematisch die 228 Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 3 (1860) 389f.; ebd., 43 (1909) 380–382. 229 Ebd., 14 (1878) 589: Zum Dank für die freundliche Aufnahme beim Ausflug nach Neisse 1878 werden einschlägige Aufsätze aus der Vereinszeitschrift „zu einer besonderen Festschrift vereinigt“ und in mehreren Exemplaren nach Neisse gesandt. 230 Ebd., 15 (1880) 571: Zum Dank für die freundliche Aufnahme beim Ausflug nach Neisse 1880 wurde ein Erinnerungsblatt mit dem dort gehaltenen Vortrag Grünhagens überreicht; ebd., 37 (1903) 339: Vereinsflug nach Oppeln 1902 auf Einladung der „Philomathie“. 231 Ebd., 29 (1895) 353: Glückwünsche zum 25. Jahrestag 1894. Die Zeitschrift Schlesische Geschichtsblätter enthielt nur zwei Jahre lang die Rubrik „Aus verwandten Vereinen“, in der Publikationen und Personalia anderer schlesischer Geschichtsvereine referiert wurden. Vgl. Schlesische Geschichtsblätter 2 (1910) 48; ebd., 2 (1911) 46–48; ebd., 3 (1911) 70–72; ebd., 1 (1912) 23; ebd., 2 (1912) 46. 232 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 19 (1885) 421: Glückwünsche zum 100. Geburtstag 1884. 233 Ebd., 25 (1891) 360f.: Treffen im Rahmen eines Ausflugs nach Görlitz 1889; ebd., 39 (1905) 329: Glückwünsche zum 125jährigen Bestehen 1904. 234 Ebd., 35 (1901) 384: Teilnahme von zwei Vertretern an der 75-Jahrfeier 1900 in Meißen. 235 Ebd., 31 (1897) 350: Treffen anlässlich eines Vereinsausflugs nach Militsch 1895; ebd., 35 (1901) 384: Treffen anlässlich eines Ausflugs der „Historischen Gesellschaft“ nach Rawitsch 1900; ebd., 45 (1911) 359: Teilnahme von sechs Mitgliedern des Vereins an der 25-Jahr-Feier der „Schwestergesellschaft des Ostens“, was dankbar vermerkt wurde, „als unser Verein der einzige Geschichtsverein außerhalb der Provinz Posen war, der überhaupt offiziell seine Glückwünsche aussprach“. 236 Ebd., 39 (1905) 329: Glückwünsche zum 50. Geburtstag 1904. 237 Ebd., 41 (1907) 424: Glückwünsche zum 50jährigen Bestehen. 238 Hier zeichnet sich kein personelles, regionales oder thematisches Konzept ab und man darf hinter diesen Kontakten manches Zufällige vermuten: Ebd., 19 (1885) 421: „Verein für hessische Geschichte und Landeskunde“, Kassel, 1884, Glückwünsche zum 50jährigen Bestehen; ebd., 23 (1889) 333: „Historischer Verein für Oberbayern“, München, 1888, Glückwünsche zum 50jährigen Bestehen; ebd., 29 (1895) 353: „Verein Herold“, Berlin, 1894, Glückwünsche zum 25jährigen Bestehen; ebd., 33 (1899) 417: „Nordisches Museum“, Stockholm, 1898, Glückwünsche zum 50jährigen Bestehen.
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nichtstaatlichen, das heißt die kommunalen, kirchlichen und privaten Archive und ihre Bestände zu erfassen und zu beschreiben.239 Für den Verein formulierte schon 1898 Hermann Markgraf Wünsche für dieses Arbeitsfeld,240 die sich der Verein, für den in diesem Fall der Staatsarchivdirektor Grünhagen sprach, nach internen Diskussionen zu eigen machte. Er rief adelige Grundbesitzer dazu auf, Archivalien in ihrem Besitz zur Sicherung als Deposita an das Staatsarchiv Breslau zu übergeben,241 und plante überdies mit Unterstützung des Direktors der preußischen Staatsarchive, Reinhold Koser, die nichtstaatlichen Archivbestände systematisch zu erfassen und zu beschreiben. Der Provinziallandtag unterstützte dieses Unternehmen finanziell.242 Konrad Wutke, Mitarbeiter am Staatsarchiv, wurde beauftragt, zur Erprobung der Vorgehensweise im Herbst 1899 den Kreis Ohlau zu bereisen.243 Weitere Forschungsreisen unternahm Wutke im Jahr 1903 in den Kreisen Grünberg, Freystadt und Glogau. Der Vereinsvorstand beschloss daraufhin, die Ergebnisse in Form gedruckter Übersichten zu veröffentlichen.244 In der Folge erschienen, eingeordnet in die Reihe Codex Diplomaticus Silesiae, acht Bände mit Archivinventaren.245 239 Das früheste Unternehmen in dieser Hinsicht war: Korth, Leonard: Das Gräflich von Mirbach’sche Archiv zu Harff. Urkunden und Akten zur Geschichte rheinischer und niederländischer Gebiete, Bd. 1: 1144 bis 1430, Bd. 2: 1431–1599. Köln 1892–1894 (Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 55, 57). Es folgte in Westfalen: Schmitz, Ludwig (Bearb.): Inventare der nichtstaatlichen Archive des Kreises Ahaus. Münster 1899 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Provinz Westfalen. Inventare der nichtstaatlichen Archive der Provinz Westfalen, Bd. 1: Regierungsbezirk Münster, H. 1). 240 Denkschrift über die Bildung einer historischen Commission zur Verzeichnung der in der Provinz Schlesien zerstreuten Archivalien. In: Schlesische Gesellschaft für vaterländische Kultur, 76. Jahresbericht. III. Abtheilung. Geschichte und Staatswissenschaften, a. Historische Studien (1898) 1–7; zum Kontext vgl. Dersch: Vierzig Jahre, 12f. 241 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 35 (1901) 379–383. 242 Ebd., 35 (1901) 380; ebd., 37 (1903) 339; ebd., 41 (1907) 423; ebd., 51 (1917) 389: Vorstand stellt jährlich 800 Mark für Inventarisierung bereit. 243 ���������������������������������������������������������������������������������������� Wutke, Konrad: Eine archivalische Forschungsreise durch den Kreis Ohlau (October bis December 1899). Ebd., 35 (1901) 358–370. 244 Vgl. die Einleitung von Konrad Wutke in Bd. 1. 245 Wutke, Konrad (Hg.): Die Inventare der nichtstaatlichen Archive Schlesiens, Bd. 1: Die Kreise Grünberg und Freystadt. Breslau 1908 (Codex diplomaticus Silesiae 24); ders. (Hg.): Die Inventare der nichtstaatlichen Archive Schlesiens, Bd. 2: Kreis und Stadt Glogau. Breslau 1915 (Codex diplomaticus Silesiae 28); Graber, Erich (Hg.): Die Inventare der nichtstaatlichen Archive Schlesiens, Bd. 3: Kreis Sprottau. Breslau 1925 (Codex diplomaticus Silesiae 31); ders. (Hg.): Die Inventare der nichtstaatlichen Archive Schlesiens, Bd. 4: Kreis Sagan. Breslau 1927 (Codex diplomaticus Silesiae 32); ders. (Hg.): Die Inventare der nichtstaatlichen Archive Schlesiens, Bd. 5: Kreis Neustadt: 1. Landgemeinden und Dominien, 2. Städte. Breslau 1928 (Codex diplomaticus Silesiae 33); Lincke, Udo (Hg.): Die Inventare der nichtstaatlichen Archive Schlesiens, Bd. 6: Kreis Habelschwerdt. Breslau 1929 (Codex diplomaticus Silesiae 34); Graber, Erich (Hg.): Die Inventare der nichtstaatlichen Archive Schlesiens, Bd. 7: Kreis Jauer. Breslau 1930 (Codex diplomaticus Silesiae 35); ders. (Hg.): Die Inventare der nichtstaatlichen Archive Schlesiens, Bd. 8: Neisse. Breslau 1933 (Codex diplomaticus Silesiae 36).
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III. Das wissenschaftliche Profil des „Vereins für Geschichte Schlesiens“ ist vor dem Hintergrund der Entwicklung und des Stands der landesgeschichtlichen Forschung in Deutschland und des wissenschaftlichen Temperaments der regionalen Protagonisten zu bewerten. Hierfür ist der Blick zunächst auf den primären Wirkungsbereich, die Vortragsveranstaltungen des Vereins, dann auf die gedruckten Publikationen zu richten. Von den etwa 670 Vorträgen246 betrafen 198 (29 Prozent) das Mittelalter, 261 (39 Prozent) die Frühe Neuzeit, 188 (28 Prozent) die preußische Zeit seit 1742, während lediglich 29 Referate (4 Prozent) zeitgeschichtliche Themen betrafen. Mithin ging es in mehr als zwei Dritteln um Themen der älteren Geschichte, zeitgeschichtliche Themen im eigentlichen Sinn kamen faktisch nicht vor.247 Bei den Vorträgen zur preußischen Zeit ging es ganz überwiegend um die Politik König Friedrichs II. gegenüber Schlesien und, weniger, um die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts, die napoleonische Zeit. 194 Vorträge (29 Prozent) waren ausgesprochen ortsgeschichtlich ausgerichtet, von denen die überwiegende Zahl (149) Breslau betraf. Mit der Geschichte von Glatz beschäftigten sich 13 Referate, mehrfach wurden daneben nur noch Brieg, Schweidnitz und Trebnitz behandelt. Von größerer Vielfalt war die thematische Fragestellung der Vorträge. Standen politikgeschichtliche Themen an erster Stelle (168, 25 Prozent), so nahmen Themen der Kirchengeschichte, der Kriegs- und Militärgeschichte sowie der Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit jeweils etwa 11 Prozent einen zweiten Platz ein; an dritter Stelle standen Themen, die der Quellenkunde, Historiographiegeschichte, Adelsgeschichte, Literaturgeschichte sowie der Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte zugerechnet werden können (jeweils etwa 5 Prozent). Ein großer Teil der Vorträge wurde wenig später publiziert oder beruhte auf zur gleichen Zeit vorbereiteten Publikationen.248 Es überrascht nicht, dass mehr als die Hälfte der Vorträge in der Vereinszeitschrift veröffentlicht wurde. Eine Reihe weiterer Texte erschien in anderen schlesischen Zeitschriften249 und Schulprogrammen, ein vergleichbarer Anteil in überregionalen wissenschaftlichen Zeitschriften.250 Dies darf als Indikator dafür verstanden werden, dass sich der Verein, seine
246 ����������������������������������������������������������������������������������������� Dies entspricht nicht der Zahl der Vortragveranstaltungen, da an manchen Abenden zwei Referate gehalten wurden. 247 Die so markierten Vorträge betreffen archivalische Forschungsreisen, Nachrufe oder die Vorstellung von Einrichtungen der Geschichtspflege. 248 Entsprechende Publikationen konnten für 398 Vorträge ermittelt werden. 249 Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens; Jahresbericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur; Schlesische Provinzialblätter; Rübezahl. 250 Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit (1); Archiv für österreichische Geschichte (2); Die christliche Kunst (1); Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte (1);
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Referenten und das Niveau seiner Vorträge auf der Höhe der geschichtswissenschaftlichen Diskurse der Zeit bewegten. Ein großer Teil der Vorträge251 basierte auf vor der Veröffentlichung stehenden Monographien der Referenten. Nur wenige Vorträge wurden später in Sammelbänden oder Festschriften gedruckt. Langfristig und vor allem auch außerhalb Breslaus wirkte der Verein durch die von ihm herausgegebenen Veröffentlichungen.252 Im Mittelpunkt der Arbeit und der Publikationstätigkeit stand die Sichtung und Edition von Quellen zur älteren Geschichte Schlesiens. Das wird auch dadurch zu erklären sein, dass die Tätigkeit des Vereins seit Büsching und Stenzel eng mit dem Provinzial- bzw. Staatsarchiv in Breslau verbunden war. Fünf Editionsreihen haben die Arbeit des Vereins seit Mitte der 1850er Jahre geprägt. Am Anfang stand der Codex diplomaticus Silesiae. Projektleitend hierbei war nicht die Herausgabe eines landschaftlichen Urkundenbuchs, sondern die Edition von konkreten Überlieferungsbeständen oder Urkunden- und Aktenbeständen zu bestimmten Institutionen (Städte, Klöster) oder Themen. Zu den ausgewählten Fondseditionen gehören der Henricus Pauper,253 ein Breslauer Formelbuch254 und ein Breslauer Einnahmeregister,255 beide aus dem frühen 14. Jahrhundert, ferner ein Breslauer Urkundenund Aktenbestand zum Basler Konzil256 sowie ein Oppelner Kopiar aus dem frühen 16. Jahhrundert.257 Urkundeneditionen betrafen einzelne Klöster (Czarnowanz,258
Forschungen zur deutschen Geschichte (1); Hansische Geschichtsblätter (1); Historische Vierteljahrschrift (1); Historische Zeitschrift (4); Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik (2); Kunstgewerbeblatt (1); Memoires de l’Academie de Belgique (1); Neue Jahrbücher für Pädagogik (1); Preußische Jahrbücher (1); Ungarische Revue (2); Zeitschrift für die gesamte Strafwissenschaft (2); Zeitschrift für preußische Geschichte und Landeskunde (3). Mehrere Vorträge bezogen sich auch auf die Arbeit für entsprechende Biogramme in dem Werk Allgemeine Deutsche Biographie. 251 90 Vorträge (22,6 Prozent). 252 ������������������������������������������������������������������������������������������� Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 45 (1911) 358: „Die Hauptaufgabe des Vereins bildet die Herausgabe von Veröffentlichungen zur Geschichte Schlesiens.“ 253 Grünhagen, Colmar (Hg.): Henricus Pauper. Rechnungen der Stadt Breslau von 1299–1358, nebst zwei Rationarien von 1386 und 1387, dem Liber Imperatoris vom Jahre 1377 und den ältesten Breslauer Statuten. Breslau 1860 (Codex diplomaticus Silesiae 3). 254 Wattenbach, Wilhelm (Hg.): Das Formelbuch des Domherrn Arnold von Protzan. Breslau 1862 (Codex diplomaticus Silesiae 5). 255 Markgraf, Hermann/Schulte, Wilhelm (Hg.): Liber Fundationis Episcopatus Vratislaviensis. Breslau 1889 (Codex diplomaticus Silesiae 14). 256 Altmann, Wilhelm (Hg.): Acta Nicolai Gramis. Urkunden und Aktenstücke betreffend die Beziehungen Schlesiens zum Baseler Konzile. Breslau 1890 (Codex diplomaticus Silesiae 15). 257 Wattenbach, Wilhelm/Grünhagen, Colmar (Hg.): Registrum St. Wenceslai. Urkunden vorzüglich zur Geschichte Oberschlesiens nach einem Copialbuch Herzog Johanns von Oppeln und Ratibor in Auszügen mitgetheilt. Breslau 1865 (Codex diplomaticus Silesiae 6). 258 ��������������������������������������������������������������������������������������� Wattenbach, Wilhelm (Hg.): Urkunden des Klosters Czarnowanz. Breslau 1857 (Codex diplomaticus Silesiae 1).
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Rauden, Himmelwitz, Ratibor,259 Kamenz260), Städte (Brieg,261 Breslau262) oder wirtschaftsgeschichtliche,263 münzgeschichtliche,264 verfassungsrechtliche265 und bildungsgeschichtliche266 Fragestellungen. Innerhalb des Codex erschienen zwei Unterreihen. Dies waren zum einen die neun Bände Regesten zur schlesischen Geschichte, die zwischen 1868 und 1925 von Colmar Grünhagen bzw. nach ihm von Konrad Wutke herausgegeben wurden.267 Hiermit ging die Geschichtsforschung in Schlesien einen anderen Weg als in vielen anderen Regionen (etwa Niederrhein, Westfalen, Preußen), die sich schon damals für die Herausgabe eines Urkundenbuchs entschieden hatten, während das Werk Schlesisches Urkundenbuch, für das schon in den 1930er Jahren Vorarbeiten geleistet worden waren, erst ab 1971 erscheinen konnte.268 Die zweite Unterreihe des Codex waren die erwähnten Inventare zu den nichtstaatlichen Archiven Schlesiens. 259 ������������������������������������������������������������������������������������ Ders. (Hg.): Urkunden der Klöster Rauden und Himmelwitz, der Dominicaner und der Dominicanerinnen in der Stadt Ratibor. Breslau 1859 (Codex diplomaticus Silesiae 2). 260 Pfotenhauer, Paul (Hg.): Urkunden des Klosters Kamenz. Breslau 1881 (Codex diplomaticus Silesiae 10). 261 ����������������������������������������������������������������������������������������� Grünhagen, Colmar (Hg.): Urkunden der Stadt Brieg. Breslau 1870 (Codex diplomaticus Silesiae 9). 262 Markgraf, Hermann/Frenzel, Otto (Hg.): Breslauer Stadtbuch. Enthaltend die Rathslinie von 1287 ab und Urkunden zur Verfassungsgeschichte der Stadt. Breslau 1882 (Codex diplomaticus Silesiae 11). 263 Korn, Georg (Hg.): Schlesische Urkunden zur Geschichte des Gewerberechts insbesondere des Innungswesens aus der Zeit vor 1400. Breslau 1867 (Codex diplomaticus Silesiae 8); Wutke, Konrad: Die schlesische Oderschifffahrt in vorpreussischer Zeit. Urkunden und Aktenstücke. Breslau 1896 (Codex diplomaticus Silesiae 17). 264 Friedensburg, Ferdinand: Schlesiens Münzgeschichte im Mittelalter, Bd. 1: Urkundenbuch und Münztafeln. Breslau 1887 (Codex diplomaticus Silesiae 12); ders.: Schlesiens Münzgeschichte im Mittelalter, Bd. 2: Münzgeschichte und Münzbeschreibung. Breslau 1888 (Codex diplomaticus Silesiae 13); ders.: Schlesiens Münzgeschichte im Mittelalter. Ergänzungsband. Breslau 1904 (Codex diplomaticus Silesiae 23). 265 Croon, Gustav: Die landständische Verfassung von Schweidnitz-Jauer. Zur Geschichte des Ständewesens in Schlesien. Breslau 1912 (Codex diplomaticus Silesiae 27). 266 ������������������������������������������������������������������������������������������ Bauch, Gustav: Geschichte des Breslauer Schulwesens vor der Reformation. Breslau 1909 (Codex diplomaticus Silesiae 25); ders.: Geschichte des Breslauer Schulwesens in der Zeit der Reformation. Breslau 1911 (Codex diplomaticus Silesiae 26). 267 Grünhagen, Colmar (Hg.): Regesten zur schlesischen Geschichte [bis zum Jahre 1300], Bd. 1: Bis zum Jahre 1250; Bd. 2: Bis zum Jahre 1280; Bd. 3: Bis zum Jahre 1300. Breslau 1868–1886 (Codex diplomaticus Silesiae 7, 1–3); Wutke, Konrad (Hg.): Regesten zur schlesischen Geschichte 1301–1315. Breslau 1892 (Codex diplomaticus Silesiae 16); ders. (Hg.): Regesten zur schlesischen Geschichte 1316–1326. Breslau 1898 (Codex diplomaticus Silesiae 18); ders. (Hg.): Regesten zur schlesischen Geschichte 1327–1333. Breslau 1903 (Codex diplomaticus Silesiae 22); ders. (Hg.): Regesten zur schlesischen Geschichte 1334–1337. Breslau 1922 (Codex diplomaticus Silesiae 29); ders. (Hg.): Regesten zur schlesischen Geschichte 1334–1337. Breslau 1923 (Codex diplomaticus Silesiae 30); ders. (Hg.): Regesten zur schlesischen Geschichte 1338–1342. Breslau 1925 (Codex diplomaticus Silesiae 30, 1/2). 268 Irgang, Winfried: Das Schlesische Urkundenbuch – ein Resümee. In: ders./Norbert Kersken
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Ein Editionsvorhaben für die Frühe Neuzeit liegt in Gestalt der Acta publica vor, einer Edition der schlesischen Ständeakten, die Hermann Palm und nach ihm Julius Krebs in acht Bänden für die Jahre 1618 bis 1629 herausgaben, wobei der Provinziallandtag die Druckkosten übernahm.269 Palm, Gymnasiallehrer am Magdalenengymnasium in Breslau, wirkte mehr als 25 Jahre im Vorstand der Gesellschaft, dabei von 1863 bis 1885 als stellvertretender Vorsitzender. Die von Stenzel in den Jahren 1835 bis 1851 begonnene Edition erzählender Quellen in den Scriptores rerum silesiacarum wurde erst nach zwanzig Jahren, ab 1871, zunächst von Colmar Grünhagen und Hermann Markgraf, wieder aufgegriffen. Bis 1902 wurden zwölf Bände ediert, hauptsächlich chronikalische und epistolarische Quellen des 15. und 16. Jahrhunderts, aber auch zwei Bände Kriegsgerichtsakten aus der Mitte des 18. Jahrhunderts.270 Forschungen zur schlesischen Geschichte veröffentlichte der Verein in monographischer Form in der 1906 inaugurierten Reihe „Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte“, in der bis 1920 insgesamt 27 Bände erschienen. Mehr als die Hälfte der Bände (14) war zeitlich auf das Mittelalter ausgerichtet, die übrigen bezogen sich zu etwa gleichen Teilen auf die Frühe Neuzeit und die preußische Zeit seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Das zweite Standbein der Publikationen und zugleich das wichtigste Forum für die schlesische Geschichtsforschung war die Zeitschrift des Vereins, die Roepell unmittelbar mit der Neukonstituierung 1854 ins Leben gerufen hatte.271 Sie enthielt Studien zu allen Gebieten der schlesischen Geschichte, wobei spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Fragestellungen im Vordergrund standen, während zeitgeschichtliche Themen, Arbeiten zur Geschichte des 19. Jahrhunderts, randständig waren.272 In den ersten zehn Jahrgängen, unter Roepell und Wattenbachs Leitung, belegte die Publikation von Quellenmaterial noch einen erheblichen Teil der Bände.273 Mehr als die Hälfte der Autoren der Zeitschrift kam aus Breslau; zwei etwa gleich große Verfassergruppen stammten aus dem übrigen Schlesien bzw. von außerhalb der
(Hg.): Stand, Aufgaben und Perspektiven territorialer Urkundenbücher im östlichen Mitteleuropa. Marburg/Lahn 1998 (Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung 6), 153–162. 269 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 6 (1864) 398; ebd., 8 (1867) 221; ebd., 9 (1868) 424; ebd., 10 (1870) 502f.; Register zu Bd. 6–10 (1871) 3; Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 13 (1876) 542; ebd., 15 (1880) 572; ebd., 21 (1887) 440; ebd., 41 (1907) 422. 270 ��������������������������������������������������������������������������������������� Grünhagen, Colmar/Wachter, Franz (Hg.): Akten des Kriegsgerichts von 1758 wegen der Kapitulation von Breslau am 24. November 1757. Breslau 1895 (Scriptores rerum silesiacarum 15); dies. (Hg.): Akten des Kriegsgerichts von 1763 wegen der Eroberung von Glatz 1760 und Schweidnitz 1761. Breslau 1897 (Scriptores rerum silesiacarum 16). 271 Maetschke, Ernst: Die Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 1855–1905. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 41 (1907) 1–16; Kessler: Der Verein, X–XIV. 272 Maetschke: Die Zeitschrift, 10–14. 273 Ebd., 4, 6, 11.
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Provinz,274 darunter auch einige polnische275 und tschechische276 Wissenschaftler. 1907/08 nahmen der neue Vorsitzende des Vereins, Otto Meinardus, und der neue Redakteur der Zeitschrift, Konrad Wutke, eine Veränderung im Zuschnitt des Blattes vor: Für die intensivere und schnellere Kommunikation mit den Vereinsmitgliedern außerhalb Breslaus gaben sie das neue Organ Schlesische Geschichtsblätter heraus, das dreimal jährlich erschien.277 In der Zeitschrift wurde seit 1908 zugleich eine laufende historische Bibliographie für Schlesien veröffentlicht, in der allerdings erst seit 1926/27 auch Titel in polnischer und tschechischer Sprache berücksichtigt wurden.278 Hervorzuheben ist, dass die Zeitschrift bis auf eine anfängliche Rubrik „Bemerkungen, Ergänzungen und Berichtigungen zu neueren Schriften auf dem Gebiete der schlesischen Geschichte“279 lange Zeit keinen Rezensionsteil führte; dazu kam es erst 1928. Die für Schlesien wichtige konfessionelle Frage hatte auch Auswirkungen auf den Geschichtsverein. Gleich in den ersten beiden Bänden traten anlässlich einer Besprechung von Theodor Paur,280 die im Schlesische[n] Kirchenblatt im Juli 1855 mit einer von Roepell in der Zeitschrift nachgedruckten Polemik beantwortet wurde, die konfessionellen Konfliktlinien im Lande zutage. Der Kommentator „J. N.“ des Kirchenblatts kritisierte den Vereinspräsidenten Roepell für die „Verbreitung eines so unwissenschaftlichen und für die Katholiken so beleidigenden Elaborates“ – gemeint war Paurs Besprechung – und drohte dem Verein: „Eine Fortdauer dieser Richtung wird unbedingt den Austritt aller katholischen Mitglieder zur Folge haben, da man ihnen nicht zumuthen kann, in aller Ruhe für ihr Geld Unwahrheiten und Beleidigungen der katholischen Kirche drucken zu lassen.“281 Hierzu nahm Roepell im Tätigkeitsbericht 1856 aus Furcht vor „einer confessionellen Spaltung des Vereins“ ausdrücklich Stellung, sprach sich für „den confessionellen Frieden im Verein“ aus und forderte „beide Par274 Vgl. die Erhebung von Maetschke ebd., 9. 275 August Mosbach 1864, 1866; Stanisław Smolka 1874 (3); Stanisław Mieroszowski 1874; Bolesław Ulanowski 1882 (3); Wladimir Milkowitsch 1884 (2), 1885 (2); Wojciech Kętrzyński 1887 (2), 1888, 1890, 1894; Stanisław Karwowski 1895; Władysław Semkowicz 1911; Marian Łodyński 1918. 276 Jan Kapras 1908, 1912; August Sedláček 1914. 277 Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 43 (1909) 346; Kessler: Der Verein, XIV– XVI; Schellakowsky: Gründungsgeschichte, 45f. 278 Literatur zur schlesischen Geschichte [1907–1927, 1935–1941]. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 42 (1908) – 64 (1930), 70 (1936) – 76 (1942). 279 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Sie findet sich in der Vereinszeitschrift von Band 6 (1864) bis Band 40 (1906); zuvor gab es jedoch in den ersten beiden Bänden „Literaturberichte“. Vgl. ebd., 1 (1856) 152f., 304–328; ebd., 2 (1859) 198–208. 280 Theodor Paur hatte unter dem Titel „Zur Geschichte von Neisse in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts“ den Band von Kastner, August: Geschichte der Stadt Neisse, Bd. 2. Neisse 1854, besprochen: Ebd., 1 (1856) 95–129. 281 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 1 (1856) 320–322 („Ein Beispiel specifisch confessioneller Kritik“); zum Hintergrund vgl. Maetschke: Die Zeitschrift, 4f.; Kessler: Der Verein, X.
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teien, Katholiken und Protestanten“ auf, „den confessionellen Gesichtspunkt so weit hinter den historischen zurücktreten zu lassen“.282 Ein zweites Mal berührte die konfessionelle Frage den Verein zwanzig Jahre später, auf dem Höhepunkt des Kulturkampfes. Unter den damaligen Umständen verließen viele katholische Geistliche den Verein wegen ihrer existenziell und finanziell bedrohten Lage. Dies wirkte sich auf die Mitgliederstruktur und -entwicklung spürbar aus, so dass die Jahre von 1874 bis 1878 der einzige Abschnitt in der Geschichte des Vereins wurden, der keinen nennenswerten Mitgliederzuwachs aufwies;283 bei der Gelegenheit betonte Grünhagen den Grundsatz, „die Pflege unser heimathlichen Geschichte durch die Parteiströmungen der Gegenwart nicht beeinflussen zu lassen“.284 1887 wurden letzte konfessionelle Spannungen im Verein beigelegt, als der neue Fürstbischof von Breslau, Georg Kopp, sowie der Generalvikar, Hermann Gleich, dem Verein beitraten, dem bereits seit 1883 auch der Breslauer Domherr Adolph Franz angehörte. Grünhagen vermerkte dies ausdrücklich und betonte den überkonfessionellen Charakter des Vereins.285
IV. Der „Verein für Geschichte Schlesiens“ in Breslau erarbeitete sich, um ein knappes Fazit zu ziehen, von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg die Rolle als maßgebliche Institution der schlesischen landesgeschichtlichen Forschung. Er wirkte 282 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 1 (1856) 327f.: „Will der Verein die Freiheit der Forschung und Darstellung, und in ihr die wahre Lebensseele seiner Thätigkeit sich bewahren, so kann er dies meines Erachtens nur, wenn beide Partheien, Katholiken und Protestanten, den confessionellen Standpunkt so weit hinter den historischen zurücktreten lassen, daß sie sich gegenseitig diejenige Freiheit in der Auffassung und Beurtheilung geschichtlicher Verhältnisse zugestehen, welche ihre Schranke einzig und allein an der zwiefachen Forderung hat, daß Auffassung und Beurtheilung einmal auf einer unbefangenen, d. h. tendenzfreien wissenschaftlichen Forschung beruhen, und zum andern jene Anständigkeit des Ausdrucks einhalten, welche den Verkehr gebildeter Menschen charakterisiert.“ 283 Vgl. Anm. 103. 284 „Wenn die Steigerung der Zahl unsrer Mitglieder diesmal eine sehr geringe ist, von 371 auf 378, so findet das leicht darin seine Erklärung, daß der bei Weitem größte Theil der katholischen Geistlichen, welche unser Verein als Mitglieder zählte, gerade im Laufe der letzten zwei Jahre ausgetreten sind; da diese Austritte fast ausnahmslos durch einen Hinweis auf die gegenwärtigen bedrängten finanziellen Verhältnisse des Clerus motiviert wurden, so dürfen wir an der Hoffnung festhalten, daß eine Wendung der Dinge uns die Mitglieder zurückgeben wird, die wir um so unlieber missen, je mehr die Leiter unseres Vereins einen Werth darauf gelegt haben, die Pflege unser heimathlichen Geschichte durch die Parteiströmungen der Gegenwart nicht beeinflussen zu lassen.“ Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 13 (1876) 543f. 285 „Wir begrüßen mit aufrichtiger Freude jedes Zeichen der Anerkennung für unser unablässiges Streben, dem paritätischen Charakter unsres Vereins durch strenge Objektivität möglichst gerecht zu werden.“ Ebd., 23 (1889) 334.
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dabei primär in der Breslauer gebildeten Gesellschaft, entwickelte sich zum Bezugspunkt der Forschung in der schlesischen Provinz und trat in einen überregionalen wissenschaftlichen Austausch durch die Vereinsmitglieder außerhalb Schlesiens, durch Ehrenmitglieder und korrespondierende Mitglieder sowie durch den Schriftentausch mit Geschichtsvereinen im gesamten deutschen Sprachraum. Durch die von ihm angeregten und publizierten Quelleneditionen und Monographien sowie durch seine Vereinszeitschrift entwickelte er ein breit konturiertes wissenschaftliches Profil: Er stellte Materialien zur Verfügung, die zum Teil bis heute Bezugspunkte der Forschung darstellen, und prägte historische Narrative zur schlesischen Geschichte. Über ein Vierteljahrhundert lang wurde der Verein durch die dominierende Persönlichkeit Colmar Grünhagens in einer Weise geprägt, wie dies keinem Historiker vor oder nach ihm gelang. Der soziale Rekrutierungskern des Vereins waren zuerst Mitarbeiter des Breslauer Staatsarchivs, dann Gymnasiallehrer und schließlich Geistliche der beiden christlichen Hauptkonfessionen. Die Ausbildung und Verbreiterung eines landesgeschichtlichen Milieus in Breslau und Schlesien generell wird man zu den bleibenden Leistungen des Vereins zählen müssen.
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Die „Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur“ im 19. Jahrhundert I. Einführung Der Rektor der Breslauer Universität, der Geheime Regierungsrat Professor Jacob Rosanes, beschrieb die Bedeutung der „Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur“ in seiner Rede zur Hundertjahrfeier des Vereins am 17. Dezember 1903 mit den folgenden Worten: „Ursprünglich vorwiegend praktischen Zielen zugewandt, hat die Gesellschaft nach und nach vielfach die Funktionen einer Akademie für Breslau und Schlesien ausgeübt, und [...] einem jeden ermöglicht, die Ergebnisse eigner Forschung im Kreise nächster Fachgenossen mitzuteilen, Anregung zu geben wie zu nehmen, [sie] stellt [...] für manche Disziplinen eine wichtige Ergänzung der Universität dar.“1 Historiker gelangten in ihren Darstellungen häufig zu einer ähnlichen Einschätzung und bezeichneten die Gesellschaft, um mit Michael Rüdiger Gerber zu sprechen, „als eine Art Ersatz-Akademie“2 im Oderland. Als solche trug sie selbstverständlich auch zur Geschichtspflege und Geschichtsforschung bei. Aufgrund der inneren Struktur dieser Institution, die in einzelne Sektionen unterteilt war, die heute einem naturwissenschaftlichen und einem geisteswissenschaftlichen Bereich zugeordnet würden, ist es für die Darstellung der institutionellen Rahmenbedingungen erforderlich, zunächst die gesamtgesellschaftlichen Voraussetzungen genauer darzustellen, bevor auf die einzelnen Fachgruppen näher eingegangen werden kann, die sich dezidiert mit Geschichtspflege und Geschichtsforschung im weitesten Sinn beschäftigten. Die Entwicklung von einer kleinen Vereinigung weniger Männer, die ihre Gründung zunächst „Gesellschaft zur Beförderung der Naturkunde und Industrie in Schlesien“ nannten, hin zu einer Ersatzakademie für Schlesien, der „Gesellschaft für vaterländische Cultur“, ist vor allem auf das Engagement einzelner führender Mitglieder sowie die günstigen institutionellen Rahmenbedingungen zurückzuführen. Letztere stehen im Zentrum der weiteren Ausführungen, in denen zunächst die Forschungs- und Quellenlage skizziert wird, bevor genauer auf die Gründung der Assoziation und deren Satzungen eingegangen wird. Es folgen einige Bemerkungen zu den verschiedenen Arten
1 Rede des Rektors der Königlichen Universität Breslau, Professor Dr. Rosanes. Abgedruckt in: Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur, Bd. 1: Die Hundertjahrfeier, Bd. 2: Geschichte der Gesellschaft. Breslau 1904, hier Bd. 1, 27. 2 Gerber, Michael Rüdiger: Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur (1803–1945). Sigmaringen 1988 (Beihefte zum Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 9), 4.
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der Mitgliedschaft und zur Mitgliederstruktur im Allgemeinen sowie zu den finanziellen und räumlichen Gegebenheiten. Im Anschluss werden die Kooperationen mit anderen Institutionen, zum Beispiel mit der Universität Breslau, angesprochen. Am Ende sollen die einzelnen Sektionen der Gesellschaft vorgestellt werden, die speziell zur Geschichtspflege und -forschung beitrugen.
II. Forschungs- und Quellenlage Die bisher einzige Monographie über die Vereinigung erschien 1988 unter dem Titel Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur (1803–1945) als Beiheft zum Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau. Ihr Verfasser, Michael Rüdiger Gerber, zeichnet in seiner Darstellung die Entwicklung und die Strukturen der Assoziation bis zum Jahr 1945 nach. Er stützt sich dabei vor allem auf zwei Jubiläumsschriften: Die eine, 1853 von August Kahlert (1807–1864)3 vorgelegte Abhandlung entstand anlässlich der Feierlichkeiten zum fünfzigjährigen Bestehen der Gesellschaft, die andere, vorgelegt in zwei Bänden, erschien 1904 zur Hundertjahrfeier.4 Die Autoren dieser Schriften waren Mitglieder der Gesellschaft. Sie bekleideten zudem das Amt des Sekretärs einer Sektion und hatten damit Zugang zu den einschlägigen Protokollen und Archivalien. Kahlert, der die Geschichte der Assoziation in der vorstehend genannten ersten Jubiläumsschrift darstellte,5 war von 1844 bis 1855 zunächst stellvertretender Generalsekretär der Gesellschaft und von 1835 bis 1847 dann Sekretär der Sektion für Kunst und Alterthum. Das Amt des stellvertretenden Generalsekretärs hatte bereits sein Vater Johann Gottlieb Kahlert innegehabt, der auch an der Gründung einer Historischen Sektion beteiligt gewesen war.6 August Kahlert habilitierte sich an der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau und hielt dort literatur- und kunsthistorische Vorlesungen.7 In seiner Jubiläumsschrift beleuchtete er die Entstehung der Gesellschaft, ihre Umgestaltung in den Jahren 1808/09 sowie ihre Entwicklung seit 1810. Im letzten Kapitel ging er darüber hinaus auf die Geschichte der einzelnen Sektionen ein. Seinem Werk fügte er mehrere Beilagen an, die über die vom Königlichen Generalpostamt genehmigte Portofreiheit einzelner Sektionen Auskunft geben. Fünfzig Jahre später nahm sich der Historiker und Sekretär der Historischen Sektion Georg Kaufmann (1842–1929) der Darstellung der allgemeinen Geschichte der 3 Palm, Hermann: Kahlert, Karl August Timotheus. In: Allgemeine Deutsche Biographie 15 (1882) 3–5. 4 ����������������������������������������������������������������������������������������������������� Denkschrift zur Feier ihres fünfzigjährigen Bestehens. Hg. v. d. Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. Breslau 1853; Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur, Bd. 1–2. 5 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Kahlert, August: Geschichte der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. In: Denkschrift, 1–43. 6 Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur, Bd. 1, 85. 7 Palm: Kahlert, 3f.
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Gesellschaft an. Die Ausrichtung der einzelnen Sektionen wurde in dieser Jubiläumsschrift von jeweils verschiedenen Autoren dargestellt, die alle – sie waren meist Sekretäre der einzelnen Sparten – eine enge Beziehung zu den jeweiligen Untergruppierungen aufwiesen. Der erste Teil des 1904 in Breslau veröffentlichten Werkes enthielt zudem eine Dokumentation der Feierlichkeiten zum hundertjährigen Bestehen, darunter die Texte der gehaltenen Reden und die Glückwunschschreiben, die wichtige Quellen für die Beziehungen der Gesellschaft zu anderen Institutionen darstellen. Die genannten Jubiläumsschriften stellen bis heute bedeutende Quellen für die Geschichte der „Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur“ im 19. Jahrhundert dar. Darüber hinaus enthalten die Jahresberichte der Gesamtgesellschaft und die von der Assoziation selbst herausgegebenen Schriften aufschlussreiche Informationen, über die Ausrichtung der Assoziation, ihre Mitglieder und die von diesen bearbeiteten Themen ebenso wie über das Gesellschaftsleben an sich. Außerdem nutzten die Gesellschaft und einige ihrer Sektionen, besonders die Naturwissenschaftliche und die Ökonomische Sektion, die Schlesische[n] Provinzialblätter für die Publikation allgemeiner Darstellungen, Preisausschreiben und Mitteilungen, um auf diese Weise eine größere Leserschaft zu erreichen.8
III. Gründung und erste Satzung Als Gründungsdatum der Gesellschaft gilt der 17. Dezember 1803. An diesem Tag folgten sechs von den Ideen der Aufklärung überzeugte Männer aus dem Bürgertum dem Aufruf des Rechnungsführers der Breslauer Münze, Christian Heinrich Müller, der zuvor in der Zeitschrift Schlesische Provinzialblätter erschienen war. Keines der Gründungsmitglieder gehörte dem Gelehrtenstand an, die meisten von ihnen sind wohl dem gehobenen Bildungsbürgertum und der Honoratiorenschaft der Stadt Breslau zuzurechnen. Die Herkunft aus diesen gesellschaftlichen Kreisen ist den Gründungsmitgliedern vieler Vereine in jener Zeit gemeinsam.9 Müller und seine Mitstreiter gründeten die „Gesellschaft zur Beförderung der Naturkunde und Industrie in Schlesien“.10 In dem 1804 erschienenen Organisationsplan wurde der allgemeine Zweck des Zusammenschlusses mit der „Erleichterung und Belebung des Studiums der Mathematik, und
18 Gerber, Michael Rüdiger: Die Schlesischen Provinzialblätter 1785–1849. Sigmaringen 1995 (Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte 27), 527–538. 19 Zur Sozialstruktur des deutschen Vereinswesens an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert vgl. Hoffmann, Stefan-Ludwig: Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750–1914. Göttingen 2003 (Synthesen. Probleme europäischer Geschichte 1), 44f. 10 Müller, Christian: Einladung zur Errichtung einer Gesellschaft naturwissenschaftlicher Freunde. In: Schlesische Provinzialblätter 38 (1803) 458–460; Gerber: Die schlesische Gesellschaft, 7f.
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s ämmtlicher Natur-Wissenschaften in Schlesien“ beschrieben.11 Erst mit der Umgestaltung der Gesellschaft in den Jahren 1808/09 und der damit verbundenen Ausweitung auf geisteswissenschaftliche Disziplinen erhielt sie den Namen „Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur“. Der 1803 gewählte Name sowie die Ausführungen des Organisationsplans stehen in der Tradition der „Patriotischen Gesellschaft in Schlesien“, die von 1771 bis 1791 bestanden hatte. Ein wichtiger Unterschied zwischen beiden Institutionen war die Anlage der „Gesellschaft zur Beförderung der Naturkunde und Industrie in Schlesien“ als eigenständige und private Assoziation. Als solche musste sie ihren Etat gänzlich aus den Jahresbeiträgen ihrer Mitglieder bestreiten.12 Die „Patriotische Gesellschaft“ hingegen hatte durch ihre enge Anbindung an die Schlesische Generallandschaft eine halbstaatliche Stellung inne und stellte damit eine Ausnahme innerhalb der auf privater Initiative basierenden Vereinsbewegung des 18. Jahrhunderts dar.13 Die eigenständige und unabhängige Position der „Schlesischen Gesellschaft“ hatte zur Folge, dass sie von Beginn an auf eine bestimmte Anzahl zahlender Mitglieder angewiesen war, um ihre Ausgaben bestreiten zu können. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden daher immer wieder Versuche unternommen, die Mitgliederzahl zu erhöhen. Auf diese Maßnahmen wird noch genauer einzugehen sein. Die Gründung als private Assoziation schloss allerdings nicht aus, dass man sich in späteren Jahren um staatliche Zuschüsse bemühte. So erhielten in den 1820er Jahren bereits einzelne Sektionen finanzielle Unterstützung durch die Ministerien.14 Ein Antrag auf regelmäßige Zuschüsse aus Staatsfonds wurde indes 1852 abschlägig beschieden.15 Kahlert reklamierte in seiner Jubiläumsschrift von 1854 eine regelmäßige finanzielle Unterstützung vom Staat oder von den schlesischen Provinzialständen, um den Fortbestand der Gesellschaft zu gewährleisten.16 Auch diese Forderung blieb über Jahrzehnte hinweg unbeachtet. Erst 1892 gelang es, einen jährlichen Zuschuss in Höhe von 3.000 Mark von der Provinzialregierung zu erhalten.17 In Bezug auf das Genehmigungsverfahren der Vorgängergesellschaft schreibt Gerber Friedrich Albert Zimmermann (1745–1815) eine tragende Rolle zu, da dieser als Beamter das Vertrauen des schlesischen Provinzialministers Karl Georg Graf Hoym be11 Organisations Plan der von des in Schlesien dirigirenden Geheimen Staats Ministers Herrn Grafen von Hoym Excellenz unterm 22. September 1804 approbirten Gesellschaft zu Beförderung der Natur-Kunde und Industrie Schlesiens. In: Schlesische Provinzialblätter 40 (1804) 355–369. 12 Gerber: Die schlesische Gesellschaft, 8. 13 Hubrig, Hans: Die patriotischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts. Weinheim 1957 (Göttinger Studien zur Pädagogik 36), 59f. 14 Kahlert: Geschichte, 20. Dies führte wiederholt zu Streitigkeiten innerhalb der Gesellschaft. Vgl. Kaufmann, Georg: Allgemeine Geschichte der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. In: Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur, Bd. 2, 20. 15 Jahres-Bericht der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Kultur 30 (1852) 4. 16 Kahlert: Geschichte, 25. 17 Gerber: Die schlesische Gesellschaft, 23.
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sessen und zudem als Geograph hohes wissenschaftliches Ansehen genossen habe. Als Mitherausgeber der Schlesische[n] Provinzialblätter habe er die Veröffentlichung wichtiger Mitteilungen über die Gesellschaft ermöglichen können und so „zur Information einer breiteren Öffentlichkeit“ beigetragen.18 Zimmermann blieb der Gesellschaft – der er von 1810 bis 1815 als Präses vorstand – auch nach ihrer Umgestaltung verbunden, die in den einzelnen Phasen ihrer Entwicklung immer wieder vom Engagement und Ansehen sowie der Vernetzung ihrer führenden Mitglieder profitierte. In den ersten Jahren ihres Bestehens veranstaltete die „Gesellschaft zur Beförderung der Naturkunde und Industrie in Schlesien“ zahlreiche öffentliche Vorträge und konnte ihre Bibliothek sowie ihre Naturaliensammlung erweitern, so dass es notwendig wurde, größere Räume anzumieten. 1806 erschien die erste eigene Vereinspublikation unter dem Titel Verhandlungen der Gesellschaft zur Beförderung der Naturkunde und Industrie Schlesiens. Der Einmarsch französischer Truppen im Dezember 1806 und die Besetzung der Stadt Breslau stellten einen ersten markanten Einschnitt in der Entwicklung der Gesellschaft dar und bereiteten ihre Umgestaltung durch Samuel Gottfried Reiche vor. Aufgrund der erschwerten wirtschaftlichen Bedingungen und des Wegzugs mehrerer Mitglieder sanken die Mitgliederzahlen spürbar; Vorträge wurden in dieser Zeit kaum gehalten.19 Reiche entwickelte in einer am 18. Dezember 1808 gehaltenen Rede sein Idealbild der künftigen Gestalt der Gesellschaft; hier war vieles von dem bereits angelegt, was später tatsächlich umgesetzt wurde. In dieser in den Schlesische[n] Provinzialblätter[n] abgedruckten Rede nannte er die Kriegswirren und die einseitige Ausrichtung der Gesellschaft auf die Naturwissenschaften als Gründe für den Niedergang. Er beklagte ferner den Mangel an literarischen Hilfsmitteln, was dazu führe, dass niemand von der Wissenschaft allein leben könne. Daneben beklagte er die Abwanderung vieler Gelehrter aus Schlesien und das Fehlen eines Hofes, der diesen Personen eine Anstellung verschaffen könnte. Nur durch eine Ausweitung auf alle Fächer und Stände sei es möglich, die „Männer dieses Landes von Geist und Kenntnissen“, die fast alle Geschäftsmänner seien und der Wissenschaft und Kunst „nur wenige Stunden“ widmen könnten, für die Gesellschaft zu gewinnen. Denn diese Personen würden „den Wissenschaften und allen [...] Forschungen jeder Art jenen schönen Einfluß auf das wirkliche Leben verschaffen“. Reiches Idealvorstellung war ein „allgemeine[s] Institut der Schlesier für ihr Vaterland, an welches alles geistvolle, jedes treue, an Vaterland und Regierung stets hängende, Herz sich anschließt“.20 Zu den Vorhaben, die später ganz oder zum Teil umgesetzt wurden, gehörten unter anderem: die Gliederung der Gesellschaft in unterschiedliche Sektionen 18 ��������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., 8. Zu Zimmermann vgl. Grünhagen, Colmar: Zimmermann, Friedrich Albert. In: Allgemeine Deutsche Biographie 45 (1900) 260–262. 19 Gerber: Die schlesische Gesellschaft, 9f. 20 Reiche, Samuel Gottfried: An die Mitglieder der Gesellschaft zur Beförderung der Naturkunde und Industrie in Schlesien und an sämtliche Schlesier. In: Schlesische Provinzialblätter 48 (1808) 1126–1150, hier 1129–1131.
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mit eigenem Statut, die Herausgabe einer eigenen Schrift, das Abhalten allgemeiner Versammlungen, die Einrichtung einer Bibliothek, eines Archivs und einer Naturalien-, Kunst- und Modellsammlung. Reiche plante darüber hinaus die jährliche Organisation von Kunstausstellungen. Als Vorbild für diese Pläne diente ihm die Ausrichtung englischer Gesellschaften.21 Die Herausgabe eines Korrespondenzblattes sah er als Mittel, um den Austausch der Mitglieder in der ganzen Provinz nachhaltig zu befördern; außerdem trage eine solche Schrift zur Belehrung, zur Förderung der Wissenschaften und zur Ausbildung der Vaterlandstreue bei. In den Ausführungen Reiches ist der zeitgenössische Patriotismus zu erfassen. Es werden zwei Motive deutlich, die Thomas Nipperdey als typisch für die Vereinsgründungen jener Zeit bezeichnete: umfassende Bildung im Sinn der Aufklärung und Gemeinnützigkeit.22 Um diese Ziele zu erreichen, beschrieb Reiche den Hauptcharakter des geplanten Korrespondenzblattes, das er als „Organ des Instituts“ bezeichnete, mit der „Popularität des Stoffs und des Styls“. Die darin verhandelten Themen sollten eine möglichst breite Öffentlichkeit ansprechen.23 Reiche erkannte freilich auch, dass einer Umsetzung seiner Vorhaben nicht wenige Hürden im Weg standen.24 Deutlich wird, dass er nicht nur eine Vision von der künftigen Gestalt der Institution hatte, sondern den Herausforderungen seiner Zeit auch mit ganz praktischen Erwägungen begegnen wollte. Als Beispiel kann die Idee einer Herabsetzung der Mitgliedsbeiträge von 12 auf 6 Reichstaler dienen. Seine Rede schien jedenfalls die Zuhörerschaft, zu der auch der Kommandant von Breslau, Prinz Heinrich von Anhalt-Pleß, zählte, überzeugt zu haben, denn Reiche erhielt nunmehr den Auftrag zur Ausarbeitung eines Konstitutionsentwurfs.25 Die 1810 veröffentlichte Konstitution, die am 13. November des Vorjahres bereits die königliche Bestätigung erhalten hatte, trägt deutlich die Handschrift Reiches. Faktisch beruhte sie zum Großteil auf den Statuten ihrer Vorgängergesellschaft.26 Bis 1878 erfuhr sie nur geringfügige Änderungen. Danach erhielt die Gesellschaft die Rechte einer juristischen Person. Die Befugnisse des Präses wurden modifiziert, auch wenn das Verhältnis der Sektionen zur Gesamtgesellschaft im Wesentlichen unverändert blieb.27 Im ersten Abschnitt der Konstitution von 1810 wurde der Zweck der Gesellschaft in drei Paragraphen erläutert: „§ 1. Es sollen recht viele Männer von Geist, von Kennt-
21 Ebd., 1138. 22 �������������������������������������������������������������������������������������������� Nipperdey, Thomas: Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und 19. Jahrhundert. In: Boockmann, Hartmut u. a. (Hg.): Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert. Göttingen 1972 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 1), 1–44, hier 6. 23 Reiche: An die Mitglieder, 1139. 24 Ebd., 1146. 25 Ebd., 1149f. 26 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Constitution der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. Hg. v. d. Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. Breslau 1810, 3. 27 Kaufmann: Allgemeine Geschichte, 9.
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nissen, Einsichten und Gemeinsinn in Schlesien mit einander verbunden werden. § 2. Diese vereinigen sich zu belehrenden Unterhaltungen, zu gemeinschaftlichen Untersuchungen wissenschaftlicher oder solcher Gegenstände, welche den Namen gemeinnütziger verdienen. § 3. Zur vollständigen Erreichung dieser Absicht wollen sie sich insbesondere bemühen, die Hülfsmittel zu wissenschaftlichen und andern Untersuchungen, welche für die Beförderung der Geistes- und Gewerbscultur oder für das Wohl des Vaterlandes überhaupt von Wichtigkeit sind, aufzubringen und ein Museum zu stiften, in welchem besonders die der Provinz Schlesien eigenthümlichen Schätze der Litteratur, Natur und Kunst in der möglichsten Vollständigkeit aufgesammelt werden sollen.“28 Der Einfluss Reiches auf die Satzung ist klar zu erkennen, da sich große Teile seines einstigen Idealbildes in den Formulierungen wiederfinden. Die Gesellschaft sollte aus mehreren einzelnen Verbindungen, den Sektionen, bestehen, deren Zahl nicht begrenzt war. Die einzige Einschränkung ihrer Ausrichtung regelte folgender Passus in Paragraph 4: „Namentlich soll und kann keine einzelne Verbindung aufgenommen und geduldet werden, die eine politische Tendenz hat, und die Schranken ruhiger, friedlicher, Unterthanen und Weltbürger überschreitet.“29 Neben politischen wurden später auch noch religiöse Themen grundsätzlich ausgeschlossen – was in den politisch ereignisreichen 1840er Jahren prekär wurde. Laut Kahlert wollten einige Mitglieder die Geldmittel der Gesellschaft zugunsten des Proletariats ausgeben, andere hielten den Passus für unzeitgemäß und plädierten für dessen vollständige Streichung. Generell hätten sich viele Mitglieder in diesen Jahren für den Austausch der provinziellen Ausrichtung „mit einem kosmopolitischen Standpunkt“ ausgesprochen; „die in ganz anderen Grundsätzen alt gewordenen Direktoren“ hätten sich aber erfolgreich gegen die neuen Forderungen zu wehren gewusst.30 Der hier erstmals in Frage gestellte Passus trug vermutlich dazu bei, dass sich die „Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur“ trotz grundlegender politischer Veränderungen seit ihrer Gründung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts erhalten konnte. Die sechs Gründungssektionen der Gesellschaft waren: 1. die physikalische, 2. die entomologische, 3. die ökonomische, 4. die medizinische, 5. die pädagogische und 6. die Sektion für Kunst und Altertum. Gerber schreibt der Gesellschaft die Funktion eines Dachverbands31 für diese Sektionen zu, die sich eine eigene Verfassung gegeben hatten und vom Präsidium genehmigt worden waren. Die Sektion für Kunst und Altertum spielte, was die Geschichtspflege betrifft, eine bedeutende Rolle; auf sie wird noch genauer einzugehen sein. Zunächst soll jedoch ein Blick auf die Mitgliederstruktur geworfen werden. Genauere Mitgliederstatistiken zu den einzelnen Sektionen existieren allerdings nicht.
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Constitution 1810, 5. Ebd. Kahlert: Geschichte, 22f. Gerber: Die schlesische Gesellschaft, 11.
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IV. Arten der Mitgliedschaft und Mitgliederstruktur Die Satzung der „Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur“ unterschied zwei Arten von Mitgliedern: „wirkliche einheimische“ und „auswärtige Mitglieder“. Beide Gruppen hatten jeweils andere Rechte und Pflichten. Das Präsidium wurde lediglich aus der Mitte der einheimischen, in Breslau lebenden Mitglieder gewählt, die jährlich sechs Reichstaler Beitrag bezahlten. Die in der Provinz lebenden Mitglieder zahlten zwei Reichstaler weniger und hatten, wenn sie sich in der schlesischen Hauptstadt aufhielten, dieselben Rechte wie die einheimischen Mitglieder: Sie konnten an den Versammlungen teilnehmen, die Räume der Gesellschaft nutzen, dort die Journale lesen und alle literarischen und anderen Hilfsmittel verwenden sowie Bücher aus der Bibliothek ausleihen; ihren Anfragen wurde ein gewisser Vorzug eingeräumt.32 Die Gesellschaft hatte jedoch stets das Problem, dass die Zahl der auswärtigen Mitglieder gering und gegen Ende des 19. Jahrhunderts endgültig rückläufig war.33 Bereits 1831 erachtete man es daher als notwendig, in den Schlesische[n] Provinzialblätter[n] nochmals die Rechte der auswärtigen Mitglieder dezidiert zu erläutern und neue Kandidaten in der Provinz anzuwerben.34 1886 senkte man die Beiträge der auswärtigen Mitglieder, um neue Interessenten für eine Mitgliedschaft zu gewinnen – der Anspruch der Gesellschaft richtete sich schließlich auf die gesamte Provinz, nicht nur auf deren Hauptstadt.35 Die Mitgliederzahlen zeigen jedoch, dass dieser Plan nicht aufging. Die Zahl der in Breslau ansässigen Mitglieder war in den Jahren von 1886 bis 1900 etwa doppelt bis dreifach so hoch wie die der auswärtigen Mitglieder.36 Später traten noch zwei weitere Arten von Mitgliedern hinzu: Ehrenmitglieder37 und korrespondierende Mitglieder. Ehrenmitglieder – darunter Staatsminister, Regierungsräte und Professoren mehrerer wissenschaftlicher Institute im In- und Ausland – wurden seit 1816 auf Antrag des Generalsekretärs und der Sektionen vom Präsidium gewählt.38 Ihre Zahl schwankte im 19. Jahrhundert zwischen 78 (1820) und 19 am Ende der zweijährigen Etatszeit 1900/01.39 Ihr Einfluss wirkte sich mehrheitlich positiv auf die Gesellschaft aus. So trugen sie dazu bei, dass mit auswärtigen Vereinen Kooperationen geschlossen werden konnten, und sie verschafften der Gesellschaft durch die von ihnen bekleideten Ämter gewisse Privilegien. Der preußische Kulturminister 32 Constitution 1810, 7f. 33 Ebd., 21. 34 Ueber das Verhältniß der auswärtigen Mitglieder der Schlesischen Vaterländischen Gesellschaft. In: Schlesische Provinzialblätter 94 (1831) 345f. 35 Gerber: Die schlesische Gesellschaft, 21f. 36 Die Zahlen der einheimischen Mitglieder stiegen im Lauf des 19. Jahrhunderts von 97 (1805) auf 492 (1900/01) fast kontinuierlich an. Vgl. die Mitgliederstatistik ebd., 85. 37 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Die Ehrenmitglieder erschienen erstmals in der Satzung von 1815. Vgl. Constitution der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. Breslau 1815, 8. 38 Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur, Bd. 1, 62f. 39 Gerber: Die schlesische Gesellschaft, 84f.
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Karl vom Stein zum Altenstein setzte sich beispielsweise in den Jahren 1823/24 für die Portofreiheit der naturwissenschaftlichen Sektion und der Abteilung für Kunst und Altertum ein.40 Stolz zitierte Kahlert in seiner Jubiläumsschrift das Ehrenmitglied Johann Wolfgang von Goethe, der gegenüber dem Präses Friedrich Konstantin von Stein am 29. Oktober 1825 geäußert habe: „Mir ist kein gemeinnütziger Verein bekannt, wo mit solcher Ausdauer und mit solchem Erfolge so mannigfaltige Zwecke verfolgt werden, wie es wirklich in der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur stattfindet.“41 Mit Goethe und Alexander von Humboldt (1827) waren bedeutende und angesehene Gelehrte der Zeit unter den Ehrenmitgliedern vertreten. Die erste Aufnahme korrespondierender Mitglieder fällt in das Jahr 1819. Im Jahr darauf erschien bereits die eigens zur Dokumentation des Briefwechsels mit diesen Mitgliedern erneuerte Schrift Correpondenz der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur, deren Redaktion Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783–1829)42 innehatte. Seine Vorrede enthielt einen Aufruf an die Leser, „ihre Beobachtungen und Arbeiten mitzutheilen, damit Regsamkeit und Lebendigkeit von der Gesellschaft aus sich über das ganze Land erstrecke und wieder von den Einzelnen her auf die Gesellschaft zurückwirke“.43 Hier wird erneut der Anspruch deutlich, wissenschaftlich über die Region hinaus zu wirken und Forschungsvorhaben in größtmöglicher Breite zu rezipieren. 1820 betrug die Zahl der korrespondierenden Mitglieder 29, danach ist ein Anstieg auf 273 am Ende der Etatszeit 1856/57 zu verzeichnen, bevor die Zahl in der Zeit der Einigungskriege und der Reichsgründung auf 196 am Ende der Etatszeit 1872/73 sank. Danach bewegte sich die Zahl dieser Mitglieder zwischen 113 in den Jahren 1900/01 und 297 am Ende der Etatszeit 1874/75. Im 20. Jahrhundert lag die Anzahl der korrespondierenden Mitglieder bis 1926/27 relativ konstant bei durchschnittlich 125.44 Die Ernennung von korrespondierenden Mitgliedern wurde von Seiten einiger gut vernetzter Vorstandsmitglieder zur Kontaktpflege mit anderen Gesellschaften und Akademien genutzt. So betonte Richard Förster in seiner Festrede Hundert Jahre Schlesischer Gesellschaft für vaterländische Cultur, dass einer seiner Vorgänger, der Präses Heinrich Robert Göppert, durch die Ernennung korrespondierender Mitglieder erreicht habe, „daß nicht nur die Arbeiten schlesischer Forscher über den Ozean getragen wurden, sondern auch der Strom außereuropäischer Gelehrsamkeit und Bildung von Stockholm und Melbourne, von Paris und Philadelphia in das abgelegene Schlesien zurückflutete“.45
40 Kahlert: Geschichte, 20. 41 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Ebd., 21. Goethes Zitat findet sich auch in der Schrift zum hundertjährigen Jubiläum der Gesellschaft: Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur, Bd. 1, 14f. 42 Zu Büsching vgl. Hałub, Marek: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829. Ein Beitrag zur Begründung der schlesischen Kulturgeschichte. Wrocław 1997. 43 Correspondenz der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur 1 (1820) 6. 44 Gerber: Die schlesische Gesellschaft, 84f. 45 Förster, Richard: Hundert Jahre Schlesischer Gesellschaft für vaterländische Cultur. In: Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur, Bd. 1, 21f.
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Damit wurden bereits die weitreichenden Verbindungen zu anderen Institutionen angedeutet, die zum Zeitpunkt der Rede Försters die beachtliche Zahl von 350 bereits überstiegen hatten.
V. Allgemeine finanzielle und räumliche Rahmenbedingungen Aus den Jahresberichten der Gesellschaft geht hervor, dass diese sich aufgrund ihres Status als private Assoziation zum größten Teil aus den Mitgliedsbeiträgen finanzierte; dazu kamen Eintrittsgelder neu aufgenommener Mitglieder sowie Einnahmen aus dem Verkauf von Eintrittskarten zu den von der Gesellschaft veranstalteten öffentlichen Vorträgen und Ausstellungen sowie Zinseinnahmen. Den größten Posten im Bereich der Ausgaben stellte die Miete dar: Sie betrug 600 Taler im Jahr 1852, ungefähr doppelt so viel wie für die Gehälter der Angestellten (275 Taler) und für den Druck von Publikationen (362 Taler) in jenem Jahr jeweils ausgegeben wurde. Hinzu kamen bei den Ausgabenpositionen die Unterhaltungskosten für die Immobilien (Heizung, Beleuchtung), Schreibmaterialien, Porto, Buchbinderarbeiten, Zeitungsannoncen und Bibliotheksanschaffungen.46 Nicht jeder Kassenbericht wurde in den Jahresberichten ausführlich abgedruckt. Für das Jahr 1862 liegt zum Beispiel nur eine kurze Zusammenfassung der Einnahmen des damaligen Kassierers vor, der nur lapidar erwähnte, dass der Etat für die Druckkosten nicht ausreichend gewesen sei.47 Die Druckkosten scheinen einen immer größeren Betrag ausgemacht zu haben: 1872 betrugen sie schon 883 Taler und überstiegen damit deutlich die Mietausgaben (600 Taler) jenes Jahres.48 Der Anstieg der Druckkosten ist zumindest teilweise auf die Herausgabe einer neuen Schriftenreihe, der Abhandlungen der Schlesischen Gesellschaft, seit dem Jahr 1861 zurückzuführen; sie stellten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus die höchste Ausgabenposition innerhalb der laufenden Kosten dar.49 Die Höhe der Druckkosten zeigt zudem, welch hohe Bedeutung den eigenen Schriftenreihen für das wissenschaftliche und gesellschaftliche Wirken beigemessen wurde. Das Gesamtvermögen der Gesellschaft betrug im Jahr 1900 ungefähr 62.300 Mark.50 Einen Teil davon gab man in den folgenden Jahren für den Neubau eines eigenen Gesellschaftshauses aus,51 das zusätzlich aus Spenden an einen 1901 eigens dafür
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Jahres-Bericht der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur 30 (1852) 16f. Jahres-Bericht der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur 40 (1862) 17. Jahres-Bericht der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur 50 (1872) 16f. Vgl. die Kassenberichte in den Jahres-Berichten der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur 50–83 (1872–1905). 50 Jahres-Bericht der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur 78 (1900) 24f. 51 Die Honorare für die Architekten beliefen sich im Jahr 1905 auf rund 4.000 Mark. Vgl. JahresBericht der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur 83 (1905) 15f.
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Abb. 1: Die Einrichtung eines Baufonds im Jahr 1901 erlaubte es der „Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur“, ein eigenes Gesellschaftshaus zu errichten. Das Gebäude an der Matthiaskunst in Breslau wurde am 27. Oktober 1907 eingeweiht. Bildnachweis: [Andreae, Friedrich (Hg.)]: Aus dem Leben der Universität Breslau. Der Schlesischen Friedrich-Wilhelm-Universität zum 125. Gedenktag ihrer Gründung gewidmet vom Universitätsbund Breslau. [Breslau 1936], Abb. 34.
eingerichteten Baufonds finanziert wurde (Abb. 1).52 Neben zahlreichen Mitgliedern der Vereinigung spendeten der Kaiser, die schlesische Provinzialverwaltung sowie Mitglieder des Breslauer Magistrats.53 In den Jahrzehnten zuvor war vergeblich versucht worden, mit Hilfe der lokalen Behörden ein eigenes Haus zu erwerben. Die Verantwortlichen hatten nach der Darstellung Kahlerts gehofft, vom Staat ein Grundstück geschenkt zu bekommen,54 aber diese Hoffnung wurde enttäuscht. Bis zur Einweihung des eigenen Gebäudes an der Matthiaskunst am 27. Oktober 1907 hatte die Gesellschaft unterschiedliche Räume angemietet. In den Anfangsjahren befanden sich diese in den Gebäuden „Stadt Paris“ und „Drei Sterne“ in der Weiden- bzw. Albrechtsgasse. 1806 zog die Assoziation in das Itzingersche Haus in der
52 Jahres-Bericht der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur 79 (1901) 5f. 53 Jahres-Bericht der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur 82 (1904) 11. 54 Kahlert: Geschichte, 15.
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Abb. 2: Alte Börse. Der Bezug von Räumen im alten Börsenhaus durch die „Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur“ im Jahr 1813 machte es möglich, eine Bibliothek für die eigenen Mitglieder aufzustellen. Kupferstich von Maximilian von Großmann. Bildnachweis: [Andreae, Friedrich (Hg.)]: Aus dem Leben der Universität Breslau. Der Schlesischen Friedrich-Wilhelm-Universität zum 125. Gedenktag ihrer Gründung gewidmet vom Universitätsbund Breslau. [Breslau 1936], Abb. 33.
Antoniengasse,55 doch waren die dortigen Räume für das neue Bibliothekskonzept des Bibliothekars Johann Gottlieb Kahlert bald zu klein. Kahlert beabsichtigte, einen Kustos für die Bibliothek einzustellen und diese so einzurichten, dass sie regelmäßig von den Mitgliedern genutzt werden konnte. Dieser Plan erforderte größere Räume, die schließlich 1813 in dem alten Börsenhaus gefunden wurden.56 Während des Neubaus wich die Vereinigung in den Jahren 1822 bis 1824 in ein Ausweichquartier in der Sandstraße 1 aus, bevor sie im zweiten Stock des neu errichteten Börsenhauses Räume anmietete, die bis zur Kündigung des Mietverhältnisses 1900 genutzt wurden (Abb. 2).57 Bis zur Einweihung des eigenen Gebäudes mussten daher mehrere Notunterkünfte bezogen werden. Für die Versammlungen der Gesamtgesellschaft und der einzelnen Sektionen stellte die Stadtverwaltung Räume im Rathaus zur Verfügung.58 Dies zeigt, dass die Gesellschaft beim Magistrat der Stadt in hohem Ansehen stand und bis zu
55 56 57 58
Gerber: Die schlesische Gesellschaft, 9. Kahlert: Geschichte, 14f. Gerber: Die schlesische Gesellschaft, 16. Jahres-Bericht der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur 78 (1900) 7.
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e inem bestimmten Punkt in Notsituationen mit dessen Hilfe rechnen konnte. Für den preußischen Staat hatte sie bereits in den 1830er Jahren die Funktion einer Vereinigung von Sachverständigen für unterschiedliche Themen, die für einzelne staatliche Behörden Gutachten erstellten.59 Insgesamt kann die finanzielle Situation der Assoziation im gesamten 19. Jahrhundert als solide bezeichnet werden. Dies hatte sicherlich positive Auswirkungen auf die Anerkennung der Gesellschaft durch andere Institutionen und ermöglichte es ihr, mit weiteren Vereinigungen enge Beziehungen zu unterhalten.
VI. Verbindungen zu anderen Institutionen Die Neugründung der Universität Breslau im Jahr 1811 hatte für die Entwicklung und Ausrichtung der Gesellschaft weitreichende Folgen. Durch die Mitgliedschaft der Professoren in der Gesellschaft profitierte diese häufig vom internationalen Ansehen der Gelehrten und konnte durch sie Verbindungen zu anderen wissenschaftlichen Institutionen im In- und Ausland aufnehmen. Darüber hinaus fanden häufig öffentliche Veranstaltungen der Gesellschaft in den repräsentativen Räumen der Universität statt.60 Mit der Zeit wurden fast alle führenden Positionen innerhalb der Gesellschaft von Professoren der Universität bekleidet. Gerber betont gleichwohl, „daß die Schlesische Gesellschaft niemals in die Rolle eines bloßen Ablegers der Universität geraten“ sei. „Zu stark“ sei „ihre Verankerung in der immer breiter werdenden Schicht des Bildungsbürgertums“ gewesen und zu groß der Anteil dieses Bildungsbürgertums „am Erfolg der Gesellschaft“.61 Der Beitritt der Professoren führte aber immerhin dazu, dass die Gesellschaft eine stärkere „theoretisch-fachwissenschaftliche“62 Ausrichtung erfuhr. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts kam es mehrfach zu Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Mitgliedern über das Profil der Gesellschaft. Kaufmann sprach gar von einem „Kampfe“ zwischen zwei Richtungen, in welchem die einen die Anwendung der theoretischen Erkenntnisse in der Praxis, „die unmittelbare Nützlichkeit“ forderten, während die anderen sich bemühten, „im allgemeinen den Sinn für wissenschaftlichen Fortschritt und für eine höhere Auffassung des Lebens und seiner Aufgaben zu wecken“.63 Ein Konflikt über die Ausrichtung kann bereits für die Jahre der Umgestaltung durch Reiche ausgemacht werden. Eine Äußerung des Generalsekretärs Johann Wendt
59 Kaufmann: Allgemeine Geschichte, 10f.; Gerber: Die schlesische Gesellschaft, 17. 60 So fand beispielsweise die Hundertjahrfeier in der Aula Leopoldina der Universität statt. Vgl. Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur, Bd. 1, 10. Zu personellen Zusammenhängen zwischen Universität und Gesellschaft vgl. Bahlcke, Joachim: Die Geschichtswissenschaft an der Universität Breslau 1811–1945. Fachentwicklung – Personalstand – Forschungsschwerpunkte. In: Jahrbuch für schlesische Kultur und Geschichte 53/54 (2012/13) 569–588. 61 Gerber: Die schlesische Gesellschaft, 14. 62 Ebd. 63 Kaufmann: Allgemeine Geschichte, 20.
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(1810–1843) im Rahmen der Stiftungsfeier am 19. Dezember 1810 ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich. „Nicht tiefe gelehrte Forschung, sondern Beförderung der vaterländischen Cultur ist der höchste Zweck der allgemeinen Gesellschaft, alle Beförderungsmittel für die Cultur zu sammeln, und treu zu bewahren das Ziel ihres Wirkens.“64 Wendt betonte, dass der Fokus der Vereinigung nicht auf „gelehrten Forschungen“ liegen dürfe, da im Zuge der Umgestaltung einige Mitglieder eben diese Befürchtung geteilt hätten, was zu mehreren Austritten geführt habe. Am 4. Oktober 1810 war sogar der Gründer der Gesellschaft, Christian Heinrich Müller, ausgetreten, da er befürchtete, „daß die ehemals gemeinnützig-praktische Ausrichtung der Gesellschaft von einer eher wissenschaftlich-theoretischen Orientierung in den Hintergrund gedrängt werden könnte“.65 Die Aussage Wendts kann vor diesem Hintergrund als klares Signal an die Mitglieder gesehen werden, dass an der ursprünglichen Ausrichtung der Vereinigung nichts verändert würde. In den folgenden Jahren gelang es den führenden Mitgliedern, nicht nur die Beziehungen zur Universität Breslau auszubauen, sondern auch weitere Verbindungen zu anderen Vereinen und Institutionen zu festigen. Letztlich ist nicht zu übersehen, dass die wissenschaftliche Ausrichtung der Gesellschaft im Lauf des 19. Jahrhunderts das Übergewicht erlangte. Die Kooperationen der Gesellschaft waren vielfältig. Sie umfassten nicht nur den Schriftenaustausch, sondern auch die zeitweilige Untervermietung ihrer Räume an andere Vereine wie den „Schlesischen Kunstverein“ und den „Gewerbeverein“.66 1862 tagte die Schlesische Gesellschaft zum Beispiel in Görlitz in den Räumen der „Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften“. Die Liste der Kooperationspartner ließe sich um mehrere Hundert weitere wissenschaftliche und gemeinnützige Institutionen erweitern. Einen Eindruck vermitteln die zahlreichen Glückwunschschreiben, die im ersten Teil des Jubiläumsbandes zum hundertjährigen Bestehen der Gesellschaft abgedruckt wurden. Unter ihnen finden sich beispielsweise die Universitäten von Freiburg im Breisgau, Halle an der Saale, Kiel, Königsberg, Marburg an der Lahn und München, die „Kaiserliche Moskauer Gesellschaft der Naturforscher“, die Königliche Akademie zu Posen, die Königliche Gesellschaft der Wissenschaften in Uppsala und die „k. k. geologische Reichsanstalt“ in Wien. Unter den Gratulanten finden sich darüber hinaus die Vorstände des „Vereins für die Geschichte Berlins“ und der „Historischen Gesellschaft für die Provinz Posen“. In beiden Schreiben wurde die Vorbildfunktion der Breslauer Vereinigung hervorgehoben, die diese für später gegründete Geschichtsvereine ausgeübt habe, und die Leistung auf ganz unterschiedlichen Fachgebieten gewürdigt.67
64 Oeffentlicher Actus der schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur, gehalten den 19ten December 1810, zur Feyer ihres Stiftungsfestes. In: Schlesische Provinzialblätter 53 (1811) 7–26, 101–120, hier 115. 65 Gerber: Die schlesische Gesellschaft, 12f. 66 Jahres-Bericht der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur 30 (1852) 16f. 67 Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur, Bd. 1, 78f., 92f.
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VII. Rahmenbedingungen der Geschichtspflege und Geschichtsschreibung in den einzelnen Sektionen Der Begriff Geschichtspflege umfasst im zeitgenössischen Verständnis des 19. Jahrhunderts auch Fragen von literarischen Traditionen oder künstlerischen Überlieferungen und Sammlungen sowie volkskundliche Themen. Im Zuge des Differenzierungsprozesses der Wissenschaften nach 180068 setzte in der „Gesellschaft für vaterländische Cultur“ eine Spezialisierung ein, die vor allem in der Neugründung und Ausdifferenzierung einzelner Sektionen zu beobachten ist.69 Die verstärkte Spezialisierung hatte jedoch eine Kehrseite: Auf einzelnen Gebieten wurde die Konkurrenz neugegründeter Vereine außerhalb der Gesellschaft so stark, dass einige Sektionen geschlossen werden mussten. Die Gründe dieser Entwicklung hat Gerber treffend zusammengefasst: In Breslau und Schlesien bildeten sich „wie überall im Deutschland des 19. Jahrhunderts zahlreiche Spezialvereine [...], die mit ihrer Konzentration auf relativ enge Arbeitsgebiete und wohl auch mit ihrer oftmals volkstümlicheren Ausrichtung das Interesse von einigen Sektionen der Schlesischen Gesellschaft abzogen“.70 Ein Beispiel hierfür stellt die Sektion für Kunst und Altertum dar, die sich 1847 auflöste, nachdem in der schlesischen Hauptstadt ein Kunstverein gegründet worden war. Die Sektion für Kunst und Altertum war bereits 1810 gegründet worden. Sie sollte der Beförderung des „Geschmackes an bildenden Künsten“ dienen und sich der in die Konstitution der Gesamtgesellschaft von 1810 aufgenommenen Aufgabe der „Bearbeitung der Geschichte der Kunst in Schlesien“ widmen.71 Ihre Sekretäre waren verpflichtet, alle drei Monate dem Präsidium einen Bericht über die Arbeit der Sektion vorzulegen. Die Mitglieder waren überdies dazu aufgerufen, in den Sitzungen eigene Abhandlungen vorzutragen. Von 1818 bis 1829 stand Büsching der Sektion vor. In seine Amtszeit fällt zudem der Beginn der Ausrichtung von Kunst- und Gewerbeausstellungen, die zunächst publikumswirksam und lukrativ waren und so die Förderung der Kunstschaffenden und Gewerbetreibenden ermöglichten. Seit 1827 entstand der Sektion mit dem „Breslauer Künstlerverein“ jedoch eine starke Konkurrenz, so dass 1832 in einem Abkommen festgesetzt wurde, dass künftig eine gemeinsame Kunstausstellung veranstaltet werden sollte. Ein weiterer Vertrag aus dem Jahr 1834 ermöglichte den Austausch von Kunstwerken zwischen allen Kunstvereinen in Preußen; „die mit dem Austausch von Kunstwerken verbundene Kostensteigerung“ vermochte die Sektion durch die Einnahmen je68 Hardtwig, Wolfgang: Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland 1789–1848. In: Dann, Otto (Hg.): Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland. München 1984 (Historische Zeitschrift. Beiheft 9), 11–53, hier 15. 69 In diesem Zusammenhang steht beispielsweise auch die Gründung der archäologischen Sektion 1866. Vgl. Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur, Bd. 2, 115. 70 Gerber: Die schlesische Gesellschaft, 19. 71 Oeffentlicher Actus der schlesischen Gesellschaft, 114.
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doch nicht aufzufangen. Da dies mit der Eigenfinanzierung nicht zu vereinbaren war und die Ausstellungen der Jahre 1843 und 1845 finanzielle Verluste mit sich gebracht hatten, vereinbarte die Sektion 1846 mit dem Breslauer Kunstverein, „daß dieser die Kunstausstellungen künftig allein und auf eigene Rechnung veranstalten sollte“. Diese Entscheidung bedeutete den Verlust der Hauptaufgabe der Sektion und führte am Ende zu deren Auflösung am 3. Dezember 1847.72 Zwei Jahre nach der Gründung der Sektion für Altertum und Kunst erfolgte 1812 die Einrichtung einer historisch-geographischen Abteilung, deren Tätigkeit während der Befreiungskriege allerdings recht eingeschränkt war. 1819 wurde die Sektion daher durch Professor Friedrich Kruse neubelebt, ihr Hauptinteresse bestand in der Sammlung und Interpretation schlesischer Altertümer. Für die ersten Jahre können aufgrund des Fehlens einschlägiger Quellen keine genaueren Aussagen über ihre Arbeit getroffen werden. 1820 veröffentlichte man eine Preisaufgabe der Sektion in den Schlesische[n] Provinzialblätter[n] und setzte ein Preisgeld von 20 Dukaten aus. Die Preisfrage lautete: „Was ist bis jetzt für die Geschichte und Geographie Schlesiens geschehen, welche Lücken sind noch auszufüllen? welche Mängel noch zu ergänzen?“ Die Sektion wünschte sich eine vollständige Bibliographie mit kritischen, wenngleich kurzen Beurteilungen der Werke.73 Der Ausschreibung blieb ein Erfolg versagt, denn bis zur Einreichungsfrist am 1. Januar 1822 war lediglich eine Einsendung eingegangen, die zudem den Erwartungen der Verantwortlichen nicht entsprach.74 Darüber hinaus trat die historische Sektion mit Aufrufen zu Subskriptionen in verschiedenen Zeitschriften in Erscheinung und unterstützte so historische und geographische Publikationsvorhaben.75 Im Jahr 1821 übernahm der Lehrer und Historiker Karl Adolf Menzel als Sekretär die Leitung der Sektion. Er berief während seiner Amtszeit durchschnittlich sieben bis acht Sektionssitzungen im Jahr ein. Die Vortragsthemen beschränkten sich nicht auf die schlesische Geschichte.76 In den Jahren 1825/26 finden sich unter den überlieferten Vortragstiteln zum Beispiel Darstellungen über den Zustand des Christentums in Indien oder über die Sagengeschichte asiatischer Völker.77 Weitere Tätigkeiten der Sek-
72 Gerber: Die schlesische Gesellschaft, 59f. 73 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Preisaufgabe der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. In: Schlesische Provinzialblätter 71 (1820) 340f. 74 Menzel, Karl Adolf: Gekrönte Preisbewertung. In: Schlesische Provinzialblätter 75 (1822) 190f. Die Schrift trug den Sinnspruch „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ und stammte von Johann George Thomas, einem Pastor aus Wünschendorf, der zuvor bereits für die Gesellschaft gewirkt hatte. 75 Aufforderung der Historisch-Geographischen Section der Patriotischen Gesellschaft in Betreff der großen Gebirgscharte des Herrn Baron von Diebitsch. In: Schlesische Provinzialblätter 71 (1820) 342; Krebs, Julius: Historische Sektion. In: Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur, Bd. 2, 85–97, hier 88. 76 Gerber: Die schlesische Gesellschaft, 63. 77 Vgl. die Nennung der Vortragstitel bei Krebs: Historische Sektion, 88f.
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tion waren zu jener Zeit die Einrichtung einer „Kommission zur Ausarbeitung eines von Professor [Friedrich Heinrich] von der Hagen angeregten schlesischen Idiotikons“ sowie die Durchführung von Ausgrabungen.78 Auf Menzel folgte 1834 der Geheime Archivrat Gustav Adolf Harald Stenzel im Amt des Sekretärs der Sektion. Er setzte sich besonders für die Stärkung der schlesischen Landesgeschichte ein, sammelte Urkunden und veröffentlichte diese. Seine zahlreichen eigenen Beiträge führten zu einer verstärkten Tätigkeit der Sektion, die sich nicht zuletzt in der höheren Anzahl der jährlichen Sitzungen zeigt. 1837 empfahl Stenzel in einer Sitzung der Gesellschaft, sich ganz auf die heimische Landesgeschichte zu beschränken. Julius Krebs deutete dies als Versuch Stenzels, eine weitere Zersplitterung der Kräfte der Sektion zu verhindern.79 Stenzel konnte seine Empfehlung zwar nicht durchsetzen. 1846 gelang es ihm jedoch, mit dem „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“ eine Institution zu begründen, die es ihm ermöglichte, sein Editionsprojekt Scriptores rerum Silesiacarum fortzuführen, das sich „auf Dauer nicht mit der auf Kostendeckung angewiesenen Schlesischen Gesellschaft durchführen“ ließ.80 Das Verhältnis der Sektion zu dem neugegründeten Verein war durch Konkurrenz, aber auch durch Verflechtung geprägt. Um nach der Gründung des Geschichtsvereins mit den historisch interessierten Gruppen in Breslau in Verbindung zu bleiben, waren die leitenden Mitglieder der historischen Sektion häufig in beiden Institutionen Mitglied. 81 Die Verkettung beider Institutionen wird auch in Bezug auf die Organisation der historischen Exkursionen deutlich. Die Leitung dieser seit 1869 stattfindenden „Wanderversammlungen“ ging zu Beginn der 1880er Jahre vom Präsidium der Gesellschaft auf den „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“ über. Ziele der Exkursionen, an denen stets Mitglieder beider Institutionen teilnahmen, waren unter anderem die Schlachtfelder von Leuthen, Liegnitz und Hohenfriedeberg sowie die Städte Brieg, Glatz, Glogau und Oppeln.82 Aufgrund seiner Verpflichtungen in dem neugegründeten Verein legte Stenzel sein Amt in der Sektion 1845 nieder. Die Bewertung des Breslauer Archivars durch Krebs fällt ambivalent aus: So habe einerseits „die Hauptlast der Geschäfte, das Zustandebringen der Vorträge und die Veröffentlichungen der Jahresberichte“ auf Stenzels Schultern gelegen, andererseits jedoch habe er möglicherweise „bei der strengen Auffassung, die er von seiner Wissenschaft hatte, manches dilettantisch veranlagte Mitglied wenig ermutigt“.83
78 Ebd., 87f. 79 Ebd., 90. 80 Gerber: Die schlesische Gesellschaft, 63f. Die ersten beiden Bände der Reihe Scriptores Rerum Silesiacarum oder Sammlung schlesischer Geschichtsschreiber wurden im Namen der Gesellschaft herausgegeben. 81 Ebd., 16. 82 Krebs: Historische Sektion, 94. 83 Ebd., 91.
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Nach Stenzels Rücktritt gingen die Beiträge der Sektion in den Jahresberichten merklich zurück.84 Doch die Anlage der Jahresberichte scheint gegen Mitte des 19. Jahrhunderts überholt gewesen zu sein, so dass das jährliche Erscheinen der schnellen Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse ohnehin nicht mehr gerecht werden konnte. Aus diesem Grund wurden 1861 die Abhandlungen der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur in zwei Abteilungen, einer naturwissenschaftlichen und einer philosophisch-historischen, ins Leben gerufen. Das Erscheinen der Schrift war naturgemäß abhängig vom vorhandenen Material. Sie sollte ein Zeugnis der wissenschaftlichen Tätigkeit der Sektionen sein, indem sie Vorträge dokumentierte, die Mitglieder gehalten hatten oder die von korrespondierenden Mitgliedern eingereicht worden waren. In der philosophisch-historischen Abteilung erschienen bis 1873/74 insgesamt 14 Hefte. Sie enthielten biographische Texte über Lessing und Opitz, ein Schatzverzeichnis der Breslauer Kirchen, Vorträge über die Regierung Friedrichs II. von Preußen und andere Beiträge. Ein Vorteil der Schriftenreihe war, dass die Hefte im Buchhandel erworben werden konnten, so dass ein breiterer Leserkreis erreicht wurde.85 Neben der Arbeit an der Vergangenheit kam der historischen Sektion, deren Vorträge auf den allgemeinen Versammlungen die meisten Zuhörer anzogen, noch eine weitere Aufgabe innerhalb der „Schlesischen Gesellschaft“ zu. 1881 nannte Göppert die jährlichen Versammlungen „das geistige Band für die durch Beruf, Beschäftigung und Ansichten so verschiedenen Mitglieder“.86 Die historische Sektion war die bedeutendste geisteswissenschaftliche Verbindung innerhalb der Gesellschaft, die von Beginn an stark von den naturwissenschaftlichen Sektionen geprägt war. Dies wird in der Rede zur Feier des hundertjährigen Bestehens des Präses Richard Förster deutlich, in der er einen Überblick über die geistes- und kulturwissenschaftlichen Sektionen gab: „Dauerhaft und reich an Früchten erwies sich nur eine, die historische Sektion.“87 Was die am 8. Dezember 1866 gegründete archäologische Sektion angeht, so zeigt sich, dass die Gesellschaft mit der Neugründung von Sektionen auf die Professionalisierung der Wissenschaften im Lauf des 19. Jahrhunderts zu reagieren wusste. Die Sektion wurde mit dem Ziel gegründet, „die gründliche und methodische Fortbildung durch Vorlage neuer Erscheinungen und eingehender Referate“ zu gewährleisten.88 Der Weggang führender Mitglieder führte jedoch zum Niedergang dieser Abteilung Ende der 1880er Jahre. Am 15. Februar 1900 legte man die archäologische mit der philologischen Sektion von 1847 zusammen, die bereits 1887 ihre Arbeit eingestellt hatte. Ihr Schwerpunkt hatte von Beginn an auf der klassischen Philologie gelegen; die Erfor84 Ebd., 93. 85 Abhandlungen der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. Philosophisch-historische Abtheilung 1 (1861) 1f. Der Standortnachweis der Reihe findet sich bei Gerber: Die schlesische Gesellschaft, 81f. 86 Kaufmann: Allgemeine Geschichte, 19. 87 Rede Richard Försters in: Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur, Bd. 1, 18. 88 Ebd., Bd. 2, 113–116.
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schung des Einflusses der Antike auf die vaterländische Kultur galt als ihre Existenzberechtigung innerhalb der Gesellschaft.89 Ihr Wirken ist jedoch weitaus geringer einzuschätzen und in Bezug auf die öffentliche Wahrnehmung nicht mit dem der historischen Sektion zu vergleichen. Der Mediziner und Botaniker Heinrich Robert Göppert,90 der von 1847 bis 1884 Präses der Gesellschaft war, unterstützte die Neugründung von Sektionen während seiner Amtszeit. Er versuchte den gemeinnützigen Charakter der Gesellschaft zu stärken, indem er 1846/47 drei Preisfragen veröffentlichte, deren Beantwortung „praktischen Nutzen“ versprach. Darüber hinaus gelang es ihm während seiner Amtszeit, weitere Tauschbeziehungen für die Sammlungen der Bibliothek einzugehen, die nach der Revision durch August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1834/35 in eine allgemeine und eine schlesische Abteilung eingeteilt worden war. Den Grundstock der Bibliothek hatte die Büchersammlung des Mathematikers Johann Ephraim Scheibel gebildet, die 1810 von der Gesellschaft erworben werden konnte. Ihr Bestand war seitdem durch Schenkungen und Schriftenaustausch kontinuierlich vergrößert worden.91 1834 erging ein Aufruf an die Mitglieder, Schriften abzugeben, „welche Männer zu Verfassern haben, deren Vaterland Schlesien von Geburt oder durch ihre Stellung“ sei. Denn in der neugegründeten schlesischen Bibliothek – die in die vier Abteilungen A. Schlesische Geschichte, B. Schlesische Biographie, C. Schlesische Poesie und D. Schlesische Naturgeschichte unterteilt war – sollte „Alles gesammelt werden [...], was nur irgend für die Kenntniß Schlesiens und seiner Bewohner“ interessant sei.92 Ein Jahr später erfolgte ein weiterer Aufruf in den Schlesische[n] Provinzialblätter[n], der die Behörden der Städte und Kreise sowie allgemein öffentliche Institutionen einschloss.93 Die Bibliothek bildete neben den Versammlungen das Zentrum des gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Lebens der Assoziation. Seit 1824 enthielten die Jahresberichte jeweils einen Bericht über die Bibliothek. Darin wurden die Neuzugänge verzeichnet, in den ersten Jahren noch mit vollständigen Titeln und der Angabe der Schenkenden. Zunächst waren die Geber vor allem Privatpersonen und lokale Institutionen. Das änderte sich jedoch während des 19. Jahrhunderts, so dass nach und nach immer häufiger staatliche und überregional agierende Einrichtungen genannt werden. Am Ende der Amtszeit Göpperts 1884 bestanden über 250 Tauschbeziehungen mit Institutionen, von denen sich je etwa hundert auf dem Gebiet des Deutschen Reiches und in anderen europäischen Staaten befanden.94 Die Zahl dieser Beziehungen konnte
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Ebd., Bd. 2, 114. Jahn, Ilse: Göppert, Heinrich Robert. In: Neue Deutsche Biographie 6 (1964) 519f. Gerber: Die schlesische Gesellschaft, 16. Nowack, Karl Gabriel: Die schlesische Bibliothek der schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur in Breslau. In: Schlesische Provinzialblätter 102 (1835) 427–433, hier 432. 93 Ebd., 433. 94 Gerber: Die schlesische Gesellschaft, 21.
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bis 1903 weiter ausgebaut werden und betrug im Jubiläumsjahr über 350.95 Aus dem Bibliotheksbericht für das Jahr 1900 geht hervor, dass die Bibliothek zahlreiche Schriften, die sie im Tausch oder als Geschenk erhalten hatte, an die Königliche und Universitätsbibliothek übergab.96 Die wechselseitige Beziehung dieser Institutionen zeigte sich bereits in den 1830er Jahren in der Übersendung sämtlicher an der Universität Breslau eingereichter Dissertationen an die Bibliothek der Gesellschaft,97 die dadurch auf den neuesten Stand der Forschung gebracht wurde und durchaus mit den Bibliotheken anderer wissenschaftlicher Einrichtungen konkurrieren konnte. Die Satzung von 1810 hatte bereits die Einrichtung eines Museums vorgesehen, das „ein allgemeines und ein Provinzialmuseum“ sein sollte.98 Dieses Projekt vermochte die Gesellschaft jedoch nicht eigenständig umzusetzen. Immerhin war Göppert Mitglied der Abordnung, die am 20. November 1866 in Berlin die Zusage König Wilhelms I. erhielt, ein schlesisches Museum einzurichten. Die Gesellschaft war anschließend an den Vorbereitungen hierfür beteiligt und überstellte ihre gesammelten Kunstwerke dem späteren Museum, das dann von den Provinzialbehörden verwaltet wurde.99 Göppert unternahm außerdem den Versuch, „durch öffentliche Vorträge breitere Kreise der Bevölkerung mit Wissenschaft bekanntzumachen“. In den Winterhalbjahren fanden von 1847 bis 1873/74 – ausgenommen die Jahre 1848/49, 1851/52 und 1870/71 – öffentliche Vortragsreihen statt.100 Dasselbe Ziel hatten die ab 1885 von Rudolf Heidenhain eingeführten Wanderversammlungen der Gesellschaft. Die an wechselnden Orten organisierten Vorträge sollten das Interesse für die Vereinigung wecken und die Beziehung zwischen den Mitgliedern der einzelnen Sektionen vertiefen.101 Das öffentliche Wirken der Vereinigung beschränkte sich jedoch nicht auf die Vorträge und Wanderversammlungen. Auch mit der Errichtung von Denkmälern im öffentlichen Raum trug die „Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur“ zur Geschichtspflege bei. 1862 konnte beispielweise aus ihren Mitteln ein Denkmal für Gotthold Ephraim Lessing in der schlesischen Hauptstadt errichtet werden. Lessing hatte in den 1760er Jahren die Stelle eines Sekretärs bei dem in Breslau lebenden preußischen General Bogislaw Friedrich von Tauentzien bekleidet.102 Bei einer systematischen Durchsicht der Jahresberichte könnten vermutlich noch mehr Tätigkeiten dieser Art ausfindig gemacht werden. Doch auch so wird deutlich, dass die einzelnen Sektionen und die Gesamtgesellschaft in vielfältiger Art und Weise zur Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien beitrugen. 195 196 197 198 199 100 101 102
Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur, Bd. 1, 21f. Jahres-Bericht der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur 78 (1900) 23. Jahres-Bericht der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur 11 (1833) 30f. Constitution 1810, 5, 12f. Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur, Bd. 1, 21. Gerber: Die schlesische Gesellschaft, 19–21. Kaufmann: Allgemeine Geschichte, 28. Jahres-Bericht der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur 40 (1862) 17.
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VIII. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Anerkennung groß war, die die „Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur“ im 19. Jahrhundert von der Öffentlichkeit, anderen wissenschaftlichen Institutionen, den städtischen Einrichtungen in Breslau und dem preußischen Staat erfuhr. Das Ansehen der Gesellschaft, das Engagement und der Einfluss führender Mitglieder, die enge Bindung an die örtliche Universität sowie nicht zuletzt die günstigen institutionellen Rahmenbedingungen im Allgemeinen, die die Anpassungsfähigkeit an wissenschaftliche und politische Veränderungen ermöglichten, trugen dazu bei, dass die interdisziplinär tätige Institution als eine Art schlesische Akademie der Wissenschaften rezipiert wurde. Von der Zeit ihrer Gründung bis zum Ersten Weltkrieg leistete die „Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur“ einen wichtigen Beitrag zur Geschichtspflege und Geschichtsforschung im Oderland.
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Der „Verein für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens“ und das Konsistorium in Breslau. Ein Beitrag zur Geschichtspflege und Erinnerungskultur der evangelischen Kirche der Provinz Schlesien Feste Institutionen für die Erforschung der Kirchengeschichte in Schlesien gab es erst relativ spät, lange nachdem der „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“ im Jahr 1846 gegründet worden war. In ihm waren evangelische Christen vertreten, die – einschließlich ihres Vorsitzenden Colmar Grünhagen (1828–1911) – den evangelischen Bereich abdeckten.1 Darum stellt sich die Frage, aus welchen Gründen es um 1880 dann doch sowohl in Preußisch- als auch in Österreichisch-Schlesien zu festen Organisationen für die kirchliche Geschichtspflege kam. Wie so oft in der Geschichtswissenschaft ging mit der Gründung der „Société de l’histoire du protestantisme français“ im Jahr 1852 durch Fernand Schickler auch im kirchlichen Bereich ein Anstoß von Frankreich aus.2 Die Pariser Gesellschaft wurde in Wien bekannt, als sie auf der Weltausstellung in der österreichischen Hauptstadt 1873 die Fortschritts-Medaille erhielt. Angesichts der Vorbereitungen für die Feier des hundertjährigen Toleranzjubiläums 1881 empfahl Gustav Trautenberger 1875, nach dem französischen Vorbild einen historischen Verein mit vergleichbarer Zielsetzung auch in Österreich zu gründen.
1 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Der Gründer und erste Vorsitzende des „Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens“, Generalsuperintendent David Erdmann, war seit 1864 – in diesem Jahr war er nach Schlesien gezogen – Mitglied des „Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens“. Er dankte Grünhagen für dessen Glückwünsche zu seinem fünfundzwanzigjährigen Ordinationsjubiläum mit dem Hinweis, dass er von dem Vorsitzenden des landesgeschichtlichen Vereins „viel gelernt und mannigfache dankenswerthe Anregung und Unterstützung“ für seine eigenen Studien zur evangelischen Kirchengeschichte Schlesiens empfangen habe. Erdmann sagte zu, dem Verein auch weiterhin mit seinen Arbeiten zu dienen. Vgl. Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Schlesisches Konsistorium, Abt. VI, Nr. 7, Schreiben vom 12. Mai 1889. 2 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Barton, Peter F.: Vom Kaisertum Österreich zur Massendemokratie der Republik Österreich. Hundert Jahre „Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich“. In: Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 96 (1980) 11–52, hier 15f.; Reingrabner, Gustav: Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich. In: Blaufuß, Dietrich/ScharfWrede, Thomas (Hg.): Territorialkirchengeschichte. Handbuch für Landeskirchen- und Diözesangeschichte. Neustadt a. d. Aisch 2005 (Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft der Archive und Bibliotheken in der Evangelischen Kirche 26), 195–204.
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1. Die „Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich“ Diesen Gedanken nahm der Wiener Professor und reformierte Oberkirchenrat Carl Alphons (Charles Alphonse) Witz-Oberlin auf und verfasste zusammen mit Trautenberger, Theodor Haase und Pfarrer Johann Wilhelm Heck am 26./27. Januar 1879 die Statuten einer „Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich“ (genehmigt am 9. August 1879), deren Ziel nach § 2 der Satzung „die Erforschung, Sammlung, Erhaltung, Veröffentlichung und Bearbeitung der auf den Protestantismus in Österreich bezüglichen Denkmale, Schriftstücke, Druck- und Bildwerke, Nachrichten u. s. w.“ war.3 Ähnlich wie Frankreich gehörte Österreichisch-Schlesien zu den europäischen Gebieten, in denen bis zum Toleranzedikt von 1781 keine offizielle Erforschung der evangelischen Gemeinden möglich war, und auch danach unterlag die wissenschaftliche Arbeit auf diesem Gebiet deutlichen Einschränkungen. Von einer Einrichtung zur Erforschung der Kirchengeschichte versprach man sich die lang ersehnte Aufklärung über eine bisher unterdrückte und nur einseitig rezipierte Geschichtsepoche. Nun wäre die österreichische Gesellschaft lediglich beiläufig zu erwähnen, hätte nicht der Teschener Reichstagsabgeordnete und Superintendent Dr. Theodor Haase (1834–1909) von Anfang an der Führung dieser Vereinigung angehört.4 Von 1879 bis 1890 war Haase, der als Vizepräsident in den Jahren 1880 bis 1909 zum engsten Vorstand zählte, auch einer der Herausgeber des von der Gesellschaft verantworteten und bis heute existierenden Jahrbuch[s] der Gesellschaft des Protestantismus in Österreich.5 Er war nicht der einzige Schlesier, denn auch der Direktor des evangelischen Gymnasiums in Teschen, Gottlieb Biermann (1828–1901),6 der 1873 ein Gymnasium in Prag übernahm, gehörte von 1879 bis 1881 dem Vorstand an. Naturgemäß stellten in dieser 3 Die Satzung ist abgedruckt bei Barton: Kaisertum, 16–19. 4 Zu den Vorstandsmitgliedern der Gesellschaft vgl. Schwarz, Karl: 125 Jahre „Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich“ im Spiegel ihres Vorstands (1879–2004). In: Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 120 (2004) 33–46. Zu Haase vgl. Zimmermann, Harald: Theodor Haase. In: Neue Deutsche Biographie 7 (1966) 382; Schwarz, Karl: Haase, Theodor. In: Religion in Geschichte und Gegenwart 3 (42000) 1360; Patzelt, Herbert: Geschichte der evangelischen Kirche in Österreichisch-Schlesien. Dülmen 1989 (Schriften der Stiftung Haus Oberschlesien 5), 183–200. Neben seiner politischen Wirksamkeit war seine Gründung mehrerer diakonischer Einrichtungen von Bedeutung – zu nennen ist hier besonders das Krankenhaus in Teschen. Zu dem freundschaftlichen Verhältnis von Haase zu Franz Michejda vgl. Wagner, Oskar: Mutterkirche vieler Länder. Geschichte der evangelischen Kirche im Herzogtum Teschen 1545–1918/20. Wien/Köln/Graz 1978 (Studien und Texte zur Kirchengeschichte und Geschichte 1/4/1–2), 349–356. 5 Band 1, erschienen 1880 in Wien, wurde von Karl Ritter von Otto, Theodor Haase, Carl Alphons Witz-Oberlin und Gustav Trautenberger herausgegeben. 6 Heiduk, Franz: Oberschlesisches Literatur-Lexikon, Bd. 1. Berlin 1990, 33. Er wurde vor allem durch seine historischen Arbeiten zur Region bekannt. Vgl. Biermann, Gottlieb: Geschichte des Herzogthums Teschen. Teschen 1863; ders.: Geschichte der Herzogthümer Troppau und Jägerndorf. Teschen 1874.
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ganz Österreich repräsentierenden Gesellschaft die Schlesier nur einen kleinen Anteil, befanden sich doch in Wien der Sitz der Kirchenleitung sowie vor allem die seit 1850 als Evangelisch-Theologische Fakultät an der Universität gegründete, aber noch immer nicht als Teil der Hochschule anerkannte Ausbildungsstätte für den evangelischen Nachwuchs. Es war darum selbstverständlich, dass der an dieser Fakultät jeweils tätige Kirchenhistoriker eine führende Rolle in der neu gegründeten historischen Gesellschaft innehatte. So gehörten drei der ersten Präsidenten der Gesellschaft zur Theologischen Fakultät: Johann Karl Theodor von Otto (1816–1897), Präsident von 1880 bis 1889, Georg Loesche (1855–1932), Präsident von 1921 bis 1929, sowie Karl Völker (1886– 1937), Präsident von 1929 bis 1937. Zweiter Präsident war der genannte Oberkirchenrat und Anreger der Gesellschaft, Witz-Oberlin; er amtierte von 1889 bis 1918. Zu den ersten Mitgliedern der Gesellschaft zählten neben 109 Vertretern aus Wien 28 Mährer, 24 Böhmen und an vierter Stelle 17 Schlesier. Erst dann folgten Oberösterreich mit 14, die Steiermark mit zwölf und Kärnten mit nur vier Mitgliedern.7 Ungünstiger sieht diese Statistik freilich im Blick auf die Beiträge der ersten vier Jahrgänge aus, da sich hier nur vier mit Schlesien befassten, während 24 Beiträge allein Mähren behandelten. Die Gesellschaft sollte zwar gezielt der Erforschung evangelischer Kirchengeschichte dienen, die bisher angesichts der politischen Verhältnisse in der Habsburgermonarchie vernachlässigt worden war, sie stand aber auch katholischen Forschern offen, wie die Mitgliedschaft der Historiker Johann Loserth und Karl Amon zeigt. Es ist hier nicht der Ort, die Leistung der Gesellschaft genauer zu würdigen. Es kann jedoch kein Zweifel daran sein, dass sie die wissenschaftliche Erforschung des österreichischen Protestantismus erst eigentlich in Gang setzte und mit dem regelmäßigen Erscheinen des Jahrbuchs – freilich mit Lücken in den schweren Jahren nach den beiden Weltkriegen – das wichtigste Organ des österreichischen Protestantismus ins Leben rief. Der Teschener Protestantismus war für die Gründungsphase der Gesellschaft von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Diese Aktivität in Österreich hatte eine Vorbildwirkung auf andere Geschichtsvereine und Publikationsreihen. Die Tätigkeit in Wien gab dem evangelischen Pfarrer Josef Dobiáš den Anstoß für dessen Zeitschrift Časopis historický se zvláštním zřetelem k duchovnímu vývoji našeho lidu (Historische Zeitschrift unter besonderer Berücksichtigung der geistlichen Entwicklung unseres Volkes). Der Gründer der „Gesellschaft für sächsische Kirchengeschichte“, Johann Scheuffler, bezog sich in seinem Aufruf vom Jahr 1880 ausdrücklich auf das österreichische Vorbild.8 Da liegt es nahe zu vermuten, dass auch für die Gründung einer kirchengeschichtlichen Vereinigung im preußischen Schlesien das österreichische Vorbild nicht unbeachtet blieb, auch wenn sich dies in den Quellen bisher nicht nachweisen lässt.
7 Barton: Kaisertum, 26. 8 So Helmar Junghans in seinem Schreiben vom 14. April 1980 an die Gesellschaft in Wien mit Hinweis auf den Aufruf von Scheuffler vom April 1880. Abgedruckt ebd., 300.
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2. Der „Verein für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens“ Die Gründe für die Entstehung des „Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens“ unterscheiden sich stark von der Situation in Österreichisch-Schlesien. In Preußen war die evangelische Kirche seit Friedrich II. anerkannt und hatte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer einheitlichen, flächendeckenden Provinzialkirche entwickeln können. Mit der 1811 in Breslau gegründeten Theologischen Fakultät besaß sie ihre eigene Ausbildungsstätte und einen leistungsfähigen, wissenschaftlich tätigen Lehrkörper. „Um der Wissenschaft willen war es tatsächlich nicht notwendig, in Schlesien einen Kirchengeschichtsverein zu gründen, aber um der Kirche willen“,9 so hat Christian-Erdmann Schott prägnant formuliert. Mit dem Erstarken des kirchlichen Selbstbewusstseins und der Ausbildung kirchlicher Organe und Einrichtungen wurde es zu einem dringenden Bedürfnis der historisch Interessierten, den Gemeinden die schlesische Kirchengeschichte bekannt zu machen. Diese mehr praktische, auf die Gemeinde bezogene Arbeit kommt in § 1 der Satzung deutlich zum Ausdruck: „Die Kenntnis der Geschichte unserer Provinzialkirche und das Interesse für dieselbe durch Versammlungen, Vorträge, Aufsätze, Herausgabe von Urkunden, Anlegen einer Sammlung seltener einschlägiger Bücher und Manuskripte usw. zu fördern.“10 Die Gemeinden sollten die Kirchengeschichte zur Kenntnis nehmen, um mündiger zu werden und ihre Identität bewusster zu erkennen. Dieser praktische Akzent kam auch in dem alles andere als ambitiösen Titel der vom Verein herausgegebenen Zeitschrift zum Ausdruck: Correspondenzblatt für die Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens. Anreger zur Gründung des Vereins war der Privatdozent und Pfarrer Gustav Koffmane (1852–1915),11 ein Schüler von Professor David Erdmann (1821–1905), der im Sommer 1881 an der Universität über Kirchengeschichte las und den Mangel an intensiverer Forschung zur schlesischen Kirchengeschichte beklagte (Abb. 1). Dieser für die weitere Geschichte des Vereins wichtige Mitarbeiter hatte trotz seines jugendlichen Alters von 29 Jahren bereits mehrere ansehnliche Publikationen vorgelegt.12 Am 30. Okto-
19 Schott, Christian-Erdmann: Verein für Schlesische Kirchengeschichte. In: Blaufuss/ScharfWrede (Hg.): Territorialkirchengeschichte, 145–156, hier 145. 10 Die Satzung ist abgedruckt in: Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens 1 (1882) 3. 11 Neß, Dietmar: Schlesisches Pfarrerbuch, Bd. 1–8. Leipzig 2014–2016, hier Bd. 7, 305. 12 Über Gustav Koffmane informiert die Personalakte des Breslauer Konsistoriums (Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Schlesisches Konsistorium, Abt. V, Nr. 1862). Er wurde am 22. Juli 1852 in Bernstadt als Sohn eines Bauern geboren, machte am 5. April 1873 das Abitur am Gymnasium in Oels und studierte von 1873 bis 1876 Theologie an der Universität Breslau. Unter seinen Lehrern hebt er besonders den Kirchenhistoriker Professor Hermann Reuter hervor: „E disciplinis theologicis adamavi praecipue historicam Reutero egregio duce.“ Nach einem Aufenthalt als Hauslehrer bei Graf Stosch kehrte Koffmane an die Universität zurück und schrieb eine Arbeit über die Geschichte des Kirchenlateins (Bd. 1–2. Breslau 1879–1891). Mit seiner Li-
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Abb. 1: Generalsuperintendent Dr. David Erdmann (1821–1905). Bildnachweis: [Eberlein, Lienhard]: Aus einem reichen Leben. Blätter der Erinnerung an Dr. D. David Erdmann Generalsuperintendent von Schlesien. Berlin 1907.
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ber 1882 legte Koffmane das Examen pro ministerio ab13 und erlangte damit die Anstellungsfähigkeit in der evangelischen Kirche des Oderlandes, und es ist gut vorstellbar, dass er mit Hilfe eines entsprechenden Vereins die Basis für eine weitere kirchengeschichtliche Betätigung innerhalb seiner pfarramtlichen Tätigkeit legen wollte. Gerhard Eberlein (1853–1923) beschreibt die Situation so: „Nach Anders und neben Schimmelpfennig ist es voran der damalige Breslauer Privatdozent, jetzige Superintendent D. Koffmane in Koischwitz, gewesen, der die Arbeit im Ganzen übersehen lehrte und im Einzelnen auf solider Grundlage zu treiben begann. Wie er zuerst im Sommersemester 1881 über ‚Kirchengeschichte Schlesiens seit der Reformation‘ las, so hat auch er eben damals den Gedanken einer Vereinsgründung zuerst ventiliert und eine Vorbesprechung darüber am 20. Juni 1881 veranlaßt.“14 Nach dieser Besprechung lud Generalsuperintendent Erdmann offiziell zur Gründungsversammlung am 28. Februar
centiatenarbeit widmete er sich einem philosophischen Thema (De Mario Victorino philosopho christiano); den Grad eines Licentiaten erhielt er am 7. Januar 1880. Im selben Jahr gab er seine Schrift Die religiösen Bewegungen in der evangelischen Kirche Schlesiens während des 17. Jahrhunderts (Breslau 1880) heraus; ein Jahr später wurde er als Privatdozent zugelassen. Koffmane arbeitete ferner über die frühchristliche Kirche und veröffentlichte 1881 zwölf Thesen über Die Gnosis nach ihrer Tendenz und Organisation. Als er sich 1882 um die Zulassung zum Pfarramt bewarb, beschäftigte er sich, wie sein Lebenslauf besagt, mit den ethischen Begriffen der Kirche des zweiten Jahrhunderts. 13 Angesichts seiner zahlreichen Arbeiten erließ man Koffmane eine schriftliche Arbeit und hielt lediglich ein Kolloquium in den Hauptfächern der Theologie ab. 1885 ernannte man ihn zum Pastor in Kunitz, 1902 wurde er Superintendent in Koischwitz. Vgl. Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Schlesisches Konsistorium, Abt. V, Nr. 1862. 14 Eberlein, Gerhard: Nekrolog zu David Erdmann. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 40 (1906) 338–341, hier 340. Zu Eduard Anders vgl. Anm. 17. Adolf Schimmelpfennig (1815–1887) war seit 1843 Pfarrer in Arnsdorf, Kreis Strehlen, und wurde nach seinem Ruhestand 1879 Bibliothekar der „Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Kultur“. Er gab unter anderem das Werk Schweidnitzer Chronisten des XVI. Jahrhunderts (Breslau 1878) mit heraus. Vgl. Neß: Schlesisches Pfarrerbuch, Bd. 4, 89.
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1882 ein.15 Hier wurden als Vorstand gewählt: Generalsuperintendent David Erdmann (1821–1905)16 als Vorsitzender, Superintendent Eduard Anders17 als stellvertretender Vorsitzender, Lic. theol. Gustav Koffmane als Sekretär,18 Pastor Otto Anders19 aus Gersdorf als stellvertretender Sekretär und Pastor Friedrich Schubart20 in Breslau als Schatzmeister. Der „Schlesische Kirchengeschichtsverein“ war unter den preußischen Provinzen der älteste historische Verein. Weitere gründeten sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Meist ging die Anregung zu einem solchen Verein von der Pfarrerschaft aus und wurde auf den Synoden diskutiert, so in den beiden Westprovinzen Rheinland und Westfalen, aber auch in der Kirchenprovinz Sachsen.21 Es ist bezeichnend, dass die Vereine im Osten, zum Beispiel in Brandenburg und in Schlesien, es vorzogen, dass der Vorsitzende eine leitende Funktion in der Landeskirche innehatte, in der Regel also Generalsuperintendent war. Beides lässt sich im Oderland beobachten. Die Anregung zur Gründung ging von einem wissenschaftlichen Mitarbeiter der Theologischen Fakultät aus, erster Vorsitzender des Vereins aber wurde Generalsuperintendent Erdmann, der an der Universität Breslau Neues Testament und Kirchengeschichte lehrte. Ihm folgte im Jahr 1900 der Kirchenhistoriker der Theologischen Fakultät, Franklin Arnold (1853–1927),22 diesem wiederum von 1927 bis 1944 Generalsuperintendent Martin Schian (1869–1944).23 Die Wahl eines Generalsuperintendenten hatte neben der damit gegebenen Anerkennung der offiziellen Kirche einen weiteren Grund. Man erhoffte sich 15 Eberlein, Helmut: Aus 50 Jahren Vereinsgeschichte. In: Registerband. Heft 1 und 2. Liegnitz 1932 (Beiheft zum Jahrbuch des Vereins für Schlesische Kirchengeschichte 23), 242–266, hier 244. 16 Bautz, Friedrich Wilhelm: Erdmann, David. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 1 (21990) Sp. 1534; [Eberlein, Lienhard]: Aus einem reichen Leben. Blätter der Erinnerung an Dr. D. David Erdmann Generalsuperintendent von Schlesien. Berlin 1907; Schian, Martin: Erdmann, David. In: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche 23 (31913) 428–430. 17 ����������������������������������������������������������������������������������������� Eduard Anders (1809–1891) wurde 1836 Pfarrer in Glogau. Seit 1851 war er dort Superintendent, 1859 wurde er Pastor in Rosenhain und Superintendent des Kirchenkreises Ohlau. Vgl. Neß: Schlesisches Pfarrerbuch, Bd. 3, 417. 18 Koffmane fungierte von 1882 bis 1899 als Schriftführer und von 1889 bis zu seinem Tod 1915 als stellvertretender Vorsitzender. Vgl. Eberlein: Aus 50 Jahren Vereinsgeschichte, 265. 19 ���������������������������������������������������������������������������������������� Otto Anders (1841–1885) war ein Sohn von Eduard Anders. Er war zunächst Pastor in Schurgast bei Oppeln, dann bis zu seinem frühen Tod Pastor in Gersdorf in der Oberlausitz. 20 Friedrich Schubart (1837–1908) arbeitete 1881 bei der Breslauer Stadtmission. Er wurde 1892 Konsistorialrat in Breslau. 1894 bis 1905 war er Pastor und Superintendent in Trebnitz. Vgl. Neß: Schlesisches Pfarrerbuch, Bd. 4, 315. 21 Zu einem solchen Vergleich der Genese der kirchengeschichtlichen Vereine vgl. Blaufuss/ScharfWrede (Hg.): Territorialkirchengeschichte. 22 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Einen Nachruf – der auch eine Bibliographie seiner Silesiaca enthält – verfasste Steinbeck, Johannes: Ansprache am Sarge des am 23. April 1927 verstorbenen Geheimrats Professor D. Dr. Arnold. In: Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens 19 (1927) 2–8. 23 Eine Bibliographie seiner Schriften bietet Reinhardt, Werner: Martin Schians Schrifttum (1895– 1938). In: Jahrbuch des Vereins für Schlesische Kirchengeschichte 29 (1939) 3–10.
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so eine größere Akzeptanz unter der Pfarrerschaft der Landeskirche. Eine solche Wahl hatte insofern aber auch einen großen Nachteil, da sich der Generalsuperintendent angesichts der Vielzahl seiner Geschäfte kaum um den Verein kümmern konnte. Auch das lässt sich am schlesischen Beispiel exemplifizieren: Die ersten drei Jahrestagungen kamen regulär von 1883 bis 1885 zustande, danach nur noch unregelmäßig: die vierte 1888, die fünfte 1892. Das Organ des Vereins, das Correspondenzblatt für die Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens, erschien ebenfalls sehr lückenhaft: 1882, 1883, 1887, 1893. Das im vierten Band abgedruckte Mitgliederverzeichnis24 weist nach einem ersten Aufblühen nur noch siebzig Mitglieder aus, von denen bis auf neun alle Geistliche der schlesischen Kirche waren. Zu diesen neun Mitgliedern gehörten das Konsistorium und das Sedlnitzer Konvikt, der Breslauer Professor für Kirchengeschichte Karl Müller sowie Professor Eduard Bratke aus Bonn, ein Oberkonsistorialrat und zwei auswärtige Theologen aus Berlin, ferner ein Superintendent aus Marienwerder und Freiherr von Zedlitz-Neukirch. Der Verein war im Grunde ein innerkirchlicher Verein, der sich um ein stärkeres historisches Interesse unter den Geistlichen bemühte. Nach dem schleppenden Beginn kam es mit dem Eintritt von Pastor Gerhard Eberlein (1853–1923)25 um 1892 zu einem allmählichen Wandel. Die von Eberlein an den Kassierer Pastor Paul Stockmann26 gerichtete Beschwerde war unüberhörbar: „Daß sich aber bei dieser Art der Geschäftsführung alle Lust verliert, ist ja kein Wunder; wer wird denn bei solchem Verein, der nichts bietet und leistet, Mitgliedsbeitrag bezahlen? [...] Werden wir auf die Dauer lahmgelegt, so trete ich aus: man muß sich ja vor den Leuten schämen.“27 In seinem Schriftwechsel mit dem Generalsuperintendenten28 erlebt man Eberlein als dynamischen, energiegeladenen jungen Pfarrer, der es wagte, eigene Editionspläne, die sich mit denen des anerkannten Archivars und Historikers Colmar Grün24 Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens 4/1 (1893) 190f. 25 Gerhard Eberlein, Sohn des Konrektors Ernst Friedrich Wilhelm Eberlein, wurde am 16. Januar 1858 in Freiburg bei Schweidnitz geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Schweidnitz mit Abitur 1876 studierte er in Breslau Theologie und bestand am 29. März 1881 das Erste Theologische Examen, am 21. September 1882 das Zweite Examen mit dem Beschluss seiner Wählbarkeit. Er war bis 30. April 1884 Pfarrer in Rynbik O.S., dann bis 1897 in Royn, Kreis Liegnitz, bis 1906 in Groß Strehlitz und danach Superintendent bis zu seinem Tod 1923 in Strehlen. Vgl. Neß: Schlesisches Pfarrerbuch, Bd. 4, 159. Eberlein begründete den „Schlesischen Pfarrerverein“ mit und war jahrelang dessen Vorsitzender. Er war Präses der Schlesischen Provinzialsynode und hat die allgemeine schlesische Predigerkonferenz eingerichtet. Vgl. seine Personalakte im Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Schlesisches Konsistorium, Abt. V, Nr. 1040; Eberlein, Paul Gerhard: Ein Führer der schlesischen Pfarrerschaft, D. G. Eberlein zum 100. Geburtstag. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 37 (1958) 12–23. 26 Paul Stockmann (1858–1924) war von 1884 bis 1909 Pfarrer in Kauffung. Vgl. Neß: Schlesisches Pfarrerbuch, Bd. 6, 63. 27 Abgedruckt bei Eberlein: Aus 50 Jahren Vereinsgeschichte, 249. 28 Davon zeugen die im Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Schlesisches Konsistorium, Nr. 215, aufbewahrten Briefe Eberleins aus den Jahren 1898 bis 1900.
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hagen kreuzten, vorzulegen (Anlage 1). Doch dann siegten die Vernunft und die Besonnenheit des Generalsuperintendenten. So gab Eberlein seinen eigenen Editionsplan eines Kirchenbuchverzeichnisses zugunsten des „Vereins für schlesische Geschichte“ auf. Erarbeitet wurde ein Verzeichnis der evangelischen und katholischen Kirchenbücher einschließlich der in den Amtsgerichten liegenden Dubletten, das vom „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“ herausgegeben wurde.29 Eberlein konnte damals einen Fragebogen entwickeln, der vom Konsistorium versandt wurde und zu den älteren Urkunden, Chroniken und Kirchenbüchern Informationen erbat;30 er legte damit die Grundlage für weitere Forschungen. Abb. 2: Gerhard Eberlein (1853–1923). Der Briefwechsel ist auch insofern inBildnachweis: Privatbesitz. teressant, als er durchaus kritische Töne gegenüber dem „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“ anschlägt: „Dr. Grünhagen ist die Existenz unsers Vereins von Anfang an nicht sehr erfreulich gewesen, zumal wir uns nun langlebiger erweisen, als er vielleicht gedacht hat.“31 Und vier Jahre vorher lesen wir bei Gerhard Eberlein: „Geheimrat Grünhagen ist nicht sehr erbaut über unsere Absicht [der Herausgabe von Regesten zur Kirchengeschichte, d. Verf.]; er nimmt mich jedesmal deswegen vor, sobald er meiner habhaft werden kann. Er scheint zu denken, daß wir nichts leisten können. Umso mehr müssen wir ihm das Gegenteil ad oculos demonstrieren.“32 Helmut Eberlein sprach im Rückblick von einer „kleinen Konkurrenzstimmung des großen Vereins“.33 29 Jungnitz, Josef/Eberlein, Gerhard (Bearb.): Die Kirchenbücher Schlesiens beider Konfessionen. Breslau 1902, 79. Eine bedeutend erweiterte Neuauflage dieses Verzeichnisses erschien 1938 unter dem Titel: Randt, Erich/Swientek, Horst-Oskar (Hg.): Die älteren Personenstandsregister Schlesiens. Görlitz 1938. 30 Das Evangelische Kirchenblatt für Schlesien berichtete über die Jahresversammlung von 1899: Danach habe Erdmann hervorgehoben, „welches Gewicht auch das schlesische Konsistorium auf Förderung der Bestrebungen des Vereins lege. Die Enquête betreffend kirchliche Statistik der in den Pfarrarchiven vorhandenen Urkunden, Chroniken, Kirchenbücher etc., welche das Konsistorium auf Anregung des Vereins veranstaltet hat, wird die Zwecke des Vereins lebhaft zu fördern geeignet sein.“ Evangelisches Kirchenblatt für Schlesien 2 (1899) 213. 31 Brief Gerhard Eberleins an David Erdmann, 17. Juli 1898. Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Schlesisches Konsistorium, Abt. VI, Nr. 215. 32 Brief Gerhard Eberleins an Paul Stockmann, 19. Juni 1894. Zit. nach Eberlein: Aus 50 Jahren Vereinsgeschichte, 250. 33 Ebd.
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Freilich konnte Gerhard Eberlein (Abb. 2) nur wenige Jahre später schreiben, dass mit der Gründung des „Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens“ im Jahr 1882 „nicht etwa eine Konkurrenz“ beabsichtigt gewesen sei. Gerade Generalsuperintendent Erdmann habe 1896 beim fünfzigjährigen Jubiläum des „Geschichtsvereins für Schlesien“ (Abb. 3) diesen „als das stete Vorbild und den bereiten Helfer gefeiert, [...] von dessen Früchten ein großer Teil der Kirchengeschichte Schlesiens zugute gekommen sei“. 34 Wenn man allein die Mitgliederstärke beider Vereine vergleicht, so war in der Tat der evangelische Verein keine Konkurrenz. Helmut Eberlein beteuerte darum 1927, man erkenne den Geschichtsverein „ohne Zögern und gern“ als den „leistungsfähigeren großen Bruder an“ und habe nur den Wunsch, „in gegenseitiger Ergänzung und Befruchtung gemeinsam an der wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte und Kirchengeschichte unserer Heimat zu arbeiten“. 35 Eine Kritik am „Verein für Geschichte Schlesiens“ etwa aus konfessionellen Gründen lässt sich in den Quellen nicht nachweisen. Allerdings gehörten in dieser ersten Phase auch keine katholischen Mitglieder dem Verein an. Was Gerhard Eberlein nur schwer verwinden konnte, war der Mangel an Beteiligung der Pfarrerschaft – mit derjenigen der Laien rechnete er wohl schon gar nicht mehr. Es ist seinem Einfluss als Vorsitzender des Pfarrervereins und Präses der schlesischen Provinzialsynode zu danken, dass die Mitgliederzahl im „Verein für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens“ langsam anstieg und unter der Pfarrerschaft eine gewisse Anerkennung fand, so dass zu den jährlichen Generalversammlungen jeweils bis zu hundert Personen erschienen. Eine Institution ist eben nur so gut, wie die in ihr Tätigen Zeit und Energie für deren Ziele aufwenden. Eberlein schaffte es, dass unter seiner Herausgeberschaft nach 1893 das Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens fortan bis 1920 jährlich erschien. Damit stieg auch die Mitgliederzahl des Vereins an, 1899 waren es 120,36 1904 bereits 175 Abonnenten.
3. Die wissenschaftliche Arbeit des Vereins Auch wenn Gustav Koffmane und Gerhard Eberlein keine studierten Historiker waren, sondern in erster Linie leitende Theologen der schlesischen Kirche, so hatten sie doch durchaus den Ehrgeiz, wissenschaftliche Forschung zu treiben und durch deren Ergebnisse das Wissen um die Vergangenheit aufzuhellen. Dies wird besonders deutlich in dem Willen sichtbar, Quellen zu edieren, die in der von Eberlein begründeten Reihe Urkundensammlung zur Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens erschienen.37 34 Eberlein, G.: Nekrolog, 340. 35 Eberlein, H.: Aus 50 Jahren Vereinsgeschichte, 250. 36 „Es ist höchst betrübend, daß der Verein noch immer nur 120 Mitglieder zählt.“ Evangelisches Kirchenblatt für Schlesien 2 (1899) 246. 37 In der Schriftenreihe erschienen folgende Werke: Eberlein, Gerhard: Die Generalkirchenvisitationen im Fürstentum Wohlau 1656 und 1657. Protokolle und Beilagen. Liegnitz 1905; ders.: Die
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Abb. 3: Festprogramm zum fünfzigjährigen Jubiläum des „Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens“ 1896. Bildnachweis: Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Schlesisches Konsistorium, Abt. VI, Nr. 215.
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David Erdmann konnte für seine Forschungen zu Markgraf Georg von BrandenburgAnsbach Bestände im Münchener Staatsarchiv auswerten; Colmar Grünhagen dankte er für die Vermittlung und Einführung zu den Quellen im Staatsarchiv Breslau.38 Das Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens enthielt neben wissenschaftlichen Forschungsbeiträgen auch Forschungshilfen, bibliothekarische Hinweise und Besprechungen der neuesten Fachliteratur zu einer intensiveren Beschäftigung mit Kirchengeschichte. So setzte die erste Nummer ein mit einem „Wegweiser durch die Quellen der evangelischen Kirchengeschichte Schlesiens“ (Seite 4 bis 9), einer Art kommentierter Bibliographie als Buchbericht; ihr folgte noch in diesem ersten Band eine „Bibliographie der Reformation in Schlesien“ (Seite 42 bis 46), grundlegend für Interessierte, aber als Lektüre für ein breiteres Publikum etwas spröde. Zu den ersten Projekten gehörte eine wohl als Buch geplante Sammlung von Regesten zur Reformationsgeschichte des Oderlandes. Koffmane beklagte sich 1893: „Wohl in keine Provinzialgeschichtsschreibung haben sich soviel historische Irrtümer eingeschlichen wie in die schlesische.“ Und er fuhr fort: „Da sollen die Regesten zur schlesischen Reformationsgeschichte das in Archivfascikeln und zahlreichen Druckwerken verstreute urkundliche Material sammeln.“39 Er bat die Pfarrer um Mitarbeit und leitete sie an, wie diese Regesten anzufertigen seien. Dem gleichen Ziel diente der Aufbau einer guten Bibliothek des Vereins, über deren Anwachsen laufend berichtet wurde. Über die wissenschaftlichen Arbeiten der einzelnen Mitarbeiter können hier nur wenige Stichworte gegeben werden. Der Vorsitzende, Erdmann, hatte sich bereits vor seiner Tätigkeit in Breslau mit Kirchengeschichte beschäftigt.40 Zum Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens trug er vier Aufsätze in den ersten drei Nummern bei, vor allem einen in Fortsetzung erschienenen Aufsatz zu Markgraf Georg von Brandenburg-Ansbach und dessen Verdiensten um die Reformation in Oberschlesien.41 1883, zum Lutherjahr, gab er in Breslau die Schrift Luther und
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Generalkirchenvisitationen im Fürstentum Liegnitz von 1654 und 1655. Protokolle und Beilagen. Liegnitz 1917. Als zweites Beiheft zum Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens erschien ferner die Edition von Konrad, Paul: Das Ordinationsalbum des Breslauer Stadtkonsistoriums. Liegnitz 1913. Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Schlesisches Konsistorium, Abt. VI, Nr. 9, Akte „Archivangelegenheiten“. Die Akte enthält den Briefwechsel der Jahre 1883 bis 1887 mit dem Staatsarchiv Breslau. Koffmane, Gustav: Bemerkungen über die Regesten zur schlesischen Reformationsgeschichte. In: Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens 4 (1893) 57–60, hier 57. Erdmann, David: De notionibus ethicis gnosticorum. Berlin 1847 [Dissertation]; ders.: Lieben und Leiden der ersten Christen. Berlin 1854; ders.: Die Reformation und ihre Märtyrer in Italien. Berlin 1855; ders.: Winfried oder Bonifacius, der Apostel der Deutschen. Berlin 1855. Ders.: Markgraf Georg von Brandenburg und seine Verdienste um die Reformation in Oberschlesien. In: Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens 1 (1882) 49–63; 2 (1883) 19–33, 81–97; 3 (1887) 3–16.
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die Hohenzollern heraus. Dass er danach nicht mehr zu weiteren Aufsätzen kam, lag nicht nur an seinen vielfältigen Amtspflichten, sondern wohl auch an der Tatsache, dass im Jahr des Lutherjubiläums 1883 in Magdeburg ein „Verein für Reformationsgeschichte“ gegründet wurde. Der Verein, zunächst ein konfessioneller Lese- und Bildungsverein, der durch seine Schriftenreihe Arbeiten zur Reformationsgeschichte förderte, bemühte sich stark um eine Mitarbeit Erdmanns im Vorstand, wie die Korrespondenz im Konsistorium von Breslau ausweist.42 In der Schriftenreihe dieses Vereins gab Erdmann 1887 als Band 19 die Schrift Luther und seine Beziehungen zu Schlesien, insbesondere zu Breslau heraus. Forschungen zur Reformationsgeschichte, zu Luther und anderen bedeutenden Reformatoren hatten im 19. Jahrhundert einen ungleich höheren Stellenwert als regionalgeschichtliche Studien. Erdmann ließ in seinem Werk gleichwohl erkennen, wie er beides miteinander zu verbinden suchte. Auch arbeitete er mit verschiedenen Personalartikeln an Johann Jakob Herzogs Real-Enzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche43 und dem Reihenwerk Allgemeine Deutsche Biographie44 mit. Die Beiträge belegen, dass Erdmann keineswegs nur einseitig Reformationsgeschichte betrieb. Koffmane trug zu den ersten sechs Bänden des Correspondenzblatt[s] des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens 16 Artikel bei, darunter einen Aufsatz über die Wiedertäufer in Schlesien.45 Dann aber wurde er durch die Mitarbeit an der Weimarer Lutherausgabe und allgemein an der Lutherforschung neben seinem Amt als Superintendent derart gefordert, dass er für schlesische Kirchengeschichte keine Zeit mehr fand. Gerhard Eberlein lieferte bis zu seinem Tod 1923 insgesamt 46 Aufsätze und Mitteilungen – er prägte damit das Correspondenzblatt mehr als jeder andere. Einer seiner heute gern zitierten Aufsätze über die Kirchenordnungen in Schlesien wurde allerdings nicht hier, sondern 1898 in der Festschrift für Colmar Grünhagen zu dessen 70. Geburtstag abgedruckt.46 Durch sein starkes kirchenpolitisches Engagement im Pfarrerverein und
42 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Schlesisches Konsistorium, Abt. VI, Nr. 216. 43 Die Artikel: Albrecht von Preußen (Bd. 1, 310–323), Johannes Brießmann (Bd. 3, 298–405), Wilhelm Heinrich Erbkam (Bd. 5, 448–450), Georg von Brandenburg-Ansbach (Bd. 6, 533– 538), Georg von Polentz (Bd. 6, 541–543), Synode von Petrikau 1551 und 1562 (Bd. 15, 184– 186), Johannes Poliander (Gramann/Graumann) (Bd. 15, 525–528), Franz Volkmar Reinhard (Bd. 16, 560–563), Karl Heinrich Sack (Bd. 17, 323–327), Die evangelischen Salzburger (Bd. 17, 408–415), Ernst Wilhelm Christian Sartorius (Bd. 17, 488–491), Graf Leopold v. Sedlnitzki (Bd. 18, 120–123). 44 Zum Beispiel die Artikel: Schwenckfeld, Caspar von (Bd. 33, 403–412), Suevus (Schwabe), Siegmund (Bd. 37, 129–135), Scheibel, Johann Gottfried (Bd. 30, 693–699). 45 ������������������������������������������������������������������������������������������� Koffmane, Gustav: Die Wiedertäufer in Schlesien. In: Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens 3 (1887) 37–55. Wegen dieses Aufsatzes erhielt Koffmane einen Personalartikel in Hege, Christian/Neff, Christian (Hg.): Mennonitisches Lexikon, Bd. 2. Frankfurt a. M. 1937, 517f. 46 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Eberlein, Gerhard: Die evangelischen Kirchenordnungen Schlesiens im 16. Jahrhundert. In: Silesiaca. Festschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens zum 70. Geburtstage seines Präses Colmar Grünhagen. Breslau 1898, 214–234.
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in der schlesischen Provinzialsynode fand freilich auch Eberlein später nicht mehr die Zeit zu größeren Publikationen; den Plan, eine lesbare schlesische Kirchengeschichte zu schreiben, konnte er nicht mehr ausführen. Im Correspondenzblatt veröffentlichte ferner der Breslauer Kirchenhistoriker Professor Franklin Arnold (1853–1927) neun Aufsätze, meist Vorträge, die er bei verschiedenen Jahresversammlungen gehalten hatte. Wertvolle Beiträge aus den Quellen lieferten aber auch Georg Hoffmann (1860–1930), Paul Konrad (1860–1924), Julius Rademacher (1857–1937), Friedrich Schwencker (1869– 1944), Theodor Wotschke (1871–1939), Alfred Zobel (1865–1943) und andere.
4. Die praktisch-theologische Breitenarbeit des Vereins und seine finanzielle Basis Es war eine sinnvolle Terminplanung von Gerhard Eberlein, dass er die jährlichen Generalversammlungen des Vereins nicht wie anfangs zu wechselnden Terminen im Jahr ansetzte, sondern sie seit 1894 mit der Festwoche in Breslau Anfang Oktober verband, zu der sich die Mitglieder zahlreicher anderer Vereine – der „Allgemeinen schlesischen Predigerkonferenz“, des „Gustav-Adolf-Vereins“, des „Schlesischen Pfarrervereins“ oder der diakonischen und der Missionsvereine – trafen. In dieser Woche nahmen sich auch die geistlichen Konsistorialräte und ihr Generalsuperintendent sowie die Superintendenten, die häufig in mehreren Vereinen eine Aufgabe wahrnahmen, Zeit zu Gesprächen und dem Besuch von Vorträgen. Das steigerte die Teilnahme an der Jahresversammlung des kirchengeschichtlichen Vereins. Noch wichtiger war, dass der Generalsuperintendent mit dem Konsistorium den Diözesankonventen für das Jahr 1883 das Thema (Proponendum) vorgab: „Welche Bedeutung hat für den schlesischen Geistlichen die Beschäftigung mit der Geschichte der evangelischen Kirche in Schlesien in wissenschaftlicher und praktischer Beziehung?“ Solche Proponenden behandelten meist praktisch-theologische Fragen der Seelsorge und Verkündigung. Indem die Kirchengeschichte zu einem praktisch-theologischen Thema für alle Pfarrer gemacht wurde, das in allen Diözesen zu behandeln war, gewann der gerade gegründete „Verein für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens“ eine besondere Aktualität und konnte seinen praktischen Nutzen demonstrieren. Es wäre interessant, der Behandlung des Themas in den einzelnen Kirchenkreisen nachzugehen, doch sei hier nur der zusammenfassende Bericht des Generalsuperintendenten (Anlage 2) beigefügt, da er zeigt, worauf es dem Geistlichen ankam und wie er selbst die Eigentümlichkeiten der schlesischen Kirchengeschichte beschrieb und eine Verknüpfung mit der Gemeindearbeit anregte. Im Bericht des Konsistoriums an den Evangelischen Oberkirchenrat hieß es dazu, die Behandlung dieses Themas habe fördernd „auf die sorgfältige Sammlung und Bewahrung des geschichtlichen Materials in Pfarr- und Ephoralarchiven hingelenkt“,47 zumal man damit den Bescheid verknüpft habe, die 47 Evangelisches Zentralarchiv Berlin, 7/5925, Bd. 1, Bl. 17f. (Bericht v. 24. November 1905).
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Kirchengemeinde-Chroniken gewissenhaft fortzuführen beziehungsweise, sofern solche nicht schon vorhanden waren, neu anzulegen. Die Verbreitung kirchengeschichtlicher Kenntnisse erfolgte vor allem durch die seit Mitte des 19. Jahrhunderts sich entwickelnde kirchliche Presse mit ihren Sonntagsblättern. An erster Stelle ist das 1898 begründete Organ Evangelisches Kirchenblatt für Schlesien zu nennen, für das der spätere Generalsuperintendent Martin Schian als Hauptredakteur verantwortlich zeichnete. Hier wurde nicht nur regelmäßig über die kirchliche Festwoche in Breslau berichtet, es wurden auch Artikel von Gerhard Eberlein und anderen zu kirchengeschichtlichen Themen aufgenommen. 1913 berichtete das Konsistorium, dass seit 1909 in 26 Diözesen Geistliche für die Lokalkirchengeschichte publizistisch tätig waren. Neben den Sonntagsblättern48 brachte der 1913 gegründete Gustav-Adolf-Bote für Schlesien zahlreiche historische Artikel.49 Um das Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens und die Ausgaben des Vorstands zu finanzieren, war der Verein auf seine Mitglieder angewiesen. Der Mitgliedsbeitrag wurde auf drei Mark festgesetzt. Das reichte aber nicht aus, um Beihefte oder die Urkundenreihe zu finanzieren. Gerhard Eberlein stellte darum mehrfach einen Antrag an die Provinzialsynode, einen Zuschuss für die Vorhaben des Vereins zu genehmigen. Sein Antrag stieß auf Zustimmung: Im Jahr 1900 erhielt er für drei Jahre 300 Mark, dann 600 und zuletzt 750 Mark. Das Konsistorium konnte auf diese Weise betonen, dass es die Arbeit des Vereins regelmäßig fördere.50
5. Das Konsistorium Wer nach zentralen Institutionen fragt, die die Erforschung schlesischer Geschichte im 19. Jahrhundert beförderten, der muss neben den vereinsrechtlich organisierten Einrichtungen sein Augenmerk vor allem auf die vom Staat für die kirchliche Leitung einer Provinz vorgegebene Institution richten, das Konsistorium der Kirchenprovinz Schlesien. Es nahm seine Arbeit am 1. Mai 1816 unter der Leitung des Oberpräsidenten Friedrich Theodor (von) Merckel auf und arbeitete zunächst in enger Fühlung mit den Regierungen der Bezirke zusammen, gewann dann aber unter der Leitung des 1829 eingesetzten Generalsuperintendenten zunehmend an Eigenständigkeit. Im Unterschied zu den kirchenhistorischen Vereinen, die völlig von dem Interesse und den Arbeitsmöglichkeiten ihrer Mitglieder abhängig waren, konnte ein Konsisto48 Kirchliches Wochenblatt für die evangelischen Gemeinden Breslaus (seit 1842), Evangelisches Kirchenblatt für die Gemeinde Görlitz (seit 1868). 49 Gustav-Adolf-Bote für Schlesien. Hg. v. Vorstand des Schlesischen Hauptvereins der GustavAdolf-Stiftung. Breslau 1913–1939. Das Blatt wurde als Beilage zum Breslauer Wochenblatt ausgeliefert und erreichte damit eine große Auflagenzahl. 50 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. die Berichte nach Berlin, die durch die Provinzialsynode – dokumentiert in deren Protokollen – offiziell genehmigt wurden.
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rium Verwaltungsvorschriften erlassen, nach denen sich die gesamte Pfarrerschaft zu richten hatte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das schlesische Konsistorium vom Geist des Rationalismus erfasst, seine Empfehlungen an die Pfarrerschaft waren vom Fortschrittsglauben und vom Wissenschaftsbegriff der Aufklärung geprägt. Das lässt sich an einer Instruktion für die Superintendenten der Oberlausitz illustrieren, als 1815 Teile der Oberlausitz Preußen zufielen und diese Gebiete auf den Geist der fortschrittlichen preußischen Verwaltung eingeschworen werden sollten.51 Die Aufgabe des Superintendenten sei es demnach, „Erleuchtung des Geistes, religiösen Sinn und einen moralisch guten Wandel“ bei den Geistlichen zu befördern. Ganz im Sinn der Aufklärung hieß es weiter: „Eines der wirksamsten Mittel für diesen Zweck ist eine Lese-Anstalt, an der alle Geistlichen eines Superintendentur-Kreises Antheil nehmen müßen“ (§ 12). Danach erläuterte die Ordnung, welche Bücher zu lesen seien: „Es wird dabey a) zuerst auf solche Schriften gesehen werden müssen, aus welchen der gegenwärtige Zustand der theologischen Wissenschaften zu ersehen ist; kritische Zeitschriften“ etc.52 Ja, selbst die im folgenden Paragraphen geschilderte Synode diente dem Zweck der geistlichen Förderung, um „das Literarische Leben unter den Geistlichen anzuregen“. Daneben sollte es regionale Zusammenkünfte geben, „um sich das gefundene neue Interessante in den Wissenschaften auszutauschen“. „Dergleichen Vereine der Superintendenten mit ihren Kreis-Geistlichen“, so setzte die Instruktion fort, könnten die „schönsten Früchte für die theologische Wissenschaft so wohl als für die geistliche Amtsführung bringen“ (§ 14). In der Instruktion wurde folglich das synodale Leben der Kirche als eine Bildungseinrichtung zu wissenschaftlicher Anregung verstanden. Dass dabei die geschichtliche Forschung eine wichtige Rolle einnehmen sollte, lässt sich am Verfasser der Ordnung, Superintendent Johann Gottlob Worbs (1760–1833) aus Priebus, erkennen, der selbst mehrere Urkundenbücher zur Lausitz herausgegeben hatte und der „OrganisierungsCommission“ in Breslau, die die Urkunden, Akten und Bücher der säkularisierten Klöster zu verwalten und aufzunehmen hatte, ein Schema für die Verzeichnung von Urkunden zuleitete, um sich damit für die Leitung und den Aufbau eines Provinzialarchivs zu bewerben.53 Die Stelle erhielt dann allerdings Johann Gustav Gottlieb Büsching. Drei Jahre später versandte das Konsistorium an alle schlesischen Superintendenturen die „Grundsätze“ für einen zu errichtenden Predigerverein, um die Hebung des Bildungsniveaus und die Diskussion der Geistlichen untereinander anzuregen.54 Dass solche theologischen Lesevereine eine besondere Bedeutung für die evangelischen Diasporagebiete besaßen, erfahren wir aus den Bemühungen des Evangelischen Oberkir51 Kirchenkreisarchiv Görlitz, Kirchenkreis Rothenburg, Akte 51 mit einer Kopie der Instruktion. 52 �������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., § 12. Die Instruktion wurde mit dem Anschreiben der Regierung Liegnitz vom 26. September 1919 an alle Kirchenkreise der Oberlausitz versandt. 53 Die General-Superintendentur für den zur Provinz Schlesien gehörigen District Lausitz. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA, Rep 76, III 16 XV 1. 54 Kirchenkreisarchiv Görlitz, Superintendentur Rothenburg, Akte 39, Nr. 15. Das Anschreiben des Konsistoriums erfolgte am 17. Mai 1822.
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chenrats um die Erhaltung der Portofreiheit für die Lesevereine in den Diözesen Neisse, Ratibor und Glatz-Münsterberg im Jahr 1857.55 Die diesen Vereinen gewährte Portofreiheit aus dem Jahr 1842 ermöglichte es den Pfarrern in den weit auseinander liegenden Gemeinden, theologische Neuerscheinungen und Zeitschriften, „für viele der dortigen Geistlichen das einzige Mittel der wissenschaftlichen Fortbildung“, portofrei zu versenden.56 Gegenüber dem Kulturminister betonte der Evangelische Oberkirchenrat, dass „das Kirchenregiment keine Kosten und Mühe scheut“, die Geistlichen mit literarischen Hilfsmitteln zu versorgen, und verwies als Beleg dafür zugleich auf die jüngst begründete Synodalbibliothek in Pleß.57 In Österreichisch-Schlesien hatten die Pastoren der Teschener Superintendentur bereits 1787 eine „Literarische Gesellschaft“ gegründet. Sie wurde 1814 von Pfarrer Karl Friedrich Kotschy geleitet, der zugleich Mitglied der 1804 gegründeten „MährischSchlesischen Gesellschaft zur Förderung des Ackerbaus, der Natur- und Landeskunde“ war. Die „Literarische Gesellschaft“ bestand bis weit ins 19. Jahrhundert und wurde 1868 durch eine pädagogische Lesegesellschaft ergänzt.58 Es wäre ein Fehler, sich das Breslauer Konsistorium als eine reine Verwaltungsbehörde im modernen Sinn vorzustellen, vielmehr ist zu bedenken, dass von den 16 geistlichen Mitgliedern dieser Institution bis zum Jahr 1850 sieben zugleich Theologieprofessoren an der Universität in Breslau waren, drei weitere verdiente Schulmänner.59 Eine ganze Reihe dieser Personen tat sich im 19. Jahrhundert durch historische Publikationen hervor:60 Von Johann Wilhelm Christian Augusti (1771–1841) besitzen wir ein Lehrbuch der christlichen Dogmengeschichte61 und eine Geschichte der christlichen Feste;62 von Karl Adolf Menzel (1784–1855) eine dreibändige Geschichte Schlesiens63 und auch eine topographische Chronik von Breslau.64 Johann Wilhelm Fischer (1762–1850) verfasste eine historische Darstellung der Haupt- und Pfarrkirche zu
55 56 57 58 59 60
61 62 63 64
Evangelisches Zentralarchiv Berlin, 7/14125, Bl. 8 vom Jahr 1857. Ebd., Bl. 22f. Ebd., Bl. 8. Patzelt: Geschichte der evangelischen Kirche, 111f. Grünewald, Johannes: Die geistlichen Mitglieder des Evangelischen Konsistoriums zu Breslau 1817–1900. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 39 (1960) 131–156. Ders.: Veröffentlichungen der geistlichen Mitglieder des schlesischen Konsistoriums 1817–1900. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 39 (1960) 157–161. Diese Liste wurde von Frau Eva Lindner anhand der Bibliothek des Vereins für schlesische Kirchengeschichte zusammengestellt. Augusti, Johann Wilhelm Christian: Lehrbuch der christlichen Dogmen-Geschichte. Leipzig 1805 [41835–1836]. Augusti war Mitglied im Konsistorium von 1817 bis 1819. Ders.: Die christlichen Alterthümer. Ein Lehrbuch für academische Vorlesungen. Leipzig 1819. Menzel, Karl Adolf: Geschichte Schlesiens, Bd. 1–3. Breslau 1808–1811. Menzel war Mitglied im Konsistorium von 1824 bis 1826. Ders.: Topographische Chronik von Breslau. Breslau 1805–1807.
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St. Maria Magdalena in Breslau,65 Carl Friedrich Weigelt (1829–1906) eine Geschichte der schlesischen Kirchenlieder,66 Ludwig Wachler (1767–1838), Historiker und zuletzt Rektor der Universität Breslau, ein Lehrbuch der Geschichte,67 sein Sohn Albrecht Wachler (1807–1864) eine Biographie über Thomas Rhediger,68 Karl Alfred von Hase (1842–1914) ein Lebensbild Herzog Albrechts von Preußen69 und Gustav Kawerau (1847–1918) den dritten Band eines Lehrbuchs für Kirchengeschichte,70 um nur einige zu nennen. Konsistorialrat Friedrich Schubart (1837–1908), Mitglied des Konsistoriums von 1891 bis 1894, gehörte zum ersten Vorstand des „Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens“. Es liegt auf der Hand, dass solchen Männern im Konsistorium, die noch durch den Generalsuperintendenten unterstützt wurden, an der Aufgeschlossenheit und Beteiligung der Pfarrer an der Geschichtspflege der Kirchenprovinz lag. Welches aber waren nun die Instrumente, die dem Konsistorium dafür zur Verfügung standen? An erster Stelle ist hier das Institut der Visitation der Kirchengemeinden zu nennen, denn bei dieser Gelegenheit wurde die Einzelgemeinde nach ihrer Entstehung, dem Patrozinium, dem Kirchenbau, dem Vermögen, der Ausbildung der Pfarrer und Mitarbeiter, der Ordnung ihrer archivalischen Quellen und anderem abgefragt. Damit erhob man zugleich Grunddaten für die Geschichte der einzelnen Gemeinden. Eine Visitationsordnung für ganz Schlesien wurde in den 1820er Jahren vorbereitet und 1827 erlassen. Diese Visitationen von Einzelgemeinden sind zu unterscheiden von den Generalvisitationen eines ganzen Kirchenkreises, die Generalsuperintendent Erdmann im Spätsommer 1864 – damit an eine Tradition des 17. Jahrhunderts anknüpfend – aufnahm.71 Er fand damit nicht nur Zustimmung: Auf der dritten Schlesischen Provinzialsynode von 1881 wur65 Fischer, Johann Wilhelm: Reformations-Geschichte der Haupt- und Pfarrkirche zu St. Maria Magdalena in Breslau. Breslau 1817. Fischer war Mitglied im Konsistorium von 1817 bis 1848. 66 Weigelt, Carl: Aus dem Leben der Kirche in der Geschichte ihrer Lieder. Ein Beitrag zur schlesischen Kirchengeschichte. Breslau 1885. Weigelt war Mitglied im Konsistorium von 1865 bis 1901. 67 ����������������������������������������������������������������������������������������� Wachler, Ludwig: Lehrbuch der Geschichte zum Gebrauche bei Vorlesungen auf höheren Unterrichtsanstalten. Breslau 1816. Die 6. Auflage (Breslau 1838) erschien unter dem Titel: Lehrbuch der Geschichte zum Gebrauche in höheren Unterrichts-Anstalten. Ludwig Wachler war Mitglied im Konsistorium von 1817 bis 1824. 68 Wachler, Albrecht: Thomas Rhediger und seine Büchersammlung in Breslau. Ein biographischliterärischer Versuch. Breslau 1885. Albrecht Wachler war Mitglied des Konsistoriums von 1846 bis 1864. 69 Hase, Karl Alfred von: Herzog Albrecht von Preußen und sein Hofprediger, eine Königsberger Tragödie aus dem Zeitalter der Reformation. Leipzig 1879. Hase war Mitglied des Konsistoriums von 1894 bis 1913. 70 Kawerau, Gustav: Lehrbuch für Kirchengeschichte, Bd. 3: Reformation und Gegenreformation. Tübingen 31907. Kawerau, Mitglied des Konsistoriums von 1894 bis 1907, schrieb ferner zahlreiche Studien zu Luther und der Reformation. 71 Vgl. die Schilderung der ersten Generalvisitation des Kirchenkreises Steinau II bei Eberlein: Aus einem reichen Leben, 195–201.
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Abb. 4: Schema der Kirchenchronik. Bildnachweis: Kirchliches Amtsblatt für den Geschäfts-Bereich des Königlichen Consistoriums für die Provinz Schlesien 11 (1864) 54f.
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den die Generalvisitationen heftig diskutiert und angegriffen. Erdmann vermochte sie jedoch mit Erfolg als eine alte kirchliche und unverzichtbare Tradition zu verteidigen.72 Als weiteres Instrument sei die Führung von Lagerbüchern, also von Verzeichnissen des kirchlichen Vermögens,73 genannt. Das Konsistorium entwickelte auch hier eine Musterordnung und mahnte die Führung der Lagerbücher wiederholt an.74 Die „Kirchliche Chronik“ der Gemeinde wurde in Schlesien gewöhnlich selbständig geführt und als eine wichtige Aufgabe der Pfarramtsführung betrachtet (Abb. 4).75 Generalsuperintendent Erdmann nutzte sein letztes Amtsjahr 1899, um das Thema Gemeindechronik auf die Tagesordnung einer Ephoralkonferenz, der Konferenz aller Superintendenten Schlesiens, zu setzen, einer Einrichtung, die der preußische Staatsminister durch einen Zuschuss seit 1897 für alle preußischen Provinzen jährlich ermöglichte.76 Dem Protokoll nach zählte Erdmann die Gemeindechronik zur Pflicht eines jeden Superintendenten, auf die dieser bei den Visitationen besonders zu achten habe.77 Die laut Tagesordnung gegebenen Richtlinien über die Anlage dieser Chroniken sind dem Protokoll leider nicht beigefügt. Die Leitsätze des diesen Tagesordnungspunkt einführenden Referenten, des Pfarrers Oskar Meisner (1836–1915) aus Arnsdorf, Kirchenkreis Görlitz II, wurden allen als Merksätze zugeleitet (Anlage 3). Die Aufgabe, eine solche Chronik fortzuführen oder – sofern sie noch nicht existierte – neu anzulegen, wurde um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu einem Kernpunkt kirchlicher Verwaltungsordnung für die Gemeinden. Das Konsistorium bemerkte 1913 mit einer gewissen Befriedigung, dass die Mahnungen Erfolg hätten: „Auf eine Rundfrage in letzter Zeit
72 Evangelisches Zentralarchiv Berlin, 7/14127, Schlesische Provinzialsynode; vgl. ferner den Druck: Verhandlungen der Dritten Schlesischen Provinzial-Synode zu Breslau vom 1. bis 12. November 1881. Breslau 1882, 143–151, mit einem Antrag auf „Einstellung der General-Kirchenund Schul-Visitationen“ (149f.). 73 Die „Kirchliche Lagerbuch-Ordnung für die Provinz Schlesien“ ist abgedruckt in: Verhandlungen der Vierten Schlesischen Provinzial-Synode zu Breslau vom 11. bis 21. November 1884. Breslau 1885, 367–374. 74 Abdruck der „Muster-Ordnung“ ebd., 375–415. 75 Kirchliches Amtsblatt für den Geschäfts-Bereich des Königlichen Consistoriums für die Provinz Schlesien 10 (1863) 24, 53. 76 Als Thema für die Sitzung am 2. Mai 1899 vormittags gab er an: „a) Wie ist seitens des Ephoralamtes auf die rechte Werthschätzung sorgfältig geführter Gemeindechroniken über Ereignisse auf dem Gebiet des äußeren und inneren kirchlichen Lebens wie bei den Geistlichen, so auch bei den Gemeinde-Vertretungen und Gemeindegliedern hinzuwirken? b) Nach welchen Gesichtspunkten werden dieselben am zweckmäßigsten hinsichtlich ihres Umfangs und der Auswahl und Gruppierung ihres Inhalts, sowie im Anschluß an schon vorhandene Chroniken aus älterer Zeit anzulegen und fortzuführen sein? c) Welches ist nach den schon früher in dieser Hinsicht gegebenen Anregungen der gegenwärtige Bestand solcher Chroniken in jeder Diöcese?“ Ephoralkonferenz am 1./2. Mai 1899. Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Schlesisches Konsistorium, Abt. VI, Nr. 90. 77 Die Protokolle zu den Ephoralkonferenzen befinden sich in den Akten des Evangelischen Oberkirchenrats, zur Konferenz von 1899 im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin, 7/810: Die Abhaltung von Ephoral-Konferenzen 1897–1899.
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haben uns die Superintendenten berichtet, daß in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Gemeinden unsers Bezirks sorgfältig geführte Kirchenchroniken bestehen.“78 Zur Aufgabe der Visitation gehörte immer auch der Bericht über die Altregistratur und die Anlage eines Gemeindearchivs bzw. die Aufbewahrung und Verzeichnung der Urkunden und Akten der Gemeinde. Im Zusammenhang des neu entstandenen geschichtlichen Bewusstseins stellte sich darum die Frage, ob die evangelische Kirche Schlesiens nicht ein eigenes Zentralarchiv benötigte. Die Frage wurde schließlich zurückgestellt, weil man zunächst kein Gebäude zur Verfügung hatte. Als sich das Staatsarchiv 1913 bereit erklärte, die Aufbewahrung der kirchlichen Urkunden, Akten und Bücher zu übernehmen, schien das Problem gelöst zu sein. Erst 1934 kam es unter völlig veränderten politischen Verhältnissen doch zur Gründung des „Evangelischen Centralarchivs für die Kirchenprovinz Schlesien“. Schließlich war das Konsistorium mit dem Generalsuperintendenten für die Durchführung der theologischen Prüfungen verantwortlich. Aus diesem Grund ergab sich zwangsläufig eine enge Zusammenarbeit mit der Theologischen Fakultät. Als Professor Erdmann 1864 als Generalsuperintendent nach Breslau berufen wurde, begann er bereits ein Jahr später mit Vorlesungen zur schlesischen Kirchengeschichte. Das Ziel war klar: die Studenten auf die theologische Prüfung im Fach Kirchengeschichte vorzubereiten und ihnen den historischen Stoff für den Konfirmandenunterricht und für Gemeindeabende näher zu bringen. Dem Generalsuperintendenten stand über die Visitation hinaus die Möglichkeit zur Verfügung, bei den von ihm geleiteten Ephoralkonferenzen das Thema Kirchengeschichte auf die Tagesordnung zu setzen. So wurde am 6. April 1906 die Frage behandelt: „Wie kann das Interesse für die Geschichte der Kirchengemeinden und die Bewahrung der kirchlichen Sitte gepflegt werden?“ Zu diesem Thema legte der Referent Gottlieb Nowak,79 Superintendent des Kirchenkreises Pleß, Thesen vor (Anlage 4). Diese verknüpften das Interesse an der Geschichte mit der Erhaltung der kirchlichen Sitte, ein Leitgedanke, der nach der Jahrhundertwende zu einem Grundanliegen konservativer Kreise wurde und zu der Anlage von Lagerbüchern kirchlicher Sitte führte. Durch die Verankerung der kirchlichen Traditionen in einer Gemeinde glaubte man, sich gegen die Willkür von Predigern schützen zu können, die sich allzu sehr vom Zeitgeist oder ihrer eigenen Kreativität leiten ließen. Die Gegenüberstellung der beiden Zitate in These Nummer fünf zeigt das Bemühen, das Beharren auf alten Traditionen mit dem schöpferischen Geist Christi im Gleichgewicht zu halten. Das neu erwachte historische Bewusstsein in der evangelischen Kirche veranlasste den Evangelischen Oberkirchenrat, ab 1905 alle drei Jahre von sämtlichen Konsistorien Preußens einen Bericht über die kirchengeschichtliche Aktivität in den Provinzen 78 Bericht des Konsistoriums an den Evangelischen Oberkirchenrat vom 10. Januar 1913. Evangelisches Zentralarchiv Berlin, 7/5925, Bl. 165–167. 79 Gottlieb Nowak (1856–1927) war seit 1894 Superintendent in Groß Wartenberg und seit 1903 Superintendent in Pless. Vgl. Neß: Schlesisches Pfarrerbuch, Bd. 5, 343.
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einzufordern.80 Diese Berichte bieten wegen ihrer Regelmäßigkeit einen willkommenen Einblick über die fortlaufende Entwicklung und bieten zugleich Vergleichsmöglichkeiten zwischen den unterschiedlichen Provinzen. Als Beispiel sei hier der erste Bericht aus dem Jahr 1905, der etwas knapp und holzschnittartig verfährt, beigefügt (Anlage 5). Eine erste Auswertung der eingegangenen Berichte nahm der Evangelische Oberkirchenrat selbst vor, um den Konsistorien eine Rückmeldung zu geben und ihnen leitende Gesichtspunkte einzuschärfen (Anlage 6). Es ist aufschlussreich zu beobachten, dass der Evangelische Oberkirchenrat das neuerwachte Interesse der Kirchengeschichte unter der Alternative verhandelte: „Wie kann die Arbeit für örtliche Kirchengeschichte in Gemeinden und Synodalbezirken angeregt und wie können die Ergebnisse solcher Arbeit durch Verwertung für die Provinzialkirche vor Zersplitterung bewahrt werden?“ Damit wird ein Problem angesprochen, dass sich weniger für den Fachhistoriker als für den Pfarrer stellte, der die Fülle der Informationen aus den Vereinen und Sonntagsblättern nicht mehr überblickte und der übersichtliche und verständlich geschriebene Einführungen und Gesamtdarstellungen benötigte. Da dieses Protokoll auch die unterschiedlichen Ansichten einzelner festhält, erfahren wir etwas über die Widerstände gegen ein allzu aufgesplittertes Vereinswesen, weil es der verfassten Gemeinde Kräfte entziehen könnte. So warnte besonders der Vizepräsident Freiherr Hermann von der Goltz81 vor einer „ungesunden Vermehrung des Vereinswesens“ und der Belastung des theologischen Studiums mit Lokalgeschichte. Der Leiter der Sitzung, Licenciat Friedrich Gotthilf Wevers,82 sah allerdings eher die Gefahr, dass die örtlichen Geschichtsquellen unbeachtet blieben und die Inschriften auf Grabsteinen, Glocken, Kanzeln, Altären, aber auch die Gemeindearchive, Rathausregistraturen, Kirchenbücher zu wenig studiert würden. Dass die Aufsplitterung in zu viele Vereine und Institutionen zur Gefahr werden konnte, empfand man auch unter diesen Einrichtungen selbst. Man gründete deshalb nach Ende des Ersten Weltkriegs, als dies wieder möglich wurde, eine „Gesellschaft für Kirchengeschichte“, die sich als Sammelbecken aller kirchlichen Vereine 80 Vgl. die Akte „Kirchengeschichte“ im Evangelischen Zentralarchiv Berlin, 7/5925. Sie enthält folgende Berichte des Konsistoriums an den Evangelischen Oberkirchenrat: 24. November 1905 (Bl. 17f.), 6. März 1909 (Bl. 112f.), 10. Januar 1913 (Bl. 165–167), 13. Oktober 1921, 29. Januar 1923, 7. Juli 1926, 28. Februar 1931 (die letzten vier Berichte ohne Blattzahl). 81 Hermann von der Goltz (1835–1906), geboren in Düsseldorf, studierte Theologie und wurde 1870 Professor der Theologie in Basel, 1876 Honorarprofessor und Mitglied des Evangelischen Oberkirchenrats in Berlin, 1892 dessen geistlicher Vizepräsident. 82 Friedrich Gotthilf Wevers (1845–1920), geboren in Vluyn (Kreis Moers), nach seinem Theologiestudium Adjunkt am Königlichen Domkandidatenstift in Berlin, wurde 1873 als Hilfsprediger an der dortigen Hof- und Domkirche ordiniert. 1875 wurde er Pfarrer der evangelischen Gemeinde Schermbeck, 1875 Pfarrer von Drevenack, 1894 Konsistorialrat des Konsistoriums der Provinz Westpreußen in Danzig und 1896 Oberkonsistorialrat beim Evangelischen Oberkirchenrat in Berlin. Er erhielt den Titel eines Licentiaten der Theologie. Vgl. die Personalakte des Evangelischen Zentralarchivs in Berlin, 7/P 1513.
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verstand.83 Die 1877 gegründete Zeitschrift für Kirchengeschichte sollte in erster Linie einen Überblick über die neueste Forschung durch Rezensionen geben, aber auch eine Chronik der kirchengeschichtlichen Gegenwart liefern. In Berlin sollte eine „bibliographische Auskunftei“ entstehen, die jedem Forscher zur Verfügung stand. Der von zahlreichen Vereinen und Einzelforschern unterschriebene Aufruf vom Januar 1918 – zu den Unterzeichnern gehörten auch die führenden Vertreter des „Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens“ und der „Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich“ – endete mit der Aufforderung: „Helft uns, die wertvollen kirchengeschichtlichen Bestrebungen der Gegenwart aus Vereinzelung, Verkümmerung und Zersplitterung herauszuführen und zusammenzufassen in einer großen, alle befruchtenden und stärkenden Arbeitsgemeinschaft.“ Im letzten Bericht des schlesischen Konsistoriums vor dem Ersten Weltkrieg84 aus dem Jahr 1913 bedauerte der Berichterstatter zwar, dass die Hochflut der Jubiläumsschriften zu den Bethausgemeinden der Friderizianischen Zeit, auch zur Altranstädter Konvention von 1707, nun abgeklungen sei, andererseits sei es erstaunlich, wie viele Pfarrer in der örtlichen Presse historische Stoffe unterbrächten; genannt wurden als Beispiele Alfred Zobel in den Görlitzer Nachrichten oder die Liegnitzer Pfarrer in den Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsvereins in Liegnitz. In dem ersten Bericht nach dem Weltkrieg machte der Berichterstatter, Professor Johannes Steinbeck,85 1921 deutlich, dass der Krieg keine Unterbrechung oder gar einen Abbruch des historischen Interesses bedeutet habe, vielmehr habe dieser der historischen Forschung durch Kriegschroniken, durch ein neues Gemeinschaftsgefühl und die Rückbesinnung auf die Freiheitskriege ganz neue Impulse verliehen. Aus dem Bericht (Anlage 7) spricht das noch nachwirkende Gefühl, an einem weltgeschichtlichen Ereignis beteiligt gewesen zu sein. 83 Der Aufruf vom Januar 1918 begann mit den Sätzen: „Das gewaltige Anwachsen der geschichtlichen Forschung im vergangenen Jahrhundert ist in dessen letztem Drittel auch der Kirchengeschichte zu gute gekommen, und wir können von daher eine Blütezeit der kirchengeschichtlichen Literatur ansetzen, die noch nicht abgeschlossen ist. Auf allen Gebieten des weitverzweigten Faches ist man emsig an der Arbeit: Theologen, Juristen, Philologen und Historiker wetteifern miteinander; Pfarrer und Oberlehrer nehmen ebenso daran teil, wie Universitätslehrer. Jeder Staat und fast jede Provinz haben einen eigenen kirchengeschichtlichen Landesverein und eine kirchengeschichtliche Zeitschrift. Aber während es Philologen- und Historiker-Tage gibt, während die geschichtlichen Landesvereine Deutschlands zusammengeschlossen sind in einem Gesamtverein und in einem gemeinsamen Korrespondenzblatt, befinden sich die sicher nicht minder wertvollen und ertragreichen kirchengeschichtlichen Studien noch immer mehr oder weniger in einem Zustand der Zersplitterung. Es gibt noch keinen Tag der Kirchenhistoriker und noch keinen Verband der kirchengeschichtlichen Landesvereine. Aus solchen Erwägungen heraus ist im Kreise der unterzeichneten Fachgenossen der Plan zur Gründung einer Gesellschaft für Kirchengeschichte entstanden. Sie soll eine nähere Verbindung herstellen zwischen allen, die an kirchengeschichtlichen Studien Anteil nehmen.“ Evangelisches Zentralarchiv Berlin, 7/5929 (unpag.). 84 Ebd., Bl. 165–167: Bericht vom 10. Januar 1913. 85 Johannes Steinbeck (1873–1967) wurde 1912 Professor der Praktischen Theologie in Breslau, wo er bis zu seinem Ruhestand 1939 blieb. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte er in Bethel.
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Aus diesen konsistorialen und anderen kirchenamtlichen Berichten ergibt sich: Kirchengeschichte war en vogue und wurde nicht nur von einigen Freunden der Historie, sondern auch von den kirchlichen Behörden und Leitungsgremien als eine wichtige Aufgabe der Bewusstseinsbildung und Identitätsfindung in den Gemeinden anerkannt und gefördert; darin ging das Leitungsgremium der preußischen Kirche, der Evangelische Oberkirchenrat in Berlin, mit gutem Beispiel voran. Man muss jedoch grundsätzlich unterscheiden zwischen den Maßnahmen einer Kirchenbehörde zur Förderung des historischen Bewusstseins in der Pfarrerschaft und ihren Gemeinden einerseits und den kirchenhistorischen Vereinen andererseits, in denen sich eine Elite von zumeist Geistlichen der wissenschaftlichen Auswertung historischer Quellen stellte. Beide ergänzten und unterstützten sich im Idealfall, denn ein Spezialverein blieb letztlich auf die Unterstützung der Amtskirche angewiesen, wenn er gedeihen sollte. In Schlesien ist dies vom Jahr 1882 bis zum Ersten Weltkrieg erstaunlich gut gelungen.
6. Anhang Anlage 1 Briefe von Gerhard Eberlein an Generalsuperintendent David Erdmann86 Die Briefe verdeutlichen, wie Eberlein die Termine und Planungen für den überlasteten Generalsuperintendenten vorgab, welche Mühe er hatte, einen Termin bei ihm zu bekommen, aber auch, wie er auf dessen Zustimmung angewiesen blieb. Wir erfahren aus ihnen Details über die Entstehungsgeschichte der Publikation über „Die Kirchenbücher Schlesiens beider Konfessionen“ (1902) und die Entwicklung eines Fragebogens über die älteren Urkunden, der durch das Konsistorium an die Gemeinden versandt wurde. Groß Strehlitz, den 12.7.1898 Hochwürdigster, hochverehrtester Herr Generalsuperintendent, Ew. Hochwürden gestatte ich mir gehorsamst zu fragen, ob ich die diesjährige Publikation des kirchengeschichtlichen Vereins wieder in die Wege leiten darf. Wollten wir nichts edieren, wäre doch wohl zu befürchten, daß das kaum erwachte Interesse wieder erlahmen würde. Ich habe bereits hier oder dort wegen Beiträgen für das Correspondenzblatt angefragt, bin allerdings vielfach abschläglich beschieden worden, hoffe aber doch soviel zu bekommen, daß 6 Bogen oder auch etwas mehr voll wird. Darf ich vielleicht für einen Artikel von Ew. Hochwürden Raum vorbehalten? Wenn wir, was sich wohl empfehlen würde, wieder in der Festwoche unsre Generalversammlung hielten – sie würde dann Mittwochs, den 5. Oktober nachmittags 4 Uhr treffen –, so möchte 86 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Schlesisches Konsistorium, Abt. VI, Nr. 215.
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unsre Publikation etwa Ende September erscheinen; es würde dann ein Artikel zum Druck noch Ende August zurecht kommen. Die nötigen Vorbereitungen würde ich mit P. [Gustav] Koffmane treffen; ich weiß allerdings noch nicht, wen wir zu einem Vortrag für die Hauptversammlung gewinnen könnten; im Notfalle müsste einer von uns heran. Mit angelegentlichster Empfehlung und in wahrester Verehrung Ew. Hochwürden dankbar ergebener G. Eberlein Groß Strehlitz, den 17.7.1898 (Abb. 5) Hochwürdigster, hochverehrtester Herr Generalsuperintendent! Ew. Hochwürden wollen in Sachen der Publikation des Kirchengeschichts-Vereins gütigst noch eine Frage gestatten. Seit Jahr und Tag trage ich mich mit dem Gedanken, das von dem Königlichen Konsistorium im Jahr 1895 auf Wunsch des deutschen Altertumsvereins aufgestellte Material über den Bestand der evangelischen Kirchenbücher Schlesiens zu verarbeiten und im Korrespondenzblatt zu veröffentlichen. Ich bin deswegen früher schon im Königlichen Konsistorium gewesen, ohne des Materials habhaft werden zu können. Jetzt ist es mir nach allerlei Umwegen gelungen, das gesamte Material zu erlangen und Amtsrichter Krieg in der Provinz Sachsen, der s[einer] Z[eit] es gefunden hat, hat sich mit der Veröffentlichung einverstanden, ja bereit erklärt, uns dazu eine Einleitung zu liefern, wie er bisher schon solche Publicationen für andere Provinzen eingeleitet. Da schreibt plötzlich Prof. [Colmar] Grünhagen – das Material war bisher auch im Breslauer Staatsarchiv deponiert – an mich, er habe sich nach einem Gespräch mit Dr. [ Josef ] Jungnitz entschlossen, für 1900 seitens des Schlesischen Geschichtsvereins eine Publikation zu veranstalten, die in alphabetischer Reihenfolge die evangelischen und katholischen Dubb[letten] unserer Provinz enthalte. Unter diesen Umständen sähe er unsre Publikation, von der er durch Zurückforderung des Materials Kenntnis bekommen, nicht gern; zumal „unser Verein doch eine bestimmte Aufgabe habe, wofür ihm früher schon Geld bewilligt sei. Sollte nicht diese Arbeit an erster Stelle Berücksichtigung verdienen?“ Diese letzteren Anzüglichkeiten und guten Ratschläge kann man ja wohl von dem verdienten schlesischen Historiker hinnehmen; der verewigte [Gustav Adolf Harald] Stenzel empfand es ja noch unangenehmer, wenn auch andere um die Geschichte Schlesiens sich kümmerten und Dr. Grünhagen ist die Existenz unsers Vereins von Anfang an nicht sehr erfreulich gewesen, zumal wir uns nun langlebiger erweisen, als er vielleicht gedacht hat. Aber es ist mir sehr zweifelhaft, ob wir nun von der beabsichtigten Publikation ablassen sollen. Wenn irgend ein Verein, dann hat doch der unsre an diesem Quellenmaterial Interesse und sozusagen ein Recht darauf; eigentlich hätte das Königliche Konsistorium uns doch das Material ohne weiteres zur Veröffentlichung überweisen sollen. Dem Schlesischen Geschichtsverein gehören evangelische Geistliche nur sehr wenige an, es wird also die Publikation von 1900 in unsern Kreisen nur wenig bekannt werden. Publizieren wir aber jetzt, so können wir doch wohl hoffen, daß gerade von einer solchen für die ganze evangelische Kirche Schlesiens wichtigen Veröffentlichung das Königliche Konsistorium Veranlassung nehmen wird,
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Abb. 5: Schreiben von Gerhard Eberlein an Generalsuperintendent David Erdmann vom 17. Juli 1898 (Auszug). Bildnachweis: Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Schlesisches Konsistorium, Abt. VI, Nr. 215.
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auch im Amtsblatt wieder einmal auf unsern Verein hinzuweisen. Kurz, ich habe nicht übel Lust, trotz des Ärgers, den ich damit Dr. Grünhagen bereiten werde, die Zusammenstellung bei uns zu drucken. Ich wollte aber doch erst Ew. Hochwürden die Sachlage unterbreiten und um Entscheidung bitten. Mit angelegentlicher Empfehlung Ew. Hochwürden dankbar ergebener G. Eberlein Groß Strehlitz, den 2.8.1898 Hochwürdigster, hochverehrtester Herr Generalsuperintendent! Inliegend gestatte ich mir die gewünschten Bogen des Correspondenzblattes zu senden, zur Hälfte aus unsrer Bibliothek, zur Hälfte aus meinem Handexemplar, da diese letztre Hälfte aus der Bibliothek verliehen war. Was den Abdruck der Dub[letten] betrifft, so hielt ich es für meine Pflicht, Amtsrichter [Reinhold] Krieg, durch den wir in den Besitz des Materials gekommen sind, Nachricht von dem Vorhaben Dr. [Colmar] Grünhagens zu geben und ihn zu fragen, ob ihm nun noch der Abdruck bei uns erwünscht ist. Derselbe hat mir geantwortet, er halte es, falls das katholische Material wirklich mitgeteilt würde, für besser, doch noch bis 1900 zu warten, da es fraglich sei, ob die katholische Kirche selbst ihren Bestand veröffentlichen werde. Wir möchten aber Dr. Grünhagen ernstlich im Auge behalten, dass die dortige Publikation wirklich erfolge. Die Rücksicht auf das katholische Material, das ja gerade in Schlesien für uns von Wichtigkeit ist und uns doch bisher vorenthalten worden ist, läßt auch P. [Gustav] Koffmane dahin neigen, wir möchten zunächst doch noch mit dem Abdruck warten. Und die Bedeutsamkeit des hervorgehobenen Gesichtspunktes ist ja unverkennbar, zugleich hat sich mir noch die Erkenntnis aufgedrängt, dass sich das Material noch bedeutend vermehren läßt, wenn man die einzelnen Pfarrarchive zugleich auf das sonst vorhandene Aktenmaterial (zunächst vorreformatorisches und 16. saeculum) ins Auge nimmt; dieser Arbeit möchte ich mich unterziehen und möchte dann lieber im nächsten Jahre mit reichlicherem Material noch hervortreten. Zugleich ist mir der Gedanke gekommen, durch unser Correspondenzblatt den wichtigeren Bestand der Kirchenbibliothek (alte Drucke, Leichenpredigten) nach und nach mitzuteilen. Ich möchte mir erlauben, in Breslau persönlich mit Ew. Hochwürden hierüber zu sprechen und die Hülfe des Königlichen Konsistoriums dazu zu erbitten. Mit angelegentlichster Empfehlung an Ew. Hochwürden, dem ich mir gestatte die angelegentlichsten Empfehlungen an die gnädige Frau und Fräulein Käthe [Erdmann] hinzuzufügen, zeiche ich in wahrster Verehrung Ew. Hochwürden dankbarer G. Eberlein Groß Strehlitz, den 31.1.99 Hochwürdigster, hochverehrtester Herr Generalsuperintendent! Im vergangenen Sommer habe ich mir bereits erlaubt, Kenntnis zu geben über Verhandlungen mit Prof. Dr. [Colmar] Grünhagen wegen Veröffentlichung des Bestandes der evangelischen Kirchenbücher. Nach persönlicher Besprechung auf dem Staatsarchiv
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hat dann Dr. Grünhagen ein Schema entworfen für eine Publikation, die nicht bloß die Dub[letten], sondern auch die Geistlichen bis 1600, sonstige Urkunden, Bibliothek und dergleichen bei den evangelischen und katholischen Kirchen umfassen soll. Ich war in dieser Sache einige Maale in Breslau und wollte mir gestatten, darüber mit Ewer Hochwürden Rücksprache zu nehmen, konnte aber wiederholt Ew. Hochwürden nicht treffen. Ich habe inzwischen im Einverständnis mit P. [Gustav] Koffmane einen Fragebogen entworfen und habe denselben nebst einem motivirenden Bericht dem Königlichen Konsistorium überreicht, nachdem der Herr Konsistorialpräsident mir zugesagt hatte, die Sache amtlich zu unterstützen und den Fragebogen durch das Amtsblatt zu veröffentlichen. Nun sind mir heute erneut vom Staatsarchiv 2 Schreiben in derselben Sache zugegangen, über die ich Ew. Hochwürden Bericht erstatten möchte. Ich gestatte mir daher gehorsamst anzufragen, ob ich in der künftigen Woche im Laufe des Nachmittags des Montags oder des Vormittags am Dienstag bei Ew. Hochwürden vorsprechen darf. Mit angelegentlichster Empfehlung und in wahrer Verehrung Ew. Hochwürden dankbar ergebener G. Eberlein Anlage 2 Generalsuperintendent David Erdmann an die Pfarrer und Gemeinden, Breslau 31.7. 188487 Das Rundschreiben bietet eine Zusammenfassung oder eher Beurteilung des Generalsuperintendenten über das von ihm mit dem Konsistorium veranlasste Proponendum zur Kirchengeschichte für die Behandlung auf den Diözesansynoden. Es zeigt, wie die Pfarrerschaft zur Beschäftigung mit der Kirchengeschichte angeleitet und die Verbindung von wissenschaftlicher Forschung mit einer praktisch-theologischen Verwertung der geschichtlichen Erkenntnisse in den Gemeinden zusammengebunden wurde. Dabei bot der Generalsuperintendent selbst eine Zusammenfassung seiner Sicht der Kirchengeschichte Schlesiens, die keineswegs konfessionell-lutherisch bestimmt war, sondern seine an dem Berliner Lehrer, dem Kirchenhistoriker Johann August Wilhelm Neander, ursprünglich David Mendel (1789–1850), geschulte ökumenische Sicht beschreibt. Die Verhandlungen der Diöcesan-Convente über das Thema: „Welche Bedeutung hat für den schlesischen Geistlichen die Beschäftigung mit der Geschichte der evangelischen Kirche in Schlesien in wissenschaftlicher und praktischer Beziehung?“ haben nach den darüber gelieferten Ephoralberichten zu unserer Genugthuung fast überall den von uns gehofften Verlauf und Erfolg gehabt. Wir können annehmen, daß auch diese Proposition einem allgemein empfundenen Bedürfniß entsprochen und das Interesse für die 87 Evangelisches Zentralarchiv Berlin, 7/14125: Die Synodal- und Pastoral-Conferenzen in der Provinz Schlesien, 1856–1928, Bl. 92r–93v.
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evangelische Kirchengeschichte unserer Provinz gefördert, oder, wo es an demselben bisher noch irgend wie mangelte, geweckt hat. Wenn dabei das wissenschaftliche und das praktisch-kirchliche Interesse unterschieden wurde, so hatte das, vereinzelten Einwendungen gegenüber, seinen hinreichenden Grund in der sich von selbst aufdrängenden zwiefachen Aufgabe. Es handelt sich erstens darum, daß die Männer, welche im geistlichen Amt der evangelischen Kirche in unserer Provinz dienen, auch eine eingehendere Kenntniß von ihrem geschichtlichen Entwickelungsgang gewinnen, um zu verstehen, wie die Kirche der Gegenwart aus der eigenthümlichen Geschichte ihrer Vergangenheit heraus geworden ist. Und zweitens kommt es darauf an, die mannigfaltigen Schätze, welche durch die liebevolle Beschäftigung mit der vaterländischen Kirchengeschichte für die historische Erkenntniß gewonnen werden, für das kirchliche Leben der Gegenwart zu verwerthen. Selbstverständlich mußte dabei die innere Zusammengehörigkeit des wissenschaftlichen und praktischen Interesses im Auge behalten werden, da der evangelische Geistliche auch das auf dem Gebiet der heimathlichen Kirche gewonnene kirchenhistorische Wissen der Gemeinde dienstbar zu machen und für den Kirchendienst zu verwerthen hat. Freilich mußte für die Beantwortung der gestellten Frage schon eine Bekanntschaft mit dem Gange der schlesischen Kirchengeschichte und dem Eigenthümlichen, das sie darbietet, vorausgesetzt werden. Es fällt aber aus dem Rahmen der Aufgabe, wenn eine beträchtliche Anzahl von Referenten und Correferenten sich bemühen, entweder eine kurzgefaßte Darstellung der evangelischen Kirchengeschichte unserer Provinz selbst, oder eine Reihe von einzelnen historischen Betrachtungen und Lebensbildern zu geben. Wenn sich auch darin das erfreuliche Ergebniß einer durch die Proposition angeregten fleißigen Beschäftigung mit dieser Geschichte darlegt, so blieb doch öfters für die eigentliche Beantwortung der beiden in dem Thema gestellten Fragen dabei zu wenig Raum übrig. Dies gilt auch von solchen Bearbeitungen der Proposition, bei denen eine zu ausführliche Besprechung der einschlagenden Literatur in den Bereich der Aufgabe mit hineingezogen worden. Hinsichtlich des geographischen Umfanges derselben ist von einer Seite mit Recht hervorgehoben worden, wie auch der jetzt politisch mit Schlesien verbundene Antheil des Markgrafenthums der Oberlausitz in der Geschichte der Reformation und insbesondere in den Drangsalszeiten des 17. Jahrhunderts mit der evangelischen Kirchengeschichte Schlesiens wichtige Berührungspunkte hat und zwischen beiden Ländergebieten auch längst vor ihrer politischen Vereinigung segensvolle Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen obgewaltet h aben. Wir fassen im Nachfolgenden die Hauptmomente, welche in den Verhandlungen wie in den Referaten über die Proposition hervorgehoben wurden, zusammen, um das, was zur richtigen Beantwortung der Frage beigebracht worden, als Antrieb zu eingehender Erforschung und praktischer Verwerthung der Geschichte der evangelischen Kirche in den von unserer Provinz umschlossenen Landestheilen weiter fruchtbar werden zu lassen. Diese Geschichte bietet von ihrer Begründung in der Zeit der Reformation an bis zur Gegenwart das Bild eines so mannigfaltigen und bewegten Lebens dar, und setzt sich aus einer solchen Fülle individueller historischer Momente in kleineren Kirchenkreisen oder einzelnen Kirchgemeinden zusammen, daß der evangelische
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Geistliche, welcher an dem Werk des Auf- und Weiterbaues der Kirche auf dem Grund des Evangeliums mit zu arbeiten hat, es als eine wichtige Aufgabe anzusehen hat, neben dem Blick auf die Geschichte der Gesammtkirche den Spuren der Führungen des Herrn in dem Entwicklungsgang solcher Specialgeschichten mit Fleiß und Aufmerksamkeit nachzugehen, und dadurch ein geschichtliches Verständniß der gegenwärtigen Zustände des kirchlichen Lebens, innerhalb deren er mit seiner ganzen Amtsthätigkeit steht, nach ihren Licht- und Schattenseiten zu gewinnen. Mit Recht ist in einigen Referaten und Verhandlungen darauf hingewiesen worden, wie der Herr und die Apostel ein genaues Wissen und eingehendes Verständniß von der Geschichte der Offenbarung und des Reiches Gottes in Israel, und eine nähere Bekanntschaft sowohl mit dem heilsgeschichtlichen wie mit dem weltgeschichtlichen Hintergrunde der Gegenwart, in der sie mit ihrem Werk stehen, bei ihrer Lehrthätigkeit voraussetzen und fordern. Es ist von verschiedenen Seiten zunächst geltend gemacht worden, daß die evangelische Kirchengeschichte unserer Provinz in allen Stadien ihrer Entwickelung im Zusammenhang mit den politischen Bewegungen reichhaltige Beiträge zu der allgemeinen Geschichte der evangelischen Kirche liefert. Der Beweis dafür liegt in der verschiedenen Art, wie die Reformation, je nach den politischen Verhältnissen der einzelnen Territorien, und nach der Stellung, welche die Fürsten, Stadtobrigkeiten, Bürgerschaften und der zahlreiche Adel zu der Sache [Martin] Luthers einnahmen, zur Durchführung kam, – in den mannigfaltigen, entgegengesetzten Geschicken, welche die evangelische Kirche bei ihrer weiteren Gestaltung unter der Oberhoheit der böhmischen Krone in den unmittelbaren und mittelbaren (piastischen) Fürstenthümern erfuhr, – in den Zeiten der Drangsale und Verfolgungen, die während des 17. Jahrhunderts sie mit Untergang und Vernichtung bedrohten, – in den großen politischen Ereignissen, in Folge deren in der Mitte desselben Jahrhunderts den ihrer Geistlichen, Kirchen und Kirchengüter beraubten zerstreuten Evangelischen die Erbauung der drei Friedenskirchen, im Anfang des 18. Jahrhunderts die der sechs Gnadenkirchen und dann, nach Eroberung Schlesiens durch Friedrich den Großen die Errichtung von Bethauskirchen an den Orten, wo sich aus den übrig gebliebenen Evangelischen wieder Gemeinden sammelten, gestattet wurde. Welch eine Bereicherung der Geschichte des inneren Lebens der evangelischen Kirche hier sich darbietet, zeigen die Bewegungen auf dem Gebiete der Lehre und die Geschichte des Sectenwesens seit [Kaspar von] Schwenckfeldt und dem Auftreten der Wiedertäufer, die Einflüsse auf das innerste religiöse Leben, die von dem theosophischen Mystiker Jakob Böhme und seinen Anhängern ausgingen, – die auf eine innere Erneuerung und Hebung des christlichen Lebens gerichteten mannigfaltigen Bestrebungen des 16. und 17. Jahrhunderts, – die Weckung und Schärfung des evangelischen Bewußtseins, die Vertiefung und Verinnerlichung des Glaubenslebens unter dem Kreuz neben der Unterdrückung des evangelischen Kirchenthums durch äußere Gewalt, – der eigenthümliche selbstständige Antheil, welchen Schlesien an der Entwicklung und dem Aufblühen des evangelischen Kirchenliedes durch eine verhältnißmäßig große Zahl von Kirchenliederdichtern hatte, – die auf Erweckung und Pflege lebendigen Christenthums gerichteten Bewegungen im Gegensatz gegen eine einseitig die Lehre betonende
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Rechtgläubigkeit, die mit der pietistischen Bewegung sich zusammenschließen, – die Einflüsse des Rationalismus, – die mannigfaltigen heilsamen Einwirkungen der Brüdergemeinde, die sich von Gnadenfeld bis Niesky durch die ganze Provinz erstreckten, – die Unions- und Separationsbewegungen der neueren Zeit, – die fortdauernden Antriebe zur Zusammenfassung und Aufbietung aller Kräfte des innersten Lebens unter den der evangelischen Kirche aufgenöthigten Kämpfen um Bewahrung ihres Bestandes und Weiterführung ihres Aufbaues auf dem Grunde des Evangeliums. Außerdem ist es von hohem wissenschaftlichen Interesse zu sehen, wie nicht blos die verschiedenen Hauptstadien der äußeren Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens durch die weltgeschichtlichen Bewegungen und Erschütterungen mit bestimmt werden, sondern auch die Hauptmomente des inneren kirchlichen Lebens in seiner mannigfachen Hemmung, Trübung und Förderung mit den entsprechenden Entwicklungsphasen der gesammten Kirche in Lehre und Leben in unmittelbarem oder mittelbarem Zusammenhang stehen. So sind in mehreren Bearbeitungen des Themas die verschiedenen Einflüsse, welche die deutsche Reformation und die deutschen Reformatoren, die großen Gegensätze und Kämpfe zwischen der evangelischen und römisch-katholischen Kirche, der SpenerFrancke’sche Pietismus, die rationalistische Geistesrichtung, und dann die Erneuerung des kirchlichen und christlichen Lebens aus dem Quell des Evangeliums seit den letzten sieben Decennien, auch auf das evangelische Schlesien ausgeübt haben, mehr oder weniger eingehend richtig nachgewiesen worden. Hieraus ergibt sich dann, wie der gegenwärtige Stand der evangelischen Kirche in Schlesien nach Außen und Innen aus ihrem in mancher Hinsicht eigenthümlichen und doch wieder durch die allgemeinen kirchlichen Bewegungen mitbedingten Entwickelungsgang zu erklären ist. Welchen praktischen Werth für den schlesischen Geistlichen die Beschäftigung mit der heimathlichen Kirchengeschichte habe, wie er die Kenntniß von derselben für die Verwaltung seines Amtes, und für die Erbauung der Gemeinde zu verwerthen habe, und zu welcher Thätigkeit er sich in Bezug auf die Specialgeschichte der Kirche, der er dient, anregen lassen solle, ist in dem zweiten Theil der Referate und Verhandlungen fast überall in erschöpfender Weise besprochen worden. Mit Recht ist mehrfach hervorgehoben worden, wie wichtig es sei, sich um die Geschichte der äußeren kirchlichen Verhältnisse, insbesondere der Verluste der Kirche oder der einzelnen Gemeinden an äußerem Kirchengut zu bekümmern, um dadurch im Stande zu sein, den gegenwärtigen Besitz sichern oder den verlorenen wieder gewinnen zu helfen. Nirgends hat es gefehlt an Hinweisungen auf schätzenswerthe christliche und kirchliche Sitten im schlesischen Volksleben, deren Bedeutung und Werth erst im Licht der Geschichte ihre rechte Würdigung erfährt. Aber es ist auch auf solche kirchliche Gebräuche und Gewohnheiten aufmerksam gemacht worden, auf welche das Wort: Verdirb es nicht, es ist ein Segen darin, nach der Weisung der Geschichte keine Anwendung finden kann. Es ist an keiner Stelle unausgeführt geblieben, welchen reichen Stoff die lange Leidensgeschichte der evangelischen Kirche in Schlesien dem Dienst am Wort darbietet, indem sie den Geistlichen in Stand setzt, dem gegenwärtigen Geschlecht zur Beschämung, zur Ermunterung, zur Stärkung und zur Tröstung die Glaubensfestigkeit, den Zeugenmuth, die Bekenntnißtreue, die
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Opferfreudigkeit und die Geduld der Väter, aber auch zur Warnung und Gewissensschärfung die Ursachen und Erscheinungen der Untreue im Glauben und des Verfalls des evangelisch-kirchlichen Lebens in concreten Beispielen einzelner Personen und geschichtlichen Zeitbildern vor Augen zu führen. Insbesondere ist treffend hervorgehoben worden, wie die Geistlichen, Gemeinde-Kirchenräthe und Gemeinden durch die Lehren, welche die evangelische Kirchengeschichte Schlesiens in Verbindung mit den bekannten kirchlichen Bewegungen der Gegenwart in Betreff der kirchlich-confessionellen Gegensätze und Kämpfe giebt, sich weisen und antreiben lassen sollen, dafür Sorge zu tragen, daß unserem evangelischen Volk die durch die Reformation wiedererrungene, und unter schweren Kämpfen und Leiden bewahrten Heilsgüter unverkürzt erhalten werden. Diese Geschichte lehrt, wie bei aller Bereitwilligkeit zur Aufrechterhaltung des kirchlich-confessionellen Friedens das Mahnwort: Halte was du hast! gegenüber dem auf dem Gebiet des religiösen und kirchlich-confessionellen Lebens verbreiteten Indifferentismus nicht blos im Wort des Zeugnisses und Bekenntnisses, sondern auch in der That und Wahrheit durch Weckung und Stärkung des evangelischkirchlichen Bewußtseins und durch kräftige Abwehr alles dessen, was von Außen und von Innen dem Grunde, dem Bestande und der Ehre der evangelischen Kirche Abbruch thun könnte, seine Erfüllung finden soll. Die evangelische Kirchengeschichte Schlesiens im Allgemeinen und die Geschichte einzelner Gemeinden im Besonderen bietet den Geistlichen mannigfaltige Materien dar, die sie in Predigten, im Confirmandenunterricht, in Bibelstunden, in Vorträgen über die Aufgaben und Zwecke der inneren Mission, des Werkes des Gustav-Adolph-Vereins, in angemessener Weise verwerthen können, um in der Gemeinde Kenntniß und Verständniß von der Geschichte der heimathlichen Kirche zu verbreiten, das Glaubensleben durch Hinweisung auf die Vorbilder der Vergangenheit zu stärken und zur Wachsamkeit und Treue im Bekenntniß durch Hinweisung auf die Einbußen und Verluste, welche die evangelische Christenheit durch ihre eigene Untreue und Gleichgültigkeit erlitten hat und erleidet, zu ermuntern. Nachdem wir im Vorstehenden die Ergebnisse der Verhandlungen zusammengefaßt haben, bleibt uns nur noch übrig, die Beschäftigung mit der evangelischen Kirchengeschichte unserer Provinz den Geistlichen unter Hinweisung auf die in den Referaten und Verhandlungen erwähnten literarischen Hilfsmittel und auf die von dem Verein für evangelische Kirchengeschichte Schlesiens dafür angebotene Mithilfe dringend zu empfehlen und in den gedachten Beziehungen die durch solche Beschäftigung gewonnenen Ergebnisse praktisch für das christliche und kirchliche Leben zu verwerthen. Insbesondere empfehlen wir den Geistlichen, neben den außerhalb ihrer Gemeinden ihnen zugänglichen Materialien die öfters überraschend reichhaltigen werthvollen geschichtlichen Stoffe, welche in öffentlichen und Privatbibliotheken, in Pfarrarchiven, Kirchenbüchern, Kirchenchroniken, Kirchenarchiven, Patronats- und Magistratsarchiven und an sonstigen im Bereich ihrer Gemeinden vorhandenen historischen Fundstätten vorhanden sind, zum Gegenstand eingehender Kenntnißnahme zu machen und zweckmäßig zu verwerthen, wie es bereits in vielen Fällen durch Bearbeitung der Geschichten einzelner Kirchen und Gemeinden geschehen ist.
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Dabei machen wir besonders darauf aufmerksam, daß alle diejenigen Schriften und Dokumente, welche in den Pfarr- und Ephoralarchiven, namentlich für die evangelische Kirchengeschichte älterer Zeit von Werth sind, sorgfältig zu sammeln und aufzubewahren sind. Es ist bei den Conventsverhandlungen öfters erwähnt worden, daß in nicht wenigen Gemeinden Kirchenchroniken aus älterer Zeit vorhanden, und daß in einigen Gemeinden solche auch bis zur Gegenwart fortgeführt seien. Entsprechend den hierbei mehrfach geäußerten Wünschen empfehlen wir den Herren Geistlichen, schon vorhandene Kirchengemeindechroniken fortzusetzen, oder, wo solche noch nicht vorhanden sind, ohne Säumen anzulegen und durch Eintragung wichtiger, für das kirchliche Leben bedeutsamer Momente, wie z. B. der vorjährigen Luther-Jubelfeier, fortzuführen. Die Herren Superintendenten wollen bei den Visitationen in dieser Beziehung Nachfrage halten, eventuell die nöthige Anregung und Anweisung geben und in den Visitationsberichten über diese Angelegenheit sich äußern. gez. Erdmann Anlage 3 Leitsätze von Pfarrer Oskar Meisner auf der Ephoralkonferenz vom 1. und 2. Mai 1899 zum Thema der Gemeindechronik88 1. Kenntniß der kirchlichen Entwickelung der eigenen Parochie wie der Kirchengeschichte seiner Provinz ist jedem Geistlichen unentbehrlich. 2. Zu letzterem Zweck mögen schlesische Geistliche nicht versäumen, dem schlesischen Kirchengeschichtsverein beizutreten, zu ersterem die Durcharbeitung der ihnen zu Gebote stehenden Quellen als eine ihrer ersten Amtspflichten ansehen. 3. Dieser Quellen sind viele, theils gedruckte, theils im Manuscript vorhandene Gemeindechroniken. 4. Der Superintendent möge besonders bei der Installation auf diesen Punkt den Geistlichen aufmerksam machen, auch bei den Conferenzen mit den Gemeindeorganen und bei Ansprachen an die Gemeinde das ihm bekannte Material verwerthen. 5. Für die Fortsetzung vorhandener Chroniken muß Sorge getragen werden. Es wird am Besten sein, sich dabei der einmal gewählten Eintheilung der Chronik anzuschließen. Ist noch nichts vorhanden, so genügt die chronologische Aufzählung des betreffenden Materials. 6. Eine Anordnung der Behörde dürfte sich empfehlen, durch welche es den Geistlichen zur Pflicht gemacht würde, bestehende Chroniken fortzuführen, resp. zur Anlage einer solchen das Material zu sammeln, das freilich sachgemäß gesichtet werden muß. gez. Meisner, Sup. 88 Ebd., 7/810, Bl. 305.
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Anlage 4 Bericht des Konsistoriums über die am 5. und 6. März 1906 stattgefundene Ephoralkonferenz des Sprengels Breslau-Oppeln89 Den letzten Punkt der Tagesordnung bildete die Frage: „Wie kann das Interesse für die Geschichte der Kirchengemeinden und die Bewahrung der kirchlichen Sitte gepflegt werden?“ Es berichtete hierüber der Superintendent [Gottlieb] Nowak [1856–1927] aus Pleß. Seine Leitsätze sind beigefügt. Auch hierfür gab die sich anschließende Besprechung noch manche Förderung. Namentlich wurde auf die sorgfältige Führung der Gemeinde-Chroniken Nachdruck gelegt; den Geistlichen sei ferner das Studium der Ortsgeschichte und die Verwertung ihrer Studien für das Gemeindeleben und die Bereicherung der provinziellen Kirchengeschichte zu empfehlen. Auch sei dafür zu sorgen, daß die Zahl der Mitglieder des Provinzialvereins für Kirchengeschichte noch erheblich wachse und daß namentlich interessierte Gemeindeglieder für den Beitritt gewonnen würden. Die Besprechung über kirchliche Sitten, die ins Gebiet der Kirchenzucht fallen, konnte der Natur der Sache nach nicht ins einzelne verfolgt werden, umsomehr ward empfohlen, für die Aufrechterhaltung solcher Sitten, die aus christlich-sittlichem Ernst erwachsen sind, nach Möglichkeit einzutreten. Leitsätze Wie kann das Interesse für die Geschichte der Kirchgemeinden und die Bewahrung der kirchlichen Sitte gepflegt werden? 1. Zum rechten Verständnis der Gemeinden und zur gesegneten pastoralen Wirksamkeit gehört die Kenntnis ihrer Geschichte und der in ihnen bestehenden kirchlichen Sitten. 2. Diese Kenntnis giebt der Arbeit an der Gemeinde eine sichere Grundlage, bietet für die Predigt, die Unterweisung und die Seelsorge gottgeschenkte Anknüpfungspunkte, ermöglicht ein gerechtes Urteil und bewahrt vor falschem Optimismus wie vor lähmendem Pessimismus. 3. Das Interesse für die Geschichte der Kirchgemeinden und für die Bewahrung ihrer kirchlichen Sitten kann gepflegt werden: a. durch gründliches Studium des in den Archiven, Kirchenbüchern, Ortschroniken etc. vorhandenen geschichtlichen und statistischen Materials. b. durch geeignete Verwertung desselben in der Predigt, im Konfirmanden-Unterricht, in der Seelsorge, in Vorträgen etc. 4. Zur Belebung dieses Interesses, sowie zur Erleichterung des Studiums der Geschichte und der kirchlichen Sitten der einzelnen Gemeinden empfiehlt sich für jede Kirchgemeinde die Schaffung einer Gemeinde-Chronik, in welcher vor allem auch die jeweiligen kirchlichen Sitten zur Darstellung kommen müßten. 89 Ebd., 7/5925, Bl. 49f.
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5. Bei der Darstellung der Gemeindegeschichte ist Spreu vom Weizen zu scheiden. Bezüglich der Bewahrung kirchlicher Sitten gilt einerseits: Verdirb es nicht, es liegt ein Segen darin, andererseits: Christus non est consuetudo sed veritas. Anlage 5 Bericht des Konsistoriums an den Evangelischen Oberkirchenrat über die in der Provinz Schlesien geleistete historische Arbeit vom 24. November 190590 Der Evangelische Oberkirchenrat forderte seit 1905 alle Konsistorien Preußens zur Berichterstattung über die von ihnen unternommene Förderung der historischen Arbeit auf. Hier folgt der erste Bericht, der für Schlesien vorliegt. Der frühere General-Superintendent D. [David] Erdmann hat im Jahr 1882 den Verein für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens gegründet, der seitdem in eifriger Arbeit steht, gegenwärtig unter der Leitung des Pastors lic. theol. [Gerhard] Eberlein in Groß Strehlitz. Wir haben uns seine Förderung stets angelegen sein lassen. Seitens der Provinzialsynode ist ihm seit dem Jahre 1900 eine jährliche Beihilfe von 300 Mark zugewendet und diese von der XI. auf 600 Mark für die nächsten drei Jahre erhöht. Er gibt jährlich ein „Korrespondenzblatt“ heraus, in dem eine große Zahl von Spezialarbeiten aus der Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens gesammelt ist. Außerdem hat der Verein in diesem Jahre die Visitationsakten von Wohlau aus den Jahren 1656/57 veröffentlicht und beabsichtigt ebenso die demnächstige Herausgabe der Liegnitzer Visitationsakten von 1654/5 und 1674/5. Im Jahre 1883 ist auf Veranlassung des Königlichen Konsistoriums in den Diözesankonventen das Thema verhandelt: „Welche Bedeutung hat für den schlesischen Geistlichen die Beschäftigung mit der Geschichte der evangelischen Kirche in Schlesien in wissenschaftlicher und praktischer Beziehung?“ Die Verhandlungen hierüber haben auf den Betrieb ortskirchengeschichtlicher Arbeit fördernd eingewirkt und das Interesse auf die sorgfältige Sammlung und Bewahrung des geschichtlichen Materials in Pfarrund Ephoralarchiven hingelenkt. Es ist außerdem bei dem Bescheide auf diese Verhandlungen unsererseits den Geistlichen empfohlen, schon vorhandene KirchengemeindeChroniken fortzusetzen, und wo solche noch nicht vorhanden seien, neue anzulegen. Es ist dabei zugleich den Superintendenten zur Pflicht gemacht, bei den Visitationen in dieser Beziehung Nachfrage zu halten, gegebenen Falls die nötige Anregung und Anweisung zu geben und in ihren Berichten hierüber sich zu äußern. Die seit etwa einem Jahrzehnt sehr häufig eintretenden 150jährigen Jubelfeiern von Gemeinden und Bethäusern aus der Friedericianischen Zeit haben außerdem viel Anregung zur Abfassung von Spezialgeschichten einzelner Gemeinden oder zur Fortführung der bei den 100jährigen Jubelfeiern entstandenen Schriften gegeben. 90 Ebd., 7/5925, Bl. 17f.
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Wir bemerken, daß außerdem in der „Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Altertum Schlesiens“ manche Arbeit zur evangelischen Kirchengeschichte Schlesiens Aufnahme gefunden hat. Der Gedanke der Gründung eines „Schlesischen Provinzialarchivs für evangelische Kirchengeschichte“ ist kürzlich angeregt, befindet sich aber noch in den ersten Stadien der Erwägung. Anlage 6 Aussprache in der Sitzung des Evangelischen Oberkirchenrats gemeinsam mit dem Generalsynodalrat am 6. Dezember 1905 über die eingereichten Berichte der Konsistorien91 Wiedergegeben wird das Protokoll der Sitzung, nach dem dann der Vorsitzende einen etwas gekürzten Bericht an die Konsistorien sandte. Zu Punkt II der Tagesordnung „Wie kann die Arbeit für örtliche Kirchengeschichte in Gemeinden und Synodalbezirken angeregt und wie können die Ergebnisse solcher Arbeit durch Verwertung für die Provinzialkirche vor Zersplitterung bewahrt werden?“ erstattete Herr Ober-Konsistorialrat Liz. [Friedrich Gotthilf ] Wevers das Referat und beleuchtete zunächst die Bedeutung der Pflege örtlicher Kirchengeschichte für die Belebung der Dankbarkeit für die der evangelischen Kirche geschenkten reichen Segnungen, für die Stärkung des kirchlichen Gemeindebewußtseins, für die Erhaltung kirchlicher Tradition, die Weckung gemeindlichen Heimatsinnes und kirchlicher Heimatliebe, auch für die Aufgabe der kirchenregimentlichen Organe (insbesondere für eine dem besonderen Charakter der anvertrauten Gemeinde entsprechenden Wirksamkeit des einzelnen Geistlichen). Dabei wurde auch auf die erfahrungsmäßige Empfänglichkeit der Gemeinden für die Mitteilung der Ergebnisse solcher Forschungen näher hingewiesen. Auf Grund der zu E.O. 5442 erstatteten Berichte der Konsistorien gab Referent sodann eine eingehende Übersicht der für örtliche Kirchengeschichte in Gemeinden sowie für ihre Verwertung im Interesse der Provinzialkirche bisher geleisteten Arbeit. Zur weiteren Förderung dieser Arbeit in Gemeinden und Synodalbezirken regte Referent an, die Diözesan-Convente bzw. Synodalkonferenzen mit der Frage des Studiums der örtlichen Kirchengeschichte und der Bedeutung der Beschäftigung der Geistlichen mit der gemeindlichen und provinziellen Kirchengeschichte in wissenschaftlicher und praktischer Beziehung zu befassen, vielleicht auch den Kreissynoden einmal ein ähnliches Proponendum zu stellen. Von den Kreissynoden, die geeignete Persönlichkeiten als Vertrauensmänner in der Angelegenheit bestellen könnten, sei in erster Linie auf sorgfältige Sammlung und Bewahrung des kirchengeschichtlichen Materials zu achten. Durch die Presse, namentlich die viel gelesenen Sonntagsblätter, sei das Interesse in 91 Ebd., Bl. 40–43.
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weiteren Kreisen zu verbreiten. Auch in den Kandidatenprüfungen könnten entsprechende Anregungen gegeben, im Lehrvikariat und in den Predigerseminaren geeignete Unterweisungen geboten werden. Hinsichtlich der zweiten Frage, wie die Ergebnisse der örtlichen Arbeit durch Verwertung für die Provinzialkirche vor Zersplitterung bewahrt werden könnten, bemerkte Referent u. a., daß es erwünscht sei, wenn sich die Provinzialsynoden der Angelegenheit noch mehr als bisher annähmen, etwa durch Bildung von Kommissionen für örtliche Heimatkunde, Erstattung von Berichten über deren Tätigkeit, Veranstaltungen von Wanderversammlungen etc. Einige Provinzialsynoden hätten auch zum Teil erhebliche Geldmittel bewilligt. Auch den Generalsuperintendenten werde sich auf ihren Dienstreisen, bei Generalkirchenvisitationen usw. vielfältige Gelegenheit zur Förderung des Interesses an der Arbeit bieten. Schließlich wies Referent darauf hin, daß viele wichtige Quellen der örtlichen Geschichtsforschung noch wenig beachtet worden seien: Inschriften auf Grabsteinen, Glocken, Kanzeln, Altären und dergl., staatliche und provinzielle Archive, Rathausregistraturen, Kirchenbücher, Lagerbücher, alte Kirchenrechnungen, Papiere alter Familien usw. enthielten noch viele ungehobene Schätze, die des Fortganges der begonnenen Bestrebungen warteten. Praktische Anregungen zu ihrer Weiterführung werde der Evangelische Ober-Kirchenrat mit Dank entgegennehmen. In der Besprechung erkennt Generalsuperintendent D. [Otto Gottlob Alwin] Holtzheuer den Wert der Beschäftigung mit der örtlichen Kirchengeschichte an, hält es aber für bedenklich, die Kandidatenprüfungen mit einem Eingehen auf diese Arbeit zu belasten, warnt überhaupt vor einer Übertreibung der Bestrebungen und besorgt von der Bildung neuer Vereine für Kirchengeschichte eine ungesunde Vermehrung des schon zu weit gehenden Vereinslebens. Vizepräsident D. Freiherr [Hermann] von der Goltz entgegnet, daß das theologische Studium nicht mit einem Fach „Lokalkirchengeschichte“ belastet werden solle; eine ungesunde Vermehrung des Vereinswesens müsse jedenfalls vermieden werden. Gleichwohl sei der große Wert der Beschäftigung mit örtlicher Kirchengeschichte nicht in Frage zu ziehen. Die Geistlichen, die sich ihr widmeten, erwiesen sich selbst, ihrem Amt und ihrer Person, sowie der Gemeinde einen großen Dienst. Lebensbilder von Personen und Gemeindezuständen aus früherer Zeit, die sie auf Grund ihres Studiums der Gemeinde bieten könnten, seien stets des lebhaftesten Interesses sicher und bildeten dankbare Gegenstände für Vorträge bei der stets wachsenden Zahl geselliger Vereinigungen (Familienabende etc.). Der frühere Generalsuperintendent D. [Gustav] Nebe habe sich ein unvergängliches Verdienst dadurch erworben, daß er sowohl in Sachsen wie in Westfalen große Sammlungen aller auf die kirchliche Geschichte der Provinz bezüglichen Werke angelegt habe. Konsistorialrat D. [Hermann] Eilsberger teilt mit, daß in Ostpreußen eine von der Provinzialsynode 1902 gewählte Kommission bestehe, die es sich zur Aufgabe gestellt habe, mit den von einem Wohltäter zur Verfügung gestellten Mitteln die Herstellung wissenschaftlicher Werke über ostpreußische Kirchengeschichte zu fördern. Der
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zu bearbeitende Stoff sei überreich, das Interesse für die Publikationen bisher leider nur gering. Prediger Professor D. [Hermann] Scholz empfiehlt, neben etwaigen Familienabenden auch den Konfirmandenunterricht für die Weckung geschichtlichen Interesses zu benutzen; hin und wieder solle eine Stunde verwendet werden, um die Kinder zu den in der Kirche und in der Gemeinde befindlichen Denkmälern zu führen und sie mit deren Geschichte bekannt zu machen. Gymnasialdirektor Professor [Albert] Kahle macht Mitteilung von der Tätigkeit des westpreußischen Geschichtsvereins, der sich auch stets für westpreußische Kirchengeschichte interessiert habe. Von günstigem Erfolge sei die Tätigkeit des Provinzialvereins für innere Mission, der in einer größeren Zahl zur Massenverbreitung bestimmter kleiner Schriften heimatliche Kirchengeschichte behandelt habe. Konsistorialpräsident [Curt] Balan erwähnt das Werk eines Pfarrers [Albert] Werner, der darin eine kurz gefaßte Geschichte jeder Parochie in der Provinz Posen gebe.92 Er ziehe eine solche Zusammenstellung der praktischen Brauchbarkeit wegen einzelnen Monographien vor und empfehle, ähnliche Werke für die anderen Provinzen herzustellen. Der Herr Vorsitzende faßt das Ergebnis der Besprechung dahin zusammen, daß die Bestrebungen der Behörden, welche die Arbeit für örtliche Kirchengeschichte angeregt hätten, allseitig dankbar begrüßt und unterstützt worden seien. Die Arbeit müsse nicht nur auf Sichtung und Verwertung des vorhandenen Materials für die Vergangenheit, sondern auch auf Sammlung und Sicherung des Stoffes für die Zukunft gerichtet werden. Deshalb sei großer Wert darauf zu legen, daß die örtlichen Chroniken geordnet und dauernd auf dem laufenden gehalten und, wo sie noch nicht vorhanden, neu angelegt würden; daneben aber sei nach den Verhältnissen der einzelnen Provinzen darauf Bedacht zu nehmen, daß die Ergebnisse der örtlichen Arbeit durch Verwertung für die Provinzialkirche vor Zersplitterung bewahrt würden. Anlage 7 Bericht des Konsistoriums an den Evangelischen Oberkirchenrat vom 13. Oktober 192193 Seit unserm letzten Bericht vom Januar 1913 (I 182) ist in unserer Provinz in dem Interesse an der Pflege der örtlichen Kirchengeschichte keine Änderung eingetreten. Nach wie vor zeigen Geistliche und Laien lebendige Anteilnahme an der kirchengeschichtlichen Vergangenheit ihrer Gemeinden, deren Kenntnis in mannigfacher Weise durch Wort und Schrift verbreitet wird. 92 Werner, Albert: Geschichte der evangelischen Parochien in der Provinz Posen. Posen 1898 [Lissa 2 1904]. 93 Evangelisches Zentralarchiv Berlin, 7/5925 (ohne Blattzählung).
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Eine besondere Beschaffenheit haben die Bestrebungen zur Pflege der örtlichen Kirchengschichte durch den Krieg erhalten. Nur in wenigen Gemeinden hat der Krieg auf diese Bestrebungen hindernd eingewirkt, indem er diejenigen Persönlichkeiten, die sich mit der Pflege der Kirchengeschichte besonders befasst hatten, meist Pastoren und Lehrer, entweder zeitweilig oder dauernd den Gemeinden entzog. So waren in manchen Gemeinden in der Führung der Gemeinde-Chroniken gewisse Lücken eingetreten, die aber meist durch die Neubesetzung der Stellen ausgefüllt worden sind oder nicht ausgefüllt werden. In den die grosse Mehrzahl bildenden anderen Gemeinden hat der Krieg belebend auf das Interesse für die örtliche Kirchengeschichte eingewirkt. Das Gefühl, eine geschichtlich so ungemein wichtige Periode mitzuerleben, hat auch vermehrten Sinn für die geschichtliche Vergangenheit erweckt, und der Krieg selbst hat durch seinen mannigfachen Einfluss auf das Gemeindeleben einen neuen umfangreichen kirchengeschichtlichen Stoff erzeugt, der zusammen mit anderen geschichtlich bemerkenswerten Stoffen in Kriegschroniken gesammelt ist. Diese sind teilweise mit den Gemeindechroniken verbunden, teilweise aber auch als selbstständige Chroniken angelegt worden. Die durch den Krieg hervorgerufene Steigerung des Gemeinschaftsgefühls, das sich in zahlreichen Gottesdiensten, Betstunden, Versammlungen, Familienabenden äusserte, ist auch der Pflege der Kirchengeschichte zugute gekommen. Denn sehr häufig wurden solche Zusammenkünfte dazu benutzt, um sei es mehr vorübergehend sei es ausführlich von der kirchengeschichtlichen Vergangenheit zu erzählen, um daraus Mut und Trost für die Gegenwart zu schöpfen. Als eine ganz neue Gelegenheit zur Einführung in die Kirchengeschichte der Gemeinde oder des Orts sind nach der Revolution hie und da auch die Volkshochschulen oder ähnliche Errichtungen benutzt worden. Auch bei Kirchweihen und Erneuerungsfeiern von Gotteshäusern, bei Vereinsfesten, bei Jubiläen niederer und höherer Schulen sind den Teilnehmern die Ergebnisse der kirchengeschichtlichen Forschung mitgeteilt worden. Es ist ganz natürlich, dass eigentlich neue Gebiete der kirchengeschichtlichen Vergangenheit während des Krieges nur wenig in Angriff genommen werden konnten. Doch hat es daran nicht ganz gefehlt, namentlich in den Städten, und seit dem Friedensschluss haben neue Studien eingesetzt, deren Ergebnisse unseren Gemeinden zugute kommen werden. Als Sammelpunkte dieser Forschungen ist nach wie vor der Verein für die Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens zu nennen, der nach dem Friedensschluss mit neuer Rührigkeit ans Werk gegangen ist, wenn seine Veröffentlichungen natürlich auch durch die ungeheuren Druckkosten eingeschränkt werden mussten. Ihm sind von den seit dem letzten Bericht gehaltenen Provinzialsynoden die jährlichen Beihilfen immer wieder bewilligt worden. Einen besonderen Nutzen zieht die Pflege der örtlichen Kirchengeschichte aus der im Kriege gewachsenen Zahl der Gemeindeblätter. Denn hier ist eine bequeme Gelegenheit geboten, die Ergebnisse ihrer Erforschung an einen weiten Kreis von Gemeindegliedern heranzubringen. Da die Bemühungen, noch mehr Gemeindeblätter zu gründen, fortgesetzt werden, ist zu erwarten, dass dadurch auch die Kenntnis der kirchengeschichtlichen Vergangenheit in den Gemeinden noch vermehrt wird. Ausserdem sind
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in besonderen Festschriften, Jubiläen von Kirchen, Schulen und Gemeinden – z. B. der Gemeinde Anhalt in Oberschlesien – in Gymnasialprogrammen, in Stadtblättern, in Volkskalendern und in historischen Zeitschriften auch in der vorliegenden Berichtsperiode kirchengeschichtliche Ereignisse und Verhältnisse in reichem Masse zur Kenntnis der Gemeinden gebracht worden. Auch der Konfirmandenunterricht wird von manchen Geistlichen dazu benutzt, um die Konfirmanden in die Kirchengeschichte ihres Ortes wenigstens kurz einzuführen. In einer Diözese (Nimptsch) ist der Beschluss gefasst worden, jede Diözesan-Konferenz mit einem Vortrag über ein Thema aus der örtlichen Kirchengeschichte zu beginnen. In einer anderen wird eine kurze gedruckte Ortschronik an fleissige Konfirmanden bei der Konfirmation verteilt. Was nun die Sammlung von gegenwärtigem Stoff für die Forschung der Zukunft betrifft, so sind seit unserem letzten Bericht zunächst die Gemeinde-Chroniken weitergeführt, teilweise auch neu Chroniken dieser Art erst eingerichtet worden. Mancherorts wurden vom Geistlichen die einzelnen Familien dazu angeregt, die Geschichte ihrer Familie zu erforschen und Stammbäume aufzustellen. Den Ergebnissen der Forschungen wurden dann die Gemeindechroniken eingefügt. Ganz besonders haben aber die Bemühungen der Geistlichen naturgemäss der Anlage von Kriegschroniken gegolten. Hier ist ein sehr reicher Stoff gesammelt worden, der für die Geschichtsschreiber der Zukunft von grosser Bedeutung ist. Diese Kriegschroniken sind durchaus nicht blos als Register angelegt, in welche die Namen der Kriegsteilnehmer der Gefallenen und Gefangenen eingetragen wurden, sondern sie sind Darstellungen des ganzen Lebens der Gemeinden, wie es sich sowohl in religiös-sittlicher und kirchlicher als in mancher anderen Beziehung durch den Einfluss des Krieges gestaltet hat. Sie schildern die Stimmungen der Gemeinde und der einzelnen Familien bei erhebenden und niederdrückenden Nachrichten, das Erwachen des religiösen Interesses, die sittlichen Folgen, vor allem auf dem Gebiet der Ehe und der Kindererziehung, sie berichten von den mannigfachen kirchlichen Einrichtungen zur Pflege des Gemeindelebens im Kriege, von der Liebestätigkeit in der Gemeinde, von den Ergebnissen der Kriegsanleihen, von den wirtschaftlichen Verhältnissen, von den Abschiedsfeiern bei der Abgabe der Glocken und vielen anderen Ereignissen und Zuständen im Leben der Gemeinden. Diese Chroniken sind dann meist auch noch um eine Darstellung des Gemeindelebens in der Revolutionszeit vermehrt worden, so dass von Anfang des Krieges an bis zu seinen traurigen Folgen ein sehr wichtiges Kulturbild geliefert worden ist, das über den Rahmen der Kirchengeschichte hinaus Bedeutung besitzt. So ist das geschichtliche, speciell kirchengeschichtliche Interesse unter den Geistlichen und in den Gemeinden unseres Bezirks auch in der abgelaufenen Berichtszeit rege geblieben und wir werden es uns angelegen sein lassen, es auch in Zukunft wach zu erhalten.
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Der „Literarisch-Slawische Verein“ in Breslau (1836–1886) als historische Gesellschaft I. Einführung Der „Literarisch-Slawische Verein“ war ein Zusammenschluss von Studenten der Universität Breslau mit autodidaktischem Charakter, der, wie andere akademische Vereine auch, mit der Erlaubnis und unter der Kontrolle der Universitätsbehörden gegründet wurde. Seinem Statut gemäß stand er allen slawischsprachigen Studenten offen. Das ursprüngliche Ziel des Vereins war die Förderung des Interesses für Sprachen, Literatur, Geschichte und Rechte der slawischen Nationen. Mit der Zeit entwickelte er sich jedoch zu einer Vereinigung der polnischen Jugend und konzentrierte sich auf polnische Geschichte und Literatur. Dies war nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass es sich bei den Kuratoren der Gesellschaft – Wojciech Cybulski,1 der diese Funktion von 1860 bis 1867 ausübte, und Władysław Nehring, der von 1868 bis zur Auflösung des Vereins 1886 amtierte – um polnische Geisteswissenschaftler handelte. In der gesamten Zeit seines Bestehens zählte der Verein insgesamt 907 Mitglieder. Freilich schwankte die Mitgliederzahl von Jahr zu Jahr: So zählte der Verein beispielsweise 41 Studenten im Jahr 1862 und 51 im Jahr 1885; zum Zeitpunkt der Auflösung, 1886, waren es noch genau dreißig Studenten. Der Verein war stets darauf bedacht, seinen wissenschaftlichen Charakter zu pflegen und hervorzuheben. Darüber hinaus war er unter sämtlichen wissenschaftlichen Kreisen und studentischen Organisationen in Breslau nicht nur einer der aktivsten, sondern mit seiner fünfzigjährigen Tätigkeit auch einer der beständigsten Zusammenschlüsse. Zu seinen Errungenschaften zählen die Gründung einer Bibliothek, die zum Zeitpunkt der Auflösung 2.263 Bände zählte,2 die Veröffentlichung von zwei Heften der Zeitschrift Znicz in den Jahren 1851 und 1852 sowie die zweimalige Herausgabe des Pamiętnik (Tagebuch): einmal zum 50. Doktorjubiläum von Professor Jan Evangelista Purkyně im Jahr 1869, ein weiteres Mal zum 50. Jubiläum der Vereinsgründung im Jahr 1886 (Abb. 1). In eben diesem Jubiläumsjahr ordneten die preußischen Behörden die Auflösung des Vereins an. Die Gründe hierfür lagen in den politischen Aspekten der Vereinstätigkeit: der Propagierung von Freiheit und Demokratie, der Betonung der Polonizität 1 Zu Cybulski vgl. Januszewski, Bernard Woodrow: Wojciech Cybulski. Działalność polityczna, pedagogiczna i naukowa. Wrocław 1974 (Monografie Śląskie Ossolineum 26). 2 1848 umfasste die Sammlung lediglich 330 Bände, 1868 waren es dann schon 1.390 und 1884 sogar 2.181. Zu Beginn durften nur die Vereinsmitglieder die Bibliothek nutzen. Seit 1869 wurden dort gegen Zahlung einer Nutzungsgebühr auch externe Leser zugelassen. In den 1880er Jahren durften die Mitglieder aller polnischen akademischen Vereine in Breslau die Büchersammlung benutzen.
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Paweł Jaworski Abb. 1: Aus Anlass des fünfzigjährigen Bestehens des „Literarisch-Slawischen Vereins“ (Towarzystwo LiterackoSłowiańskie) an der Universität B reslau, der sich um die Vermittlung von Geschichtskenntnissen über Polen bemühte, erschien 1886 eine umfangreiche Festschrift. Bildnachweis: Privatbesitz.
der preußischen Ostprovinzen sowie der Feier der Jahrestage der nationalpolnischen Aufstände von 1830, 1848 und 1863.3 Die bedeutenden Errungenschaften des Vereins weckten das Interesse verschiedener Historiker. Diverse Beiträge entstanden zu diesem Thema; die Tätigkeit des Vereins wurde in mehreren Arbeiten zur Geschichte der Universität in Breslau und der dort im 19. Jahrhundert lebenden Polen berücksichtigt.4 1973 wurde überdies eine Monografie zur Geschichte des Vereins veröffentlicht, die sich ausführlich mit dem Wirken seiner einzelnen Mitglieder auseinandersetzt.5 Da das Archiv der Organisation nur teilweise erhalten ist, bilden vor allem die wenigen veröffentlichten Vorträge, publizistische Artikel zur Vereinstätigkeit sowie Memoirenliteratur die Grundlage für die Untersuchung 3 Harasimowicz, Jan (Hg.): Encyklopedia Wrocławia. Wrocław 2000, 857. 4 Mikulski, Tadeusz: Towarzystwo Literacko-Słowiańskie we Wrocławiu. In: Maleczyńska, Ewa (Hg.): Oblicze Ziem Odzyskanych. Dolny Śląsk. Wrocław/Warszawa 1948, 3–29; Pater, Mieczysław: Historia Uniwersytetu Wrocławskiego do roku 1918. Wrocław 1997 (Acta Universitatis Wratislaviensis 1945). 5 Achremowicz, Elżbieta/Żabski, Tadeusz: Towarzystwo Literacko-Słowiańskie we Wrocławiu 1836–1886. Wrocław u.a. 1973 (Biblioteka Wrocławska 15).
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der Vereinsgeschichte – dies gilt insbesondere für die Periode nach 1844, für die ein Fehlen interner Quellen (namentlich der Protokolle von Vereinssitzungen) zu beklagen ist. Im Folgenden liegt das Augenmerk vor allem auf den Forschungsinteressen der Vereinsmitglieder im Bereich der Geschichte sowie auf der Rolle des Historischen Seminars an der Universität Breslau bei der Vorbereitung der Referenten.
II. Der „Literarisch-Slawische Verein“ als wissenschaftliche Gesellschaft Der Verein wurde 1836 von dem aus Großpolen stammenden Medizinstudenten Teofil Matecki auf Anregung von Jan Evangelista Purkyně6 gegründet. Dem Verein gehörten hauptsächlich junge Leute aus bürgerlichen Intellektuellenschichten an, eine kleinere Gruppe bildeten Söhne von – teilweise adeligen – Gutsbesitzern. Am zahlreichsten vertreten waren Studenten der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau mit den Schwerpunkten Philosophie, Philologie und Geschichte, vereinzelt fanden sich aber auch Medizin- und Jurastudenten. Die meisten Mitglieder stammten, wie Matecki selbst, aus Großpolen, weitere aus Pommern. Sie hatten bescheidene Mitgliedsbeiträge zu entrichten, die für den Kauf von Büchern für die eigene Bibliothek verwendet wurden (Abb. 2).7 Sie waren zudem verpflichtet, wissenschaftliche Arbeiten vorzulegen, die anschließend von allen Vereinsmitgliedern beurteilt wurden. Die Herausgeber des Pamiętnik brüsteten sich damit, dass sie „die Aufgabe, die sich [der Verein] gestellt hat, nämlich die beitretenden Mitglieder in den genannten Wissenschaftszweigen zu bilden – am sorgfältigsten erfüllt haben“.8 Zur Bestätigung zitierte man einen Brief des Senats der Universität an den Kurator Professor Wojciech Cybulski aus dem Jahr 1862: „Von dem Jahresbericht des Literarisch-Slawischen Vereins, welchen Ew. Hochwohlgeb. als Curator des Vereins uns unter dem 16. August d.J. gefälligst eingereicht haben, haben wir gerne Kenntnis genommen und uns zu unserer Befriedigung überzeugt, dass derselbe Seinen literarischen Zwecken eine fortgesetzte lebhafte Theilnahme widmet.“9 Ab 1842 wurde die Präsentation wissenschaftlicher Arbeiten, die den intellektuellen Anforderungen des Vereins zu genügen hatten, zur Beitrittsvoraussetzung erhoben. Da 6 �������������������������������������������������������������������������������������������� Zu Purkyně vgl. Zácek, Václav: Jan Evangelista Purkyně. Praha 1987 (Odkazy pokrokovych osobnosti nasi milunosti 85); Amerling, Karel: Jan Evangelista Purkyně. Badatel, reformátor a buditel. Praha 1918; Kirsche, Walter: Jan Evangelista Purkyňe 1787–1868. Ein Beitrag zur 200. Wiederkehr seines Geburtstages. (Ost-)Berlin 1989 (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR 1988/5). 7 ����������������������������������������������������������������������������������������� Der Verein bemühte sich darum, den Buchbestand durch Schenkungen auszubauen. Deshalb korrespondierte man mit der Bibliothek in Kurnik, der Bibliothek Ossolineum in Lemberg sowie mit verschiedenen Herausgebern und Autoren. Vgl. Reiter, Jan: Korespondencja Towarzystwa Literacko-Słowiańskiego z Biblioteką Kórnicką. In: Roczniki Biblioteczne 4 (1960) 583–594. 8 Pamiętnik Towarzystwa Literacko-Słowiańskiego przy Uniwersytecie Wrocławskim wydany w roku złotego jubileuszu. Wrocław 1886, 16f. 9 Ebd.
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Paweł Jaworski Abb. 2: Der „Literarisch-Slawische Verein“ (Towarzystwo LiterackoSłowiańskie) an der Universität Breslau war stets darauf bedacht, seinen wissenschaftlichen Charakter zu pflegen und hervorzuheben. Dazu diente auch die Einrichtung einer eigenen Bibliothek, zu der 1872 auf Polnisch ein in Posen gedruckter Katalog erschien. Bildnachweis: Privatbesitz.
in der Folge die Zahl der polnischen Studenten zu sinken begann, wurde diese Regelung jedoch sukzessive wieder abgeschafft. Um das Profil der Forschungsarbeiten zu vereinheitlichen, führte man 1860 die Regel eines Semester-Themenplans ein. Die Vereinsmitglieder hielten es für unabdingbar, sich fachlich zu spezialisieren und die Referate thematisch aufzuteilen. In der Ausgabe des Znicz von 1851 kündigte man eine Korrektur des Statuts sowie die Dreiteilung des Vereins in eine Historische, eine Juristische und eine Literarisch-Philologische Sektion an – Vorhaben, die jedoch nicht umgesetzt wurden. Der Verein geriet daraufhin in eine Krise, die sich in sinkenden Mitgliederzahlen manifestierte. 1853 lösten die Behörden den „Literarisch-Slawischen Verein“ auf und versiegelten die Bibliothek. Bereits Ende des Jahres wurde der Verein zwar wieder reaktiviert, nunmehr allerdings unter der Aufsicht eines Beauftragten der Universität. 1860 nahm man das Projekt einer Vereinsreform abermals auf. Stefan Pawlicki schlug die Gründung einer Philologischen und einer Historischen Sektion sowie die chronologische Aufteilung der zu behandelnden Inhalte vor. Ihm zufolge sollte die Philologische Sektion sich auf das Altertum konzentrieren, während die Historische Sektion sich mit dem „geschichtlichen Leben der Nation“ beschäftigen sollte.10 1873 10 Ebd., 225.
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entstand eine Medizinische Sektion, die die polnische ärztliche Terminologie analysieren sollte, 1878 schließlich eine Juristische Sektion, in der die Studenten die Besonderheiten des polnischen Rechts und der juristischen Begrifflichkeiten erforschen sollten. 1881 wurde die Polnisch-Philologische Abteilung des „Literarisch-Slawischen Vereins“ gegründet, deren Arbeiten sich auf polnische Literatur und Grammatik konzentrieren sollten. Alle drei Sektionen hatten aufgrund der großen Mobilität der Studenten Schwierigkeiten, eine kontinuierliche Arbeit sicherzustellen; die letzte von ihnen war lediglich ein Jahr lang aktiv. Die Treffen der einzelnen Abteilungen fanden alle zwei bis drei Wochen statt. Die 1883 entstandene Historisch-Philologische Sektion entwickelte sich anfangs vielversprechend. Ihre Mitglieder trafen sich sogar wöchentlich und hielten Referate, wobei jeder Vortrag an den jeweils vorherigen anknüpfte. Nach drei Semestern musste die Tätigkeit dieser Abteilung allerdings wieder eingestellt werden. 1885 bemühte man sich, zusätzlich eine Philosophische Sektion ins Leben zu rufen, doch auch ihre Aktivität erwies sich als kurzlebig. Jedes Vereinsmitglied war verpflichtet, ein Referat vorzubereiten und innerhalb von sechs Wochen nach dem Beitritt das Thema seines Vortrags bekanntzugeben. Die Selbstbeurteilung der vortragenden Mitglieder war meist von Bescheidenheit geprägt – im Pamiętnik hieß es: „Ein Urteil über den inneren Wert der Vorlesungen steht uns nicht zu: Wir dürfen nur erwähnen, dass manche von ihnen, die gedruckt wurden, sich einer positiven Beurteilung erfreut haben.“11 Es ist anzunehmen, dass die wertvollsten und populärsten Texte veröffentlicht wurden. Zum wissenschaftlichen Ertrag des „Literarisch-Slawischen Vereins“ sind rund 770 Referate zu rechnen, die während der Treffen vorgetragen wurden.
III. Historische Themen in der wissenschaftlichen Tätigkeit des Vereins Die meisten Vorlesungen betrafen historische Themen. Wissenschaftliche Grundlage dieser Vorträge war vornehmlich das Werk des herausragenden polnischen Historikers Joachim Lelewel sowie des slowakischen Gelehrten, Dichters und Historikers Pavol Jozef Šafářik,12 des Verfassers der Abhandlung Starożytności słowiańskie (Slawische Altertümer). Die Forschungen der polnischen Studenten wurden an der Breslauer Universität von einigen der dort tätigen Professoren unterstützt, wobei die in dieser Hinsicht wichtigste Rolle wohl der Historiker Richard Roepell spielte.13 Als Geschichtswis11 Ebd., 18. 12 Zu Šafářik vgl. Smirnov, Lev N.: Pavel Jozef Šafarik. K 200-letiju so dnja roždenija. Moskva 1995; Novotný, Jan: Pavel Josef Šafařík. Praha 1971; Myl’nikov, Aleksandr S.: Pavel Šafarik vydajuščijsja učenyj-slavist. Moskva 1963. 13 Aus der reichen deutschen wie polnischen Literatur zu Roepell vgl. Barelkowski, Matthias: Die Teilungen Polen-Litauens interpretieren. Richard Roepell und Jakob Caro – zwei deutsche „Po-
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senschaftler besaßen ferner Gustav Adolf Harald Stenzel und Joseph August Kutzen einen verdienstvollen Rang an der Universität.14 Ihre Veranstaltungen wurden für die polnischen Studenten zu einer Schule der historischen Quellenarbeit. Hier entwickelte August Mosbach, der für den Bedarf des Vereins zahlreiche Vorlesungen zur Geschichte Polens und Schlesiens hielt, als Schüler Stenzels in den Jahren 1836 bis 1839 seine wissenschaftlichen Fähigkeiten. Wertvoll war beispielsweise seine Ende 1837 für eine Vereinsveranstaltung vorbereitete Studie „Rys krótki historii słowiańskiej podług Szafarzyka“ (Kurzer Abriss der slawischen Geschichte nach Šafářik).15 Nur wenige der innerhalb des Vereins entstandenen Arbeiten bezogen sich auf die schlesische Kultur, diese waren jedoch – wie die Autoren der einzigen Monografie zur Geschichte des „Literarisch-Slawischen Vereins“ angemerkt haben – vor allem wegen ihres politischen Hintergrunds von großer Wichtigkeit. Besonders die Periode, in der Nehring als Kurator fungierte, zeichnete sich durch eine hohe Dichte an historischen Fragestellungen aus, wobei die „privilegierte Stellung der Geschichte Polens [...] und der Geschichte der polnischen Literatur“16 deutlich wurde. Pawlicki betonte, dass „nur die tiefe Kenntnis unserer Vergangenheit uns einerseits vor schon einmal begangenen Fehlern bewahrt und andererseits das stärkste Schutzschild gegen die geistigen (und dies sind die gefährlichsten) Anschläge unserer Feinde wird“.17
lenhistoriker“ zwischen Wissenschaft und Politik. In: Bömelburg, Hans-Jürgen/Gestrich, Andreas/Schnabel-Schüle, Helga (Hg.): Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions- und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen. Osnabrück 2013, 105–154; Widawska, Barbara: Richard Roepell (1808–1893) und Jacob Caro (1836–1904) als deutsch-polnische Kulturvermittler. Zu ihrem Briefwechsel mit polnischen Gelehrten. In: Brandt, Marion (Hg.): Solidarität mit Polen. Zur Geschichte und Gegenwart der deutschen Polenfreundschaft. Frankfurt a.M. 2013 (Colloquia Baltica. Beiträge zur Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas 25), 125–146; Gerlich, Hubert: Organische Arbeit und nationale Einheit. Polen und Deutschland (1830–1880) aus der Sicht Richard Roepells. Münster 2004 (Arbeiten zur Geschichte Osteuropas 13); Żerelik, Rościsław: Jeszcze o związkach Richarda Roepella z uczonymi polskimi w świetle nieznanych listów Aleksandra Batowskiego. In: Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka 45/4 (1990) 525–535; Knot, Antoni: Ryszard Roepell 1808–1893 (Związki z Polską). In: Przegląd Zachodni 9/1 (1953) 108–168. 14 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Bahlcke, Joachim: Die Geschichtswissenschaft an der Universität Breslau 1811 bis 1945. Fachentwicklung – Personalstand – Forschungsschwerpunkte. In: Jahrbuch für schlesische Kultur und Geschichte 53/54 (2012/13) 569–588. Speziell zur Rolle Kutzens vgl. Węclewski, Stanisław/ Mańkowski, Alfons: Pamiętnik Stanisława Węclewskiego, byłego profesora gimnazjów chełmińskiego i chojnickiego. Pelplin 1933, 60, 69. 15 Ergetowski, Ryszard: August Mosbach (1817–1884). Wrocław/Warszawa/Kraków 1968 (Monografie z dziejów nauki i techniki 44); Mosbach arbeitete drei Jahrzehnte lang an einer Abhandlung über Godysław Pawel, einen polnischen Chronisten aus dem 13. Jahrhundert; 1872 legte er sie – mit Unterstützung der Breslauer Professoren Roepell und Caro – erfolgreich der Universität Jena als Dissertation vor. 16 Achremowicz/Żabski: Towarzystwo, 19. 17 Ebd., 226.
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Während der Vereinstreffen diskutierte man auch über andere historiografische Werke aus der Epoche. Am 16. Januar 1840 behandelte Jan Janiszewski in einem Referat unter dem Titel „Ist die ‚Historia‘ von Naruszewicz dasjenige für die Nation, was sie sein sollte?“ das genannte, von Adam Naruszewicz 1836 veröffentlichte Werk. Ein ähnlicher Vortrag mit dem Titel „Kilka myśli o pisaniu historii“ (Einige Gedanken zur Geschichtsschreibung) wurde am 26. Februar 1841 von Roman Kurnatowski gehalten. Immer wieder wandten die Vorträge sich spezifischen Fragestellungen zur Geschichte Polens zu. Exemplarisch genannt seien an dieser Stelle die Vorträge von Marceli Bniński: „O czynach Chodkiewicza“ (Über die Taten von Chodkiewicz, 26. Mai 1837), Aleksander Szukiewicz: „Trzy epoki nowszej historii“ (Drei Epochen der neueren Geschichte, 2. November 1838) und August Mosbach: „Dzieje Polski pod Piastami“ (Geschichte Polens unter den Piasten, 7. März 1839). 1847 wurde in der Gazeta Kościelna (Kirchenzeitung) Symforian Tomickis Studie „O wprowadzeniu chrześcijaństwa do Słowian“ (Von der Einführung des Christentums bei den Slawen) veröffentlicht, in der der Verfasser die Bedeutung des Einflusses des griechisch-katholischen Christentums unter den slawischen Völkern in Frage stellte und sich damit in die zeitgenössische Debatte um die Idee des Panslawismus einschaltete. In den Jahren 1844 bis 1848 wurden insgesamt 55 Vorträge gehalten. Die meisten von ihnen kreisten um historische Fragestellungen und befassten sich mit neueren Problemen aus der Geschichte der slawischen Völker. Zu nennen sind besonders „Rzut oka na koleje Słowian i historię ich oświaty“ (Ein Blick auf den Schicksal der Slawen und die Geschichte ihres Bildungswesens), „O Słowianach“ (Über die Slawen) und „Kilka uwag nad położeniem teraźniejszym Czechów“ (Einige Bemerkungen zur gegenwärtigen Lage der Tschechen). Leon Wegner befasste sich in seinen Vorlesungen mit der polnischen Maiverfassung von 1793: „O konstytucji 3-go Maja“ (Über die Verfassung des 3. Mai); „Wstęp do konstytucji 3-go Maja“ (Einführung zur Verfassung des 3. Mai); „Konstytucja 3-go Maja“ (Die Verfassung des 3. Mai): 1865 fasste er seine Einzelbefunde zu diesem Thema in einer größeren Darstellung zusammen.18 Eine der im Umfeld des Vereins entstandenen Abhandlungen trug den Titel „O sprowadzaniu Krzyżaków do Prus i stycznościach ich z Polakami aż do roku 1410“ (Über die Berufung der Kreuzritter nach Preußen und deren Berührung mit den Polen bis zum Jahr 1410). Ihr Autor entstammte mit großer Wahrscheinlichkeit dem Kreis um Roepell, dem ersten deutschen Wissenschaftler in Schlesien, der polnische Quellen benutzte und die Beziehungen zwischen dem Deutschen Orden und dem polnischen Staat vorurteilslos und ohne einseitige Parteinahme beschrieb. Das einzige Referat aus den 1840er Jahren, das im Druck erhalten ist, ist die Arbeit „Zjazd Maksymiliana I cesarza z Władysławem królem węgierskim i Zygmuntem I królem polskim (1515)“ (Die Zusammenkunft Kaiser Maximilians I. mit dem ungarischen König Ladislaus und dem polnischen König Sigismund I., 1515) von Teofil Berwiński, einem Schüler Roe18 Wegner, Leon: Dzieje dnia trzeciego i piątego maja 1791. Poznań 1865.
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pells. Die Studie, deren Quellen Berwiński sorgfältig zusammengetragen hatte, machte deutlich, in welchen politischen Situationen mit historischen Rechten argumentiert und so die Vergangenheit für Zwecke der Gegenwart instrumentalisiert wurde. Der damals verbreiteten Betrachtungsweise gemäß war Berwiński von der Unabwendbarkeit historischer Prozesse überzeugt.19 Nach Tadeusz Żabski „verknüpften die Referenten die Methodik Roepells mit der Historiosophie Lelewels und machten sich mit deren Hilfe ein Bild von der Geschichte Polens. Sie berührten oft Themen von allgemeinem Charakter, um in der Vergangenheit des Landes die Antwort auf die Probleme des gegenwärtigen politischen Lebens zu finden, und sehr sorgfältig behandelte Einzelthemen, um die immer noch lebendigen Fragen zu klären.“20 In den Jahren 1848 bis 1855 wurden 31 historische Vorträge und 37 weitere Referate aus anderen Wissenschaftszweigen gehalten. In den folgenden fünf Jahren, bis 1860 also, bezogen sich immerhin 29 von insgesamt 95 Vorlesungen auf Fragestellungen zur Geschichte Polens. Diese betrafen die Piastenzeit sowie die Epoche der Wahlkönige. Auffallend ist dagegen der Mangel an Themen zur Jagiellonenzeit. Es wurden Referate zur Geschichte des polnischen Schulwesens gehalten, die inhaltlich vermutlich auf den vier Bänden von Józef Łukaszewicz’ Werk Historia szkół w Koronie i Wielkim Księstwie Litewskim od najdawniejszych czasów aż do roku 1794 (Geschichte der Schulen im Königtum Polen und im Großfürstentum Litauen von der ältesten Zeit bis 1794) beruhten, das in den Jahren 1849 bis 1851 in Posen veröffentlich worden war. Seit Anfang der 1860er Jahre erweckte dann das Kosakenland das größte Interesse. Man beschäftigte sich ferner mit Lelewels Theorie der adeligen Gemeindeherrschaft. In dieser Periode nahmen die historischen Studien wohl den wichtigsten Platz in der Bildungsarbeit des Vereins ein. In den folgenden Jahren war die Geschichte Polens im 17., 18. und beginnenden 19. Jahrhundert Hauptgegenstand des Interesses; die Behandlung der polnischen Frage während des Wiener Kongresses bildete dabei den chronologischen Abschluss. Auf die politische Geschichte – die Kriege gegen das Osmanische Reich, die Konflikte mit den Kosaken, die sächsische Periode, die Konföderation von Bar, den Vierjährigen Sejm und die Verfassung des 3. Mai – konzentrierte man sich vor allem dann, wenn man nach den Ursachen für den Zerfall des polnischen Staates fragte. Dies war nicht zuletzt einer Reihe damals erschienener Veröffentlichungen zu diesem Problemkreis geschuldet. Bemerkenswert ist, dass mit der steigenden Zahl der Mediziner unter den Vereinsmitgliedern auch die Medizingeschichte zum Thema wurde, wenngleich sie zu keinem Zeitpunkt ein vorrangiges Arbeitsgebiet darstellte. Um 1870 trat die politische Geschichte zugunsten der Kulturgeschichte in den Hintergrund, bevorzugte Themen waren der Jesuitenorden, die Reformation, Erziehung und Bildung sowie historische Fragen „Kongresspolens“, also Russisch Polens. Überdies bemühte man sich, die Jubiläen, die mit den Biographien herausragender Polen verbun-
19 Achremowicz/Żabski: Towarzystwo, 133f. 20 Ebd., 134.
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den waren, angemessen zu würdigen. Alljährlich im Wintersemester wurde ein Fest zu Ehren von Adam Mickiewicz gefeiert, begleitet von Vorlesungen zu dessen Leben und Werk. 1873 feierte man den 400. Geburtstag des Astronomen Nikolaus Kopernikus, 1879 das 50. Jubiläum der wissenschaftlichen und literarischen Tätigkeit Józef Ignacy Kraszewskis. 1884 widmete man dem Dichter Jan Kochanowski ähnliche Feierlichkeiten zu dessen 300. Todestag. Mehrere Treffen der Historischen Sektion wurden 1883 mit Analysen der einzelnen Abschnitte der Historia Poloniae von Jan Długosz eröffnet. Anschließend diskutierte man die Werke von Jan Kochanowski. Es war Brauch, die zur Diskussion stehenden Fragen auf einen Zettel zu schreiben, der dann von den einzelnen Mitgliedern in einen speziellen Kasten geworfen wurde, aus dem der Sektionsvorsitzende jeweils zwei Vorschläge auswählte. Wenn sich das Problem als zu anspruchsvoll erwies, wurde eine Person zur Ausarbeitung einer umfangreichen Antwort verpflichtet. Im Pamiętnik findet sich ein konkretes Beispiel: Aus der Beschäftigung mit der Frage, welche Münzen im 15. Jahrhundert in Polen geprägt worden seien, gingen zwei Referate hervor. Konstanty Hoszowski hielt den Vortrag „Wiadomości historyczno-prawnicze w przedmiocie rzeczy menniczej w dawnej Polsce“ (Historisch-rechtliche Nachrichten zum Münzwesen im alten Polen), während Franciszek Piekosiński zum Thema „O mennicy i stopie menniczej w Polsce w XIV i XV wieku“ (Über das Münzwesen und den Münzfuß in Polen im 14. und 15. Jahrhundert) referierte.21 Überdies befasste man sich mit der Verifizierung sagenhafter Geschichtsüberlieferungen. Kazimierz Römer etwa konzentrierte sich auf die populäre Sage von „Krak und Wanda“ und bediente sich für seine Analyse der philologisch-etymologischen Vergleichsmethode. Er untersuchte den Inhalt der Sage anhand der Chronik des Magisters Wincenty Kadłubek und des im 15. Jahrhundert von Jan Dąbrówka hierzu verfassten Kommentars sowie der Chronik des Ortes Boguchwała. Am Ende konnte er aufgrund unumstößlicher historischer Zeugnisse aufzeigen, dass die Sage größtenteils nicht mit den historischen Tatsachen übereinstimmte.22 Bolesław Sikorski dagegen bemühte sich um die Verifizierung der Schilderung der Schlacht auf dem Hundsfeld bei Breslau und wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich bei Gallus Anonymus keine Erwähnung eines solchen Ereignisses finde: „Es wäre schwer anzunehmen, dass Gallus, der die Taten von [Bolesław] Schiefmund in so lebhaften Farben darstellte, ein solches, umso mehr für ihn selbst herausragendes Ereignis übergehen würde.“23 Die Beschreibung der Schlacht sei erst in der Chronik Wincenty Kadłubeks zu finden, die Sikorski freilich zu Recht kritisch betrachtete: „Wie überall in der Chronik von Kadłubek begegnen wir auch hier Anachronismen, schwülstiger Ausdrucksweise, Krassheit der Bilder und rhetorischen Wendungen, die die Sa21 Pamiętnik Towarzystwa Literacko-Słowiańskiego, 35. 22 Römer, Kazimierz: Podanie o Kraku i Wandzie. In: Biblioteka Warszawska 3 (1872) 1–26. 23 Sikorski, Bolesław: O bitwie na Psiem Polu i o nazwisku. In: Biblioteka Warszawska 3 (1873) 36–50, hier 38.
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che verschleiern und aus ihr mehr einen Roman als ein historisches Ereignis machen.“24 Sikorski zeigte auf, dass auch diese Sage nicht mit den tatsächlichen Ereignissen übereinstimmte, und gab zudem zu bedenken, ob die Berichte Kadłubeks möglicherweise auf mündlichen Überlieferungen beruhten. In seinem Fazit verwies er auf die Vorteile, die eine Falsifizierung vermeintlich historischer Ereignisse mit sich bringe: „Mit der Streichung der Schlacht auf dem Hundsfeld aus der Geschichte gewinnt die Wahrheit, und unser geschichtlicher Ruhm wird dadurch nicht kleiner, ganz im Gegenteil, dadurch gewinnt er erst eine feste, durch Zweifel nicht berührte Grundlage.“25 Es zeigt sich, dass die historischen Forschungen des Vereins im Grunde auf polnische Themen beschränkt blieben. Der Name „Literarisch-Slawischer Verein“ sollte kein Aufsehen bei den Behörden erregen und keine politischen Assoziationen wecken,26 obwohl die Vortragenden zum Teil selbst an den ideologischen und nationalpolitisch aufgeladenen Auseinandersetzungen der Zeit beteiligt waren und die Vorstellung einer kulturellen Überlegenheit der Deutschen gegenüber den Slawen anzufechten suchten. 1872 etwa veröffentlichte Kazimierz Lucyan Ignacy Römer seine Vorlesung „O Koperniku“27 (Über Kopernicus) auf Deutsch und legte dar, dass dieser „lebenslang mit seinen Taten bewiesen hatte, dass [...] er ein guter Pole war“.28 Römer polemisierte auf diese Weise gegen deutsche Forscher, die den Astronomen in der germanischdeutschen Kultur verortet hatten.29 Wesentlich früher, 1861, war in der Lemberger Zeitschrift Czytelnia dla Młodzieży (Leseraum für die Jugend) bereits der Beitrag „List sześciu akademików Polaków do p. Westphala, prof. we Wrocławiu“ (Brief von sechs polnischen Akademikern an Herrn Westphal, Professor in Breslau] veröffentlicht worden. Dabei handelte es sich um eine Reaktion auf die Rede des klassischen Philologen Rudolf Westphal, der in einem Vortrag an der Universität die Rolle der Slawen in der Geschichte zu marginalisieren versucht hatte. Die polnischen Studenten fassten dies als Beleidigung auf und konterten in ihrem öffentlich gemachten Antwortschreiben unter Anführung historischer Beispiele mit der Aussage, dass das Wesen des „slawischen Geistes“ und des polnischen Staates in der Liebe zu Freiheit und Gleichheit liege.30 Mit dem Nationalitätenproblem in Schlesien ging man hingegen sehr vorsichtig um. Aus diesem Grund wurde den Mitgliedern 24 Ebd., 39. 25 Ebd., 50. 26 Die Vereinsmitglieder gaben offen zu, dass der Vereinsname im Grunde eine Art Feigenblatt sei. In Bezug auf die für 1860 geplanten akademischen Arbeiten etwa hieß es, die „wissenschaftliche Arbeit des Vereins“ sei selbstverständlich auf die polnische Nation begrenzt. Dies solle auch so bleiben, wohingegen der Titel „Literarisch-Slawischer Verein“ in erster Linie dazu diene, „dass uns die Behörden nicht irgendwelcher politischer Intrigen verdächtigen“. Achremowicz/Żabski: Towarzystwo, 224. 27 [Römer, Kazimierz Lucyan Ignacy]: Beiträge zur Beantwortung der Frage nach der Nationalität des Nicolaus Copernicus. Breslau 1872. 28 Achremowicz/Żabski: Towarzystwo, 305. 29 Ebd., 304. 30 Ebd., 218–221.
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des Vereins von den polnischen Nationalaktivisten aus Großpolen Passivität vorgeworfen. Einer von ihnen schrieb 1870 im Dziennik Poznański (Posener Tageszeitung): „Wir glauben, dass die Breslauer Jugend, statt über die Anfänge der Religion bei den Slawen zu reden oder die Zeit beim Bier oder beim Anhören des Gesangs der zwischen den Schenken umherziehenden deutschen Frauen zu vergeuden [...], brüderliche Kontakte mit der Jugend aus Oberschlesien knüpfen und sich nicht mit Politik beschäftigen sollte, weil das nicht ihre Sache ist, sondern mit der Literatur und der polnischen Wissenschaft [...], dann könnte man auch aus der von Unkraut überwucherten oberschlesischen Flur reiche Ernte in den polnischen Stadel einbringen.“31
IV. Die Rolle Richard Roepells bei der historischen Ausbildung der im Verein organisierten polnischen Studenten Unter den Hochschullehrern, die den größten Einfluss auf die Ausbildung der Referenten des Vereins hatten, befanden sich mehrere herausragende Persönlichkeiten. Besonders hervorzuheben ist die Rolle Roepells als Betreuer von Dissertationen polnischer Studenten. Roepell war 1841 aufgrund seiner ein Jahr zuvor veröffentlichten Geschichte Polens32 an der Universität Breslau zum außerordentlichen Professor ernannt worden.33 Mieczysław Pater betont in seiner Geschichte der Universität Breslau, dass Roepell die Geschichte Polens als einer von wenigen deutschen Historikern kritisch-wohlwollend geschildert und dadurch Anerkennung und Sympathie bei den polnischen Forschern und den in Breslau studierenden Polen gewonnen habe.34 Antoni Knot bemerkte, dass Roepell einer von wenigen nichtpolnischen Forschern gewesen sei, deren Arbeiten in der polnischen Historiographie eine wichtige Rolle gespielt hätten.35 Roepell war ein Schüler Leopold von Rankes, dessen philologisch-kritischer Methode er sich bediente. Es besteht kein Zweifel, dass auf den Treffen des „Literarisch-Slawischen Vereins“ Forschungsergebnisse referiert wurden, die am Historischen Seminar der Universität erarbeitet worden waren.36 Nachdem Władysław Nehring – ein Schüler Roepells, der 1856 in Breslau eine historische Dissertation vorgelegt hatte37 – im Jahr 1868 Kurator des Vereins geworden war, wurde es zur Regel, dass seine Studenten die Vorträge und Veranstaltungen Roepells besuchten – und umgekehrt.38 31 Ebd., 273. 32 Roepell, Richard: Geschichte Polens. Hamburg 1840; das Buch wurde erst knapp vier Jahrzehnte später ins Polnische übersetzt: Roepell, Ryszard: Dzieje Polski do XIV stulecia, Bd. 1–2. Lwów 1879. 33 Bahlcke: Die Geschichtswissenschaft an der Universität Breslau, 575–585. 34 Pater: Historia Uniwersytetu Wrocławskiego, 146. 35 Knot: Ryszard Roepell, 109. 36 Ebd., 122. 37 �������������������������������������������������������������������������������������������� Nehring, Wladislaus: De Polonicarum rerum seculi sedecimi scriptoribus, Pars prima: De Reinholdo Heidensteinio. Vratislaviae 1856. 38 Knot: Ryszard Roepell, 121.
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Roepell war durch sein breites gesellschaftliches Engagement auch außerhalb wissenschaftlicher Kreise bekannt. So amtierte er in Breslau als Stadtrat und war politisch erst in der Fortschrittspartei, später dann in der Nationalliberalen Partei aktiv. 1862 wurde er für den Wahlkreis Namslau in das Preußische Abgeordnetenhaus gewählt. Im Februar 1863, nach dem Ausbruch des Januaraufstands im Königreich Polen, hielt er im Parlament eine Rede, in der er das Recht der Polen auf Gründung eines eigenen souveränen Staates unterstützte. Seine politische Karriere wusste er stets mit seiner akademischen zu vereinbaren. 1863 wählte man ihn zum Dekan, 1867 zum Rektor. 1876 wurde er auf Antrag des Hochschulsenats Mitglied des Preußischen Herrenhauses. Daneben hielt er weiterhin akademische Lehrveranstaltungen ab und nahm bis zu seinem Tod im Jahr 1893 am Leben der Fakultät teil. Als Schüler Rankes führte Roepell seine Studenten in die Details der modernen Forschungsmethode ein, die von der sogenannten Göttinger Schule vertreten wurde und einem fortgeschrittenen Objektivismus verpflichtet war. Józef Kazimierz Plebański meinte: „Es war durchaus natürlich, dass ein Professor, der unsere Geschichte so gut kannte, die Entwicklung unserer historischen Literatur verfolgte und alle wichtigen Quellen und Werke zur Hand hatte, unsere Neugier bezüglich der polnischen Geschichte gern befriedigte.“39 Zu Roepells Schülern, die zugleich Mitglieder des „Literarisch-Slawischen Vereins“ waren, zählte unter anderem Teofil Nepomucen Berwiński, der von 1844 bis 1851 in Breslau studierte. Hier bereitete er seine Abhandlung über die Zusammenkunft Kaiser Maximilians I. mit ostmitteleuropäischen Herrschern vor40 und verfasste überdies eine Studie über die Geschichte Litauens im 13. und 14. Jahrhundert.41 Nach seinem Studienabschluss unterrichtete er an Gymnasien in Tremessen und Posen. Leon Wegner wiederum studierte von 1844 bis 1848, anfangs Geschichte, später dann Jura, folgte jedoch auch weiterhin seinem geschichtlichen Interesse und veröffentlichte eine Reihe von historischen Abhandlungen. Politisch wirkte er zudem als Abgeordneter des Preußischen Abgeordnetenhauses in Berlin. Stanisław Maroński, der von 1847 bis 1852 studierte und sich genealogischen Forschungen widmete, arbeitete später als Gymnasiallehrer in Neustadt in Westpreußen. Auch juristische Dissertationen polnischer Studenten entstanden auf Anregung Roepells.42 Józef Kazimierz Plebański, der selbst von 1850 bis 1852 in Breslau studiert hatte und dann nach Berlin gegangen war, erinnerte sich Jahre später sehr positiv an sein Studium 39 Achremowicz/Żabski: Towarzystwo, 163f. 40 Berwiński, Teofil Nepomucen: Zjazd Maksymiliana I cesarza z Władysławem królem węgierskim i Zygmuntem królem polskim w Wiedniu 1915 r. In: Przyjaciel Ludu (1847) 46–48, 51–56, 63f., 68–72, 74–78. 41 Ders.: Einige Betrachtungen über die ältesten Zustände Lithauens und deren Umgestaltung im 13ten und 14ten Jahrhundert. In: Achtzehnter Jahres-Bericht über das Königliche Katholische Gymnasium zu Trzemeszno für das Schuljahr 1856–1857 [...]. Trzemeszno 1857, 3–21. 42 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. exemplarich Lipski, Josef von: De iure decimarum ecclesiasticarum in Polonia animadversiones historicae. Vratislaviae 1852; Węclewski, Josephus: Statutum Vislicense sive ius civile Polonorum antiquum. Vratislaviae 1854.
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bei Stenzel und bei Roepell: „Bei Stenzel, seligen Gedenkens, habe ich gelernt, alte Diplome zu lesen, außerdem Paläographie sowie diplomatische und historische Kritik.“43 Stenzel war von Berlin nach Breslau gekommen, wo er als Dozent Vorlesungen hielt. Ferner beschäftigte er sich mit der Edition schlesischer und lausitzischer Quellen des Mittelalters. Der Höhepunkt seines wissenschaftlichen Schaffens war die Geschichte Schlesiens bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, die 1853, bereits posthum, erschien.44 Stenzels Arbeiten wurden von polnischen Historikern eher kritisch beurteilt. Der allgemein streng urteilende August Mosbach jedoch bewertete Stenzels Schaffen im Bereich der Geschichte Schlesiens positiv, ganz ähnlich wie der durch seine schlesienkundlichen Arbeiten bekannte Ryszard Ergetowski.45 Auch Plebański wies die Charakterisierung Stenzels als eines preußischen, antipolnischen Chauvinisten durch seine polnischen Landsleute kategorisch zurück, er hielt ihn vielmehr für „den ehrbarsten Charakter und den einzigen deutschen Historiker, der redlicher Diener der Wahrheit und Kaplan der Wissenschaft war“.46 In Stenzels Seminar hatte Plebański seine erste selbständige Arbeit zur Gründung der Bistümer in Polen vorbereitet, die er anschließend während einer Sitzung des „Literarisch-Slawischen Vereins“ im Sommersemester 1851/52 präsentierte. Er bedauerte, dass er das Studium in Breslau unter dem „wohltuenden“ Einfluss von Stenzel und Roepell nicht habe fortsetzen können, doch habe es dort an Geographielehrern und Lehrern der slawischen Sprachen gefehlt, denen er dann erst an der Universität in Berlin begegnet sei. Der in Deutschland gründlich ausgebildete Plebański war von 1862 bis 1869 Professor für allgemeine Geschichte an der Universität Warschau (zeitgenössisch als „Hauptschule“ apostrophiert), danach Redakteur der Zeitschrift Biblioteka Warszawska (Warschauer Bibliothek). Der Historiker Józef Przyborowski, in den Jahren 1843 bis 1847 Student der Slawistik und der klassischen Philologie in Breslau, hatte Roepell ebenfalls viel zu verdanken. Ähnlich wie Plebański wurde er Professor und auch Bibliothekar an der Hauptschule in Warschau. Leo Czaplicki wiederum verbrachte vier Jahre in Breslau und legte 1855 seine Dissertation zu Leben und Werk des im 16. Jahrhundert wirkenden polnischen Dichters Jan Dantyszek vor.47 Roepell begutachtete den historischen Teil der Abhandlung, er beurteilte ihn zwar als eine Kompilation, aber doch als ausreichend für eine Doktorarbeit. Auch der Bibliothekar und Vorsitzende des „Literarisch-Slawischen Vereins“ Kazimierz Szulc bezeichnete sowohl Stenzel als auch Roepell als seine wissenschaftlichen Mentoren. Seine Dissertation 1856 über die alten Illyrer war eine Polemik gegen An43 Achremowicz/Żabski: Towarzystwo, 163. 44 Stenzel, Gustav Adolf: Geschichte Schlesiens. Von den ältesten Zeiten bis 1355. Breslau 1853. 45 Ergetowski, Ryszard: Studia Józefa Kazimierza Plebańskiego i pierwsze lata jego nauczycielskiej pracy. In: ders.: Silesiaca. Biblioteki – Studenci – Uczeni. Wrocław 2005 (Acta Universitatis Wratislaviensis 2625), 71–129, hier 80. 46 Ebd., 82. 47 Czaplicki, Leo: De vita et carminibus Ioannis de Curiis Dantisci. Vratislaviae 1855.
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sichten Lelewels.48 Szulc versuchte darin nachzuweisen, dass es sich bei den Illyrern um ein slawisches Volk gehandelt habe. Er widmete sich anschließend weiteren historischen Studien und trat in den 1860er und 1870er Jahren als Herausgeber und Redakteur der wichtigen Periodika Tygodnik Poznański (Posener Wochenblatt) und Gazeta Wielkopolska (Großpolnische Zeitung) auf. Ebenfalls ein Schüler Roepells war Jan Nepomucen Romanowski, der sein in Berlin begonnenes Studium in Breslau fortsetzte, wo er eine historische Dissertation anfertigte.49 Weitere Teilnehmer an Roepells Lehrveranstaltungen sollen zumindest summarisch genannt werden:50 der Philologe Walenty Masłowski, der Historiker Maurycy Jutrosiński, der Historiker, zeitweilige Vereinsvorsitzende und Begründer der Zeitschrift Kwartalnik Historyczny Ksawery Liske, der Historiker und spätere Professor an der JagiellonenUniversität Wincenty Zakrzewski, der Historiker und (seit 1896) Hauptredakteur des Dziennik Poznański Władysław Łebiński, der Historiker, Politiker und Publizist Roman Szymański, der Herausgeber altpolnischer Quellen und Direktor der Bibliothek in Kurnik Zygmunt Celichowski, der Historiker und Pädagoge Stanisław Karwowski, der Historiker Karol Emil Sieniawski, der Historiker, Vorsitzende des Vereins und spätere Gymnasiallehrer in Lemberg und Iwano-Frankiwsk Antoni Lorkiewicz sowie der Literaturhistoriker und Historiker der polnischen Sprache Bolesław Erzepki. Weitere Geschichtsforscher wie Maksymilian Kantecki und Bronisław Dembiński oder der bereits erwähnte Kazimierz Lucyan Ignacy Römer – der zu Leben und Werk des in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts am polnischen Königshof tätigen Diplomaten Jost Ludwig Dietz ( Justus Ludwik Decjusz) arbeitete und seine Dissertation zu diesem Thema 1873 in Breslau verteidigte51 – treten hinzu. Roepell machte seine polnischen Schüler in einer Zeit, in der es im polnischen Sprachraum noch keine Historischen Seminare gab, mit den neuesten fachlichen Methoden vertraut. An seinem Lehrstuhl war er anderen universitären Zentren im Bereich der modernen Historikerausbildung um mehrere Jahre voraus.52 Man kann Roepell gewiss als den wissenschaftlichen Betreuer des Vereins bezeichnen. Darüber hinaus organisierte er private Treffen in seiner Wohnung, auf denen seine Studenten sich mit Quellen auseinanderzusetzen und diese zu kommentieren hatten. In diesem Rahmen versammelte Roepell insgesamt 13 Studenten um sich, darunter zehn Polen. Berücksichtigt man deren Überzahl gegenüber ihren deutschen Kommilitonen, so verwundert es kaum, dass während dieser Zusammenkünfte der Schwerpunkt auf Fragestellungen zur polnischen Geschichte lag. Die unter seiner Leitung im Seminar geführten historischen Forschungen beeinflussten die Vorlesungstätigkeit des Vereins unmittelbar. Tadeusz 48 Szulc, Kazimierz: De origine et sedibus veterum Illyriorum. Posnaniae 1856. 49 Romanowski, Jan Nepomucen: De Conradi, Ducis Masoviae atque Ordinis Cruciferorum prima mutuaque conditione. Posnaniae 1857. 50 Knot: Ryszard Roepell, 123–131. 51 Römer, Kazimierz Lucyan Ignacy: De Iodoci Ludovici Decii vita scriptisque. Vratislaviae 1874. 52 Knot: Ryszard Roepell, 121, 133.
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Żabski schrieb diesen Arbeiten hohes wissenschaftliches Niveau zu. Große Sorgfalt im Umgang mit den Quellen sei in ihnen ebenso erkennbar gewesen wie ganz allgemein eine große Gelehrsamkeit.53 Ein weiterer Breslauer Historiker, der – neben Roepell – mit der Zeit die Tätigkeit des Vereins zu beeinflussen begann, war Jacob Caro,54 der 1869 aus Jena als Ehrenprofessor an die Breslauer Universität berufen worden war. Sowohl Roepell als auch Caro beschäftigten sich in Forschung und Lehre bevorzugt mit polnischen Themen, weshalb sie häufig polnische Quellen benutzten und die Unterstützung polnischer Wissenschaftler suchten. Daraus eraben sich im Laufe der Zeit enge Kontakte zu den Zentren der polnischen Geschichtswissenschaft. Caro führte Roepells Geschichte Polens bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts fort und gelangte in vier weiteren Bänden bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts. Beide Historiker schilderten die Geschichte Polens vor einem weit gefassten europäischen Hintergrund und bedienten sich dafür der philologisch-kritischen Methode, die sich in dieser Zeit durchzusetzen begann. Roepell schätzte die Bedeutung der Piastendynastie im Kontext der europäischen Politik als hoch ein. Caros Arbeit wurde von den Rezensenten indes nicht mehr so eindeutig positiv aufgenommen wie Roepells Vorgängerwerk, da insbesondere polnische Wissenschaftler darin nationalistische Akzente registrierten. Plebański etwa, Schüler von Roepell und Ranke, beurteilte die ersten beiden Bände Caros ausgesprochen kritisch: Ihren Verfasser charakterisierte er als Zyniker, der „alle Grenzen des Anstands überschritten“55 habe. Die weiteren Bände wurden jedoch wohlwollend aufgenommen. Ähnlich wie Roepell zog auch Caro in Breslau polnische Studenten an. Jan Korwin Kochanowski schrieb später rückblickend: „Er interessierte sich immer lebhaft für polnische Studenten. Er bewirtete sie in seinem Haus und wurde mit ihnen vertraut, indem er ihre Arbeiten betreute, ihnen Ratschläge und Hinweise gab und ihnen sogar aktiv bei ihren Spezialstudien half. Nette Erinnerungen haben sicherlich auch diejenigen von uns, die an der Breslauer Universität historische Wissenschaften studierten. Die auf diese Erinnerungen zurückgehenden Bande sind herzlich und beständig.“56 Auch im Fall von Caro war es zweifellos dessen Persönlichkeit, die das Forschungsinteresse der Vereinsmitglieder beeinflusste. Seine Abhandlungen regten zahlreiche Vereinsvorträge zur Geschichte Polens in der Piasten- und Jagiellonenzeit an. Dies gilt etwa für Referate von Julian Janicki: „Kazimierz Wielki wobec sądu dra Caro a prof. Szujskiego“ (Kasimir der Große in der Beurteilung durch Dr. Caro und Prof. Szujski), Kazimierz Bronikowski: „Czy słusznie nazywano Kazimierza, syna Łokietka, Wielkim?“ (Wurde 53 Ebd., 166. 54 Ergetowski, Ryszard: Naukowa i dydaktyczna działalność Jacoba Caro. In: Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka 57 (2002) 345–356; Widawska: Richard Roepell und Jacob Caro; Barelkowski: Die Teilungen Polen-Litauens interpretieren. 55 Ergetowski, Ryszard (Hg.): Briefe von Jacob Caro an polnische Gelehrte (1862–1902). Warschau 2005 (Studien zur Wissenschafts- und Technikgeschichte 16), 23. 56 Ebd., 27.
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Kasimir, der Sohn des Łokietek, mit Recht der Große genannt?), Antoni Kinowski: „Germanizm w Polsce po wygaśnięciu dynastii Piastów aż do połączenia Litwy z Polską przez małżeństwo Jadwigi z Jagiełłą“ (Germanismus in Polen nach dem Erlöschen der Piastendynastie bis zum litauisch-polnischen Zusammenschluss durch die Heirat von Hedwig und Jagiełło) und Bolesław Kurzętkowski: „O usadowieniu się Krzyżaków w Prusach“ (Über die Niederlassung der Kreuzritter in Preußen).
V. Zusammenfassung Der „Literarisch-Slawische Verein“ steht beispielhaft für Studentenbünde an deutschen Universitäten, die sich um eine Vermittlung und Popularisierung der Geschichte Polens verdient machten.57 Formalrechtlich handelte es sich um keine ausschließlich polnische Organisation, da ihr – wenngleich in geringerer Zahl – auch sorbische Studenten angehörten. Nach 1860 wurden die Vereinsversammlungen unter der Ägide Wojciech Cybulskis in eine Art Universitätsseminar umgewandelt. Die Referate wurden fortan sorgfältig und auf hohem Niveau vorbereitet, unzweifelhaft Ausdruck gestiegener wissenschaftlicher Ambitionen. Viele Mitglieder setzten ihre wissenschaftliche Tätigkeit nach dem Studienabschluss fort. So gingen aus dem Verein auch mehrere Historiker hervor, die später bedeutende Beiträge zur polnischen Geschichtswissenschaft leisteten. Einen wichtigen Beitrag zur wissenschaftlichen Ausbildung der Referenten leisteten die Breslauer Wissenschaftler Richard Roepell und Jacob Caro. Ein weiterer Historiker, der polnische Akademiker in der schlesischen Metropole ausbildete, war Gustav Adolf Harald Stenzel. Die Autoren des Jubiläumsbandes zur Tätigkeit des „Literarisch-Slawischen Vereins“ stellten dessen Bedeutung abschließend heraus, indem sie ihn mit anderen, wesentlich bekannteren und populäreren Institutionen der polnischen Wissenschaft und des polnischen Bildungswesens im 19. Jahrhundert verglichen. Gegenüber den studentischen Gesellschaften an der Universität Wilna oder am Lyzeum in Kremenez war der Breslauer Verein zwar ungleich weniger prominent, ohne alle Verdienste aber war er keineswegs.58
57 ����������������������������������������������������������������������������������������� Wierzbicki, Andrzej: Historiografia polska doby romantyzmu. Wrocław 1999 (Monografie Fundacji na Rzecz Nauki Polskiej. Seria humanistyczna), 38. 58 Pamiętnik Towarzystwa Literacko-Słowiańskiego, 35.
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Patriotismus und Universalität. Der „Verein für die Geschichte Glogau’s“ (1824) und die „Wissenschaftliche Gesellschaft Philomathie in Neisse“ (1838) I. Obrigkeitliche Vorgaben im Sinn des Patriotismus Die patriotische Stimmung, die nationale Begeisterung der Befreiungskriege führte zu einem neuen historischen Bewusstsein in breiten Bevölkerungskreisen Preußens. Dies galt insbesondere für die östlichen Provinzen, die den größten Anteil am Befreiungskampf trugen. Von Breslau aus erging am 17. März 1813 des Königs Aufruf „An Mein Volk“, hier wurde von ihm am gleichen Tag das Eiserne Kreuz als Kriegsauszeichnung für alle Kämpfer ohne Ansehen von Stand und Dienstgrad gestiftet, in Rogau wurde das Lützowsche Freikorps eingesegnet – diese Ereignisse markieren,1 so könnte man fast im Stil der Zeit sagen, „Schlesiens deutschen Beruf “.2 Von diesem neuen historischen Bewusstsein waren auch die Behörden, die Bezirksregierungen, erfasst, die in den Jahren 1814 und 1817 Verfügungen über das Verfassen von Stadtchroniken erließen.3 So heißt es in der Verfügung der Regierung zu Reichenbach vom 18. Oktober 1817 unter ausdrücklichem Bezug auf die Befreiungskriege: „Insonderheit ist in die Chroniken aus der Periode 1813–1815 aufzunehmen: die Geschichte der Anstrengungen, wodurch die Stadt ihre Theilnahme an dem hohen Interesse, das Vaterland vom Drucke fremder Herrschaft zu befreien, und die Herstellung deutscher Selbstständigkeit zu erringen, bewiesen hat; eben so die Anzeige der freiwilligen Gaben zur Förderung jenes Zweckes, die Namen der freiwilligen Vaterlands-Vertheidiger, die sie gestellt hat, und was geschehen ist bei Bildung der Landwehr und des Landsturms. Dabei sind dem dankbaren Andenken der Nachwelt die Namen derer aufzubewahren,
1 Gehrke, Roland: „An mein Volk!“ Die Breslauer Proklamationen Friedrich Wilhelms III. vom 17. März 1813. Genese, Wirkung, Rezeption. In: ders. (Hg.): Von Breslau bis Leipzig. Wahrnehmung, Erinnerung und Deutung der antinapoleonischen Befreiungskriege. Köln/Weimar/Wien 2014 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 24), 49–66. 2 Analog zu „Preußens deutschem Beruf “, dem seit den 1840er Jahren geprägten Schlagwort der sogenannten kleindeutsch-borussischen Geschichtsschreibung, vertreten durch Johann Gustav Droysen, Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitschke, wonach Preußen bereits seit König Friedrich II., dem Großen, alles getan habe, um einen deutschen Nationalstaat zu schaffen. 3 Schmilewski, Ulrich: Verordnete Geschichtsschreibung? Regierungsamtliche Anweisungen zum Verfassen von Chroniken als Folge der Befreiungskriege. In: Gehrke (Hg.): Von Breslau bis Leipzig, 169–178, hier 172–174.
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welche den Tod für König und Vaterland starben, und die durch ausgezeichnete Tapferkeit oder sonstiges Verdienst das eiserne Kreuz erworben haben.“4 Umfassender ist der Gesamtauftrag, nach „Sitte unserer Vorfahren, in den Städten Jahrbücher zu halten, welche die bedeutenden Vorfälle des Ortes unter obrigkeitlicher Autorität“5 verzeichnen, nämlich besonders „Veränderungen in der Verfassung und Verwaltung des Gemeinwesens, der Kirchen, Erziehungs- und anderer öffentlichen Anstalten, der Gemeine- und Polizei-Einrichtungen, Nachrichten über den Gewerbe- und Handelsstand, Bemerkungen über den Einfluß der Gesetzgebung, wobei die Namen derer, welche sich um die Wohlfahrt der Stadt besonders verdient gemacht haben, zu bemerken sind. Auch können andere merkwürdige Ortsereignisse und etwaige außerordentliche Naturbegebenheiten mit ihren Folgen und Wirkungen verzeichnet werden.“6 Dem Geschichtsforscher wurden dadurch, wie es in der Verfügung weiter hieß, „wichtige Thatsachen erhalten, deren Kunde sonst verloren gegangen wäre. Es sind aber vollständig geführte Jahrbücher nicht nur für die vaterländische Geschichte interessant, sondern sie gewähren auch in staatswirthschaftlicher Hinsicht großen Nutzen, und beleben den Sinn für Vaterland und Volkseigenthümlichkeit.“7 Das alles sollte in obrigkeitlichem Auftrag und unter obrigkeitlicher Kontrolle aufgezeichnet werden.
II. Vorgeschichte und Gründung des „Vereins für die Geschichte Glogau’s“ Dies war aber genau der Geist, dem sich die Gründung und die Aufgabenstellung des „Vereins für die Geschichte Glogau’s“8 verdankten. In der Vorrede zu seiner ersten, 1829 erschienenen Fachveröffentlichung wurde die Entstehungsgeschichte des Vereins in zeitgenössischem Pathos geschildert: „Der siebzehnte April des Jahres 1814 befreite Glogau von dem französischen Joche, unter welchem diese unglückliche Stadt sieben Jahre, vier Monate und funfzehn Tage gewesen war. Das Loblied: Nun danket alle Gott! welches man vom Thurme blies, als die Franzosen durch die Wälle der Festung und über das Glacis dahin zogen, tönte in aller Herzen wieder und leuchtete aus aller Augen. Die erlösten Bürger empfingen die vaterländischen Kriegsschaaren mit der Freude und der Dankbarkeit eines Unschuldigen, der sieben Monate unter ge4 Amts-Blatt der Königlichen Preußischen Regierung zu Reichenbach 44/228 (1817) 372–374, hier 373. 5 Ebd., 372. 6 Ebd., 373. 7 Ebd., 372f. 8 So und mit Apostroph die offizielle Bezeichnung des Vereins nach § 1 der Statuten, die jedoch häufig auch in Vereinspublikationen abgewandelt wird. Literatur über den Glogauer Geschichtsverein ist rar, Erwähnung findet er bei Bein, Werner: Glogau in der deutschen Literaturgeschichte. In: ders./Schellakowsky, Johannes/Schmilewski, Ulrich (Hg.): Glogau im Wandel der Zeiten. Głogów poprzez wieki. Würzburg 1992, 265–278, hier 268f. Gedankt sei Dr. Klaus Schneider, Leipzig, der sein Vortragstyposkript zum Thema zur Verfügung stellte.
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fühllosen Peinigern in einem Kerker geschmachtet hat. Alles war in fröhlicher Bewegung, aller Gram war mit einem Male hinweggetilgt und die allgemeine Erleuchtung am Abend bezeugte, wie hell es in aller Seelen geworden war. Ein Tag wie dieser schien auch der Nachwelt unvergeßlich bleiben zu müssen; man sagte sich bald, daß er es verdiene, alljährlich auf festliche Weise begangen zu werden, und die Stimme eines geachteten Mitbürgers, der dazu aufrief, fand willige Hörer. So oft er wiederkehrte, versammelte man sich zu einem Mahle, gedachte der überstandenen Leiden und freute sich des wiedergekehrten Glückes. Bei dieser Vereinigung wurden nach einiger Zeit noch andere Wünsche laut. Wie jener Befreiungstag, meinte man, verdienten es wohl noch viele andere aus der früheren Zeit, verdiene es überhaupt die denkwürdige Geschichte Glogaus, der Vergessenheit entrissen zu werden. Diese Stadt habe von jeher eine nicht unbedeutende Rolle in Schlesien gespielt, sei, wenn nicht durch ihre Thaten, doch durch ihre Leiden berühmt geworden, und doch habe noch keiner eine vollständige Geschichte derselben geschrieben, ja es sei nicht einmal dafür gesammelt worden. Auch würden zu dem letztern Geschäft die Kräfte eines Einzelnen kaum hinreichen; es müßten sich viele dazu verbinden, und, wie nun jeder vermögte, Geld, Zeit und Talent beisteuern. Diese Gedanken wurden gern aufgenommen und beherzigt. Es trat ein Verein zusammen zu dem bezeichneten Zwecke; das Ziel, der Weg, die Formen wurden bestimmt; die hohe Landesbehörde ertheilte ihre Genehmigung; die Thätigkeit der arbeitenden Mitglieder begann vom Jahre 1825 an, sich in monatlichen Versammlungen zu zeigen.“9 Es sei berichtigend zusammengefasst: Die zur Festung ausgebaute Stadt Glogau wurde im November 1806 von napoleonischen Truppen eingenommen und dauerhaft mit einer starken militärischen Besatzung belegt, was für die etwa 8.000 Bewohner10 jahrelange Einquartierungen und Einschränkungen bedeuten sollte. Deren Leiden steigerten sich mit Beginn der Befreiungskriege, als preußische und russische Truppen die in den Festungsmauern eingeschlossene Stadt belagerten. Erst nach einem 14 Monate langen, von den Besatzungstruppen ohne Rücksicht auf die Einwohner geführten Verteidigungskampf wurde Glogau am 17. April 1814 übergeben (Abb. 1), was für die Stadtbewohner einer Befreiung gleichkam. Dieses Tages gedachte die Bevölkerung offensichtlich jährlich mit einem „Befreiungsfest“ mit gemeinsamem Mahl und kollektiver Erinnerung. Über die Leidenszeit der langen Besetzung veröffentlichte bereits 1815 der Glogauer Medizinalrat Dr. Gottlob S. Dietrich11 ein mit einem Dokumentenanhang versehenes Buch.12 Er war es auch, der 1823 vorschlug, den Befreiungstag des 17. Aprils 19 Beiträge zur Geschichte Glogau’s geliefert von dem Vereine für dieselbe 1 (1829) I–VII (Zitat I–III). 10 Für 1787 werden 8.252, für 1820 8.466 Einwohner angegeben bei Stoob, Heinz/Johanek, Peter (Hg.): Deutsches Städtebuch. Handbuch städtischer Geschichte. Neubearbeitung, Bd. 1: Schlesisches Städtebuch. Stuttgart/Berlin/Köln 1995, 113. 11 Der Vorname wird aufgelöst bei Minsberg, Ferdinand: Geschichte der Stadt und Festung GroßGlogau, Bd. 1–2. Glogau 1853, hier Bd. 2, 392f. 12 Dietrich, G[ottlob] S.: Groß Glogaus Schicksale von 1806 bis 1814. Glogau 1815.
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Abb. 1: Ein bedeutendes Ereignis in der Geschichte Glogaus war die Übergabe der von den Franzosen besetzten Festung Glogau an die Preußen und Russen am 17. April 1814. Es war auch Anlass für die Gründung des Glogauer Geschichtsvereins. Vorlage für die Darstellung dieser Szene auf dem Notgeldschein der Stadtbank Glogau aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war ein Gemälde des in Glogau geborenen Historienmalers Richard Knötel (1857–1914). Das Ereignis als solches entwickelte sich zu einem stadtgeschichtlichen lieu de mémoire. Bildnachweis: Stiftung Kulturwerk Schlesien, Würzburg.
„alljährlich durch eine Zusammenkunft der vereinigten Stadtnotablen zu feiern“,13 also in einer festen Gemeinschaft. Der Glogauer Justizrat Ziekursch regte am 9. März 1824 an, den Zweck der Vereinigung zu erweitern: „derselbe möge sich der rühmlichen Bestrebungen so vieler patriotisch gesinnten Männer in anderen Gauen unseres Vaterlandes anschließen“ und Geschichtsquellen aufspüren und sammeln, „die den sinnenden forschenden Geist in dem Maße erfreuen, als sie ihm im Dunkel des Alterthums den Weg zur Kenntniß der Bildungszustände erhellen und die Strecken anzeigen, welche einzelne Städte zu ihrem Ziele zurückgelegt haben“.14 Aus patriotischen Gründen sollte hier ein historischer Verein gegründet werden, um die geschichtliche Entwicklung der Stadt Glogau zu erhellen. Zum Entwurf der Statuten wurde ein Ausschuss gewählt, dem die beiden Gymnasialdirektoren Dr. Christian David Klopsch und Franz Anton Ender15 sowie Prorektor
13 Minsberg: Geschichte der Stadt und Festung Groß-Glogau, Bd. 1, III. 14 Ebd., IIIf. 15 Vorname und Nachruf in Neuer Nekrolog der Deutschen 19/1 (1841) 242f.
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Karl Ludwig Severin16 angehörten. Der Ausschuss beendete seine Arbeit am 5. November 1824, elf Tage später wurden die Statuten genehmigt und von 40 Mitgliedern unterzeichnet. Die Statuten, das entspricht der heutigen Satzung, wurden am 21. November dem Magistrat zugeschickt, der sie am 6. Dezember bei der Königlichen Regierung zu Liegnitz einreichte – diese Behörde war 1808/09 aus dem besetzten Glogau nach Liegnitz verlegt worden und verblieb zum Nachteil Glogaus dort auch nach der Befreiung der Stadt an der Oder. Die Regierung genehmigte mit Schreiben vom 3. Januar 1825 „unter unsrer Beifalls-Bezeigungen, daß jener Verein zu dem erwähnten rühmlich wissenschaftlichen Zweck in Wirksamkeit trete. Sollte der Verein die Resultate seiner Arbeiten dereinst in Druck geben, so gegenwärtigt die Kgl. Regierung die Einreichung eines Exemplares gegen den bestimmten Preis.“17 Damit war der „Verein für die Geschichte Glogau’s“ am 16. November 1824 als öffentlicher Verein anerkannt. Der Magistrat schickte die Genehmigung am 17. Januar 1825 an Medizinalrat Dr. Dietrich.
III. Struktur und Aufgaben des „Vereins für die Geschichte Glogau’s“ gemäß den Statuten Die Statuten bestimmten in § 1 als Ziel des Vereins, „durch gemeinschaftliches Forschen und Sammeln eine möglichst vollständige Geschichte dieser Stadt von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten zu liefern“.18 Dazu wurden in § 2 die Mitglieder in „Arbeitende und Beitragende“ eingeteilt. „Erstere verpflichten sich, [...] Materialien für Glogau’s Geschichte zu sammeln, zu ordnen und zu verarbeiten. Letztere zahlen, wie die Arbeitenden, einen Beitrag in Gelde“ und erhalten „von den Druckschriften der Gesellschaft [...] ein Exemplar“.19 Der Vorstand setzte sich aus einem Ordner (dem ersten Vorsitzenden), zwei Sekretären (etwa dem zweiten Vorsitzenden und seinem Stellvertreter), einem Rendanten (Kassierer) und einem Archivar zusammen.20
16 Vorname und begonnener Lebenslauf bei Nowack, Karl Gabriel: Schlesisches Schriftsteller-Lexikon oder bio-bibliographisches Verzeichnis der im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts lebenden schlesischen Schriftsteller, H. 6. Breslau 1843, 138. 17 Statuten des Vereins für die Geschichte der Stadt Groß-Glogau, entworfen im November 1824 von dem dazu erwählten Ausschuß. [Glogau 1825], 20 (als Kopie vorhanden in der Bibliothek für Schlesische Landeskunde der Stiftung Kulturwerk Schlesien in Würzburg); Veith, P.: Verein für die Geschichte der Stadt Gros-Glogau. In: Schlesische Provinzialblätter 82 (1825) 24–36, hier 26. Bei P[rofessor] Veith handelt es sich nach Gerber, Michael Rüdiger: Die Schlesischen Provinzialblätter 1785–1849. Sigmaringen 1995 (Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte 27), 271, um Xaver August Veith. Zu Veith vgl. Nowack: Schriftsteller-Lexikon, H. 4. Breslau 1840, 167. 18 Statuten, 3; Veith: Verein, 27. 19 Statuten, 3; Veith: Verein, 27. 20 Statuten, 4–6 (§ 3–7).
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Die Gruppe der arbeitenden Mitglieder wurde in zwei Sektionen mit klar beschriebenen Aufgaben unterteilt: Die eine sollte sich mit der Geschichte Glogaus befassen, die andere die Gegenwart festhalten, das heißt eine fortlaufende Jahreschronik führen. Im Einzelnen sollte die erste Sektion nach § 17 Folgendes tun: „1) Zusammenstellung dessen, was bereits ausgemittelt ist, und Angabe der Lücken, die vorzüglich ausgefüllt werden müssen; 2) das Aufsuchen alter Pläne und Grundrisse zu Bestimmung der Lage und Ausdehnung der Stadt. 3) Die Reihefolge der Oberherren Glogau’s, der Militair-, Civil- und städtischen Behörden. Giebt es von ihnen und andern merkwürdigen Männern noch Bildnisse, so sind die der Aufbewahrung und Vervielfältigung werth. 4) Fürstliche Verordnungen, Privilegien etc. 5) Geschichte der Kirchen und Schulen aller Confessionen, auch der Juden. 6) Geschichte des städtischen Vermögens, der Gewerbe, des Handels, der Innungen. 7) Glogovia literata. Biographische Notizen von einzelnen wichtigen Männern. 8) Geschichte der Befestigungen und der öffentlichen Gebäude. 9) Geschichte der Belagerungen und anderer Kriegsereignisse. 10) Notizen über Einwohnerzahl, Sterblichkeit, ansteckende Krankheiten, Ausfall der Erndten, Preis der Lebensmittel etc. 11) Geschichte der Gesellschaft, Loge, Resource, Theater, Feste, Spiele, Kleidertrachten und andere Moden. 12) Feuersbrünste, Ueberschwemmungen, schwere Gewitter, Unglücksfälle, Selbstmorde, Verbrechen, und was sich sonst dem Sammler in den Akten Merkwürdiges darbietet.“21 Zusammengefasst ging es um ein Sammeln allen irgendwie für die Geschichte der Stadt Glogau aussagekräftigen Materials, also um Quellen, um die Feststellung dessen, was bereits aus der Stadtgeschichte bekannt war und daraus folgend um Darstellungslücken, Forschungsdesiderata, und zwar in einem umfassenden, kulturhistorischen Sinn. Dieses Übermaß an Aufgaben, das sich an der Gegenwart orientierte und nicht für alle Epochen umsetzbar war, verdeutlicht bereits die Laienhaftigkeit des Ansatzes des Arbeitsprogramms. Wie in jeder Satzung dürfte es darum gegangen sein, das Arbeitsziel möglichst offen zu halten, auch um jedem Mitglied die Möglichkeit der Mitarbeit zu eröffnen. Die laufende Jahreschronik sollte am 1. Januar 1825 einsetzen. Die Mitarbeiter der zweiten Sektion sollten nach § 18 vor allem festhalten: „1) Zeitige Behörden und öffentliche Beamten (Militair, Oberlandesgericht, Stadtgericht, Magistrat, Stadtverordnete, Kirche, Schule, Medicinalwesen, Polizei, Steuerbeamte u.s.w.) Angabe der vorkommenden Veränderungen, biographische Notizen über Verstorbene und Neuangestellte, Bildnisse u. dgl. 2) Höhere Verordnungen, die Stadt betreffend; Vergünstigungen und Verbote von Seiten der Commandantur, Polizeiverwaltung etc. 3) Kämmerei; Verpachtung der Stadtgüter, öffentliche Gebäude, Anlagen, Armenpflege, Prozesse. 4) Festungsbauten, Stärke der Garnison, Einquartierungen, Durchmärsche, Revuen, Kriegsvorfälle. 5) Gewerbe, Handel, Erfindungen, Jahrmärkte, Zahl der vorübersegelnden
21 Statuten, 11f.; Veith: Verein, 30f.
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Schiffe. 6) Notizen aus den Schulprogrammen. Angabe hier erschienener gedruckter Werke, und hier aufstrebender Schriftsteller. 7) Einwohnerzahl, Geburts- und Sterbelisten, hohes Alter, herrschende Krankheiten, Wahnsinn, Hundswuth etc. 8) Ausfall der Erndten, Preise der Lebensmittel, Consumtion, seltsame Witterung, heftige Gewitter etc. 9) Ueberschwemmungen, Feuersbrünste, Verunglückte, Selbstmörder, Verbrecher, herrschende Laster etc. 10) Chronik der Gesellschaft: Loge, Resource, Bälle, Concerte, fremde Künstler, Ausstellung von Panoramen, Wachsfiguren u. dgl., Volksfeste, Erinnerungsfeste, Durchreise vornehmer Personen, Anlagen um die Stadt, Vergnügungsorte für die einzelnen Classen der Einwohner, Kleidertrachten und andere Moden, wo möglich mit Abbildungen u.s.w.“22 Auch hier zeigt sich eine umfassende Aufgabenstellung mit fast allen kulturgeschichtlichen Aspekten. Und auch hier ging es um Sammeln und Aufzeichnen im Sinn einer Chronik, noch nicht um Analyse und Darstellung – so weit war die Geschichtswissenschaft noch nicht entwickelt. Der Geschichtspflege diente das in § 15 festgeschriebene jährliche große „Mittagsmahl am 17. April, als dem Tag, an welchem 1814 Glogau von der französischen Besatzung geräumt wurde“23 – selbstverständlich auf eigene Kosten. Auf Geselligkeit, Gemeinschaft wurde Wert gelegt, sei es mit diesem gemeinsamen Essen oder dem „gemeinschaftliche[n] Forschen und Sammeln“.24 Andererseits wurde in § 21 dem einzelnen Mitglied, sofern es „Lust und Zeit“ habe, freigestellt, „einzelne Abschnitte aus der Geschichte oder einzelne Gegenstände aus der Chronik ausführlich in beliebiger Form“ zu bearbeiten, wobei „Anziehende und geschmückte Darstellung [...] willkommen“25 waren. Über die Publikation einer Arbeit entschied der Verein mit Stimmenmehrheit, der dann bei positivem Votum auch die Druckkosten aufbrachte und die Erlöse aus dem Verkauf einnahm.26 „Kein Mitglied kann,“ hieß es in § 23, „auch wenn es selbst die Kosten trüge, etwas drucken lassen, wozu es die Vorarbeiten der anderen Mitglieder benutzt hat, wofern es nicht durch den Verein selbst dazu autorisiert ist. Die Früchte der gemeinsamen Anstrengung gebühren dem Vereine.“27 Die Statuten sehen noch die Anlage eines Archivs mit den Vereinsunterlagen und den gesammelten Materialien vor,28 die im Fall einer Auflösung an die beiden Glogauer Gymnasien29 verlost werden sollten.30
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Statuten, 12f.; Veith: Verein, 31f. Statuten, 10. Statuten, 3; Veith: Verein, 27. Statuten, 14f.; Veith: Verein, 33. Statuten, 16; Veith: Verein, 34. Statuten, 16f.; Veith; Verein, 34. Statuten, 15f. (§ 22). Das Königlich Katholische und das Königlich Evangelische Gymnasium zu Glogau. Statuten, 17f.; Veith: Verein, 34f.
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IV. Mitglieder, Publikationen und Ende Gegründet wurde der Verein 1824 von 46 Personen,31 von denen 25 beitragende und 21 arbeitende Mitglieder waren. Bei ihnen handelte es sich um die Honoratioren der Stadt, also das gehobene Bildungsbürgertum: Beamte, Offiziere, Gymnasiallehrer, Apotheker, Mediziner und Kaufleute; ein Maler und ein Buchhalter waren die Ausnahme. Als Ehrenmitglieder wurden die Superintendenten Dr. Johann Gottlob Worbs32 aus Priebus und Dr. Carl August Köhler33 aus Waldau aufgenommen. Das Interesse am Verein und seinen Zielen nahm jedoch rasch ab, wohl auch aufgrund innerer Querelen.34 In den ersten drei Jahren ging die Mitgliederzahl auf Grund von Versetzungen und wegen Arbeitsüberlastung um elf zurück, 1829 waren es bereits 14 Personen weniger, und diese Tendenz hielt bis über 1840 hinaus an.35 Unter dem Mitgliederverlust litt naturgemäß auch die Arbeit. So wurde „die neuere Chronik nur in sehr lückenhaften, wenig stoffreichen Fragmenten bis 1837 fortgeführt“.36 Ein erstes und offensichtlich auch einziges Klein-Oktav-Heft mit dem Titel Beiträge zur Geschichte Glogau’s geliefert von dem Vereine für dieselbe37 (Abb. 2) im Umfang von 97 Druckseiten erschien 1829. Es enthält neben einer Vorrede mit den zitierten Angaben zur Vorgeschichte des Vereins und einer umfänglichen Erklärung, weshalb erst fünf Jahre nach Vereinsgründung die erste Publikation herausgegeben wurde, folgende vier Aufsätze: Mit der Einschließung und Eroberung Glogaus im Ersten Schlesischen Krieg befasste sich Xaver August Veith und fügte seinem Beitrag zwei Quellenabschriften bei.38 Über die Ereignisse in Glogau im Dezember 1806, also über die Einnahme der Stadt durch die napoleonischen Truppen, berichtete der Kaufmann und 31 Namentliche Auflistung bei Minsberg: Geschichte der Stadt Groß-Glogau, Bd. 2, 548f. 32 Johann Gottlob Worbs (1760–1833), evangelischer Geistlicher und Historiker, einer der frühesten Geschichtsforscher für den Lausitzer und Saganer Raum. Zu ihm vgl. Lippert, W[oldemar]: Worbs, Johann Gottlob. In: Allgemeine Deutsche Biographie 44 (1898) 201–212, Harc, Lucyna: Johann Gottlob Worbs (1760–1833). Theologe und Geschichtsschreiber. In: Białek, Edward/ Bieniasz, Łukasz (Hg.): Hereditas culturalis Soraviensis. Beiträge zur Geschichte der Stadt Sorau und zu ihrer Kultur. Dresden 2010, 203–224; Neß, Dietmar: Schlesisches Pfarrerbuch, Bd. 8: Regierungsbezirk Liegnitz, Tl. 3. Leipzig 2016, 247. 33 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Carl August Köhler (1771–1854), evangelischer Geistlicher. Zu ihm vgl. Neß: Schlesisches Pfarrerbuch, Bd. 7: Regierungsbezirk Liegnitz, Tl. 2. Leipzig 2016, 399. 34 Dies legen die Ausführungen in der Vorrede zur Publikation Beiträge zur Geschichts Glogau’s geliefert von dem Vereine für dieselbe 1 (1829), IIIf., nahe. 35 Minsberg: Geschichte der Stadt Groß-Glogau, Bd. 1, VI. 36 Ebd. 37 Beiträge zur Geschichte Glogau’s geliefert von dem Vereine für dieselbe 1 (1829) I–VII (Zitat I–III). 38 Veith, [Xaver August]: Einschließung und Eroberung durch die Königlich-Preußischen Truppen unter den Befehlen des Prinzen Leopold von Anhalt-Dessau, vom 15. December 1740 bis zum 9. März 1741. In: Beiträge zur Geschichte Glogau’s geliefert von dem Vereine für dieselbe 1 (1829) 11–35.
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Abb. 2: Titelblatt der ersten und offensichtlich einzigen Publikation des Glogauer Geschichtsvereins, einer Aufsatzsammlung von 97 Seiten Umfang. Bildnachweis: Stiftung Kulturwerk Schlesien, Würzburg. Bibliothek für Schlesische Landeskunde, Sign. SS220 G670 A615-1.
Kirchenvorsteher Weisbach.39 Einen biographischen Aufsatz über den Pastor Karl Benjamin Postel an der Glogauer Evangelisch-Lutherischen Kirche veröffentlichte Christian David Klopsch.40 Den Abschluss bildete ein namentlich nicht gekennzeichneter Beitrag über das gegenreformatorische Wirken der Lichtensteiner Dragoner in Glogau im Oktober 1628 mit dem kommentierten Abdruck zweier Texte aus einer alten Handschrift.41 39 Weisbach, Kaufmann und Kirchenvorsteher: Ein Beitrag zu der Geschichte Groß-Glogau’s, aus den Tagen des Decembers 1806. In: Beiträge zur Geschichte Glogau’s geliefert von dem Vereine für dieselbe 1 (1829) 37–48. 40 Klopsch, [Christian David]: Zur Lebensgeschichte Karl Benjamin Postels, Königlichen OberConstistorial-Raths, Inspectors der Kirchen und Schulen, und ersten Predigers an der evangelisch-lutherischen Kirche zu Groß-Glogau. In: Beiträge zur Geschichte Glogau’s geliefert von dem Vereine für dieselbe 1 (1829) 49–70. Zur Identifizierung der Vornamen vgl. Blaschke, Julius: Geschichte der Stadt Glogau und des Glogauer Landes. Glogau 1913, 547. 41 ���������������������������������������������������������������������������������������� Zur Geschichte der sogenannten Reformation zu Glogau im October 1628, enthaltend den Abdruck einer alten Handschrift darüber mit Anmerkungen. In: Beiträge zur Geschichte Glogau’s geliefert von dem Vereine für dieselbe 1 (1829) 71–97.
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Die erste Vereinspublikation enthielt also Beiträge zur militärischen Geschichte und zu kirchengeschichtlichen Themen der Stadt, mithin erste Bausteine zur angestrebten Gesamtgeschichte Glogaus, sowie Quellen, deren Sammlung und Veröffentlichung ebenfalls zu den Aufgaben des Vereins zählte. Trotz rückläufiger Mitgliederzahlen und wohl keiner weiteren Publikationen konnte der Geschichtsverein dennoch seine Hauptaufgabe erfüllen. 1853 erschien eine zweibändige, mit Stichen illustrierte, über 1.000 Seiten umfassende Geschichte der Stadt und Festung Groß-Glogau vom Jahr 842 bis in die Gegenwart. Abgehandelt wurden die in den Statuten vorgesehenen Themen, 119 Urkunden und Dokumente wurden mit Übersetzungen abgedruckt und 15 verschiedene „Verzeichnisse der merkwürdigsten obrigkeitlichen Personen“ veröffentlicht. Die Stadtgeschichte wurde „Herausgegeben von dem Geschichtsverein zu Glogau und in dessen Auftrage verfaßt von dem Vereinsmitgliede F. Minsberg“.42 Im Vorwort hieß es: „Der Geschichtsverein für Glogau widmet den Vätern und der sehr achtbaren Bürgerschaft dieser Stadt das Werk als ein Weihgeschenk seines patriotischen Sinns und als Zeichen schuldiger Anerkennung, daß wissenschaftlicher und Gemeinsinn, im Fortgange lebendiger Entwickelung, hier fortwährend Begünstigung und Förderung gefunden haben und noch finden.“43 Minsbergs Absicht war es, für einen größeren Leserkreis die Stadtgeschichte im „Spiegel der Wahrheit“ darzustellen, „die vorigen Zeiten [zu] schildern, wie sie waren“44 – also durchaus im Rankeschen Sinn –, doch kam er „über eine bloße Materialsammlung, die Nachrichten unterschiedlicher Gewichtigkeit aneinanderreihte, kaum hinaus“.45 Wissenschaftlichen Ansprüchen genügte Minsbergs Arbeit damit nicht, doch hatte der Verein sein Ziel erreicht. Es mag sein, dass der Verein mit Minsbergs Stadtgeschichte seine Aufgabe als erledigt betrachtete oder sich das Interesse an einem Glogauer Geschichtsverein damit verlor, jedenfalls finden sich nach 1853 keine weiteren Nachrichten von einer aktiven Existenz, nur die Vereinssammlungen werden 1882 noch erwähnt.46 Festgehalten sei, dass der „Verein für die Geschichte Glogau’s“ in Erinnerung an die Befreiung von der französischen Besetzung 1824 gegründet wurde, und zwar aus patriotischen Motiven und aus vaterländischer Gesinnung heraus. Doch das Interesse der Bürger an der Erarbeitung und Aufhellung der Geschichte ihrer Stadt schwand, wie auch das unerwünschte Engagement der Bürger in Politik und Gesellschaft während der Restaurationszeit. Vom Wirken des Vereins zeugen nur noch seine eigene Geschichte, ein kleines Büchlein und die erste Gesamtgeschichte der Stadt Glogau.
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Minsberg: Geschichte der Stadt Groß-Glogau, auf den Titelblättern der beiden Bände. Ebd., Bd. 1, VIII. Ebd. Bein: Glogau in der deutschen Literaturgeschichte, 269. Berndt, Robert (Bearb.): Fortsetzung der Geschichte der Stadt Gross-Glogau vom Ende des dreissigjährigen Krieges bis zum Ausmarsche der Franzosen im Jahre 1814. Groß-Glogau 1882, 2 (Vorwort, ohne Paginierung).
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V. Die „Wissenschaftliche Gesellschaft Philomathie in Neisse“ In der Struktur ähnlich, vom Ziel jedoch allgemein-wissenschaftlich, universalistisch angelegt, präsentierte sich die „Philomathie“ in Neisse.47 Auch hier ging die Vereinsgründung auf das städtische Bürgertum zurück; Initiatoren waren der Jurist Ferdinand Fischer, der Oberlehrer Dr. Pohl, der Kandidat der Theologie Christian Otto Handel48 und der Referendar Schweitzer, der später Chefredakteur der Wiener Zeitung wurde.49 Nach Vorbesprechungen am Monatsanfang gründeten neun Neisser Bürger am 27. März 1838 die „Wissenschaftliche Gesellschaft in Neisse“. Zum ersten Sekretär wurde der Jurist Ferdinand Fischer50 gewählt, der jedoch bereits im folgenden Jahr nach Breslau versetzt wurde. Den Namenszusatz „Philomathie“ – was so viel wie „Freunde der Wissenschaft“ bedeutet – gab sich die Vereinigung erst im Folgejahr anlässlich einer von ihr veranstalteten Schillerfeier. Die „Wissenschaftliche Gesellschaft Philomathie in Neisse“ war somit nach der 1779 gegründeten „Oberlausitzer Gesellschaft der Wissenschaften“ die zweitälteste allgemein-wissenschaftliche Gesellschaft in Schlesien und wurde zum Vorbild für weitere Gründungen in Glatz (1853), Leobschütz (1855), Beuthen O.S. (1884), Jauer (1904) und anderen Städten Schlesiens.51 Nach den Vorstellungen der Gründer sollte die Gesellschaft sowohl wissenschaftlichen als auch gesellschaftlich-unterhaltenden Charakter haben. Jedes Mitglied war nach den Statuten vom 3. April 1838 verpflichtet, im Reihumverfahren einen Vortrag wissenschaftlicher Art zu einem beliebigen Thema zu halten. Dazu wurden regelmäßig Versammlungen abgehalten, die aus einem Vortragsteil mit einem oder mehreren, dann kurzen Referaten und einem anschließenden gemeinsamen A bendessen bestan-
47 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Eine umfassende Gesamtdarstellung zur Neisser „Philomathie“ steht noch aus. Verwiesen sei daher auf die Beiträge von Klemenz, Paul: Die Philomathie in Neisse. Aus der 75jährigen Tätigkeit einer schlesischen wissenschaftlichen Gesellschaft. In: Oberschlesien 12 (1913/14) 139–145; Karst, Ludwig: Das höhere Schulwesen. In: Stein, Erwin (Hg.): Neisse mit Anhang Stadt und Bad Ziegenhals. Berlin-Friedenau 1925 (Monographien deutscher Städte 14), 90–106, hier 99f.; Gerber, Michael Rüdiger: Die Pflege der Wissenschaften in Neisse. In: Bein, Werner/Schmilewski, Vera/Schmilewski, Ulrich (Hg.): Neisse. Das Schlesische Rom im Wandel der Jahrhunderte. Würzburg 1988, 247–251, hier 247f.; Jarczyk, Franz-Christian: Neisse. Kleine Stadtgeschichte in Bildern. Würzburg 1994, 72–74; Gerber, Michael Rüdiger: Die Neisser Philomathie. Ein Beitrag zur schlesischen Geistesgeschichte. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 38/39 (1997/98) 703–723; Kunicki, Wojciech/Kopij, Marta/Połutrenko, Gabriela (Hg.): Neisse. Texte und Bilder. Nysa 2003, hier 56–58. Auf die von der „Philomathie“ herausgegebenen Berichte 14 bis 42 (1863–1938) wird nicht eigens verwiesen. 48 Christian Otto Handel (1810–1872), ab 1840 Pastor in Markt Bohrau. Zu ihm vgl. Neß: Schlesisches Pfarrerbuch, Bd. 4: Regierungsbezirk Breslau, Tl. 4. Leipzig 2014, 120. 49 Gerber: Philomathie, 704. 50 Teichmann, A[lbert]: Fischer, Heinrich Ferdinand. In: Allgemeine Deutsche Biographie 48 (1904) 567f. 51 Klemenz: Philomathie, 140; Gerber: Pflege der Wissenschaften, 248.
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den. Die Zahl der Mitglieder war zunächst auf zwölf Personen beschränkt, wurde jedoch wegen des starken Interesses in der Bürgerschaft bereits im zweiten Vereinsjahr auf 30 erweitert. Zudem wurde in den Anfangsjahren auch die doppelte Ausrichtung der Gesellschaft infrage gestellt, doch fanden Bestrebungen nach einer weitergehenden Verwissenschaftlichung keine Mehrheit.52 Nach den überarbeiteten Statuten vom 1. Oktober 1850 wurde die Philomathie von einer neunköpfigen Kommission mit einem Sekretär an der Spitze geleitet. Der Sekretär wurde jährlich, die Hälfte der Kommissionsmitglieder in zweijährigem Wechsel gewählt.53 Der Zweck der Gesellschaft wurde in § 1 festgelegt, wo es hieß: „Die Philomathie ist ein Verein für wissenschaftlichen Ideen-Austausch und strebt diesen Zweck zu erreichen durch Vorlesung eigner Arbeiten oder durch freie Beiträge, mit strenger Vermeidung jeder Abschweifung vom wissenschaftlichen Standpunkte.“54 Die Philomathie war demnach keine Vereinigung, die selbst wissenschaftlich tätig war oder die Wissenschaften förderte, sondern einen Austausch von Ideen auf wissenschaftlicher Grundlage unter ihren Mitgliedern zum Ziel hatte. Eine inhaltliche Festlegung oder Begrenzung war nicht gegeben, so dass Themen aus allen Wissenschaften zum Vortrag kommen konnten, darunter auch historische. Von den Mitgliedern wurde keine „bestimmte [wissenschaftliche] Qualification“ gefordert, sie waren jedoch verpflichtet, „einen Vortrag zu halten, sobald [...] die Reihenfolge“ sie traf.55 Wie gehabt, fanden die Gesellschaftsversammlungen einmal im Monat statt56 und endeten mit einem gemeinsamen Essen, wie in § 17 festgelegt: „Was die gesellige Anregung betrifft, so hat die Gesellschaft sich stets nach den Vorträgen zu einem frugalen Abendbrod vereinigt. Arbeiten geringeren Umfangs, Erzeugnisse poetischer Lust und Laune sind die echte Würze eines jeden Mahles: eine wissenschaftliche Gesellschaft kann sie daher um so weniger entbehren. Gäste einzuführen steht jedem Mitgliede frei, doch sind diese jedesmal dem Secretair anzumelden.“57 Ähnlich wie beim Glogauer Geschichtsverein wurde mit einem gemeinsamen Essen die Geselligkeit gepflegt, in Neisse jedoch ohne historischen Hintergrund und nach jedem Vortrag, mit lustiger Unterhaltung und Gesang. Hierzu verfügte die „Philomathie“ sogar über ein eigenes Liederbuch, dessen erste, 1849 erschienene Ausgabe 76 Lieder umfasste, die dritte Auflage von 1883 gar 129 Liedtexte.58
52 Gerber: Pflege der Wissenschaften, 247; ders.: Philomathie, 705. 53 Vierzehnter Bericht der Philomathie in Neisse vom März 1863 bis zum März 1865. Neisse 1865, V–VIII, hier VI, § 5–9. 54 Ebd., V, § 1. 55 Ebd., V, § 2. 56 Ebd., V, § 4. 57 Ebd., VIII, § 17. 58 Ebd., VII, § 14; Klemenz: Philomathie, 142.
Patriotismus und Universalität
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VI. Mitgliederstruktur und Tätigkeit der Philomathie Die Zahl der Mitglieder der „Philomathie“ nahm weiterhin zu: 1862 gehörten der Gesellschaft 88 Personen an, 1888 120 und 1912 schließlich 152.59 Die durchschnittliche Mitgliederzahl lag im ersten Jahrhundert bei 95 Personen.60 Die Mitglieder stammten auch hier aus dem Bildungsbürgertum,61 doch fehlten auffälligerweise Handwerker, die sich gerade in Neisse sehr für die Stadtgeschichte interessierten.62 Unter den 105 Mitgliedern der „Philomathie“ des Jahres 1861 befanden sich 54 Offiziere der Garnison Neisse, 28 Beamte und Juristen sowie 15 Ärzte und Apotheker; im Jahr 1900 zählte die Philomathie 94 Mitglieder, davon 36 Beamte und Juristen, 20 Offiziere, 17 Ärzte und Apotheker, zehn Fabrikbesitzer und drei Universitätsprofessoren.63 Diese berufliche Vielfalt kam der geistigen Lebendigkeit der Gesellschaft zugute. Andererseits ist eine starke Fluktuation in der Mitgliedschaft durch berufsbedingte Versetzungen festzustellen. Stabilität und Kontinuität erhielt die „Philomathie“ dagegen durch drei besonders lang amtierende Sekretäre:64 den Apotheker und nachmaligen Pharmazieprofessor an der Breslauer Universität Theodor Poleck65 (Sekretär 1851–1867) sowie die Lehrer Heinrich Rose66 (1876–1896) und August Christoph67 (1898–1920). Vom wissenschaftlichen Charakter der „Philomathie“ zeugen die rund 1.500 Vorträge aus über hundertjähriger Tätigkeit.68 Die Vorträge waren thematisch heterogen und von unterschiedlichem wissenschaftlichem Wert, sie bezeugen jedoch eindrucks-
59 60 61 62
63 64 65 66 67 68
Gerber: Pflege der Wissenschaften, 247. Jarczyk: Neisse. Kleine Stadtgeschichte, 73. Vgl. die detaillierten Angaben bei Gerber: Philomathie, 709f. Zu den drei größten Subskribentengruppen einer entsprechenden Publikation zählten Beamte, Selbständige und eben Handwerksmeister. Vgl. Schmilewski, Ulrich: Ferdinand Minsbergs „Geschichtliche Darstellung der ... Stadt Neisse“ (1834). Der Autor, sein Werk und dessen Leser. In: Trouw, Bernward (Hg.): Der Heimat verpflichtet. Festschrift für Franz-Christian Jarczyk/Neisse, G 19.XI.1919, zum 80. Geburtstag. Hildesheim 1999, 23–36, hier 30–34. Jarczyk: Neisse. Kleine Stadtgeschichte, 73. Eine Liste aller Sekretäre der Gesellschaft im 42. Bericht der Wissenschaftlichen Gesellschaft Philomathie in Neisse vom Oktober 1935 bis Februar 1938. 98. bis 100. Geschäftsjahr. Festschrift zur Hundertjahr-Feier. Neisse 1938, XXXXIII und bei Gerber: Philomathie, 712f. Theodor Poleck (1821–1906), Chemiker, Pharmazeut und Hochschullehrer. Vgl. Nekrolog auf T. Poleck. In: Jahres-Bericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur 84 (1906) 41–44 (Abt. Nekrologe). Heinrich Rose (1839–1904), Professor, Oberlehrer am Realgymnasium. Vgl. den Nachruf auf Professor Heinrich Rose. In: 32. Bericht der wissenschaftlichen Gesellschaft Philomathie in Neisse vom Oktober 1902 bis Oktober 1904. Neisse [1904], 238f. August Christoph (1854–1925), Gymnasialprofessor; Porträt und Nekrolog im 39. Bericht der Wissenschaftlichen Gesellschaft Philomathie in Neisse vom Oktober 1920 bis Oktober 1927. 83.–89. Geschäftsjahr. Neisse 1928, 162–164 (Vorsatz, Sitzungsberichte). Gerber: Pflege der Wissenschaften, 247.
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voll die Bandbreite des geistigen Interesses in der schlesischen Mittelstadt Neisse.69 In der Festschrift zur 75-Jahr-Feier im Jahr 1913 wurden sie in folgende Themenbereiche eingeteilt: Botanik, Geographie und Kulturgeschichte, Geschichte, Kriegswissenschaft, Künste, Literatur und Sprachwissenschaft, Medizin, Mineralogie, Pädagogik, Philosophie, Physik, Chemie, Naturbeschreibung, Astronomie, Rechtswissenschaft, Theologie, Zoologie und Allgemeines.70 Bereits im Gründungsjahr erregte eine Vortragsdemonstration überregionales Aufsehen: Der Referent, der über den elektrischen Telegraphen sprach, spannte innerhalb der Stadt einen entsprechenden Draht und stellte mit einer praktischen Demonstration die Funktionsfähigkeit dieser neuen Art von Nachrichtenübermittlung unter Beweis. So „kam im Jahre 1838 die kleine Stadt Neisse zur ersten Telegraphenverbindung in Schlesien, wahrscheinlich in ganz Preußen“.71 Einige Mitglieder veröffentlichten ihre überarbeiteten Vorträge in eigenen Monographien oder in Zeitschriftenaufsätzen. Um hier Abhilfe zu schaffen und die Tätigkeit der Gesellschaft zu dokumentieren, gab die „Philomathie“ ab 1851 eigene gedruckte „Berichte“ heraus (Abb. 3).72 Diese enthalten in der Regel ein „Chronologisches NamensVerzeichniß der Mitglieder“ mit Anführung des Vorstands, ein Verzeichnis der Schriftentauschpartner, ausgewählte Vorträge im Volltext,73 Sitzungsberichte mit Zusammenfassungen der dabei gehaltenen Vorträge und der Gesellschaftsregularien sowie Nekrologe. Erhielten anfänglich nur die Mitglieder die Berichte, so wurden diese ab der Denkschrift zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen der „Philomathie“ 1863 auch über den Buchhandel vertrieben und mit anderen Vereinen ausgetauscht. 1912 unterhielt die „Philomathie“ Tauschbeziehungen zu 116 wissenschaftlichen Gesellschaften im In- und Ausland,74 deren Publikationen die Grundlage für eine umfangreiche eigene Vereinsbibliothek bildeten. Aus der „Philomathie“ entwickelte sich der am 5. Juli 1897 gegründete „Neisser Kunst- und Altertumsverein“, der Altertümer, Kunstwerke und kunstgewerbliche Gegenstände sammelte und dazu ein Museum unterhielt.75 Während die naturwissenschaftlichen Aufsätze rasch an Aktualität verloren, blieben die historischen Beiträge, besonders jene regional- und geistesgeschichtlicher Art, 69 Für 1830 werden 10.383, für 1861 ohne Militär 13.354, mit Militär 18.612, für 1910 21.966 Einwohner angegeben bei Stoob/Johanek (Hg.): Schlesisches Städtebuch, 278. 70 Verzeichnis der 1889 bis 1913 in der Philomathie gehaltenen Vorträge. In: 36. Bericht der wissenschaftlichen Gesellschaft Philomathie in Neisse vom Oktober 1910 bis Oktober 1913. Zugleich Festschrift zur Feier ihres 75jährigen Bestehens. Neisse 1913, XXXV–XXXXI. 71 Gerber: Pflege der Wissenschaften, 248. 72 Banke, Fritz: Geschichte der Neisser Presse bis zum Jahre 1870. Ein Beitrag zur Geschichte des Neisser Landes. Würzburg 1996 (Wissenschaftliche Schriften des Vereins für Geschichte Schlesiens 2), 75–77. 73 Die 127 Abhandlungen sind aufgelistet bei Gerber: Philomathie, 717–723. 74 Auflistung aller Tauschpartner ebd., 713–717. 75 Jarczyk, Franz-Christian: Der Neisser Kunst- und Altertumsverein sowie sein Museum. In: Chmiel, Peter/Neubach, Helmut/Gussone, Nikolaus (Hg.): Beiträge zur Geschichte Schlesiens im 19. und 20. Jahrhundert. Hans-Ludwig Abmeier zum 60. Geburtstag. Dülmen 1987 (Schriften der Stiftung Haus Oberschlesien 1), 44–69.
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Abb. 3: Titelblatt des 37. Berichts der „Philomathie“ für den Zeitraum März 1913 bis Oktober 1917. Die von 1855 bis 1938 herausgegebenen Berichte enthielten in der Regel Verzeichnisse der Mitglieder und der Schriftentauschpartner, die während der Vereinssitzungen gehaltenen Vorträge in Zusammenfassungen oder im Volltext sowie Nekrologe. Bildnachweis: Bein, Werner/ Schmilewski, Vera/Schmilewski, Ulrich (Hg.): Neisse. Das Schlesische Rom im Wandel der Jahrhunderte. Würzburg 1988, 250.
von bleibendem Wert. Dabei handelte es sich gemäß dem persönlichen Interesse der Referenten etwa um biographische Skizzen von Personen, die in Neisse oder im Neisser Bistumsland gewirkt hatten, um die Publikation von Quellensammlungen oder einzelner Urkunden, über Ereignisse aus der Stadtgeschichte wie die Begegnung König Friedrichs II. mit Kaiser Joseph II. 1769, über die Einführung der Städteordnung in Neisse oder die wirtschaftliche Struktur der Stadt Neisse im Jahr 1442.76 Am bemerkenswertesten ist für den Historiker die von August Kastner verfasste Geschichte der Stadt Neisse,77 die erste wissenschaftlich ernstzunehmende, mit einem Quellenanhang versehene Darstellung, auch wenn sie – zeitlich beschränkt auf die Jahre 1608 bis 76 �������������������������������������������������������������������������������������������� Entsprechende Artikel bei Schubert, Manfred: Unsere Neisser Philomathie. In: Neisser Heimatblatt 32/149 (1979) 15f. 77 Kastner, August: Geschichte der Stadt Neisse mit besonderer Berücksichtigung des kirchlichen Lebens in der Stadt und dem Fürstenthume Neisse, zweiter Teil: 1608–1655. Neisse 1854; erster Teil, Bd. 3. Neisse 1866.
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1655 – Fragment geblieben ist. Es ist der „Philomathie“ bis zu ihrem Ende 1945 nicht gelungen, eine stadtgeschichtliche Gesamtdarstellung zu erarbeiten und zu veröffentlichen. Hierfür mag gerade der universal-wissenschaftliche Ansatz ein Hinderungsgrund gewesen sein. VII. Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Glogau und Neisse Traten beim 1824 gegründeten „Verein für die Geschichte Glogau’s“ die Anfänge aus den Befreiungskriegen mit ihrem patriotischen Grundton deutlich hervor, so fand sich bei der „Wissenschaftlichen Gesellschaft Philomathie in Neisse“ von 1838 nichts dergleichen. In ihren Vereinszielen unterschieden sie sich in ihrer Beschränkung auf die Geschichte einerseits beziehungsweise einem universal-wissenschaftlichen Ansatz andererseits. Dabei erwies sich der Glogauer Geschichtsverein auf die Dauer als nicht überlebensfähig, wogegen die „Philomathie“ bis 1945 lebendig blieb. Der Glogauer Geschichtsverein ist aus der Erinnerung an ein stadthistorisches Ereignis – die Befreiung vom „Franzosenjoch“ 1814 – und dessen Pflege entstanden und setzte diese Erinnerung mit einem jährlichen gemeinsamen Mahl fort. Geschichtspflege betrieb die Neisser „Philomathie“ dagegen nicht, der Betrieb eines mehr kunsthistorisch-volkskundlichstadtgeschichtlichen Museums blieb dem „Neisser Kunst- und Altertumsverein“ vorbehalten. Beide Vereinigungen haben für die Erforschung der Geschichte ihrer Städte im damaligen umfassenden Sinn Wichtiges und mit ihren veröffentlichten stadtgeschichtlichen Darstellungen letztlich Grundlegendes geleistet, auf dem noch der heutige Historiker, nicht zuletzt im Kontext kulturhistorischer Fragestellungen, aufbauen kann.
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Geschichtspflege und Vereinswesen im preußischen Oberschlesien vor dem Ersten Weltkrieg I. Geschichtspflege in Oberschlesien bis Ende des 19. Jahrhunderts Lange Zeit bildeten Forschungen zur Geschichtsschreibung und Erinnerungspflege in Oberschlesien vor dem Ersten Weltkrieg die Ausnahme; die meisten Regionalstudien zum Oderland beschränkten sich auf Untersuchungen zu den Breslauer geschichtsschreibenden Kreisen des 19. Jahrhunderts. Seit 1914 wurden zwar umfängliche archivalische Recherchen durchgeführt. Ihr Augenmerk war jedoch vornehmlich auf den gesamtschlesischen Kontext gerichtet, so dass das preußische Oberschlesien als eigenständige Region kaum erfasst wurde. Brigitte Bönisch-Brednich berücksichtigte 1994 in ihrer Monographie Volkskundliche Forschung in Schlesien. Eine Wissenschaftsgeschichte zwar auch den östlichen Landesteil, ging jedoch bei Lichte besehen nur am Rande auf die für Oberschlesien wichtige „Schlesische Gesellschaft für Volkskunde“ ein.1 Der Anteil der aus Oberschlesien stammenden Mitglieder innerhalb der Gesellschaft betrug mit 14 Personen lediglich 7,5 Prozent.2 Das deutet bereits darauf hin, dass Mitte des 19. Jahrhunderts zwar ein lebhaftes Interesse an wissenschaftlichen Forschungen zur Geschichte und Volkskunde Schlesiens entstand, oberschlesische Regionalhistoriker aber in den wissenschaftlichen Kreisen Schlesiens – zumindest bis zur Jahrhundertwende – nur eine Nebenrolle spielten. Das Zentrum der historischen Schlesienforschung befand sich seit den 1840er Jahren unzweifelhaft in der Provinzhauptstadt Breslau.3 Im Jahr 1844 hatte Gustav Adolf Harald Stenzel den Anstoß zur Gründung eines ersten Geschichtsvereins in Schlesien gegeben, um moderne historische, quellenbasierte und landeskundliche Forschungen einzuleiten. Fünfzig Jahre später schrieb Ernst Maetschke über Stenzels Beweggründe, dass es diesem darum gegangen sei, „tüchtige Aufsätze herauszugeben“, die „aus den Quellen geschöpft“ waren und „Licht über die einzelnen Teile der Landesgeschichte verbreiten sollten“.4 Zwei Jahre nach Stenzels Initiative wurde in der Satzung des Breslauer Geschichtsvereins die Herausgabe eines 1 Bönisch-Brednich, Brigitte: Volkskundliche Forschung in Schlesien. Eine Wissenschaftsgeschichte. Marburg 1994 (Schriftenreihe der Kommission für Deutsche und Osteuropäische Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde 68). 2 Ebd., 77. 3 Bahlcke, Joachim (Hg.): Historische Schlesienforschung. Methoden, Themen und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kulturwissenschaft. Köln/ Weimar/Wien 2005 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 11). 4 Maetschke, Ernst: Die Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 1855–1905. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 41 (1907) 1–16, hier 3.
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eigenständigen wissenschaftlichen Periodikums festgelegt. Verwirklicht wurde das Programm Stenzels jedoch erst durch dessen Nachfolger, Richard Roepell. Das erste Heft der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens erschien 1855 in der schlesischen Hauptstadt. Der Geschichte des östlichen Teils des Oderlandes hatte man sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts kaum wissenschaftlich angenähert. Die bis dahin publizierten Abhandlungen waren zudem oft einseitig, von Vorurteilen und Fehlinterpretationen geprägt. „Die einzelnen Topoi und Bilder, die dabei Verwendung fanden, sind hinlänglich bekannt. Eine nahezu unerschöpfliche Fundgrube stellen beispielsweise die zwischen 1785 und 1849 erschienenen Schlesische[n] Provinzialblätter dar, in denen zahlreiche Beiträge zur Orts- und Landeskunde Oberschlesiens erschienen.“5 Eine in der Sache kritische, methodisch überzeugende Regionalforschung über diesen Raum konnte sich nur langsam durchsetzen. Die moderne Forschung teilt die Entwicklung der Erinnerungspflege und Geschichtsschreibung zu Oberschlesien vor dem Ersten Weltkrieg in zwei Perioden ein: Die erste gilt gleichsam als Initialphase und reicht bis in die 1880er Jahre; in diesem Zeitraum lassen sich erste, meist von Niederschlesien und dessen Zentrum Breslau ausgehende Impulse beobachten. 1856 wurden diese regionalgeschichtlichen Vorstöße dann durch die Verordnung der preußischen Behörden über die Einführung von Regional-, Stadt-, Orts und Schulchroniken standardisiert und verstärkt.6 Aus dieser Entwicklung ging schließlich der „Oberschlesische Geschichtsverein“ hervor, ein selbständiger Kreis von Heimathistorikern und Geschichtsfreunden aus dem östlichen Landesteil (Abb. 1). In Oberschlesien selbst wurde nur selten der Versuch unternommen, konkrete historische Arbeitsprojekte anzustoßen. Wollte man solche publizieren, war man lange auf die Unterstützung und Erfahrung der Kollegen in Breslau angewiesen, die man in aller Regel dankbar annahm. Der Austausch durch Korrespondenzen ersetzte in gewisser Weise das Vereinsleben, das es in Oberschlesien kaum gab. In den Unterlagen des „Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens“ tauchten Oberschlesier als „auswärtige Mitglieder“ auf; kein einziges der dort genannten Mitglieder war ein im weitesten Sinn professioneller Geschichtswissenschaftler mit einer universitären Vorbildung. Vornehmlich handelte es sich um Laien mit ausgeprägter Neigung zur Heimat- und Lokalgeschichte. 1859, also vier Jahre nach Gründung der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens, erschienen in der ersten Zusammenstellung der „auswärtigen Mitglieder aus Oberschlesien“ die Namen von insgesamt 18 Personen (Tab. 1). 5 Bahlcke, Joachim: Oberschlesien – eine Fallstudie zur Konstruktion geschichtlicher Räume, kultureller Identitäten und historiographischer Raumkonzepte. In: Bahlcke, Joachim/Gawrecki, Dan/ Kaczmarek, Ryszard (Hg.): Geschichte Oberschlesiens. Politik, Wirtschaft und Kultur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Oldenburg 2015 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 61), 17–46, hier 23. 6 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Oberpräsidium Breslau, Sign. 272, Bl. 52f.: Der königliche Provinzialarchivar für Schlesien, Colmar Grünhagen, überreicht gehorsamst ein Exemplar seiner Schrift Ueber Städtechroniken und deren zweckmäßige Förderung durch die Communalbehörden mit besonderer Rücksicht auf Schlesien.
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Abb. 1: Im Breslauer Verlag Maruschke & Berendt veröffentlichte der Archivar und Historiker Colmar Grünhagen (1828–1911) im Jahr 1865 seine Schrift Ueber Städtechroniken und deren zweckmäßige Förderung durch die Communalbehörden mit besonderer Rücksicht auf Schlesien. Mit Schreiben vom 22. August des Jahres sandte er ein Exemplar der Abhandlung an den preußischen Innenminister Friedrich Graf zu Eulenburg (1815–1881), den Wegbereiter der großen Verwaltungsreform Preußens in den 1860er Jahren, nach Berlin. Bildnachweis: Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Oberpräsidium Breslau, Sign. 272, Bl. 52.
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Tabelle 1 Auswärtige Mitglieder des „Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens“ (aufgeschlüsselt nach ihren Wohnorten) im Jahr 18597 Wohnort Gleiwitz Groß Strehlitz Grottkau Leobschütz Neisse Oppeln Pleß Proskau Ratibor unbekannt insgesamt
Zahl 11 11 12 13 15 11 11 12 11 11 18
Es war bezeichnend, dass die Mehrheit der oberschlesischen Vereinsmitglieder aus Beamten und Gymnasiallehrern bestand, die aus dem westlichen Teil des Regierungsbezirks Oppeln stammten, vor allem aus Oppeln selbst, ferner aus Neisse, Proskau und Leobschütz. Aus dem östlichen Oberschlesien wurden nur die Städte Gleiwitz und Ratibor genannt, die aufgrund ihres mittelalterlichen Ursprungs von besonderem Interesse für den Verein gewesen sein dürften. Es ist nicht verwunderlich, dass die an Bevölkerungszahl rasch wachsenden Städte des oberschlesischen Industriebezirks keine Repräsentanten im Verein hatten, da es sich bei ihnen durchgehend um junge Zentren von vergleichsweise geringer historischer Attraktivität handelte.8 Ein sowohl quantitativer als auch qualitativer Umschwung der historischen Forschungen zu Oberschlesien erfolgte letztlich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Dies zeigt sich auch in der Zahl der aus dem östlichen Oberschlesien stammenden auswärtigen Mitglieder im Breslauer Geschichtsverein, die im Jahr 1900 auf 86 Personen angewachsen war (Tab. 2).
7 Mitglieder des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 3/2 (1861) 400f. 8 Gehrke, Roland: Vom Völkerfrühling bis zum Ersten Weltkrieg (1848–1918). In: Bahlcke/ Gawrecki/Kaczmarek (Hg.): Geschichte Oberschlesiens, 254–289; Greiner, Piotr: Die Entwicklung der Wirtschaft vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Ebd., 427–464, hier 439–449; Tebarth, Hans-Jakob: Technischer Fortschritt und sozialer Wandel in deutschen Ostprovinzen. Ostpreußen, Westpreußen und Schlesien im Zeitalter der Industrialisierung. Berlin 1991, 61.
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Tabelle 2 Auswärtige Mitglieder des „Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens“ (aufgeschlüsselt nach ihren Wohnorten) im Jahr 19009 Wohnort Stadt Beuthen OS Landkreis Beuthen OS Landkreis Cosel Stadt Gleiwitz Landkreis Grottkau Stadt Kattowitz Landkreis Kattowitz Stadt Königshütte Landkreis Kreuzburg OS Landkreis Leobschütz Landkreis Lublinitz Landkreis Neisse Landkreis Neustadt OS Stadt Oppeln Landkreis Oppeln Landkreis Pleß Landkreis Ratibor Landkreis Groß Strehlitz Landkreis Tarnowitz Landkreis Tost-Gleiwitz insgesamt
Zahl 14 11 13 13 13 15 11 11 13 13 13 15 14 19 14 14 19 13 14 14 86
Betrachtet man die Autoren und die inhaltliche Ausrichtung der Breslauer Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens über fünfzig Jahre hinweg, so waren die Mitglieder aus der Hauptstadt Breslau – die rund neunzig Verfasser publizierten etwa zwei Drittel aller Texte – ungleich produktiver als ihre vierzig Kollegen aus ländlichen Regionen, von denen 16 aus Mittelschlesien, drei aus der Grafschaft Glatz, neun aus Niederschlesien und immerhin zwölf aus Oberschlesien stammten. Berücksichtigt man die Vergleichszahlen des Jahres 1905, so stellt sich heraus, dass ein Viertel aller Verfasser, abgesehen von der Breslauer Mehrheit, Geschichtsschreiber aus Oberschlesien waren.10 Um jedoch einen nachhaltigen Durchbruch innerhalb der regionalen Ge19 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Mitgliederverzeichnis, abgeschlossen Anfang Februar 1901. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 35 (1901) 390f. 10 Maetschke: Die Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens, 9.
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schichtsforschung zu erreichen, bedurfte es eigener, institutionalisierter und selbständiger Strukturen auf regionaler Ebene. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer solchen Neuausrichtung führte dann zur zweiten Entwicklungsphase der Geschichtspflege in Oberschlesien, in der vor allem lokale Vereine und Museen in den Vordergrund traten.
II. Museen, Vereinswesen und Strukturen der Erinnerungspflege und Regionalforschung im preußischen Oberschlesien vor 1914 Neisse Der erste Geschichtsverein in Preußisch-Oberschlesien wurde in Neisse gegründet.11 Im 19. Jahrhundert hatte man die Stadt dem Regierungsbezirk Oppeln zugeteilt; seither gehörte sie, anders als das alte Fürstentum Neisse, verwaltungsrechtlich zu Oberschlesien. Durch die Initiative des 1897 entstandenen „Neisser Kunst- und Altertumsvereins“ wurde ein städtisches Museum gegründet, das im Bischofspalais einen würdigen Sitz erhielt.12 Die Gründer des Vereins waren der Stadtsyndikus Johannes Hellmann, der Landgerichtsrat Dr. Hermann Dittrich, der Bankier Hugo Gloger, der Hauptmann Oscar Haevernick sowie der Apothekenbesitzer Voß. Nach dem Vollversammlungsprotokoll von 1905 zählte der Verein 245 Mitglieder; das Museum besaß mehr als 2.355 Artefakte.13 Der Zweck des Vereins bestand nach wie vor in der „Ermittlung, Erwerbung und angemessene[n] Erhaltung derjenigen Altertümer, Kunstwerke und kunstgewerblichen Gegenstände in der Stadt und Umgegend, welche für Geschichte, Kunst und Handwerk des genannten Gebietes von Wert“ seien.14 Der Vorstand hielt sich in seiner Zusammensetzung recht stabil. 1916 gehörten ihm, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die folgenden Personen an: Hellmann (Vorsitzender), Dittrich (Schriftführer), Gloger (Schatzmeister) sowie als weitere Vorstandsmitglieder: Prof. Christoph, Prof. Bernhard Ruffert, die Stadträte Franz Nave und Mahlich, ferner Oberstleutnant Rehm, Stadtbaurat Meyers und der königliche Baurat Menzel.15 Das Museum umfasste im Erdgeschoss eine Bücherei sowie eine militärische und eine kirchliche Abteilung; im ersten Stockwerk befand sich das Archiv, außerdem waren dort die Abteilungen für 11 Zur Stadtgeschichte von Neisse vgl. Bein, Werner/Schmilewski, Vera/ Schmilewski, Ulrich (Hg.): Neisse. Das Schlesische Rom im Wandel der Jahrhunderte. Würzburg 1988; Kębłowski, Janusz: Nysa. Wrocław 1972; Kroszel, Janusz/Popiołek, Stefan (Hg.): Miasto Nysa. Szkice monograficzne. Wrocław 1970. 12 Paulik, Krzysztof: Zarys historii muzeów w Nysie od końca XIX wieku do 1945 roku. In: Muzealnictwo 47 (2005) 15–24, hier 15–17; Dittrich, Hermann: Neisser Kunst- und Altertumsmuseum. In: Stein, Erwin u. a. (Hg.): Neisse mit Anhang Stadt und Bad Ziegenhals. Berlin-Friedenau 1925 (Monographien deutscher Städte 14), 128–132. 13 Aus dem Jahresbericht des „Neisser Kunst- und Altertumsvereins“. In: Oberschlesische Heimat. Zeitschrift des Oberschlesischen Geschichtsvereins (1905) 112. 14 Führer durch das Museum des Neisser Kunst- und Altertums-Vereins. Neisse 1916, 1. 15 Ebd.
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Münzen, Eisen, Zinn, Möbel, Gewerbe, Trachten, Glas, Keramik und Kupferstiche untergebracht.16 Es war ohne Zweifel die Stadt Neisse, von der weitere Impulse zur Gründung historischer Vereine und Museen in anderen Zentren des Landes ausgingen. Oppeln Mitglieder des „Vereins des Museums für schlesische Alterthümer“ sowie der „Oppelner Philomatie“ sprachen sich für die Gründung eines Museums in Oppeln aus, in der historischen Hauptstadt Preußisch-Oberschlesiens.17 Die „Oppelner Philomatie“ gehörte zu einem Netz ähnlich organisierter Verbindungen in Schlesien, die in ihrer Gesamtheit das Ziel verfolgten, Anliegen der Wissenschaft an breite Kreise der Gesellschaft zu vermitteln. Dazu organisierte man allerorts regelmäßig Vorträge und Gespräche.18 Es verwundert nicht, dass die Gründer des Oppelner Museums aus diesem Kreis kamen. In der Sitzung der „Oppelner Philomatie“ vom 25. Oktober 1897 ergriffen Oberbürgermeister Arthur Pagels und der Stadtabgeordnete Paul Vogt die Initiative zur Gründung eines Museums in Oppeln. Es sollte den Namen „Städtisches Altertumsmuseum“ tragen. Der eigentliche Gründer aber war der Oppelner Historiker Franz Sprotte. Am 5. November 1900 konnte die „Philomatie“ schließlich die Eröffnung des Museums im Gebäude der ehemaligen Städtischen Höheren Mädchenschule, Malapaner Straße 6,19 feiern.20 Es umfasste Abteilungen für Geologie und Urgeschichte, Münzen und Siegel, Kriegswesen, Länder- und Völkerkunde, graphische Künste, Handel und Gewerbe. Daneben gab es eine Kammer für die Geschichte berühmter Männer, in der man die Nachlässe von Eduard Schnitzer (Mehmed Emin Pascha) und von Regierungspräsident Theodor Gottlieb von Hippel aufbewahrte, dem Verfasser des berühmten Aufrufs „An mein Volk“ vom 17. März 1813, ferner Entwürfe des Monumentalbrunnens in Oppeln und andere Dokumente. Als die kostbarsten oberschlesischen Artefakte im Oppelner Museum bezeichnete Sprotte die prähistorischen Gräber, die 1900 in der Nähe von Groß Strehlitz ausgegraben worden waren. Die hierbei gemachten Funde umfassten 13 ungarische Goldgulden aus dem 15. Jahrhundert, ferner das der Stadt Pleß gehörende Richtschwert und Überreste des Prangers, der auf dem Oppelner Ring vor der Hauptwache gestanden hatte, darüber 16 Ebd., 6f. 17 Zur Stadtgeschichte von Oppeln vgl. Linek, Bernard/Tarka, Krzysztof/Zajączkowska, Urszula (Hg): Opole. Dzieje i tradycja. Opole 2011; Dziewulski, Władysław/Hawranek, Franciszek (Hg.): Opole. Monografia miasta. Opole 1975; Idzikowski, Franz: Geschichte der Stadt Oppeln. Oppeln 1863. 18 Schreiber-Kurpiers, Dorota: Niemiecki krajobraz kulturalny miasta. In: Linek, Bernard/Tarka, Krzysztof/Zajączkowska, Urszula (Hg.) Opole. Dzieje i tradycja. Opole 2011, 273–283, hier 280. 19 ������������������������������������������������������������������������������������� Die Städtische Höhere Mädchenschule in Oppeln wurde 1878 gegründet. Dokumente zur Geschichte der Schule sind allerdings nur für die Zeit nach 1910 erhalten. Vgl. Archiwum Państwowe w Opolu, Annabergschule, Staatliche Oberschule für Mädchen zu Oppeln, Inventar. 20 �������������������������������������������������������������������������������������������� Sprotte, Franz: Das Museum in Oppeln. In: Oberschlesische Heimat. Zeitschrift des Oberschlesischen Geschichtsvereins 1/1 (1905) 53–61.
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hinaus Oppelner Stadtpläne aus den Jahren 1640, 1734, 1811 und 1859. Genannt wurden überdies ältere Ansichten von Oppeln und die Fayencen-Sammlung aus der bekannten Proskauer Fayencenfabrik, die einst König Friedrich II. von Preußen gegründet hatte.21 Bereits im ersten Jahr seines Bestehens zählte das Museum mehr als 700 Besucher. 1907 wurde es in die Räume der ehemaligen evangelischen Schule im Franziskanerkloster (am Regierungsplatz) verlegt, das seit fast einem Jahrhundert der evangelischen Gemeinde gehört hatte. Die Sammlungen blieben dort bis zum Jahr 1926,22 anschließend wurden sie kurzzeitig in die Zigarrenfabrik (Gartenstraße 12) verlegt, da das Klostergebäude renoviert werden musste.23 Da der neue Sitz jedoch den Bedürfnissen des Museums nicht gerecht wurde, verlegte man dieses 1932 in das Jesuitenkollegium (Tuchmarktstraße 7), wo bis dato ein Wohlfahrtsamt untergebracht gewesen war. Nach einem kurzen Umbau wurden im Erdgeschoss die Bibliothek und darüber das Museum eingerichtet. Alfred Steinert, der letzte Museumsleiter vor dem Zweiten Weltkrieg,24 ein namhafter Museologe und Autor mehrerer Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Oppeln, starb 1963 im Alter von 85 Jahren in Zittau.25 Gleiwitz Ein drittes Museum wurde im industrialisierten östlichen Teil Oberschlesiens, in Gleiwitz, gegründet.26 Erste Pläne dazu entstanden 1903, als der Vorsitzende des Kreiskriegsverbands, der Geheimrat und Richter am Gleiwitzer Gericht Artur Schiller, den Plan entwickelte, in der Stadt ein Kriegsmuseum zu gründen. Der Peiskretschamer Historiker und Pfarrer Johannes Chrząszcz unterstützte ihn bei der Ausarbeitung des wissenschaftlichen Konzepts.27 Am 22. März 1905 fand im Deutschen Haus die Gründungsversammlung mit 43 Personen statt. Die Ziele des neuen Museums schilderte Chrząszcz wie folgt: „Für Oberschlesien, und zwar zunächst für das industrielle Oberschlesien, solle Gleiwitz ein Sammel- und Mittelpunkt werden durch Gründung eines Oberschlesischen Museums. Ein solches sei zugleich eine patriotische Tat, da das Museum zeigen werde, was Schlesien, insbesondere Oberschlesien, den Hohenzollern verdanke.“28 Das Museum 21 22 23 24 25 26
Ebd. Schreiber-Kurpiers: Niemiecki krajobraz kulturalny miasta, 277f. Spisla, Otto: Oppeln in den Stürmen der Zeit. Ratingen-Hösel 1996, 70. Schreiber-Kurpiers: Niemiecki krajobraz kulturalny miasta, 277f. Spisla: Oppeln in den Stürmen der Zeit, 83. Zur Stadtgeschichte von Gleiwitz vgl. Drabina, Jan (Hg.): Historia Gliwic. Gliwice 1995; Piotrowska-Andruszków, Ewa: Historia Gliwic od XIII wieku do współczesności. Gliwice 1993; Szefer, Andrzej (Hg.): Gliwice. Zarys rozwoju miasta i okolicy. Warszawa/Kraków 1976. 27 Vgl. den Bericht über den „Oberschlesischen Museumsverein“ in: Oberschlesische Heimat. Zeitschrift des Oberschlesischen Geschichtsvereins 2 (1906) 112. 28 Chrząszcz, Johannes: Oberschlesischer Museumsverein in Gleiwitz. In: Oberschlesische Heimat. Zeitschrift des Oberschlesischen Geschichtsvereins 2 (1906) 59–60, hier 59. Weitere einschlägige Studien verzeichnet Giela, Joachim: Biographisch-bibliographische Studien zu dem oberschlesischen Pfarrer und Historiker Johannes Chrząszcz. In: Oberschlesisches Jahrbuch 16/17 (2000/01) 91–128.
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Abb. 2: Der Peiskretschamer Pfarrer und Heimathistoriker Johannes Chrząszcz (1857–1928), der zahlreiche Abhandlungen zur Geschichte Oberschlesiens veröffentlichte, zählte auch zu den Gründervätern des 1904 in Oppeln gegründeten „Oberschlesischen Geschichtsvereins“. Bildnachweis: Biblioteka Śląska w Katowicach.
wurde am 18. Februar 1906 als Pflegestätte des preußischen Patriotismus unter der Leitung der „Oberschlesischen Museumsgesellschaft“ eröffnet. Es entwickelte sich mit der Zeit zum musealen Zentrum für zeitgenössische oberschlesische Kunst (Abb. 2).29 Zum Gründungskomitee hatten auch der Gleiwitzer Bürgermeister Hermann Mentzel und der für die Region bedeutende Historiker Benno Nietsche gehört. Gleich zwei oberschlesische Geschichtsvereine wirkten bei diesem Museum mit, der „Oberschlesische Museumsverein“ und die 1914 gegründete „Eichendorff-Gesellschaft“ unter dem Vorsitz von Oscar Vogt.30 Noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs nahm man erste eigenständige Forschungen in Angriff. Schiller machte sich in diesem Zusammenhang für die Einrichtung eines Wirtschaftsarchivs der oberschlesischen Industrie stark. Zum 29 ������������������������������������������������������������������������������������������� Chrząszcz, Johannes: Kunst und Industrie. Das oberschlesische Museum und die Kunst in Oberschlesien. In: Oberschlesische Heimat. Zeitschrift des Oberschlesischen Geschichtsvereins 14 (1918) 38–41, hier 39f. 30 Hollender, Martin: O politycznym i ideologicznym zawłaszczaniu twórczości Josepha von Eichendorffa. Wrocław 2005 (Studia Brandtiana 1), 49.
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Vorsitzenden der dafür bereits eingesetzten Kommission ernannte man den Handelsrat Kledt. Der wenig später ausbrechende Krieg machte diese Initiative allerdings zunichte.31 Pleß Dass sich Pleß zu einem von Breslau unabhängigen Ort für historische Forschung im östlichen Oberschlesien entwickeln konnte,32 verdankte die Stadt vor allem dem Hofarchivar des Fürsten von Pleß, Ezechiel Zivier. Dieser befand sich infolge seiner Arbeit für Hans Heinrich XI. Graf Hochberg im Rahmen eines Streits um Bergrechte im Zwist mit Colmar Grünhagen und konnte dabei plausible, wissenschaftlich belegte Forderungen durchsetzen, die bei Grünhagen in Breslau auf Unbehagen stießen. Zivier widmete sich in Pleß der Geschichte Oberschlesiens, ohne sich auf die Metropole Breslau zu stützen, zu der er keine persönlichen Beziehungen pflegte. Das von Zivier im Hofarchiv verzeichnete Schrifttum des Fürsten von Pleß diente ihm als wissenschaftliche Grundlage für seine Studien, wodurch sich gerade Pleß als von Breslau unabhängiger Forschungsstandort etablieren konnte. Über seine Archivtätigkeit für den Fürsten hinaus sichtete er das Schrifttum oberschlesischer Städte und Gemeinden.33 Die Ergebnisse dieser Recherchearbeiten sind auch für die heutige Forschung noch wertvoll. Mutmaßlich um die Unabhängigkeit von Breslau zu zementieren, gründete Zivier 1902 die Monatsschrift Oberschlesien, die er bis 1906 als erster Redakteur leitete. Zu den vergessenen wissenschaftlichen Leistungen Ziviers während seiner Tätigkeit in Pleß gehören die Gründung des Gesamtarchivs der deutschen Juden in Deutschland34 sowie die 1917 in erster und 1923 in zweiter, überarbeiteter Auflage erschienene Studie zur Geschichte Polens während der Jagiellonenzeit.35
III. Der „Oberschlesische Geschichtsverein“ Eine Zäsur innerhalb der historischen Forschung zu Oberschlesien stellt die Gründung des von Breslau unabhängigen „Oberschlesischen Geschichtsvereins“ dar, der aus dem Mitarbeiterkreis der Monatsschrift Oberschlesien entstand. Das Periodikum verstand 31 Kalinowska-Wójcik, Barbara: Między Wschodem a Zachodem. Ezechiel Zivier (1868–1925). Historyk i archiwista. Katowice 2015, 191. 32 �������������������������������������������������������������������������������������������� Zur Stadtgeschichte von Pleß vgl. Kaczmarek, Ryszard/Sperka, Jerzy (Hg.): Pszczyna: monografia historyczna. Bd.1–2. Pszczyna 2014; Musioł, Ludwik: Pszczyna: monografia historyczna. Pszczyna 1936. 33 Zivier, Ezechiel: Oberschlesische Archive und Archivalien. In: Oberschlesien 12 (1913) 293–303. 34 Welker, Barbara: Das Gesamtarchiv der deutschen Juden – Zentralisierungsbemühungen in einem föderalen Staat. In: Bischoff, Frank M./Honigmann, Peter (Hg.): Jüdisches Archivwesen. Beiträge zum Kolloquium aus Anlass des 100. Jahrestags der Gründung des Gesamtarchivs der deutschen Juden. Marburg 2007 (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 45), 39–73. 35 Zivier, E[zechiel]: Polen. Gotha 1917 [21923] (Perthes kleine Völker- und Länderkunde zum Gebrauch im praktischen Leben 4).
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sich selbst als eine „Zeitschrift zur Pflege der Kenntnis und Vertretung der Interessen Oberschlesiens“36 mit dem von Zivier verfolgten Zweck, vor allem die oberschlesische Literatur und Kunst zu thematisieren und dadurch zu fördern. Zivier sprach Anfang des 20. Jahrhunderts noch vom „Ländchen Oberschlesien“, womit er den Lesern Oberschlesien quasi als Subregion des Großraums Schlesien präsentierte.37 Die Inhalte der Monatsschrift waren im Grunde populärwissenschaftlich, der Abnehmerkreis differenziert; meist handelte es sich um Liebhaber der Heimatgeschichte und Landeskunde, Politiker und Intellektuelle. Die Leser waren nur mäßig an fachhistorischen Artikeln und Quellenpublikationen interessiert. Geographisch verschob sich der Schwerpunkt allmählich auf das wirtschaftlich und kulturell im Wachstum befindliche Kattowitz. 1906 übernahm der aus Glogau gebürtige, in Tarnowitz und Kattowitz tätige Gymnasiallehrer Paul Knötel, der sich mit verschiedenen Fachstudien zum Industriegebiet früh einen Namen gemacht hatte, die Redaktion, die er bis 1920 beibehielt. Er vor allem prägte die Zeitschrift als wichtigstes Organ „heimatlicher Forschung“ in Oberschlesien.38 Durchaus aufschlussreich ist, dass die Entstehung einer sich von Breslau abnabelnden, unabhängigen Historikergruppe in Oberschlesien bei den akademischen Kreisen Niederschlesiens spürbar für Irritationen sorgte. Offenkundig wünschte man keine Konkurrenz, obwohl beide Zentren letztlich sowohl hinsichtlich des wissenschaftlichen Leistungsvermögens als auch mit Blick auf die inhaltliche Ausrichtung stark divergierten. Die Überlegenheit Breslaus in der historischen Schlesienforschung stand unangefochten fest. Beunruhigung erweckte vielmehr die Tatsache, dass die Oberschlesier nun über ein eigenes Publikationsorgan verfügten. Hellhörig war man bereits geworden, als Zivier die Zeitschrift Oberschlesien gegründet hatte, zumal der Herausgeber in Niederschlesien kein unbeschriebenes Blatt war: Zivier war mit einer Abhandlung über den Codex Suprasliensis an der Leopoldina im Fach Slawische Philologie bei Władysław Nehring promoviert worden. Nach Pleß hatte ihn der Leiter des Staatsarchivs Breslau, Colmar Grünhagen, persönlich empfohlen. 1905 war in der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens zu lesen: „Einen größeren Einfluß kann die seit 1902 von Zivier herausgegebene Zeitschrift ‚Oberschlesien‘ zur Pflege der Kenntnis und Vertretung der Interessen Oberschlesiens ausüben, wenigstens scheint sie unserer Zeitschrift ständige Mitarbeiter wie Wahner, Knötel und Chrząszcz zu entziehen und andere Historiker wie Zivier daran zu verhindern, daß sie es werden.“39 Hauptinitiator des im Oktober 1904 gegründeten „Oberschlesischen Geschichtsvereins“ war Oskar Wilpert, der auf der ersten Hauptversammlung zum Ersten Vorsitzenden gewählt wurde. Der Peiskretschamer Pfarrer Johannes Chrząszcz wurde als Zweiter Vorsitzender bestätigt. Dem Vorstand gehörten ferner an: der Neudecker 36 Ders.: Vom Herausgeber. In: Oberschlesien 1 (1902) 1. 37 Kalinowska-Wójcik: Między Wschodem a Zachodem, 182f. 38 Kurpiun, Robert: Paul Knötel. Ein Lebensbild. In: Der Oberschlesier. Monatsschrift für das heimatliche Kulturleben 20 (1938) 171–175. 39 Maetschke: Die Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens, 15f.
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Ryszard Kaczmarek Abb. 3: Die 1905 begründete, in Oppeln am Sitz des „Oberschlesischen Geschichtsvereins“ erscheinende Fachzeitschrift Oberschlesische Heimat entwickelte sich binnen kürzester Zeit zum wichtigsten Sprachrohr der oberschlesischen Historiker. Bildnachweis: Biblioteka Śląska w Katowicach.
Justizrat und Generaldirektor Josef Bitta, der Gogoliner Arzt Dr. Bruno Hampel, der Oppelner Architekt Ludwig Schneider, der Oppelner Professor Franz Sprotte und der Oppelner Justizrat und Landtagsabgeordneter Paul Vogt.40 Die Mitgliederzahl des „Oberschlesischen Geschichtsvereins“ stieg rapide an, im März 1905 zählte er 165, im Sommer desselben Jahres bereits 235 Mitglieder. Vertreten waren neun Magistrate oberschlesischer Großstädte, zwei Kreisausschüsse, zwei Seminare, das Museum in Oppeln, die „Oppelner Philomatie“, ferner eine Pfarr- und eine standesherrliche Bibliothek. Vor Kriegsausbruch gehörten dem Verein mehr als 500 Mitglieder aus den bürgerlichen Kreisen Oberschlesiens an. Gerade in Oppeln entstand ein eigenständiges Milieu von Geschichtsliebhabern und Heimatforschern (Abb. 3).41 40 Chmiel, Peter: Johannes Chrząszcz als Herausgeber wissenschaftlicher Zeitschriften. In: Meyer, Dietrich/Schott, Christian-Erdmann/Schwarz, Karl (Hg.): Über Schlesien hinaus. Zur Kirchengeschichte in Mitteleuropa. Festgabe für Herbert Patzelt zum 80. Geburtstag. Würzburg 2006 (Beihefte zum Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 10), 241–249, hier 244. 41 Wilpert, Oskar: Rückblick auf unser erstes Vereinsjahr. In: Oberschlesische Heimat. Zeitschrift des Oberschlesischen Geschichtsvereins 1 (1905) 167f.
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Gemäß Satzung hatte der Verein die „Kenntnis der Geschichte Oberschlesiens zu fördern und zu verbreiten“.42 Die Erfüllung dieser Aufgabe wurde als langfristiges Ziel betrachtet, zu dem der Weg über die Herausgabe eines eigenen Periodikums und den wissenschaftlichen Austausch zwischen den Mitgliedern führen sollte. Eingeplant wurden Beihilfen zu wissenschaftlichen Studien für die Mitglieder, praktische Bemühungen zur Erhaltung geschichtlicher Denkmäler und weitere Unternehmungen, soweit sie für die Geschichte Oberschlesiens von Bedeutung zu sein schienen. Die Zeitschrift des Vereins, die Oberschlesische Heimat, erschien seit 1905. Sie wurde trotz permanent knapper Mittel zu einem wichtigen Sprachrohr der oberschlesischen Historiker. Die erste Auflage hatte der prominente Zentrumspolitiker und Reichstagspräsident Franz Graf Ballestrem als Ehrenmitglied des Vereins gefördert. Die offensichtliche Verbindung zur Zentrumspartei, die sich auch in der Unterstützung durch den Erzbischof von Breslau, Georg von Kopp, äußerte, war ein weiterer Grund für die dauerhafte Zurückhaltung der Breslauer Historiker gegenüber dem „Oberschlesischen Geschichtsverein“. So spiegelte das Milieu der schlesischen Fachhistoriker die politisch-konfessionelle Heterogenität des Oderlandes in struktureller wie personeller Weise wider und blieb bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs tief gespalten.
42 Oberschlesische Heimat. Zeitschrift des Oberschlesischen Geschichtsvereins 1 (1905) 1.
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Institutionen und Protagonisten der Geschichtspflege im Glatzer Land vor 1914 I. Historische Forschung und gegenwärtiges Regionalbewusstsein im Glatzer Land Das Glatzer Land, eine kleine, zwischen Schlesien und Böhmen gelegene Region, ist ungeachtet seiner vermeintlich geringen Bedeutung innerhalb des heutigen polnischen Staates seit einiger Zeit in den Fokus der historischen Forschung geraten. Erst kürzlich wurden der Geschichte dieser Region eine polnisch-deutsche und eine polnisch-tschechische Gesamtdarstellung gewidmet, an deren Entstehung jeweils deutsche, polnische und tschechische Historiker gleichermaßen beteiligt waren.1 Darüber hinaus entstanden Monographien über die Geschichte der zwei bedeutendsten Städte des Glatzer Landes, Glatz und Habelschwerdt,2 sowie mehrere Studien zu ausgewählten regionalgeschichtlichen Problemstellungen. Schließlich war die Grafschaft Glatz auch Gegenstand zahlreicher Qualifikationsschriften jüngerer Historiker, Kunsthistoriker und Germanisten. Auf Initiative der Breslauer Germanistik fand im Mai 2015 eine erste internationale und interdisziplinäre Tagung über das Glatzer Land statt. Erwähnenswert sind zudem mehrere Quelleneditionen.3 Einen wichtigen Beitrag leisten nicht zuletzt regional ausgerichtete Fachzeitschriften wie der Kladský Sborník (Glatzer Almanach), die Zeszyty Ziemi Kłodzkiej (Hefte des Glatzer Landes) und der Rocznik Muzeum Papiernictwa ( Jahrbuch des Museums der Papierindustrie). Die Ergebnisse dieser Forschungen stoßen auf reges Interesse innerhalb der Region. Dies gilt vor allem für die Mitglieder regionaler bzw. lokaler Gesellschaften und Organisationen, von denen wiederholt die Anregung zur Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit ausging.4 Die letzten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts stellen, was das Glatzer Land betrifft, mithin eine forschungsintensive Periode dar. Ihr geschichtswissenschaftlicher 1 Herzig, Arno/Ruchniewicz, Małgorzata: Dzieje Ziemi Kłodzkiej. Wrocław/Hamburg 2006, deutsch u. d. T.: Geschichte des Glatzer Landes. Wrocław/Hamburg 22008 [12006]; Felcman, Ondřej/Gładkiewicz, Ryszard: Kladsko. Dějiny regionu. Hradec Králové/Wrocław 2012. 2 Gładkiewicz, Ryszard (Hg.): Kłodzko. Dzieje miasta. Kłodzko 1998; Ruchniewicz, Małgorzata/ Rosik, Stanisław/Wiszewski, Przemysław: Bystrzyca Kłodzka. Zarys rozwoju miasta na przestrzeni wieków. Wrocław/Bystrzyca/Kłodzka 2007. 3 Musil, František/Pregiel, Piotr: Chrestomatie k dějinám Kladska. Hradec Králové 2002 (Kladský sborník 3); Mrozowicz, Wojciech (Hg.): Cronica monasterii Canonicorum Regularium (s. Augustini) in Glacz. Wrocław 2003; Herzig, Arno/Ruchniewicz, Małgorzata (Hg.): W kraju Pana Boga. Źródła i materiały do dziejów Ziemi Kłodzkiej od X do XX wieku. Kłodzko 22010 [12003]. 4 Popularna encyklopedia Ziemi Kłodzkiej, Bd. 1–4. Kłodzko 2009–2011.
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Ertrag steht in Kontrast zu den eher dürftigen Forschungsergebnissen der vorangegangenen Jahrzehnte.5 Augenfällig ist diesem Zusammenhang die positive Wirkung der Wendejahre 1989/90, die sich in der Überwindung politisch motivierter Forschungstabus, der Aufnahme eines vielseitigen und grenzüberschreitenden Wissenschaftsdialogs sowie der Öffnung von Archiven niederschlug. Die genannten Maßnahmen erfüllten gesellschaftliche Erwartungen, die sich in dem Bedürfnis nach Aneignung der Geschichte des Glatzer Landes vor 1945 sowie in der Aufnahme von Kontakten zu den ehemaligen Bewohnern der Region ausdrückten. Auf Seiten der Selbst- und Staatsverwaltung wurden sie wohlwollend unterstützt. Die Wiederverwendung der alten, zur Zeit des Kommunismus abgelehnten und in Vergessenheit geratenen Bezeichnung „Grafschaft Glatz“ wurde gleichsam zum Symbol einer neuen Zeit und eines neuen Kulturverständnisses. Heute ist diese traditionelle Bezeichnung Ausdruck eines neuen Glatzer Regionalbewusstseins. Die Pflege einer eigenständigen, von der schlesischen bzw. böhmischen (tschechischen) Landesgeschichte zu unterscheidenden Regionalgeschichte ist für breite Kreise von großer Bedeutung. Eine wichtige Rolle im Kontext der aktuellen Überprüfung des regionalen Geschichtsbildes spielt der frühere Beitrag deutschsprachiger Autoren zur Geschichte des Glatzer Landes, ein Beitrag, der nicht nur ein wichtiger Bezugspunkt für heutige Autoren aus Polen und Tschechien ist, sondern darüber hinaus auch die erste relevante Informationsquelle über die Vergangenheit der Region darstellte. Die reiche Sammlung von Presse- und Literaturtiteln in der Breslauer Universitätsbibliothek aus der Zeit vor 1945 erleichtert die Benutzung dieser älteren Materialien ganz erheblich. Wegen des Mangels an neueren Abhandlungen erlebten diese älteren, in Teilen längst überholten Werke eine Renaissance. Es scheint nunmehr eine weitere Etappe der Geschichtspflege angebrochen zu sein, in der archivalischen Studien immer größere Bedeutung zugemessen wird. Es wäre zu wünschen, dass dabei auch die ältere, aber nach wie vor einflussreiche Historiographie zum Gegenstand kritischer Studien wird.6 Die Nutzung dieser Werke ist eng verbunden mit der Frage nach ihren Autoren. Auch wenn dies häufig fachfremde Regionalforscher waren, so müssen sie heute doch als wichtige Vorläufer und Impulsgeber der modernen Geschichtsschreibung betrachtet werden.
5 �������������������������������������������������������������������������������������������� Die wenig ertragreiche Forschung der Zeit vor 1980 ist weniger einem Mangel an Interesse geschuldet, sondern vielmehr dem Umgang des kommunistischen Staates mit dem historischen Erbe der 1945 an Polen angeschlossenen Gebiete. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang jedoch die Entstehung einer Gruppe von Forschern in Glatz nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich die Erforschung der Stadt- und Regionalgeschichte zum Ziel gesetzt hatte. Vgl. Ruchniewicz, Krzysztof/Ruchniewicz, Małgorzata: Die Historiographie Polens in der Nachkriegszeit in Bezug auf das Glatzer Land. In: Herzig, Arno (Hg.): Glaciographia Nova. Festschrift für Dieter Pohl. Hamburg 2004, 346–355. 6 Den ersten Versuch auf diesem Gebiet unternahm Arno Herzig. Vgl. Herzig/Ruchniewicz: Dzieje Ziemi Kłodzkiej, 15–20.
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II. Die Geburtsstunde der Glatzer Historiographie im 19. Jahrhundert Die Entstehung eines breiten Schrifttums zu lokalen Themen war keine Glatzer Besonderheit, sondern Zeichen einer Zeit, das seinem Grundgedanken nach aus der Aufklärung erwachsen war und im 19. Jahrhundert, im Zuge der Verwissenschaftlichung des Fachs Geschichte, kräftige Impulse erfuhr. Hinzu kamen ein steigendes Ausbildungsniveau und die Wertschätzung besonders der historischen Bildung durch die Regierung, die pädagogische Reformen in Gang setzte, um die Loyalität ihrer Untertanen bzw. Staatsbürger zu fördern. Darüber hinaus wirkte die Auseinandersetzung mit der regionalen Geschichte als Katalysator für die Entwicklung der Heimatschutzbewegung in Deutschland nach 1871, in der das Erbe der Vergangenheit – so wie man es damals verstand – eine wichtige Rolle spielte.7 Entsprechend attraktiv waren die Mitgliedschaft in lokalen Organisationen und die rege Teilnahme am gesellschaftlichen Leben kleiner Zusammenschlüsse. Entsprechende Vereinigungen bildeten die organisatorische Infrastruktur der Glatzer Geschichtslandschaft, sie ermunterten zur Veröffentlichung historischer Abhandlungen und stellten deren Finanzierung sicher, sie bestellten Jubiläumsvorträge und riefen Periodika ins Leben, die für die Geschichtspflege wichtige Bezugspunkte wurden. Darüber hinaus kam es zur Gründung von Gesellschaften, die ihren Schwerpunkt – oder zumindest einen ihrer Schwerpunkte – auf die Förderung von Heimatkunde und Regionalgeschichte legten. Im Fall des Glatzer Landes kam es dazu erst relativ spät, was dem peripheren Charakter der Region und ihrer allgemeinen Rückständigkeit geschuldet war. Mit Ausnahme von Glatz waren die anderen Städte klein und von geringer intellektueller Strahlkraft. Zwar waren die Jesuiten in Glatz bereits seit Ende des 16. Jahrhunderts im Bildungswesen aktiv gewesen und besaßen ein Kollegium, doch war dieses im Zuge der Säkularisation 1810 in ein Katholisches Gymnasium umgewandelt worden, in dem freilich auch Schüler anderer Konfessionen unterrichtet wurden. Als der universitären Weiterbildung vorgelagerte Instanz spielte die Schule beim Wissenserwerb der Jugend allerdings eine große Rolle. Ein Forschungsdesiderat ist nach wie vor, ob und in welchem Ausmaß sich das Lehrerkollegium – in dem es auch promovierte Pädagogen und solche im Rang eines Schulrats gab – am städtischen Kulturleben beteiligte und im Bereich der Geschichtspflege engagierte.8 Bisher deutet nichts darauf hin, dass sich um
7 Nowosielska-Sobel, Joanna: Od ziemi rodzinnej ku ojczyźnie ideologicznej. Ruch ochrony stron ojczystych (Heimatschutz) ze szczególnym uwzględnieniem Śląska (1871–1933). Wrocław 2013 (Acta Universitatis Wratislaviensis 3491; Historia 186), 153–171. 8 Zur Geschichte der Schule liegen nur zwei populärwissenschaftliche Publikationen vor. Vgl. Szczepaniak, Zdzisław: Kolegium jezuickie i konwikt w Kłodzku 1597–1945. Kłodzko 2005; Linke, Oskar: Die Grafschaft Glatz. Deutschlands Erker, Gesundbrunnen und Herrgottswinkel, Bd. 3: Gymnasium und Konvikt zu Glatz. Ein Beitrag zur Geschichte deutscher Erziehungs- und Bildungsarbeit im schlesischen Raum 1300–1945. Lüdenscheid 1961. Bei Linke finden sich Biographien der Gymnasiallehrer mit knappen Informationen über deren außerschulische Aktivität. Sie
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das Gymnasium ein aktives Kulturmilieu versammelt hätte. Es scheint vielmehr, dass die Aktivität kleiner, informeller Kreise bzw. einzelner Personen für die Geschichtspflege in der Grafschaft Glatz langfristig bedeutsamer war als die Arbeit der eigentlichen Vereine.
III. Die Gründung historischer Vereinigungen im Glatzer Land und deren Arbeit Zwei Organisationen, die sich um die Glatzer Geschichtspflege in besonderem Maß verdient gemacht haben, bedürfen an dieser Stelle der Erwähnung: zum einen der 1881 gegründete „Glatzer Gebirgsverein“, zum anderen die 1865 aus der Taufe gehobene „Alte Breslauer Landsmannschaft Glacia“, eine auch außerhalb der Region tätige Vereinigung, der aus der Grafschaft Glatz stammende Studenten und Absolventen der Universität Breslau angehörten. Im vorletzten Weltkriegsjahr 1917, das gleichsam den Beginn einer neuen Epoche markierte, ging aus ihr der „Verein für Glatzer Heimatkunde“ hervor. Die beiden Vereine arbeiteten in vielen Bereichen zusammen und waren häufig durch doppelte Mitgliedschaften miteinander verbunden. Der „Glatzer Gebirgsverein“ zählte Ende der 1890er Jahre etwa 3.000 Mitglieder, darunter Bürgermeister, Lehrer, Geistliche, Beamte, Journalisten, Verleger und Unternehmer. Die Mehrheit der Mitglieder blieb freilich vergleichsweise inaktiv, entrichtete lediglich den Mitgliedsbeitrag und nahm an den Jahresversammlungen ihrer jeweiligen Ortsgruppe teil. Die Hauptziele des „Glatzer Gebirgsvereins“ waren die Entwicklung des Tourismus und der Aufbau der hierfür notwendigen regionalen Infrastruktur, aber auch der Natur- und Denkmalschutz sowie – unter Einheimischen ebenso wie unter Auswärtigen – die Popularisierung der Glatzer Geschichte und Heimatkunde. Zur Gründung einer eigenen Sektion für den Bereich der Geschichtspflege kam es jedoch nicht. Zudem litt der Verein unter chronischem Geldmangel, da der Aufbau der touristischen Infrastruktur einen erheblichen Teil seiner finanziellen Ressourcen verzehrte. Der Hauptvorstand zeigte sich dennoch bestrebt, die regionale Geschichtspflege aktiv voranzutreiben. So richtete der Verein 1883 eine kleine Bibliothek ein, in der Veröffentlichungen über die Geschichte der Region, aber auch Schlesiens allgemein, gesammelt wurden. In den 1880er Jahren zählte die Sammlung allerdings gerade einmal 150 Bände und konnte so nur eine geringe Anzahl von Lesern verzeichnen. Über sein bibliothekarisches Wirken hinaus stiftete bzw. renovierte der Verein einige Gedenktafeln, etwa zur Erinnerung an die Aufenthalte König Friedrichs II. von Preußen und Johann Wolfgang von Goethes in der Grafschaft Glatz oder an den Tod von Herzog Johannes von Münsterberg im Kampf gegen die Hussiten. Im Jahr 1906 eröffnete man zudem ein kleines Museum. Die Idee hierzu war bereits 1891 entstanden, konnte aber erst anlässlich des 25. Jubiläums des „Glatzer Gebirgsvereins“ realisiert werden. Das Museum wurde in einem der Räume des Rathauses in zeigen, dass einige von ihnen um 1900 Texte zur Geschichte und Landschaft der Grafschaft Glatz verfassten und in diversen Organisationen tätig waren. Ebd., 95–106.
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Glatz eingerichtet und stellte rund 200 Exponate aus (unter anderem alte Dokumente, Münzen, Uniformen, archäologische Funde, Haushaltsgeräte, Instrumente). Die Sammlung wurde durch Schenkungen und Einkäufe allmählich erweitert. 1909 zeigte man die neu hinzugekommenen Exponate auch im zweiten Saal, darunter den Altar aus Niederhannsdorf. Allerdings wurde die Sammlung der Öffentlichkeit ausschließlich an Sonn- und Feiertagen für wenige Stunden zugänglich gemacht. Sie lockte daher nur wenige Besucher an. Beide Einrichtungen, Bibliothek und Museum, hatten letztlich eher Amateurcharakter. So bestand das Museum im ersten Jahrzehnt seiner Tätigkeit aus nicht mehr als einer schlichten Ausstellung unterschiedlicher historischer Relikte, der eine sachkundige Aufbereitung für ihre Besucher vollständig fehlte.9 Erst nach dem Ersten Weltkrieg schritt die Entwicklung beider Einrichtungen, die bisher nur wenig Zuwendung und Unterstützung erfahren hatten, allmählich voran. Der „Glatzer Gebirgsverein“ verantwortete diverse Periodika. Seit 1881 wurde ein Jahresbericht veröffentlicht, seit 1906 zudem die Monatsschrift Die Grafschaft Glatz mit der Beilage Blätter für Geschichte und Heimatkunde der Grafschaft Glatz. Die „Alte Breslauer Landsmannschaft Glacia“, der spätere „Verein für Glatzer Heimatkunde“, begann kurz vor dem Ersten Weltkrieg mit der Herausgabe einer eigenen Zeitschrift, der Glatzer Heimatblätter. In der Monatsschrift Die Grafschaft Glatz wurden unter anderem Texte über die Geschichte der Region veröffentlicht. Auf vielen Ebenen rief man zur Pflege der materiellen und geistigen Kultur auf, zum Beispiel durch das Sammeln von Sagen und Liedern. Die Bedeutung dieser Publikationen für die Popularisierung der Geschichte nahm nach dem Ersten Weltkrieg noch deutlich zu. Dies bedeutet nicht, dass es seit Beginn des 20. Jahrhunderts keinerlei Bemühungen um die Gründung lokal verankerter Zeitschriften mit landeskundlichem Profil gegeben hätte, doch hielten sich diese meist nicht lang – im Gegenatz zur Tagespresse, die zu jener Zeit bereits einen beachtlichen Entwicklungsgrad erreicht hatte. Es gab mehrere Anläufe, eine populärwissenschaftliche Zeitschrift zu gründen, was jedoch regelmäßig an fehlenden Ressourcen und aus anderen Gründen scheiterte. Damit stieg die Bedeutung der lokalen Presse, die über mehrere, in unterschiedlichen Abständen erscheinende Ausgaben verfügte, zum Beispiel die Blätter Der Hausfreund (seit 1843), der Gebirgsbote (seit 1849) und die Glatzer Zeitung (seit 1892). Ferner gab es in den Hauptorten der Region (Glatz, Neurode, Habelschwerdt) verhältnismäßig aktive Verlage, die gleichermaßen belletristische und wissenschaftliche Literatur druckten. Bis 1914 erschienen alle wesentlichen historischen Abhandlungen in diesen lokalen Verlagen, deren Besitzer so eine wichtige Funktion bei der Popularisierung der Glatzer Heimatkunde besaßen: Sie brachten kurze Texte über die Geschichte der Region zum Druck und veröffentlichten sie auch in der populären Presse, deren Leserkreis naturgemäß weit größer war als im Bereich der Fachliteratur. Obgleich die Forschungen zur Lokalgeschichte von den einzelnen Gesellschaften weder initiiert noch begleitet wurden, weil sie verhältnismäßig spät gegründet wurden, 9 Dziedzic, Marcin: Kłodzkie Towarzystwo Górskie 1881–1945. Wrocław 2013, 367–370.
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entwickelte sich die Glatzer Historiographie ausgesprochen lebhaft, vor allem in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts. Da es an Forschungen zur lokalen niederschlesischen Historiographie mangelt, lässt sich die Glatzer Geschichtsschreibung kaum in breiterem Kontext betrachten. Viel deutet allerdings darauf hin, dass ihr eine herausragende Stellung zugesprochen werden muss. Die Ereignisse der 1940er Jahre, die Verschiebung der Grenzen, der Bevölkerungsaustausch und die Politik der kommunistischen Machthaber in Polen hatten zur Folge, dass viele materielle Objekte unwiederbringlich zerstört wurden. Die genannten Bücher und Zeitungen jedoch überdauerten diese an Umwälzungen reiche Zeit, sei es in den Beständen der Stadtbibliothek in Glatz – dies betrifft vor allem die Publikationen aus dem Umfeld des „Glatzer Gebirgsvereins“ –, sei es in denen der Universitätsbibliothek in Breslau. Diejenigen Werke der Glatzer Geschichtsschreibung, die heutig besonders hoch geschätzt werden, entstanden bereits vor 1914. Es handelt sich um Quelleneditionen, Monographien sowie eine große Zahl von Einzelstudien und Miszellen. Hinzu kommen die Publikationen von Heimatforschern, namentlich Landesbeschreibungen, die eigenständig oder als Teil größerer Werke über Schlesien gedruckt wurden. Überdies existieren kleine landeskundliche Kompendien für die Schule sowie diverse Materialien für Kurgäste und Touristen, die die Region neu für sich entdecken wollten. Diese Literatur füllt ganze Regale.10 In der Zeit der Weimarer Republik knüpfte man an diese Publikationen an, indem man bereits bestehende Buchreihen, Quelleneditionen und Zeitschriften fortzusetzen versuchte. Diese dienten darüber hinaus als Materialgrundlage beim Verfassen von Stadtmonographien, die allerdings nur in kleiner Zahl entstanden. Eine Gesamtdarstellung der Grafschaft konnte vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ebensowenig realisiert werden wie eine Synthese ihrer Hauptstadt. Darüber hinaus wirkten sich die politischen Veränderungen in Deutschland in den 1930er und frühen 1940er Jahren, die auf die historische Forschung erheblichen Einfluss hatten, denkbar ungünstig auf solche Großprojekte aus. Die Entwicklung der Glatzer Historiographie vor 1914 war stark abhängig von Interesse und Entschlossenheit von Heimatforschern jenseits des universitären Umfelds, von denen einige die Geschichtspflege regelrecht dominierten. Diese bleib eine Domäne von Laien, die sich meist aus der örtlichen Intelligenz rekrutierten; die Gegenstände ihrer Arbeiten verdankten sich meist dem Zufall, der Grad ihrer Wissenschaftlichkeit war gering. Es gab gleichwohl einige talentierte und engagierte Personen, die sich neben ihrer Berufstätigkeit – und häufig unter Einsatz privater Mittel – vorbildlich der Forschung widmeten. Zu nennen sind hier vor allem zwei Persönlichkeiten: der Ullersdorfer Pfarrer Joseph Kögler und der Direktor des Königlichen Lehrerseminars in Habelschwerdt, Dr. Franz Volkmer. Gemeinsam mit dem in der Zwischenkriegszeit tätigen Theologen und Schriftsteller Joseph Wittig, der sich ebenfalls historischen Fragestel10 Der einzige Überblick über die Literatur vor 1945 findet sich bei Pohl, Dieter: Die Grafschaft Glatz (Schlesien) in Darstellungen und Quellen. Eine erweiterte Bibliographie. Modautal 1994 (Geschichtsquellen der Grafschaft Glatz. Reihe C: Archive und Bibliotheken).
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lungen zuwandte, zählen sie zu den bedeutendsten Geschichtsschreibern der Glatzer Region bis 1945. Kögler und Volkmer – und auch Wittig – waren aus dem Glatzer Land gebürtig und stammten aus bescheidenen sozialen Verhältnissen, was die Entwicklung ihres Talents und den Erwerb eines hohen Bildungsniveaus jedoch nicht beeinträchtigte: Beide waren Absolventen der Breslauer Alma Mater. Die Tatsache, dass sie Katholiken waren, stellt eine Besonderheit dar und verdient Erwähnung, da bisher Protestanten die noch recht schwach ausgeprägte regionalhistorische Forschung dominiert hatten. Arbeiten von Katholiken hatten üblicherweise hagiographischen Charakter und waren oft mit der Beschreibung einer Pfarrei oder von Pilgerorten verbunden.11
IV. Der „Vater der Glatzer Historiographie“: Joseph Kögler Joseph Kögler wurde 1765 in Lewin als Sohn eines Webers geboren. Zunächst studierte er in Breslau Philosophie, später Theologie. 1787 empfing er die Priesterweihe und wurde ins Glatzer Land versetzt. Den ersten Pfarrdienst trat er in Bad Reinerz an, 1791 wechselte er nach Rengersdorf. Ab 1807 bekleidete er das Pfarreramt in Ullersdorf,12 wo er schließlich seine zeitraubende Tätigkeit als Regionalhistoriker aufnahm. Das Interesse für die Vergangenheit betrachtete er – wie er es 1793 in seiner ersten Arbeit Historische Beschreibung der Königlichen Immediatstadt Lewin formulierte – als „naturelle Neigung“ der Menschen.13 Die Hauptpflicht der Historiographen bestand seiner Auffassung nach in der Auseinandersetzung mit den in der Geschichtswissenschaft immer noch existierenden „Märchen“ und „Phantasien“. Kögler distanzierte sich deutlich von den bisherigen Überlieferungen zur Geschichte der Region, indem er viele Unstimmigkeiten, Erfindungen und vor allem Lücken aufzeigte und korrigierte: „Die älteste Geschichte beynahe aller Völker, Länder und Ortschaften ist dunkel, ungewiss, und mit vielen abgeschmackten Fabeln angefüllt. Auch die ältesten Nachrichten von der heutigen Stadt [Glatz], und die Grafschaft Glatz, die man in einigen geschriebenen, und gedruckten Glätzischen Chronicken findet, sind von solcher Beschaffenheit. Ich würde aber meinen Landsleuten, besonders einsichtsvollen Liebhabern der vaterländischen 11 In diesem Zusammenhang sind besonders zwei umfangreiche Abhandlungen zur Geschichte der gesamten Region zu nennen. Vgl. Aelurius, Georg: Glaciographia oder Glätzische Chronica. Dabey auch eine Beschreibung des Münsterbergischen Fürstenthums in Schlesien. Leipzig 1625; Kahlo, Johann Gottlieb: Denkwürdigkeiten der Königlichen Preußischen souverainen Grafschaft Glatz von ihrem ersten Ursprunge bis auf gegenwärtige Zeiten. Berlin/Leipzig 1757. Unter den Autoren der aus dem 16. und 17. Jahrhundert stammenden Chroniken waren auch Protestanten. 12 Eine erste seriöse biographische Skizze über Kögler lieferte Volkmer, Franz: Joseph Kögler. Eine Biographie. In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz 1 (1881/82) 314– 322. 13 Kögler, Joseph: Historische Beschreibung der Königlichen Immediatstadt Lewin. In: ders.: Die Chronicken der Grafschaft Glatz. Bearb. v. Dieter Pohl, Bd. 1. Modautal 1992, 21–74, hier 25.
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Geschichte einen schlechten Dienst erweisen, wenn ich hier solche unbegründeten Erzählungen, oder vielmehr Märchen wiederum aufwärmen wollte.“14 Aus diesem Grund bereiste er unermüdlich alle Winkel der Region und sichtete die Pfarr-, Stadt- und Gutsarchive, die einem gelehrten Geistlichen, der sowohl Latein als auch die altdeutsche Schrift zu lesen vermochte, sicherlich wohlwollend Zugang gewährten. Häufig kam es vor, dass die von ihm gesichteten Sammlungen nicht archivarisch, sondern in Form von mehr oder minder gut gesicherten Stapeln von Dokumenten, Akten und Büchern aufbewahrt wurden. Kögler war der Erste, der sich wissenschaftlich damit auseinandersetzte. Im Lauf der Zeit schuf er sich sein eigenes Archiv aus Quellenabschriften, Exzerpten, Dokumenten und Büchern. Die gesammelten Materialien bearbeitete er sukzessive und schuf auf dieser Grundlage einen eigenen Narrationstypus, den er „Chroniken“ oder „historische Beschreibungen“ nannte. Dabei handelte es sich um die ersten chronologischen, auf Archivmaterialien gestützten Orts- und Pfarreidarstellungen und Institutionsgeschichten. Kögler verfasste sie in der Zeit der Napoleonischen Kriege und der preußischen Reformen und rief damit andere dramatische historische Perioden seiner Heimat in Erinnerung. Er sah zwar durchaus die gesellschaftliche Bedeutung seiner Tätigkeit, veröffentlichte aber zu seinen Lebzeiten verhältnismäßig wenig. Um 1800 genoss Kögler hohes Ansehen im Mitarbeiterkreis einer (letztlich kurzlebigen) Zeitschrift, der Glätzische[n] Monatsschrift, die sich den Abdruck von Texten über Geschichte, Kultur sowie regionale Sitten und Gebräuche zum Ziel gesetzt hatte. Dieses Periodikum, dessen Begründer mit dem Glatzer Arzt Karl Ludwig Blotter sowie dem dortigen Pastor Johann Gottlob Pohle zwei Protestanten waren, sollte im Geist der Aufklärung das Interesse für die Region wecken. Die Herausgeber beklagten die verschwindend geringe Menge an Publikationen über die genannten Gegenstände und betonten, „daß es in der Grafschaft so manche durch das Alterthum ehrwürdige Gebäude, Einrichtungen, Sitten, Gebräuche und Sprachausdrücke gebe, die der Bemerkung werth seien. Es sei sonderbar, daß im Glatzer Lande, das dem Beobachter von allen Seiten so reichen Stoff darbiete, die Schriftstellerei so wenig gedeihen wollte und daß [...] sich kein Einheimischer mehr als Schriftsteller um die Grafschaft verdient gemacht hätte.“15 Um den trotzigen Ehrgeiz ihrer Leser herauszufordern, erwähnten sie sogar den vermeintlichen Spott über die Unfähigkeit der Bewohner der Grafschaft Glatz, der Welt in eigenen Worten von ihrer Heimat zu erzählen.16 Das Interesse der Öffentlichkeit für die Zeitschrift und mittelbar für das historische Erbe der Region erwies sich dennoch als gering, so dass die Initiative nach zwei Jahren 14 Ders.: Historische Nachrichten von den ehemaligen Regenten der Grafschaft Glatz als ein Beitrag zur Aufklärung der noch dunklen Geschichte dieses Ländchens. In: Glätzische Miscellen 1 (1813) 3–9, hier 3. 15 Zit. nach Volkmer: Joseph Kögler, 315f. 16 Zwei für die Geschichtswissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts wichtige Autoren, die protestantischen Geistlichen Georg Aelurius (Georg Katschker) und Johann Gottlieb Kahlo, stammten nicht aus der Grafschaft Glatz, hatten dort aber mehrere Jahre gearbeitet.
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abgebrochen wurde.17 Pfarrer Kögler, der von den Redakteuren als Lokalhistoriker betrachtet wurde, veröffentlichte in der Glätzische[n] Monatsschrift lediglich eine einzige Studie, die er den Glatzer Schlössern widmete. Möglicherweise knüpfte er auch Kontakte zum Glatzer Drucker Franz Pompejus, der eine wichtige Rolle spielte, was die Verbreitung von Wissen über die Vergangenheit betrifft. 1802 veröffentlichte Kögler in den Schlesische[n] Provinzialblätter[n] eine Abhandlung über die im Glatzer Land durch die Prager Erzbischöfe durchgeführten kirchlichen Visitationen.18 Im Verlag von Pompejus publizierte er 1807 zudem eine Geschichte der Kämpfe um die Stadt und Festung Glatz seit dem Mittelalter.19 Diese Schrift widmete er dem General Wilhelm von Götzen, der die Festung gerade erst mit Erfolg gegen die Franzosen verteidigt hatte. Die größten Publikationsmöglichkeiten bot ihm indes die auf Pompejus’ Initiative hin begründete Wochenzeitschrift Glätzische Miscellen (Abb. 1). Obwohl sie nur ein Jahr lang (1812) erschien, veröffentlichte Kögler darin 24 Texte zu ganz unterschiedlichen Themen. Besonders erwähnenswert ist der quellennahe Beitrag über die Herrscher des Glatzer Landes,20 der zugleich die erste chronologische Geschichte der Region vom frühen Mittelalter an darstellt. Das reiche Archiv Köglers, von ihm selbst „Archiv für Vaterlandskunde“ genannt, sowie seine handschriftlichen Notizen verblieben nach seinem Tod in der Pfarrei in Ullersdorf. Sie fanden sich nach dem Zweiten Weltkrieg in den Sammlungen des Archivs der Breslauer Erzdiözese wieder.21 Köglers früher Tod verhinderte die Verwirklichung des von ihm angedachten Werkes Historisch-topografisches Lexikon der Grafschaft Glatz; auch sein Traum, auf Grundlage seiner Sammlung von schriftlichen Quellen, aber auch von Objekten der materiellen Kultur der Grafschaft Glatz ein Museum zu gründen, ging nicht in Erfüllung. Auch den Bemühungen von Pompejus in den 1830er Jahren, einen Teil von Köglers Handschriftentexten zu drucken, war kein Erfolg beschieden.22
17 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Nur der zweite Jahrgang der auflagenschwachen Zeitschrift von 1800 ist überliefert. Ein Exemplar, das ein schriftlicher Zusatz den Beständen Köglers zuweist, wird in der Universitätsbibliothek in Breslau aufbewahrt. 18 �������������������������������������������������������������������������������������������� Kögler, Joseph: Über die bischöflichen Kirchen-Visitationen der Grafschaft Glatz aus der ältesten Geschichte dieses Ländchens. In: Schlesische Provinzialblätter 36 (1802) 239–250. 19 Ders.: Historische Nachrichten von allen bekannten feindlichen Anfällen, Blockaden und Belagerungen der Stadt und Festung Glatz. Glatz 1807. 20 Ders.: Historische Nachrichten von den ehemaligen Regenten der Grafschaft Glatz. 21 Das Inventar dieser reichen Sammlung wurde Ende des 20. Jahrhunderts gedruckt. Vgl. Pohl, Dieter: Grafschaft Glatz (Schlesien). Die Sammlung Kögler im Erzbischöflichen Diözesanarchiv Breslau. Bestandsverzeichnis. Köln 2000 (Geschichtsquellen der Grafschaft Glatz. Reihe C, Archive und Bibliotheken). 22 Der Druck musste aufgrund mangelnder finanzieller Mittel eingestellt werden. 1869 und 1881 wurden zwei Studien über die Orte Pischkowitz, Koritau und Ullersdorf veröffentlicht. Die Herausgabe der Werke von Kögler, die erst Ende des 20. Jahrhunderts erfolgte, ist dem aus Schlesien stammenden Heimatforscher Dieter Pohl zu verdanken. Vgl. Kögler, Joseph: Die Chronicken der Grafschaft Glatz. Bearb. v. Dieter Pohl, Bd. 1–5. Modautal/Köln 1992–2003. Köglers Nachlass
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Małgorzata Ruchniewicz Abb. 1: Die 1812 begründete Wochenschrift Glätzische Miscellen spielte, obwohl sie nur ein einziges Jahr bestand, in der Geschichtspflege der Grafschaft Glatz eine herausragende Rolle. Der Ullersdorfer Pfarrer Joseph Kögler (1765–1817), eine Autorität der frühen heimatgeschichtlichen Forschung, publizierte in diesem einen Jahrgang insgesamt 24 Beiträge zu ganz unterschiedlichen historischen Themen. Bildnachweis: Privatbesitz.
Die Archivsammlung des Ullersdorfer Geistlichen diente späteren Forschern, die ihn als „Altmeister der glätzisch-vaterländischen Geschichte“23 ehrten, fortan als Hauptquelle zur Erforschung der Geschichte der Region. Bis zum Beginn der 1880er Jahre erschien keine Arbeit im Druck, die, verglichen mit den Leistungen Köglers, einen erkennbaren Fortschritt gebracht hätte. Aus den dürftigen Ergebnissen jener Zeit ist das Werk des nächsten Ortsgeistlichen, Aloys Bach, über die Kirche im Glatzer Land zu nennen,24 das sich auf Köglers Archivsammlung stützte. Bach ließ seine Arbeit in Breslau drucken, obwohl es auch in der Grafschaft Verlage gab, die solche Manuskripte
befindet sich heute im Erzbischöflichen Diözesanarchiv in Breslau. Das zugehörige Findbuch veröffentlichte ebenfalls Pohl. Vgl. Pohl: Die Sammlung Kögler. 23 ������������������������������������������������������������������������������������������ Scholz, Edmund: Vorwort. In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz 1 (1881/82) II. 24 �������������������������������������������������������������������������������������������� Bach, Aloys: Urkundliche Kirchen-Geschichte der Grafschaft Glatz. Von der Urzeit bis auf unsere Tage. Breslau 1841.
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annahmen. Anfang der 1840er Jahre wurden erste Versuche unternommen, Stadtmonographien von Habelschwerdt und Neurode zu veröffentlichen. Sie waren von örtlichen Amateurhistorikern verfasst worden, dem Stadtbeamten Joseph Thamm sowie dem Buchhändler und Verleger Wilhelm Wenzel Klambt.25 Als unzeitgemäße Monographie ist das opulente, unter dem vielversprechenden Titel Geschichte der Grafschaft Glatz. Chronik der Städte, Flecken, Dörfer, Kolonien, Schlösser etc. dieser souverainen Grafschaft von der frühesten Vergangenheit bis auf die Gegenwart verfasste Buch des aus Crossen an der Oder stammenden Lehrers und Schriftstellers Eduard Ludwig Wedekind zu betrachten.26 Wedekinds Motive für die Auseinandersetzung mit diesem Thema sind nicht überliefert. Zwar bekundete er im Vorwort sein langjähriges Interesse für die Geschichte der Grafschaft Glatz. Doch erhellt daraus nicht, ob das Werk auf eigene Vorstellungen oder auf die Initiative des Neuroder Verlegers Friedrich Wilhelm Fischer zurückzuführen ist. Hervorzuheben ist, dass der örtliche Verlag große Summen in eine erneute Publikation investierte. Auch Wedekind diente die Ullersdorfer Archivsammlung als Grundlage, wobei er jedoch das „trockene Chronikwesen“ klar ablehnte. Als Adressaten galten ihm vornehmlich „gebildete Leser“, aber auch „gelehrte Geschichtsforscher“. Seiner Auffassung nach schuf er ein buntes und handlungsreiches „Geschichtsgemälde“,27 in dessen chaotischer, sich in zahlreichen Nebengeschichten verlierender Struktur und eigenwilliger Schreibweise sich der Leser jedoch schnell verirrt. Sein Versuch, als Außenstehender die Geschichte der Region zu verfassen, schlug vollständig fehl.28 Es kann also kaum verwundern, dass Kögler das gesamte 19. Jahrhundert hindurch als mustergültiger Bewahrer, als quellenorientierter und kompetenter Regionalhistoriker galt. Er wurde zum geistigen Patron eines neuen bedeutenden Unternehmens: der 1881 ins Leben gerufenen wissenschaftlichen Quartalschrift Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz (Abb. 2). Diese Zeitschrift war mit dem „Glatzer Gebirgsverein“ eng verbunden, da sich die Redaktion wie auch manche Autoren aus dem Verein rekrutierten, sie agierte aber selbständig. Die Gründung der Zeitschrift ging auf die Initiative intellektueller Kreise zurück, die sich aus Lehrern, katholischen 25 Thamm, Joseph: Geschichte der Stadt Habelschwerdt. Habelschwerdt 1841; Klambt, Wilhelm Wenzel: Urkundliche Geschichte der Stadt und Herrschaft Neurode von ihrem Ursprunge bis auf die heutige Zeit. Neurode 1842. 26 ������������������������������������������������������������������������������������������� Wedekind, Eduard Ludwig: Geschichte der Grafschaft Glatz. Chronik der Städte, Flecken, Dörfer, Kolonien, Schlösser ec. dieser souverainen Grafschaft von der frühesten Vergangenheit bis auf die Gegenwart. Neurode 1855. 27 Ebd., 1. 28 Die Arbeit Wedekinds wurde unmittelbar nach Erscheinen scharf kritisiert. So wurden ihr eine anachronische Vorgehensweise, ein bloßer Kompilationscharakter sowie faktographische Fehler vorgeworfen. Vgl. die Rezension von Wilhelm Wattenbach in: Zeitschrift für Geschichte und Alterthum Schlesiens 2 (1858) 198. Negativ urteilte auch Volkmer: Joseph Kögler, 320: „Überhaupt ist Wedekind, die Zusätze zu der Geschichte der neuesten Zeit abgerechnet, im Großen und Ganzen nicht über Kögler hinausgekommen, ja vielfach weniger zuverlässig als dieser.“
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Małgorzata Ruchniewicz Abb. 2: Die von Franz Volkmer (1846–1930) und Wilhelm Hohaus (1844–1909) herausgegebene Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz, die von 1881 bis 1891 in Habelschwerdt erschien, war die bedeutendste Fachzeitschrift über die Geschichte, Wirtschaft und Kultur des Glatzer Landes. Bildnachweis: Privatbesitz.
Geistlichen und Beamten der Region zusammensetzten. Jahrelange Vorbereitungen gingen dem Druck der ersten Ausgabe voraus. So war unter anderem in der lokalen Presse die Notwendigkeit einer solchen Zeitschrift diskutiert worden. Hindernisse sah man in der kleinen Autorenzahl, aber auch in einem Mangel an Abnehmern. Die Zeitschrift sollte sich aus Abonnements selbst finanzieren. Im Mai 1881 fand schließlich in Habelschwerdt eine Versammlung aller an der Herausgabe der Zeitschrift Interessierten statt, als deren Resultat ein Redaktionskomitee mit dem Pfarrer Edmund Scholz (dem späteren Herausgeber der ersten vier Jahrgänge) sowie dem damaligen Schulpräfekten Dr. Franz Volkmer (dem Mitherausgeber der Zeitschrift seit dem fünften Jahrgang) an der Spitze gegründet wurde. In der Erstausgabe wurde ein Porträt Köglers zusammen mit einem Zitat von ihm veröffentlicht: „Vito malignitatis humana extera semper in lande sunt, domestica in fastidio“ (Durch eine Unzulänglichkeit menschlicher Schwäche sind auswärtige Dinge immer beliebt, während heimische Angelegenheiten kein Interesse finden). Dem Vorwort der Redaktion diente ein weiteres Zitat Köglers als Motto: „Wer keinen Sinn für Alterthümliches und die Vorzeit hat, dem ist auch der Gedanke an die
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Zukunft und die Nachkommen gleichgültig“.29 Köglers Worte sollten das Programm der neuen Zeitschrift charakterisieren: die Präsentation der Heimatgeschichte und die Förderung eines regionalhistorischen Interesses innerhalb der örtlichen Gesellschaft mit dem Zweck, ein nachhaltiges Gemeinschaftsgefühl in ihr zu wecken. Im ersten Jahrbuch wurden von Franz Volkmer Informationen über Kögler sowie eine biographische Skizze über ihn und seine Verdienste veröffentlicht, um diese Leitfigur des Archivwesens und der lokalen Geschichtsschreibung den Lesern näherzubringen. Volkmer, Direktor des neu entstandenen Königlichen Lehrerseminars in Habelschwerdt, sollte in den folgenden Jahren zum führenden Glatzer Historiker avancieren.
V. Die Professionalisierung der Glatzer Historiographie: Franz Volkmer Franz Volkmer wurde 1846 als Sohn eines Dorflehrers in der Nähe von Bad Landeck geboren. Er studierte an der Universität Breslau Philosophie und Mathematik und nahm aktiv am deutsch-französischen Krieg von 1870/71 teil. Seit 1879 war er Direktor des Lehrerseminars in Habelschwerdt. Er erfreute sich großer Wertschätzung in der heimischen Gesellschaft und erhielt von den für das Bildungswesen Verantwortlichen in Berlin stets beste Beurteilungen. Neben seiner beruflichen Tätigkeit widmete er sich der Geschichtspflege, gesellschaftlichen Aktivitäten – unter anderem im „Glatzer Gebirgsverein“ und bei der Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz – sowie der Schriftstellerei. Neben historischen Texten verfasste er didaktische und pädagogische Fachliteratur. Volkmer unterhielt zudem rege Kontakte zur Breslauer universitären Wissenschaft. Seine Publikationsliste bis 1921 weist hundert Titel aus, darunter Monographien und Quelleneditionen.30 Den Höhepunkt seiner beruflichen und schriftstellerischen Tätigkeit erreichte Volkmer in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Besonders hervorzuheben sind die dreihundertseitige Geschichte der Stadt Habelschwerdt (1897),31 fünf Bände der Geschichtsquellen der Grafschaft Glatz (1883–1891)32 sowie sechs Jahrgänge der Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz (1886–1891). Er publizierte zudem eine große Zahl von Artikeln und Biogrammen und bereitete zahlreiche Quellen zum Druck vor: Dokumente, Legenden, Volkslieder und Sagen. 1908 ging er im Alter von 62 Jahren vorzeitig in den Ruhestand. Ausschlaggebend mochte hierbei sein schlechter Gesund29 ������������������������������������������������������������������������������������������ Scholz, Edmund: Vorwort. In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz 1 (1881/82) 1. 30 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Rother, Carl Heinrich: Die Schriften und Aufsätze Franz Volkmers. In: Albert, Franz (Hg.): Festschrift zu Dr. Franz Volkmers 75. Geburtstag. Habelschwerdt 1921, 1–9. 31 Volkmer, Franz: Geschichte der Stadt Habelschwerdt in der Grafschaft Glatz. Habelschwerdt 1897. 32 Ders./Hohaus, Wilhelm (Hg.): Geschichtsquellen der Grafschaft Glatz, Bd. 1–5. Habelschwerdt 1883–1891.
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heitszustand gewesen sein: Volkmer litt an einer Augenerkrankung, die sein Sehvermögen zunehmend beeinträchtigte. Volkmers imposante wissenschaftliche Leistung hat in vielerlei Hinsicht bis heute nichts an Bedeutung eingebüßt. Im Gegensatz zu Kögler war er als Geschichtsliebhaber jedoch keineswegs ein Einzelkämpfer, sondern wirkte in einem breiten und aktiven Milieu. Er fand Verleger für seine Arbeiten, Abonnenten und Autoren für die von ihm herausgegebene Zeitschrift sowie zahlreiche Leser. Volkmer bewarb seine Werke in der lokalen Presse, indem er mit dem Habelschwerdter Verleger Johannes Franke eng zusammenarbeitete. Darüber hinaus wusste er Autoren für seine Vierteljahrsschrift zu gewinnen, die vorwiegend aus dem Glatzer Land, aber auch Schlesien stammten, zumeist Lehrer, Beamte und Spezialisten unterschiedlicher Fachbereiche. In den zehn Jahren, die das Periodikum erschien, wirkten über fünfzig Autoren an ihr mit, von denen einige regelmäßig Beiträge lieferten.33 Viele Jahre lang arbeitete Volkmer zudem eng und fruchtbar mit dem Pfarrer Edmund Scholz und vor allem mit dem Habelschwerdter Pfarrer Dr. Wilhelm Hohaus zusammen. Wie Volkmer waren Scholz und Hohaus prominente Mitglieder des „Glatzer Gebirgsvereins“ – alle drei wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu Ehrenmitgliedern erhoben. Jede einzelne Vierteljahrsschrift umfasste rund 400 Seiten und enthielt mehrheitlich Texte zum Bereich Geschichte und Heimatkunde. Einen festen Platz nahmen die bisher unveröffentlichten Abhandlungen Köglers ein. Die Kooperation der genannten Personen zeigt deutlich, dass die Einrichtung eines formalen, organisatorisch verfestigten Gremiums mit dem Ziel, eine breit angelegte Geschichtspflege zu betreiben, für einen Erfolg auf diesem Gebiet keinesfalls notwendig war. Gerade in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war vielmehr eine große Gruppe von Abnehmern und Geldgebern von Belang, für die die regionale Geschichte ein Gegenstand des eigenen Interesses, aber auch ein Faktor bei der Ausbildung einer staatsbürgerlichen Haltung war, die von der Liebe und Wertschätzung der Heimat bis hin zur Verbundenheit mit dem Vaterland reichte. Volkmer, der das Lehrerseminar leitete, trug den künftigen Volksschullehrern auf, Informationen über die materiellen Objekte, Dokumente oder Exponate der Volkskunst zu sammeln, die sich im Arbeitsbereich der Schule befanden. Er forderte mehrfach dazu auf, diese Daten der Redaktion der Vierteljahrsschrift zu übermitteln.34 Obwohl Volkmer kein Fachhistoriker war, arbeitete er äußerst professionell. Das Fehlen einer Synthese der Geschichte der Region galt ihm als entscheidendes Forschungsdesiderat. Es schien ihm wichtig, aufgrund umfassender Quellenkenntnisse und Grundlagenstudien zu unterschiedlichen Fragestellungen einen adäquaten Forschungsstand zu erreichen. Seine Hauptaufgabe sah Volkmer in der Konzentration auf 33 Herbst, Ernst-August: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz. Registerband. Karlsruhe 1998 (vervielfältigtes Manuskript). 34 Volkmer, Franz: Die Bedeutung, pädagogische Verwertung und zweckmäßige Förderung der Ortsgeschichte unter spezieller Bezugnahme auf die Grafschaft Glatz. In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz 8 (1888/89) 82–89.
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die oben beschriebenen Themenfelder. Gemeinsam mit Hohaus erarbeitete er die fünf bereits erwähnten, in den Jahren 1883 bis 1891 veröffentlichten Quellenbände. Das Material hierfür fand er nicht nur im Nachlass von Kögler, sondern auch im Zuge eigener Recherchen, unter anderem in Glatz und in Breslau. Außerdem wertete er die damals erschienenen großen Quelleneditionen über Schlesien, Böhmen und Mähren detailliert aus, indem er Originaldokumente über das Glatzer Land ausfindig machte. Die ersten zwei Bände enthielten Texte und Zusammenfassungen von Dokumenten vor 1500. In den folgenden Bänden wurden dann Dokumentationen über die Glatzer Synoden, die Dekanatsbücher aus der Reformationszeit sowie das älteste Glatzer Stadt- und Amtsbuch veröffentlicht. Selbstverständlich lässt sich aus heutiger Sicht bezüglich der Bearbeitung dieser Quellen eine ganze Reihe von Vorbehalten anmelden. Dabei muss aber betont werden, dass sich die Verfasser durchgängig um eine sorgfältige Bearbeitung der Quellen bemühten; sie nannten den Aufbewahrungsort und erstellten Register, um das Auffinden der jeweiligen Dokumente zu ermöglichen. Da in den Bänden zum Teil mittlerweile verlorengegangene Materialien abgedruckt wurden, sind sie für heutige Arbeiten zur Geschichte der Region unerlässlich. Volkmer veröffentlichte neben seinem Lebenswerk, der Geschichte der Stadt Habelschwerdt aus dem Jahr 1897, auch kleinere monographische Studien über die Geschichte des Lehrerseminars in Habelschwerdt und der dortigen Schützengilde sowie die Geschichte der Dechanten und der fürsterzbischöflichen Vikare der Grafschaft Glatz.35 1891 stellten Volkmer und Hohaus die Vierteljahrsschrift aufgrund gesundheitlicher Probleme und Arbeitsüberlastung ein. Sie appellierten sie an ihre Leser, archivalische Recherchen, vor allem in Prag und in Wien, fortzuführen und auch die Forschungen zur regionalen Geschichte weiter zu betreiben. „Jüngere und tüchtigere Kräfte“, schrieben sie, „werden also auf dem Gebiete der Glatzer Geschichte und Heimatskunde noch ein sehr lohnendes und ergiebiges Arbeitsfeld finden“.36 Volkmer und Hohaus mahnten darüber hinaus den „Glatzer Gebirgsverein“, den Druck historischer Quellen sowie der Vierteljahrsschrift wiederaufzunehmen – dafür aber fehlte es dem Verein an den notwendigen Fachkräften und finanziellen Ressourcen. Mit dem Ausbruch des Weltkriegs endete die verhältnismäßig kurze Hochzeit der Glatzer Geschichtspflege und Regionalhistoriographie.37 Den symbolischen Abschluss 35 Ders.: Geschichte der Schützengilde zu Habelschwerdt. Habelschwerdt 1889; ders.: Geschichte der Dechanten und fürsterzbischöflichen Vikare in der Grafschaft Glatz. Habelschwerdt 1894; ders.: Geschichte der Stadt Habelschwerdt. Habelschwerdt 1897. 36 Schlußwort. In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz 10 (1890/91) 407–408, hier 408. 37 Die späteren Zeitschriften, etwa die seit 1906 erscheinenden Blätter für Geschichte und Heimatkunde der Grafschaft Glatz, wiesen einen vergleichsweise geringen Umfang und andere inhaltliche Schwerpunkte als ihre Vorgänger auf. Dagegen erwies sich der Versuch einer Wiederaufnahme des Drucks der Quellenbände teilweise als erfolgreich: 1927 erschien ein Band dieser Reihe. Vgl. Bretholz, Bertold (Hg.): Geschichtsquellen der Grafschaft Glatz, Bd. 6. Glatz 1927.
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dieser Ära stellte die Enthüllung einer Gedenktafel zur Erinnerung an den hundertsten Todestag von Joseph Kögler im Jahr 1917 in Ullersdorf durch den „Glatzer Gebirgsverein“ dar.
VI. Fazit Die intensive Entwicklung der Glatzer Historiographie begann Ende des 18. Jahrhunderts und war in ihrer Frühphase das Verdienst von Einzelpersonen. Gesellschaften oder Vereine, die sich der Erforschung der Heimatgeschichte und -kultur verschrieben, entstanden in der Grafschaft erst im 20. Jahrhundert. Die sich mit der regionalen Geschichte befassenden Personen stammten aus lokalen Intellektuellenzirkeln und waren im Hauptberuf überwiegend katholische Geistliche und Lehrer. Sie nutzten die Archivsammlungen vor Ort, die in den Pfarreien und Stadtkanzleien verwaltet wurden. Als Vater der Glatzer Historiographie galt bereits im 19. Jahrhundert der Pfarrer Josef Kögler, der ein umfangreiches Archiv einrichtete und eine Reihe von Orts- und Pfarreimonographien verfasste. Von seinem Werk profitierten alle nachfolgenden Generationen lokaler und regionaler Geschichtsforscher. Der bedeutendste Lokalhistoriker nach Kögler war der Direktor des Lehrerseminars in Habelschwerdt, Franz Volkmer. Er veröffentlichte zahlreiche Abhandlungen und gab selbständig oder in Zusammenarbeit mit anderen Auoren gewichtige Quelleneditionen heraus. Darüber hinaus war er Mitherausgeber einer Zeitschrift für die Geschichte und Kultur des Glatzer Landes, die sich durch das in ihr versammelte Fachwissen und ihr editorisches Niveau auszeichnete.
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Die „Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften“ auf dem Weg von einer universalen Sozietät zu einer Institution der Erforschung und Pflege der Landesgeschichte Die 1779 gegründete „Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften“ war nicht die erste und einzige Sozietät von Gelehrten in der Oberlausitz, aber sie war bis zu ihrer zwangsweise erfolgten Auflösung 1945 die langlebigste und wirkungsmächtigste derartige Vereinigung in jener Region.1 Ihr intensives Engagement für Geschichte, Kultur und Landesbewusstsein der Oberlausitz schlug sich in zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen, öffentlichen Veranstaltungen und Ausstellungen nieder. Ihre bis zur Gegenwart in den ehemaligen Gesellschaftshäusern Neißstraße 30 und Handwerk 2 erhaltenen Sammlungen – das Naturalien-, Altertümer-, physikalische und das graphische Kabinett – bezeugen den universalgelehrten Anspruch der Gründergeneration; die 1951 mit anderen Beständen vereinte Gesellschaftsbibliothek ist bis heute als Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften eine bedeutende wissenschaftliche Spezialbzw. Regionalbibliothek. Rückschauend stellt sich die Geschichte der ursprünglichen Gelehrtengesellschaft als eine Erfolgsgeschichte dar. Dieser Weg war jedoch keineswegs vorbestimmt. Auch waren die Betätigungsfelder der ersten Mitglieder weit umfassender als diejenigen der Mitglieder des frühen 20. Jahrhunderts. Der folgende Beitrag wird versuchen, diese Erfolgsgeschichte und die Entwicklung von einer Sozietät mit universalgelehrten Ansprüchen und Tätigkeits- sowie Sammlungsgebieten hin zu einem erfolgreich agierenden landesgeschichtlichen Verein nachzuzeichnen und zu erklären. Dabei werden nicht einzelne Personen im Mittelpunkt stehen, sondern die Verfassungs-
1 Zu Gelehrten Sozietäten in der Oberlausitz ab 1697 vgl. Wenzel, Matthias/Tschentscher, Ralf: Die Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften. In: Kunst und Wissenschaft um 1800. Die Sammlungen der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz. Bielefeld 2011 (Schriftenreihe der Städtischen Sammlungen für Geschichte und Kultur Görlitz N.F. 43), 163–214; Lemper, Ernst-Heinz: Anfänge akademischer Sozietäten in Görlitz und Bartholomäus Scultetus (1540–1614). In: Garber, Klaus/Wismann, Heinz (Hg.): Europäische Sozietätsbewegungen und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung. Tübingen 1996, 1152–1178; Dunger, Wolfram: Zur Geschichte der Naturwissenschaften in der Oberlausitz im 18. und 19. Jahrhundert. In: Schmidt, Martin (Hg.): Die Oberlausitz und Sachsen in Mitteleuropa. Festschrift zum 75. Geburtstag von Karlheinz Blaschke. Görlitz/Zittau 2003 (Neues Lausitzisches Magazin. Beiheft 3), 167–182; Döring, Detlef: Gelehrte Sozietäten in der Oberlausitz vor der Gründung der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften (1779). In: Neues Lausitzisches Magazin N.F. 8 (2005) 61–93.
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texte der Gesellschaft, an deren Entwicklung sich auch die Genese und Veränderung der Vereinigung selbst ablesen lässt.2
1. Gründung und Findungsphase Die Initiative zur Gründung einer Gelehrtengesellschaft in der Oberlausitz ging vom damals achtundzwanzigjährigen Juristen Karl Gottlob (von)3 Anton (1751–1818) aus.4 Er war in Lauban geboren worden, hatte in Leipzig studiert, wo er 1774 zum Doktor der Jurisprudenz promoviert worden war, und hatte sich 1774 als Oberamtsadvokat in Görlitz niedergelassen, wo er 1797 Senator wurde.5 Anton wandte sich mit seiner Idee, „eine thätige gelehrte Gesellschaft“ mit einer Bibliothek und Naturaliensammlung „zu stiften“, am 4. März 1779 an den gelehrten Gutsbesitzer Adolf Traugott von Gersdorf (1744–1807) in Wigandsthal-Meffersdorf.6 Gersdorf hatte ebenfalls in Leipzig studiert 2 Um die Zahl der Anmerkungen im Folgenden überschaubar zu halten, wird nicht zu jeder genannten Jahreszahl und zu jedem Namen ein Nachweis erbracht. Hier sei auf die chronologisch aufgebauten Darstellungen zur Geschichte der „Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften“ verwiesen: Jecht, Richard: Kurzer Wegweiser durch die Geschichte der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften von 1779 bis 1928. In: Neues Lausitzisches Magazin 105 (1929) 1–59; Neumann, Theodor: Geschichte der Oberlausitzer Gesellschaft der Wissenschaften in den ersten 50 Jahren. In: Neues Lausitzisches Magazin 31 (1855) 165–244; Bahlcke, Joachim: Die Oberlausitz. Historischer Raum, Landesbewusstsein und Geschichtsschreibung vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. In: ders. (Hg.): Geschichte der Oberlausitz. Herrschaft, Gesellschaft und Kultur vom Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Leipzig 2001, 11–53, hier 24–53. Den einzelnen Sammlungen und Tätigkeitsfeldern der Gesellschaft widmet sich der genannte Band Kunst und Wissenschaft um 1800. Zu den Mitgliedern der Gesellschaft von 1779 bis 1945 bereitet Tino Fröde ein biographisches Nachschlagewerk vor. 3 1802 geadelt. 4 Zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den Anfangsjahren vgl. Irmscher, Johannes/ Lemper, Ernst-Heinz/Mühlpfordt, Günter (Hg.): Die Oberlausitz in der Epoche der bürgerlichen Emanzipation. Görlitz 1981 (Schriftenreihe des Ratsarchivs der Stadt Görlitz 10); Lemper, ErnstHeinz/Mühlpfordt, Günter (Hg.): Die Oberlausitz und ihre Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz – Traditionen und Aktivitäten, Bd. 1–2. Görlitz 1982 (Schriftenreihe des Ratsarchivs der Stadt Görlitz 11,1–2); Lemper, Ernst-Heinz: Die Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz. Geschichte und Leistungen 1779 bis 1945. In: Jahrbuch der Schlesischen FriedrichWilhelms-Universität zu Breslau 36/37 (1995/96) 217–245; ders.: Gründungs- und Frühgeschichte der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz 1779–1818. In: Döring, Detlef/Nowak, Kurt (Hg.): Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1650–1820), Bd. 1. Leipzig 2000 (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Phil.-hist. Klasse 76,2), 191–209. 5 Lemper: Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften, 222f., 226f.; ders.: Frühgeschichte, 191 Anm. 2.; Fröde, Tino/Menzel, Steffen: Ein Streifzug durch die Geschichte der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften. In: Kunst und Wissenschaft um 1800, 21–47, hier 44 Anm. 1. 6 Der Brief ist zum Teil abgedruckt bei Neumann: Geschichte, 171f. Gersdorf antwortete am 7. März 1779. Vgl. Lemper: Gesellschaft, 222f.; ders.: Frühgeschichte, 195f.; Fröde/Menzel: Streifzug, 44 Anm. 3.
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Abb. 1: Hans Koberstein, Die beiden Gelehrten Karl Gottlob Anton und Adolph Traugott von Gersdorf gründen am 21. April 1779 die Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften, 1904, Öl und Pastell auf Karton. Bildnachweis: Kulturhistorisches Museum Görlitz, Foto: René Pech.
und 1776 den Doktorgrad der Universität Wittenberg erworben. Gemeinsam gewannen sie weitere Gelehrte, so dass am 21. April 1779 die „Oberlausitzische Gesellschaft zur Beförderung der Natur- und Geschichtskunde“ ins Leben gerufen werden konnte (Abb. 1).7 Dabei sollten alle Mitglieder gleichberechtigt sein, seien es Adelige oder 7 ������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. die Namen der Gelehrten bei Jecht: Wegweiser, 1f. Der Name der Vereinigung wurde mehrfach abgewandelt: 3. November 1779 „Gesellschaft der Wissenschaften in der Oberlausitz“, seit 1792 „Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften“, bis 1803 auch „Privatgesellschaft [...]“, seit 1803 „Kurfürstlich Sächsische Gesellschaft [...]“, seit 1815 wieder „Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften“ (ebd., 2).
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Bürger, Inländer oder Ausländer, Deutsche oder Sorben.8 Die Treffen der Gesellschaft wurden bis 1792 in einem Haus Antons in Görlitz in der Langenstraße 43 (ehemals 49) oder im Gasthof Brauner Hirsch am Untermarkt Ecke Neißstraße abgehalten. Anfangs war es nicht einfach, die ins Auge gefassten Mitstreiter zu gewinnen: Einige sahen sich zu einer Mitwirkung nicht in der Lage oder lehnten diese ab, wie Karl Adolf von Schachmann (1725–1789) auf Königshain, der die Gesellschaft nicht für gemeinnützig hielt. Andere wie der Vater Antons lehnten eine Mitgliedschaft ab, weil die Vereinigung nicht landesherrlich privilegiert war.9 Auch einen Präsidenten zu finden, gestaltete sich schwierig. Von Gersdorf selbst meinte, dem Amt nicht gewachsen zu sein; der mittlerweile zur Mitgliedschaft überredete von Schachmann lehnte ebenfalls ab. Am 24. Februar 1780 schrieb Anton verzweifelt an Gersdorf: „Im Grunde werde ich mich bald ärgern, daß so wenig Eifer bei den Mitgliedern der Gesellschaft herrscht, und wo wir nicht bald einen Präsidenten bekommen, so weiß ich nicht, was daraus werden soll!“10 Schließlich konnte Georg Alexander Heinrich Hermann Reichsgraf von Callenberg (1744–1795), Standesherr auf Muskau, für die Präsidentschaft gewonnen werden. Somit war der erste Präsident der Gesellschaft – wie auch späterhin – kein Wissenschaftler im engeren Sinn, sondern ein hoher Staatsbeamter aus dem regionalen Adel, was für die Interessensvertretung bei der sächsischen (und nach der Teilung der Oberlausitz bei der preußischen) Regierung von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. Callenberg brachte die Idee der akademischen Preisausschreiben in die Gesellschaft ein und setzte sogleich zehn Dukaten für die Beantwortung der Frage aus: „Worinnen bestehen die hauptsächlichen Mängel der Erziehung des Landvolkes in der Oberlausitz? Und wie können dieselben, wie kann die Erziehung ohne Anlegung neuer kostbarer Anstalten durch Beispiel und Mitwirken der Eltern, Beschäftigung der Jugend, Bemühungen der Schulmeister, Teilnehmung der Pfarrer und Einfluss der Obrigkeit reformiert werden?“11 Hier wie bei vielen anderen Gründungsinitiativen vergleichbarer Gesellschaften ging es den Gründern um die Beförderung der Wissenschaften und zugleich – in der Nutzbarmachung der Facherkenntnisse – um eine Verbesserung der Lebenssituation der Menschen. Geschichtsforschung im modernen Sinn spielte dabei nur eine unterge-
18 Bedeutende sorbische Forscher waren der Görlitzer Gymnasiallehrer Johann Hortzschansky ( Jan Hórčanski) sowie der Muskauer Superintendent Johann Georg ( Jan Jurij) Vogel. Anton war selbst als Sorabist aktiv. Vgl. Bahlcke: Oberlausitz, 30; Lemper: Gesellschaft, 226 Anm. 31, bietet eine Zusammenstellung der Arbeiten der Sprachforschungen Antons. Zu dessen rechtshistorischen Forschungen vgl. ebd., 227 Anm. 33; ders.: Frühgeschichte, 194 Anm. 13. 19 Neumann: Geschichte, 173f. Zu Schachmanns Grafiksammlung, die heute in der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften in Görlitz verwahrt wird, vgl. Wenzel, Kai: Die Grafiksammlung des Carl Adolph Gottlob von Schachmann. Ihre Wiederentdeckung und Restaurierung. In: Görlitzer Magazin. Geschichte und Gegenwart der Stadt Görlitz und ihrer Umgebung 27 (2014) 52–59. 10 Neumann: Geschichte, 174. 11 Fröde/Menzel: Streifzug, 22f.
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ordnete Rolle. Bestenfalls ging es um Naturgeschichte („Altertümerforschung“), Philosophie und Sprachgeschichte.12 Als eine der ersten gemeinnützigen Initiativen beschloss man 1780, eine öffentliche Lesebibliothek einzurichten. Diesen Beschluss konnte man allerdings auf Dauer nicht aufrechterhalten, ebenso wenig wie das Projekt einer „Witwen- und Aussteuerkasse“ (1793) oder die Errichtung eines „Schulmeister-Seminars“ (1794).13 Der enthusiastischen, aber nur selten erfolgreichen Aktivität der Gründungsjahre folgte eine längere Ruhephase etwa zwischen 1784 und 1790. In diesem Jahr hatte man den Plan, eine groß angelegte Topografie der Oberlausitz zu publizieren, doch blieb auch dieser Vorstoß ohne nennenswerte Ergebnisse.14 Seit 1792 konnte man für die gesellschaftliche Tätigkeit das zweite Obergeschoss der Börse (Untermarkt 16) nutzen. Seit dieser Zeit wurden auch Deputationen zu Spezialfragen begründet, darunter 1793 eine „Urkundendeputation“ unter der Leitung von Johann Gottlob Zobel (1748–1816), die alle Urkunden, die die Oberlausitz betrafen, abschriftlich zusammentragen und publizieren sollte. 1797 wurde eine Deputation zur Erfassung von Ortschroniken ins Leben gerufen, die aber wegen mangelnder Kooperation von Gutsherren und Gemeinden – bis auf die Geschichte von Königshain15 – keine Publikationen vorlegen konnte. Im gleichen Jahr setzte man für den besten Vorschlag zu einer Vieh- und Wetterschadenversicherung 30 Taler Preisgeld aus und 20 Taler für die Erfindung einer Maschine, die Kalk für die Felddüngung zermahlen könne.16 1798 gab die Gesellschaft das Büchlein Anzeige der nothwendigsten Verhaltungsregeln bei nahen Gewittern, und der zweckmäßigsten Mittel, sich selbst gegen die schädlichen Wirkungen des Blitzes zu sichern. Für Unkundige heraus.17 12 �������������������������������������������������������������������������������������������� Zu den im Folgenden nicht weiter thematisierten Betätigungsfeldern der Gesellschaft vgl. Anders, Ines: Landwirtschaft und Ökonomie, Topografie der Oberlausitz, Medizin und Slawistik. In: Kunst und Wissenschaft um 1800, 129–143; Šołta, Jan: Ökonomische und soziale Probleme in der frühen Geschichte der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften. In: ders. (Hg.): Wirtschaft, Kultur und Nationalität. Ein Studienband zur sorbischen Geschichte. Bautzen 1990 (Schriftenreihe des Instituts für Sorbische Volksforschung in Bautzen 58), 12–30; zur Sorabistik vgl. Pollack, Friedrich: Die Entdeckung des Fremden. Wahrnehmung und Darstellung der Lausitzer Sorben im gelehrten Schrifttum des 17. und 18. Jahrhunderts. Bautzen 2012 (Kleine Reihe des Sorbischen Instituts 15); ders.: Die Geburt einer Minderheit. Sorabistische Forschung und sozialer Diskurs im Zeitalter der Aufklärung. In: Hinneburg, Kristina-Monika/Jurewicz, Grażyna (Hg.): Das Prinzip Aufklärung zwischen Universalismus und partikularem Anspruch. The Principle of Enlightenment between Universalism and Particularistic Claims. Paderborn 2014 (Laboratorium Aufklärung 25), 103–117. 13 Vgl. weitere glücklose Projekte in Neumann: Geschichte, 189–195. 14 Ebd., 186f.; Anders: Landwirtschaft, 132–134. 15 Schmidt, Christian Samuel: Beschreibung von Königshain. Görlitz 1797 [ND Görlitz 1998]. 16 Jecht: Wegweiser, 5f. 17 Gersdorf, Adolf Traugott von/Knebel, August: Anzeige der nothwendigsten Verhaltungsregeln bei nahen Gewittern, und der zweckmäßigsten Mittel, sich selbst gegen die schädlichen Wirkungen des Blitzes zu sichern. Für Unkundige. Görlitz 1798. Zu weiteren gemeinnützigen Aktionen und Publikationen vgl. Neumann: Geschichte, 188f.; Jecht: Wegweiser, 5f.
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Abb. 2: Das in den Jahren 1726 bis 1729 errichtete „Barockhaus“ in Görlitz, Neißstraße 30, war von 1801 bis 1945 Sitz der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften (Aufnahme um 1900). Bildnachweis: Ratsarchiv Görlitz, Foto: Robert Scholz.
Neben den Initiativen zur Volksbildung wurde aber auch Geld für die Geschichtsforschung ausgegeben, denn im selben Jahr wurden die Königswarther Altertümer und von Jakob Gottlieb Kloß (1730–1789) die Genealogischen Nachrichten von Oberlausitzer adeligen Familien angekauft.18 Die räumliche Situation der Gesellschaft sollte 1801 durch den Erwerb des Hauses Obermarkt 29 verbessert werden. Das Gebäude konnte aber 1804 wieder verkauft werden, als Anton sein Haus Neißstraße 30 gegen Miete zur Verfügung stellte. Bereits drei Jahre später schenkte Anton der Gesellschaft den repräsentativen Gebäudekomplex des „Barockhauses“ sowie den benachbarten Komplex Handwerk 2 (Abb. 2).19 Damit 18 Die Funde wurden in einem Prachtband mit Aquarellzeichnungen dargestellt. Vgl. Richthofen, Jasper von: Das Altertümerkabinett. In: Kunst und Wissenschaft um 1800, 111–127, hier 116f. 19 Neumann: Geschichte, 204f., 217f.; Jecht, Richard: Zur Geschichte des Hauses der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften und seiner Besitzer. In: Neues Lausitzisches Magazin 68 (1892) 250–260; Jecht: Wegweiser, 2; ders.: Das barocke Haus der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften und seine Beziehungen zu dem Oberlandbaumeister Karcher und zu den Leinwandgroßhändlern in Görlitz (Ameiß, Hänisch, Schlegel, Schön, Schrickel, Geißler). In: Neues Lausitzisches Magazin 113 (1937) 36–62; Lemper, Ernst-Heinz: Görlitz. Denkmale des Barocks. Görlitz 1986, 35–38; ders.: Das Barockhaus Neißstraße 30 als Museum der Städtischen Kunstsammlungen Görlitz. Regensburg 1994.
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wurde das Platzangebot für die mittlerweile umfangreiche Gesellschaftsbibliothek und die anderen Sammlungen erheblich verbessert. Die finanzielle Absicherung der Gesellschaft und die erheblichen Erweiterungen von Bibliothek und Sammlungen (mineralogische Sammlung, physikalisches Kabinett, geodätische und astronomische Instrumente, Kunstsammlungen etc.) wurden durch die Testamente der Gründungsmitglieder Karl Gottlob von Anton und Adolf Traugott von Gersdorf erreicht, die sich am 17. Juli 1801 gemeinschaftlich entschlossen hatten, ihren wissenschaftlichen Nachlass der Gesellschaft zu übereignen.20 Die durch die Überführung des Nachlasses des verstorbenen von Gersdorf 1807 beträchtlich angewachsenen Sammlungen sollten nun auch dem Wohl der Allgemeinheit dienen; man beschloss, zumindest die Bibliothek einem noch einzurichtenden „Erziehungsinstitut“ bzw. einer „Bildungsanstalt“ zugänglich zu machen. Diese Pläne blieben allerdings unverwirklicht.21 Überblickt man die ersten Jahre der Gesellschaft bis zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, so kann man ein Auf und Ab an Initiativen und Ideen feststellen, von denen viele in ihren Ansätzen steckenblieben. Ein scharf akzentuiertes Profil der „Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften“ ist nicht zu erkennen, vielmehr wurden Ideen – die die persönlichen und finanziellen Ressourcen der Gesellschaft meist überforderten – in alle möglichen Richtungen verfolgt.
2. Konsolidierung und Zentrierung Mit Beginn des 19. Jahrhunderts setzte eine Profilierung der Gesellschaft ein, die vor allem durch Impulse von außen befördert wurde. 1811 gründete sich in Görlitz die „Ornithologische Gesellschaft“ (ab 1823 „Naturforschende Gesellschaft“), die besonders naturwissenschaftlich interessierte Oberlausitzer anzog. Der 1830 gegründete Gewerbeverein band die an der Ökonomie Interessierten an sich. Die Sorabistik konzentrierte sich ab 1847 in der in Bautzen beheimateten wissenschaftlichen Gesellschaft „Maćia Serbska“. Einen weiteren Profilierungsdruck verursachte die Teilung der Oberlausitz in einen preußischen und einen sächsischen Teil in Folge des Wiener Kongresses von 1815. Zwar hatte sich von Anton nach Aufhebung aller Görlitzer Behörden mit dem Gedanken getragen, die Gesellschaft ebenfalls aufzulösen, die preußische Regierungsbehörde in Liegnitz versicherte jedoch am 3. Oktober 1816, die Gesellschaft künftig zu unterstützen. Die Behörde bat Anton, ihr ein Gutachten zukommen zu lassen, aus dem ersichtlich werde, welche Mittel für die Förderung der Gesellschaftszwecke nötig seien. Anton entwickelte daraufhin die Idee, die geschlossene Universität Wittenberg in Gör20 Die landesherrliche Bestätigung datiert auf den 17. September 1801. Vgl. Neumann: Geschichte, 201–204; Anders, Ines: Adolf Traugott von Gersdorfs Testament und Hinterlassenschaft für die Wissenschaftsgesellschaft. In: Görlitzer Magazin. Geschichte und Gegenwart der Stadt Görlitz und ihrer Umgebung 20 (2007) 3–13. Vgl. auch die Abbildung in Fröde/Menzel: Streifzug, 29. 21 Neumann: Geschichte, 219f.
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litz neu zu eröffnen, um mit Hilfe der Bibliothek und der Sammlungen der Gesellschaft ein neues intellektuelles Zentrum zu bilden.22 Dazu kam es zwar nicht, die Aufteilung der Oberlausitz unter verschiedene Landesherren förderte jedoch Bestrebungen innerhalb der Gesellschaft, der geographischen bzw. politischen Teilung ein Bewusstsein der Einheit des historischen Landes Oberlausitz entgegenzusetzen. Die verstärkte Zuwendung zur gemeinsamen oberlausitzischen Geschichte war da nur folgerichtig. Richard Jecht, seit 1889 Sekretär der Gesellschaft, sprach später von einem inneren geistigen Band der Gesamtoberlausitz, welches durch die Gesellschaft getragen worden sei.23 Die gute finanzielle Lage ermöglichte es der Gesellschaft seit 1811/12, den Sekretären ein festes Gehalt und eine freie Dienstwohnung im Haus Neißstraße 30 zur Verfügung zu stellen. So wurden diese in die Lage versetzt, sich allein den Anliegen der Gesellschaft, also den Sammlungen, der Bibliothek, der Korrespondenz und schließlich der Herausgabe der Publikationen zu widmen, was den Grundstein für den Erfolg des Vereins in den kommenden Jahren legte.24 Erfolg hieß hier die Gewinnung neuer Mitglieder sowie Bündelung der Kräfte zur Fortsetzung alter Aufgaben und ins Werk setzen neuer. Dazu gehörte auch der Beschluss vom 20. September 1820, mit der Herausgabe einer neuen Zeitschrift zu beginnen (Neues Lausitzisches Magazin), die von 1822 bis 1943 erscheinen sollte. Die seither regelmäßig erscheinenden Publikationen versetzten die Gesellschaft überdies in die Lage, mit anderen Gesellschaften bzw. Vereinigungen in einen regelmäßigen Schriftentausch zu treten. Als erstes nahm man 1826 Kontakt zur „Königlich dänischen Gesellschaft für nordische Geschichte und Altertumskunde“ in Kopenhagen auf, es folgten die „Deutsche Gesellschaft in Leipzig“ und der „Historische Leseverein des Johanneums zu Graz in Steiermark“.25 Ein wichtiger Prestigeerfolg – auch für die Außenwahrnehmung der Gesellschaft – war der Druck des zweibändigen Bibliothekskatalogs 1819.26 Wenige Jahre später erfolgte endlich die Publikation des zweiten Bandes des Werkes Verzeichnis Oberlausitzischer Urkunden, dessen Druck von der preußischen Regierung mit 150 Talern gefördert wurde. Bis heute ist dieses Werk
22 Zum Gedanken der Universitätsgründung vgl. ebd., 227f.; Jecht: Wegweiser, 8. 23 Jecht, Richard: Über Sammlungen und Bearbeitung Oberlausitzer Urkunden. In: Neues Lausitzisches Magazin 115 (1939) 101–121, hier 105: „Zum guten Glück wurde 1779 durch die Gründung der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften ein inneres geistiges Band der Gesamtoberlausitz geschaffen. An ihm rüttelten die beiden politischen Gewalten nicht, ja sie förderten vielfach zusammen die gesellschaftlichen Bestrebungen.“ 24 Nicht nur wissenschaftsgeschichtlich interessant sind die analytischen Betrachtungen Karl Preuskers über die bestmögliche Organisation und Arbeitsweise eines Vereins, die zum Teil auch in der Gesellschaft umgesetzt worden war. Vgl. ders.: Ueber Mittel und Zweck der vaterländischen Alterthumsforschung. Eine Andeutung. Der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz bei deren funfzigjährigen Stiftungsfeier am 29. Julius 1829 ehrerbietigst dargebracht. Leipzig 1829, 26–31. 25 Neumann: Geschichte, 236. 26 Ebd., 234f.; Neumann, Johann Gotthelf: Die Bibliothek der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften, alphabetisch verzeichnet, Th. 1–2. Görlitz 1819.
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ein unverzichtbarer Wegweiser zu den Urkunden in den Archiven der Sechsstädte. Der Enthusiasmus jener Jahre führte sogar zur Gründung eines Zweigvereins 1837 in Zittau, der aber nur rund ein Jahrzehnt bestand. Als im August 1884 die „Niederlausitzer Gesellschaft für Anthropologie und Urgeschichte“ gegründet wurde, die sich ebenfalls der Geschichtspflege widmete, führte dies zu einer weiteren Konzentration des Interesses und der Publikationen der Gesellschaft auf die Oberlausitz. 1888 trennte man sich von einem Großteil der naturwissenschaftlichen Sammlungen, weil diese nicht mehr als ein zentrales Aufgabenfeld angesehen wurden und weil man schlichtweg Platz schaffen wollte. Die Exponate wurden an das Gymnasium und an weitere Görlitzer Schulen abgegeben und gingen damit über die Jahrzehnte verloren.27 Die mineralogische Sammlung und das physikalische Kabinett blieben bei der Gesellschaft, die prähistorische Sammlung erhielt durch den gewonnenen Platz mehr Ausstellungsfläche.28 Dem graphischen Kabinett wurde allerdings immer noch wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Als 1903 die „Anthropologische Gesellschaft“ aus dem Haus Neißstraße 30, dem Sitz der Gesellschaft, in die „Gedenkhalle“ übersiedelte, überließ man ihr die prähistorische Sammlung unter Wahrung der Eigentumsrechte.29 Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die „Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften“ zu einer Vereinigung entwickelt, die sich vor allem der Erforschung und Pflege der Geschichte der Oberlausitz widmete – von den einst universalgelehrten Ansätzen hatte sie sich weit entfernt. Dies wird vor allem bei einem Blick in das wichtigste Publikationsmedium der Gesellschaft sichtbar, die Zeitschrift Neues Lausitzisches Magazin, aus dem im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zusehends die „allgemein wissenschaftlichen Themata“ verschwanden.30
3. Der Gesellschaftszweck im Spiegel der Statuten Die bisher gezeichneten Entwicklungslinien der Gesellschaft bzw. ihres Selbstverständnisses spiegeln sich auch in der Entwicklung ihrer Verfassung wider. Die ersten „Statuten der [in der] Oberlausitzischen Gesellschaft zur Beförderung der Natur- und Ge-
27 Fröde/Menzel: Streifzug, 33. 28 Richthofen: Altertümerkabinett. 29 Zum Kaiser-Friedrich-Museum (auch Ruhmes- oder Gedenkhalle genannt) am östlichen Ufer der Neiße vgl. Anders, Ines: Die Oberlausitzer Gedenkhalle mit Kaiser-Friedrich-Museum in Görlitz 1902 bis 1932. Ein Beitrag zu Geschichte und Selbstverständnis der Städtischen Kunstsammlungen Görlitz, Tl. 1–2. In: Görlitzer Magazin. Geschichte und Gegenwart der Stadt Görlitz und ihrer Umgebung 6 (1992) 1–36, 7 (1993) 56–62; Bednarek, Andreas: „Die Ruhmeshalle – patriotisch, edel und schön.“ Ein Beitrag zur Baugeschichte der Oberlausitzer Gedenkhalle in Görlitz. In: Görlitzer Magazin. Geschichte und Gegenwart der Stadt Görlitz und ihrer Umgebung 6 (1992) 37–58. 30 Jecht: Wegweiser, 26.
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Abb. 3: Statuten der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften vom 27ten April 1792, gedruckt bei Johann Friedrich Fickelscherer, Görlitz 1792. Widmungsexemplar für den G eheimen Kriegsrat Karl Friedrich von Broizem auf Ebersbach mit dem Siegel der Gesellschaft und den Unterschriften von Präsident und Sekretär. Bildnachweis: Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften, L VI 858, Foto: Christian Speer.
schichtskunde vereinigten Freunde“31 wurden 1779 nur handschriftlich vervielfältigt; sie waren an Paragraphen zahlreicher und inhaltlich ausführlicher als die später gedruckten Statuten. In den heute noch im Gesellschaftsarchiv vorhandenen Aktenbänden lässt sich in der Korrespondenz von Anton, Gersdorf und anderen der inhaltliche Aushandlungsprozess nachverfolgen. Die vielfach überarbeiteten Versionen der Statuten legen ein beredtes Zeugnis über die Dynamik der ersten Jahre der Gesellschaft ab.32 Die nach mehrfachen Überarbeitungen am 21. April 1779 angenommenen Statuten enthielten 44 Artikel und die geradezu universalen Anliegen der Gesellschaft, die noch in zwei Klassen, „die erforschende und erzählende“ (die „phisische und historische“), geteilt war. Sie wurden sehr allgemein über mehrere Artikel hinweg formuliert.33 Wahrscheinlich war es auch eine gewisse Offenheit der Anfangsjahre, die die Gesellschaft davon abhielt, ihre Statuten sogleich drucken zu lassen. Erst 1792 wurden die Statuten mittels 31 So der Titel des Entwurfs von Gersdorf 1779. Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften Görlitz, Archiv der OLGdW, A 2, Bd. 1, Nr. 1, Schreiben Gersdorfs vom 16. März 1779. 32 Ebd., A 2, Bd. 1: Die Abfassung und Revision der Statuten der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften betreffend, 1779 bis 1792; Bd. 2: Die Revision der Statuten der Königl. Sächs. Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften betreffend, 1800ff.; ebd. das in rotes Leder gebundene Prachtexemplar mit den handschriftlichen Statuten von 1792 und 1801 (A 3 Bd. II) mit den eigenhändigen Unterschriften der Mitglieder. 33 Ebd., Bd. 1, Nr. 7.
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Druck vervielfältigt, nachdem man sie in einer repräsentativen, in rotes Leder gebundenen Handschrift niedergelegt und alle anwesenden Mitglieder hatte unterschreiben lassen. Ob jedes Mitglied oder nur ausgewählte Mitglieder dann ein gesiegeltes, vom Präsidenten Callenberg und dem Sekretär Anton unterschriebenes Exemplar erhielten, ist ungewiss. Zwei solcher Exemplare haben sich erhalten: Das erste war dem „Herrn Geheimen Kriegsrath [Karl Friedrich] von Broizem auf Ebersbach“ gewidmet (Abb. 3), das zweite „Herrn [Adolf Traugott] von Gersdorf auf Meffersdorf Schwerta“. Zu den Aufgaben der Vereinigung hieß es nun in § 1 der Ausgabe von 1792: „Der Zweck der Gesellschaft ist vereinigte Bearbeitung aller Arten wissenschaftlicher Gegenstände, besonders solcher, welche auf die Oberlausitz Bezug haben.“34 In der Ausgabe von 1801 variiert der Text dann nur leicht im zweiten Teil: „Der Zweck der Gesellschaft ist vereinigte Bearbeitung aller Arten wissenschaftlicher Kenntnisse. Besondere Rücksicht nimmt die Oberlausitz.“35 Als die Gesellschaft 1803 vom Landesherrn anerkannt, also privilegiert wurde, schlug sich dies auch in der Einleitung zu § 1 nieder, der die Zwecke der Gesellschaft nunmehr ausführlicher darstellte als in den Jahren zuvor: „Der Zweck der am 21. April 1779 gestifteten, landesherrlich privilegirten Oberlausitzer36 Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz ist im Allgemeinen: vereinigte Bearbeitung des gesammten Gebietes der Wissenschaften; im Besondern aber: die Erforschung der Geschichte, Alterthümer und Landeskunde der Lausitz und vorzüglich der Oberlausitz. Dabei ist ihr Streben stets dahin gerichtet, die Wissenschaften für das Leben fruchtbar zu machen.“37 Eine letzte Umformulierung der Gesellschaftszwecke erfolgte 1864. Es fällt auf, dass nun wieder die Niederlausitz in den Wirkungsbereich miteinbezogen wurde. Ferner ist festzustellen, dass man nicht mehr dem aufklärerischen Impetus der Anfangsjahre folgte und den Passus „die Wissenschaften für das Leben fruchtbar zu machen“ strich, dafür aber die „Anregung und Förderung wissenschaftlichen Lebens und Strebens“ neu aufnahm: „Der Zweck der am 21. April 1779 gestifteten, landesherrlich privilegirten Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz ist im Allgemeinen: vereinigte Pflege des gesammten Gebietes der Wissenschaften, sowie Anregung und Förderung wissenschaftlichen Lebens und Strebens; im Besondern aber: Erforschung und Bearbeitung der Geschichte, Alterthümer und Landeskunde der Ober- und Niederlausitz.“38 Nach dem hier untersuchten Zeitraum revidierte man die Statuten noch einmal 1934. Dabei wurden die Passagen „des gesammten Gebietes“ (der Wissenschaften) und die „Niederlausitz“ gestrichen.39 34 Ebd., L VI 858: Statuten der Oberlausizischen Gesellschaft der Wissenschaften vom 27ten April 1792, Görlitz, Johann Friedrich Fickelscherer 1792, 5. 35 Wenzel: Vorwort, 19. 36 Seit 1845: „Oberlausitzischen“. 37 Statuten 1844, 74; Statuten 1854, 450f. 38 Statuten 1867, 325. 39 Statuten 1934, 246, § 1.
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4. Die Institutionalisierung der Gesellschaft 4.1 Die Statuten Die formale Basis, Arbeitsgrundlage und der ideelle Wegweiser der Gesellschaft waren ihre Statuten. Wie schon an den mehrfachen Umformulierungen des Gesellschaftszwecks gezeigt, spiegeln sie die Profilierung und inhaltliche Fokussierung der Gesellschaft wider. Im Folgenden sollen die Statuten nun in ihrer Gesamtheit betrachtet werden und die Problematik der landesherrlichen Anerkennung zur Sprache kommen. Einen ersten Statutenentwurf mit 25 Artikeln hatte Gersdorf am 16. März 1779 an Anton geschickt, der ihn kommentiert zurücksandte.40 Des Weiteren ist ein Entwurf von Karl Gottlob Dietmann (1721–1804) vom 11. Mai 1779 mit 44 Artikeln erhalten, der mit Veränderungen in die am 21. April 1779 angenommenen „Statuten der [in der] Oberlausitzischen Gesellschaft zur Beförderung der Natur- und Geschichtskunde vereinigten Freunde“41 übernommen wurde.42 Noch im selben Jahr wurden diese mehrfach verändert. Der Aktenband allein zu den Statutenrevisionen bis 1792 umfasst 22 Stücke, wobei eine allmähliche Reduzierung der Artikel zu beobachten ist. Auch der Name der Gesellschaft änderte sich bereits mit der am 24. August 1779 angenommenen Revision in „Privatgeselschaft der Wißenschaften in der Oberlausitz“.43 Diese Statuten hatten nur noch dreißig Artikel, die folgenden nur noch zwanzig.44 Neben dem Entwurf zukunftsfähiger Statuten war den führenden Mitgliedern der Gesellschaft an einer landesherrlichen Privilegierung gelegen. Bereits 1779 sollte eine kurfürstliche Bestätigung erlangt werden, erste Erkundigungen wurden jedoch negativ beschieden. Einen zweiten Versuch ließ man im Sande verlaufen, als man 1781 vom Oberamt in Bautzen erfuhr, dass mit Kosten von 160 Talern zu rechnen sei.45 Bei der Frühjahrsversammlung vom 29. April 1791 wurde eine Deputation zur Überarbeitung der Statuten ernannt, die darauf hinarbeiten sollte, diese auf das Wesentliche zu kürzen, um die landesherrliche Privilegierung zu erreichen, diese möglichst lange beizubehalten und nicht durch Satzungsänderungen zu gefährden, die eine zu detaillierte Festschreibung der Gesellschaftsverfassung eines Tages nötig machen würde. Die Statuten wurden auf zwölf Paragraphen mit den bereits dargelegten Zielsetzungen reduziert.46 Spätestens 1791 hatte man sich auch von der Unterteilung in Klassen verabschiedet. Allerdings
40 Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften Görlitz, Archiv der OLGdW, A 2, Bd. 1, Nr. 2. 41 So der Titel des Entwurfs von Gersdorf 1779. Ebd., Nr. 1, Schreiben Gersdorfs vom 16. März 1779. 42 Ebd., Nr. 6, 7. 43 Ebd., Nr. 8. 44 Ebd., Nr. 9. 45 Neumann: Geschichte, 207. 46 Ebd., 177f.; Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften Görlitz, Archiv der OLGdW, A 2, Bd. 1.
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wurde der dritte Versuch, mit den neuen Statuten eine Privilegierung zu erlangen, per Gesellschaftsbeschluss vom 21. April 1792 wieder aufgegeben, als man die Mitglieder wissen ließ, dass ihr Ansinnen den Charakter der Gesellschaft als freie wissenschaftliche Vereinigung gefährden könnte.47 In der Mitgliederversammlung vom 12. August 1792 wurde ergänzend eine Revision der Statuten nach zehn Jahren beschlossen, was dann 1801 auch geschah.48 Die am 17. Juli 1801 bekanntgemachten Schenkungen der Herren Anton und von Gersdorf ließen zugleich die Sorge um die Zukunftssicherheit der umfangreichen Stiftungen aufkommen, so dass man zweierlei beschloss: die Statuten zu ergänzen und sich abermals um eine landesherrliche Privilegierung der Gesellschaft zu bemühen, um deren Rechtsform und damit ihr Eigentum zu sichern. Der neue § 8 enthielt die Formulierung, dass kein Mitglied persönliche Eigentumsrechte am gemeinschaftlichen Eigentum der Gesellschaft erlangen könne.49 Daraus folgte, dass zum Beispiel Sammlungsgegenstände, die von einem Mitglied in die Gesellschaft eingebracht worden waren, weder von diesem noch von seinen Erben zurückgefordert werden konnten. Im folgenden Jahr wandte man sich dann mit der Bitte um landesherrliche Anerkennung der Statuten an das Oberamt in Bautzen. Von dort erfolgte die Mitteilung, dass die „kurfürstliche Durchlaucht“ am 10. Juni 1803 die vorgelegten Statuten „zu genehmigen geruht habe“.50 Dadurch hatte die Gesellschaft den Status einer juristischen Person erhalten. Da von nun an jede Veränderung der Statuten den Status der Gesellschaft hätte gefährden können, wurden notwendige Erläuterungen bzw. Auslegungen der Statuten in einem „Regulativ“ – einer Art Geschäftsordnung – festgehalten, die der Zustimmung 47 Neumann: Geschichte, 208. 48 Ebd., 179; Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften Görlitz, Archiv der OLGdW, A 3, Bd. 2, Bl. 8r–12v. 49 Wenzel, Kai: Vorwort. In: Kunst und Wissenschaft um 1800, 11–19, hier 19. 50 Zum Inhalt der Statuten von 1801 vgl. Neumann: Geschichte, 206f.; zum Vorgang der Genehmigung ebd., 208. Der Vollständigkeit halber seien die folgenden Redaktionen und Abdrucke der Statuten genannt: Allerhöchst bestätigte Statuten der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz [vom 28. August 1844]. In: Neues Lausitzisches Magazin 23 (1846) 74– 81 (2. Zählung); Allerhöchst bestätigte revidirte Statuten der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz [vom 15. August 1854]. In: Neues Lausitzisches Magazin 33 (1857) 450–456; Allerhöchst bestätigte Statuten der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz [vom 15. August 1854]. In: Neues Lausitzisches Magazin 38 (1861) 484–489; Entwurf der revidirten Statuten, wie er von der 124. Hauptversammlung am 31. August 1864 angenommen worden ist. In: Neues Lausitzisches Magazin 41 (1864) 325–329; Allerhöchst bestätigte Statuten der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften. Görlitz 1867, wieder abgedruckt in Lemper, Ernst-Heinz: Chronik der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften in den Jahren 1929 bis 1944, ihres Erbes und Auftrages ab 1945 bis zu ihrer Neugründung 1990/91, Tl. 1–2. In: Neues Lausitzisches Magazin N.F. 1 (1998) 11–67, 2 (1999) 7–65, hier Tl. 1, 16–21; Satzung der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften in Görlitz [vom 25. April 1934]. In: Neues Lausitzisches Magazin 110 (1934) 246–250, wieder abgedruckt in Lemper: Chronik, Tl. 1, 23–28.
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aller Mitglieder bedurfte und nach Annahme derselben allen Mitgliedern überreicht oder zugeschickt wurde.51 Nachdem 1815 der östliche Teil der Oberlausitz zu Preußen geschlagen worden war, sandte man 1819 die Statuten zur Bestätigung an die nun zuständige preußische Regierung. Da kein Bescheid erteilt wurde, ging man von einer stillschweigenden Anerkennung aus.52 Zwei Jahre später wurde das Regulativ einer erneuten Bearbeitung unterzogen. In Bezug auf die dargelegten Gesellschaftsziele ist der dort formulierte Pragmatismus interessant. Zur Erinnerung sei noch einmal aus den Statuten zitiert: Der Zweck der Gesellschaft ist die „vereinigte Bearbeitung des gesammten Gebietes der Wissenschaften; im Besondern aber: die Erforschung der Geschichte, Alterthümer und Landeskunde der Lausitz und vorzüglich der Oberlausitz. Dabei ist ihr Streben stets dahin gerichtet, die Wissenschaften für das Leben fruchtbar zu machen.“ Im Regulativ heißt es dazu: „Nach §. I. hat die Gesellschaft sich im Allgemeinen die Bearbeitung aller wissenschaftlichen Gegenstände, und besonders solcher vorgenommen, die die Lausitz betreffen; allein da sie größtentheils aus Geschäftsmännern besteht, denen wenig Zeit zur eigentlichen Bearbeitung der Wissenschaften übrig bleibt, so wird sie wohl das Theoretische nicht ganz hinten ansetzen, aber ihre Tendenz wird doch mehr auf das Practische gehen, und es wird mithin von ihren Mitgliedern mehr dahin gesehen werden, das von Anderen Geschaffene sich und ihrem Vaterlande anzueignen, und es hier mit aller Kraft, die ihnen zu Gebote steht, einzuführen.“53 Man war sich also trotz der in den Statuten formulierten hehren Aufgaben bewusst, dass vom Großteil der Mitglieder keine wissenschaftlichen Großtaten zu erwarten waren. Solche blieben, wie ein Blick in die Publikationen der Gesellschaft zeigt, nur einigen wenigen überlassen.54 Gleichwohl war es wichtig, dass die Ideen der Gesellschaft von allen Mitgliedern getragen und nach außen vertreten werden konnten, und dass die für die Aufgaben der Gesellschaft nicht nur symbolisch stehenden Sammlungen für die wissenschaftliche Arbeit der Mitglieder zur Verfügung standen und ihr Bestand für die Zukunft rechtlich gesichert war. 4.2 Die Ämter Die solide finanzielle Grundlage der Gesellschaft machte es möglich, eine effektive Selbstverwaltung aufzubauen, die sowohl die Sammlungen betreuen als auch die Publikationen voranbringen konnte. Die formale Grundlage dieser Selbstverwaltung bildeten die Statuten und die Regulative. Des Weiteren wurden 1848 in der Vereinszeitschrift „Instruktionen“ veröffentlicht, die die Zuständigkeiten und Arbeitsabläufe des Präsi51 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Regulativ zur Erläuterung der höchsten Orts bestätigten Statuten der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften. Görlitz 1804; vgl. ferner den gleichlautenden Titel aus dem Jahr 1822. 52 Neumann: Geschichte, 232. 53 Ebd., 236f.; Regulativ 1822, 5. 54 Vgl. zum Beispiel die jahrweise erfolgten Zusammenstellungen in Jecht: Wegweiser.
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denten, Bibliothekars, Kassierers, Sekretärs und Hausinspektors regelten.55 Der folgende Überblick ist eine gleichsam idealisierte Rekonstruktion für das Jahr 1929, bei dem versucht wurde, auch frühere Verhältnisse einzubinden bzw. die Genese einzelner Ämter nachvollziehbar zu gestalten.56 Vorstand – Präsident (seit 1779), Vizepräsident (gibt es spätestens seit 1792, bis 1844 Direktor des Ausschusses – Komitee – genannt, anfangs vom Präsidenten auf ein Jahr ernannt, dann Kooption durch den Ausschuss, seit 1844 durch die Hauptversammlung gewählt) – 1801: Präsident und Ausschuss werden durch Stimmenmehrheit aus der Gesellschaft gewählt; Präsident ernennt Vizepräsident und Deputationen – 1844/46: § 8: Präsident auf fünf Jahre gewählt; Vizepräsident muss in Görlitz wohnen – 1854/57: § 8: „Korporation“ (Mitglieder) wählt Vizepräsidenten – Repräsentanten (Komitee): 12 Personen – 1791: § 9: Ausschuss von acht jährlich zu wählenden Mitgliedern zur schnellen Erledigung anstehender Aufgaben57 – ab 1800 zehn Mitglieder58 – 1844/46: § 7: auf drei Jahre gewählt, können wiedergewählt werden (jährlich scheidet ein Drittel derselben aus, im ersten und zweiten Jahr entscheidet das Los; der Passus mit dem Los erscheint 1864 § 12 nicht mehr) – seit 1864 § 10 bildeten die zwölf Repräsentanten und die sechs Beamten den Ausschuss zur Verwaltung aller Gesellschaftsangelegenheiten; § 13: zu den Beamten gehörten Präsident, Vizepräsident, Sekretär, Bibliothekar, Kassierer, Inspektor des Hauses Beamte – Sekretär (seit 1779, besorgt als „wissenschaftlicher Geschäftsführer“59 die laufenden Geschäfte und ist Herausgeber der Vereinspublikationen sowie später der Zeitschrift Neues Lausitzisches Magazin, bis 1845 zugleich Bibliothekar; anfangs gab es auch Vizesekretäre als Gehilfen; alle Beamten waren spätestens seit 1844 vom „Sustentationsgeld“60 befreit) 55 Geschäfts-Instruction für den Präsidenten. Reglement für die Verwaltung der Bibliothek. Instruction für den Kassierer. Instruction für den Inspector des Hauses. Geschäfts-Instruction für den Secretär. In: Neues Lausitzisches Magazin 24 (1848) 416, 93–98 (2. Zählung). 56 Als Grundlage diente die chronologische Gesellschaftsgeschichte von Jecht: Wegweiser. Zu den Wahlmodalitäten vgl. Regulativ 1822, 7, Punkt II. A; zum Präsidenten die Geschäfts-Instruction. 57 Neumann: Geschichte, 178. 58 Jecht: Wegweiser, 3f. 59 Erstmals so tituliert in Statuten 1844, 77, § 12. 60 Eine Summe, die alle Mitglieder zu zahlen hatten, die keinen schriftlichen Beitrag einreichten. Vgl. Neumann: Geschichte, 179.
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– 1801: Sekretär wird durch Stimmenmehrheit aus der Gesellschaft gewählt, ver-
antwortlich für Archiv und Korrespondenz
– 1811: „beständiger“ Sekretär, der zugleich Bibliothekar ist, erhält Dienstwoh-
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nung, Holzdeputat, 300 Taler Gehalt61 – 1844/46: neue Statuten trennen Sekretärs- vom Bibliothekarsamt – 1844/46: § 8: auf drei Jahre gewählt; § 12: aus Gesellschaftskasse besoldet, freie Dienstwohnung, Aufgaben: unter anderem wissenschaftlicher Geschäftsführer, Führung der Registratur, Korrespondenz etc., Redaktion und Druck der Gesellschaftsschriften, Archiv Kassierer (spätestens seit 1792) – 1801: Kassierer wird durch Stimmenmehrheit aus der Gesellschaft gewählt – 1844/46: § 8: auf drei Jahre gewählt, § 14: wird besoldet Kastellane (seit 1814, auch als Inspektoren, Kustoden, Aufwärter, Hauswärter, Bibliotheksdiener bezeichnet) – 1801: „ein oder einige“ Aufseher werden durch Stimmenmehrheit aus der Gesellschaft gewählt – 1844/46: § 8: auf drei Jahre gewählt, „Korporation“ wählt drei Inspektoren der Sammlungen (gehören nicht zu den eigentlichen Beamten); § 15: je einen, um die „antiquarische“, „naturhistorische“ und „physikalische und die übrigen Sammlungen“ zu beaufsichtigen; § 17: „besoldeter Aufwärter“ (Wärter/Bote) – 1864: § 21: es wird nur noch von „erforderlichen“ Inspektoren gesprochen; in § 23 heißt der Wärter/Bote „besoldeter Kustos“ Bibliothekar (seit 1845, seit 1836 gab es auch Gehilfen des Sekretärs/Bibliothekars)62 – 1844/46: neue Statuten trennen Sekretärs- vom Bibliothekarsamt; § 8: wird durch Stimmenmehrheit aus der Gesellschaft auf drei Jahre gewählt; § 13: wird besoldet – 1893–1902: zweiter Bibliothekar Inspektor des Hauses (seit 1818, auf Verlangen des Magistrats eingesetzt) – 1844/46: § 8: wird durch Stimmenmehrheit aus der Gesellschaft gewählt
Da einige Ämter auch besoldet waren, sollen in aller Kürze die wichtigsten Einnahmequellen der Gesellschaft genannt werden. Laut den „Instruction[en] für den Kassierer“ hatte die Gesellschaft Einkommen aus Beitrittsgeldern, Jahresbeiträgen, dem Verkauf von Verlagsbüchern, Magazinen, Katalogen und Dubletten, Kapitalzinsen, eingegangenen oder aufgenommene Kapitalien sowie Mieteinnahmen aus den Gesellschaftshäusern Neißstraße 30 und Handwerk 2.63 Ausgaben konnten gespart werden, als man 1835 „Postfreiheit“ erhielt, also kein Porto mehr zahlen musste. Allerdings ging dieses 61 Ebd., 222. 62 Vgl. das Verzeichnis der Bibliothekare und Inspektoren bis 1945 bei Wenzel/Tschentscher: Bibliothek, 176f. 63 Geschäfts-Instruction, 13. Vgl. auch die Bestimmungen zum Etat der Gesellschaft in: Regulativ 1822, 236f.
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Privileg mit der Reichsgründung 1871 wieder verloren.64 Der Erste Weltkrieg und seine Folgen führten zu erheblichen Kapitalverlusten, durch die Anerkennung der Gemeinnützigkeit 1921 konnte aber wenigstens ein Teil der Ausgaben reduziert werden. 4.3 Die Mitglieder Bis zur Auflösung der Gesellschaft 1945 waren nur Männer Mitglieder. Frauen hätten die Mitgliedschaft nicht erlangen können, da in den Statuten immer nur von „Männern“ die Rede war. Die Herren der Gesellschaft wurden in wirkliche („inländische“) und korrespondierende („auswärtige“) Mitglieder unterteilt. Seit den Statuten von 1844/46 war es auch möglich, Ehrenmitglieder zu ernennen.65 Jedes inländische (Oberlausitzer) Mitglied hatte einen persönlichen Anteil für die Gesellschaft beizusteuern. In den ersten gedruckten Statuten von 1792 heißt es dazu unter § 6, dass jedes neue Mitglied einen Beitrag zu den Sammlungen leisten müsse („ein brauchbares Buch [...] vom Werth eines Dukaten“, möglichst auch „Naturmerkwürdigkeiten, oder Münzen oder sonstige Alterthümer“). Des Weiteren sollte jedes Mitglied jährlich eine „gemäße Abhandlung“ einreichen oder der Gesellschaftsbibliothek ein Buch im Wert eines Dukaten spenden. Bereits bei seinem Eintritt sollte jedes neue Mitglied angeben, „für welche Gegenstände es sich vorzüglich interessiere und welche Abhandlungen es lesen wolle“, damit dies bei der Zirkulation der Abhandlungen berücksichtigt werden könne.66 Darüber hinaus sollte jeder bei der ersten Hauptversammlung schriftlich angeben, wieviel er zu den „gemeinschaftlichen Aufgaben“ der Gesellschaft beitragen wolle. Schließlich waren alle verpflichtet, mindestens eine der beiden Hauptversammlungen in Görlitz zu besuchen und im Verhinderungsfall dem Sekretär die Gründe zu nennen. Von den genannten Abhandlungen sollten dann bei der Versammlung eine oder mehrere vorgetragen werden (§ 8). Neue Mitglieder konnten auf diesen Zusammenkünften vorgeschlagen und darüber „ballotiret“ werden (§ 8). Das heißt, dass mit farbigen Kugeln abgestimmt wurde, wobei eine einfache Mehrheit 64 Weitere Details zur Portofreiheit bei Fröde/Menzel: Streifzug, 29–31. 65 Statuten 1846, 74, § 3. Zu den Mitgliedern der Gesellschaft vgl. das in Vorbereitung befindliche biographische Handbuch von Fröde. Vgl. ferner Wenzel, Kai: Ein Bildersaal en miniature. Das Fotoalbum der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften. In: Neues Lausitzisches Magazin 137 (2015) 81–100. Die Mitgliederzahlen entwickelten sich wie folgt (nach Jecht: Wegweiser, 14, 20, 27, 43–54): 1783: 52 (13 Görlitzer, 19 Oberlausitzer, 20 auswärtige Mitglieder); 1791: 57 (16 Görlitzer, 39 Oberlausitzer); 1796: 89 (58 Oberlausitzer, 31 auswärtige); 1799: 223 (74 inländische, 45 auswärtige); 1834/35: 223 (5 Ehren-, 104 inländische, 114 auswärtige); 1838: 278; 1841: 274; 1846: 235; 1850: 199; 1854: 191 (32 Ehren-, 65 inländische, 94 auswärtige); 1857: 233; 1862: 214; 1872: 215 (50 Ehren-, 86 wirkliche, 79 korrespondierende); 1878: 202; 1880: 195; 1887: 175; 1889: 173; 1894: 193; 1897: 212; 1898: 226; 1900: 229; 1903: 232; 1904: 242; 1909: 258; 1915: 280; 1929: 405 (16 korrespondierende, 24 Ehrenmitglieder). 66 Regulativ 1822, 5.
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für die Entscheidung genügte. Dabei musste der Vorschlagende dafür bürgen, dass der Vorgeschlagene die Mitgliedschaft annehmen werde.67 Alle Mitglieder hatten „in gesellschaftlichen Angelegenheiten und Versammlungen ohne Unterschied gleichen Rang und gleiche Rechte [...] und nur eine Stimme“ (§ 10). Erst 1844 enthielten die abermals erweiterten Statuten einen eigenen Paragraphen zur Mitgliedschaft (§ 2). Dort hieß es, dass „jeder wissenschaftlich gebildete, selbständige Mann“ befähigt sei, Mitglied zu werden. Dazu musste das zukünftige Mitglied einen Antrag stellen. Das „Beamten-Collegium“ prüfte dann die Wählbarkeit und schlug den Kandidaten auf der Hauptversammlung vor, wo durch „Ballottement“68 abgestimmt wurde.69 Der Teilung der Oberlausitz trug man Rechnung, indem man formulierte, dass nur in der preußischen und sächsischen Lausitz wohnhafte Männer wirkliche Mitglieder werden könnten (§ 3). Auswärtige (korrespondierende) und damit stimmlose Mitglieder könnten aber einen Antrag auf Stimmrecht stellen. Von den zwölf zu wählenden Repräsentanten mussten zwei aus der sächsischen Oberlausitz stammen (§ 6). 1864 ergänzte man im § 2 die Formulierung zur Mitgliedschaftsvoraussetzung („jeder wissenschaftlich gebildete selbständige Mann“) um die Worte „von welchem sich die Förderung des Gesellschaftszwecks erwarten läßt“. Jüdische Einwohner durften erst ab 1847 Mitglieder werden, denn seitdem konnten sie in Görlitz das Staatsbürgerrecht erhalten.70 In den überarbeiteten Statuten von 1934 wurden Ehrbarkeit und „arische Abstammung“ zur Vorbedingung einer Aufnahme in die Gesellschaft, über die nicht mehr die Mehrheit in der Hauptversammlung, sondern einzig der Präsident entschied. Die Verheiratung mit einer „Nichtarierin“ führte zum Ausschluss aus der Gesellschaft.71 Den Forschungen Tino Frödes zufolge ist es zum Ausschluss von Mitgliedern nicht gekommen, allerdings verließen jüdische Mitglieder – wohl eher unfreiwillig – per Austrittserklärung die Gesellschaft.72 Die seit der Gründung für jedes Mitglied zumindest formal bestehende Verpflichtung, jährlich eine Abhandlung einzureichen, findet sich seit 1844 nicht mehr in den Statuten. Der in seiner Höhe frei bestimmbare Zusatzbeitrag für die Gesellschaft wurde in eine konkrete Beitragsordnung umgewandelt (§ 5). Allerdings wurden die Mühen derjenigen Mitglieder, die Abhandlungen einreichten, belohnt, indem ihnen auf Beschluss der „Redactions-Deputation“ der „Sustenationsbeitrag“ erlassen wurde (§ 21). Alle Mitglieder erhielten anfangs gegen Zahlung, spätestens seit 1844 ein freies Exemplar der Zeitschrift Neues Lausitzisches Magazin.73 Da die auswärtigen Mitglieder bisweilen 67 68 69 70 71 72
Regulativ 1822, 11, Punkt E, 2. Kugelung: geheime Abstimmung durch die verdeckte Abgabe verschiedenfarbiger Kugeln. Statuten 1864, § 3: „in geheimer Abstimmung durch einfache Stimmen-Mehrheit“. Fröde/Menzel: Streifzug, 45 Anm. 7. Statuten 1934, 246, § 2 und 8. Dies gilt etwa für Albert Leopold Weil (1867–1945), Mitglied 1906–1933, und Lothar Albert Karl Gideon Weil (1894–1962), Mitglied 1924–1933. 73 Mit dem revidierten Regulativ von 1833 waren die Mitglieder zum Kauf verpflichtet worden, spätestens seit den Statuten von 1844, § 23 galt die Freiexemplarregelung. Dieses Regulativ
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über ihre Rechte und Pflichten im Unklaren waren, wurden die Statuten in der Vereinszeitschrift publiziert.74 Eine formale Lockerung der Gesellschaftsverfassung wurde 1912 entschieden, indem man die Präsenzliste bei den Hauptversammlungen abschaffte.75 4.4 Die Publikationen An den Publikationen lässt sich die wechselvolle Geschichte der Anfangsjahre wie auch der spätere Erfolg der Gesellschaft bzw. einzelner Mitglieder ablesen. Da sowohl der jüngst erschienene Sammelband Kunst und Wissenschaft um 1800 als auch die Homepage der 1990 als gemeinnütziger Verein wiederbegründeten „Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften“ und der Online-Katalog der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften die Schriften der Gesellschaft ausführlich behandeln bzw. nachweisen, soll es im Folgenden ausreichen, einige Schlaglichter zu werfen.76 In den Anfangsjahren versuchte die Gesellschaft, die Themen ihres universalgelehrten Anspruchs in verschiedenen Publikationen zu dokumentieren. Da die Art und Weise der Themenbearbeitung und Herausgabe aber nicht formal festgelegt worden waren, basierte diese Tätigkeit auf Freiwilligkeit und dem Engagement einzelner Mitglieder. So stand dem hohen Anspruch, an wissenschaftlichen Debatten und der Volksbildung teilscheint nicht wie das von 1822 gedruckt worden zu sein. Im Bericht über die 76. Hauptversammlung vom 17. Juli 1833 heißt es: „Es ward der schon vorher vielseitig erwogene Entwurf [des Regulativs] bis auf wenige anderweitig erfolgte Bestimmungen gut geheißen. Zu seiner Zeit wird es gedruckt ausgegeben werden.“ Neues Lausitzisches Magazin 11 (1833) 436f., 439. Im Umschlagblatt zu Heft 4 des Neuen Lausitzischen Magazins 16 (1838) heißt es: „Was die verehrl. Mitgleider der oberl. Gesellschaft der Wissenschaften anbetrifft, so erlaubt sich der Herausgeber nochmals bemerklich zu machen: daß laut des Regulativs vom 7. Juli 1833 und der Abänderung der §§. 3–11 vom 2. Sept. 1835 durch Gesammtbeschluß der Gesellschaft, alle wirklichen und correspondierenden Mitglieder statutenmäßig verpflichtet sind, das Magazin mitzuhalten und daß in Gemäßheit dieser Verpflichtung die Heyn’sche Buchandlung Auftrag erhalten hat, denjenigen vererl. Mitgliedern, welche die Bestellung des Magazins unterlassen, dasselbe auf ihre Kosten gegen Einziehung des Subscriptionsbetrages zuzusenden. [...] Görlitz, den 10. April 1839. J. Leopold Haupt, als Herausgeber des Magazins.“ 74 ���������������������������������������������������������������������������������������������� 1861 wurde die erneute Statutenpublikation mit den Worten eingeleitet: „Im brieflichen Verkehre mit den auswärtigen Mitgliedern hat sich oft ergeben, daß der Wortlaut der Statuten nicht bekannt genug ist. Dieser Uebelstand hat manche Auseinandersetzung nöthig gemacht, weil einzelne Mitglieder weder von ihren Rechten noch von ihren Pflichten richtige Vorstellungen haben. Um für die Zukunft jeder Erörterung über das Grundgesetz der Gesellschaft überhoben zu sein, erscheint es angemessen, die Statuten hier abdrucken zu lassen.“ Neues Lausitzisches Magazin 38 (1861) 484. 75 Jecht: Wegweiser, 31. 76 Fröde/Menzel: Streifzug, 30 (Neues Lausitzisches Magazin), 32 (Codex Diplomaticus Lusatiae Superioris), 34f. (Srciptores Rerum Lusaticarum N.F.); Kittelmann, Erich: Geschichte der Görlitzer Zeitschriften und Zeitungen bis 1875. Friedland 1931. Zu den ersten statutenmäßigen Vorgaben in Bezug auf regelmäßige Publikationen vgl. Geschäfts-Instruction, 95, § 9–16.
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zuhaben, eine mangelnde Institutionalisierung desselben im Wege. Publikationen wie die Provinzialblätter, die Lausitzische Monatsschrift oder die Neue Lausitzische Monatsschrift boten wichtige Forschungsbeiträge und Nachrichten. Finanzielle Engpässe oder strukturelle Probleme verhinderten jedoch, dass diese Periodika tatsächlich regelmäßig oder über einen längeren Zeitraum hinweg erscheinen konnten.77 Erst als sich der wissenschaftliche Betrieb der Gesellschaft konsolidiert hatte (vor allem durch die Entlohnung des wichtigen Sekretärsamtes) und die Geschäftsabläufe 1822 geregelt wurden,78 waren die Voraussetzungen für die jährlich in vier Heften von 1822 bis 1941 ununterbrochen erscheinende Zeitschrift Neues Lausitzisches Magazin erfüllt. In den Statuten von 1844 heißt es dazu in § 23: „Die Gesellschaft gibt eine Zeitschrift heraus, deren Inhalt eine Deputation von fünf Mitgliedern bestimmt, wozu jedesmal der Secretär gehört, welcher die übrigen Redactionsgeschäfte zu besorgen hat.“79 Dass die historische Forschung in der Oberlausitz allerdings nicht erst mit der Gründung der Gesellschaft ein beachtliches Niveau erreicht hatte, zeigt der Titel des Neue[n] Lausitzische[n] Magazin[s] selbst, der auf das Vorgängerorgan Lausitizisches Magazin oder Sammlung verschiedener Abhandlungen und Nachrichten zum Behuf der Natur-, Kunst-, Welt- und Vaterlands-Geschichte, der Sitten, und der schönen Wissenschaften verwies, an dessen Niveau man nach Jahren des Auf und Ab anknüpfen wollte.80 In dem vom Laubaner Pfarrer Karl Gottlob Dietmann (1721–1804) herausgegebenen Periodikum (erschienen 1768–1792) hatte zum Beispiel der Friedersdorfer Pfarrer und Historiker Christian Knauth (1706–1784) zahlreiche Aufsätze veröffentlicht, die bis heute – zum Teil auch wegen der seitdem eingetretenen Quellenverluste – ihren Wert für die Forschung behalten haben.81 Allerdings sollten im erneuerten Magazin nicht nur „Aufsätze historisch und antiquarischen Inhalts“ Platz finden. Johann Gotthelf Neu77 Periodika der Gesellschaft waren: die Anzeigen (mit variierenden Titelzusätzen und Unterbrechungen 1780–1847), fortgeführt als Mitteilungen aus der Gesellschaft in der Zeitschrift Neues Lausitzisches Magazin, die Provinzblätter (1781–1783), Lausitzisches Wochenblatt (1790–1792), (Neue) Lausitzische Monatsschrift (1793–1808), Wochenblatt für die Lausitz und den Cottbusser Kreis (1811), Vergangenheit und Gegenwart (1812), Vaterländische Monatsschrift (1813), Neues Lausitzisches Magazin (1822–1941). Von den Bänden der Jahrgänge 1942 und 1943 sind nur Teile der Druckfahnen überliefert. 78 �������������������������������������������������������������������������������������������������� Im Regulativ 1822, 9, heißt es verbindlich unter „C. Die Pflichten des Secretairs“, Punkt 4: „Desgleichen besorgt er die Redaction und den Abdruck aller von der Gesellschaft herausgegebenen oder herauszugebenden Schriften.“ 79 Statuten 1846, 79. 80 Neues Lausitzisches Magazin 1 (1822) 6 („Vorerinnerungen“ des Sekretärs und Herausgebers Johann Gotthelf Neumann). 81 Pescheck, Christian Adolph: Bericht über die Knauthe’schen historischen Manuscripte. In: Neues Lausitzisches Magazin 26 (1849) 168–186; Otto, Gottlieb Friedrich (Hg.): Lexikon der seit dem funfzehenden Jahrhunderte verstorbenen und jetzlebenden Oberlausitzischen Schriftsteller und Künstler, Bd. 2. Görlitz 1801–1803, 285–302; Jecht, Richard: Die Oberlausitzer Geschichtsforschung in und um Görlitz und Lauban, vornehmlich 1700–1780. In: Neues Lausitzisches Magazin 94 (1918) 1–160, hier 48–110.
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mann (1775–1831) nennt in den „Vorerinnerungen“ zum ersten Band von 1822 zehn weitere Themengebiete, aus denen „gemeinnützige“ Abhandlungen oder Mitteilungen zu erwarten seien: Länder- und Völkerkunde, Naturkunde, Medizin, Philosophie und Religion, Erziehungs- und Schulwesen, Erfindungen, Biographien, Literarische Anzeigen, Mitteilungen zur Gesellschaft und Miszellen.82 Neben wissenschaftlichen Aufsätzen waren Quelleneditionen ein besonderes Anliegen der Gesellschaft. Auch diese spiegeln die anfänglichen Probleme der Arbeitsmethoden, Organisation und Finanzierung wider. Das ehrgeizige Vorhaben, alle die Oberlausitz betreffenden Urkunden vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert in einem Abschriftenwerk zusammenzutragen und zu publizieren, konnte (zumindest in Druckform) nicht realisiert werden. Allerdings wurde zumindest der Inhalt der Dokumente als Regest im Verzeichnis Oberlausitzischer Urkunden gedruckt. Dieses erschien in acht Heften von 1799 bis 1805 und dann erst wieder nach dem Ende der Befreiungskriege in zwölf Heften 1824. Es erfasste die Urkunden von 965 bis 1803.83 Das Interesse am Urkundenverzeichnis war am Anfang jedoch enttäuschend gering, bis 1804 wurden nur sechzig der bis dahin erschienenen Hefte verkauft.84 Nach heutigen Maßstäben ist die Regestenedition zudem ungenügend, da sie den Urkundeninhalt stark verkürzt und nie den Standort der Originale angibt. Sie ist gleichwohl ein unverzichtbarer Wegweiser durch die Masse der damals bekannten etwa 7.000 Oberlausitzer Urkunden. Der nächste Meilenstein der Oberlausitzer Urkundeneditionen war der erste Band des Codex diplomaticus Lusatiae superioris. Die erste Auflage von 1851 wurde jedoch sofort wieder eingestampft, da sie als wissenschaftlich ungenügend empfunden wurde. 82 Neues Lausitzisches Magazin 1 (1822) 8–12. 83 �������������������������������������������������������������������������������������� Verzeichnis Oberlausitzischer Urkunden, Bd. 1–2. Görlitz 1799–1824. Zur Entstehungsgeschichte vgl. Köhler, Gustav (Hg.): Sammlung der Urkunden für die Geschichte des Markgrafentums Oberlausitz [965 bis 1346]. Görlitz 21856 (Codex diplomaticus Lusatiae superioris 1), 8–12. Zu gefälschten Urkunden im Verzeichnis und weiteren Mängeln vgl. Prochno, Joachim: Oberlausitzer Urkundenforschung. In: Neues Lausitzisches Magazin 118 (1942) 202–217, hier 208 Anm. 2; dieser Band wurde nicht vollständig gedruckt, vgl. Lemper: Chronik, Tl. 2, 60–65. Die Grundlage des gedruckten Verzeichnisses ist in vier nicht ganz identischen Abschriften überliefert: Ein Exemplar befindet sich heute in der Christian-Weise-Bibliothek Zittau (Sign. A 108-119), das sogenannte Zobelsche Exemplar der Oberlausitzer Urkundenabschriften (mit Provenienzangaben) in 15 Bänden wird im Ratsarchiv Görlitz verwahrt (Sign. Nr. 254–268), das ehemals der Gesellschaftsbibliothek (Sign. L I 2) gehörende Exemplar, das mit 18 Bänden vollständigste, befindet sich seit der Auslagerung im Zweiten Weltkrieg in der Universitätsbibliothek Breslau (Sign. Akc. 1948/212–229). Das Neumannsche Exemplar, das ebenfalls 18 Bände umfasst und zur Milichschen Bibliothek in Görlitz gehört (Sign. Mspt. 2° 382), befindet sich auslagerungsbedingt ebenfalls in Breslau (Sign. Mscr. 6468–6485). Zu weiteren Details der Abschriften vgl. Fröde, Tino: Die Sammlungen von Urkundenabschriften und Regesten in der Oberlausitz – Überblick und seit vielen Jahrhunderten komplexe Grundlage für die Geschichtsforschung zum Nebenland Oberlausitz der Krone Böhmens. In: Bobková, Lenka (Hg.): Korunní země v dějinách českého státu, Bd. 6: Terra – ducatus – marchionatus – regio. Die Bildung und Entwicklung der Regionen im Rahmen der Krone des Königreichs Böhmen. Praha 2013, 396–421. 84 Fröde/Menzel: Streifzug, 27.
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Erst mit der zweiten Auflage von 1856 hatte man das Ziel erreicht, eine wissenschaftliche Urkundenedition auf der Höhe der Zeit vorgelegt zu haben.85 Richard Jecht (1858– 1945), der seit 1888 Sekretär war und sich zu einem der produktivsten Mitglieder der Gesellschaft entwickelte, begann 1896 mit der Veröffentlichung des zweiten Bandes des Codex. Bis 1931 folgten die Bände 3 bis 5 und der erste Teil des sechsten Bandes, der seitdem seines Abschlusses harrt.86 Noch vor Erscheinen des ersten Codex-Bandes hatte sich die Gesellschaft an die Herausgabe annalistischer Texte gemacht, die ab 1838 in den Scriptores rerum Lusaticarum Neue Folge erschienen. Neben der genannten Textsorte enthielten die Scriptores auch Rechtstexte, Verwaltungsschriftgut im weitesten Sinn, Statuten oder den Nekrolog der Görlitzer Franziskaner. Allein die umfangreichen Görlitzer Ratsannalen (1480– 1496) und die Annalen (1509–1542) des Stadtschreibers Johannes Hass († 1544) beanspruchten drei Bände.87 4.5 Die Bibliothek und die Sammlungen Das bis heute sichtbarste Erbe und Vermächtnis der Gesellschaft sind ihre ehemaligen Gesellschaftshäuser Neißstraße 30, das „Barockhaus“ sowie das Gebäude Handwerk 2 85 Codex diplomaticus Lusatiae superioris 1. Zu nicht aufgenommenen Urkunden, Fälschungen, Fehldatierungen und anderen Schwächen des Bandes vgl. Prochno: Urkundenforschung, 209 Anm. 3. Korrekturen finden sich ferner in Paulus, Eberhard: Vom Lehenstaat zum Ständestaat in der Oberlausitz. In: Bautzener Geschichtshefte. Mitteilungen der Gesellschaft für Anthropologie, Urgeschichte und Geschichte für Bautzen und Umgebung 7 (1929) 171–187, hier 175 Anm. 3. 86 Jecht, Richard (Hg.): Urkunden des Oberlausitzer Hussitenkrieges und der gleichzeitigen die Sechslande angehenden Fehden (1419–1428). Görlitz 1896–1899 (Codex Diplomaticus Lusatiae Superioris 2/1); ders. (Hg.): Urkunden des Oberlausitzer Hussitenkrieges und der gleichzeitigen die Sechslande angehenden Fehden (1429–1437 und ein Anhang). Görlitz 1900–1903 (Codex Diplomaticus Lusatiae Superioris 2/2); ders. (Hg.): Die ältesten Görlitzer Ratsrechnungen [1375] bis 1419. Görlitz 1905–1910 (Codex Diplomaticus Lusatiae Superioris 3); ders. (Hg.): Oberlausitzer Urkunden von 1437–1457. Görlitz 1911–1927 (Codex Diplomaticus Lusatiae Superioris 4); Wentscher, Erich (Hg.): Die Görlitzer Bürgerrechtslisten von 1379–1600. Görlitz 1928 (Codex Diplomaticus Lusatiae Superioris 5); Jecht, Richard (Hg.): Oberlausitzer Urkunden unter Georg Podjebrad [1458–1469], 1. Heft: 1458–63. Görlitz 1931 (Codex Diplomaticus Lusatiae Superioris 6/1). 87 Die Neue Folge verstand sich als Nachfolger der Scriptores Rerum Lusaticarum Antiqui & recentiores, die von Christian Gottfried Hoffmann 1719 in Leipzig/Bautzen herausgegeben worden waren und vor allem Zittauer Quellen publizierten. Vgl. Haupt, Joachim Leopold (Hg.): Sammlung ober- und niederlausitzischer Geschichtsschreiber. Görlitz 1839–1941 (Scriptores Rerum Lusaticarum N.F. 1, 2); Neumann, Theodor (Hg.): Görlitzer Ratsannalen des Mag. Johannes Haß, Bd. 1–2 (1509–1520). Görlitz 1852 (Scriptores Rerum Lusaticarum N.F. 3); Struve, Ernst Emil (Hg.): Görlitzer Ratsannalen des Mag. Johannes Haß, Bd. 3 (1521–1542). Görlitz 1870 (Scriptores Rerum Lusaticarum N.F. 4); vgl. die textkritischen Anmerkungen zu diesen Editionen bei Speer, Christian: Frömmigkeit und Politik. Städtische Eliten in Görlitz zwischen 1300 und 1550. Berlin 2011 (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 8), 48f.
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Abb. 4: Historischer Bibliothekssaal der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften im „Barockhaus“ in Görlitz, Neißstraße 30, eingerichtet nach 1806. Bildnachweis: Foto: René Pech.
und die darin befindlichen Sammlungen. Dazu gehören im Wesentlichen die Bibliothek der Gesellschaft, die nach ihrer Auflösung 1945 in den Besitz der Stadt Görlitz überging und seit 1951 Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften88 heißt, sowie das Naturalien-, das Altertümer-, das physikalische und das graphische Kabinett (Abb. 4). Begründet wurde die Gesellschaftsbibliothek 1780. Einen regelmäßigen Zuwachs erhielt sie durch die verpflichtenden, aber auch durch freiwillige Bücher- bzw. Geldspenden der Mitglieder sowie durch Schriftentausch.89 Umfangreiche Neuzugänge kamen aus Nachlässen. Die größten waren diejenigen der Gründer Anton und von Gersdorf,
88 Die Gesellschaftsbibliothek (die nach Jecht: Wegweiser, 56, 1929 ca. 120.000 Bände umfasste) war mit der ehemaligen Gymnasial- bzw. Milichschen Bibliothek vereinigt worden. Der heutige Bestand umfasst etwa 140.000 Bände. Zur Geschichte der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften und der Herkunft ihrer Bestände, von dem ein beachtlicher Teil durch Auslagerungen im Zweiten Weltkrieg in die Universitätsbibliothek nach Breslau kam, vgl. Wenzel/Tschentscher: Bibliothek, sowie den Bestandsüberblick bei Klammt, Annerose: Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften bei den Städtischen Kunstsammlungen. In: Fabian, Bernhard/Kükenshöner, Günter (Hg.): Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Österreich und Europa, Bd. 17. Hildesheim u.a. 1996, 284–289. Zu den Auslagerungsverlusten vgl. auch Speer: Frömmigkeit, 37–40. 89 Nach Jecht: Wegweiser, 57 stand man 1929 mit 270 Vereinen im Schriftentausch.
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die sich auf jeweils rund 10.000 Bände beliefen.90 Den universalgelehrten Ansprüchen der Anfangsjahre entsprechend, kamen die Bücher aus den Bereichen Ökonomie, Naturwissenschaften, Medizin, Philosophie, Sprachwissenschaften, Geschichte etc. Neben gedruckten Werken sind vor allem aus Nachlässen stammende oder durch Käufe erworbene Reiseberichte, Korrespondenzen, handschriftliche Abhandlungen, Quellenabschriften und Exzerpte zu nennen.91 Nicht nur für die Geschichte der Gesellschaft interessant sind darüber hinaus die Abhandlungen, die von Mitgliedern eingereicht und im Gesellschaftsarchiv aufbewahrt wurden, das heute zu den Beständen der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften gehört. Das Gesellschaftsarchiv war seit der Gründung geführt worden, seine Betreuung lag in den Händen des Sekretärs. Zu den Sammlungsstücken des Archivs sind auch rund 500 Urkunden zu zählen, die aber seit Ende des Zweiten Weltkriegs als Totalverlust gelten müssen.92 Ebenso gingen mit der Auslagerung mittelalterliche Handschriften und Inkunabeln verloren, die heute zum Teil in polnischen Bibliotheken aufbewahrt werden. Zum Archiv gehört ebenso eine gut 3.350 Stück umfassende Siegelsammlung.93 Den ersten gedruckten Katalog der Bücher und Handschriften erstellte 1819 der Sekretär Johann Gotthelf Neumann (1775–1831).94 Die Gesellschaftsbibliothek, die nur wenige Stunden pro Woche geöffnet war, war keine öffentliche Bibliothek im modernen Sinn. Abgesehen von einer kurzen Episode zwischen 1780 und 1793, in der sie, dem Impetus der Aufklärung folgend, als öffentliche Lesebibliothek fungierte, stand sie eigentlich nur den Mitgliedern der Gesellschaft offen. Die Bibliotheksordnung von 1902 verlangte bei Entleihung durch Nichtmitglieder einen Bürgen aus den Reihen der Gesellschaft. Allerdings wurden Ausnahmen für „Studierende u.s.w.“ gemacht, sofern es sich nicht um „unersetzbare und besonders wertvolle Werke“ handelte.95 90 Jecht: Wegweiser, 56f.: Bibliothek von Anton, 1806 bzw. 1818 der Gesellschaft geschenkt, ca. 12.000 Bände, vorwiegend „geschichtliche, sprachliche und Reise-Werke“; Bibliothek von Gersdorf, 1807 der Gesellschaft zugefallen, 9.000 bis 10.000 Bände, vorwiegend naturwissenschaftliche und „Reise-Werke“. Jecht zufolge besaß man mit der Gersdorfschen Sammlung die vollständigste „Sammlung über die Geschichte des Blitzableiters bis zu Anfang des 19. Jahrhunderts“ (56). 91 Zu den Nachlässen vgl. ders.: Jakob Gottlieb Kloß in seiner Bedeutung für die Oberlausitzer Geschichtsschreibung. In: Neues Lausitzisches Magazin 75 (1899) 31–57; Zobel, Alfred: M. Johann Christian Jancke [1757–1834], ein Geschichtsforscher der Oberlausitz. In: Neues Lausitzisches Magazin 112 (1936) 156–192; Johann Gottfried Schultz (1734–1819). Görlitzer Stadtbeamter, Oberlausitzer Zeichner, Herrnhuter Bruder. Görlitz/Zittau 2005 (Schriftenreihe der Städtischen Sammlungen für Geschichte und Kultur Görlitz N.F. 39); Klammt: Oberlausitzische Bibliothek; Wenzel/Tschentscher: Bibliothek, 181f.; zu ausgelagerten Beständen und ihrem heutigen Verbleib vgl. Speer: Frömmigkeit, 37–40. 92 Zum ehemaligen Bestand vgl. die Mitteilungen in: Neues Lausitzisches Magazin 39 (1862) 511– 516; 49 (1872) 224f.; 50 (1873) 141–152. 93 Jecht: Wegweiser, 58. 94 Neumann: Bibliothek; Struve, Ernst Emil: Verzeichniss der Handschriften und geschichtlichen Urkunden der Milich’schen (Stadt- oder Gymnasial-) Bibliothek in Görlitz. In: Neues Lausitzisches Magazin 44 (1869) 1–154 (als Anhang). 95 Prinzipiell stand die Bibliothek zwar auch im 19. Jahrhundert interessierten Nichtmitgliedern
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Im „Barockhaus“ wurden zudem eine 2.300 Stück umfassende Münzsammlung, mehr als 4.000 Kupferstiche und Zeichnungen, historische Karten, eine Daktyliothek, eine Xylothek und eine Mineraliensammlung sowie das von internationalem Rang bedeutsame physikalische Kabinett und die Altertümersammlung (vor allem Königswartha) aufbewahrt.96 Letztere sind 1903 an das städtische Kaiser-Friedrich-Museum gegeben worden und wurden damit erstmals einem breiteren Publikum zugänglich.97 Wie die Bibliothek waren auch die Sammlungen der Gesellschaft nicht öffentlich. Im „Reglement für die Verwaltung der Bibliothek“ von 1848 hieß es in Bezug auf mögliche Besucher nur, dass der Bibliothekar „Durchreisenden [...] auf Verlangen die unter seiner Aufsicht stehenden Sammlungen“ zu zeigen habe.98 Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts öffnete sich die Gesellschaft im eigentlichen Wortsinn. So wurde die von Walther Jecht (1892–1916) 1909 begonnene Ordnung der Kupferstichsammlung 1913/14 durch Karl Schultze fortgesetzt und für „weitere Kreise“ einmal wöchentlich geöffnet.99 4.6 Das Gesellschaftsleben Zweimal im Jahr fand eine Hauptversammlung statt. Die erste sollte an einem Datum um den 21. April, dem „Stiftungstag“, herum stattfinden, die zweite im August.100 Die Mitglieder waren angehalten, mindestens eine der Veranstaltungen zu besuchen. Um Aufgaben der Selbstverwaltung zu erledigen, sollten darüber hinaus zweimonatige Treffen von acht dazu gewählten Mitgliedern stattfinden.101 Die schon angedeutete
offen, die ein- bis zweistündigen Öffnungszeiten pro Woche waren jedoch wenig benutzerfreundlich. Vgl. Wenzel/Tschentscher: Bibliothek, 185–188. 196 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Zu den Angaben, die sich auf das Jahr 1929 beziehen, vgl. Jecht: Wegweiser, 58f.; zu den Kriegsverlusten vgl. Wenzel/Tschentscher: Bibliothek, 188f.; Richthofen, Jasper von: Kriegsverlust und Beutekunst. Der schwierige Umgang mit kriegsverlagerten Kulturgütern am Beispiel des Kulturhistorischen Museums Görlitz. In: Görlitzer Magazin. Geschichte und Gegenwart der Stadt Görlitz und ihrer Umgebung 23 (2010) 71–82. Zu den einzelnen Sammlungen bzw. Kabinetten vgl. Kunst und Wissenschaft um 1800; Wenzel: Die Grafiksammlung; ders.: Künstlerwissen. Die Bücher- und Grafiksammlung des Daniel Petzold. In: Görlitzer Magazin 27 (2014) 40–51; Herrmann, Constanze: Das Physikalische Kabinett in Görlitz. Die Sammlung des Adolf Traugott von Gersdorf. Görlitz 2007 (Schriftenreihe der Städtischen Sammlungen für Geschichte und Kultur Görlitz N.F. 39); Wenzel, Matthias: Die Kartensammlung der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften. Ein Bestandsverzeichnis. Görlitz 1997 (Schriftenreihe der Städtischen Kunstsammlungen Görlitz N.F. 25). 197 Jecht: Wegweiser, 59. 198 Geschäfts-Instruction, 8, § 10. 199 Jecht: Wegweiser, 31. 1903 hatte Ludwig Feierabend (1855–1927) noch vergebens versucht, die Grafik- und Münzsammlung als Leihgaben für das Kaiser-Friedrich-Museum zu gewinnen. Vgl. Wenzel, Kai: Das Graphische Kabinett. In: Kunst und Wissenschaft um 1800, 70f. 100 Seit den Statuten von 1864 (§ 24) fand die zweite Hauptversammlung im Herbst statt. 101 Statuten 1792, 7f., § 9.
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Aktivitätssteigerung der Gesellschaft spiegelte sich Mitte des 19. Jahrhunderts auch in den Statuten wider, die eine vielleicht schon praktizierte Gewohnheit in die Satzung aufnahmen: Im § 21 der Satzung von 1844/46 heißt es, dass „zur Belebung des wissenschaftlichen Verkehrs“ allmonatliche Zusammenkünfte abgehalten werden sollten. Im folgenden Paragraphen wird – eine alte Tradition festschreibend – eine „jährlich mit historischen und schönwissenschaftlichen Gegenständen abwechselnd[e]“ Preisfrage beschlossen. Dafür sollten eigens die aus einer Stiftung bereitgestellten 50 Taler als Belohnung ausgeschüttet werden. 1864 erfolgte eine Ergänzung und Neustrukturierung der Statuten. Erstmals gab es einen „Titel VI. Vom wissenschaftlichen Betrieb“ mit den §§ 26–30. Neben der „Belebung des wissenschaftlichen Verkehrs“ durch die Abhaltung wöchentlicher, im Sommer monatlicher, Zusammenkünfte, wird in § 26 explizit davon gesprochen, dass „von jedem Mitgliede die Bereitwilligkeit vorausgesetzt [werde], durch mündliche oder schriftliche Mittheilungen aus dem Gebiete der Wissenschaft zur Förderung des GesellschaftsZwecks beizutragen“. Mitgliedern, die sich nach Beratung der „Redaktions-Deputation“ durch entsprechende Arbeiten „empfohlen“ hatten, wurde der Jahresbeitrag (wie schon in den Statuten zuvor) erlassen. Des Weiteren formulierte man, dass von der Gesellschaft „nach Maßgabe der vorhandenen Stiftungen [...] wissenschaftliche Preisaufgaben“ gestellt würden (§ 28).102 Dass sich in Görlitz seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tatsächlich ein aktives Gesellschaftsleben etablierte und entfaltete, belegt die Tatsache, dass die seit 1858103 zwanglosen, aber wohl gut besuchten wöchentlichen Treffen von Mitgliedern im Jahr 1864 als fester Bestandteil in die Statuten aufgenommen wurden (§ 26). Neben den gesellschaftsinternen Veranstaltungen und den Publikationen beruhte die Außenwahrnehmung der Gesellschaft auf publikumsoffenen Maßnahmen, die sich neben Vorträgen und Ausstellungen104 vor allem der historischen Erinnerungskultur widmeten. Dazu wurden sogenannte „Jubel-“ oder „vaterländische Gedächtnisfeiern“ organisiert und Initiativen zur Errichtung von Denkmälern begonnen oder unterstützt, wie jene für Tschirnhaus, Lessing, Schachmann, Pescheck, Fichte, Demiani, Böhme, Trotzendorf oder Humboldt.105 Besondere Aufmerksamkeit wurde der Traditionspflege 102 Seit 1803 gab es die „Petrische Stiftung“ von 1.600 Randdukaten für jährliche Preisaufgaben. Vgl. Neumann: Geschichte, 209f. Zur Hundertjahrfeier 1879 stiftete der Kommerzienrat Albert Alexander-Katz (1828–1880) der Gesellschaft 1.500 Mark für ein Studienstipendium, sein Sohn, der Kaufmann Arthur Alexander-Katz (1860–1914), schenkte 1899 weitere 250 Mark sowie 1904 2.000 Reichsmark. Vgl. Fröde/Menzel: Streifzug, 33, 37. Der Sekretär hatte die Aufgabe, die Preisfragen in den „verbreitetsten öffentlichen Blättern und wissenschaftlichen Zeitschriften Deutschlands“ (Geschäfts-Instruction, 93, § 3) bekannt zu machen. 103 Jecht: Wegweiser, 17. 104 1906 wurde in den Räumen des Gesellschaftshauses eine Ausstellung zu Christoph Nathe (1753–1806) eröffnet, 1914 beteiligte man sich an der Ausstellung für Heimatkunde in Lauban. Vgl. ebd., 29, 31. 105 ���������������������������������������������������������������������������������������� Ebd.; Fröde/Menzel: Streifzug, 46 Anm. 31; 1793 plante man, auf dem Heringsmarkt in Görlitz Tschirnhaus, Lessing und Schachmann ein Denkmal zu setzen; 1861 Spenden für das Christian-Adolph-Pescheck-Denkmal auf dem Oybin. Christian Adolph Pescheck (1787–1859)
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der eigenen Gesellschaft zuteil. Seit den Statuten von 1844/46 war festgeschrieben, dass während der Frühjahrsversammlung „mindestens ein Vortag zum Gedächtnis der Stifter oder anderer verdienstvoller Mitglieder gehalten werden“ sollte (§ 18).106 Den Stiftern Karl Gottlob Anton und Adolf Traugott von Gersdorf gewidmet, war eine 1803 von Adolf Loos (1735–1819) entworfene goldene Dank- und Erinnerungsmedaille.107 Seit 1901 übernahm die Gesellschaft die Pflege des Grabes von Gersdorf in Meffersdorf, 1918 veranlasste sie die Aufstellung eines neuen Grabsteins für Anton auf dem Nikolaifriedhof in Görlitz. Aber auch anderen Mitgliedern wurden derartige Ehren zu Teil. So erhielt die Gesellschaft 1892 3.000 Mark mit der Auflage, das Grab des Dichters Friedrich von Uechtritz (1800–1875) auf dem Nikolaifriedhof zu pflegen, dessen umfangreichen Nachlass sie zuvor erhalten hatte.108 Den Austausch mit anderen Vereinen pflegte man nicht nur mittels Schriftentausch, sondern auch durch gegenseitige Besuche. So machten 1889, ein Jahr nach dem Beitritt der Gesellschaft zum „Gesamtverband der deutschen Geschichtsvereine“, Mitglieder des „Sächsischen Altertumsvereins“, des „Schlesischen Altertumsvereins“ sowie des „Geschichtsvereins der Deutschen in Prag“ der Gesellschaft ihre Aufwartung; gleichzeitig wurde die in Görlitz tagende „40. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner“ im Gesellschaftshaus auf der Neißstraße begrüßt. Der Erste Weltkrieg, mit dem der Untersuchungszeitraum für diesen Beitrag endet, stellte die „Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften“ vor erhebliche Herausforderungen. Das Gesellschaftsleben kam teilweise zum Erliegen, die Publikationen erschienen nur in reduziertem Umfang, und man musste materielle sowie monetäre Beiträge für den Krieg leisten. Die folgende Inflation vernichtete schließlich den Großteil der Stiftungskapitalien. Erst ab Mitte 1920er Jahre besserten sich die Verhältnisse wieder. war Historiker und Theologe, der vor allem zu regionalkundlichen Themen forschte. Er gehörte zu den wichtigsten Heimatforschern der südöstlichen Oberlausitz; 1862 wurde Fichte zu Ehren eine Fichte gepflanzt; 1862 steuerte man 100 Taler zum Demianidenkmal in Görlitz bei. Gottlob Ludwig Demiani (1786–1846), erster Oberbürgermeister von Görlitz; 1863 brachte die Gesellschaft für das am 1. Juni in Kamenz eingeweihte Lessing-Denkmal ein Drittel an eigenen Mitteln auf; 1869 wurde ein Gedenkstein für das Grab Jakob Böhmes auf dem Görlitzer Nikolaifriedhof gestiftet; 1869 wurde zusammen mit der „Naturforschenden Gesellschaft“ eine Gedächtnisfeier für Alexander von Humboldt abgehalten, zugleich spendete die Gesellschaft für das Humboldt-Denkmal in Berlin 50 Taler; 1884 wurde das Denkmal für Leopold Schefer in Muskau auf Kosten der Gesellschaft errichtet; 1886 spendete man einen „namhafte[n] Beitrag“ für das Friedrich-Schneider-Denkmal in Waltersdorf; 1887 wurden Beiträge für das Valentin-Trotzendorf-Denkmal in Troitschendorf und das Jakob-Böhme Denkmal in Altseidenberg gesammelt. 106 ����������������������������������������������������������������������������������������� In den Statuten von 1934 ist davon keine Rede mehr, dort wird nur noch von einem „wissenschaftlichen Vortrag“ gesprochen; auch musste nur noch „mindestens eine Hauptversammlung“ im Jahr stattfinden. Vgl. Statuten 1934, 249f., § 24. 107 Vgl. die Abbildung in Fröde/Menzel: Streifzug, 31. 108 Vgl. zu Uechtritz Zeil, Sophia: „Unter uns gesagt.“ Die Briefe Dorothea Tiecks an den Görlitzer Schriftsteller Friedrich von Uechtritz als erstmals vollständige Edition. In: Görlitzer Magazin. Geschichte und Gegenwart der Stadt Görlitz und ihrer Umgebung 27 (2014) 70–79.
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5. Zusammenfassung Von ihren Anfängen im Jahr 1779 bis in das zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hatte sich die „Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften“ von einer Sozietät mit universalgelehrten Ansprüchen, deren Mitglieder die Wissenschaften für das Leben fruchtbar machen wollten, hin zu einem professionell agierenden Verein der Geschichtspflege und Geschichtsforschung entwickelt. Ebenso wie die Publikationen wurde auch die Sammlungstätigkeit weg von den naturwissenschaftlichen Gebieten hin zur Geschichte und Landeskunde zentriert. Mit der inhaltlichen Fokussierung ging eine Institutionalisierung der Gesellschaft einher. Die Schenkungen der Häuser Neißstraße 30 und Handwerk 2 bildeten den Grundstein, der der Gesellschaft Platz für Ihre Sammlungen, die Bibliothek und das Gesellschaftsleben bot und zudem Mieteinnahmen generierte. Die Anpassung der Statuten sicherte dieses Fundament für die Zukunft. Des Weiteren wurde die Selbstorganisation verbessert, indem man die für den wissenschaftlichen Betrieb wichtigen Ämter von Bibliothekar und Sekretär besoldete und dem Sekretär als wissenschaftlichem Geschäftsführer eine unentgeltliche Dienstwohnung im Gesellschaftshaus zur Verfügung stellte. Die Aufgaben und Pflichten aller Amtsträger und Mitglieder wurden in den Statuten in groben Zügen und in den Regulativen und Instruktionen im Detail festgeschrieben. Die dort über die Jahre vorgenommenen Veränderungen wurden ausführlich erörtert. Es soll hier jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass die Statuten und die dazugehörigen verbindlichen Erläuterungen der wesentliche Erfolgsfaktor der Gesellschaft gewesen seien – denn ohne eine solide Grundausstattung und engagierte Persönlichkeiten nützen die besten Statuten nichts. Sie gaben jedoch den Handelnden den Rahmen der Möglichkeiten und Freiräume vor, die über lange Jahrzehnte hinweg auf vielfältige Weise genutzt wurden.
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Der Riesengebirgsverein und seine Zeitschrift Der Wanderer im Riesengebirge (1880/81–1914): Tourismusentwicklung, Landschaftswahrnehmung, Geschichtspflege I. „Daß bei der Gründung eines größeren Vereins die Herausgabe einer Zeitschrift ins Auge gefaßt wird, ist an und für sich erklärlich. Man bedarf einer solchen wegen des Zusammenhalts der einzelnen Gruppen und zur Mitteilung gemeinsamer Fragen und Beschlüsse. Doch der R[iesen]-G[ebirgs]-V[erein] bezweckte mit seiner Zeitschrift ,Der Wanderer im Riesengebirge‘ Größeres. [...] Der ,Wanderer‘ bietet hier und da geradezu wissenschaftlich hochstehende Arbeiten – auf dem Gebiet der Geschichte, Geographie, Botanik, Geologie, Landeskunde – er bietet gut und ,deutsch‘ geschriebene Verarbeitungen des dürren wissenschaftlichen Stoffes. [...] Seine Mitarbeiter führen nicht die schlechtesten, unbekanntesten Namen in Schlesien und darüber hinaus. Nicht blos an der Universität unserer Provinz, nicht blos an allen den Orten, wo höhere Schulen Schriftsteller uns zuführen, denen geistiges Arbeiten Bedürfnis ist, auch in anderen Orten fanden wir stille Sammler und Beobachter, Männer aus allen Schichten, die in ihrer großen, wenn auch oft ungezügelten Kraft zu Wertvollem Anstoß und Anregung gaben. Es ist ein Beweis für die Notwendigkeit dieser Zeitschrift, daß in den 25 Jahren noch niemals ein Mangel an brauchbarem Stoffe sich fühlbar gemacht, [...] es ist ein Zeichen der Anerkennung, daß mit ihm in Schriftaustausch zu treten auch von den entferntesten und geachtetsten Vereinen begehrt wird, und daß kein Tag vergeht, an dem nicht die Post ihm Einsendungen und Anfragen in Fülle zuträgt.“1 Mit diesen Worten – und einer gehörigen Portion Stolz – bilanzierte der Hirschberger Gymnasialprofessor Emil Rosenberg2 anlässlich des fünfundzwanzigjährigen Bestehens des Riesengebirgsvereins 1905 die Bedeutung der zugehörigen Vereinszeitschrift Der Wanderer im Riesengebirge,3 als deren leitender Redakteur er selbst
1 Rosenberg, [Emil]: Die Zeitschrift „Der Wanderer im Riesengebirge“. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 272 vom 1. Juni 1905, 112–115, hier 112 (Hervorhebungen im Text). 2 �������������������������������������������������������������������������������������������� Zu Emil Rosenberg (1849–1929), der auch mit mehreren althistorischen Veröffentlichungen, unter anderem einer Edition der Reden des griechischen Staatsmanns Demosthenes, hervortrat, vgl. den knappen Nachruf von Nafe, O[tto]: Professor Dr. E. Rosenberg. In: Der Wanderer im Riesengebirge, 49. Jg., Nr. 4 vom 1. April 1929, 60. 3 Sämtliche Jahrgänge des Wanderer[s] im Riesengebirge (1881–1943) sind mittlerweile digitalisiert. Ein von Horst Herr bearbeitetes Gesamtinhaltsverzeichnis, das die im Wanderer veröffentlichten Artikel den einzelnen Nummern der Zeitschrift zuordnet (freilich ohne Angabe der jeweiligen
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seit 1897 fungierte. Tatsächlich verrät bereits ein flüchtiger Blick in die Spalten des Blatts, dass es sich hierbei keinesfalls um ein bloßes Mitteilungsorgan handelt, sondern vielmehr um eine kulturgeschichtlich relevante Quelle ersten Ranges. Wenn Rosenberg explizit auf die im Wanderer veröffentlichten „wissenschaftlich hochsehende[n] Arbeiten“ verwies, so unterstrich er damit den Anspruch der Zeitschrift, ein zum Großteil von Fachleuten verantwortetes Forum für die Natur, Kultur und Geschichte der Riesengebirgsregion im weitesten Sinne zu sein (Abb. 1). Zugleich erreichte die Zeitung eines populären und mitgliederstarken Wandervereins ein Massenpublikum, das über den üblichen Adressatenkreis der primär im urbanen Bildungsbürgertum verankerten Institutionen der Geschichtspflege im 19. und frühen 20. Jahrhundert – der historischen Vereine ebenso wie der Museen, Bibliotheken und Archive – weit hinausreichte. Anders als in den herkömmlichen regionalen Geschichtsvereinen, deren Mitgliederzahl in der Regel überschaubar blieb und die über ihre Publikationstätigkeit hinaus vor allem mit denkmalpflegerischen Initiativen oder archäologischen Grabungskampagnen in die Öffentlichkeit hineinwirkten,4 wurde die heimische Landschaft mitsamt ihren historisch-kulturellen Traditionen gerade in den Wandervereinen für praktisch jedermann erfahrbar, unabhängig vom jeweiligen Bildungshintergrund. Am Beispiel des Riesengebirges, das innerhalb Preußens im 19. Jahrhundert zum Inbegriff der romantischen Landschaft schlechthin stilisiert wurde,5 lässt sich exemplarisch nachvollziehen, wie der nach der Jahrhundertmitte sukzessive einsetzende Massentourismus6 sich in regionale Erinnerungskulturen einbettete und seinerseits identitätsstif Seitenzahlen), findet sich unter http://www.difmoe.eu/pdf-files/Gesamtinhaltsverzeichnis.pdf [15. August 2016]. 4 Vgl. in diesem Band den Beitrag von Roland Gehrke Zwischen „vaterländischer“ Geschichtsbegeisterung und wissenschaftlicher Professionalisierung: Das historische Vereinswesen im deutschsprachigen Raum vor 1914. 5 Hartwich, Mateusz J.: Das schlesische Riesengebirge. Die Polonisierung einer Landschaft nach 1945. Köln/Weimar/Wien 2012 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 23), 23f. 6 Speziell zum Riesengebirgstourismus liegt eine bereits am Vorabend der Zweiten Weltkriegs veröffentlichte Pionierstudie vor. Vgl. Poser, Hans: Geographische Studien zum Fremdenverkehr im Riesengebirge. Ein Beitrag zur geographischen Betrachtung des Fremdenverkehrs. Göttingen 1939. Da die Forschungsliteratur auf dem Feld der historischen Tourismusforschung mittlerweile ungemein vielfältig ist, sei an dieser Stelle lediglich verwiesen auf die Überblicksdarstellungen von Berkthold-Fackler, Franz/Krumbholz, Hans: Reisen in Deutschland. Eine kleine Tourismusgeschichte. München 1997; Spode, Hasso: Wie die Deutschen ,Reiseweltmeister‘ wurden. Eine Einführung in die Tourismusgeschichte. Erfurt 2003; Knoll, Gabriele M.: Kulturgeschichte des Reisens. Von der Pilgerfahrt zum Badeurlaub. Darmstadt 2006; Hachtmann, Rüdiger: Tourismusgeschichte. Göttingen 2007; ferner auf die Forschungsberichte von Spode, Hasso: Tourismusgeschichte als Forschungsgegenstand. Bilanz und Ausblick. In: Leonardi, Andrea/Heiss, Hans (Hg.): Tourismus und Entwicklung im Alpenraum. 18.–20. Jh. Beiträge des ständigen Seminars zur Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte in den Alpen in Neuzeit und Gegenwart. Innsbruck 2003 (Tourism & Museum 1), 83–100; ders.: Zur Geschichte der Tourismusgeschichte. In: Kolbe, Wiebke/Noack, Christian (Hg.): Tourismusgeschichte(n). München 2009 (Voyage 8), 9–22.
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Abb. 1: Jubiläumsnummer der Zeitschrift Der Wanderer im Riesengebirge (1. Juni 1905) anlässlich des fünfundzwanzigjährigen Bestehens des Riesengebirgsvereins. Bildnachweis: Projektbereich Schlesische Geschichte an der Universität Stuttgart.
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tende Narrative beeinflusste, die vor allem im Kontext des um die Jahrhundertwende erstarkenden Heimatschutzgedankens an Bedeutung gewannen.7 Dass gerade historische Motive in solchen Identitätsdiskursen eine zentrale Rolle spielen, ist offenkundig. Die gleichsam zweite mentale Aneignung des Riesengebirges durch Polen nach 1945 lässt sich anhand der überwiegend polnischsprachigen neueren Literatur im Bereich der historisch-geographischen Regionalbeschreibung nachvollziehen.8 Im Zuge der aktuellen Hinwendung der Forschung zu Fragen der regionalen Tourismusgeschichte sind in jüngerer Zeit zudem mehrere polnische Spezialstudien erschienen, die sich zum Großteil mit der Geschichte des Riesengebirgsvereins bzw. weiterer im Sudetenraum (auf deutscher wie auf österreichischer Seite) angesiedelter Gebirgs- und Wandervereine beschäftigen.9 Die kulturhistorische Bedeutung des Vereinsorgans Der 7 Mit entsprechenden Fragestellungen zu anderen deutschen bzw. europäischen Regionen operieren etwa Baranowski, Shelley/Furlough, Ellen (Hg.): Tourism, Consumer Culture, and Identity in modern Europe and North America. Ann Arbor 2001; Grenier, Katherine Haldane: Tourism and Identity in Scotland, 1770–1914. Creating Caledonia. Aldershot 2005 (Studies in European Cultural Transition 30); Hagen, Joshua: Preservation, Tourism, and Nationalism. The Jewel of the German Past. Aldershot/Burlington 2006 (Heritage, Culture, and Identity 5); Murdock, Caitlin: Constructing a Modern German Landscape. Tourism, Nature, and Industry in Saxony. In: Blackbourn, David/Retallack, James (Hg.): Localism, Landscape, and the Ambiguities of Place. German-Speaking Central Europe, 1860–1930. Toronto u. a. 2007, 195–210. 8 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Hartwich: Das schlesische Riesengebirge, 6f. Bereits vor der politischen Wende von 1989/90 erschienen ist Jahn, Alfred (Hg.): Karkonosze polskie. Wrocław u. a. 1985. Neueren Datums sind Staffa, Marek: Karkonosze. Wrocław 22006 [11996] (in deutscher Fassung: ders.: Riesengebirge. Wrocław 1997); Mierzejewski, Michał P.: Karkonosze. Przyroda nieożywiona i człowiek. Wrocław 2005. Von tschechischer Seite vgl. Šmatlák, Jozef/Zykánová, Jitka (Hg.): Krkonoše – příroda, život, historie. Praha 2007. Einen zweisprachigen historischen Überblick bietet Herzig, Arno: Das Riesengebirge. Kultur und Geschichte bis 1945 – Karkonosze, kultura i historia do 1945 roku. In: Bździach, Klaus (Hg.): Wspaniały krajobraz. Artyści i kolonie artystyczne w Karkonoszach w XX wieku – Die imposante Landschaft. Künstler und Künstlerkolonien im Riesengebirge im 20. Jahrhundert. Berlin/Jelenia Góra 1999, 19–28. 9 Einen ersten Anlauf hierzu unternahm Michniewicz, Zbisław: Szkic dziejów turystyki śląskiej w Karkonoszach. In: Rocznik Wrocławski 3/4 (1959/60) 372–392. Aus der seit der Wendezeit erschienenen Literatur vgl. Szczepański, Edmund: Towarzystwo Karkonoskie (1880–1945). In: Śląski Labirynt Krajoznawczy 1 (1989) 75–86; Iwanek, Marian: 65 lat działalności Towarzystwa Karkonoskiego. In: Gospodarka w Sudetach 2/6 (1996) 8–9; ders.: Towarzystwo Karkonoskie i jego związki z Wrocławiem. In: Dolnośląskie Ścieżki 11/1 (2001) 79–82; ders.: Riesengebirgsverein (Towarzystwo Karkonoskie) i jego rola w rozwoju turystyki i kształtowaniu kultury wśród mieszkańców Sudetów zachodnich. In: Zielonogórskie Studia Łużyckie 4 (2005) 103–115; Przerwa, Tomasz: Odkryli dla nas piękno gór. Trzy sudeckie organizacje górskie 1881–1945: Verband der Gebirgsvereine an der Eule, Waldenburger Gebirgsverband, Zobtengebirgsverein. Toruń 2003; ders.: Wędrówka po Sudetach. Szkice z historii turystyki śląskiej przed 1945 r. Wrocław 2005; Potocki, Jacek: Rozwój zagospodarowania turystycznego Sudetów od połowy XIX wieku do II wojny światowej. Jelenia Góra 2004; Dębicki, Jacek: Kulturowe aspekty sudeckich uzdrowisk obecnego regionu dolnośląskiego w XVII–XVIII wieku. Toruń 2005; Dziedziec, Marcin: Niemieckie Towarzystwo Gór Orlickich. In: Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka 60 (2005) 23–34; ders.: Morawsko-Śląskie Sudeckie Towarzystwo Górskie 1881–1945. Próba charakterystyki. Wrocław
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Wanderer im Riesengebirge als eines facettenreichen Kaleidoskops populär aufbereiteter wissenschaftlicher Themen wird dabei zwar immer wieder hervorgehoben,10 eine an den Inhalten orientierte systematische Untersuchung der Zeitschrift fehlt indes bis heute. Der vorliegende Beitrag versteht sich – ohne dabei bereits in die Tiefe gehen zu können – als ein erster Anstoß hierzu. Anschließend an einen kursorischen Überblick zur Gründung und Entwicklung des Riesengebirgsvereins allgemein bzw. zu den organisatorischen Rahmenbedingungen, unter denen der Wanderer seit 1881 erschien, soll die Palette der dort behandelten historischen Themen quantitativ aufbereitet und inhaltlich – nach Region, Epoche und historiographischer Teildisziplin – strukturiert werden. Die einzelnen in den Anmerkungen zitierten Wanderer-Beiträge dienen dabei jeweils als Beispiele, deren Auswahl freilich ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit erfolgt. Die mögliche Funktionalisierung einzelner Themen im Kontext überregionaler nationalpolitischer Diskurse um die Jahrhundertwende ist in diesem Rahmen natürlich im Blick zu behalten. Damit verbunden ist die Frage, wie eng der Wanderer an die institutionell gestützte Geschichtspflege oder gar die universitäre Geschichtswissenschaft in Schlesien vor 1914 angebunden war und welche Querverbindungen sich in dieser Hinsicht ausmachen lassen.
II. In seiner Funktion als der „wichtigsten Vorortorganisation“ im Dienste eines „Interessenausgleich[s] zwischen Erschließung und Naturschutz, zwischen nationalem Anspruch und regionalen Anforderungen, schließlich zwischen Massentourismus und Bewahrung“11 war der Riesengebirgsverein keineswegs Vorreiter unter den europäischen Gebirgsvereinen. Nachdem sich bereits 1857 in London der „Alpine Club“ konstituiert hatte und unter der Bezeichnung „Alpenverein“ seit 1862 in Österreich bzw. seit 1869 im Bereich des wenig später gegründeten Deutschen Kaiserreichs aktiv geworden war, entstanden ab den 1870er Jahren entsprechende Organisationen auch für die deutschen Mittelgebirge – etwa den Taunus, die Vogesen oder die Sächsische Schweiz – und 1873 mit dem „Galizischen Tatraverein“ („Galicyjskie Towarzystwo Tatrzańskie“) zudem ein erster Zusammenschluss für den Karpatenraum. Was das schlesische Riesengebirge selbst angeht, kam der im Frühjahr 1880 in Hohenelbe als Ableger des Prager Gebirgs
2006; ders.: Austriackie (niemieckie) Towarzystwo Karkonoskie 1880–1945. Wałbrzych 2009; ders.: Niemieckie Towarzystwo Górskie Ještědu i Gór Izerskich 1884–1945. Wrocław 2009; ders.: Kłodzkie Towarzystwo Górskie 1881–1945. Wrocław 2013. 10 Einen knappen Überblick über das Spektrum des touristischen Zeitschriftenwesens in Schlesien vor 1945 (unter besonderer Berücksichtigung des Wanderers) bietet Przerwa, Tomasz: Śląskie czasopisma turystyczne do 1945 roku. In: Nowosielska-Sobel, Joanna/Włodarczyk, Edward (Hg.): Prasa jako źrodło do dziejów Śląska i Pomorza w XIX i XX wieku. Szczecin 2005 (Uniwersytet Szczeciński: Materiały, konferencje 71), 61–71. 11 Hartwich: Das schlesische Riesengebirge, 34.
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vereins gegründete „Österreichische Riesengebirgsverein“ seinem Pendant auf deutscher Seite sogar um wenige Monate zuvor.12 Weitere regional spezifizierte Vereinsgründungen in Schlesien folgten im Lauf der 1880er Jahre, etwa der „Glatzer Gebirgsverein“ oder der „Zobtengebirgsverein“ – wobei auch regionale Dachverbände mehrerer Einzelvereine entstanden wie beispielsweise der „Verband der Vereine des Eulen- und Waldenburger Gebirges“.13 Die erwähnte Vereinsgründung auf österreichischer Seite gab den letzten Anstoß zur Gründung des „Deutschen Riesengebirgsvereins“ mit Sitz im niederschlesischen Hirschberg, als deren eigentlicher Initiator der Erdmannsdorfer Buchhalter Theodor Donat hervortrat.14 Nachdem Donat im Juni 1880 einen in 500 Exemplaren gedruckten Entwurf der Struktur und der Ziele des künftigen Vereins gezielt unter den Hirschberger Honoratioren verbreitet und anschließend ein Gründungskomitee mit insgesamt 48 Mitgliedern ins Leben gerufen hatte, wurde das Statut des Riesengebirgsvereins am 28. Juli 1880 förmlich verabschiedet und dieser selbst am 1. August ins preußische Vereinsregister eingetragen.15 An die Spitze des insgesamt neunköpfigen Vorstands16 trat zunächst der Hirschberger Bürgermeister Carl Bassenge persönlich (bis 1888) – ein sichtbares Zeichen der hohen Bedeutung, die man dem neuen Verein in Stadt und Region beimaß.17 Auf Bassenge folgten als Vereinsvorsitzende der Botaniker und Apothe12 Ebd., 35; Szczepański: Towarzystwo Karkonoskie, 75f. 13 Przerwa: Odkryli dla nas piękno gór, 34–63. 14 Knappe biographische Angaben zu Theodor Donat (1844–1890) bietet Szczepański: Towarzystwo Karkonoskie, 78f.; vgl. den Nachruf von Baer, [Oswald]: Theodor Donat. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 99 vom 1. Januar 1891, 5–8. Die näheren Umstände der Vereinsgründung beleuchtet Hoehne, P.: Rückblick auf die Entstehung des Riesengebirgs-Vereins sowie auf seine 25jährige Tätigkeit 1880–1905. Ebd., Nr. 272 vom 1. Juni 1905, 83–109, hier 83–87. Demnach war Donat die Idee zur Vereinsgründung am 20. Mai 1880 während einer Zugfahrt entlang des Riesengebirges gekommen, konkret infolge eines angeregten Gesprächs, das er im Zugabteil mit drei Mitreisenden über die wilde Schönheit der vorbeiziehenden Landschaft geführt hatte. Den folgenden Aufenthalt in Hirschberg nutzte Donat dazu, örtliche Honoratioren als Mitstreiter für sein Vorhaben zu gewinnen. Unter anderem legte er in einem an den Landrat des Kreises Hirschberg, Heinrich IX. Reuss zu Köstritz j. L., gerichteten Schreiben vom 1. Juni „die Hauptursachen des schwachen Besuches unseres Gebirges“ dar und bewarb den zu gründenden Riesengebirgsverein als ein probates Mittel zur Abhilfe (Zitat ebd., 83). 15 Hoehne: Rückblick, 84; vgl. Szczepański: Towarzystwo Karkonoskie, 76f. 16 Eine Übersicht über die einzelnen Vorstandsmitglieder während des ersten Vierteljahrhunderts der Existenz des Riesengebirgsvereins bietet Hoehne: Rückblick, 92. 17 Zu Carl Bassenge (1822–1890), der vor seiner Wahl zum Bürgermeister von Hirschberg (1874) im Preußischen Abgeordnetenhaus bereits die liberale Deutsche Fortschrittspartei vertreten (1862–1868) und sich in dieser Funktion als Gegenspieler des Ministerpräsidenten Otto von Bismarck profiliert hatte, vgl. Haunfelder, Bernd: Biographisches Handbuch für das preußische Abgeordnetenhaus 1849–1867. Düsseldorf 1994 (Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 5), 53. Vgl. auch Szczepański: Towarzystwo Karkonoskie, 78, der den ersten Vorsitzenden des Riesengebirgsvereins dort allerdings fälschlich als „Georg Bassenge“ anspricht.
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ker Emil Fiek (von 1888 bis zu dessen Tod 1897)18 sowie der Landgerichtsrat Hugo Seydel (von 1897 bis 1922),19 dessen Amtszeit – zumindest bis Kriegsausbruch – als die eigentliche Blütezeit des Riesengebirgsvereins charakterisiert werden kann. Dem gesamtregionalen Anspruch des Riesengebirgsvereins entsprechend, wurde der Hauptteil der alltäglichen Vereinsarbeit in den in rascher Folge gegründeten lokalen Sektionen geleistet. 1881, ein Jahr nach seiner Gründung, zählte der Verein bereits knapp 2.200 Mitglieder in 25 Sektionen. Bis zum Jahr 1900 hatten sich diese Werte vervielfacht: In 95 Sektionen waren jetzt annähernd 11.000 Mitglieder organisiert, womit der Riesengebirgsverein endgültig den Sprung zur regionalen Massenorganisation geschafft hatte (Abb. 2). Seinen quantitativen Höhepunkt erreichte er 1922 mit etwa 17.000 Mitgliedern, anschließend ging die Zahl bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs allmählich wieder zurück.20 Es illustriert die Mobilität der Mitglieder ebenso wie deren fortwährende Verbundenheit mit der alten Heimat, dass sich einzelne Vereinssektionen auch außerhalb Schlesiens konstituierten – etwa in Königsberg, Frankfurt am Main, Hamburg und Straßburg – oder sogar in Übersee, wie das Beispiel der 1893 gegründeten New Yorker Ortsgruppe zeigt.21 Während in den Vorständen vor allem die klassische städtische Honoratiorenkaste aus Beamtenschaft (darunter typischerweise ein hoher Anteil an Gymnasiallehrern), Geistlichkeit, Handel und Industrie vertreten war,22 wie sie auch die zeitgenössischen Geschichtsvereine dominierte, fiel die soziale Zusammensetzung des gesamten Mitgliederspektrums naturgemäß vielfältiger aus. Doch lässt sich auch hier eine generelle Dominanz von (mehrheitlich männlichen) Angehörigen der Mittelschicht im weitesten Sinne ausmachen, die im Einklang steht mit der gängigen Charakterisierung des deutschen Vereinswesens im langen 19. Jahrhundert als genuin bürgerliches Phänomen. Nicht verwunderlich ist schließlich, dass in den einzelnen Ortsgruppen Vertreter 18 Zu Emil Fiek (1840–1897), dessen umfangreiche botanische Forschungen sich über das heimische Schlesien hinaus auf weite Teile Süd- und Osteuropas bezogen, vgl. den namentlich nicht gekennzeichneten Nachruf in: Jahresbericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur 75 (1897) 16–18, sowie den Nekrolog von Schube, Th[eodor] in: Berichte der Deutschen Botanischen Gesellschaft 16 (1898) 12–17 (mit einem Schriftenverzeichnis Fieks). 19 �������������������������������������������������������������������������������������� Zu Hugo Seydel (1840–1932), der für die Nationalliberalen im Preußischen Abgeordnetenhaus zwischen 1896 und 1908 den Wahlkreis Hirschberg-Schönau vertrat, vgl. Mann; Bernhard (Bearb.): Biographisches Handbuch für das preußische Abgeordnetenhaus 1867–1918. Düsseldorf 1988 (Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 3), 365. 20 Szczepański: Towarzystwo Karkonoskie, 79. Einen Überblick über die bis 1905 konstituierten insgesamt 113 Sektionen (von denen einige sich zwischenzeitlich freilich wieder aufgelöst hatten) nebst ihrer Mitgliederzahl und ihren jeweiligen Vorsitzenden (mit Berufsangabe) bietet Hoehne: Rückblick, 89–91. 21 Iwanek: Riesengebirgsverein, 107f. 22 Vgl. ebd., 108, mit einer (auf die genannte Auflistung Hoehnes im Wanderer gestützten) beruflichen Aufschlüsselung der 95 Ortsgruppenvorsitzenden für das Jubiläumsjahr 1905: Darunter befanden sich nicht weniger als 25 Pädagogen, zehn Geistliche, neun Fabrikdirektoren bzw. -eigentümer, acht Ärzte, fünf Apotheker und zwei amtierende Bürgermeister.
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Abb. 2: Der Wanderer im Riesengebirge vom 1. Juli 1913 (mit dem seit 1897 gebräuchlichen Titelmotiv). In dem auf der Titelseite platzierten Aufruf „An unsere Gäste“ wird mit dem Hinweis, bereits jetzt zähle der Riesengebirgsverein mehr als 12.000 Mitglieder, um weitere Neueintritte geworben. Bildnachweis: Projektbereich Schlesische Geschichte an der Universität Stuttgart.
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des lokalen Hotel- und Gaststättengewerbes stark vertreten waren, deren Mitgliedschaft im Riesengebirgsverein von naheliegenden existenziellen Interessen geleitet war.23 In seinem ersten Statut vom Sommer 1880 nannte der Riesengebirgsverein als seine vorrangigen Aufgaben „die Erschließung des Riesen- und Isergebirges sowie der angrenzenden Gebirge, [den] Schutz der Gebirgs- und Pflanzenwelt, die Weckung und Stärkung von Natur- und Heimatsinn und die Pflege von Naturdenkmälern und Kunstschätzen“.24 Aus dieser Zielsetzung spricht bereits ein eigentümliches Spannungsverhältnis zwischen dem Postulat des Schützens und Bewahrens auf der einen sowie dem des (massentouristischen) Erschließens der Region auf der anderen Seite. In der Praxis trat der zweite Aspekt rasch in den Vordergrund, indem der Verein zu einem Schlüsselakteur beim Ausbau der touristischen Infrastruktur avancierte. Die Modernisierung bzw. Unterhaltung sowohl der einzelnen Wanderwege als auch der als Anlaufpunkte dienenden Berghütten (im Riesengebirge traditionell „Bauden“ genannt) zielte zunächst vor allem auf die Entwicklung des Sommertourismus; nach der Jahrhundertwende gewann dann auch der Wintersport zunehmend an Bedeutung.25 Auf maßgebliche Initiative des Riesengebirgsvereins hin wurde im Juli 1900 auf der Schneekoppe zudem das „Königliche Meteorologische Observatorium“ eingeweiht, das, eingedenk der gerade im Riesengebirge stets launischen Witterung, auf dem Feld der meteorologischen Forschung eine Vorreiterrolle einnahm.26 Und nicht zuletzt entsprach natürlich auch der Riesengebirgsverein dem Typus des „geselligen Vereins“, bot seinen Mitgliedern über seine eigentliche Zielsetzung hinaus also regelmäßig Zerstreuung und Amüsement in Form kleinerer oder größerer Festveranstaltungen,27 für die seit den 1890er Jahren sogar ein vereinseigenes Liederbuch zur Verfügung stand.28 Hervorzuheben ist schließlich die umfangreiche Sammlungstätigkeit des Riesengebirgsvereins. Neben der bereits kurz nach Vereinsgründung eingerichteten Bibliothek, deren Bände von den Mitgliedern ausgeliehen werden konnten,29 existierte seit dem Frühjahr 1889 in der Verantwortung Hugo Seydels auch ein eigenes Vereinsmuseum, dessen 23 24 25 26 27 28
Hartwich: Das schlesische Riesengebirge, 35. Zit. nach ebd. Szczepański: Towarzystwo Karkonoskie, 80. Ebd. 84; vgl. Przerwa: Odkryli dla nas piękno gór, 337–341. Iwanek: Riesengebirgsverein, 112–114. Liederstrauss des Riesengebirgs-Vereins. Breslau 21893; vgl. Sturm, L.: Beiträge zur Herstellung eines Riesengebirgsvereins-Liederbuches. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 101 vom 1. März 1891, 31f. 29 Waeldner: Bibliothek des Riesengebirgs-Vereins. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 29 vom 1. März 1884, 5f., nennt die noch bescheidene Zahl von insgesamt 74 Bänden aus den Sparten „Reisehandbücher, Beschreibungen, Geographie“, „Karten bezw. Panoramen“, „Zeitschriften, Berichte“, „Naturhistorisches“, „Geschichte, Sage u. s. w.“ sowie „Poetica“. In der Folgezeit wuchs der Bestand vor allem durch Bücherspenden von Mitgliedern oder Gönnern stetig an. Vgl. Bialonski: Die Bibliothek des R.-G.-V. Ebd., Nr. 225 vom 1. Juli 1901, 109f.; Krause, Georg: Unsre Bibliothek. Ebd., Nr. 236 vom 15. Mai 1902, 91; Szczepański: Towarzystwo Karkonoskie, 83, demzufolge die Vereinsbibliothek 1941 schließlich um die 5.000 Bände zählte.
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Exponate zunächst in einem eigens dafür überlassenen Raum des Hirschberger Gymnasiums besichtigt werden konnten. Die Sammlung, über deren stetes Anwachsen Seydel die Leser des Wanderer[s] regelmäßig unterrichtete, war nach der Jahrhundertwende derart umfangreich geworden, dass sich die Görlitzer Hauptversammlung des Riesengebirgsvereins von 1909 für einen Museumsneubau in Hirschberg aussprach. Das von dem Breslauer Architekten Karl Grosser ausgeführte und im April 1914 feierlich eingeweihte Haus30 kann in seiner spezifischen Mischung aus natur- und volkskundlichen sowie historischen Exponaten als der Prototyp des Heimatmuseums schlechthin gelten.31
III. Von der förmlichen Konstituierung des Riesengebirgsvereins bis zum Erscheinen der ersten Nummer des Wanderer[s] im Riesengebirge am 3. Juli 1881 (Abb. 3) vergingen noch einmal elf Monate. Die Leitung der Redaktion übernahm mit Theodor Donat zunächst der eigentliche Gründervater des Vereins.32 Nachdem dieser sich infolge interner Querelen Anfang 1885 zurückgezogen hatte, lag die Schriftleitung bis in die Zwischenkriegszeit hinein in den Händen dreier Hirschberger Gymnasialprofessoren: Auf Paul Scholz (1885 bis 1888)33 und Paul Regell (1889 bis 1896)34 folgte der eingangs bereits erwähnte Emil Rosenberg, der für den Wanderer ein volles Vierteljahrhundert lang – von 1897 bis 1922 – verantwortlich zeichnete. Das Konzept des Blatts hatte Donat in der Startnummer wie folgt skizziert: „In möglichst populärer Darstellung wird ,Der Wanderer im Riesengebirge‘ geognostischen, botanischen, historischen und mythischen Inhalt bringen, sofern derselbe einen deutlichen Bezug auf unser Vereinsgebiet hat und daneben noch Raum behalten, um der Thätigkeit der Sectionen und deren Klagen und Wünschen volle Aufmerksamkeit zuwenden zu können.“35 Damit war die inhaltliche Zweigleisigkeit der Zeitschrift 30 Herr, Horst: Das Riesengebirgsmuseum in Jelenia Gora (Hirschberg) wird 100 Jahre! In: Der Wanderer im Riesengebirgsverein e. V., 134. Jg., Ausgabe Frühjahr 2014, 1. Online abrufbar unter: http://www.riesengebirgsverein.de/fileadmin/_migrated/content_uploads/201401_rgv_ Wanderer-fruehjahr2014_screen.pdf [15. August 2016]; vgl. Hoehne: Rückblick, 101f.; Baer, [Oswald]: Die Sammlungen des Riesengebirgsvereins. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 272 vom 1. Juni 1905, 115–122 (mit zahlreichen Abbildungen); ders.: Die feierliche Einweihung des Riesengebirgs-Museums. Ebd., Nr. 379 vom 1. Mai 1914, 66–68. 31 ���������������������������������������������������������������������������������������� Przerwa: Odkryli dla nas piękno gór, 327. Zu weiteren Museumsgründungen anderer im Sudetenraum angesiedelter Gebirgsvereine vgl. ebd., 328–331. 32 Vgl. Hoehne: Rückblick, 102, demzufolge Donat die Zeitschrift ursprünglich unter dem Titel Rübezahls Reichsblatt hatte erscheinen lassen wollen. 33 Zu Paul Scholz (1851–1902) vgl. den Nachruf von Rosenberg, [Emil]: Prof. Dr. Paul Scholz †. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 244 vom 1. Februar 1903, 18f. 34 Zu Paul Regell (1855–1917) vgl. den Nachruf von Nafe, [Otto]: Professor Dr. Paul Regell. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 422 vom 1. Dezember 1917, 1–4. 35 Donat, Th[eodor]: Vereinsgenossen! In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 1 vom 3. Juli 1881, 1.
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Abb. 3: Startnummer des Wanderer[s] im Riesengebirge vom 3. Juli 1881. Bildnachweis: Projektbereich Schlesische Geschichte an der Universität Stuttgart.
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bündig umschrieben. Zumeist im vorderen Teil fanden sich die oftmals über mehrere Ausgaben hinweg gestreckten fachlichen Abhandlungen, mit denen der Wanderer eine beachtliche Themenpalette abdeckte:36 Neben den im Folgenden gesondert zu betrachtenden historischen Studien wurden Texte aus den Bereichen Volkskunde und Folklore, Geologie, Geographie, Meteorologie (einschließlich der für die Riesengebirgsregion regelmäßig publizierten Witterungsberichte) und Botanik, Naturschutz und Sport präsentiert. Die ebenfalls zahlreichen Beiträge zu Fragen der Tourismusentwicklung hatten häufig Servicecharakter, beinhalteten also die Beschreibung von Wanderrouten ebenso wie praktische Hinweise zu Ausflugszielen, Raststationen (Bauden), Hotels oder Gaststätten. Abgedruckt wurden neben Buchbesprechungen aus verschiedenen Genres auch immer wieder literaturgeschichtliche Darstellungen (nebst Werkauszügen) zu regional verwurzelten Schriftstellern oder Dichtern wie beispielsweise dem Romantiker Carl Wilhelm Salice-Contessa,37 ferner Volkssagen und Legenden – darunter erwartungsgemäß viele Texte, die sich aus verschiedener Perspektive mit der populären Sagenfigur Rübezahl beschäftigten.38 Bevorzugt im hinteren Teil des Blatts fanden sich dann die Vereinsinterna: Versammlungsberichte, Berichte aus den einzelnen Sektionen, Nachrufe auf verdiente Mitglieder etc. Bemerkenswert ist, dass der Wanderer seit Ende des 19. Jahrhunderts in seiner Berichterstattung keinerlei Rücksicht auf die entlang des Riesengebirgskamms verlaufende politische Grenze mehr zu nehmen brauchte. Nachdem das Organ des österreichischen Riesengebirgsvereins – Das Riesengebirge in Wort und Bild – eingegangen war, dehnte der Wanderer mit Zustimmung der österreichischen Seite seine Zuständigkeit von Januar 1899 an auch auf die im Machtbereich der Habsburgermonarchie gelegene Südseite des Riesengebirges aus. Das Blatt trug im Titel fortan den Zusatz Zeitschrift des deutschen und des österreichischen Riesengebirgs-Vereins.39 Erst ab dem Herbst des Jahres 1920 gingen die beiden Schwestervereine publizistisch wieder getrennte Wege.40 Druckort des Wanderer[s] war Hirschberg, erst ab 1923 wurde seine technische Herstellung dann in Breslau besorgt.41 Als Monatsschrift angelegt, erschien er anfangs noch leicht unregelmäßig, bevor sich ab 1888 der jeweilige Monatserste als turnusmäßiger Er36 Eine Themenübersicht bietet Przerwa: Śląskie czasopisma turystyczne, 67f. 37 Lipiński, Cezary: Carl Wilhelm Salice-Contessa als Entdecker und Propagator des Riesengebirges. In: Pacholski, Jan/Białek, Edward (Hg.): „Über allen Gipfeln...“. Bergmotive in der deutschsprachigen Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts. Dresden/Wrocław 2008 (Beihefte zum Orbis Linguarium 71), 345–370. 38 Zur Funktionalisierung des Rübezahlmythos vgl. Hartwich: Das schlesische Riesengebirge, 30– 34; Muschiol, Barbara: Der „Herr der Berge“. Der Rübezahlmythos im Spannungsfeld von Volksüberlieferung und künstlerischer Betrachtung – „Pan Gór“. Mit Liczyrzepy pomiędzy przekazami ludowymi a artystyczną wizją. In: Bździach (Hg.): Wspaniały krajobraz, 38–45. 39 Seydel, [Hugo]/Rosenberg, [Emil]: Bekanntmachung. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 195 vom 1. Januar 1899, 1; Hoehne: Rückblick, 102f. 40 Szczepański: Towarzystwo Karkonoskie, 81. 41 Iwanek: Riesengebirgsverein, 108.
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scheinungstermin durchsetzte.42 Es illustriert den Erfolg der Zeitschrift, dass die Startauflage von 1.500 Exemplaren die Nachfrage schon bald nicht mehr abdeckte. Bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs näherte die Auflage sich der Marke von 10.000 Stück und überschritt diese in der frühen Zwischenkriegszeit sogar.43 Damit einher ging auch eine Steigerung des Umfangs. Zu Beginn in der Regel auf nur acht Seiten gedruckt, umfasste das Blatt ab den 1890er Jahren in der Regel 12 oder 16, vereinzelt auch 24 Seiten (stets in zweispaltigem Format). Die Jubiläumsausgabe zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des Vereins von 1905 wurde sogar in einem Umfang von 60 Seiten unter die Leute gebracht. Zur Attraktivität des Wanderer[s] trug neben den Inhalten fraglos auch das für die damalige Zeit ausgesprochen hochwertige Layout dar. Eine große Zahl von Abbildungen – anfangs vor allem Graphiken, Zeichnungen und Stiche, später vermehrt auch Schwarz-Weiß-Fotografien – verleihen manchen Nummern der Zeitschrift eher den Charakter einer frühen Illustrierten denn eines bloßen Vereinsblatts.44 Da verwundert es nicht, dass sich der Riesengebirgsverein seinen publizistischen Erfolg einiges kosten lassen musste: Redaktion, Herstellung und Versand des Wanderer[s] verschlangen regelmäßig zwischen einem Sechstel und sogar einem Viertel des gesamten Vereinsbudgets.45 Jedenfalls kann von einem hohen Bekanntheitsgrad der Zeitschrift auch über die engere Riesengebirgsregion hinaus ausgegangen werden – ein Umstand, der ihren eingangs zitierten wissenschaftlichen Ambitionen dienlich war. Das fachliche Niveau des Wanderer[s] konnte nur erreicht bzw. gehalten werden, weil er über die Redaktion hinaus eine große Anzahl freier Mitarbeiter an sich zu binden verstand, die ihn regelmäßig mit Beiträgen belieferten. Was insbesondere die geschichtlichen Themen angeht, waren darunter Pädagogen und Geistliche, die sich nebenberuflich als Heimatforscher betätigten, naturgemäß stark vertreten, etwa der Schmiedeberger Lokalhistoriker Theodor Eisenmänger.46 Dass fachwissenschaftliche Grenzen in diesem Kontext häufig auch überschritten wurden, zeigt das Beispiel des prominenten Chirurgen und Augenarztes Oswald Baer (Spitzname: „Riesengebirgs-Baer“), der im Wanderer zu ganz verschiedenen Themen publizierte, darunter wiederholt auch zu historischen.47 Enge Kontakte bestanden freilich ebenso zu Institutionen, die sich um die Jahrhundertwende um die archivalische Quellenerschließung und damit allgemein um die Pro42 ������������������������������������������������������������������������������������������� Eine Ausnahme bilden die Jahrgänge 1886 und 1887, in denen jeweils nur sechs bzw. acht Nummern des Wanderer[s] erschienen. 43 Przerwa: Śląskie czasopisma turystyczne, 62. 44 Ebd., 68f. 45 Ebd., 65. 46 Vgl. exemplarisch Eisenmänger, Th[eodor]: Geschichtliche Nachrichten über den Eisenbergbau zu Schmiedeberg i. Schl. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 5 vom 15. Januar 1882, 1–3. Weitere regelmäßige Autoren des Wanderer[s] nennt Iwanek: Riesengebirgsverein, 109. 47 Vgl. exemplarisch Baer, [Oswald]: Caspar Schwenckfeldt. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 163 vom 1. Mai 1896, 62–64, Nr. 164 vom 1. Juni 1896, 76–80. Zu Oswald Baer (1847– 1937) vgl. Sommer, Fedor: Geheimrat Dr. Oswald Baer zum 80. Geburtstage am 2. April. Ebd., 47. Jg., Nr. 4 vom 1. April 1927, 50f.
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fessionalisierung der Geschichtswissenschaft im Oderland verdient machten. So gehörte Heinrich Nentwig, der 1895 in Warmbrunn bei Hirschberg die Leitung der „Gräflich Schaffgotsch’schen Archiv- und Bibliothek-Verwaltung“ übernommen hatte,48 bis 1910 zu den ständigen Autoren im Wanderer.49 Die Verbindungen zur institutionellen Historiographie in der Hauptstadt Breslau waren demgegenüber lockerer gefügt, aber durchaus vorhanden. Der 1906 zum Leiter des Breslauer Stadtarchivs bestellte Historiker Heinrich Wendt trat bereits seit den 1890er Jahren als Beiträger in Erscheinung,50 und in immerhin zwei Fällen konnte auch der Direktor des Breslauer Staatsarchivs, außerordentliche Professor an der dortigen Alma Mater und langjährige Vorsitzende des „Vereins für Geschichte und Altertum Schlesiens“, Colmar Grünhagen, als Autor gewonnen werden.51 Zugleich wurden im Wanderer die allgemeinen Verbindungen der 1811 als Fusion zwischen der vormaligen Jesuitenuniversität Leopoldina und der Frankfurter Viadrina entstandenen Breslauer Universität bzw. ihres Lehrkörpers zur Riesengebirgsregion explizit betont.52 Erwähnt sei schließlich, dass der Wanderer in der Zwischenkriegszeit bedeutenden wissenschaftlichen Koryphäen aus Schlesien bereits in der Frühphase ihres Schaffens ein Forum bot – so zählte er etwa den aus Hirschberg gebürtigen Maler, Graphiker und Kunsthistoriker Günther Grundmann53 oder den später nicht minder prominenten Volkskundler und Historiker Will-Erich Peuckert54 zu seinen ständigen Autoren. 48 �������������������������������������������������������������������������������������������� Zum Wirken Nentwigs als Archivar, Bibliothekar und Initiator bibliographischer Grundlagenarbeiten im Dienste der schlesischen Geschichtswissenschaft vgl. in diesem Band den Beitrag von Joachim Bahlcke Adelige Geschichtspflege. Familienbewusstsein und Wissenschaftsförderung in Schlesien vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert; in knapper Form Iwanek: Riesengebirgsverein, 107. 49 Unter anderem nutzte Nentwig dort die Gelegenheit, den Lesern die Bedeutung der von ihm selbst geleiteten Einrichtung näherzubringen. Vgl. Nentwig, [Heinrich]: Zwei schlesische Majoratsbibliothen. 1. Die gräflich Schaffgotsch’sche Bibliothek in Warmbrunn. 2. Die gräflich von Hochberg’sche Bibliothek in Fürstenstein. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 301 vom 1. November 1907, 161–165; vgl. Siebelt, A[gnes]: Die Reichsgräflich Schaffgotsch’sche Majoratsbibliothek zu Warmbrunn. Ebd., Nr. 376 vom 1. Februar 1914, 23–26. 50 Vgl. exemplarisch Wendt, H[einrich]: Eine Wünschendorfer Kriegschronik, 1756–1762. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 198 vom 1. April 1899, 49–51. 51 ������������������������������������������������������������������������������������������� Grünhagen, [Colmar]: Quellen für die älteste Geschichte des Riesengebirges und der dazu gehörigen Ortschaften. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 76 vom 1. Februar 1889, 16f.; ders.: Die Schlacht bei Hohenfriedeberg. Ebd., Nr. 81 vom 1. Juli 1889, 82–84, Nr. 82 vom 1. August 1889, 95–97. 52 Hoffmann, Adalbert: Professoren der neuen Breslauer Universität im Riesengebirge. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 192 vom 1. Oktober 1898, 145–147 (u. a. mit einer Würdigung Johann Gustav Gottlieb Büschings), Nr. 193 vom 1. November 1898, 162–164, Nr. 195 vom 1. Januar 1899, 70–73 (u. a. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben), Nr. 196 vom 1. Februar 1899, 20–22, Nr. 198 vom 1. April 1899, 53f. (u. a. Heinrich Steffens), Nr. 199 vom 1. Mai 1899, 70–73; ders.: Professoren der neuen Breslauer Universität im Riesengebirge (Nachtrag). Ebd., Nr. 324 vom 1. Oktober 1909, 150f. 53 Zu ihm vgl. Stasiewski, Bernhard: Günther Grundmann – Leben und Werk 1892–1976. In: Zeitschrift für Ostforschung 26 (1977) 1–17. 54 Zu Will-Erich Peuckert (1895–1969) vgl. Bönisch-Brednich, Brigitte: Volkskundliche Forschung in Schlesien. Eine Wissenschaftsgeschichte. Marburg 1994 (Schriftenreihe der Kommis-
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IV. Innerhalb des großen Spektrums historischer Themen, die im Wanderer bis 1914 präsentiert wurden, sticht zunächst der stetig wiederkehrende Bezug zur eigentlichen Zielsetzung des Riesengebirgsvereins ins Auge. Diverse historische Reise- und Erlebnisberichte aus den vergangenen zwei Jahrhunderten dienten als Bausteine einer Geschichte des Riesengebirgstourismus.55 Gerade prominente Dichter und Schriftsteller, die ihren eigenen Gebirgsaufenthalt in irgendeiner Form literarisch verarbeitet hatten, wurden im Wanderer implizit als Vorläufer und Wegbereiter des eigenen Anspruchs gewürdigt, die Landschaft des Riesengebirges nunmehr für jedermann zugänglich und erlebbar zu machen.56 Auch sonst blieb der regionale Horizont bei der Themensetzung in jeder Hinsicht bestimmend. Schon der Umfang der Zeitschrift ließ eine systematische Edition von Urkunden und sonstigen Schriftquellen, wie sie in den Mitteilungsorganen der zeitgenössischen Geschichtsvereine praktiziert wurde, nicht zu. Als Beitrag vornehmlich zur Kultur- und Sozialgeschichte der Region wurden im Wanderer allerdings immer wieder einzelne Dokumente ganz unterschiedlicher Art vorgestellt, etwa Apothekerordnungen,57 Schulkataloge58 oder die für das Riesengebirge typischen „Koppenbücher“ (das heißt die auf den Bauden ausliegenden Fremdenbücher).59 Für die Quellenpräsentationen wie auch für die historischen Darstellungen gilt, dass die große Mehrheit davon in der Frühen Neuzeit bzw. im 19. Jahrhundert angesiedelt war. Einzelne Beiträge zum Bereich der Vor- und Frühgeschichte der Riesengebirgsregion60 blieben
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sion für deutsche und osteuropäische Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde 68), 127–134. Zacher, Konrad: Riesengebirgstouristik vor zweihundert Jahren. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 249 vom 1. Juli 1903, 101–105, Nr. 250 vom 1. August 1903, 118–122, Nr. 252 vom 1. Oktober 1903, 145–148, Nr. 254 vom 1. Dezember 1903, 179–183; Schneider, Alfred: Eine Riesengebirgstour anno 1800. Ebd., Nr. 251 vom 1. September 1903, 140–142; H. D. B.: Ein Besuch der Schneekoppe im Jahre 1780. Ebd., Nr. 278 vom 1. Dezember 1905, 216. Scholz, [Paul]: Goethes Riesengebirgsreise im Jahre 1790. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 60 vom 1. Oktober 1887, 84–89; Schubert, Heinrich: Ernst Moritz Arndt im Riesengebirge. Ebd., Nr. 222 vom 1. April 1901, 51f.; Schönke: Ernst Theodor Amadeus Hoffmanns Riesengebirgsreise im Jahre 1798. Ebd., Nr. 274 vom 1. August 1905, 145–147. Scholz, [Paul]: Eine Hirschberger Apothekenordnung vom Jahre 1674. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 182 vom 1. Dezember 1897, 178f. Clausnitzer, Eduard: Ein Schulkatalog über Hermsdorf unterm Kynast aus dem Jahre 1763. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 200 vom 1. Juni 1899, 86f. v. Rabenau: Zwei Koppenbücher aus dem Anfange dieses Jahrhunderts. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 48 vom 1. Februar 1886, 1–6, Nr. 49 vom 1. April 1886, 4–8; Malende, Eugen: Allerlei aus den ältesten Koppenbüchern. Ebd., Nr. 74 vom 1. Dezember 1888, 235–238. Hieronymi, Paul: Steinalterthümer im Riesengebirge. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 6 vom 25. Januar 1882, 7f., Nr. 8 vom 25. März 1882, 3f., Nr. 9 vom 15. Mai 1882, 1f.; Scholz, [Paul]: Die Besiedelung des Riesengebirges und seines östlichen Vorlandes durch die Germanen. Ebd., Nr. 64 vom 1. Februar 1888, 125f., Nr. 65 vom 1. März 1888, 130–135; Stentzel, Arthur:
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demgegenüber ebenso in der Minderzahl wie mittelalterliche Themen.61 Zur Geschichte des Hussitismus in Schlesien beispielsweise findet sich im Wanderer vor 1914 ein einziger kurzer Artikel,62 während Motive aus dem polnisch-piastisch geprägten schlesischen Hochmittelalter, die in dem von gegenseitigen nationalen Ansprüchen geprägten Klima der Jahrhundertwende schnell zum Politikum werden konnten, bezeichnenderweise ganz ausgeklammert blieben. Was die einzelnen historischen Teildisziplinen anbetrifft, lässt sich die quantitativ bei weitem umfangreichste Sparte im Bereich die Lokalgeschichte festmachen. Die Hirschberger Dominanz innerhalb des Riesengebirgsvereins – wie schon erwähnt, fungierte der erste Vereinsvorsitzende Carl Bassenge hier als Bürgermeister, während sämtliche Schriftleiter des Wanderer[s] zwischen 1885 und 1922 im Hauptberuf am Hirschberger Gymnasium unterrichteten – machte sich in dieser Hinsicht deutlich bemerkbar: Gut die Hälfte aller Beiträge lokalgeschichtlichen Inhalts hatte einen direkten Bezug zu Hirschberg, wobei Bassenge persönlich eine über mehrere Jahre gestreckte, chronologisch strukturierte Artikelserie zur Geschichte seiner Stadt beisteuerte.63 Die Berücksichtigung der Vergangenheit anderer Städte, Dörfer, Klöster und Burgen der Riesengebirgsregion folgte keiner erkennbaren Systematik, vielmehr dürfte sich die Themensetzung in dieser Hinsicht ganz nach der Verfügbarkeit der jeweils sachkundigen Beiträger gerichtet haben. Eine Besonderheit im Rahmen der Ortsgeschichte bildete die intensive Beschäftigung der Wanderer-Autoren mit der Vergangenheit des Hauses Schaffgotsch, insbesondere der Linie Kynast-Warmbrunn64 – ein umso markanterer Befund, als andere Die Opfersteine des Riesengebirges. Ebd., Nr. 335 vom 1. September 1910, 129–131, Nr. 336 vom 1. Oktober 1910, 149–151, Nr. 337 vom 1. November 1910, 164f. 61 ������������������������������������������������������������������������������������������ Einen der wenigen mediävistischen Beiträge ohne regionalen Bezug liefert Schneege, G.: Ursprung und Entwickelung der staufischen Kaisersage. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 242 vom 1. Dezember 1902, 177–181. 62 Arlt, P.: Die Horebiten in Schlesien. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 372 vom 1. Oktober 1913, 156. 63 Bassenge, [Carl]: Hirschberg im XV. Jahrhundert. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 6 vom 25. Januar 1882, 1–4, Nr. 7 vom 6. März 1882, 1–3; ders.: Hirschberg im 17. und im Anfange des 18. Jahrhunderts. Ebd., Nr. 23 vom 1. Juli 1883, 4f., Nr. 24 vom 1. August 1883, 4–7, Nr. 25 vom 1. September 1883, 3–6, Nr. 26 vom 1. Oktober 1883, 1–4, Nr. 27 vom 15. Oktober 1883, 1–4; ders.: Hirschberg unter Friedrich dem Großen. Ebd., Nr. 36 vom 15. Januar 1885, 6–12, Nr. 37 vom 1. Februar 1885, 2–4, Nr. 39 vom 1. April 1885, 2–5, Nr. 40 vom 1. Mai 1883, 6–10; ders.: Hirschberg unter der Regierung Friedrich Wilhelm II. und Friedrich Wilhelm III. Ebd., Nr. 56 vom 15. Mai 1887, 42–46, Nr. 57 vom 1. Juli 1887, 53–60; vgl. Scholz, [Paul]: Hirschberg vor 150 Jahren. Ebd., Nr. 98 vom 1. Dezember 1890, 134–137 (Abdruck eines Vortragsmanuskripts); Krebs, J[ulius]: Zur Geschichte der Stadt Hirschberg im 30jährigen Kriege. Ebd., Nr. 100 vom 1. Februar 1891, 17f., Nr. 101 vom 1. März 1891, 32f. 64 Leopold Gotthard Graf Schaffgotsch war 1825 zum Freien Standesherrn zu Warmbrunn und Kynast erhoben worden. In der Folge wurde der jeweils älteste Vertreter der Linie Kynast-Warmbrunn von der preußischen Krone als Freier Standesherr anerkannt und verfügte seit 1854 zudem über einen erblichen Sitz im preußischen Herrenhaus. Vgl. Schmilewski, Ulrich: Das Geschlecht der Schaffgotsch – ein genealogisch-historischer Überblick vom 13. bis zum 20. Jahrhundert. In:
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Geschlechter des schlesischen Ur- und Hochadels in der Zeitschrift kaum Beachtung fanden. Der ,Genius loci‘, also die unmittelbare räumliche Nähe des Vereinssitzes Hirschberg zum Familiensitz der Schaffgotsch in Warmbrunn, spielte hier ebenso eine Rolle wie die bereits erwähnten engen Kontakte des Wanderer[s] zu den Mitarbeitern der Schaffgotschschen Majoratsbibliothek. Es bezeugt die seit der Reichsgründung tendenziell zunehmende Affirmation des bürgerlichen Vereinswesens an traditionale soziale Hierarchien,65 dass Bürgermeister Bassenge bereits während der Gründungsphase des Riesengebirgsvereins im Sommer 1880 den amtierenden Chef des Hauses, Ludwig Gotthard Graf Schaffgotsch, um Unterstützung gebeten hatte. Dieser ließ daraufhin verlauten, „daß, wenn ich auch allerdings Bedenken trage, dem zu gründenden Riesengebirgs-Verein als Mitglied beizutreten, ich doch den Zwecken desselben nach Möglichkeit förderlich sein will“.66 Zu einer Ehrenmitgliedschaft immerhin fand der Graf sich wenig später tatsächlich bereit,67 woraufhin das Haus Schaffgotsch fortan so etwas wie eine informelle Schirmherrschaft über den Riesengebirgsverein ausübte.68 Schaffgotschiana der verschiedensten Art nahmen entsprechend bis 1914 im Wanderer einen breiten Raum ein – seien es Beiträge zur Geschichte des Geschlechts allgemein69 oder zu einzelnen seiner Vertreter.70 Bahlcke, Joachim/Schmilewski, Ulrich/Wünsch, Thomas (Hg.): Das Haus Schaffgotsch. Konfession, Politik und Gedächtnis eines schlesischen Adelsgeschlechts vom Mittelalter bis zur Moderne. Würzburg 2010, 1–17, hier 14. 65 Applegate, Celia: A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat. Berkeley/Los Angeles/ Oxford 1990, 44. 66 Das gräfliche Antwortschreiben vom 25. Juli 1880 ist abgedruckt bei Hoehne: Überblick, 85. 67 Vgl. die im Namen des Hauptvorstands des Riesengebirgsvereins gleich auf der Titelseite lancierte Traueranzeige für „Se. Excellenz Reichsgraf Ludwig Schaffgotsch, das einzige Ehrenmitglied unseres Gesamtvereins“ (der am 15. Juni 1890 im Alter von 48 Jahren verstorben war) in: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 105 vom 1. Juli 1891, 77f. 68 Anlässlich der Großjährigkeitserklärung des Grafen Friedrich Schaffgotsch im Frühjahr 1904 äußerte der Vereinsvorstand die Hoffnung, auch der neue Hausherr möge „uns helfen, das Riesengebirge, das große natürliche Sanatorium gegen die Schäden unsrer überfeinerten Kultur, immer mehr, auch den Alten und Schwachen zu erschließen“. Der Umworbene antwortete mit Datum vom 4. März 1904, er bringe „den gemeinnützigen Bestrebungen Ihres Vereins reges Interesse entgegen“ und hoffe, dass „auch in Zukunft zwischen dem Riesengebirgsverein und meiner Verwaltung zum Besten beider Teile ein gutes Einvernehmen obwalten wird“. Abgedruckt in: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 258 vom 1. April 1904, 49f. 69 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Schuch: Zur Geschichte der Familien Schaffgotsch und Liebenthal. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 129 vom 1. Juli 1893, 96f.; Schubert, Heinrich: Beiträge zur Geschichte der Herrschaft Kynast und der Familie Schaffgotsch. Ebd., Nr. 171 vom 1. Januar 1897, 4f.; Nr. 172 vom 1. Februar 1897, 20–22; ders.: Die ältesten Herren des Kynast. Ebd., Nr. 219 vom 1. Januar 1901, 9f., Nr. 220 vom 1. Februar 1901, 24f.; Wendt, H[einrich]: Die reichsgr. Schaffgotsch’schen Gotteshäuser im Riesengebirge. Ebd., Nr. 188 vom 1. Juni 1898, 88f.; Nentwig, Heinrich: Schaffgotsch’sche Grabsteine in Warmbrunn. Ebd., Nr. 305 vom 1. März 1908, 42f.; ders.: Der gräflich Schaffgotsche Orden der Ritter und Damen von der Alten Hacke. Ebd., Nr. 312 vom 1. Oktober 1908, 159f. 70 Scholz, [Paul]: Hans Ulrich Freiherr von Schaffgotsch. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 100 vom 1. Februar 1891, 18–21, Nr. 101 vom 1. März 1891, 25–28; Schubert, Heinrich:
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Auch die Beiträge zu wirtschaftsgeschichtlichen Fragestellungen bewegten sich in einem regionalgeschichtlichen Kontext, widmeten sich also vornehmlich dem Bergbau71 oder der schlesischen Tuchindustrie.72 Dabei fällt ins Auge, dass der einschneidende ökonomische Strukturwandel des 19. Jahrhunderts, der gerade im Riesengebirge mit dem Niedergang der einst tonangebenden Leinenweberei und entsprechend schwerwiegenden sozialen Verwerfungen verbunden war, im Wanderer nur ganz am Rande thematisiert wurde.73 Der zum Zeitpunkt der Gründung des Riesengebirgsvereins noch keine vier Jahrzehnte zurückliegende Weberaufstand, der Anfang Juni 1844 die Gebirgsdörfer Peterswaldau und Langenbielau erschüttert hatte und sich in der Folge, nicht zuletzt dank des 1892 veröffentlichten Dramas von Gerhart Hauptmann, tief in das deutsche historisch-literarische Gedächtnis eingrub,74 blieb gänzlich ausgespart. Hier erweist sich, dass der Wanderer bei allem Anspruch von Wissenschaftlichkeit in erster Linie eben doch der Tourismusförderung verpflichtet blieb und damit kein Interesse daran haben konnte, vom Riesengebirge das Bild einer sozialen Krisenregion zu zeichnen. Obwohl, wie vorstehend ausgeführt, die große Mehrheit der für den Wanderer verfassten geschichtlichen Beiträge einer mikrohistorischen Perspektive verhaftet war, stellte das Thema Krieg immer wieder den Bezug zur deutschen Nationalgeschichte her. Die großen militärischen Konflikte der Vergangenheit dienten als bevorzugte Kristallisationskerne historischer Erinnerung – auch wenn die darauf basierenden nationalgeschichtlichen ,Meistererzählungen‘ im Wanderer doch stets wieder auf ihre regionalen bzw. lokalen Facetten heruntergebrochen wurden, anhand derer sich zeigen ließ, dass das Riesengebirge im Kontext folgenschwerer militärischer Entscheidungen keineswegs eine ,unbeteiligte‘ Peripherie war.
Gotsche Schoff, der jüngere, und die Probstei zu Warmbrunn. Ebd., Nr. 216 vom 1. Oktober 1900, 143f. 71 ����������������������������������������������������������������������������������������� Matzig, Otto: Bergbau in früherer Zeit. Mit Berücksichtigung unserer Gegend. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 257 vom 1. März 1904, 36–38, Nr. 261 vom 1. Juli 1904, 104f. (Wiedergabe eines Vortragsmanuskripts); Schubert, Heinrich: Urkundliche Nachrichten über den Bergbau im Riesen- und Waldenburger Gebirge. Ebd., Nr. 278 vom 1. Dezember 1905, 209f., Nr. 279 vom 1. Januar 1906, 6–8; Kaufmann, J[ohannes]: Geschichte des Bergbaues in Kupferberg. Ebd., Nr. 279 vom 1. Januar 1906, 2–6, Nr. 280 vom 1. Februar 1906, 18–21, Nr. 281 vom 1. März 1906, 36–38, Nr. 282 vom 1. April 1906, 51–55. 72 D[onat], Th[eodor]: Ueber die Grundlagen der deutschen und im Besonderen der schlesischen Leinen-Industrie. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 18 vom 15. März 1883, 1–3; Lessenthin, Berthold: Die schlesische Leinen-Industrie vor hundert Jahren. Ebd., Nr. 235 vom 1. Mai 1902, 66–68, Nr. 237 vom 1. Juli 1902, 104–106, Nr. 238 vom 1. August 1902, 122f. (Nachtrag). 73 Vgl. Scholz, [Paul]: Das Land der armen Leute. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 217 vom 1. November 1900, 153–157, Nr. 218 vom 1. Dezember 1900, 172–175, der dort unter anderem auf die in der Gegenwart weiter anhaltende Verdrängung der heimischen Handwebstühle durch die maschinell produzierende Konkurrenz eingeht. 74 Zur Rezeptionsgeschichte der schlesischen Weberunruhen von 1844 vgl. Hodenberg, Christina von: Aufstand der Weber. Die Revolte von 1844 und ihr Aufstieg zum Mythos. Bonn 1997.
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So ist es wohl zunächst der Geographie geschuldet, dass weder die Schlesischen Kriege Friedrichs II. noch die erst kurz zurückliegenden Bismarckschen Einigungskriege im Zentrum der historischen Aufbereitung standen. Gesondert erinnert wurden in diesem Kontext lediglich die im unmittelbaren Einzugsbereich des Riesengebirges gelegenen Schlachtfelder: Hohenfriedeberg (Zweiter Schlesischer Krieg, 4. Juni 1745)75 bzw. die nordböhmischen Ortschaften Skalitz und Nachod (Deutscher Krieg, 27./28. Juni 1866).76 Vollkommen anders verhielt sich das mit den Napoleonischen Kriegen, insbesondere ihrer letzten, im deutschen historischen Gedächtnis unter dem Begriff „Befreiungskriege“77 verankerten Phase. Schon eingedenk der wichtigen Rolle, die die Provinz Schlesien im Zuge des Aufbegehrens gegen Napoleon im Frühjahr des Jahres 1813 gespielt hatte, war das Thema im Wanderer schlechthin omnipräsent.78 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und erst recht im Umfeld der Jubiläumsfeierlichkeiten des Jahres 1913 war der alte Gegensatz zweier divergierender Erzählstränge – hier die von politischen Emanzipationsbestrebungen begleitete Deutung der Ereignisse als „Volkskrieg“, dort die entgegengesetzten Prämissen einer borussisch-monarchisch motivierten Erinnerungskultur79 – längst einem integrativ wirkenden deutschnationalen Grün-
75 Grünhagen, [Colmar]: Die Schlacht bei Hohenfriedeberg. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 81 vom 1. Juli 1889, 82–84, Nr. 82 vom 1. August 1889, 95–97. 76 v. Zychlinski: Erinnerungen an die Gefechte von Nachod und Skalitz 1866 (27. und 28. Juni) nebst Bericht über den Besuch der Schlachtfelder im Sommer 1909. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 336 vom 1. Oktober 1910, 146–149, Nr. 337 vom 1. November 1910, 165–167. 77 Zur Terminologie – insbesondere zur Begriffskonkurrenz „Befreiungskriege“ versus „Freiheitskriege“ – vgl. Hagemann, Karen: „Mannlicher Muth und Teutsche Ehre.“ Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preußens. Paderborn u. a. 2002 (Krieg in der Geschichte 8), 47; Brandt, Peter: Die Befreiungskriege von 1813 bis 1815 in der deutschen Geschichte. In: Grüttner, Michael/Hachtmann, Rüdiger/Haupt, Heinz-Gerhard (Hg.): Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup. Frankfurt a. M./New York 1999, 17–57, hier 43 Anm. 1. 78 ����������������������������������������������������������������������������������������� In Auswahl: [Anonym]: Aus dem August des Kriegsjahres 1813. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 156 vom 1. Oktober 1895, 145–147; Wiese, Hugo von: Aus dem Schlesischen Gebirge in den Kriegsjahren 1806/07. Ebd., Nr. 175 vom 1. Mai 1897, 65–67, Nr. 176 vom 1. Juni 1897, 87–90, Nr. 185 vom 1. März 1898, 34–38, Nr. 187 vom 1. Mai 1898, 74f., Nr. 188 vom 1. Juni 1898, 85–88; Nentwig, H[einrich]: Das befestigte Lager in Schreiberhau und der Rittmeister Negro. Ebd., Nr. 195 vom 1. Januar 1899, 2–5, Nr. 196 vom 1. Februar 1899, 22–25, Nr. 197 vom 1. März 1899, 40–43, Nr. 198 vom 1. April 1899, 51–53; ders.: Die Ereignisse beim preußischen Korps in Schlesien 1807 vor dem Übertritt des Fürsten Pleß nach Böhmen. Ebd., Nr. 245 vom 1. März 1903, 33f., Nr. 246 vom 1. April 1903, 53–55; Rosenberg, [Emil]: Die Hirschberger Landwehr nach dem Bericht eines Mitkämpfers. Ebd., Nr. 364 vom 1. Februar 1913, 24–26, Nr. 365 vom 1. März 1913, 35f.; ders.: Hirschbergs Beziehungen zu Gneisenau. Ebd., Nr. 372 vom 1. Oktober 1913, 148–150, Nr. 374 vom 1. Dezember 1913, 181. 79 Einen Forschungsüberblick zu der genannten Kontroverse um die Deutung der Befreiungskriege als „Volkskrieg“ oder „Fürstenkrieg“ bieten detailliert Hagemann: „Mannlicher Muth“, 47–53; in geraffter Form Gehrke, Roland: Wahrnehmung, Erinnerung und Deutung der antinapoleonischen Befreiungskriege. Zur Einführung. In: ders. (Hg.): Von Breslau nach Leipzig. Wahrnehmung, Er-
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dungsmythos gewichen, hinter dem die bürgerliche Gesellschaft des Kaiserreichs sich weitgehend einmütig versammelte.80 Mehrere Beiträge widmeten sich in diesem Kontext dem schlesischen Offizier Friedrich Wilhelm von Götzen, der als Militärgouverneur von Schlesien den französischen Invasoren im Frühjahr 1807 von der Festung Glatz aus hinhaltenden Widerstand entgegengesetzt hatte.81 Eine besonders intensive Identifikation erfuhr im Wanderer indes der im August 1813 als Kämpfer des Lützowschen Freikorps einundzwanzigjährig gefallene Dichter Theodor Körner, der in der deutschen historischen Erinnerungskultur zur wohl prominentesten Märtyrerfigur der Befreiungskriege stilisiert wurde.82 Zwar stammte Körner aus Dresden, hatte während seines Studiums an der Bergakademie Freiberg jedoch ausgedehnte Reisen und Wanderungen in die angrenzenden Gebirgsregionen unternommen, unter anderem ins Riesengebirge, dem er eine große Zahl romantischer Naturgedichte widmete.83 Aus dieser Verbundenheit heraus waren Körner und seine Lyrik im Wanderer immer wieder ein bevorzugtes Thema.84 Körners einhundertster
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innerung und Deutung der antinapoleonischen Befreiungskriege. Köln/Weimar/Wien 2014 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 24), 1–9, hier 2–5. Gehrke, Roland: Kolberg – Tauroggen – Breslau: Rezeption und geschichtspolitische Deutung der Napoleonischen Kriege in den preußischen Ostprovinzen. In: Klausing, Caroline/Wiczlinski, Verena von (Hg.): Die Napoleonischen Kriege in der europäischen Erinnerung. Bielefeld 2017 (Mainzer Historische Kulturwissenschaften 30) [im Druck]. Wiese, Hugo von: Graf Götzen, der Befreier Schlesiens. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 206 vom 1. Dezember 1899, 177–180 (mit einem Aufruf zur Errichtung eines Götzen-Denkmals). Der Autor, selbst preußischer Offizier, legte zu Götzen wenig später eine Biographie vor, die im Wanderer zustimmend besprochen wurde: Schneege, G.: Hugo von Wiese und Kaiserswaldau: Friedrich Wilhelm Graf von Götzen, Schlesiens Held in der Franzosenzeit 1806 bis 1807. Berlin 1902. Ebd., Nr. 247 vom 1. Mai 1903, 74–76, Nr. 248 vom 20. Mai 1903, 93f. Zu Körner-Rezeption und Körner-Mythos vgl. Jöst, Erhard: Der Heldentod des Dichters Theodor Körner. Der Einfluß eines Mythos auf die Rezeption einer Lyrik und ihre literarische Kritik. In: Orbis Litterarum 32/1 (1977) 310–340; Portmann-Tinguely, Albert: Romantik und Krieg. Eine Untersuchung zum Bild des Krieges bei deutschen Romantikern und „Freiheitssängern“: Adam Müller, Joseph Görres, Friedrich Schlegel, Achim von Arnim, Max von Schenkendorf und Theodor Körner. Freiburg/Schw. 1989 (Historische Schriften der Universität Freiburg Schweiz 12), 298–355; Weber, Ernst: Der Krieg und die Poeten. Theodor Körners Kriegsdichtung und ihre Rezeption im Kontext des reformpolitischen Bellizismus der Befreiungskrieglyrik. In: Kunisch, Johannes/Münkler, Herfried (Hg.): Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution. Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Berlin 1999 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft 110), 285–325. Białek, Edward: Theodor Körners Riesengebirgsgedichte. In: Pacholski/Białek (Hg.): „Über allen Gipfeln...“, 371–381. v. d. Felde, Alfred: Theodor Körner im Riesengebirge. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 51 vom 1. August 1886, 10–13, Nr. 52 vom 1. Oktober 1886, 11–13; Hoffmann, Adalbert: Theodor Körners Kollektaneenbuch zur Riesengebirgsreise. Ebd., Nr. 189 vom 1. Juli 1898, 102–104, Nr. 190 vom 1. August 1898, 116–118; ders.: Zu Theodor Körner Aufenthalt im Riesengebirge. Ebd., Nr. 218 vom 1. Dezember 1900, 169–172; Schubert, Heinrich: Theodor Körners zweiter
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Geburtstag wurde 1891 vom Riesengebirgsverein offiziell begangen,85 der zudem die Initiative für die Aufstellung eines Körner-Denkmals ergriff, das im Frühsommer 1897 auf dem knapp 600 Meter hohen Kynast feierlich eingeweiht wurde.86 Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, wollte man die geschilderte thematische Schwerpunktsetzung im Bereich der Befreiungskriege allein auf bestehende Querverbindungen der Ereignisse von 1806 bis 1813 zur Riesengebirgsregion zurückführen. Zu berücksichtigen ist vielmehr der Umstand, dass die Macher des Wanderer[s] das Riesengebirge nicht nur als geographische, sondern auch als historisch-kulturelle Einheit begriffen und den böhmisch-österreichischen Teil der Region bei ihrer Themensetzung stets mit einbezogen – seit Anfang 1899 auch ganz offiziell in Form eines beiderseitig zuständigen Vereinsorgans. In ihrem Charakter als deutschnationaler Gründungsmythos, der zudem gegen einen von Preußen und Österreich gemeinsam bezwungenen äußeren Feind gerichtet war, waren die Befreiungskriege als historisches Narrativ für das Publikum auf beiden Seiten des Riesengebirgskamms kompatibel – ganz im Gegensatz zu den vorrangig gegen Habsburg geführten Schlesischen Kriegen Friedrichs II. oder erst recht den Einigungskriegen, in deren Konsequenz Österreich 1866, sehr zum Unmut eines großen Teils seiner deutschsprachigen Bevölkerung, aus der deutschen Nationalgeschichte faktisch ausgeschieden war.
V. Die Zäsur des August 1914 sorgte dafür, dass das Phänomen Krieg im Wanderer von nun an auf ganz andere Weise reflektiert wurde als zuvor87 – der Bezug zur Gegenwart begann die historischen Reminiszenzen zu überlagern. Nach Ende des Ersten Weltkriegs konnten der Verein und mit ihm seine populäre Zeitschrift zwar noch einmal an die Blütezeit der Vorkriegszeit anknüpfen, doch ließ sich der hohe inhaltliche Anspruch auf Dauer nicht mehr in die Realität umsetzen. In den 1930er Jahren und insbesondere
und dritter Aufenthalt in Schlesien. Ebd., Nr. 243 vom 1. Januar 1903, 7–10, Nr. 244 vom 1. Februar 1903, 19–22, Nr. 245 vom 1. März 1903, 37–39; Paeschke, P.: Theodor Körner, der Tyrtäus des deutschen Befreiungskampfes. Ebd., Nr. 365 vom 1. März 1913, 36–39, Nr. 366 vom 1. April 1913, 53–57. 85 Heinzel, Max: Zur Feier des 100jährigen Geburtstages Theodor Körners (Gedichttext). In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 109 vom 1. November 1891, 125f.; Körber: Eine Körnerfeier des R.-G.-V. Ebd., 147f. Die genannte Feier fand in den Ortschaften Rogau und Zobten statt, wo das Lützowsche Freikorps im Frühjahr 1813 ausgehoben und feierlich eingesegnet worden war. 86 ����������������������������������������������������������������������������������������� Baer, [Oswald]: Gedicht zur Einweihung des Körner-Denkmals. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 177 vom 1. Juli 1897, 98; Enthüllungs-Feier des Körner-Denkmals auf dem Kynast. Ebd., 110f. 87 Vgl. exemplarisch Rosenberg, [Emil]: Vom Kriege und dem klassischen Altertum, Schlesien und dem Riesengebirgsverein. In: Der Wanderer im Riesengebirge Nr. 386 vom 1. Dezember 1914, 161–164.
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nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland wurde der Wanderer zu dem, was er – gemäß den eingangs zitierten Worten Emil Rosenbergs – unter keinen Umständen hatte werden wollen: einem ganz gewöhnlichen Mitteilungsorgan.88 Der militärische Zusammenbruch des Dritten Reichs, die Westverschiebung Polens sowie Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung Schlesiens beendeten 1945 die Existenz des Riesengebirgsvereins an seinem Hauptsitz Hirschberg, nicht jedoch die in seinem Namen 65 Jahre zuvor begonnene Tradition. Unter der Patenschaft des Schwäbischen Albvereins wurde der Riesengebirgsverein anlässlich des zweiten „Deutschen Wandertages“ im August 1951 förmlich rekonstituiert; seinen Vereinssitz hat er heute in Düsseldorf. Da das Riesengebirge als Bezugspunkt und Betreuungsregion seit Kriegsende entfallen ist, wird in der Gegenwart freilich eine überregionale Ausrichtung verfolgt.89 Auch der Wanderer – heute unter dem abgewandelten Titel Der Wanderer im Riesengebirgsverein e. V. – erscheint weiterhin, wenngleich in lediglich drei vierseitigen Online-Ausgaben pro Jahr.90 In der Gesamtschau tritt die zentrale Rolle der Zeitschrift Der Wanderer im Riesengebirge bei der Verbreitung und Popularisierung historischer Schlüsselmotive in Schlesien vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs deutlich zutage, ohne dass das Blatt dabei je den Charakter einer wirklichen wissenschaftlichen Fachzeitschrift angenommen hätte. Hauptziel war und blieb die Förderung des Massentourismus, dies jedoch eingebettet in eine geschichtspolitische Agenda, die letztlich auf eine nationale Aneignung der Riesengebirgslandschaft abzielte.91 Die mikrohistorische Perspektive, die die große Mehrheit der historischen Beiträge im Wanderer auszeichnete, erwies sich dabei als durchaus kompatibel mit den übergeordneten nationalgeschichtlichen Narrativen der wilhelminischen Ära.92
88 Szczepański: Towarzystwo Karkonoskie, 81f. 89 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Die offizielle Homepage des Vereins blendet die unmittelbare Nachkriegsgeschichte leider weitgehend aus: http://www.riesengebirgsverein.de/willkommen.html [15. August 2016]; vgl. Imm, Emil: Wandern, Wandervereine, Wanderverband. In: ders. (Bearb.): 75 Jahre Dienst an der Heimat 1883–1958. Stuttgart 1958, 9–73, hier 25–31, der den deutschen Wandervereinen und ihren Zeitschriften – unter ausdrücklicher Einbeziehung auch des ,exilierten‘ Riesengebirgsvereins – eine wichtige Rolle bei der „Pflege des Heimatgedankens“ zumisst. 90 Die letzten acht Jahrgänge (2009–2016) sind online abrufbar unter: http://www.riesengebirgsverein.de/der-wanderer/2016.html [15. August 2016]. 91 Hartwich: Das schlesische Riesengebirge, 36–44. 92 ������������������������������������������������������������������������������������������ Kunz, Georg: Verortete Geschichte. Regionales Geschichtsbewußtsein in den deutschen Historischen Vereinen des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2000 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 138), 22.
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Geschichtspflege im Breslauer Universitätsmuseum und in anderen Museen Schlesiens vor dem Ersten Weltkrieg I. Das Museum ist eine jener Einrichtungen, die gemäß ihren Grundsätzen die Geschichte pflegen und der aufklärerischen Leitidee „Vergangenheit der Zukunft“ entstammen,1 der zufolge es alte und – abhängig von seinem jeweiligen Profil in künstlerischer, historischer oder naturwissenschaftlicher Hinsicht – wertvolle Objekte sammelt und kontextualisiert. Ein Objekt wird zum Zeitpunkt seiner Aufnahme in eine museale Sammlung zum historischen Zeugnis, unabhängig von der Frage, welchen funktionell-sachlichen Typus es verkörpert, ob es also zum Beispiel dem Bereich der Kunstgeschichte (Kunstmuseen), der Wissenschaftsgeschichte (u. a. Universitätsmuseen) oder der Naturgeschichte (naturkundliche Museen) zugehört.2 Ein Museum strebt die Erhaltung alter Objekte an, indem es diese sammelt und konserviert, sie zu ordnen und zu klassifizieren versucht und sie darüber hinaus der Öffentlichkeit, üblicherweise in Form von Ausstellungen und Veröffentlichungen, zugänglich macht. Dieses bereits in der Aufklärungszeit entstandene Modell der Musealisierung wurde im 20. Jahrhundert hauptsächlich auf dem Feld der Präsentationsformen fortentwickelt;3 der Kerngedanke der in der Aufklärungszeit formulierten Idee des Museums bleibt jedoch unverändert. Der Forschungsstand zur Geschichtspflege in den schlesischen Museen fällt bescheiden aus, da Spezialuntersuchungen zu dieser Problematik, die sich auf das Oderland als Ganzes beziehen, bislang fehlen. Vereinzelte Informationen können jedoch in Veröffentlichungen zu verwandten Themen, die hauptsächlich in den letzten zwei Jahrzehnten entstanden sind, gefunden werden. Besonderes Augenmerk verdienen darunter der 1998 durch Breslauer Museumswissenschaftler herausgegebene Sammelband Kunstmuseen im alten Breslau4 sowie die 2014 von Klaus Garber veröffentlichte kulturwissen-
1 Die Formulierung „Vergangenheit der Zukunft“ findet sich am Vordergiebel des ersten polnischen Museums, das Fürstin Izabela Czartoryska geb. Flemming (1746–1835) im Jahr 1801 in Puławy gegründet hatte und das in der Fachliteratur als „Sybillas Tempel“ bezeichnet wird. 2 Zur Typologie und Klassifikation von Museen vgl. Żygulski jr., Zdzisław: Muzea na świecie. Wstęp do muzealnictwa. Warszawa 1982, 81–106. 3 Zu neuen Formen und Mitteln der Präsentation musealischer Sammlungen vgl. Woźniak, Michał F./ Rosset, Tomasz F. de/Ślusarczyk, Wojciech (Hg.): Historia w muzeum. Bydgoszcz 2013 (Muzeum. Formy i środki prezentacji 1); Woźniak, Michał F./Zdanowski, Marcin (Hg.): Technika i nauka w muzeum. Bydgoszcz 2014 (Muzeum. Formy i środki prezentacji 2). 4 Łukaszewicz, Piotr (Hg.): Kunstmuseen im alten Breslau. Wrocław 1998.
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schaftliche Studie Das alte Breslau.5 Wertvolle Informationen zur Errichtung von Museen in der niederschlesischen Hauptstadt waren zudem aus Quellen zu gewinnen, die in den öffentlichen Sammlungen der Universitätsbibliothek Breslau, des dortigen Staatsarchivs, des Nationalmuseums sowie des Stadtmuseums (Abteilung Archäologisches Museum) aufbewahrt werden. Es handelt sich hierbei um Museumsinventare, Vereins- und Museumsberichte sowie umfangreiche Briefwechsel. Zahlreiche auf den lokalen Rahmen bezogene Veröffentlichungen, die die in den einzelnen schlesischen Städten gegründeten Museen berücksichtigen, lassen schließlich wertvolle Rückschlüsse auf das Phänomen der musealen Geschichtspflege in Schlesien während des 19. Jahrhunderts insgesamt zu. Bevor erste Museen gegründet wurden, existierten in der Kulturlandschaft Schlesiens spätestens seit dem 16. Jahrhundert fürstliche und patrizische Sammlungen von Kunstwerken, Münzen, Naturalien und Kuriositäten, die im Umfeld von Bibliotheken entstanden waren. Zu den berühmtesten von ihnen gehörte die 1581 nach Breslau gebrachte Privatsammlung des Patriziers Thomas Rhediger (1540–1576), mit der die 1661 eröffnete Galerie an der St. Elisabethkirche in Breslau ihren Anfang fand. Dank zahlreicher Schenkungen und Vermächtnisse konnte die Rhedigerana – so nannte man die Bibliothek nebst angeschlossener Kunstkammer – 1794 eine imposante, auf 15.000 Objekte geschätzte Sammlung von Büchern und Stichen vorweisen.6 Das zweitgrößte Kunstkabinett in Breslau, das durch seine seit 1584 bestehende Bildersammlung hervorstach, befand sich an der Kirche St. Maria Magdalena. Nur bescheidene Bestände an alten Objekten hütete die Bibliothek an der Kirche St. Bernhardin. Obwohl die genannten drei Bibliotheken zweimal pro Woche für jeweils zwei Stunden geöffnet hatten, waren die Sammlungen der Öffentlichkeit nur eingeschränkt zugänglich, da sich die Kunstsammlungen meistens im Lager befanden und in Ermangelung entsprechender Räumlichkeiten nicht präsentiert werden konnten. Gezeigt wurden sie „auf Verlangen und nach Umständen“.7 Keine der drei Bibliotheken verfolgte eine festgelegte Sammelstrategie; sie bezogen die Objekte für ihre Sammlungen also nicht über gezielte Einkäufe, sondern durch Schenkungen und Vermächtnisse, die sie zumeist von reichen Patriziern erhielten.8 5 Garber, Klaus: Das alte Breslau. Kulturgeschichte einer geistigen Metropole. Köln/Weimar/Wien 2014 (dort besonders die Kapitel „Zentrum des verschriftlichten Wortes. Drucker und Sammler, Bibliotheken und Archive“, 178–240, und „Alteuropäisches Erbe und Wege in die Moderne. Gelehrte Organe und Vereine, Akademien, Museen und Galerien“, 376–443). 6 Houszka, Ewa: Vorgeschichte der Breslauer Museen. In: Łukaszewicz (Hg.): Kunstmuseen, 11–24, hier 13, 16. 7 Eine Ausnahme in dieser Hinsicht war die Bildersammlung des Magdaleneum, die man seit 1768 jeden Sonnabend zwei Stunden lang besichtigen konnte. Hervorzuheben ist jedoch, dass eine Bestimmung im Vertrag über die Übergabe von Gemälden aus der Sammlung von Albrecht Saebisch (1610–1688) und Ernst Wilhelm Hubrig (1712–1787) das Magdaleneum dazu verpflichtete, die Sammlung regelmäßig der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Vgl. Houszka: Vorgeschichte der Breslauer Museen, 11, 20–22. 8 ������������������������������������������������������������������������������������������ Auch hier bildete eine 1731 vom Magdaleneum aus einem kirchlichen Fonds getätigte Anschaffung eine Ausnahme: 1.000 Bücher und 50 Bände mit Stichen aus der Hinterlassenschaft von Ernst Benjamin von Löwenstädt (†1729). Ebd., 19.
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In der Konservierung von Privatsammlungen auch im Hinblick auf künftige Generationen zeigt sich ein besonders personenbezogener Ausdruck von Geschichtspflege, der nicht zuletzt durch das aus dem neuzeitlichen ‚Kult des Individuums‘ erwachsene Bedürfnis, die jeweiligen Stifter in Erinnerung zu behalten, geprägt wurde.
II. Die bewusste Profilierung, Katalogisierung und regelmäßige Ausstellung öffentlicher Sammlungen in Schlesien begann 1802 in Teschen, als der Pfarrer Leopold Jan Szersznik (1747–1814) – ein in Olmütz, Prag, Brünn und Bresnitz ausgebildeter Jesuit, der 1776 nach der Auflösung des Ordens in seine Heimatstadt zurückgekehrt war, um am dortigen Gymnasium das Lehramt anzutreten – ein Museum gründete. Im Geist moderner Aufklärungsideen stellte er seine naturgeschichtlichen Sammlungen sowohl spezialisierten Forschern als auch Schülern an Teschener Bildungseinrichtungen für wissenschaftliche und didaktische Zwecke zur Verfügung. Szersznik, der seine Sammlung sorgfältig katalogisierte und regelmäßig zugänglich machte, etablierte auf diese Weise zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine geradezu bahnbrechende Einrichtung in der Kulturlandschaft Schlesiens. Innerhalb der heutigen polnischen Staatsgrenzen stellt diese Sammlung, deren Erbe das Museum für Österreichisch-Schlesien (Muzeum Śląska Cieszyńskiego) angetreten hat, nach dem Museum der Fürstin Izabela Czartoryska in Puławy das zweitälteste Museum dar. Szerszniks Museum ergänzte die von ihm gegründete Bibliothek, die 1814 bereits 12.000 Bände umfasst hatte, darunter Altdrucke und Inkunabeln, die heute in den Sammlungen der Teschener Bibliothek (Książnica Cieszyńska) enthalten sind. So entstand dank der Initiative eines einzelnen Geistlichen in einer vergleichsweise peripher gelegenen Provinzstadt der Habsburgermonarchie eine wichtige Kultur- und Bildungseinrichtung von überregionaler Bedeutung. Das Museum in Teschen inspirierte zweifelsohne auch die Gründung eines weiteren öffentlichen Museums in Schlesien, das 1814 im nahegelegenen Troppau entstand. Die Anregung für die Gründung des Österreichisch-Schlesischen Provinzialmuseums kam von dem örtlichen Bürgermeister Johann Josef Schößler (1761–1834), dem Botaniker und Mineralogen Franz Mückusch von Buchberg (1749–1837) sowie dem Professor für Geschichte und Erdkunde am Troppauer Gymnasium, Faustin Ens (1782–1858). Da es sich um eine sowohl naturwissenschaftlich als auch didaktisch orientierte Einrichtung handelte, wurde das Museum 1818 in Troppauer Gymnasialmuseum umbenannt. Die Ausstellungsstücke stammten aus Schenkungen und Einkäufen; die Einrichtung des Museums – an dem wenig später auch eine Bibliothek entstand – wurde durch Troppauer Bürger und Adelige aus ganz Schlesien großzügig unterstützt.9
9 Zu den beiden Museen in Teschen und Troppau vgl. den Beitrag von Marie Gawrecká in diesem Band.
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III. Nach den Initiativen im österreichisch-schlesischen Museumswesen reihte sich auch die schlesische Kapitale unter jene Städte ein, die ein öffentliches Museum vorweisen konnten. 1815 eröffnete man eine Gemäldegalerie an der Breslauer Universität. Die Ausstellung wurde im Gebäude der Universitätsbibliothek auf dem Sande präsentiert, in dem früher die Augustiner Chorherren zu Hause gewesen waren (Abb. 1). Das Gebäude musste, ähnlich wie andere Klosterobjekte in Schlesien, infolge des Edikts König Friedrich Wilhelms III. von Preußen über die Aufhebung der schlesischen Stifte und Klöster vom 30. Oktober 1810 geschlossen werden. Ein Jahr später wurde durch die Vereinigung der Frankfurter Viadrina mit der Breslauer Leopoldina die staatliche Universität in Breslau gegründet. Neben den Relikten der beiden Vorgängeruniversitäten wurden die Bestände der neuen Alma Mater um ausgewählte ehemalige Klostergüter und eingezogene bewegliche Sammlungen erweitert.10 Die erste Gemäldegalerie an der Universität umfasste einige hundert Bilder aus aufgehobenen Klöstern.11 Eine Schlüsselrolle bei der Festlegung ihres Profils spielte der Säkularisierungskommissar Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783–1829),12 der für die Auswahl der Bilder zuständig war. Büsching kam nach Breslau, nachdem er den preußischen Staatskanzler Karl August von Hardenberg (1750–1822) für seinen Plan, 10 Bończuk-Dawidziuk, Urszula/Jezierska, Anna: Wykaz klasztorów i kolegiat mających zostać objętych edyktem sekularyzacyjnym z 30 X 1810 r. w tzw. Aktach Büschinga ze zbiorów Biblioteki Uniwersyteckiej we Wrocławiu. In: Derwich, Marek (Hg.): Kasaty klasztorne na obszarze dawnej Rzeczypospolitej Obojga Narodów i na Śląsku na tle procesów sekularyzacyjnych w Europie (XVIII–XX w.), Bd. 2: Źródła do dziejów kasat klasztornych i losy źródeł po skasowanych klasztorach. Wrocław 2014, 65–86; Bończuk-Dawidziuk, Urszula/Jezierska, Anna/Wojtyła, Arkadiusz: Wykaz zawartości Akt Büschinga z lat 1810–1812 ze zbiorów Biblioteki Uniwersyteckiej we Wrocławiu. In: Hereditas Monasteriorum 3 (2014) 241–300. 11 Bis zum 22. März 1821 umfasste das Inventar der Galerie 539 Bilder in fünf Zimmern, einem Korridor und drei Stuben, ab dem 19. Oktober 1821 nur noch 227 Gemälde in fünf Zimmern, einem Korridor und einer Stube. Vgl. Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławiu, Oddział Rękopisów, Sygn. Akc. 1948/862, 31v–59v: Verzeichnis der Gemälde-Sammlung im UniversitätsBibliothek-Gebäude zu Breslau, 22. März 1821; 60v–75v: Nachweisung der zu behaltenden Gemälde in der Gemälde-Sammlung in dem Universitäts-Bibliothek-Gebäude zu Breslau, 19. Oktober 1821. Beide Inventare wurden transliteriert, vgl. Bończuk-Dawidziuk, Urszula/Wojtyła, Arkadiusz: Rękopiśmienne wykazy malarstwa i grafiki zebrane przez J. G. G. Büschinga i przechowywane w Bibliotece Uniwersyteckiej we Wrocławiu. In: Hereditas Monasteriorum 8 (2016) [im Druck]. In der Galerie wurden im Jahr 1825 insgesamt 213 Bilder ausgestellt. Vgl. Knie, Johann Georg/Melcher, J. M. L.: Geographische Beschreibung von Schlesien preußischen Antheils, der Grafschaft Glatz und der preußischen Markgraffschaft Ober-Lausitz, Bd. 1: Beschreibung von Breslau der Hauptstadt des Herzogthums Schlesien. Breslau 1825, 758. 12 Hałub, Marek: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829. Ein Beitrag zur Begründung der schlesischen Kulturgeschichte. Wrocław 1997 (Acta Universitatis Wratislaviensis 1978); Kinne, Johanna: Die klassische Archäologie und ihre Professoren an der Universität Breslau im 19. Jahrhundert. Eine Dokumentation. Dresden 2010, 20–41.
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Abb. 1. Das Gebäude der Universitätsbibliothek und des Königlichen Museums für Kunst und Altertümer auf dem Sande in Breslau (ehemaliges Augustinerkloster), Postkarte, vor 1945. Bildnachweis: Muzeum Uniwersytetu Wrocławskiego, Inv.-Nr. MUWr-988.
ehemalige Klostersammlungen in einer zentralen Bibliothek, einem Archiv und einem Museum an der Universität zusammenzutragen, gewonnen hatte. Auf Grundlage seines Wissens und seines persönlichen Geschmacks sowie nach Rücksprache mit verschiedenen Breslauer Fachleuten, darunter dem Professor und Direktor der Kunst- und Bauschule Carl Daniel Friedrich Bach (1756–1829) sowie dem Autor, Herausgeber und Lehrer an der Kriegsschule Johann Gottlieb Rhode (1762–1827), gründete Büsching eine Gemäldegalerie, die in drei Hauptthemenbereiche aufgeteilt war:13 1. Malerei des Mittelalters und der Renaissance aus Schlesien und den Nachbarländern, z. B. ein Tafelbild aus der Mitte des 15. Jahrhunderts mit dem Titel „Gottesmutter mit Kind“ aus dem Breslauer Klarissenkloster, heute im Besitz des Nationalmuseums in Breslau (Muzeum Narodowe we Wrocławiu, Inv.-Nr. XI-229); das Porträt des Abtes der Breslauer Kreuzherren mit dem Roten Stern, Bartholomäus Mandel (1531–1582), heute im Besitz des Nationalmuseums in Warschau (Muzeum Narodowe w Warszawie, Inv.Nr. M.ob.2528); die „Beweinung Christi“ aus der Werkstatt von Lucas Cranach d. Ä. (1472–1553), heute im Besitz des Nationalmuseums in Breslau (Inv. Nr. VIII-2663). 2. Europäische Malerei, vor allem flämischen, französischen, italienischen, deutschen und österreichischen Ursprungs: z. B. Landschaften von Anton Faistenberger (1663– 13 ������������������������������������������������������������������������������������������ Das Projekt der Breslauer Gemäldegalerie wurde von Büsching schon 1812 öffentlich angekündigt. Vgl. Büsching, Johann Gustav Gottlieb: Nachricht von der Breslauer Gemähldesammlung. Ein Beytrag zur schlesischen Kunstgeschichte. In: Deutsches Museum 2 (1812) 39–59.
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1708), Tiermalerei von Johann Heinrich Roos (1631–1685) sowie niederländische Porträts der Barockzeit. 3. Werke Michael Lucas Leopold Willmanns (1630–1706), des Meisters der Barockzeit, auch „schlesischer Rembrandt“ genannt: unter anderem ein Porträt des Abtes Arnold Freiberger (1589–1672) aus Leubus, heute in den Sammlungen des Nationalmuseums in Breslau (Inv.-Nr. VIII-2656) sowie hervorragende Landschaften aus dem Refektorium des Palastes des Leubuser Abtes, zum Beispiel die „Weltschöpfung“ aus dem Jahr 1668 sowie die „Landschaft mit Johannes dem Täufer“ von 1656, heute im Besitz des Nationalmuseums in Warschau (Inv.-Nr. M.ob.1037, 1041), ferner die Vorstellungen der Heiligen wie „Tod und Apotheose des heiligen Wenzel“, heute im Besitz des Nationalmuseums in Breslau (Inv. Nr. VIII-2325). Die säkularisierten Sammlungen ergänzte Büsching durch ausgewählte Gemälde aus Kirchen, öffentlichen Gebäuden und privaten Sammlungen, die er per Tauschgeschäft erwerben konnte. So offerierte er beispielsweise die zahlreichen Prälatenporträts aus den aufgehobenen Klöstern im Tausch gegen die Willmannsmalerei. Die Gemälde für die Galerie wählte Büsching, wie vorstehend schon angedeutet, persönlich aus.14 Sein Ziel war es, eine repräsentative Gemäldeausstellung zu errichten, die gleichzeitig Züge einer Lehrausstellung besitzen sollte.15 Im Erdgeschoss sowie im ersten Stock des Hauptgebäudes der Universitätsbibliothek installiert,16 richtete sie sich hauptsächlich an Studenten, denen die Bilder während der Lehrveranstaltungen gezeigt wurden. Darüber hinaus war die Ausstellung jeden Donnerstag von 14:00 Uhr bis 16:00 Uhr für Besucher geöffnet. Interessierte Künstler durften die präsentierten Bilder gegen eine Gebühr kopieren.17 In den von ihm ausgewählten Gemälden sah Büsching ein kulturelles Erbe der deutschen Nation, das der Idee des modernen Museumswesens entsprechend gesichert – gesammelt, gepflegt, beschrieben und veröffentlicht – werden müsse. Für all diese Etappen der Museumsarbeit benötigte er zusätzliche Finanzmittel. Aus diesem Grund beantragte er beim Ministerium eine Zuwendung für die Ergänzung der Sammlung um Werke zeitgenössischer schlesischer Maler, die die Kontinuität innerhalb des 14 Garber: Das alte Breslau, 429f. 15 Bończuk-Dawidziuk, Urszula: Wkład Johanna Gustava Gottlieba Büschinga (1783–1829) w tworzenie bazy materialnej i koncepcji naukowo-dydaktycznej Uniwersytetu Wrocławskiego. In: Harasimowicz, Jan (Hg.): Księga Pamiątkowa Jubileuszu 200-lecia utworzenia Państwowego Uniwersytetu we Wrocławiu, Bd. 4: Uniwersytet Wrocławski w kulturze europejskiej XIX i XX wieku. Wrocław 2015 (Acta Universitatis Wratislaviensis 3527), 57–67. 16 Vgl. Anm. 11. 17 ������������������������������������������������������������������������������������������ Passow, Franz (Hg.): Verzeichniß der antiken und modernen Bildwerke in Gyps auf dem Akademischen Museum für Alterthum und Kunst in Breslau. Breslau 1832, 3. Prittwitz und Bandurska geben abweichende Öffnungszeiten der Galerie an (14:00–17:00 Uhr): Prittwitz, Bernhard von: Die Gemälde in der Ständehausgalerie, welche dem Kgl. Kunst- und Antikenkabinet angehören. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift 3 (1881) 201–224, hier 214; Bandurska, Zofia: Königliches Museum für Kunst und Altertümer. In: Łukaszewicz (Hg.): Kunstmuseen, 27–36, hier 29.
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Schaffens schlesischer Künstler beweisen und gleichzeitig als nachahmenswertes Vorbild für Nachwuchsmaler dienen sollten. Seine Anstrengungen zeitigten jedoch keine zufriedenstellenden Ergebnisse: Auf Beschluss des Ministeriums beschränkte sich die staatliche Finanzierung der Gemäldegalerie vornehmlich auf Konservierungsarbeiten.18 Die Galerie wurde 1818 zum ersten öffentlichen Museum in Breslau erhoben und erhielt den Namen „Königliches Museum für Kunst und Altertümer“.19 Neben Werken aus der Malerei enthielt es andere aus den Klostergütern übernommene Kunstwerke, die seit dem 6. Dezember 1814 offiziell „Altertümer“ genannt wurden und sowohl archäologische Objekte als auch Archivalien, Münzen, Ausrüstungsgegenstände, Figuren und Gipsabgüsse umfassten.20 Für die Sammlung des Königlichen Museums für Kunst und Altertümer erwarb Büsching mehrere urgeschichtliche Objekte. Im Sinn seiner Forderung, „daß auch dieses Land [Schlesien] nicht hinter den andern deutschen Ländern zurück bleibe, um so mehr, [da] in ihm so viel vorhanden [sei], so viel zur Wiedererweckung und Bekanntmachung geboten werde“,21 rief er in der lokalen Presse dazu auf, weitere auf schlesischem Gebiet entdeckte archäologische Objekte der Sammlung des Museums zu übergeben.22 Diese an das Heimatgefühl appellierende Botschaft fiel auf fruchtbaren Boden, so dass sich der Bestand des Museums rasch um Hunderte von urgeschichtlichen Keramik-, Metall- und Steinobjekten erweiterte.23 Eingedenk des Lehrcharakters der Universitätssammlung, bestellte Büsching auch Gipsabgüsse antiker Skulpturen, deren Bestand nach seinem Tod noch erweitert wurde und 1877 mit über 400 Objekten zu den um18 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Sign. I. HA, Rep. 76, Kultusministerium, Abt. Va, Sekt. 4, Tit. X, Nr 18, Bd. 1 (unpag.): Brief der Akademischen Organisierungs Comission an das Ministerium, Breslau, 18. April 1812, und Antwort aus Berlin, 3. Mai 1812. 19 Bończuk-Dawidziuk, Urszula: Zbiory malarstwa, rzeźb i grafiki zgromadzone przy wrocławskim uniwersytecie po sekularyzacji klasztorów w 1810 roku. In: Derwich, Marek (Hg.): Kasaty klasztorne na obszarze dawnej Rzeczypospolitej Obojga Narodów i na Śląsku na tle procesów sekularyzacyjnych w Europie (XVIII–XX w.), Bd. 3: Źródła do dziejów kasat klasztornych i losy źródeł po skasowanych klasztorach. Wrocław 2014, 277–291. 20 Kinne: Die klassische Archäologie, 38. 21 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Büchler, Johann Lambert: Anzeige des, von dem Professor Büsching in Breßlau gestifteten, Schlesischen Vereins zur Unterstützung der Herausgabe einer Sammlung altdeutscher Denkmale der Geschichte und Kunst. In: Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 1 (1820) 161–168, hier 164. 22 ������������������������������������������������������������������������������������������ Merckel, Theodor von/Büsching, Johann Gustav Gottlieb: Verfügung, die Erhaltung und Aufbewahrung der Schlesischen Alterthümer betreffend. Einladung an Besitzer Schlesischer und anderer Altherthümer, solche der bei der akademischen Bildergalerie befindlichen Sammlung zu überlassen. In: Schlesische Provinzialblätter 68 (1818) 101–108. 23 Zu Anzahl und Typologie der Denkmäler vgl. Demidziuk, Krzysztof: Ochrona zabytków archeologicznych na Śląsku w XIX wieku na przykładzie ośrodka wrocławskiego. In: Silesia Antiqua 46 (2010) 201–216, hier 202f.; Bończuk-Dawidziuk, Urszula/Palica, Magdalena: Zbiory dzieł sztuki. In: Harasimowicz, Jan (Hg.): Księga Pamiątkowa Jubileuszu 200-lecia utworzenia Państwowego Uniwersytetu we Wrocławiu, Bd. 2: Universitas litterarum Wratislaviensis 1811–1945. Wrocław 2013 (Acta Universitatis Wratislaviensis 3363), 528–545, hier 530.
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fangreichsten Sammlungen von Gipsabgüssen an einer deutschen Universität gehörte. Zum Vergleich: In demselben Jahr verfügte das Münchener Museum gerade einmal über 302 Gipsabgüsse.24 Im Königlichen Museum für Kunst und Altertümer fanden zu Büschings Zeiten zudem Vorlesungen und Seminare zu den historischen Hilfswissenschaften statt – im Einzelnen zur Geschichte deutscher Altertümer (unter Berücksichtigung antiker Sammlungen), zur Geschichte der deutschen mittelalterlichen Kunst und Architektur sowie zur Geschichte des deutschen Rittertums. Ferner wurden Vorlesungen zu volkskundlichen Themen gehalten, etwa zur Festkultur oder zu Traditionen und Bräuchen, wie sie sich seit der Einführung des Christentums etabliert hatten. Als Museumsleiter betonte Büsching hierbei stets die eigene, deutsche Perspektive. Kennzeichnend hierfür war etwa, dass er den Begriff ‚Gotik‘ in Bezug auf die hoch- und spätmittelalterliche Architektur vermied und ihn durch die Bezeichnung ‚altdeutsche Baukunst‘ ersetzte, womit er an die romantische Wahrnehmung der Gotik als eine Kunstform ,germanischer‘ Herkunft anknüpfte. Büsching begründete diese Ansicht mit der architektonischen Eigenständigkeit der Gotik im Verhältnis zur griechischen und römischen Kunst sowie mit der Blüte Deutschlands im Mittelalter, die gegenüber anderen Epochen unvergleichlich sei.25 Eine solche Wahrnehmung der Gotik war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kein Einzelfall. Nach der Niederlage Preußens im Jahr 1806 entwickelte die bürgerliche deutsche Gesellschaft im Zuge der Befreiungskriege das Bedürfnis nach einer nationalen Identität, die sie unter anderem in der Kunst zu finden suchte. Büschings patriotisch geprägte Rezeption der Gotik muss sich in seinen Lehrveranstaltungen großer Beliebtheit erfreut haben, da er in seinen Veranstaltungen eine stetig wachsende Zahl von Studenten verzeichnen konnte.26 Das Motiv der Heimatliebe in Büschings Forschungsund Lehrkonzept fand auch auf anderen Feldern seinen Ausdruck. Sein Leitgedanke war es, das Kulturerbe früherer Generationen vor der Vernichtung zu sichten, zu bewahren, zu katalogisieren und der Öffentlichkeit schließlich zugänglich zu machen. Kunstwerke, Archivalien und archäologische Objekte galten ihm dabei als Zeugnisse deutscher Kultur; das Bewusstsein für deren historischen Eigenwert zu erwecken, war ihm entsprechend ein Ziel von patriotisch-vaterländischer Dimension. Unter methodologischen Gesichtspunkten war ein Museumsobjekt für Büsching ein Erkenntnisgegenstand, eine historische Quelle, weshalb er sich eher auf kognitive Forschung denn auf kritische Analyse konzentrierte. Statt auf theoretische Reflexionen stützte er sich in seinen Veranstaltungen vor allem auf Bilddarstellungen.27 24 Rossbach, August: Das Archeologische Museum an der Universität zu Breslau. Breslau 1877; Kurzes Verzeichnis des Museums von Gypsabgüssen klassischer Bildwerke in München. München 1877. 25 Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching, 65–67, 140. 26 Ebd., 64f. 27 Ebd., 64.
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Diesem Ansatz entsprechend, zeigte Büsching in seiner Vorlesung zur deutschen Kunst des Mittelalters im Wintersemester 1818/19 Kupferstiche und Zeichnungen.28 In Lehrveranstaltungen zur Paläographie (Diplomatik) animierte er zur Lektüre mittelalterlicher Handschriften, im Sphragistik- und Heraldik-Seminar empfahl er die Analyse von Siegeln. All dies untermauerte er durch fundierte Kenntnisse der Quellen und der im Gebäude der Universitätsbibliothek gesammelten Kulturgüter, die er systematisch katalogisierte. Die erhaltenen Inventare archäologischer Objekte entsprechen durchaus heutigen Katalogisierungsnormen.29 Beim Eintrag eines Artefakts in das Inventar gab Büsching die Objektdaten nach modernen Standards an: Bezeichnung, Material, Abmessungen, Form, Zeichnung, Fundort und Name des Spenders. Die im Inventar vergebenen Nummern wurden mit roter Farbe auf dem Objekt angebracht. Die aus den Universitätssammlungen überlieferten Objekte lassen sich daher heute eindeutig als solche identifizieren: Werkzeuge aus der Jungsteinzeit,30 bronzene Armbänder aus der früheren Eisenzeit,31 ein vasenförmiges Gefäß aus der Lausitzer Kultur,32 eiserne Rüstungselemente aus der Przeworsk-Kultur33 sowie Schmuck und Werkzeug aus der Zeit römischer Einflüsse.34 Angesichts der innovativen Themenauswahl in seinen Lehrveranstaltungen kann Büsching in der europäischen Wissenschaftstradition als der erste Lehrstuhlinhaber für urgeschichtliche Archäologie gelten.35 Da er diese Forschungen unter Einsatz von Objekten aus dem Königlichen Museum für Kunst und Altertümer vorantrieb, muss an dieser Stelle die Rolle der königlichen Sammlungen bei der Entwicklung von Wissenschafts- und Lehrkonzepten an der neu gegründeten Universität Breslau betont werden. Da Büsching seine Nachfolge unbestimmt gelassen hatte, wurde nach seinem Tod die 28 Kinne: Die klassische Archäologie, 36. 29 Sog. Büsching-Katalog „B, C“ und „D, E, X“, Handschrift in den Sammlungen des Stadtmuseums Breslau, Abteilung Archäologisches Museum: Muzeum Miejskie Wrocławia, Oddział Muzeum Archeologiczne, DzDN-AN, Sign. MA/A/145–146. 30 Muzeum Miejskie Wrocławia, Oddział Muzeum Archeologiczne, Steinbeil, Gęsice, Kreis Oława, Inv.-Nr. MAW/I/496; Steinbeil, Wąsosz, Kreis Góra, Inv.-Nr. A/I/3377; Bola aus Quarzit, Chomiąża, Kreis Środa Śl., Inv.-Nr. A/I/3376; Steinaxt, Dänemark, Inv.-Nr. A/I/3378. 31 Ebd., Armringe mit rundlichen Enden, Chróstnik, Kreis Lubin, Inv.-Nr. II/307f. 32 Ebd., Rot gestrichenes vasenförmiges Gefäß mit kürbisförmigem Bauch, Słup, Kreis Środa Śl., Inv.-Nr. A/II1681. 33 Ebd., Schwert, Schildbuckel, Schildfessel, Lanzen- und Pfeilspitzen, die in Schlesien gefunden wurden, Inv.-Nr. A/III/2558-2567. 34 Ebd., Zieraufnäher, Bronzenpinzette, Halsschmuck aus zylinderförmigen Anhängern, Inv.-Nr. A/III/2568-2570. Für die Unterstützung bei der Bestimmung der genannten Objekte bin ich Krzysztof Demidziuk vom Muzeum Miejskie Wrocławia, Oddział Muzeum Archeologiczne, zu Dank verpflichtet. 35 Burdukiewicz, Jan Michał/Demidziuk, Krzysztof/Bończuk-Dawidziuk, Urszula: Profesor Büsching na Uniwersytecie Wrocławskim – początki archeologii akademickiej w Europie. In: Hałub, Marek/Mańko-Matysiak, Anna (Hg.): Śląska republika uczonych – Schlesische Gelehrtenrepublik – Slezská vědecká obec, Bd. 7. Wrocław 2016, 180–206.
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Forschung zu urgeschichtlichen Objekten verworfen. Fortan konzentrierte man sich vornehmlich auf die Erweiterung der Sammlung von Gipsabgüssen antiker Kunst. Anstelle geschichtswissenschaftlicher Lehrveranstaltungen wurden in den Räumlichkeiten des Museums nun vornehmlich Vorlesungen und Seminare zur klassischen Philologie gehalten, während die Gemäldegalerie ihre Tore für das breitere Publikum und für bildende Künstler öffnete. In den 1850er Jahren begann man, den Fundus der Universitätssammlungen um den Bereich der Archäologie zu erweitern. 1853 wurden 82 Bilder an die auf Veranlassung des „Schlesischen Kunstvereins“ entstandene Bildergalerie im Ständehaus übergeben. 1862 übernahm der Verein für das Museum Schlesischer Altertümer weitere Bilder sowie urgeschichtliche und mittelalterliche Objekte, die das Fundament der Sammlung bildeten. Das Universitätsmuseum, dessen Sammlung jetzt nur noch Altertümer, antike Münzen und Gipsabgüsse umfasste, wurde in „Archäologisches Museum an der Universität Breslau“36 umbenannt. Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass ein Jahr später die wertvolle Sammlung des Architekten Eduard Schaubert (1804–1860) in den Bestand aufgenommen wurde.37 Sie umfasste mehr als 300 Antiken, hauptsächlich Keramikgefäße, Bronzeabgüsse sowie architektonische Elemente mit teilweise erhaltener Polychromie, dazu mehr als 1.600 griechische, römische und byzantinische Münzen.38 Die Bedeutung dieser Übertragung wurde 1942 in der Schlesische[n] Volkszeitung gewürdigt: Demnach habe Eduard Schaubert für die Geschichte der Universität „etwa dieselbe Rolle wie Thomas Rhediger für die Stadtbibliothek“39 gespielt.
IV. Da bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Breslau kein weiteres öffentliches Museum entstand, blieb das Museum an der Universität für beinahe vier Jahrzehnte (1815– 1853) die einzige derartige Einrichtung in der schlesischen Hauptstadt. Zwar sammelte die 1809 gegründete „Schlesische Gesellschaft für vaterländische Kultur“ Artefakte für ein künftiges Museum. Da sie jedoch weder über einen festen Sitz noch über ein konkretes Profil hinsichtlich ihrer Sammlung verfügte, beschränkte sie sich ab 1818 auf die Veranstaltung jährlicher Kunst- und Industrieausstellungen, die ab 1846
36 Bończuk-Dawidziuk/Palica: Zbiory dzieł sztuki, 532. 37 Papageorgiou-Venetas, Alexander: Eduard Schaubert 1804–1860. Der städtebauliche Nachlaß zur Planung der Städte Athen und Piräus. Mannheim/Möhnesee 2001 (Peleus 11); Bończuk-Dawidziuk, Urszula: Eduard Schaubert (1804–1860). In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 11. Insingen 2012, 323–332. 38 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Bończuk-Dawidziuk/Palica: Zbiory dzieł sztuki, 532; dies.: Kolekcja zabytków starożytnych architekta Eduarda Schauberta (1804–1860) ze zbiorów dawnego wrocławskiego muzeum uniwersyteckiego. In: Harasimowicz (Hg.): Księga Pamiątkowa, Bd. 4, 231–238. 39 Schlesische Volkszeitung Nr. 142 v. 24. Mai 1942.
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vom „Schlesischen Kunstverein“40 organisiert wurden. Auch die 1853 gegründete Galerie im Ständehaus, die die besten Gemälde aus den Sammlungen der Universität, des Magdaleneums, des „Schlesischen Vereins für vaterländische Kultur“ und letztlich auch Rhedigers an einem Ort zusammenführen sollte, konnte trotz hoher Beliebtheit die Erwartungen der Breslauer nicht erfüllen.41 Defizite in diesem Bereich des kulturellen Lebens wurden vor allem in jenen Kreisen der Gesellschaft registriert, die „auch in der Zeit der Noth noch an Kunst und Wissenschaft“42 dachten und die 1856 beim Breslauer Magistrat um Unterstützung für die „Errichtung eines schlesischen Museums zu Breslau und dernächstiger Ernennung einer Commission, der die besondere Förderung dieser Angelegenheit zur Aufgabe gestellt werden soll“,43 nachsuchten. Verfasser des Antrags war Stadtbaurat Carl Heinrich Studt (1799–1889), der gegenüber dem Magistrat die Bitte ausdrückte, der Aufforderung des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg zu folgen und Zweitexemplare aus Breslauer Bibliotheken und Archiven an das 1852 errichtete Museum der Geschichte der germanischen Kultur und Kunst in Nürnberg zu übergeben. In seiner Begründung führte Studt patriotische Motive an: „Ich bin jedoch der Ansicht, daß jeder Schritt, der dahin abzielt, das Nationalgefühl der Deutschen zu erwecken, zu beleben und zu erhalten, mit vollster Freudigkeit begrüßt werden muß.“44 Dem Beispiel Nürnbergs folgend, hielt Studt die Gründung eines Schlesischen Museums in Breslau für einen Ausdruck lokaler Heimatliebe: „Dann wird Breslau auch in dieser Beziehung den Rang einnehmen, der
40 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akten der Stadt Breslau, Sign. 31794: Acta den Schlesischen Kunst- und Breslauer Künstler-Verein betreffend, 1829–1874; ebd., Sign. 31795: Akten des Magistrats zu Breslau betreffend den Schlesischen Kunstverein, Bd. 2: 1874–1937. 41 Der Galerie im Ständehaus wurde vor allem ein Verstoß gegen die Regeln zur Präsentation von Bildern nach Eigentümern vorgeworfen. Vgl. Łukaszewicz, Piotr: Bildergalerie im Ständehaus. In: ders. (Hg.): Kunstmuseen, 45–49. 42 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akten der Stadt Breslau, Sign. 31801: Acten des Magistrats zu Breslau betreffend die Errichtung eines schlesischen Museums in Breslau, Bd. 1: 1856– 1869, Bl. 2–3: Antrag von Baurat Studt, 30. Dezember 1855. 43 In seinem Antwortschreiben bat der Magistrat darum, die Personen zu benennen, die an dem Ausschuss beteiligt sein sollten. Vgl. ebd., Akten der Stadt Breslau, Sign. 31801: Acten des Magistrats zu Breslau betreffend die Errichtung eines schlesischen Museums in Breslau, Bd. 1: 1856– 1869, Bl. 1: Brief von der Stadtverordneten Versammlung an den Magistrat, Breslau 7. Februar 1856, und die Antwort vom 5. März 1856. Es wurden folgende Personen vorgeschlagen: Maurermeister Dobe, Geheimer Medizinalrat Prof. Dr. Johann Heinrich Robert Goeppert, Johann Adrian Hermann Graf von Hoverden, Prof. Dr. August Wilhelm Eduard Theodor Henschel, Kunsthändler Karsch, Kaufmann Friedrich Klocke, Zimmermeister Krause jun., Dr. Hermann Luchs, Dr. med. Niesar, Oberbergrat Carl Wilhelm Aemilius Steinbeck, Stadtbaurat Carl Heinrich Studt, Dr. Robert Tagmann, Archivar Dr. Wilhelm Wattenbach, Gymnasialdirektor Dr. Wimmer. Der Magistrat fügte dieser Liste noch zwei Namen hinzu: St. K. Eberty und von Ronx. Ebd., Bl. 4: Brief von der Stadtverordneten Versammlung an den Magistrat, Breslau 27. März 1856, und die Antwort vom 9. April 1856. 44 Ebd., Bl. 2f.: Antrag von Baurat Studt, 30. Dezember 1855.
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ihm gebührt und den es in der That jetzt nicht hat, wo Städte von viel geringerer Bedeutung mit Gründung von reichen Museen vorangegangen sind.“45 Der für die prestigeträchtige Initiative gewonnene Magistrat leitete daraufhin Vorbereitungen für die Gründung des Museums ein. Es wurden mehrere Briefe an die bereits existierenden Museen mit der Bitte verschickt, die eigenen Erfahrungen im Bereich der Arbeitsorganisation und der Funktionsweise der jeweiligen Häuser zu schildern. Interessanterweise antwortete unter anderem das Museum in Troppau, indem es Finanzierungsquellen und Methoden zur Anschaffung der Ausstellungsstücke auflistete und dabei den bedeutenden Beitrag des schlesischen Adels hervorhob.46 Unter diesen Umständen entstand im Dezember 1857 der „Verein des Museums für schlesische Alterthümer“,47 der über seine Tätigkeit wie folgt berichtete: „Der Verein bezweckt, schlesische Alterthümer [...] in einem Museum zu sammeln, wissenschaftlich zu ordnen und Allen zugänglich zu machen.“48 Weiter hieß es: „Wir haben zunächst den Grundsatz festgestellt, daß unser Unternehmen nur ein Provisorium bilden soll, bis das viel umfassendere projektirte städtische Museum ins Leben tritt; wir haben uns aber auch überzeugt, daß dasselbe nur durch die Zuwendung der Gunst und die Unterstützung eines hochlöblichen Magistrats prosperiren kann.“49 Die Unterstützung, die der Verein von der Stadt erwartete, umfasste unter anderem die Übernahme der sich im Besitz des Magistrats befindlichen Objekte in die Sammlungen des Vereins.50 Anfang 1858 richtete der Verein einen Appell an die Stadtbewohner, dem künftigen Museum Schlesischer Altertümer Andenken aus Privat-, Innungs-, Korporations-, Stadt- und Kirchensammlungen zur Verfügung zu stellen. Das Konzept des gegründeten Museums stützte sich also auf ein breites ‚romantisches‘ Interesse am Andenken an die lokale Vergangenheit, das bereits vierzig Jahre zuvor die Errichtung der schlesischen Sammlung archäologischer Artefakte an der Universität unter Büsching befördert hatte.51
45 Ebd. 46 Ebd., Bl. 42: Brief von Custos Johann Neumann an den Magistrat der Stadt Breslau, Troppau 17. Dezember 1856. 47 Statuten des Vereins zur Errichtung und Erhaltung eines Museums für schlesische Alterthümer (Breslau 1858), formuliert nach dem Vorbild der gedruckten Statuten ähnlicher Vereine, zum Beispiel des „Vereins Museum Francisko-Carolinum“ (Linz 1841), des „Vereins des Tirolisch-vorarlbergischen Landesmuseums Ferdinandeum“ (Innsbruck 1849) oder der „Senckenbergischen naturforschenden Gesellschaft“ (Frankfurt am Main 1817). Ebd., Bl. 25, 28, 32, 97. 48 Ebd., Bl. 97: Statuten des Vereins zur Errichtung und Erhaltung eines Museums für schlesische Alterthümer. Breslau 1858. 49 Ebd., Bl. 87: Brief des Comites zur Bildung eines Schlesischen Alterthums-Museums an den Magistrat der Stadt Breslau, Breslau 4. Dezember 1857. 50 Ebd., Bl. 99–100: Verzeichniß derjenigen im Besitz der Breslauer Stadtgemeinde befindlichen Gegenstände, welche der Verein zur Errichtung eines Museums für schlesische Alterthümer von Einem Hochlöblichen Magistrat hiesiger Haupt- und Residenzstadt zu erbitten sich erlaubt. 51 Łukaszewicz, Piotr: Museum schlesischer Altertümer. In: ders. (Hg.): Kunstmuseen, 51–64, hier 51f.
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Der Appell des Vereins fand beim Publikum große Resonanz. Für die am 29. August 1858 im Börsengebäude eröffnete Wechselausstellung konnten rund 1.100 Ausstellungsstücke zusammengetragen werden. Obwohl die meisten Objekte direkt nach Ende der Ausstellung an ihre Eigentümer zurückgegeben wurden, verblieben mehr als 460 Exponate in den Sammlungen des Vereins. Innerhalb nur eines Jahres stieg diese Zahl auf 1.200. Infolge weiterer zahlreicher Schenkungen sah sich der Verein bald mit zunehmender Raumnot konfrontiert. 1862 fand er schließlich einen neuen Sitz im Gebäude auf dem Sande, nachdem man zudem einen Teil der Universitätssammlung in Verwahrung genommen hatte. Zweck der vom Verein betriebenen Geschichtspflege war es vor allem, „speziell für die Stadt Breslau“52 historische Zeugnisse zu bewahren. Daher wurden vornehmlich jene Altertümer gesammelt, die an ihrem bisherigen Standort nicht ausreichend wertgeschätzt oder nicht sachgerecht aufbewahrt worden waren. Als Beispiel seien hier die vom Magistrat gelieferten Gitter, Türen und Türschlösser aus dem abgerissenen Tuchhaus, ein gotischer Schrank aus dem Rathaus, von kirchlichen Organen der Elisabethkirche gestiftete liturgische Gewänder aus dem 15. bis 18. Jahrhundert sowie mittelalterliche Skulpturen53 genannt. Im Zusammenhang mit diesem Sammlungsprofil des Museums Schlesischer Altertümer trat der Breslauer Magistrat, unter dessen Schirmherrschaft das Museum stand, im Jahr 1864 der gesamtdeutschen Organisation „Verbindung für historische Kunst“ bei, die sich mit der „Förderung der deutschen Kunst und Erwerb bedeutender Kunstwerke und zwar vorzugsweise des geschichtlichen Faches“54 beschäftigte. Der Verein war auf dem Gebiet der Forschung und Wissensförderung sehr aktiv. So stellte er Wissenschaftlern Objekte für ihre Lehrveranstaltungen zur Verfügung55 und veröffentlichte Denkmalverzeichnisse und Berichte. Seit 1866 legte man den Berichten Beiträge zu einzelnen Denkmalobjekten bzw. ihren Ensembles bei, die den Ursprung der Jahresschrift Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift bildeten, in der bis heute rezipierte archäologische und kunstgeschichtliche Beiträge erschienen. Seit 1873 wurden unter der Leitung des Kunsthistorikers Hermann Luchs (1826–1887) und des Sanitätsrats Richard Biefel (1824–1886) archäologische Ausgrabungen unternommen.56 52 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akten der Stadt Breslau, Sign. 31797: Acten des Magistrats zu Breslau betreffend den Verein zu Errichtung eines Museums für schlesische Alterthümer. Schlesischer Altertums-Verein, Bd. 1: 1859–1926, Bl. 51–54: Brief vom Verein des Museums für schlesische Alterthümer an den Magistrat der Stadt Breslau, Breslau 14. April 1869. 53 Ebd., Bl. 55f. 54 Ebd., Sign. 31800: Acten des Magistrats zu Breslau betreffend die Verbindung für historische Kunst, Bd. 2, Einlage und Bl. 5f.: Statuten der Verbindung für historische Kunst. 55 Ebd., Sign. 31797: Acten des Magistrats zu Breslau betreffend den Verein zu Errichtung eines Museums für schlesische Alterthümer. Schlesischer Altertums-Verein, Bd. 1: 1859–1926, Bl. 55: Brief von Carl Vogt an Hermann Luchs, Breslau 11. Februar 1869. 56 Seger, Hans: Geschichte des ehemaligen Museums schlesischer Altertümer. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift. Zeitschrift des Vereins für das Museum Schlesischer Altertümer N.F. 1 (1900) 1–24, hier 20.
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Das auf lokale Geschichtspflege ausgerichtete Denken fand seinen Ausdruck auch in der Herauslösung ikonographischer Ensembles aus den Sammlungen des Museums, die fortan als Lehrhilfen für Forscher und Freunde schlesischer Kunst und Kultur dienten (zum Beispiel Ensembles schlesischer Porträts oder von Stadtansichten).57 Als die Galerie 1881 in ihrem neuen Gebäude eröffnet wurde, konnte das Museum mehr als 10.000 Exponate vorweisen. Die einzelnen Ausstellungsräume waren nach folgenden Kategorien benannt: „Urgeschichte“, „Kirche“, „Stadtbürgertum“ und „Renaissance“; später kamen die Räume „Barock“, „Rokoko“ und „Empire“ hinzu (Abb. 2). In einem Raum wurde das Zeughaus eingerichtet, in dem neben alten Exponaten auch – was im Kontext der Geschichtspflege bemerkenswert erscheint – Andenken an die Napoleonischen Kriege sowie die polnischen Aufstände von 1830/31 (in Kongresspolen) und 1848 (im Großherzogtum Posen) zur Schau gestellt wurden. Im Museumsinnenhof fanden architektonische Elemente und Steinskulpturen ihren Platz, im Raum für Wechselausstellungen zeigte man Münzen und Medaillen. Ein bedeutendes Ereignis war die Übergabe eines sensationellen archäologischen Funds aus den Jahren 1886/87, des sogenannten Sacrauer Funds, in den Bestand des Museums. Nach 1887 entwickelte sich das Sammlungsprofil des Museums für Altertümer deutlich in Richtung Handwerk. In diesem Zuge wurden die Sammlungen von Geweben, Stickereien, Keramik, Glas und Golderzeugnissen erweitert. 1897 beschloss der Verein angesichts der zunehmenden räumlichen Beengtheit, das bisher als Privateinrichtung funktionierende Museum der Schlesischen Altertümer in den Zuständigkeitsbereich des Magistrats zu überführen und es zugleich mit dem Schlesischen Museum für Kunstgewerbe und Altertümer58 zu vereinigen. Das neue Gebäude (Abb. 2), das im Erdgeschoss des Ostflügels das Schlesische Museum für Altertümer beherbergte, war in erster Linie ein Gebäude des Schlesischen Museums der bildenden Künste. Die Idee seiner Errichtung war 1866 nach dem preußischen Sieg über Österreich entstanden. Nach einem weiteren Triumph Preußens im Jahr 1871 – diesmal über die Franzosen – wurde mit dem Bau begonnen. Das am 1. Juli 1880 feierlich eröffnete Museum59 übernahm die komplette Bildergalerie im Ständehaus, die vor allem alte Gemälde umfasste. Die Sammlung wurde durch Anschaffungen zeitgenössischer Bilder stark erweitert, wobei vor allem auf künstlerische Qualität Wert gelegt wurde. Dieses Profil stellte im Spektrum der in Breslau existierenden Sammlungen, die bisher strikt auf die Geschichte der Region ausgerichtet gewesen waren, ein Novum dar. Im Museum der bildenden Künste wurde die ästhetische Bildung durch den Kunstge57 Łukaszewicz: Museum schlesischer Altertümer, 59f. 58 Ebd., 62–64. 59 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akten der Stadt Breslau, Sign. 31802: Acten des Magistrats zu Breslau betreffend die Errichtung eines schlesischen Museums in Breslau, Bd. 2, Bl. 20: Einladung zur Besichtigung des Schlesischen Museums der bildende Künste vom 25. bis 29. Juni 1880 von 10.00 und 14.00 Uhr, nur mit beigefügter Einladung sowie Informationen über die für den 1. Juli 1880 geplante Eröffnung des Objektes für das Publikum, Breslau 11. Juni 1880.
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Abb. 2. Das Gebäude des Schlesischen Museums der bildenden Künste in Breslau, Stahlstich aus dem Jahr 1880. Bildnachweis: Muzeum Narodowe we Wrocławiu, Inv. Nr. VII-3589.
nuss über den historischen Wert der ausgestellten Objekte gestellt, weshalb man neben Werken der alten und neuen europäischen Malerei auch Gipsabgüsse antiker Skulpturen sammelte.60 Die Geschichtspflege im Museum der bildenden Künste sprengte damit den regionalen Rahmen und stellte sich in den eines gesamteuropäischen Kulturerbes. Einen ähnlich internationalen Charakter hatten die Sammlungen des 1899 gegründeten Schlesischen Museums für Kunstgewerbe und Altertümer im umgebauten Ständehaus (Abb. 3). Das oberste Ziel dieser Einrichtung war es, sowohl alte als auch moderne europäische Kunsthandwerksobjekte zusammenzutragen, dabei das Bewusstsein von der Eigenart schlesischer Kultur und Kunst jedoch zu bewahren. Aus diesem Vorhaben heraus entstanden zwei umfangreiche kultur- und urgeschichtliche Sammlungen. Das geschichtspflegerische Konzept war im Museum für Kunstgewerbe und Altertümer stets mit der Gegenwart verquickt. So wurden durch Wettbewerbe und Musterausstellungen regionaler Erzeugnisse, die Veranstaltung internationaler Ausstellungen in Breslau sowie die Vermittlung zwischen Künstlern und Verbrauchern zeitgenössische Kunstwerke gefördert. Innovative Ausstellungsformen mit einerseits lokalem, anderer-
60 Łukaszewicz, Piotr: Schlesisches Museum der bildenden Künste. In: ders. (Hg.): Kunstmuseen, 73–94, hier 74–76.
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Abb. 3. Hugo Ulbrich, Das Gebäude des Schlesischen Museums für Kunstgewerbe und Altertümer (ehemaliges Ständehaus) in Breslau, Tuschezeichnung, 1899. Bildnachweis: Seger, Hans: Geschichte des ehemaligen Museums schlesischer Altertümer. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift. Zeitschrift des Vereins für das Museum Schlesischer Altertümer N.F. 1 (1900) 33.
seits regionalem Anspruch waren zwei Räume für Wechselausstellungen, die moderne Entwicklungen im Kunsthandwerk Schlesiens und Europas aufzeigen sollten. Es fanden auch thematisch ausgerichtete Ausstellungen alter Kunst statt, namentlich zur Miniaturmalerei in schlesischen Sammlungen (1903), zur Ikonographie Breslaus (1905), zur schlesischen Goldschmiedekunst (1905) und zur Kirchenkunst (1909) sowie eine historische Ausstellung zum 100. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig (1913).61 Die zuletzt genannte Ausstellung wurde in einem speziell dafür errichteten Pavillon auf dem Ausstellungsgelände in Scheitning gezeigt, wodurch sie vor dem Hintergrund anderer Einrichtungen dieser Art in der Stadt noch stärker hervorgehoben wurde. Hierin offenbart sich das ausgesprochen moderne Ausstellungskonzept, das in dieser Breslauer Einrichtung umgesetzt wurde. Das letzte vor 1914 in Breslau entstandene Museum war das 1898 vom Bischof der Breslauer Diözese Kardinal Georg Kopp (1837–1914) ins Leben gerufene Kirchenmuseum. Der Stiftungsakt des Museums ergab sich aus der Sorge um Kunstwerke, die früher in einzelnen Pfarreien aufbewahrt wurden und dabei der Gefahr ausgesetzt waren,
61 Ders.: Schlesisches Museum für Kunstgewerbe und Altertümer. In: ders. (Hg.): Kunstmuseen, 91–122, hier 98, 101.
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bei Umbauten oder bei der Modernisierung kirchlicher Objekte beschädigt zu werden. Die Gründung einer Museumseinrichtung sollte die katholischen Priester für den religiös-rituellen und zugleich wissenschaftlich-historischen Wert alter Kunstwerke sensibilisieren. Ende des 19. Jahrhunderts wurden zahlreiche Kirchen modernisiert. Bei dieser Gelegenheit verkauften die Pfarrer nicht selten die ältere Ausstattung der Gotteshäuser an Händler, so dass die sakrale Kunst nach und nach zerstreut wurde. Kardinal Kopp bemühte sich, dieser Zerstreuung einen Riegel vorzuschieben, und organisierte entsprechende Unterrichtungen der Seelsorger, um diese über den Wert der Objekte in Kenntnis zu setzen.62 Das Sammeln sakraler Objekte und deren Ausstellung im Kapitelhaus auf der Dominsel in Breslau hatte unter Vertretern der römisch-katholischen Kirche, denen dadurch der Sinn kirchlicher Geschichtspflege nahegebracht werden sollte, anfangs also einen vornehmlich didaktischen Charakter.63
V. Mit mehreren wichtigen Museen entwickelte sich Breslau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem beachtlichen Zentrum der gesamten Kulturlandschaft Schlesien. In kleineren Städten des Oderlandes entstanden Museen erst seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Eine der wichtigeren Einrichtungen war das 1879 in Liegnitz gegründete Städtische Museum, das schon ein Jahr später eine niederschlesische Gewerbeausstellung eröffnete.64 Die Umstände seiner Entstehung hingen mit negativen Erfahrungen in der Vergangenheit zusammen, die der Zerstreuung der außerordentlich wertvollen privaten Liegnitzer Sammlung von Freiherr Alexander von Minutoli (1806– 1887) geschuldet waren. Seit 1839 hatte Minutoli Kunsthandwerksobjekte gesammelt und diese bereits 1844 zum ersten Mal in seiner Wohnung ausgestellt. 1845 eröffnete er im Südflügel des Liegnitzer Schlosses eine Dauerausstellung als „Vorbildsammlung für Handwerker und Gewerbetreibende“. Diese Initiative gilt heute als der erste im Oderland unternommene Versuch, eine private Kunstsammlung der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das Museum umfasste tausende Denkmäler der Malerei, Bildhauerei und des Kunstgewerbes und erfüllte die Funktion einer Musterkollektion für zeitgenössische Handwerker.65
62 Pater, Józef: Erzbischöfliches Diözesanmuseum in Breslau. In: Łukaszewicz (Hg.): Kunstmuseen, 125–136, hier 126f. 63 Vgl. den Beitrag von Michael Hirschfeld in diesem Band. 64 Jander, Albrecht: Liegnitz in seinem Entwicklungsgange von den Anfängen bis zur Gegenwart. Liegnitz 1905, 140. 65 Palica, Magdalena: Kunstsammlungen des niederschlesischen Adels in preussischer Zeit. In: Harasimowicz, Jan/Weber, Matthias (Hg.): Adel in Schlesien, Bd. 1: Herrschaft – Kultur – Selbstdarstellung. München 2010 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 36), 515–530, hier 525–529.
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Der Besitzer veranstaltete überdies öffentliche Vorträge, Übungen im Zeichnen, Sonder- und Wanderausstellungen.66 Er ließ zudem Fotografien und Gipsabgüsse der Kunstwerke anfertigen, um die Kenntnis der Sammlung in weiten Kreisen verbreiten zu können. Die letzte Ausstellung fand im Jahr 1875 statt. Als der Bestand das Liegnitzer Schloss verlassen musste, übergab Minutoli viele der Kunstwerke in öffentliche und private Sammlungen; einen weiteren Teil seiner Kollektion verkaufte er 1876 im Rahmen einer Versteigerung in Köln.67 Diese Zerstreuung einer Sammlung, die wesentlich wertvoller war als die damaligen Bestände des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg, wurde angesichts des fehlenden Einsatzes des Liegnitzer Magistrats für deren Erhalt begünstigt. Um solche Fehlentwicklungen in Zukunft zu verhindern, stiftete der Magistrat das auf Kunsthandwerk ausgerichtete „Städtische Museum“. Zu Beginn hatte die Einrichtung ihren Sitz an einer ehemaligen Handwerkschule. Sie erweiterte ihre Bestände durch Anschaffungen bei Handwerksinnungen. Nach dem Umzug der Ausstellung in die Räume des Chors des alten Benediktinerinnenklosters 1889 nahm das Museum Objekte aus der Städtischen Rüstkammer, die früher im Rathaussaal ausgestellt worden waren, darunter mittelalterliche Schutzwaffen sowie neuzeitliche Blank- und Schusswaffen, in seine Bestände auf. Dazu kamen Schlosserarbeiten, Architekturstücke und Altertümer. Das Städtische Museum mit seinen kulturhistorisch profilierten Beständen bekam 1907 einen Wettbewerber, als im Rathausgebäude ein auf Initiative des Gründers des „Vereins für Altertümer“, Richard Hahn (1854–1934), entstandenes „Heimatmuseum“ eröffnet wurde. 1910 zogen beide Museen in eine 1864 errichtete Villa, in der auch eine seit 1895 zusammengetragene naturwissenschaftliche Ausstellung Platz fand. Die neue Einrichtung zählte 24 Abteilungen und erhielt den Namen „Niederschlesisches Museum“.68 Dort befanden sich „Zeugnisse der Vorgeschichte und Geschichte“ (im Erdgeschoss), 66 ��������������������������������������������������������������������������������������� Während der Sonderausstellung „Muster-Sammlung von Werken der Industrie und Kunst“ (gemeinsam veranstaltet mit der Breslauer „Industrieausstellung“), zeigte er in zwanzig Räumen des Liegnitzer Schlosses die Exponate, die in fünf Bereiche gegliedert waren: Werke der Malerei, Werke der Skulptur, Erzeugnisse der Kleinkünste, Meisterwerke der Gewerbetechnik, Modelle und Werkzeuge. Vgl. Vogelsang, Bernd: Beamteneinkauf. Die Sammlungen des Freiherrn von Minutoli in Liegnitz. Eine Dokumentation zur Geschichte des ersten deutschen Kunstgewerbemuseums. Dortmund 1986 (Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ostmitteleuropa A 46), Abb. 4. 67 Die Reste der Sammlung bewahrte Minutoli in seinem Schloss in Friedersdorf auf. Vgl. Thode, Henry: Die Gemäldesammlung des Freihhern von Minutoli. In: Zeitschrift für bildende Kunst 21 (1886) 318–325, hier 318f. 68 Winkel, Arnold zum: Die städtischen Sammlungen. In: Stein, Erwin (Hg.): Monographien deutscher Städte. Darstellung deutscher Städte und ihrer Arbeit in Wirtschaft, Finanzwesen, Hygiene, Sozialpolitik und Technik, Bd. 22: Die Stadt Liegnitz. Berlin-Friedenau 1927, 168–181, hier 178–180; Dąbrowski, Stanisław (Hg.): Legnica. Zarys monografii miasta. Wrocław/Legnica 1998 (Monografie regionalne Dolnego Śląska), 254. Im Stadtführer aus den 1920er und 1930er Jahren ist das Jahr 1911 als Gründungsjahr des Museums verzeichnet, das als „Schmuckkästlein der Heimatkunde und Altertumskunde“ bezeichnet wird. Vgl. Das kleine Siehdichum von Liegnitz. Liegnitz [o. J.], 17.
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Abb. 4. Das Gebäude des Museums des Riesengebirgsvereins in Hirschberg. Bildnachweis: Hirschberg/Schles. Hg. v. Magistrat. Hirschberg [vor 1914].
eine „kulturgeschichtliche Sammlung“ (im ersten Stock), „eine Sammlung aus dem Zeitraum von 1600 bis zur Gegenwart, biologisch geordnet“ (im zweiten Stock) sowie „eine naturgeschichtliche Sammlung der Heimat“ (im Oberlichthof ).69 Ein anderes für die Region Niederschlesien bedeutsames Museum entstand 1888 in Hirschberg auf Veranlassung des „Riesengebirgsvereins“. Es war seit Juni 1889 im Gebäude des Königlichen Gymnasiums regulär für Besucher zugänglich.70 Der regionale Charakter der in dieser Einrichtung betriebenen Geschichtspflege drückte sich im sorgfältigen Sammeln und Konservieren der künstlerisch und naturgeschichtlich wertvollen, mit dem Riesengebirge verbundenen Exponate aus. Im ersten Museumsführer wurde betont, wie wichtig die Herkunft der jeweiligen Objekte sei: „Wir bemerken, dass die ausgestellten Gegenstände mit ganz vereinzelten Ausnahmen im Riesen- und Isergebirge erzeugt sind oder in Gebrauch waren.“71 Die Bedeutung dieser Institution nahm nach der Errichtung des neuen Museumsgebäudes im Jahr 1913 noch zu (Abb. 4). Die ein Jahr später feierlich eröffnete Ausstellung umfasste unter anderem Kunstgewerbe (insbesondere Glas), Kunst (Gebirgsmalerei) sowie naturwissenschaftliche Sammlungen (Mineralien). Berühmte Sehenswürdigkeiten waren die Patrizier- und die Gebirgsbauernstube mit entsprechender Ausstattung.72
69 Öffnungszeiten des Museums: werktags (10:00 Uhr–13:00 Uhr, im Sommer zusätzlich 16:00 Uhr–18:00 Uhr), sonntags (11:00 Uhr–13:00 Uhr). Vgl. Das kleine Siehdichum, 17. 70 Firszt, Stanisław: Wstęp. In: Muzeum w Jeleniej Górze. Jelenia Góra 1998, 3–6, hier 3. 71 Kurzgefaßter Führer durch das Museum des Riesengebirgsvereins. Hirschberg in Schlesien 1914, 1. 72 Ebd., 1–18; Kwaśny, Zbigniew (Hg.): Jelenia Góra. Zarys rozwoju miasta. Wrocław u. a. 1989 (Monografie regionalne Dolnego Śląska), 169.
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Nach 1900 nahm das Interesse am Museumswesen in Schlesien deutlich zu. Diese Entwicklung hing fraglos mit dem wachsenden Lokalbewusstsein der Bewohner kleinerer Städte im Oderland zusammen. Viele Museen entstanden zu jener Zeit auf der Grundlage von Altertümern, die zunächst in den Rathäusern gesammelt worden waren. So befanden sich beispielsweise im Glogauer Rathaus Anfang des 20. Jahrhunderts eine „sehenswerte Waffensammlung und andere interessante Altertumsfunde“.73 Drei schlesische Museen entstanden auf diese Weise im Jahr 1908: in Haynau,74 Bunzlau sowie in Waldenburg. Das Städtische Geschichtliche Museum in Bunzlau wurde am 21. Mai 1911, drei Jahre nach der Gründung, für Besucher eröffnet. Es befand sich in einem zu diesem Zweck umgebauten, zwischen den Stadtbefestigungen gelegenen Gebäude und wurde mit dem Wehrturm verbunden. Zu seiner Entstehung trugen der in Bunzlau geborene Sammler und Kunstkenner Max Höhne aus Berlin, kirchliche Vereine, die Schießgilde sowie Vertreter der Zünfte bei. Das Museum bestand aus einer archäologischen sowie einer ethnographischen Sammlung, gezeigt wurden Bilder und Kunsthandwerk, vor allem Keramiksammlungen aus Werkstätten Bunzlaus und seiner Umgebung. Eine besondere Sehenswürdigkeit und zugleich ein Symbol der Bunzlauer Töpferei war der „Große Topf “, ein über zwei Meter hohes Werk des Töpfermeisters Johann Gottlieb Joppe (1723–1788) aus dem Jahr 1753.75 Der Grundgedanke bei der Errichtung des Museums des „Altertumsvereins für das Waldenburger Bergland“ bestand in der Bewahrung der überlieferten Volkstrachten aus diesem Gebiet. Im Gründungsjahr 1908 verfügte das Museum über vier Zimmer. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Sammlung um neue Arbeitsgebiete erweitert, unter anderem erdkundliche Sammlungen und vorzeitliche Funde. Sie hatte vor allem didaktischen Charakter.76 In den nördlicheren Landesteilen Schlesiens entstanden zwei Einrichtungen: 1903 wurde in Schwiebus auf Veranlassung der Regionalgesellschaft eine Städtische Sammlung gegründet. Die Ausstellung befand sich im Gebäude des alten Krankenhauses und umfasste vor allem Urkunden, Andenken, Kunstgewerbe sowie Haus- und Wirtschaftsgeräte.77 1908 gab der Stadtarchitekt Albert Severin (1851–1934) den Anstoß für die Gründung eines Museums in Grünberg, indem er der Stadt seine dem Erbe der örtlichen Innungen gewidmete Sammlung von Dokumenten, Kunst- und Gewerbeobjekten 73 Führer durch Glogau und Umgebung. Glogau [nach 1906], 11. 74 Gładkiewicz, Ryszard (Hg.): Chojnów dawniej i dziś. Szkice i materiały. Chojnów/Wrocław 1992, 140. 75 ���������������������������������������������������������������������������������������� Bober, Anna/Wolanin, Teresa: Muzeum Ceramiki w Bolesławcu. Przewodnik. Bolesławiec/Jelenia Góra 2001; Żak, Katarzyna/Moniatowicz, Janusz: Bolesławiec. Miasto ceramiki. Jelenia Góra 2004, 15. 76 Joppich, Julius: Das Waldenburger Heimatsmuseum. In: Stein, Erwin (Hg.): Monographien deutscher Städte, Bd. 16: Waldenburg in Schlesien, Berlin-Friedenau 1925, 183–186. 77 Nowacki, Marek/Jermaczek, Danuta: 25 lat Muzeum Regionalnego w Świebodzinie. Świebodzin 1996, 3.
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Abb. 5. Das Gebäude der ehemaligen Kommandantur (Altertumsmuseum in Neisse), Lithographie, zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bildnachweis: Muzeum Powiatowe w Nysie, Inv.-Nr. MNa/SA 1219a.
überließ.78 Die Dauerausstellung umfasste sechs Abteilungen unter folgenden Titeln: „Die vorgeschichtliche Abteilung, Landschaft und Siedlung, Im Wandel der Geschichte, Handwerk und Innung, Tuchmacherei und Weinbau, Wohnung und Hausrat.“79 Die historisch beziehungsweise kunstgewerblich orientierte Ausstellung war chronologisch und thematisch geordnet. Die Gründer des Museums nahmen sich Einrichtungen anderer Städte mit dem Ziel einer Sammlung der „kulturellen Zeugnisse heimischer Vergangenheit“ zum Vorbild. In einer solchen Ausstellung sahen sie den „Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart“ und einen „Bildungsfaktor im Leben der Stadt“.80 Zu den größten Zentren des Museumswesens in der Provinz Schlesien gehörte Neisse. 1897 gründete der „Neisser Kunst- und Altertumsverein“ das Museum für Neisser Kunst und Altertümer in der Alten Kommandantur der örtlichen Garnison (Abb. 5). Die Museumsbestände zeichneten sich durch eine Vielzahl von Objekten (ca. 33.000 Inventarposten bis 1939) und einen hohen Variantenreichtum aus. Sie um78 Opaska, Janusz: Albert Severin (1851–1934). In: Bartkowiak, Przemysław/Kuczer, Jarosław/ Kotlarek, Dawid (Hg.): Zapisali się w dziejach Środkowego Nadodrza. Szkice biograficzne. Zielona Góra 2009, 81–94, hier 84, 94. 79 Klose, Martin: Gänge durch das Grünberger Heimatmuseum. Grünberg in Schlesien 1930, 3–22. 80 Stein, Erwin (Hg.): Monographien deutscher Städte, Bd. 29: Die Stadt Grünberg in Schlesien, Berlin-Friedenau 1928, 129.
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fassten archäologische Artefakte, Münzen, Siegel, Objekte der Schmiedekunst, Militaria, kirchliche Paramente, Innungsgeräte, Schmuck, Glas, Keramik, Gegenstände des täglichen Gebrauchs, Stoffe, Urkunden, Fotografien, Bücher, Malerei und Skulpturen. Besondere Sorgfalt im Umgang mit dem Andenken an die Vergangenheit bewies man im Kunst- und Altertumsmuseum in Form einer permanenten Ausstellung in vier Räumen. Es wurden zudem Informationen zu Exponaten aus der Neisser Sammlung in der Presse verbreitet und regelmäßig wissenschaftliche Beschreibungen einzelner Objekte im Jahresbericht des Neisser Kunst- und Altertumsvereins veröffentlicht.81 Ebenfalls in den 1890er Jahren nahm das „Ethnologische Museum“ des Missionshauses Heiligkreuz bei Neisse82 seine Tätigkeit auf. Die von Steyler Missionaren verwaltete Einrichtung präsentierte eine umfangreiche, die Kulturen Japans (hauptsächlich Gegenstände des täglichen Gebrauchs, etwa Kimonos und Kotos), Chinas (vor allem Porzellan und Stickereien) und Eingeborenenkulturen aus dem Gebiet des heutigen Papua-Neuguinea (Schmuckpfeifen) dokumentierende Sammlung. Darüber hinaus wurden ethnografische Objekte in die Bestände aufgenommen, die von Missionen auf Java, Flores und Bali sowie aus den deutschen Kolonien in Afrika (Togo, Kamerun und Deutsch-Ostafrika) mitgebracht worden waren. Die Sammlung wurde ergänzt durch Tierexponate in Form von präparierten wilden Tieren sowie ein mineralogisches Ensemble. Die Ausstellung stattete man mit erklärenden Landkarten, Diagrammen und Illustrationen aus, die die Geschichte der Missionen des Konvents dokumentierten.83 Dem Beispiel Neisses folgend, entstand auf Initiative des „Philomatenbundes“ im Jahr 1900 auch in Oppeln ein „Städtisches Museum“. In seinen Beständen sammelte es archäologische und naturwissenschaftliche Objekte, Landkarten, Erzeugnisse des Kunsthandwerks, Militaria sowie andere mit der Geschichte Oppelns verbundene Objekte.84 Aus der Art der Exponate lässt sich schließen, dass der Sinn der Sammlung darin lag, ein Geschichtspanorama der regionalen zivilisatorischen Entwicklung zu zeigen. Die Ausrichtung der Bestände auf die Geschichte der ‚kleinen Heimat‘ hatte wie andernorts die Erweckung lokalpatriotischer Gefühle und die Stiftung einer regionalen Sammelidentität zum Zweck. Eine solche regionalistische Tendenz machte sich auch in anderen Museen in Schlesien bemerkbar, von denen Anfang des 20. Jahrhunderts besonders viele in Oberschlesien entstanden. 1905 wurde das „Oberschlesische Museum“ in Gleiwitz ins Leben 81 Führer durch Neisse und Umgebung. Neisse 1900, 13, 26; Pawlik, Krzysztof: Zarys historii muzeów w Nysie od końca XIX wieku do 1945 roku. In: Muzealnictwo 47 (2006) 17–26, hier 17f.; Sikorski, Marek: Nysa. W kręgu zabytków i historii. Krapkowice 2010, 159–162. 82 Da Archivunterlagen des Missionshauses zum Heiligen Kreuz in Neisse fehlen, ist eine Angabe des Jahresdatums der Gründung des Museums nicht möglich. Der Zufluss der Exponate dürfte in den Jahren 1892/93 eingeleitet worden sein. Schriftlich erwähnt wurde das Museum erstmals im Jahr 1902. Vgl. Pawlik: Zarys historii muzeów w Nysie, 19f. 83 Ebd., 19–21. 84 Zajączkowska, Urszula: Nowy wizerunek Muzeum Śląska Opolskiego. In: Muzealnictwo 50 (2009) 137–145, hier 137f.
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gerufen. Die Initialzündung hierzu kam von Geheimrat Artur Schiller (1858–1945), der gemeinsam mit dem Pfarrer und Heimatforscher Johannes Chrząszcz (1857–1921) das Profil des Museums auf Denkmäler ausrichtete, die mit Oberschlesien verbunden waren. In den ersten zwei Jahren war das Museum in zwei Klassenzimmern der Grundschule in der Schröterstraße untergebracht. In den Jahren 1908 bis 1923 wurden die Museumsobjekte dann in vier Räumen einer anderen Grundschule (in der Freundstraße) ausgestellt; sie umfassten kulturhistorische Denkmäler aus Oberschlesien, archäologische Artefakte, Kunst, Kunsthandwerk, Münzen, militärische Gegenstände und Kriegsandenken (aus den Jahren 1870 bis 1871), eine Sammlung zum oberschlesischen Industrie- und Bergwesen sowie naturgeschichtliche und ethnographische Exponate (Abb. 6). Das Museum erfreute sich von Beginn an eines lebhaften Interesses. Seine rasche Entwicklung während der ersten zehn Jahre seines Bestehens war „einerseits der regen Teilnahme der Bewohnerschaft des Industriebezirks zu verdanken“, so ein Ausstellungsführer aus dem Jahr 1907, „andererseits dem dankeswerten Interesse der staatlichen und kommunalen Behörden, der Firmen und Werksdirektionen“.85 Im Jahr 1910 entstand das Museum der Stadt und des Kreises Leobschütz, das Landkarten, Bilder, Münzen, Altdrucke, Urkunden, archäologische Objekte, Waffen und Gegenstände des täglichen Gebrauchs sammelte, die historisch mit dem Leobschützer Land verbunden waren. Im benachbarten Neustadt wurde 1912 auf der Grundlage von Emil Metzners Privatsammlung ebenfalls ein Museum gegründet. Dieser Freund und Erforscher der Regionalgeschichte hatte Andenken an die Vergangenheit gesammelt, Ausgrabungen in Neustadt und Umgebung finanziert und geleitet sowie Vorträge zur Geschichte der Stadt und der Region gehalten. Gemäß Metzners letztem Willen wurden seine Sammlung historischer Andenken, lokaler archäologischer und geographischer Artefakte sowie seine umfangreiche Bibliothek der Stadt übereignet. Diese Bestände waren gleichsam das Fundament für das spätere Museum.86 Privatsammlungen standen auch am Beginn der Tätigkeit des Museums in Oberglogau, das der Historiker Ernst Graf von Woikowsky-Biedau (1852–1912) an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in der sogenannten Gartenburg gründete. Die Geschichte des Museums endete jedoch schon wenig später mit dem Tod des Sammlers 1912. Exponate aus seiner Sammlung gelangten daraufhin in die Bestände der Museen in Neisse, Gleiwitz, Ratibor und Beuthen. Die Anfänge des Beuthener Museums reichen ins Jahr 1910 zurück, als der „Beuthener Geschichts- und Museumsverein“ anhand von Depots aus privaten Sammlungen des Kaufmanns Simon Macha (1864–1944) und des Zeichenlehrers Hans Bimler (1860–1929) sowie einer Sammlung von Stadt- und Innungsandenken und der vom Beuthener Stadtrat zur Verfügung gestellten Archivalien ein 85 Führer durch das Oberschlesische Museum zu Gleiwitz. Gleiwitz 1907, 3f.; Schiller, Artur (Hg.): Katalog des Oberschlesischen Museums zu Gleiwitz, Tl. 1: Oberschlesische Gegenstände. Gleiwitz 1915; Recław, Damian: 90 lat Muzeum w Gliwicach. Gliwice 1995, 8f., 14f. 86 Janiga, Wioleta: Muzeum Ziemi Prudnickiej – historia i dzień dzisiejszy. In: Muzealnictwo 50 (2009) 167–175, hier 168.
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Abb. 6. Plan des Oberschlesischen Museums zu Gleiwitz. Bildnachweis: Führer durch das Oberschlesische Museum zu Gleiwitz. Gleiwitz 1907, 1.
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lokales Museum gründete.87 Am Anfang hatte das Museum seinen Sitz im Gebäude der örtlichen Realschule, 1911 konnten die Sammlungen in zwei Säle der neuen evangelischen Schule umziehen. Die Bestände des Museums vergrößerten sich in den nächsten Jahren rasch. Der Besitzer wechselte bis 1939 mehrfach. Zu den wichtigsten Erfolgen des Museums gehörten archäologische Ausgrabungen und Forschungen zur Keramik aus den oberschlesischen Manufakturen in Proskau, Glinitz, Ratibor und Tillowitz. Bereits 1911 wurden erste Forschungsergebnisse veröffentlicht.88 Neben den beiden bestehenden Museen in Teschen und Troppau kam es im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer erneuten Blüte des Museumswesens auf österreichischschlesischem Gebiet. In Troppau wurden moderne Museen für die Geschichte des Kunsthandwerks und der Industrie (Schlesisches Landesmuseum für Kunst und Gewerbe im Jahr 1882) und die Stadtgeschichte (Stadtmuseum im Jahre 1896) eröffnet. Ein Stadtmuseum entstand zudem 1901 in Teschen. Ebenfalls in dieser Stadt ereignete sich eine beachtenswerte Episode der polnischen Geschichtspflege. 1903 veranstalte der „Polnische Völkerkundliche Verein“ eine völkerkundliche Ausstellung, die gleichsam zu einem Manifest des Polentums wurde und zahlreiche historische Andenken aus privaten Sammlungen präsentierte. Obwohl die Exponate nach dem Abschluss der Ausstellung in den Besitz des Vereins übergingen, wurde auf ihrer Grundlage kein eigenständiges Museum gegründet. In den Jahren 1902/03 riefen die städtischen Behörden im schlesischen Bielitz sowie im benachbarten, bereits auf galizischem Territorium gelegenen Biala zwei voneinander unabhängige Stadtmuseen ins Leben. Auf Antrag des Bielitzer Pfarrers Artur Schmidt wurde eine Sammelaktion organisiert, um Andenken an die Vergangenheit zusammenzutragen. Die daraus hervorgegangene Sammlung lokaler Altertümer erweiterte die Bestände des neuen Stadtmuseums in Bielitz, das 1906 im Alten Rathaus am Marktplatz eröffnet worden war. Es handelte sich zu dieser Zeit um das drittgrößte Museum regionaler Art im südöstlichen Schlesien (nach den Museen in Kattowitz und in Teschen). Zum Ende dieser kurzen Übersicht musealer Initiativen in Schlesien vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist eine Ausstellung in Dohnau zu nennen. In der Nähe des kleinen, im Kreis Liegnitz gelegenen Dorfes hatte am 26. August 1813 im Zuge der Befreiungskriege die Schlacht an der Katzbach stattgefunden. Zum Gedächtnis an den Sieg des preußischen Armeekorps über die Franzosen errichtete man 1909 eine Rotunde, in der eine Dauerausstellung mit militärischen Objekten aus der napoleonischen Zeit präsentiert wurde.89 87 Bimler, Kurt: Die Anfänge des Oberschlesischen Landesmuseums in Beuthen. In: ders. (Hg.): Quellen zur schlesischen Kunstgeschichte, H. 5. Breslau 1940, 86–90. 88 Matuszczak, Józef: Niemieckie Muzeum Krajowe w Bytomiu 1909–1945. In: Okręgowe Muzeum Górnośląskie w Bytomiu. Rocznik Muzeum Górnośląskiego w Bytomiu. Historia, H. 1. Bytom 1963, 129–135, hier 129–131. 89 Schultz, Maria: Die Dynamik intermedialer Konstruktionen von historischen Ereignissen: Denkmale, Romane und Ausstellungen als Orte der Erinnerung an Schlesien 1813. In: Gehrke, Roland (Hg.): Von Breslau nach Leipzig. Wahrnehmung, Erinnerung und Deutung der antinapoleo-
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VI. Einige Grundlinien der Entwicklung sollen abschließend zusammengefasst werden. Die Geschichtspflege im Rahmen des schlesischen Museumswesens nahm im Jahr 1802 mit der Initiative des Pfarrers Leopold Jan Szersznik in Teschen ihren Anfang. 1814 fand sie im österreichisch-schlesischen Troppau ihre Fortsetzung. Mit beiden Einrichtungen ging es in den folgenden Jahren allerdings bergab: in Teschen nach Szerszniks Tod 1814, in Troppau 1844, nachdem der Kustode Faustin Ens die Stadt verlassen hatte. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besaß das an der Breslauer Universität eingerichtete Königliche Museum für Kunst und Altertümer die größte Bedeutung in der Region. Dank seines ersten Leiters Johann Gustav Gottlieb Büsching wurde dort eine professionelle Sammel-, Bearbeitungs- und Ausstellungsmethodik erarbeitet. Nach seinem Tod strebte man zwar weiterhin die Aufrechterhaltung und Förderung des schlesischen Kulturerbes an, doch waren die Nachfolger Büschings damit nur wenig erfolgreich. Weitere Leiter dieser Einrichtung, wie Franz Passow (1786–1833) und Joseph Ambrosch (1804–1856), motiviert einerseits durch ihre Forschungsinteressen, andererseits durch ihren Lokalpatriotismus, bemühten sich zwar um eine Erweiterung und Katalogisierung der Sammlung, doch verlor das Universitätsmuseum nach 1853 zunehmend an Bedeutung gegenüber anderen Museen, die in Breslau infolge des großen Interesses der Bürgerschaft entstanden. Einige dieser Museen wuchsen zu bedeutenden kulturbildenden Zentren empor, so vor allem das Schlesische Museum für Kunstgewerbe und Altertümer, das sich mit der aktiven Förderung von zeitgenössischem regionalen Kunsthandwerk hervortat. Die Blüte des Museumswesens in anderen schlesischen Städten nach 1900 resultierte zumeist daraus, dass die durch lokale Vereine und Gesellschaften (Oppeln, Neisse, Beuthen, Schwiebus) oder durch Privatpersonen (Neustadt, Oberglogau, Grünberg) gesammelten Bestände der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Diese Initiativen zeichneten sich alle durch zwei Merkmale aus: durch die Idee, die regionale Geschichte zu pflegen, und durch den Willen, die materiellen Zeugnisse dieser Vergangenheit zu bewahren. Die Aufgabe der auf dieser Grundlage eingerichteten Museen war es, an das von den Vorfahren hinterlassene Kulturerbe zu erinnern. Der Natur der Sache entsprechend, hatten die besagten Institutionen sämtlich lokalen Charakter. Im Gegensatz zu diesem um 1900 in der schlesischen Provinz vorherrschenden Phänomen eines regionalen Historismus entwickelten sich in Breslau neue Tendenzen im Museumswesen, die den künstlerischen Wert der Objekte in den Mittelpunkt stellten. So rückte die schlesische Hauptstadt als prägendes Zentrum musealer Geschichtspflege in den Vordergrund und bestätigte damit ihren Status „einer geistigen Metropole“.90
nischen Befreiungskriege. Köln/Weimar/Wien 2014 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 24), 137–167, hier 159–162. 90 So der Untertitel des Buches von Garber: Das alte Breslau.
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Lokale Geschichtskultur im Museum. Die Dauerausstellung „Alt-Breslau“ des Schlesischen Museums für Kunstgewerbe und Altertümer I. Die 1908 eröffnete Dauerausstellung „Alt-Breslau“ bot Einblicke in Breslaus große Zeit als wohlhabendes Handelszentrum unter österreichischer und preußischer Herrschaft. Sie war dezidiert dem vormodernen Erscheinungsbild der Breslauer Altstadt gewidmet und beklagte den Verlust des historischen Stadtbildes als Folge des rasanten Wachstums der Großstadt im 19. Jahrhundert. Die Museumsausstellung war ein Produkt der jungen Denkmal- und Heimatschutzbewegung, die sich für den Erhalt der regionalen Kulturlandschaft einsetzte. Zugleich war „Alt-Breslau“ die erste stadtgeschichtliche Ausstellung Breslaus überhaupt und markiert mit einer Laufzeit von knapp 25 Jahren eine der bis heute am längsten bestehenden Geschichtsausstellungen der Breslauer Museumslandschaft.1 Als ein konkretes Produkt städtischer Geschichtskultur wird diese Ausstellung im Folgenden näher beleuchtet. Dabei wird vor allem ein Augenmerk auf den Zusammenhang zwischen dem Ausstellungswesen des Schlesischen Museums für Kunstgewerbe und Altertümer und den gesellschaftlichen Debatten um einen Schutz der historischen Bausubstanz im Innenstadtbereich gelegt. Es ist bemerkenswert, dass diese frühe stadtgeschichtliche Ausstellung sowohl auf eine zeitgenössische Relevanz historischer Ausstellungen als auch auf einen außergewöhnlichen Umstand des Breslauer Museumswesen verweist – Breslau hatte vor dem Zweiten Weltkrieg kein Stadtmuseum im Sinn einer Institution für Stadtgeschichte oder eines Heimatmuseums. Das Museum der Stadt war das Schlesische Museum für Kunstgewerbe und Altertümer, welches 1899 als Pendant zu dem der Provinz unterstehenden Schlesischen Museum der Bildenden 1 Zur Denkmal- und Heimatschutzbewegung vgl. Speitkamp, Winfried: Verwaltung der Geschichte. Denkmalpflege und Staat in Deutschland 1871–1933. Göttingen 1996 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 114), 76–81; Düwel, Jörn/Gutschow, Niels: Städtebau in Deutschland im 20. Jahrhundert. Ideen – Projekte – Akteure. Stuttgart/Leipzig/Wiesbaden 2001 (Studienbücher der Geographie), 44f.; Nowosielska-Sobel, Joanna: Od ziemi rodzinnej ku ojczyźnie ideologicznej – Ruch ochrony stron ojczystych (Heimatschutz) ze szczególnym uwzględnieniem Śląska (1871– 1933). Wrocław 2013 (Historia 186; Acta Universitatis Wratislaviensis 3491), 133–202; Swenson, Astrid: The Rise of Heritage. Preserving the Past in France, Germany and England 1784–1914. Cambridge 2013 (New Studies in European History), 114–128, 317–320, 329–331. – Der folgende Beitrag basiert in Teilen auf einer Fallstudie aus der noch unveröffentlichten Doktorarbeit des Verfassers: „Stadtgeschichte museal – Breslaus deutsche und polnische Geschichtsausstellungen (1900–2010)“.
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Künste (1880) entstanden war. Wie die Namen der Museen besagten, stand in beiden Institutionen die Kunst- und Kulturgeschichte der gesamtschlesischen Region im Mittelpunkt.2 Die Geschichte der Hauptstadt Breslau blieb vornehmlich über die kulturgeschichtlichen Abteilungen des Kunstgewerbemuseums verteilt und machte sich lediglich an einzelnen Exponaten der überlokalen Sammlungsgruppen fest – so etwa an den Zinnkrügen des Breslauer Zunftwesens, den Skulpturen aus den Breslauer Kirchen, den Waffen der Breslauer Stadtgarde oder an alten Stadtansichten. Hinzu kam im 1926 eröffneten Schlossmuseum das „Gelbe Wohnzimmer“ König Friedrich Wilhelms III. von Preußen, das an die bedeutende Rolle Breslaus in den Befreiungskriegen der Jahre 1813 bis 1815 erinnerte. Die hier näher beleuchtete Ausstellung zum alten Breslau versammelte in erster Linie Ansichten der Stadt vom 15. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Die als Stadtansichten oder Veduten bezeichneten Bilder umfassten sowohl frühneuzeitliche Stadtpanoramen und Karten, alte Holzschnitte und Kupferstiche als auch Zeichnungen, Gemälde und Aquarelle ausgewählter Häuserpartien aus späteren Jahrhunderten. Wie bei allen Veduten ist eine Stadtansicht hierbei nicht als eine wirklichkeitsgetreue Wiedergabe eines früheren Zustands zu verstehen, sie bleibt vielmehr eine künstlerische Interpretation, die den Einflüssen von „spätmittelalterlichen Leit- und Vorstellungsbildern“ auf die Konstruktion von Stadtpanoramen ebenso unterlag wie Versuchen einer objektiveren „Landschaftsschilderung“ in der neuzeitlichen Druckgrafik.3 Die Ausstellungskuratoren entschlossen sich daher bewusst, von „Darstellungen der Stadt durch die Kunst“4 zu sprechen und Fotografien aus der Museumsabteilung auszuschließen. Die künstlerische Interpretation des Stadtbildes blieb allerdings ein untergeordnetes Ziel der Ausstellungen, denn im Mittelpunkt standen die Motive der Bilder als historische Quellen: „Als ein städtisches Institut hat unser Museum die Ehrenpflicht, der Nachwelt eine Erinnerung an das eigenartige alte Stadtbild aufzubewahren, das dem Ausbau Breslaus zu einer modernen Großstadt seit einem Jahrhundert in steigender Schnelligkeit zum Opfer fällt“5 – so freimütig brachten die Ausstellungskuratoren, der Museumsdirektor Karl Masner (1858–1936) und sein Assistent Erwin Hintze (1876–1931), die kompensatorische Funktion ihrer neuen Ausstellung auf den Punkt. Diese führte die einschneidende Veränderung des Breslauer Stadtbildes besonders im 2 Zur Sammeltätigkeit der Breslauer Museen vgl. den Beitrag von Urszula Bończuk-Dawidziuk in diesem Band. 3 Schmitt, Michael: Vorbild, Abbild und Kopie. Zur Entwicklung von Sehweisen und Darstellungsarten in druckgraphischen Stadtabbildungen des 15. bis 18. Jahrhunderts am Beispiel Aachen. In: Jäger, Helmut/Petri, Franz/Quirin, Heinz (Hg.): Civitatum Communitas. Studien zum Europäischen Städtewesen. Köln/Wien 1984 (Städteforschung A/21), 322–354, hier 353f. Ein Verzeichnis der ältesten Ansichten deutscher Städte enthält Bachmann, Friedrich: Die alten Städtebilder. Ein Verzeichnis der graphischen Ortsansichten von Schedel bis Merian. Stuttgart 21965 [Leipzig 11939]. 4 Masner, Karl/Hintze, Erwin: Führer durch die Abteilung Alt-Breslau. Schlesisches Museum für Kunstgewerbe und Altertümer. Breslau 1908, 1. 5 Ebd.
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19. Jahrhundert vor Augen und formulierte indirekt eine Kritik am fehlenden Schutz von Baudenkmälern. Als Vorläufer der Dauerausstellung von 1908 gelten ein kleines, 1899 eingerichtetes „Breslauer Zimmer“ sowie eine Sonderausstellung mit dem Titel „Alt-Breslau im Bilde“ von 1905. In der Forschung wurde bereits detailliert beschrieben, mit welchen alten Stadtansichten und vielzähligen zeitgenössischen Gemälden und Grafiken die Ausstellungen die topografische Entwicklung Breslaus nachgezeichneten.6 Die städtische Entwicklungsgeschichte war bei den beiden früheren Ausstellungen noch deutlicher einer kunstgeschichtlichen Perspektive untergeordnet. Ein genauerer Blick auf die Dauerausstellung von 1908 und deren Vorläufer zeigt freilich auch, wie Stadtgeschichte erstmals museal definiert wurde und wie das Museum mit diesem neuen Ansatz ein wesentlich breiteres Publikum erreichte. Die Ausstellungsarbeit des Schlesischen Museum für Kunstgewerbe und Altertümer war Ausdruck einer europaweit erstarkenden Geschichtskultur des Bürgertums, das in einer Zeit des rasanten Fortschritts in der Traditionspflege Halt suchte. Die Sammlung und Exposition alter Breslauer Ansichten entsprang daher einer konkreten konservatorischen Motivation: der Bewahrung des alten Stadtbildes angesichts einer bis dahin beispiellosen Modernisierung und Industrialisierung der europäischen Großstädte im späten 19. Jahrhundert.
II. Die Dauerausstellung „Alt-Breslau“ befand sich im alten Ständehaus am Schlossplatz, dem Hauptsitz des Schlesischen Museums für Kunstgewerbe und Altertümer. Im Mittelsaal des Erdgeschosses entfalteten drei Raumabschnitte die Ausstellungskapitel zum 15. bis 18. Jahrhundert, zum 18. Jahrhundert sowie zum 19. Jahrhundert.7 Die ersten Abbildungen der Stadt waren Panoramaansichten, so genannte „Stadtprospekte“. Breslau wurde erstmals 1493 abgebildet in der berühmten Weltchronik des Humanisten Hartmann Schedel. Der in Nürnberg gedruckte Holzschnitt unter der Überschrift 6 Mit der Ausstellung „Alt-Breslau“ befasste sich vor allem Piotr Łukaszewicz. Vgl. ders.: Adelbert Woelfl. Malarz dawnego Wrocławia – Der Maler des Alten Breslau. Wrocław 1993; ders.: Muzea sztuki w dawnym Wrocławiu – Kunstmuseen im alten Breslau. Wrocław 1998, 101f.; ders. (Hg.): Ikonografia Wrocławia. Grafika. Muzeum Narodowe we Wrocławiu, Bd. 1. Wrocław 2008, 11–29. Eine kürzere Thematisierung fand die Ausstellung bereits bei Schreiner, Rupert: Breslau. Ansichten aus sechs Jahrhunderten. Ostdeutsche Galerie Regensburg. Regensburg 1983 (Aspekte ostdeutscher Topographie 2), 2f.; Czerner, Olgierd: Wrocław na dawnej rycinie. Wrocław u. a. 1989, 10; Garber, Klaus: Das alte Breslau. Kulturgeschichte einer geistigen Metropole. Köln/Weimar/Wien 2014, 440–442. 7 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Der Rundgang durch die Ausstellung basiert vor allem auf dem Begleitheft zur Ausstellung, verschiedenen Zeitungsartikeln sowie Fotografien aus den Sammlungen des Breslauer Nationalmuseums (Gabinet Dokumentów Muzeum Narodowego we Wrocławiu), zum Teil abgebildet in der Studie von Lukaszewicz: Ikonografia Wrocławia, 11–29.
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„Bressla“ zählt bis heute zu den bekanntesten Stadtansichten Breslaus und hat in zahlreichen Neuauflagen Verbreitung gefunden.8 Das kleine Begleitheft erläuterte ausführlich die Perspektivität und Intention dieser ersten, oftmals symbolisch überzeichneten Stadtansichten: „Und wie der Prospekt die Stadt von außen sieht, ist er auch zunächst für den Fremden bestimmt, zu seiner Belehrung oder zur Erinnerung. Ihm soll er einen imposanten Eindruck von der Bedeutung, der Ausdehnung, der Wehrhaftigkeit der Mauern, der Anzahl der Kirchen oder anderen für den Ort charakteristischen Bauten verschaffen. [...] Es darf als unbedingt sicher gelten, daß dem Holzschnitte eine an Ort und Stelle gemachte Zeichnung zugrunde liegt, die erst durch die Arbeit des Holzschneiders verallgemeinert und schematisiert worden ist.“9 Von Anfang an machte die Ausstellung damit deutlich, dass es sich bei den alten Ansichten nicht um Abbildungen realer Stadttopografien, sondern stets um künstlerische Interpretationen handelte. Ein Vergleich der vielfältigen Darstellungsformen boten neun weitere Stadtansichten, zumeist Kupferstiche aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die die älteste Abbildung Breslaus umringten (Abb. 1). Damit ließen sich die ersten Panoramen aus der böhmisch-ungarischen Zeit (bis 1526) und der anschließenden habsburgischen Zeit (bis 1741) Breslaus miteinander vergleichen. Die großen Panoramen präsentierten vor allem die bedeutende und wohlhabende Bürgerstadt der Frühen Neuzeit. Eine zweite Perspektive auf die topografische Entwicklung boten alte Stadtpläne. Auch hier zählt das älteste Exemplar bis heute zu den am meisten reproduzierten Ansichten. Der farbige Stadtplan, gezeichnet 1562 von Bartholomäus Wayner (Weihner), zeigt eine rasterförmige Anlage der Breslauer Bürgerstadt. Zu den herausragenden Exponaten der Ausstellung zählte ferner der zweitälteste Stadtplan der Sammlung, erschienen 1587 bei Georg Braun und Franz Hogenberg in Köln. Dieser Plan diente aufgrund „seiner großen Genauigkeit in den geometrischen Abmessungen“ als Grundlage für zahlreiche folgende Pläne. Fünf weitere Stadtpläne, der jüngste von 1843, ermöglichten hier einen Vergleich. Hieran schlossen sich zehn Einzelansichten verschiedener bedeutender Breslauer Gebäude (Rathaus, Bibliotheken, Zeughäuser, Stadttore, kaiserliche Burg) an. Eine Abkehr von der rein topografischen Entwicklungsgeschichte markierte das große Gemälde einer Plenarsitzung des Breslauer Rats von 1667. Das nach einer Vorlage aus dem Rathaus angefertigte Gruppenbild mit 23 Amtsträgern stand sinnbildlich 8 Zum Breslau-Panorama der Schedelsche[n] Weltchronik (1493) und allgemein zur Geschichte der Breslauer Stadtansichten vgl. Knötel, Paul: Altbreslau im Bilde. In: Schlesische Monatshefte 2/6 (1925) 313–317; Barthel, Gustav: „Der Staette Koeniginn“. Das Stadtbild Breslaus in der Schau des Künstlers. Breslau 1944, 28; Czerner: Wrocław na dawnej rycinie, 12; Harasimowicz, Jan: Posłowie – Architektura Wrocławia w rysunku i grafice. In: ders. (Hg.): Atlas Architektury Wrocławia, Bd. 2. Wrocław 1998, 222–315, hier 223f.; Łukaszewicz: Ikonografia Wrocławia, 35. Zu zwei neu entdeckten Breslau-Panoramen von 1537 und 1668 vgl. Marsch, Angelika: Das Breslau-Panorama von 1668. Die Geschichte eines wieder entdeckten Breslau-Panoramas. In: dies./Eysymontt, Rafał: Breslau – Wrocław 1668. Eine wieder entdeckte Stadtansicht. Görlitz/Zittau 2005, 7–29. 9 Masner/Hintze: Führer durch die Abteilung Alt-Breslau, 2f.
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Abb. 1: Erster Ausstellungsraum mit Stadtansichten aus dem 15. bis 18. Jahrhundert; davor eine Vitrine der Münzsammlung. Bildnachweis: Łukaszewicz, Piotr (Hg.): Ikonografia Wrocławia. Grafika. Muzeum Narodowe we Wrocławiu, Bd. 1. Wrocław 2008, 15.
für die herausragende Bedeutung der Breslauer Kaufmanns- und Bürgerschaft in der städtischen Selbstverwaltung zur böhmisch-ungarischen und habsburgischen Zeit. Bezüge zum Breslauer Handel und zu Ereignissen aus der Stadtgeschichte fanden sich überdies unter den Stadtdarstellungen im Ausstellungsraum zum 18. Jahrhundert: Hier standen vor allem 27 Zeichnungen aus Breslauer Stammbüchern im Mittelpunkt. Bei ihnen handelt es sich um Alben von Bürgern, in denen sich deren Kontaktpersonen mit Texten und Zeichnungen verewigten. Aufgrund der darin enthaltenen Miniaturmalerei sammelte das Breslauer Museum über sechzig dieser Stammbücher aus dem 16. bis 18. Jahrhundert. Doch nur eines enthielt gleich mehrere Darstellungen aus dem Leben des alten Breslau – und bildete nach Bekunden der Museumsdirektion durch seine eindrucksvolle Vielfalt den Anstoß zur Errichtung der Abteilung „Alt-Breslau“.10 10 Zur Breslauer Sammlung der Stammbücher und Miniaturmalerei vgl. Masner, Karl: Schlesische Stammbücher und ihre künstlerische Ausstattung. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift 4 (1907) 137–170; [ders.]: Die wichtigsten Veränderungen im Museum in den Jahren 1899–1924.
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Aus dem Stammbuch des Breslauer Händlers David Jaenisch zeigte die Ausstellung 25 Bilder des Miniaturmalers Johann Georg Wangner (Wagner) aus der Mitte des 18. Jahrhunderts: „Alle entstammen der Gedankenwelt des wohlhabenden Kaufmanns und führen in die Interessensphäre desjenigen Standes, der in dem Leben Breslaus jener Zeit die erste und ausschlaggebende Rolle spielte.“11 Auf den Beginn der preußischen Zeit verwiesen Darstellungen der Einnahme Breslaus 1741 und des Besuchs König Friedrichs II. auf der hauptstädtischen Messe ein Jahr später. Die Mehrheit der Bilder zeigte Breslauer Handelsplätze wie den Salzring oder den Pockoyhof sowie Motive der Oderschifffahrt. Auch archetypische Figuren des „Breslauer Handels“ zählen zu den Bildmotiven, „wie der reiche Kaufmann, der elegante Pole, der Jude, der Fuhrmann, der Schäfer, der Packträger, der Wagenknecht oder die Schmarotzer des Marktes, die Musikanten und Bärentreiber“.12 Diese Stereotype, in der Ausstellung als „Breslauer Volkstypen“ bezeichnet, waren keine Seltenheit in den zeitgenössischen Gemälden. Der zweite Ausstellungsraum vereinigte damit neben Stadtansichten vor allem konkrete Bezüge auf Breslaus Zeit als bedeutende mitteleuropäische Handelsmetropole. Der dritte Ausstellungsraum verwies besonders direkt auf die Hintergründe der Ausstellung – die Veränderung der Topografie Breslaus im 19. und frühen 20. Jahrhundert (Abb. 2): „Es ist für Breslau die Zeit der Entwickelung zur modernen Großstadt, eine Periode des unerbittlichen Kampfes gegen das alte traditionelle Stadtbild und die architektonische Physiognomie der einzelnen Straßenzüge. Den Ausgangspunkt der baulichen Neugestaltung bildet die 1807 auf Anordnung Napoleons vollzogene Niederlegung der Festungswerke und die 1810 angeordnete Einziehung der rings um die alte Stadtgrenze gelegenen kirchlichen Ländereien. Der damit einsetzenden Bautätigkeit auf dem Vorgelände der alten Stadt und der Anlegung von Vorstädten folgt bald auch die Umgestaltung der inneren Stadt.“13 In den Erläuterungen des Begleitheftes zur Ausstellung wurden der Ausbau und die Modernisierung Breslaus seit dem frühen 19. Jahrhundert zu einem regelrechten „Vernichtungszug gegen das alte Stadtbild“ dramatisiert. Dem ebenfalls starken Wandel der inneren Stadt zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit14 wurde eine entsprechende Wertung hingegen nicht zuteil.
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In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift 8 (1924) 148–151, hier 148; Oszczanowski, Piotr/Gromadzki, Jan: Theatrum Vitae et Mortis. Grafik, Zeichnungen und Buchmalerei in Schlesien 1550–1650. Wrocław 1995, 4f. Masner/Hintze: Führer durch die Abteilung Alt-Breslau, 9. Das Museum hatte das Buch 1903 in einer Kunsthandlung in den Niederlanden erworben, wohin es sein englischer Vorbesitzer verkauft hatte. Vgl. Masner: Schlesische Stammbücher, 153f. Masner/Hintze: Führer durch die Abteilung Alt-Breslau, 10f. Ebd., 14. Der Wandel der Altstadt am Ende des 19. Jahrhunderts ließ sich in seiner Intensität allenfalls mit dem Wandel des Stadtbildes im 14. Jahrhundert vergleichen. Vgl. Zabłocka-Kos, Agnieszka: Wohnen in der City. Die Breslauer Altstadt im 19. Jahrhundert. In: Janatková, Alena/KozińskaWitt, Hanna (Hg.): Wohnen in der Großstadt 1900–1939. Wohnsituation und Modernisierung im europäischen Vergleich. Stuttgart 2006 (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 26), 77–89, hier 84f.
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Abb. 2: Dritter Ausstellungsraum mit Stadtansichten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Bildnachweis: Łukaszewicz, Piotr (Hg.): Ikonografia Wrocławia. Grafika. Muzeum Narodowe we Wrocławiu, Bd. 1. Wrocław 2008, 22.
Im Mittelpunkt des Ausstellungsraums zum 19. Jahrhundert standen Zeichnungen des schlesischen Malers Adelbert Woelfl (1825–1896). Neben zahlreichen Motiven bedeutender Gebäude präsentierte die Ausstellung zeitgenössische Gemälde, die ein Augenmerk auf die „Stimmung“ der Motive, auf eine „eigenartige oft schmerzliche Melancholie“15 warfen: Hervorgehoben wurden hier die Stadtansichten des Professors der Königlichen Kunst- und Gewerbe-Akademie zu Breslau, Max Wislicenus (1861– 1957). Für den Erwerb dieser Neuinterpretationen des Stadtbildes hatte das Museum sogar einen eigenen Ankaufsetat aufgelegt. Seit Eröffnung der Dauerausstellung konnte damit der zeitgenössische Teil der Ausstellung noch erheblich erweitert werden. Mit der Mission verband das Museum die Aufgabe, Künstler für eine Dokumentation vom Abriss betroffener Gebäude zu beauftragen.16
III. Sowohl durch die Sammlungspraxis als auch durch die gezielte Beauftragung von neuen Kunstwerken konservierte das Breslauer Kunstgewerbemuseum mit seiner Gemäldegalerie das alte Stadtbild. Hinter der Präsentation zur Entwicklungsgeschichte Breslaus 15 Masner/Hintze: Führer durch die Abteilung Alt-Breslau, 18. 16 Ebd., 18.
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verbarg sich damit eine konkrete Botschaft: die Ablehnung der Umbauten im Altstadtbereich. Der rasante Wandel der Stadt zwischen 1807 und der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde mit einem Werteverlust gleichgesetzt. Die Kuratoren waren der Auffassung, durch den Ankauf und die Beauftragung von Kunstwerken „der Nachwelt eine Erinnerung an das eigenartige alte Stadtbild aufzubewahren“. Dass hinter dieser Praxis nicht bloß das Motiv der Sicherung stand, sondern auch eine klare Bewertung der jüngeren stadtgeschichtlichen Entwicklung, geht aus der Wortwahl deutlich hervor: Den Ausbau Breslaus beschrieb man als „Vernichtungszug gegen das alte Stadtbild“ und als „Periode des unerbittlichen Kampfes gegen das alte traditionelle Stadtbild“.17 Der Ausstellungskurator Conrad Buchwald betonte dazu: „Aber gerade in ferner Zeit war von allem anderen eher die Rede als vom Schutze des alten Stadtbildes; gerade damals begann die unbarmherzige Vernichtung der schönen alten baulichen Anlagen, der wir heute wieder Einhalt gebieten wollen, wo es fast zu spät ist. An die Stelle der Zeugen einer kunstreichen Vergangenheit traten erst die einer kunstarmen, später die einer kunstprotzigen Zeit.“18 Der Kurator kritisierte hier nicht nur den Verlust alter Gebäude durch einen fehlenden Denkmalschutz, sondern auch den historistischen Baustil der Gründerzeit. Damit zielte die Ausstellung deutlich auf eine Zurückweisung der zeitgenössischen Architektur ab. Das Museum traf mit seiner kritischen Haltung den Nerv großer Teile des Bürgertums aus der Heimatschutzbewegung, die die großstädtische Moderne ablehnte und statt dessen den Blick auf Mittelalter und Romantik als vornehmlich letzte Epochen eines geschlossenen Weltbildes richtete.19 Die vormoderne Stadt wurde hier in einer verklärend-nostalgischen Perspektive betrachtet. Als vormodern galt vor allem jene Stadtmorphologie, wie sie bis zur Entfernung der Festungsanlagen und Stadttore 1807/08 existiert hatte. Die Planierung des historischen Befestigungsgürtels war vor allem auf Befehl der französischen Besatzung erfolgt; sie war in Breslau besonders konsequent umgesetzt worden.20 Die Aufmerksamkeit der Ausstellung galt den Bauten und Straßenzügen der einstmals befestigten Stadt, dem späteren Altstadtbereich – besonders denjenigen Gebäuden, die in der Modernisierungsphase des späten 19. Jahrhunderts durch neue Bauten ersetzt worden waren, etwa das 1859 abgetragene Landwandhaus am Ring oder das noch 1908 niedergelegte zweite Breslauer Zeughaus am Sandtor. Als Ausdruck des verlorenen alten Breslau galten neben den Stadttoren und Zeughäusern 17 Ebd., 14. 18 Buchwald, Conrad: Alt-Breslau im Bilde. Ausstellung im Kunstgewerbemuseum. In: Schlesische Zeitung v. 26. April 1905. 19 Düwel/Gutschow: Städtebau in Deutschland im 20. Jahrhundert, 44. Zur Zivilisationskritik an der Moderne vgl. Speitkamp: Verwaltung der Geschichte, 29f. 20 Conrads, Norbert: Breslau. Identitäten und kulturelles Gedächtnis. In: Weber, Matthias u. a. (Hg.): Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Erfahrungen der Vergangenheit und Perspektiven. München 2011 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 42; Schriften des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität 1), 139– 158, hier 153.
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Abb. 3: Romantische Ansicht der Ohlauer Brücke am Christophoriplatz in Breslau, Flussbett 1866–1869 zugeschüttet. Ölbild von Carl Reimann, 1825. Bildnachweis: Hintze, Erwin: Führer durch die Abteilung Alt-Breslau. Schlesisches Museum für Kunstgewerbe und Altertümer. Breslau 41927, 16 (Tafel 8).
auch der innere Stadtgraben sowie der Stadtohle-Fluss mit seinen Brücken und Stegen. Der stinkende Flusslauf der Stadtohle war 1866 bis 1869 nach einer Cholera-Epidemie zugeschüttet worden, doch die verschachtelten Giebelhäuser an dem zur Gasse ausgebauten Flussbett blieben bis 1945 ein beliebtes Bildmotiv einer romantisch verklärten, vormodernen Stadt (Abb. 3).21 21 Vor allem die Giebelhäuser an der Weißgerber Ohle bildeten vielfach ein Motiv in Malerei, Grafik und Fotografie. Zur Rezeption des Breslauer Stadtbildes in der Kunst vgl. Habel, Paul:
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Die Kritik der Ausstellungsmacher an der aktuellen Baupolitik reflektierte weite Teile der öffentlichen Meinung, da der Abriss historischer Gebäude für die Errichtung moderner Kaufhäuser und Markthallen um die Jahrhundertwende mehrfach Debatten über die Entwicklung der Breslauer Altstadt auslöste.22 Als beratendes Gremium hatte Oberbürgermeister Georg Bender Anfang 1905 eigens die Gründung eines „Ausschusses Alt- und Neu-Breslau“ zur „Erhaltung der alten baulichen Schönheiten der Stadt“23 initiiert. Durch die Arbeit des Ausschusses unter Vorsitz des Provinzialkonservators Ludwig Burgemeister sollten nicht nur die „Denkmäler der Vergangenheit in unserer Stadt vor der Zerstörung, Entstellung und Vergessenheit“ geschützt, sondern auch eine „schöne Gestaltung des Stadtbildes in der Zukunft“ beeinflusst werden.24 Bezeichnend für die konservatorischen Absichten des Ausschusses war, dass sich unter seinen 13 Gründungsmitgliedern gleich drei Mitarbeiter des Kunstgewerbemuseums befanden. Neben dem Direktor, Karl Masner, waren dies seine langjährigen Assistenten Hans Seger und Conrad Buchwald.25 Buchwald war Organisator der viel beachteten Sonderausstellung „Alt-Breslau im Bilde“, die bezeichnenderweise im Jahr der Gründung des Ausschusses „Alt- und Neu-Breslau“ stattfand. Die Zusammenarbeit zwischen Ausschuss und Museum zeigte sich auch im folgenden Jahr, in dem das Kunstgewerbemuseum zu einer Vortragsreihe über die Arbeitsfelder des Ausschusses einlud.26 Das Museumswesen war damit um 1900 eng verbunden mit den gesellschaftlichen Debatten um die Entwicklung des Breslauer Stadtbildes. Wie in vielen europäischen Ländern zu dieser Zeit, sprach die Stadt Breslau dem Denkmalschutz damit erstmals eine Bedeutung zu. Überhaupt besaß die Stadtverwaltung erst seit fünf Jahren stärkere Einflussmöglichkeiten auf die bauliche Entwick-
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Das Stadtbild Breslaus vor hundert Jahren. In: Die Woche – Sondernummer: Breslauer Ausstellung 1913 zur Jahrhundertfeier der Freiheitskriege (1913) 28–33; Harasimowicz: Posłowie, 222–315; Szafkowska, Magdalena: Dawne zaułki Wrocławia. Malarstwo, grafika, fotografia – Alte Breslauer Winkel. Malerei, Grafik, Fotografie. Muzeum Narodowe we Wrocławiu. Wrocław 2001, 10–12. Kulak, Teresa: Historia Wrocławia. Od twierdzy fryderycjańskiej do twierdzy hitlerowskiej, Bd. 2. Wrocław 2001, 228f. Heilberg, Adolf: Breslaus großstädtische Entwicklung unter Georg Bender (1891–1912). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 53/2 (1919) 9–37, hier 16. Der Ausschuss „Altund Neu-Breslau“ hatte während seiner gesamten Tätigkeit keine entscheidende, sondern nur eine beratende Funktion. Zu den Berührungspunkten zwischen dem Ausschuss und der schlesischen Heimatschutzbewegung vgl. Nowosielska-Sobel: Od ziemi rodzinnej ku ojczyźnie ideologicznej, 224f. Zum Gründungsschreiben und der Satzung des städtischen Ausschusses vom 6. Januar 1905 vgl. Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Wydział Samorządowy Prowincji. 1115, 23. Für die Übermittlung der Akten zum Ausschuss danke ich Grzegorz Grajewski. Ebd., 21–23. Die Vortragsreihe im Winter 1906 umfasste sechs Referate „über alle Zweige des Arbeitsgebietes“ des Ausschusses. Vgl. ebd., 76.
Lokale Geschichtskultur im Museum
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lung, da ihr die Staatsregierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Verantwortung für die „Bau- und Wegepolizei“ und damit für den Erlass von Bauordnungen übertragen hatte.27 Ausdruck des neuen Stellenwerts der historischen Architektur war zudem, dass die Stadtverwaltung eine fotografische Dokumentation der Breslauer Straßenzüge in Auftrag gab, um die Umbauprozesse in der Altstadt festzuhalten. Durch die beratende Arbeit der Kommission und die umfangreiche Fotosammlung, die sich bis heute in der Breslauer Universitätsbibliothek erhalten hat,28 konnte die Stadtverwaltung zwar weitere Abrisse nicht verhindern, sie förderte aber einen Aushandlungsprozess zwischen dem Erhalt alter Bausubstanz und neuen Investitionen zur Modernisierung der Innenstadt. Wie in anderen europäischen Großstädten führte die Industrialisierung im 19. Jahrhundert in Breslau zu einer massiven Zunahme der Bevölkerung und dementsprechend zu einem rasanten Wachstum der Stadt, das, vergleicht man die Entwicklung der schlesischen Hauptstadt mit anderen Metropolen, dennoch bescheiden ausfiel. 1813 zählte Breslau noch 63.000 Einwohner, 1875 waren es schon über 239.000 und 1908 rund 493.000. Nach 1871 entstanden in vielen europäischen Städten um das alte Zentrum herum ausgedehnte Stadtviertel im Baustil der Gründerzeit. Auch der Altstadtbereich erfuhr durch die Errichtung moderner Geschäftshäuser einen Wandel seines Erscheinungsbildes wie auch seiner Sozialstruktur. Die Wohnbevölkerung nahm ab, die Innenstadt entwickelte sich zu einem Zentrum mit Geschäfts- und Verwaltungsfunktionen.29 Die Altstadt hatte bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in großen Teilen ihr vormodernes Antlitz verloren. Die Erinnerung an diesen rasanten Wandel wurde zu einem Wirkungsfeld des Museums.
27 Heilberg: Breslaus großstädtische Entwicklung, 15. 28 Über hundert der rund 2.000 Fotografien des Bildarchivs in der Universitätsbibliothek (Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławiu) wurden 1992 und 1994 in der Sonderausstellung „Unbekanntes Stadtportrait“ des Historischen Museums (Muzeum Historyczne we Wrocławiu) gezeigt. Vgl. Bińkowska, Iwona/Smolak, Marzena: Nieznany portret miasta. Fotografie Wrocławia z 2 połowy XIX i początku XX w. Arsenał Wrocławski – Muzeum Historyczne we Wrocławiu i Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławiu. Wrocław 1994. 29 Die deutlichen Konsequenzen dieses Wachstumsprozesses für die Breslauer Altstadt wurden bereits 1931 in einer ausführlichen stadtgeographischen Studie festgehalten. Vgl. Müller, Emil: Die Altstadt von Breslau. Citybildung und Physiognomie. Ein Beitrag zur Stadtgeographie. Breslau 1931 (Beiträge zur Breslauer Statistik 3), 26f. Zur Entwicklung der Breslauer Innenstadt im 19. und frühen 20. Jahrhundert vgl. Ilkosz, Jerzy: Przekształcenia urbanistyczne centrum Wrocławia w latach 1900–1940. In: Rocznik Wrocławski 5 (1998) 175–202, hier 178f; Zabłocka-Kos, Agnieszka: Zrozumieć miasto. Centrum Wrocławia na drodze ku nowoczesnemu city 1807–1858. Wrocław 2006, 17f.; dies.: „Sta